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Isländische Erinnerungskultur 1100-1300

2016
978-3-7720-5585-0
A. Francke Verlag 
Laura Sonja Wamhoff

Die isländische Literatur hat heute eine zentrale Funktion für die Identitätsstiftung, der Beginn dieses Identitätdiskurses ist bisher jedoch ungeklärt. Diese Frage greift der Band auf und diskutiert mit dem Blick auf die Literaturproduktion von 1100-1300 mithilfe kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien die Rolle der Schrift, Erinnerungstechniken und -strategien. Diese zeigen, dass Vergangenheit in Island konträr erinnert wurde und nur ein geringer Bestand an kollektiven Erinnerungen existierte. Kompensiert wurde dieses Desiderat durch die Königssagas, innerhalb derer ein Identitätsdiskurs entwickelt wurde, der Erinnerungskonkurrenzen dialogisch aushandelte. Durch diese Kontrolle über die Historiographie gelang es den Isländern, ihre bedrohte kollektive Identität zu erhalten. Die Entwicklung der Literatur ab 1100 geht daher mit der Aufforderung zu einem unaufhörlichen Erinnern einher, die das kulturelle Gedächtnis der Isländer stets in sich trug. Dr. Laura Sonja Wamhoff promovierte und lehrte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 57 Laura Sonja Wamhoff Isländische Erinnerungskultur 1100-1300 Altnordische Historiographie und kulturelles Gedächtnis Isländische Erinnerungskultur 1100 -1300 Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Anna Katharina Richter, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 57 · 2016 Laura Sonja Wamhoff Isländische Erinnerungskultur 1100 -1300 Altnordische Historiographie und kulturelles Gedächtnis Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8585-7 Umschlagabbildungen: Hintergrundbild: Manuskript einer Abschrift der Íslendingabók von Jón Erlendsson, Island 1651, Seite 1r (Quelle: Jón Jóhannesson. Íslendingabók Ara fróða: AM 113a and 113b, fol, Íslenzk Handrit, Series in folio, 1r. Island 1956, I.); Titelbild: Landnám Íslands 874-930 (Quelle: Samúel Eggertsson. Saga Íslands - Línurit af mannfjölda þjóðarinnar með hliðstæðum annálum. Ísafoldarprentsmiðja, Island 1930). Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................................................................................. 7 2 Erinnerungskultur ............................................................................................. 9 2.1 Das kulturelle Gedächtnis und seine Medien ....................................................... 9 2.2 Erinnerungsoptionen und Identitätskonstruktion ............................................17 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte ................................................................................................................ 23 3.1 Island 870-1300: der historische Hintergrund ...................................................24 3.2 Mittelalterliche Historiographie auf Island .........................................................30 3.3 Eine Textdefinition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit....................35 4 Die altnordische Historiographie............................................................... 39 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung›...........41 4.1.2 Der Gründungsmythos in der Landnámabók: die zeitlose Identitätskonstruktion .............................................................................................44 4.1.2.1 Der Anfang der Landnahmeberichte (ca. 1100-1250): familienzentrierte Erinnerung.....................................................................................45 4.1.2.2 Die Perspektive der Historiographen auf die Lb. zwischen 1250 und 1300. ..........................................................................................................48 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen›...............79 4.2.1 Der Gründungsmythos in der Íslendingabók: lineare Geschichtskonstruktion...............................................................................................................82 4.2.1.1 Die Landnahme als Machtfundierung im 12. Jahrhundert ....................83 4.2.1.2 Das Gesetz als Indikator für die gesellschaftliche Entwicklung ......... 110 4.2.1.3 Die Christianisierung: Island auf dem Weg zum souveränen Staat .. 131 4.2.1.4 Vom Kollektiv zur Person: ein Gesellschaftsbild als Rezeptionshindernis ........................................................................................................ 142 4.2.2 Das kollektive Gedächtnis des frühen 12. Jahrhunderts................................ 147 4.2.2.1 An der Schwelle vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis .................................................................................................... 148 4.2.3 Versuch einer Einordnung ................................................................................... 161 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs ............................................................................. 165 5.1 Sæmundr und Ari - zwei historiographische Richtungen des 12. Jahrhunderts ..................................................................................................... 166 5.2 Reorganisation des kulturellen Gedächtnisses durch Hypolepse ................. 172 Inhaltsverzeichnis 6 5.3 Das hypoleptische ‹Problem›: die Suche nach der eigenen Geschichte .. 175 5.4 Die Grundlage für die Ausbildung des hypoleptischen Diskurses .................. 179 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt.................. 185 5.5.1 Die Kriterien des hypoleptischen Diskurses ........................................................ 185 5.5.2 Die Identitätskonstruktion auf der Textebene ................................................ 202 5.6 Der hypoleptische Diskurs als Gedächtnis der Literatur .............................. 204 5.7 Das Gedächtnis der Literatur als Abgrenzung zu Erinnerungskonkurrenzen ................................................................................... 211 5.8 Exkurs: ‹Rituelle Kohärenz› in der semioralen Erinnerungskultur Skandinaviens ......................................................................................................... 216 5.9 Ausblick: die Stilllegung des ‹Traditionsstroms› nach 1300....................... 221 6 Fazit: Erinnerungskultur 1100-1300 in der altnordischen Historiographie .............................................................................................. 223 6.1 Wie erinnern die Texte? Welches Selbstbild konstruieren sie? ................... 223 6.2 Was ist das isländische kulturelle Gedächtnis? ................................................ 229 7 Schlussbemerkungen.................................................................................... 231 Literaturverzeichnis .................................................................................................... 232 Anhang ............................................................................................................................. 245 1 Einleitung „ Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren über die Generationsfolge hinweg ihre Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden; und sie tun das […] auf ganz verschiedene Weise. “ 1 Jan Assmann Seit mehr als zwei Jahrzehnten prägt der Leitbegriff des ‹kollektiven Gedächtnisses› die kulturwissenschaftliche Forschung. Diese Entwicklung geht auf die individualpsychologischen Studien wie der Sigmund Freuds und Friedrich Nietzsches um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert zurück, die dazu anregten, neben der Erinnerung des Individuums auch die konstituierende Funktion der Erinnerung für die Identität einer Gruppe zu betrachten. Auf dieser Basis wurde ein Gedächtnisbegriff etabliert, der weniger neuronale und psychologische Prozesse, sondern vielmehr kulturelle Aspekte von Erinnerung in den Blick nahm und Erinnerung als sozial determiniert verstand. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr dieser Gedächtnisbegriff mit dem Konzept des französischen Soziologen Maurice Halbwachs erstmals eine Übertragung auf die kollektive Ebene, auf der Erinnerung nicht länger nur als ein Innenphänomen des Individuums dargestellt wurde, sondern als ein außengelagertes, kollektives Phänomen begriffen wurde: mit seiner Idee einer ‹mémoire collective› schlug die Geburtsstunde des Kollektivgedächtnisses, dessen Grundlage in dem Perspektivenwechsel von der Betrachtung der ‹Kultur als Gedächtnisphänomen› hin zum ‹Gedächtnis als Kulturphänomen› zu sehen ist. Halbwachs beschrieb das kollektive Gedächtnis als Bestand von Vergangenheitsversionen, die eine Gruppe entsprechend ihrer Bedürfnisse konstruiert, entwirft und deutet. Halbwachs ’ Gedächtnisbegriff wurde in den 90er Jahren durch den Ägyptologen, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann wieder aufgegriffen und umfassend systematisch erweitert, indem er durch eine hilfreiche Binnendifferenzierung des Kollektivgedächtnisses den Begriff des ‹kulturellen Gedächtnisses› prägte, der bald darauf interdisziplinäre Aufmerksamkeit erhielt. Eine seiner zentralen Erkenntnisse verdeutlicht das Eingangszitat dieser Abhandlung, demgemäß jede Gemeinschaft eine eigene ‹Erinnerungskultur› ausbildet, die maßgeblich ihr Selbstbild bestimmt. Die Erforschung dieser Erinnerungskulturen ermöglicht nicht nur, Entstehungsprozesse und gesellschaftliche Umgangsformen mit der Vergangenheit zu reflektieren, sondern eröffnet auch im Rahmen der Betrachtung zeitlich weiter entfernter Gesellschaften - 1 Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6., unveränderte Aufl. München 2007, S. 18; Hervorhebungen im Original. 1 Einleitung 8 wie der des mittelalterlichen Islands - die Möglichkeit, bisher nicht erkannte kulturelle Prozesse nachvollziehbar zu machen. Geht man nämlich davon aus, dass Texte als Medium des kollektiven Gedächtnisses kollektive Vorstellungen transportieren und formen, so kann sich über ihre Erschließung ein erweiterter Zugang zur Vorstellungswelt der jeweiligen Gesellschaft eröffnen. Die vernakulare Literatur Islands lädt aufgrund ihrer einzigartigen Entwicklung vom Mittelalter bis in die Moderne regelrecht dazu ein, sie vor dem Hintergrund erinnerungstheoretischer Überlegungen zu betrachten: schon in frühen außernordischen Quellen wie der Hamburgischen Kirchengeschichte des deutschen Chronisten Adam von Bremen oder in der Geschichte Dänemarks des Geistlichen Saxo Grammaticus wird den Isländern fast schon mit Bewunderung ein überaus großes Erinnerungsvermögen sowie ein starkes Traditionsbewusstsein nachgesagt, auf das Geschichtsschreiber auch zur Zeit der hochmittelalterlichen Semioralität gerne zurückgriffen. Über die mündliche Erinnerungskultur hinaus scheint aber auch die volkssprachliche Literaturproduktion in Island seit jeher in enger Verbindung mit der (noch immer) sehr archaischen Sprache entscheidenden Anteil an der isländischen Identität gehabt zu haben. Diese Entwicklung lässt sich vom Mittelalter durch die Frühe Neuzeit hindurch verfolgen, als erst eine massive Produktion und später eine noch intensivere Rezeption von Texten über die weit zurückliegende vorchristliche und frühe mittelalterliche Vergangenheit Islands und Skandinaviens stattfand. Hierunter sind vor allem die familienzentrierten Isländersagas und die auf Norwegen fokussierten Königssagas zu nennen, die bis etwa 1300 produziert und in den darauffolgenden Jahrhunderten in einem aufwendigen Rezeptionsprozess wiederaufgenommen wurden. Aufgrund dieser einzigartigen Schriftkultur begreift der schweizerische Philologe und Skandinavist Jürg Glauser die isländische Literatur als ‹kulturelles Archiv›, was der antiken und auch mittelalterlichen Vorstellung vom Gedächtnis als Speichermedium entspricht: For Icelandic literature and its historical development, from the beginnings to the early twentieth century, the concept of a cultural archive can be aptly applied, an archive which was very much based on the transmission of old narratives, and thus on the storage and creation of literary memory. 2 Doch wie kam es zu dieser Entwicklung und spielte die Literatur diese Rolle schon von Beginn an? Um dieser Frage nachzugehen, muss zunächst der Anfang der isländischen Literaturproduktion um 1100 unter erinnerungstheoretischen und identitätsstiftenden Aspekten betrachtet werden, um dann die Rolle der besonders an der Vergangenheit orientierten Texte innerhalb der Erinnerungskultur bis zum Beginn des Rezeptionsprozesses um 1300 diskutieren zu können. 2 Jürg Glauser. Foreword. In: Minni and Muninn. Memory in Medieval Nordic Culture. Ed. by Pernille Hermann, Stephen A. Mitchell, Agnes S. Arnórsdóttir. Acta Scandinavia, 4. Turnhout 2014. S. vii-x, S. ix. 2 Erinnerungskultur Die entscheidende Erkenntnis, dass Geschichte stets innerhalb des gegenwärtigen Bezugsrahmens begriffen wird und damit keineswegs objektiv sein kann, hat etliche Disziplinen, allen voran die Geschichtswissenschaften, grundlegend geprägt, da das Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung seitdem in ein gänzlich neues Licht gerückt wurde: Vergangenheit ist keineswegs naturwüchsig, sondern stets in der Erinnerung rekonstruiert. 3 Bevor Erinnerungen überhaupt Eingang in das Gedächtnis - und damit später in die Geschichtsschreibung - nehmen können, müssen sie zunächst als sogenannte ‹Erinnerungsfiguren› mit einer kollektiven Bedeutung für die jeweilige Gruppe angereichert (versinnlicht) werden. 4 So bilden Gesellschaften 5 , wie das Eingangszitat von Assmann besagt, aus ihren imaginierten Selbstbildern und ihrer kulturellen Kontinuität über Generationen hinweg auf verschiedenste Weise eine gemeinschaftsstiftende Kultur der Erinnerung aus. Erinnerungskultur hat daher die vorrangige Funktion, mithilfe verschiedenster Mnemotechniken die Einhaltung einer sozialen Verpflichtung einer Gruppe zu gewährleisten. Diese Mnemotechniken sind von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden und lassen sich entsprechend der vorliegenden Quellen - vor allem in Fällen vormoderner oraler Gesellschaften oder solcher, die die Schrift noch nicht lange adaptiert haben, - nur teilweise rekonstruieren. Auch in Bezug auf die mittelalterliche Gesellschaft Islands besteht die Problematik, dass fast nur die schriftliche Überlieferung als Medium des kollektiven Gedächtnisses für eine Untersuchung zur Verfügung und damit in ihrem Mittelpunkt stehen kann. 2.1 Das kulturelle Gedächtnis und seine Medien In den 20er bis 40er Jahren des 20. Jahrhunderts stellte Maurice Halbwachs in seinen Studien soziale Rahmenbedingungen (‹cadres sociaux›) für individuelle Erinnerungen heraus und übertrug jene Rahmen als die einer gesamten Gruppe inhärenten Erinnerungen (das meint: gemeinsame Strukturen für die Rekonstruktion von 3 Vgl. Assmann 2007, S. 31. 4 Daher charakterisieren Erinnerungsfiguren sich immer durch ihren rekonstruktiven Charakter, einen konkreten Raum- und Zeitbezug zwecks Orientierung und durch ihren Gruppenbezug zwecks Zuordbarkeit (vgl. ebd., S. 37 ff.). 5 Als Gesellschaft soll in diesem Rahmen die Gruppe von Individuen bezeichnet werden, die innerhalb ihres gemeinsamen Lebensraumes Island in sozialer Interaktion steht. Die Voraussetzung dafür ist, dass diese Individuen dort wohnhaft sind. Außerdem begrenzt sich diese Gesellschaft aufgrund des restriktiven Zugangs zur Schriftlichkeit auf die literaturproduzierende Oberschicht, die hier entsprechend als Kollektiv angesprochen wird. 2 Erinnerungskultur 10 Erinnerungen) auf ein ‹mémoire collective›. 6 Dieser Ansatz führte vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften zu der Etablierung des Begriffs des kollektiven Gedächtnisses, durch das die Verbindung zwischen Gesellschaft, Gedächtnis und Medien erhellt werden soll. Einen der zentralen Ansätze hierzu stellte der französische Historiker Pierre Nora in seinem siebenbändigen Werk Les lieux de mémoire in den Jahren 1984-92 vor, der unter anderem aufgrund seiner These des Verschwindens eines gegenwärtigen Kollektivgedächtnisses in Frankreich den Begriff der ‹Erinnerungsorte› prägte. Diese seien quasi als Platzhalter eines kollektiven Gedächtnisses in unserer Umwelt einzig noch existent. 7 Neben vielfachen Applikationen und konzeptuellen Fortführungen dieses Ansatzes in unterschiedlichsten Disziplinen wie den Kulturwissenschaften, den Geschichtswissenschaften, den Religionswissenschaften, der Soziologie, der Psychologie und vielen weiteren wurde die systematischste Aufarbeitung eines Konzepts des kollektiven Gedächtnisses von Jan Assmann und seiner Frau, der Anglistin und Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann geleistet, die die Gedächtnisdebatte seit den End-80er Jahren des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Gemein ist aber allen Ansätzen seit den frühen 80er Jahren in Anlehnung an die Halbwachs ’ schen Ausführungen die zugrundeliegende Auffassung, dass Gedächtnis nicht nur in, sondern auch zwischen den Menschen entsteht und damit ein soziales Phänomen ist. 8 Es ist folglich nur das erinnerbar, was im Austausch mit anderen mitteilbar ist. Erst durch diesen kommunikativen Prozess entsteht Erinnerung und damit ein kollektives Gedächtnis, das sich wiederum in verschiedenen Gedächtnismedien entfaltet, die die Kommunikation wiedererkennbar machen und sie zu bestimmten kollektiven Zwecken kontinuieren: Die Gedächtniskunst ist auf den Einzelnen bezogen und gibt ihm Techniken an die Hand, sein Gedächtnis auszubilden. Es handelt sich um die Ausbildung einer individuellen Kapazität. Bei der Erinnerungskultur dagegen handelt es sich um die Einhaltung 6 Vgl. Les cadre sociaux de la mémoire (1925), La topographie légendaire des évangiles en terre sainte. Étude de mémoire collective und La mémoire collective, abgefasst in den 30er Jahren, nachgelassenes Werk, veröffentlicht 1950. Als Einführung in das breit gefächerte Gebiet des kollektiven Gedächtnisses bieten sich folgende Überblickswerke besonders an: Astrid Erll (Hrsg.). Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Weimar 2005; Nicolas Pethes. Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung. Hamburg 2008 sowie Christian Gudehus, Ariane Eichenberg, Harald Welzer (Hrsg.). Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/ Weimar 2010. Ebenfalls in den 20er Jahren hat der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg einen wichtigen Beitrag zur Betrachtung des Kollektivgedächtnisses geleistet, der auf Basis der materiellen Dimension (in Form von Symbolen, sog. ‹Mnemosyne›) von Kultur (nämlich Kunstwerken) auf ein kollektives Gedächtnis geschlossen hat (Aby Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hrsg. v. Dieter Wuttke. Baden-Baden 1979). Im Gegensatz zu Halbwachs hat Warburg jedoch keine Systematisierung seiner Vorstellungen des Kollektivgedächtnisses hinterlassen. 7 Vgl. Pierre Nora (ed.). Les lieux de mémoire I. La République. Paris 1984; Les lieux de mémoire II. La Nation. Paris 1986 sowie Les lieux de mémoire III. Les France. Paris 1992. 8 Vgl. Erll 2005, S. 23 ff. sowie weiterführende Literatur zu weiteren Theorien aus anderen Forschungsbereichen wie der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte. 2.1 Das kulturelle Gedächtnis und seine Medien 11 einer sozialen Verpflichtung. Sie ist auf die Gruppe bezogen. Hier geht es um die Frage: „ Was dürfen wir nicht vergessen? “ 9 Im Rahmen dieser interdisziplinären Forschungsdiskussion haben sich bald ‹Zwei Kulturen der Gedächtnisforschung› herausgebildet, die der amerikanische Soziologe Jeffrey Olick 1999 aufdeckte und begrifflich unterschied in ‹collected memory›, als Begriff für das sozial geprägte individuelle Gedächtnis, und ‹collective memory› als Oberbegriff für alle Medien und Bereiche einer Gesellschaft, die einen kollektiven Bezug zur Vergangenheit aufweisen. 10 Hiermit trifft er eine Unterscheidung, die bereits bei Halbwachs schon implizit, aber nicht explizit getroffen wurde, und hilft damit, die seither fortgeführte Gedächtnisforschung überschaubarer zu machen. Dennoch sorgt das Konzept des kollektiven Gedächtnisses aufgrund seiner unterschiedlichsten Definitionen mittlerweile für Verwirrung. Eine einheitliche Bestimmung aus allen Forschungsperspektiven stellt sich als außerordentlich schwierig heraus und lässt sich am ehesten in Abgrenzung zu anderen Phänomenen gewinnen, wie es Astrid Erll vorschlug: „ Das kollektive Gedächtnis ist keine Alternative zur Geschichte, es ist auch kein Gegenpol zur individuellen Lebenserinnerung, sondern es stellt den Gesamtkontext dar, innerhalb dessen solche verschiedenartigen kulturellen Phänomene entstehen. “ 11 Eine so weit gefasste Definition verhindert jedoch eine differenzierte Betrachtung von Erinnerungsprozessen (insbesondere im vorliegenden mittelalterlichen Kontext), weshalb es einer genaueren Eingrenzung des Kollektivgedächtnisses bedarf. Allen voran gilt es, hierbei die spezifischen Charakteristika der vormodernen Schriftkultur zu berücksichtigen, wie das mittelalterliche Welt- und Geschichtsbild, die spezielle Funktion von Schrift sowie deren Verfassern als Teilhaber einer speziellen Schreiberkultur und die anfängliche Einbettung der Schrift in eine zunächst noch oral geprägte Erinnerungskultur. Die Fragestellung dieser Abhandlung zielt zudem auf eine kulturanthropologische Perspektive ab, da sie nach der Motivation des Erinnerten und dessen Beitrag zu kollektiven Identitätskonstruktionen fragt, um das Verhältnis zwischen Mensch und Kultur näher zu beleuchten. 12 Aufgrund dieser beiden Aspekte liegt es nahe, sich zunächst der Eingren- 9 Assmann 2007, S. 30 f. 10 Vgl. Jeffrey Keith Olick. Collective Memory. The Two Cultures. In: Sociological Theory. ST: a journal of the American Sociological Association. Ed. by R. Collins, 17, 1. San Francisco/ Calif. [u.a.] 1999. S. 333-348, S. 336. 11 Vgl. Erll 2005, S. 6. Das Gegensatzpaar Geschichte und Gedächtnis hat Aleida Assmann auflösen können, indem sie übergeordnete Register in Form verschiedener Modi (Speichervs. Funktionsgedächtnis) des Gruppengedächtnisses differenziert, die nicht strikt voneinander getrennt werden können (vgl. Aleida Assmann 1995a. Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis - Zwei Modi der Erinnerung. In: Kristin Platt und Mihran Dabag (Hrsg.). Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen. S. 169-185). 12 Zum Begriff ‹kollektive Identität› und seiner Begriffsgeschichte s. Lutz Niethammer. Diesseits des »Floating Gap«. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs. In: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hrsg. v. Kristin Platt und Mihran Dabag. Opladen 1995. S. 25-50, S. 39 ff. sowie weiterführende Literatur. Im Rahmen dieser Abhandlung kann eine umfassende Diskussion des Begriffs Identität nicht geleistet werden, dennoch soll an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, dass die- 2 Erinnerungskultur 12 zung des kollektiven Gedächtnis-Begriffs durch Jan und Aleida Assmann anzuschließen, die sich Olicks ‹collective memory› zuordnen lässt. 13 In den Assmann ’schen Studien wird der Begriff des Gedächtnisses metaphorisch für den gesamtmedialen gesellschaftlichen Bezug zur Vergangenheit gebraucht und führt zu einem spezifischen Kulturbegriff: Da ein Gruppengedächtnis keine neuronale Basis hat, beruht dieses auf der ‹Kultur›, nämlich dem „ Komplex identitätssichernden Wissens “ . 14 Ihr Konzept fokussiert im Gegensatz zu den meisten erinnerungstheoretischen Ansätzen die Darstellungsweisen und Funktionen von Vergangenheit für die Gegenwart. Grundlage ihrer Definition ist die Binnendifferenzierung des kollektiven Gedächtnisses (das meint gemäß Halbwachs die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen) in verschiedene Außendimensionen: das ‹mimetische Gedächtnis› (das Handeln), das ‹Gedächtnis der Dinge› (Dingwelt), das ‹kommunikative Gedächtnis› (Sprache und Kommunikation) und das ‹kulturelle Gedächtnis› (die Überlieferung des Sinns). 15 In letzteres gehen die zuvor genannten drei Gedächtnisse mehr oder weniger bruchlos ein, sofern sie von der jeweiligen Gruppe längerfristig als sinngebend erachtet werden. Damit etablieren die Assmanns einen Begriff für eine funktionsorientierte Unterkategorie des zuvor in der Forschung noch weit gefassten Kollektivgedächtnisses. Eine Sinnüberlieferung beinhalten allerdings nur die beiden letztgenannten Gedächtnisrahmen (kommunikatives und kulturelles Gedächtnis; sog. modi memorandi), die erst durch soziale Interaktion entstehen. 16 Daher interessiert im Hinblick auf vormoderne Gesellschaften allen ser Begriff sowie seine Anwendung auf die mittelalterlich skandinavischen Gesellschaften zukünftig stärker problematisiert und unter Umständen neu perspektiviert werden muss. Hier wird Identität als das Selbstverständnis von Individuen oder Gruppen verstanden, das durch fortwährende Identifikations- und Abgrenzungsprozesse gewonnen wird. 13 Einen guten Überblick ihrer in etlichen Monographien und Aufsätzen veröffentlichten Studien geben zwei ihrer Aufsätze (Jan Assmann. Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. v. Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt am Main 1988, S. 9-19 sowie Aleida Assmann und Jan Assmann 1994. Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Hrsg. v. Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt und Siegfried Weischenberg. Opladen 1994. S. 114- 140). Die empirischen Studien der Assmanns haben aufgrund ihrer Systematisierung sowie ihrer theoretischen Implikationen zu den Funktionen von Erinnerungen großen Einfluss auf die memory studies gehabt. Für diese Abhandlung sind sie darüber hinaus deshalb besonders relevant, weil sie neben ihrem kulturanthropologischen Ansatz auch eine der wenigen Studien zu vormodernen Gesellschaften präsentieren, deren Übertragung auf die altnordische Historiographie grundsätzlich produktiver erscheint als erinnerungstheoretische Überlegungen zu modernen Gesellschaften und deren Medien. Zwar werden daher die Assmann ’ schen Studien in dieser Abhandlung im Mittelpunkt stehen, jedoch an entsprechender Stelle notwendigerweise durch andere Ansätze ergänzt und modifiziert. 14 Assmann 2007, S. 89. Diese Definition wird im Folgenden im Rahmen der gedächtnistheoretischen Überlegungen und Begrifflichkeiten übernommen und (entsprechend des Gruppenbezugs) derjenigen Erinnerungsgemeinschaft zugeordnet, die jene Kultur produziert. 15 Vgl. ebd., S. 20 f. 16 Daher erscheint die Unterscheidung zwischen ‹kommunikativ› und ‹kulturell› zunächst deplatziert und löst sich erst auf, wenn man sich den Kulturbegriff Assmanns nochmals vor Augen führt: mit ‹kulturell› wird hier nur das bezeichnet, was als ‹monumentale Kultur› (gemäß Aleida Ass- 2.1 Das kulturelle Gedächtnis und seine Medien 13 voran das Konzept des kulturellen Gedächtnisses, das dafür verantwortlich ist, über die Zeit hinaus kulturellen Sinn zu reproduzieren, während das kommunikative Gedächtnis den gegenwärtigen ‹sozialen Sinn› 17 impliziert und damit der Alltagskommunikation zugeordnet ist. Damit differenziert Assmann die beiden Gedächtnisrahmen sowohl anhand ihrer Zeitstruktur als auch aufgrund ihrer Funktionen: Die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis als den zwei Spielarten des kollektiven Gedächtnisses betrifft damit vor allem die jeweilige Funktion, die mit kollektiven Gedächtnisformen verbunden wird, oder genauer: die Funktion, die den jeweiligen Erinnerungen für das Selbstverständnis des Kollektivs zukommt. Während das kommunikative Gedächtnis hierbei zunächst der Alltagsorganisation und -deutung dient, sind mit dem kulturellen Gedächtnis ideologische und politische Zielsetzungen verbunden: Das kulturelle Gedächtnis ist nicht der Speicher des Vergangenen an sich, sondern der Entwurf derjenigen Vergangenheit, die eine Gemeinschaft sich geben will. 18 Während sich das kommunikative Gedächtnis also hauptsächlich auf die rezente Vergangenheit bezieht (ca. 80 Jahre zurückreichend) und sich durch kommunizierte Erfahrungen auszeichnet (‹biographische Erinnerungen› entsprechend dem Generationengedächtnis), bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf die Ursprünge (‹fundierende Erinnerungen›) und damit auf eine bewusst gesetzte Vergangenheit. Zwischen diesen beiden Modi vollzieht sich ein Umbruch, in dem sich entscheidet, was aus dem kommunikativen Gedächtnis in das kulturelle Gedächtnis übertragen, also mit kulturellem Sinn angereichert wird. 19 Bereits der belgische Ethnologe und Historiker Jan Vansina stellte 1985 fest, dass in der historischen Erinnerung oraler Gesellschaften eine Gedächtnislücke zwischen mythischer Ursprungszeit und jüngster Vergangenheit aufzutreten scheint, die er als ‹floating gap› bezeichnet. 20 Anlehnend an diese Beobachtung konturiert Assmann die beiden zuvor genannten Gedächtnisrahmen, die von dieser sich mit den Generationen mitbewegenden Lücke getrennt sind. Das bedeutet, dass Erinnerungen über diese Gedächtnislücke hinweg wieder aufgenommen werden müssen, um als Teil des kulturellen Gedächtnisses mann) oder gemeinhin als ‚ Hochkultur ‘ in Form inzenierter und stilisierter Kulturbereiche verstanden wird (vgl. Erll 2005, S. 113). Darüber hinaus bezeichnen beide Begriffe einerseits den jeweiligen Gedächtnisrahmen (kulturtheoretische Kategorie) und andererseits die entsprechend zuordbaren Phänomene (kulturgeschichtliche Kategorie; vgl. Erll 2005, S. 114). 17 Die Anglistin und Literaturwissenschaftlerin Astrid Erll hat für das kommunikative Gedächtnis ergänzend zu den Assmann ’ schen Definitionen in Abgrenzung zum ‹kulturellen Sinn› auf Basis der Oral History-Forschung den Begriff des ‹sozialen Sinns› geprägt (vgl. Erll 2005, S. 117). 18 Pethes 2008, S. 65. 19 Es zeigt sich allerdings, dass kommunikatives und kulturelles Gedächtnis nicht derart deutlich voneinander differenzierbar sind, sondern die Kultur in der Realität vielfältig durchdringen. Da die Assmann ’ schen Begriffsdefinitionen auf empirischen Studien beruhen, entstand hieraus häufig eine Problematik bei der Applikation. Jedoch bedarf das kulturelle Gedächtnis (wenn auch einer zunächst künstlichen) Abgrenzung, die in dieser überspitzten Darstellung dessen Betrachtung wesentlich erleichtert. 20 Jan Vansina. Oral Tradition as History. London/ Nairobi 1985. 2 Erinnerungskultur 14 erinnert zu werden. 21 In Anlehnung an diese ‹wiederaufgenommene Mitteilung› in einer situationsungebundenen, also ‹zerdehnten Situation› (entsprechend dem Textbegriff des Linguisten Konrad Ehlich) 22 entwickelte Assmann seine Definition des kulturellen Gedächtnisses: Zerdehnung einer Kommunikationssituation erfordert Möglichkeiten externer Zwischenspeicherung. Das Kommunikationssystem muß einen Außenbereich entwickeln, in den Mitteilungen und Informationen - kultureller Sinn - ausgelagert werden können, sowie Formen der Auslagerung (Kodierung), Speicherung, und Wiedereinschaltung […]. Erst mit der Schrift im strengen Sinne ist die Möglichkeit einer Verselbständigung und Komplexwerdung dieses Außenbereichs der Kommunikation gegeben. […] Der Fall des Totengedenkens als der ursprünglichsten und verbreitetsten Form von Erinnerungskultur macht zugleich deutlich, daß wir es hier mit Phänomenen zu tun haben, die mit dem herkömmlichen Begriff der „ Tradition “ nicht angemessen erfaßbar sind. […] dieser Begriff verkürzt das Phänomen um den Aspekt der Rezeption, des Rückgriffs über den Bruch hinweg, ebenso wie um dessen negative Seite: Vergessen und Verdrängen. Daher brauchen wir ein Konzept, das beide Aspekte umgreift [… und] prägen das, was wir das kulturelle Gedächtnis nennen und heben es über das Geschäft der Überlieferung hinaus. 23 Da für das kulturelle Gedächtnis also nur die erinnerte Vergangenheit zählt, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, wird die Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte obsolet: Eine letzte Definition von Mythos, die unverminderte Aktualität zu behalten scheint, ist die von Mythos als erinnerter Geschichte. […] Das Unverzichtbare und Unaufgebbare solcher Erinnerungen beruht auf ihrem unbedingt verbindlichen, eben fundierenden Bezug auf ein (individuelles und vor allem kollektives) Selbstbild. Mythos fundiert in der Form des kollektiven Gedächtnisses die Identität einer Gruppe […]. 24 21 Wobei Astrid Erll zurecht kritisiert, dass (insbesondere im Hinblick auf moderne Kulturen) auch kürzlich erst ereignete Geschehnisse unter bestimmten Umständen sehr schnell (also noch im Zeitrahmen des kommunikativen Gedächtnisses) in Form von ‹ad hoc Transformationen› zu fundierender Erinnerung werden können, ohne in die für das kulturelle Gedächtnis von Assmann angeführte notwendige zeitliche Ferne gerückt zu sein (vgl. Erll 2005, S. 115 f.). Daher ist eine gewisse Loslösung von der Zeitstruktur Assmanns zugunsten eines ‹Zeitbewusstseins› (vgl. ebd., S. 117) und ein Perspektivenwechsel hin zu der Frage vonnöten, in welchem Modus (der ‹biographischen› oder der ‹fundierenden Erinnerung›) ein Kollektiv etwas erinnern will und folglich entweder in das kommunikative oder das kulturelle Gedächtnis einspeist (oder in einzelnen Fällen auch Teil von beidem sein kann). Trotz dieser Kritik ist eine grundsätzliche Differenzierung dieser beiden Register dennoch notwendig, um damit verbundene Erinnerungsfunktionen überhaupt erst einmal unterscheidbar zu machen. 22 Vgl. Assmann 2007, S. 21 f. 23 Ebd., S. 34. 24 Aleida und Jan Assmann 1989. Art. „ Mythos “ . In: HrwG, IV. Stuttgart [u.a.]. S. 197-200, S. 197 f. Diese Aufhebung bietet sich vor allem für vormoderne Gesellschaften wie der des mittelalterlichen Island an, in der keine klare Distinktion zwischen mythischem und historischem Wissen feststellbar ist: so kann beispielsweise der Begriff frœði sowohl Mythos als auch geschichtliche Überlieferung (oder Wissen) bedeuten (vgl. Preben Meulengracht Sørensen (ed.). Saga og frœði. In: Fortælling og ære. Studier i islændingesagærne. Århus 1993. S. 33-51, S. 36 f.). Die begriffliche 2.1 Das kulturelle Gedächtnis und seine Medien 15 Über die Vergegenwärtigung von Mythen (also fundierenden Geschichten) erinnert eine Gesellschaft im kulturellen Gedächtnis ihre Identität. Dabei besteht die Hauptaufgabe des kulturellen Gedächtnisses darin, Inhalte im Hinblick auf ihre kollektive Bedeutung zu selektieren. Der Erinnerungsprozess geht also zunächst immer mit einem Prozess des Vergessens einher. 25 Allerdings bleibt im Fall mittelalterlicher Gesellschaften per se nur die Möglichkeit, nach den erinnerten (und damit überhaupt überlieferten) Elementen innerhalb der Erinnerungskultur zu fragen. Folglich wurde alles, was in den Texten erinnert wird, von einer Gemeinschaft als erinnerungswürdig betrachtet und zwar immer von der jeweiligen Gegenwart der Überlieferung aus. 26 Es gilt zu guter Letzt darauf hinzuweisen, dass man es in allen Gesellschaften mit vielen koexistierenden und konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften zu tun hat, weshalb innerhalb einer Gesellschaft auch immer mehrere Erinnerungskulturen Auflösung hat jedoch keineswegs zur Folge, dass kein Unterschied mehr zwischen Erinnerungen in absoluter und historischer Zeit gemacht werden müsste, im Gegenteil: die Semitiosierung des Kosmos hat eine andere Funktion als die Semiotisierung der Geschichte (vgl. J. und A. Assmann 1989, S. 78). Bei den historiographischen Texten, die den Beginn und die Entwicklung der isländischen Gesellschaft darstellen, hat man es generell mit einer spezifischen Form von Vergangenheit zu tun: der relativen Vergangenheit. Etliche Gründungsmythen und auch einige historiographische Texte setzen zwar mit ihrem Bericht in illo tempore ein. Für die isländische Gesellschaft spielt diese für den Gesellschaftsbeginn jedoch allenfalls noch als strukturelles Element eine Rolle, da die Landnahme in die rezente Zeit fällt. Daher muss zwingend eine Unterscheidung zwischen ‹mythischen Elementen› (Analogien zu den vornehmlich aus der Dichtung bekannten Mythen, d.h. Götter handeln in illo tempore) und ‹mythifizierten Elementen› (solchen aus historischer Zeit, die erst in Form ihrer identitätsstiftenden Funktion zum Mythos werden) getroffen werden. 25 „ Das Gedächtnis lebt und erhält sich in der Kommunikation; bricht diese ab, bzw. verschwinden oder verändern sich die Bezugrahmen der kommunizierten Wirklichkeit, ist Vergessen die Folge. “ (Assmann 2007, S. 37). Auf dieser Basis hat Niklas Luhmann 1984 mit einer soziologischen Systemtheorie darauf aufmerksam gemacht, dass nicht nur Erinnerung, sondern auch das Vergessen eine Hauptfunktion des Gedächtnisses darstellt und die Form des kulturellen Gedächtnisses folglich genauso darauf beruht, was nicht erinnert werden soll. Er definiert Gedächtnis dementsprechend als Operation des Unterscheidens von Erinnern und Vergessen und legt damit eine Kulturdefinition zugrunde, die sie als kontrollierenden und steuernden Filter dieses Entscheidungsprozesses definiert (vgl. Niklas Luhmann. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Franktfurt am Main 1984, S. 588). Gedächtnis bestehe also aus der immer wieder zu treffenden Frage, ob Kommunikation sich auf Vergangenheit beziehen soll oder nicht und stellt damit eher die Frage nach der Selektion in der Gegenwart statt die Frage nach Aufbewahrung der Vergangenheit. Einen weiteren, häufig rezipierten Ansatz hat auch die italienische Soziologin Elena Esposito in ihren Untersuchungen zum sozialen Vergessen geleistet (Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Ital. von Alessandra Corti. Mit einem Nachw. von Jan Assmann. Frankfurt am Main 2002). Überblickshaft zu den wichtigsten kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien vor allem moderner Literaturen und Kulturen s. Erll 2005 sowie Pethes 2008. 26 Überdies kritisiert Erll an Luhmanns Theorie zu recht, dass sie - ähnlich wie weitere sich nur auf einen Teil der Erinnerungskultur beziehenden Ansätze - nur die soziale Dimension betont, wohingegen Erinnerungskulturen dreidimensional seien, d.h. sie können nur bestehen, wenn ihre drei Bereiche interagieren: Die materiale Dimension (Medien), die soziale Dimension (die Trägerschaft) sowie die mentale Dimension (die kulturspezifischen Schemata und kollektiven Codes, die die Vermittlung kollektiven Wissens und ihr Verständnis ermöglichen; vgl. Erll 2005, S. 102). 2 Erinnerungskultur 16 vorhanden sind. 27 Auch in den Assmann ’ schen Studien wird diese Beobachtung angeführt, die jedoch für sein auf empirischen Studien basierendes Konzept keine Konsequenzen hat. Zwar befinde sich das kulturelle Gedächtnis immer im Wandel, doch strebe es grundsätzlich eine Hegemonie an, da mit ihm zentrale Sinnfragen einer Gesellschaft beantwortet werden. 28 Im Rahmen einer Untersuchung des kulturellen Gedächtnisses im Hinblick auf kulturelle Identität, politische Imagination und die Erfassung gegenläufiger Erinnerungsstrategien über insgesamt drei Jahrhunderte hinweg erscheint es hier jedoch hilfreich, die synchrone und diachrone Pluralität des kulturellen Gedächtnisses zu berücksichtigen. An diesen Punkt knüpft der Gießener Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen« an, der 1997 ins Leben gerufen wurde und das invariable Konzept Assmanns mit einem Modell ergänzen soll, das die dynamische und vielfältige Seite des kulturellen Gedächtnisses in den Vordergrund rückt und somit eine Übertragbarkeit auf Erinnerungskulturen jeglicher Größe und jeglicher Zeiten ermöglichen soll. 29 Mit diesem Modell sollen vor allem verschiedene Einflüsse und Darstellungsformen des kulturellen Gedächtnisses erfasst werden. Neben den Rahmenbedingungen des Erinnerns spielt dabei auch die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen eine zentrale Rolle. 30 Für diese Abhandlung ist vor allem die zweite Ebene entscheidend, die nach vier zentralen Aspekten in Erinnerungskulturen fragt: nach ‹Erinnerungshoheit›, ‹Erinnerungsinteressen›, ‹Erinnerungstechniken› sowie nach ‹Erinnerungsgattungen›. Die Pluralität der kulturellen Erinnerung hat zur Folge, dass es gleichzeitig verschiedene Vergangenheitsdarstellungen und Identitätsfundierungen geben kann (für historische Gesellschaften ist für deren Erforschung natürlich Voraussetzung, dass sie in die 27 Vgl. ebd., S. 102. 28 Diese Annahme trifft aber zunächst einmal auf fundierende Erinnerungen in einer weit entfernten Urzeit, also auf sog. ‹kosmologische Mythen› zu, muss aber unter Umständen im Zusammenhang von Erinnerungen in historischer Zeit (‹geschichtliche Mythen›) modifiziert werden (vgl. Kap. 2.2.). 29 Vgl. Günther Lottes. Forschungsprogramm »Erinnerungskulturen«. In: Erstantrag des Sonderforschungsbereichs 434 »Erinnerungskulturen«. Gießen 1996. S. 9-23 sowie Marcus Sandl. Historizität der Erinnerung/ Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung. In: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Hrsg. v. Günter Oesterle. Göttingen 2005. S. 89-120. 30 Allerdings muss einschränkend bemerkt werden, dass ein Großteil der Erforschung mittelalterlicher Erinnerungskulturen innerhalb (sowie außerhalb) dieses Forschungsprojektes den Fokus auf die kontinentaleuropäische Literatur legt und deshalb fast ausschließlich das Konzept der ‹memoria› die Forschungsdebatte dominiert. Ein eindrucksvolles Beispiel stellt Otto Gerhard Oexles ‚ Memoria und Memorialüberlieferung im frühen Mittelalter ‘ dar (in: Frühmittelalterliche Studien, 10. Berlin 1976. S. 70-95 sowie ders. Memoria als Kultur. Hrsg. v. Otto Gerhard Oexle. Göttingen 1995). Auch in den diversen Gedächtniskonzepten der Literaturwissenschaft wird stets die mündliche antike Rhetorik (loci et imagines) als literarische Grundlage verstanden (vgl. Erll 2005, S. 62 sowie weiterführende Literatur). Einen zentralen Beitrag dazu leiteste die Literaturhistorikerin Frances A. Yates (The Art of Memory. Chicago 1966). Da jedoch in der altnordischen Historiographie nicht explizit auf die antike ars memoriae zurückgegriffen wird, liegt es nahe, dass die Texte eine enge Verbindung mit der skandinavischen (bzw. isländischen) mündlichen Mnemotechnik haben. 2.2 Erinnerungsoptionen und Identitätskonstruktion 17 Überlieferung Eingang fanden). Im Fall des hochmittelalterlichen Island liegt wie bei anderen mittelalterlichen Schriftkulturen der Fall vor, dass der Zugang zum Medium Schrift nur Personen der Oberschicht möglich war und daher davon auszugehen ist, dass viele andere gleichzeitig existierende Erinnerungskulturen keinen Eingang in die schriftliche Überlieferung fanden. Folglich ist zu vermuten, dass sich die Vergangenheitsdarstellung und Identitätsfundierung in der Literatur relativ homogen darstellen. Anhand dieser schriftkulturellen Umstände wird auch der für das kulturelle Gedächtnis zentrale Medialitätsaspekt deutlich, da die Einführung der Schrift in oralen Gesellschaften zuvor unbekannte Möglichkeiten eröffnet: eine situationsungebundene Kommunikation, die einer Gesellschaft durch die Zeit hindurch eine gemeinsame Erinnerung ermöglicht, aber gleichzeitig auch ein größeres Gefahrenpotential des Vergessens in sich birgt. Somit wird das kulturelle Gedächtnis stark durch seine Medien geprägt: Die Konstitution und Zirkulation von Wissen und Versionen einer gemeinsamen Vergangenheit in sozialen und kulturellen Kontexten […] werden überhaupt erst durch Medien ermöglicht: durch Mündlichkeit und Schriftlichkeit als uralte Basismedien zur Speicherung fundierender Mythen für nachfolgende Generationen, […], schließlich durch symbolträchtige Medien wie Denkmäler, als Anlässe des kollektiven, oft ritualisierten Erinnerns. […] deshalb müssen Medien als Vermittlungsinstanzen und Transformatoren zwischen individueller und kollektiver Dimension des Erinnerns gedacht werden. So können persönliche Erinnerungen erst durch mediale Repräsentation und Distribution zu kollektiver Relevanz gelangen. 31 Diesen Aspekt der Medialität hat Assmann noch viel deutlicher hervorgehoben, indem er den Begriff des kulturellen Gedächtnisses an eben seinen Medien ausrichtet. Entsprechend kann es in der oralen Erinnerungsform ‹rituelle Kohärenz› bzw. im Falle der skripturalen Erinnerung ‹textuelle Kohärenz› stiften. Deshalb bezeichnet Assmann den gesamten Bestand identitätsfundierender Erinnerung, im Sinne eines Wissensvorrats, unabhängig vom Medium als kulturelles Gedächtnis: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern, und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt. 32 2.2 Erinnerungsoptionen und Identitätskonstruktion Auch wenn das kulturelle Gedächtnis unmittelbar mit seinen Medien verbunden ist, lassen sich verschiedene medienunabhängige Erinnerungsoptionen unterscheiden, die insbesondere Assmann aus seinen empirischen Studien heraus ableitet und zu 31 Erll 2005, S. 123; Hervorhebungen im Original. 32 Assmann 1988, S. 15. 2 Erinnerungskultur 18 abstrahieren versucht. Um allerdings eine Übertragung jener auf die mittelalterlichisländische Gesellschaft überhaupt zu ermöglichen, müssen zunächst zentrale Begriffe als methodisches Handwerkszeug aus den verschiedenen Studien herausgelöst, kategorisiert und zueinander in Bezug gesetzt werden. 33 Grundsätzlich betrachtet gibt es Gesellschaften, wie totalitäre Regime, die eine ‹ewige Gegenwart› herzustellen beabsichtigen, um jeglichen Wandel auszuschließen (und damit keinerlei Vergangenheit erinnern). 34 Es gibt aber auch Gesellschaften, die eine besonders intensive Beschäftigung mit der Geschichte betreiben (wie die mittelalterlich-isländische). Begrifflich kann man diese Gesellschaften gemäß dem französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss als ‹kalte› oder ‹heiße Gesellschaften› bezeichnen. 35 Dementsprechend sind es ‹heiße Gesellschaften›, die Vergangenheit bewusst erinnern, um ihr gegenwärtiges Selbstbild zu konstituieren und entsprechende Mythen (fundierende Geschichten) überhaupt erst ausbilden. Im Gegensatz zu Lévi-Strauss betrachtet Assmann allerdings die Unterscheidung in ‹kalte› und ‹heiße› Gesellschaften nicht als Zustand (oder eine ausschließliche Möglichkeit der Erinnerung), sondern als gedächtnispolitische Strategien (‹Optionen›) des kulturellen Gedächtnisses, die den Umgang mit Geschichte bestimmen: die ‹kalte Erinnerungsoption› dient dazu, Wandel einzufrieren, die ‹heiße Erinnerungsoption› dazu, den Wandel anzuregen. Als Beispiel lassen sich ‹kosmische Mythen› der kalten Erinnerungsoption zuordnen, durch deren zirkulare Wiederholung jeglicher Wandel der darauffolgenden Zeit zum Stillstand gebracht werden soll, „ denn nur die mythische Zeit ist die Zeit des Werdens, während die historische Zeit nichts anderes als die Fortdauer des Gewordenen ist. “ 36 Sie dienen dazu, einen Zustand zu rekonstruierten, der erhalten werden soll - quasi ‚ ewig ‘ eingefroren werden soll -, um in der Geschichte jegliche Konsequenz auszublenden, die diesen Zustand und die damit zumeist fingierte Kontinuität gefährdet. Mythen in relativer Vergangenheit (‹geschichtliche Mythen›) hingegen sind der ‹heißen Erinnerungsoption› 33 Die folgenden Begriffe aus den Assmann ’ schen Studien sowie den Theorien moderner Erinnerungskulturen beinhalten einige problematische Voraussetzungen, die es vorweg zu bedenken gilt: Zunächst zeigt sich ein methodisches Desiderat in den Konzepten, da sie meistens Beobachtungen aus empirischen Studien abstrahieren, denen spezielle Kulturen und literaturhistorische Entwicklungen zugrunde liegen. So basiert beispielsweise die ägyptische Erinnerungskultur in den Assmann ’ schen Studien auf einer stratifizierten Gesellschaft, die sowohl geographisch begrenzt als auch größtenteils unbeeinflusst war und in der sich die Schrift aus sich heraus entwickelte. Diese Voraussetzungen entsprechen nicht denen des isländischen Mittelalters, in dem sich Gedächtnisse z.B. durch soziale Umstrukturierungen und die überregionale gelehrte Kultur und Literatur bereits differenzierter entwickelten. Daher muss zunächst für jeden einzelnen Begriff entschieden werden, ob er überhaupt eine Übertragung ermöglicht. 34 Vgl. Aleida und Jan Assmann. Schrift, Tradition und Kultur. In: Zwischen Festtag und Alltag. Hrsg. v. Wolfgang Raible. Tübingen 1988. S. 25-50, S. 35 sowie Assmann 2007, S. 72. 35 Claude Lévi-Strauss. Das wilde Denken. Aus dem Französischen von H. Neumann. Frankfurt am Main 1973. [OG: La pensée sauvage. Paris 1962], S. 270. 36 Assmann 2007, S. 75. 2.2 Erinnerungsoptionen und Identitätskonstruktion 19 zuzuordnen. Durch ihre Verwendung macht eine Gesellschaft sie zum Motor ihrer Entwicklung und konfiguriert aus der Geschichte heraus ihr Selbstbild. 37 Diese Optionen schließen sich jedoch nicht a priori aus, sondern können gleichzeitig (z.B. in Form verschiedener sozialer Bereiche, Institutionen oder Texte) innerhalb einer Gesellschaft auftreten. Daher unterscheidet Assmann zwischen „ Quietiven und Inzentiven der geschichtlichen Erinnerung, d.h. blockierenden und entzündenden Faktoren “ 38 , die die Wahl der jeweiligen Erinnerungsoption begründen. So stellt in Gesellschaften, die ein starkes Vergangenheitsbewusstsein haben, eines der wichtigsten Inzentive Herrschaft dar, denn Herrschaft braucht Herkunft. 39 Sie kann daher die Erinnerung fördern, indem sie mittels einer ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› ihre Herkunft retrospektiv legitimiert und prospektiv verewigt. Gleichzeitig kann Herrschaft aber auch dazu führen, dass sich die Unterdrückten mittels einer ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› mit dem Wunsch nach Wandel bis hin zum Widerstand gegen die Herrschaft auflehnen und zur Ausprägung einer Gegen-Geschichte beitragen. Ein häufig zu beobachtendes Phänomen stellt dabei gemäß Assmann (in Anlehnung an die Studien des italienischen Anthropologen Vittorio Lanternari aus den 60er Jahren) die Ausbildung eines ‹linearen Geschichtsdenkens› dar: „ Unterdrückung ist ein Inzentiv für (lineares) Geschichtsdenken, für die Ausbildung von Sinngebungsrahmen, in denen Bruch, Umschwung und Veränderung bedeutungsvoll erscheinen (Lanternari 1960). “ 40 Dieses Phänomen ist auf den ersten Blick leicht zu verwechseln mit der Funktionsweise der ‹kalten Erinnerungsoption›, die ebenfalls Diskontinuitäten ausblendet. Dies geschieht allerdings zum Zweck des Stillstands, wohingegen die ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› bestehende Brüche in einen Sinngebungsrahmen einpasst, der ihnen einen Sinn verleiht. 41 Auch gilt es neben den Erinnerungsoptionen noch unterschiedliche Funktionen von Erinnerungen zu differenzieren: Bezieht sich eine Gesellschaft zum Zweck der Formung ihres Selbstbildes auf die Vergangenheit, bezeichnet Assmann diese fundierende Erinnerung als Mythos. Diesem misst er zwei selbstbildformende Bedeutungen (‹Mythomotorik›) als Funktionen zu: zunächst die ‹fundierende› (bzw. legitimierende) Funktion, welche die Gegenwart als sinnvoll und als notwendige Konsequenz darstellt. Zweck dieses fundierenden Mythos ist es, den „ «Bestand und die Verfassung einer Gesellschaft durch Rückführung auf einen obersten Wert [zu 37 Der Begriff der ‹Rekonstruktion› in den Assmann ’ schen Studien bezieht sich darauf, dass Erinnerungen immer vor einem gegenwärtigen Hintergrund verstanden und entsprechend versinnlicht werden. Im zusätzlichen Abgleich mit historischen Ereignissen dieser Erinnerungen würde man in einigen Fällen auch den Begriff Konstruktion verwenden können, wenn nämlich die Erinnerung mit dem Ereignis in keiner Weise übereinstimmt. Da auf diesen Abgleich in dieser Abhandlung nicht verzichtet werden soll, werden solche Fälle als (re)konstruiert gekennzeichnet. 38 Ebd., S. 67. 39 Vgl. ebd., S. 71. 40 Ebd., S. 72. 41 Ebd., S. 72. 2 Erinnerungskultur 20 sichern], der allgegenwärtig und unumstritten, kurz: heilig ist.» “ 42 Dabei ist die Grundfigur des Mythos die Rückführung der gegenwärtigen Verhältnisse auf einen urzeitlichen ordo. Diese Art der legitimierenden Mythen hat sich insbesondere im europäischen Mittelalter in der Historiographie erhalten und zwar „ mit dem Ziel, «die Solidarität der Gruppe zu stärken» und sich ihrer Identität zu vergewissern. “ 43 Der Grund für die Entstehung dieser Mythen liegt in einem anthropologischen Bedürfnis nach Werterhöhung ihrer selbst sowie in den politischen Bedürfnissen nach Auratisierung der machthabenden Gruppen oder Personen begründet. 44 Diese ‹Mythomotorik› kann aber unter einer bestimmten Defiziterfahrung in eine gegenwartsrelativierende Funktion umschlagen, die die Gegenwart zugunsten einer schöneren (häufig heroischen) Vergangenheit relativiert und das Fehlende und Verlorene hervorhebt. Diese zweite Funktion nennt Assmann in Anlehnung an den Theologen Gerd Theißen ‹kontrapräsentisch›. 45 Aus den vorgestellten begrifflichen Kategorisierungen lässt sich schließlich folgende Übersicht zusammenstellen, welche die Optionen und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses zueinander in Beziehung setzt: Optionen und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses Motivation Inzentive (Anreize) Herrschaft: Allianz von Herrschaft und Erinnerung Unterdrückung: Allianz von Herrschaft und Vergessen Quietive (Blockierungsmittel) Herrschaft: Die ewige Gegenwart Optionen heiße Erinnerung kalte Erinnerung Zeitbezug relative Vergangenheit absolute Vergangenheit Geschichtsdarstellung Dokumentation von Dynastien geschichtl. Mythen, lineares Geschichtsdenken Dokumentation von Dynastien Mythen in illo tempore Mythomotorik fundierend/ kontrapräsentisch (zielt auf Integration/ Distinktion) fundierend (zielt auf Integration/ Distinktion) Ziel  Entwicklung anregen durch Einmaliges, Bedeutsames, Außerordentliches  Semiotisierung d. Geschichte Sinngebung/ Widerstand  Wandel einfrieren durch Wiederkehrendes, Regelmäßiges, Kontinuität  Entsemiotisierung d. Geschichte Kontrolle 42 Vgl. ebd., S. 185, angelehnt an M. Frank (1982); vgl. ebd., S. 185, Anm. 52. 43 Vgl. ebd., S. 185, angelehnt an L. Lévy-Bruhl (1929); vgl. ebd., S. 185, Anm. 55. 44 Vgl. ebd., S. 186. 45 Vgl. Assmann 2007, S. 79. 2.2 Erinnerungsoptionen und Identitätskonstruktion 21 Diese verschiedenen Optionen und Funktionen, die der Erinnerung des kulturellen Gedächtnisses zur Verfügung stehen, verfolgen daher unterschiedliche Zielsetzungen wie Sinngebung oder Kontrolle durch Se- oder Entsemiotisierung der Geschichte. Jede dieser Erinnerungsoptionen entspricht dem jeweiligen Identitätsbedürfnis (also den ‹Erinnerungsinteressen›) des sich erinnernden Kollektivs. 46 Überdies kann eine so entworfene Identitätskonstruktion ganz unabhängig von den herausgestellten Erinnerungsoptionen einerseits auf ‹Integration› (Einheit/ Vereinigung) und andererseits auf ‹Distinktion› (Trennung/ Abgrenzung) abzielen. 47 Dabei zielt die ‹Integration› auf eine Stabilisierung hochgradig instabiler politischer Organisationsformen und auf die Einbeziehung heterogener soziokultureller Formationen ab, wie man es sich bei einer historischen Überlagerung ethnopolitischer Verbände durch andere im Zuge von beispielsweise Wanderungen vorzustellen hat. 48 Demgegenüber geht es bei der ‹Distinktion› darum, sich immer wieder der Differenz nach außen bewusst zu werden und das Eigene der Gemeinschaft in Abgrenzung zu anderen fortwährend zu erinnern. 49 Diese Ausrichtungen von Identität sollen weniger einzelne Motive der Identifikation und Alterität erklären, als vielmehr zwei Formen von ‹Mythomotorik› beschreiben, auf die das Selbstbild einer Gesellschaft im Gesamten letztendlich abzielen kann. Über diese Erinnerungsoptionen und die jeweilige ‹Mythomotorik› wird ein Blick auf das geformte Selbstbild einer Gruppe, ihre Werte und Normen und ihre jeweiligen Identitätsbedürfnisse eröffnet. Mithilfe dieser herausgearbeiteten Optionen und Funktionen von Erinnerung soll der Untersuchungsansatz, dass Texte als Medium des kulturellen Gedächtnisses das Selbstbild einer Gruppe formen, einer Prüfung unterzogen werden. Daraufhin soll diskutiert werden, ob dieser Ansatz einen erweiterten Zugang zur Vorstellungswelt der isländischen Gesellschaft eröffnen kann. 46 Vgl. Assmann 2007, S. 78. 47 Vgl. Jan Assmann (Hrsg.). Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsentische und revolutionäre Mythen. In: Revolution und Mythos. Hrsg. v. Dietrich Harth und Jan Assmann. Frankfurt am Main 1992. S. 39-61, S. 43. 48 Vgl. Assmann 1992, S. 45 f. 49 Vgl. ebd., S. 48 f. 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte Spurðu menn [...] tíðendi [...] ok var þat síðan í minni fœrt, ok haft eptir til frásagna. Óláfs saga helga in sérstaka, Prolog 50 Wie dieses Zitat aus dem Prolog einer der Königssagas über König Olaf den Heiligen verrät, hatten bereits die mittelalterlichen Verfasser eine genaue Idee davon, wie eng der Zusammenhang zwischen einem «Ereignis» (tíðendi) und dessen «Erzählung» (frás ǫ gn) ist. Besonders in der isländischen Gesellschaft, auf deren Erinnerungsbildung diese Bemerkung abzielt, verstand man also das Gedächtnis gewissermaßen als einen Speicher (‹Archiv›), der die Schaltstelle zwischen input und output darstellt. Besonders bemerkenswert ist an diesem Zitat aber auch, dass die Erzählungen eindeutig erst unter Verwendung der offenbar bewusst, also selektiv, erinnerten Ereignisse zustande kommen. Diese Darstellung impliziert einen Rückgriff auf Erinnerungen für die Saga, womit ein zentraler Aspekt von Erinnerungskultur berührt wird: Erinnerung beruht primär auf Formen der bewussten Reaktivierung von Vergangenheit. Im Falle der Historiographie hat man es, wie das obige Zitat ebenfalls andeutet, zudem mit einer sekundären Erinnerungsbildung zu tun, bei der der Verfasser eines Textes meistens nicht mehr Teil des kommunikativen Gedächtnisses (also ein Zeitgenosse) ist und folglich zumeist Erinnerungen aus dem kulturellen Gedächtnis aktualisiert: Historiographie als Niederschrift der Erinnerung ist nicht ein an dem unmittelbaren Erleben von Realität orientierter Vorgang von Gedächtnisbildung, sondern die Vergegenwärtigung von vorhandenen Gedächtnisinhalten oder gar - und dies in den meisten Fällen - von geformten Erinnerungen anderer. 51 Die vernakulare isländische Literatur des Mittelalters ist allen voran durch Vergangenheitsversionen geprägt, die in verschiedenen Textarten unterschiedlich perspektiviert werden. Alle Texte vereint jedoch der Rückgriff auf Ereignisse der über zwei 50 ÍF XXVII, Hkr. II. Bjarni Aðalbjarnarson gaf út. Reykjavík 2002, S. 422; «Die Leute erfuhren von den Ereignissen, die in das Gedächtnis überführt und danach für Erzählungen verwendet wurden.» Die Übersetzungen in dieser Abhandlung stammen alle von der Verfasserin, sofern nicht anderweitig gekennzeichnet. 51 Franz-Josef Schmale. Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Darmstadt 1985, S. 20. 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 24 Jahrhunderte zurückliegenden Vergangenheit, die aufgrund ihrer Vielzahl offenbar eine zentrale, konstituierende Funktion für die isländische Gesellschaft hatten. Hierfür bildet die Historiographie eine wichtige Textgattung, da ihr vordergründiges Ziel die Darstellung der Vergangenheit ist. Daher verspricht diese kulturanthropologische Betrachtung verschiedener historiographischer Texte einen besonders aufschlussreichen Zugang zur Erinnerungskultur und damit zum Selbstverständnis der mittelalterlich-isländischen (im Folgenden der Einfachheit halber nur ‚ isländischen ‘ ) Gesellschaft und eine umfassende Diskussion der Funktionen des unauflösbaren Zusammenspiels verschiedener gesellschaftlicher Bereiche wie Gesellschaft, Politik, Literatur und Religion. Da es im isländischen Fall um schriftlich fixierte Erinnerungen geht, stellt sich notwendigerweise auch die Frage nach der Rolle der Schriftlichkeit und ihrem Einfluss auf die konnektive Struktur der Gesellschaft zum Zweck der Identitätsbildung. Ziel dieser Abhandlung soll deshalb sein, die historiographischen Texte in ihrer Entwicklung von ihrem Beginn an um 1100 bis zum Ende der Textneuproduktionen um 1300 miteinander zu vergleichen, um herauszustellen, wie sie Geschichte durch die zwei Jahrhunderte hinweg erinnern, um dann zu diskutieren, welches Selbstbild der isländischen Gesellschaft jeder einzelne Text imaginiert. Weiterhin wird auch zu untersuchen sein, ob bzw. wie die Texte motivisch, stilistisch und inhaltlich zusammenhängen bzw. welchen ‹Sitz im Leben› sie haben. Als Vorbereitung zur Erschließung der ‹Rahmenbedingungen› der Texte soll zunächst ein knapper Überblick über den historischen Hintergrund Islands von der Besiedlung bis zur Entstehungszeit der Texte gegeben werden, um dann die Gattung der historiographischen Texte näher einzugrenzen und einen Textbegriff zu etablieren, der Erinnerung nicht von ihrem Medium abhängig macht, sondern auch die mündliche Erinnerung als Grundlage der historiographischen Texte einbezieht. 3.1 Island 870-1300: der historische Hintergrund Die Geschichte Islands ist im Vergleich zu anderen Gesellschaften bzw. Ländern sehr jung. Sie ist mittlerweile über verschiedene Quellen erschließbar, von denen eine der wichtigsten die mittelalterliche schriftliche Überlieferung innerhalb und außerhalb Islands darstellt. Aber auch archäologische, linguistische und medizinische Untersuchungen (z.B. zur genetischen Verwandtschaft der heutigen isländischen Population mit genetischen Markern von Menschen aus ursprünglich keltischen Gebieten) haben in den letzten Jahrzehnten das Bild der isländischen Geschichte erweitern und differenzieren können. 52 Im Folgenden soll ein knapper Überblick im Hinblick auf die für die schriftliche Überlieferung relevanten Erkenntnisse und Aspekte gegeben werden und dabei das Augenmerk auf mögliche Diskrepanzen und Widersprüche innerhalb der Quellen gelegt werden. Solche bedürfen 52 Vgl. Stefán Aðalsteinsson. Blóðflokkar og menning Íslendinga. Staðanöfn, gífma og söl. In: Saga, 30. Reykjavík 1992 sowie weiterführende Literatur. 3.1 Island 870-1300: der historische Hintergrund 25 der Erklärung und weisen auf eine bedürfnisorientierte (Re-)Konstruktion von Vergangenheit in den schriftlichen Quellen hin. Um 870 wurde die nordatlantische Insel im Zuge wikingerzeitlicher Wanderbewegungen besiedelt, deren Auslöser bis heute unklar sind. 53 Nicht lange zuvor waren bereits irische Mönche über kurze Zeiträume hinweg dort ansässig gewesen, die in den altnordischen Quellen als papar bezeichnet werden, deren historische Verifikation sich allerdings noch immer schwierig gestaltet. 54 Die Hauptquellen für die Besiedlung Islands stellen zwei innerisländische vernakulare Texte dar, die Íslendingabók («Buch der Isländer») und die Landnámabók («Buch der Landnahmen»). Beide Texte berichten relativ homogen vom Ablauf der Besiedlung, die initialisiert worden sein soll von dem norwegischen Erstsiedler Ingólfr Arnarson und etwa sechzig Jahre angedauert haben soll. In dieser Zeit seien vor allem von Norwegen aus etliche Familien mit ihren Schiffen gen Norden aufgebrochen und hätten sich größtenteils friedlich auf Island angesiedelt. Dieser Vorgang wird mit dem altisländischen Terminus landnám («Landnahme») bezeichnet und fand häufig unter rituellen Umständen statt. Aber im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Phänomen der völkerwanderungszeitlichen Landnahme impliziert dieser Begriff keine Auseinandersetzungen mit ansässigen Gruppen im eroberten Gebiet. 55 Diese in den Texten geschilderten Rahmenbedingungen der isländischen Landnahme wurden vor allem in den letzten Jahren durch archäologische Forschungen differenziert. 56 Hierzu ha- 53 Vgl. Magnús Stefánsson. The Norse island communities of the Western Ocean. In: The Cambridge History of Scandinavia, 1: Prehistory to 1520. Ed. by Knut Helle. Cambridge 2003. S. 202- 220, S. 210 f. In den mittelalterlichen lateinischen Quellen Kontinentaleuropas und Skandinaviens wie z.B. den Kirchengeschichten des angelsächsischen Gelehrten Beda Venerabilis ( * 672/ 3-735†) oder des norddeutschen Gelehrten Adam von Bremen ( * etwa 1050-1081/ 85†) wird Island häufig mit dem ursprünglich von dem griechischen Entdecker Pytheas (4. Jahrhundert. v. Chr.) und in römischer Zeit vielfach aufgegriffenen Thule gleichgesetzt. Allerdings ist fraglich, ob die mittelalterlichen Darstellungen tatsächlich auf Pytheas zurückgehen, der (genau wie die römischen Historiographen) mit Thule eher Grönland identifizierte. 54 Vgl. Pernille Hermann. Who were the Papar? Typological structures in Íslendingabók. In: The Viking Age: Ireland and the West. Papers from the Proceedings of the Fifteenth Viking Congress, Cork, 18-27 August 2005. Ed. by John Sheehan, Donnchadh Ó Corráin. Dublin 2010. S. 145-153. 55 Der dt. Begriff ‹Landnahme› wurde im 18. Jahrhundert aus dem Isländischen übernommen und während des 19. Jahrhunderts auf verschiedene Thematiken übertragen wie z.B. auf völkerwanderungszeitliche Bewegungen und Ethnogenesen auf dem europäischen Festland (vgl. Richard Corradini. Art. „ Landnahme “ . In: RGA, 17. 1998. S. 602-611, S. 602). Im Folgenden soll der Terminus ‹Landnahme› als semantisch deckender Begriff für den isländischen Terminus landnám benutzt werden und hier den speziellen Fall der isländischen Landnahme bezeichnen. 56 Zuvor befanden sich die Forscherpositionen, v.a. begründet durch das bis vor wenigen Jahren bestehende Forschungsdesiderat in der isländischen Landnahmearchäologie, noch im Einklang mit den literarischen Darstellungen und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaften (vgl. v.a. Michael Müller-Wille. Landnahmen von Skandinaviern im nordatlantischen Bereich aus archäologischer Sicht. In: Vorträge und Forschungen. Hrsg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, XLI: Ausgewählte Probleme europäischer Landnahmen des Früh- und Hochmittelalters. Methodische Grundlagendiskussion im Grenzbereich zwischen Archäologie und Geschichte. Sigmaringen 1994. S. 129-196 sowie Heinrich Beck 1994a. Skandinavische Landnahme im atlantischen Bereich aus literaturhistorischer Sicht. In: Vorträge und Forschungen. Hrsg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, XLI: Ausgewählte Probleme eu- 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 26 ben insbesondere die isländischen Archäologen Adolf Friðriksson und Orri Vésteinsson entscheidende Beiträge geleistet. 57 Neben ihrem Vergleich von archäologischen Erkenntnissen und schriftlicher Überlieferung hat Orri Vésteinsson in verschiedenen Publikationen Erkenntnisse zum Ablauf der Besiedlung veröffentlicht, die die literarischen Darstellungen nur teilweise stützen können. 58 Zum einen konnte er herausstellen, dass das gesamte Landnahmeunterfangen in verschiedenen Phasen (primäre und sekundäre Besiedlung) vonstattenging. Die auf Island ergrabenen großen Landnahmehöfe, auf denen offenbar mehrere Familien gemeinsam über längere Zeit hinweg wohnten, weisen zudem darauf hin, dass sich die Auswanderer aus ökonomischen Gründen und zwecks höherer Sicherheit zusammentaten. 59 Er unterscheidet zum anderen drei verschiedene Arten der Besiedlung auf Island, abhängig von der landschaftlichen Formation: Fjord-, Tal- und Flachlandbesiedlung, die er primär für die Ausbildung sozialökonomischer Strukturen verantwortlich macht. 60 So sind es insbesondere die Flachlandbesiedlungen, in denen wegen hoher Siedlungsdichte und dadurch begrenztem Zugang zu Ressourcen sowie wegen der vielen angrenzenden Höfe die Kommunikation und später eine soziale Stratifikation innerhalb der Region begünstigt wurden. Das eindrucksvollste Beispiel für diese Entwicklung stellt das südliche Flachland dar, in dem sich die wichtigsten, später entstandenen Zentralorte (wie der Allthingplatz, das erste Erzbistum Skálholt sowie die Gelehrtenschule Oddi) befanden. Dort habe es die besten Voraussetzungen gegeben, um Macht zu kumulieren und auszuüben. 61 Diese Machtakkumulation erfolgte in den folgenden Jahrzehnten zunehmend durch die Ausbildung einiger grundlegender Organisationstrukturen, die die gesellschaftliche Entwicklung Islands bedeutsam beeinflussten. Zunächst einmal organisierte sich die soziale Struktur im Unterschied zu den Heimatländern in Nordeuropa (vor allem Norwegen und Schweden) relativ egalitär und die Machtausübung konzentrierte sich bald auf wenige Familien, weshalb man die isländische Gesellschaft häufig als Oligarchie bezeichnet. Die Gerichtsbarkeit wurde in Form einzelner Gerichte eingeführt (altn. þing; «Thing») und durch die Einrichtung des zentralen Gerichts Allthing (altn. alþingi) um 930 erweitert. Mit der Viertelteilung des Landes in die Rechtseinheiten fjórðungar («Landesviertel») wurde Islands Gerichtsbarkeit um 965 umfassend organisiert und zunächst abgeschlossen. Grundlage für die ge- ropäischer Landnahmen des Früh- und Hochmittelalters. Methodische Grundlagendiskussion im Grenzbereich zwischen Archäologie und Geschichte. Sigmaringen 1994. S. 197-211). 57 Adolf Friðriksson and Orri Vésteinsson. Creating a Past: A Historiography of the Settlement of Iceland. In: Contact, Continuity and Collapse. The Norse Colonization of the North Atlantic. Ed. by James Barret. Brepols 2003, S. 145. 58 Orri Vésteinsson. Patterns of settlement in Iceland: A study in Prehistory. In: Saga book of the Viking Society for Northern Research, XXV. London 1998-2001. S. 1-29. 59 Es ist möglich, dass diese Familienzusammenschlüsse, um den ökonomischen Anforderungen zu genügen, in Verbindung mit der späteren Herausbildung der hreppar («Gemeindeverbände») gesetzt werden können, die zur Sicherung der regionalen ökonomischen Basis etabliert wurden. 60 Vgl. Orri Vésteinsson. The Christianization of Iceland. New York 2000, S. 13 ff. 61 Ebd., S. 14. 3.1 Island 870-1300: der historische Hintergrund 27 setzgebende Gewalt in Island waren personengebundene Machtpositionen, die mit dem Titel goðar (Sg. goði «Gode») bezeichnet wurden und unweigerlich mit dem Einfluss der Personen oder ihrer Vorfahren (entweder bereits zur Landnahmezeit oder kurz darauf) zusammenhing. 62 Ihr Verhältnis zu den sich ihnen anschließenden Thingmännern war ein wechselseitiges, bei dem es einerseits um zu leistende Unterstützung (vor allem in Rechtsangelegenheiten vor Gericht) und andererseits um die Bereitstellung von Schutz und Sicherheit ging. Die Gerichtsbarkeit stellt daher einen zentralen Aspekt in der isländischen Geschichte dar, der sich auch in der Literatur niedergeschlagen hat: Auseinandersetzungen, Zerwürfnisse und Zusammenführungen bedeuten dort stets auch die Auseinandersetzung mit dem Gesetz. Das Gesetz organisierte die soziale Struktur der Gesellschaft in überaus hohem Maße und spielte auch bei der späteren Machtverteilung eine entscheidende Rolle. 63 Doch während dieser Zeit herrschte auch eine problematische Instabilität innerhalb der sozialen Struktur auf Island: Macht war grundsätzlich personengebunden und daher nach dem Tod einer Person ungewiss in ihrem Fortbestand: The problem of the chieftains was that their powers were personal, they were based on an individual ’ s ability to accumulate wealth, friends, family connections, and trust. No chieftain had the means to ensure that his powers would pass on undiminished to his heirs, although in practice they were of course in the best position to take over. What was wanting was some factor, independent of life and death, which could ensure the dependence of others. 64 Dieser ‚ Faktor ‘ kam mit dem radikalen Einschnitt der Christianisierung um das Jahr 1000. Diese ging primär vom norwegischen König Olaf Tryggvason aus und laut isländischer Quellen wurde die Entscheidung, den christlichen Glauben per Gesetz anzunehmen, gänzlich unabhängig und in weiser, politischer Voraussicht durch einen Mehrheitsentscheid auf dem Allthing getroffen. Mit diesem Einschnitt wandelte sich die soziale Struktur in Island erheblich: „ […] by linking their fortunes to the Church, the chieftains of the south, of which the Haukdælir seem to have been the first, managed to create power bases which were independent of the lives of individuals, and thereby could ensure the endurance of their families.“ 65 Eine der wichtigsten Familien, die auch im Hinblick auf die Literaturproduktion eine zentrale Rolle spielte, war die hier erwähnte, im südwestlichen Island ansässige Familie der Haukdœlir. Sie waren bis in das späte Mittelalter hinein sowohl in säkularen Belan- 62 «Gode» bezeichnet ein machtpolitisches Amt in Island während der ‹Freistaatszeit› von 930 bis 1262/ 4. Die 48 Männer, in deren Regierungsgewalt Island war, wurden goðar bzw. h ǫ fðingjar («Anführer») genannt. Man ist zudem versucht, diesen vererbbaren Titel (jedenfalls in den Anfängen) mit religiösen Funktionen in Verbindung zu bringen, auf die etliche Texte auch aufgrund auffälliger etymologischer Ähnlichkeit mit dem Wort goð («Gott») indirekt verweisen (vgl. Else Ebel. Art. „ Gode, Godentum “ . In: RGA, 12. 1989. S. 260-263, S. 260). 63 Vgl. Preben Meulengracht Sørensen. Fortælling og ære. Studier i islændingesagærne. Århus 1993, S. 110 ff. 64 Orri Vésteinsson 2000, S. 15. 65 Orri Vésteinsson 2000, S. 15. 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 28 gen als auch im klerikalen Bereich tonangebend. 66 Damit repräsentieren sie ein Phänomen, das man für Island im Mittelalter als typisch ansehen kann: die laikale Prägung der Kirche. Säkulare und klerikale Bereiche durchdrangen sich vielschichtig, meistens übte ein Kleriker auch säkulare Macht aus und ein weltlicher Oligarch hatte klerikalen Einfluss. Diese Entwicklung ist primär in der dezentralen und egalitären Gesellschaftsstruktur begründet, weil zunächst nur die Oligarchen die Mittel aufbrachten, um Kirchen zu bauen, die in den meisten Fällen vor allem in der frühen Zeit des Christentums auf ihrem eigenen Besitz errichtet wurden (sog. bændakirkjur «Bauernkirchen»). 67 Darüber hinaus war die Population Islands relativ klein, weshalb die Rekrutierung Geistlicher zumeist aus den Reihen weltlicher Machthaber notwendig war. Mit der (im nordeuropäischen Vergleich frühen) Einführung des Kirchenzehnten um 1097 begann eine folgenreiche Umgewichtung von personenzentrierter Macht zu territorialer Macht und damit auch eine Umverteilung der Machtstrukturen in der Gesellschaft: „ In this way the Church did contribute to increased social differentiation and the development of territorialized authority; it provided the institutional structures around which power could consolidated.“ 68 Nach der Christianisierung unterstand die isländische Kirche zunächst bis 1104 dem Erzbistum Hamburg-Bremen und es weilten bis in die 1060er Jahre hinein lediglich ausländische Missionarsbischöfe auf Island. Es bildete sich erst unter dem Episkopat des Haukdœlir-Bischofs Ísleifr Gizurarson ein autochthones Priestertum und eine isländische Kirchenstruktur heraus. 69 Im Jahr 1104 wurde die isländische Kirche dann dem Erzbistum in Lund zugeordnet und später mit der Gründung des Erzbistums Nidaros 1152/ 53 der norwegischen Kirche unterstellt. Ein weiteres Phänomen, das zur Stratifizierung der Gesellschaft und zur stetigen Machtumverteilung beitrug, ist die Herausbildung sogenannter ríki («Reiche»). Es ist unklar, wann diese Entwicklung begann (möglicherweise bereits im 11. Jahrhundert), allerdings kann man ihren Höhepunkt im 13. Jahrhundert beobachten. 70 Diese territorialen Einheiten waren im Gegensatz zu der personengebundenen Macht- 66 Ebd., S. 33. Es ist jedoch nicht sicher, ob die Haukdœlir durch ihr Mitwirken in der Kirche ihre bereits zuvor bestehende säkulare Macht ausweiteten oder ob sie erst durch die Kirche Macht kumulierten. Was man jedoch eindeutig feststellen kann, ist, dass sie von einer institutionellen Struktur der Kirche sehr profitierten (vgl. ebd., S. 34). 67 Vgl. Jón Viðar Sigurðsson. Chieftains and Power in the Icelandic Commonwealth. Transl. by Jean Lundskær-Nielsen. Odense 1999, S. 112. 68 Orri Vésteinsson 2000, S. 84. 69 Ebd., S. 33. 70 Vgl. Jón V. Sigurðsson 1999, S. 11 ff. Erst durch diese ríki war die spätere Akkumulation mehrerer goðorð (Godentümer) auf eine Person möglich, die im 12. Jahrhundert zur Herausbildung einiger mächtiger Herrschaftstümer führten (vgl. Helgi Þorláksson. Historical Background: Iceland 870- 1400. In: A Companion to Old Norse-Icelandic Literature and Culture. Ed. by Rory McTurk. Malden/ Oxford/ Carlton 2005. S. 136-154, S. 149 sowie weiterführende Literatur). Wann diese Entwicklung allerdings genau begann, ist umstritten; Jón V. Sigurðsson spricht sich für einen frühen Zeitpunkt um 1050 aus, andere halten eher die Zeit um 1190 für wahrscheinlich (vgl. Helgi Þorláksson 2005, S. 149). 3.1 Island 870-1300: der historische Hintergrund 29 ausübung der goðar personenungebunden und damit übertragbar, weshalb sich bis in das 13. Jahrhundert hinein stórríki («Großreiche») herausbildeten, deren bekanntester Inhaber (sog. stórgoði; «Großgode») der Historiograph und Politiker Snorri Sturluson war. Diese Entwicklung ist der deutlichste Hinweis für die Umstrukturierung von personengebundener Macht zu territorialgebundener Macht, da die isländischen Bauern sich nun nicht länger eigenständig einem Goden zuordnen konnten, sondern automatisch als Thingmänner ihrem lokalen stórgoði unterstellt wurden: The evolution of territorial lordships in the form of ríki may be regarded as a stage on the way towards organized statehood. The Icelandic constituion based on goðar and goðorð was, however, an anomaly. No single chieftain or family had the resources required to gain the upper hand in the internal power struggle and so control the whole country. 71 Damit einhergehend erhielt Norwegen eine neue Rolle in diesem Machtgefüge: War Island zuvor stets versucht, sich von Norwegen politisch unabhängig zu halten (obwohl die Isländer vor allem im Hinblick auf ökonomische Faktoren wie die Bauholzbeschaffung stets von Norwegen abhängig waren) 72 , suchten viele Isländer nun den Kontakt und die Gunst des norwegischen Königs: To increase their strength and prestige the chieftains sought the support of the Norwegian king and became his liegemen in return, and there was also increasing Norwegian influence over the Icelandic church. What is more, the Norwegians had by the early thirteenth century more or less monopolised trade with Iceland and shipping from and to it. It is therefore easy to understand why the Medieval Free State was nearing the end of its unique history. 73 Dieses stetige Ungleichgewicht von Macht unter den herrschenden Familien Islands führte im 13. Jahrhundert in ihrem Höhepunkt zu einem Bürgerkrieg. Diese Zeit der Unruhen wird als Sturlungaöld («Zeitalter der Sturlungar-Familie») 74 bezeichnet, benannt nach einer überaus einflussreichen Familie, der u.a. Snorri Sturluson angehörte. Mit dessen Widersetzung gegen die Absprache mit dem norwegischen König Hákon Hákonarson, Island unter die norwegische Krone zu bringen, und der damit verbundenen Verfolgung seiner eigenen Interessen nahm er als politischer Akteur in diesen Auseinandersetzungen eine zentrale Position ein und leitete die Sturlungaöld ein. Seine Bemühungen wurden jedoch durch seine baldige Ermordung im Auftrag des Königs vereitelt und Island wurde von königstreuen Oligarchen etwa 40 Jahre 71 Magnús Stefánsson 2003, S. 220. 72 Hörður Ágústsson. Fjórar fornar húsamyndir. In: Árbók hins íslenzka fornleifafélag. Reykjavík 1977. S. 153-159 sowie ders. Fornir húsaviðir í Hólum. In: Árbók hins íslenzka fornleifafélag. Reykjavík 1978. S. 5-66. Der Export von Holz ist bis in das späte Mittelalter hindurch zu beobachten (vgl. Alexander Fenton. Northern Links: Continuity and Change. In: The Northern and Western Isles in the Viking World. Survival, Continuity and Change. Ed. by Alexander Fenton & Hermann Pálsson. Edinburgh 1984. S. 129-145, S. 137). 73 Ebd., S. 220. 74 Vgl. Sverrir Tómasson. Art. „ Sturlungen und Sturlunga saga “ . In: RGA, 30. 2005. S. 84-90, S. 84. 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 30 später der norwegischen Krone angegliedert. Dennoch blieb Island bis zum Ende des sogenannten ‹Freistaats› in den Jahren 1262-64 eine dezentralisierte Gesellschaft ohne exekutive Instanz. 75 Allerdings waren es zuvor genannte Familien, die nicht nur entscheidenden Einfluss in unterschiedlichen sozialen Bereichen wie juristischen Belangen, der säkularen Machtverteilung und im klerikalen Bereich ausübten. Sie gestalteten darüber hinaus auch die Literaturproduktion zu Beginn des 12. Jahrhunderts bis in ihre Blüte im 13. Jahrhundert eindrucksvoll mit. 76 3.2 Mittelalterliche Historiographie auf Island Den Grundstock für die Entwicklung der historiographischen Literatur Islands, die in unvergleichbarem Maße autochthone Erzählungen in den Blick nimmt, bildete auf der einen Seite die freiwillige Bekehrung zum Christentum, durch die kein Traditionsabbruch (z.B. im Hinblick auf die Genealogien) stattfand, und auf der anderen Seite der auf Geschichtspflege ausgerichtete Benediktinerorden, dem die meisten Klöster in Island unterstanden. 77 So kann man am Anfang des 12. Jahrhunderts mit der Niederschrift der Íslendingabók 78 den Beginn der volkssprachlichen Überlieferung im Zuge der sog. 12th-century renaissance feststellen. 79 Diese beschäftigt sich zunächst besonders mit der Geschichte Islands, wird bald darauf aber durch altisländische Übersetzungen gelehrter und poetischer Texte Festlandeuropas dominiert. 75 Orri Vésteinsson 2000, S. 12. 76 Doch obwohl die Kirche das Schriftwesen dominierte, hatte sie nicht allzuviel Einfluss bis sie Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts durch die Loslösung von der säkularen Macht und anderen Umstrukturierungen an Einfluss gewann (vgl. Gísli Sigurðsson). Bók í stað lögsögumanns. In: Sagnaþing helgað Jónasi Kristjánssyni sjötugum 10. apríl 1994. Fyrri hluti. Reykjavík 1994. S. 207-232, S. 229). 77 Vgl. Kurt Schier. Anfänge und erste Entwicklung der Literatur in Island und Schweden. Wie entsteht Schrift in einer schriftlosen Gesellschaft? In: Nordlichter. Ausgewählte Schriften 1960-1992. Hrsg. v. Ulrike Strerath-Bolz. München 1994. Anfänge und erste Entwicklung. S. 210-265. 78 Im Folgenden abgekürzt mit Íb. und zitiert nach ÍF I. Einige wenige Jahre oder Jahrzehnte vor Ari hat bereits der Priester Sæmundr fróði Sigfússon ( * 1056-1133†) eine Abhandlung über die norwegischen Könige auf Latein verfasst, die jedoch nicht überliefert ist und deren vage Form nur durch Hinweise anderer Quellen umrissen werden kann. Im späteren Verlauf dieser Abhandlung wird darauf zurückzukommen sein. 79 Die sog. 12th-century renaissance in Form der Vernakularisierung der Literatur ging von England und dem Hof um Henry II aus (vgl. Peter Damian-Grint. The new Historians of the Twelfthcentury Renaissance. Inventing vernacular Authority. Woodbridge 1999, S. 1). Es wurde in der Forschung diskutiert, ob der Beginn der isländischen Schriftkultur als eine Antwort auf Adam von Bremens Gesta Hamburgensis Ecclesiae Pontificum betrachtet werden kann, die jener in den Jahren 1068-75 im Erzbistum Hamburg-Bremen verfasste, dem Island zu der Zeit unterstand. Diese Zusammenhänge müssen jedoch spekulativ bleiben, wohingegen der anhaltende Einfluss Adams von Bremen in der altnordischen Literatur nicht geleugnet werden kann: „ The remarkable interest in Scandinavian History exhibited in the decades after 1170 was not directly caused by Adam, but none of the historians who wrote then, nor their successors, could escape his influence.“ (Birgit Sawyer and Peter Sawyer. Medieval Scandinavia: From Conversion to Reformation, circa 800- 1500. The Nordic Series, 17. Minneapolis/ London 1993, S. 48). 3.2 Mittelalterliche Historiographie auf Island 31 Etwa gleichzeitig kommt es zu ersten Übersetzungen religiöser lateinischer Literatur, die quantitativ betrachtet die Literatur des 12. Jahrhunderts vorherrschend prägen. 80 Fast gleichzeitig mit der Íb. datiert man auch die erste Zusammenstellung von Landnahmeberichten, die gemeinhin als Grundlage der im 13. Jahrhundert überlieferten Landnámabók 81 betrachtet werden. Einige wenige Jahrzehnte später entwickeln sich die sogenannten Königssagas, die erst einmal keine Gemeinsamkeiten mit den zuvor genannten islandzentrierten Texten aufweisen, da sie die norwegische Geschichte abbilden. Charakteristisch ist damit für die altnordische Literatur entgegen der festlandeuropäischen Literatur des frühen Mittelalters, dass es keine den Geschehnissen gegenwärtige schriftliche Überlieferung gibt, sondern dass sie erst im frühen, bereits christlichen Hochmittelalter  in Volkssprache verfasst  mit einem zeitlichen Abstand zu den beschriebenen Ereignissen von mindestens 200 Jahren einsetzt. Genau hierin bestand und besteht noch immer eine der primären Herausforderungen der Altnordistik: die Frage nach dem Quellenwert aufgrund des schwer verifizierbaren Verhältnisses von Historizität und Literarizität. Diese nahm erst in den vergangenen Jahren nach der jahrzehntelangen Spaltung der Forschung in zwei Lager (die Buchprosavs. die Freiprosatheoretiker) 82 , die nur kategorisch entgegengesetzte Lösungsansätze boten, unter anderem mit der These der reziproken Beeinflussung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine andere Richtung an: „ Die mündliche Erzählkultur geht der Sagaliteratur nicht etwa genetisch voraus - sie bildet vielmehr den medialen Kontext, in dem diese realisiert wird. “ 83 Einer der Anstöße für diese Forschungsdebatte ist der generelle Vergangenheitsbezug, der fast alle altnordischen Texte vorherrschend prägt und gleichzeitig eine vermeintlich historische und mündlich tradierte Authentizität suggeriert. 84 Es erweist sich daher als besonders schwie- 80 Vgl. Gabriel Turville-Petre. Origins of Icelandic Literature. Oxford 1953, bes. S. 142 sowie Schier 1994, S. 220 ff. 81 Im Folgenden abgekürzt mit Lb. und zitiert nach ÍF I. 82 Für die Freiprosalehre sei an dieser Stelle auf den schweizerischen Altgermanisten Andreas Heusler als Hauptvertreter hingewiesen. Die Buchprosalehre wurde indes vor allem durch den Skandinavisten, Religionshistoriker und Theologen Walter Baetke vertreten, doch eine Vielzahl der Vertreter gehörte der «Isländischen Schule» an, so z.B. der isländische Skandinavist Sigurður Nordal und der isländische Sprach- und Kulturwissenschaftler Björn M. Ólsen. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick dazu findet sich bei Else Mundal. Sagadebatt. Oslo, Bergen, Tromsø 1977; Walter Baetke (Hrsg.). Die Isländersaga. Darmstadt 1974 und Carol Clover and John Lindow. Old Icelandic Literature. A Critical Guide. Islandica, 45. Ithaca/ London 1985. 83 Klaus Böldl. Eigi einhamr. Beiträge zum Weltbild der Eyrbyggja und anderer Isländersagas. RGA Ergbd., 48. Hrsg. v. Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer. 2005, S 56 ff. sowie dort diskutierte Literatur. Eben diesem Ansatz entspringt auch die im folgenden Kapitel angeführte Textdefinition, die von einem wechselseitigen Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausgeht und sie lediglich hinsichtlich ihres Mediums unterscheidet, doch beide Formen als ‹Text› verstehen will. Für die Betrachtung der altnordischen Texte ist die Berücksichtigung dieses reziproken Einflusses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufgrund der Verschriftlichungssituation unabdingbar. 84 Zudem unterliegen die historiographischen Texte einem spezifischen mittelalterlichen Geschichts- und Weltbild, das allen Texten zugrunde lag und somit Gattungsausprägungen von 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 32 rig, historiographische Texte als Genre abzugrenzen. 85 Und dennoch gibt es entscheidende Unterschiede im Textkorpus, die die Forschung seit jeher dazu bewog, Gattungen zu definieren und an diesen festzuhalten. Ein erster Beweggrund ergibt sich aus den Texten selbst, in denen bereits partiell begrifflich zwischen verschiedenen Textformen unterschieden wird. 86 Neben der zu sehr wertenden Unterscheidung in historiographische und pseudohistorische Texte der Skandinavistin Stefanie Gropper (ehem. Würth) schlägt der dänische Literaturwissenschaftler und Skandinavist Preben Meulengracht Sørensen die folgende Differenzierung vor: es gebe Texte, die sich selbst mit einer entschlossenen Prägnanz als Quelle darstellen (wie die Isländersagas) und Texte (wie die Königssagas), die aufgrund ihres offenen Quellenumgangs auf ersteren basieren könnten. 87 Was Meulengracht Sørensen hier lediglich implizit unterscheidet, konkretisiert der tschechische Religionshistoriker und Skandinavist Jiří Starý, indem er die begriffliche Unterscheidung in ‹naive› und ‹kritische Geschichtsschreibung› vornimmt: Die Frage der äußeren (also jenseits der Tradition stehenden) Wahrheit ist für die Saga offensichtlich ganz belanglos. Sie liefert das Tradierte, ohne dessen historischen Wert zu hinterfragen, weil in ihr das Tradierte mit dem Geschehen verschmilzt. Das Überlieferte ist wahr, und wo die Tradition variiert, kann man zu keiner einheitlichen Wahrheit durchdringen. 88 Im Gegensatz zu der bzw. den vom Verfasser kommentarlos dargelegten Variante(n) der Tradition differenziert er die ‹Kritische Geschichtsschreibung› wie folgt: Vornherein beschränkt waren. Dieses implizierte vor allem ein statisches Weltbild, weshalb die mittelalterliche Geschichtsauffassung auch die Konsequenz eines nicht prozessualen Denkens darstellt. Die Kategorie des Mythos gehörte als einzige Vergangenheitsdarstellung in den Alltag der Kulturen, deren Denken zirkulativ (kreislaufförmig) geprägt war und eine immerwährende Erneuerung der existenten Strukturen implizierte. Aus diesem Grund war die Aktualisierung mythischer Strukturen wichtiger als das Außerordentliche; man wiederholte lieber Schemata und negierte damit sozusagen die Geschichte an sich (vgl. Böldl 2005, S. 51). Durch die christliche Lehre prägte später häufig eine bibelexegetische Prägung die mittelalterliche Historiographie, aufgrund derer die Geschichte als Gottesgeschichte verstanden wurde (vgl. Schmale 1985, S. 17). 85 Vgl. u. a. Kurt Schier. Sagaliteratur. Stuttgart 1970 sowie Stefanie Würth. Historiography and Pseudo-History. In: A Companion to Old Norse-Icelandic Literature and Culture. Ed. by McTurk, Rory. Malden/ Oxford/ Victoria 2005. S. 155-172, S. 156. 86 Die saga (womit im engeren Sinne die Königs- und Isländersagas und auch die späteren Vorzeit- und Skaldensagas - Fornaldarsögur und Skáldasögur - bezeichnet werden) beispielsweise wurde im mittelalterlichen Island von einer kurzen Erzählung (einem sog. þáttr) bereits durch ihre Bezeichnung abgegrenzt. 87 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 32. 88 Jiří Starý. Naivität und Kritik: Die altnordische Geschichtsschreibung. In: Snorri Sturluson - Historiker, Dichter, Politiker. Hrsg. v. Heinrich Beck. RGA Ergbd., 85. 2013. S. 93-127, S. 106. Er spricht damit der Saga keineswegs gewisse Perspektiven bzw. Ausrichtungen oder die Darstellung mehrerer Varianten ab. Ihm geht es vielmehr darum, in Abgrenzung zu anderen Texten einen speziellen Umgang mit den vorliegenden schriftlichen Quellen oder der zugrundeliegenden mündlichen Tradition (Tradition wird hier synonym für Überlieferung genutzt) zu markieren, der für die Abgrenzung beider Textformen zunächst durchaus sinnvoll sein kann. 3.2 Mittelalterliche Historiographie auf Island 33 Wir erblicken hier nicht den Tradierenden, der sich nur als ein Glied der Tradition sieht, sondern den echten Historiker, der der Tradition gegenüber steht und frei über sie verfügt. Der Tradierende wird zum Historiker und die Tradition wird zu seiner Quelle. Nur deshalb kann der Geschichtsschreiber gewisse Teile der Tradition akzeptieren und in sein Geschichtswerk einreihen, die anderen aber weglassen oder sie zwar anführen, sie aber unmittelbar darauf als weniger glaubwürdig bezeichnen. […] Er zielt nicht auf die Tradition ab. Diese ist für ihn nicht Endzweck, sondern nur ein Mittel beim Suchen der historischen Wahrheit. 89 Starýs Unterscheidung zwischen ‹naiver› und ‹kritischer Geschichtsschreibung› eröffnet die Möglichkeit, Texte unterschiedlichen Formats als historiographische Texte zu klassifizieren, die nicht nur formale oder inhaltliche Gemeinsamkeiten teilen, sondern denen offenbar seitens der Verfasser und Rezipienten eine entscheidende Gemeinsamkeit bzw. dasselbe Potential zugesprochen wurde: eine kritische Betrachtungsmöglichkeit - eine ‹Quellenkritik›. 90 Im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzung verfügt der Verfasser über die ihm vorliegenden Quellen und kann „ das Schicksal des Textes mitbestimmen. “ 91 Auf dieser Grundlage lässt sich zeigen, wie der Gehalt jener historiographischen Texte zu bewerten ist, denen ein spezieller Umgang mit ihren Quellen zugrunde liegt. Vor allem im Hinblick auf die Frage, welche Rolle die historiographischen Texte im Rahmen der isländischen Erinnerungskultur des Mittelalters spielen, könnte Starýs Ansatz einen Konnex zwischen Erinnerung und Textintention darstellen: er fokussiert den Umgang eines Verfassers mit der Überlieferung respektive Erinnerung und den Parametern, denen seine spezielle Quellenkritik unterliegt. Um der isländischen Identitätskonstruktion in diesen ‹kritischen› Texten nachgehen zu können, bieten sich hinsichtlich der Textauswahl zum einen die bereits zuvor erwähnten islandzentrierten Texte Íb. und Lb. an, die im Rahmen dieser Abhandlung als primäre Historiographie bezeichnet werden sollen, da sie sich vorrangig 89 Ebd., S. 107; Hervorhebungen im Original. Diese Trennung darf nicht fälschlicherweise zu Kategorisierungen führen, welche Textformen sich nun näher an der historischen Wahrheit befänden. Die Texte basieren alle auf der ihnen vorliegenden Tradition (im Sinne der Überlieferung), differenziert werden sollte nur der Umgang mit dieser und der daraus resultierenden Verfasserkonzeption. Es gilt an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum modernen Historiographen die Spielräume in Texten des Mittelalters für die Verfasser bedeutend enger waren, weshalb sich vor allem vormoderne Texte für eine kulturanthropologische Betrachtung eignen: „ Der Geschichtsschreiber und sein Werk - und das unterscheidet jedenfalls die mittelalterliche Historiographie von der modernen - und damit also auch die tatsächlich erinnerte Geschichte sind in extremer Weise von äußeren Bedingungen abhängig, die ein Autor nur in engen Grenzen zu beeinflussen, kaum aber zu überwinden vermag. “ (Schmale 1985, S. 26). 90 „ Die Verwandlung der Tradition in eine Quelle bringt ihre Klassifizierung mit sich und Einstufung nach der Zuverlässigkeit - mit einem Wort: eine Quellenkritik. “ (Starý 2013, S. 110). Allerdings ist zu diskutieren, ob diese Kritik tatsächlich auf einer Traditionsverwandlung beruht, denn bereits „ […] durch die Schriftform gewinnt die Überlieferung eine Gestalt, der gegenüber sich ihre Träger kritisch verhalten können. “ (Assmann 2007, S. 100). Daher wird der Begriff ‚ Quelle ‘ hier zunächst allgemein für Texte verwendet, die bei der Entstehung eines anderen Textes zugrunde gelegt wurden. 91 Starý 2013, S. 109. 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 34 mit der Herausbildung der isländischen Gesellschaft befassen. 92 Die erste lässt sich konkret zwischen 1122 und 33 datieren, während man für die zweite die Entstehung der frühesten Varianten ebenfalls Anfang des 12. Jahrhunderts vermutet, aber ihre Form nur aus den Überlieferungen des 13. Jahrhunderts bekannt ist. Charakteristisch für diese beiden Texte ist ihre Bezeichnung als -bók, die anscheinend in Abgrenzung zu saga gebraucht wird. 93 Einige Jahrzehnte später beginnt nach der Mitte und vermehrt gegen Ende des 12. Jahrhunderts die Herausbildung der sekundären Historiographie, nämlich der Königssagas, die zwar Geschichte schreiben, aber nicht zuvorderst die isländische, sondern primär die norwegische Geschichte erinnern. 94 Es erfolgt also offensichtlich um die Jahrhundertwende zum 13. Jahrhundert ein noch zu klärender Perspektivenwechsel auf die eigene Geschichte, da der Fokus nun auf die Vergangenheitsrekonstruktion jenes Landes gelegt wird, das die Isländer in ihrer Literatur als Heimatland bezeichnen. Der primären und sekundären Historiographie ist zum einen ihre Quellenkritik zum Zweck des Auffindens einer ‹Wahrheit› 95 sowie ihre offensichtliche Nähe zu lateinischen Vorbildern gemein, die sich insbesondere in der Form der Texte niederschlägt. 96 So findet man einen Prolog 92 Darüber hinaus kann man noch weitere ‹kritische› Texte zur isländischen Geschichte nennen, die im Folgenden an geeigneter Stelle vergleichsweise herangezogen werden sollen (und daher auch in der Auflistung im Anhang enthalten sind, vgl. Anm. 98). Im außerisländischen Bereich gibt es ebenfalls Begründungsgeschichten wie die Guta saga für Gotland, die Orkneyinga saga für die Orkneyinseln und die Færeyinga saga für die Färöer, die aber aufgrund ihrer ‹naiven› Form in dieser Abhandlung unberücksichtigt bleiben. 93 In späterer Zeit wird die Bezeichnung -bók auch für Codices verwendet. Der Begriff saga (abgeleitet von dem Verb segja «erzählen, sagen, berichten») als Textbezeichnung verweist auf eine (mindestens suggerierte) kontinuierliche Fortsetzung einer bestehenden mündlichen Tradition: „ I selve videreførslen af ordet saga i den skriftlige litteratur kan vi se et udtryk for bevidstheden om en kontinuitet mellem den mundtlige fortælling og det skriftlige værk, og i skriften blev fortællesproget og den mundtlige fortællers fremstillingsform overtaget efterlignet. “ (Meulengracht Sørensen 1993, S. 51). Diese Kontinuität wurde allerdings wenigstens zu einem Teil dadurch fingiert, dass die Schriftlichkeit in Island gegenüber dem mündlichen Erinnern neue Sinngebungsrahmen und Perspektivierungen ermöglichte (vgl. Ole Bruhn. Tekstualisering. Bidrag til en litterær antropologi. Med forord af Preben Meulengracht Sørensen. Århus 1999, bes. S. 155-205). 94 Auch in Norwegen entstehen (vermutlich) zwischen 1170 und 1190 drei synoptische Historiographien der norwegischen Geschichte: zwei lateinische Texte (die Historia Norvegiae (im Folgenden H.N.) um 1170 sowie die Historia de Antiquitate Regum Norwagiensium (im Folgenden H.A.) von Theodoricus monachus um 1180) und die volkssprachlichen Ágrip af Noregskonungas ǫ gum (im Folgenden Ágrip) um 1190, die eine offensichtliche Interferenz mit den isländischen Historiographien wie Aris Íb. und (wahrscheinlich) Sæmundr Sigfússons lateinischen Königsviten aufweisen. 95 Wie genau sich diese Wahrheit letztendlich definieren lässt, wird im Verlauf dieser Abhandlung diskutiert werden. Unstrittig ist, dass diese Wahrheit keinen objektiven Kriterien unterliegt: „ When Icelanders wrote about Scandinavian history, they did not try impartially to discover the truth; like other historians, their aim was to present a plausible account of the past that reinforced their own, or their patrons ’ , ideas and values, in the process modifying or even inventing episodes. “ (Sawyer/ Sawyer 1993, S. 218 f.); vgl. zum Wahrheitsbegriff in der Sagaliteratur auch Meulengracht Sørensen 1993. 96 Überblickshafte Darstellungen zur mittelalterlichen Historiogaphie in Kontinentaleuropa finden sich bei Hans-Werner Goetz. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittel- 3.3 Eine Textdefinition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 35 und/ oder Epilog am Beginn und am Ende der Texte, Kapitelunterteilungen und in den meisten Texten auch eine Autorangabe. 97 Zum anderen berichten sie alle in prosaischer Form vom Ursprung, dem Beginn und von der Entwicklung der skandinavischen Gesellschaften bzw. bestimmter Gruppen und sind hauptsächlich in Island von Isländern verfasst worden. Aus diesem Grund soll auch die sekundäre Historiographie näher hinsichtlich eines möglichen isländischen Identitätsdiskurses betrachtet werden, denn nicht nur die Perspektive nach innen auf die eigene, sondern auch die nach außen auf andere Gesellschaften lässt Rückschlüsse auf die eigene Identität zu: 98 The sudden appearance of these [d.s. vor allem die isländische] societies in the North Atlantic sometime in the ninth and tenth centuries has fascinated scholars for a long time. […] The modern citizens of these societies are equally intrigued by the abrupt beginnings of their nations ’ past, so unlike the experience of the neighboring states, asking whether they are simply the descendants of irritated Norwegians or in some way unique. Having a relatively recent and sudden origin has without doubt shaped the national identities of both the Faroese and Icelanders, affecting their selfperception and confidence in dealings with other nations. 99 Gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstehen keine neuen historiographischen Texte mehr zur skandinavischen Geschichte, sondern der Fokus verlagert sich auf Kompilationen der Königsbiographien sowie die Einbettung der skandinavischen in die transnationale Geschichte Roms und Trojas (Rómverja saga, Trójumanna saga), Britanniens (Breta sögur) oder in Universalgeschichten (Veraldar saga) durch die Entstehung umfassender Codices wie beispielsweise der Hauksbók. 3.3 Eine Textdefinition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Bei der Beschäftigung mit der mittelalterlich skandinavischen Literatur wird man, wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, mit einer grundsätzlichen Problematik konfrontiert: Die Texte basieren, so ist sich die Forschung mittlerweile einig, zu einem Teil auf mündlicher Überlieferung, die somit als Grundvoraussetzung der Literatur betrachtet werden muss. Für eine kulturanthropologische Betrachtung, wie sie in dieser Abhandlung angestrebt wird, stellt sich allerdings die Frage nach dem jeweiligen Verhältnis der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung insofern nicht, als dass sowohl mündliche als auch schriftliche Überlieferung gleichermaßen kulturellen Sinn herzustellen vermögen und somit im Rahmen der Erinnerungskultur alter. 2. erg. Auflage. Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, 1. Berlin 2008 und bei Schmale 1985. 97 Zum Charakter der altnordischen Prologe sowie den Kriterien zur Kategorisierung der altnordischen Historiographie s. Sverrir Tómasson. Formálar íslenskra sagnaritara á miðöldum. Reykjavík 1988. 98 Daraus ergibt sich folgendes Textkorpus für diese Abhandlung: vgl. Historiographische Texte 1100-1300 im Überblick, S. 245-246 im Anhang dieser Abhandlung. 99 Adolf Friðriksson/ Orri Vésteinsson 2003, S. 139 f. 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 36 funktionsäquivalent sind. 100 Zu differenzieren sind sie allerdings dahingehend, dass sie dies in unterschiedlicher Form tun. Die Einführung der Schrift als zusätzliches Medium eröffnete vor allem neue Möglichkeiten bei der Gestaltung kultureller Vergangenheit, die zuvor in der oralen Gesellschaft aufgrund ihrer Speicherbegrenzung keine Rolle spielten. In oralen Gesellschaften ist die Überlieferung eher auf Repetition ausgerichtet, da Variation den Sinnrahmen gefährden könnte, während in skripturalen Gesellschaften der kulturelle Sinn ausgelagert werden kann, um ihn später (d.h. außerhalb des Rahmens der direkten Sprechsituation) wieder aufzunehmen. Assmann bezeichnet diese beiden Formen von Sinnstiftung mit den Begriffen der ‹rituellen› und der ‹textuellen Kohärenz›. 101 Aufgrund der Annahme, dass sich die beiden zentralen Medien des kulturellen Gedächtnisses in ihrer Funktion innerhalb einer Erinnerungskultur nicht unterscheiden, ergibt sich notwendigerweise eine Textdefinition, die sowohl mündliche Überlieferung als auch deren spätere schriftliche Wiederaufnahme als Text begreift: Ein Text wird somit, gemäß Assmann (angelehnt an Konrad Ehlich), als Sprechakt im Kontext ‹zerdehnter Situationen› definiert. 102 Es geht dabei um die Wiederaufnahme einer Botschaft und ihren Transport über eine Situation hinweg, indem sie von ihrer unmittelbaren Sprechsituation losgelöst wird. Diese Textdefinition ermöglicht damit auch die Betrachtung einer mündlichen Erzählung als Text und unterscheidet nicht zwischen den Medien der Überlieferung, wodurch das zur Zeit der Textniederschrift intendierte Gesamtkonzept des vorliegenden Textes, seine möglichen Vorstufen einbeziehend, beurteilt werden kann. Durch die Verbindung zwischen Sprecher und Hörer über raumzeitliche Grenzen hinweg kann ein Text zudem durch gesteigerte Verbindlichkeit auch als ‹kultureller Text› (nach Aleida Assmann) definiert werden. 103 Der ‹kulturelle Text› hat für die Gesamtheit einer Gesellschaft besonders ‹normative› (kodifizierte Normen sozialen Verhaltens) und ‹formative› (Selbstbild der Gruppe formende und identitätsstiftende) Verbindlichkeit: Kulturelle Texte beanspruchen eine gesamt-gesellschaftliche Verbindlichkeit, sie bestimmen Identität und Kohärenz einer Gesellschaft. Sie strukturieren die Sinnwelt, innerhalb derer sie sich verständigt, und das Bewußtsein von Einheit, Zusammengehörigkeit und Eigenart, durch dessen Weitergabe sie sich über die Generationenfolge hinweg als Gruppe wiedererkennbar reproduziert. 104 Dieser Textbegriff impliziert jedoch, dass generell jedes Speichermedium des kollektiven Gedächtnisses ein ‹Text› ist. Etwas differenzierter hat Aleida Assmann in 100 Vgl. Assmann 2007, S. 89. 101 Vgl. ebd., S. 87 ff. 102 Vgl. ebd., S. 21. 103 Vgl. Aleida Assmann 1995b. Was sind kulturelle Texte? In: Literaturkanon - Medienereignis - Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Hrsg. v. Andreas Poltermann. Berlin. S. 232-244. 104 Vgl. Jan Assmann (Hrsg.). Religion und kulturelles Gedächtnis: zehn Studien. München 2000, S. 127 f. Aufgrund dieser Textdefinition wird der den Text Reproduzierende in dieser Abhandlung mit dem Begriff des Verfassers bezeichnet, ohne dabei aber die Vorstellung literarischen Schaffens im modernen Sinne zu implizieren. 3.3 Eine Textdefinition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit 37 einem ihrer Aufsätze, entsprechend des jeweiligen Rezeptionsrahmens, zwischen ‹literarischem› und ‹kulturellem Text› unterschieden und so herausgestellt, dass die Textfunktion grundsätzlich durch die Form seiner Aneignung bestimmt wird. 105 Diese Unterscheidung lenkt den Blick zunächst einmal darauf, dass ein Text unterschiedlich ‚ gelesen ‘ werden kann und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Funktionen innerhalb der Erinnerungskultur einnehmen kann. Diese Erkenntnis ermöglicht vor allem im Kontext mittelalterlicher Rezeptionsmechanismen eine differenzierte Perspektive auf jede einzelne Textversion, trägt allerdings nicht weiter dazu bei, die Funktionen ‹literarischer Texte› für das kollektive Gedächtnis genauer zu bestimmen. Einen hilfreicheren Ansatz hierzu hat Astrid Erll geleistet, indem sie drei Funktionsaspekte der Medien des kollektiven Gedächtnisses (im Sinne des collective memory) unterschied: Speicherfunktion, Zirkulationsfunktion und Abruffunktion. 106 Dabei entspricht der ‹kulturelle Text› der Assmann ’ schen Terminologie der Speicherfunktion als der klassischen Funktion der Medien des kollektiven Gedächtnisses. In Abgrenzung dazu bezeichnet Erll Texte, die eine Zirkulationsfunktion erfüllen und dadurch Erinnerungsgemeinschaften über weitere Räume hinweg synchronisieren, als ‹kollektive Texte›. 107 Der entscheidende Unterschied zum ‹kulturellen Text› ist darin zu sehen, dass ‹kollektive Texte› im Rahmen einer Konsensbildung in ‹Interpretationsgemeinschaften› 108 rezipiert werden „ als Vehikel 105 Vgl. A. Assmann 1995b, S. 234. 106 Vgl. Erll 2005, S. 137 ff. 107 Vgl. ebd., S. 156. Ihre Terminologie und Definitionen orientieren sich vornehmlich an moderner Literatur, weshalb sie an dieser Stelle auch der Begriffsdefinition von Niklas Luhmann folgt und mit ‹kollektiven Texten› das neuzeitliche Phänomen von Massenmedien beschreibt (vgl. ebd., S. 137 f.). Eine Übertragung dieser Textfunktion auf vormoderne Literatur zeigt sich jedoch als überaus fruchtbar im Rahmen der Analyse historiographischer Texte im mittelalterlichen Island, die ebenfalls über weitere Räume hinweg eine Interpretationsgemeinschaft synchronisierten, wie später in dieser Abhandlung gezeigt werden soll. Daher soll der Begriff des ‹kulturellen Textes› im Folgenden im Hinblick auf seine Funktion als Zirkulationsmedium verwendet werden. 108 Mit diesem Begriff beschreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Stanley Fish soziale Gruppen, die sich auf Deutungsmöglichkeiten der Geschichte einigen, wobei deren Entscheidung direkt mit sozialen Faktoren wie Macht oder der Gesellschaftsstruktur zusammenhängt (s. Stanley Fish. Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge/ London 1980). Dieser Begriff ist allerdings nicht deckungsgleich mit dem der ‹textual community›, die der kanadische Historiker und Literaturwissenschafter Brian Stock in den 80er Jahren für die mittelalterliche religiöse Literatur in Frankreich prägte (vgl. Brian Stock. The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries. Princeton, New York 1983, bes. Kap. Textual Communities). Bei seinen Ausführungen ging es um die soziale Interaktion zwischen sogenannten Interpreten der religiösen Texte und der Gemeinschaft, also einer Gruppe, die über schriftliche Texte in der Mündlichkeit kommuniziert. Eine ‹Interpretationsgemeinschaft› kann nicht nur in Verbindung mit religiösen Textinhalten auftreten und tätigt keine direkte Auslegung für Illiterati, sondern kommuniziert quasi textintern über die Texte miteinander. Dieser Begriff wurde auch in der altnordistischen Forschung mehrfach aufgegriffen, um den restiktiven Zugang zur Schrift, der auf die literaturproduzierende Oberschicht begrenzt war, sowie den daraus entstandenen Einfluss dieser abgegrenzten Gruppe auf die Darstellung der Vergangenheit herauszustellen (vgl. u.a. Pernille Hermann. Spatial and Temporal Perspectives in Íslendingabók: Historiography and Social Structures. In: Viking and medieval Scandinavia, 1. Turnhout 2005. S. 73-89, S. 84). 3 Kulturelle Erinnerung und Historiographie: einige hinführende Aspekte 38 der kollektiven medialen Konstruktion und Vermittlung von Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen. Kollektive Texte erzeugen, perspektivieren und zirkulieren Inhalte des kollektiven Gedächtnisses. “ 109 Die dritte und letzte Funktion von Texten des kollektiven Gedächtnisses umfasst sogenannte mediale ‹cues› des kollektiven Gedächtnisses, die Erinnerungsprozesse durch Abrufhinweise anregen. Hierzu zählt Erll vor allem die von dem französischen Historiker Pierre Nora definierten Erinnerungsorte, die erst mittels einer Erzählung aktualisiert werden können. 110 Das Konzept kommemorativer Landschaften geht auf Halbwachs zurück und wird von Assmann, vor dem Hintergrund seines Verständnisses aller Medien des kulturellen Gedächtnisses als Texte, als topographischer Text verstanden, weshalb er jene als ‹Mnemotope› (Gedächtnisorte) bezeichnet. 111 109 Vgl. Erll 2005, S. 158. 110 Vgl. ebd., S. 138 f. Zu Erinnerungsorten s. auch Aleida Assmann. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. In der altnordischen Literatur scheint sich die kollektive Erinnerung insbesondere anhand der Namensgebung zu orientieren, also an der Verbindung mit Orts- oder Personen(bei)namen (vgl. Diana Whaley. A useful past: historical writing in medieval Iceland. In: Old Icelandic Literature and Society. Ed. by Margaret Clunies Ross. Cambridge 2000. S. 161-202, S. 168). Jürg Glauser nennt diesen Vorgang ‹mapping›, wodurch eine fundierende Erinnerungsfigur geschaffen und die Verortung von Kultur (und damit auch die Transformation von Landschaft in Kultur) ermöglicht wird, indem der Natur Erzählungen einbeschrieben werden (vgl. Jürg Glauser (Hrsg.). Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart/ Weimar 2006, S. 42 f.). 111 Vgl. Assmann 2007, S. 60. 4 Die altnordische Historiographie Bisher liegen erst wenige Arbeiten in der Altnordistik vor, die die Theorien zum kulturellen Gedächtnis auf die Literatur zu applizieren versuchen. Einer der ersten Hinweise auf die Wahrnehmung der Assmann ’ schen Theorien findet sich in Jürg Glausers Artikel in der Skandinavischen Literaturgeschichte, in dem er den Isländersagas den Charakter von ‹Begründungsgeschichten› zukommen lässt. Der Gründungsmythos der Isländer hat ihm zufolge charakteristische mythische Strukturen, die sich vor allem im Motiv der Landnahme kumulieren. 112 Die den Gründungsmythos betreffenden Texte, also vor allem die Isländersagas und die Lb., […] sind unter einem solchen Gesichtspunkt Elemente der mythenbehafteten Erzählung über die Vorgeschichte, den Exodus, die Einwanderung und Besiedlung, den Glaubenswechsel. Dieser Meta-Text hebt die Kontingenzen der historischen Entwicklung auf und stellt einen in sich schlüssigen, bis zu einem gewissen Grad als logisch und konsequent dargestellten Verlauf her, so dass die auf fiktionaler Basis beruhende Geschichtsauffassung, die diese Texte entwerfen, dank ihrer sinnstiftenden Kraft als eine narrativ wohlstrukturierte Einheit in das kulturelle Gedächtnis aufgenommen werden kann. Dieses ist auf Fixpunkte in der Vergangenheit gerichtet und kann die Identität der erinnernden Gruppe durch den Vergangenheitsbezug fundieren (Assmann). 113 Fast zehn Jahre später bemerkt derselbe Autor im Vorwort einer Aufsatzsammlung zum Thema Erinnerung in der altnordischen Literatur, dass die Betrachtung der altnordischen Literatur hinsichtlich erinnerungstheoretischer Aspekte noch immer erst an ihrem Anfang stehe: „ Although quite a number of shorter and longer pertinent publications have appeared during the last few years, […] a more systematic and large-scale examination of Old Norse-Icelandic culture relating to memory and 112 Die Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder herausstellen können, wie stark in der altnordischen Literatur mythische Strukturen implizit und konzeptionell für die Darstellung von Vergangenheit herangezogen wurden. Verschiedene Begrifflichkeiten gilt es hier zu unterscheiden: ‹mythological overlay› soll eine bewusste Referenz eines Verfassers auf mythologische oder mythische Motive bezeichnen ( „ Eddaic allusions and reminiscences “ , vgl. Haraldur Bessason. Mythological Overlays. In: Sjötíu ritgerðir helgaðar Jakobi Benediktssyni 20. júlí 1977, 1. Ed. by Einar G. Pétursson, Jónas Kristjánsson. Reykjavík 1977. S. 273-292, S. 275), während mit dem Begriff ‹prolonged echoes› die in der Tiefenstruktur der Saga angesiedelten mythischen Strukturen beschrieben werden (vgl. Margaret Clunies Ross (ed.). 1998a. Prolonged Echoes: Old Norse Myths in Medieval Northern Society. II: The reception of Norse Myths in Medieval Iceland. In: Viking Collection, 10. Odense, John Lindow. Íslendingabók and Myth. In: Scandinavian Studies, 69, 4. Provo/ Utah 1997. S. 454-464, Preben Meulengracht Sørensen (ed.). 2001b. Freyr in den Isländersagas. In: At fortælle historien. Telling history. Studier i den gamle nordiske litteratur. Studies in Norse Literature. Udgivet i samarbejde med Sofie Meulengracht Sørensen. Trieste. S. 179-191 u.v.m.). 113 Vgl. Glauser 2006, S. 44. 4 Die altnordische Historiographie 40 making use of recent memory theory is still more-or-less at its beginning. “ 114 In den dazwischen liegenden Jahren folgten seinem ersten Versuch, die Theorien des kulturellen Gedächtnisses auf die altnordische Literatur zu applizieren, erst in jüngster Zeit einige konkretere Ansätze. Allen voran ist hier die dänische Skandinavistin Pernille Hermann zu nennen, die sich in mehreren Aufsätzen mit der Frage nach der Erinnerungskultur in der altnordischen Sagaliteratur sowie den historiographischen Texten befasst. 115 Eine ihrer entscheidenden Beobachtungen ist, dass in der altnordischen Literatur Erinnerung als ein „ imperfect storehouse “ bzw. ‹Archiv› ganz im Sinne der klassisch-mittelalterlichen Perspektive betrachtet wurde, das mithilfe der Verschriftlichung eine Dauerhaftigkeit erlangen sollte. 116 2010 veröffentlichte die norwegische Historikerin und Skandinavistin Else Mundal in Form eines Artikels eine überblickshafte Darstellung verschiedener Identitätsdarstellungen in der altnordischen Literatur. 117 Darin wagt sie den Versuch, die Rolle der Vergangenheit für die mittelalterlichen Gesellschaften Skandinaviens zu beschreiben. Sie stellt fest, dass Erinnerung und Identität eng miteinander verknüpft waren und benennt verschiedene Identitätsebenen in den Texten. Unter anderem spricht sie von einer weit gefassten kulturellen Identität innerhalb ganz Skandinaviens, deren Grundlage sie vor allem in gemeinsamen mythischen Konzepten sieht. 118 Ihrer Meinung nach verstärkte die Literatur später in Form eines „ literary program “ (darunter fasst sie allen voran die familienzentrierten Isländersagas) eine kollektive Identität und kommt zu folgendem Schluss: „ […] there was a growing feeling of a common identity among people who lived within areas that developed to become states. This can be observed in the North, especially in Iceland which was a nation that could remember its own birth, so to speak. ” 119 Die aktuellste erinnerungstheoretische Abhandlung innerhalb der altnordistischen Forschung stellt die bereits oben genannte Aufsatzsammlung (Minni and Muninn. Memory in Medieval Nordic Culture) dar, die durch eine Workshopreihe zum Thema „ Memory Studies and Pre-Modern Scandinavian Culture “ angeregt wurde. Ziel dieser Aufsatzsammlung ist es, in die komplexen Gedächtnistheorien einzuführen und in Form einzelner Studien, die keineswegs auf Vollständigkeit ausgelegt sind, unterschiedliche Aspekte der Applikation verschiedener Ansätze auf die altnordische Literatur zu demonstrieren. Besonders hilfreich ist hier das Vorwort, das die Herausgeber Pernille Hermann, der amerikanische Folklorist und 114 Glauser 2014, S. x. 115 S. dazu v.a. Concepts of Memory and Approaches to the Past in Medieval Icelandic Literature. In: Scandinavian Studies, 81, 3. Lund 2009. S. 287-308; Cultural Memory and Old Norse Mythology in the High Middle Ages. In: Myth and Theory. Ed. by Stefan Brink. Turnhout/ Brepols (ausstehend) sowie Saga Literature, Cultural Memory and Storage. In: Scandinavian Studies, 85, 3. Lund 2013. S. 332-54. 116 Vgl. Hermann 2009, S. 290 f. 117 Else Mundal. Memory of the Past and Old Norse Identity. In: The Making of Memory in the Middle Ages. Ed. by Lucie Doležalová. Later Medieval Europe, 4. Leiden/ Boston 2010. S. 463- 472. 118 Vgl. ebd., S. 466. 119 Vgl. ebd., S. 467. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 41 Skandinavist Stephen A. Mitchell und die isländische Historikerin Agnés S. Arnórsdóttir einführend in die theoretischen Zusammenhänge verfasst haben. Zudem eröffnet vor allem der Aufsatz von Hermann mit expliziten Verweisen zur mittelalterlichen Sicht auf Erinnerungen wichtige grundsätzliche Zusammenhänge von Erinnerung und Vergessen, Erinnerungskunst sowie mnemonischen Techniken wie mnemonische Landschaften und Bilder. All diese Abhandlungen heben jedoch vorrangig darauf ab, die „ klassischen “ Isländersagas oder die mythologischen Dichtungen unter dem Aspekt der Erinnerung zu betrachten. Insbesondere die Isländersagas eignen sich aufgrund ihrer eindeutigen Gruppenzugehörigkeit und ihrer Vergangenheitsdarstellungen hierzu besonders, wie bereits Jürg Glauser feststellte: „ […] the work of Jan Assmann […] utilizes the concepts of ‘ forming tradition ’ , ‘ relationship to the past ’ , ‘ written culture ’ , and ‘ formation of identity ’ for its theoretical definition of cultural memory. In the case of the Icelandic sagas all four of these elements are conspicuously present. “ 120 Noch in den aktuellsten Abhandlungen wird deutlich, dass es noch immer an empirischen, umfassenden Studien der altnordischen Literatur mangelt. Hierbei gerieten vor allem die historiographischen Texte aus dem Blick, sofern sie nicht in Form direkter Autorkommentare die mittelalterliche Perspektive auf Erinnerung und Gedächtnis erhellen konnten. Daher soll diese Abhandlung der Frage nach der Rolle der altnordischen Historiographie zwischen 1100 und 1300 in der isländischen Erinnerungskultur nachgehen und Anregungen liefern, in welchem Verhältnis sie dann zu anderen Textformen, wie beispielsweise den Isländersagas, gestanden haben könnte. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› Anfang des 12. Jahrhunderts setzt auf Island die vernakulare Literatur ein. An deren Anfang lässt sich nur mit Sicherheit die Íb. datieren, allerdings meint man ihr sowie weiteren Referenztexten entnehmen zu können, dass ihr Verfasser, der Priester Ari Þorgilsson, auch Anteil an einer ersten Version der Lb. hatte - jedenfalls ließe sich so der Umstand erklären, wieso die Sagaliteratur insgesamt sieben Mal hinsichtlich genealogischer Beziehungen auf Ari verweist, die aber nicht in der Íb. überliefert worden sind. 121 Diese stellen hingegen einen zentralen Aspekt in der Lb. dar, deren Inhalt im Uhrzeigersinn um die Insel herum organisiert ist und in registerartiger Form 430 Landnehmer (landnámsmenn) auf Island sowie deren Nachkommen aufzählt. Ihr Stoff ist in den überlieferten Versionen kapitelartig aufgeteilt in die sich 120 Jürg Glauser. Sagas of the Icelanders (Íslendinga sögur) and þættir as the Literary Representation of a new social space. In: Old Icelandic Literature and Society. Ed. by Margaret Clunies Ross. Cambridge Studies in Medieval Literature, 42. Cambridge 2000. S. 203-220, S. 210. 121 Vgl. Íslendingabók: tilegnet Islands alting 930-1930 av Are hinn fróðe Torgilsson. Af Dansk- Islandsk Forbundsfond. Udgiven ved Finnur Jónsson. København 1930, S. 63-64; Auflistung aller Verweise s. Eva Hagnell. Are Frode och hans Författerskap. Lund 1938, S. 142 f. 4 Die altnordische Historiographie 42 allerdings erst später ausbildenden ‹freistaatlichen› Rechtseinheiten fjórðungar («Landesviertel»). Viele der Berichte sind ausgeschmückt mit anekdotenhaften Erzählungen, die Interpolationen aus den Isländersagas geschuldet sind. 122 Mit der Lb. sollten ursprünglich möglicherweise Rechte auf Ländereien und Besitztümer oder sogar der Kirchenzehnt fundiert werden, was die These einer frühen Entstehung zu Aris Lebzeiten unterstützen würde. 123 Darauf lässt sich auch aufgrund der verschiedenen Redaktionen des Textes schließen. Die ihrer ursprünglichen Form wohl am nächsten kommende Handschrift Melabók (M) 124 enthält kaum anekdotenhafte Ausschmückungen und Interpolationen aus den Isländersagas. Hierunter sind neben M zwei weitere mittelalterliche Handschriften Sturlubók (S) 125 und Hauksbók (H) 126 sowie zwei neuzeitliche Zusammenführungen jener, die Skarðarárbók (Sk) 127 und die Þórðarbók (Þ) 128 , zu nennen. Die mittelalterlichen 122 Wegen der umfassenden genealogischen Informationen, die in der Lb. enthalten sind, hatte sie unentbehrlichen Wert für die Isländersagas, die allesamt auf die Siedlergeneration sowie den Stammbaum der jeweils im Vordergrund stehenden Familie zurückgreifen. Somit entsteht zwischen der Lb. und den Isländersagas im 13. und 14. Jahrhundert eine auffallende reziproke Intertextualität (vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 82). 123 Vgl. Sveinbjörn Rafnsson 2001a. Art. „ Landnámabók “ . In: RGA, 17, 2. S. 611-617, S. 612 f. Obwohl die Lb. auf den ersten Blick den Anschein erweckt, als diene sie der Landlegitimation, wurde berechtigte Kritik an dieser Sichtweise geäußert. Meulengracht Sørensen ist beispielsweise der Ansicht, dass es in den überlieferten Varianten der Lb. nicht primär um genealogische Rückführung ginge, sondern vornehmlich um die Konstruktion eines Anfangs der isländischen Gesellschaft (vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 83 f.). Auch Adolf Friðriksson und Orri Vésteinsson gehen aufgrund einiger Unstimmigkeiten zwischen der archäologisch verifizierbaren historischen Realität des 13. Jahrhunderts und den dargestellten Verhältnissen der Landnahmezeit davon aus, dass dem Land vielmehr eine Geschichte ‹eingeschrieben› wurde, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, als dass eine Landlegitimation forciert worden wäre (vgl. Adolf Friðriksson/ Orri Vésteinsson 2003, S. 145 ff.). 124 Die Melabók (M) entstand vermutlich um 1272. Vom ursprünglichen Manuskript eines Pergamentkodexes von Snorri Markússon vom Hof Melar aus dem 14. Jahrhundert sind lediglich ein Fragment und zwei Pergamentblätter (AM 445b 4to) überliefert. M lässt sich heute daher nur noch aufgrund ihrer Einarbeitung in die Redaktion Þ (AM 106 fol.) unter Zuhilfenahme der Fragmente rekonstruieren (vgl. Sveinbjörn Rafnsson. Studier i Landnámabók, kritiska bidrag till den isländska fristatstidens historia. Lund/ Gleerup 1974, S. 29 ff.). 125 Die Sturlubók (S) entstand um 1270 und ist vollständig in einer Papierhandschrift (AM 107 fol.) als Kopie einer Pergamenthandschrift durch Jón Erlendsson aus dem 17. Jahrhundert überliefert (vgl. ebd., S. 20 ff.). 126 Die Hauksbók (H) ist ein zwischen 1299 und 1301 entstandener Pergamentkodex, der teilweise in der originalen Pergamenthandschrift überliefert wurde, die durch eine Papierhandschrift komplettiert werden kann. Hierbei handelt es sich wie bei S um eine im 17. Jahrhundert von Jón Erlendsson angefertige Abschrift (bewahrt in AM 105 fol.). Erhalten ist H außerdem fragmentarisch in AM 371 4to, die 18 von einer Hand geschriebene Pergamentblätter enthält (14 Lb., 5 Kristni saga) und dessen Auftraggeber Haukr Erlendsson ist (vgl. ebd., S. 13 ff.). 127 Die Skarðsárbók (Sk) ist eine Zusammenführung der Handschriften S und H, spätestens entstanden um 1636. Das Original ist nicht überliefert. AM 371 4to stellt eine der bestbewahrtesten Handschriften dar (vgl. ebd., S. 34 ff.). 128 Die Þórðarbók (Þ) ist eine Zusammenführung der Handschriften Sk und M, deren originale Abfassung überliefert wurde. Verfasst wurde sie von Þórður Jónsson vor 1670 und bewahrt in AM 106 fol. und AM 112 fol. (vgl. ebd., S. 36 f.). 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 43 Handschriften lassen sich formal in zwei Gruppen differenzieren: einerseits die Handschrift M mit ihrer wohl ursprünglichen Anordnung des Stoffes in Landesviertel und andererseits S und H, die eine sekundäre Anordnung aufweisen, in der das südliche Viertel noch einmal geteilt wird, um die Kapitel zu dem ersten Landnehmer Ingólfr Arnarson einzubeziehen und damit die Besiedlung ganz gezielt im Südwesten beginnen zu lassen. Außerdem weisen S und H im Gegensatz zu M Prologe und Epiloge auf. Diese späte Tendenz deutet der isländische Historiker Sveinbjörn Rafnsson als den Versuch, den Text im 13. Jahrhundert zu einem Geschichtswerk zu historisieren: Ein Register dieser Art verdient kaum den Namen Geschichtswerk - eine Auffassung, die man auch im MA teilte. Dementsprechend versuchte man, die L. zu einem Geschichtswerk zu machen, sie zu historisieren. 129 Er begründet die Gruppierungen der Handschriften mit zwei verschiedenen Entwicklungslinien: die eine sei der Versuch einer ‹totalen Historisierung› mittels Veränderung der Textstruktur gewesen, indem das Anfangskapitel mit den Entdeckungsberichten eingeschoben wurde und die Kristni saga (eine Erzählung von der Christianisierung Islands) als Fortschreibung an das Ende angehängt wurde (wie H es überliefert). Er interpretiert diese Entwicklungslinie als Einbettung der heidnischen Vorzeit in das christliche Weltbild, um das isländische Heilsgeschehen zu sichern. Damit schreibt er dieser Entwicklungslinie primär klerikale Motivationen zu. 130 Die zweite Entwicklungslinie stelle eine ‹partielle Historisierung› dar, d.h. es habe eine Umstrukturierung einzelner Landnahmeberichte gegeben sowie Interpolationen aus der Sagaliteratur. Hierin sieht er eine säkulare Stellungnahme der Oligarchen des 12. und 13. Jahrhunderts zum Zweck der Manifestation ihres eigenen Machtanspruchs. Diese Entwicklungslinie sei somit vorrangig in weltlichen und politischen Motivationen begründet. 131 Diese variierenden Redaktionen der Lb. betrachtet Sveinbjörn Rafnsson daher als Fortschreibungen einer Überlieferung, die seines Erachtens sogar noch vor der Niederschrift der Íb. durch Ari Þorgilsson, also vor 1122, begonnen haben müsse. 132 Allerdings muss es hinsichtlich der Überlegungen zu früheren Vorstufen bei Hypothesen bleiben, da das Verhältnis der Handschriften zueinander überaus komplex ist und noch nicht abschließend diskutiert worden ist. 133 Sicher lässt sich sagen, dass die früheste belegte Version die 129 Sveinbjörn Rafnsson 2001a, S. 612. 130 Vgl. Sveinbjörn Rafnsson 2001a, S. 615. 131 Vgl. ebd., S. 616. 132 Vgl. ebd., S. 613 f. Da diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, soll die Lb. in dieser Abhandlung vor der Íb. untersucht werden, obwohl ihre überlieferten Redaktionen ein Produkt des späten 13. Jahrhunderts sind. 133 Ein Stemma der Handschriftenrelationen und deren hypothetischer Vorstufen findet man bei Jón Jóhannesson (vgl. Jón Jóhannesson. Gerðir Landnámabókar. Reykjavík 1941, S. 226). Die wichtigsten Abhandlungen hierzu sind von den isländischen Skandinavisten Björn M. Ólsen, Jón Jóhannesson, Jakob Benediktsson und dem bereits erwähnten Sveinbjörn Rafnsson verfasst worden. Insbesondere die Dissertation von Jón Jóhannesson (Gerðir Landnámabókar 1941) stellt dabei eine wichtige Grundlagenarbeit zur Erschließung des Verhältnisses der verschiedenen 4 Die altnordische Historiographie 44 verlorene Styrmisbók, eine Version von Styrmir Kárason (oder auch Styrmir fróði genannt, * 1170-†1245) gewesen ist, auf die Haukr Erlendsson in dessen Epilog in seiner Version H Bezug nimmt. 134 Entsprechend Styrmirs Lebensdaten muss sie daher wohl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sein. Darüber hinaus lassen die drei überlieferten Handschriften aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert keinen Zweifel daran, dass es in der Zeit (wieder? ) ein starkes Interesse am Inhalt der Lb. gab, vermutlich bedingt durch das Ende der politischen Unabhängigkeit Islands und der Angliederung an Norwegen. Viele mächtige Männer, h ǫ fðingjar («Anführer/ Häuptlinge») und hirðmenn («Gefolgsmänner des Königs»), haben diese Ereignisse dazu veranlasst, dem Text ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Drei dieser mächtigen Männer sind die drei Auftraggeber (oder Verfasser) der mittelalterlichen Lb.-Redaktionen: Sturla Þórðarson ( * 1214-1284†), Snorri Markússon ( * ? - 1313†) und Haukr Erlendsson ( * ? -1334†). Sie nutzten ihre Redaktionen unter anderem dazu, ihre eigene Familie auf die landnámsmenn zurückzuführen und damit ihre eigene gesellschaftliche Stellung zu fundieren. 135 4.1.2 Der Gründungsmythos in der Landnámabók: die zeitlose Identitätskonstruktion In der nun folgenden Diskussion sollen weniger die inspirierten oder interpolierten wiederkehrenden Motive und Erinnerungsfiguren aus der Sagaliteratur wie die Rebellion gegen den tyrannischen Norwegerkönig Harald Schönhaar, die Auswanderung über See zum Erhalt der persönlichen Freiheit oder die Ansiedlung und Etablierung sozialer Strukturen diskutiert werden, da dies bereits mehrfach an anderer Stelle geschehen ist. 136 Vielmehr soll angesichts der besonderen Rezeptionsge- Handschriften dar. Sveinbjörn Rafnsson lieferte 1974 eine ausführliche Aufarbeitung des gesamten Forschungsdiskurses zu den Fragen der Überlieferung der Lb. (Sveinbjörn Rafnsson 1974). 134 Styrmir Kárason war Gesetzessprecher in Island in den Jahren 1210-1214 und 1232-1235. Außerdem war er zwischen 1228 und 1235 Hofpriester in Reykholt bei Snorri Sturluson, dem Verfasser der Hkr. und etlicher anderer Texte. In dieser engen Verbindung sieht man auch heute Styrmirs literarisches Schaffen begründet, der neben seiner Lb.-Version und einer Isländersaga (Harðar saga ok Hólmverja) auch Anteil an einer Version der Königssaga über König Sverrir (Sverris saga) hatte sowie einen der frühesten Texte über Olaf den Heiligen verfasste (Lífssaga Óláfs helga). Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er als Prior im Kloster auf der Insel Viðey im südwestlichen Island. 135 Vgl. Sveinbjörn Rafnsson. 2001b. Sögugerð Landnámabókar. Um íslenska sagnaritun á 12. og 13. öld. Reykjavík, S. 9; vgl. auch Bruhn 1999, S. 172 f. sowie Gísli Sigurðsson. Constructing the Past to Suit the Present: Sturla Þórðarson on Conflicts and Alliances with King Haraldr hárfagri. In: Minni and Muninn: Memory in Medieval Nordic Culture. Ed. by Pernille Hermann, Stephen A. Mitchell and Agnes S. Arnórsdóttir. Acta Skandinavica, 4. Turnhout 2014, S. 175-196. 136 Untersuchungen zur Interferenz der Sagaliteratur mit der Lb. findet man in den Arbeiten von Rolf Heller, bes. in Laxdæla saga und Landnámabók. In: Arkiv för nordisk filologi, 89. Lund 1974. S. 84-145, darüber hinaus bei Weber 1981 (‹Freiheitsmythos›), Glauser 2006 (‹Begründungsgeschichten›). Eine Diskussion dieser Motive und ihrer Funktion im isländischen Gründungsmythos habe ich zuvor an anderer Stelle vorgenommen und soll daher im Folgenden nur im Einzelfall erneut aufgegriffen werden (vgl. Laura Wamhoff. Der isländische Gründungsmythos. Ein Struk- 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 45 schichte der Lb. die ihr innewohnende spezifische Identitätsfundierung und ihre Identitätskonstruktion herausgestellt werden, um die Frage nach ihrer Gestalt und ihrer Wahrnehmung durch das Mittelalter hindurch zu beantworten. 137 Eine der zentralen zu diskutierenden Aspekte wird dabei sein, warum die Lb. durch die Isländersagas nicht obsolet wurde, sondern im 13. Jahrhundert sogar einen populären Aufschwung erhielt. 4.1.2.1 Der Anfang der Landnahmeberichte (ca. 1100-1250): familienzentrierte Erinnerung Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Lb. zu Beginn nicht gleich ein überregional organisiertes Projekt darstellte, sondern diese Berichte anfangs in einem begrenzten Gebiet zusammengetragen wurden. Hierfür spricht die Rekonstruktion eines Textes über die Landnahme von Kolskeggr inn vitri, den Haukr Erlendsson in seiner Redaktion H sogar im Epilog als eine seiner Quellen nennt. Auf jenen greifen für eine klar abgegrenzte Anzahl an Landnahmeberichten allerdings alle Lb.-Versionen explizit zurück: Nú hefir Kolskeggr fyrir sagt heðan frá [in H fehlt heðan frá] um landnám (S 287/ H 248; «Von hier an [fehlt in H] hat jetzt Kolskeggr über die Landnahme berichtet.») bzw. Nú hefir Kolskeggr fyrir sagt heðan um landnám. (Sk) sowie Heðan frá hefir Kolskeggr Ásbjarnarson fyrir sagt um landnám (Þ, so dann auch M) - daraus kann man darauf schließen, dass auch die früheste Version Styrmisbók den Hinweis auf Kolskeggr beinhaltete. 138 Diese Vermerke verweisen auf eine bestimmte Art der Darstellung der Landnehmer, die Jakob Benediktsson in Form der ersten Aufzählung, die die Redaktionen Kolskeggr zuweisen, als repräsentatives Beispiel anführt: „ Gott dæmi um stílinn er fyrsti kaflinn sem Kolskeggi er eignaður (S 288): „ Þorsteinn kleggi nam fyrstr [fyrst H/ Sk] Húsavík ok bjó þar, hans son var Án, er Húsvíkingar eru frá komnir. “ 139 Diese formale Regel der Darstellung (Name des Landnehmers, sein in Besitz genommenes Land, seine Nachkommen sowie das Geschlecht, das von turprinzip in der Landnámabók und anderen Landnahmeerzählungen der Sagaliteratur? Unveröffentlichte, schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des Grades eines Magister Artium (M.A.) der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, eingereicht 2010 sowie weiterführende Literatur). 137 Daher soll einleitend auf einen Forschungsüberblick zur gesamten Lb.-Forschung verzichtet werden, die sich bisher hauptsächlich mit der Klärung von Fragen in Bezug auf die Isländersagas und ihrer Interferenz mit der Lb. beschäftigte und erst in den letzten Jahren vermehrt anthropologische Gesichtspunkte in den Blick nahm (einen Überblick erhält man bei Jens Peter Schjødt. Contemporary Research into Old Norse Mythology. In: Reflections on Old Norse Myths. Ed. by Pernille Hermann. Studies in Viking and Medieval Scandinavia, 1. Brepols 2007. S. 1-16). Hierbei wurden das isländische Selbstverständnis, die Identität und die Funktion der Literatur vor dem historischen Hintergrund betrachtet. Wichtige Vertreter dieser anthropologischen Forschungsrichtung sind Sveinbjörn Rafnsson, Kirsten Hastrup, Preben Meulengracht Sørensen, Ole Bruhn und Jürg Glauser, auf deren Ausführungen an gegebener Stelle zurückzukommen sein wird. 138 Vgl. Jakob Benediktsson. Formáli. In: ÍF I. Íslendingabók, Landnámabók. Fyrri hluti. Reykjavík 1986. S. V-CLIV, S. CVI f. 139 Ebd., S. CVII: «Ein gutes Beispiel für diesen Stil ist das erste Kapitel, das Kolskeggr zugeschrieben wird (S 288): „ Þorsteinn kleggi nahm als erster Land in Húsavík und wohnte dort. Sein Sohn war Án, von dem die Familie der Húsvíkingar abstammt. “ » 4 Die altnordische Historiographie 46 ihm abstammt) sei erst durch die späteren Sagastoffinterpolationen verändert worden. Für diese These spricht sowohl, dass dieses Darstellungsprinzip auch noch später in der Sagaliteratur an entsprechenden Stellen vorkommt, um Personen einzuführen, als auch ein kurzer Absatz in der Íb., in der nach genau derselben Art und Weise vier verschiedene Landnehmer sowie ihre Nachkommen geschildert werden (vgl. Íb, Kap. II, S. 6) 140 . Es wird kaum ein Zufall sein, dass diese Darstellungsweisen exakt übereinstimmen, woraus man auf eine wichtige Mnemotechnik schließen kann. Es liegt nahe, dass der eigene Besitz schon zu Beginn der Besiedlung gegenüber anderen Landnehmern verteidigt werden sowie die gesellschaftliche Position eines jeden zwecks Heirats- oder Handelsbündnissen nachweisbar sein musste. Als Anfangspunkt wird in diesen Aufzählungen einhellig die Landnahme gesetzt (und nicht etwa der Herkunftsort der Siedler in ihrem Ursprungsland), die aber gleichzeitig in Verbindung mit dem gegenwärtigen Zustand gebracht wird, nämlich dem Sippennamen, der sich von dem jeweiligen Landnehmer und dem Ort seiner Landnahme ableitet. Hierin lässt sich die Herstellung einer familienzentrierten Identität erkennen, da die Landnehmer nicht ihre ursprüngliche Herkunft in Erinnerung behalten und daraus ihre Macht ableiten, sondern eine neue Identität konstruieren - so stammt dann beispielsweise von oben genanntem Þorsteinn kleggi die Familie der Húsvíkingar («Leute aus der Húsavík») ab. 141 Aus diesen Beobachtungen lässt sich einerseits ableiten, dass schon früheste Landnahmedarstellungen nach einer spezifischen Konvention erinnert wurden, die den Bedürfnissen der Isländer entsprochen haben muss. Diese konventionalisierte Darstellung war anscheinend unabdingbar für die Fundierung der Familie an ihrem Wohnort sowie für den Legitimitätsnachweis ihres Besitzes. Dabei ist zu bedenken, dass Kolskeggr inn vitri wohl keine Art von Lb. schrieb, sondern gemäß Haukr Erlendssons Epilog genau wie Ari Þorgilsson lediglich «über die Landnahme» schrieb, weshalb wie bei Ari mit einer kurzen und unvollständigen Darstellung zu rechnen ist. Und doch behielt man die Darstellungskonvention der Landnehmer in den späteren Lb.-Versionen bei. Andererseits lässt sich ableiten, dass zu Beginn der Gesellschaftsformierung die Identität der Familie oder eines Individuums (in Form seiner personalen Identität 142 ) vor einer 140 Allerdings werden dort, im Unterschied wahrscheinlich zur ursprünglichen Version der Lb., die Herkunft aus Norwegen in Form von Adjektivattributen (z.B. norrœnn «norwegisch») expliziert, was wiederum aber mehr mit dem Konzept der Íb. zusammenhängt als mit einem grundlegenden Darstellungsprinzip, wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird. 141 Dieses Beispiel ist repräsentativ für die Verortung von Identität und Erinnerungsfiguren in der isländischen Landschaft (‹mapping›), denn häufig nennen sich die neu entstandenen Familien nach ihrem Wohnort, womit wiederum ihre Verbindung zu ihrem Besitz fundiert wird. Durch die Topographie entsteht ein Konnex zwischen Ort und Landnehmer, der für die Erinnerung an die Ereignisse grundlegend ist (ein sog. ‹Erinnerungsort›). In der altnordischen Literatur scheint Erinnerung grundsätzlich in enger Verbindung mit der Namensgebung zu stehen, da Ereignisse häufig mit Orts- oder Personen(bei)namen verknüpft werden (vgl. Whaley 2000, S. 168). 142 Der Begriff der personalen Identität soll im Folgenden angelehnt an Assmann in Abgrenzung zum Begriff der kollektiven Identität verwandt werden. Assmann unterscheidet die Ich-Identität in ‹individuelle› und ‹personale Identität›, wobei erstere das „ im Bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene seines […] irreduziblen Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Uner- 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 47 möglichen kollektiven Identität der Gesellschaft Vorrang hatte - das Bedürfnis einer personalen Identitätsfundierung war wichtiger als das der Gemeinschaft. 143 Damit fundieren schon die frühesten Erinnerungen einzelner an die Landnahme und die Inbesitznahme ihres Landes retrospektiv ihre eigene Identität, um bestimmte Ansprüche zu legitimieren: „ Herrschaft braucht Herkunft. Wir wollen dies die retrospektive Seite des Phänomens nennen. “ 144 Es lässt sich daraus schließen, dass Erinnerung generell dafür sorgte, die Ordnung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten und damit eine elementare Funktion innerhalb der Gesellschaft erfüllte. 145 Die Externalisierung dieser Erinnerungen in die Form der Lb. hat den Zweck einer Fundierung, wobei die Verschriftlichung anfangs als reine Archivierung von vielen einzelnen familiengebundenen Erinnerungen zu verstehen ist und damit wahrscheinlich nur eine Erinnerungsstütze darstellte, die je nach vermuteten Entstehungsumständen entweder weltliche Besitztümer oder die Abgaben des Kirchenzehnten legitimieren sollte. setzbarkeit “ bezeichnet, wohingegen zweitere „ demgegenüber der Inbegriff aller dem Einzelnen durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommenden Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen “ bezeichnet (Assmann 2007, S. 131 f.). Der Hintergrund für diese Unterscheidung ist die Dialektik zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv: beide können nicht ohne den jeweils anderen existieren. Damit wird ein entscheidender Aspekt der sozialen Prägung von Gedächtnis und Identitätsbildung benannt. Daher soll der Begriff der personalen Identität als ein konstituiver Teil der kollektiven Identität hier als Abgrenzung gebraucht werden, um sich dabei auf Personen (und ihre Familien), nicht aber auf ein Individuum im Sinne der Idee des Individualismus zu beziehen, die nachweislich erst im Zuge der aufkommenden Aufklärung und dem Humanismus der Moderne auftrat. Im Rahmen dieser Abhandlung soll der Begriff der personalen Identität daher die Identität einer Familie bzw. eines Einzelnen im Hinblick auf seine soziale Funktion bezeichnen. 143 Das liegt außerdem deshalb nahe, weil die Siedler mit ihren Familien nach Island kamen und dort erst einmal ihre Lebensgrundlage schaffen und sichern mussten. Archäologisch ist nachgewiesen worden, dass die Menschen nicht in einer großen Bewegung gemeinsam aufbrachen und jede einzelne Familie sich separat ansiedelte, wie es die hochmittelalterliche Literatur darstellt, sondern sich mehrere Familien in dorfähnlichen Siedlungen gemeinsam ansiedelten, um eine Überlebensgrundlage zu schaffen (vgl. Orri Vésteinsson 1998-2001, S. 1-29). Die sich anscheinend nur ca. zwei Jahrhunderte später entwickelnde Tendenz, die eigene Familie in Abgrenzung zu anderen zu benennen und sie an ihrem Wohnort zu fundieren, deutet auf ein großes Bedürfnis einer (Re-? ) Individualisierung und Fokussierung auf die eigene Familie hin. Womöglich war die Lebensgrundlage in der Zeit soweit gesichert, dass sich Familien wieder selbstständiger machten und daraus Besitzaufteilungen und -umverteilungen resultierten, die wiederum gesichert werden mussten. 144 Assmann 2007, S. 71; Hervorhebungen im Original. Wobei einzuwenden ist, dass man bei den frühen mündlichen Erinnerungen noch nicht von Herrschaft im Sinne der späteren Oligarchie sprechen kann, sondern wohl erst einmal im praktischen Sinne von Besitz- und Ansehenssicherung. 145 Pernille Hermann stellt anhand verschiedener Beispiele aus mythologischen Texten sowie den Isländersagas heraus, dass Erinnerung stets eine soziale Regulation erfüllt und das Vergessen die bestehende Ordnung zerstören würde (vgl. Pernille Hermann. Memory and Remembering in Old Norse-Icelandic Literature. In: Minni and Muninn: Memory in Medieval Nordic Culture. Ed. by Pernille Hermann, Stephen A. Mitchell and Agnes S. Arnórsdóttir. Acta Skandinavica, 4. Turnhout 2014. S. 13-39, S. 27). 4 Die altnordische Historiographie 48 Geht man also davon aus, dass der ursprüngliche Charakter des Textes eine registerartige Auflistung der Landnehmer gemäß oben genannter Konventionen war, kann man in der Zusammenführung mehrerer dieser personalen Identitätsfundierungen (wie schon bei Kolskeggr) unter einem gemeinsamen Aspekt (eine gemeinsame Vergangenheitsversion mit dem Anfangspunkt Landnahme) die erste nachweisbare Strategie einer kollektiv-isländischen Identitätskonstruktion verstehen: die Platzierung der personalen (familiengebundenen) Identitäten in einer gemeinsamen Vergangenheit. Hieran zeigt sich, dass die Erinnerungsfigur der Landnahme ein starkes Inzentiv der isländischen Historiographie darstellte, da mit ihr der bedeutsame Wandel betont werden konnte sowie Anreize zur Neustrukturierung geschaffen wurden. Ob man zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits von einer frühen kollektiven Identität sprechen kann, ist eher fraglich, da in einer so frühen Phase der Schriftlichkeit, wie Assmann es überzeugend herausstellt, mittels Schrift noch keine kulturelle Kohärenz hergestellt wird, sondern sie erst einmal im Rahmen alltäglicher Kommunikation und nicht im Funktionsbereich des kulturellen Gedächtnisses genutzt wird. 146 Somit konnten die frühen Landnahmebeschreibungen zwar erst durch die Medientransformation und die folgenden Innovationen entstehen. Sie sind daher nicht als ‹kulturelle Texte›, sondern als ‹kollektive Texte› zu bezeichnen, die dem Zweck der Zirkulation von Wissen dienten. Zudem erinnerte wahrscheinlich jeder bzw. jede Familie (in der oralen Erinnerungskultur) nur die eigene, personale Identität und nicht auch die aller anderen. Man platzierte sie nur zum Zweck der Abgrenzung zu den Nachbarn oder anderen Isländern in einem gemeinsamen Kontext, ohne aber dabei ein gemeinschaftliches Ziel zu verfolgen. 4.1.2.2 Die Perspektive der Historiographen auf die Lb. zwischen 1250 und 1300 Die erste nachweisbare Version der Lb., deren Inhalt einen größeren Teil Islands (wenn nicht schon ganz Island) umfasste, ist die in H erwähnte Styrmisbók. Auf diese verweist Haukr Erlendsson im Epilog in H als eine der ihm vorliegenden Lb.- Versionen, aus denen er seine Fassung kompiliert habe: Nú er yfir farit um landnám þau, er verit hafa á Íslandi, eptir því sem fróðir menn hafa skrifat, fyrst Ari prestr hinn fróði Þorgilsson ok Kolskeggr hinn vitri. En þessa bók ritaða ‹ek›, Haukr Erlendsson, eptir þeiri bók, sem ritat hafði herra Sturla l ǫ gmaðr, hinn fróðasti maðr, ok eptir þeiri bók annarri, er ritat hafði Styrmir hinn fróði, ok hafða ek þat ór hvárri, sem framar greindi, en mikill þorri var þat, er þær s ǫ gðu eins báðar, ok því er þat ekki at undra, þó ‹at› þessi Landnámabók sé lengri en n ǫ kkur ǫ nnur. (H 354, S. 395+7) Nun sind jene Landnahmen abgehandelt [worden], die auf Island stattgefunden haben, gemäß dem, was kundige Männer aufgeschrieben haben; zuerst der Priester Ari Þorgilsson und Kolskeggr hinn vitri. Und dieses Buch schrieb ‹ich›, Haukr Erlendsson, gemäß dem Buch, das der Gesetzessprecher Herr Sturla geschrieben hatte - der kundigste Mann - sowie gemäß dem anderen Buch, das Styrmir hinn fróði geschrieben hatte. Aus beiden entnahm ich [jeweils] das, was ausführlicher berichtet [war]. Aber 146 Vgl. Assmann 2007, S. 91 f. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 49 einen großen Teil berichteten beide gleich, weshalb es also nicht verwunderlich ist, dass dieses Buch der Landnahmen länger als manch anderes ist. Aus dieser Erklärung wird nicht nur seine Vorgehensweise deutlich (also die Zusammenführung der Berichte aus verschiedenen, ihm vorliegenden schriftlichen Versionen), sondern sie ist auch ein entscheidender Beleg für das ununterbrochene Interesse an der Landnahmezeit innerhalb der Oberschicht seit 1100. Auch wenn diese Darstellung keine Vollständigkeit über mögliche schriftliche Fassungen verspricht, zeigt sie dennoch die grundsätzliche Entwicklung, die der Text durchlaufen hat. Obwohl anfangs nur auszugsweise über die Landnahme geschrieben wurde (dabei werden regionale Begrenzungen bei der Stoffauswahl eine entscheidende Rolle gespielt haben), will Haukr Erlendsson einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen diesen frühen Berichten und den späteren, heute bekannten Versionen des Lb.-Textes sehen. Dennoch werden die frühen Entwicklungsstufen sprachlich von den Versionen Styrmis- und Sturlubók aus dem 13. Jahrhundert differenziert, die er im zweiten Absatz seiner Erklärung als gleichwertig vorstellt, indem beide Versionen mit dem Begriff -bók als Abgrenzung zu den ersten Landnahmeberichten der beiden Verfasser Ari und Kolskeggr gekennzeichnet werden. Man kann demnach vermuten, dass die Styrmisbók bereits einen umfassenderen Charakter hatte als die ersten Landnahmeberichte und eher den uns bekannten Textformen entsprach. 147 Diese «Buch»form (wohl zu verstehen als eine die Insel umfassende Beschreibung der Landnahme) scheint die Lb. also erstmals in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts anzunehmen, woraus sich ein größeres (überregionales) Interesse am Stoff ableiten lässt als noch zur Zeit der Zusammentragung weniger einzelner Berichte. Der zuvor vorrangig regionale Fokus wird nun auf die gesamte Insel ausgeweitet, woraus sich für den Beginn des 13. Jahrhunderts das Bedürfnis ableiten lässt, alle Landnehmer erfassen zu wollen und in den gemeinsamen Kontext der Landnahme stellen zu wollen. Doch wie kam es zu einem Umschwung von dem anfangs regional- und familienzentrierten Fundierungsinteresse hin zu einem kollektiven Fundierungsbedürfnis? 4.1.2.3.1 Personale und kollektive Identität Auf eines der wichtigsten Inzentive für diese Entwicklung gibt ein Verteidigungsepilog in der Handschrift Þ (ehemals also wohl auch M) einen Hinweis: die Isländer des 13. Jahrhunderts wollten mit der Verschriftlichung der Landnahmen zeigen, dass ihre Vorfahren keine Flüchtigen waren, geschweige denn Aussätzige 147 Allerdings ist seit den Untersuchungen von Jón Jóhannesson bekannt, dass die Styrmisbók am besten durch M repräsentiert wird, sodass man davon ausgehen muss, dass die Styrmisbók noch keine ‹historisierte› Fassung war (vgl. Jón Jóhannesson 1941, S. 174). Eine Hierarchisierug der Quellen gemäß ihres Quellenwertes für Haukr Erlendsson findet man in seinem Epilog nicht, dennoch könnte ein Hinweis auf die Autoren hierauf hindeuten: Er bezeichnet alle Verfasser von Texten über die Landnahme als «kundig» (fróðr), hebt von ihnen aber einen besonders hervor, nämlich Sturla Þórðarson, dem er nicht nur einen Ehrentitel (herra) zuerkennt, sondern ihn auch als «den kundigsten Mann» (hinn fróðasti maðr) bezeichnet und dessen Version damit einen gewissen Sonderstatus verleiht. 4 Die altnordische Historiographie 50 oder Kriminelle. Damit antworteten sie offenbar auf die Außen-Perspektive auf sie, wie sie in der H.N. aus dem 12. Jahrhundert deutlich formuliert wird: nachdem Island dort nur nebenbei als eine der tributpflichtigen Inseln angeführt wird, vermerkt der Text, dass die ausgewanderten Siedler Mörder und Gesetzlose gewesen seien: Tunc quidam Norwagenses Ingwar et Hiorleifr ob reatus homicidiorum patriam fugentes […] (H.N., Kap. VIII, S. 68; «Damals flohen zwei Norweger, Ingwar und Hiorleifr [d.s. Ingólfr Arnarson und sein Pflegebruder Hj ǫ rleifr], wegen Mordanklagen aus ihrem Heimatland […].»). 148 Der Epilog in Þ scheint darauf eine direkte Reaktion darzustellen, mit der eine deutliche Abgrenzung einhergeht: Þat er margra manna mál, at þat sé óskyldr fróðleikr at rita landnám. En vér þykjumsk heldr svara kunna útlendum m ǫ nnum, þá er þeir bregða oss því, at vér séim komnir af þrælum eða illmennum, ef vér vitum víst várar kynferðir sannar, svá ok þeim m ǫ nnum, er vita vilja forn fræði eða rekja ættart ǫ lur, at taka heldr at upphafi til en h ǫ ggvask í mitt mál, enda veru svá allar vitrar þjóðir, at vita vilja upphaf sinna landsbyggða eða hvers‹u› hvergi til hefjask eða kynslóðir. (ÍF I, S. 336, Anm. 1) 149 Viele haben die Ansicht, dass es unnötiges Wissen darstelle, [wenn wir] über die Landnahme schreiben. Doch meinen wir, dass wir eher den ausländischen Leuten entgegnen können, die uns vorwerfen, dass wir von Knechten oder Schurken abstammen würden, wenn wir sicher unsere Abstammungen kennen. Genauso [können wir besser] den Männern [entgegnen], die heidnisches Wissen kennenlernen oder Genealogien zurückverfolgen wollen, [wenn wir] lieber am Anfang beginnen, als mitten in der Geschichte anzufangen. Schließlich sind alle weisen Völker so, dass sie über den Anfang ihrer Besiedlungen, wie [sie] im Nirgendwo beginnen oder über die Geschlechter wissen wollen. Es liegt nahe, dass durch Angriff und Kritik von außen die ‹Mythomotorik› der zunächst fundierenden Landnahmeerinnerungen bedeutend verstärkt worden ist und so das Bedürfnis nach einer kollektiven Fundierung der primär regional organisierten Isländer in besonderer Weise ‹entzündet› wurde. Die zunächst fundierenden Erinnerungen erhalten so eine ‹kontrapräsentische› Funktion, eingesetzt zur Veränderung der als defizitär empfundenen Gegenwart. Diese Tendenz einer Kollektivierung fand schließlich nach der politischen Angliederung an Norwegen 148 Historia Norvegiae. Ed. by Inger Ekrem and Lars Boje Mortensen. Transl. by Peter Fisher. Copenhagen 2003. Zwar gestaltet sich die Datierung des Textes schwierig, doch haben die umfassenden Untersuchungen von Inger Ekrem wahrscheinlich gemacht, dass er um 1050 im Zuge der Bistumsgründung in Nidaros entstand (vgl. Inger Ekrem. Nytt lys over Historia Norwegie. Mot en løsning i debatten om dens alder? Bergen 1998, S. 8-13), was wahrscheinlich macht, dass die Auffassung der Norweger über Island 20-30 Jahre zuvor nicht nennenswert abwich. Auch wenn diese Texte jünger sind als die Íb., kann man wohl davon ausgehen, dass die Isländer vorher kein bedeutend größeres Ansehen genossen haben werden. 149 Jón Jóhannesson meint diesen Vermerk sogar auf die Styrmisbók zurückführen zu können (vgl. Jón Jóhannesson 1941, S. 203 ff.), womit bereits Anfang des 13. Jahrhunderts ein Abgrenzungsbedürfnis der Isländer gegenüber Norwegen belegt wäre. Preben Meulengracht Sørensen sieht in diesem Zusatz auch eine Bestätigung dafür, dass die Lb. primär einen Ursprungsmythos darstellen und nicht lediglich Besitzansprüche legitimieren sollte (vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 86). 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 51 1262-64 ihren Höhepunkt in der schon eingangs erwähnten ‹Historisierung› des Textes in Form der heute vorliegenden Fassungen S und H. Betrachtet man diese Tendenz nun unter dem Aspekt der Sinnstiftung, lässt sich einerseits feststellen, dass die ‹partielle Historisierung›, also die Auffüllung einzelner Berichte durch Sagastoffinterpolationen, auf ein stärkeres Bedürfnis personaler (familienbezogener) Sinnstiftung gegen Ende des 13. Jahrhunderts hinweist. Diese Entwicklung lässt sich ebenfalls an der Entstehung der familienzentrierten Isländersagas zwischen 1250 und 1350 beobachten. Das, was man dort festhielt, sollte vermutlich auch in dem (kohärenten) Kontext der Landnahmeberichte fundiert werden. Gleichzeitig geschah aber auch die Umstrukturierung des Textes in seiner Basis, die ‹totale Historisierung›. Dabei wurden grundlegende Änderungen vollzogen, die alle Landnahmeberichte in einen neuen Sinnrahmen einbetteten: eingangs wird ein Kapitel über die Geographie Islands in Nordeuropa (S/ H 1) ergänzt, dazu werden die Berichte über die Entdeckung der Insel (S/ H 2-5) und den ersten (wiederum in bekennender Abgrenzung zu den oben zitierten Ausführungen der H.N.), zum Stammvater überhöhten Landnehmer Ingólfr Arnarson eingefügt (S/ H 6- S 9/ H 10) sowie am Ende Zusammenfassungen der mächtigsten bzw. bedeutsamsten Landnehmer (S 397-398/ H 354) und Epiloge hinzugefügt (S 399/ H 354 & 356). Dieser Kontext enthält eine dem Text vorher nicht innewohnende Sinnstiftung: den Versuch, die isländische Gesellschaft als Kollektiv auf der Basis der bestehenden personalen Identitäten in einem gemeinsamen Kontext zu verorten und damit zu fundieren. Die Identitätsstrategie ist somit nun nicht mehr vorrangig familienzentrierter Art, sondern es erfolgt auf parallelem Weg eine kollektive Identitätskonstruktion, indem nicht nur alle Landnehmer in diesen Besiedlungsprozess eingebettet werden, sondern auch ein gemeinsamer Startpunkt und damit eine (! ) gemeinsame Vergangenheit festgelegt wird. Die Zusammenführung aller Landnehmer in ein und dieselbe Vergangenheit bedeutet die Rückführung gegenwärtiger Verhältnisse auf einen ursprünglichen ordo. Man muss daher schlussfolgern, dass (mindestens) die Lb.-Redaktoren des ausgehenden 13. Jahrhunderts personale und kollektive Identität für addierbar hielten, wobei die kollektive grundsätzlich erst von der Gesamtheit der personalen Identitäten abgeleitet werden kann. Es kann folglich keine Konkurrenz zwischen diesen beiden Strategien gegeben haben, da die eine die andere nicht bedroht hat - das heißt, dass die Funktionsbereiche dieser beiden Sinnstiftungen sich nicht überschnitten. Gleichzeitig wird mit dieser Verknüpfung beider Identitätskonstruktionen eine entscheidende Abhängigkeit deutlich: ohne die personale Identität gäbe es keine kollektive. Die Lb.-Redaktionen S und H beinhalten also zwei ambivalente identitätsstiftende Ebenen: Es wird an den Ursprung und die Entwicklung einerseits des Kollektivs - also der literaturproduzierenden Oberschicht - und andererseits jeder einflussreichen Familie erinnert. Diese zweigliedrige Struktur bezeugt, dass es zwei wesentliche Institutionen gab, die der Fundierung mittels Erinnerung bedurften: Auf der einen Seite die Oberschicht, die sich auf irgendeine Art als Gruppe begriffen haben muss und das Bestreben hatte, sich von anderen Gruppen zu distanzieren, mit dem Ziel der überregionalen ‹Distinktion› (Tren- 4 Die altnordische Historiographie 52 nung/ Abgrenzung). Auf der anderen Seite jede einzelne Familie, die in Abgrenzung zu anderen Familien ihre eigene Identität zu fundieren bestrebte, d.h. auf regionale ‹Distinktion› (Trennung/ Abgrenzung) abzielte. Ein überregionales Vergangenheitsbewusstsein und ein kollektives Verständnis der Landnahme als bedeutsames Moment der Veränderung lässt sich schon an der Styrmisbók ableiten, die bereits für den Anfang des 13. Jahrhunderts das Bedürfnis bezeugt, eine umfassende Darstellung der Landnehmer auf Island erstellen zu wollen. Die Versionen S und H weisen für einige Jahrzehnte später (Ende des 13. Jahrhunderts) eine spezielle Ausformung dieser Kollektivierung auf - die Redaktoren verstärken diese Entwicklung, indem sie sich auf eine gemeinsame Vergangenheit, d.h. eine einzige Version des Landnahmeprozesses und seiner Umstände einigen und damit einen Rahmen schaffen, in dem jede einzelne Landnahmeerinnerung wiederum eingebettet werden kann. 150 Damit hat der Mythos der Landnahme nicht mehr nur fundierende Funktion, sondern wirkt auch kontrapräsentisch in die Zukunft: die Landnahmeumstände und die mythisch begründete Auffindung und 150 Diese Kollektivierung wird darin unterstützt, dass in die historisierten Fassungen erstmals Quellenbenennungen und -kritik Eingang finden (im M-Fragment sind solche nicht nachweisbar). Damit wird ein breiter Konsens über die isländische Geschichtsversion suggeriert, auf den sich die Verfasser beziehen. Durch diese Angliederung an eine kontinuierliche Geschichtsschreibung erfolgt eine Identifikation nach innen mit der Geschichtskonstruktion, die in den älteren isländischen Texten erinnert wird. So gibt es einerseits Angaben zur mündlichen Erinnerung in Formeln wie en svá er sagt, svá segja vitrir menn, at (S/ H 1, S. 31; «und so wird erzählt», «so erzählen weise Männer, dass») oder eptir því sem vitrir menn ok fróðir hafa sagt (S 335, S. 334; «gemäß dem, was weise und kundige Männer erzählt haben»; auch im Epilog S 398/ H 355 & S 399/ H 356, S. 396) oder auch selten personale Erinnerungen wie þat sagði J ǫ kull stigamaðr, at (S 180/ H 147, S. 223; «es erzählte J ǫ kull stigamaðr, dass»). Andererseits werden aber auch schriftliche Texte als Quellen genannt. Diese können in allgemeiner Form wie á bókum er sagt (S/ H 1, S. 31; «in Büchern wird berichtet» bzw. á bókum enskum «in englischen Büchern») und sem ritat er (S 54/ H 42, S. 87; «wie geschrieben wird [/ steht]») vorkommen (unklar ist dabei, ob man es bei Hinweisen wie sem segir í s ǫ gu hans (S 309/ H 270, S. 316; «wie es in seiner Saga [/ Geschichte] berichtet wird» mit Hinweisen auf mündliche oder schriftliche fixierte Erinnerungen zu tun hat, da saga sowohl eine mündliche Erzählung als auch einen schriftlichen Text bezeichnen kann). Es gibt aber auch einige Vermerke auf Texte durch ihren Titel (z.B. þar af gerðisk Svarfdœla saga S 219/ H 185, S. 254; «davon handelt die Svarfdœla saga») oder ihren Verfasser wie svá sagði Sæmundr prestr enn fróði (S 3, S. 34; «so berichtete es der Priester Sæmundr enn fróði») und svá segir Ari Þorgilsson (H 78, S. 133; «so berichtet Ari Þorgilsson»). Auf Anhieb scheint es dabei kein Muster zu geben, vor allem wahrscheinlich dadurch bedingt, dass der Text keinen inhaltlichen roten Faden hat, sondern aus einzelnen wieder für sich alleine stehenden, kurzen Erzählungen besteht. Auffällig ist jedoch, dass vor allem Eingangskapitel und Epiloge, die mit Sicherheit erst dem späten 13. Jahrhundert zuzuordnen sind, eine interessante Unterscheidung zwischen schriftlichen außerisländischen sowie mündlichen und schriftlichen innerisländischen Zeugnissen machen: außerisländische Zeugnisse werden immer mit ihrem Titel und ihrer Herkunft zwecks Abgrenzung von isländischen schriftlichen Quellen genannt, die im Gegensatz dazu durch den Verfasser wie eine mündliche Quelle gekennzeichnet werden (so z.B. ein Hinweis auf die Íb.: svá segir Ari Þorgilsson (H 78, S. 133; «so sagt/ erzählt/ berichtet Ari Þorgilsson»). Außerdem sind fast alle innerisländischen Quellenberufungen (bis auf die Phrase svá er sagt) mit der Ergänzung «weiser und kundiger Männer» (vitrir ok fróðir menn) bewertet. Hierbei kann es sich auch um schriftliche Texte handeln, die aber mit diesem Hinweis zusammengefasst werden können. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 53 Erstbesiedlug der Insel durch Ingólfr drücken eine gottgewollte Besiedlug aus und demonstrieren sowohl nach innen als auch nach außen, dass die isländische Gesellschaft eine unabhängige Etablierung und Entwicklung durchlebt hat, die auch noch zu Zeiten der politischen Abhängigkeit von Norwegen (seit etwa 1265) die kollektive Identität formen kann. Statt sich also nach der Aufgabe des ‹Freistaats› mit Norwegen zu identifizieren und sich auf die (ja vorhandenen) norwegischen Wurzeln zu berufen, um eine entsprechende Kontinuität über die Vergangenheit hinweg zu rekonstruieren, wählten die Isländer die Identitätsstrategie der ‹Distinktion›: ihre eigene Identität scheint sich Mitte des 13. Jahrhunderts so sehr von der norwegischen zu unterscheiden, dass sie ihnen schützenswert vorkam und nicht (mehr? ) vereinbar war mit einer gemeinsamen Vergangenheit mit ihrem einstigen Herkunftsland. 4.1.2.3.2 Mythische Landnahme und ‹natürliche Religion› 151 Um eine Kontinuität von der Besiedlung bis zur Sagazeit zu schaffen, über die dann die Isländersagas ausführlich berichten, wird nicht nur eingangs ein chronologischer Rahmen in den historisierten Versionen geschaffen, der den Besiedlungsbeginn auf etwa 870 datiert, sondern es werden auch verschiedene Phasen der Besiedlung differenziert. 152 Hier kann man zwischen primären und sekundären Besiedlungen unterscheiden, von denen letztere in einer späteren Zeit platziert werden. Diese Zeitspanne der Besiedlung wird in den Schlussworten der beiden Editionen S und H in Anlehnung an ihnen vorliegende Darstellungen der Landnahme (darunter vor allem Aris Íb.) auf sechzig Jahre festgelegt (S 398/ H 355), also bis ca. 930. Nach dieser Besiedlungszeit, so wird anschließend konstatiert, hätten die im Folgenden aufzuzählenden Landnehmer den größten Einfluss ausgeübt. Abschließend weist der Epilog noch auf die nach der Besiedlung folgenden 100 Jahre hin, in denen Island gänzlich heidnisch gewesen sei, obwohl einige der Landnehmer bereits christlich gewesen seien: Svá segja vitrir menn, at n ǫ kkurir landnámsmenn hafi skírðir verit, þeir er byggt hafa Ísland, flestir þeir, er kómu vestan um haf. Er til þess nenfdr Helgi magri ok Ørlygr enn gamli, Helgi bjóla, J ǫ rundr inn kristni, Auðr djúpauðga, Ketill enn fíflski ok enn fleiri menn, er kómu vestan um haf, ok heldu þeir sumir kristni til dauðadags. En þat gekk óvíða í ættir, því at synir þeira sumra reistu hof ok blótuðu, en land var alheiðit nær hundraði vetra. (S 399/ H 356, S. 396) So sagen weise Männer, dass einige Landnehmer, die Island besiedelten, getauft gewesen seien; die meisten von ihnen kamen aus dem Westen über das Meer. Dahingehend werden Helgi magri und Ørlygr enn gamli, Helgi bjóla, J ǫ rundr inn kristni, Auðr djúpauðga, Ketill enn fíflski genannt und noch weitere Männer, die aus dem Westen über das Meer kamen, und viele behielten den christlichen Glauben bis zu ihrem Todestag. Aber das führte man in den Familien nicht fort, weil die Söhne der meisten 151 Die Ausführungen der folgenden zwei Kapitel beruhen zum Teil auf den bisher unveröffentlichten Erkenntnissen meiner Magisterarbeit (vgl. Wamhoff 2010, unveröffentlicht). 152 Am Anfang beider Versionen werden wie in der Íb. die Herrscher aus anderen Ländern bis nach Rom als chronologischer Vergleichswert angeführt (S 2/ H 2, S. 32-33). 4 Die altnordische Historiographie 54 Tempel errichteten und opferten. Und das Land war an die einhundert Jahre vollständig heidnisch. Diese Episode soll verdeutlichen, dass sich auf Island in den ersten Jahrzehnten nach der Besiedlung bis zur Annahme des Christentums eine neue Gemeinschaft mit neuen Werten und Normen entwickeln konnte. Doch auch ein weiterer Aspekt wird hier betont: Nämlich dass viele (zum Teil christliche) Siedler aus dem Westen kamen - also aus Irland und von den Britischen Inseln bzw. mindestens über diese als Zwischenstationen einwanderten, sofern sie aus Norwegen aufgebrochen waren. Es wurde vermutet, dass mit der zuvor genannten Passage der Eindruck revidiert werden sollte, dass sich das so nach Island gebrachte irisch beeinflusste Christentum dort etabliert haben könnte, weil es im Frühmittelalter als häretisch galt. 153 Die Verifizierbarkeit dieser These muss jedoch, da das irische Christentum seine häretische Zeit im 9. und 10. Jahrhundert längst überwunden hatte, in Frage gestellt werden. Deutlich wird hinsichtlich des betonten ‚ religiösen Rückfalls ‘ , wie man schnell urteilen könnte, dass er aus der christlichen Perspektive ganz und gar nicht negativ konnotiert wird. Die lange heidnische Periode, die auf die Landnahmezeit folgt, wird sogar positiv hervorgehoben. Man könnte diese Zeit als Phase einer positiven allgemeinen Religiosität auf Basis eines heidnischen Brauchtums auffassen, das in diesem Schlusswort mithilfe der signifikanten heidnisch-religiösen Begriffe «Tempel» (hof) und «opfern» (blóta) plakativ zusammengefasst wird. Diese beiden Bezeichnungen sind keine polemischen oder dämonischen Schilderungen des Heidentums, sondern demonstrieren den Umstand, dass das Land tatsächlich heidnisch war - aber religiös integrer (im Sinne einer ‹natürlichen Religion›) als andere, denn sonst hätten die Isländer die Traditionen, die mit dem Heidentum verbunden waren, trotz des Kontaktes mit dem Christentum nicht wieder aufleben lassen. Der Grund für diese Darstellung liegt also wohl eher darin, dass so für die isländische Gesellschaft eine eigenständige soziale und kulturelle Entwicklung rekonstruiert werden konnte, die ihr eine gewisse Unabhängigkeit verleiht. Auch die eigenständige Entscheidung Islands, das Christentum anzunehmen (wie in der Íb. und Kristni saga beschrieben), wird hiermit betont bzw., sofern man die Kristni saga als auf die Lb. folgenden Text anerkennt, vorbereitet. 154 Gleichzeitig wird damit ein gemeinsames Wertekonzept und damit einhergehend ein heroisches Zeitalter (re)konstruiert, das die kulturelle Identität Islands nach der Besiedlung sichert. Diese Erinnerungen haben eine ‹kontrapräsentische Mythomotorik›, indem sie eine Vergangenheit und Werte erinnern, an denen die defizitäre Gegenwart hinsichtlich ihrer zukünftigen Entwicklung ausgerichtet werden soll. Damit wird neben dem chronologischen Rahmen noch eine weitere Form der Kontinuitätsbildung eingesetzt: die kollektive Identität und Vergangenheit werden mittels mythischer Motive und Strukturen über ihre religiöse (d.h. auch kulturelle) Entwicklung definiert. Die Lb. scheint sich aufgrund der Dar- 153 Vgl. Böldl 2005, S. 177. 154 Vgl. Pernille Hermann. Íslendingabók and History. In: Reflections on Old Norse Myths. Studies in Viking and Medieval Scandinavia, 1. Ed. by Judy Quinn, Stefan Brink, John Hines. Brepols 2007. S. 17-32, S. 27 f. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 55 stellung dieser Motive in zwei inhaltliche Phasen teilen zu lassen: Zum einen gibt es die Phase der mythischen Landnahme, in der primär der Besiedlungsbeginn und die Auswanderungsgründe fundiert werden, und zum anderen die Phase einer abgeschwächten Form von Religiosität, die man als ‹natürliche Religion› 155 bezeichnen könnte. Dieses christliche Deutungsmuster der heidnischen Geschichte ist aus unterschiedlichen Herkunftsgeschichten zwecks Einbindung der autochthonen Geschichte bekannt, aber im isländischen Fall könnte der Anknüpfungspunkt für diese Darstellung in einer Äußerung Adam von Bremens zu sehen sein und damit viel pragmatischere Gründe gehabt haben. Dieser vermerkt nämlich in seinen Gesta Hamburgensis in den 1070er Jahren folgendes: De quibus noster metropolitanus immensas Deo gratias retulit, quod suo tempore convertebantur, licet ante susceptam fidem naturali quadam lege non adeo discordabant a nostra religione (Gesta Hamburgensis, IV 36, S. 486: «Ihretwegen [d.s. die Isländer] dankte unser Erzbischof Gott von Herzen, haben sie sich doch zu seiner Zeit bekehrt, wenn sie sich auch durch eine Art Naturrecht selbst vor der Annahme des Glaubens nicht weit von unserer Religion unterschieden.»). 156 Offenbar sieht Adam von Bremen Island erst mit der Weihe des Bischofs Ísleifr (1054/ 55) durch Erzbischof Adalbert I. christianisiert, also etwa 50 Jahre nach dem in den altnordischen Quellen genannten Jahr 1000. Der Zusammenhang sowie die Intention dieses Vermerkes sind unklar, aber der Anknüpfungspunkt offensichtlich: hier wird den Isländern mit dem «Naturrecht» die Vorlage für die Eingliederung ihrer eigenen Geschichte geliefert. Die mythische Landnahmephase beginnt mit den ersten vorangestellten Kapiteln, in denen eine schicksalhaft vorbestimmte Phase der Besiedlung einer paradiesisch wirkenden Insel erinnert wird: ok var þá skógr milli fjalls ok fj ǫ ru (S 4, S. 36; «und damals war Wald zwischen Gebirge und Küste»). 157 Die mythisch 155 Der Begriff der ‹natürlichen Religion› ist an Weber angelehnt, der damit zunächst eine heilsgeschichtlich ausgerichtete, allgemein-religiöse Frömmigkeit beschreibt (vgl. Gerd Wolfgang Weber (Hrsg.). Irreligiösität und Heldenzeitalter. Zum Mythencharakter der altisländischen Literatur. In: Mythos und Geschichte. Trieste 2001. S. 15-41. [Erstmals veröffentlicht in: Spekvlvm Norroenvm. Norse Studies in memory of Gabriel Turville-Petre. Ed. by U. Dronke et al. Odense 1981. S. 474-505]). Die Übertragung seines Begriffs auf das in der Lb. vorliegende Phänomen erfordert jedoch die Abgrenzung von dem implizierten heilsgeschichtlichen Prozesscharakter, da den mittelalterlichen Geschichtsschreibern jegliches Prozessdenken fremd war. Mit dem Begriff ‹natürliche Religion› soll hier deshalb erst einmal lediglich die Abschwächung von religiösen Merkmalen bezeichnet werden, ohne deren Zweck von vornherein bestimmen zu wollen. 156 Übersetzung Werner Trillmich. In: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches. Rimbert Leben Ansgars, Adam von Bremen Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche, Wipo Taten Kaiser Konrads II, neu übertragen von Werner Trillmich. Hermann von Reichenau Chronik unter Benützung der Übersetzung von K. Nobbe, neu bearbeitet von Rudolf Buchner. Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr von Stein Gedächtnisausgabe, XI. Hrsg. v. Rudolf Bchner. Darmstadt 1961, S. 487. 157 Vgl. Margaret, Clunies Ross. Textual Territory: The Regional and Geographical Dynamic of Medieval Icelandic Literary Production. In: New Medieval Literatures. Ed. by Rita Copeland, David Lawton and Wendy Scase. Oxford 1997. S. 9-30, S. 21; Clunies Ross 1998a, S. 145 und Margaret Clunies Ross. 1998b. Land-Taking and Text-Making in Medieval Iceland. In: Text and Territory. Geographical Imagination in the European Middle Ages. Ed. by Sylvia Tomasch, Sealy 4 Die altnordische Historiographie 56 konnotierte Landnahme stellt dabei die Anfangssetzung der Besiedlung dar, auf die immer als autochthon-isländisches Motiv referiert wird. Sie charakterisiert sich insbesondere durch exklusiv heidnisch-religiöse Motive, die auffallend positiv konnotiert werden. 158 Der Text informiert zum einen über einige der heidnischen Göttergestalten, an die durch einzelne Siedler mit Affinitäten zu ihnen in Form von ‹mythological overlays› reminiszent erinnert wird: zwischen dem Entdecker der Insel Flóki und dem Gott Odin (altn. Óðinn) lassen sich aufgrund von dessen Rolle im Landnahmeprozess und dessen Affinität zu Raben, die er aussendet, damit sie sich an seiner Stelle ‚ über dem Land ‘ orientieren, deutliche Parallelen feststellen. Der Gott Thor (altn. Þórr) gilt als Schirmherr der Landnahme und lenkt die über Bord geworfenen Hochsitze der Siedler, während dem Landnehmer Ingimundr aufgrund seines Lebensverlaufes und etlicher Fruchtbarkeitsmotive Charakteristika zugeschrieben werden, die an den Fruchtbarkeitsgott Frey (altn. Freyr) erinnern. 159 Zum anderen werden facettenreich religiöse Symbole (wie die Hochsitzpfeiler 160 , Amulette, Opferstäbchen u.a.) und religiöse Praktiken (wie Opfer, Weihe sowie die Verehrung heiliger Plätze) beschrieben sowie Elemente des Volksglaubens in Form der landvættir («Landgeister») 161 erwähnt. Keines dieser Motive wird dämonisch oder polemisch beschrieben, wie man es durchaus auch aus der altnordischen Gilles. Philadelphia. S. 159-184, S. 174. Das Motiv kommt sowohl in der Íb. als auch in der Lb. vor. Der Überschaubarkeit halber wurde ein Motiv-Index mit mythischen und religiösen Motiven in der Lb. erstellt. Siehe daher bzgl. aller paradiesähnlichen Beschreibungen Motiv-Index, S. 247-254 im Anhang dieser Abhandlung; unter «I Landnahmeriten: Ig Paradiesische Beschreibungen». Diese kommen nur in den Berichten der ersten Besiedlungsphase vor, wodurch noch stärker ein paradiesischer, unberührter Zustand suggeriert wird. 158 Siehe Motiv-Index, S. 247-254 dieser Abhandlung, unter «I Landnahmeriten: Ib Göttlich geleitet», wobei auffällig ist, dass die relevanten Motive nur bis zur Mitte des gesamten Textes (bis S. 216) auftreten, da sie in der späteren Besiedlungsphase eine Bedeutungsveränderung erfahren, auf die an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird. Eine umfassende Zusammenstellung der mythischen Landnahmetraditionen hat vor allem Dag Strömbäck geliefert (vgl. Att helga land. Studier i Landnáma och det äldsta rituella besittningstagandet. In: Folklore och Filologi. Valda uppsatser utgivna av Kungl. Gustav Adolfs Akademien 13.8.1970. Uppsala 1970. S. 135-165). 159 S. hierzu auch parallele Untersuchungen in den Isländersagas von Preben Meulengracht Sørensen (Meulengracht Sørensen 2001b). 160 Die Hochsitzpfeiler ( ǫ ndvegissúlur oder hásæti genannt) stellen eines der elementarsten Motive der Landnahmeriten dar. Von ihnen wird berichtet, dass man sie vor der Küste über Bord warf, damit sie dem Siedler den Ort seiner neuen Wohnstätte weisen mögen. Es scheint hauptsächlich der heidnische Gott Thor zu sein, dem die Leitung der Pfeiler zugeschrieben wird (vgl. Heinrich Beck. Art. „ Hochsitz “ . In: RGA, 15. 2000. S. 14-16, S. 15). Es gab in der Forschung bisher bereits einige Untersuchungen zu ihrem religiösen Symbolstatus, ihrer historischen Entsprechung in der skandinavischen Hauskonstruktion und ihrer Funktion innerhalb der Landnahmeriten (s. dazu v.a. Wilhelm Holmquist. Art. „ Högsäte “ . In: KLNM, 7. København 1962. S. 290-292; Strömbäck 1970, S. 136 ff.; Vilhelm Kiil. Fra andvegissúla til omnkall. Grunndrag i Torskulten. In: Norveg, 7. Oslo 1960. S. 183-246, S. 188 f. sowie Böldl 2005, S. 163 ff.). 161 Die landvættir sieht man insbesondere in Verbindung mit ursprünglich heidnischen Vorstellungen, da in einigen Rechtstexten der christlichen Zeit verboten wurde, ihnen zu opfern. Man meinte, sie würden an verschiedenen Orten der Natur hausen wie z.B. in Hügeln, Steinen, Wasserfällen etc. (vgl. François-Xavier Dillmann. Art. „ Vættir “ . In: RGA, 35. 2003. S. 326-334, S. 327 f.). 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 57 Literatur kennt. 162 Im Gegenteil: insbesondere in der mythischen Landnahmephase wird beispielsweise die Einhaltung der Landnahmeriten als unabdinglich für eine erfolgreiche Ansiedlung angesehen (am deutlichsten realisiert in der Episode von Ingólfr und Hj ǫ rleifr, vgl. SH 7-9/ H 10). Eine weitere Erinnerungsfigur im Rahmen der mythischen Landnahmephase ist die Motivation für die gesamte Auswanderung aus Norwegen, die insbesondere durch die ‹Archegeten› 163 Ingólfr und Skalla- Grímr im ersten Teil der Lb. begründet wird: sie verlassen ihre Heimat wegen der tyrannischen Machtträger in Norwegen (vgl. SH 6, S. 40 f. und S 29, S. 68). 164 Die beiden ‹Archegeten›-Berichte zeichnen sich dadurch aus, dass keine numinose Macht näher identifiziert wird, unter deren Schutz ihre Landnahme steht, wodurch eine allgemeine religiöse Integrität betont wird. Als Stammvater der isländischen Gesellschaft fungieren diese beiden ‹Archegeten› jedoch nicht. Hierfür wird der norwegische Herse Bj ǫ rn buna eingesetzt, dessen Nachkommen Island in das soziale Netzwerk im Norden eingliedern, indem sie über verschiedene Zwischenstationen dorthin reisen, auf denen sie ihre Kinder verheiraten oder soziale Strukturen etablieren: Frá Birni er nær allt stórmenni komit á Íslandi (S 10, S. 46; «von Bj ǫ rn stammen fast alle herausragenden Männer auf Island»); þeir váru ágætir menn, ok frá þeim er flest allt stórmenni komit á Íslandi (H 11, S. 49; «sie [d.s. seine Söhne] waren berühmte Männer und von ihnen stammen die meisten herausragenden Männer in Island ab»). 165 Der christliche Status seiner vier Nachkommen, die sich in jedem Viertel ansiedeln, spielt allerdings überhaupt erst in den Textredaktionen des 13. Jahrhunderts eine Rolle, weshalb sich bestimmte religiöse Fundierungsbedürfnisse der Verfasser des späten 13. Jahrhunderts vermuten lassen. 166 Die Ansiedlung selbst 162 Vgl. allgemein zu Dämonisierung und Polemik v.a. Weber 1994, S. 3 ff. Man findet z.B. in einigen Texten der altnordischen Literatur kurze, polemische Bekehrungsanekdoten, insbesondere in Form einiger þættir (z.B. dem V ǫ lsa þáttr), die in die Königssagas eingeschoben sind (vgl. Stefanie Würth. Elemente des Erzählens. Die þættir der Flateyjarbók. In: Beiträge zur nordischen Philologie, 20. Hrsg. v. der Schweizerischen Gesellschaft für skandinavische Studien; Oskar Bandle und Jürg Glauser [u.a.]. Basel [u.a.] 1991, S. 113 ff. und 149 f.). 163 Ein ‹Archeget› ist eine Art Kulturheros. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bezeichnet einen Stammvater, also einen mythischen Gründer (vgl. Hermann Reichert. Art. „ Kulturheros “ . In: RGA, 17. 2001. S. 452-457, S. 452 f.). In der altnordischen Literatur gibt es derartige Gestalten nicht. Dennoch scheint es sinnvoll, im Fall der Lb. diesen Begriff auf bestimmte Siedler mit herausragenden zivilisatorischen Aufgaben zu übertragen. 164 Der Landnahmebericht Skalla-Grímrs ist nur in S verzeichnet. Exakt diese Episode fehlt in H, da dort ein Blatt fehlt (ÍF I, S. 69, Anm. 8). Dass Skalla-Grímr in H aber auch eine Rolle gespielt haben muss, zeigt H 55. Dort findet sich die Anmerkung: Nú eru þeir menn talðir, er byggt hafa í landnámi Skalla-Gríms. Die Episode über Skalla-Grímr scheint auch in M vorhanden gewesen zu sein und war wohl unabhängig von der Egils saga (ebd. nach Þ, S. 95, Anm. 8). M scheint keine Vorlage für S gewesen zu sein, da der Landnahmebericht Skalla-Grímrs dort in das erste Kapitel vorgezogen wird und dem Bericht der Egils saga folgt. Zur Deutung und Funktion des Erstsiedlerberichts von Ingólfr vgl. Wamhoff 2010, S. 22-25 und des Berichts über Skalla-Grímr vgl. dies., S. 25-27 sowie weiterführende Literatur. 165 Auch Meulengracht Sørensen ist der Ansicht, dass Bj ǫ rn buna als Stammvater in der Lb. funktionalisiert wird (vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 82). 166 Vgl. Sveinbjörn Rafnsson 2001b, S. 66 ff. Durch diese Konstruktion erlangt die Familie Bj ǫ rn bunas und seines Sohnes Ketill flatnefr besondere Bedeutung innerhalb der Landnahmezeit. Al- 4 Die altnordische Historiographie 58 wird als ein unabhängiges Unterfangen einzelner Familien erinnert, das durch die Verwendung verschiedener Trennungsszenarien gemeinsam segelnder Familien (meistens durch Stürme) fundiert wird. 167 Dadurch wird eine unabhängige Landnahme der einzelnen Siedler bzw. Familien rekonstruiert, die jedoch archäologisch widerlegt werden konnte. 168 Dieses Trennungsmotiv hat einen deutlichen Gegenwartsbezug (mit dem kontrapräsentisch formulierten Anspruch auf Veränderung hin zu einer anderen Machtverteilung). Folglich kann man die Erinnerungsfigur der unabhängigen Landnahme als «heiße Erinnerung» bezeichnen, welche die Funktion hat, die gesellschaftliche Entwicklung der Gegenwart und Zukunft daran orientierend zu gestalten. Die Auswanderungsideologie ändert sich mit dem zuvor genannten Ingimundr enn gamli etwa in der Mitte des Textes und leitet die zweite Phase des Gründungsmythos der Lb. ein, die sich durch die Abschwächung von heidnischer Religiosität und der Betonung allgemein-religiöser Motive charakterisiert und daher als ‹natürliche Religion› bezeichnet werden kann. 169 Hauptsächlich handelt es sich hier um Hinweise auf Opfer und Zauberkunst, die insbesondere in den letzten Landnahmegenerationen bzw. am Ende des Textes auftreten und durch ihre fehlende Konkretisierung nicht mehr deutlich von christlichen Vorstellungen differenziert werden können. 170 An einigen Stellen wird zwar das Motiv des ‹Edlen Heiden› benutzt, um lerdings gibt es zwar in jedem Landesviertel christliche Landnehmer, doch erwerben diese nur mithilfe der heidnischen Landnehmer und nicht unabhängig Land. Der heidnisch-mythischen Landnahme wird also mehr Gewicht verliehen als der christlichen. 167 Diese Szenen kommen nur in den ersten Besiedlungserzählungen der mythischen Landnahmezeit vor; siehe Motiv-Index, S. 253-260; unter «I Landnahmeriten: If Motiv der Trennung auf See zwecks unabhängiger Landnahme». 168 Vgl. Orri Vésteinsson 1998-2001, S. 1-29. Meulengracht Sørensen hat bereits die Vermutung geäußert, dass in der Lb. mithilfe unterschiedlicher Mittel der Eindruck erzeugt werden soll, als ob die Grundlage des ‹Freistaats›, also die Landnahme, eine Unternehmung vieler unabhängiger Familien gewesen sei, die dann auch noch in der ‹Freistaatszeit› unabhängig voneinander Macht kumulieren konnten (vgl. Meulengracht Sørensen 2001a. Sagan um Ingólf og Hjörleif. Athugasemdir um söguskoðun Íslendinga á seinni hluta þjóðveldisaldar. In: At fortælle historien. Telling history. Studier i den gamle nordiske litteratur. Studies in Norse Literature. Udgivet i samarbejde med Sofie Meulengracht Sørensen. Trieste. S. 11-25, S. 18 f.). Von dieser These ließe sich allerdings wieder eine kollektive Idee ableiten, die die Familien trotz Rivalitäten gemeinsam erinnert hätten. 169 Im Motiv-Index wird in den jeweiligen Kategorien ab S. 216 (Ingimundr-Episode) die Reduktion der religiösen Motive und dafür auffällige Zunahme der Zaubereimotive deutlich, siehe Motiv- Index, S. 253-260. Dass mit der Ingimundr-Episode eine Art Wendepunkt im Text konzipiert wurde, lässt sich auch anhand der Verteilung der Landnahmen durch den Ritus des Überbordwerfens von Hochsitzpfeilern erkennen: Sowohl vor als auch nach seiner Episode gibt es jeweils fünf Landnahmen, bei denen Hochsitzpfeiler eine Rolle spielen; siehe Motiv-Index, S. 253-260; unter «I Landnahmeriten: Ib Göttlich geleitet, Hochsitzpfeiler ( ǫ ndvegissúlur)». Anhand dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass zwischen den Landnahmen vor Ingimundr und den auf ihn folgenden deutliche Konnotationsunterschiede bestehen, die mithilfe des veränderten Vokabulars sowie ihrer Bewertung realisiert werden (vgl. dazu Wamhoff 2010, S. 38-42). 170 Vgl. Motiv-Index S. 247-254. Man findet auch andere Texte mit ähnlichen Vorstellungen in der altnordischen Literatur, wie beispielsweise die Snorra Edda und die Hkr., in der mit Hinblick auf 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 59 vereinzelte Personen religiös integrer darzustellen als andere, jedoch gibt es keinerlei Hinweise im Text, die vermuten ließen, dass es sich bei der Abschwächung mythischer und religiöser Motive um eine heilsgeschichtlich ausgerichtete Ausdeutung vorchristlicher Zeit handelt. Vielmehr weist die fehlende Verbindung der Landnehmer mit speziell heidnischen Riten oder Göttern in dieser zweiten Phase auf eine (für christlich geprägte Literatur untypische) Annäherung an die christliche Religion hin. Mit Ingimundr wird innerhalb der Lb. also eine grundlegende Bewertungsveränderung eingeleitet, die sich auch durch eine andere Auswanderungsmotivation auszeichnet, die nun nicht länger nur durch die Tyrannei begründet wird: Ingimundr wird als politischer Mitspieler Harald Schönhaars dargestellt. Er hält mit dem Norwegerkönig auch nach seiner Auswanderung eine gute Freundschaft; er schenkt ihm beispielsweise ein Eisbärjunges, woraufhin Harald ihm ein gutes Schiff überlässt. Er entscheidet sich also zwar für das Leben auf Island, bricht aber dennoch die Verbindung zum Heimatland nicht ab. Die Erinnerungsfigur der Königsfreundschaft dient dazu, die verwandtschaftlichen Verbindungen nach Norwegen erinnern und gleichzeitig eine neue Identität in einer neuen Gesellschaft fundieren zu können. Diese pronorwegischen Landnehmer befinden sich in einem Drahtseilakt zwischen politischer oder (wie in Ingimundrs Fall) sogar freundschaftlicher Beziehungen zu Norwegen und der Suche nach einer neuen Identität. Zu überlegen wäre deshalb, ob diese Figuren das Bestreben im 13. Jahrhundert ausdrücken, sich durch andere Werte und Vorstellungen als durch die Herkunft abzugrenzen, um sich so einen Teil autochthoner Kultur und damit ein eigenes Selbstbild zu erschaffen. Das liegt vor allem deshalb nahe, weil genealogische Verbindungen im Allgemeinen, die in jener Zeit zudem von exorbitanter Wichtigkeit für die soziale Ordnung waren, nicht geleugnet werden konnten. 171 Insofern liegt es nahe, aufgrund anderer Referenzpunkte wie beispielsweise der mythischen Landnahme, einer folgenden ‹natürlichen› Religion und der folglich möglichen kontinuierlichen kulturellen Entwicklung eine neue Identität zu definieren. Die Erinnerung an eine mythische Landnahme wird in jedem einzelnen Gründungsmythos (d.h. dem einer Person/ Familie) immer wieder aktualisiert. Dabei fällt auf, dass besonders später in der Literatur hervorgehobenen oder mächtigen Familienstammvätern (selten -müttern wie bei Auðr) eine besonders religiös-integre Einstellung nachgesagt wird. Damit behauptet die christliche Universalgeschichte heidnische und christliche Zeit als kohärentes Kontinuum erinnert werden, um die eigene Vergangenheit zu integrieren (vgl. Hermann 2009, S. 295). 171 Die Rolle der Genealogie wurde in der Forschung mehrfach für die altskandinavische Herrscherideologie herausgestellt (vgl. u.a. Olof Sundqvist. The function of genealogy. In: Freyr ’ s offspring. Rulers and religion in ancient Svea society. Uppsala 2002. S. 146-175). Sie stellt in kulturtheoretischer Hinsicht die typischste und ursprünglichste Form der Erinnerung (gemäß Jan Assmann) dar, da sie die mythischen Anfänge mit der Gegenwart verbindet. So vermerkt auch Glauser: „ Dieser [d.i. der priviligierte Status; LW] wird primär über genealogische Anknüpfung an prominente Dynastien in Norwegen vermittelt, denn Herrschaft braucht auch im mittelalterlichen Island Herkunft. “ (Glauser 2006, S. 43). Er bezeichnet dieses Phänomen treffend als die ‹Attraktion der Herkunft›. 4 Die altnordische Historiographie 60 der Text: Ist ein Siedler besonders religiös integer (egal ob heidnischen Glaubens im Heimatland Norwegen oder durch Kontakt mit dem Christentum auf den Hebriden), kumuliert er auch weltliche Macht und damit vor allem das Recht auf Landbesitz und auf gesellschaftliche Anerkennung. Es gibt hinsichtlich ihrer Bewertung seitens der Verfasser also keine Unterschiede zwischen christlichem und heidnischem Glauben. Das sieht man auch an den wenigen christlichen Motiven, die nur im Rahmen der Landnahmeberichte geschildert werden. Sie lassen sich nicht zweifellos als exklusiv christliche Motive identifizieren, da sie insbesondere im Rahmen der ‹natürlichen Religion› häufig nicht eindeutig von heidnischen zu differenzieren sind (siehe beispielsweise das Wasserlauf-Umleitungs-Motiv bei Loðmundr; S 289/ H 250, S. 302 ff.). 172 Die Entmythifizierung dieser Motive, die im zweiten Teil der Lb. einsetzt, hat nicht zum Ziel, das Heidentum abzuwerten, sondern eine Annäherung zum christlichen Glauben durch Angleichung und Parallelisierung zu erreichen. Diese werden auf unterschiedliche Weise realisiert: Die erste Möglichkeit ist die Darstellung einer allgemein-religiösen Integrität, die zwar eindeutig heidnisch ist, deren Glaubensform aber der christlichen ähnelt. Das beste Beispiel dafür ist wieder Ingólfr, der als frommer Landnehmer positiv bewertet wird und dessen Moral und Ethik dem christlichen Glauben auf der religiösen Ebene gleichen (vgl. SH 7, S. 42). 173 Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass einzelne Motive in heidnischen sowie in christlichen Kontexten verwendet werden (wie das Reichtum-Motiv: bei Ingimundr sind es Schweine, bei Ásólfr Fische, etc.) 174 und sie dadurch nicht ausschließlich einer Glaubensform zuzuordnen sind. Diese Motivübertragung zeigt sich in einem erweiterten Sinnrahmen auch bei Helgi inn magri, bei dem eindeutig nicht der Gott Frey für den Schweinereichtum zuständig ist, sondern dieser seinem Glauben an Christus zugeschrieben werden kann (vgl. S 217 f., S. 246 ff./ H 184, S. 247 ff.). Gleichzeitig stellt Helgi ein gutes Beispiel für die dritte Möglichkeit der Parallelisierung dar: Er glaubt sowohl an einen heidnischen Gott als auch an Christus. Der schwedische Religionshistoriker Anders Hultgård bezeichnet dieses Phänomen als ‹individuellen Synkretismus›, wodurch der Versuch der Vereinbarkeit beider Glaubensformen ausgedrückt wird. 175 Somit suggeriert der Text, dass sich 172 Siehe Motiv-Index, S. 247-254; unter «III Zauberei / Prophezeiungen / numinose Erscheinungen». 173 Darüber hinaus wird der Bericht über Ingólfr wie ein exemplum formuliert (vgl. Meulengracht Sørensen 2001a) und sein Enkel, Þorkell máni, als ‹Edler Heide› charakterisiert, der bereits die Herrlichkeit Gottes erkannte, obwohl er noch Heide war. Dieses christliche Deutungsmuster in der altnordischen Literatur deckte Lars Lönnroth auf (vgl. Lars Lönnroth. The noble Heathen: A theme in the sagas. In: Scandinavian Studies, 41,1. Provo/ Utah 1969. S. 1-29). 174 Siehe Motiv-Index, S. 247-254. 175 „ In einer Zeit durchgreifender Relig.veränderungen kommt es aus unterschiedlichen Gründen oft plötzlich zu Konversionen von einer Relig. in die andere, doch kann man auch beobachten, wie einzelne Individuen in den Übergangszeiten in ihrem Glauben und ihrer Lebensweise verschiedene relig. Traditionen zu vereinen suchen. Das beste Beispiel stellt wohl die Aussage des Helgi inn magri dar (Landnámabók nach Hauksbók, c. 184), er habe einen sehr gemischten Glauben: hann var mj ǫ k blandinn í trúnni. Es heißt, er glaube an Christus, hätte aber in bestimmten, bes. wichtigen 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 61 heidnischer und christlicher Glaube ergänzen konnten, anstatt etwaige Unterschiede zwischen ihnen zu betonen. Die vierte und letzte Möglichkeit einer Parallelisierung ist die analoge Darstellung ganzer Landnahmeberichte. So wird z.B. der christliche Landnahmebericht Ásólfrs mit dem des heidnischen Þorsteinn rauðnefr auf der strukturellen Ebene parallelisiert: Ásólfr hét maðr. […] Hann var kristinn vel ok vildi ekki eiga við heiðna menn ok eigi vildi hann þiggja mat at þeim. […] Þá var um forvitnazk, hvat hann hafði til fœzlu, ok sá menn í skálanum á fiska marga. En er menn gengu til lœkjar þess, er fell hjá skálanum, var hann fullr af fiskum, svá at slík undr þóttusk menn eigi sét hafa. En er heraðsmenn urðu þessa varir, ráku þeir hann á brutt ok vildu eigi, at hann nyti gœða þessa. Þá fœrði Ásólfr byggð sína til Miðskála ok var þar. Þá hvarf á brutt veiði ǫ ll ór lœknum, er menn skyldu til taka. En er komit var til Ásólfs, þá var vatnfall þat fullt af fiskum, er fell hjá skála hans. (S 24/ H 21, S. 59 ff.) Ásólfr hieß ein Mann. […] Er war ein guter Christ und wollte nichts mit heidnischen Männern zu tun haben und wollte kein Essen von ihnen erhalten. […] Damals wurde sich darüber erkundigt, was er an Lebensmitteln zur Verfügung hätte, und Männer sahen in seinem Haus viele Fische. Und als die Männer zu dem Bach gingen, der bei seinem Hof hinabfloss, war dieser voll von Fischen, so dass es den Männern schien, als wenn sie noch nie etwas so Verwunderliches gesehen hätten. Aber als die Männer aus dem Gebiet das erfuhren, jagten sie ihn davon und wollten nicht, dass er diese Güter nutzt. Da verlegte Ásólfr seinen Hof nach Miðskáli und wohnte dort. Da verschwand der ganze Fischfang aus dem Bach, als die Männer diesen fangen wollten. Aber als man zu Ásólfr kam, da war der Wasserfall, der bei seinem Haus niederfiel, voll von Fisch. Þorsteinn rauðnefr var blótmaðr mikill; hann blótaði forsinn, ok skyldi bera leifar allar á forsinn. Hann var ok framsýnn mj ǫ k. Þorsteinn lét telja sauði sína ór rétt tuttugu hundruð, en þá hljóp alla réttina þaðan af. Því var sauðrinn svá margr, at hann sá á haustum, hverir feigir váru, ok lét þá skera. En et síðasta haust, er hann lifði, þá mælti hann í sauðarétt: „ Skeri þér nú sauði þá, er þér vilið; feigr em ek nú eða allr sauðrinn elligar, nema bæði sé. “ En þá nótt, er hann andaðisk, rak sauðrinn allan í forsinn. (S 355/ H 313, S. 358 f.) Þorsteinn rauðnefr war ein großer Opferer; er opferte einem Wasserfall und man sollte alle Speisereste zum Wasserfall bringen. Er war auch sehr vorausschauend. Þorsteinn ließ zwanzig seiner Schafe von hundert aus dem Gehege auszählen, aber da liefen alle abgetriebenen Schafe von dort weg. Dadurch waren die Schafe so viele geworden, dass er im Herbst sah, welche todgeweiht waren, und ließ sie schlachten. Aber den letzten Herbst, in dem er lebte, da meinte er beim Schafabtrieb: „ Schlachtet ihr nun die Schafe, die ihr wollt, todgeweiht bin ich nun, oder genauso alle Schafe, wenn nicht sogar beides geschieht. “ Und in der Nacht, in der er starb, trieb es alle Schafe in den Wasserfall. Situationen statt dessen Thor angerufen: en þó hét hann á Þór til sæfara ok til harðræða ok alls þess er honum þótti mestu varða ( ‚ und doch rief er Thor an wegen der Seefahrt und gefährlicher Unternehmungen und all dem, was für ihn am meisten von Bedeutung war ‘ ) “ (Anders Hultgård [u.a.]. Art. „ Synkretismus “ . In: RGA, 30. 2001. S. 216-230, S. 229). 4 Die altnordische Historiographie 62 Die Beschreibungen gleichen sich dahingehend, dass beide Männer religiöse Integrität gegenüber den numinosen Mächten aufweisen - jeder natürlich auf seine Weise: Während Ásólfr aufgrund seiner christlichen Frömmigkeit reich an Fisch wird, opfert Þorsteinn gewissenhaft einem Wasserfall. Beide werden daraufhin mit Fruchtbarkeit belohnt und müssen sich nicht um ihren Lebenserhalt sorgen. Jedoch scheint es auch nicht im Interesse der Lb. zu sein, ein möglichst christentumnahes Heidentum darzustellen, sonst wäre wohl kaum der Verweis auf Menschenopfer und den Menschen- und Tieropferplatz, dem Þorsstein, in den Text gelangt (S 85/ H 73, S. 126). Es geht nicht um die Gleichwertigkeit beider Glaubensrichtungen, sondern vielmehr um ihre Vereinbarkeit mit der Einschränkung unterschiedlich entwickelter zivilisatorischer Stadien, da das Heidentum naturgemäß (und chronologisch betrachtet) eine Art Vorstadium des Christentums darstellt. Ein weiterer Hinweis darauf, dass der heidnische Glaube akzeptiert und nicht christlich ausgedeutet wird, ist auch das Motiv der sakralisierten Landnahme. Diese scheint für die christlichen Autoren nicht ersetzbar zu sein, da sie sogar in christliche Landnahmeberichte wie dem des christlichen Ørlygr in Form der Hochsitzpfeiler integriert wird (S 15/ H 15, S. 52 ff.). Diesem Landnehmer wird von Bischof Patrekr prophezeit, dass er sich auf Island ansiedeln und einen bestimmten Ort in Besitz nehmen solle. Obwohl er diesen findet, wird zusätzlich darauf verwiesen, dass dort auch seine Hochsitze an Land getrieben worden sind. 176 Motiviert werden die hier angeführten entmythifizierten Hochsitzpfeiler (mit dem abgeschwächten Begriff hásetar im Gegensatz zu den üblicheren Begriffen ǫ ndvegi(ssúlur) bezeichnet) 177 dadurch, dass in diesem christlichen Landnahmebericht von der ersten Errichtung einer Kirche berichtet wird und damit die Etablierung kirchlicher Macht verbunden ist. Die Beschreibungen der Pfeiler scheinen nach dem Vorbild der Hochsitzpfeiler-Erinnerungsfigur aus anderen Kontexten analog konzipiert worden zu sein und könnten demnach die Funktion haben, eine frühe Legitimierung der Kirchenmacht zur Landnahmezeit anzustreben. Durch ihre Entmythifizierung wird deutlich, dass hier keine Verbindung zu einem heidnischen Gott besteht. Sie implizieren vielmehr eine grundsätzliche Legitimierung, wozu sie semantisch verändert und funktionalisiert werden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es also entweder keine passende Alternative für diese Erinnerungsfigur im Rahmen der mythischen Landnahme gab oder man gar nicht erst versucht hat, eine zu finden. Durch all diese Darstellungen und die außergewöhnlich positive Bewertung der heidnischen Motive wird ein religiöser Anfangszustand rekonstruiert, auf dessen Basis sich die Gesellschaft autochthon entwickelt und jeglichem Einfluss für längere Zeit Widerstand leistet. 4.1.2.3.3 Kulturelle Kontinuität auf Basis eines religionsgeschichtlichen Deutungsmusters Die hier kurz skizzierten mythischen und religiösen Motive, die im Laufe der Einwanderungserzählung in Form einer Abschwächung hin zu einer ‹natürlichen 176 Siehe Motiv-Index, S. 247-254; unter «I Landnahmeriten: Id Christlich geleitete Landnahme». 177 Siehe Motiv-Index, S. 247-254; unter «Ib Göttlich geleitet Hochsitzpfeiler ( ǫ ndvegissúlur)» 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 63 Religion› konzipiert worden sind, stellen das Leitmotiv des Gründungsmythos in der Lb. dar, über das die isländische Identiät fundiert und ihre Kontinuität rekonstruiert wird. Diese Darstellung unterscheidet sich grundsätzlich von der der Landnahme und Gesellschaftsgründung der Isländer in der Íb., die religiöse Motivationen oder mythische Motive allenfalls am Rande vermerkt, womit offenbar eine andere Identitätsstrategie einhergeht. Allerdings findet man hinsichtlich der Konzeption einer Religiositätsabschwächung eine mit der Lb. vergleichbare Darstellung in der Königssagakompilation Heimskringla 178 von Snorri Sturluson (ca. 1225-30). Diese beginnt mit einer mythischen Herleitung des schwedischen (und später durch Wanderbewegungen entstehenden norwegischen) Königsgeschlechts der Ynglingar in einem separaten Text namens Ynglinga saga. Auffällig an einem ersten Vergleich der Texte ist nicht nur, dass etliche mythische und strukturell an die Mythologie angelehnte Erinnerungsfiguren sich sehr ähneln, sondern auch, dass das strukturierende Konzept der Hkr. ebenfalls eine mit der Wanderbewegung immer weiter sich abschwächende Religiosität impliziert. 179 Der Skandinavist Klaus von See hat bereits im Zuge seiner Untersuchungen zu einer möglichen Sonderkultur Skandinaviens in der Hkr. eine Art religionsgeschichtliches Deutungsmuster herausgestellt, das diese sich abschwächende Religiosität erklären soll. 180 Insbesondere eine strukturelle Anlehnung an die Hkr. in der S-Version der Lb. von Snorri Sturlusons Neffen Sturla Þórðarson, der zudem bei Snorri einige Jahre aufwuchs und sein Schüler war, liegt 178 Die Heimskringla (im Folgenden Hkr.) bzw. der hier primär zu betrachtende Text, die Ynglinga saga (abgekürzt Y.s.), wird im Folgenden nach ÍF XXVI, Hkr. I zitiert. 179 Interessant ist darüber hinaus, dass auch Adam von Bremen in seinen Gesta Hamburgensis Phänomene beschreibt, die Ähnlichkeiten mit den Beschreibungen der sich abschwächenden Religiosität zeigen. Zunächst einmal beschreibt er für Schweden einen überaus barbarischen heidnischen Opferkult, den er in direkter Verbindung zum Tempel in Uppsala als «Mittelpunkt des barbarischen Irrglaubens» sieht (vgl. Gesta Hamburgensis, IV 26-27, S. 470 f., bes. 474). Als er allerdings zur Beschreibung Norwegens ansetzt, kann er als einzige religiöse Tätigkeit die Zauberei anführen (vgl. 476 ff.), an denen die ansonsten mittlerweile religiös-integeren «guten Christen» mit ihren «trefflichen Sitten» (S. 478) noch festhalten. Diese Beschreibung endet dann mit dem bereits zuvor zitierten Vermerk, dass Island durch ein «Naturrecht» der christlichen Religion immer sehr nahe gewesen sei. 180 Vgl. Klaus von See (Hrsg.). 1999b. Snorris Konzeption einer nordischen „ Sonderkultur “ . In: Europa und der Norden im Mittelalter. Heidelberg. S. 345-372, S. 355. Bei der Betrachtung eines solchen Deutungsmusters sieht man sich mit den Prinzipien der mittelalterlichen Geschichtsschreibung und dem mittelalterlichen Weltbild konfrontiert. Dem mittelalterlichen Geschichtsschreiber liegt das Verständnis für Entwicklungen fern (vgl. Aaron J. Gurjewitsch. Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. Aus dem Russischen von Gabriele Loßack. 5., unveränderte Aufl. München 1997 sowie Hans Ulrich Gumbrecht. Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. v. Jan und Aleida Assmann. München 1983. S. 158-174, S. 164 f.). Dieses Phänomen zeigt sich in der Sagaliteratur sowohl aufgrund des Schicksalsglaubens als auch dadurch, dass die Personen keine Entwicklung durchlaufen; ihr Charakter ist bereits im Kindesalter festgelegt. Sowohl im Falle der Hkr. als auch der Lb. ist ein mögliches Deutungsmuster aber nicht im Sinne eines Prozesses, sondern vielmehr im Sinne einer Anpassung zu verstehen, die keineswegs impliziert, dass es sich bei dem Produkt der Entwicklung um ein besseres, fortgeschritteneres handelt. In diesem Sinne ist das religionsgeschichtliche Deutungsmuster mit der Abschwächung von Merkmalen zugunsten einer Kontinuitätsfingierung und Parallelisierung zu definieren. 4 Die altnordische Historiographie 64 aufgrund der Verfasserverwandtschaft nahe. In der Gesamtbetrachtung von Sturlas literarischem Schaffen scheint die S-Version der Lb. (von der man glaubt, sie habe einst wie H auch die Kristni saga enthalten) die Einleitung einer isländischen Entwicklungsgeschichte darzustellen, die ihren Fokus auf die gegenwärtige Geschichte des 13. Jahrhunderts legt. 181 Anhand der Sturla zugeschriebenen Sagas (vor allem der Kristni saga, die die Bekehrung Islands zum Christentum beschreibt, und vieler der Gegenwartssagas wie die Íslendinga saga), meint man ersehen zu können, dass sein primäres Interesse nicht die Herkunft der Isländer und ihre weltgeschichtliche Einordnung, sondern vielmehr die Entwicklung der isländischen Gesellschaft bis zur Verfasserzeit (den Sturlungaöld) war. 182 Sofern man dieser These folgen will, liegt der Gedanke nahe, dass Sturla als Neffe Snorri Sturlusons eine Art analoges Geschichtswerk zur Hkr. entworfen haben könnte. 183 Eine Entwicklungsgeschichte von einem Stammvater bis zur Etablierung einer Gesellschaft, die unter anderem eine Art religionsgeschichtlichen Verlauf fokussiert, erinnert stark an die Hkr. In diesem Sinne könnte die Lb. analog zur Hkr. den mythischen Anfang der isländischen Geschichte darstellen, dementsprechend also die Funktion der Y.s. 181 Vgl. Jakob Benediktsson. Art. „ Landnámabók “ . In: Pulsiano 1993. S. 373-374, S. 374. Dass die Kristni saga auch ursprünglich in S integriert war, meinten Jón Jóhannesson und Sveinbjörn Rafnsson nachweisen zu können (vgl. Jón Jóhannesson 1941, S. 16-19) und diesen nochmal bekräftigend Sveinbjörn Rafnsson (1974, S. 22, 38 ff., 60 sowie Sveinbjörn Rafnsson 2001b, S. 15). Berechtigte Zweifel an dieser These legte Irene Ruth Kupferschmied vor und konstatiert, dass aufgrund einiger Formalia und der inhaltlichen Konzeption der Kristni saga nicht mit letzter Sicherheit davon auszugehen ist, dass die Kristni saga wirklich in S integriert war (vgl. Irene Ruth Kupferschmied. Untersuchungen zur literarischen Gestalt der Kristni saga. In: Münchner Nordistische Studien, 3. Hrsg. v. Annegret Heitmann und Wilhelm Heizmann. München 2009, S. 14-19). Da die Kristni saga nicht in S überliefert ist, muss dieses in die Betrachtung der Handschrift einbezogen werden und S deshalb auch für sich stehend bewertet werden. 182 „ Og vi får efter min mening først nu en rigtig oversigt over Sturlas hele planmæssige, historiske foretagende; han har villet give en sammenhængende fremstilling af hele Islands historie fra begyndelsen af of til sine dage. Han har gjort det ved at sammenknytte de enkelte sagaer, der var de vigtigste for landets historie i dens helhed; at forbindelsen undertiden blev noget løs, havde mindre at sige; det var den kronologiske fortsættelse og sammenhæng, der var det vigtigste. Rækkefølgen blev altså denne: Landnámabók, tiden fra c. 870 til langt ind i det 10. årh. i det mindste - Kristnisaga, c. 980-1118 - Hafliða saga ok Þorgils, 1117-21, - Sturlusaga, det 12. årh. til 1183 - Sturlunga saga c. 1183-1262. Ligesom Landnáma, således er også Kristnis. Ældre end Sturla; han har optaget dem først i sin saga-cyklus […] “ (Hauksbók. Udgiven efter de arnamagnæanske håndskrifter no. 371, 544 og 675, 4° samt forskellige papirshåndskrifter af Det Kongelige Nordiske Oldskrift-Selskab. Ud. ef. Eiríkur Jónsson og Finnur Jónsson. København 1892-96, S. 70 f.). Siehe auch Sveinbjörn Rafnsson (2001b, S. 15), der noch weiter geht als Finnur Jónsson und die These vertritt, dass die Kristni saga von Sturla selbst als Fortsetzung der Lb. konzipiert worden sei. Dass diese Hypothese jedoch nicht weiter zu erhärten ist, kritisiert Kupferschmied und konstatiert, dass die Kristni saga in ihrer uns vorliegenden Rezeption zwar an die Lb. angepasst ist, doch nicht weiter verifizierbar ist, ob Sturla diese Bearbeitung vorgenommen hat (vgl. Kupferschmied 2009. S. 159 f.). 183 Dieser Vermutung ist bereits Preben Meulengracht Sørensen am Rande nachgegangen, als er darauf hinwies, dass auch Sturla ähnlich wie Snorri einen Stammvater der Isländer hervorhebt - Bj ǫ rn buna, von dem laut Sturla alle wichtigen Männer Islands abstammen würden (vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 82). 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 65 erfüllen. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass sich die Lb. und die Y.s. in vielerlei Hinsicht ähneln: Eine erste gemeinsame Erinnerungsfigur stellt dabei die euhemeristisch gedeutete Einwanderung der später vergöttlichten Könige - also die Einwanderung der Götter - dar. 184 In der Lb. wird diese aufgrund der fehlenden Differenzierung der Götter- und Menschenwelt und der symbolischen Einwanderung der Götter durch die einzelnen Siedlern zugehörig erklärten Symbole dargestellt: Flóki und seine Raben würden demnach an die Einwanderung Odins erinnern, dessen Entdecker-Aufgabe auf der Insel durch die Rückfahrt Flókis beendet wird. 185 Auf ihn folgen ebenfalls zwei Siedler, welche die Götter Thor und Frey repräsentieren, die somit symbolisch in Island einwandern. Im ersten Teil der Lb. wird eher der kulturstiftende Gott Thor bevorzugt ( ‚ Kultur ‘ meint hier soziale Ordnung), symbolisch durch die rituelle Verwendung der Hochsitzpfeiler dargestellt, um dann die weitere Landnahme mehr auf Frey bzw. auf Fruchtbarkeitsmotive zu konzentrieren, die an Frey erinnern. 186 In der Begründung der Y.s. für die Auswanderung der euhemeristisch betrachteten Götter wird die zweite ähnliche Erinnerungsfigur deutlich: Die Asen, insbesondere Odin, müssen aufgrund des Unfriedens fliehen, den die römischen Könige in dessen Ländereien verursachen: Í þann tíma fóru Rúmverja-h ǫ fðingjar víða um heiminn ok brutu undir sik allar þjóðir, en margir h ǫ fðingjar flýðu fyrir þeim ófriði af sínum eignum (Kap. 5, S. 14; «In dieser Zeit zogen die Anführer der Römer weit um die Welt und unterwarfen alle Völker mit Gewalt, und viele Anführer flüchteten 184 Unter Euhemerismus versteht man die frühchristliche Apologetik gegenüber polytheistischen Religionen, die zu einem mittelalterlichen Argumentationsschema zur Deutung vorchristlicher Göttergestalten wurde. Die euhemeristische Deutung besagt, dass die Götter ursprünglich Menschen waren und sich entweder selbst zu Göttern erhoben oder nach dem Tod zu solchen gemacht wurden (vgl. Gerd Wolfgang Weber. Art. „ Euhemerismus “ . In: RGA, 8. 1994. S. 1-16). 185 Der Text gibt keinen Grund dafür an, wieso unbedingt der Siedler, der unter Odins Schutz steht, wieder nach Norwegen zurückfährt. Vergleicht man jedoch die Wanderung der Götter in der Y.s. mit diesem Phänomen, dann wird deutlich, dass dort eine Textstelle Ähnliches berichtet: Þá fór hann norðr til sjávar ok tók sér bústað í ey einni (Kap. 5, S. 14). En er Óðinn spurði, at góðir landskostir váru austr at Gylfa, fór hann þannok […] (Kap. 6, S. 16; «Dann zog Odin nordwärts zur See und ließ sich auf einer Insel nieder. […] Als aber Odin erfuhr, dass es im Osten bei Gylfi gute Ländereien gab, zog er dorthin […].»). Deutlich wird, dass Odin auf seiner Reise ebenfalls einen Entdecker-Aufgabe erfüllt und viel umherzieht. In Anlehnung an diese Vorstellung könnte Flóki also in der Lb. als Entdecker der Insel erinnert worden sein. Diese Verbindung lässt sich allerdings nur deshalb wahrscheinlich machen, weil viele der Motive in der Lb. denen der Y.s. gleichen, wie im Folgenden deutlich wird. 186 Die häufige Verknüpfung des gesamten Landnahmeprozesses mit dem Gott Thor entspricht dabei nicht der Y.s. Ihr zufolge liegt die genealogische Reihenfolge der herrschenden Götter Odin - Njörd (altn. Nj ǫ rðr) - Frey vor. Die Lb. konzentriert sich aber primär auf Thor und tauscht ihn quasi mit Njörd aus. Möglich wäre, dass hier ein Reflex der Landnahmerealität überliefert ist; dafür sprechen namenskundliche Forschungen, die nachweisen, dass auf Island in der Wikingerzeit die Eigennamen überaus vieler Personen mit der Vorsilbe Þórbegannen (vgl. Jón V. Sigurðsson 1999, S. 186). Es lässt sich mindestens für die Landnahmeberichte des 13. Jahrhunderts (wenn nicht schon früher) hinter diesem Motiv eine mögliche kulturelle Abgrenzung von Norwegen und Schweden vermuten, die durch die Aktualisierung eines zwar bereits bekannten, aber bisher nicht rituell vereinnahmten Motivs eine neue Sinngebung ermöglichte. 4 Die altnordische Historiographie 66 wegen dieses Unfriedens von ihren Besitztümern.»). Auffällig ist, dass für die Landnahme im ersten Teil genau dieselbe Begründung erinnert wird, nur mit dem Unterschied, dass der Norwegerkönig statt der Römer für diesen Unfrieden verantwortlich gemacht wird. Klaus von See deutet dieses Motiv in der Y.s. als Flucht in eine Gegenwelt, einer Art terra nova, die aufgrund der Möglichkeit eines Neuanfangs auch ein geschichtliches Eigenleben entwickeln kann. 187 Die symbolische Abgrenzung von Rom dient in Snorris Fall laut von See der Abgrenzung von der sehr präsenten Kirchenmacht des Hochmittelalters. Eine ähnliche Motivation zeigt sich auch bei der strukturell ähnlichen isländischen Landnahme: Die in der Erinnerung rekonstruierte Abgrenzung nach Norwegen bedeutet die Distanzierung von einer durchaus präsenten Macht des 9. und 10. Jahrhunderts, dessen Einflussgebiet man sich in Island kaum entziehen konnte. Diese Erinnerungsfigur hat in beiden Texten dieselben Auswirkungen. Die Betroffenen verlassen unfreiwillig ihre Heimat, geben dort ihren Besitz auf und flüchten aus Not in eine nicht bewohnte neue Welt, die ihnen einen Neuanfang verspricht. Interessant ist auch die kulturelle Tradition Asiens, also des Heimatlandes Odins, die in der Y.s. keine zentrale Rolle spielt, da jegliche Kultur von den Asen im Norden selbst geschaffen wird (so beispielsweise die Skaldendichtung und die Zauberkunst; Kap 6, S. 17). 188 In der Lb. wird diese Erinnerungsfigur ähnlich rekonstruiert: Die Etablierung sozialer und kultureller Werte geschieht in Island selbst, wenn beispielsweise beschrieben wird, wie Þórólfr Mostrarskegg einen Felsen für heilig erklärt, einen Tempel baut und damit eine Thor-Verehrung in seiner Gegend etabliert. Der Fokus der Lb. liegt deshalb genau wie in der Y.s. auf einer Entwicklung der eigenen Kultur und Religiosität. Der eigentümliche Beginn der Inselerkundung in S durch den Schweden Garðarr, der aufgrund der Prophezeiung seiner Mutter nach Island fährt (im Gegensatz zu H), wäre vielleicht ebenfalls analog zur Y.s. zu deuten: Naddoddr entdeckt die Insel, woraufhin der erste schwedische Erkunder nach Island kommt. Auf ihn folgen dann erst die eigentlichen norwegischen Siedler, von denen ja auch gemäß der Lb. einige christlich waren. Entsprechend Snorris religionsgeschichtlichem Deutungsmuster entwickelt sich der heidnische Glaube der Ynglingarkönige von Schweden ausgehend mit ihrer Wanderung nach Westen (Norwegen) immer weiter hin zum Christentum. 189 Den Grundgedanken einer solchen Deutung, wie ihn Klaus 187 Vgl. von See 1999b, S. 346 f. 188 Eine Ausnahme bilden anscheinend die Opfer, welche die Asen bereits in ihrem Heimatland abhielten (Kap. 2, S. 11). In der Lb. zeigt sich sogar in diesem Fall dieselbe Tendenz, nämlich indem von den Landnehmern berichtet wird, sie würden Opfer vor der Fahrt nach Island ausrichten (vgl. Motiv-Index, S. 247-254; unter «I Landnahmeriten: Ia Opfer im Rahmen des Landnahmeritus»). 189 „ Wie sehr sich Snorri dazu noch bemüht, den Übergang vom Heidentum zum Christentum in kleinen, kaum merkbaren Schritten sich vollziehen zu lassen, also die Epochenschwelle, den siðaskipti, eher zu verwischen als zu betonen, […]: Einerseits verschwinden die anstößigen Menschenopfer allmählich, je mehr sich die Darstellung der Missionszeit nähert, und es mehren sich 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 67 von See für die Hkr. beschreibt, impliziert die Lb. ebenfalls durch die sich abschwächende Religiosität. Eine weitere strukturelle Ähnlichkeit zwischen den beiden Texten zeigt sich in der Erinnerungsfigur der Auswanderung selbst. In Bezug auf die Asen wird in der Y.s. erinnert, sie hätten einige Gebiete auf dem Weg in den Norden eingenommen und von dort Wohnstätten an ihre Hofgoden verteilt: Óðinn tók sér bústað við L ǫ ginn, þar sem nú eru kallaðar fornu Sigtúnir. Hann gaf bústaði hofgoðunum (Kap. 5, S. 16; «Odin nahm seinen Wohnplatz bei L ǫ ginn ein, dort, wo es nun Alt-Sigtúnir heißt. Er gab seinen Tempelgoden Wohnplätze.»). Genauso erinnert die Lb., dass die Landnehmer unter anderem von Norwegen aus auch Teile der Britischen Inseln, die Färöer und Irland besiedeln bzw. dort ihre Macht etablieren. Wenn sie dann in Island ankommen, teilen sie Land ein und geben ihren Gefolgsleuten in ähnlicher Weise wie die Asen Wohnstätten (vgl. z.B. die Landnehmerin Auðr, die ihren Knechten Höfe zuteilt, S 98-103, S. 140 ff./ M 27, S. 141). Insbesondere die zweite Phase des Gründungsmythos in der Lb., die der «natürlichen Religion», scheint analog zur topographischen Wanderung der Könige und damit auch zur Hinwendung zum Christentum rekonstruiert worden zu sein. 190 Hier wird ein Heidentum forciert, das sich bereits vom heidnischen Kult entfernt hat und sich mehr durch Frömmigkeit und Rechtschaffenheit auszeichnet. Dass diese Zeit eine wirtschaftlich prosperierende auf Island war und damit positiv konnotiert wird, zeigt sich an analogen Erinnerungsfiguren mit einem Bezug zu Frey und zum Fróði-Frieden in der Y.s. - dem Frieden innerhalb des Herrschergebietes aufgrund wirtschaftlicher Prosperität, die dem herrschenden König Frey zugeschrieben wird. 191 Diese Zeit ist in der Y.s. chronologisch noch vor der Wanderung gen Westen einzuordnen und suggeriert eine sozial intakte Ordnung, die wirtschaftlich autonom funktioniert. In der Lb. wird diese Fruchtbarkeitsidee durch eine starke Ahnenverehrung der Landnehmer ausgedrückt, die vor allem durch das Errichten von Grabhügeln (haugar) dargestellt wird. In diesem Sinne wären auch die Berichte zu verstehen, die beschreiben, wie Menschen in Grabhügel gehen (eine symbolische Beschreibung für den Tod) oder Tote aus Grabhügeln Strophen sprechen. 192 Auch statt dessen Kult- und Glaubensformen, die schon dem Christentum ähneln […] “ (von See 1999b, S. 355; vgl. auch Klaus von See (Hrsg.). 1999a. Heidentum und Christentum in Snorris Heimskringla. In: Europa und der Norden im Mittelalter. Heidelberg. S. 311-344, S. 327 f.). 190 An dieser Stelle gilt es sich bereits von Webers Definition der «natürlichen Religion» zu distanzieren, da die Darstellung dieser Zeit scheinbar nicht aufgrund einer theologischen Deutung zustande kommt, sondern vielmehr aus identitätsstiftenden Gründen erwächst, wie Klaus von See sie für Snorris Hkr. herausstellte: zur Verwischung des Bruchs zwischen Heiden- und Christentum mittels Annäherung aneinander. 191 Kap. 10, S. 24: Á hans d ǫ gum hófsk Fróðafriðr. Þá var ok ár um ǫ ll l ǫ nd. Kendu Svíar þat Frey («Zu seiner Zeit begann der Fróði-Friede; damals gab es auch ein gutes Jahr im ganzen Land und die Svíar verbanden das mit Frey.»). Klaus von See stellt überzeugend heraus, dass der Fróði-Friede in der Y.s. von Snorri aus nordischer Sicht und nicht etwa aus einem universalgeschichtlichen Hintergrund heraus konzipiert wurde (vgl. von See 1999b, S. 346). 192 Der Umstand, dass Tote aus Grabhügeln sprechen, scheint ebenfalls ein Symbol der Ahnenverehrung zu sein, könnte aber auch eine Assoziation mit Frey sein, der laut der Y.s. in einem Hügel be- 4 Die altnordische Historiographie 68 durch den Verweis auf eine Art Frey-Hügel, der in der Y.s. als immergrün beschrieben wird, wird auf die Fruchtbarkeit hingewiesen, für die der Gott symbolisch im nordgermanischen Pantheon steht: Laugarbrekku-Einarr var heygðr skammt frá Sigmundarhaugi, ok er haugr hans ávallt grœnn vetr ok sumar (S 75, S. 108/ H 63, S. 109; «Laugarbrekku-Einarr wurde nahe bei dem Sigmundarhaugr in einem Hügel begraben und sein Hügel ist immergrün, im Winter wie auch im Sommer.»). 193 Hügel hatten sowohl in der Landnahmezeit als auch noch im 13. und frühen 14. Jahrhundert in Norwegen nicht nur kulturelle, sondern vor allem rechtliche Bedeutung. So funktionierte das bestehende Landrecht (Odalrecht) nur aufgrund des erfolgreichen Nachweises, dass man die direkte Abstammung in männlicher Linie anhand der Ahnengrabhügel bis in heidnische Zeit (til haugs ok til heiðni) sowie deren Verbindung zu dem betreffenden Land belegen konnte. 194 Auffällig ist jedoch, dass es dieses Odalrecht wohl nicht ohne Modifizierung für Island gegeben haben wird. 195 Hier wird also in Bezug auf die Rechtsprechung, im stattet wurde, der wie ein Haus konzipiert war - nur damit das Volk nicht erfuhr, dass er tot war. Er wurde also für lebendig gehalten und ihm wurden immer noch Gaben entgegengebracht (vgl. Kap. 10, S. 24). 193 Laugarbrekku-Einarr ist ein Vorfahre des Snorri goði, dem Enkel Þórólfr Mostrarskeggs, der als erster bei Helgafell lebte und dort eine Kirche erbaute, nachdem Þórólfr Mostrarskegg den Hügel Jahre zuvor für heilig erklärte und das Land später mit Guðrún, der Heldin der Laxdœla saga, tauschte. Damit könnte eine Überhöhung (und die Frey-Parallelisierung) des Laugarbrekku- Einarr in seiner religiös-zivilisationsstiftenden Funktion begründet werden, die in der Geschichte des heiligen Ortes Helgafell unabdinglich scheint. 194 […] landgfeðgatal til haugs ok til heiðni eftir því sem vottar óðalssókn í landabrigðabálkinum (Norges gamle love: Lovgivningen efter Kong Magnus Haakonssöns Död 1280 indtil 1387. In: Norges gamle love indtil 1387, III. Udg. ef. Rudolph Keyser, Peder Andreas Munch. Christiania 1849, S. 121). 195 Es ist anzumerken, dass es keine eindeutigen Hinweise darauf gibt, dass dieses Gesetz tatsächlich auf Island eine Rolle spielte, da die Gesetzesüberlieferungen kein eindeutiges Bild der ‹Freistaatszeit› überliefern (vgl. Sveinbjörn Rafnsson 1974, S. 142 f.). Aufgrund dieser Unsicherheit muss man in Erwägung ziehen, dass die Verfasser der Lb. auf traditionelle, norwegische Elemente zurückgriffen. Wie Kirsten Hastrup außerdem nachvollziehbar herausstellte, hat sich die odalbasierte Einwanderergruppe wohl aufgrund der Inbesitznahme unbewohnten Landes ein modifiziertes Odalprinzip erschaffen, das sowohl väterlicherals auch mütterlicherseits das Recht auf das Erbe implizierte. Diese Gesellschaften werden als ‹cognatic society› bezeichnet und stellen ein erweitertes Prinzip des patrilinealen Schemas dar (vgl. Kirsten Hastrup. Island of anthropology. In: The Viking Collection. Ed. by Preben Meulengracht Sørensen, Gerd Wolfgang Weber. Studies in Northern Civilization, 5. Odense 1990, S. 49). Auch die Tatsache, dass ein solches Vererbungsprinzip in der ‹Freistaatszeit› existierte, spricht gegen die Existenz eines Odalrechtes, da sonst zwei Systeme kollidiert wären und es keine Einheitlichkeit das Recht betreffend gegeben hätte. Die Isländersagas zeigen aber ein einheitliches Bild hinsichtlich der Existenz eines so komplexen familienbezogenen Vererbungsschemas. Auch wenn in Rechtsbelangen grundsätzlich in der altnordischen Literatur häufiger der Schwerpunkt auf die männliche Vererbungslinie gelegt wurde, so gibt es auch Beispiele, in denen es dem Verfasser günstiger schien, auf die mütterliche Linie zu verweisen wie beispielsweise Ari Þorgilsson in seiner Íb. Er zieht seine mütterliche Linie der väterlichen vor, weil sie einflussreicher war und bezieht sich auf die Landnehmerin Auðr djúpauðga als Begründerin seiner Familie, den Breiðfirðingar (Íb., Kap. 10, S. 26 f.). Wieso in der Landnahmezeit retrospektiv auf das norwegische Odalrecht referiert wird, kann durch den Vergleich mit der Y.s. erhellt werden. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 69 Gegensatz zu allen anderen kulturellen Werten, explizit auf deren Herkunft aus Norwegen verwiesen. Dieselbe Erinnerungsfigur tritt auch bei den Gesetzen selbst auf, welche laut der Y.s. von Odin in den Norden mitgebracht werden: Óðinn setti l ǫ g í landi sínu, þau er gengit h ǫ fðu fyrr með Ásum (Kap. 7, S. 20; «Odin setzte die Gesetze in seinem Land fest, welche zuvor bei den Asen gegolten hatten.»). In der Lb. zeigt sich eine ganz ähnliche Tendenz: Die Gesetze (Úlfljótsl ǫ g) stammen aus Norwegen bzw. aus dem Ausland: Úlfljótr flutti l ǫ g hingat (S 307, S. 312; «Úlfljótr brachte das Gesetz hierher.»). 196 Der Grund dafür, auswärtige Gesetze zu übernehmen, liegt aber wohl nicht in der angestrebten kulturellen Identifikation mit Norwegen, sondern darin, allgemein den Ursprung von Elementen aus dem Rechtsbereich im Herkunftsland zu verorten. Es scheint der Vorstellung beider Texte fremd, dass sich Gesetze eigenständig in einer Gesellschaft entwickeln. Vielmehr werden sie im Sinne einer kollektiven Vorstellung als Grundvoraussetzung für jegliche kulturelle Entwicklungen erinnert, weshalb bestehende Gesetze in ein neues Land überführt werden und aus diesem Verständnis heraus auch nicht der Identitätsstiftung dienen können. Beide Texte erinnern daher, dass sie gemeinsame rechtliche Traditionen mit dem Auswanderungsland nachweisen können, aber eine eigene Entwicklung von kulturellen Werten betonen, über die die Gesellschaft sich in Abgrenzung zum Herkunftsland definiert. Ein letzter gemeinsamer Wesenszug beider Texte könnte die Freundschaft der Auswanderer nach Norwegen sein. So stellt Klaus von See heraus, dass in der Hkr. alte ethnisch zusammengehörige Territorien gute Beziehungen pflegten. 197 Dieselbe Erinnerungsfigur wird - nur aus isländischer Perspektive - in der Lb. erinnert. Von See sieht darin ein nordisches Identitätsbewusstsein, weil eine fortdauernde politische Abhängigkeit suggeriert wird. 198 Diese lässt sich zwar nicht eins zu eins auf die Lb. übertragen, aber das Motiv wird dort innerhalb eines kleineren Rahmens gebraucht, indem die Isländer auf der einen Seite als frei dargestellt werden und Norwegen keine Rechtfertigung schulden, auf der anderen Seite halten sie ohne konkre- 196 Die Antwort auf die Frage, ob Úlfljótrs Reise, um Gesetze nach Island zu bringen, eine Konzeption in Analogie zu mythischen Vorstellungen ist oder sogar mythische Ursprünge hat, ist problematisch. Laut der Y.s. (Kap. 7, S. 20) hat Odin zivilisationsstiftende Funktion, indem er die Gesetze aus seinem Heimatland in sein neues Land bringt. Zudem ist er ein Gestaltenwandler und erscheint vielen auf seinen Reisen fürchterlich. Die Verbindung zu Wölfen wird in der Y.s. (Kap. 8, S. 20) in Form der Berserkerdarstellungen beschrieben, weshalb der Name Úlfljótr («hässlicher Wolf») möglicherweise in Analogie zu Odin erklärbar wäre. Das Prinzip einer Reise, um Wissen zu erwerben, findet sich in der Mythologie häufiger, wie beim Dichtermet-Raub Odins (vgl. Edda. Snorri Sturluson: Skáldskaparmál 1. Introduction, Text and Notes. Ed. by Anthony Faulkes. In: Viking Society for Northern Research. University College London 1998. Kap. 58, S. 4 f.) oder der Erlangung von Wissen durch eine Initiation - in seinem Fall durch das Hängen im Baum, was im weitesten Sinne auch eine Reise darstellt (vgl. Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Hrsg. von Gustav Neckel und Hans Kuhn. 5., verbesserte Auflage. Heidelberg 1983. Hávamál, Str. 138-141, S. 40). John Lindow meint ein solches mythisches Denkmuster in der Úlfljótr-Episode ausmachen zu können (vgl. Lindow 1997, S. 457, Anm. 3). 197 Vgl. von See 1999b, S. 354. 198 Vgl. ebd., S. 354. 4 Die altnordische Historiographie 70 te Motivation freiwillig dorthin gute Freundschaften aufrecht. Hier wird nur indirekt eine ähnliche politische Abhängigkeit deutlich, wie von See sie in der Hkr. sieht, weshalb man in dieser Erinnerungsfigur die isländische Begründung für den Kontakt nach Norwegen sehen kann: In der Realität scheinen sie eher abhängig von Norwegen gewesen zu sein, doch dieser historische Kontakt wird in der Lb. umgekehrt begründet: nämlich als freiwillige Entscheidung. Kirsten Hastrup nennt dieses Motiv ‹loyal interpretation›. 199 Dementsprechend wird die Erinnerungsfigur der königlichen Freundschaft für das isländische Identitätsbewusstsein versinnlicht, um eine etwaige Abhängigkeit zu Norwegen a priori auszuschließen. Diese kurze vergleichende Analyse macht deutlich, dass für viele Erinnerungsfiguren aus der Lb., die den Gründungsmythos konstituieren, mindestens strukturelle Gemeinsamkeiten mit der Y.s. existieren. Allerdings liegt hier nicht einfach eine Motivübertragung vor, sondern eine Aktualisierung der fundierenden Erinnerungen der Y.s., die dadurch in der Lb. mit einem neuen Sinnrahmen versehen werden. Aus diesem Grund zeigt sich im kollektiven Gründungsmythos der Lb., dass er auf mythische urzeitliche Grundmuster referiert und damit aufgrund seiner Wiederholungsstruktur auch eine mythische Fundierung erhält. Die Hauksbók unterscheidet sich von S bereits dadurch, dass es sich bei der Handschrift um einen Kodex handelt. Dieser beinhaltet neben einer Version der Lb. auch viele andere Erzählungen, die vor allem historische Begebenheiten im Alten Orient, im Westen und zu guter Letzt auch im Norden (also Norwegen, Island, Grönland und Vínland - Nordamerika) thematisieren. Darüber hinaus enthält er außerdem Kapitel über Mathematik und über kosmographische Gegebenheiten mit historischem sowie genealogischem Schwerpunkt, entlehnt von frühmittelalterlichen Historikern wie Isidor de Sevilla. 200 Sverrir Jakobsson stellt überzeugend heraus, dass die Konstruktion des Kodexes einem bestimmten Strukturprinzip unterliegt, nämlich dem eines speziell isländischen Weltbildes. Haukr Erlendsson 199 Vgl. Kirsten Hastrup. Defining a society: The Icelandic free State between two worlds. In: Scandinavian Studies, 56. Provo/ Utah 1984. S. 235-255, S. 247 ff. In diesem Punkt kann man der These Hastrups, die allerdings in einigen Punkten auch kritisch zu betrachten ist, hinsichtlich des literarischen Freiheitsmotivs zustimmen. So meint sie herausstellen zu können, dass der Lb. und der Sagaliteratur eine Freiheitsideologie, in Anlehnung an Webers «Freiheitsmythos» zugrunde liege, der schon früher in der Forschung thematisiert wurde (zuerst bei William Paton Ker. Epic and Romance. Essays on medieval literature. London 1908 und daran anlehnend bei Victor Witter Turner. An Anthropological Approach to the Icelandic saga. In: The Translation of Culture. Essays to E.E. Evans-Pritchard. Ed. by Thomas Owen Beidelmann. London 1971. S. 349-374). Diese Abhandlung hat jedoch herausstellen können, dass bereits innerhalb der Lb. kein einheitlicher «Freiheitsmythos» vorliegt, da vor allem im zweiten Teil viele Landnehmer ein freundschaftliches Verhältnis zu Norwegen pflegen und nicht aufgrund des Unfriedens auswandern. Dieses Motiv tritt erst im 13. Jahrhundert in den isländischen Texten auf, kann aber historisch nicht als Begründung der Auswanderung belegt werden (vgl. Preben Meulengracht Sørensen. Saga og samfund. En indføring i oldislandsk litteratur. København 1977, S. 22-25). 200 Vgl. Sverrir Jakobsson. Hauksbók and the Construction of an Icelandic World View. In: Saga Book of the Viking Society for Northern Research, 31. London 2007. S. 22-38, S. 26 ff. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 71 scheint den Schwerpunkt seiner Zusammenstellung, ganz im Gegensatz zur island- und gegenwartszentrierten Perspektive in S, auf die Herleitung einer Historie und Genealogie des Nordens gelegt zu haben. Ihm schien es wichtig, die Verortung Islands und Norwegens im christlichen Weltbild vorzunehmen und zwar mit dem Schwerpunkt auf einer historischen Wanderung, die vor allem die Entdeckung Grönlands und Vínlands einbezieht. Sein starkes Interesse an mythischen Motiven betrachtet Sverrir Jakobsson als ein wesentliches Merkmal des Verfassers und bewertet es als allgemeines antiquarisches Interesse. Doch scheint es ebenfalls wichtig, dass sich Haukr nicht nur auf heidnische Motive des Nordens begrenzt, sondern sie in seiner Kompilation in Verbindung mit dem Alten Orient und Griechenland bringt. So funktionalisiert er die heidnischen Götter und Bräuche als Bindeglied zwischen östlicher und westlicher Herkunft mit der des Nordens und nutzt die historische Wanderung, um genealogische Kontinuität bis hin zur Besiedlung Islands zu suggerieren. Anhand eines nur in H überlieferten Kapitels über die Úlfljótsl ǫ g lassen sich für diesen Text spezifische Fundierungsbedürfnisse herleiten. 201 Diese legen fest, dass jeder Schiffsführer, bevor er die Küste Islands erreicht, die verzierten Tierköpfe vom Steven entfernen muss, damit die landvættir nicht verschreckt würden: Þat var upphaf hinna heiðnu laga, at menn skyldu eigi hafa h ǫ fuðskip í haf, en ef þeir hefði, þá skyldi þeir af taka h ǫ fuð, áðr þeir kœmi í landsýn, ok sigla eigi at landi með gapandi h ǫ fðum eða gínandi trjónum, svá at landvættir fælisk við. (H 268, S. 313) Es war der Beginn des heidnischen Gesetzes, dass die Männer keine Drachenköpfe auf dem Meer haben sollten, und wenn sie welche hätten, dann sollten sie die Drachenköpfe abnehmen, bevor sie in Landsicht kämen. Und sie sollten nicht an Land segeln mit Rachen aufsperrenden Köpfen oder aufgesperrten Mäulern, so dass die Landgeister dadurch erschreckt werden. Die Einführung dieses ersten, alle Siedler betreffenden Gesetzes wird von ihm an den Beginn der Etablierung einer Gerichtsbarkeit gestellt. 202 Die Úlfljótsl ǫ g werden dort in Verbindung mit Þórðr skeggi gebracht (S 307, S. 312/ H 268, S. 311), dessen mythisch-sakrale Landnahme im ersten Teil der Lb. beschrieben wird, um dann wiederum im zweiten Teil in Verbindung mit der Einführung der Úlfljótsl ǫ g wieder aufgegriffen zu werden. Haukr erweitert den Bericht von den Úlfljótsl ǫ g bis zu der gerichtlichen Situation des ‹Freistaats› und berichtet, dass die Gesetze durch Úlfljótr und seinen Schwager nach norwegischem Beispiel in Island eingeführt wurden und dass daraufhin das Allthing (alþingi), das oberste Gericht Islands, etabliert wurde, wodurch gleichzeitig ein einheitliches Gesetz erlassen worden ist: 201 Vgl. ebd., S. 32. 202 Der ausführliche Bericht der Úlfljótsl ǫ g befindet sich lediglich in H, ob er in M vorhanden war, ist unsicher (vgl. Sveinbjörn Rafnsson 1974, S. 82). S erwähnt nur kurz, dass das erste Gesetz des Landes von Úlfljótr, der Land von Þórðr skeggi kaufte, nach Island gebracht wurde: Hann seldi þá Lónl ǫ nd Úlfljóti, er l ǫ g flutti út hingat (S 307, S. 312). 4 Die altnordische Historiographie 72 En er Úlfljótr var sextøgr at aldri, fór hann til Nóregs ok var þar þrjá vetr. Þar settu þeir Þorleifr hinn spaki móðurbróðir hans l ǫ g þau, er síðan váru k ǫ lluð Úlfljótsl ǫ g. En er hann kom út, var sett alþingi, ok h ǫ fðu menn síðan ein l ǫ g á landi hér. (H 268, S. 313) Und als Úlfljótr sechzig Jahre alt war, fuhr er nach Norwegen und war dort drei Winter lang. Dort setzten er und sein Onkel mütterlicherseits, Þorleifr hinn spaki, die Gesetze fest, die dann Úlfljótsl ǫ g genannt wurden. Und als er wieder nach Island kam, wurde das Allthing eingerichtet, und die Männer hier im Land hatten daraufhin ein gemeinsames Gesetz. Es folgt eine Beschreibung der religiösen Aufgaben eines goði («Goden»): Er muss einen Ring auf einer Art Altar (stalli) liegen haben, der zu jedem gerichtlichen Anlass getragen und zuvor durch das Blut eines Opfertieres gerötet werden muss. Auf diesen Ring werden vor Gericht Eide geschworen. Einen solchen Eid auf Frey, Njörd sowie einem alltmächtigen Gott 203 zitiert Haukr in seinen Ausführungen. 204 Daraufhin wird beschrieben, dass Island in Viertel (fjórðungar) geteilt wird und dass Goden gewählt werden, die die Viertel vertreten. Mit dieser Beschreibung wird die Geschichte der Gerichtsbarkeit auf Island von Beginn an bis in die ‹Freistaatszeit› kurz skizziert und es werden die wichtigsten Eckpunkte erläutert. Diese Episode wurde in der Forschung eingehend diskutiert. Olof Olsen ist der Meinung, dass die Úlfljótsl ǫ g ihren Ursprung in den Texten des 13. Jahrhunderts hätten. 205 Andere, vor allem im Vergleich mit weiteren altnordischen Quellen, gehen davon aus, dass dieser Bericht eine gewisse Authentizität habe und ein Stück weit die Realität des 10. Jahrhunderts auf Island repräsentiere. 206 In H wird diese Verbindung sogar bis zum Kirchenzehnten des 13. Jahrhunderts (re)konstruiert und die Hierarchie und die dadurch entstehenden Abgaben-Verhältnisse der ‹Freistaatszeit› zwischen dem maðr («freien Mann») und dem h ǫ fuðhof («Haupttempel») jedes Viertels mit dem Verhältnis zwischen dem freien Mann und der Kirche, der man den Kirchenzehnten (kirkju tíund) abgeben musste, parallelisiert (vgl. H 268, S. 315). Damit legitimiert 203 Die Forschung hat, diese Bezeichnung betreffend, bereits diskutiert, ob es sich hierbei um Odin handelt. Am naheliegensten scheint zu sein, dass hier Thor gemeint wurde (vgl. u.a. Gabriel Turville-Petre. The Cult of Óðinn in Iceland. In: Nine Norse Studies. Viking Society for Northern Research, 5. Ed. by Gabriel Turville-Petre, P. G. Foote. London 1972. S. 1-19, S. 19 sowie in Gabriel Turville-Petre. Thurstable. In: Norse Studies. Viking Society for Northern Research, 5. Ed. by Gabriel Turville-Petre, P. G. Foote. London 1972. S. 20-29, S. 26). Möglich ist jedoch trotz etwaiger ursprünglicher Bedeutungen (sofern es eine solche gegeben hat und dieser Eid nicht erst hochmittelalterlichen Ursprungs ist) auch, dass sich hier in Analogie zum christlichen Gott auf eine über allem stehende Macht bezogen wird und damit wieder ein Hinweis auf die Entmythifizierung religiöser Motive vorliegt, um einen allgemein-religiösen Glauben zu suggerieren. 204 Siehe Motiv-Index, S. 253-260; unter «I Landnahmeriten: Ib Göttlich geleitet, Frey». 205 Vgl. Olof Olsen. Hørg, hov og kirke. Historiske og arkæologiske vikingestudier. København 1966, S. 48 ff. 206 Vgl. Peter Foote (ed.). Observations on “ synkretism ” in early Icelandic Christianity. In: Aurvandilstá: Norse Studies. Viking Collection: Studies in northern civilization, 2. Odense 1984, S. 93 sowie darauf aufbauend Peter Foote (ed.). The Conversion of Iceland. A survey. In: Viking Society for Northern Research, 6. Transl. and annot. by Peter Foote. London 1975, S. 40 ff.; vgl. Jón Hnefill Aðalsteinsson (ed.). Blót and þing. In: A piece of Horse liver. Myth, Ritual and Folklore in Old Icelandic Sources. Reykjavík 1998. S. 35-56, S. 50. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 73 Haukr sozusagen den Kirchenzehnten (und gleichzeitig auch die Besitztümer der Kirche) mithilfe der Geschichte und Entwicklung der Gerichtsbarkeit. 207 Dabei werden Heidentum und Christentum - bzw. die religiösen Institutionen des Heidentums und die des Christentums - parallelisiert. Nur so kann eine Kontinuität für eine legitime Herleitung von Macht geschaffen werden. In H wird also der mythischreligiöse Bericht über die ersten Gesetze funktionalisiert, um die Entwicklung bis in das 13. Jahrhundert zu legitimieren und unangreifbar zu machen. 208 Der bereits herausgestellten inhaltlichen Teilung der Lb., die sowohl S als auch H betrifft, könnten aufgrund dieses ausführlichen Berichtes unterschiedliche Fundierungsbedürfnisse bzw. ‹Erinnerungsinteressen› zugrunde gelegen haben, welche besonders durch den unterschiedlichen Aufbau der Handschriften deutlich werden. Während S wie besprochen keine weiteren Erzählungen beinhaltet, wird die Geschichte Islands in H durch die Lb. und die Kristni saga abgedeckt. Haukr legt seinen Schwerpunkt nicht auf die Entstehung der isländischen Gesellschaft, sondern vielmehr auf ihre Herkunft sowie auf ihre heilsgeschichtliche Einordnung und Einbettung in das christliche Weltbild. Daher muss man in Erwägung ziehen, dass in H möglicherweise eine christliche Ausdeutung der isländischen Geschichte vorliegt. Im Hinblick auf die der Lb. stofflich ähnlichen Íb. postulierte bereits Pernille Hermann eine typologische Struktur, von der sie meint, dass ihr eine heilsgeschichtlich ausgerichtete Struktur, angelehnt an die neutestamentarischen Römerbriefe des Paulus, zugrunde liege. 209 Da die Themen beider Texte, insbesondere im Hinblick auf die Betonung der Úlfljótsl ǫ g sehr ähnlich sind, lohnt es sich zu überprüfen, ob das H zugrundeliegende Prinzip dem der Íb. gleichen könnte. Die von Hermann herausgestellte Struktur ist dreigeteilt: Die erste Periode ist die Zeit ante legem («vor dem Gesetz»), also die Zeit des natürlichen Gesetzes. In diese fällt die gesamte Geschichte bis hin zur Landnahmezeit auf Island, die der Entdeckung Grönlands und Vínlands, in der die Menschen ohne kodifizierte Gesetze nach einem naturgegebenen Prinzip leben. Die zweite Periode, die in H durch die Úlfljótsl ǫ g eingeleitet werde, ist die sub lege («unter dem Gesetz»), die Zeit eines kodifizierten Gesetzes, das aber noch nicht die Offenbarung mit sich bringt. Dieses Gesetz stelle im isländischen Fall die Rechtsbestimmung der Úlfljótsl ǫ g dar, eines zwar heidnischen, aber gemeinhin gültigen Gesetzes, dem alle Bewohner Islands unterworfen sind. Die dritte Periode werde dann durch die Kristni saga repräsentiert, nämlich die Zeit sub gracia («unter der Gnade»). In dieser Zeit leben die Menschen dank der Christiani- 207 In H wird nicht nur an dieser Stelle eine Verbindung mit der christlichen Zeit forciert: In der Episode von Ingólfr lässt sich ebenfalls die Fortführung seiner Familie bis zur Christianisierung nachvollziehen (vgl. H 10, S. 47). In S gibt es auch diese Verbindung nicht. Das erhärtet die These, dass in H die Legitimierung christlicher Institutionen eher als in S intendiert wurde. 208 Vgl. Sveinbjörn Rafnsson 2001b, S. 67. 209 In den Paulinischen Briefen schreibt Paulus an die Römer im Zuge der verschiedenen existierenden Glaubensformen (Judenchristen und Heidenchristen) über das Evangelium und versucht Israel unter anderem in die Heilsgeschichte einzubetten. Diese heilsgeschichtliche Deutung könnte als christliche Deutung (oder bekannte Geschichtsdarstellung) der Íb. zugrunde liegen (vgl. Hermann 2007, S. 28 f.). 4 Die altnordische Historiographie 74 sierung im Offenbarungsbewusstsein. Dieses Bewusstsein wird auch in der Úlfljótsl ǫ g-Episode mithilfe der Verbindung zum zeitgenössischen kirkju tíund (Kirchenzehnt) angedeutet. Innerhalb der Lb. ergibt sich zwar eine Teilung der Landnahmezeit in zwei Phasen, doch muss sie im Kontext der gesamten Handschrift auch in einen erweiterten Bedeutungsrahmen gestellt werden, der ein christliches Deutungsmuster vermuten lässt. Die Verwendung der mythischen Erinnerungsfiguren innerhalb des Lb.-Textes in H scheint also vornehmlich im antiquarischen Interesse des Auftraggebers Haukr begründet zu sein, stellt aber im größeren Rahmen das Bindeglied zu anderen heidnischen Kulturen dar, die bereits im Vorwege als Ursprung der isländischen Gesellschaft bezeichnet werden. 210 Somit wird die isländische Kultur in die Weltgeschichte eingeordnet und damit in das christliche Weltbild des 13. Jahrhunderts. Der kollektive Gründungsmythos in H bekommt daher einen heilsgeschichtlich ausgerichteten Charakter, der gleichzeitig auch die Einordnung in die gesamtweltliche Geschichte sowie eine Identitätskonstruktion über die skandinavischen Grenzen hinaus ermöglicht. Die Grundlage für die Thematisierung und Deutung der mythischen Erinnerungsfiguren in H ist damit vor allem eine euhemeristische Interpretation des Heidentums. Die Betonung einer euhemeristischen Herkunft erinnert wieder an die Hkr. Aufgrund dieser Grundlage könnte man das H- Manuskript als ein Werk betrachten, das auf der norwegischen Geschichte aufbaut und Snorris Herleitungsmodell aufgreift (vermutlich bedingt durch S als Vorlage) 211 , um Island mittels seiner Entstehungsgeschichte wiederum abzugrenzen. Der Unterschied zur Hkr. liegt jedoch darin, dass H wahrscheinlich ein über den Euhemerismus hinausgehendes, christliches Deutungsmuster impliziert: die Dreiteilung der Heilsgeschichte, angelehnt an die heilsgeschichtliche Einordnung Israels in den Römerbriefen. Diese unterschiedlichen Konzepte, die nachweislich durch gelehrte Texte in der Schreiberkultur bekannt waren, waren also offenbar für Haukr Erlendsson kombinierbar; so griff er auch besonders lobend auf Sturla Þórðarsons Text zurück, der keine christlichen Geschichtsdeutungen zu implizieren scheint. Diese Konzepte sind daher allesamt als existente Vergangenheitsversionen und damit Identitätsgrundlagen der kollektiven Identität der Isländer zu betrachten. Zur Bewertung der Unterschiede beider Lb.-Redaktionen lässt sich damit abschließend sagen, dass ein intentionales Deutungsmuster in Anlehnung an Snorri Sturluson aufgrund familiärer Verbindungen am ehesten Sturla Þorðarson zuzuschreiben ist, das dann wiederum hinsichtlich vieler Beschreibungen in H übernommen worden wäre. Schließlich scheint es nicht unwahrscheinlich, dass die meisten Beschreibungen in H aus S und deren Vorlagen stammen und Haukr seinen Vorlagen auch dementsprechend gefolgt ist - mit Ausnahme einiger eigener Eingrif- 210 Vgl. Sverrir Jakobsson 2007, S. 30 f. 211 Diese Annahme soll keineswegs den in anderen Belangen zutreffenden, eigenständigen Charakter des Hauksbók-Kodexes in Frage stellen, den u.a. besonders Sverrir Jakobsson sowie auch Irene Kupferschmied aufschlussreich begründen (vgl. Kupferschmied 2009, S. 140 ff.). 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 75 fe in den Text. 212 Während Haukr mit seinem Kodex die genealogische Herleitung der Isländer sowie die Einordnung Islands in das christliche Weltbild erinnert, scheint es Sturla doch mehr um die innerisländische Geschichte zu gehen. Genauso wenig nimmt Sturla zu kirchenpolitischen Fragen Stellung, obwohl er doch wie Haukr ein kirchliches Amt innehatte. All diese Auslassungen deuten darauf hin, dass Sturla primär eine andere Gesellschaftsfundierung mit seiner Version der Lb. verfolgte. Er zeigt mehr Interesse an der Entwicklung der Gesellschaft und der Religiosität, welche er mithilfe des religionsgeschichtlichen Deutungsmusters rekonstruiert. Es liegt nahe, dass eine solche Vorstellung der religiösen Annäherung eines (wenigstens) regionalen «kollektiven Gedächtnisses» entstammt (wenn man bedenkt, dass offenbar nur Schreiber der Sturlungar-Familie diese Erinnerungsfiguren in der Literatur (aktiv) rekonstruierten) und offenbar entsprechenden Anklang in der literaturproduzierenden Oberschicht fand. Dies bezeugt nicht nur die besondere Interferenz mit den Isländersagas, sondern auch Haukr Erlendssons lobender Kommentar über Sturla sowie dessen Rückgriff auf S. Die Aktualisierung bekannter mythischer Denkmuster lässt sich allerdings auch noch in einen größeren Rahmen einbetten: es lässt sich ein gemeinsames Verständnis von Gesellschaftsentstehung und -entwicklung innerhalb des kollektiven Gedächtnisses Islands ableiten, auf das hier zurückgegriffen wird. Dieser Rückgriff ist eine Form der isländischen Identifikation mit anderen Gesellschaften, nämlich der schwedischen und der norwegischen, da für all jene eine gemeinsame mythische Vergangenheit erinnert wird. Allerdings geschah diese Anknüpfung erst durch die isländischen Historiographen, die offenbar eine Fundierung innerhalb des Nordens im 13. Jahrhundert intendierten. Beiden Handschriften der Lb. scheint in jedem Fall gemein zu sein, dass sie die Erschaffung einer Ära, also einer mythischen Epoche, vor der Christianisierung forcieren und dass sie die mythischen Zusammenhänge des Anfangs fundieren wolen. 213 Das entscheidende Moment ist dabei die mythische Landnahme, auf die rekurriert wird und die die einzige Erinnerungsfigur ist, die absolut autochthon ist und im einen Fall der Abgrenzung, im anderen Fall der an die Wanderung anknüpfenden Identifikation dienen kann. Deshalb scheint sich die isländische Identität vor allem auf die mythische Landnahme zu stützen, die als Anfangspunkt gesetzt und funktionalisiert wird: Einerseits dient sie zur Demonstration von Integrität gegenüber den numinosen Mächten und andererseits dazu, eine Identität durch Identifikation nach innen und Abgrenzung nach außen aufzubauen. Gleichzeitig zeigt sich mit ihr aber auch die logische Fortführung der Wanderung von Ost nach West. Aus diesem Grund scheint über sie eher das isländische Selbstbild reflektiert zu werden als durch direkte politische Stellungnahme - die zudem (man denke an das Bild Harald Schönhaars) in der Lb. auch nicht einheitlich zu sein scheint. 214 Diese Anfangsset- 212 Vgl. Sveinbjörn Rafnsson 1974, S. 81 ff. 213 Vgl. Meulengracht Sørensen 1993, S. 86. 214 Über rekonstruierte Erinnerungsfiguren wie Harald Schönhaar in den Lb.-Versionen s. Gísli Sigurðsson 2014, S. 175-196. 4 Die altnordische Historiographie 76 zung ist jedoch auch eine Zeitspanne von etwa 60 Jahren, welche die Lb. zwar nicht primär chronologisch schildert, aber die der Text dennoch durch einige wichtige Anhaltspunkte (vor allem die der Datierung und der allgemein demonstrierten Zeitentiefe) als Zeitspanne erkennt und die demnach auch als eine Entwicklung zu sehen ist. Deutlich wird, dass die Lb. zwar auf einen Ursprungsmythos referiert, aber mit ihm dennoch so kunstvoll umgeht, dass nur bestimmte Erinnerungsfiguren auf der strukturellen Ebene im isländischen Kontext aktualisiert werden. Daraus ergibt sich, dass die Lb. entgegen dem Forschungskonsens durchaus mehr als nur politische und gesellschaftliche Funktion hatte. Sie ist Ausdruck eines aktuellen Perspektivenwechsels auf die Überlieferung, wie sie Preben Meulengracht Sørensen mit dem Beginn des 13. Jahrhundert herausstellte, nämlich „ at den mundtlige tradition og dens fortællinger om fortiden var ved at få en ny betydning […]. Folk tror igen på de gamle historier […], og det sker efter den mundtlige traditions begreb om sandhed og i en efterligning af dens form og teknik. “ 215 Nur durch diese Entwicklung konnten die Isländersagas ihrem Anspruch auf Authentizität gerecht und eine Fundierung der Familien durch jene in der vorchristlichen Vergangenheit möglich werden. Daher muss man einerseits das enge Verhältnis zwischen Lb. und Isländersagas und andererseits die Aktualisierung mythologischer Erinnerungen in einen Zusammenhang stellen: beide Phänomene lassen sich als Rückgriff auf ein gemeinsames Symbolsystem verstehen, durch welches das Selbstbild der Gruppe und ihr identitätsstiftendes Wissen konstituiert wird: Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit, das wir «kollektive Identität» nennen, beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis, die durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache oder allgemeiner formuliert: die Verwendung eines gemeinsamen Symbolsystems vermittelt wird. Denn es geht dabei nicht nur um Wörter, Sätze und Texte, sondern auch um Riten […]. Alles kann zum Zeichen werden, um Gemeinsamkeit zu kodieren. Nicht das Medium entscheidet, sondern die Symbolfunktion und Zeichenstruktur. 216 Die Landnahme wird als Wiederholung einer mit anderen Gründungsmythen gemeinsamen Zeichenstruktur erinnert und aktualisiert so das Bestehen der kosmischen Ordnung, also das Symbolsystem. Assmann hält allerdings zu Recht fest, dass es einen gravierenden Unterschied darstellt, ob eine fundierende Geschichte bereits in illo tempore verortet wird, von der sich die Gegenwart nie weiter entfernt, da sie das Gewordene darstellt, oder ob eine fundierende Geschichte erst in die historische Zeit fällt, wo sie nicht mehr vergegenwärtigt, sondern lediglich als ‹geschichtlicher Mythos› erinnert werden kann. 217 Mit der strukturellen Übertragung des Deu- 215 Meulengracht Sørensen 1993, S. 50. 216 Assmann 1997, S. 139. 217 Vgl. Assmann 1997, S. 78. Assmann erläutert dies anhand des Beispiels Israel, das mithilfe der Erzählung über den Exodus und die Besiedlung neuen Landes seine Geschichte erinnert und damit sein geschichtliches Werden begründet. Diese Erinnerung kategorisiert Assmann deshalb als «heiße» Erinnerung. 4.1 Die Landnámabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› 77 tungsmusters aus der Y.s. auf die isländische Geschichte konstruiert der Text den Mythos auf zwei Ebenen: Die eine ist die mythische Ebene in illo tempore, durch die Analogie zur Y.s. Diese Erinnerungen lassen sich als ‹kalte Erinnerungen› bezeichnen, weil sie das reflektieren, was das zugrundliegende Weltbild erklärt. Auf der zweiten Ebene findet aber auch eine strukturelle Übertragung dieses Mythos statt, indem in Form eines Gegenwartsbezugs die Vergangenheit kontrapräsentisch als Anlass für Veränderungen in der als defizitär empfundenen Gegenwart erinnert wird. Mittels dieser Übertragung werden die einst ‹kalten Erinnerungen› in ‹heiße› umgekehrt. Ähnlich lassen sich auch die Verknüpfungen mit den Isländersagas verstehen, die eine Vergangenheit erinnern, die die Gegenwart zwar einerseits begründen soll, aber andererseits auch die gegenwärtigen Strukturen im Sinne einer ‹kontrapräsentischen Mythomotorik› verändern soll: das Ungleichgewicht (gleichzeitig das Inzentiv dieser Erinnerungen) in der Gesellschaft Mitte des 13. Jahrhunderts wird häufig in den Isländersagas gespiegelt und zugunsten einer Lösung dieser Verhältnisse in der Gegenwart die Vergangenheit als Anlass dafür rekonstruiert (z.B. in Form von in ihr begründeten Machtverhältnissen oder bestimmten Gesellschaftsdarstellungen). 218 Um auf die eingangs gestellte Frage nach der Bedeutung der historisierenden Fassungen der Lb. vor diesem Hintergrund zurückzukommen: Sveinbjörn Rafnsson misst ihnen einerseits klerikale und andererseits weltliche Merkmale bei. Er geht von einer fast geistlosen Interpolation aus der Sagaliteratur aus und erwägt nicht, dass dem Text ein intendiertes Strukturprinzip zugrunde liegen könnte. Die hier angebrachten Überlegungen führen jedoch zu einer Erweiterung seiner Betrachtungsweise, da zum einen festgestellt werden konnte, dass die Lb. bzw. die isolierten Landnahmeberichte trotz der Entstehung der Isländersagas um die Mitte des 13. Jahrhunderts keineswegs obsolet wurden. Die starke Reziprozität untereinander erzeugt aufgrund eines starken Fundierungsbedürfnisses der Familien eine kohärente Darstellung der Vergangenheit zwischen Isländersagas und Lb., in der sowohl die personale als auch gleichzeitig die kollektive Identität fundiert werden konnte: Erst die medialen Errungenschaften, die die Schrift mit sich brachte, ermöglichte jedoch auch die Herausbildung einer Poetik der Intertextualität, wie sie für die Isländersagas und angrenzende Gattungen spezifisch ist, und dadurch das Entstehen eines Feldes von kohärenten, vergangenheitsbezogenen Erzählungen mit fundierenden Funktionen in Bezug auf einzelne Gruppen der isländischen Gesellschaft im isländischen Hoch- und Spätmittelalter. 219 218 Vgl. Wamhoff 2010, S. 86-96. Hier konnte in einer Vergleichsanalyse zwischen Lb. und Eyrbyggja saga herausgestellt werden, dass in der Saga die Referenz auf die Landnahme für eine Gegenwartskritik der ‹Freistaatszeit› funktionalisiert wird, indem vergleichend auf einen ordo verwiesen wird, der in der Gegenwart Anlass für einen Umbruch geben soll. Diese Beobachtung widerspricht der Durrenbergers, es handle sich bei der isländischen Gesellschaft des Mittelalters um eine ‹kalte Gesellschaft›, dessen Literatur einzig dem Zweck der Kodifikation diene (vgl. Edward P. Durrenberger. The Icelandic Family Sagas as Totemic Artefacts. In: From Sagas to Society. Comparative Approaches to early Iceland. Ed. by Gísli Pálsson. Reykjavík 1991. S. 11-17, S. 14 f). 219 Glauser 2006, S. 48. 4 Die altnordische Historiographie 78 Sie ergänzen einander daher durch ihre ‹imitierende Intertextualität›, die bei ‹klassischen Texten› gemäß Assmann die typische variationsreiche Form der Herstellung kultureller Kohärenz darstellt, weshalb man die Isländersagas (und für sie wiederum die Lb.) mit Recht als ‹klassische Texte› (im Sinne ihrer Vorbildhaftigkeit für folgende Texte) betrachten darf. 220 Zum anderen funktioniert die Erinnerung einer fundierenden Geschichte, die erst in die historische Zeit fällt, über die Erhaltung der Texte im ‹Traditionsstrom›. 221 Dieser Traditionsstrom beinhaltet „ ein[en] Vorrat von Texten normativen und formativen Anspruchs, die nicht als Vertextung mündlicher Überlieferung, sondern aus dem Geist der Schrift heraus entstehen. “ 222 In diesen werden nur solche Texte aufgenommen, die zum Wiedergebrauch bestimmt sind. An der Form dieser Texte wird deutlich, dass ‹textuellen Kohärenz›Variationen begrüßt und neue Texte den Bestand bereichern können. So wird in den Lb.-Redaktionen S und H der vorliegende Stoff durch die Historisierungen und die strukturelle Anlehnung der Anfangssetzung an bekannte Ursprungsmythen in einem neuen Sinnrahmen aktualisiert, wodurch jeder Text für sich eine innovative Ausgestaltung erfährt. Das Wissen über die Landnahme und den mythischen Beginn der Gesellschaft bestimmt in Form von ‹Distinktion› die Identität und Kohärenz der Gesellschaft und führt zu einer Semiotisierung der Geschichte. Nur durch die Wiederaufnahme und Aktualisierung erhält der Gründungsmythos in Form eines ‹kulturellen Textes› seine normative und formative Verbindlichkeit. Im Sinne einer solchen Betrachtung wird deutlich, dass man die Lb. als ein kulturelles Produkt betrachten muss, dem normierte Vorstellungen zugrunde liegen und das aufgrund der zeitlosen Identitätskonstruktion - angeregt durch eine ‹Allianz von Herrschaft und Erinnerung› - stets anschließbar und wiederaufnehmbar blieb. 220 Vgl. Assmann 2007, 101 f. 221 Diesen Begriff führt Assmann in seinen Studien in Anlehnung an die Ausführungen des österreichischen Assyriologen Adolph Leo Oppenheim und des amerikanischen Ethnologen Robert Redfield ein, modifiziert ihn aber hinsichtlich seines Funktionsbereichs (vgl. Assmann 2000, S. 138). ‹Traditionsstrom› bezeichnet damit die erste Stufe einer Schriftkultur, auf die weitere wie die Kanonisierung oder eine Interpretationskultur folgen können. 222 Assmann 2007, S. 92. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 79 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› Neben den vermutlich ältesten Landnahmeberichten entstand am Anfang des 12. Jahrhunderts auch die Íb. Sie wurde zwischen 1122 und 33 von dem Priester Ari fróði Þorgilsson ( * 1067-1148†) verfasst. 223 Neben dem Verfasser wird im Prolog des Textes auch die Beteiligung zweier Bischöfe, Þorlákr Rúnolfsson (1118-1133†) und Ketill Þorsteinsson (1122-1145†), vermutlich als Auftraggeber des Textes, 224 vermerkt: Íslendingabók gørða ek fyrst byskupum órum, Þórláki ok Katli, ok sýndak bæði þeim ok Sæmundi presti. En með því at þeim líkaði svá at hafa eða þar viðr auka, þá skrifaða ek þessa of et sama far, fyr útan áttart ǫ lu ok konunga ævi, ok jókk því es mér varð síðan kunnara ok nú es gerr sagt á þessi en á þeiri. En hvatki es missagt es í frœðum þessum, þá es skylt at hafa þat heldr, es sannara reynisk. (Prolog, S. 3) Das Buch der Isländer verfasste ich zuerst für unsere Bischöfe, Þórlákr und Ketill, und gab es sowohl ihnen als auch dem Priester Sæmundr zur Ansicht. Und weil es ihnen mit nur wenigen Ergänzungen hier und dort gefiel, schrieb ich hier vorliegende Version in gleicher Weise, ausgenommen die Genealogien und das Leben der Könige. Außerdem fügte ich hinzu, was mir seitdem noch bekannt wurde und nun in diesem Buch genauer berichtet wird als in dem vorigen. Aber wenn etwas in diesen Überlieferungen falsch berichtet scheint, dann ist das eher auszuwählen, was wahrer erscheint. Auch der Priester und Gelehrte Sæmundr Sigfússon - der laut der Íb. als erster, wahrscheinlich auf Latein, eine Art Geschichtswerk über die norwegischen Könige 223 Vgl. Jakob Benediktsson 1986, S. XVII. Ari Þorgilsson war ein isländischer Gelehrter und Autor, der als Nachfahre der berühmten Landnehmerin Auðr djúpauðga in den Westfjorden Islands geboren wurde und nach dem frühen Tod seines Vaters Þorgils bei seinem Großvater Gellir Þorkelsson aufwuchs. Nachdem auch dieser bald darauf starb, kam Ari als Siebenjähriger zur Pflege zu Hallr Þórarinsson ins südwestlich gelegene Haukadalr. Ebenfalls bei Hallr zur Pflegeschaft war Teitr Ísleifsson (der Sohn des Bischofs Ísleifr Gizurarson), der bald zu Aris Mentor und Lehrer wurde. Ari wurde am Ende seiner Ausbildung zum Priester geweiht und hatte wohl auch mindestens einen Teil eines Godentums inne, jedenfalls wird er in zeitgenössischen Annalen als Höfding bezeichnet. Durch seine Kindheit und Ausbildung im Haukadalr baute Ari enge Verbindungen zur Familie der Haukdælir auf, die als eine der mächtigsten Familien die Kirche auf Island von Beginn an bis in das 13. Jahrhundert, später in Allianz mit ihren Nachbarn, den Oddaverjar, und den Sturlungar dominierte (überblickshaft dazu vgl. Magnús Stefánsson. Art. „ Iceland ” . In: Pulsiano. S. 311-319, S. 315 sowie weiterführende Literatur). Neben der Íb. bringt die Forschung Ari auch in Verbindung zu einer frühen Lb.-Fassung (s. Kapitel 4.1.). Zur Veranschaulichung von Aris Position innerhalb dieses Machtgefüges vgl. Ari und die Haukdœlir im Anhang, S. 255. 224 Vgl. Jón Hnefill Aðalsteinsson. Under the Cloak. A Pagan Ritual Turning Point in the Conversion of Iceland. 2. extended Edition. Ed. by Jakob S. Jónsson. Reykjavík 1999, S. 55 sowie Mundal 1994, S. 68. Þorlákr Rúnolfsson ( * 1086-1133†), Neffe 1. Grades von Aris Pflegevater Hallr Þórarinsson war Bischof von 1118-1133 in Skálholt im Südwesten und Ketill Þorsteinsson ( * 1075-1145†), der Schwiegersohn von Bischof Gizurr Ísleifsson, war Bischof von 1122-1145 in Hólar im Norden Islands. 4 Die altnordische Historiographie 80 schrieb, habe laut dem Prolog als Redaktor und Berater an der Íb. mitgewirkt. 225 Die Entstehungszeit des Textes wird anhand der sich überschneidenden Amtszeiten dieser beiden Bischöfe sowie dem Todesjahr 1133 des Priesters Sæmundr festgesetzt. Bei der überlieferten Fassung handelt es sich allerdings um eine von Ari nachträglich edierte Version (vermutlich um 1125-30) der ersten, ursprünglich längeren Version, die Königsviten (konunga ævi) sowie weitere Stammtafeln (ættart ǫ lur) enthalten habe (die jedoch von den Bischöfen herausgestrichen wurden). In welchem Umfang man sich diese vorzustellen hat, ist jedoch umstritten. 226 Genauso ist fraglich, welche Änderungen durch Ari von der ersten, durch die Auftraggeber und Sæmundr redigierten Version, zur heute vorliegenden jüngeren Version vorgenommen wurden. 227 Besonders an diesem historiographischen Text ist nicht nur, dass der Verfasser bekannt ist, sondern auch, dass er den Anfang der Überlieferung volkssprachlich erzählender Literatur auf Island markiert. Überliefert ist er allerdings nur sehr spärlich in zwei späten Kopien aus dem 17. Jahrhundert, die jedoch wahrscheinlich wegen enthaltener älterer sprachlicher Formen direkt auf ein Manuskript des 12. Jahrhunderts zurückgehen. 228 Die spärliche Rezeption des Textes bis zur Neuzeit deutet 225 Sæmundr fróði Sigfússon war Gelehrter und Priester auf dem Hof Oddi (ebenfalls im Südwesten Islands gelegen), wo er auch selbst unterrichtete, und gilt als einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit. Er soll als erster Isländer im Ausland (Frakkland, Franken oder Frankreich; vgl. Halldór Hermannsson. Sæmund Sigfússon and the Oddaverjar. In: Islandica, XXII. Ithaca/ New York 1932, S. 5 f.) studiert haben, worauf sogar die Íb. in Kapitel 9 (S. 21) verweist. Auf Sæmundr rekurrieren mehrere historiographische Texte Islands, u.a. die Landnámabók und die Óláfs saga Tryggvasonar, geschrieben von Oddr Snorrason (vgl. Svend Ellehøj (ed.). Studier over den ældste norrøne historieskrivning. Kopenhagen 1965, S. 16-25), doch keiner seiner eigenen Texte wurde überliefert. Er gilt als Stammvater der Familie der Oddaverjar. Sæmundrs Rolle in den politischen und kirchenpolitischen Aktivitäten seiner Zeit stellt Orri Vésteinsson gut zusammengefasst heraus (vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 36 f.), eine Übersicht zu Sæmundr als historische Person findet sich bei Sverrir Tómasson (Art. „ Sæmundr Sigfússon “ . In: RGA, 26. 2004, S. 77-79) sowie neuerliche Diskussionen über dessen Leben und literarischen Schaffens bei Gunnar Harðarson und Sverrir Tómasson (Í garði Sæmundar fróða: fyrirlestrar frá ráðstefnu í Þjóðminjasafni 20. maí 2006. Reykjavík 2008). 226 Einen Überblick zur entsprechenden Literatur findet sich bei Jakob Benediktsson (Art. „ Íslendingabók “ . In: Pulsiano. S. 332 sowie Jakob Benediktsson 1986, S. VIII-XVII). 227 Da diese ältere Version nicht überliefert wurde, lässt sich lediglich vermuten, wie sie ausgesehen haben mag. Man kann den möglichen Grad der Veränderung jedoch wenigstens insoweit grob einschätzen, indem auch die zweite Version nicht über Ereignisse um das Jahr 1120 hinausgehend berichtet, d.h. von Ari dahingehend nichts mehr hinzugefügt wurde. Es liegt allerdings kein Hinweis darauf vor, dass schwerwiegende Abänderungen (bis auf die von Ari im Prolog eigenhändig berichteten) zwischen erster und zweiter Fassung stattgefunden haben. Das Hauptaugenmerk dieser Analyse liegt letztlich auf der vorliegenden Textform und dem dort konstruierten Selbstbild, wofür die ältere Version nur von sekundärem Interesse sein wird. Daher soll an dieser Stelle nur auf die hilfreiche Darstellung des Forschungsstandes bei Jakob Benediktsson verwiesen werden (s. Jakob Benediktsson 1986, S. VIII-XVII). 228 Vgl. Jakob Benediktsson 1986, S. XVII f., Ellehjøj 1965, S. 35 f., Björn Sigfússon. Um Íslendingabók. Reykjavík1944, S. 20-33). Die beiden erhaltenen Handschriftenkopien aus dem 17. Jahrhundert (AM 113 a und b fol.) wurden von Jón Erlendsson erstellt, vermutlich auf Geheiß des Bi- 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 81 darauf hin, dass der Text entgegen seiner zu erwartenden kollektiven Relevanz im ab 1300 einsetzenden Rezeptionsprozess nur wenig Anklang fand. Hierin liegt aber sein entscheidender Wert: durch die geringe Abwandlung des Textes liegt heute ein fast unverfälschtes Abbild der Erinnerungskultur um 1120/ 30 vor. Vor allem diese besonderen Umstände seiner Entstehung sowie seine Überlieferungssituation haben in der Vergangenheit immer wieder zu Diskussionen hinsichtlich seiner Funktion geführt, die bisher keine zufriedenen Ergebnisse liefern konnten. 229 Zum Inhalt hat die Íb., wie der Titel bereits andeutet, die Geschichte der isländischen Gesellschaft: Íslendinga-bók - «das Buch der Isländer». So berichtet sie chronologisch geordnet von der isländischen Geschichte, beginnend mit der Landnahme um 870 bis hin zu wichtigen Ereignissen der Gegenwart des Verfassers im Jahr 1120. Sie endet schließlich mit einer Art Appendix - den sog. Ættartala («Stammbäume»), in denen sowohl vier Genealogien der ersten isländischen Bischöfe als auch die Abstammung Aris und seiner Familie (der Breiðfirðingar aus dem Breiðafjord) von den heidnischen schwedischen Ynglingarkönigen aufgelistet werden. Der Inhalt wird von Ari in 10 Kapitel unterteilt, die jeweils eine Überschrift tragen und sich behelfsweise in fünf inhaltliche Teilbereiche zusammenfassen lassen: die Besiedlung Islands, die Bildung der administrativen Struktur, die Besiedlung Grönlands, die Christianisierung sowie Informationen zu den ersten Bischöfen in Island. Der Text zeigt als erster volkssprachlicher Text eine für die folgenden Jahrhunderte charakteristische Akkulturation der lateinischen Schrift- und Wissenskultur (vor allem der doppelte Titel Libellus Islandorum - Íslendingabók, absolute Datierungen, Kapitelunterteilungen, Titel wie rex, römische Ziffern u.v.m.) 230 und gleichzeitig die Behandlung autochthonen Stoffes. Daher prägen den Text im Gegensatz zu Texten wie der Lb. Nüchternheit und Pragmatik. Er wurde von einem Autor zusammengestellt, der aus dem Umfeld eines der mächtigsten Magnatenkollektive (der Haukdælir) stammt, die sich seit der Christianisierung das Monopol auf die kirchlichen Belange gesichert hatten. Aus eben jenem Umfeld stammen auch Aris Gewährspersonen für schofs Brynjólfr von Skálholt (so vermutet es der isländische Handschriftensammler Árni Magnússon im 18. Jahrhundert.; vgl. Jakob Benediktsson 1986, S. XLV). 229 Überblickshaft hierzu Hagnell 1938, bes. S. 1-27, Einar Arnórsson. Ari fróði. Reykjavík 1942 sowie Jakob Benediktsson 1986, S. XVII-XX. 230 Man ist sich uneins, inwiefern und in welchem Ausmaß Ari lateinische Texte kannte oder sie sogar als Vorlage nutzte, da er selbst keine Quellenverweise zu solchen Texten angibt. Häufig wurden in der Forschung mögliche Ähnlichkeiten mit Bede und Adam von Bremen sowie anderen annalistischen Quellen diskutiert (vgl. Else Mundal. Íslendingabók vurdert som bispestolskrønike. In: alvíssmál: Forschungen zur mittelalterlichen Kultur Skandinaviens, 3. Berlin 1994. S. 63-72 oder Roland Scheel. Lateineuropa und der Norden. Die Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts in Dänemark, Island und Norwegen. Berlin 2012, bes. S. 133-140), wobei der Text primär formale und teilweise inhaltliche Ähnlichkeiten mit den Gattungen historia und origo gentis aufweist. Einen Überblick zur entsprechenden Literatur gibt Jakob Benediktsson 1986, S. XXII ff., s. auch bes. Björn Sigfússon 1944, S. 75-85; Siân Duke. From Bede to Ari. Extending the Boundaries of Christendom. In: Quaestio. Selected Proceedings of the Cambridge Colloquium in Anglo-Saxon Norse and Celtic, 2. Cambridge 2001, S. 27-41, S. 33 ff.; Joanna Louis-Jensen. Ari og Gregor. In: Nordiska Studier i filologi och lingvistik. Festskrift tillågnad Gösta Holm. Ed. by Lars Svensson et. al. Lund 1976. S. 273-279 u.v.m.) sowie weiterführende Literatur bei Hermann 2005. 4 Die altnordische Historiographie 82 den Stoff der Íb. Die sich daraus ergebende und bisher nicht zufriedenstellend beantwortete Frage nach dem ‚ Sitz im Leben ‘ sowie der Intention der Íb. wurde vielfach innerhalb der Forschung diskutiert und wird im Folgenden in der Analyse an entsprechender Stelle aufgegriffen werden, weshalb sich ein davon isolierter Forschungsdiskurs erübrigt. Um sich der Frage nach der Intention des Autors und seiner Auftraggeber auf andere Weise als bisher anzunähern, soll im Folgenden sowohl nach der isländischen Gesellschaftskonstruktion als auch danach, wie die Geschichte erinnert wird, gefragt werden: In welcher Form und zu welchem Zweck (re)konstruiert der Text die isländische Identität? 4.2.1 Der Gründungsmythos in der Íslendingabók: lineare Geschichtskonstruktion Die für die Lb. herausgestellte Aktualisierung von Erinnerungsfiguren mythischer Herkunft in einem neuen Sinnrahmen spielt in der Íb. auf den ersten Blick keine Rolle. Erst bei näherem Hinsehen lassen sich in der Tiefenstruktur des Textes einige mythische Denkmuster in Form von ‹prolonged echoes› aufdecken, die mythologische und religiöse Vorstellungen transportieren. 231 Charakteristisch ist hierbei im Gegensatz zur Lb., dass dem Text keine intendierte strukturelle Anlehnung an einen Ursprungsmythos, sondern ein unbewusstes mythisches Weltverständnis zugrunde liegt. Man kann also darauf schließen, dass diese Denkmuster den Erinnerungen, auf die Ari um 1100 zurückgreift, bereits zugrunde lagen und damit ein konstituierendes Element der mündlichen Mnemotechnik darstellten. Sie sind bei der Darstellung der Vergangenheit nicht verzichtbar und werden unbewusst auch noch im Übergang zur Schriftlichkeit als Paradigma in Erzählungen vom gesellschaftlichen Anfang gebraucht. Hier stellen die mythischen Elemente allerdings keine identitätsfundierenden Erinnerungsfiguren dar, wie es für das religionsgeschichtliche Deutungsmuster in der Lb. herausgestellt werden konnte. Im Falle der Íb. werden ganz bewusst keine religiösen und mythischen Elemente für die Identitätskonstruktion in den Vordergrund gestellt. Der Fokus liegt vielmehr auf einer unterschiedlichen Ausdeutung der isländischen Geschichte. Ist es in der Lb. beispielsweise der tyrannische 231 S. u.a. Lindow 1997, S. 454-464; Jón H. Aðalsteinsson, 1999. Auf diese mythischen Erinnerungsfiguren wird an entsprechender Stelle in der Analyse hingewiesen und daher auf eine separate Zusammenstellung an dieser Stelle verzichtet. Vorweg ist jedoch darauf hinzuweisen, dass ihre Aktualisierung eine konstituierende Rolle für die Identitätsbildung spielt. Norwegerkönig Harald Schönhaar, der die Isländer zur Auswanderung zwingt, sofern sie ihre Freiheit erhalten wollen, gibt die Íb. auf den ersten Blick keine Erklärung für die Besiedlung Islands. Sind die mächtigsten Landnehmer in der Lb. die Nachkommen Bj ǫ rn bunas respektive dessen Sohnes und Erstauswanderers Ketill flatnefr, fokussiert die Íb. die Landnehmer, von denen die späteren Bischöfe abstammen, usw. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Texten liegt allerdings darin, dass die Íb. die isländische Geschichte mit prospektivem Fokus linearisiert, wohingegen die Lb. sie retrospektiv fundiert, um bestimmte Ansprüche zu 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 83 legitimieren. Während die Lb. also durch Erinnern zum Zweck einer Fundierung geprägt ist, liegt der Schlüssel zur Identitätskonstruktion der Íb. im Weglassen, sprich im Vergessen von inkontingenten Ereignissen und Einbrüchen: Unterdrückung ist ein Inzentiv für (lineares) Geschichtsdenken, für die Ausbildung von Sinngebungsrahmen, in denen Bruch, Umschwung und Veränderung als bedeutungsvoll erscheinen (Lanternari 1960). […] „ Ereignisse, Einbrüche von Kontingenz lassen sich nicht eliminieren, aber es läßt sich verhindern, daß sie sich zur Geschichte verdichten. “ (A. Assmann, in: A. u. J. Assmann 1988, 35 f.). 232 Damit steht gemäß der Assmann ’ schen Begriffe der ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung› in der Lb. die ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› in der Íb. gegenüber. 4.2.1.1 Die Landnahme als Machtfundierung im 12. Jahrhundert Der Text beginnt im ersten Kapitel nach einer kontextlos erscheinenden Genealogie des Norwegerkönigs Harald Schönhaar mit der Landnahme Islands. 233 Im Gegensatz zu den hochmittelalterlichen Nachbearbeitungen der Lb. vermag die Íb. die Umstände der Landnahme kaum zu erhellen. So heißt es dort nach wenigen einführenden Worten zur Datierungshilfe ganz knapp, dass ein Mann namens Ingolfr als erster aus Norwegen nach Island kam und im Südwesten siedelte, wie «es zuverlässig erzählt wird» (es sannliga es sagt, Kap 1, S. 5). Im Gegensatz zur Lb. fehlen in der Íb. jegliche Hinweise auf die Überhöhung Ingolfrs als Stammvater, er wird lediglich in seiner Funktion als Erstsiedler dargestellt. Auffällig ist zudem, dass an dieser Stelle im Gegensatz zur Lb. keine weiteren Details über Ingolfr und seine Rolle für die Gesellschaft geschildert werden. Erst im Verlauf des Textes lässt sich herauslesen, dass er durchaus eine relevante Rolle bei der Etablierung der Gesellschaft gespielt haben muss, da auf ihn die ersten Gesetzessprecher und Initiatoren der Gerichtsbarkeit zurückgeführt werden: es sind wie in der Lb. sein Sohn Þorsteinn Ingolfsson, der das erste Thing einrichtet (Kap. 3, S. 8: [...] en áðr vas þing á Kjalarnesi, þat es Þorsteinn Ingolfssonr landnámamanns, faðir Þorkels mána l ǫ gs ǫ gumanns, hafði þar [...]), und sein Enkel, der Gesetzessprecher Þorkell máni, der die Jahresberechnung per Gesetz einführt (Kap. 4, S. 11: ok vas þá þat þegar í l ǫ g leitt at ráði Þorkels mána ok annarra spakra manna), womit sie entscheidende zivilisationsstiftende Akte vollbringen. 234 Es wird zudem das beträchtliche Gebiet abge- 232 Assmann 2007, S. 73. Bereits Jón H. Aðalsteinsson vermutete z.B. in Bezug auf die Beschreibung der Christianisierung als Schlüsselszene der Íb., dass Ari über die Ereignisse auf dem Allthing mehr wusste, als er in seinem Text preisgibt (vgl. Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 131). 233 Harald Schönhaar ( * 852-933†; altn. Haraldr enn hárfagri) gilt als der erste König über einen großen Teil der Küste Norwegens, wird in den altisländischen Quellen jedoch als erster Alleinherrscher und damit Reichseiniger Norwegens dargestellt. 234 Lindow sieht hierin eine enge Parallele zum Schöpfungsbericht der V ǫ luspá («Weissagung der Seherin», erstes Gedicht der sog. Liederedda, berichtet von Beginn und Ende der Welt), in der die Götter nach Erschaffung der Welt ein Zeitsystem zur Strukturierung einführen. Es liegt nahe, dass der Schöpfung einer neu formierten Gesellschaft solche mythischen Denkmuster zugrunde liegen und insbesondere die Namensgebung und das Zeitsystem entscheidene Motive in einem solchen 4 Die altnordische Historiographie 84 steckt, das Ingolfr besiedelt: die gesamte Halbinsel Reykjanes bis hinauf zum Ǫ lfosvatn, dem heutigen Þingvallavatn, direkt am Allthingplatz Þingvellir. 235 Doch trotz dieser Hinweise werden neben Ingolfrs Status als Erstsiedler seine mächtigen Nachkommen nicht hervorgehoben (wie es in der Lb. der Fall ist, vgl. SH 9, S. 46), sondern nur beiläufig erwähnt. 236 Es wäre zu vermuten, dass Ingolfr (vor allem in den späteren Texten wie der Lb. und den Isländersagas) deshalb eine so herausragende Rolle in den Landnahmeberichten erhielt, weil er das Land um das erste Gericht, das Kjalarnesthing, und den späteren Allthingplatz herum besessen hatte und aufgrund seiner genealogischen Verbindungen zu den ersten administrativen Amtsträgern ein Rückbezug auf ihn als Stammvater nahelag. Für die Machtfundierung der Haukdælir war Ingolfrs Siedlungsgebiet allerdings elementar, da es ihren Autoritätsbereich im Gebiet des Árnesthings mit dem Bischofsitz Skálholt umfasste, 237 womit Ingolfrs Rolle als Erstsiedler für die Machtverteilung im Südwesten Islands immens wichtig wurde. Doch reicht diese Verbindung allein als Begründung für Ingolfrs Rolle, besonders in späteren Texten, nicht aus. Die Íb. führt seine Funktion für die isländische Gesellschaftsgründung nicht nur sehr knapp aus, sie verschweigt auch, im Gegensatz zur Lb., ein wichtiges Detail: Mit Ingolfr wird das Amt des allsherjargoði begründet, das nur gemäß dem Erbrecht der Inhaber seines Godentums bekleiden durfte und die Aufgabe hatte, das Allthing zu heiligen (möglicherweise im Sinne einer Friedheiligkeit), wenn es zusammentrat. So erklärt es jedenfalls eine Passage in Þ, die mindestens auf M oder auf noch ältere Darstellungen zurückzugehen scheint 238 : Þorsteinn Ingólfsson lét setja fyrstr manna þing á Kjalarnesi, áðr alþingi var sett, við ráð Helga bjólu ok Ørlygs at Esjubergi ok annarra viturra manna, ok fylgir þar enn s ǫ kum Mythos darstellen (vgl. Lindow 1997, S. 458). Darüber hinaus fehlt der gesamten Ingolfr-Episode die hochmittelalterliche exemplum-Ausformung, die in der Lb. zu finden ist, darunter v.a. die Überhöhung seines Enkels Þorkell máni zum vorbildhaften ‹Edlen Heiden›. Aris Darstellung könnte für die spätere Ausformung in der Lb. die Vorlage im Hinblick auf die Personenkonstellation abgegeben haben und Þorkells Beiname máni («Mond») gab wiederum Spielraum für weitere Assoziationen. 235 Vgl. zur Illustration des Gebietes das Kartenmaterial in ÍF I, S. 529 Landnám Ingólfs. 236 Als es um die Einrichtung des Allthings in Kapitel 3 geht, wird (ebenfalls im Gegensatz zu der detailreicheren Schilderung der Lb.) lediglich in einem Nebensatz erwähnt, dass es bereits vorher das Kjalarnesthing gegeben habe, das von Ingolfrs Sohn Þorsteinn und weiteren Höfdingen eingerichtet worden wäre (Alþingi vas sett at ráði Ulfljóts ok allra landsmanna þar es nú es, en áðr vas þing á Kjalarnesi, þat es Þorsteinn Ingolfssonr landnámamanns, faðir Þorkels mána l ǫ gs ǫ gumanns, hafði þar ok h ǫ fðingjar þeir es at því hurfu. Kap. 3, S. 8; «Das Allthing wurde mit dem Beschluss von Ulfljótr und allen Bewohnern dort eingerichtet, wo es nun ist. Doch zuvor war das Thing auf Kjalarnes, das der Landnehmer Þorsteinn Ingolfssonr, der Vater des Gesetzessprechers Þorkell máni, sowie die Höfdinge, die das unterstützten, eingerichtet hatten.»). Auch Þorkell mánis herausragende Rolle in der Lb. wird hier nur auf sein Amt des Gesetzessprechers beschränkt, der im Rahmen dessen die Schaltwoche gesetzlich einführt: [...] ok vas þá þegar í l ǫ g leitt at ráði Þorkels mána ok annarra spakra manna (Kap. 4, S. 11; «und [diese] wurde dann sogleich gesetzlich festgelegt nach dem Beschluss Þorkell mánis und anderer kluger Männer.»). 237 Vgl. Magnús Stefánsson 1993, S. 315. 238 Vgl. Jón Jóhannesson 1941, S. 35. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 85 ‹þess› því goðorði alþingishelgun. Þorkell máni l ǫ gs ǫ gumaðr var son Þorsteins Ingólfssonar. Þormóðr var son Þorkels, er þá var allsherjargoði er kristni kom á Ísland. […] (Kap. SH 9, S. 46, Anm. 3) Þorsteinn Ingólfsson ließ als erster von allen Männern ein Thing in Kjalarnes einrichten, bevor das Allthing eingerichtet worden war, mit der Unterstützung von Helgi bjóla und Ørlygr von Esjuberg sowie anderer weiser Männer und führt es dort weiter, wegen des Godentums der Allthingsheiligung. Der Gesetzessprecher Þorkell máni war der Sohn von Þorsteinn Ingólfsson. Þormóðr war der Sohn von Þorkell, der damals das Amt des allsherjargoði innehatte, als das Christentum nach Island kam. 239 Es war daher wohl eher diese unauflösbare Verbindung zwischen Ingolfrs Godentum und dem Allthing, die seine Popularität und spätere Rolle wegen seines Initiatorstatus innerhalb der isländischen Besiedlung auch für andere Familien und Interessensgruppen dauerhaft prägte, jedoch in der Íb. erstaunlicherweise unerwähnt bleibt. 240 Eine mögliche Erklärung für diese Ausblendung könnte folgende sein: Das Kjalarnesthing, das entsprechend der Darstellung in Þ unauflösbar mit Ingolfrs Godentum und dem Amt des allsherjargoði mit der zentralen Funktion auf dem Allthing verbunden gewesen ist, könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit der Vorläufer des Allthings gewesen sein, da Ingolfrs Nachkommen der Würdentitel zukam. Auf dieser Basis wäre der Einfluss von Ingolfrs Familie auf Dauer mit dem Allthing unauflösbar verbunden gewesen. Diese Fundierung kollidierte aber offenbar mit den Bedürfnissen der Bischöfe und deren Familie der Haukdœlir, deren Einflussbereich mit ihrem Godentum das Árnesthing umfasste und in dessen Einflussgebiet auch das Allthing lokalisiert war. Um also zu ihren Gunsten die Verbindung zwischen Ingolfrs Familie und dem Bereich des Allthings auflösen zu können, blieb nur die Möglichkeit, der Basis für diese Verbindung (nämlich das vererbbare Amt des allsherjargoði) die Fundierung in frühester Zeit zu entziehen und sie auszublenden. Doch nicht nur die geographische Verbindung zwischen dem Einflussgebiet der Haukdœlir und dem Allthing mag dabei eine Rolle gespielt haben, sondern auch der Versuch, die fundierte Verbindung zwischen dem Amt des allsherjargoði und Ingolfrs Familie zu lösen, als die Kirche dieses Amt übernahm. 241 239 Dass diese Passage wenigstens zum Teil ein Reflex der historischen Wirklichkeit sein muss, lässt sich an einer auffälligen Verbindung dieses Amtes und der Familie mit der Eigennamenvorsilbe Þorerkennen: alle Amtsinhaber tragen Eigennamen mit dieser Vorsilbe, woraus man sogar abzuleiten meint, dass Söhnen mit diesen Namen der Vorrang im Hinblick auf die Besetzung solcher Ämter gegeben wurde (vgl. Jón V. Sigurðsson 1999, S. 186). Diese Verbindung ist hier keineswegs einmalig, sondern tritt beispielsweise auch in der Eyrbyggja saga sowie der entsprechenden Lb.- Passage in ganz ähnlicher Weise auf (vgl. Wamhoff 2010, S. 83 sowie Anm. 208 und S. 90), was auf einen kollektiven Erinnerungsbestand hinweist. 240 Vgl. Gunnar Karlsson. Goðamenning: staða og áhrif goðorðsmanna í þjóðveldi Íslendinga. Reykjavík 2004, S. 82 f. 241 Vgl. Gísli Sigurðsson 1994, S. 211. Die Lb. zeigt jedoch, dass diese Ausblendung nicht von Dauer war. Möglicherweise liegt der Grund dafür in dem Interesse an diesem Amt und der Region, das auch andere Familien zu Fundierungszwecken hegten. 4 Die altnordische Historiographie 86 Ingolfrs Landnahme folgt, ohne die Angabe von Beweggründen, eine weitreichende Auswanderungswelle, die König Harald Schönhaar dazu veranlasst, die Ausfahrt zu verbieten, da er die Verödung seines Landes befürchte: En þá varð f ǫ r manna mikil mj ǫ k út hingat ýr Norvegi, til þess unz konungrinn Haraldr bannaði, af því at hónum þótti landauðn nema. (Kap. 1, S. 5 f.) Und es gab damals eine große Auswanderung der Leute von dort aus Norwegen hierher, solange bis König Harald es verbot, weil er fürchtete, dass es zu einer Entvölkerung des Landes käme. Hier wird diese Darstellung allerdings nicht durch Freiheitsliebe, sprich Flucht vor einem tyrannischen König, motiviert, sondern um im Anschluss zu erläutern, wie die Schiffs- und Hafenzölle für den norwegischen König (die sog. landaurar) zustande kamen. Das Bild von Harald Schönhaar ist in der Íb. also ein völlig anderes als in der Lb. und den Isländersagas, in denen seine Reichseinigungsversuche die Siedler zur Auswanderung nötigen. 242 Man muss damit rechnen, dass aufgrund der verschiedenen Entstehungszeiten der Texte die Darstellung in der Íb. eine tatsächlich ältere ist, in der dem König offensichtlich noch kein direkter Einfluss auf die Auswanderung zugeschrieben wurde. Bisher ist in der Forschung unklar, unter welchen Umständen das Bild von König Harald sich derart pejorativ entwickelte. Klar ist hingegen, dass man es mit einer uneinheitlichen Darstellung des Norwegerkönigs zu tun hat, die abhängig von dem politischen Hintergrund eines Textes ist. 243 Es fehlt allerdings bisher an Erklärungen, wo sich der missing link zwischen Aris sachlicher Darstellung und den späteren pejorativen Entwicklungen im 13. und 14. Jahrhundert befinden könnte. 244 Eine solche Erklärung könnte sein, dass Ari mit seiner Beschreibung von König Haralds Auswanderungsbeschränkung den Anknüpfungspunkt für die spätere Funktionalisierung gab: wenn man diese Beschreibung vor dem Hintergrund der Bedrohung der isländischen Identität durch Norwegen betrachtet, überschritt der König seinen Einflussbereich, indem er über das nicht in sein Herrschaftsgebiet fallende Island bestimmte und den Menschen durch seine Reglementierung die Auswanderung erschwerte. Für eine pejorativere Darstellung konnte die in der Íb. beschriebene Personencharakterisierung bedarfsgerecht verschärft werden. Sie gab daher unter dem Einfluss des offensichtlich schon im 12. Jahrhundert befürchteten Identitätsverlustes bis über die politische Angliederung 242 Einen erhellenden Überblick über die Entwicklung der Figur von Harald Schönhaar in der isländischen Literatur geben Gert Kreutzer (Das Bild Harald Schönhaars in der altisländischen Literatur. In: Studien zum Altgermanischen. FS für Heinrich Beck. Hrsg. v. Heiko Uecker. RGA Ergbd., 11. 1994. S. 443-461) sowie Sverrir Jakobsson (Erindringen om en mægtig Personlighed. Den norskislandske historiske tradisjon om Harald Hårfagre i et kildekritisk perspektiv. In: Historisk tidsskrift, 81. Oslo 2002. S. 213-230). 243 Vgl. Kreutzer 1994, S. 461. 244 Zwar berichten die Lb.-Versionen auch von unterschiedlichsten Verhältnissen zum König, jedoch ist strittig, ob diese bereits in der frühesten Version um 1100 Teil der Auswanderungsberichte waren. Daher ist davon auszugehen, dass es sich dabei in den meisten Fällen um intertextuelle Bezüge (im Kontext der Figurenentwicklung) zwischen der Lb. und den entsprechenden Isländersagas handelt. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 87 1262/ 64 hinaus (besonders für die Isländersagas und die Lb.-Versionen) die ideale Vorlage für die Figur eines tyrannisch herrschenden Königs ab, unter dessen Herrschaft die Siedler aus Freiheitsliebe fliehen mussten. 245 In der Íb. kommt dem Einlenken des Königs allerdings noch keine negative Bewertung zu; offensichtlich wird sein Handeln ob seiner Befürchtung der Landesverödung für gerechtfertigt erachtet und damit begreifbar. 246 Daher lässt sich in der Landnahmebeschreibung der Íb., im Gegensatz zur Lb., keineswegs eine Abgrenzung zum norwegischen Königtum erkennen, vielmehr wird eine friedliche, auf einer Rechtsgrundlage basierende Beziehung zwischen dem König und den Auswanderern suggeriert. Über die Zeit vor der Besiedlung weiß Ari, wie auch die Lb., zu berichten, dass das Land dicht bewachsen war und christliche Einsiedler irischer Abstammung, genannt papar, dort lebten, während Island weitflächig mit Wald bewachsen gewesen sei. 247 Auf den ersten Blick gleichen sich die Erzählungen der Vorsiedler in beiden Texten und wurden von der Forschung daher als Einbindung Islands in die christliche Sphäre (terra Christiania) gedeutet. 248 Doch im Gegensatz zur Lb. betont die Íb. deutlich, dass die Siedler sofort nach Beginn der Besiedlung wieder davonfuhren (en þeir fóru síðan á braut), wohingegen die Lb. nur berichtet, dass man religiöse Gegenstände von ihnen gefunden habe und daher die Abreise der papar nicht zwingend im Kontext der Landnahme gestanden haben muss (S 1, S. 32 f.). 249 Darüber hinaus weiß Ari ein weiteres Detail zu berichten, von dem die Lb.- Versionen keinen Gebrauch machen: die papar verließen laut Ari freiwillig das Land, als die ersten heidnischen Siedler kamen, «da sie mit jenen nicht gemeinsam leben wollten» ([...] en þeir fóru síðan á braut, af því at þeir vildu eigi vesa hér við heiðna menn [...]. Kap. 1, S. 5). Nachdem die gesamte Passage auf einen fehlenden direkten Kontakt zwischen den beiden Gruppen hindeutet (das Wissen um die irische Abstammung der papar erlangten die Siedler allein durch die Herkunftszuweisung der zurückgelassenen Gegenstände), irritiert Aris Wissen hinsichtlich der Beweggründe ihrer Abreise. Im Gegensatz zu dem weit verbreiteten Motiv der Bezwingung 245 So führt die politische Situation im 13. Jahrhundert dazu, dass die Landnahme zu Beginn der isländischen Gesellschaftsformierung neben einer fundierenden Funktion eine kontrapräsentische bekommt: Den Verlust der Unabhängigkeit vor Augen wird der ursprünglich fundierende Mythos nun kontrapräsentisch: „ Er konstruiert eine Vergangenheit, die ein Gegenbild der als defizient empfundenen Gegenwart darstellen soll. “ (Walther 2013, S. 97). 246 Vgl. Kreutzer 1994, S. 445. 247 Zu der Diskussion um die Historizität der papar sowie der Umstände einer möglichen Erstbesiedlung Islands siehe folgende Literatur: Hermann 2010 sowie die erste Publikation des ‘ papar ’ - Projekts: Barbara E. Crawford (ed.). The Papar in the North Atlantic: environment and history. St. John ’ s House Papers, no.10. University of St. Andrews 2002. 248 Allen voran stellen hierfür die Lb. und die Íb. ein Zeugnis dar, deren Schilderungen über die papar und den paradiesähnlichen Urzustand der Insel (vgl. Clunies Ross 1997, S. 21, Clunies Ross 1998a, S. 145, Clunies Ross 1998b, S. 174) den Anlass für diese Beurteilungen lieferten (vgl. Hermann 2005, 2007, The Construction of Iceland as a Meaningful Location 2009 sowie 2010). 249 Interessanterweise berichtet die Hauksbók gar nicht von dieser Vorbesiedlung. Beide betonen aber am Ende des Textes, dass der christliche Glaube schnell nach der Besiedlung aufgegeben wurde und Island bis zur Christianisierung heidnisch war (S 399/ H 356, S. 396). 4 Die altnordische Historiographie 88 oder Unterordnung der ansässigen Bevölkerung in den germanischen Gründungsmythen, entspricht die Erinnungsfigur der papar aufgrund der passiven Rolle der Einwanderer daher nicht der gängigen Darstellung (früh)mittelalterlicher Gründungsmythen in Europa. 250 Die fremde Herkunft eines Volkes impliziert laut der Historikerin Alheydis Plassmann neben der Landnahme auch die Verdrängung der Bewohner, häufig finde man die Darstellung einer Eroberung, selten die eines Bündnisses mit jenen. Im Fall der Íb. wird diese Motivik sogar in ihr Gegenteil verkehrt, da eine Flucht der papar stattfindet. Mit dieser Verkehrung scheint auch eine umgedrehte Wirkung einherzugehen: Steht also die Wanderung auf der einen Seite für die Prüfung der gens, und exemplifiziert ihre Fähigkeit zum Leiden und Durchhalten, so steht die Eroberung auf der anderen Seite für den Anspruch der gens auf eine Hegemonialstellung und auf einen besonderen Platz in der Weltordnung, […]. 251 Statt also einen besonderen Platz in der Weltordnung zu beanspruchen, wird eine solche Position offenbar erst gar nicht gefordert. Doch wie erklärt es sich, dass die Isländer keinen Anspruch auf eine solche Vormachtstellung erhoben haben sollen? Und wenn nicht darauf, worauf erhob die Íb. dann einen Anspruch bzw. welche Rolle wollten die Isländer laut ihr in der Welt im 12. Jahrhundert spielen? Problematisch an der bisher häufigsten Antwort auf diese Frage in der Forschung, nämlich einer vorrangig religiös motivierten Identitätsfindung und Einordnung in die christliche Welt, ist, dass diese a priori jegliche Motivation in der christlichen Religiosität des Autors begründet sieht, diese aber nur an wenigen tatsächlichen Textbeispielen festgemacht werden kann: Der oben genannte Abschnitt über die papar scheint das einzige christlich motivierte bzw. gedeutete Motiv im Rahmen des Landnahmeberichts der Íb. zu sein, das auf eine derartige Intention hindeuten könnte. 252 Diese 250 Vgl. Alheydis Plassmann. Das Wanderungsmotiv als Gründungsmythos in den frühmittelalterlichen Origines gentium. In: Gründungsmythen Europas im Mittelalter. Hrsg. v. Michael Bernsen, Matthias Becher, Elke Brüggen. Bonn 2013. Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst, 6. S. 62-77, S. 69 f. So stellte Heinrich Beck heraus, dass es sich bei der Terminologie des landnám im Altisländischen gerade aufgrund des fehlenden Aspekts der Auseinandersetzung mit vorheriger Besiedlung um einen Sonderfall der Landnahmen generell handle, die vorrangig das Ziel der Inanspruchnahme und Kultivierung unbewohnten Landes bedeute (vgl. Beck 1994a, S. 197 f.). Folgenschwer ist jedoch seine Schlussfolgerung, dieses Charakteristikum auf die historische Wirklichkeit zu übertragen und die Erwähnung der papar für nicht beachtenswert zu halten. 251 Plassmann 2013, S. 70. 252 Es wurde über die Anführung einzelner Aspekte für diese Argumentation hinaus auch die Struktur der Íb., in deren Mitte die Christianisierung als ‚ Wendepunkt ‘ interpretiert wurde, als Idee einer typologischen Anordnung (typus und antitypus) interpretiert. Diese Deutung ist nicht zuvorderst von Motiven abhängig, sondern von einer christlich geschichtstheologischen Ausdeutung, entsprechend einem heilsgeschichtlichen Verständnis; die Basis der mittelalterlichen Geschichtstheologie (v.a. Weber 1987 sowie Hermann 2010). Doch weder der Landnahmebericht noch spätere Episoden transportieren Hinweise auf eine solche umfassende christliche Geschichtsauffassung oder -ausdeutung. Das wird vor allem darin deutlich, dass die Íb. im Gegensatz zu späteren Texten wie der Kristni saga, der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta oder der Hungrvaka (eine Art Bischofschronik der Skálholter Bischöfe) keine eindeutig christlichen Erklärungen für Ereignisse anbietet, so z.B. an der Stelle des bevorstehenden Kampfes auf dem Allthing vor der Annahme des Chris- 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 89 Beobachtung manifestiert sich auch darin, dass im Gegensatz zur Lb., die zum Beispiel etliche christliche Siedler mit irischer Abstammung oder solche, die über Irland und die Hebriden nach Island kamen (darunter sogar einige der bekanntesten Siedler, nämlich die Kinder von Bj ǫ rn buna respektive Ketill flatnefr) anführt, die Íb. - bis auf die papar - eine Verbindung zu diesen Orten und dem christlichen Glauben ausblendet. 4.2.1.1.1 Auf der Suche nach Herkunft: Genealogien als Monumente einer Wanderidee Aus Aris Sicht wurde Island einzig aus dem damals noch heidnischen Norwegen besiedelt. Sogar - oder gerade - den Landnehmern, auf die in den Ættartala am Ende der Íb. die Bischofsgeschlechter zurückgeführt werden (exakt dieselben Siedler, die später in der Lb. über oder von den Hebriden nach Island reisen), wird explizit eine rein norwegische Herkunft attestiert: zu Beginn von Kapitel 2 zählt Ari die vier (seiner Meinung nach offensichtlich wichtigsten) Landnehmer auf, die alle nórrœnn («norwegischer Herkunft», S. 6) waren bzw. aus der Gegend Møre in Westnorwegen stammen sollten: Hrollaugr, sonr Røgnvalds jarls á Mœri byggði austr á Síðu; þaðan eru Síðumenn komnir. Ketilbj ǫ rn Ketilssonr, maðr nórrœnn, byggði suðr at Mosfelli enu øfra; þaðan eru Mosfellingar komnir. Auðr, dóttir Ketils flatnefs, hersis nórrœns, byggði vestr í Breiðafirði; þaðan eru Breiðfirðingar komnir. Helgi enn magri, nórrœnn, sonr Eyvindr austmanns, byggði norðr í Eyjafirði; þaðan eru Eyfirðingar komnir. [Hervorhebungen durch die Verfasserin] Erstaunlich ist, dass bei diesen Landnehmern die norwegische Abstammungslinie bis auf die Erwähnung ihrer Väter gezielt verschwiegen wird. Im Gegensatz zur Lb., in der möglichst weit in den Genealogien zurückgegangen wird, um eine ansehnliche Abstammung festzuhalten (entsprechend einer ‹Allianz zwischen Herrschaft und Erinnerung›), verzichtet die Íb. (mit Ausnahme der Ættartala) sogar generell darauf, Vorfahren weiter als eine zurückliegende Generation, man könnte es das ‚ Vater-Prinzip ‘ nennen, aufzuführen. Das verwundert vor allem in den Fällen, in denen sich Personen wie Bischof Gizurr, der lt. der Lb. verwandt war mit Olaf dem tentums, der durch ein Wunder abgewendet worden sei (vgl. Siân Grønlie. Kristni saga and Medieval Conversion History. In: Gripla, XV. Reykjavík 2005. S. 137-160, S. 155). Es gibt zudem keine theologische Ausdeutung des heidnischen Glaubens, Ari erwähnt nur an einer einzigen Stelle ohne nähere Erläuterung die heidnischen Tempel und zwar in Kap. 2: En hónum fekk hverr maðr penning til á landi hér, en hann gaf fé þat síðan til hofa (S. 7 «Und ihm gab jeder hier im Land einen Pfennig, er wiederum gab das Geld dann den Tempeln.»). Offensichtlich ging er davon aus, dass in der heidnischen Zeit genau wie in der christlichen Zeit Abgaben an die religiösen Zentren geleistet wurden. Ari verzichtet somit darauf, Unterschiede zwischen den Glaubensrichtungen darzulegen oder sich abzugrenzen - er verweist lediglich auf Gemeinsamkeiten und entzieht sich der Auseinandersetzung mit der Dichotomie von heidnischer und christlicher Zeit, wie sie typisch für die späteren Texte sein wird. Vielmehr legt Ari Wert auf die Assimilierung heidnischer und christlicher Zeit (vgl. Hermann 2010, S. 150 f.). 4 Die altnordische Historiographie 90 Heiligen (S 177/ H 143, S. 214) 253 , mit einer besonders eindrucksvollen Abstammungslinie hätte schmücken können. Norwegen als das einzige Heimatland der isländischen Siedler anzugeben, bedeutet zwar eine Fundierung der isländischen Gesellschaft in norwegischen Verhältnissen (allen voran die Verwandtschaft mit norwegischen Hersen, entsprechend der erwähnten Väter der Landnehmer), doch gleichzeitig wird das Augenmerk durch einen konsequenten genealogischen Schnitt verstärkt auf die Nachkommen der Siedler gerichtet. 254 Dieses Mittel verfolgt genau wie die Herauslösung der Königsviten durch die Bischöfe den Zweck, den Fokus weg vom «alten Island mit seiner norwegischen Zugehörigkeit und den Familienwurzeln» hin zum «neuen Island» zu schwenken. 255 Hiermit geht eine überwiegend prospektive statt einer retrospektiven Ausrichtung des Textes einher, d.h. es wird an einer bestimmten Stelle der Geschichte eine Abgrenzung vollzogen, um einen Neuanfang zu markieren. 256 Den Ausführungen Assmanns zufolge spricht das wiederum dafür, dass nicht primär ein Herrschaftsanspruch in der Íb. deklariert werden soll, da Herrschaft allen voran Herkunft für ihre Legitimation benötigt, also eine retrospektive Seite hat, die in der Íb. dafür jedoch entscheidend zu kurz kommt. 257 Mithilfe der stringent fingierten Herkunft aus Norwegen sowie der Vermeidung jeglicher religiöser Kontroversen wird die Geschichte linearisiert. 258 Dies hat gemäß Assmann den Zweck, den Bruch zwischen vorher und jetzt - im isländischen Fall also den Umbruch und die Veränderung, die sich durch die Auswanderung ergeben haben -, sinnvoll erscheinen zu lassen und zu betonen. 259 Es wird also an dieser 253 Die Þ-Version der Lb. behauptet hingegen eine Verwandtschaft Gizurrs mit Olaf Tryggvason (vgl. Jakob Benediktsson 1986, S. 215 Anm. 8). Diese Unstimmigkeit liegt darin begründet, dass zwei verschiedene Mütter für Gizurr erinnert wurden, die Verbindung über die maternale Seite aber für die Bemühungen in der Lb. spricht, eine genealogische Verbindung zwischen Gizurr und der norwegischen Königsdynastie herzustellen. 254 Dass dieser genealogische Schnitt nicht schon bei der Landnehmergeneration selbst vollzogen wird, hat wohl den Hintergrund, dass dann der Beweis einer norwegischen Herkunft nicht erbracht wäre, der beispielsweise bei einem Aufenthalt in Norwegen am Königshof doch eine entscheidende Rolle spielte ( „ […]; zwar geht die isländische Geschichte von der norwegischen aus und bleibt mit ihr auch durch Aris Chronologie besonders verbunden, woraus sich aber keinerlei Abhängigkeit herleiten lässt. Das Verhältnis zu Norwegen und seinen Königen erscheint demnach problematisch, wenngleich es angesichts der Handelsverflechtungen, der gleichen Sprache und zahlreicher Isländer im Gefolge des Königs zweifellos sehr dicht gewesen sein muss. “ Scheel 2012, S. 139). Doch noch weitere Gründe, die Vatergeneration anzugeben, waren entscheidend für die isländische Identität, wie im Folgenden gezeigt werden soll. 255 Vgl. Theodore M. Andersson. The Icelandic Family Saga: An Analytical Reading. Harvard Studies in Comparative Literature 28. Cambridge 1967, S. 225. 256 In diesem Kontext lässt sich auch erklären, wieso die Bischöfe Ari anwiesen, die Genealogien und Lebensdaten der Könige aus seinem Text zu entfernen, wie Ari im Prolog vermerkt. So konnte die Íb. ‚ isländischer ‘ erscheinen (vgl. Andersson 1967, S. 225). 257 Vgl. Assmann 2007, S. 70 f. 258 Vgl. ebd., S. 72 in Anlehnung an Erdheim 1988. 259 Diese Bestrebungen verstärken sich bis in das 14. Jahrhundert noch weiter durch die in Island konstruierten Genealogien nordeuropäischer Königshäuser sowie deren Anbindung an verschiedenste Herkunftsmythen. So lassen sich hierfür Texte mit unterschiedlichster Ausrichtung und Intention anführen (vgl. Andreas Heusler. Die gelehrte Urgeschichte im altisländischen 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 91 Stelle der Íb. schon jener Sinngebungsrahmen der isländischen Besiedlung ausgebildet, der in den späteren Landnahmeberichten des 13. Jahrhunderts dann den Rahmen für die charakteristische divinatorische Führung darstellt, womit die Umstände der Landnahme, d.h. die Anfänge der isländischen Geschichte, semiotisiert werden. Aufgrund der historisch erst späten Gesellschaftsformierung (Ende des 9. Jahrhunderts) gibt es im isländischen Fall keine Gründungsmythen in illo tempore, sondern nur solche in historischer Zeit. Diese sind charakteristisch für ‹heiße› Gesellschaften, die mittels ihrer ‹geschichtlichen Mythen› (gemäß Assmann) ihre Geschichte verinnerlichen und ihr Selbstbild fundieren: Mythos ist die zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit. Der Unterschied, […] liegt darin, ob es sich dabei um „ absolute “ oder „ historische “ Vergangenheit handelt. Im Falle der absoluten Vergangenheit […] fundiert der Mythos das Weltbild und Wirklichkeitsverständnis einer „ kalten “ Gesellschaft. […] Im Falle der „ historischen “ Vergangenheit fundiert der Mythos das Selbstbild einer „ heißen Gesellschaft “ , die ihr geschichtliches Werden […] verinnerlicht hat. Man kann diesen Unterschied nicht treffender kennzeichnen als Eliade das getan hat: an die Stelle einer Semiotisierung des Kosmos tritt die Semiotisierung der Geschichte. 260 Eine solche Semiotisierung der Geschichte kann zu einer ‹Linearisierung der Geschichte› führen. 261 Verfolgt man diesen Gedanken weiter, ergibt sich allerdings die Frage, woran eine solche überhaupt angeknüpft werden konnte bzw. welchem geschichtlichen Fortgang sie linear folgen sollte? Diese Frage beantwortet der Text nicht explizit, da er über die Zeit vor der Landnahme nicht berichtet. Jedoch lassen sich in Vor- und Nachwort (Prolog und Ættartala) implizite Hinweise darauf finden, in welchem historischen Kontext Ari die Besiedlung sah: schon im Prolog wird eine kontextlose, offenbar erst durch Ari konstruierte, Genealogie von König Harald Schönhaar angeführt (Prolog, S. 3), die jenen nicht nur mit dem Norwegerkönig Halfdan hvítbeinn, sondern auch mit dem aus dem Gedicht Ynglingatal bekannten schwedischen Ynglingarkönig Óláfr trételgja verbindet. 262 Mit diesem genealogisch- Schrifttum. Berlin 1908). Ein Vergleich der Darstellungen findet sich auch im Anhang dieser Abhandlung, S. 256: Aris Genealogie der norwegischen Könige und seine eigene. 260 Assmann 2007, S. 78. 261 An dieser Stelle muss einschränkend vermerkt werden, dass sich diese Linearisierung nicht auf alle Aspekte der Geschichte bezieht, sondern zuvorderst auf den historischen Rahmen, den der Verfasser für die Besiedlung Islands und das geschichtliche Werden der Isländer wählt. An den entsprechenden Stellen wird noch darauf verwiesen werden, dass der Text durchaus auch Merkmale eines zyklischen Geschichtsdenkens als Relikt vorchristlicher Zeit repräsentiert und damit eine Synthese zweier konträrer Weltbilder darstellt. 262 S. Aris Genealogie der norwegischen Könige und seine eigene, Anhang S. 256. Die Forschung hat vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darüber diskutiert, ob diese Genealogie von einem späteren Kopisten (man vermutete im Laufe des 12. Jahhrunderts) eingefügt worden wäre. Als Hauptargument führte man hierbei die fehlende Kontextualität dieser Passage an. In diesem Zusammenhang sah man auch Aris eigene Genealogie von eben jenem Schreiber als hinzugefügt an (vgl. Jakob Benediktsson 1986, S. XVI). Einige vermuteten, dass diese allerdings der bereits älteren Version der Íb. oder einem Notizteil zu Genealogien (sog. Schedæ) angehörte (vgl. Halldór Hermannsson. Introductory Essay. In: The Book of the Icelanders (Íslendingabók) by Ari Thorgilsson. Ed. and transl. with an Introductory Essay and Notes by Halldór Hermannsoson. Island- 4 Die altnordische Historiographie 92 en Gedicht, entstanden um 900, verfasste der Skalde Þjóðólfr ór Hvíni einen Lobpreis auf einen Herrscher namens R ǫ gnvaldr aus dem norwegischen Vestfold. 263 Die dort präsentierte Genealogie umfasst die Ahnenreihe der Ynglingardynastie aus Uppsala in Schweden, die als Nachkommen des Fruchtbarkeitsgottes Frey bezeichnet werden. 264 Vor allem für Ari offenbar einschneidend war aber die Verknüpfung der schwedischen Ynglinge mit den Vestfoldkönigen, die ihm mit großer Sicherheit die Grundlage für seine Geschichtsdarstellung eröffnete. So wird angedeutet, dass Óláfr trételgja Uppsala verließ (Sá áttkonr / frá Upps ǫ lum / lofða kyns / fyr l ǫ ngu hvarf (Ynglingatal, Str. 26, S. 74; «Dieser Nachfahre / aus Uppsala / königlich Geborener / verschwand für lange Zeit.»). Wenige Strophen später berichtet der Skalde von der erfolgreichen Etablierung eines Königsgeschlechts in Norwegen, ica, XX. Ithaca/ New York 1930. S. 1-46 sowie Björn Sigfússon 1944, S. 106). Diese Frage musste jedoch letztendlich wegen fehlender Überlieferung unbeantwortet bleiben. Der einzige Grund, der für eine solche These spricht, ist, dass Aris eigene Genealogie in diesem Text fehl am Platz erscheint, da seine genealogische Verbindung mit einem Herrschergeschlecht vermutlich wenigstens den Auftraggebern missfallen hätte und Ari daher vermutlich aufgefordert worden wäre, sie zu entfernen (vgl. Jakob Benediktsson 1986, S. XVI). Dieser Gedanke wurde auch von Richard North wieder aufgegriffen, wobei er ohne konkrete Hinweise diesen Einschub auf das 17. Jahrhundert datiert (vgl. Richard North. Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal in den Prologen der Heimskringla. In: Snorri Sturluson - Historiker, Dichter, Politiker. Hrsg. v. Heinrich Beck. Berlin 2013. S. 171-216, S. 189). Daher scheint es schon plausibel, dass Ari seine eigene Genealogie im Rahmen der Herauslösung von Konunga ævi und Ættartala, wie er selbst im Prolog schreibt, für die zweite Fassung entfernt hat (nicht plausibel ist jedoch, dass auch die Genealogien der Auftraggeber als Teil der Ættartala (vgl. S. 26 f.) herausgelöst wurden, was wiederum für ein bewusstes Platzieren des gesamten Anhangs in der zweiten Fassung spricht). Es ist zu bedenken, dass letztendlich nicht eindeutig klärbar ist, ob diese Passagen tatsächlich Einschübe sind oder von Ari selbst als Teil der ersten (oder erst zweiten) Fassung konzipiert wurden. Immerhin könnten eine mögliche fehlende Kontextualität oder die eigene überhöhende Genealogie deshalb so prägnant erscheinen, weil ihr einstmaliger Kontext in der älteren Fassung nach der Herauslösung anderer Teile wegfiel. Sollte man dennoch der Vermutung, dass die Genealogien von Harald Schönhaar und Ari spätere Einschübe sind, zustimmen, so muss man trotzdem aus folgenden Gründen davon ausgehen, dass sie aus der älteren Version der Íb. stammen: Erstens liegt es nahe, dass ein mittelalterlicher Historiker sich in seinem Text namentlich (im isländischen Fall nicht ungewöhnlich im Rahmen einer Genealogie) verewigt, zweitens scheint es unwahrscheinlich, dass jemand anderes als Ari selbst ihm eine derart gewichtige Herkunft hätte zukommen lassen und drittens funktioniert Aris eigene Genealogie und deren implizierte Aussage nicht ohne die vorangestellte Ahnenreihe von König Harald Schönhaar, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Somit stammen diese Passagen mit großer Wahrscheinlichkeit von Ari selbst, weshalb im Folgenden auch eben davon ausgegangen wird. 263 Dieses Gedicht wurde nur im Rahmen von Snorris Einarbeitung in die Y.s. überliefert und wird entsprechend aus jener zitiert. 264 Den einzigen Hinweis, den das Ynglingatal auf eine Abkunft von Frey bzw. Yngvi-Frey gibt (vgl. Joan Turville-Petre. On Ynglingatal. In: Medieval Scandinavia, 11. Odense 1978-79. S. 48-67, S. 53 ff.), sind indirekte göttliche Bezeichnungen einzelner Figuren als Freys afspringr, Yngva þjóðar, Freys áttungr («Freys Nachkomme, von Yngvis Volk, Freys Verwandter»), wegen derer man vermutet, diese Namen hätten möglicherweise auch am Beginn des Gedichts gestanden (vgl. Walter Baetke. Yngvi und die Ynglinger. Eine quellenkritische Untersuchung über das nordische „ Sakralkönigtum “ . Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, 109,3. Berlin 1964, S. 90 sowie weiterführende Literatur in Anm. 1) oder Fj ǫ lnir sei eine andere Bezeichnung für Frey (vgl. Turville-Petre 1978-79, S. 53). 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 93 woraus nachträglich Óláfrs Auswanderungsziel bestimmt wird: Ok niðkvísl / í Nóregi / þróttar Þrós / of þróazk hafði (Ynglingatal, Str. 31, S. 82; «Und der Zweig / in Norwegen / des Odin- [oder Frey-] Geschlechts / war sehr gewachsen.»). 265 Unab- 265 Es wurde in der Forschung verschiedentlich vermutet, dass dieses und andere Gedichte keine Genealogien seien, sondern schlichtweg Königslisten, in denen zum Beispiel verschiedene, u.U. auch mehrere Generationen auseinanderliegende Herrscher genannt werden (vgl. Jón Jóhannesson 1956, S. 60), wofür mehrere Wendungen in Bezug auf Guðrøðr und Óláfr im Ynglingatal sprechen wie z.B. sás fyr l ǫ ngu vas (Ynglingatal, Str. 30, S. 80) oder réð Óláfr […] forðum (Ynglingatal, Str. 31, S. 82). Hierbei ist zu bedenken, dass auch erst Ari, wohl in Folge einer Missinterpretation abgeleitet von Yngvi, dem ‚ Geschlecht ‘ der Ynglingarkönige ihren Namen gab (vgl. Ættartala, S. 27), obwohl im Ynglingatal nur selten Hinweise auf verwandtschaftliche Beziehungen zu finden sind (u.a. weil keine Patronyme genannt werden): „ Yngvi here [d.i. in Skaldengedichten] denotes the head of a clan. The name is never used for historic persons. It belongs to an early stratum of heroic legend, where tribal leaders, eponyms and mythological figures are found in the same milieu. […] The status of Yngvi as a founder-figure derives in some way from common Germanic mythology. […] It could indicate ‘ member of the Inguaevonian war-band ’ , i.e. a confederacy of warriors celebrated in heroic tradition whose members were prized as ancestors of historic families. […] Icelandic genealogists produced a different interpretation of the phrase allvaldr Yngva þjóðar. For them, it implied that an Yngvi must be the ultimate ancestor of the Swedish royal family ” (Turville-Petre 1978-79, S. 54 f.). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der Skalde Þjóðólfr überhaupt eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Auswandererkönig Óláfr trételgja aus Uppsala und dem folgenden König Halfdan [hvítbeinn] sah, schließlich schreibt er am Ende von Strophe 26: Sá áttkonr / frá Upps ǫ lum / lofða kyns / fyr l ǫ ngu hvarf (Ynglingatal, Str. 26, Y.s. Kap. 43, S. 74, «Dieser Nachfahre / aus Uppsala / königlich Geborener / verschwand für lange Zeit.»), wobei man frá Upps ǫ lum auch mit «von Uppsala (weg)» übersetzen könnte: «Dieser Nachfahre / von Uppsala (weg) / der königlich Geborene / verschwand für lange Zeit.»). So oder so bedeutet das nicht zwingend, dass er sich überhaupt andernorts niederließ und dort Nachkommen hatte. Der einzige Hinweis auf eine verwandtschaftliche Abfolge folgt erst in Strophe 31 (Ynglingatal, Str. 31, S. 82) mit der Bezeichnung niðkvísl «der Zweig des Odin- [oder Frey-] Geschlechts» und impliziert gleichzeitig eine unklare Verbindung zu Odin. Möglicherweise war damit aber auch Frey gemeint (vgl. ÍF, Anm. 1, S. 82), was zwar dem ersten Teil des Gedichts entsprechen würde, aber eindeutig nicht aus dieser Strophe hervorgeht. Der Skalde hatte es wohl selbst mit verschiedenen Erinnerungsfragmenten mehrerer Genealogien zu tun und versuchte sie zusammenzuführen (vgl. Elias Wessén. Studier till Sveriges hedna mytologi och fornhistoria. Uppsala Universitets årsskrift 1924. Filosofi, språkvetenskap och historiska vetenskaper, 6, S. 63 f.). Es ist schwer festzustellen, ob er bereits die Idee einer chronologisch abfolgenden Genealogie hatte oder ob diese erst im Rahmen der hochmittelalterlichen Rekonstruktionen entstand (zumal die verwandtschaftlichen Beziehungen ausschließlich Snorris Prosatext der Y.s. entstammen). Einiges spricht dafür, dass an etlichen Stellen des Gedichts nicht allzuviel Wert auf die zweifellose Verwandtschaft der genannten Könige gelegt wurde, wohl aber darauf, sie (nicht zwingend durch Verwandtschaft, sondern möglicherweise auch über Eigenschaften, Zugehörigkeiten - wie die zu einer bestimmten sozialen Gruppe) miteinander in Verbindung zu setzen. Diese Ambitionen erscheinen vor allem daher sinnvoll, weil eine soziale Gruppe stets nach Identitätsfundierung strebt und im ausgehenden 9. Jahrhundert diese mit Sicherheit aufgrund verschiedener soziokultureller Prozesse auf dem Kontinent sowie der Wikingerexpansionen und dadurch entstehende kulturelle Kontakte aufkamen. Gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Ynglingatal auf einen König namens R ǫ gnvaldr ausgerichtet ist und die personale Identität im Zuge der Entwicklung der Königtümer (Ende des 9. Jahrhunderts. zur Zeit König Harald Schönhaars) in Skandinavien Bedeutung bekam. Das bezeugt dann auch das später, Ende des 10. Jahrhunderts., entstandene Gedicht Háleygjatal des Skalden Eyvindr Skáldaspillir, in dem die Herkunft des Jarl Hákon Sigurðarson und seiner Vorfahren, den Ladejarlen in Nidaros, Norwegen, von dem Gott Odin beschrieben wird. 4 Die altnordische Historiographie 94 hängig davon, ob nun diese Wanderidee bereits im Ynglingatal intendiert war oder nicht, eröffnet auf dessen Basis die eingeschobene Genealogie von König Harald Schönhaar im Prolog der Íb. den rekonstruierten historischen Hintergrund, vor dem die Besiedlung Islands platziert wird: der Wanderung einer Königsdynastie von Schweden nach Norwegen. Diese wird dann am Ende der Íb. in den Ættartala in Aris eigener Genealogie bis nach Island fortgeführt, indem er seine Vorfahren von Óláfr trételgjas Sohn Halfdan hvítbeinn ableitet. 266 Das bedeutet, dass allein die Königsgenealogie im Prolog und Aris eigene in den Ættartala als Monument historischer Ereignisse dienen. Seine eigene Genealogie knüpft Ari jedoch nicht nur an die (offenbar bekannte) Ynglingarabstammung des Ynglingatal an, sondern stellt ihr als erster Verfasser darüber hinaus Götter euhemerisiert als Könige voran: Þessi eru n ǫ fn langfeðga Ynglinga ok Breiðfirðinga: I. Yngvi Tyrkjakonungr. II. Nj ǫ rðr Svíakonungr. III. Freyr. [...] XXV. Halfdan hvítbeinn Upplendingakonungr. [...] XXXII. Óleifr feilan, es fyrstr byggði þeira á Íslandi. [...] XXXVI. [...] en ek heitik Ari. (Ættartala, S. 27 f.) Dies sind die Namen von den Nachkommen aus dem Geschlecht der Ynglingar und der Leute aus dem Breiðafjord: I. Yngvi, der Türkenkönig. II. Njörd, König der Schweden. III. Frey. [...] XXV. Halfdan hvítbeinn, König über die Upplönd. [...] XXXII. Óleifr feilan, der als erster von ihnen auf Island wohnte. [...] XXXVI. [...] und ich werde Ari genannt. 267 266 Die Idee einer Wanderung wurde bereits durch Andreas Heusler und Walter Baetke ansatzweise untersucht (vgl. Heusler 1908, bes. S. 37 ff. sowie Baetke 1964, bes. S. 98 ff.), allerdings lediglich im Hinblick auf ihren gelehrten Hintergrund, woraus dann bei Heusler phantasiereiche Konstruktionen wurden, die Baetke zu fast schon dogmatischen Ungetümen wie „ euhemeristische Klitterungen “ weiterentwickelte: „ der Phantasie der Dichter und Mythologen waren im Grunde keine Grenzen gesetzt. “ (Baetke 1964, S. 102). Doch eben jene Grenzen setzen das kulturelle Gedächtnis bzw. Erinnerungsträger. 267 Problematisch im Hinblick auf das Ynglingatal ist, dass der Text seine Genealogie offiziell mit einer Figur namens Fj ǫ lnir beginnt und keine Rede von der später von Snorri in der Ynglinga saga beschriebenen Ahnenfolge der Götter Odin, Njörd und Frey ist. Von Frey sollen laut Snorri (wegen des Namens Yngvi-Frey) wiederum die Ynglingar abstammen. Es ist jedoch aufgund eben jener fehlender Namen im Ynglingatal Ari zuzuschreiben, als erster (wenn auch inspiriert durch das Ynglingatal) in einem literarischen Text eine Ahnenreihe genutzt zu haben, die explizit auf Figuren mit mythologischen Namen (also Göttern) zurückgeht. Allerdings werden diese im gleichen Zug offenbar euhemerisiert, indem sie als konungr («König») bezeichnet werden. Irritierend ist jedoch, dass lediglich die ersten beiden Götter (nämlich Yngvi und Njörd) konkret als Könige bezeichnet werden, wohingegen Frey an dritter Stelle keine solche Bezeichnung erhält. Das erscheint recht uneinheitlich, zumal Frey sicherlich ebenfalls einer Euhemerisierung unterzogen werden hätte müssen, um ihn eindeutig nicht als göttliche Figur darzustellen. Diese Tatsache fand in den bisherigen einschlägigen Abhandlungen wie denen von Heusler 1908, Baetke 1964 oder Claus Krag (Ynglingatal og Ynglingasaga. En studie i historiske kilder. Studia Humaniora, 2. Oslo 1991) keine Beachtung. Es scheint nur zwei mögliche Beweggründe hierfür zu geben: entweder hätte Ari damit dem Ynglingatal seinen Quellenwert und der Ynglingardynastie ihren repräsentativen Ahn entzogen, womit ein Rückgriff unmöglich geworden wäre, oder er transportiert mit seinem Text eine möglicherweise ältere Vorstellung: nicht nur in vorchristlichen Texten, sondern noch in der H.N. trifft man die Darstellung Yngvis als sterblichen König an, dessen Nachfahren 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 95 Hinter dieser Abstammung versteckt sich offenbar die Idee einer großräumigeren Ost-West-Wanderung, die über die Quelle Ynglingatal hinaus auf einen trojanischen Ursprung zurückgeführt wird: beginnend mit dem Stammvater Yngvi im türkischen Gebiet (Yngvi Tyrkjakonungr, S. 27) setzt die Wanderbewegung ein, geht über Schweden (Njörd, König der Schweden) und Norwegen (Halfdan hvítbeinn, König über die norwegischen Upplönd) hinweg zu dem Landnehmer Óleifr feilan in Island und endet schlussendlich bei Ari selbst und damit der Verfassergegenwart. 268 Daraus lässt sich ableiten, dass Ari aus dem Ynglingatal heraus als erster Skandinavier die Vorlage für eine historische Wanderung rekonstruierte und sie über seine Quelle hinaus mittels einer gelehrten Vorstellung, der des trojanischen Ursprungs, in eine weitaus umfassendere Wanderbewegung einschloss, um seine eigene Ahnenlinie dann bis nach Island fortzuführen. Damit aktualisiert Ari den Stellenwert des Ynglingatals für seine Zeit (sicher auch aus seiner persönlichen Ambition heraus) als historische Quelle, indem er sie als kompatibel mit den ihm bekannten gelehrten Konzepten mittelalterlicher Geschichtsschreibung darstellt. 269 Njörd und Frey göttlicher Abstammung seien: Hos ambos tota illorum posteritas per longa saecula ut deos venerati sunt (H.N., Kap. IX, S. 74). Es schien also offenbar nicht zwingend ein Widerspruch darin zu liegen, dass eine Figur göttlicher Herkunft war und doch gleichzeitig von einem Sterblichen abstammte. Möglicherweise zeigt sich hierin ein Relikt aus einer Zeit, in der die Sphären verschiedener Wesen noch nicht getrennt waren, wie auch Turville-Petre für den Hintergrund des Ynglingatal konstatierte (s.o.: „ It [i.e Ynglingatal; LW] belongs to an early stratum of heroic legend, where tribal leaders, eponyms and mythological figures are found in the same milieu. “ ). Legt man dieses vorchristliche Verständnis zugrunde, dürfte es auch den christlichen Autoren deutlich leichter gefallen sein, euhemerisierte Könige einer Genealogie voranzustellen, deren Abkömmlinge eindeutig göttlicher Herkunft waren. Weitergehend stellt sich dann auch die Frage, ob man hier tatsächlich von einer Euhemerisierung (im gelehrten Sinne; vgl. Weber 1994) Yngvis und Njörds ausgehen muss oder ob dieser Darstellung nicht die Vorstellung einer ineinander übergehenden Götter- und Menschenwelt zugrunde liegt, die erst gar keine Widersprüche zwischen göttlicher und menschlich-heroischer Herkunft aufwirft (s. generell dazu den erhellenden kritischen Beitrag von Jens Peter-Schjødt. Freyr and Fróði and Some Reflections on Euhemerism. In: Analecta septentrionalia: Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. Gewidmet Kurt Schier zu seinem 80. Geburtstag. Hrsg. v. Wilhelm Heizmann. RGA Ergbd., 65. 2009. S. 567-579). 268 Die Grundlage für eine solche Assoziation werden wahrscheinlich kontinentale fränkische Quellen gewesen sein, welche die Trojasage rezipierten bzw. eine euhemerisierte Darstellung von Götterfiguren implizierten (vgl. Heusler 1908, S. 37-43; Rudolf Simek. Der lange Weg von Troja nach Grönland. Zu den Quellen der gelehrten Urgeschichte in Island. In: Germanisches Altertum und christliches Mittelalter. Festschrift für Heinz Klingenberg zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Bela Brogyanyi. Schriften zur Mediävistik, 1. Hamburg 2002. S. 315-327, S. 320 ff.; einen kurzen, aber hilfreichen Überblick über die umfangreichen Forschungspositionen zu diesem Thema hat Heinrich Beck zusammengestellt (s. Heinrich Beck 1994b. Yngvi Tyrkja Konungr. In: Sagnaþing helgað Jónasi Kristjánssyni sjötugum 10. apríl 1994. Fyrri hluti. Reykjavík 1994. S. 55-68). Dieser Wandertheorie begegnet man erst wieder in deutlich späteren Texten des frühen 13. Jahrhunderts. wie der Ynglinga saga und in der Hauksbók im Þáttr af Upplendingakonungum. 269 Die Verbindung zwischen Skandinavien und Troja war bereits vor Ari in der festlandeuropäischen Historiographie bekannt, so z.B. in der Historia Brittonum um 820 oder bei Dudo von Saint- Quentin in seinem Text De moribus et actis primorum Normanniae ducum, Anfang des 11. Jahrhunderts. 4 Die altnordische Historiographie 96 Auffällig ist, dass in Harald Schönhaars Genealogie im Prolog (sowie in Analogie dazu in Aris eigener Genealogie) an den Stellen, wo sie sich eigentlich inhaltlich am Ynglingatal orientiert, Widersprüche zu jenem sowie zur späteren Y.s. auftreten: zum einen wird König Halfdan hvítbeinn als Upplendingakonungr bezeichnet, obwohl er laut der Strophe 27 des Ynglingatals keine konkrete Verbindung zu den norwegischen Opplönd hatte (S. 76). 270 Zum anderen trägt König Goðrøðr einen in keinem älteren Text vorkommenden Beinamen (nämlich veiðikonungr «Jagdkönig»), der auf ein Herrschaftsgebiet im mittleren Norwegen deutet. 271 Es liegt nahe, dass beide Varianten, die des Upplendingakonungr sowie Goðrøðrs Beiname, Ari zugunsten eines Ortswechsels zuzuschreiben sind, da er offenbar bewusst den norwegischen Teil der Ynglingarfamilie nach Óláfr trételgja in den norwegischen Opplönd statt im südöstlich gelegenen Vestfold platzieren wollte. 272 Diese Landschaft in Mittelnorwegen passt deutlich besser zu Aris Wanderidee über Norwegen hinweg Richtung dem westlich gelegenen Island als eine Verortung der Ynglingardynastie im südöstlich gelegenen Vestfold. Auf der Grundlage dieser Konstruktion lässt sich vermuten, dass sich für Ari die isländische Landnahme gemäß dieser linearen Geschichtsanbindung im Kontext der Ost-West-Wanderungsbewegung unweigerlich ergeben musste, was erklären würde, weshalb er auch keine weitere Begründung für die Landnahme für notwendig hielt. Interessant und kaum erklärbar ist hingegen die Rolle von Aris Familie innerhalb dieser Wanderungsidee, die sich in seiner eigenen Genealogie manifestiert: zuerst einmal sorgt er basierend auf der bereits konstruierten Genealogie Harald Schön- 270 Aris Darstellung versucht dann später Snorri zu rechtfertigen, indem er zwischen der Ynglingatal- Strophe und Aris Darstellung eine Verbindung herstellt, die nicht sehr überzeugend wirkt: Halfdan habe Ása, die Tochter des Königs Eysteinn aus Opplönd geheiratet und sei daher mit diesem Gebiet verbunden, herrschte, lebte und starb jedoch in Vestfold (vgl. Y.s. Kap. 43, S. 75 f). 271 Vgl. Joan Turville-Petre. The Genealogist and History. In: Saga-Book of the Viking Society, XX. London 1978-81. S. 7-23, S. 19. Joan Turville-Petre stellt heraus, dass erst Snorri sich dieser beider Beinamentraditionen bewusst geworden sei, weil dieser die beiden (semantisch nicht kompatiblen Beinamen inn g ǫ fugláti «der Vornehme» und veiðikonungr «Jagdkönig») in der Y.s. als Varianten aufführt. Ari scheint die Variante des Jagdkönigs (wenigstens in der Literatur) begründet zu haben, da (bis auf zwei) auf Ari folgende Texte mit einer genealogischen Verbindung zwischen Goðrøðr und Harald Schönhaar mit Aris Darstellung einhergehen (vgl. Turville-Petre 1978-81, S. 19). 272 Berechtigterweise ist einzuwenden, dass eine historische Entwicklung dieser Königsfamilie sich derart eher nicht ereignet haben wird und bereits das Ynglingatal Familien miteinander verknüpfte, die tatsächlich in der Form nicht verwandt waren (vgl. Wessén 1924, S. 63). Durch die fatale Vermischung von literarischer Konstruktion und historischer Faktizität folgert Turville-Petre jedoch folgenschwer, dass Aris Verweis auf den Familiensitz in den Opplönd deshalb zustande kam, weil ihm die historischen Geschehnisse sowie die entsprechend arbiträre Familienverbindung im Ynglingatal (einer etwa zweihundert Jahre zuvor entstandenen Quelle) bewusst gewesen sei und er diese Zusammenführung zugunsten anderer Ziele akzeptierte (vgl. Turville-Petre 1978-81, S. 8). Wahrscheinlicher aber ist es, dass die Könige zu der Zeit noch gar nicht mit den norwegischen Opplönd verbunden waren (worauf auch fehlende Hinweise im Ynglingatal hindeuten), sondern sich ihr Einflussgebiet, wie das Ynglingatal und auch Snorri festhalten, vielmehr im südwestlich gelegenen Vestfold befand. Die Opplönd-Idee beruht wohl einzig und allein auf der Basis frühester isländischer historiographischer Texte, an deren Anfang Aris Darstellung steht. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 97 haars im Prolog dafür, dass die späteren norwegischen Könige allesamt von jenem abstammen (in Kap. 7, S. 14 stellt er Olaf Tryggvason als den Urenkel von Harald Schönhaar vor und wendet sich damit gegen die ihm bekannte Ahnenfolge, gemäß derer Olaf Tryggvasons Großvater Tryggvi Haralds Sohn gewesen sei statt dessen Onkel) - eine Genealogie, die erst einige spätere Quellen teilen und die mit hoher Wahrscheinlichkeit als Aris Konstruktion zu bewerten ist. 273 An diese somit kohärente königliche Abstammungslinie reiht er dann in den Ættartala seine eigene Familie an, indem er Hálfdan hvítbeinn einen Sohn namens Goðrøðr zur Seite stellt, von dem wiederum Aris Ahnenreihe abzweigt: XXV. Halfdan hvítbeinn Upplendingakonungr. XXVI. Goðrøðr. XXVII. Óláfr. XXVIII. Helgi. XXIX. Ingjaldr, dóttursonr Sigurðar Ragnarsonar loðbrókar. XXX. Óleifr enn hvíti. XXXI. Þorsteinn enn rauði. XXXII. Óleifr feilan, es fyrstr byggði þeira á Íslandi. [...] XXXVI. [...] en ek heitik Ari. (Ættartala, S. 27 f.) XXV. Halfdan hvítbeinn, König über die Upplönd. XXVI. Goðrøðr. XXVII. Óláfr. XXVIII. Helgi. XXIX. Ingjaldr, der Enkel von Sigurðr, dem Sohn von Ragnarr loðbrók. XXX. Óleifr enn hvíti. XXI. Þorsteinn enn rauði. XXXII. Óleifr feilan, der als erster von ihnen auf Island wohnte. [...] XXXVI. [...] und ich werde Ari genannt. Die Herkunft dieses Goðrøðr ist ungewiss und es liegt nahe, dass Ari bei dieser Figur den besagten, einige Generationen später genannten, Goðrøðr veiðikonungr (bzw. inn g ǫ fugláti gemäß dem Ynglingatal und der Y.s.), den Großvater König R ǫ gnvaldrs 273 Diese Beobachtung wurde bislang nicht ausreichend in den Diskussionen um die Genealogien in der Íb. berücksichtigt (so z.B. bei Turville-Petre 1978-81, S. 21). Ganz ähnlich überliefert auch das spätere Nóregs konunga tal (um 1190 entstanden und ganz im Zeichen von Sæmundrs Genealogie der Oddaverjar stehend), dass die ersten zehn Norwegerkönige alle Nachfahren von Harald Schönhaar gewesen seien und stützt sich dabei auf Sæmundr als Quelle für die beschriebenen ævi «Lebensdaten/ Lebensberichte»: Nu hefir ek talt / tiu landreka / þa er huerr var / fra Haralldi / / inta ek sua / ædui þeirra / sem Sæmundr / sagdi hinn frodi (Nóregs konunga tal, In: Flateyjarbok. En samling af norske kongesagaer med inskudte mindre fortællinger om begivenheder i og udenfor Norge samt Annaler. Udg. e. offentlig foranstaltning, II. Christiania 1862. S. 533-701, Str. 40, S. 524; «Nun habe ich aufgezählt / zehn Herrscher / von denen jeder / von Harald abstammte / / ich fügte so / ihre Lebensdaten ein / wie es Sæmundr / der Gelehrte berichtete.»). Aus der Strophe geht jedoch nicht eindeutig hervor, dass schon Sæmundr die Abstammung dieser Herrscher von Harald Schönhaar behauptete. Die zweite Halbstrophe lässt sich durchaus als inhaltlich unabhängiger Teil betrachten, wodurch der Verweis auf Sæmundr sich auf die Lebensdaten der Herrscher beschränkt. Doch davon unabhängig drängt sich die Frage auf, warum Ari (im Gegensatz zu Sæmundr, der seine Familie dem norwegischen Königshaus ja anscheinend angliedern wollte) trotz des offenbar distanzierenden Versuchs gegenüber Norwegen in der Íb. gleichzeitig den Norwegerkönigen zu einer herrschaftslegitimierenden Genealogie verhalf. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass dies in erster Linie der Sicherung der Existenz der isländischen Oberschicht (evtl. sogar gerade der Kirchenvertreter, d.h. eben Aris Umfeld) diente, die hinsichtlich wenigstens gewisser politischer Anerkennung, wirtschaftlicher Interessen sowie internationaler (vorrangig kirchenpolitischer) Belange von Norwegen und dessen Königsherrschaft trotz der Herausbildung eigener insularer Strukturen abhängig war. Ein über einzelne Personen hinausgehendes Bedürfnis ist vor allem deshalb zu vermuten, da viele der hochmittelalterlichen Texte diese Abstammung verzeichnen, so z.B. die Óláfs saga Tryggvasonar (kurz ÓlO) des Mönchs Oddr Snorrason (entstanden auf Latein kurz nach 1200 und kurz danach übersetzt, vgl. Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk. ÍF XXV. Ólafur Halldórsson gaf út. Reykjavík 2006, Kap. 1, S. 127) uvm. 4 Die altnordische Historiographie 98 und Urgroßvater Olaf Tryggvasons, als Beispiel vor Augen hatte. 274 Von Halfdans Sohn Goðrøðr berichtet zwar auch Snorri in der Y.s., doch scheint jener seine Informationen einzig aus der Íb. bezogen zu haben, da er keine über dessen Namen hinausgehenden Details über Goðrøðr mitzuteilen weiß: Þau Hálfdan áttu tvá sonu, Eystein ok Guðrøð (Y.s. Kap. 44, S. 75, «Ása und Hálfdan hatten zwei Söhne, Eysteinn und Guðrøðr.»). 275 Die Figur Goðrøðr als Stammvater von Aris Familie bewirkt, dass jene nicht etwa ein ‚ Ableger ‘ der Königsgenealogie ist, sondern sie (im Hinblick auf Harald Schönhaars Abstammung) eine in einer vollwertigen Parallelentwicklung entstandene Familie darstellt. Damit behauptet Ari, er stamme genau wie das norwegische Herrschergeschlecht direkt - in einer quasi gleichwertigen Parallelentwicklung - von den Ynglingarkönigen ab. Wie das obige Zitat zeigt, beansprucht Ari demnach dieselbe Abstammung, die auch Harald Schönhaar aufweisen kann (vgl. Prolog, S. 3). 276 Damit geht nicht nur eine Identifikation mit einer mächtigen Abstammungslinie, sondern auch eine gleichzeitige Abgrenzung gegenüber den sich aus dieser Linie ebenfalls später entwickelnden Norwegerkönigen einher. Norwegen wird also nicht als ‚ klassisches ‘ Mutterland dargestellt, denn wenn sowohl die norwegischen Könige als auch seine Familie von dem bereits in Schweden etablierten und nach Norwegen gewanderten Königsgeschlecht abstammen, stehen beide hinsichtlich ihrer Herkunft auf einer Stufe. 277 Mithilfe der bis Island fortgeführten Wanderung kann repräsentativ für alle Isländer sowohl eine Einordnung in einen überregionalen - historischen - Kontext erfolgen als auch eine Identifikation mit dem Heimatland Norwegen, ohne dass daraus eine Verpflichtung abgeleitet hätte werden konnte. Aris eigene Genealogie am Ende der Íb. zeigt, dass es offenbar ein aktuelles Bedürfnis für ihn war, seine isländische Identität nicht nur an die bekannten Herleitungen anderer Familien wie beispielsweise an die im Ynglingatal belegte Herkunft der Ynglingarkönige anzuknüpfen, sondern eine auch darüber hinausgehende Herkunft zu konstruieren. Deshalb griff Ari als einer der ersten Verfasser nicht nur 274 Zu dieser Überlegung und dem Hintergrund dieser Konstruktion s. Aris Genealogie der norwegischen Könige und seine eigene, S. 256. Jón Jóhannesson macht in seinem Aufsatz Ólafur konungur Goðröðarson darauf aufmerksam, dass die mittelalterlichen Verfasser in Genealogien häufig Namen in Analogie zu anderen Genealogien oder Personenpaaren rekonstruierten, wie es auch hier vorstellbar wäre (vgl. Jón Jóhannesson. Ólafur konungur Goðröðarson. Skírnir, CXXX. Reykjavík 1956. S. 51-63, bes. S. 61 ff.). 275 Aris Abstammung findet man in gleicher Weise auch in den S- und H-Versionen der Lb. (S 95/ H 82, S. 136) sowie im Þáttr af Upplendingakonungum, dort allerdings ohne die Nennung von Óláfr, Goðrøðrs Sohn (vgl. Turville-Petre 1978-79, S. 49 Anm. 8), was für den bedarfsgerechten Rekonstruktionscharakter dieses Abschnitts der Genealogie spricht. Es scheint, als ob die Texte, die noch im 12. Jahrhundert entstanden, sich sehr auf Ari als Quelle stützten, während ab dem 13. Jahrhundert Snorris Darstellung nicht nur erst existent, sondern offenbar auch populärer wurde. 276 Richard North stellt zudem heraus, dass Ari in dieser Genealogie durch den Umweg über eine Verwandtschaft mit dem sagenhaften Dänenkönigssohn und Wikinger Ragnarr loðbrók auch Verbindungen zu dessen Familie der Skj ǫ ldungar und damit auch zum dänischen Königshaus herzustellen versuchte (vgl. North 2013, S. 209). 277 Vgl. North 2013, S. 188 f. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 99 auf genealogische Verbindungen zu einflussreichen Familien zurück, wie es noch Sæmundr wahrscheinlich wenige Jahrzehnte vor ihm durch eine Anbindung seiner Familie (der Oddaverjar) an die Ahnenreihe der Norwegenbzw. Dänenkönige (Familie der Skj ǫ ldungar) tat, 278 sondern rekonstruierte neben seiner Anknüpfung an das Herrschergeschlecht der schwedischen Ynglingar zusätzlich eine trojanische Herkunft von dem Türkenkönig Yngvi, allerdings ohne dabei eine mögliche christliche Anbindung (obwohl sie ihm durchaus aus den fränkischen Quellen bekannt war) anzuführen, wie es dann erst deutlich später die um 1300 entstandene Hauksbók tut. Diese Bestrebungen sowie die Verbindung mit Troja deuten auf Aris zweifellosen Wunsch hin, seine eigene Abstammung zu internationalisieren. Welche persönlichen Ansprüche er daraus abgeleitet sah und ob diese Darstellung über Aris Bedürfnis hinaus auch kollektive Relevanz hatte, bleibt hingegen unklar. 279 Im Text der Íb., der sich auf die gesamte isländische Gesellschaft beziehen soll, wird jedoch deutlich, dass die Väter der zu Beginn genannten Landnehmer keine genealogische Verbindung zu den späteren Norwegerkönigen aufweisen und sämtliche genealogische Verbindungen zwischen Isländern und dem norwegischen Königshaus ausgeblendet werden (s. wie zuvor als Beispiel genannt Bischof Gizurr), wodurch offensichtlich eine bewusste Abgrenzung bewirkt werden soll. Ob Aris Genealogie als repräsentativ für Herkunftsbemühungen anderer isländischer Familien oder einzel- 278 Vgl. Bjarni Guðnason. Um Skjöldungasögu. Reykjavík 1963. S. 152-163, Einar Ólafur Sveinsson. Sagnaritun Oddaverja: nokkrar athuganir. Reykjavík 1937, S. 11-16 sowie Stefán Karlsson. Fróðleiksgreinar frá tólftu öld. In: Sjötíu ritgerðir. Helgaðar Jakobi Benediktssyni 20. júlí 1977, 1. Ed. by Einar G. Pétursson, Jónas Kristjánsson. Reykjavík 1977. S. 328-349, S. 347. 279 Richard North geht so weit, Ari als Rivalen des Gelehrten Sæmundr zu betrachten, und meint, Ari habe ihn in seinem Ansehen mit dieser umfassenderen Ahnenreihe übertrumpfen wollen (vgl. North 2013, S. 209). Ob solche möglichen Rivalitätsgedanken innerhalb der isländischen Gesellschaft der Zeit generell aufkamen, kann, wenn überhaupt, nur vermutet werden. Fest steht jedoch, dass Sæmundr in irgendeiner Form ebenfalls über die Landnahme Islands schrieb, weil die S- Version der Lb. am Ende eines ihrer ersten Berichte wie folgt auf Sæmundr rekurriert: Svá sagði Sæmundr prestr enn fróði (S 3, S. 34; «So berichtete es Sæmundr der Gelehrte.»). In dem Abschnitt, auf den sich dieser Beleg zu beziehen scheint, wird beschrieben, dass Island von einem gewissen Naddoddr und seinen Leuten gefunden wurde, als dieser von einer Fahrt aus Norwegen zu den Färöern westlich ins Meer abgetrieben wurde. Ihre erste Landbegehung wird relativ ausführlich beschrieben genau wie ihre Rückfahrt zu den Färöerinseln. Es lässt sich also daraus schließen, dass Sæmundr offenbar viel detailreicher über die Landnahme zu berichten wusste, als Ari es in der Íb. tut. Dass Sæmundr bereits zu Aris Lebzeiten eine große Rolle innerhalb gelehrter Kreise spielte, machen auch zwei Bemerkungen in der Íb. deutlich: Einmal wird er neben den Auftraggebern als Redakteur seiner ersten Fassung im Prolog angeführt und ein weiteres Mal bricht Ari mit seinem Chronologiekonzept, um im Rahmen seiner Aufzählung der amtsinhabenden Gesetzessprecher in Kap. 9 schon fast biographisch anmutend zu vermerken: Á þeim d ǫ gum kom Sæmundr Sigfússonr sunnan af Frakklandi hingat til lands ok lét síðan vígjask til prests (Kap. 9, S. 20 f.; «In dieser Zeit kam Sæmundr Sigfússonr von Süden aus Frakkland hierher zurück ins Land und ließ sich zum Priester weihen.»). Doch an keiner Stelle nutzt Ari Sæmundr als Quelle für seine Ausführungen, obwohl es allein aufgrund ihrer Lebenszeiten sehr wahrscheinlich ist, dass dieser vor Ari über die Landnahme schrieb. Hieraus entsteht mindestens der Verdacht, dass es möglicherweise unterschiedliche Darstellungen der Landnahme Islands am Anfang des 12. Jahrhunderts gegeben hat und dass diese möglicherweise in sozialen Gruppierungen innerhalb der Oberschicht entstanden, die sich voneinander abgrenzen wollten. 4 Die altnordische Historiographie 100 ner Personen gelten kann, ist aufgrund fehlender Referenztexte aus dieser Zeit nicht mit Sicherheit zu beantworten. 280 Jedenfalls mag sie auch für andere mit dem Wunsch nach Abgrenzung einen möglichen Lösungsansatz für das Problem einer unabängigen und legitimen Herkunft geboten haben, weshalb Aris erstmalig belegte Anknüpfung an die im Ynglingatal präsentierte Ynglingardynastie sowie die trojanische Herkunft im Kontext einer Ost-West-Wanderung auch in der später folgenden Literatur (vor allem der Hkr.) eine immense Rolle spielen wird. Da auch der Gelehrte Sæmundr aller Wahrscheinlichkeit nach seinerzeit versuchte, seine Familie mit denen des norwegischen bzw. dänischen Königshauses zu verbinden, lässt sich wenigstens ein aufkommendes Bestreben der isländischen Aristokraten ab der Mitte des 11. Jahrhunderts vermuten, ihre eigene Familie mittels genealogischer Verbindungen oder Abgrenzungen zu anderen Königshäusern zu überhöhen bzw. sich dadurch politisch zu positionieren. Hervorzuheben ist auch, dass die Genealogien in der Íb. bedeutend mehr Vergangenheit und Ideen des frühen 12. Jahrhunderts im Hinblick auf historische Ereignisse transportieren als bisher in der Forschung berücksichtigt wurde. Offenbar hatten einheimische Zeugnisse der Vergangenheit für Ari einen nicht zu unterschätzenden Wert bei der Rekonstruktion der Vergangenheit und ließen sich überdies - unabhängig davon, ob man von euhemerisierter Darstellung oder grundsätzlich fehlender Differenzierung zwischen göttlichen und nicht-göttlichen Wesen ausgeht - mit gelehrten Vorstellungen wie dem Euhemerismus, einer trojanischen Herkunft usw. vereinbaren und dadurch in ihrem historischen Quellenwert sichern. Gleichermaßen funktionierten sie auch auf der Ebene eines Textes, auch wenn sie mit augenscheinlich wenig Information gefüllt waren. Aus der Perspektive des beginnenden 12. Jahrhunderts mussten diese Genealogien verstanden werden, um Aris ‹lineare Geschichtskonstruktion› verstehen zu können. Daher lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass Genealogien als Grundgerüst der Historiographie nicht nur der Chronologie dienten, um mündliche Zeugnisse datieren zu können oder um mächtigen Familien einen entsprechenden Stammbaum zu verschaffen - sie dienten auch als Zeugnisse vergangener Ereignisse. 280 So behaupten z.B. Birgit und Peter Sawyer: „ The interest in Norwegian kings shown by Sæmund may have been dampened by pride in „ the new Iceland “, but it was reawakened shortly before 1200. One sign of this is Nóregs konunga tal, which was composed in about 1190 in honor of Jón Loptsson following the recognition that his mother was an illegitimate daughter of Magnus Bareleg. Other Icelanders similarly traced their ancestry back to Norwegian kings, which was one reason so much intention was paid to them in Iceland. “ (Sawyer/ Sawyer 1993, S. 219). Dabei vernachlässigen sie jedoch die Tatsache, dass Ari offensichtlich sehr wohl Interesse an Königsviten hatte, die immerhin Teil seiner ersten Íb.-Fassung waren. Laut Snorris Prolog in der Hkr. schrieb Ari Königsviten nicht nur über die norwegischen, sondern auch über die dänischen und die englischen Herrscher. Das spricht für eine andere Perspektive und möglicherweise auch eine andere Darstellung als Sæmundrs norwegenzentrierter. Das Interesse an den norwegischen Königen ist demnach nicht der Unterschied zwischen Sæmundrs und Aris Texten, sondern vielmehr die Abgrenzung, die in der Íb. mittels genealogischem Schnitt und weiteren Motiven vollzogen wird. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 101 4.2.1.1.2 Innerisländische Fundierung statt außerisländischer Legitimierung Der ‹linearen Geschichtskonstruktion› folgen allerdings nicht nur die Genealogien. Ihr dient auch die geographische Strukturierung der Insel, beginnend bei der wiederum ost-west-orientierten Landnahme: Ari sortiert die vier bereits genannten Landnehmer im Uhrzeigersinn um die Insel herum, beginnend mit Hrollaugr, der im Osten (wobei hier eher der Südosten gemeint ist 281 ) siedelt, von ihm stammt die Familie der Síðumenn ab. Ketilbj ǫ rn Ketilssonr siedelt im Süden, von ihm stammen die Mosfellingar (spätere Haukdælir) ab. Auðr siedelte im Westen, von ihr stammen die Breiðfirðingar ab. Und Helgi enn magri siedelte im Norden, von ihm stammen die Eyfirðingar ab. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als begründe sich Aris Auswahl darin, je einen Siedler pro Himmelsrichtung anzuführen, verknüpft mit einer durch jenen begründeten mächtigen Familie. Bei näherer Betrachtung, unter Einbeziehung der Unstimmigkeit des Südostens statt Ostens im Falle Hrollaugrs, wird deutlich, dass Ari dieser Konstruktion nicht die Himmelsrichtungen, sondern die sich erst später herausbildenden isländischen Landesviertel zugrunde legt. 282 Das Ostviertel schließt nämlich noch einen weiten Teil des Südens der Insel mit ein und deckt somit Hrollaugrs Siedlungsgebiet gänzlich ab. Die Auswahl der vier Siedler unterliegt daher offensichtlich einer bewussten Selektion, gestützt durch die Tatsache, dass gemäß der Lb. die Anzahl der Siedler, die als bedeutend galten oder große Gebiete für sich in Anspruch nahmen, deutlich mehr gewesen sein sollen. Zwar muss man davon ausgehen, dass Fundierungs- und Legitimierungsversuche einzelner Familien mindestens in der mündlichen Überlieferung bereits existierten, doch scheint Ari der erste zu sein, der unter dem Aspekt des Rückgriffs über die Christianisierung hinweg mittels Selektion - d.h. durch bewusste Ausgrenzung von Erinnerungen - jene vier Landnehmer als Repräsentanten der gesellschaftlichen Anfänge anführt. Der Grund für Aris Auswahl wird am Ende des Textes in den Ættartala deutlich, als er auf diese Genealogien zurückgreift und dieselben Landnehmer als Vorfahren der isländischen Bischöfe anführt, chronologisch nach ihrem jeweiligen Amtsantritt sortiert (vgl. Kap. 10, S. 26 f.): So beginnt Ari mit Ketilbj ǫ rn Ketilssonr im Süden, von dem der erste Bischof Ísleifr und letztlich auch Bischof Gizurr Ísleifsson abstammen (vgl. Kap. 9 und 10). Von Hrollaugr im Osten stammt 281 Vgl. Karte Suðaustrland ÍF I, S. 543. 282 Vgl. Karte in Klaus Böldl. Die Welt der Sagas. Island und der Norden im Früh- und Hochmittelalter. In: Isländersagas. Texte und Kontexte. Hrsg. v. Klaus Böldl, Andreas Vollmer und Julia Zernack. Frankfurt am Main 2011. S. 73-125, S. 105. Interessanterweise finden sich nicht nur an dieser Stelle konkrete Verbindungen zwischen Vormachtstellungen und bestimmten Gebieten, sondern auch die von Ari aufgeführten Gesetzessprecher bis zur Christianisierung werden mit ihren jeweiligen Siedlungsorten genannt. Nach der Christianisierung bleiben diese aus und nur noch Name und Patronym - und damit die genealogische Verbindung - bleibt (vgl. Gísli Sigurðsson 1994, S. 214). Es handelt sich bei diesen Wohnortangaben wohl weniger um eine, von Gísli Sigurðsson behauptete, intendierte Desorganisation, um die familiären Verbindungen stärker zu manifestieren, sondern genau umgekehrt um eine für Aris Gegenwart notwendig gewordene Rekonstruktion ortsgebundener Macht in heidnischer Zeit, da ‹Mnemotope› in Form von geographischen Verbindungen für die Legitimation der Kirchenstuktur bedeutender geworden waren als genealogische Verbindungen. 4 Die altnordische Historiographie 102 der erste Bischof in Hólar ab, Jóan Ǫ gmundarson. Von Auðr im Westen stammt Bischof Þorlákr ab, der im Prolog als einer der beiden Auftraggeber genannt wird, und von Helgi enn magri im Norden stammt der zweite Auftraggeber der Íb., Bischof Ketill in Hólar, ab. 283 Mithilfe dieses Rückgriffs innerhalb des Textes fundiert Ari einerseits die in seiner Zeit bestehenden Machtverhältnisse in den um 965 geteilten Landesvierteln, die er mit den genannten Landnehmern bis auf die Landnahmezeit zurückführt. Und andererseits verbindet er sie unauflösbar mit der kirchlichen Macht seiner Zeit, indem er eben diese mächtigen Landnehmer später in den Ættartala als Vorfahren der Bischofsgeschlechter anführt und damit eine innerisländische Fundierung anstrebt statt einer Legitimation durch außerisländische Strukturen aus der Zeit vor der Besiedlung. 284 Somit fundiert Ari weltliche und 283 Die Auswahl der Landnehmer begründet sich jedoch nicht nur durch die Textlogik, sondern offenbar auch durch Aris persönlichen Hintergrund: Die Haukdœlir sind insofern relevant, als sein Ziehvater Hallr diesem Geschlecht angehörte, die Breiðfirðingar sind Aris Vorfahren väterlicherseits und eines der wichtigsten Geschlechter im Westen Islands bis hin in das 13./ 14. Jahrhundert. (vgl. Laxdæla saga und Eyrbyggja saga als wichtigste Quellen). Die Eyfirðingar lassen sich nicht näher identifizieren. Es wäre aber möglich, da die Nordisländer insgesamt im Text mit großer Distanz beschrieben werden, dass die Verwandtschaft mit den Eyfirðingar als Abgrenzung angeführt wird. Von den letztgenannten Síðumenn stammen Aris Vorfahren mütterlicherseits ab (vgl. die Familienverhältnisse im Anhang, S. 257: Aris Machtfundierung). 284 Aufgrund der kontextlosen Auflistung zu Beginn von Kapitel 2 wurde wie bei der Genealogie Harald Schönhaars im Prolog angenommen, dass es sich um einen in späterer Bearbeitungszeit vorangestellten Auszug der am Ende angeführten Genealogien handle (vgl. Jakob Benediktsson 1986, S. XV). Man stellte bisher nur die verschiedenen Reihenfolgen, in denen die Landnehmer genannt werden, als Unterschied beider Genealogien heraus, beachtete aber nicht, dass sie innerhalb des Textgefüges durch den Rückgriff Kontinuität und damit eine Fundierung bezwecken. Aus dieser Perspektive heraus scheint daher die Aufzählung der Landnehmer in Kapitel 2 keinesfalls willkürlich eingeschoben zu sein, wie es Jakob Benediktsson behauptet (vgl. ÍF I, S. 3 Anm. 7 vgl. auch ders. 1986, S. XV). Für einen bewussten Rückgriff durch Ari selbst spricht außerdem, dass er eine ähnliche Konstruktion bereits zwischen Prolog und den Ættartala am Ende forciert: Die zu Beginn angeführte Genealogie von König Harald Schönhaar wird am Ende wieder aufgegriffen und fundiert damit Aris eigene Genealogie. Hätte er nicht zuvor Harald Schönhaar diese Abstammung attestiert, würde seiner eigenen Genealogie die Basis entzogen. Daher ist auch in Bezug auf die Landnehmerliste damit zu rechnen, dass, auch wenn sie durch einen späteren Redaktor eingefügt worden wäre, diese mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls aus Aris älterer Version stammte und daher seiner bewussten Konstruktion unterlag. Somit wird im Prolog und in Kapitel 2 ein genealogischer Anfang in heidnischer Zeit gesetzt und am Ende des Textes aufgegriffen, um ihn in der christlichen Zeit (bzw. Gegenwart des Verfassers) fortzuführen. Möglicherweise sind diese Genealogien zwar nur Überbleibsel der verlorenen ersten Version der Íb., aber sie ergeben in dieser Version noch immer einen fundierenden Sinn und können meiner Ansicht nach daher nicht als funktionslose Einschübe späterer Kopisten gewertet werden. Weiterhin unterscheiden sich die beiden Auflistungen auch darin, dass in Kapitel 2 auch die Herkunft der Landnehmer erwähnt wird, die in den Ættartala am Ende keine Rolle mehr spielt. Interessant ist das, weil dadurch einerseits eine andere zeitliche Tiefe entsteht (in Kap. 2 nämlich vor der Landnahme und in den Ættartala als Ausblick auf die jeweiligen Nachfolger im Bereich der kirchlichen Macht) und andererseits der Auswanderungsbereich klar auf Norwegen eingegrenzt wird und eine genealogische Verbindung zu den mächtigen norwegischen Herrschergeschlechtern geschaffen wird. Das alles spricht gegen einen funktionslosen Einschub durch einen späteren Kopisten, sondern (da Aris eigene Genealogie von dieser Konstruktion abhängig ist) vielmehr für seine eigene Konstruktion. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 103 kirchliche Macht seiner Zeit und stellt sie gleichsam mittels geographischer sowie genealogischer Kontinuität von der Landnahme bis zu seiner Gegenwart in eine unauflösbare Verbindung miteinander. 285 Seine Rekonstruktion schürt aufgrund ihrer vordergründigen Verbindung zwischen diesen beiden Einflussbereichen die Erwartung, dass er sie zum Zweck einer Fundierung der am Anfang des 12. Jahrhunderts etablierten Bistümer innerhalb der säkularen Machtstruktur verfolgt. 286 Bis das Bistum in Hólar vom Bischof in Skálholt im Jahr 1006 gegründet wurde, umfasste das Bistum Skálholt die gesamte Insel. Als es dann geteilt wurde, fiel etwa ein Drittel der Insel (wohl nicht nur zufällig exakt das Nordviertel? ) dem Bistum in Hólar zu: Abb. 1: „Iceland showing quarters and regions” 287 Doch diese auffällige Verteilung findet erstaunlich wenig Beachtung in der Íb.: zwar vermerkt Ari in Kap. 10 S. 23, dass etwas mehr als ein Viertel der Insel von Bischof Gizurr dem neu gegründeten Bistum übergeben wurde, doch konstruiert Ari am Ende seines Textes in den Ættartala (S. 26) ein offenbar fiktives Gleichgewicht im Machtgefüge der Bistümer - je zwei Landnehmer (bzw. Genealogien) werden in 285 Vgl. Aris Machtfundierung, S. 257. Ein möglicher Anstoß für die Íb. könnte gemäß Svend Ellehøj eine Demonstration der möglichen Zusammenarbeit zwischen weltlichen und kirchlichen Autoritäten gewesen sein, die in dem 1117-1121 bestehenden Rechtsstreit zwischen Hafliði Másson und Þorgils Oddason begründet gewesen sein könnte (vgl. Ellehøj 1965, S. 80-84; wird im folgenden Kapitel näher ausgeführt). Gleichzeitig lässt sich die im Südwesten Islands beginnende Machtakkumulation Einzelner in Form der ríki nachweisen. Doch Aris Konstruktion belegt keine dieser Vermutungen, vielmehr verweist er auf ein völlig anderes Modell der Machtzentrierung und exponiert vier wichtige Landnehmer bzw. Familien, von denen die späteren Bischöfe abstammen. Daher ist seine Auswahl der vier Landnehmer mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Auftraggeber und sein eigenes Umfeld zurückzuführen. 286 Die norwegische Skandinavistin Else Mundal versuchte bereits durch eine vergleichende Analyse zwischen der Íb. und Adam von Bremens Gesta Hammaburgensis, nachzuweisen, dass auch Ari mit seinem Text in Anlehnung an jenen eine Bistumschronik intendierte, wofür eine entsprechende Fundierung der Bistümer sprechen würde (vgl. Mundal 1994, S. 63-72). 287 Orri Vésteinsson 2000, S. xvi; farbige Hervorhebungen durch die Verfasserin. 4 Die altnordische Historiographie 104 abwechselnder Reihenfolge jedem Bistum zugeordnet: Die beiden Genealogien der Bischöfe in Skálholt beziehen sich auf die beiden Landnehmer Ketilbj ǫ rn und Auðr, die im Süden und Westen Land nahmen. Die beiden anderen Landnehmer Hrollaugr und Helgi werden verknüpft mit den Bischöfen in Hólar. 288 Welchem Zweck diese Konstellation geschuldet ist, erklärt sich jedenfalls nicht aus dem historischem Hintergrund um 1120. Hätte das Ostviertel (und damit stellvertretend das von Hrollaugr genommene Land) noch dem Bistum Hólar unterstanden, ginge Aris regionales Konzept auf und eine kontinuierliche Entwicklung würde sich von der Landnahmezeit über die Viertelteilung bis hin zur Etablierung der Bistümer verfolgen lassen. 289 Hierin könnte man einen Einfluss der beiden Auftraggeber, dem Bischof von Skálholt und dem Bischof von Hólar, sehen. Allerdings unterwandert der Text dieses fingierte Gleichgewicht an mehreren Stellen, wenn er beispielsweise ganz deutlich macht, dass dem Bistum Hólar ein bedeutend kleinerer Teil der Insel unterstellt wurde oder wenn ein Nord-Süd-Gefälle deutlich wird, indem die Bewohner des Nordviertels auffallend distanziert als Norðlendingar «Bewohner des Nordens» bezeichnet werden und somit deutlich der Gruppe im Süden/ Südwesten der Insel als nicht zugehörig beschrieben werden. 290 Dennoch scheint Ari der Landnahme und der Viertelteilung der Insel aus der Retrospektive des frühen 12. Jahrhunderts. einen immensen Einfluss auf die Machtverteilung seiner Zeit zugeschrieben zu haben: historisch belegbar ist das jedoch nur im Fall des Hólarbistums, dessen Gebiet exakt dem Nordviertel entspricht. Diese zum Teil ahistorische geographische Kontinuität, die in der Íb. zwischen der Landnahmezeit und der Verfasserzeit um 1120 rekonstruiert wird, lässt sich möglicherweise damit erklären, dass die Bischöfe in der Lögretta auf dem Allthing ihren Einfluss auch auf weltlicher Seite fundieren wollten - denn auf Basis der Landesviertel (und der jeweils tonangebenden Familien) setzte sich die Lögretta zusammen. Vermutlich ist diese Darstellung daher denselben Fundierungsbemühungen geschuldet, für die bereits die genealogischen Verbindungen der oben genannten Landnehmer mit den späteren Bischö- 288 Letztlich ist hier der Siedlungsort Hrollaugrs (bzw. seines Nachfahrens Bischof Jóan) aber insofern symbolträchtig, weil er darauf verweist, dass, auch wenn Jóan erster Bischof in Hólar war, er dennoch zur Ausbildung in Skálholt bei Bischof Ísleifr war (vgl. Ari und die Haukdœlir, S. 255) und von diesem im von ihm neu gegründeten Bischofsitz in Hólar eingesetzt wurde. In diesem Sinne ist die fehlende klare Zuordnung zu einem der beiden Bistümer möglicherweise sogar intendiert, um die Machtzentrierung auf Skálholt zu lenken? 289 Problematisch an der Rolle des Ostviertels in einer möglichen Fundierung ist zudem, dass der Osten ohnehin nicht dicht besiedelt war und es an religiösen Zentren mangelte (vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. xvi). Diese Beobachtung trifft jedenfalls bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. zu. Orri Vésteinsson weist in seinem Eingangskapitel auf die geographischen Bedingungen hin, unter deren Einfluss sich im Südwesten und im Norden zuerst religiöse Zentren wie die Bistümer Skálholt und Hólar ausbilden konnten (vgl. ebd., S. 8-16, bes. S. 15 f.). 290 Es ist zudem möglich, dass Ari mit diesem verallgemeinerten Begriff einzelnen tonangebenden Familien im Norden die Fundierungsgrundlage entziehen wollte, indem er ihre Rolle in der Íb. verschweigt. Eine dieser Familien könnte die von Hafliði Másson gewesen sein, dessen Einfluss und enge Verbindungen zu den Haukdœlir in der Íb. (mit Ausnahme seiner Beteiligung an der Gesetzesniederschrift im letzten Kapitel) nicht erwähnt werden. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 105 fen herangezogen wurden. Interessanterweise wird den Landesvierteln trotz historisch nicht verifizierbarer Verbindungen zu den Landnahmegrenzen auch in den hochmittelalterlichen Texten eine immense Relevanz zugeschrieben. Allerdings ist die einzige historische Entsprechung in den hreppar («Gemeindeverbänden») zu sehen, die offenbar auf Basis der Landnahmegrenzen (spätestens kurz vor der Einführung des Kirchenzehnten 1096/ 97) etabliert worden waren. 291 Da eine der Hauptaufgaben der hreppar war, die Kirchengemeinden zu bestimmen, worauf sich wiederum die entsprechenden Einnahmequellen der Kirche stützten, würde eine Fundierung durch die Zeit hinweg die entsprechenden Ansprüche legitimieren. Der Grund für die ‹Versinnlichung› der Landesviertelteilung als Erinnerungsfigur könnte sein, dass sich in dieser auferlegten (statt einer aus sich heraus entwickelten) Struktur der vorrangig für die Gerichtsbarkeit (durch die Zuordnung von Thingversammlungen) wichtigen Landesviertel ein entscheidendes Fundierungsbedürfnis der Oberschicht zeigt. Es lässt sich aufgrund der genealogischen und geographischen Kontinuität von der Landnahme (Kap. 1) bis hin zu den ersten bzw. Aris zeitgenössischen Bischöfen (erster Teil der Ættartala) - unter Einbindung aller relevanten Institutionen sowie geschichtlichen Ereignisse - die Fortführung der ‹linearen Geschichtskonstruktion› feststellen, die gemäß Assmann in Form einer ‹heißen Erinnerung› Wandel und Veränderung der gegenwärtigen Situation bewirken soll. 292 Ein solches Streben empfinden in der Regel nur die Beherrschten, Unterdrückten oder Unterprivilegierten. Diese Beobachtung scheint auf den ersten Blick jedoch nicht der isländischen Realität um 1120 zu entsprechen. Bedenkt man hingegen die Tatsache, dass die Isländer sich stets in einer gewissen ökonomischen (im Hinblick auf die Anerkennung ihrer Eigenständigkeit sogar in einer politischen) Abhängigkeit von Norwegen befanden, wie insbesondere die H.N. eindrucksvoll belegt, könnte man die Isländer (oder sie sich selbst) aus dieser Perspektive auch als beherrschte bzw. untergeordnete Gesellschaft betrachten. Aris offensichtliche Bemühungen, die Geschichte Islands derart zu semiotisieren, dass sie den Isländern eine eigene, vom norwegischen Königtum unabhängige Identität verschafft, deuten auf eine historische Defiziterfahrung hin: „ Unter den Bedingungen der Unterdrückung kann Erinnerung zu einer Form des Widerstands werden “ 293 , vor allem dann, wenn es zu verhindern gilt, dass sich eine Reihe bestimmter Ereignisse oder Einbrüche zu Geschichte verdichten. 294 Kurioserweise entsprechen daher die Fundierungsbemühungen der isländischen Gesellschaft nach außen einer durch andere Herrschersysteme dominierten Gesellschaft und nach innen einer durch sich selbst bestimmten Herrschaftsform. Diese Ambivalenz wird nur dadurch möglich, dass Island räumlich so weit von anderen einflussreichen Machtsystemen entfernt war, dass sich dort ein autonomes System von Autoritäten herausbilden konnte, das wiederum gleichzeitig um seine Anerken- 291 Vgl. Jón V. Sigurðsson 1999, S. 194. 292 Vgl. Assmann 2007, S. 72. 293 Ebd., S. 73. 294 Vgl. ebd., S. 72 f., in Anlehnung an A. und J. Assmann 1988, S. 35 f. 4 Die altnordische Historiographie 106 nung innerhalb des Nordens rang. Das politisch ambivalente Verhältnis zu Norwegen (ökonomische Abhängigkeit sowie politische Unabhängigkeit) führte somit einerseits zu einer ‹Linearisierung der Geschichte› in der Íb., um nach innen gerichtet die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung an der Geschichte auszurichten und andererseits zu einer Identitätskonstruktion, die auf ‹Distinktion› vom dominanten Norwegen abzielte. Mittels der ‹Allianz von Herrschaft und Vergessen› sollte verhindert werden, dass Ereignisse in die eigene Geschichte eingingen, die die Position der Autoritäten innerhalb der isländischen Gesellschaft und auch gegenüber anderen Herrschern hätten aushebeln können. Im Rahmen dieser Form des Widerstands waren die Erinnerungen an die Zeit vor der Besiedlung um 1120 offenbar unerwünscht und wurden ausgeblendet, um eine Kontinuität zu erzielen, in der der Bruch der Landnahme als bedeutungsvoll betrachtet werden kann. Was nach all diesem Vergessen noch bleibt und somit ins Gewicht fällt, ist eine Identität der ‹Distinktion› statt einer vorzeigbaren Herkunft. 4.2.1.1.3 Fundierung säkularer oder klerikaler Macht? Neben der Textebene der politischen - gesamtisländischen - Abgrenzung zum Zweck des Neubeginns tritt noch ein weiteres Thema hinzu: die Frage nach dem innerisländischen Verhältnis zwischen säkularer und klerikaler Macht, das offenbar ein grundsätzliches Thema der Íb. darstellt. Es ist auffällig, dass trotz der Verbindung zwischen den Landnehmern und den späteren Bischöfen interessanterweise nicht nur die historisch verifizierbare und zudem in späteren Texten wie der Lb. und den Isländersagas durchaus thematisierte Auswanderung über die bzw. von den Hebriden oder Irland aus verlief, sondern auch keine religiöse Ausrichtung der Landnehmer erwähnt wird. Gerade weil die Forschung seit jeher davon ausgeht, Ari habe einen kirchenfundierenden Gründungsmythos konstruiert, hätte ihm doch die Tatsache gelegen kommen können, dass wenigstens zwei seiner vier auserkorenen Landnehmer - Auðr und Helgi enn magri (so schildern es jedenfalls die späteren Texte wie die Lb. und die Isländersagas) zur Zeit ihrer Besiedlung bereits christlich gewesen sein sollen. 295 Allerdings ist fraglich, ob oder inwiefern diese Darstellung 295 Es sollte darauf hingewiesen werden, dass in der gesamten Íb. nicht einmal eine Bezeichnung für die Kirche als Institution auf Island (wie kirkja o.ä.) benutzt wird und eine unbestreitbar personenzentrierte Darstellung dieser vorliegt (zur These der Kirchengeschichte/ Bistumschronik bes. Mundal 1994, die eine umgebungszentrierte statt einer personenzentrierten Darstellung in der Íb. für ihre Analyse zugrunde legt, die sich jedoch kaum halten lässt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Kapitel über die Bischöfe überhaupt keine Umgebung beschreiben, sondern sich nur auf die Personen fokussieren; s. weiterhin zur Kirchengeschichte Hermann 2005, S. 73-90, dies. 2009, S. 45-56; dies. 2007, S. 17-32). Interessanterweise entspricht diese Darstellung exakt der Aufassung der um 1120 geltenden Gesetze: „ In the eyes of the law the Church was not a legal person; it existed only as individuals with certain qualifications. “ (Orri Vésteinsson 2000, S. 73), wodurch deutlich wird, wie stark Aris Text von den geltenden Gesetzen geprägt ist und mit jenen konform geht. Darüber hinaus ist diese personenzentrierte Darstellung v.a. dafür verantwortlich, dass das Zusammenspiel beider sozialer Ebenen überhaupt möglich wird: so kumulieren sich in einer Person sowohl klerikale als auch säkuläre Aufgaben. Dass gerade Personen als Erinnerungsfiguren (verknüpft mit bestimmten entscheidenden Ereignissen) erinnert wurden, entspricht den bereits 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 107 um 1120 bereits verbreitet war oder ob sie nicht erst viel später aufkam. Für Letzteres spricht, dass es auch in späteren Texten keine Einheitlichkeit der religiösen Ausrichtung (wenigstens von Auðr) gibt (vgl. die heidnische Darstellung der Laxdœla saga mit der christlichen in der Lb.). 296 Doch allein die Tatsache, dass zwei verschiedene Darstellungen einer Person im Hinblick auf ihren religiösen Hintergrund im hochmittelalterlichen Island existieren konnten, spricht dafür, dass eine christliche Ausrichtung keine zentrale Erinnerungsfigur für die Identitätsfundierung jener Zeit gewesen sein kann bzw. nur für einen bestimmten Teil der Gesellschaft von Relevanz war. Diese allgemeine Religiosität wurde im vorangegangenen Kapitel für die Lb. konstatiert, indem sie heidnischen und christlichen Glauben parallelisiert und somit als gleichwertig charakterisiert. Da die Íb. jedoch im Vergleich zur Lb. bereits eine ganz andere Grundlage der Besiedlung - nämlich die Herkunft aus Norwegen statt über die Hebriden - impliziert, ist davon auszugehen, dass ihr auch hinsichtlich der religiösen Ausrichtung der Siedler entweder andere ‹Erinnerungsinteressen› oder andere Vorstellungen zugrunde lagen. Doch unabhängig von der Frage, inwiefern die religiösen Ausrichtungen zu Aris Zeit bereits bekannt waren, muss konstatiert werden, dass Ari nicht nur hier, sondern generell auf religiöse Schilderungen verzichtet. So finden sich (im Gegensatz zur Lb.) weder in den Beschreibungen des ersten Siedlers Ingolfr christliche Deutungsmuster der heidnischen Zeit zwecks Einordnung in das christliche Weltbild (vgl. Kap. 1, S. 5), noch in den Darstellungen der ersten getauften Christen (vgl. Kap. 7, S. 14); es fehlen auch zu erwartende Hinweise in den ausführlicheren Berichten über die Bischöfe in Bezug auf deren religiöse Integrität oder gar Frömmigkeit (vgl. bspw. Kap. 9, S. 20 oder Kap. 10, S. 22). 297 Ganz im Gegenteil scheint diese für Ari überhaupt keine Relevanz zu haben, vielmehr wird stattdessen die gesellschaftliche Anerkennung dieser Männer seitens der weltlichen Autoritäten betont: So vermerkt Ari bei den ersten getauften Christen zu Beginn von Kapitel 7, dass diejenigen getauft wurden, die den Glauben annahmen, und es viele Höfdinge waren, die sich dafür aussprachen (deren Beweggründe scheinen also nicht primär religiöser Natur gewesen zu sein, vgl. Kap. 7, S. 14). Bei den Beschreibungen der Bischöfe hebt Ari deren gesellschaftliche Akzeptanz statt ihre Frömmigkeit hervor; Bischof Ísleifr erkannte man als «befähigter» an als andere Gelehrte auf Island, weshalb die Mächtigen des Landes und die «guten Leute» ihm ihre Söhne zur Ausbildung anvertrauten und sie zu Priestern weihen ließen: En es þat sá h ǫ fðingjar ok góðir menn, at Ísleifr vas miklu etablierten Erinnerungstechniken der vorchristlichen Zeit (am besten wird dies anhand der Gesetzessprecherlisten zum Zweck der Orientierung in der Zeit deutlich) und signalisiert eine personenzentrierte Gesellschaft und Erinnerungskultur. 296 Vgl. Heller 1974, S. 90 f. 297 Vor allem im Vergleich mit anderen historiographischen Texten seiner Zeit (wie der Heiligenchronik des englischen Priesters Ælnoth, verfasst zwischen 1110 und 1120) wird dieses Charakteristikum noch deutlicher: „ Während bei Ælnoth die Taten und der Tod Knuds des Heiligen den semantischen Kern der Geschichte bilden, zeigt sich bei Ari keinerlei Ausprägung des hagiographischen und kaum eine Entfaltung des biographischen Diskurses; er konstruiert vielmehr eine chronikalisch angelegte Geschichts Islands, […] “ (Scheel 2012, S. 133). 4 Die altnordische Historiographie 108 nýtri en aðrir kennimenn, þeir es á þvísa landi næði, þá seldu hónum margir sonu sína til læringar ok létu vígja til presta (Kap. 9, S. 20). 298 Bischof Gizurr war zudem «allseits beliebt bei allen Bewohnern des Landes und bei allen, von denen wir wissen, dass sie auf Island gewesen sind» (vas ástsælli af ǫ llum landsm ǫ nnum en hverr maðr annarra, þeira es vér vitim hér á landi hafa verit, Kap. 10, S. 22). Und eben wegen seiner Beliebtheit konnte er auch im Jahre 1096/ 97 den Kirchenzehnten einführen, ohne dass es Widerstand seitens der Isländer gegeben habe, so Aris Argumentation. 299 Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass es Ari mitnichten um die Frömmigkeit der christlichen Vertreter ging. Vielmehr argumentiert er hier für eine seit langem bestehende und allgemein verbreitete Unterstützung und Akzeptanz der isländischen Kirchenvertreter durch die herrschenden Oligarchen. 300 Hierin zeigt sich eine völlig andere Auffassung als in der Lb., die ja behauptet: Ist ein Siedler besonders religiös integer (egal ob heidnischen oder christlichen Glaubens), kumuliert er auch weltliche Macht und damit vor allem das Recht auf Landbesitz und gesellschaftliche Anerkennung. Dementgegen behauptet nun die Íb. entsprechend der ‹linearen Geschichtskonstruktion›: Hat der Siedler bereits eine besondere Rolle bei der Landnahme gespielt, stammt von ihm auch eine mächtige Familie ab, (wie sie bei jedem der vier Siedler erwähnt wird), so sind seine Nachfahren besonders dazu befähigt, ein Kirchenamt zu bekleiden und werden daher auch zweifellos von der isländischen Gesellschaft - insbesondere von der herrschenden Oberschicht - als 298 Die Ausbildung anderer Leute Söhne war in Island ein Symbol für die Verbindung verschiedener Sippen untereinander und diente ähnlich wie das Arrangieren von Hochzeiten der Allianzbildung. Daher hat das Argument an dieser Stelle auch eine entscheidende Tragkraft und unterstreicht die Befähigung des Bischofs und seine Anerkennung bei den Isländern. Diese Episode gibt im Nebensatz zudem einen kurzen, aber interessanten Einblick in die mögliche historische Realität: Viele Gelehrte wurden offensichtlich von den weltlichen Oligarchen für ‚ nicht fähig ‘ gehalten. ‚ Fähig ‘ könnte hier auf ihre religiöse Aufgabe deuten oder aber auch auf die Ausübung eines einflussreichen Amtes. 299 Dass der Kirchenzehnt in Island von allen Seiten tatsächlich bereitwillig akzeptiert wurde, ist sehr unwahrscheinlich. Viele Bauern hatten dadurch einen erheblichen Teil ihres Besitzes abzugeben, von denen immerhin drei Viertel der Kirche (aufgeteilt in einen Teil für den Bischof, einen für die lokale Kirche und einen für den Priester) zugute kamen, auch wenn man davon ausgehen kann, dass das soziale System durch den vierten Teil des Zehnten, der der Armenhilfe diente, stabilisiert wurde und er daher viel mehr Befürworter gehabt haben mag als auf Anhieb vorstellbar (vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 67-92). Letztlich ist aber anzunehmen, dass auch an dieser Stelle wieder nur ein Teil der isländischen Gesellschaft - jene einflussreichen Personen, die Entscheidungen treffen konnten (die meisten davon selbst eine Kirche auf ihrem Privateigentum besitzend) - widergespiegelt wird und jene natürlich ein persönliches Interesse an der Einführung des Zehnten hatten: „ Half of the tithe was payable to the church-owners and all churches were privately owned. It is reasonable to assume that the church-owners were among the richest and most powerful in society, they were those who controlled legilation on the Alþing. It was clearly to their advantage to let such a law be passed ” (Orri Vésteinsson 2000, S. 69 sowie S. 78 f.). 300 Diese Darstellung liegt noch der um 1190 entstandenen Hungrvaka zugrunde, in der die Beliebtheit und Anerkennung der Bischöfe für deren Charakterisierung in den Vordergrund gestellt wird, nicht aber deren Frömmigkeit. Im Gegensatz zur Íb. werden jedoch in der Hungrvaka die Beziehungen zu außerisländischen weltlichen und religiösen Machtzentren wie Rom oder zum römisch-deutschen Reich hervorgehoben (vgl. Scheel 2012, S. 178 f.). 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 109 kirchliche Autoritäten anerkannt und protegiert. Diese Idee entspricht (ausgenommen der uneingeschränkten Befürwortung dieser Personen) insofern eher der historischen Wirklichkeit, als dass es nur den einflussreichen Großbauern aufgrund ihrer finanziellen Mittel möglich war, eine Kirche zu erbauen, somit durch ihre weltliche Macht religiöse Strukturen zu etablieren und folglich auch klerikale Macht zu kumulieren. 301 Das bedeutet, dass die Íb. gerade jene Machtstrukturen legitimiert, die durch die Christianisierung entstanden, aber deutlich vom derzeit herrschenden Magnatenkollektiv abhängig waren. Nur sind diese Machtstrukturen auf Island historisch nicht allein auf Seiten der Kirche zu sehen, sondern zu einem erheblichen Teil auf Seiten der weltlich-politischen Machthaber, weshalb dieser Bereich aus dem in der Íb. vorliegenden isländischen Gründungsmythos (auch wenn er durch den Verfasser selbst und sein unbestreitbar christliches Umfeld teilweise christlich perspektiviert ist) nicht herauslösbar ist. Darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass Ari mit allen Mitteln die Anerkennung und Akzeptanz der Kirche sowie von deren Vertretern in der isländischen Gesellschaft mit säkularen Argumenten darzulegen versucht, sodass deren historische Wahrheit durchaus in Zweifel gezogen werden sollte. So verschweigt er beispielsweise, dass die Bischöfe durch das Allthing (also durch die weltlichen Machthaber) gewählt wurden, und vermeidet damit jede mögliche Verbindung zwischen religiösem/ klerikalem und säkularem Bereich sowohl in heidnischer als auch in christlicher Zeit. In dieses Bild fügt sich auch die zuvor konstatierte fehlende Information über Ingolfrs Verbindung mit dem Amt des allsherjargoði ein: Die religiöse Funktion dieses Amtes entspräche nicht der in der Íb. forcierten Identitätsfundierung, daher lässt Ari dieses Detail aus, obwohl es mit großer Wahrscheinlichkeit ursächlich dafür war, dass Ingolfr ab dem 12. Jahrhundert eine so entscheidende Rolle im kulturellen Gedächtnis spielte. Mit diesen grundverschiedenen Annahmen, die der Legitimierung und Fundierung der säkularen und der klerikalen Macht in der Lb. und der Íb. zugrunde liegen, gehen auch unterschiedliche Identitätskonstruktionen einher. Aus diesem Grund ist die Íb. erst gar nicht an religiösen Motiven oder religiös integerem Verhalten interessiert, während die Lb. als Grundlage ihrer Legitimierung darauf nicht verzichten kann. Die Landnahmeepisode bzw. deren Umstandsbeschreibung erstreckt sich insgesamt bis in das 3. Kapitel hinein. Nach der besagten Auflistung der vier Landnehmer folgt ein Zwischenstatus der Besiedlungsphase, an dem die Insel zum großen Teil besiedelt gewesen sein soll und das erste Gesetz nach Island gebracht worden sei: En þá es Ísland vas víða byggt orðit, þá hafði maðr austrœnn fyrst l ǫ g út hingat ýr Norvegi, sá es Ulfljótr hét; [...] (Kap. 2, S. 6 f.). Erst am Ende des dritten Kapitels, nach der Etablierung des Allthings, erklärt Ari die Landnahme nach 60 Jahren für beendet (Svá hafa ok spakir menn sagt, at á sex tegum vetra yrði Ísland albyggt, svá at eigi væri meirr síðan. Kap 3, S. 9), d.h. um 930. 302 Diese ersten Schritte zur Etablierung einer 301 Vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 69. 302 Sowohl die archäologischen als auch die geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen haben gezeigt, dass die Besiedlungsphase über eine Zeit von 60 Jahre hinausging (vgl. Orri Vésteinsson 1998-2001, S. 23, Adolf Friðriksson/ Orri Vésteinsson 2003, S. 139-161 sowie Orri Vésteinsson 4 Die altnordische Historiographie 110 administrativen Struktur geschehen noch während der Landnahmezeit oder kurz bevor die Besiedlung abgeschlossen ist - also noch während der Formierung einer neuen Gesellschaft - und lassen sich in eine bewusst konstruierte Abfolge der Etablierung einer Legislative einordnen. 4.2.1.2 Das Gesetz als Indikator für die gesellschaftliche Entwicklung Obwohl bei einem christlichen Autor wie Ari die Vermutung nahe liegt, er wolle in erster Linie Island oder der isländischen Kirche mit seinem Text eine religiöse Identität verschaffen, hat die vorangegangene Analyse des Landnahmeberichts gezeigt, dass diese Intention - jedenfalls im Hinblick auf eine mögliche religiöse Integrität oder mögliche christliche Deutungsmuster der heidnischen Zeit - für Ari nicht von primärem Interesse war. Weitere Zweifel betreffend einer ausschließlich christlichen Theologisierung der isländischen Geschichte werden im Hinblick auf Aris Darstellung der Legislative aufgeworfen, die quantitativ den Großteil seines Textes darstellt. 303 Ist dieser Umstand tatsächlich allein damit zu erklären, dass es eine durchaus übliche Darstellung in der festlandeuropäischen Historiographie des Mittelalters war, dass die Christianisierung per Gesetz (sub lege) einer Gesellschaft angenommen wurde (aufgrund einer den Heiden von Gott gegebenen ratio und einem bestehenden Naturrecht), um die Einordnung der heidnischen Zeit in die christliche aus dem Bedürfnis einer religiösen Identitätsfundierung heraus zu ermöglichen? 304 Dass die Íb. aus einer christlichen Perspektive heraus verfasst 2000, S. 11). Es ist daher anzunehmen, dass die Besiedlung retrospektiv vor der Einrichtung des Allthings um 930 für beendet erklärt werden musste, um einer Infragestellung der Legitimität dieser Einrichtung zu entgehen. 303 Insgesamt 56 Mal wird der Begriff l ǫ g benutzt, davon 27 Mal im Hinblick auf Gesetzeseinführungen (mæla í l ǫ gum, leiða í l ǫ g, taka í l ǫ g, gerva í l ǫ gum). Dabei kommen feststehende Phrasen vor, die man auch in den später überlieferten Gesetzestexten findet und die vermutlich wegen ihrer Formelhaftigkeit und der notwendigen Präzision bereits so oder nur geringfügig abgewandelt in der ersten Niederschrift der Gesetze (der Hafliðaskrá von 1117/ 18) gebraucht wurden (vgl. zur geringen Abwandlung der Gesetze bis zu ihrer Niederschrift Hans Henning Hoff. Hafliði Másson und die Einflüsse des Römischen Rechts in der Grágás. RGA Ergbd., 78. Hrsg. v. Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer. Berlin/ Boston 2012, S. 77-128 sowie 378 ff.). Letztlich ist es schwierig nachzuweisen, welcher Text in welcher Rezeptionsphase einen anderen beeinflusst hat. So wird wahrscheinlich der Eingangssatz des im 13. Jahrhundert überlieferten Älteren Christenrechts, wo es heißt, dass alle einem Gesetz unterstehen (þat er melt í logum várom, at menn sculo tiunda fe sitt aller l ǫ g tiund a landi her; Grágás: Diplomatarium Islandicum: íslenzkt fornbréfasafn, sem hefir inni að halda bréf og gjörninga, dóma og máldaga, og aðrar skrár, er snerta Ísland eða íslenzka menn, 1. Gefið út af Hinu Íslenzka Bókmenntafélagi. 834-1264. Reykjavík/ Kaupmannahöfn 1857, S. 88), vermutlich auf der Íb. beruhen oder aber auf einer gemeinsamen Entwicklung zur Zeit der Niederschrift der Íb. und der Gesetze. 304 So u.a. Hermann 2007, S. 27 f., die anhand der Christianisierungsepisode eine Typologie auszumachen meint sowie Gerd Wolfgang Weber (Hrsg.). 2001b. Intellegere historiam. Typological perspectives of Nordic prehistory (in Snorri, Saxo, Widukind and others). In: Mythos und Geschichte. Trieste. S. 99-144 [erstmals veröffentlicht in: Tradition og historieskrivning. Ed. by Kirsten Hastrup und Preben Meulengracht Sørensen. Århus 1987. S. 95-141], S. 125 und 138. Seit den sechziger Jahren bis Ende des 20. Jahrhunderts lag das Hauptaugenmerk der Forschung auf der Aufdeckung kontinentaler antik und christlich geprägter Deutungsmuster (u.a. sind hier zu nen- 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 111 wurde, kann allein wegen des religiösen Hintergrunds des Autors sowie seiner Auftraggeber nicht bezweifelt werden. Vor allem die Berichte über die Christianisierung, die ersten Bischöfe, die kirchenpolitischen Ereignisse und die Datierungen dienen unbestritten dazu, Islands Geschichte chronologisch in die kirchenpolitischen Ereignisse Europas einzubinden. 305 Daher kann ein typologisches Verfahren, wie es Hermann vermutet, dem Text nicht gänzlich abgesprochen werden. 306 Das hängt vor allem damit zusammen, dass Ari, der ganz am Anfang der isländischen Geschichtsschreibung sein Projekt begann, verschiedene christliche Geschichtsmodelle und -verständnisse sowie mögliche Quellen zur Verfügung hatte, die bei der nen Lönnroth 1969 und einige Arbeiten von Gerd Wolfgang Weber), von deren Untersuchungen sich viele allerdings immer wieder der Kritik der Textferne aussetzen mussten. Insbesondere Webers nicht undiskutiert gebliebene Thesen der fast vollständigen Theologisierung der isländischen Literatur, in der er vor allem die heilsgeschichtliche Geschichtsauffassung nach Augustinus wiederzuentdecken meinte, erscheinen doch, genau wie seine textferne Betrachtung der Íb. (vgl. Weber 2001a, S. 129 ff.), zu einem großen Teil fragwürdig (kritisch dazu haben sich v.a. Klaus von See (s. 1999a, S. 315 f.) sowie der Mittelalterhistoriker František Graus geäußert (Funktionen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im späten Mittelalter. Hrsg. v. Hans Patze. Sigmaringen 1987. S. 11-55). Weber stellt im Grunde lediglich die politischen Beweggründe des Autors heraus und scheint dabei sein eigentliches Ziel, christliche Geschichtsdeutungen zu extrahieren, ganz zu vergessen. Letztlich basiert sein Ergebnis nur auf dem Vergleich einzelner und isolierter Motive zwischen der Íb. und anderen mittelalterlichen Texten. Webers Erkenntnisse werden trotzdessen auch heute noch insbesondere von Historikern zum Teil undifferenziert auf die Íb. appliziert (vgl. Scheel 2012, S. 136 ff.), wodurch eine textnahe Auseinandersetzung mit den Berichten der Íb. gänzlich verhindert wird und Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich durch den Text selbst nicht belegen lassen. So kommt Scheel trotz einiger interessanter Beobachtungen zu dem zweifelhaften Ergebnis, dass sich in der isländischen Historiographie (seine zentrale Analyse bezieht sich auf die Íb.) in keiner Form eine für andere skandinavische Länder wie Dänemark „ typische Dialektik aus Akkulturation und Abgrenzung “ finde (Scheel 2012, S. 201), sondern sie vielmehr geprägt sei durch die „ Kopplung der lokalen Geschichte an die romzentrierte Universalgeschichte “ (Scheel 2012, S. 201), was im Rahmen dieser Analyse noch begründet in Zweifel gezogen werden muss. 305 Dass die Íb. in erster Linie die Gründung der isländischen Bistümer beschreiben sollte, lässt sich allein am Text nicht belegen - so berichtet Ari allenfalls von den ersten Bischöfen auf Island, nicht aber spezifisch von den Umständen der Bistumsgründungen (Ausführungen dazu finden sich bei Hermann 2005, 2009 sowie bei Mundal 1994). Zweifelsohne ist die Beobachtung Mundals, dass das Bistum in Hólar in Aris Ausführung keinen Eingang findet, obwohl es zu seiner Zeit bereits bestand, korrekt (vgl. Mundal 1994, S. 67). Doch auch diese Tatsache spricht eigentlich gegen ihre These einer intendierten Bistumschronik (s. dazu auch Ásdís Egilsdóttir. Formáli. In: ÍF XVI. Biskupa sögur II. Reykjavík 2002. S. V-CLIV, S. XI). Der Fokussierung auf das Bistum in Skálholt könnte genauso eine regionale Ausrichtung des Textes zugrunde liegen. Auch die familiäre Verbindung zwischen Ari und Bischof Ísleifr (dem Vater von Aris Ziehvater und Mentor Teitr) und dessen Sohn Bischof Gizurr könnte eine Ursache für diese Fokussierung sein. Schließlich waren aufgrund der persönlichen Beziehungen auch die Berichte über den Bischofsitz in Skálholt für Ari zugänglicher; darauf verweist jedenfalls ein kurzer Kommentar in Kapitel 10, wo es über Gizurr heißt: En þá vas nafn hans rétt, at hann hét Gisrøðr; svá sagði hann oss (S. 22; «Damals wurde sein richtiger Name verwendet, der Gisrøðr lautete, so berichtete er es uns.»). Auch wenn diese Stelle ob ihres Inhalts viel diskutiert wurde, wird hierdurch deutlich, wie eng der Kontakt zwischen Bischof Gizurr und Ari war, dem er selbst offenbar aus seinem Leben berichtete. 306 Vgl. Hermann 2010, S. 150 ff. 4 Die altnordische Historiographie 112 Strukturierung der Geschichte halfen. 307 Diese typologische Struktur befindet sich jedoch auf einer von mehreren Ebenen des Textes, der neben der zu erklärenden Dichothomie von heidnischer und christlicher Zeit auch das Problem der ‚ sinnhaften Besiedlung ‘ und sich herausbildenden eigenen Gesellschaft und deren Identität lösen sollte. Auf der Identitätsebene sieht Ari offenbar die Gründung und Entwicklung der isländischen Gesellschaft vorrangig verbunden mit der Entwicklung der Gesetze. 308 Diese Fundierung rechtlicher Verhältnisse muss nicht zwingend einem theologischen Deutungsmuster entspringen, sondern kann neben Genealogien auch ein identitätssichernder Aspekt im Geschichtsbewusstsein schriftloser Völker sein, was eine in der Forschung häufig schon vorab zu Grunde gelegte zwingende Verbindung von Gesetzesdarstellung und Christianisierung in Frage stellt. 309 Insgesamt belegt die Íb. neun administrative Entwicklungsschritte: Die Einführung des ersten ‚ Gesetzes ‘ durch den norwegischen König und die Auswanderer nach 870 (Kap. 1, S. 5 f.), die Einführung der ersten Gesetze durch Ulfljótr aus Norwegen (Kap 2, S. 6 f.), die Etablierung des Allthings 930 (Kap. 3, S. 8), die gesetzliche Einführung der Schaltwoche um 955 (Kap. 4, S. 11), die Viertelteilung Islands um 965 (Kap. 5, S. 12), die gesetzliche Einführung des Christentums 999/ 1000 (Kap. 7), die Einführung des Kirchenzehnten 1096/ 97 (Kap. 10, S. 22), die Einrichtung des Fünften Gerichts 1005 in Verbindung mit einer Gesetzesmodifikation sowie die Errichtung des ersten Bischofssitzes in Skálholt 1056 und des zweiten Sitzes in Hólar 1106 (S. 23). Zu jenen lassen sich noch drei weitere Ereignisse zählen, die in direktem Bezug zum Gesetz stehen, aber nur am Rande erwähnt werden: die Vereinbarung zur Ausfuhrsteuer (Kap. 1, S. 5), die Etablierung des Kjalarnesthings vor der Einrichtung des Allthings (Kap. 3, S. 8) sowie die 307 Darauf, dass die Nutzung solcher Geschichtsdarstellungen keineswegs zwingend religiös intendiert war, auch wenn die Autoren eine durchaus kirchenpolitische Perspektive einnahmen, verweist František Graus (vgl. Graus 1987, S. 24). 308 Vgl. auch Mundal 1994, S. 70: „ Ein bodskap i verket er: med lov skal land byggjast, og ikkje med ulov øydast, som det vart formulert i Eldre Frostatingslov 4.52. “ An dieser Stelle gilt es entgegen Else Mundals Einwand (vgl. ebd. 1994, S. 70), Ari hätte einen großen Teil der Íb. dem Ausbau der Legislative widmen müssen, um überhaupt über die Bistümer schreiben zu können, zu betonen, dass er dies nicht in dem vorliegenden Ausmaß hätte tun müssen. Aris Fokus liegt auf der Darstellung herausragender Personen, die geknüpft sind an einschneidende gesellschaftspolitische Ereignisse (vgl. Kap. 9 und 10 zu den Bischöfen Ísleifr und Gizurr). Dieser Fokus entspricht der schon in heidnischer Zeit für die isländische Gesellschaft üblichen personenzentrierten Erinnerungstechnik, weshalb es auch nicht verwundert, dass die Rolle der Gesetzessprecher (v.a. wegen ihrer Chronologisierungsfunktion) und damit die Rolle des Gesetzes entscheidend für das isländische Selbstbild sind, so konstatiert auch Jón H. Aðalsteinsson: „ The importance of law in the old Icelandic Commonwealth is shown e.g. by the statutes which have been preserved, which are much more copious than those of many other nations at comparable stages of developement. […] “ (Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 88). Dass das Gesetz für die isländische Gesellschaft zentral war, vermerkt auch Adam von Bremen in seinen Gesta Hamburgensis: Apud illos non est rex, nisi tantum lex (Gesta Hamburgensis, IV 36, S. 486; «Bei ihnen gibt es keinen König, nur das Gesetz […].»). 309 Vgl. Rüdiger Schott. Das Geschichtsbewusstsein schriftloser Völker. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 12. Bonn 1968. S. 166-205, S. 172 f. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 113 schriftliche Fixierung der Gesetze 1117/ 18 (Kap. 10, S. 23), womit der Text entsprechend symbolträchtig endet. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels, nach dem kurzen Bericht über den ersten Landnehmer Ingolfr, wird davon berichtet, wie das erste ‚ Gesetz ‘ (der Text spricht nicht von l ǫ g, sondern betrachtet es eher als eine Vereinbarung, worauf das Verb sætta «sich einigen» hinweist) noch von Norwegen ausgehend im Zuge der Emigration entsteht: nachdem König Harald Schönhaar die Auswanderung nach Island verbietet, weil er befürchtet, Norwegen würde veröden, einigt man (d.h. anscheinend der norwegische König und die Auswanderer - also die baldigen Isländer) sich darauf, dass Norwegen zwar verlassen werden durfte, aber für die Reise von dort nach Island eine Ausfuhrsteuer gezahlt werden musste: Þá sættusk þeir á þat, 310 at hverr maðr skyldi gjalda konungi fimm aura, sá es [...] þaðan fœri hingat. Þau hafa upph ǫ f verit at gjaldi því es nú es kallat landaurar, en þar galzk stundum meira en stundum minna, unz Óláfr enn digri gørði skýrt, at hverr maðr skyldi gjalda konungi halfa m ǫ rk, sá es fœri á miðli Norvegs ok Íslands, [...]. (Kap. 1, S. 5 f.) Dann einigten sie sich darauf, dass jeder Mann dem König fünf Öre zahlen sollte, der [...] von dort hierher führe. Diese [Abgaben] sind der Anfang jener Steuer gewesen, die man nun landaurar nennt, und es wurde manchmal mehr und manchmal weniger bezahlt, bis Óláfr enn digri [Olaf der Dicke] bekannt gab, dass jeder Mann dem König eine halbe Mark bezahlen sollte, der zwischen Norwegen und Island unterwegs war, [...]. Mithilfe dieses ersten ‚ Gesetzes ‘ suggeriert der Text eine Kontinuität des Kontaktes zwischen Island und Norwegen, der auf rechtlicher Grundlage fuße, die - wie sich im Folgenden zeigen wird - fundamental für die isländische Identität ist. Entscheidend ist aber, dass jeder (hverr maðr) diesem ‚ Gesetz ‘ untersteht (weshalb es auch als Gesetz im engeren Sinne betrachtet werden sollte), womit trotz der offensichtlichen Abhängigkeit von Norwegen die erste Gemeinsamkeit der Auswanderer und damit ein erstes identitätsstiftendes Moment (d.h. hier im Gegensatz zur Lb. in Form des Rückbezugs auf den Erstsiedler Ingolfr) konstruiert wird: sie unterwerfen sich, offensichtlich freiwillig durch die Verhandlungen mit dem König, einer Steuer, die ihnen die Ausfahrt gewährt. 311 Diese Zahlung symbolisiert eine 310 Problematisch ist hier das Subjekt þeir; im Kontext wird nicht deutlich, wer genau gemeint ist. Zwar ist wohl König Harald impliziert, da er im Satz zuvor genannt wird (En þá varð f ǫ r manna mikil mj ǫ k út hingat ýr Norvegi, til þess unz konungrinn Haraldr bannaði, af því at hónum þótti landauðn nema.), die zweite verhandelnde Partei bleibt jedoch unbestimmt. Es liegt allerdings nahe, dass damit die Emigranten gemeint sind, da sie im Rahmen der Auswanderung zuvor im Text angeführt werden. Da die isländische Gesellschaft zu der Zeit noch nicht bestanden haben kann - schließlich beginnt an dieser Stelle erst die Auswanderung - können nur Vertreter der Auswanderer gemeint sein, die allerdings einflussreiche Fürsprecher gewesen sein müssen, um eine solche Vereinbarung erzielen zu können bzw. als solche erinnert werden sollen. 311 Bereits Pernille Hermann verwies darauf, dass der Text eine nationale Perspektive einnimmt: „ Thus, Íslendingabók - […] - is concerned with aspects which in principle have to do with all Icelanders […]. Both the focus on aspects of relevance to all Icelanders and the words of Þorgeirr indicate a national perspective. ” (Hermann 2005, S. 74). Allerdings zeigt sich doch, dass die Íb. 4 Die altnordische Historiographie 114 legitime Auswanderung 312 und gleichzeitig einen gemeinsamen Neuanfang. Darüber hinaus kann man diese Abgabe als Grund dafür sehen, dass im Gegensatz zu einigen Passagen der Lb. in der Íb. von keinerlei Konfliktpotential während der Landnahmezeit berichtet wird. Es scheint, als liefe die Besiedlung völlig friedlich und geordnet ab - der Textlogik zufolge kann das nur in diesem Gesetz begründet liegen, das die Gemeinschaft einer ersten Ordnung unterwirft. Gleichwohl entspricht es dem Konzept der ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen›, mögliches Konfliktpotential, das nach außen die Identität und Geschlossenheit der Isländer brüchig werden lassen könnte, auszuschließen. 313 Genau aus derselben Motivation der Linearität der Geschichte heraus wird auch die Besiedlung in einen zeitlich abgeschlossenen Rahmen gestellt: in Kapitel 2 erklärt Ari die sechzig Jahre währende Besiedlung für beendet. Er führt weiterhin aus, wie das erste Gesetz (hier nun zu verstehen als umfassende Rechtsnorm, unter die sich die Gesellschaft freiwillig stellt) nach Island kam: En þá es Ísland vas víða byggt orðit, þá hafði maðr austrœnn fyrst l ǫ g út hingat ýr Norvegi, sá es Ulfljótr hét; svá sagði Teitr oss; ok váru þá Ulfljótsl ǫ g k ǫ lluð; - [...] - en þau váru flest sett at því sem þá váru Golaþingsl ǫ g eða ráð Þorleifs ens spaka H ǫ rða- Kárasonar váru til, hvar við skyldi auka eða af nema eða annan veg setja. Ulfljótr vas austr í Lóni. En svá es sagt, at Grímr geitsk ǫ r væri fóstbróðir hans, sá es kannaði Ísland allt at ráði hans, áðr alþingi væri átt. En hónum fekk hverr maðr penning til á landi hér, en hann gaf fé þat síðan til hofa. (Kap. 2, S. 7) Und damals, als Island weitestgehend besiedelt worden war, da brachte ein aus dem Osten stammender Mann, der Ulfljótr hieß, zuerst Gesetze aus Norwegen hinaus hierher; so berichtete es uns Teitr; und diese wurden Ulfljótsl ǫ g genannt; - [...] - und diese wurden zum großen Teil danach festgesetzt, was damals die Golaþingsl ǫ g waren und danach, was auf die Empfehlungen von Þorleifr enn spaki H ǫ rða-Kárason hin ergänzt, entfernt oder auf anderem Wege festgelegt wurde. Ulfljótr war östlich in Lón. Und es wird erzählt, dass Grímr geitsk ǫ r sein Pflegebruder gewesen sei, der gesamt Island auf seinen Rat hin bereiste, bevor das Allthing eingerichtet wurde. Und ihm gab jeder Mann hier zulande eine Münze dafür, und er gab das Geld daraufhin den Tempeln. Entgegen der Lb. (H 268, S. 313) werden die Umstände dieses Gesetzes hier nur knapp geschildert: Ulfljótr habe sie den norwegischen Golaþingsl ǫ g (den «Gesetzen des Gulathing») 314 entsprechend mithilfe von Þorleifr enn spaki zusammengestellt nicht von Ereignissen berichtet, die alle Isländer betreffen, sondern dass genau andersherum alle Isländer von den Ereignissen als betroffen beschrieben werden. Diese umgekehrte Perspektive impliziert, dass auch Ereignisse, die historisch nur einen kleinen Teil der Gesellschaft betrafen, in der Íb. als für alle Isländer relevant dargestellt werden konnten. 312 Vgl. auch Mundal 1994, S. 70. 313 Somit kommt es letztlich auch zu einer besonderen Darstellung der Gesellschaft, die im Kapitel 4.2.1.3. Vom Kollektiv zur Person: Island auf dem Weg zum souveränen Staat, S. 151, näher erläutert wird. 314 Die Golaþingsl ǫ g galten in den Gegenden Hordaland, Sogn und Fjordane (also Südwestnorwegen), die sich geographisch mit dem Teil Norwegens decken, aus dem den Texten zufolge die 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 115 (vermutlich in Norwegen, da Þorleifr dort ein Gesetzessprecheramt o.ä. bekleidete, so berichten es die Hkr. um 1225, die Ágrip um 1190 und weitere Königssagas des 12. und 13. Jahrhunderts), 315 und sie dann nach Island gebracht. Diese wurden nach ihm Ulfljótsl ǫ g genannt. 316 Ari beschreibt Ulfljótr als maðr austrœnn, als «aus dem Osten stammender Mann». Mit dieser Bezeichnung kann sowohl eine Herkunft aus dem Osten Islands als auch aus Norwegen bzw. Schweden gemeint sein. Da gemäß der Lb. Ulfljótr Land in Ostisland erhielt, geht die Forschung davon aus, dass Ari ebenfalls Ostisland meinte. Wenn man jedoch erwägt, dass auch ein schwedischer oder norwegischer Hintergrund gemeint sein könnte, ergibt sich nicht nur eine übertragene, sondern auch eine tiefenstrukturelle Ähnlichkeit zum Mythos von Odin als aus dem Osten stammender Auswanderer und Zivilisationsstifter, wie in der Y.s. beschrieben. Darüber hinaus fehlen bei Ulfljótr genau wie bei Ingolfr jegliche Hinweise auf seine Herkunft; nur seine Nachfahren werden mit der Familie der Djúpdœlir im Eyjafjord identifiziert. Auch schweigt sich Ari (wieder im Gegensatz zu Haukr Erlendsson in seiner Lb.-Fassung, vgl. H 268, S. 313) darüber aus, dass Þorleifr enn spaki Ulfljótrs Onkel war. Hier wird sicherlich eine Darstellung forciert, die ermöglicht, neben Ingolfr auch Ulfljótr als numinosen Zivilisationsstifter darzustellen: Er, als aus dem Osten stammender und mehr oder weniger sippenloser Mann mit einem furchteinflößenden und mit dem an eine Odin-Bezeichnung erinnernden Namen Ulfljótr («hässlicher Wolf»), bringt die Gesetze aus Norwegen nach Island, um den Zivilisationsprozess von dort aus nach Westen weiterzuführen. Die Tatsache, dass diese Erinnerungsfiguren sowohl in der Lb. als auch in der Íb. in der Erzählung vom gesellschaftlichen Beginn erinnert werden, zeigt, dass den Texten die gleiche strukturell angelehnte mythische Anfangskonstruktion der Wanderung Odins und der Asen nach Westen zugrunde liegt. Allerdings hat sie in der Íb. als ‹kalte Erinnerung› einen einzig fundierenden Charakter, während sie in der Lb. in Anknüpfung an die Y.s. die gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen soll. An dieser Stelle wird im Text zum ersten Mal der Begriff l ǫ g verwendet und es wird betont, dass die grundlegende Gesellschaftsstruktur bereits bestand, als das erste Gesetz etabliert wurde. Damit steht außer Frage, dass das geltende Gesetz alle dort bereits lebenden Isländer betrifft und es kann nicht der Eindruck entstehen, als wäre es von den ersten oder einflussreichsten Landnehmern den später ankommenden Siedlern auferlegt worden. Hierin zeigt sich parallel zur Landnahmebeschrei- meisten Landnehmer stammen sollen. Möglicherweise hat man es daher hier mit einer Reminiszenz an die historischen Begebenheiten der Auswanderung zu tun. 315 Demnach habe König Hakon der Gute (altn. Hákon goði, * 920-961†, der als dritter norwegischer König und Sohn von Harald Schönhaar um 935 an die Macht kam,) die Golaþingsl ǫ g mithilfe von Þorleifr verfasst (vgl. ÍF I, S. 7, Anm. 5). 316 John Lindow sieht in Ulfljótrs Handlung eine mythische Parallele zu dem Gott Odin: „ What Úlfljótr does, then, is what Óðinn and his brothers do early on in the mythology: create an ordered cosmos in a place where the narrative subjects have already been living. [...] In the mythology, the Æsir and Ymir have, paradoxically, been living in some central space before the cosmos has been created. In the Icelandic cultural myth, the settlers [...] have been living in a space not yet made whole by law. “ (Lindow 1997, S. 457). 4 Die altnordische Historiographie 116 bung erneut die Eliminierung (das ‹Vergessen›) von Konfliktpotential, woraus sich schlussendlich die zweifelsfreie Akzeptanz der Gesetze ergibt. Interessant ist an diesem ersten Gesetz zudem, dass es, wie später in der Lb. dargestellt, offensichtlich aus Norwegen stammt und nicht etwa völlig unabhängig in Island zusammengestellt wurde. Somit wird einerseits die kulturelle Verbindung zum Heimatland betont und andererseits strukturell angeknüpft an die Idee der Ost- West-Wanderung, um den Prozess der isländischen Gesellschaftswerdung zu beschreiben. Zugleich weist Ari aber auch ausdrücklich darauf hin, dass Þorleifr enn spaki die Anpassung der Gesetze auf isländische - also auf andere, neue! - Verhältnisse vornimmt. 317 In dieser Abgrenzung vom Heimatland kann man das erste autark-isländische Moment in der Entwicklung der Emigrantengesellschaft sehen und damit neben der Erinnerungsfigur der Landnahme das zweite innerisländische Identifikationsmerkmal: sie definieren sich nun über ein auf sie und ihre Lebensweise abgestimmtes Gesetz. Die Einführung der Gesetze wird erneut durch «alle» Isländer (hverr maðr) in Form der Geldgabe an den von Ulfljótr abgesandten Grímr gestützt und erhält dadurch einen fundierenden Charakter für die gesamte Gesellschaft. Ulfljótr ist darüber hinaus auch hauptverantwortlich für die im darauffolgenden Kapitel 3 geschilderte Einrichtung des Allthings: Alþingi vas sett at ráði Ulfljóts ok allra landsmanna [...] (Kap. 3, S. 8; «Das Allthing wurde nach dem Beschluss von Ulfljótr und allen Bewohnern eingerichtet»). Das Allthing war die entscheidende gesetzgebende Versammlung Islands und Schauplatz der meisten Konfliktaustragungen in der altnordischen Literatur. 318 Für diese so wichtige zivile Errungenschaft ist jedoch gemäß der Íb. nicht nur der damalige Gesetzessprecher Ulfljótr zuständig, sondern mit ihm erneut «alle Bewohner» (allra landsmanna). Hiermit betont Ari also noch einmal die Geschlossenheit der isländischen Gesellschaft hinsichtlich des Aufbaus der Legislative. Außerdem bestimmen die Isländer auch den Ort, an dem das Allthing tagen soll: en þat l ǫ gðu landsmenn til alþingis neyzlu (Kap. 3, S. 9; «und 317 Es ist anzunehmen, dass die Modifikation der anfangs norwegischen Gesetze, wenn auch nicht zwingend sofort nach ihrer Einführung in Island, dann doch bald darauf eine immense Weiterentwicklung und Umstrukturierung erfahren haben müssen, da norwegische Einflüsse in den späteren Gesetzesaufzeichnungen kaum noch zu finden sind (vgl. Óláfur Lárusson. Lov og ting. Islands forfatning og lover i fristatstiden. Oslo 1960, S. 59 f.). Zudem erforderte auch die neue soziale Struktur auf Island bald eine darauf abgestimmte Rechtsnorm (vgl. Stephen Pax Leonard. Social Structures and Identity in Early Iceland. In: Viking and Medieval Scandinavia, 6. Brepols 2010. S. 145-159, S. 150 f. sowie 155). 318 Die meisten Isländer reisten für die Zeit, in der das Allthing tagte, aus dem ganzen Land nach Þingvellir, um dem Thing beizuwohnen und ihre Streitigkeiten dort gesetzlich zu regeln. Durch die große Anzahl der Teilnehmer sowie durch seine Funktion als oberste Instanz einer gesellschaftlichen Ordnung ist auch seine Rolle als kultureller Mittelpunkt der Gesellschaft zu bedenken (vgl. Helgi Þorláksson 2005, S. 143). Hier wird auch ein Großteil der Erinnerungskultur gepflegt worden sein und etliche Ereignisse mit gesamtisländischer Relevanz werden in das kulturelle Gedächtnis der Isländer Eingang gefunden haben. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 117 das überließen die Bewohner der Benutzung durch das Allthing»). 319 Hiermit suggeriert Ari eine komplett gleichwertige Entscheidungsgewalt der Isländer; es werden keinerlei Konflikte oder Problematiken beschrieben: die Einwanderer sind sich hinsichtlich der sie betreffenden Entscheidungen einig. 320 Kann man an dieser Stelle bereits sagen: sie sind als Isländer geeint? Jedenfalls bis zum Konflikt bei der Einführung des Christentums scheint es so: auch die Schaltwoche (Kap. 4, S. 9) beschließen die weisesten Männer, unterstützt durch «alle» Allthingteilnehmer (Kap. 4, S. 10 f.: þá v ǫ knuðu allir menn við þat vel). Erst in Kapitel 7 tritt der zuvor erwähnte erste und einzige Konflikt innerhalb der isländischen Geschichte auf: durch die Christianisierungsversuche des norwegischen Königs Olaf Tryggvason ( * 968-1000†) spaltet sich die Gesellschaft in zwei Fronten: Christen und Heiden. Obwohl der Priester Þangbrandr, ausgesandt nach Island von König Olaf, einige Männer auf Island zum Christentum bekehren kann und diese tauft, spricht sich noch immer die Mehrheit der Isländer gegen den neuen Glauben aus. 321 Nach einiger Zeit kehrt Þangbrandr nach Norwegen zurück und informiert den König über seinen geringen Erfolg, woraufhin dieser rasend vor Wut anordnet, im Gegenzug die sich derzeit in Norwegen aufhaltenden Isländer foltern oder gar töten zu lassen: En hann varð við þat reiðr mj ǫ k ok ætlaði at láta meiða eða drepa ossa landa fyrir, þá es þar váru austr (Kap. 7, S. 15). Indem Ari von ossa landa («unsere Landsleute») spricht, erreicht er eine doppelte Identifikation: einerseits appelliert er an sein Publikum, indem er es als eine Gemeinschaft anspricht (ossa), und andererseits stellt er eine die Zeitspanne überbrückende Kontinuität zwischen der damaligen und der gegenwärtigen Gesellschaft her, indem er die vor über 100 Jahren in Norwegen lebenden Isländer als «Landsleute» (landa) des Publikums bezeichnet, das er in seiner Gegenwart anspricht. 322 Er macht deutlich, dass die Is- 319 Die Bestimmung des Allthingplatzes durch alle Isländer ist nur deshalb möglich, weil der entsprechende Landstreifen nach der Ächtung des vorigen Besitzers Þórir kroppinskeggi wegen des Mordes an einem seiner Knechte zum Allgemeingut erklärt wurde (Kap. 3, S. 8). Auch in dieser Szene konnte Lindow Parallelen zu mythologischen Texten herausstellen: Bei der Erschaffung des Kosmos, so heißt es in dem mythologischen Gedicht V ǫ luspá, haben Odin und seine beiden Brüder Vili und Vé ihren Riesenbruder Ymir, ein Wesen von niedrigem sozialen Status wie es auch der getötete Knecht war, ermordet. Ari berichtet im gleichen Zug davon, dass Þórirs Enkel Þorvaldr seinen Bruder umbrachte, worin Lindow wiederum eine Parallele zu Odins Mord an Ymir sieht (vgl. Lindow 1997, S. 457 f.). Beiden Beschreibungen liegt also mindestens das gleiche Denkmuster der Kreation von Zivilisation durch einen Mord an einem sozial niedriger gestellten Wesen zugrunde. 320 Konflikte zwischen einzelnen Personen gibt es aber durchaus, z.B. den Thingstreit zwischen Þórðr gellir und Tungu-Oddr in Kap. 11, der wiederum für Ari besonders wichtig und präsent gewesen sein muss, da Þórðr gellir sein Großvater war. 321 Hann [d.i. König Olaf] sendi hingat til lands prest þann, es hét Þangbrandr ok hér kenndi m ǫ nnum kristni ok skírði þá alla, es við trú tóku. [...], en þeir váru þó fleiri, es í gegn mæltu ok neittu (Kap. 7, S. 14; «Er sandte hierher jenen Priester, der Þangbrandr hieß und hier den Leuten das Christentum lehren sollte und taufte dann alle, die den Glauben annahmen. […], und dennoch waren es mehr, die sich dagegen aussprachen und [ihn] ablehnten.»). 322 Das ist eine von zwei Stellen im Text, in der Ari als Erzähler vor den Text tritt und sich als Autor zu erkennen gibt. Er solidarisiert sich mit seinem Publikum, sieht sich als ein Teil dessen: ossa «unse- 4 Die altnordische Historiographie 118 länder im Ausland durch die Uneinigkeit der Gesellschaft hinsichtlich des neuen Glaubens in Gefahr schwebten, und verurteilt folglich die Uneinigkeit innerhalb der Gesellschaft. Erneut wird der bereits zweite ausweglos erscheinende Konflikt mit dem norwegischen König beseitigt, indem ein weiterer Vergleich geschlossen wird, den vertretungsweise die Isländer Gizurr und Hjalti mit dem König schließen: «Und im selben Sommer kamen Gizurr und Hjalti von hier dorthin und befreiten sie vom König und versicherten ihm wiederum ihre Unterstützung dahingehend, dass auch hier das Christentum angenommen würde.» 323 Doch gelingt es den beiden, zurück auf Island, nicht für beide Parteien auf dem Allthing eine Einigung zu erzielen, im Gegenteil: die Fronten verhärten sich, stehen kurz vor einem Kampf: En enir heiðnu menn hurfu saman með alvæpni, ok hafði svá nær, at þeir myndi berjask, at eigi of sá á miðli (Kap. 7, S. 16; «Aber die heidnischen Männer formierten sich mit ihren Waffen und es war so kurz davor, dass sie einander bekämpfen würden, dass [keine Einigung] zwischen [ihnen] in Sicht war.»). 324 Gizurr und Hjalti versuchen daraufhin die Leute davon zu überzeugen, dass es wichtig sei, das Christentum anzunehmen, haben mit ihrem Vorhaben jedoch wenig Glück; letztlich kündigen die Männer einander die Rechtsgemeinschaft auf: En þat gørðisk af því, at þar nefndi annarr maðr at ǫ ðrum vátta, ok s ǫ gðusk hvárir ýr l ǫ gum við aðra, enir kristnu menn ok enir heiðnu, ok gingu síðan frá l ǫ gbergi (Kap. 7, S. 16; «Und dadurch geschah es, dass ein Mann nach dem anderen Zeugen benannte und sich beide Parteien, die christlichen Männer und die heidnischen, dort die Rechtsgemeinschaft aufkündeten re». Diese außergewöhnliche Erzählerperspektive spricht dafür, dass Ari dem beschriebenen Ereignis entscheidende Relevanz zusprach. 323 En þat sumar et sama kvómu útan heðan þeir Gizurr ok Hjalti ok þágu þá undan við konunginn ok hétu hónum umbsýslu sinni til á nýjaleik, at hér yrði enn við kristninni tekit, ok létu þeir eigi annars ván en þar mundi hlýða (Kap. 7, S. 15). 324 Warum letztlich der Kampf zwischen den Heiden und den Christen dann doch nicht stattfindet, beantwortet der Text nicht. Jón H. Aðalsteinsson nennt dafür mögliche Gründe (vgl. Jón H. Aðalsteinsson 1999). Er verweist darauf, dass die Allthingteilnehmer eventuell zuvor über die Geiseln in Norwegen informiert worden sein könnten. Es liegt jedoch nahe, dass Ari diese Information den Lesern nicht vorenthalten hätte, da sie sich hervorragend in seine Darstellung eingefügt hätte. Vielleicht muss man diese Episode weniger historisch, sondern vielmehr textlogisch betrachten: Die kämpferischen Heiden sind in der Mehrzahl (so berichtet auch der Kapitelbeginn davon, dass sich der Großteil der Isländer nicht hat taufen lassen) und symbolisieren die sich unabhängig machenden Isländer, während Gizurr und Hjalti die Vermittler zwischen den Isländern und dem König darstellen. Bevor jedoch die heidnische Partei dem Vorschlag des Königs zustimmt, bedarf es noch einer Entzweiung der Gesellschaft, die den politischen Grund für die Annahme des Christentums darstellt, sowie einer legitimen rechtlichen Einführung durch die entsprechende Rechtsinstanz des Gesetzessprechers (vgl. Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 88). Damit wird das Heidentum als Motiv für die politische Unabhängigkeit eingesetzt. In der Logik des Textes werfen sich somit weniger Fragen auf als aus historischer Sicht - daher ist es wahrscheinlich, dass wenigstens ein Teil dieser Beschreibung zugunsten von Aris Gesellschaftsbild fingiert wurde. Darüber hinaus wird hier im Gegensatz zu anderen Quellen, wie der H.A. oder der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta, kein Wert darauf gelegt, die heidnischen Männer als ‹Edle Heiden› darzustellen oder dieses Ereignis als ein Wunder darzustellen (vgl. Gustav Storm. Monumenta Historica Norwegia. Kristiania 1880, S. 21; Óláfs saga Tryggvasonar en mesta I-III, II. Kopenhagen 1958-1961. Ólafur Halldórsson gaf út. 1961, S. 189). 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 119 und daraufhin den Gesetzesfelsen verließen.»). Hiermit kommt es - aus Aris Sicht - zum Äußersten: die isländische Gemeinschaft verliert mit dem annullierten Gesetz ihre Identitätsgrundlage. Die Lage scheint aussichtslos, da jede der beiden Seiten ein eigenes Gesetz verlangt, das mit ihrem jeweiligen Glauben einhergeht. Die Christen bitten den bereits getauften Hallr von Síða darum, dass er ihre Gesetze aufsagen möge, der sich jedoch der auferlegten Aufgabe entzieht, indem er den Gesetzessprecher Þorgeirr besticht, der im Gegensatz zu Hallr zu dieser Zeit noch dem heidnischen Glauben anhängt, um ihm diese Aufgabe abzunehmen. 325 Daraufhin legt sich Þorgeirr nieder, breitet einen Mantel über sich aus und verweilt so den ganzen Tag und die folgende Nacht. 326 Erst am nächsten Morgen setzt er sich auf und ordnet an, dass die Leute zum Gesetzesfelsen kommen sollen, wo er seine Überlegungen in dieser Angelegenheit in Form einer berühmten und in der altnordischen Literatur mehrfach zitierten Rede kundtut: En þá hóf hann t ǫ lu sína upp, es menn kvómu þar, ok sagði, at hónum þótti þá komit hag manna í ónýtt efni, ef menn skyldi eigi hafa allir l ǫ g ein á landi hér, ok talði fyrir m ǫ nnum á marga vega, at þat skyldi eigi láta verða, ok sagði, at þat mundi at því ósætti verða, es vísa ván vas, at þær barsmíðir gørðisk á miðli manna, es landit eyddisk af. Hann sagði frá því, at konungar ýr Norvegi ok ýr Danm ǫ rku h ǫ fðu haft ófrið ok orrostur á miðli sín langa tíð, til þess unz landsmenn gørðu frið á miðli þeira, þótt þeir vildi eigi. En þat ráð gørðisk svá, at af stundu sendusk þeir gersemar á miðli, enda helt friðr sá, meðan þeir lifðu. „ En nú þykkir mér þat ráð “ , kvað hann, „ at vér látim ok eigi þá ráða, es mest vilja í gegn gangask, ok miðlum svá mál á miðli þeira, at hvárirtveggju hafi nakkvat síns máls, ok h ǫ fum allir ein l ǫ g ok einn sið. Þat mon verða satt, es vér slítum í sundr l ǫ gin, at vér monum slíta ok friðinn. “ (Kap. 7, S. 17) Und dann, als die Leute dort waren, begann er seine Rede und sagte, ihm schiene, dass die Verhältnisse der Leute in einen unhaltbaren Zustand geraten seien, wenn nicht alle 325 Im Hinblick auf diese Epsiode bleibt die Íb. ziemlich vage. Fest steht jedoch, dass der Text keinerlei Hinweise darauf liefert, dass man von einer Zusammenarbeit zwischen dem christlichen Hallr und dem heidnischen Þorgeirr ausgehen kann (vgl. dazu Benediktsson 1986, Anm. 10, S. 16 mit Verweis auf Jón Jóhannesson), da Ari ganz deutlich formuliert: En hann leystisk því undan við þá, at hann keypti at Þorgeiri l ǫ gs ǫ gumanni, at hann skyldi upp segja, en hann vas enn þá heiðinn (Kap. 7, S. 16; «Doch er entzog sich ihnen dadurch, dass er den Gesetzessprecher Þorgeirr dafür kaufte [bezahlte/ bestach], dass jener es aufsagen sollte, doch der war noch immer Heide.»). Auf der anderen Seite ist es nur schwer vorstellbar, dass ein Kompromiss zwischen zwei Glaubensrichtungen durch den heidnischen Gesetzessprecher möglich gewesen wäre (vorstellbare Ansätze zur Zusammenarbeit zwischen Þorgeirr und Hallr diskutiert Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 91 ff. sowie weiterführende Literatur). Da Ari allerdings ein direkter Nachkomme von Hallr war, wäre er wohl über derartige Absprachen informiert gewesen. Daher muss man davon ausgehen, dass - abgesehen davon, dass eine gesetzliche Einführung des Christentums nur durch den gewählten Gesetzessprecher möglich war und die christlichen Isländer derzeit nicht an rechtlichen Entscheidungen beteiligt waren (vgl. Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 89) - hier offenbar betont werden soll, dass die Entscheidung in dieser Sache freiwillig durch die heidnische Partei zustande kam. 326 Zum möglichen Hintergrund dieser Handlung vgl. Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 103-123 inkl. Überblick über die weiterführende Literatur. Er deutet diese Episode letztlich als die Rezeption eines aus heidnischer Zeit weitreichend bekannten Rituals: „ […] Þorgeirr did not stay under the cloak to think but to carry out an ancient soothsaying ritual, the outcome of which he proclaimed at the Lögberg the following day ” (Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 113). 4 Die altnordische Historiographie 120 hier im Land ein Gesetz haben sollten, und sprach sich vor den Leuten auf vielerlei Weise dafür aus, dass man es nicht so weit kommen lassen dürfte. Er sagte, dass dadurch Zwietracht entstehen würde, da zu erwarten war, dass sich Kämpfe zwischen den Leuten entwickeln würden, die das Land veröden lassen würden. Er berichtete davon, dass die Könige aus Norwegen und aus Dänemark über eine lange Zeit hinweg Unfrieden und Kämpfe untereinander geführt hatten, bis die Landsleute zwischen ihnen Frieden stifteten, obwohl jene es nicht wollten. Und diese Entscheidung geschah auf die Weise, dass sie sich bald einander Kostbarkeiten schickten, und so hielt der Friede an, während sie lebten. „ Und nun scheint es mir ratsam “ , sagte er, „ dass auch wir nicht diejenigen entscheiden lassen mögen, die sich am meisten feindlich gegenüberstehen. Lasst uns [deshalb] nach einer Einigung zwischen ihnen suchen, so dass die Interessen beider Seiten berücksichtigt werden, und alle ein Gesetz und einen Glauben haben. Es wird sich bewahrheiten: wenn wir die Gesetze entzweireißen, werden wir auch den Frieden zerreißen. “ 327 Die Gründe, die Þorgeirr seinen Überlegungen vorausschickt, sind ganz deutlich profaner Natur: Er verweist darauf, dass er Handlungsbedarf sehe, weil ein unhaltbarer Zustand herrsche, wenn nicht alle Leute in Island demselben Gesetz unterstellt wären (l ǫ g ein á landi hér) - das würde unweigerlich zu Unfrieden führen. Er geht sogar noch weiter und fordert, dass die Einwohner sich um die Erhaltung ihrer Gesellschaft kümmern müssten (þat skyldi eigi láta verða ) . An keiner Stelle stützen sich die Überlegungen zur Annahme des Christentums auf religiöse Gründe oder kirchenpolitische Argumente. Dass diese Entscheidung überhaupt getroffen werden muss, wird einzig durch politische Umstände bedingt (Drohungen des Königs gegenüber den Landsleuten) und aufgrund der sich dann auch ausweitenden innerisländischen Konflikte aus rein säkularer Sicht entschieden: ‚ Wenn wir das Gesetz auflösen, dann verlieren wir den Frieden. ‘ Damit ist der einzige Grund für die gesetzliche Annahme des Christentums, dass die Leute demselben Gesetz unterstehen müssten. Dass diese Entscheidung (von Ari eindeutig durch die Hervorhebung dieser Tatsache inszeniert), dann auch noch ganz pragmatisch von einem heidnischen Gesetzessprecher getroffen wird, betont, dass die heidnischen Isländer aus sich selbst heraus aufgrund der erklärten Notwendigkeit entscheiden und keine Indoktrination von anderer Seite erfolgt oder erfolgen muss. So entschieden sie sich noch zuvor für den Kampf gegen die Christen gerüstet haben, so entschieden sprechen sich die Heiden nun für die Einführung des Christentums aus: En hann lauk svá máli sínu, at hvárirtveggju játtu því, at allir skyldi ein l ǫ g hafa [...] (Kap. 1, S. 17; «Und er beendete seine Rede so, dass beide Parteien sich dafür aussprachen, dass alle ein Gesetz haben sollten […]»). 328 Damit wird die Annahme des 327 Man muss davon ausgehen, dass Ari diese Rede mehr oder weniger eigenhändig konstruiert hat, zumal sie die einzige wörtliche Rede im Text darstellt und es unwahrscheinlich ist, dass sie bis in Aris Zeit unverändert in Form und Länge erinnert wurde. Zudem wirkt sie wie der Rest des Textes intendiert, wie sich im Folgenden zeigen wird. 328 Aris Begründung entspricht wahrscheinlich nicht den historischen Umständen, da die heidnischen Isländer mit Sicherheit nicht ohne Weiteres ‚ nur ‘ durch eine Rede überzeugt worden sind, einen anderen Glauben anzunehmen. Jón H. Aðalsteinsson verweist hier auf das zuvor durch Þorgeirr ausgeübte Ritual, in dem er vermutlich eine Art Orakel abgehalten hat und die Entscheidung, das 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 121 Christentums als freiwillige, rechtlich notwendige und für den Erhalt der isländischen Gesellschaft unabdingbare Maßnahme verstanden. Das einheitliche Gesetz wird wiederhergestellt und mit ihm die Einheitlichkeit der Gesellschaft: nun entscheiden wieder alle zum Wohle des Landes. Vornehmlich auf Basis dieser Christianisierungsepisode hat Pernille Hermann sich dafür ausgesprochen, die Geschichtsversion in der Íb. als theologisch ausgedeutete Heilsgeschichte (angelehnt an den 5. Römerbrief Paulus, 12-16; als Geschichte des Gesetzes) zu lesen. 329 Demnach werde die Vergangenheit mittels Typologie in drei chronologisch aufeinander folgende Phasen geteilt: ante legem (von Adam bis Moses; die Menschen leben unter einem natürlichen Gesetz), sub lege (von Moses bis Christus; unter einem kodifizierten Gesetz) und sub gratia (von Christus bis zum Ende der Welt; unter Gottes Gnade). Diese Phasen entsprächen somit der Besiedlungszeit (beginnend mit Ingolfr), dem (kodifizierten) Gesetz (eingeführt durch Ulfljótr) sowie der Christianisierung (letztlich durchgeführt durch den Gesetzessprecher Þorgeirr). Jedoch bleibt bei dieser Betrachtung die Tatsache unbeachtet, dass schon die Landnahme mit einem ersten Gesetz beginnt und die Schilderung der Entwicklung der Legislative nicht mit der Christianisierungsepisode endet, wie es die letzte Phase (sub gratia) implizieren würde: auch die letzten Kapitel über die Bischöfe enthalten zu einem großen Teil Berichte über deren Aktivitäten im Hinblick auf die Einführung von Gesetzen (vgl. Kap. 10, S. 23 f.: Bischof Gizurr unterstützt die Einführung eines Gesetzes einer Volkszählung als Grundlage für die Einführung des Zehnten sowie ein Gesetz, das bestimmt, dass ersteres so lange wirksam sei, wie die Insel besiedelt ist; außerdem wird bestimmt, dass die Gesetze schriftlich notiert werden sollen). Es scheint daher neben dieser typologischen Strategie, die eine bekannte gelehrte Vorlage für Geschichtsdarstellungen war, offenbar noch weitere Aspekte zu geben, die für die hier intendierte säkulare Identitätsfundierung der isländischen Gesellschaft als unabdingbar betrachtet wurden. Um diese im Hinblick auf ihre Funktion zu bestimmen, kann man sie drei überlagerten Deutungsebenen innerhalb dieser Erzählung zuordnen: Die erste ist die strukturelle und wohlmöglich unbewusst erinnerte Anlehnung an bzw. Umgestaltung von Figuren aus der Mytho- Christentum anzunehmen durch die im Ritual befragten heidnischen Götter getroffen wurde (vgl. Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 124 ff.). Er führt hierfür interessante Parallelquellen auf, die eine solche These unterstützen. Tatsächlich finden sich noch weitere Ähnlichkeiten mit Szenen aus der Mythologie wie der o.g. Parallele zur V ǫ luspá sowie der Namensgebung der Zivilisationsstifter, die wiederum dafür sprechen, dass mythische Denkmuster einerseits noch in Aris Zeit eine Rolle spielten und andererseits die Semiotisierung der Geschichte und deren Anfänge strukturierten. Wenn Ari selbst der Hintergrund dieses Rituals dementsprechend auch noch bekannt gewesen sein sollte, wie Jón H. Aðalsteinsson vermutet (vgl. ebd., S. 130 f.), legte Ari wissentlich den Fokus weg von einer göttlichen Führung hin zu einer politischen Entscheidung und rekonstruierte damit einen Schwerpunkt auf dem Aspekt des ‚ gemeinsamen Gesetzes ‘ . Ob dieses tatsächlich die historische Wirklichkeit widerspiegelt, wie Stephen Pax Leonard aufgrund mangelnder Quellenkritik festzustellen versucht (vgl. Leonard 2010, S. 149), ist wohl eher fraglich. 329 Vgl. Hermann 2007, S. 28 f. 4 Die altnordische Historiographie 122 logie (‹mythological overlays›). 330 Die zweite Ebene stellt die eben genannte mögliche christlich-typologische Ausdeutung als gelehrte Vorlage für Geschichtsdarstellungen dar: Þorgeirr wäre dementsprechend als Parallelfigur zu Jesus Christus zu sehen. So betrachtet wäre es die logische Konsequenz, dass nicht Hallr von Síða, sondern Þorgeirr das Christentum einführen muss. Die dritte Ebene wäre die Identitätsebene, derzufolge die heidnischen Isländer aus sich heraus das Christentum annehmen und gleichermaßen Þorgeirr, der immerhin das Gesetzessprecheramt inne hatte, eine für die Fundierung eines Gesetzesbeschlusses notwendige Figur darstellt. Als ein solch identitätsstiftender Aspekt ist die Funktion des Gesetzes innerhalb des Textes zu nennen: es steht für das kontinuierliche Bestehen der Gesellschaft und stellt damit das Hauptidentifikationsmerkmal der Isländer durch die Zeit hinweg dar, durch welches sie sich offenbar auch von anderen Gesellschaften abgrenzen wie es auch im allegorisch angeführten Königsstreit in der Rede des Gesetzessprechers deutlich wird. 331 Gleichzeitig symbolisiert der Entwicklungsstatus des Gesetzes den Entwicklungsstatus der Gesellschaft, dessen Abschluss weder die Einrichtung des Allthings noch die Annahme des Christentums ist. Erst mit dem letzten Gesetz, von dem der Text berichtet, nämlich mit der Kodifizierung der Gesetze 1117/ 18, scheint der Prozess der Gesellschaftsgründung abgeschlossen zu sein: Et fyrsta sumar, es Bergþórr sagði l ǫ g upp, vas nýmæli þat g ǫ rt, at l ǫ g ór skyldi skrifa á bók at Hafliða Mássonar of vetrinn eptir at s ǫ gu ok umbráði þeira Bergþórs ok annarra spakra manna, þeira es til þess váru teknir. Skyldu þeir gørva nýmæli þau ǫ ll í l ǫ gum, es þeim litisk þau betri en en fornu l ǫ g. Skyldi þau segja upp et næsta sumar eptir í l ǫ gréttu ok þau ǫ ll halda, es enn meiri hlutr manna mælti þá eigi gegn. En þat varð at framfara, at þá vas skrifaðr Vígslóði ok margt annat í l ǫ gum ok sagt upp í l ǫ gréttu af kennim ǫ nnum of sumarit eptir. En þat líkaði ǫ llum vel, ok mælti því manngi í gegn. (Kap. 10, S. 23 f.) Den ersten Sommer, als Bergþórr das Gesetz aufsagte, wurde jene Neuerung eingeführt, dass aus den Gesetzen im folgenden Winter nach dem Diktat und dem Rat 330 Interessant sind hier die Namen der entsprechenden Akteure: Ingólfr trägt die Vorsilbe Ingin Anlehnung zu Yngvi-Frey, dem heidnischen Fruchtbarkeitsgott. Ulfljótrs Vorsilbe Ulfentspricht, wie bereits ausgeführt, einem Odinnamen und Þorgeirr repräsentiert mit seiner Vorsilbe Þorden mit verschiedenen schützenden Funktionen versehenen Gott Thor. Schaut man sich im Vergleich zur Íb. andere prosaische Verarbeitungen der nordischen Mythologie an, trifft man Yngvi als Spitzenahn des Ynglingargeschlechts, der hier durch Ingolfr ebenfalls als ‚ Spitzenahn ‘ bzw. erster Siedler auftritt. Odin wird nur in der Y.s. als Zivilisationsstifter, Wissens- und Gesetzesbringer beschrieben (in den isländischen Gründungsmythen findet er sonst keine Erwähnung) - dessen Rolle sieht man hier durch den Gesetzesbringer Ulfljótr erfüllt. Thor zu guter Letzt tritt nur in den isländischen Gründungsmythen als Zivilisationsstifter (insbesondere als Beschützer der Seefahrer) auf. Erkennbar ist dessen Verbindung zu den Hochsitzriten, die man häufig in der Lb. antrifft. Er ist aber in der Mythologie auch bekannt für seinen steten Kampf gegen das Böse, der die fortwährende Wiederherstellung der Ordnung symbolisiert. Hier tritt er ebenfalls in dieser Rolle auf: er stellt die gesellschaftliche Ordnung durch die Einführung des Christentums wieder her. Eindeutig entsprechen also die Götterrepräsentanten in ihren Funktionen denen ihrer mythischen Namensgeber. 331 Stephen Pax Leonard unterscheidet hier zwischen ‹in-group-indentities› und ‹out-group-identities› (vgl. Leonard 2010, S. 152). 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 123 von Hafliði und Bergþórr sowie anderen weisen Leuten, die dafür ausgewählt wurden, bei Hafliði Másson in ein Buch geschrieben werden sollte. Sie sollten all jene Novellen in das Gesetz aufnehmen, die ihnen besser erschienen als das alte Gesetz. Diese Novellen sollten im darauffolgenden Sommer in der Lögretta [der gesetzgebenden Kammer] vorgetragen und all jene beibehalten werden, gegen die die Mehrzahl der Männer keinen Widerspruch erhob. Und es ging so weiter, dass die Vígslóði [«Totschlagsangelegenheiten»] und vieles andere in die Gesetze geschrieben wurden und im darauffolgenden Sommer von Geistlichen in der Lögretta vorgetragen wurden. Und das gefiel allen gut und niemand sprach sich dagegen aus. In dieser Episode finden gleich mehrere Zusammenführungen statt: zunächst wird hier erstmalig die Verbindung der geistlichen und der weltlichen Macht offen thematisiert, indem es Priester (kennimenn) sein sollen, die die Rechtskodifizierung mit erarbeiten und später vor der gesetzgebenden Kammer vortragen. 332 Die Gesetzesvorschläge bleiben also nicht länger gänzlich unbeeinflusst durch die Kleriker und damit nähert sich die Beschreibung mehr der historischen Wirklichkeit an. 333 Der Einzug der Schrift in das Rechtswesen zog wegen der nötigen Schreib- und Lesekompetenzen den Beginn einer weitreichenden Machtverschiebung hin zum klerikalen Bereich nach sich. Aris Konstruktion einer einheitlichen Gesellschaft entsprechend, ratifiziert die Lögretta dann einstimmig die vorgetragenen Novellen. Zwar wird im Hinblick auf die Fortführung der Gesetzeskonstruktion im gesamten Text Wert darauf gelegt, den weltlichen Hintergrund der Gesetze hervorzuheben (es werden sogar konkret die Vígslóði erwähnt; «Totschlagsangelegenheiten» d.h. das Strafrecht), doch wird auch angeführt, dass etliches Neue Eingang in die bestehenden Gesetze (die nun als «alte Gesetze» bezeichnet werden) findet. Hierin kann man einerseits den letzten Schritt hin zu einem autark-isländischen Gesetz erkennen, durch den die Gesellschaft erst ihre Entwicklung gänzlich abschließt. Gleichzeitig werden hier aber auch die eigentümlichen Umstände des ersten kodifizierten Gesetzes, die sog. Hafliðaskrá, erläutert, die im Folgenden aufgrund ihrer exponierten Stellung am Ende des Textes näher beleuchtet werden sollten. Die Hafliðaskrá wurde im Winter 1117/ 1118 auf dem Hof von Hafliði Másson niedergeschrieben, einem mächtigen Höfding im Norden Islands, allerdings leider in ihrer ursprünglichen Form nicht überliefert. Diese Gesetze sind jedoch genau wie das kurz darauf eingeführte und ebenfalls später überlieferte Ältere Christenrecht (zwischen 1122 und 1133), Kristinna laga þáttr, in die späteren Gesetzesbücher (wie 332 Allerdings wurde das Gesetzessprecheramt damit nicht abgeschafft - im Anschluss an die oben zitierte Episode wird bestätigt, dass Bergþórr sein Amt weiterhin ausübte. Gísli Sigurðsson stellt heraus, dass das Amt des Gesetzessprechers trotz der Verschriftlichung der Gesetze bis zum Niedergang des ‹Freistaats› und der Angliederung an Norwegen 1262/ 64 weiterhin bestand. Dies ist vor allem damit zu erklären, dass es sich nicht um Kodifizierungen, sondern um Gedächtnisstützen, also um eine Exteriorisierung des Gedächtnisses, gehandelt hat, dessen Vermittlung und Auslegung trotz der Schriftform nach wie vor nonnöten war (vgl. Gísli Sigurðsson 1994). 333 Jedoch lässt Ari auch hier außen vor, dass seit den Bistumsgründungen auch jedem Bischof ein permanenter Sitz in der Lögretta zugewiesen war. 4 Die altnordische Historiographie 124 der überlieferten Grágás) eingegangen. Inwiefern allerdings gerade die christlichen Gesetze darin den ursprünglichen Aufzeichnungen entsprechen, kann zwar nur schwerlich festgestellt werden, aber womöglich ein Ansatz zur Erklärung einer Unklarheit in Aris Bericht sein, nämlich der gezielten Unterscheidung zwischen altem und neuem Gesetz, begründet in dem Zufügen der Novellen (nýmæli), die im Rahmen der Niederschrift Eingang in das Gesetz gefunden hätten. 334 Was genau auch immer 1117/ 1118 alles für «besser» als in den alten Gesetzen erachtet wurde, es scheinen keine geringen Veränderungen gewesen zu sein («alle die Novellen in das Gesetz aufnehmen [...], dass die Vígslóði [«Totschlagsangelegenheiten»] und vieles andere in die Gesetze geschrieben wurden.»). Es ist zudem auffällig, dass Ari trotz der offensichtlichen Einbindung gelehrter Männer der Rechtskodifikation einen ausdrücklich weltlichen Charakter verleiht, obwohl zu dieser Zeit doch der Kirchenzehnt mindestens 20 Jahre zuvor eingeführt worden war, Island etwa 117/ 18 Jahre christlich war und die Kirche sich seit mindestens 100 Jahren zu etablieren versuchte. 335 Es gibt in der Forschung Uneinigkeit darüber, wann man mit der Kodifizierung des ersten christlichen Gesetzes in Form des Kirchenzehnten zu rechnen hat. Es wurde vielfach angenommen, dass jene relativ zeitnah nach dessen Beschluss stattfand, weil die Kirche generell alles schriftlich festgehalten habe. 336 Warum hat Ari dann aber über ein solch entscheidendes Ereignis nicht berichtet? Geht man von einer frühen Verschriftlichung aus, wäre das Gesetz des Kirchenzehnten wohl mit großer Sicherheit auch Teil der Hafliðaskrá gewesen. 337 Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass der Kirchenzehnt um 1096/ 97, also in einer Zeit, in der sich der Einfluss der Kirche zunächst nur bei den Bischöfen kumulierte, da die Kirche noch keine etablierte Institution in Island war, uneingeschränkt 334 Hoff weist in Anlehnung an Konrad Maurers Unterscheidung zwischen at rétta l ǫ g und at gera (gørva) nýmæli (vgl. Konrad Maurer. Die Rechtsrichtung des älteren isländischen Rechts. In: Festgabe zum Doctor-Jubiläum des Herrn Geheimen Raths und Professors Dr. Joh. Jul. Wilh. v. Planck/ von der Juristen-Facultät zu München überreicht. München 1887. S. 117-149, S. 139 f.) darauf hin, dass nýmæli im rechtstechnischen Sinn hier mit «Novelle» im Sinne eines Nachtraggesetzes, das ein vorhergehendes Gesetz abändert oder ergänzt, übersetzt werden muss (vgl. Hoff 2012, S. 47 f., bes. Anm. 147, S. 49). 335 So arbeitet Hoff (wenn auch aufgrund der teilweise dünnen Quellenlage an einigen Stellen auf hypothetischer Basis) heraus, von welchen christlichen (insbesondere byzantinischen) Einflüssen durch beteiligte Personen wie Hafliði Másson auszugehen ist (vgl. Hoff 2012, S. 129-175 sowie die Analyse des Textmaterials in den darauffolgenden Kapiteln). 336 So ist strittig, ob man davon ausgehen muss, dass es sich bei der Hafliðaskrá mehr um eine Kompilation, basierend auf bestehenden schriftlich fixierten Einzelvorschriften handelte oder wenigstens das Gesetz des Kirchenzehnten zuvor schriftlich notiert worden ist (vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 70; Gunnar Karlsson, Kristján Sveinsson, Mörður Árnason 1992, S. IX f.; Hoff 2012, S. 44 und Gísli Sigurðsson 1994, S. 209 f. sowie weiterführende Literatur). 337 Es zeichnet das mittelalterliche Island aus, dass weltliche und kirchliche Gesetze nie getrennt voneinander aufgezeichnet wurden, wofür die Gesetzestexte wie z.B. die Grágás ein Beleg sind. Zudem gab es nie eine Trennung des klerikalen und des säkularen Bereichs, was man z.B. an den dauerhaft eingerichteten Sitzen für die Bischöfe in der gesetzgebenden Lögretta auf dem Allthing sieht. So zeichnet sich auch die Hafliðaskrá dadurch aus, dass es eben Gelehrte (kennimenn) sind, die die Gesetze letztlich formen und vor der Lögretta vortragen. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 125 umgesetzt werden konnte. 338 Man muss sogar mit einer anfänglichen Destabilisierung der Gesellschaftsstruktur bis hin zu einer völligen Umstrukturierung rechnen, mit der durch die Einführung des Kirchenzehnten neue Machtverhältnisse entstanden: In short the tithe effected a fundamental change in the nature of politics; […]. The tithe created a new territorial division, the tithe area, which in turn defined the congregation, as new social group uniting neighbouring households. The tithe also contributed to the formation of territorially defined ministries which had by the end of the thirteenth century become the basic divisions of ecclesiastical administration or parishes. 339 Für die Durchsetzbarkeit einer solchen Abgabe wäre die Niederschrift der Gesetze im klerikalen Rahmen daher wenig hilfreich gewesen, weil es ihr an Allgemeingültigkeit gefehlt hätte und von einzelnen Bischöfen allein schon logistisch nicht hätte durchgesetzt werden können. 340 Wäre die Abgabe aber an die weltlichen Gesetze angegliedert worden, wie beispielsweise bei eben jener Aufzeichnung und grundsätzlichen Überarbeitung der bestehenden säkularen Gesetze im Rahmen des Hafliðaskrá-Projektes, hätte ihre Durchsetzbarkeit deutlich erhöht werden können, indem die Umstände einer solchen Abgabe eindeutig und verbindlich bestimmt und gleichzeitig durch die Regierung legitimiert worden wären. 341 Hoff hat herausgestellt, dass das bis dato übliche Verfahren der Gesetzesratifizierung auf dem Allthing bei diesem Projekt unerklärlicherweise umgekehrt wurde: über das zu beschließende Gesetz wurde nicht zuerst auf dem Allthing abgestimmt, sondern es wurde eine Kommission beauftragt, um die Gesetze auszuarbeiten und direkt niederzuschreiben. Diese erhielten bereits durch ihre Niederschrift Gültigkeit, nur ein mögliches Veto durch die mehrheitliche Ablehnung des Allthings bei der Verkündigung hätte ein Gesetz noch abwenden können. 342 Wenn man neben dieser 338 Zu diesem Ergebnis kommen sowohl Gísli Sigurðsson (vgl. Gísli Sigurðsson 1994, S. 229) als auch Orri Vésteinsson, der festhält: „ Although the tithe is a Christian idea and its acceptance in Iceland in 1097 is therefore testimony to the influence of the Church and the extent to which its teachings had affected society, the limited influence the Church is given over its reckoning and distribution shows that as an institution it was still in its infancy ” (Orri Vésteinsson 2000, S. 74). 339 Ebd., S. 90 f. 340 So weist auch der Rechtstext der später entstandenen Grágás-Redaktionen im Abschnitt zum Kirchenzehnten darauf hin, dass Prozesse im Falle des Nichtbezahlens des Zehnten generell am Gesetzesfelsen auf dem Allthing zu führen seien (vgl. Grágás, S. 83). 341 Für ein säkulares Interesse an der gesetzlichen Fixierung des Kirchenzehnten im Rahmen dieser Rechtskodifizierung würde auch Orri Vésteinssons Argument sprechen, dass die Einführung des Kirchenzehnten ebenso bedeutend für den säkularen wie für den klerikalen Bereich gewesen sein muss. Nicht nur die Kirchenbesitzer profitierten vom Kirchenzehnten, auch die Kommunen (hreppar) hatten ein Interesse daran, da sie sowohl für die Bemessung der Besitzanteile als auch für die Verteilung eines Viertels des Zehnten für die Armenhilfe zuständig waren und somit das gesellschaftliche Zusammenleben im Hinblick auf diese finanzielle Verteilung erheblich abhängig war von eindeutigen Rechtsvorschriften (vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 80 ff.). 342 „ Damit hat man das ansonsten bei Gesetzgebungsvorhaben gängige Verfahren umgekehrt, weil sie denjenigen, denen eine neue Bestimmung mißfiel, auferlegte, eine gesonderte Abstimmung über 4 Die altnordische Historiographie 126 neuen Möglichkeit der Einflussnahme auf die Gesetze noch einbezieht, dass dieser Kommission in erster Linie berufene mächtige Höfdinge wie der Gesetzessprecher und eben auch Hafliði Másson selbst (der überdies wegen seiner Position als Schwiegersohn von Teitr Ísleifsson eine enge Verbindung zu den Haukdœlir und damit auch zu den Bischöfen hatte sowie wahrscheinlich selbst Priester sowie Bischofskandidat für den Bischofsitz in Hólar 1121 war) sowie Gelehrte angehörten, liegt es nahe, dass das Gesetz des Kirchenzehnten - entweder sowieso oder spätestens jetzt - dem allgemeingültigen Gesetz angegliedert wurde. 343 Für diese These spricht auch die Beobachtung Jón Jóhannessons, der berechtigte Zweifel an einer separaten Verschriftlichung vor der Verabschiedung des Älteren Christenrechts 1122-33 äußerte, da im entsprechenden Abschnitt der Grágás zum Kirchenzehnten Reglementierungen zu finden seien, die obsolet gewesen wären, hätte das Gesetz separat in Schriftform vorgelegen. 344 Doch auch in diesem Fall stellt sich die Frage, warum Ari darüber dann kein Wort verliert. Stattdessen führt er die säkular geprägten Vígslóði als beispielhafte und bedeutsame Neuerung innerhalb der Gesetze an. Man kann davon ausgehen (und Aris Erwähnung unterstützt diese Vermutung), dass das Strafrecht für die laikale Oberschicht und das gesamte Gemeinschaftswesen als essentiell betrachtet wurde, was sich auch in dem etwa zwischen 1117-1121 stattgefundenen Thingstreit zwischen dem bereits erwähnten Hafliði Másson und Þorgils Oddsson gezeigt bzw. bestätigt haben wird, der durch alle Instanzen ging und „ vermutlich die erste wirkliche Zerreißprobe des isländischen Gerichtswesens [war], bei der sich zwei so mächtige Häuptlinge gegenüberstanden, dass man von den Vorgaben des Gesetzes abweichen und ein Waldgangsurteil in eine Geldstrafe umwandeln musste. “ 345 Dieser Thingstreit zeigt nicht nur die beginnende Machtakkumulation zu Beginn des 12. Jahrhunderts, sie stellt auch den direkten historischen Hintergrund von Aris Niederschrift dar. Dass diese Bestimmung herbeizuführen und in dieser dann eine Mehrheit erlangen zu müssen, um ein Inkrafttreten der neuen Vorschrift zu verhindern. “ (Hoff 2012, S. 50). 343 Es soll an dieser Stelle nicht spekuliert werden, in welcher Form oder Ausführlichkeit dieses Gesetz einen Platz in der Hafliðaskrá gefunden haben könnte. Dass das Gesetz allerdings wahrscheinlich schon vor der ersten überlieferten Aufzeichnung der Gesetze um 1150 (ältestes Fragment der Grágás AM 315d fol.) als schriftlicher Gesetzespassus vorgelegen hat, lässt sich aus seiner separierten und damit eigenständigen Position innerhalb des Textes vermuten (vgl. ebd., S. 44) und entspricht zudem Aris Beschreibung, dass das alte Gesetz um Novellen (eigenständige Gesetzesneuerungen) ergänzt wurde. Orri Vésteinsson vermutet hingegen die eingeschobenen Regulationen im Älteren Christenrecht als Vorstufe der später separaten Abhandlung über den Kirchenzehnten, was durchaus die These der anfänglich geringen Möglichkeit der Durchsetzung dieser Abgabe unterstützt (vgl. ebd., S. 71). Sollte man derartige Vorstufen dieses Gesetzes akzeptieren, liegt es sogar noch näher, dass bereits in der Hafliðaskrá einige generelle Regelungen zum Kirchenzehnt verschriftlicht wurden. Insbesondere die Tatsache, dass ein entscheidender säkularer Aspekt des Kirchenzehnten (nämlich die Abgabe eines Viertels an die Kommune für die Armenhilfe; vgl. ebd., S. 71) nicht im Älteren Christenrecht genannt wird, spricht dafür, dass wenigstens jener (entsprechend seiner gesellschaftspolitischen Relevanz) bereits in die primär weltlich geprägten Gesetze der Hafliðaskrá Eingang fand. 344 Vgl. Jón Jóhannesson. Íslendinga saga. 1: Þjóðveldisöld. Reykjavík 1956, S. 204. 345 Hoff 2012, S. 144. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 127 Ari also einen Gesetzesabschnitt betont, der für die mächtigen Männer seiner Zeit ohne Frage als unerlässlich empfunden wurde, räumt jede aufkeimende Skepsis und mögliche Zweifel an der Notwendigkeit der Rechtskodifikation aus. Verstärkt würde dieser Eindruck, wenn man bedenkt, dass die Vígslóði als ein Beispiel für die Novellen aufgeführt werden, d.h. dass sie in ihrer so bezeichneten Form vorher nicht existierten. Dafür spricht ein kleines, bisher unbeachtet gebliebenes Detail in Aris Bericht; er schreibt: […], at þá vas skrifaðr Vígslóði ok margt annat í l ǫ gum ok sagt upp í l ǫ gréttu af kennim ǫ nnum of sumarit eptir ([…], dass die Vígslóði und vieles andere in die Gesetze [einbe- oder aufge]geschrieben wurden und im darauffolgenden Sommer von Geistlichen in der Lögretta vorgetragen wurden). 346 Die Wendung skrifa í l ǫ gum («in die Gesetze schreiben») gehörte mindestens bis dahin nicht zum Sprachrepertoire der Gesetzestexte, da Gesetze, bevor sie schriftlich fixiert oder ergänzt wurden, vorher mündlich erlassen wurden (da sind die Umstände der Hafliðaská wie zuvor bemerkt eine rätselhafte Ausnahme). Diese besondere Kodifizierungssituation unterstützt die These, dass eine Neuschöpfung einer solchen Wendung für das spezielle Erlassverfahren stattgefunden hat. Diese Formulierung (skrifa í l ǫ gum) könnte daher in Analogie zu zwei weiteren ähnlichen Formulierungen gebildet worden sein: mæla í l ǫ gum bzw. gørva e-t í l ǫ gum (Kap. 7, S. 17/ Kap. 10, S. 23; «etwas in das Gesetz aufnehmen»). Doch selbst wenn man sich dieser Übersetzung nicht anschließen sollte, ist über dieses sprachliche Detail hinaus bezeichnend, dass gemäß dem folgenden Satz die Vígslóði neben anderen Novellen im nächsten Sommer der Lögretta vorgetragen worden seien. Der Kontext ist hier ganz deutlich: es sollten nur die Novellen vorgetragen werden, um sie im Falle eines Votums zur Abstimmung stellen zu können. All dies sind Hinweise darauf, dass die Vígslóði in ihrer so bezeichneten Gestalt erst im Rahmen der Novellierung in das Gesetz aufgenommen worden sind. Wenn also das essentielle Strafrecht durch erforderliche Novellen, wie sicher spätestens im Streit zwischen Hafliði und Þorgils deutlich wurde, ergänzt worden wäre, gäbe es noch weniger Gründe, an der Aufstellung dieser und damit auch aller anderen Novellen in diesem neuen Erlassverfahren zu zweifeln. Nicht ohne Grund wird Ari von Beginn der Íb. an die Bedeutsamkeit der Gesetze und ihre autochthone Entwicklung hervorgehoben haben: dieser Kontext, in dem sich die Gesellschaft über das Gesetz als solche identifiziert, fundiert die Rechtskodifikation und präsentiert sie im Rahmen ihrer unentbehrlichen Funktion für die säkulare Oberschicht. Es liegt indes nahe, dass die Auf- 346 Die Übersetzung dieser Aussage ist maßgeblich davon abhängig, wie sie verstanden wird. Es wäre möglich, dass sich das Dativobjekt í l ǫ gum («in [den] Gesetzen») auf das zuvor erwähnte Teilsubjekt margt annat («vieles andere») bezieht. Dann könnte man es so verstehen, dass vieles andere, was die Gesetze betraf, aufgeschrieben wurde. Möglich wäre aber auch, das Dativobjekt in Kongruenz zum Verb skrifa zu sehen, woraus eine Übersetzung im Sinne von «vieles andere wurde in die Gesetze aufgeschrieben [/ einbeschrieben]» folgen würde. Problematisch hieran ist, dass die altisländische Sprache für solche Beschreibungen eher einen Akkusativ gebrauchen würde (wie skrifa e-t á/ í bók «etwas in ein Buch schreiben»), so auch bei den festen Formulierungen bei Gesetzesverabschiedungen wie leiða/ taka í l ǫ g («in das Gesetz aufnehmen»). Allerdings bezeugt die Íb. an weiteren Stellen die sonst unübliche Verbindung mit einer Dativform von l ǫ g. 4 Die altnordische Historiographie 128 traggeber der Íb. eine bestimmte Darstellung der Geschichte intendierten, die auf die Rechtskodifikation als Endpunkt hinausläuft, da eben diese der erste Schritt der Kirchenvertreter war, in den säkularen Autoritätsbereich der Gesetzessprecher einzugreifen und ihn an die Kirche zu überführen. 347 Sollten dabei kirchenpolitische Motivationen eine Rolle gespielt haben, wäre der trefflichste Grund dafür, die Kodifikation des Kirchenzehnten sowie die wahrscheinlich bereits um 1120 geplante Ratifizierung des älteren Christenrechts (letztlich durch eben jene Auftraggeber der Íb. und den ebenfalls im Prolog erwähnten Sæmundr Sigfússon 1123 eingeführt) 348 zu legitimieren. Doch unabhängig davon, ob das Gesetz des Kirchenzehnten tatsächlich Teil der Hafliðaskrá war, stellt diese Rechtskodifizierung einen entscheidenden Wendepunkt in der Erinnerungskultur der Isländer dar, und zwar nicht nur aufgrund ihrer Schriftform. Es findet sich hierin nämlich zweierlei: auf der einen Seite wird das Gedächtnis durch die Schrift unterstützt, indem geltendes «altes Gesetz» (enn fornu l ǫ g) exteriorisiert wird und damit im Assmann ’ schen Sinne eine ‹informative Funktion› erhält (also hier zur Sicherung und Vermittlung relevanten juristischen Wissens dient). 349 Auf der anderen Seite wird das Gesetz aber im gleichen Schritt um einen erheblichen Teil erweitert und zwar um die genannten nýmæli («Novellen»), die bereits durch ihre Verschriftlichung ihre Gültigkeit erlangen. Hierin liegt die zweite Funktion: die ‹performative Funktion› der Rechtskodifikation, nämlich der Vollzug einer sprachlichen Handlung durch die Schrift, d.h. das Gesetz gilt, weil es geschrieben steht. 350 Mit diesem präskriptiven, bindenden Charakter erhält die bisher in der Forschung nur als Rechtsbuch verstandene Hafliðaskrá des frühen 12. Jahrhunderts die Funktion eines Kodexes, eines Gesetzbuchs. Üblicherweise handelt es sich bei diesen beiden Varianten um zwei sich ausschließende Funktionen von Schrift, die im isländischen Fall offensichtlich in genau dieser ersten Rechtskodifikation zusammentreffen. Zur Folge hat diese Zusammenführung, dass aus dem Kodex im Sommer nach der Kodifizierung auf dem Allthing von den Priestern vorgelesen werden musste - und das in der folgenden Zeit auch wohl wenigstens so lange, bis sich der Gesetzessprecher (im Idealfall) alle Novellen, die mit der Kodifizierung erlassen wurden, eingeprägt hatte - dazu hatte Bergþórr immerhin fünf weitere Amtsjahre Zeit (Kap. 10, S. 23). Bis dahin wird er die kodifizierten Gesetze möglicherweise auch als Erinnerungsstütze genutzt 347 Vgl. Gísli Sigurðsson 1994, S. 209. 348 Vgl. Grágás, S. 86. 349 Vgl. Assmann 2007, S. 83 f. Darüber hinaus sollte auch auf eine sprachliche Gemeinsamkeit zwischen enn fornu l ǫ g und dem nun entstandenen (offenbar mitgedachten) enn nýju l ǫ g mit der späteren altisländischen Literatur aufmerksam gemacht werden: es zeigen sich hierin Parallelen zu inn forni siðr und inn nýi siðr (altem vs. neuem Glauben, d.h. Heidentum und Christentum). Ob diese Bezeichnungen in Verbindung mit Aris Darstellung zu sehen sind oder aber schon damals Teil eines grundsätzlichen Verständnisses des Glaubenswechsels waren, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Jedoch scheint diese Parallele interessant genug, um sie bei den Überlegungen der Gestalt dieser «neuen Gesetze» nicht außen vor zu lassen. 350 Vgl. ebd., S. 83 f. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 129 haben. 351 Sollte man tatsächlich davon ausgehen können, dass der Gesetzessprecher nach dieser Kodifizierung genau wie zuvor die Gesetze irgendwann ohne Hilfsmittel erinnerte, würde hier der übliche Weg von Erinnerungsprozessen interessanterweise rückwärts verlaufen: aus der Schrift heraus würden Erinnerungen erst geschaffen werden. Allerdings fehlt es sowohl an einer sinnvollen Erklärung für die zuvor dargelegte Umkehrung des üblichen Gesetzeserlasses, die diese Kodifikation überhaupt ermöglichte, als auch an Hinweisen, ob bzw. inwiefern in der darauffolgenden Zeit weiterhin Gelehrte (bzw. lese- und rechtskundige Männer) für die Wiedergabe von Gesetzen benötigt wurden. Letzteres könnte man eventuell beantworten, indem man hierin einen Anhaltspunkt für die zu der Zeit noch kaum entwickelte isländische Schriftsprache sieht und es daher als eine Übergangslösung begreift, bis die Schrift sich wenige Jahrzehnte später entsprechend entwickelt hatte, sodass auf die Hilfe geschulter Gelehrter verzichtet werden konnte. 352 Für diese These sprechen jedenfalls die Bemerkungen im Ersten Grammatischen Traktat, der Vorschläge zur Schreibung isländischer Sprachlaute macht. Er entstand etwa in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (ca. 1150), nur wenige Jahrzehnte nach der Niederschrift der ersten Gesetze und der Íb. 353 Bedeutsam ist die darin beschriebene Motivation: Eine entsprechende isländische Schrift sollte helfen beim Lesen der Gesetze und bei Aris Geschichtswissen, das er in Büchern festgehalten habe. Interessant ist jedoch vor allem die Begründung der schriftsprachlichen Relevanz in Bezug zur Rechtskodifikation: Enn þo at aller mætte nakkvað rett or giora þa er þo vís von at þæygi vilí aller til eins færa ef malí skiptir allra helldZ i logvm enda tel ek þik þa æigi hafa vel svarað er þv lætr æigi þvrfa i varv maalí þersa nív raddar stafi [...]. 354 Und auch wenn alle irgendetwas Richtiges daraus [aus einer Schreibweise] machen [im Sinne von Auslegungen] könnten, so ist doch zu erwarten, dass es doch nicht alle auf dasselbe zurückführen wollen, wenn es die Aussage verändert, am ehesten in den Gesetzen. Und so sage ich dir, [dass] du dann nicht gut geantwortet hast, wenn du glaubst, in unserer Sprache diese neun Laute nicht zu benötigen [...]. Dieser Traktat deutet also einerseits darauf hin, dass die isländische Schriftsprache sich in engem Zusammenhang mit der Kodifizierung der Gesetze entwickelte, um vor allem die Wahrscheinlichkeit von folgenschweren Missinterpretationen der 351 Wovon vor allem deshalb auszugehen ist, wenn man Hoffs Ausführungen über die byzantinischen Rechtseinflüsse auf die Grágás berücksichtigt, die in vielerlei Hinsicht nicht der bis dahin bekannten Praxis der Rechtssprechng entsprochen haben (vgl. Hoff 2012, bes. Kap. 4 und 5). 352 Vgl. ebd., S. 51. 353 Vgl. Hreinn Benediktsson (ed.). Introduction. In: The First Grammatical Treatise, S. 13. Vgl. als Überblick auch Kurt Braunmüller. Grammatische Traktate. In: RGA, 12. S. 573-579. Der Originaltitel dieses Traktats ist unbekannt, überliefert ist er mit der zweiten, dritten und vierten grammatischen Abhandlung im Codex Wormianus, ca. 1350 (AM 242 fol.), einer der Haupthandschriften der Snorra Edda. 354 The First Grammatical Treatise. Ed. by Hreinn Benediktsson. Reykjavík 1972. S. 205. 4 Die altnordische Historiographie 130 Gesetze zu minimieren. 355 Andererseits zeigt dieser Abschnitt aber auch, dass die Rechtskodifikationen entgegen bisheriger Einschätzungen in dieser frühen Phase der Schriftlichkeit offenbar doch recht häufig zu Rate gezogen wurden. Vielleicht deshalb, weil die Gesetze durch die vermehrten Aktivitäten der Kirche ab den 20er Jahren des 12. Jahrhunderts komplexer wurden, und auch das ältere und im Umfang nicht geringe Christenrecht alsbald nach der Hafliðaskrá ratifiziert wurde (zwischen 1122 und 1133). Dieser vermehrte Erlass und die Verschriftlichung von Gesetzen sowie die Produktion der Íb. und der Lb. deuten auf Umstrukturierungen zu Beginn des 12. Jahrhunderts hin, die vor allem die Kirche in dieser Zeit betrafen bzw. durch jene initiiert wurden. Will man der These folgen, dass das Gesetz des Kirchenzehnten in diese Kodifizierung einging, weist das einerseits auf die Abhängigkeit der Kirche von der Lögretta hin: in diesem Fall hätte die Kirche ihre Gesetze an die legitimierten weltlichen Gesetze angefügt, die durch den Gesetzessprecher und die gesetzgebende Kammer ihre Legitimität erlangten. Man könnte andererseits auch vermuten, dass die Umkehrung des Gesetzeserlasses auf den Einfluss der Bischöfe bzw. Priester zurückgeht, die somit die Lögretta quasi umgehen konnten, um die Gesetze in ihrem Sinne zu gestalten. Damit wäre die Symbiose der zwei Funktionen von Rechtskodifikationen nur unter den spezifischen Bedingungen des mittelalterlichen Islands zustande gekommen, wo die weltlichen Autoritäten wie die Familie der Haukdœlir nicht nur weltlich-politischen Einfluss genossen, sondern auch die Bischöfe stellten, die die Kirche um 1100 steuerten. Bedenkt man nun diesen End- und gleichzeitig Höhepunkt der Gesetzesentwicklung in der Íb., lässt sich auch die eingangs gestellte Frage nach der Rolle des Gesetzes im Text sowie für die isländische Identität beantworten: Dadurch, dass es ein konstituierendes Merkmal der isländischen Identität darstellte, kann Ari dieses aufgreifen und es als Symbol für den jeweiligen Entwicklungsstand der Gesellschaft in der Geschichte nutzen. Diese Entwicklung ist erst mit der Niederschrift der Gesetze vollständig beendet. Gleichzeitig suggeriert dieser Endpunkt auch die vollständige politische Unabhängigkeit von Norwegen, da sie als schriftlich fixierte Verfassung den isländischen Staat legitimiert. Daher erhält das Gesetz im Text noch eine weitere Funktion: Mit dessen Hilfe sollen die 1117/ 1118 erlassenen Gesetze (welcher Gestalt auch immer) legitimiert werden, um für den nun eigenständigen Staat politische Unabhängigkeit zu beanspruchen. In diesem Sinne lässt sich die in der Íb. erinnerte Gesetzesentwicklung durchaus als Fundierung der kodifizierten Gesetze verstehen, die man als machtpolitischen Schachzug der einflussreichsten Personen im frühen 12. Jahrhundert auf Island sehen muss: die beiden Bischöfe als Auftraggeber der Íb, der populärste Gelehrte Sæmundr Sigfússon und Ari als Mitglied der mächtigen Haukdœlir. 356 355 So auch Hoff 2012, S. 55. Interessant ist auch, dass Aris Íb. in der Zeit offenbar noch weithin wahrgenommen wurde und damit wenigstens einige Jahrzehnte lang als zentraler Text zur Geschichte Islands betrachtet wurde. 356 Vgl. auch das dazu aufschlussreiche Kapitel The Tithe Law of 1097 in Orri Vésteinsson 2000, S. 67- 92. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 131 Daraus ergibt sich für die Identitätskonstruktion der Íb. ein weiterer, völlig anderer Aspekt als in der späteren Lb.: die Isländer identifizieren sich unabhängig von jeglicher religiöser Orientierung als eine Gesellschaft, weil sie alle einem Gesetz unterstellt sind. Dieses steht symbolisch sowohl für die Entwicklung der Gesellschaft als auch für die Unabhängigkeit seiner Einwohner (vorrangig innerhalb Skandinaviens), die einen souveränen und integren Status statt einer Hegemonialstellung zu beanspruchen versuchen. 4.2.1.3 Die Christianisierung: Island auf dem Weg zum souveränen Staat Die Inanspruchnahme einer Souveränität spielt am Anfang des Textes bei der Landnahme noch keine Rolle: Norwegen wird als das Heimatland der Auswanderer dargestellt, die sich eine legitime Auswanderung verschaffen, indem sie die vom norwegischen König erlassene Auswanderungssperre durch Verhandlungen in eine Ausfuhrsteuer umwandeln. Zu Beginn wird die Landnahme somit als ein Kolonialisierungsprojekt von Norwegen aus dargestellt, aus dem die Auswanderer ihr (später an die neuen Umstände angepasstes) Gesetz mitnehmen. Es wird Wert gelegt auf die Legitimität der Auswanderung sowie auf die Darstellung einer konfliktlosen Formierung der neuen Gesellschaft auf Island. Somit lässt sich eine pro-norwegische bzw. neutrale Stellung zum norwegischen Königshaus in den ersten Kapiteln der Íb. feststellen, die solange anhält, bis alle die Gesellschaft ordnenden Gesetze und legislativen Einrichtungen etabliert worden sind (ein gemeinsames Gesetz, das Allthing, die Schaltwoche sowie die Viertelteilung der Insel, d.h. bis Abschluss des Kapitels 5). Nach diesen Entwicklungsschritten scheint die Gesellschaft in der Lage zu sein, wiederum selbst ein Kolonialisierungsprojekt zu beginnen, nämlich die Besiedlung Grönlands: Land þat, es kallat es Grœnland, fannsk ok byggðisk af Íslandi. Eiríkr enn rauði hét maðr breiðfirzkr, es fór út heðan þangat ok nam land, es síðan es kallaðr Eiríksfj ǫ rðr. Hann gaf nafn landinu ok kallaði Grœnland ok kvað menn þat myndu fýsa þangat farar, at landit ætti nafn gótt. Þeir fundu þar manna vistir bæði austr ok vestr á landi ok keiplabrot ok steinsmiði þat es af því má skilja, at þar hafði þess konar þjóð farit, es Vínland hefir byggt ok Grœnlendingar kalla Skrælinga [...]. (Kap. 6, S. 14) Das Land, das Grönland genannt wird, wurde von Island aus entdeckt und besiedelt. Eiríkr enn rauði hieß ein Mann aus dem Breiðafjord, der von hierher dorthin hinausfuhr und an der Stelle Land nahm, die seither Eiríksfjord genannt wird. Er gab dem Land einen Namen und nannte es Grönland und meinte, dass die Leute Fahrten dorthin unternehmen wollen würden, wenn das Land einen schönen Namen trüge. Sie fanden dort im Land sowohl im Osten als auch im Westen Wohnstätten von Leuten und Überreste von Fellbooten genau wie solche Steingeräte, von denen man schließen konnte, dass dort Leute jener Art herumgefahren waren, die auch Vínland besiedelt haben und die die Grœnlendingar Skrælingar nennen. Mit dieser Besiedlung wird die bereits herausgestellte Wanderungsgeschichte der Isländer fortgeführt, sowohl chronologisch als auch geographisch: von Island westwärts über Grönland - die Ost-West-Bewegung findet sich dort auch in der Be- 4 Die altnordische Historiographie 132 schreibung der Fundorte menschlicher Behausungen in Grönland selbst wieder - bis nach Vínland. Bisher führte die Forschung dieses Kapitel (das dem der Christianisierung unmittelbar vorangeht) als Hauptargument für eine dem Text zugrundeliegende typologische Deutung und Einordnung Islands in die christliche Sphäre an. Insbesondere in der Parallelisierung der Beschreibungen der Ureinwohner (papar vs. Skrælingar), die im Falle Islands bereits christlich waren, in Grönland hingegen noch in einem unzivilisierten Stadium verharrten - zu erkennen an den archaischen Gegenständen, die man dort fand: Krummstäbe vs. Steingeräte etc. - konnten typologische Züge herausgestellt werden. 357 Doch ähnlich wie in Bezug auf die Christianisierungsepisode scheint die Funktion dieses Kapitels innerhalb des Textes noch darüber hinaus zu gehen: Es markiert den Wendepunkt des politischen Status Islands. Mit der Fortführung der Wanderungsbewegung über Island hinweg wird impliziert, dass sich dort erfolgreich eine neue Gesellschaft formiert hat, die nun wiederum auch als Heimatland für weitere Kolonien (hier die sich herausgebildeten Grœnlendingar) fungieren kann. Dieses Moment der Grönlandbesiedlung leitet daher den Abnabelungsprozess Islands von Norwegen ein. Wie im vorangegangenen Kapitel bereits thematisiert wurde, enthält das darauf folgende Kapitel 7, die Christianisierungsepisode, etliche narratologische Unschärfen (vor allem Unklarheiten in der Textlogik). Diese resultieren möglicherweise aus dem Versuch, verschiedene Erinnerungsfragmente in einen sinnvollen Zusammenhang bringen zu wollen. Doch begründen sich einige dieser Unschärfen nicht nur in der wenig gelungenen Zusammenführung von Erinnerungen, sondern vielmehr in der Verfasserintention, die sich nur vor dem Hintergrund dieser Grönlandbesiedlung aufschlüsseln lässt und sinnvoll gedeutet werden kann: Gleich zu Beginn des folgenden Kapitels wird beschrieben, wie König Olaf Tryggvason das Christentum nach Norwegen und nach Island brachte - doch sein Vorhaben scheitert daran, dass ein Großteil der Isländer sich nicht bekehren lassen will. 358 Die Reaktion des Königs wird als Metapher dafür verwendet, wie beträchtlich der norwegische Einfluss nach der Grönlandbesiedlung gesunken ist. Einen weiteren Schritt in dieser Entwicklung stellt die unabhängige Entscheidung der Isländer für die Einführung des Christentums dar, die eine Parallele zum Besiedlungsbeginn aufweist, wo es heißt, dass der König die Emigration verbiete, weil er die Landesverödung fürchte (vgl. Kap. 1, S. 5). Mit genau derselben Begründung spricht sich nun der Gesetzessprecher Þorgeirr für die gesetzliche Einführung des Christentums aus 357 Vgl. Hermann 2009, S. 53. 358 Es lässt sich eine Homologie erkennen, die erneut den geringer werdenden Einfluss des norwegischen Königs in Island symbolisiert: der erste vom König abgesandte Missionar Þangbrandr kann keinen großen Erfolg hinsichtlich der Bekehrung der Isländer aufweisen (vgl. Kap. 7, S. 14 f.) und der zweite Priester Þormóðr, den der König mit Gizurr und Hjalti nach ihrem Einigungsversuch mit nach Island aussendet, hat offenbar gar keine Funktion (vgl. Kap. 7, S. 15). Es wäre denkbar, dass ihm die Aufgabe zugedacht war, die heidnischen Isländer nach der gesetzlichen Einführung des Christentums zu taufen, jedoch erwähnt der Text selbst davon nichts - damit wird jeder mögliche (und durchaus auch realistisch zu erwartende) Einfluss des norwegischen Königs ausgeblendet. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 133 (vgl. Kap. 7, S. 17). Mit dieser vollständigen Parallelisierung der Isländer (bzw. des Gesetzessprechers) mit dem norwegischen König, die beide in ihrer Funktion als ‚ Regenten ‘ zum Wohle ihres Landes eine politische Entscheidung aus eigenem Interesse heraus treffen, wird ein Anspruch auf Gleichwertigkeit der beiden Länder erhoben. Dieser Anspruch manifestiert sich dann symbolisch im zuerst kontextlos scheinenden Vergleich des Königsstreits, den Þorgeirr direkt im Anschluss an seine Begründung anführt. Hierin wird erstmals eine Kritik an den offenbar für unfähig gehaltenen Königsmächten deutlich, da die Landsleute zwischen den beiden Regenten über deren Köpfe hinweg vermitteln müssen, damit jene ihren Streit beilegen. Offensichtlich wird diese kurze Episode, deren historische Entsprechung unklar ist, in Form einer Allegorie vergleichend für die isländische Situation verwendet. Demnach entsprechen die auf dem Allthing verhandelnden Isländer den Landsleuten, die zwischen den Christen und den Heiden vermitteln müssen. Eine Vermittlung und die darauf folgende Lösung werden erst möglich, indem die Landsleute den Königen Geschenke des vermeintlich anderen überreichen; eine im mittelalterlichen Verständnis respektvolle und Anerkennung bezeugende Handlung. Möglich wäre überdies, dass hier in einer breiteren Perspektive auch der Konflikt zwischen dem norwegischen König und den offiziell noch heidnischen Isländern mit einbezogen wird. Damit würde wiederum eine Parallelisierung der beiden Herrschaftssysteme einhergehen und behauptet werden, dass die Isländer keiner Königsmacht bedürften. Die Entscheidung, das Christentum gesetzlich einzuführen, wird demnach als die bessere politische Strategie befürwortet. 359 Insgesamt stellt sich hier ein politisches Szenario dar, das in Form einer Konfliktverschärfung mit einer Klimax schließlich durch einen Vergleich in Form einer Gesetzesverabschiedung, von dem jede der Parteien einen Vorteil behält, gelöst wird. 360 Diesem Schema entsprechen in Form einer immer wiederkehrenden Struktur, quasi zirkulativ, alle Konflikte in der Íb. (Auswanderungsbegrenzung, Allthingeinrichtung, Viertelteilung, Annahme des Christentums), die letztlich in unabhängiger Staatsführung resultieren und der isländischen Gesell- 359 Darüber hinaus ermöglicht die friedliche Christianisierung eine soziale Kontinuität, da kein signifikanter Bruch mit der vorchristlichen Tradition entsteht (vgl. Böldl 2005, S. 57 f.). Interessanterweise schildert allerdings die H.N. aus norwegischer Sicht einen völlig anderen Ablauf der Christianisierung, gemäß der Olaf Tryggvason in nur fünf Jahren in all seinen tributpflichtigen Ländern das Christentum aufgrund der Ergebenheit und Zuneigung zu Christus seitens deren Einwohnern eingeführt habe: Sicque factum est, ut infra quinquennium omnes tributarios, id est Hatlendenses, Orchadenses, Fereyingenses ac Tilenses, fide preclaros, spe gaudentes, caritate feruentes redderet Christo (H.N., Kap XVII, S. 94 f.: «This was effected in such a way that within five years he made all the tributary territories, that is, Shetland, the Orkneys, the Faeroes and Iceland, remarkable in their devotion, joyous in their expectations and glowing in their affection for Christ.» [Übersetzung Ekrem/ Mortensen]). 360 Hierin zeigt sich eine interessante Entsprechung zum Fehden-Schema der späteren Isländersagas (s. dazu Jesse L. Byock. Feud in the Icelandic Saga. Berkeley 1982). John Lindow stellt heraus, dass Fehden eine grundlegende Art der Konfliktlösung innerhalb der vorchristlichen isländischen Gesellschaft waren (s. John Lindow. Bloodfeud and Scandinavian Mythology. In: alvíssmál: Forschungen zur mittelalterlichen Kultur Skandinaviens, 4. Berlin 1995. S. 51-68), was an dieser Stelle wiederum auf ein vorchristliches Deutungsmuster verweist. 4 Die altnordische Historiographie 134 schaft die Fähigkeit attestieren, Konflikte ohne eine sie regierende Königsmacht zu meistern. 361 Solche motivischen und strukturellen Ähnlichkeiten, von denen sich etliche in der Íb. finden, veranlassten Hermann dazu, sie als „ Íslendingabóks typology “ vor dem Hintergrund einer geschichtstheologischen Struktur zu bezeichnen. Diese wird jedoch dadurch unwahrscheinlicher, dass direkt im Anschluss an die Christianisierung ausschließlich ausländische Wanderbischöfe (insgesamt elf) auf Island gewesen seien (vgl. Kap. 8, S. 18), die keineswegs für eine vollständige Erfüllung im Sinne dieser Typologie stehen können. Die Information über die Bischöfe bezieht Ari offenbar aus den Annalen, da die Aufreihung ihrer Namen und Amtszeiten dem Schreibstil derselben entspricht und zudem weder in diesem Text noch in anderen weitere Details über jene Bischöfe angeführt werden. 362 Bis der erste isländische Bischof, Ísleifr Gizurarson, im Jahr 1055/ 56 zum Bischof ernannt wird (vgl. Kap. 9, S. 20), scheint es während Skapti Þóroddsons Amtszeit (1004-1030) eine Zeit des Unfriedens auf Island gegeben zu haben, so berichtet Kapitel 8 weiter: Skapti hafði l ǫ gs ǫ gu sjau sumur ok tuttugu. Hann setti fimmtardómsl ǫ g ok þat, at engi vegandi skyldi lýsa víg á hendr ǫ ðrum manni en sér, en áðr váru hér slík l ǫ g of þat sem í Norvegi. Á hans d ǫ gum urðu margir h ǫ fðingjar ok ríkismenn sekir eða landflótta of víg eða barsmíðir af ríkis s ǫ kum hans ok landstjórn. (Kap. 8, S. 19) Skapti hatte das Gesetzessprecheramt siebenundzwanzig Jahre inne. Er führte das Gesetz für die Einrichtung des fimmtardómr [des Fünften Gerichts] ein sowie jenes, das keinem Mörder gestattete, einen anderen Mann als sich selbst wegen eines Totschlags anzuzeigen, denn zuvor galten dahingehend hier die gleichen Gesetze wie in Norwegen. Zu seiner Zeit wurden seinetwegen und wegen seiner Führung des Landes viele Höfdinge und mächtige Männer wegen Totschlägen oder Streitigkeiten straffällig oder aus dem Land vertrieben. In dieser Episode wird nicht nur deutlich, dass die Annahme des Christentums keineswegs als ‹Erfüllung› im Sinne einer typologischen Ausdeutung betrachtet werden kann, sondern auch, dass die gesellschaftliche Formierung noch nicht abgeschlossen ist: es scheint eine Zeit des Umbruchs stattzufinden, die wiederum durch die Änderung - oder vielmehr Fortentwicklung - von Gesetzen gekennzeichnet ist. Mit diesen erfolgt die weitere politische Abgrenzung von Norwegen, wenn explizit darauf hingewiesen wird, dass das neue Gesetz nun nicht mehr länger dem in 361 Diese gezielte Deutung lässt sich insbesondere dadurch unterstreichen, dass die auf Ari folgenden außerisländischen Quellen, die von der Bekehrung Islands berichten, völlig andere Darstellungen liefern. So berichtet beispielsweise die H.A., die Isländer haben sich nicht bekehren lassen und die Ermordung der wenigen Getauften durch die Heiden hätte nur durch Gottes Eingreifen verhindert werden können (einem Wunder gleich). Damit liefert Theodoricus eine, in der Íb. fehlende, Erklärung für das Nichtzustandekommen des Kampfes zwischen beiden Fronten (s. zum Verhältnis der Texte Bjarni Guðnason. Theodoricus og íslenskir sagnaritarar. In: Sjötíu ritgerðir. Helgaðar Jakobi Benediktssyni 20. júlí 1977, 1. Ed. by Einar G. Pétursson, Jónas Kristjánsson. Reykjavík 1977. S. 107-120, S. 107-112). 362 Offenbar trugen jene auch nichts Entscheidendes zum Selbstbild der Isländer bei und wurden daher auch nicht ausführlicher memoriert. Daraus lässt sich ableiten, dass die isländische Identität zu Aris Zeit nicht auf außerisländischen Personen oder auf Kontakten zu anderen Ländern beruhte. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 135 Norwegen entspreche. 363 Daher sind diese Erinnerungsfiguren und Wiederholungen wohl eher dem von Assmann herausgestellten grundsätzlichen Bedürfnis der Selbstdefinition einer Gruppe zuzuschreiben: Bei dem Selbstbild, das sie [d.i. die Gesellschaft] von sich erstellt, wird die Differenz nach außen betont, die nach innen hingegen heruntergespielt. Zudem bildet sie „ ein Bewußtsein ihrer Identität durch die Zeit hindurch “ aus, so daß die erinnerten Fakten stets auf Entsprechungen, Ähnlichkeiten, Kontinuitäten hin ausgewählt und perspektiviert zu werden pflegen. 364 Diese Parallelen sind daher auch kein eindeutiger Hinweis auf eine dezidiert christliche Identitätsfundierung, sondern vielmehr eine andauernde Wiederholung der geschichtlichen Abläufe zum Zweck der Kontinuitätsbildung, die das Grundprinzip des mittelalterlichen Geschichtsbewusstseins und der Identitätsfundierung generell bildeten. Die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Annahme des Christentums zeigen sich auch in einer weiteren Irregularität; nämlich im kompromissorientierten Gesetz für die sich streitenden Fronten auf dem Allthing: alle müssten sich taufen lassen, das Aussetzen von Kindern sowie das Essen von Pferdefleisch werde hingegen nach den alten Rechten behandelt; das Opfern im Geheimen sei erlaubt, doch strafbar, wenn es dafür Zeugen gäbe (vgl. Kap. 7, S. 17). Diese Regelung unterscheidet zwischen privatem und öffentlichem Raum (privater Raum ist wie zuvor heidnisch, der öffentliche Raum offiziell christlich) 365 , wobei das Augenmerk mehr auf das Äußere gelegt und damit zentrale christliche Grundsätze unterlaufen werden, in deren Vordergrund eindeutig das Innere des Menschen steht. Diese Distinktion wird aus einem zunächst nicht erkennbaren Grund heraus konstruiert, ermöglicht allerdings die konfliktlose Parallelexistenz beider Glaubensformen. In der Forschung wird diese Passage unterschiedlich bewertet, mehrheitlich wird ihr jedoch eine historische Entsprechung abgesprochen. 366 Allerdings gibt der Skandinavist Hans Kuhn eine doch zu bedenkende Erklärung hierfür, indem er 363 Darüber hinaus verwundert diese überaus negative Beschreibung von Skaptis Amtszeit, da sie in der Íb. die einzige offenkundige Bewertung des Führungsstils eines weltlichen Machthabers darstellt. Es ist kaum etwas über diese Zeit überliefert, v.a. finden sich aber keine Hinweise auf einen derartigen Unfrieden (vgl. Benediktsson, ÍF I, S. 19, Anm. 2). Was hieran besonders irritiert, ist die Tatsache, dass er als Gesetzessprecher überaus lange amtierte und demnach mehrfach wiedergewählt wurde. Das konterkariert die Beschreibungen seines Führungsstils und macht diesen Vermerk besonders unverständlich. Eine noch verbleibende Erklärung könnte sein, dass die Zeit nach dem Christentum mit der unbefriedigenden Situation der Wanderbischöfe aus der Retrospektive des frühen 12. Jahrhunderts ein Ungleichgewicht nach sich zog, welches erst mit der Einrichtung des isländischen Bistums in Skálholt beendet werden konnte. 364 Assmann 2007, S. 40. 365 Diese Unterscheidung ist für das mittelalterliche Skandinavien allerdings in der Form nicht zu treffen, vielmehr waren sogar Handlungen in privater Sphäre häufig von entscheidender politischer (und damit öffentlicher) Relevanz, so beispielsweise Sitzordnungen und Servierreihenfolge bei Festen und Zusammenkünften (vgl. Helgi Þorláksson 2005, S. 141), deren Berichte aus eben jenem Grund auch eine erhebliche Rolle in der Literatur spielen. 366 Vgl. Sveinbjörn Rafnsson. Art. „ Island “ . In: RGA, 15. Berlin/ NewYork 2000. S. 524-530, S. 525. 4 Die altnordische Historiographie 136 feststellt, dass sich hierin die Auseinandersetzung mit sozialen Problematiken manifestiert haben könnte, deren Lösung unter anderem derartige Methoden erforderte. 367 Kuhns These wird darin unterstützt, dass auch die Gesetzestexte der ‹Freistaatszeit› einen ähnlichen Pragmatismus in diesen sozialen Fragen zeigen und ist daher nicht von der Hand zu weisen. 368 Eine solche sozialökonomische Betrachtungsweise dieser auf den ersten Blick dem christlichen Glauben widersprechenden Regelungen unterstreicht, dass religiöse Hintergründe für die Annahme des Christentums auf Island tatsächlich weniger verantwortlich gewesen sind und die gesetzliche Einführung in erster Linie vor dem entsprechenden gesellschaftspolitischen Hintergrund geschah. 369 Geht man hingegen von einer intendierten Konstruktion dieser Regelung aus, könnte Ari ein kontextloses Erinnerungsbruchstück vorgelegen haben, aus dem er auf den beschriebenen Kompromiss zwischen Christen und Heiden schloss. Mögliche Anregungen für eine solche Rekonstruktion könnte er dann in fränkischen und angelsächsischen Bekehrungsgeschichten wie bei Gregor von Tours oder Beda Venerabilis bekommen haben, in denen nach der freiwilligen Bekehrung eine Zeit der christianitas imperfecta geherrscht habe. 370 Interessant ist nämlich, dass Ari schon kurz darauf den von ihm beschriebenen und offenbar nicht unproblematischen Kompromiss wie folgt löst: En síðarr fám vetrum vas sú heiðni af numin sem ǫ nnur (S. 17, «Doch schon wenige Jahre später wurde dieser heidnische Brauch genau wie die anderen abgeschafft.»). Dass die Umstände dieser Abschaffung jedoch vermutlich mit dem im Jahr 1022 durch Olaf Haraldsson den Dicken, später: Olaf der Heilige, initiierten Traktat zwischen ihm und den Isländern zusammenhängen könnte, verschweigt der Text. 371 Hieran wird deutlich, 367 Vgl. Hans Kuhn. Das alte Island. Düsseldorf 1971, S. 120. So verhinderte das Aussetzen von Kindern die Vergrößerung der Armut einer Familie und das Essen von Pferden, dem kostengünstigsten Vieh auf Island, garantierte sicher einigen eine entscheidende ökonomische Grundlage (vgl. Wolfgang Gerhold. Armut und Armenfürsorge im mittelalterlichen Island. Berlin 2002, S. 134). 368 Vgl. Gerhold 2002, S. 134. 369 Interessant ist zudem, dass auch die eingeführte Armenfürsorge keinerlei christliche Motivation aufweist und entsprechende Maßnahmen wie der Armenzehnt oder die Speiseabgaben zwar denen des europäischen Kontinents nachempfunden wurden, aber dafür offenbar sozialökonomische Faktoren im Vordergrund standen (vgl. ebd., S. 135). 370 Vgl. Weber 1987, S. 115-118. Auch Sveinbjörn Rafnsson (Um kristnitökufrásögn Ara prests Þorgilssonar. In: Skírnir, 153. Reykjavík 1997. S. 167-174) verwies auf Parallelen in Aris Übergangsbestimmungen zu irischen Pönitentialien (er nennt sie immer wiederkehrende Stereotypen), die christlichen Autoren wie Ari geholfen haben könnten, ihre Vorstellung eines guten Christentums darzustellen. 371 In diesem Traktat wurden Rechte und Pflichten beider Länder geregelt, überliefert ist er erst 1085 in Form einer notitia und in eingegliederter Form in der aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. stammenden Gesetze der Grágás (vgl. Dieter Strauch. Mittelalterliches nordisches Recht bis 1500. Eine Quellenkunde. RGA Ergbd., 73. Hrsg. v. Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer. 2011, S. 220), wo es am Ende des Traktats heißt: ÞaN rett oc þav lög gaf olafr hiN hælgi konvngr islendingom. er her er merkþr. GitzoR. byscop oc Teitr filius eius. Marcus. Hrein. Einar. Bjorn. Guðmundr. Daðe. HolmsteiN. Þeir svoro þess. at Jsleifr byscop oc menn með honom suorðo til þess rettar sem her er mercþr. at þaN rett gaf olafr eN hælgi islendingom eða betra (Grágás, S. 65; «Dieses Recht und diese Gesetze, die hier notiert sind, gab König Olaf der Heilige den Isländern. Bischof Gizurr und sein Sohn Teitr, Markús, Hreinn, Einarr, Bj ǫ rn, Guðmundr, Daði und Hólmsteinn bekräftigten 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 137 dass der Einfluss des Königs auf Island in der historischen Wirklichkeit doch entsprechend größer war, als der Text uns glauben machen will. Folglich rekonstruiert er eine ahistorische Unabhängigkeit vom norwegischen Königshof, die unter Umständen erst vor dem Hintergrund dieses Traktats möglich wurde: es wird kein Zufall sein, dass die Íb. kurz nach der ebenfalls in dem Traktat festgelegten Besitz- und Handelsrechte der Isländer und Norweger im jeweils anderen Land entstand. Diese Rechte gewährten den Isländern, zugesichert durch den norwegischen König, besondere Privilegien (nämlich die des sog. h ǫ ldsréttr; Stand, Recht und Privilegien eines freien Bauern). Diese Vorzüge werden sogar explizit von denen anderer ausländischer Leute in den alten norwegischen Golaþingsl ǫ g differenziert. 372 Ohne diese Zusicherung hätte eine derartig scharfe Abgrenzung der Isländer von Norwegen in der Literatur nicht stattfinden können. Dass dieser Traktat dennoch nicht in der Íb. erwähnt wird, hängt damit zusammen, dass er trotz aller Privilegien durch einen Eid, dass Bischof Ísleifr und die Männer mit ihm zuvor betreffend der hier notierten Gesetze eidlich bekräftigt hatte, dass Olaf der Heilige dieses Recht und mehr [unklar: könnte auch «oder noch besseres (u.U. im Sinne des christlichen) Rechts» bedeuten] den Isländern gab.»). Dieser Traktat zeigt, dass man Olaf dem Heiligen deutlich später (die zweite Gesetzesbestätigung durch Ísleifrs Sohn Gizurr wurde vermutlich um 1083 durchgeführt, auf der Rückreise nach der Bischofsweihe aus Deutschland via Norwegen, vgl. Luðvík Ingvarsson. Goðorð og goðorðsmenn I. Egilsstaðir 1986, S. 209-213) eine viel zentralere Rolle innerhalb der isländischen Politik beigemessen hat. Diese blendet die Íb. konsequent aus, genau wie sie die Heiligsprechung von Olaf dem Heiligen im Jahr 1040 retuschiert und jegliche Form einer heilsgeschichtlichen Bedeutung der norwegischen Könige für die isländische Geschichte vermeidet (vgl. Scheel 2012, S. 139; Scheel verkennt, dass der Heiligenkult Olafs zu Aris Zeit in Island bereits bekannt gewesen ist (Ólafur Ásgeirsson. Olav den helige på Island. In: Helgonet i Nidaros. Olavskult och Kristnande i Norden. Stockholm 1997. S. 83-90 und es daher eine bewusste Entscheidung gewesen sein muss, Olaf seine Heiligkeit vorzuenthalten). Der Text erweckt den Eindruck, als wenn Olaf Tryggvason sogar einen größeren Einfluss auf Island gehabt habe als Olaf der Heilige. In der späteren hochmittelalterlichen Literatur Islands trifft man häufig ein gegensätzliches, teleologisch geprägtes Geschichtsbild an, das die Ausrichtung der Geschichte auf Olaf den Heiligen widerspiegelt (vgl. Julia Zernack. Vorläufer und Vollender. Olaf Tryggvason und Olaf der Heilige im Geschichtsdenken des Oddr Snorrason munkr. In: Arkiv för Nordisk filologi, 113. Lund 1998. S. 77-96 sowie Óláfur Ásgeirsson 1997, S. 83-90; weiterführend zur Olafsdarstellung in späteren Texten s. Gunnhild Røthe. Helt, konge og helgen. Den hagiografiske tradisjon om Olav den hellige i Den legendariske saga, Heimskringla og Flateyjarbók. Oslo 2004). Demnach sei die Christianisierung durch Olaf Tryggvason lediglich formal geschehen und erst durch Olaf den Heiligen effektiv durchgeführt worden. Dieses Deutungsmuster gibt die Íb. allerdings nicht her; sie besteht sogar darauf, Olaf den Heiligen nur als politische Autorität zu betrachten (vgl. Kap. 1, S. 6; Kap. 8, S. 19, 21, 25) und lediglich Datierungen anhand seiner Amtszeit festzusetzen. Mit dem Verschweigen von Olafs Rolle für die isländische Geschichte wird eine (doch recht auswirkungsreiche) Verbindung zu den norwegischen Königen zugunsten einer Abgrenzung ausgeblendet. Ebenfalls unerwähnt bleibt aus ähnlichen Beweggründen, dass Bischof Ísleifrs Frau Dalla eine Cousine von Olaf dem Heiligen war (vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 21 f.); eine Tatsache, die eine ideale Vorlage für die Ableitung weltlicher oder auch kirchlicher Macht gegeben hätte. Darauf wird jedoch offensichtlich zugunsten wichtigerer ‹Erinnerungsinteressen› des Autors und seiner Auftraggeber, nämlich der Fokussierung auf die innerisländische geographische und genealogische Kontinuität, ebenfalls verzichtet. 372 Vgl. Grágás, S. 65 ff. sowie Anm. 2. 4 Die altnordische Historiographie 138 auch die Abhängigkeit der Isländer vom norwegischen König demonstriert, der ihnen ihre Freiheiten schließlich erst gewähren konnte. Im weiteren Kontext europäischer Gründungsgeschichten ist in dem Umgang mit Norwegen außerdem ein Grund zu sehen, weshalb die Herkunftserzählung in der Íb. genau wie die der Lb. nicht den europäischen origines gentium entsprechen: es wurde deshalb kein Anspruch auf eine Hegemonialstellung erhoben, weil es keine direkte Auseinandersetzung mit den Römern wie im festlandeuropäischen Raum im Frühmittelalter gab und es daher auch keiner Abgrenzung von ihnen bedurfte. So resümiert Alheydis Plassmann in Bezug auf die europäischen Herkunftserzählungen: Einheitliche Herkunftsvorstellungen hatten die germanischen gentes nicht, was wir feststellen können, ist allein die Tatsache, dass der Bezugsrahmen ähnlich war: Es galt ein Verhältnis zu den Römern zu definieren, was man mit der Abstammung tat. Es galt die Ehrwürdigkeit und Auserwähltheit der eigenen gens im Verhältnis zu Gott zu betonen, was man anhand der Bewährung auf der Wanderung tun konnte und es galt die Eroberung und die Herrschaft im eigenen regnum unter einem König zu legitimieren und zu rechtfertigen, was man im Moment der Ankunft und Eroberung erreichen konnte. Die Notwendigkeit für diese causa scribendi ergab sich aus der spezifischen Situation in der Transformation der römischen Welt. Wir kommen nicht umhin, zu konstatieren, dass die Vorstellungen germanischer gentes von ihrer Herkunft, Wanderung und Reichsgründung geprägt waren [sic! ] von ihrer Konfrontation und ihrer Nachahmung des römischen Vorbildes. 373 All diese Aspekte, die Plassmann als charakteristisch für die germanischen Gründungsmythen nennt, entsprechen nur teilweise oder gar nicht den isländischen Herkunftserzählungen: es wurde kein Verhältnis zu den Römern definiert, da die Abstammung der Isländer (noch) nicht auf jene zurückgeführt wird; es wird nicht die Auserwähltheit der Isländer behauptet, da alle möglichen Bewährungsproben auf der Wanderschaft gänzlich verschwiegen werden, und auch ihre Herrschaft wurde nicht legitimiert, weil es keine Eroberung des neuen Landes gab. All diese Phänomene lassen sich nur dadurch erklären, dass Island überhaupt kein eigenes regnum vorzuweisen hatte, sondern dies erst in Abgrenzung und Abnabelung zu erreichen versuchte, die Souveränität jedoch nie (vor allem nicht von Norwegen) anerkannt wurde - daher war die Positionierung zu Norwegen in der Íb. bedeutsamer als eine mögliche Abgrenzung oder Identifikation zu Europa respektive Rom. Das Interesse an einer universalgeschichtlichen Eingliederung Islands wuchs erst später, ab der Mitte des 12. Jahrhunderts, was man anhand des Stoffes der in der Zeit entstehenden historiographischen Texte wie der Veraldar saga, der Rómverja saga oder der Trójumanna saga usw. festmachen kann. Sicherlich kann man festhalten, dass diese Texte der Einbettung Islands in das Weltgeschehen dienten und dass sie auch aufgrund ihrer spezifischen Geschichte der Wanderung Analogien zu strukturell ähnlichen origines gentium suchten. Doch muss bezweifelt werden, dass hierin lediglich das Bedürfnis nach heilsgeschichtlicher Einordnung zum Ausdruck kommt, da in solchen mittelalterlich relgiösen Zusammenhängen auch immer 373 Plassmann 2013, S. 73. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 139 politische Aspekte eine Rolle spielen, wie Plassmann herausstellt. Diese Beobachtung unterstützt die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung. Darüber hinaus muss auch darauf hingewiesen werden, dass es verschiedene Abstufungen christlicher Beeinflussung in Herkunftsgeschichten gibt, die durchaus der Selektion der Verfasser unterliegen: Am deutlichsten von der Christianisierung beeinflusst sind Herkunftserzählungen, die eine biblische Anknüpfung suchen und die gens oder den heros eponymos mit biblischen Erzählungen verknüpfen. […] Eine neue Verwurzelung in christlichen Mythen lag nahe, wenn man der Christianisierung einen wichtigen Platz im Entstehungsprozess der gens einräumte und sie als entscheidenden Wendepunkt für das Werden der gens betrachtete. 374 Dies trifft im isländischen Fall nicht zu, in dem doch vielmehr den Erinnerungsfiguren der Wanderung und Landnahme sowie der Entstehung der Legislative ein zentraler Platz im Selbstverständnis der Isländer eingeräumt wird. Darüber hinaus präsentiert die Íb. in den anhängigen Ættartala eine von drei möglichen räumlichen Anknüpfungspunkten, die Plassmann neben dem biblischen kategorisiert: die implizite Verbindung zu Troja und den Römern durch trojanische Verwandtschaft, d.h. hier wird kein separater Mythos geschaffen, sondern mittels der Genealogie des Verfassers im Hinblick auf seine personale Identität an Rom angeknüpft: Die Funktion ist hier ganz ähnlich wie bei den biblischen Anknüpfungen eine Verortung in der Weltordnung, aber hier nicht im religiösen [sic! ], sondern an den legitimen Machthabern an sich, die die Spätantike zu bieten hatte. Hier kommt zum Element der Identitätsstiftung das der Legitimierung der Herrschaft hinzu. 375 Doch gerade hierin grenzen sich die isländischen Legitimierungsbemühungen ab: der Rückbezug und damit die Legitimation erfolgt trotz offenbar bekannter Anbindungen an andere Herrschaftssytseme völlig eigenständig durch den genealogischen Schnitt der Siedler sowie die auf dieser Basis ausgebildeten autochthonen Strukturen. 376 Die Abgrenzungsbemühungen gegenüber Norwegen sowie weiteren festlandeuropäischen Machtzentren lassen sich wohl am ehesten vor den kirchenpolitischen Hintergründen der Entstehungszeit der Íb. um 1120 erklären, von denen allerdings nur wenig bekannt ist. In erster Linie muss man das besonders gute Verhältnis Bischofs Ísleifrs und wohl auch Gizurrs zu den Erzbischöfen in Hamburg-Bremen sowie den steigenden Einfluss des Erzbistums Lund ab seiner Gründung 1104 bedenken, dessen Jurisdiktion dann auch Island umfasste. 377 So wurde das kurz nach 374 Vgl. Plassmann 2013, S. 63. 375 Ebd., S. 65. 376 Dieses Phänomen hat Plassmann auch in den fränkischen Herkunftsgeschichten feststellen können (vgl. ebd., S. 72). 377 Die Erzbischöfe in Hamburg-Bremen positionierten sich sehr konservativ in Fragen der säkularen und weltlichen Herrschaft und stießen später auch im anstehenden Investiturstreit auf die Seite der päpstlichen Feinde, was unter anderem die Exkommunikation Bischofs Liemar (Adam von Bremens Auftraggeber) zur Folge hatte. Wie sich in diesem Streit die isländischen Bischöfe ver- 4 Die altnordische Historiographie 140 der Íb. eingeführte Ältere Christenrecht nicht nur von den Auftraggebern der Íb. initiiert, sondern auch mit der Unterstützung des Erzbischofs Özurr von Lund erlassen: Sua setto þeir Þorlakr ketill byscop oc Ketill byscop at raði Autzorar erkibyscops oc Sæmundar oc margra kennimanna annarra cristinna laga þátt sem nu var tínt oc upsagt. (Kristinna laga þáttr, Grágás, S. 86) So setzten Bischof Ketill und Bischof Þorlákr mit der Unterstützung von Erzbischof Autzorr [Özurr], Sæmundr und vielen anderen gelehrten Männern das Christenrecht, wie es nun [hier] vermerkt und aufgesagt wurde. Die Haukdælir respektive Bischöfe hatten seit dem Traktat zwischen Ísleifr (der zu der Zeit noch kein Bischof war) und Olaf dem Heiligen um 1022, dessen neuerliche Verifikation durch Ísleifrs Sohn Gizurr wohl 1083 stattfand, bis hin zur Ratifizierung des Älteren Christenrechts für Island offenbar entscheidende ‚ außenpolitische ‘ Funktionen (auch wenn jene in der Íb. ausgeblendet werden): sie unterzeichneten mit dem norwegischen König im Namen der Isländer einen Traktat, der Rechte und Pflichten Islands und Norwegens festhielt, und erließen christliche Gesetze (den Kirchenzehnt und das Ältere Christenrecht) mit entscheidenden gesellschaftspolitischen Auswirkungen. 378 In der Abwendung vom norwegischen Königshof und der norwegischen Kirche kurz nach dem Erlass des Traktats sowie der Auslassungen der für Island zuständigen Erzbistümer in der Íb. lässt sich wohl am ehesten die Abgrenzung der isländischen Magnaten zu all diesen möglichen Einflusszentren verstehen: Norwegen, dem Erzbistum Hamburg-Bremen und dem Erzbistum Lund. 379 Für eine solche Intention der Fundierung einer Unabhängigkeit spricht auch, dass die später auf der Íb. beruhende Hungrvaka diese Grundidee aufgreift und die Geschichte dahingehend ‚ neu schreibt ‘ : Iceland was exeptional. Its unity was expressed not by a king but by law. For Ari and his successors, the acceptance of Christian law marked the decisive step in the conversion, hielten, ist unklar. Dennoch könnten es solche kirchenpolitischen Interessen gewesen sein, die das Verfassen einer Íb. anregten. So könnte man vermuten, dass die Bemühungen Papst Gregors VIII. (1073-1085), die nationalen Kirchen Skandinaviens zu stärken und vom Erzbistum Hamburg- Bremen zu emanzipieren, von den Vertretern der isländischen Kirche unterstützt wurden und die Íb. vorsorglich eine Begründungsgeschichte der isländischen Kirche durch die Haukdœlir und entsprechende Machtansprüche fundieren sollte. Der Investiturstreit wird außerdem ebenfalls nicht gänzlich an den isländischen Klerikern vorbeigegangen sein. 378 Auch nach der in der Íb. geschilderten Zeit gibt es Hinweise darauf, dass die Haukdælir dem norwegischen Königshof sehr zugewandt waren. So wurde Gizurr Hallsson ( * 1125-1206†, Gesetzessprecher), der Sohn von Hallr Teitsson, irgendwann zwischen 1136 und 1155 laut der Sturlunga saga Gefolgsmann des Königs Sigurðr munnr Haraldsson und dessen offizieller Sprecher auf dem Allthing (stallari, d.i. eine Art königlicher Marschall; vgl. Helgi Þorláksson 2005, S. 147). Außerdem gab er die Bischofschronik Hungrvaka in Auftrag. 379 Norwegen gab in kirchenpolitischer Hinsicht Anfang des 12. Jahrhunderts keine sinnvolle Identifikationsbasis ab, da die Organisation der norwegischen Kirche derzeit noch genauso wenig ausgeprägt war wie in Island (vgl. Scheel 2012, S. 154), das erste Erzbistum in Nidaros wurde erst 1152/ 53 gegründet. Island unterstand bis ca. 1104 dem Erzbistum Hamburg-Bremen, danach Lund, die beide bei Ari keinerlei Erwähnung finden. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 141 and in Hungrvaka, an account of the conversion written in the first years of the thirteenth century, native Icelanders are given all the credit; Olav Tryggvason is not even mentioned. This deliberate rewriting of history to deprive the Norwegian king of any part in the process may be seen as a reaction to the growing influence of Norway, represented at that stage by the archbishop. But as the proliferation of sagas about both Olav Tryggvason and Saint Olav shows, some Icelanders were very interested in them, although they were sometimes described in unfavorable terms. 380 Genau wie außerisländische kirchenpolitische Ereignisse mögen auch innerisländische Begebenheiten den Anstoß für die Geschichtsdarstellung der Íb. gegeben haben: Um Bischof Gizurrs Todesjahr 1118 herum begab sich der später für die Machtstreitigkeiten des 13. Jahrhunderts als symbolträchtig memorierte Thingstreit (ca. 1117-1121) zwischen Hafliði Másson und Þorgils Oddsson. 381 Darauf folgend begaben sich laut den Annalen ab den 1120er Jahren etliche solche machtpolitischen Konflikte, weshalb der Streit zwischen Hafliði und Þorgils aus der Retrospektive des 13. Jahrhunderts wie der Beginn dieser folgenden Auseinandersetzungen gewirkt haben mochte. 382 Da von den vorangehenden 100 Jahren nur wenige Unruhen und Streitigkeiten dieser Art bekannt waren, schien es entsprechend logisch, diese eher friedlichere Zeit der Führung von Bischof Gizurr zuzuschreiben. 383 Darüber hinaus gab es im Jahr 1120 eine Hungersnot auf Island, deren Folgen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Sichtweise des Autors gehabt haben werden. 384 Möglicherweise haben eben diese Ereignisse dazu beigetragen, dass die Zeitspanne während Bischof Gizurrs Amtszeit später als ‹goldenes Zeitalter› erinnert wurde. 385 Für eine solche Darstellung gibt Ari eine 380 Sawyer/ Sawyer 1993, S. 224. 381 Vgl. Ellehøj 1965, S. 80-84. Dieser Streit wird in der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts als Beginn der Konflikte betrachtet, die auch die Machtkämpfe der Sturlungenzeit nach sich zogen: „ Þorgils and Hafliði did not manage to break each other, but the attempt had been made. They had shown that chieftains were capable of mustering hundreds of men to fight for a cause which was no immediate concern of these men, and thereby they showed that chieftains had the will and the means to crush each other by force, with little or no regard for the law or the established order. If […] these were totally new concepts, it makes it easier to understand why so much was made of this affair and why memories of earlier conflicts were not preserved ” (Orri Vésteinsson 2000, S. 67 sowie S. 65 ff. und weiterführende Literatur). 382 Vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 65 f. sowie Anm. 8. 383 Vgl. ebd., S. 65 f. 384 Vgl. ebd., S. 64. 385 Vgl. ebd, S. 64. Auffällig ist, dass die Annalen von merkwürdigen Ereignissen nach Gizurrs Tod berichten: „ After Gizurr ’ s death in 1118, we are told of a series of bad weather with freak accidents, followed by depriviation in many places “ (ebd., S. 63). Möglicherweise hat die Verbindung zwischen Gizurrs bedeutender Rolle und einer relativ friedlichen Zeit, die die ersten Historiker in ihren Texten zogen, auch die späteren Annalisten beeinflusst (so Íb. und wie folgt Hungrvaka: […] ok var rétt at segja at hann var bæði konungr ok byskup yfir landinu meðan han lifði (Hungrvaka. ÍF XVI, Biskupa sögur II. Ásdís Egilsdóttir gaf út. Reykjavík 2002, Kap. 4, S. 16; «[...] und es war korrekt zu sagen, dass er sowohl König als auch Bischof über das Land war, während er lebte.» Denselben Eindruck über die prominente Rolle der Bischöfe für die isländische Geschichte deutet auch Adam von Bremen in seinen Gesta Hamburgensis an: Episcopum suum habent pro rege; ad illius nutum respicit omnis populus; quicquid ex Deo, ex scripturis, ex consuetudine aliarum gentium ille con- 4 Die altnordische Historiographie 142 entsprechende Grundlage, wenn er Bischof Gizurrs Wirken in ein derart positives Licht stellt (vgl. Kap. 9, S. 21 f.). Auch Ari wird die Ereignisse um 1120 nicht unabhängig von Gizurrs Tod gesehen haben, der Inhalt der Íb. geht allerdings nicht über das Jahr 1120 hinaus, weshalb keine Rückschlüsse auf seine Sicht der Geschehnisse gezogen werden können. Dennoch ist es vor dem Hintergrund des Machtstreits zwischen Hafliði und Þorgils symbolträchtig, dass die Íb. mit dem ‚ letzten ‘ Gesetz - der Verschriftlichung der Gesetze am Ende von Gizurrs Amtszeit - abschließt und damit die vollständige Formierung der isländischen Gesellschaft sowie die ‹Friedenszeit› (wenigstens bis 1120) das sind, womit seine isländische Geschichte endet. 4.2.1.4 Vom Kollektiv zur Person: ein Gesellschaftsbild als Rezeptionshindernis Aufgrund der Ähnlichkeit des Stoffes haben sich in der vorangegangenen Analyse etliche Vergleichspunkte mit der Lb. ergeben, die häufig eine andere Erinnerung der geschilderten Ereignisse implizieren. Auffällig für die Íb. ist, dass der Fokus kaum auf bestimmten Personen liegt (ausgenommen die beiden Kapitel, die den beiden Bischöfen Ísleifr und Gizurr gewidmet werden), solange sie nicht entscheidend an bedeutsamen Ereignissen beteiligt sind. Island - also die isländische Gesellschaft als Kollektiv - wird hier von vornherein als bestehendes Ganzes, als Einheit, betrachtet und nicht etwa als die Summe der übersiedelnden Familien oder der sie repräsentierenden Landnehmer. 386 Somit scheint im Gegensatz zur Lb. die Konstruktion personaler Identitäten, die als Summe das Kollektiv darstellen (von der Person zum Kollektiv), hier weniger eine Rolle zu spielen als die Darstellung der gesamten isländischen Gesellschaft als geschlossene Einheit (vom Kollektiv zur Person). Das Verhältnis zwischen Íb. und Lb. wurde in der Forschung bisher als ein komplementäres betrachtet: die Lb. funktioniere im Gegensatz zur Íb. nur auf personaler Identitätsebene (entspricht einer personalen Identitätsfundierung; allerdings seitens der Forschung immer nur diskutiert im Hinblick auf den Anspruch einer Person oder Familie auf Land), während die Íb. das Ziel verfolge, die Isländer als Kollektiv darzustellen (entspricht einer kollektiven Identitätsfundierung). 387 Das würde allerdings stituit, hoc pro lege habent (Gesta Hamburgensis, IV 36, S. 486 f.: «Ihr Bischof ist wie ein König. Auf seine Weisung achtet das ganze Volk. Was er nach Gottes Willen, nach den Hl. Schriften, nach dem Rechtsbrauch anderer Völker anordnet, gilt ihnen als Gesetz.» [Übersetzung Werner Trillmich]). Die ersten zeitgenössischen Ereignisse wurden um 1131 aufgezeichnet, bei denen aus der Retrospektive des 13. Jahrhunderts eine Idealisierung von Gizurrs Amtszeit vorgenommen wurde (vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 65 f.). 386 Auch der Titel des Textes verrät, dass die isländische Gesellschaft als Kollektiv betrachtet wird und sich die Einwohner Islands als Íslendingar bezeichnen. 387 „ There is also reason to see early twelfth-century historical endeavor as working to a programme, in which the Landnámabók project covered the genealogy of the Icelanders and the story of the settlement period, while Íslendingabók dealt with these summarily in order to continue the story up to the author`s present. The two works are also complementary to the extent that Íslendingabók is concerned with the Icelanders as a nation, and Landnámabók with families and individuals ” (Whaley 2000, S. 174). Sabine Walther geht sogar so weit, beide Texte als ‹die eine kanonisierte Erzählung› zu betrachten, die die Basis für die aus ihrer Sicht offenbar kohärente isländische Iden- 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 143 auch bedeuten, dass sich die beiden Texte hinsichtlich ihrer Identitätskonstruktion ergänzt hätten bzw. sogar derart konzipiert worden wären. 388 Da hier jedoch offensichtlich zwei unterschiedliche und zunächst nicht miteinander zu vereinbarende Formen der Identitätsstiftung vorliegen, einerseits von der Person zum Kollektiv und andererseits vom Kollektiv zur Person, muss die Behauptung, die Lb. und die Íb. seien komplementär, als unberechtigt abgelehnt werden. Somit könnten sich die beiden Texte zwar auf funktioneller Ebene (sofern man hinsichtlich der Lb. z.B. vorrangig den Anspruch auf Land betrachtet) ergänzt haben. In identitätsstiftender Hinsicht stellen sie allerdings kein einheitliches und somit erst recht kein einander ergänzendes Bild dar - sie widersprechen sich sogar offensichtlich. Vér, ossa landa, á landi hér - diese und weitere Formulierungen wählt Ari bewusst, um deutlich zu machen, wie er die isländische Gesellschaft betrachtet - als Kollektiv und als nicht infrage zu stellende Einheit. Mit der Formulierung vér spricht er eindeutig seine Zeitgenossen an, was anhand einer Passage in Kap. 10, S. 22 deutlich wird: þeira es váru fyrir várt minni (jene [Ereignisse], die sich vor unserer Erinnerung begaben) im Gegensatz zu der darauf folgenden Formulierung es fyrir hans minni váru (die sich vor seiner Erinnerung begaben). 389 Die Formulierung várt in diesem Zusammenhang umfasst demnach all jene Erinnerungsträger, die der Gesellschaft zu Aris Lebzeiten angehören und spricht damit das (bzw. ein) kommunikative(s) Gedächtnis seiner Zeit an. 390 Mithilfe dieser ‹communal voice› 391 als rhetorischem Mittel fordert der Verfasser Erinnerungshoheit in einer von Konkurrenzen dominierten Erinnerungskultur. Diese Vorstellung einer einheitlichen Gesellschaft (‹wir, die Isländer›) formuliert Ari nicht nur mit seiner direkten Anrede an sein zeitgenössisches Publikum, sondern auch mit seiner Darstellung der Entwicklung der Gesellschaft: bei allen beschriebenen Ereignissen oder Entscheidungen in der titätskonstruktion gebildet habe (vgl. Sabine H. Walther. Ingólfr war der berühmteste aller Landnehmer - Gründungsmythen im hochmittelalterlichen Island. In: Gründungsmythen Europas im Mittelalter. Hrsg. v. Michael Bernsen, Matthias Becher, Elke Brüggen. Bonn 2013. Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst, 6. S. 87-103, S. 94), legt für diese These jedoch nur die Ähnlichkeit einiger Beschreibungen und Motive in beiden Texten zugrunde (vgl. Walther 2013, S. 93 f.). 388 Vgl. Whaley 2000, S. 174. Zu dieser Überlegung führte sicherlich u.a. die Datierung der ersten Lb.- Version auf die Zeit um 1100, womit sie etwa in die gleiche Zeit fiele wie die Entstehung der Íb., was zwar nicht von der Hand zu weisen ist, aber auch keine unkritische Schlussfolgerung erlaubt. 389 Die Überlegung, dass Ari seine Zeitgenossen mit der Íb. tatsächlich direkt ansprechen wollte, wird zudem unterstützt durch fehlende und somit wohl nicht benötigte Kontextualisierungen wie Landes- und Ortsbeschreibungen sowie den Gebrauch der Volkssprache: „ Certain larger scale features also imply an informed ‚ home ‘ audience, for instance the lack, in Íslendingabók, of the conventional description of the land, [...] “ (Whaley 2000, S. 183). 390 Da es an dieser Stelle um die Erinnerungen von Ereignissen geht, die sich vor der Zeit des Verfassers zutrugen, können hier nur die Erinnerungen aus dem kulturellen Gedächtnis zur Rekonstruktion einer Geschichte herangezogen worden sein. Somit ist davon auszugehen, dass die Gestetzessprecherlisten fundierend für die kollektive Identität waren - vermutlich vor allem im Hinblick auf die Ordnung vergangener Ereignisse in Form einer relativen Chronologie. 391 Vgl. Susan Sniader Lanser. Fictions of authority: women writers and narrative voice. Ithaca/ New York 1992, S. 223 ff. 4 Die altnordische Historiographie 144 Vergangenheit werden die Isländer als geschlossene Einheit dargestellt, so heißen beispielsweise alle den Vorschlag gut, die Gesetze aufzuschreiben und diese stetig, vorausgesetzt die Mehrheit der Männer stimme dafür, zu aktualisieren (Kap. 10, S. 24: En þat líkaði ǫ llum vel, ok mælti því manngi í gegn.), oder wählen politische Entscheidungsträger aus, die im Sinne aller Isländer Beschlüsse erzielen sollen (Kap. 10, S. 22: at s ǫ gu ok umbráði þeira Bergþórs ok annarra spakra manna, þeira es til þess váru teknir). Auf irgendeine Art und Weise unterstützt die Bevölkerung (vorwiegend freiwillig bzw. allen rechtmäßigen Beschlüssen folgend) jede das Kollektiv betreffende Entscheidung; so suggeriert es der Text jedenfalls (s. auch Kap. 2, S. 7, als beschrieben wird, wie Grímr von Ulfljótr beauftragt wird, Island zu umreisen, und dann von jedem Mann Geld bekommt: En hónum fekk hverr maðr penning til á landi hér, en hann gaf fé þat síðan til hofa.). Gleichzeitig wird immer von einer grundlegenden Gerechtigkeit ausgegangen (impliziert wird fast schon eine Art demokratische Verfahrensweise, wie im zuvor genannten Zitat zur Wahl der Entscheidungsträger 392 ), aufgrund der sich die Isländer überhaupt erst als Einheit verstehen können - und diese Gerechtigkeit wird durch das Gesetz gesichert (vgl. u.a. Kap. 1, S. 6, als beschrieben wird, dass «jeder» (hverr maðr) dem Gesetz der Ausfuhrsteuer unterstünde, oder Kap. 3, S. 8: Das Allthing wird durch Ulfljótr, der die Gesetze nach Island brachte, und «allen Bewohnern» (allra landsmanna) eingerichtet u.v.m.). 393 Dieser Eindruck wird noch verstärkt, indem Ari ein- und ausgrenzende Lokaladverbiale wie hér (á landi), (út) hingat, heðan oder út bzw. útan gebraucht. 394 Sie bewirken, dass die Leserschaft Island als souveränes Land wahrnimmt, das seit jeher deutliche Grenzen sowie Gegensätze zu anderen Ländern aufweist. 395 Indem die Unterschiede und Grenzen nach außen verifiziert werden, erfolgt automatisch eine Identifikation nach innen, da die Einwohner sich somit über bestimmte Kriterien als Gesellschaft betrachten können. Doch nicht nur die Íb. weist eine solche Fülle an Lokaladverbien auf, die isländische Literatur des Mittelalters ist insgesamt durch diese spezifische Sicht der Insel als abgegrenzte Region mit der sich daraus ergebenden differenzierten Richtungsorientierung geprägt. Darin lässt sich in 392 Tatsächlich wird diese Wahl nur auf die mächtigen Männer beschränkt gewesen sein, wie es beim Allthing generell der Fall war. Ari geht entweder davon aus, dass diese Tatsache seiner Leserschaft bekannt war, oder suggeriert absichtlich, dass alle (wahrscheinlich dennoch mit der Beschränkung auf die freien) Männer Anteil an diesen Entscheidungen hatten. 393 Insgesamt fünfzehn Mal benutzt Ari für die Gesellschaft eine Formulierung, die sie als Einheit darstellt: Hverr maðr (3x: Kap 1, S. 5, S. 6/ Kap 2, S. 7); allra landsmanna (2x: Kap. 3, S. 8/ Kap. 10, S. 22); landsmenn (2x: Kap. 3, S. 9/ Kap. 9, S. 21 at bœn landsmanna); allir (menn) (9x: Kap 4, S. 10; 4x: Kap. 7, S. 17; 4x: Kap. 10, S. 24). 394 «hier (zu Lande), hierher hinaus [auf die Insel], von hier, hinaus, von draußen/ von außen her». Insgesamt zehn Mal verwendet Ari die folgenden geographischen Beschreibungen: (út) hingat/ hingat (til lands) (6x: Kap 1, S. 5, S. 6/ Kap 6, S. 14/ Kap. 9, S. 21; 2x/ Kap. 10, S. 25); (útan) heðan (2x: Kap. 5, S. 13/ Kap. 7, S. 15); útan/ út (2x: Kap. 10, S. 24). 395 Vor allem im Vergleich mit anderen historiographischen Texten des mittelalterlichen Skandinaviens wird deutlich, dass die Darstellung Islands in der Íb. vorrangig darauf abzielt, die Kultivierung und Unabhängigkeit des Landes zu betonen, während andere Texte (so bspw. die H.N.) die Insel als abhängig, fremd und außerhalb ihrer Sphäre betrachten (vgl. Hermann 2009, S. 54). 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 145 jedem Fall das Bewusstsein einer gewissen Isolation erkennen, deren implizierter Ausgangspunkt jedoch immer Island darstellt (vor allem erkennbar an Richtungsadverbialen wie útan «von draußen/ von außen her», héðan «von hier aus», hingat «hierher» etc.). Mittels dieser Formulierungen konstruiert Ari einen gesellschaftlichen Konsens, der auf einem Gemeinschaftsgefühl basiert, das im Text bereits vor der Christianisierung geschaffen wird und diese auch überdauert. Ari unterstreicht diese Gemeinschaftsidee, indem er die Leserschaft durch die direkte Anrede vér, várt, ossa landa («wir, unser, unsere Landsleute») als Einheit anspricht. 396 Der Gebrauch von ossa landa im Bericht der Christianisierungsversuche des norwegischen Königs Olaf Tryggvason (Kap. 7, S. 15) hat dabei die bedeutsamste Wirkung: sie führt zu einer starken Identifikation der isländischen Leser mit ihrem Land und ihren Landsleuten, die in Form einer Abgrenzung von Norwegen erfolgt. Durch den Zusammenhalt gegen die Bedrohung der eigenen Landsleute, denen durch Olaf Tryggvason aufgrund fehlgeschlagener Bekehrungsversuche in Island die Todesstrafe angedroht wird, erstarkt die Gesellschaft nach innen und grenzt sich gegen Andere ab. Zu guter Letzt betont Ari die gesellschaftliche Einheit auch mit dem Pronomen vér («wir») insgesamt drei Mal. Für diese funktionalisiert er den Gesetzessprecher Þorgeirr, indem er ihn in dessen Ansprache zur Wiedervereinigung der Isländer auf dem Allthing in der direkten Rede sprechen lässt: „ En nú þykkir mér þat ráð, “ kvað hann, „ at vér látim ok eigi þá ráða, es mest vilja í gegn gangask, ok miðlum svá mál á miðli þeira, at hvárirtveggju hafi nakkvat síns máls, ok h ǫ fum allir ein l ǫ g ok einn sið. Þat mon verða satt, es vér slítum í sundr l ǫ gin, at vér monum slíta ok friðinn. “ (Kap. 7, S. 17) „ Und nun scheint es mir ratsam “ , sprach er, „ dass auch wir nicht gerade die bestimmen lassen, die sich mit der größten Feindseligkeit gegenüberstehen. Lasst uns [deshalb] nach einer Einigung zwischen ihnen suchen, so dass die Interessen beider Seiten berücksichtigt werden, aber alle gemeinsam ein Gesetz und einen Glauben haben. Es wird sich bewahrheiten: Wenn wir das Gesetz entzweireißen, dann zerreißen wir auch den Frieden. “ Diese Ansprache ist auch als direkte Aufforderung an sein gegenwärtiges Publikum zu verstehen: ‹das Gesetz sind wir, es hält unsere Gesellschaft zusammen - so wie es damals entscheidend war, das Christentum gesetzlich einzuführen, so müssen wir auch heute dafür Sorge tragen, dass wir das Gesetz achten und wir uns unter ihm als Gesellschaft verstehen›. Dieser Appell bezieht sich jedoch nicht nur auf die Erzählung von der Christianisierung, sondern zieht sich als roter Faden durch die gesamte Íb. hindurch. Wie schon in den Auseinandersetzungen mit dem norwegi- 396 Vér («wir» 3x: wörtl. Rede Kap. 7, S. 17) várt («unser» 1x: Kap. 10, S. 22), oss («uns» 7x: 3x Teitr, je 1 Þorkell Gellisson, Ulfhéðinn, Gisrøðr, Hallr) und ossa landa («unsere Landsleute» 1x: Kap. 7, S. 15). Aufgrund der vielfältigen Verwendung des vér/ oss in verschiedenen Kontexten innerhalb des Textes kann ihr Ursprung in Anlehnung an die lateinisch gelehrte Tradition, in der ein Verfasser von sich in der 1. Person Plural spricht, ausgeschlossen werden. So spricht Ari mehrfach von sich selbst in der 1. Person Singular (vgl. Prolog; Kap. 1, S. 4; Kap. 9, S. 20&21; Ættartala, S. 28). 4 Die altnordische Historiographie 146 schen König zu Beginn der Emigration und der beispielhaften Erzählung der beiden im Streit liegenden Könige, die Þorgeirr vor dem zuvor genannten Appell anführt, sehen sie sich auch in dieser Situation dafür verantwortlich, mit Bedacht eine Lösung herbeizuführen, anstatt sich durch Konfrontation dem gesellschaftlichen Niedergang preiszugeben. Dabei betrachten sich der Gesetzessprecher und jene, die er hier anspricht, offensichtlich als (in ihrer Entscheidungsfindung weise handelnde) Vermittler. Durch diese Vermittlerposition rekonstruiert der Text einen seit jeher bestehenden, guten politischen Kontakt zwischen Island und Norwegen: auf einer gemeinsamen Grundlage (die auch die Religion mit einschließt) soll Friede durch zuvorkommendes großzügiges und respektvolles Verhalten zwischen den Entscheidungsträgern der Länder (d.h. dem norwegischen König und der isländischen Gesellschaft) herrschen. Damit wird die isländische Gesellschaft hinsichtlich ihrer Souveränität als gleichwertig mit dem Königtum dargestellt, womit vermutlich ein Zustand konstruiert wird, der der Realität nicht entsprach und somit durch diesen Gründungsmythos kompensiert werden soll. Es zeigt sich, dass etliche Einflüsse von außen - speziell seitens der norwegischen Könige -, die für die Isländer von Nachteil waren, in der isländischen Geschichte der Íb. ganz im Sinne einer ‹Allianz von Herrschaft und Vergessen› ausgelassen werden. Diese dient dazu, Widerstand zu leisten. 397 Widerstand gegen einen Zustand, der für die Identität einer Gemeinschaft als bedrohlich empfunden wurde. Daher wird in der Erinnerung ein Zustand rekonstruiert, der die abgelehnte Gegenwart positiv verändern soll. In Form des Appells an seine Leserschaft, den Frieden nicht durch die Abschaffung des gemeinsamen Gesetzes zu zerreißen, beabsichtigt er die Festigung einer inneren Geschlossenheit innerhalb der Gesellschaft und erinnert im kontrapräsentischen Modus damit ein gegenwärtiges Defizit: einer gesellschaftlichen Einheit seiner Zeit. Es ist deshalb davon auszugehen, dass dieses Gesellschaftsbild eine durch aktuelle Umstände beeinflusste Rekonstruktion des Autors und seiner Auftraggeber bzw. Berater war. Und trotz der sehr erfolgreichen ‹Allianz von Herrschaft und Vergessen› und damit einer überzeugend dargelegten Gesellschaftsgründung, liegt in Aris Gesellschaftsbild der Grund, wieso der Gründungsmythos der Íb. in seiner Gänze niemals rezipiert wurde: er entspricht in zu geringem Maße und den Fundierungsbedürfnissen bzw. ‹Erinnerungsinteressen› der Isländer im Mittelalter. 398 Die Möglichkeit einer solchen Darstellung ermöglichte erst der 397 Vgl. Assmann 2007, S. 73. 398 Zwar wird Ari als herausragender Historiker bzw. Verfasser in etlichen Texten des Hochmittelalters erwähnt, jedoch nur zur Verifizierung genealogischer Bezüge, nicht aber hinsichtlich seiner Geschichts- oder Gesellschaftskonstruktion. So verweist beispielsweise die H-Fassung der Lb. zwar darauf, dass Ari über die Landnahme berichtet habe (H 354, S. 395) vermerkt darauf jedoch, dass die vorliegende Fassung eine Zusammenführung der Texte von Sturla und Styrmir sei. Die S- Version der Lb. nennt sogar ganz konkret den Gelehrten Sæmundr als ihre Quelle für den Bericht über Islands Entdeckung (S 3, S. 34), doch weder Ari noch seine Íb. werden in S als Quelle angeführt. Auch in den Isländersagas wird fünf Mal auf Ari als Gewährsperson für genealogische Beziehungen oder chronologische Informationen hingewiesen, ohne die tatsächliche Quelle, d.h. den zugrundeliegenden Text, zu nennen (vgl. Anm. 121, S. 44). Nur ein einziges Mal wird die Íb. als 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 147 Medienwechsel, durch den sich „ zuvor unbekannte Wege eröffneten, die Isländer und ihren Ursprung an einem einzigen Ort zu vereinen: in einem Buch “ . 399 Quelle angeführt, nämlich in dem Christianisierungsbericht der ÓlO: Ok kómu þeir síðan út hingat ok til alþingis, sem segir í Íslendingabók, […] (Kap. 35, S. 246). Dieser Verweis entstammt allerdings nur einer von insgesamt drei erhaltenen Handschriften, die jeweils einen sehr unterschiedlichen darstellerischen Charakter haben. 399 „ […] opnað áður óþekkta leið til að sameina landsmenn og uppruna þeirra á einum stað: í bók.“ (Gísli Sigurðsson 1994, S. 207, Anm. 3). Im Gegensatz zur Íb. erfreute sich die Lb. seit ihrer ersten Zusammenstellung einer regen Rezeption, da sich in ihr jeder Einzelne (d.i. jeder freie Mann) wiederfinden konnte und die Legitimation einer jeden Familie darin sichergestellt war. Die Identitätskonstruktion, die Ari mit der Íb. anstrebte, entsprach gegen Ende des 12. Jahrhunderts nicht (mehr) den benötigten Legitimierungs- und Fundierungsbedürfnissen einzelner Familien und Personen: wegen der beginnenden familien- und personenzentrierten Machtakkumulation sowie der sich etablierenden Kirchenmacht wurde ein gesellschaftlicher Anfang mit stratifizierter Sozialstruktur erinnert, aus dem sich die später entwickelten Vormachtstellungen ableiten ließen. Aris eigene Genealogie zeigt, dass sich neben einer intendierten kollektiven isländischen Identität bereits um 1100 das Bedürfnis entwickelte, eine personale Identitätsfundierung vorzunehmen, woraus sich sicher wesentliche Ansprüche hätten ableiten lassen. Insofern bezeugt die Íb., wenn auch nur peripher, schon im frühen 12. Jahrhundert auf Island das Aufkommen verschiedener Identitätsbedürfnisse und unterstützt damit nochmals auch die zuvor aufgestellte These, dass die Lb. ebenfalls ein Bewusstsein für ein gewisses Nebeneinander von personaler und kollektiver Identität bis in das 13. Jahrhundert hin widerspiegelt - auch wenn sich das Verhältnis von 1120 bis in das 13. Jahrhundert umzukehren scheint - der Schwerpunkt entwickelt sich (jedenfalls in der Literatur! ) weg von einem vorrangig kollektiven Bedürfnis hin zu einem vermehrt personalen Fundierungsbedürfnis. 4.2.2 Das kollektive Gedächtnis des frühen 12. Jahrhunderts Als ältester überlieferter Text Islands in Volkssprache, dessen Inhalt sich auf Ereignisse bezieht, die sich bis zum Zeitpunkt der Niederschrift begaben, liegen der Íb. gemäß der Assmann ’ schen Erinnerungsrahmen nicht nur Erinnerungen aus dem kulturellen Gedächtnis (‹fundierende Erinnerungen›), sondern in Form von Zeitzeugenberichten auch Erinnerungen aus dem kommunikativen Gedächtnis (‹biographische Erinnerungen›) zugrunde. Etwa 260 Jahre deckt die Íb. insgesamt ab, beginnend mit dem Zeitpunkt der Landnahme. Die meisten Ereignisse, von denen Ari berichtet, trugen sich jedoch in der Zeit ab 1000 - der Zeit der Christianisierung - und den folgenden 110-130 Jahren zu. Die Erinnerungen innerhalb dieser Zeitspanne werden zum größten Teil durch das kommunikative Gedächtnis abgedeckt - es umfasst etwa 80-100 Jahre - bei besonders alten Zeitzeugen auch etwas darüber hinaus. Ari musste demnach lediglich ein bis zwei Generationen zurückverfolgen, um auf fast-direkte oder sogar direkte Zeitzeugenberichte zurückgreifen zu können. 4 Die altnordische Historiographie 148 Die Íb. bezieht also ihren Inhalt offensichtlich aus beiden modi memorandi des kollektiven Gedächtnisses und befindet sich damit an der Schwelle vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. 4.2.2.1 An der Schwelle vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis Der Text beginnt mit seinen Schilderungen (nach Prolog und Inhaltsverzeichnis) bei dem Ereignis, das den Beginn der isländischen Gesellschaft markiert und damit am weitesten von der Verfassergegenwart entfernt ist: der Landnahme. Betrachtet man Aris generelle Berichtausführlichkeit und Detailgenauigkeit, wird deutlich, dass die Landnahmeschilderung mit Abstand den kürzesten Bericht darstellt, die Beschreibungen im Textverlauf jedoch immer umfänglicher werden. Es gilt im Sinne schriftloser Geschichtserinnerung: je entfernter die geschilderten Ereignisse von der Gegenwart des Verfassers, desto knapper und ungenauer werden sie - am deutlichsten lässt sich dieses Phänomen anhand des Vergleichs zwischen dem Landnahmebericht (Kap. 1) und den Berichten ab dem der Christianisierung (Kap. 7 bis 10) illustrieren. 400 Über die Landnahme schreibt Ari lediglich etwa 10 Sätze, wohingegen er über die Bischöfe auf Island drei Kapitel zusammenstellt. 401 Der Grund hierfür wird sein, dass die Informationen und Darstellungen aus jüngerer Zeit bzw. von Zeitzeugen erzählt, detailreicher sind als die Berichte, die bereits nach allen Selektionsprozessen in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind. Ari selbst schildert im bereits oben zitierten Prolog den Leitfaden für seinen Text und gewährt damit auch einen tieferen Einblick in die Erinnerungskultur der isländischen Gesellschaft um 1120/ 30. Er beschreibt darin nicht nur die Entstehungsumstände seines Textes, sondern auch die Maßstäbe, die er für die Auswahl seiner Inhalte ansetzt: nämlich möglichst genaue und aktualisierte Informationen: ok jókk því es mér varð síðan kunnara (Prolog, S. 3; «und ich fügte hinzu, was mir seitdem noch bekannt wurde»). Er formuliert zudem einen deutlichen Wahrheitsanspruch, der aus den Begriffen sannara («wahrer» Prolog, S. 3), sannliga («wahr» Kap. 1, S. 5) sowie der Charakterisierung seiner Gewährspersonen Þóríðr als óljúgfróð («gewissenhaft/ zuverlässig» Kap. 1, S. 4) und Hallr als ólyginn («wahrheits- 400 Vgl. Vansina 1985. S. 23 f. sowie Meinhard Schuster. Zur Konstruktion von Geschichte in Kulturen ohne Schrift. In: Vergangenheit in mündlicher Überlieferung. Hrsg. v. Jürgen von Ungern- Sternberg, Hansjörg Reinau. Colloquium Rauricum, I. Stuttgart 1988. S. 57-71. 401 Hier könnte man das Argument anführen, dass die Íb. nicht ihren Schwerpunkt auf dem Bericht über die Landnahme hatte, da ja die Lb. bereits diesen Zweck erfüllte. Doch sind auch andere Berichte (wie die Auswahl des Allthingplatzes) nur kurz gefasst - häufig beinhalten sie auch Elemente oder kurze Beschreibungen, die im Text keinen tieferen Sinn ergeben oder zusammenhanglos erscheinen (z.B. die Geschichte von Grímr geitsk ǫ r in Kap. 2, S. 7, die davon berichtet, dass Grímr anscheinend von Ulfljótr ausgesandt wurde, die Insel in Augenschein zu nehmen. Diese Stelle wird so gedeutet, dass er nach einem passenden Thingplatz suchte (vgl. Jakob Benediktsson, ÍF I, S. 7, Anm. 7). Warum dann allerdings noch die Information folgt, dass ihm jeder auf der Insel Geld gab und er das wiederum den Tempeln überließ, ist völlig unklar). Aufgrund solcher Passagen lässt sich das Argument im Hinblick auf die Intention des Landnahmeberichts als knappe Zusammenfassung der Lb. nicht halten. Der Text macht zudem im Gesamten einen geplanten und strukturierten Eindruck, so dass es keine unintendierten Beschreibungen zu geben scheint. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 149 getreu» Kap. 9, S. 21) hervorgeht. 402 Diesem Wahrheitsanspruch wird er gerecht, indem er seine Quellen nennt und damit ihre Glaubwürdigkeit unterstreicht. Auffällig ist dabei, dass Ari entgegen seiner Nähe zur lateinisch gelehrten Tradition keinen einzigen Quellenverweis zu jenen Texten anführt. 403 Dass diese (mindestens in Form von Annalen und Genealogien) der Íb. aber zugrunde liegen, ist unbestritten. Zwar bedeutet die Angabe rein isländischer Gewährspersonen noch nicht, dass die Informationen auch zwingend einer einheimischen Tradition entspringen, doch macht es den Anschein, als wollte Ari den Leser glauben lassen, er beziehe sich auf eine rein autochthone Tradition. 404 Mit diesem Vorgehen betont er die einheimische, also insbesondere die mündliche Erinnerung. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass er auf keine schriftlichen Zeugnisse der Vergangenheit zurückgreifen konnte - die Isländer übernahmen zwar mit der Schrift zunächst das lateinisch gelehrte Schrifttum, aber Ari scheint an dem Übergang zur Etablierung einer eigenen Schrifttradition zu stehen, anstatt (jedenfalls suggeriert dies der Text) die mit der Schrift übernommene ‚ lediglich ‘ zu adaptieren. Die Quellenberufungen auf einheimische Berichte in der Íb. deuten ebenfalls darauf hin, dass Ari sie mit Bedacht auf eine hohe allgemeine Akzeptanz verfasst hat, wobei er als Publikum offensichtlich die isländische Gesellschaft (oder eine isländische Gruppe von an der Literatur partizipierenden Personen) im Sinn hatte - das wird nicht nur durch die mündlichen Elemente deutlich, sondern auch durch die Volkssprachlichkeit des Textes, den weltlich geprägten Inhalt und die Gesellschaftskonstruktion. Diese Quellenangaben verdichten sich im Textverlauf zu einem Netz an Quellenberufungen, die entscheidende Hinweise auf die Erinnerungsprozesse sowie die Modi des Erinnerten geben. Es lassen sich in der Íb. zwei Arten von Quellenberufungen unterscheiden 405 : Einerseits personengebundene, also personale Angaben, die sich auf konkrete Aussagen 402 Vgl. Jón H. Aðalsteinsson 1999, S. 55. Zum Wahrheitsanspruch in der altnordischen Historiographie s. vor allem Meulengracht Sørensen 1993, S. 33-51. 403 Es gibt nur eine Ausnahme in Kapitel 1 (S. 4), als Ari bezüglich des Todesjahres von Eadmundr enn helgi vermerkt: at því es ritit es í s ǫ gu hans («danach, wie es in seiner Geschichte geschrieben steht»). Sîan Grönlie weist zu Recht darauf hin, dass Ari ansonsten isländische (orale) Äquivalente der europäischen auctores kreiert und damit eine andere, noch erklärungsbedürftige Nennung von Gewährspersonen und Quellen nutzt als sein häufig angeführtes Vorbild Beda Venerabilis (vgl. Grønlie, Siân. Aris Íslendingabók. In: Íslendingabók - Kristni saga. The Book of the Icelanders - The Story of the Conversion. Viking Society of Northern Research, XVIII. Ed. by Anthony Faulkes and Alison Finlay, transl. by Sîan Grønlie. London 2006. S. ix-xxx, S. xix sowie Anm. 48). 404 Auch wenn man davon ausgeht, dass Ari neben seinen offensichtlichen Quellen wie Annalen etc. weitere lateinische (möglicherweise historiographische) Texte kannte, stellt sich immer noch die Frage, warum er diese dann nicht angibt - schließlich scheint er viel Wert auf seine Gewährspersonen zu legen. Genau darin aber zeigt sich, wie sehr Ari bemüht ist, nur autochthone isländische Quellen zu benennen. Sogar bei den Jahreszählungen, die sich an Christi Geburt orientieren, verzichtet Ari (als christlicher Autor) auf einen entsprechenden Verweis zu christlicher Literatur und beruft sich lediglich auf eine allgemein bekannte Jahresrechnung (s. Kap. 7, S. 18 at alþýðu tali und Kap. 10, S. 26 at því, es talit es und at almannatali). 405 Als Quellenberufungen werden all jene Verweise verstanden, die auf irgendeine Art und Weise als Beleg oder Verifizierung einer Erinnerung genutzt werden. Hierunter fallen generell auch die 4 Die altnordische Historiographie 150 einer bestimmten Gewährsperson beziehen (z.B. svá sagði Teir oss, S. 7; «so berichtete es uns Teitr») und andererseits personenungebundene, also nonpersonale Angaben, die sich auf einem breiten Publikum bekannte Berichte beziehen (z.B. svá es sagt, S. 6; «so wird [es] erzählt»). 406 Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Verwendung beider Angaben klar differenziert wird: Die nonpersonalen Angaben werden ausschließlich bei den Berichten von der Landnahme bis hin zur Christianisierung genutzt (Kap. 1, S. 5-6: es sanniliga es sagt, En svá es sagt; Kap. 2, S. 7: En svá es sagt; Kap. 3, S. 9: Svá hafa ok spakir menn sagt, at t ǫ lu spakra manna; Kap. 4, S. 9: es enir sp ǫ kustu menn á landi hér h ǫ fðu talit; Kap. 7, S. 16: En svá es sagt; S. 18: at alþýðu tali; Kap. 10, S. 26: at því, es talit es sowie Kap. 10, S. 26: at almannatali), 407 während die personalen Angaben erst nach dem Bericht der Christianisierung auftreten, der daher eine Art Schwelle darzustellen scheint. 408 Gegen Ende des Textes, wenn sich Aris Bericht immer weiter seiner Gegenwart nähert (Anfang 10. Kapitel), gibt es keine Quellenbenennungen mehr und nur noch zwei nonpersonale Angaben (Kap. 10, S. 26: at því es talit es und at almannatali), die Jahreszahlen betreffen. Die nonpersonalen Quellenbenennungen in der Íb. belegen Erinnerungen von Ereignissen in einer Zeit, aus der es keine Zeitzeugen mehr gibt, weshalb sie dem kulturellen Gedächtnis zuzuordnen sind, da sie auf allgemein bekanntes Wissen innerhalb der Gesellschaft rekurrieren. 409 Jene Erinnerungen betreffen einen großen Formulierungen, die auf allgemeines Wissen rekurrieren. Da sie jedoch nicht auf eine erinnerungsgebundene Überlieferung verweisen, werden sie im Folgenden nur unter Vorbehalt einbezogen. 406 Zu Übersichtszwecken wurden alle Angaben im Anhang aufgelistet: Aris Gewährspersonen, S. 258-260. 407 «wie es wahrheitsgemäß erzählt wird / und so wird erzählt (2x) / so haben es auch kluge Männer erzählt / nach der Rechnung kluger Männer / wie die klügsten Männer hier im Land berechnet hatten / und so wird erzählt / nach allgemeiner Rechnung / gemäß dem, wie gerechnet wird / nach allgemeiner Zeitrechnung» 408 Die personalen Angaben kommen entweder bei Berichten über die Gesetze oder bei Jahreszählungen und Jahreseinordnungen vor (s. Aris Gewährspersonen, S. 258-260). Da es in der mündlichen Kultur Islands bis zur Christianisierung und damit bis zur Adaption der Schrift keine absoluten, sondern nur relative Datierungen vor allem anhand der Amtszeiten der Gesetzessprecher gab, verwundert es nicht, dass Ari bei den absoluten Daten auf seine Gewährsmänner verweist, um jene zu belegen. Diese absoluten Daten und die damit beabsichtigte Einordnung Islands in das Weltgeschehen wird für die Leserschaft der Zeit eine Neuerung dargestellt und deshalb einer besonderen Fundierung bedurft haben. Das erklärt, wieso Ari insgesamt sieben Quellenangaben bei Datierungen (3 personale, bzw. auf insgesamt fünf Personen beziehend, sowie fünf nonpersonale) anführt. 409 Die Formel svá er sagt gab u.a. Anlass zur Historizität der isländischen Literatur des Mittelalters, wurde jedoch im Zuge der aufkommenden Quellenkritik Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr als tatsächlicher Beleg für realhistorische Ereignisse (ausgenommen einige Freiprosetheoretiker, die diese Formel als Nachweis einer aus der Mündlichkeit unverändert überlieferten Erzählung postulierten), sondern vielmehr als ein die mündliche Tradition suggerierendes Stilmittel betrachtet (vgl. Theodore M. Andersson. The Textual Evidence for an Oral Family Saga. In: Arkiv för nordisk filologi, 81. Lund 1966. S. 1-23). Letztlich ist jedoch kaum zu klären, ob diese Formel ihren Ursprung bereits in der mündlichen Tradition hatte oder nur eine solche inszeniert. Klar ist aber, dass diese Formulierungen ein Ereignis oder einen Bericht als allgemein (oder jedenfalls mindestens einer größeren Gruppe der Gesellschaft als allgemein) bekannt kennzeichnen und 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 151 Teil der Gesellschaft entweder aufgrund ihrer kollektiven Relevanz oder aufgrund ihres Stattfindens an einem öffentlichen Ort wie dem Allthing: angefangen mit der Landnahme und dem ersten Landnnehmer Ingolfr, über die Geschichte von Grímr geitsk ǫ r in Verbindung mit der Allthingplatzsuche und den heidnischen Tempeln, dem Besiedlungsende und symbolischen Anfang einer Gesellschaftsformierung bis hin zu der Ansprache von Hjalti und Gizurr auf dem Allthing vor der Einführung des Christentums (Kap. 7). Einige von Aris Informationen betreffen allerdings noch das kommunikative Gedächtnis bzw. befinden sich an der Schwelle zum kulturellen Gedächtnis - dieser Übergang fällt anscheinend auf die Zeit um die Christianisierung, die zur Zeit der Niederschrift etwa 110-120 Jahre zurücklag: auffällig ist, dass die Ereignisse in Kap. 6 und 7 (Grönlands Besiedlung ca. 14 oder 15 Jahre vor der Christianisierung sowie der Bericht über die Christianisierung) Ari noch mittels indirekter Zeitzeugenberichte der vergangenen ein bis zwei Generationen zugänglich waren. Dies wird an den folgenden zwei Stellen deutlich: at því es sá talði fyrir Þorkeli Gellissyni á Grœnlandi, es sjalfr fylgði Eiríki enum rauða út (Kap. 6, S. 14; «gemäß dem, was derjenige, der Eiríkr enn rauði selbst begleitet hatte, es in der Gegenwart von Þorkell Gellisson in Grönland erzählte») sowie Svá kvað Teitr þann segja, es sjalfr vas þar (Kap. 7, S. 15; «So berichtete Teitr, erzählte es jener, der selbst dort gewesen war.»). 410 In beiden Fällen liegt ein typisches Hören-Sagen vor; einer von Aris Gewährsmännern erhält Informationen von einer Person, die selbst das Geschehen als Augenzeuge miterlebte. Es liegt also bereits mindestens eine Generation zwischen Ari und dem Ereignis. Indem sich seine beiden Gewährsmänner daran erinnern, was ihnen erzählt wurde, greifen sie wiederum Erinnerungen auf, die im kommunikativen Gedächtnis kreisen und deren Ursprung aufgrund der geringen Zeitspanne noch belegt werden kann. Mittels Aris Rekonstruktion des Grönlandberichts zum Zweck der Abgrenzung nach außen und der Lokalisierung Islands inmitten und nicht am Rande der (christlichen) Welt, erhält die Erzählung kollektive Relevanz - mindestens für die klerikale Erinnerungsgemeinschaft. 411 Die zweite zuvor genannte Augenzeugen-Referenz bezieht sich auf die Vermittlerfahrt Hjaltis und Gizurrs zum König und zurück nach Island. Sowohl die Akteure als auch der Ort dieser Episode sind Teil von Aris direktem Umfeld, dessen Informationen somit eine Gemeinschaft ansprechen, die eine gemeinsame Erinnerung pflegt. Insofern sind es fundierende Erinnerungen, über die sich die Gemeinschaft definiert. Mindestens lässt sich feststellen, dass die Formulierungen keinen Unterschied zwischen verschiedenen Teilhabern der Erinnerungsgemeinschaft machen, woraus sich schließen lässt, dass sie Bezug nehmen auf eine alle Isländer verbindende Erzähltradition oder wenigstens eine solche konstruieren. Wenn diese Formulierungen nicht anerkannt worden wären, hätten dieser und weitere Texte ihrem Wahrheitsanspruch nicht standhalten können und ihr Stoff wäre nicht auch in anderen Texten rezipiert worden. 410 Diese Quellenangaben demonstrieren zudem sehr gut, wie Erinnerung und damit Gedächtnis überhaupt zustande kommt: durch Kommunikation. Ein Zeitzeuge berichtet Aris Gewährsperson davon, was er erlebt hat, wodurch diese Schilderung Eingang in das kommunikative Gedächtnis findet, aus dem Ari dann wiederum seine Information bezieht. 411 Vgl. Hermann 2009, S. 53. 4 Die altnordische Historiographie 152 familiäre Hintergründe zu haben scheinen (Gizurr ist der Sohn seines Ziehvaters Teitr und Hjalti ist mit Gizurrs Tochter Vilbj ǫ rg verheiratet, beide gehören Aris Generation an) - so betont er vermutlich nicht ohne Grund zuvor im Kapitel, dass eben diese beiden sich als erstes auf Island taufen ließen: En Hallr á Síðu Þorsteinssonr lét skírask snimhendis ok Hjalti Skeggjasonr ýr Þjórsárdali ok Gizurr enn hvíti Teitsson, Ketilbjarnarsonar frá Mosfelli, ok margir h ǫ fðingjar aðrir [...] (Kap. 6, S. 14; «Und Hallr Þorsteinsson von Síða ließ sich alsbald taufen genau wie Hjalti Skeggjason aus dem Þjórsárdalr und Gizurr enn hvíti Teitsson, der Enkel von Ketilbj ǫ rn aus Mosfell, sowie viele andere Höfdinge [...].»). 412 Darüber hinaus fällt auf, dass in Kap. 7 die letzte nonpersonale Angabe angeführt wird. Diese bezieht sich auf die Rede von Hjalti und Gizurr auf dem Allthing, nachdem sie aus Norwegen zurückgekommen sind und versuchen, den Konflikt zwischen den heidnischen und den christlichen Männern beizulegen: En annan dag eptir gingu þeir Gizurr ok Hjalti til l ǫ gbergs ok báru þar upp erendi sín. En svá es sagt, at þat bæri frá, hvé vel þeir mæltu (Kap. 7, S. 16; «Und am nächsten Tag gingen Gizurr und Hjalti zum Gesetzesfelsen und trugen dort ihr Anliegen vor. Und es wird erzählt, dass es [anderes/ voriges] übertroffen hätte, wie vortrefflich sie sprachen.»). Diese letzte indirekte Quellenberufung indiziert, dass dieses Ereignis Teil des kulturellen Gedächtnisses ist, auf welches Ari zurückgreift. Die darauf folgende Geschichte von der Annahme des Christentums per Gesetz (d.h. symbolisch durch die isländische Gesellschaft) wird jedoch nur durch eine personale Angabe belegt: Þenna atburð sagði Teitr oss at því, es kristni kom á Ísland (Kap. 7, S. 17; «Diesen Bericht davon, wie das Christentum nach Island kam, erzählte uns [/ mir] Teitr.»). Es wird schnell deutlich, dass Ari einen großen Teil des 7. Kapitels mit Erzählungen füllt, die er aus seinem engsten familiären Umfeld bezieht. Das zeigen vor allem die agierenden Personen und die deutlich subjektive Ausrichtung der Szenen, wie im zuvor genannten Zitat der ersten getauften Isländer oder dem Bericht von Hjalti, der auf dem Allthing wegen eines Spottveres auf Freyja geächtet wurde (vgl. Kap. 7, S. 15), dennoch aber hauptsächlich an der Annahme des Christentums beteiligt ist und von Ari - entgegen seiner sonst so konsequenten Gesetzestreue - nicht negativ bewertet wird. 413 Darüber hinaus wurde bereits an voriger Stelle herausgestellt, dass Ari (oder sein Ziehvater Teitr) dem Gesetzessprecher Þorgeirr dessen (wörtliche) Rede zur Annahme des Christentums etwas später im 7. Kapitel in den Mund gelegt hat und diese Episode größtenteils, wenn nicht sogar ganz, konstruiert hat. Das bedeutet, dass die Rede von Hjalti und Gizurr sowie die Ereignisse auf dem Allthing zwar 412 S. Aris Machtfundierung S. 257, sowie Aris Gewährspersonen, S. 258-260. 413 Festzuhalten ist, dass Hjalti eine besondere Schlüsselfigur in dieser Szene darstellt, da er sowohl als Geächteter auf dem Thing sprechen darf (bzw. dies geduldet wird) als auch die einzige Strophe im Text, ein Schmähvers auf die Göttin Freyja, auf Hjalti zurückgeht. Nicht zuletzt seine märtyrerhaften Züge unterstreichen seine offenbar prominente Rolle: so sucht er unter dem Risiko des Verlustes seines eigenen Lebens das Allthing auf, um sich dort für die christliche Sache einzsetzen. Dabei begleiten ihn, wohl angelehnt an die Darstellung Jesu Christi, zwölf Gefolgsmänner. Hjaltis Erscheinen trotz Ächtung könnte einer von mehreren möglichen Gründen sein, weshalb sich die Männer auf dem Allthing zum Kampf rüsteten. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 153 Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses waren (belegt durch die nonpersonale Quellenangabe), die geschilderten Umstände der Christianisierung selbst jedoch - jedenfalls zum Zeitpunkt der Niederschrift noch - nicht. Vermutlich leitete die isländische Gesellschaft ihre kulturelle Identität nicht - bzw. noch nicht - von der formalen Christianisierung ab. Diese war in jener Zeit vermutlich in erster Linie für die Mitglieder der Kirche nützlich und notwendig. 414 Um solche Grenzfälle beider modi memorandi zu überbrücken, führt Ari überdurchschnittlich alte Informanten ins Feld, die es ihm ermöglichen, den berichteten Ereignissen durch direkte Erinnerungsberichte oder, wie im Kapitel vor dem Christianisierungsbericht, durch Zeitzeugenschaft zeitlich sehr nahe zu kommen. Im Fall der Íb. fehlt entgegen den theoretischen Ausführungen Assmanns das den Übergang beider Gedächtnisrahmen kennzeichnende ‹floating gap›. 415 Es gibt keine offensichtliche Zeitspanne im Text, die auf ein Fehlen von Erinnerungen hindeuten würde. Allerdings enthält die Erzählung eine Lücke zwischen 1030, dem Tod des Gesetzessprechers Skapti Þóroddsson, und der Bischofsweihe von Bischof Gizurr 1056 (also zwischen Kap. 8 und 9), die auf den ersten Blick zu kurz für ein ‹floating gap› scheint, zumal die bewusste Auslassung jeglicher Ereignisse vor der jeweiligen Bischofsweihe in Kapitel 9 und 10 intendiert scheint (vgl. S. 20 und 21). Durch die Vermeidung von Berichten jeglicher Aktivitäten der Bischöfe im Ausland, obwohl solche vor dem Amtsantritt eines jeden Bischofs üblich waren, wird hier eine Abgrenzung nach außen vollzogen. Jedoch zeigt sich auch in der Kristni saga, in der nur in einem Satz am Rande bemerkt wird, dass ausländische Wanderbischöfe nach der Christianisierung auf Island waren, dass aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts keine bemerkenswerten Ereignisse memoriert worden sind. 416 Bei genauerem Hinsehen auf die Berichte in der Íb. um die Lücke ab 1030 herum zeigt sich, dass auch der vorangestellte Christianisierungbericht in Kapitel 7 aufgrund von Mangel an Erinnerungen im Rahmen eines ‹floating gaps› konstruiert worden ist, da sie durch Teitr als einzige Quelle verifiziert wird 414 Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen wäre auch, dass die offizielle Annahme des Christentums in einem deutlich kleineren Kreis, als Ari es hier darstellt (z.B. der Lögretta), stattgefunden hat und sich daraus deshalb noch nicht so bald eine kollektive Erinnerung bilden konnte. 415 Die Überbrückung zwischen beiden Gedächtnisrahmen im Sinne Assmanns ist in dessen Theorie unklar. Er beschreibt beide Gedächtnisse als variable Rahmen, deren Übergang fließend sei. Gleichermaßen verweist er aber auch auf das Konzept des ‹floating gaps›. Welche Zeitspanne diese Lücke umfasst, scheint abhängig von verschiedenen Faktoren. Im isländischen Fall gibt es keine Ursprungsmythen in illo tempore über die Entstehung der Gesellschaft, da sie erst in historischer Zeit gegründet wurde. Einen solchen Fall berücksichtigen weder Assmann noch Vansina oder andere Forscher in ihren Ausführungen (Assmann stellte lediglich hinsichtlich der Konsequenz für die Optionen des Gedächtnisses eine solche Differenzierung auf, vgl. Assmann 2007, S. 77 f.). Es stellt sich nämlich u.a. die Frage, ob man im isländischen Fall überhaupt mit einer Art ‹floating gap› rechnen muss und in welcher Form es sich dann darstellen würde. Zudem finden diese fundierenden Erinnerungen erst in historischer Zeit statt, weshalb der Übergang zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis wegen der kurzen Zeitspanne schwerer zu ermitteln ist. 416 Kristni saga. ÍF XV2. Biskupa sögur I. Sigurgeir Steingrímsson, Ólafur Halldórsson og Peter Foote gaf út. Reykjavík 2003, S. 36-39. . 4 Die altnordische Historiographie 154 Die Quellenangabe im Christianisierungsbericht illustriert besonders gut, dass Ari die Auswahl seiner Gewährspersonen keineswegs neutral und objektiv vornimmt: Sie stammen alle aus seinem direkten Umfeld (dem Generationengedächtnis der Haukdœlir) und nur einige wenige dieser Personen (vor allem sein Ziehvater Teitr) liefern ihm den Großteil seiner Informationen: Bei allen Berichten, welche die Christianisierung und die Bischöfsviten umfassen, wird nur sein Ziehvater Teitr als Quelle angeführt (Kap. 7, S. 15: Svá kvað Teitr þann segja, es sjalfr vas þar. S. 17: Þenna atburð sagði Teitr oss at því, es kristni kom á Ísland. Kap. 8, S. 18: at s ǫ gu Teits; Kap. 9, S. 21: Svá sagði Teitr oss.). Auf Teitr beruft er sich so häufig wie auf sonst keine andere Person (in sechs von insgesamt einundzwanzig personalen Quellenberufungen, von denen sich sonst höchstens zwei jeweils auf dieselbe Person beziehen, s. Aris Gewährspersonen, S. 258-260). Es hat den Anschein, als wäre Teitr entweder für jene Ereignisse als einzige Quelle für Ari zugänglich gewesen oder als greife Ari auf biographische Erinnerungen zurück. Aus Teitrs Schilderungen konstruiert Ari ein kollektiv relevantes Ereignis, indem er es im offiziellen Rahmen auf dem Allthing platziert und im Einvernehmen aller Isländer beschließen lässt. 417 Bei näherem Hinsehen der Christianisierungsepisode zeigt sich jedoch, dass sie auffällig subjektiv gefärbt ist: Obwohl Gizurrs Schwiegersohn Hjalti wegen eines Spottverses geächtet wurde (vgl. Kap. 7, S. 15), werden seine Bemühungen auf dem Allthing irritierenderweise von allen positiv wahrgenommen (En svá es sagt, at þat bæri frá, hvé vel þeir mæltu. Kap. 7, S. 16). Zu guter Letzt scheint Gizurrs und Hjaltis Vermittlerposition nicht nur den König zu beschwichtigen (vgl. Kap. 7, S. 15), sondern auch indirekt in der Rede des Gesetzessprechers Þorgeirr gewürdigt zu werden: „ En nú þykkir mér þat ráð, “ kvað hann, „ at vér látim ok eigi þá ráða, es mest vilja í gegn gangask, ok miðlum svá mál á miðli þeira, at hvárirtveggju hafi nakkvat síns máls, […]. “ (Kap. 7, S. 17. « „ Und nun scheint es mir ratsam “ , sprach er, „ dass auch wir nicht gerade die bestimmen lassen, die sich mit der größten Feindseligkeit gegenüberstehen. Lasst uns [deshalb] nach einer Einigung zwischen ihnen suchen, so dass die Interessen beider Seiten berücksichtigt werden, […]. “ »). Wer sollte anderes mit «wir/ uns» angesprochen werden, als diejenigen, die sich (wie Gizurr und Hjalti) für eine Lösung einsetzen, wenn sich der König und die christlichen Isländer einerseits und die heidnischen Isländer andererseits feindselig gegenüberstehen? Für wen sonst sollten die Landsleute aus der Parabel stehen? Ari scheint sich hier zwar durch die wörtliche Rede und die direkte Ansprache an alle Isländer zu wenden, doch zeigt sich auf den zweiten Blick, wie sehr Gizurr und Hjalti für ihre Taten heroisiert werden. Der Ursprung dieser subjektiven Färbung scheint auf Teitr als Quelle zurückzuführen zu sein, da er Ari an einer familienzentrierten Erinnerung teilhaben lässt, die im Assmann ’ schen Sinne an das Generationengedächtnis der Haukdælir anknüpft und insofern als identitätskonkrete Erinnerung gelten kann. Daher mag es eben dieser Zeitpunkt gewesen sein, an dem die Erinnerung an die Christianisierung durch Aris Rekonstruktion und Niederschrift in das kulturelle 417 Familiäre Verbindungen zwischen Teitr und Gizurr und Hjalti illustriert die Genealogie im Anhang, S. 255. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 155 Gedächtnis der Isländer überführt wurde. 418 Wie der Christianisierungsbericht hatte anscheinend ein Großteil der von Ari zusammengetragenen Erinnerungen zum Zeitpunkt der Niederschrift der Íb. noch nicht Eingang in das kulturelle Gedächtnis gefunden, weshalb er seine Sammlung aus den letzten zugänglichen Quellen erstellt und daraus eine fundierende Geschichte (re)konstruiert. In diesem Fall geschieht Aris Rückgriff also über eine relativ kurze Zeitspanne hinweg und er überführt in Form der Niederschrift die ihm zugänglichen Erinnerungen des kommunikativen Gedächtnisses in das kulturelle Gedächtnis. In diesem Sinne stellen die Kapitel 7 und 8 der Íb. sowohl eine Schwelle zwischen beiden modi memorandi im Sinne eines ‹floating gaps› dar als auch einem Bruch, im Sinne von Assmann (in diesem Fall einem Traditionsbruch), der erst die Vergangenheit als Differenz zum Heute bewusst werden lässt. 419 In den letzten Kapiteln der Íb. erfolgen dann statt der Quellenberufungen Angaben über jene Personen, die an den gegenwärtigen Geschehen beteiligt sind, verfasst in einem auffällig ähnlichen Schema wie zuvor in den Quellenberufungen: af t ǫ lum þeira Sæmundar með umbráði Markúss l ǫ gs ǫ gumanns vas þat í l ǫ g leitt, Kap. 10, S. 22: «durch Gizurrs und Sæmundrs Redekunst wurde mit der Unterstützung des Gesetzessprecher Markús ein Gesetz erlassen»; at s ǫ gu ok umbráði þeira Bergþórs ok annarra spakra manna, Kap. 10, S. 23: «nach dem Diktat und der Instruktion von Hafliði, Bergþórr sowie von anderen weisen Männern (vergleichbar mit beispielsweise: Kap. 4, S. 11: vas þá þat þegar í l ǫ g leitt at ráði Þorkels mána ok annarra sparkra manna). Mit diesen gleichartigen Formulierungen betont Ari einerseits aufs Neue die Geschlossenheit der isländischen Gesellschaft, deren Entscheidungsträger sowohl damals als auch zu seiner Zeit weise bzw. kluge (spakr) Männer gewesen sind. In Form dieser analogen Strukturen werden Wiederholungen (re)konstruiert, die dann andererseits die zeitlich weit auseinander liegenden Ereignisse miteinander verknüpfen und damit eine Kontinuität suggerieren. 420 Diese durch Wiederholung erzeugte Kontinuität (vor allem im Hinblick auf die Gesetze) zeigt ein weiteres Mal, dass der offensichtliche Bruch zwischen Gestern und Heute mittels Kontinuität überwunden wird, zum Zweck einer gesellschaftlichen Fundierung: „ Da aber jede Gruppe nach Dauer strebt, tendiert sie dazu, Wandlungen nach Möglichkeit auszublenden und Geschichte als veränderungslose Dauer wahrzunehmen. “ 421 418 Dafür spricht zudem, dass alle weiteren Berichte der Christianisierung in isländischen Texten, die auf Aris Darstellung zurückgreifen, keine hier nicht verwendeten Erinnerungen präsentieren (s. ÓlO, Kristni saga, Njáls saga und Þorvalds þáttr). 419 Assmann 2007, S. 34. 420 „ […] it seems […] that past and present, in spite of differences caused by faith, are represented as a coherent continuum. […] The acceptance of Christianity is a historical change, but it is not articulated as a change in Íslendingabók. In this text the dichotomy between the pagan and Christian periods is equalized, and continuity between them is established. ” (Hermann 2007, S. 26). So stellt auch Klaus Böldl in Anlehnung an Gumbrecht fest: „ Nicht in der Identifikation von Entwicklungslinien, sondern im Aufdecken von Wiederholungsstrukturen erblicken die mittelalterlichen Historiographen ihre vornehmste Aufgabe. “ (Böldl 2005, S. 52). 421 Assmann 2007, S. 40. 4 Die altnordische Historiographie 156 Nicht nur auf die Klugheit und Weisheit der isländischen Entscheidungsträger, sondern auch auf die seiner Gewährspersonen legt Ari besonderen Wert (insgesamt elf Mal benutzt Ari das Adjektiv spakr, wovon acht im Zusammenhang mit seinen Quellen und 3 in Form von Beinamen vorkommen). 422 Die Voraussetzungen seiner Informanten beschreibt Ari auffallend ausführlich in der Gestaltung insgesamt dreier Einschübe. Den ersten platziert er gleich zu Beginn des ersten Kapitels: Ísland byggðisk fyrst ýr Norvegi á d ǫ gum Haralds ens hárfagra, Halfdanarsonar ens svarta, í þann tíð - at ætlun ok t ǫ lu þeira Teits fóstra míns, þess manns es ek kunna spakastan, sonar Ísleifs byskups, ok Þorkel f ǫ ðurbróður míns Gellissonar, es langt munði fram, ok Þóríðar Snorradóttur goða, es bæði vas margsp ǫ k ok óljúgfróð, - es Ívarr Ragnarssonr loðbrókar lét drepa Eadmund enn helga Englakonung [...]. (Kap 1, S. 4) Island wurde zuerst von Norwegen aus zur Zeit der Regentschaft von Harald Schönhaar, dem Sohn von Halfdan enn svarti, besiedelt, in jener Zeit - nach der Meinung und Rechnung von Teitr, meinem Ziehvater, dem Sohn von Bischof Ísleifr, dem Mann, den ich für den weisesten halte, Þorkell Gellisson, meinem Onkel, der sich weit zurückerinnerte, und Þóríðr Snorradóttir goða, die sowohl sehr weise als auch zuverlässig war, - als Ívarr, der Sohn von Ragnarr loðbrókr den Engländerkönig Eadmundr enn helgi töten ließ [...]. Dieser Einschub dient dazu, sowohl von Vornherein die Zuverlässigkeit seiner Gewährspersonen unangreifbar zu machen als auch eine der wichtigsten Gründungsmomente der isländischen Gesellschaft zu belegen: den Beginn der Landnahme Islands. Die beiden anderen Einschübe, in denen mittels positiver Charakterisierungen seiner Hauptzeugen deren Glaubwürdigkeit - und damit auch die von Aris Berichten - gestützt werden soll, folgen in Kapitel 9 und 10: En Hallr sagði oss svá, es bæði vas minnigr og ólyginn ok munði sjalfr þat es hann vas skírðr, at Þangbrandr skírði hann þrevetran, en þat vas vetri fyrr en kristni væri hér í l ǫ g tekin. (Kap. 9, S. 21) Und Hallr, welcher sowohl ein gutes Gedächtnis hatte als auch wahrheitsliebend war und sich selbst daran erinnerte, als er getauft wurde, berichtete uns, dass Þangbrandr ihn als Dreijährigen taufte, und das war einen Winter, bevor das Christentum hier gesetzlich eingeführt worden sei. At hans [d.i. Gesetzessprecher Markús] s ǫ gu es skrifuð ævi allra l ǫ gs ǫ gumanna á bók þessi, þeria es váru fyrir várt minni, en hónum sagði Þórarinn bróðir hans ok Skeggi faðir þeira ok fleiri spakir menn til þeira ævi, es fyrir hans minni váru, at því es Bjarni enn spaki hafði sagt, f ǫ ðurfaðir þeira, es munði Þórarin l ǫ gs ǫ gumann ok sex aðra síðan. (Kap. 10, S. 22) Nach seiner [d.i. Gesetzessprecher Markús] Erzählung sind die Daten aller Gesetzessprecher in diesem Buch niedergeschrieben, die vor unserer Erinnerung [lebten/ ] 422 In zwei Fällen kommt das Adjektiv zwar als Beiname vor (Bjarni enn spaki; Kap. 10, S. 22; Ulfheðinn Gunarsson enn spaki; Kap. 10, S. 23), doch handelt es sich bei beiden Personen um Aris Gewährsmänner. Insofern müsste man eigentlich zehn auf die Informanten und einen auf Beinamen zählen, der keine Gewährsperson qualifiziert. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 157 liegen [bzw. sich vor der Zeit, in die unsere Erinnerung zurückreicht, begaben], und ihm berichteten sein Bruder Þórarinn und ihr Vater Skeggi sowie viele weise Männer von deren Lebensdaten [oder/ und: Amtszeiten], die vor seiner Erinnerung [lebten/ ] liegen [bzw. s.o.], nach dem wie es Bjarni enn spaki, ihr Großvater, der sich des Gesetzessprechers Þórarinn und sechs darauf folgender erinnerte, erzählt hatte. Diese Einschübe geben nicht nur Auskunft über seine Gewährspersonen, sondern auch über eine wichtige Voraussetzung, über die sie verfügen müssen: eine weit zurückreichende Erinnerung. Sie wird von Ari als herausragendes und vielleicht wichtigstes Kriterium zur Auswahl seiner Informanten angeführt. So verfügen alle seine Hauptzeugen über eine überdurchschnittliche Fähigkeit der Erinnerung, wie er anhand eindrucksvoller Beispiele erläutert (s. Zitate oben). Die zweite zitierte Passage über den Gesetzessprecher Markús macht deutlich, wie die Vorstellungen von Erinnerung und Gedächtnis zur Zeit des Verfassers ausgesehen haben mochten: Hier wird beschrieben, wie spezielles Wissen (nämlich die Auflistung aller Gesetzessprecher der Isländer) innerhalb des des Gesetzessprecheramts (das hier eindeutig eine familiäre Verbindung aufweist) erinnert wird. Das Wissen, welches zeitlich nicht mehr Teil von Aris Erinnerung und dem kommunikativen Gedächtnis seiner Zeit ist (es váru fyrir várt minni), wird von Markús ergänzt. Dieser bezieht sein Wissen von seinem Vater Skeggi und seinem Bruder Þórarinn, die ihres wiederum von Markús ’ Großvater Bjarni erworben haben. Hierin lässt sich eine fortlaufende Erweiterung der Erinnerung durch die Person, die das Wissen weitergibt, erkennen. Interessanterweise verweist Ari hiermit aber auch auf den Unterschied zwischen individuellem und kommunikativem Gedächtnis einerseits sowie kommunikativem und kulturellem Gedächtnis andererseits: Mit den Beschreibungen „ das, was sich [zeitlich] vor unserer Erinnerung begab “ und „ das, was sich [zeitlich] vor seiner Erinnerung begab “ wird der Unterschied zwischen der Erinnerungskultur seiner Zeit (also dem kommunikativem Gedächtnis) und der Erinnerung, die eine einzelne Person haben kann, deutlich. Gleichzeitig weist Ari mit der Erinnerung einer einzelnen Person in diesem Fall auf die Träger eines speziellen Gedächtnisses hin, da die betreffenden Erinnerungen (hier die Amtszeiten der Gesetzessprecher) aufgrund ihrer Komplexität nur bestimmten Erinnerungsträgern vorbehalten waren. Diese Darstellung entspricht exakt der Assmann ’ schen Erläuterung der Partizipationsstruktur von kulturellem Gedächtnis: Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis spricht sich das kulturelle nicht von selbst herum, sondern bedarf sorgfältiger Einweisungen. Dadurch kommt eine Kontrolle der Verbreitung zustande, die einerseits auf Pflicht zur Teilhabe dringt und andererseits das Recht auf Teilhabe vorenthält. 423 Ari ist auf Markús als Träger des kulturellen Gedächtnisses (und damit des Spezialwissens) angewiesen, um eben jene Erinnerungen zu rekonstruieren, zu denen er selbst keinen Zugang hat. 423 Assmann 2007, S. 54 f. 4 Die altnordische Historiographie 158 Welche Relevanz das Gedächtnis und das Erinnern in der Gesellschaft des 12. Jahrhunderts in Island hatten, wird außerdem an der Verwendung von Begriffen deutlich, die dem Begriffsrepertoire rund um das Gedächtnis entspringen: insgesamt drei Mal trifft man im Text auf das Verb muna («erinnern») 424 , einmal auf das Adjektiv minnigr (wofür es im Deutschen keine Entsprechung gibt, am ehesten zu übersetzen mit «ein (gutes) Gedächtnis besitzend») 425 , und zwei Mal nutzt Ari das dazugehörige Substantiv minni (immer in der doppelten Bedeutung: «Gedächtnis/ Erinnerung») 426 . Diese Begriffe kommen ausschließlich in Verbindung mit den Charakterisierungen seiner Gewährspersonen vor, die zeigen, dass sich jene durch ihr außergewöhnliches Gedächtnis und ihr hohes Lebensalter (Teitr wurde 71 Jahre alt, die Tochter von Snorri goði, Þóríðr, 87 Jahre und Aris ältester Zeuge Hallr wurde 94 Jahre alt) ihre besondere Position innerhalb der Gesellschaft verdienen, durch die sie sich letztlich auch als Quellen für Ari qualifizieren. Die isländische Erinnerungskultur zeichnet sich bereits in vorchristlicher Zeit durch die Tradierung von Wissen in Gedichtform aus, weshalb man davon ausgehen kann, dass ein gutes Erinnerungsvermögen innerhalb der Gesellschaft bereits vor 1120 eine angesehene Fähigkeit darstellte. Auf dieser Grundlage ist sicherlich auch eine spezielle Erinnerungskultur installiert worden (Wissensspezialistentum). 427 Und nur vor diesem Hintergrund 424 Er bezieht sich dabei auf seinen Onkel Þorkell Gellison, es langt munði fram (S. 4), auf seinen Großvater Hallr Þórarinsson es munði sjalfr þat es hann vas skírðr (S. 21) und auf seinen Verwandten aus dem Westen Bjarni enn spaki es munði Þórarin l ǫ gs ǫ gumann ok sex aðra síðan (S. 22). Auffällig ist dabei, dass Ari zu diesen drei Gewährsmännern familiäre oder mindestens entfernt familiäre Beziehungen hat. 425 Im Neuisländischen gibt es dieses Adjektiv noch immer; allerdings nur vorkommend in Phrasen wie: Hann er mjög minnugur; «Er hatte ein gutes Gedächtnis.». 426 þeira es váru fyrir várt minni (S. 22), es fyrir hans minni váru (S. 22). 427 Interessant ist nämlich, dass Ari für seine Informationen nur Gewährspersonen anführt, die entweder Gesetzesvertreter (z.B. der Gesetzessprecher Markús) oder Kleriker wie Teitr und Hallr sind und aus ihren Bereichen über entsprechende Informationen verfügen (so stammen bspw. alle Amtszeiten der Gesetzessprecher von Markús). Eine Ausnahme stellt Þóríðr Snorradóttir dar, die zwar eingangs als Gewährsperson aufgezählt wird, jedoch im Folgenden in keiner personalen Angabe vorkommt. Auch außerisländische Quellen wie die norwegische H.A. und die dänischen Gesta Danorum des Gelehrten Saxo Grammaticus (so heißt es im Prolog: Nec Tylensium industria silentio oblitteranda. Qui cum ob natiuam soli sterilitatem luxurię nutrimentis carentes officia continuę sobrietatis exerceant omniaque uitę momenta ad excolendam alienorum operum notitiam conferre soleant, inopiam ingenio pensant. Cunctarum quippe nationum res gestas cognosse memorięque mandare voluptatis loco reputant, non minoris glorię iudicantes alienas virtutes disserere quam proprias exhibere. Quorum thesauros historicarum rerum pignoribus refertos curiosius consulens, haud paruam pręsentis operis partem ex eorum relationis imitatione contexui, nec arbitros habere contempsi, quos tanta vetustatis peritia callere cognovi. Gesta Danorum. In: Saxo Grammaticus. Gesta Danorum. Danmarkshistorien, I. Latinsk tekst udgivet af Karsten Friis-Jensen. Dansk oversættelse ved Peter Zeeberg. Det Danske Sprogog Litteraturselskab. København 2005, S. 74, 1,4; «Auch die Thätigkeit der Isländer darf nicht von mir verschwiegen werden. Da sie wegen der natürlichen Unfruchtbarkeit ihres Landes die Mittel zu einem üppigen Leben entbehren, ein nüchternes Leben unausgesetzt führen und alle ihre Lebenszeit auf die Pflege der Kenntnis fremder Thaten verwenden, so wägen sie ihre Armut mit ihrer geistigen Tüchtigkeit auf: aller Völker Geschichte zu kennen und weiterzugeben, das ist ihnen Lebensgenuss; sie erachten es als eben so ruhmreich, fremde Heldenthaten zu schildern, wie ihre eigenen darzustellen. Ihre mit geschichtlichen Zeugnissen ange- 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 159 funktionieren Aris Quellenbeschreibungen: wäre ein gutes Erinnerungsvermögen nicht bereits für die Gesellschaft von Wichtigkeit und würde sie nicht für die Glaubwürdigkeit von Informationen stehen, würde Ari statt der Zuverlässigkeit seiner Quellen nur deren Unzuverlässigkeit hervorheben. Man kann deshalb von einer allgemeinen Akzeptanz der Eigenschaft ‚ ein gutes Erinnerungsvermögen zu besitzen, innerhalb der angesprochenen Leserschaft der Íb. ausgehen. Im Gegensatz zur Lb. werden die Erinnerungen in der Íb. zum einen Teil als allgemein tradiertes Wissen des kulturellen Gedächtnisses gekennzeichnet und zum anderen Teil durch Wissensträger mit Zugang zu beiden modi memorandi belegt, die entweder aus dem Bereich der Legislative kommen oder aus dem klerikalen Bereich (so z.B. die Haukdœlir). Das formative Wissen beschränkt sich in der Íb. auf den ersten Teil des Textes. Der zweite Teil des Textes berichtet nämlich kaum von säkularen Ereignissen wie Thingstreitigkeiten o.ä. Dies wird darin begründet sein, dass Erinnerungen des kommunikativen Gedächtnisses keinen kulturellen Sinn transportieren. Daher scheinen die Schilderungen ab der Christianisierung in Kapitel 7 Teil des lokalen, klerikal geprägten, kommunikativen Gedächtnisses zu sein, zu dem Ari aufgrund seiner familiären und persönlichen Situation Zugang hatte. Das bedeutet, dass er seine Informationen aus einem engen Bekanntenkreis bezog, der auch unter dem Gesichtspunkt Familientradition sowie im Hinblick auf die Fundierung ihrer klerikalen Funktion eine eigene interessensgebundene Erinnerung pflegte, die dadurch als regional abhängige (bzw. geprägte) Erinnerungskultur betrachtet werden muss. Dass Ari diese dann als kollektive Erinnerungen der gesamten Gesellschaft darstellt, lässt vermuten, dass es hinsichtlich einiger Erinnerungen, die er (re)konstruiert, nicht unbedingt einen überregionalen Konsens gegeben hat. Ari konstruiert somit zum Teil erst die isländische Geschichte als gemeinsame Geschichte. Offensichtlich gab es im 12. Jahrhundert in Island nicht nur eine einzige Erinnerungskultur, wie Assmann sie für die ägyptische Kultur festzustellen vermochte - im Gegenteil: in diesem Text zeigt sich, dass bereits in nur einen Text mehrere Erinnerungskulturen Eingang fanden. 428 Es ist davon auszugehen, dass die Ausbildung solcher lokal ge- füllten Schatzkammern habe ich eifrig zu Rate gezogen und einen nicht geringen Teil des vorliegenden Werkes auf der Wiedergabe ihres Berichtes aufgebaut und habe nicht verschmäht, bei denen mir Rat zu holen, die ich eine so eingehende Kenntnis des Altertums besitzen sah.» [Übersetzung Paul Herrmann, in: Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der Dänischen Geschichte des Saxo Grammaticus, I. Bücher I-V. Leipzig 1901, S. 4 f.]) berichten einstimmig von der guten Erinnerung der Isländer (oder einzelner exponierter Erinnerungsträger in Skandinavien, so z.B. Adam von Bremen, der in seinen Gesta Hamburgensis vermerkt, dass er «mit einem Dänenkönig gesprochen hat, der die gesamte Überlieferung der Barbaren kannte, als wäre sie schriftlich festgelegt» (vgl. Gesta Hamburgensis, II 42-43, S. 278). 428 So stellte bereits Pernille Hermann heraus: „ Thus, even if the traditions brought to Iceland were not based upon fundamentally differing traditions - at least not at the time of the landnám - there is still reason to believe that the traditions were spread during the settlements, and that the settlements gave a basis for local diversities depending upon the family, the territorial community (hreppr), or another community living in a limited geographical area. “ (Hermann 2005, S. 81) Sie kommt jedoch aufgrund dieser Beobachtung voreilig zu dem Schluss, dass wegen der in der Íb. 4 Die altnordische Historiographie 160 prägten Erinnerungskulturen auch durch die dezentrale und familiendominierte Struktur der isländischen Gesellschaft gefördert wurde, die sich durch die Einführung des Christentums in kultureller Hinsicht noch weiter stratifizierte und dementsprechend weitere Erinnerungskulturen entstehen ließ. Letztlich verweist der Text darauf, dass die mittelalterliche isländische Kultur um 1120 in der Literatur eine mehr oder weniger kleine Anzahl an tatsächlich kollektiv fundierenden Erinnerungen teilte (hier sind vor allem die Auswanderung selbst, die Landnahme sowie die spezifischen Gegebenheiten der Legislative - allen voran das Allthing - zu nennen). Darüber hinaus scheint die Erinnerungskultur in mehr lokale kommunikative Gedächtnisse unterteilt zu sein. Diese existieren in Form von überregionalen kommunikativen Gedächtnissen, wie sich eines gemäß der Íb.-Analyse innerhalb der klerikalen Gemeinschaft entwickelt hatte oder auch in Form von Generationengedächtnissen, aus denen sich vor allem die Familiengeschichten in den Isländersagas speisen. Hierfür spricht auch die in ihrer Rezeption erfolglos gebliebene Gesellschaftskonstruktion der Íb. In diesem Sinne muss die Unterteilung Assmanns in nur zwei Gedächtnisrahmen für den Fall des 12. Jahrhunderts in Island um weitere Gedächtnisrahmen bzw. Erinnerungskulturen erweitert werden, die sich einzig durch die separate Betrachtung der Texte erschließen lassen. Die Íb. steht an der Schwelle vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, da sie sich sowohl aus dem kulturellen als auch aus dem kommunikativen Gedächtnis speist und darüber hinaus Erinnerungen aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis transferiert. Mit der Íb. rekonstruiert Ari eine kollektive isländische Identität, indem er bestehende Erinnerungen aufgreift, diese kombiniert (von denen viele auf einer lokalen Erinnerungskultur basieren) und ihnen mithilfe ihres neuen Kontextes eine kollektiv fundierende Funktion verleiht. Somit ist die Íb. ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass die Schrift als Medium einen entscheidenden Anteil daran haben konnte, dass bzw. welche Erinnerungen aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis übergehen: Literatur kann aktiv in die Selektionsprozesse des kollektiven Gedächtnisses eingreifen und mittels ihrer überdauernden Fixierung Erinnerungen in das kulturelle Gedächtnis überführen, die in einer mündlichen Kultur ohne die Teilnahme der gesamten Gruppe in dieser Form nicht wieder hätten aufgegriffen werden können - das betrifft vor allem die konstruierte Darstellung der Christianisierung sowie die der isländischen Gesellschaft als Einheit. Infolgedessen (re)konstruiert der Text eine kollektive isländische Identität, die in dieser Form nie bestand. In der Íb. wird daher die Geschichte semiotisiert, um der isländischen Vergangenheit einen kollektiven Sinn zu verleihen. fingierten nationalen Perspektive eine lokale mündliche Erinnerungskultur als Quelle für den Inhalt der Íb. gänzlich auszuschließen sei: „ By writing the historiography the author and the editors obviously aim first of all at a national and regional perspective, and secondly at an international and universal one. […] If we suppose that oral traditions in Iceland have developed into certain local variants, then it does not seem that Íslendingabók is a direct transmission of oral traditions into written form ” (ebd., S. 82). Wie die obige Analyse zeigen konnte, ist allerdings davon auszugehen, dass wenigstens einige Ereignisse und Berichte sehr wohl aus der mündlichen Erinnerungskultur stammen. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 161 4.2.3 Versuch einer Einordnung Der Text der Íb. setzt sich aus mehreren Aussageebenen zusammen, die allesamt Teil der isländischen Identität sind. Sie lassen sich durchaus anhand ihrer Priorität hierarchisieren: den Text zeichnet auf einer Ebene die religiöse Aussage aus, die bisher in der Forschung vorherrschend betrachtet wurde. Aber auch auf zwei weiteren Aussageebenen, nämlich einerseits der sozialen Aussage in Form der spezifischen Gesellschaftskonstruktion und andererseits der doch im Vordergrund stehenden politischen Aussage in Form von Machtverteilung und Abgrenzung zu anderen Einflusszentren definiert und fundiert der Text eine neue kollektive isländische Identität. In diesem Sinne lassen sich in der Forschung auch entsprechend dem gewählten Interpretationsansatz unterschiedliche Intentionen des Textes ausmachen, von denen keine völlig unzutreffend ist, jedoch allein den ‹Sitz im Leben› der Íb. nicht ganzheitlich zu erfassen vermag. Es gilt daher alle drei Aussageebenen mit ihren (re)konstruierten Erinnerungsfiguren allesamt als Teil der isländischen Identitätskonstruktion einzubeziehen. Diese Ebenen sind allerdings keineswegs isoliert voneinander zu sehen, da es in der Íb. ja gerade um die Einbindung der frühen (eben laikal geprägten) kirchlichen Struktur in die oligarchisch organisierte Gesellschaft geht, deren Grundlage wiederum die fundierten rechtlichen Institutionen sind. Die Íb. bezeugt somit in einzigartiger Weise die enge, für das Island des 12. Jahrhunderts charakteristische Verbindung verschiedener Lebensbereiche der Gesellschaft und kann daher als eine Perspektive auf die historische Wirklichkeit betrachtet werden. Der Text macht deutlich, dass die insulare Gesellschaft sich nicht nur auf einem kulturellen Aspekt begründete, sondern vielmehr das Zusammenspiel und die enge Verknüpfung verschiedener sozialer Bereiche eine entscheidende Grundlage für die isländische Identität darstellte. Damit inszeniert der Text im gleichen Zug auch eine Abgrenzung zu anderen Regierungsformen wie bspw. der norwegischen Monarchie. Fragt man davon ausgehend nach der Funktion des Textes, fällt zuallererst ins Auge, dass Ari aus einer vorrangig lokal geprägten Erinnerungskultur eine gesamtisländische Geschichte (re)konstruiert und seine Gewährspersonen zum großen Teil an einem regionalen kommunikativen Gedächtnis partizipieren. Diese regionalgeschichtliche Perspektive hatte vor allem vier mächtige und versippte Familien im Fokus: Fast alle Helden der Geschichte lassen sich in vier Landnehmerstammbäumen finden, und ihre Nachkommen besetzen ausnahmslos die beiden Bistümer; das Buch der Isländer ist das Buch der Haukdælir, der Oddaverjar, der Síðumenn und der Breiðfirðingar; ihre Genealogien […] bilden den Anfang und den Schluss von Aris Narration. 429 429 Scheel 2012, S. 141. Scheels Beobachtung ist zwar im Hinblick auf den Inhalt der Íb. Recht zu geben, allerdings vernachlässigt er die formale Tatsache, dass die vier Familien, die in Kapitel 1 und am Ende in den Ættartala genannt werden, nicht exakt die von ihm aufgeführten sind, da (abgesehen von der Nennung der Mosfellingar, die erst später unter dem Namen Haukdælir auftauchen) statt der Oddaverjar (Sæmundrs Nachkommen) die Eyfirðingar (Helgi enn magris Nachkommen) genannt werden. Sæmundr selbst hat zwar immensen Einfluss und Relevanz für den 4 Die altnordische Historiographie 162 Eine Regionalgeschichte ist die Íb. daher hinsichtlich ihrer Quellenlage und ihrer Erklärung der Machtfundierung, jedoch nicht hinsichtlich der Identitätsfundierung des Autors (und der Auftraggeber). Daher darf man ihr einen historiographischen Wert nicht gänzlich absprechen, sondern muss sie als eine Version der isländischen Geschichte akzeptieren, die möglicherweise anders akzentuiert gewesen wäre, wäre sie an einem anderen Ort, von einem anderen Verfasser geschrieben worden, wie Klaus Böldl konstatierte: Die Beobachtung, dass Aris Bild von der isländischen Geschichte stark von seiner persönlichen Umgebung geprägt ist, spricht keineswegs gegen sein Bemühen, der historischen Wirklichkeit auf den Grund zu gehen. Sie offenbart aber mit besonderer Deutlichkeit die Abhängigkeit jeder Geschichtsschreibung von der Perspektive des Autors, von den Kriterien, nach denen er Fakten auswählt und in einen Zusammenhang bringt, und natürlich auch von den ihm zugänglichen Quellen. […] Ari hat also nicht die, sondern eine Geschichte des ersten Vierteljahrtausends auf Island geschrieben - eine andere haben wir freilich nicht. 430 Einen ganz entgegengesetzten Versuch zur Funktionsbestimmung dieses Textes machte Hermann, indem sie die Íb. trotz ihrer intendierten nationalen Relevanz als eine Art Statement des isländischen Selbstbewusstseins versteht: Most likely it was a tool for defining an Icelandic self-consciousness. […] Considering the spatial and temporal perspectives, it might seem as if Íslendingabók would not only have been written by learned persons, but furthermore for learned persons. At least the framework addresses an esoteric unit, not a majority of the population. If kept among learned persons Íslendingabók would not have been of practical relevance to most Icelanders; it would merely have been a symbol kept in libraries showing that Iceland was part of the world. Written in Old Icelandic and written in the first half of twelfth century, Íslendingabók is one of the first steps in the development of Old Icelandic literature. 431 Für diese These würde in erster Linie die sehr spärliche handschriftliche Überlieferung und weitestgehend ausgebliebene Rezeption in Form nur zweier Abschriften sprechen. Darüber hinaus wurde auf die Íb. als eigenständiger Text bis in die Moderne hinein (neben der ÓlO) nur ein weiteres Mal, nämlich im Ersten Grammatischen Traktat von 1150, verwiesen. Alle weiteren Verweise, von denen man vermutet, sie bezögen sich auf die Íb., beziehen sich tatsächlich nur auf Ari als Historiker: spätere Historiographen sowie einige Sagaverfasser rekurrieren auf ihn als verlässliche Quelle für bestimmte, vornehmlich genealogische, Informationen ohne nähere Erläuterungen zu seinen konkreten Texten anzuführen. Diese Hinweise sprechen für geschichtlichen Verlauf auf Island, seine Familie hat jedoch bis Ende des 12. Jahrhunderts keine Verbindung zu den Bischöfen. Dafür wurde Helgi enn magri als Vorfahre von Aris Auftraggeber Bischof Ketill hingegen entsprechende Relevanz zugesprochen. Es fällt somit auf, dass gerade den Oddaverjar und auch Hafliði Mássons Familie, die beide sehr viel Einfluss genossen, in der Íb. kein Platz eingeräumt wird, womit auch im Hinblick auf innerisländische Machtverhältnisse die ‹Allianz von Herrschaft und Vergessen› die Darstellung bestimmt. 430 Böldl 2011, S. 88. 431 Hermann 2005, S. 86. 4.2 Die Íslendingabók - ‹Allianz zwischen Herrschaft und Vergessen› 163 einen gewissen Symbolcharakter der Íb., der jedoch weniger mit der von Hermann behaupteten Adressatenfrage, sondern mehr mit der Identitätskonstruktion der Íb. zusammenhängt: durch den Gebrauch der Volkssprache wird zwar eine Hinwendung nach innen, d.h. zur isländischen Gesellschaft als Adressat, deutlich. Doch stellt sich gleichzeitig die Frage, ob Aris Gesellschaftsbild überhaupt Anklang in der isländischen Gesellschaft des Mittelalters fand oder ob nicht Aris andere Texte (zu denen noch eine vermutete Lb.-Fassung gezählt wird bzw. mögliche, nicht überlieferte eigenständige Texte, vor allem Genealogien, eine erste Íb.-Version, auf die der Erste Grammatische Traktat unter Umständen auch verwiesen haben könnte) eine entscheidendere Rolle für das Selbstbild der Isländer spielten? Vor allem im Licht der hier herausgestellten lokalen Erinnerungsgemeinschaften erklärt sich die geringe Rezeption der Íb., die für die Isländer selbst wohl weniger von Wert war als beispielsweise die Lb., die in ihrer Gestalt die Ausbildung und Fundierung lokaler sowie personaler Identitäten förderte. Insofern war die Íb. zwar zunächst nicht als ‹Symbol› intendiert, ist aber durch die fehlende langfristige Akzeptanz des Publikums ein solches geworden. Über diese Aspekte hinaus konstruiert der Text allen voran eine säkulare Identität. Diese entsprang dem Bedürfnis der laikalen Oberschicht nach einem grundsätzlichen Konsens über die Machtausübung auf Island, die zu einer notwendigen Stabilisierung des gesellschaftlichen Fortbestehens führen sollte. Hierfür setzt Ari eine gedächtnispolitische Strategie ein, die primär durch eine ‹Allianz von Herrschaft und Vergessen› sowie eine ‹lineare Geschichtskonstruktion› geprägt ist, deren historische Information durch die Genealogien transportiert wird. Es liegt nahe, dass eine solche Strategie für die Oligarchen des 12. Jahrhunderts eine erste mögliche Lösung der Ambivalenz zwischen isländischer und norwegischer Herrschaft - und damit als Lösungsansatz zur Definition ihrer eigenen Identität und Machtlegitimation - gewesen sein wird. Schließlich greifen jene später in gleicher Form auf Aris Schilderungen, wie beispielsweise der vom Eingriff Harald Schönhaars in die Landnahme oder der freien Annahme des Christentums, in Form ihrer eigenen Begründungsgeschichten zurück: so entstehen im 12. und 13. Jahrhundert die Isländersagas mit ihren Topoi wie dem Freiheitsmythos und der Machtfundierung einzelner Oligarchenfamilien, die nicht mehr länger eine fundierende, sondern nun auch eine kontrapräsentische Funktion erhalten. Auch der Idee einer ‹linearen Geschichtskonstruktion› schließen sich etliche spätere Texte an und bauen diese, wie beispielsweise Snorri, weiter aus, womit sie entscheidenden Anteil an der Entstehungsgeschichte der isländischen Gesellschaft bzw. sogar der gesamtskandinavischen Herkunft nehmen. Abschließend muss daher darauf verwiesen werden, dass die Íb. aufgrund der verschiedenen siedlungsgeschichtlichen, ereignisgeschichtlichen (hier allen voran politikgeschichtlichen), landeskundlichen und sozialgeschichtlichen Aspekte sowie wegen ihrer zugrundeliegenden Erinnerungen (wenn auch zum Teil lokal geprägt) und der spezifischen Gesellschaftskonstruktion (von der Person zum Kollektiv) nicht nur einer der bisher in der Forschung herausgestellten Arten von Geschichtsschrei- 4 Die altnordische Historiographie 164 bung entspricht, da alle ihre präsentierten Facetten - die eine mehr, die andere weniger - zur Identitätskonstruktion der Isländer um 1100 gehörten. So lässt sich die Íb. nur als intendierte Nationalgeschichte verstehen, denn zu dieser wurde sie im Augenblick ihrer Niederschrift, wenn auch nur als ‹Symbol› bewahrt, und ist es dank ihrer vielschichtigen Identifikationsgrundlage bis heute geblieben. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs In Island ist die Schriftkultur Ende des 12. Jahrhunderts noch sehr jung, da ihre Ausprägung erst mit der lateinischen Schrift im Zuge der Christianisierung um das Jahr 1000 begann. Wie Assmann in seinen Studien überzeugend darlegen konnte, entwickelt sich die Schrift in frühen Schriftkulturen erst einmal im Bereich der alltäglichen Kommunikation und hält noch keinen Eingang in identitätsstiftende Bereiche einer Kultur. Folglich stellt die Gesellschaft ihre kulturelle Kohärenz auch weiterhin über ‹rituelle Kohärenz›, d.h. zeremonielle Kommunikation, her. 432 Erst nach einer gewissen Zeit, in der Gebrauchstexte verschriftlicht werden, entsteht „ ein Vorrat von Texten normativen und formativen Anspruchs, die nicht durch eine Verschriftlichung mündlicher Überlieferung, sondern aus dem Geist der Schrift heraus entstehen. “ 433 Diese Literatur nennt Assmann in Anlehnung an den austro-amerikanischen Assyriologen Leo Oppenheim und den amerikanischen Ethnologen Robert Redfield ‹Traditionsstrom›, in dem Texte mit unterschiedlicher Relevanz organisiert werden: Allmählich prägen sich Strukturen von Zentrum und Peripherie heraus. Gewisse Texte erringen aufgrund besonderer Bedeutsamkeit zentralen Rang, werden öfter als andere kopiert und zitiert und schließlich […] zum Inbegriff normativer und formativer Werte. Bei dieser Entwicklung spielt die Schreiberschule eine zentrale Rolle. Sie bildet den institutionellen Rahmen für das Kopieren, Zirkulieren und Archivieren der Texte und sorgt auf diese Weise dafür, daß alte Texte und der in ihnen vergegenwärtigte normative und formative Sinn präsent und anschlußfähig bleiben. 434 Mit der Ausbildung dieses ‹Traditionsstroms› erweitert sich auch das kulturelle Gedächtnis medial, da die Schrift nun ebenfalls eine Rolle für die Identitätsfundierung zu spielen beginnt. Damit stellt die Gesellschaft ihre kulturelle Kohärenz nicht mehr nur durch zeremonielle Kommunikation her, sondern auch durch ‹textuelle Kohärenz›. Dieses Zwischenstadium von ‹ritueller› zu ‹textueller Kohärenz›, an dessen Beginn neben lateinischen Gebrauchstexten Sæmundrs Königsviten und die Íb. stehen, erhält in den Assmann ’ schen Studien kaum Beachtung, da es einerseits schwer greifbar ist und andererseits seine Studienbeispiele, nämlich Israel und Ägypten, ausgeprägte ‹textuelle› Kohärenzherstellungen repräsentieren. Im isländischen Fall schritt die Entwicklung dieses ‹Traditionsstroms› anders voran, wie die folgenden Analysen verschiedener historiographischer Texte in der Zeit zwischen 1100 und 1300 darlegen sollen. Wie entwickelt sich dieser ‹Traditionsstrom› nach Aris 432 Vgl. Assmann 2007, S. 91. 433 Ebd., S. 92. 434 Ebd., S. 93. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 166 Íb. weiter? Welche Texte erlangen normativen und formativen Status und bleiben anschlussfähig? Welche Texte erhalten einen zentralen Platz im ‹Traditionsstrom›? 5.1 Sæmundr und Ari - zwei historiographische Richtungen des 12. Jahrhunderts Der ‹Traditionsstrom› beginnt in Island nach einem Jahrhundert vornehmlich religiöser Gebrauchstexte mit Sæmundrs Königsviten und Aris Íb. in der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Dabei markiert die Íb. einen noch konkreteren Anfangspunkt, nämlich den Beginn des vernakularen ‹Traditionsstroms›. 435 Sæmundr Sigfússon schrieb wohl als erster, zwischen 1080 und 1120, einen Text über die norwegischen Könige; im Hinblick darauf wird er jedenfalls in den späteren Quellen wie der ÓlO oder dem Nóregs konunga tal zitiert. Insbesondere das Nóregs konunga tal, entstanden um 1190, bezeugt die starke Affinität zu den Norwegerkönigen in seinem Text bzw. seinen Texten, indem sie diesen Gedanken wieder aufgreift und zugunsten der anstehenden Ehe von Sæmundrs Enkel Jón Loptsson mit einer norwegischen Königstochter eine genealogische Verbindung zwischen seiner Familie, den Oddaverjar, und den Norwegerkönigen festhält. Es ist unklar, ob diese Verbindung schon auf Sæmundr selbst zurückgeht, zumindest rekurriert das Nóregs konunga tal auf Sæmundr als Quelle für die Auflistung von zehn Norwegerkönigen seit Harald Schönhaar. 436 Diese Darstellung lässt mindestens ein großes Interesse für Norwegen schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts erkennen, unter Umständen sogar eine intendierte Identifikation in Form der Aufwertung der eigenen Familie mittels Angliederung an die derzeit herrschenden Könige. Aris Íb. bezeugt hingegen für dieselbe Zeit einen deutlichen Abgrenzungsversuch von Norwegen, der nicht primär (oder nicht nur) von Ari ausgegangen zu sein scheint: immerhin wollte er seine Königsgenealogien (die nicht überlieferten konungaævi «Königsviten») einbringen, doch es waren die Bischöfe, die sie herausstreichen ließen. 437 Unklar ist jedoch, welcher Gestalt diese Darstellungen waren. Einen 435 Dieser ist deshalb abzugrenzen, weil die Relevanz der lateinischen Texte auf lange Sicht gesehen bedeutend geringer war und sich bald eine intensive Übersetzungskultur ausbildete. Es fällt auf, dass vernakulare Texte bedeutend häufiger kopiert bzw. überhaupt bewahrt wurden. Nicht nur Sæmundrs Königsviten sind verloren, sondern auch andere lateinische Originalvorlagen (wie das der im folgenden Kapitel diskutierten ÓlO oder die zur selben Zeit entstandene lateinische Ólafs saga Tryggvasonar von Gunnlaugr Leifsson), die höchstens in Übersetzungen überliefert sind. Hierin zeigt sich eine deutliche Hinwendung zur vernakularen Schriftsprache und zum isländischen Publikum, möglicherweise auch als ein Moment der Identitätsbildung. 436 Bei einer solchen Auflistung kann es sich entweder um eine Regentschaftsliste gehandelt haben oder um eine genealogische Auflistung aufeinanderfolgender Herrscher. Aus dem Text lässt sich auf keine der beiden Möglichkeiten mit Sicherheit schließen (s. Anm. 265, S. 93). 437 Entgegen der Deutung von Sawyer/ Sawyer (vgl. 1993, S. 219), mit Sæmundr wäre ein Interesse an den norwegischen Königen aufgekommen, jedoch durch „ Stolz im neuen Island “ gedämpft worden, um ca. 1190 mit dem Nóregs konunga tal wieder aufgekommen zu sein, lässt sich hier doch vielmehr eine Einzelperspektive statt eine chronologische Entwicklung ablesen. Schließlich deuten die Texte auf eine Anknüpfung der Oddaverjar an das norwegische Königshaus hin. Über- 5.1 Sæmundr und Ari - zwei historiographische Richtungen des 12. Jahrhunderts 167 Hinweis darauf gibt Snorri Sturluson in seinem Prolog zur Hkr. um 1225-30, in dem er schreibt: Ari prestr inn fróði Þorgilsson, Gellissonar, ritaði fyrstr manna hér á landi at norrœnu máli frœði, bæði forna ok nýja. [...] Ritaði hann mest í upphafi sinnar bókar frá Íslands byggð ok lagasetning, síðan frá l ǫ gs ǫ gum ǫ nnum, hversu lengi hverr hafði sagt, [...]. Hann tók þar ok við m ǫ rg ǫ nnur dœmi, bæði konunga ævi í Nóregi ok Danm ǫ rku ok svá á Englandi eða enn stórtíðendi, er g ǫ rzk h ǫ fðu hér á landi, [...]. (Hkr., Prolog, S. 5 f.) Der Priester Ari inn fróði Þorgilsson, der Enkel des Gellir, schrieb als erster der Leute hier im Land [geschichtliches] Wissen, sowohl altes als auch neues, in norröner Sprache. [...] Am meisten schrieb er zu Beginn seiner Bücher von Islands Besiedlung und Gesetzeseinführung, dann von den Gesetzessprechern und davon, wie lange sie amtierten, [...]. Außerdem übernahm er auch viele andere Berichte, sowohl aus dem Leben der Könige in Norwegen und Dänemark genauso wie aus England als auch die wichtigsten Ereignisse, die sich hierzulande zugetragen hatten [...]. Man kann wohl davon ausgehen, dass Ari auch im verlorenen Teil seiner «Bücher» nicht wie Sæmundr den Fokus auf die norwegischen Könige legte, sondern Island wie auch in der überlieferten Íb. in einen ‚ internationalen ‘ Rahmen eingliedern wollte; nur so lässt sich jedenfalls der letzte Satz des genannten Zitats verstehen. 438 Doch muss diese Darstellung den Bischöfen missfallen haben, sonst hätten sie sie nicht herausstreichen lassen, wie Ari im Prolog (vielleicht zu seiner Verteidigung? ) schreibt. Sein generelles Bedürfnis nach einer Internationalisierung ist unbestritten angesichts seiner eigenen Genealogie am Ende der Íb. Hiermit stehen also die beiden Verfasser des beginnenden 12. Jahrhunderts mit der Idee einer Identifikation bzw. einer Gleichstellung mit den skandinavischen Königshäusern den Ambitionen dies sollte man Ari selbst nicht das Interesse an den norwegischen Königen aberkennen, es war nur anders perspektiviert. So zeugen immerhin auch Aris eigene Genealogie sowie die nicht überlieferten «Königsviten» von einem sehr großen Interesse an der gesamtskandinavischen Geschichte. 438 Möglich wäre, dass die Hungrvaka eben jene Darstellung aus Aris verlorenen Schriften transportiert. Dort wird häufig am Ende (manchmal auch innerhalb) eines Kapitels berichtet, welche Ereignisse sich in Island und parallel dazu in Skandinavien zutrugen, wobei auch Sterbedaten anderer Herrscher und von Päpsten hinzugezogen werden, so beispielsweise: Í byskupsdómi Gizurar byskups urðu m ǫ rg stórtíðendi: Líflát ins helga Knúts konungs á Fjóni ok Benedikts bróður hans, Vilhjálms Englandskonungs, andlát Óláfs konungs kyrra ok Hákonar Magnússonar í Nóregi, fall Magnúss konungs berbeins vestr á Írlandi á Úlaztíri, fœrsla ins helga Nicholai byskups í Bár, andlát Óláfs konungs Magnússonar í Nóregi, líflát Magnúss jarls ins helga, andlát l ǫ gs ǫ gumanna, Markúss ok Úlfheðins, ok Teits Ísleifssonar ok annarra sona Ísleifs byskups, elds uppkváma í Heklu‹felli› ok m ǫ rg ǫ nnur stórtíðendi, þó at hér sé eigi til l ǫ gð (Kap. 5, S. 22; «Während Gizurrs Episkopats begaben sich viele bedeutende Ereignisse: Der Tod König Knúts des Heiligen in Fjón und der seines Bruders Benedikt sowie des Engländerkönigs Vilhjálmr, der Tod König Olafs und der Hákon Magnússons in Norwegen, der Tod von König Magnús berbeinn im Westen, in Ulster in Irland, die Überführung der Gebeine des heiligen Bischofs Nicholai nach Bari, der Tod König Olafs Magnússon in Norwegen, der Tod des heiligen Jarl Magnús, der Tod der Gesetzessprecher Markús und Úlfheðinn sowie der von Teitr Ísleifsson und anderer Söhne von Bischof Ísleifr, auch der Vulkanausbruch von Heklu‹fell› sowie viele weitere bedeutende Ereignisse, auch wenn sie hier nicht aufgeführt werden.»). 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 168 der Bischöfe entgegen. Wie konnten so unterschiedliche ‹Erinnerungsinteressen› nebeneinander existieren? Eigentlich gehörten Sæmundr und Ari genau wie die Bischöfe zur selben klerikalen Oberschicht. Aus welchem Grund unterschied sich also trotzdem ihr Fundierungsbedürfnis? Nun scheint aber das Interesse an der genealogischen Anknüpfung an außerisländische Herrschergeschlechter die einzige Gemeinsamkeit der beiden Gelehrten zu sein. Ari muss sich im Klaren darüber gewesen sein, dass Sæmundr bereits einen Text über die norwegischen Könige verfasst hatte, weshalb dieser wohl überhaupt erst als angemessener Ansprechpartner und Redaktor für Aris erste Version der Íb. in Frage kam (wie Ari selbst im Prolog der Íb. vermerkt). In der Íb. selbst wird Sæmundr allerdings nie als Gewährsperson angeführt. Auch im Hinblick auf die verlorengegangenen Königsviten trifft selbiges zu, sofern man Snorri eine vollständige Repetition von Aris Quellenbenennungen zugesteht: Hann [d.i. Ari] ritaði, sem hann sjálfr segir, ævi Nóregskonunga eptir s ǫ gu Odds Kolssonar, Hallssonar af Síðu, en Oddr nam at Þorgeiri afráðskoll, þeim manni, er vitr var ok svá gamall, at hann bjó þá í Niðarnesi, er Hákon jarl inn ríki var drepinn. (Hkr., Prolog, S. 6) Er schrieb, wie er selbst sagt, die Lebensgeschichten der Norwegerkönige gemäß dem Bericht von Oddr Kolsson, dem Sohn von Hallr von Síða, und Oddr wiederum bekam diesen von Þorgeirr afráðskoll, jenem Mann, der weise war und so alt, dass er damals in Niðarnes wohnte, als Jarl Hákon inn ríki getötet wurde [ca. 995]. Warum also hat Ari bei seinen Darstellungen nicht auf Sæmundr zurückgegriffen? Man könnte das mit dem schwachen Argument begründen, Sæmundr habe sein Buch ja auf Latein verfasst und Ari wäre des Lateinlesens nicht mächtig gewesen. Dann würde sich aber immer noch die Frage stellen, wieso Ari ihn dann nicht - wie die anderen Gewährspersonen auch - als mündlichen Erinnerungsträger anführt oder wenigstens dessen Quellen oder Gewährspersonen nennt. Angesichts dieser vielen Möglichkeiten und der Tatsache, dass sich Ari und Sæmundr kannten, gibt es wohl keine stichhaltige Begründung dafür, wieso Ari ihn außen vorlässt. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Ari möglicherweise Sæmundrs Text als Quelle nutzte bzw. beide wenigstens über exakt die gleichen Themen schrieben: nicht nur in der S- Version der Lb. wird auf einen Bericht von Sæmundr über die Landnahme Islands verwiesen: Svá sagði Sæmundr prestr enn fróði (S 3, S. 34; «So berichtete es der Priester Sæmundr enn fróði.»), sondern auch beide Übersetzungen der lateinischen ÓlO vermerken inhaltliche Überschneidungen beider Texte. 439 Der Grund dafür, weshalb 439 […] ok þessir menn samþykkjask, Sæmundr enn fróði ok Ari enn fróði Þorgilssonr, at Hákon hafi stýrt ríkinu þrjá vetr ens fjórða tigar síðan er Haraldr fell gráfeldr, ok þat þykkir saman koma ok þessi frás ǫ gn (S-Version, Kap. 20, S. 209; «und jene Männer, Sæmundr enn fróði ok Ari enn fróði Þorgilssonr, bestätigen, dass Hákon das Reich dreiundvierzig Jahre regierte seit Haraldr gráfeldr fiel, und das scheint mit ihren [d.s. die dem Schreiber bekannten mündlichen Tradenten] Berichten übereinzustimmen»), bzw. En þessir menn samþykkja þetta með þessum hætti: Sæmundr hinn fróði ok Ari hinn fróði, er hvárstveggja s ǫ gn er trúlig, at Hákon hafi stýrt ríkinu þrjá tigu ok þrjá vetr, síðan er fell Haraldr gráfeldr. En þat þykkir þá mj ǫ k saman bera ok þessi frás ǫ gn (A-Version, Kap. 20, S. 209; 5.1 Sæmundr und Ari - zwei historiographische Richtungen des 12. Jahrhunderts 169 Ari nicht - oder wenn, dann bewusst ohne konkreten Nachweis - auf Sæmundr zurückgriff, liegt wohl vielmehr in unterschiedlichen Ambitionen begründet, so konstatieren Sawyer und Sawyer: „ They [i.e. Ari and Sæmundr] seem to represent two different attitudes, one stressing Norwegian roots, the other written in the vernacular, emphasizing Icelandic independence […]. “ 440 Doch die Unterschiede zwichen beiden Verfassern gehen über verschiedene «Standpunkte» hinaus. Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich unterscheiden sich die beiden Arbeiten der Verfasser offensichtlich: Sæmundr schrieb über das Leben der norwegischen Könige mit möglicher Anknüpfung seiner eigenen Familie an einen ihrer Stammbäume, Ari schrieb über Island und internationalisierte mit der trojanischen Herkunft seine eigene Abstammung mit bekennender Abgrenzung zur norwegischen Abstammungslinie. Insgesamt scheinen sie also unterschiedlichen Ideenströmungen angehört zu haben; während Sæmundr zur Ausbildung in Frankreich war, ist Ari vermutlich nie im Ausland gewesen. Man könnte also provokant fragen: Warum schrieb der vermutlich dafür prädestiniertere Sæmundr nicht die Íb.? Immerhin hatte Sæmundr als Gefährte von Bischof Jón in Hólar mindestens dort gewisses Ansehen genossen und unterrichtete nach seiner Rückkehr an seiner Schreiberschule in Oddi. Trotzdem entschieden sich die beiden Bischöfe, Ari mit diesem Projekt zu beauftragen. Dies geschah wohl zum Teil aus praktischen Gründen, denn Ari hatte als mittlerweile integriertes Familienmitglied der Haukdœlir dort seine Ausbildung erhalten. Darüber hinaus spielten wohl auch die persönlichen Ambitionen der Verfasser eine Rolle. Eine kurze, aber für das Verständnis der Verfasserintention überaus dankbare Passage in der ÓlO, die Sæmundrs Text wörtlich zitiert, zeugt in Kontrast zur Íb. von einer völlig andersartigen, nämlich durchweg überhöhenden Haltung zu König Olaf Tryggvason und dessen Missionsaktivitäten: Þessa þings getr Sæmundr prestr hinn fróði, er ágætr var at speki, ok mælti svá: „ Á ǫ ðru ári ríkis Óláfs Tryggvasonar samnaði hann saman mikit fólk ok átti þing á Staði á Dragseiði ok lét eigi af at boða m ǫ nnum rétta trú fyrr en þeir tóku skírn. Óláfr konungr hepti mj ǫ k rán ok stulði ok manndráp; hann gaf ok góð l ǫ g fólkinu ok góðan sið. “ Svá hefir Sæmundr ritat um Óláf konung í sinni bók. (Kap. 37, S. 232) Diese Sache berichtet der Priester Sæmundr inn fróði, der herausragend im Hinblick auf sein Wissen war, und beschrieb es so: „ Im zweiten Jahr der Regentschaft von Olaf Tryggvason sammelte er viele Leute zusammen und hielt ein Thing in Staðr auf Dragseiðr ab und ließ nicht davon ab, den Leuten den rechten Glauben zu verkünden, ehe sie nicht die Taufe vollzogen hatten. König Olaf unterband vehement Raub und Diebstahl sowie Totschläge; außerdem brachte er dem Volk auch ein gutes Gesetz und einen guten Glauben. “ So hat es Sæmundr über König Olaf in seinem Buch geschrieben. «Und jene Männer bestätigen das in folgender Weise: Sæmundr hinn fróði ok Ari hinn fróði, deren beider Berichte dahingehend vertrauenswürdig sind, dass Hákon das Reich dreiunddreißig Jahre regierte seit Haraldr gráfeldr fiel. Und das scheint dann gänzlich mit diesen Berichten [d.s. die der mündlichen Tradenten] übereinzustimmen»). 440 Sawyer/ Sawyer 1993, S. 218. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 170 Die Oberschicht - das umfasst auch die Kleriker - war sich in Island hinsichtlich ihrer politischen Positionierung keineswegs immer einig, wie bspw. die Auseinandersetzung ab 1179 (der sog. staðamál fyrri «der erste Streit um die Kirchenstätten»), zeigt, in dem sich Sæmundrs Enkel Jón Loptsson den Versuchen des Skálholter Bischofs (dem Heiligen Þorlákr), die Kirche von der weltlichen Macht abzuspalten und die Höfe mit erbauten Kirchen aus den Händen der weltlichen Machthaber in den Besitz der Kirche zu überführen, entgegenstellte und sich auch durchsetzen konnte. Dass andersherum die Oddaverjar im Hinblick auf die Literaturproduktion in den kommenden Jahrzehnten bedeutend weniger ambitioniert waren als die Haukdœlir, sticht genauso auffällig hervor: den Haukdœlir kann man die Íb. und die Hungrvaka zuordnen, die von Teitrs Enkel Gizurr Hallsson, der bei Bischof Þorlákr - dem Auftraggeber der Íb. - in Pflegeschaft war, in Auftrag gegeben wurde. Dieser redigierte auch die ÓlO (gemäß ihrem Epilog) sowie den Haukdæla þáttr, einen kurzen Text über die Abstammung der bedeutendsten Mitglieder der Haukdœlir. 441 Dennoch war der politische Einfluss der Oddaverjar im 12. Jahrhundert ähnlich groß wie der der Haukdœlir: schon Sæmundr wird als gelehrte Autorität in einer Vielzahl von Texten genannt und war an der Einführung des Kirchenzehnten und der Verabschiedung des ersten Kirchenrechts beteiligt. Sein Enkel Jón Loptsson baute diesen Einfluss als Inhaber des Godentums im Rangárþing und Priester noch aus. 442 Fest steht also: unterschiedlicher hätten die beiden ersten Historiographen Islands nicht sein können, was sich auch auf ihre Arbeiten ausgewirkt hat, denen offensichtlich unterschiedliche ‹Erinnerungsinteressen› und Fundierungsbedürfnisse zugrunde lagen. Diese unterschiedlichen Ausrichtungen der Texte wurden jedenfalls von den mittelalterlichen Autoren, die sie rezipierten, wahrgenommen. In den bald auf Ari und Sæmundr folgenden Texten wird nie auf 441 Neben Sæmundrs verlorenen Texten, sofern man von mehreren ausgehen will, lassen sich keine weiteren Texte den Oddaverjar zuordnen. Auffällig ist, dass sie in der Literatur insgesamt eine sehr große Rolle spielen, wodurch überhaupt Rückschlüsse auf ihren Status und ihre Rolle in der Gesellschaft gezogen werden können. Vor allem Sæmundr wird in etlichen Texten erwähnt wie in der Íb. oder dem Sæmundar þáttr, der an die Jóns saga helga angehängt wurde. Über seinen Enkel Loptr erfährt man aus dem Oddaverja þáttr (entstanden ca. 1270/ 80, vgl. Orri Vésteinsson 2000, S. 112-23), der als Hauptquelle von dem o.g. Kirchenstreit berichtet. 442 Dennoch muss man feststellen, dass die Nachfolge des Bischofs Jón in Hólar durch Bischof Ketill den Einfluss der Oddaverjar auf die Diozöse in Hólar zu verändern schien. Möglicherweise steht das in Zusammenhang damit, dass Bischof Ketill in die Haukdœlir-Familie eingeheiratet hatte und damit eine Hinwendung zum Bistum in Skálholt stattfand, wodurch die regionale Machtverteilung umgewichtet wurde. Diese Tendenz ist dann im ausgehenden 12. Jahrhundert weiter fallend: die Oddaverjar spielten im Bürgerkrieg des 13. Jahrhundert (den Sturlungaöld) keine signifikante Rolle mehr. Genauso wenig stellten sie die Bischöfe mehr als zwei Mal (zum einen Sæmundrs Neffe Brandr Sæmundsson (1163-1201†) in Hólar sowie zum anderen Sæmundrs Urenkel Páll Jónsson (1195-1211†) in Skálholt, der zudem den einzigen den Oddaverjar zuordenbaren Text  das Mirakelbuch des Heiligen Þorlákr (1178-1193†); Jarteinabók Þorláks biskups; seines Onkels mütterlicherseits  in Auftrag gab, das im Jahr 1199 fertiggestellt wurde). Darüber hinaus entstammten bis auf Brandr Sæmundsson und Páll Jónsson alle Bischöfe den Haukdœlir und den Sturlungar. 5.1 Sæmundr und Ari - zwei historiographische Richtungen des 12. Jahrhunderts 171 beide Verfasser rekurriert, sondern immer einer von beiden präferiert. Die einzige Ausnahme stellt die bereits oben zitierte ÓlO dar: 443 Text Sæmundr Ari Íslendingabók (1122-33) Erster Grammatischer Traktat (ca. 1150) x Nóregs konunga tal (1190) x ÓlO (1190-1200/ Überl. 1250-1300) x x Landnámabók S (1270) x Landnámabók H (1299) x Kristni saga (ca. 12. Jh., ü. 1299) x Heimskringla 1225/ 30 x Summe 3 5 Abb. 2: Referenzen auf Sæmundr und Ari Auffällig ist, dass Sæmundrs Text(e) von den späteren Historiographen deutlich weniger Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde(n) als Aris Text(en). Assmann beschreibt das Phänomen unterschiedlicher Wiederaufnahmeintensitäten mit dem Begriff des „ Selektionsprozess[es] “ , der bei der Bildung eines ‹Traditionsstroms› entsteht und von dem abhängt, welche Texte nicht in Vergessenheit geraten bzw. welche an der Peripherie oder im Zentrum des ‹Traditionsstroms› stehen. 444 Aris Text(e) befand(en) sich demnach deutlich näher im Zentrum als Sæmundrs. Die obige Aufstellung macht deutlich, dass bis zu Beginn der Kompilationen des 13. Jahrhunderts kein historiographischer Text außer der ÓlO auf die Darstellungen beider Verfasser verweist, sondern vom jeweiligen Verfasser entschieden wurde, auf welche der beiden Darstellungen - die anscheinend nicht vereinbar waren - zurückgegriffen wurde. Hierfür sprechen auch die zuvor zitierten Passagen der ÓlO, in der der Verfasser seine Mühe hat, eine Gemeinsamkeit beider Darstellungen zu finden und sich letztendlich nur im Hinblick auf Jahreszahlen bestimmen lassen. Die weiteren Verweise, die er anführt, beziehen sich entweder auf 443 Allerdings gilt es zur ÓlO einzuwenden, dass sie zwar inhaltlich historiographisch ausgerichtet ist, ihre Form allerdings sehr starken hagiographischen Charakter hat. Zwar wird sie als eine der ersten Königssagas klassifiziert, doch gilt es zu bedenken, dass sie v.a. formal und sprachlich den späteren hagiographischen Texten auffällig ähnelt, weshalb Julia Zernack ihr einen hybriden Charakter zuschreibt (vgl. Zernack 1998, S. 83). Da für diese Betrachtung in erster Linie der Umgang mit Erinnerungen entscheidend ist, soll auf die Frage nach dem hagiographischen Anteil hier nicht weiter eingegangen werden. Entscheidend ist, dass ihr transparenter Quellenumgang der hier zunächst zugrunde gelegten Definition Starýs der ‹kritischen Geschichtsschreibung› entspricht. 444 Assmann 2007, S. 101. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 172 Ari oder auf Sæmundr. Die ÓlO scheint also den Versuch der Vereinbarung beider ihm vorliegenden Versionen zu wagen, der jedoch gründlich fehlschlägt, indem er schon mit eben dieser Gemeinsamkeit bezüglich der Regierungsjahre Jarl Hákons endet. Der Verfasser Oddr Snorrason hatte keine anderen innerisländischen Texte zur Verfügung, als er um 1190 die ÓlO verfasste, daher mag es nicht verwundern, dass er auf jede einzelne Quelle angewiesen war. 445 Trotzdem oblag seine Entscheidung, beide Texte als Quelle zu nutzen, ihm selbst; immerhin wäre es auch möglich gewesen, sich nur für eine Quelle zu entscheiden oder die Übernahme aus einer der Quellen nicht zu kennzeichnen. Einen ähnlichen Versuch der Vereinbarung beider Strömungen gab es danach nicht mehr. Am meisten verwundert, dass Snorri Sturluson, der immerhin auf Oddi bei Sæmundrs Enkel aufwuchs und in der dortigen Schule direkt mit Sæmundrs literarischem Erbe in Berührung gekommen sein muss, jenen nicht als seine Quelle oder Gewährsperson nennt, sondern stattdessen im Prolog eine ausführliche Argumentation über Ari und dessen verbürgte Berichte als seine Quelle anführt. Spätestens an dieser Stelle wird der mögliche Einwand verworfen werden müssen, diese verschiedenen Rückgriffe würden sich in der örtlich eingeschränkten Verfügbarkeit von Manuskripten und Texten begründen. Gerade an Snorri wird deutlich, dass man von bewussten Entscheidungen der Verfasser ausgehen muss, weshalb auf einen Text oder Verfasser zurückgegriffen wurde oder nicht. Die Gründe für diese Entscheidung lassen sich nur damit erklären, dass sich differierende Geschichtsdarstellungen in beiden Texten befanden, die sich so fundamental unterschieden, dass sie nicht gleichzeitig brauchbar waren. 5.2 Reorganisation des kulturellen Gedächtnisses durch Hypolepse Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts sind keine anderen historiographischen Texte überliefert, weshalb der Beginn des ‹Traditionsstroms› erst rückwirkend durch die ersten Wiederaufnahmen von Aris und Sæmundrs Texten in der ÓlO bestimmt werden kann. Um die Jahrhundertwende zum 13. Jahrhundert entsteht in relativ kurzer Zeit eine Gruppe von Texten, die in dieser Abhandlung als sekundäre Historiographie bezeichnet wird und die von Starý definierten Kriterien der ‹kritischen Geschichtsschreibung› aufweist. Jene Definition wurde zu Beginn dieser Abhandlung behelfsweise als inhärentes Kriterium gebraucht, um die historiographischen Texte von anderen abgrenzen zu können. Was an diesen Texten auffällt, ist sowohl ihre inhaltliche und formale Konsistenz als auch der Gebrauch der Volkssprache. Häufig wurde in der Forschung festgestellt, dass die historiographischen Texte inhaltlich und vor allem chronologisch aneinander anknüpfen und aufeinander aufbauen, wie auch die herausgestellten Rückbezüge auf Ari und Sæmundr im Kapitel 445 Dennoch fällt auf, dass er zwar die norwegischen Historiographien gebraucht, aber nicht darauf verweist (vgl. Bjarni Aðalbjarnarson. Formáli. In: ÍF XXVI. Hkr. I. Snorri Sturluson. Bjarni Aðalbjarnarson gaf út. Reykjavík 2002. S. V-CXL, S. XIV ff.). 5.2 Reorganisation des kulturellen Gedächtnisses durch Hypolepse 173 zuvor unterstreichen. 446 So hat man das um 1150 entstandene, aber verlorene * Hryggjarstykki als Verbindungsstück betrachtet zwischen Aris Íb., deren Schilderungen um das Jahr 1120 enden, und der ersten Königssaga namens Sverris saga, die die Regierungszeit des Königs von 1177-1202 behandelt. 447 Eindeutiger kann man diesen Anschluss der inhaltlich chronologischen Abfolge anhand der Sverris saga (abgedeckter Zeitraum: 1177-1202), den Böglunga sögur (1202-1217), der Hákonar saga Hákonarsonar (1217-1236) und der Magnúss saga lagabætis (1264-1274) sehen. Bei genauerem Hinsehen geht dieser Anschluss jedoch weit über chronologische Aspekte hinaus: es scheint sich ein historiographischer Diskurs zu entwickeln, der durch verschiedenste Rahmenbedingungen begrenzt und von einem Leitthema getragen wird: der Suche nach der eigenen Geschichte. Das klingt erst einmal paradox, behandelt doch der Großteil der späteren historiographischen Texte vor allem die norwegische Geschichte. Doch nur so lässt sich erklären, wieso fast alle Königssagas auf Island von Isländern geschrieben wurden: nicht nur viele Auftragsarbeiten, sondern auch die Vielzahl an Manuskripten für den Eigenbedarf geben seit jeher Rätsel auf. Es muss also eine innerisländische Motivation vorhanden gewesen sein, die für das Interesse an Norwegen verantwortlich gewesen ist. Es fällt auf, dass der isländische volkssprachliche ‹Traditionsstrom› mit der Íb. und wahrscheinlich einer frühen Fassung der Lb. beginnt, die eine völlig nach innen gewandte Perspektive haben; hier steht Island im Zentrum, äußere Einflüsse werden auf das Nötigste reduziert dargestellt. Das sind die Texte, die über ein Jahrhundert später um ein Vielfaches häufiger aufgegriffen bzw. berücksichtigt werden als Sæmundrs Königsviten. Die nach innen gewandte Perspektive dieser Texte wird sich alsbald, unter anderem beeinflusst durch soziale Umstrukturierungen in Island und Norwegen (durch eine andere ‹Herausforderungslage› gemäß des Gießener SFB Modells) 448 , bis zur Entstehung der Isländersagas im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts vorübergehend ändern: die große Gruppe der neu entstehenden historiographischen Texte um 1200 konzentriert sich ausnahmslos auf die norwegische Geschichte, abgesehen von wenigen Nebenschauplätzen, die Gesamtskandinavien und gelegentlich auch weiter entfernte Orte behandeln; eine Neuauflage einer 446 S. Historiographische Texte 1100-1300 im Überblick, S. 245-246. 447 Die ersten Schilderungen über König Sverrirs Geburt und Kindheit beginnen in den 1150er Jahren, womit immer noch eine zeitliche Lücke von 30 Jahren zwischen der Íb. und der Sverris saga besteht. Diese wird allerdings durch die norwegische Historiographie abgedeckt, obwohl es fraglich ist, ob diese Texte tatsächlich der Grund für die entstandene Lücke gewesen sind, wie an späterer Stelle noch deutlich werden wird. 448 S. Günther Lottes 1996. Eine neue erinnerungskulturelle Herausforderungslage kann zudem auch die Ausbildung neuer Gattungen zur Folge haben (s. z.B. Astrid Erll. Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier 2003 sowie Ansgar Nünning. Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. 2 Bände. Trier 1995). Diese Beobachtung (wenn auch für moderne Literaturgattungen gemacht) lässt sich durchaus grundsätzlich auf die altnordische Historiographie übertragen. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 174 intendierten Nationalgeschichte entsteht nicht mehr. 449 Dieser Perspektivenwechsel lässt sich allerdings nicht allein aus den sozialen Umwälzungsprozessen heraus erklären, denn dann hätte Island in bzw. mit der Literatur von Ari bis zur Ausbildung der familienfundierenden Isländersagas keine eigene Identiät mehr konstituiert. Genau an diesen Punkt knüpft diese Abhandlung an und stellt die These auf, dass aufgrund fehlender gesamtisländischer Erinnerungsfiguren - wie man vor allem an der Lb. und Aris Íb. erkennen kann - die Annahme nahe liegt, dass die Isländer zur Wende vom 12. zum 13. Jahhrundert ihre Identitätsstrategie änderten: mit den Historiographen der Königssagas entsteht eine ‹Interpretationsgemeinschaft›, die kulturelle Kohärenz nicht mehr primär durch ‹Distinktion› nach außen (wie es noch in der Íb. und der Lb. versucht wurde), sondern durch ‹Integration› herzustellen versucht. Diese konnte am besten durch eine Angliederung an ihr wohl vertrautes Heimatland Norwegen hergestellt werden. Da also eine kollektive isländische Identität allein auf Basis der noch sehr jungen Gesellschaft aufgrund fehlender Fundierung in der Vergangenheit nicht herzustellen war, traten die Historiographen um 1200 in einen Dialog darüber, Norwegen als ihrem Heimatland eine entsprechende lückenlose Vergangenheit zu verschaffen, um sich selbst darauf berufen zu können. 450 Daher knüpfen sie an Darstellungen von Ari und anderen frühen Autoren an, die ebenfalls die Idee und das Bedürfnis hatten, Islands gesellschaftliche Entwicklung im Sinne einer Fortführung der norwegischen Geschichte zu fundieren. Dieses Leitthema (die Suche nach der eigenen Geschichte) verbindet jene Texte, die hier behelfsweise wegen des ihnen gemeinsamen 449 Anfang des 13. Jahrhunderts knüpft noch einmal die Hungrvaka an Aris Darstellung an und vertritt eine islandzentrierte Perspektive, bei der sogar Olaf Tryggvasons Einfluss bei der Christianisierung Islands völlig außen vor gelassen wird. Diesen Text kann man auf der einen Seite inhaltlich als historiographisch kategorisieren, doch steht er absolut in der hagiographischen Tradition, in der er die Bischöfe Skálholts darstellt. Der Text will keine Nationalgeschichte schreiben, er schließt gewissermaßen an Aris Darstellung Südwestislands als Zentrum kultureller Aktivität an. Außerdem muss noch auf die Kristni saga verwiesen werden, die an Aris Darstellung in der Íb. anknüpft und dies auch zweifach belegt: Svá hefir Ari hinn gamli sagt (Kristni saga, ÍF XV 2 , Kap. 13, S. 38; «So hat es Ari hinn gamli erzählt.») sowie Ari inn fróði stóð yfir grepti hans tólf vetra gamall, er flest hefir sagt frá þessum tíðendum er hér eru rituð (Kap. 14, S. 40; «Jener Ari inn fróði stand als Dreizehnjähriger an seinem [d.i. Bischof Ísleifrs] Grab, der das meiste von diesen Ereignissen erzählt hat, die hier [nieder]geschrieben werden.»), jedoch keine kritische Auseinandersetzung mit ihren Quellen zeigt. Daher lässt sich der Text eher als ‹naive Geschichtsschreibung› bezeichnen und steht den Isländersagas und der Lb. damit näher als der Íb. 450 Es ist klar, dass die Gesellschaftsfundierung sowie die Fundierung der norwegischen Königshäuser in der Literatur zum großen Teil ahistorisch ist, denn erst Jahrhunderte nach Harald Schönhaar trat Stabilität in der Herrschaft des Landes unter König Magnús, dem Sohn Olaf des Heiligen, ein, indem die Unabhängigkeit von Dänemark langfristig gesichert wurde und etwa 300 Jahre lang stabil blieb (vgl. Sawyer/ Sawyer 1993, S. 60). Zudem waren die skandinavischen Königreiche erst Ende des 12. Jahrhunderts völlig etabliert und hatten die Vererbungsprinzipien eingeführt, die dann in der Historiographie auf die Zeit davor projiziert wurden (vgl. ebd., S. 61). Damit ist unstrittig, dass erst die isländischen Historiographen des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts ein kohärentes Kontinuum der norwegischen Herrschaft schufen, das in der Realität bis auf die kurze Einheitszeit von König Olaf dem Heiligen nie bestand. 5.3 Das hypoleptische ‹Problem›: die Suche nach der eigenen Geschichte 175 inhärenten Merkmals der Quellenkritik zusammengefasst wurden. Interessanterweise lässt sich aber auch feststellen, dass sie auf der Textebene durchaus unterschiedliche Identitätskonstruktionen favorisierten. Das erscheint aber nicht mehr widersprüchlich, wenn man berücksichtigt, dass bereits die beiden islandzentrierten Texte, die Íb. und die Lb., unterschiedliche Identitätsfundierungen sowie auch die späteren Isländersagas ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Norwegen präsentieren. Es war für die mittelalterlichen Historiographen offensichtlich nicht ausschlaggebend, wie ein Text die isländische Identität auf der Textebene rekonstruierte, da sich in dieser Hinsicht auch widersprechende Texte aufeinander beziehen konnten (wie im Fall der auf Norwegens Rolle für Island fokussierten ÓlO, die sich dennoch auf Ari bezog, obwohl er Norwegens Einfluss so minimal wie möglich darstellte). Wichtig war für sie vielmehr, dass ein Text sich ebenfalls kritisch der Suche nach Identität annahm und dies außerdem in der Volkssprache tat - es ist offensichtlich, dass lateinische Texte (sofern von fundierendem Wert) immer übersetzt und nur in ihrer Übersetzung wiederaufgegriffen wurden, die lateinischen Originale hingegen allesamt nicht überliefert worden sind. 451 Man muss also folgern, dass die Texte auf der Metaebene stärker als auf der textuellen Identitätsebene durch etwas miteinander verbunden waren, das sie als diesem historiographischen Diskurs zugehörig und als formativ charakterisierte. Jenen kann man mit dem Begriff Hypolepse im Sinne eines kritischen Anschlusses beschreiben, wofür in den folgenden Kapiteln argumentiert werden soll. In ihm ist der Grund zu sehen, dass manche Texte im ‹Traditionsstrom› (wie Sæmundrs lateinische Königsviten) einer Wiederaufnahme im historiographischen Diskurs auf lange Sicht nicht genügten. Andere wiederum, wie Aris volkssprachliche Íb. mit seinem Verständnis der isländischen Gesellschaft als Fortführung der norwegischen Geschichte, wurden trotz schwacher Rezeption vielfach wieder aufgenommen. 5.3 Das hypoleptische ‹Problem›: die Suche nach der eigenen Geschichte Die Tatsache, dass die isländische Erinnerungskultur nur über wenige gesamtisländische und einheitliche Erinnerungen verfügte, machte eine Identitätsfundierung im 12. Jahrhundert praktisch unmöglich. Mit diesem Problem sah sich bereits Ari konfrontiert, der in seiner intendierten Nationalgeschichte einen Großteil regionaler Erinnerungskultur aufgriff und diese Erinnerungsfiguren im ‹fundierenden Modus› erinnerte, um ihnen kollektive Relevanz zu verleihen. Eine andere Strategie wählten die Isländer bei der Erstellung der Lb., in der praktisch nur familiengebundene Erinnerungen zusammengetragen wurden, die in ihrer Gesamtheit unter der ihnen gemeinen Erinnerungsfigur ‚ Landnahme ‘ die kollektive Identität fundieren sollten. 451 Das hat nicht zuletzt etwas mit dem Rezeptionsprozess ab 1300 zu tun, doch lässt sich bereits in der Zeit zwischen 1100 und 1300 die Tendenz erkennen, dass auf Latein verfasste Texte an diesem historiographischen Diskurs nicht teilhatten. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 176 Diese Identitätsstrategie wurde allerdings erst einmal wieder aufgegeben zugunsten der im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts entstehenden historiographischen Texte, die alle im die norwegische Geschichte rekonstruierenden Diskurs im Austausch über die eine Frage stehen: Wo kommen wir her und was definiert unsere Identität? Die Texte eröffnen über dieses Thema ein laufendes Kommunikationsgeschehen, indem sie alle aneinander anschließen und aufeinander reagieren. Literaturwissenschaftlich betrachtet würde man hier von Intertextualität in Form der Referenz auf einen vorangehenden Text sprechen. Mittlerweile beschäftigen sich mehrere Konzepte der Literaturwissenschaft mit dem Verhältnis zwischen Literatur und Gedächtnis und betrachten Literatur infolgedessen als ‹innerliterarisches Gedächtnis›. 452 Astrid Erll summiert Phänomene wie Intertextualität als spezielle literarische Erinnerungstechniken unter dem Oberbegriff eines ‹Gedächtnisses der Literatur›, mit dem Literatur (im Gegensatz zur institutionellen Erinnerung an Literatur durch z.B. Kanonbildungen) an sich selbst erinnert. 453 Trotz der Fokussierung auf moderne Literatur könnte dieses Konzept mit Einschränkungen auch auf vormoderne Literaturen übertragen werden. Im altnordischen Fall würde sich insbesondere die Betrachtung der spezifischen Interferenz der Isländersagas unter einem solchen gedächtnistheoretischen Aspekt anbieten, deren nicht markierte, dennoch markante Intertextualität einen solchen mnemonischen Raum konzipiert. Doch lässt sich eine solche Übertragung nicht problemlos auf die historiographischen Texte anwenden, da sie eine andere Form der Intertextualität zeigen: sie greifen einander nicht nur auf, sie schließen kritisch aneinander an und reagieren im Dialog aufeinander. Diese Form des Anschlusses begreift Assmann als eine von drei Formen ‹textueller Kohärenz›, mithilfe derer der Bruch, der die Verschriftlichung von Texten für eine Kultur bedeutet, überbrückt werden kann: Textuelle Kohärenz bedeutet die Herstellung eines Beziehungshorizonts über diesen der Schriftlichkeit inhärenten Bruch hinweg, eines Horizonts, innerhalb dessen Texte über die Jahrtausende hinweg präsent, wirksam und anschlußfähig bleiben. Wir können drei Formen solchen intertextuellen Anschlusses unterscheiden: den kommentierenden, den imitierenden und den kritischen. […] Gemeinsam ist allen drei Formen von Intertextualität, daß es sich um fundierende Texte handelt. Im Rahmen der Schriftkultur und der textuellen Kohärenz organisiert sich das kulturelle Gedächtnis 452 Innerhalb dieses Forschungsbereiches existieren die verschiedensten Ansätze zur Erforschung des innerliterarischen Gedächtnisses, wobei die einen Literatur als Symbolsystem, die anderen als Sozialsystem begreifen wollen (s. Siegfried J. Schmidt. Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Velbrück 2000). In die erste Kategorie gehören solche Studien, die sich mit der literarischen Erinnerungspraktik, der Topik und ästhetischen Formen beschäftigen (einen Überblick darüber gibt Erll 2005, S. 64 ff.). Hierzu hat die Slawistin und Literaturtheoretikerin Renate Lachmann einen der zentralsten Beiträge geleistet: Sie setzt Gedächtnis mit Intertextualität gleich, woraus folgt, dass das Gedächtnis des Textes seine Intertextualität ist (vgl. Renate Lachmann. Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt am Main 1990, S. 35). In die zweite Kategorie lassen sich solche Untersuchungen einordnen, die sich mit Funktionsweisen der Literatur wie dem Kanon sowie dem literarischen Rückbezug auf andere Bereiche einer Kultur beschäftigen (vgl. Erll 2005, S. 69 ff.). 453 Vgl. ebd., S. 64 f. 5.3 Das hypoleptische ‹Problem›: die Suche nach der eigenen Geschichte 177 vornehmlich als Umgang mit fundierenden Texten: auslegend, nachahmend, lernend und kritisierend. 454 Der kritische Umgang mit fundierenden Texten ist das, was dieser Abhandlung bereits zu Beginn definitorisch für die historiographischen Texte gemäß der Definition Starýs festgelegt wurde, da es ein inhärentes Merkmal dieser Texte darstellt. Wenn allerdings fundierende Texte im Rahmen eines ‚ wissenschaftlichen ‘ Diskurses - wie man die historiographischen Texte wegen ihres Quellenumgangs durchaus bezeichnen darf (ohne damit einen Vergleich mit der philosophischen Literatur der Antike anstreben oder den modernen Maßstab für Wissenschaft anwenden zu wollen) - kritisch aufgegriffen werden, dann entsteht eine andere Form der Intertextualität - die Hypolepse. Der altgriechische Begriff ὑπόληπσις (hypólepsis, allgemein: die Anschlussfähigkeit) stammt ursprünglich aus zwei Kontexten mündlicher Kommunikation: zum einen aus dem Rhapsodenwettkampf, bei dem die Rezitation des Homertextes an der gleichen Stelle anknüpfen musste, an dem der Vorredner aufgehört hatte. Zum anderen aus der griechischen Rechtsrhetorik, in der die Hypolepse das Anknüpfen an den Vorredner bei einer Volksversammlung oder in einem Prozess bedeutete. 455 Es scheint aus mehreren Gründen sinnvoll, diesen durch Assmann übertragenen Begriff in modifizierter Form auf die isländische Historiographie zu applizieren. Zunächst stellt Assmann für die griechische Schriftkultur zwei Besonderheiten heraus, die auffällige Parallelen zur isländischen Historiographie haben: Zum einen führt er an, dass sich die Schriftkultur in Griechenland nicht gegenüber der mündlichen Tradition absetze, sondern sie integriere und fortführe, und zum anderen, dass eine neue Form der intertextuellen Bezugnahme ausgebildet worden sei. 456 Die Hypolepse geht über die üblichen Funktionen von Schrift als Medium des kulturellen Gedächtnisses hinaus, indem sie nicht mehr nur „ allein informierend, anweisend, sichernd in den außerschriftlichen Raum gesellschaftlicher, z.B. wirtschaftlicher oder politischer Interaktion hinein[wirkt] “ 457 , sondern „ autoreferentiell auf andere schriftliche Texte innerhalb des vom jeweiligen Diskurs gesteckten Rahmens “ 458 verweist. Hieraus entstehe eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenzherstellung, indem die Bezugnahme auf vergangene Texte durch ‹kontrollierte Variation› geschehe. Um mittels der Schrift ein solches Kommunikationsgeschehen durch den Anschluss an in der Vergangenheit Gesagtes herstellen zu können, muss zunächst eine ‹Dehnung des hypoleptischen Horizonts› vorgenommen werden, in dem die Texte losgelöst von ihren raumzeitlichen Grenzen wiederaufgenommen werden können. Dieser erweiterte Beziehungsraum muss gemäß Assmann drei Dinge umfassen: 454 Assmann 2007, S. 102. Hiermit lässt sich auch treffender der Intertextualitätscharakter der ‹klassischen› Isländersagas bestimmen, die einen imitierenden Charakter haben und darauf basierend interagieren. 455 Vgl. ebd., S. 282 f. 456 Vgl. ebd., S. 281. 457 Ebd., S. 283. 458 Ebd., S. 283; Hervorhebungen im Original. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 178 ‹Schrift, Rahmen und Wahrheit›, d.h. ein Text muss erst einmal transsituativ verfestigt werden, dann in einen neuen Sinn ohne konkrete situative Gebundenheit eingerahmt werden sowie sich letztlich der Annäherung an die ‹Sache› (‹Wahrheit›) verpflichten: Jeder hypoleptisch organisierte Text steht also in einem dreifachen Bezug: 1. in Bezug auf frühere Texte, 2. in Bezug auf die Sache, und 3. in Bezug auf Kriterien, anhand deren [sic! ] sich der Wahrheitsanspruch des Textes und die Differenz zwischen Mitteilung und Information kontrollieren läßt. Es handelt sich also nicht um eine rein intertextuell hergestellte Kohärenz, [sic! ] wie in der Literatur. Kohärenz entsteht im hypoleptisch organisierten Diskurs durch die durch gemeinsame Wahrheitskriterien kontrollierte Dreiecksbeziehung zwischen Autor, Vorgänger und Sache. 459 Da die Schrift eine Distanz von Information und Mitteilung im Sinne der ‹zerdehnten Situation› ermöglicht, wird eine Reaktion von Kommunikation auf Kommunikation veranlasst: ein Prozess der Wahrheitskontrolle des zuvor Gesagten bzw. Erinnerten. 460 Die Beschäftigung mit der ‹Wahrheit› bzw. der ‹Sache› benötigt allerdings eine transsituative Fixierung von Relevanz, denn ohne die Einbettung in einen aktuellen Bezug erhielte sie keine Bedeutung. 461 Das, was für die isländische Gesellschaft an dieser Thematik dauerhaft von Belang ist, ist das Problem der Uneinheitlichkeit der identitätssichernden kulturellen Erinnerung (in der Mündlichkeit und der Schrift) über die Zeit hinweg - es stellt die beunruhigende Dynamik des hypoleptischen Diskurses dar. Dieses ‹Problem› hat für den Diskurs dieselbe antreibende Funktion wie die von Assmann genannte ‹Mythomotorik› für die Gesellschaft im Ganzen. 462 Erst das ‹Problem› lässt spätere Historiographen unter gemeinsamen Wahrheitskriterien auf frühere Texte zurückkommen. Die im hypoleptischen Diskurs durch Kritik entstehende ‹kontrollierte Variation› lässt sich also auch für die isländische Historiographie feststellen, die genau wie die griechische Literatur eine erst durch die Schrift ermöglichte „ dissonante Vielstimmigkeit “ 463 aufweist. Damit steht die isländische Historiographie im Zeichen der Variation statt wie klassische oder kanonische Texte im Zeichen der Repetition. 464 Für die Entwicklung dieses hypoleptischen Diskurses war in Island ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren verantwortlich, die dort in dieser Zeit zusammentrafen: nicht nur die noch junge Schriftkultur, sondern auch die sozialen 459 Assmann 2007, S. 281. Zu seiner Abgrenzung dieses Begriffs von früheren Definitionen s. ebenfalls S. 281 f. 460 Vgl. ebd., S. 286. 461 Vgl. ebd., S. 288. 462 Vgl. ebd., S. 288. 463 Ebd., S. 287. 464 Vgl. ebd., S. 282. 5.4 Die Grundlage für die Ausbildung des hypoleptischen Diskurses 179 Spannungen und Brüche innerhalb der ebenfalls noch jungen, dezentral organisierten Gesellschaft durch das Hinzutreten kirchlicher Institutionen und deren Ausbau sorgten für eine Defiziterfahrung, aus der heraus zu Fundierungszwecken zu Beginn des 12. Jahrhunderts auf (vorrangig mündliche) Texte der vorchristlichen Vergangenheit zurückgegriffen wurde. Aus der Auseinandersetzung mit jenen äußerst heterogenen Vergangenheitsbezügen entsteht dann Ende des 12. Jahrhunderts ein historiographischer Diskurs (eine ‹organisierte Wahrheitssuche›) 465 , welcher der Semiotisierung der eigenen Geschichte gewidmet ist. 5.4 Die Grundlage für die Ausbildung des hypoleptischen Diskurses Der mündliche Ursprung der Hypolepse in der griechischen Rechtsrhetorik steht außer Frage. Anders sieht das im altnordischen Fall aus. Es ist unklar, worin das Vorbild eines solchen Diskurses sowie seiner Rahmenbedingungen zu sehen ist. Wurde er etwa tatsächlich inspiriert durch die griechische Hypolepse? Etliche, vor allem neuere Forschungen konnten ein intensives Verhältnis zwischen Griechenland und Skandinavien im Mittelalter nachweisen. 466 Dabei spielen nicht nur kommerzielle Aspekte eine Rolle, sondern auch der Einfluss des griechischen Rechts auf das altisländische, wie der Jurist Hans Henning Hoff in seiner Habilitation überzeugend herausstellte. Darüber hinaus ist auch eine literarische Inspiration nicht auszuschließen. Eine mögliche Anregung bei der Festlegung der Kriterien könnten die isländischen Historiographen in den Autorisierungsformen der lateinischen und vernakularen kontinentaleuropäischen Historiographie der Zeit wie der aus Frankreich, England oder Deutschland gefunden haben. 467 Das dort zu findende auctoritates- Prinzip unterscheidet sich allerdings im Hinblick auf ihre Anwendung gravierend von den Kriterien des hypoleptischen Diskurses: die vernakulare Historiographie Kontinentaleuropas verfolgt eine andere Präferenz hinsichtlich ihrer Autorisierungskriterien und nutzt folgende Gewichtung ihrer auctoritates: „ written source (the majority), eyewitness, or (occasionally) oral tradition “ 468 , während die entgegengesetzte Reihenfolge in der altnordischen Historiographie vorliegt. Dort wird möglichst bis zum mündlichen Erinnerungsträger zurückgegangen, da jener den größten Authentifizierungsgrad impliziert. Daher lässt sich zwar eine formale Inspiration durch die kontinentaleuropäischen Texte nicht ausschließen, zumal damit zu rechnen ist, dass 465 Vgl. Assmann 2007, S. 287. 466 Einschlägige Werke hierzu sind die beiden Tagungsbände Rom und Byzanz im Norden: Mission und Glaubenswechsel im Ostseeraum während des 8.-14. Jahrhunderts. Internationale Fachkonferenz der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Kiel, 18.-25. September 1994. Hrsg. v. Michael Müller-Wille. Stuttgart 1997 sowie die Habilitationsschrift von Roland Scheel. Skandinavien und Byzanz. Bedingungen und Konsequenzen mittelalterlicher Kulturbeziehungen. Band 1/ 3. Eingereicht 2013 in Frankfurt am Main, zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht. 467 Zu den Merkmalen und Ausprägungen des auctoritates-Prinzips s. beispielsweise Peter Damian- Grint 1999, bes. S. 151-168. 468 Vgl. Damian-Grint 1999, S. 154. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 180 die altnordische Historiographie der kontinentaleuropäischen in nichts nachstehen sollte. Jedoch erfüllen diese Authentifizierungen unterschiedliche Funktionen, weshalb die kontinentaleuropäische Literatur höchstens ein formales, nicht aber ein inhaltliches Vorbild für die Kriterien des hypoleptischen Diskurses der isländischen Historiographie darstellt. Darüber hinaus spricht für eine eigenständige Entwicklung auf Island, dass die in der isländischen Historiographie als gemeinsam erklärten Kriterien der Wahrheitssuche eng mit ihrer ‹Interpretationsgemeinschaft› und deren speziellem Fundierungsbedürfnis verbunden sind. Folglich liegt es nahe, dass jene mindestens durch die eigenen mnemotechnischen Strategien aus der mündlichen Erinnerungskultur inspiriert sind. Unterstützt wird diese Annahme außerdem dadurch, dass sich die mündliche und die schriftliche Kultur reziprok beeinflussten und kulturelle Mnemotechniken aus der Mündlichkeit anfangs aufgrund ihrer festen Strukturen und weiterhin dominanten Rolle bei der Herstellung kultureller Kohärenz durch die Schriftlichkeit kaum Veränderungen unterworfen waren. Daher steht Literatur stets im engen Zusammenhang mit ihrem erinnerungskulturellen Umfeld, wie schon Hayden White am Beispiel der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nachweisen konnte. 469 Nur so lässt sich Literatur als Medium der Erinnerungskultur überhaupt erst hinsichtlich erinnerungstheoretischer Überlegungen untersuchen. Im Folgenden sollen nun deshalb mögliche mündliche Ursprünge und Grundlagen des hypoleptischen Diskurses erörtert werden. Die Kriterien der ‹Wahrheitssuche› und die Rahmenbedingungen des Anschlusses sowie der ‹kontrollierten Variation› werden in fast allen Prologen der historiographischen Texte ab 1200 vergleichbar beschrieben. Hér hefr upp ok segir frá þeim tíðendum er nu hafa verit um hríð ok í þeirra manna minnum er fyrir þessi bók hafa sagt. [...] ok þat er upphaf bókarinnar, er ritat er eptir þeirri bók, er fyrst ritaði Karl ábóti Jónsson, en yfir sat sjálfr Sverrir konungr, ok réð fyrir hvat rita skyldi; er sú frás ǫ gn eigi langt framkomin. (Sverris saga, Prolog, ÍF XXX, S. 3) Hier beginnt [dieses Buch] und berichtet von jenen Ereignissen, die jetzt eine Weile vergangen und im Gedächtnis der Leute sind, die sie vor Entstehung dieses Buches erzählt haben. [...] und das ist der Beginn dieses Buches, das nach dem Buch geschrieben wird, das zuerst der Abt Karl Jónsson schrieb und dessen Entstehung König Sverrir selbst beaufsichtigte sowie darüber entschied, was geschrieben werden sollte, sodass jene Erzählung nicht weit hergeholt ist. Diese vielzitierte Passage stammt aus dem Prolog der Sverris saga, entstanden in den 1180er Jahren und abgeschlossen nach 1202, die über das Leben des Norwegerkönigs Sverrir Sigurðarson berichtet. 470 Dieser Prolog stammt aus einer der Wieder- 469 Vgl. Hayden White. Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore 1973 [OG], dt. Metahistory: die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991. 470 Es gibt insgesamt 24 Handschriften der Sverris saga sowie weitere verstreute Teile als Einschübe in anderen Texten (vgl. Þorleifur Hauksson. Formáli. In: Sverris saga. ÍF XXX. Reykjavík 2007. S. V- XC, S. XXXVI ff.). Es gilt festzuhalten, dass der Sagatext selbst im Gegensatz zu den später einge- 5.4 Die Grundlage für die Ausbildung des hypoleptischen Diskurses 181 aufnahmen des Textes aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts und bezeugt als repräsentatives Beispiel die mittelalterliche Sicht auf schriftlich fixierte Erinnerungen sowie die Rahmenbedingungen einer ‹kontrollierten Variation›: die Schrift ermöglicht demnach die Überbrückung einer Zeitspanne, die zwischen dem Geschehen und der Verfassergegenwart liegt, ohne bei der Suche nach der ‹Wahrheit› das Risiko des Fabulierens befürchten zu müssen. König Sverrir habe schließlich selbst verfügt, wie von den Ereignissen berichtet wurde, und gilt als Augenzeuge seines eigenen Lebens mit Abstand als beste Authentifikation. Noch konkreter wird der Verfasser der späteren Flateyjarbók-Version der Sverris saga, entstanden zwischen 1387 und 1394, indem er die Wiederaufnahmen des Textes zurückverfolgt, um zu erklären, wieso sich diese Erzählungen seit ihrer Entstehung nicht verändert haben können: Her hefr vpp at segia fra þeim tidendum er giorst hafa i þeirra manna minnum sialfra er þessa bok hafa i fyrstu saman sett ok eftir þeiri bok (er) ritadi Karl aboti Jonsson med fullu vitordi sialfs Suerris konungs ok hann fyrir sagdi hue rita skylldi edr huernig setia skylldi. enn eftir þeirri bok skrifadi Styrmir prestr hinn frodi. enn þessa Suerris sogu ritadi þar eftir þeirri bok Magnus prestr Þorhallzsun. ma þui eigi þetta maal i munni geingiz hafa. (Prolog Sverris saga, Flateyjarbók, S. 533) 471 Hier beginnt [dieses Buch] von jenen Ereignissen zu berichten, die in das Gedächtnis der Männer eingegangen sind, die selbst als erstes dieses Buch verfasst haben. Und gemäß diesem Buch schrieb der Abt Karl Jónsson nach dem vollständigen Wissen von König Sverrir selbst. Er schrieb vor, wie es geschrieben und wie es zusammengestellt werden sollte. Gemäß diesem Buch schrieb auch der Priester Styrmir inn fróði eines und diese Sverris saga schrieb gemäß seinem Buch der Priester Magnús Þórhallsson. Hieran wird es liegen, dass sich diese Erzählung nicht in der Erinnerung verändert hat. Es fällt sofort ins Auge, dass dieser Anschluss an Erinnerungen jener Qualifikation entspricht, die sich in der Íb. noch auf die mündlichen Erinnerungsträger beschränkt, hier aber auf die Erinnerungen selbst sowie medienübergreifend auch auf verschriftlichte Erinnerungen ausgeweitet wird. Diese Kritik lässt sich daher nicht mehr mit dem von Starý angeführten Begriff der ‹Quellenkritik› beschreiben, da nicht mehr nur die Quelle, sondern auch die Erinnerungen selbst zum Gegenstand der Kritik werden, was wiederum ein inhärentes Merkmal des hypoleptischen Diskurses darstellt. Die Grundlage für die formale Umsetzung jener Kritik scheint also stark beeinflusst durch den Quellenumgang mit mündlichen Erinnerungen in der Íb. zu sein. Die dortigen personalen Quellenberufungen, die mindestens den Namen des entsprechenden Erinnerungsträgers beinhalten, z.B.: svá sagði Teitr oss, beziehen sich - ob real oder fingiert - auf die Kommunikation des Verfassers mit einer einzi- fügten Prologen noch keine Merkmale des hypoleptischen Diskurses zeigt. Gerade deshalb illustriert sie aber besonders gut, dass die Kriterien dieses Diskurses erst einmal von der isländischen ‹Interpretationsgemeinschaft› entwickelt werden mussten. 471 Sverris saga. In: Flateyjarbok. En samling af norske kongesagaer med inskudte mindre fortællinger om begivenheder i og udenfor Norge samt Annaler. Udg. e. offentlig foranstaltning, II. Christiania 1862. S. 533-701. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 182 gen Person, die einen Teil der personalen Quellenberufungen in der Íb. darstellen. Die anderen enthalten komplexere Quellenketten, in denen in der Regel ein Augenzeuge oder wegen seines Alters noch eine als Zeitzeuge existierende Gewährsperson am Anfang der Erinnerung steht (‹Augenzeugenideologie›), diese dann mündlich weitergibt und Ari sie dann von einem seiner Zeitzeugen entsprechend als authentifizierten Bericht in seinen Text übernimmt. Dieses Prinzip kann dann beliebig erweitert werden, indem entsprechend viele Erinnerungsträger in diese Reihe integriert werden: At hans [d.i. Gesetzessprecher Markús] s ǫ gu es skrifuð ævi allra l ǫ gs ǫ gumanna á bók þessi, þeira es váru fyrir várt minni, en hónum sagði Þórarinn bróðir hans ok Skeggi faðir þeira ok fleiri spakir menn til þeira ævi, es fyrir hans minni váru, at því es Bjarni enn spaki hafði sagt, f ǫ ðurfaðir þeira, es munði Þórarin l ǫ gs ǫ gumann ok sex aðra síðan. (Kap. 10, S. 22) Nach seiner [d.i. Gesetzessprecher Markús] Erzählung sind die Daten aller Gesetzessprecher in diesem Buch niedergeschrieben, die vor unserer Erinnerung [lebten/ ] liegen [bzw. sich vor der Zeit, in die unsere Erinnerung zurückreicht, begaben], und ihm berichteten sein Bruder Þórarinn und ihr Vater Skeggi sowie viele weise Männer von deren Lebensdaten [oder/ und: Amtszeiten], die vor seiner Erinnerung [lebten/ ] liegen [bzw. s.o.], nach dem wie es Bjarni enn spaki, ihr Großvater, der sich des Gesetzessprechers Þórarinn und sechs darauf folgender erinnerte, erzählt hatte. Da also bereits die Íb. im Ansatz Kriterien (‹Regeln der Wiederaufnahme›) verwendet, wird man ihren Ursprung in der kulturellen Mnemotechnik der mündlichen Erinnerungskultur suchen müssen, die als bekanntes Organisationsprinzip von Ari übernommen worden ist. Es gibt einen Hinweis in der Íb., der den mündlichen Erinnerungsprozess möglicherweise abbilden könnte: En svá es sagt, at þat bæri frá, hvé vel þeir mæltu (Kap. 7, S. 16; «Und es wird erzählt, dass es [anderes/ voriges] übertroffen hätte, wie vortrefflich sie sprachen.»). Wenn man bera þat frá mit dem ebenfalls möglichen «es bestätigen/ bezeugen/ berichten» übersetzt, wird so deutlich, dass die Augenzeugen als Urheber der Erinnerung die Rede Gizurrs und Hjaltis am Gesetzesfelsen durch Wiederaufnahme weitertrugen, sodass es im kommunikativen Gedächtnis der Zeit kursierte, an dem vermutlich viele Isländer aufgrund des öffentlichen Interesses an diesem Ereignis und des öffentlichen Ortes partizipierten. Später muss es dann in das kulturelle Gedächtnis überführt worden sein, auf welches Ari in der zuvor genannten Textpassage rekurriert. Diese Hinweise auf Augenzeugen als Urheber einer Erinnerung korrespondieren mit den personalen Quellenangaben, die als Repräsentanten einer authentifizierten Erinnerung gelten. Doch ohne weiteres können diese beiden Hinweise auf unterschiedliche Erinnerungsrahmen nicht zusammengeführt werden. Wie also konnte Ari diese Verbindung herstellen? Bedingt durch die Verschriftlichung in Verbindung mit dem notwendigen Versuch, Erinnerungen des kulturellen mit denen des kommunikativen Gedächtnisses anzureichern, findet die zuvor genannte ‹Dehnung des hypoleptischen Horizonts› 5.4 Die Grundlage für die Ausbildung des hypoleptischen Diskurses 183 hin zu einem erweiterten Bezugsraum statt. 472 In diesem können nun zuvor noch getrennte Erinnerungen beider Erinnerungsrahmen auf derselben Ebene miteinander verbunden werden. Ari gebraucht dieses Prinzip, um (nicht-kollektive) Erinnerungen an zeitlich besonders weit entfernt liegende Ereignisse zu authentifizieren sowie um die Erinnerungslücke zwischen beiden Erinnerungsrahmen (das ‹floating gap›) zu überbrücken. Häufig verwendet er hierfür im Sinne der zuvor genannten ‹Augenzeugenideologie› überaus alte Erinnerungsträger. Es stellt sich also die Frage, ob schon in der präskripturalen Erinnerungskultur Erinnerungen authentifiziert wurden, worin möglicherweise der Anknüpfungspunkt für Aris personale Quellenangaben liegen könnte. 473 Bis auf die Rolle bestimmter Individuen als Erinnerungsträger kollektiven Wissens in Bezug auf Rechtsangelegenheiten gibt die Literatur hierauf insgesamt keine eindeutige Antwort. 474 Andere, aus dieser Abhandlung ausgeschlossene Texte wie die Isländersagas charakterisieren sich ja sogar dadurch, dass ihre Quellenangaben generell nur nonpersonal sind. Allerdings wird bei einem Blick auf die mythologische Dichtung schnell klar, dass einige dieser Kriterien auch schon dort auftreten. 475 Auch im Hinblick auf die Skaldendichtung 472 Vgl. Assmann 2007, S. 283. 473 Da sich bestimmte metasprachliche Verfahrensweisen der Oralität in der Literalität wiederfinden, liegt es nahe, dass „ sowohl unsere Lektürepraktiken, als auch die Herausbildung unserer skripturalen kulturellen Kompetenzen, von einer essentiellen Mündlichkeit imprägniert sind, die konstitutiv in deren Herausbildung eingeschrieben ist “ (Ludwig Jäger. Gedächtnis als Verfahren - zur transkriptiven Logik der Erinnerung. In: Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Hrsg. v. Stephanie Wodianka und Dietmar Rieger. Berlin/ New York 2006. S. 57-80, S. 21). 474 Allerdings lässt sich ein ähnliches Phänomen in schwedischen Rechtstexten finden, in denen von einzelnen Personen (sog. minnunga mæn «Männer mit guter Erinnerung») berichtet wird, die in Form umfangreicher Grenzpunktaufzählungen zwischen Norwegen und Schweden (sog. norw. deildeverser bzw. schwed. rågångsramsor) kulturelles Wissen bewahrten und mündlich rezitierten (vgl. Stefan Brink. Minnunga mæn: The Usage of Old Knowledgeable Men in Legal Cases. In: Minni and Muninn: Memory in Medieval Nordic Culture. Ed. by Pernille Hermann, Stephen A. Mitchell and Agnes S. Arnórsdóttir. Acta Skandinavica, 4. Turnhout 2014. S. 197-210, S. 199). Diese Beobachtungen belegen die isländische personenbezogene Bewahrung kulturellen (Rechts) Wissens auch für andere Teile Skandinaviens. Stefan Brink weist darüber hinaus in diesem Zusammenhang auch auf die in schwedischen Rechtstexten genannten talumæn «Männer mit genealogischem Wissen» hin, die in Rechtsstreitigkeiten um Erbanteile herausfinden sollen, wer der Streitenden das Erbrecht besitzt (vgl. Brink 2014, S. 204). Alle diese Träger kollektiven Wissens teilen die Gemeinsamkeit, zur wortlautgetreuen Rezitation befähigt zu sein, denn das Wissen, das sie erinnern, muss Wort für Wort wiederholbar sein (‹verbatim memorization›), im Gegensatz zu den gestalterischen Freiheiten, die ein Erzähler habe (vgl. Brink 2014, S. 206 f. in Anlehnung an Walther Ong). 475 So wird von Odins Begleitern, die Raben Huginn und Muninn, berichtet, dass sie auf den Schultern des Gottes sitzen und ihm stets alle Neuigkeiten ins Ohr flüstern, die sie selbst gesehen oder von denen sie gehört haben: Hrafnar tveir sitja á ǫ xlum honum ok segja í eyru honum ǫ ll tíðendi þau er þeir sjá eða heyra. Þeir heita svá: Huginn und Muninn (Gylfaginning in der Snorra Edda. In: Anthony Faulkes ’ Edition Edda. Prologue and Gylfaginning. Snorri Sturluson. Ed. by Anthony Faulkes. Viking Society for Northern Research, 2nd edition. London 2005, S. 32; «Zwei Raben sitzen auf seinen Schultern und flüstern ihm alle Neuigkeiten ins Ohr, die sie sehen oder hören. Sie heißen so: Der Gedanke und die Erinnerung.»). Pernille Hermann deutet die beiden Raben als 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 184 zeigt sich, dass schon vor der Christianisierung wie auch in den heidnischen Gedichten kurz nach 1000 bei Vergangenheitsdarstellungen in historischer Zeit verschiedene Möglichkeiten der persönlichen Distanzierung sowie Authentifizierung angewandt wurden. 476 Der Dichter tritt selbst als Erinnerungsträger auf, der in der Ich-Perspektive erzählt und sich damit zum anderen auch zu den Berichten positionieren kann. Hieraus muss man ableiten, dass die Grundlage für den hypoleptischen Diskurs bereits in der vorchristlichen Skaldendichtung und damit in einheimischer Tradition zu suchen ist. Die Skalden, die über die Taten ihrer Könige dichten, agieren allerdings im Bereich des kommunikativen Gedächtnisses, da sie zeitgenössische Ereignisse (die sie zumeist selbst miterlebten) in ihren Texten verarbeiteten. In Bezug auf dafür angeführte Authentifikationspersonen darf man wohl mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen (wie auch in dieser Abhandlung für die Analyse der Íb. Zugrunde gelegt wurde), dass nonpersonale Angaben grundsätzlich ein Hinweis auf Erinnerungen des kulturellen Gedächtnisses sind (bzw. damit bewusst formative Erinnerungen markiert wurden) und sie damit a priori keine Bindung an einen speziellen Erinnerungsträger hatten. Bei dem kommunikativen Gedächtnis der präskripturalen Zeit muss man hingegen davon ausgehen, dass wohl vorrangig personale Erinnerungen existierten, da sich das kommunikative Gedächtnis auf direkte face-to-face Kommunikation bezieht. Personale Erinnerungen können damit lediglich im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses auftreten, an dem ein Skalde partizipiert (sofern er sich nicht mit mythischen Berichten in illo tempore beschäftigt). Damit stützt sich Aris Quellenumgang in der Íb. vermutlich auf eine im kommunikativen Gedächtnis und in der Skaldik gebräuchliche Kommunikationsweise. 477 Diese ermöglicht einen Rückgriff auf das, was andere Erinnerungsträger zuvor sagten und weist somit eine große Ähnlichkeit mit der Hypolepse in der griechischen Rechtsrhetorik auf, nur dass im isländischen Fall ein derart konkretes Anknüpfungsprinzip an den Vorredner bzw. Ausdruck der Verbindung zwischen mentaler Kapazität und dem wörtlichen Ausdruck, ohne den die Welt näher an Chaos und Zerstörung wäre (vgl. Hermann 2014, S. 16). 476 Vgl. Margaret Clunies Ross. Authentication of Poetic Memory in Old Norse Skaldic Verse. In: Minni and Muninn: Memory in Medieval Nordic Culture. Ed. by Pernille Hermann, Stephen A. Mitchell and Agnes S. Arnórsdóttir. Acta Skandinavica, 4. Turnhout 2014. S. 59-74, bes. S. 67 ff. Interessanterweise findet man jene aber nur in der heidnischen und nicht in der christlichen Skaldik (vgl. ebd., S. 71). 477 Allerdings ist anzumerken, dass eine solche Kommunikationsweise wahrscheinlich eine auf geringen Wandel ausgelegte Erscheinung darstellt, da für Kommunikation sowie für gemeinsam geteilte Alltagserfahrungen kulturell festgelegte Kommunikationsregeln feststehen müssen, die wiederum in jeder Erinnerungsgemeinschaft einen besonderen Charakter aufweisen; im isländischen Fall eben die Authentifizierung von Informationen mittels Verweis auf andere Erinnerungsträger. Solche Kommunikationsweisen sind bedingt durch kulturelle Anforderungen, spezifische Kommunikationsprozesse sowie soziale Strukturen der jeweiligen Gemeinschaft, womit sie auf der metasprachlichen Ebene wiederum als Teil des kulturellen Gedächtnisses betrachtet werden können. 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 185 Erinnerungsträger nur für die vorchristliche bzw. heidnische Skaldendichtung belegt ist. 478 Für eine mediale Übertragung einer solchen mündlichen Kommunikationsweise der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit wird eine Ausweitung in den Bereich interaktionsfreier Kommunikation erforderlich, die es ermöglicht, Texte losgelöst von ihrem raumzeitlichen Horizont aufzugreifen. Mit dieser Überführung der dem kommunikativen Gedächtnis immanenten Kommunikationsweise in das Medium der Schrift gibt Ari den auf ihn folgenden historiographischen Texten ein Referenzbeispiel an die Hand, das wenige Jahrzehnte später für den hypoleptischen Diskurs wieder aufgegriffen wird. 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt In der ÓlO 479 tritt um 1200 herum zum ersten Mal in der (uns überlieferten) altnordischen Historiographie der Fall auf, dass auf andere schriftlich fixierte Texte Bezug genommen wird. 480 Das erforderte gleichzeitig einen Umgang mit mehr als nur einem Erinnerungsmedium, der erst einmal entwickelt werden musste. Wie zuvor erwähnt, stellt die ÓlO den einzigartigen Versuch dar, sowohl auf Aris als auch auf Sæmundrs Text(e) zurückzugreifen. Es erscheint daher aufgrund ihres Initialstatus sinnvoll, im Folgenden näher ihren Umgang mit Erinnerungen zu beleuchten und damit die Herausbildung des hypoleptischen Diskurses nachzuvollziehen. 5.5.1 Die Kriterien des hypoleptischen Diskurses Die ÓlO ist nicht nur einer der ersten oder vielleicht der erste Text, der kritisierend an fundierende Texte anschließt, sondern auch eine der ersten Königssagas, die einem einzigen König gewidmet ist. Die vorigen Texte berichten allesamt von vielen 478 Allerdings kann man auch im Hinblick auf die isländische Gesellschaft davon ausgehen, dass wenigstens in Form von Rechtsprozessen ein agonistisches Prinzip bekannt war. 479 Der Mönch Oddr Snorrason schrieb die ÓlO um 1190 auf Latein, sie wurde spätestens um 1200 übersetzt und ist in drei verschiedenen Manuskripten aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert. überliefert, davon ist eines nur fragmentarisch. Nur die S-Version (stockh. Perg. 4to nr. 18) überliefert einen Prolog. Die lateinische Fassung ist verloren und anhand der altisländischen Übersetzungen ist kaum zu entscheiden, wie ihre ursprüngliche Gestalt war. Zernack geht davon aus, dass die Übersetzungen durch Einschübe und stilistische Mittel näher an die volkssprachlichen Gattungen angebunden worden sind (vgl. Zernack 1998, S. 83 f.). Daraus ergibt sich einerseits die Frage, woran genau die volkssprachlichen Olafssagas angebunden werden sollten und andererseits zu welchem Zweck eine solche Angliederung stattgefunden haben könnte. 480 Bereits einige Jahre zuvor, um 1150, wurde von Eiríkr Oddsson die vermutlich erste Königssaga namens * Hryggjarstykki verfasst. Dieser Text ist nicht überliefert, entstand aber mit großer Sicherheit zwischen 1150-70 (vgl. Clover/ Lindow 1985, S. 214). Er gilt in Form unterschiedlicher Versionen als Quelle für alle großen Chroniken Anfang des 13. Jahrhunderts, wobei Fagrskinna den Text zwar verwendet, aber nicht angibt. Es gibt keine Hinweise darauf, ob oder inwieweit frühere Texte das * Hryggjarstykki nutzten. Daher beginnt mit der ÓlO als erstem überliefertem historiographischen Text mit einem transparenten Quellenumgang der hypoleptische Diskurs. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 186 oder allen norwegischen Königen, meistens um für Datierungen eine Reihe von aufeinanderfolgenden Regenten darzustellen. Nun werden die Königssagas zu einer Plattform unterschiedlicher Positionierungen der Isländer. Birgit und Peter Sawyer sehen in dieser Entwicklung unter anderem eine Reaktion auf die vom Nidaroser Erzbischof initiierte Umformung der isländischen Kirchenstruktur, die durch einige Isländer, wie den Skálholter Bischof Þorlákr, unterstützt wurde. Jener wollte die kirchliche Macht der isländischen Goden reduzieren, indem er ihnen die Priesterweihe untersagte. Die Goden hatten wiederum das Bedürfnis, dazu Stellung zu nehmen. 481 Gleichzeitig müssen die literarischen Ambitionen aber auch vor dem Hintergrund des norwegischen Bürgerkrieges im 12. und 13. Jahrhundert betrachtet werden, der eine entscheidende Rolle für verschiedene Positionierungen der Isländer spielte und die Produktion historiographischer Texte angestoßen haben könnte: The production of so many accounts of the same period and the same people […] in a span of not more than forty years was obviously a response to the Norwegian civil war, which began with the death of Sigurd the Crusader in 1130. […] This development released the torrent of Icelandic historiography. The conflict directly affected Iceland, for many leading Icelanders were themselves involved and took sides, which naturally affected relations among them at home. 482 Es fällt schnell auf, dass sich die ÓlO im Gegensatz zu anderen Texten, insbesondere der Íb., durch eine besonders pro-norwegische Haltung auszeichnet, womit eine Perspektive eingenommen wird, die man zuvor (wenn überhaupt in solcher Form) nur bei Sæmundr antreffen konnte. In ihrem Prolog schildert der Verfasser folgende Intention seines Textes: At s ǫ nnu mun þat hér saman koma: lofum konunginn er oss veitti farsæliga hluti, en þ ǫ kkum Guði, er hann gaf oss slíkan foringja, ok samir oss þat at vegsama konung várn með mannligum lofum er Guð hefr upp með himneskum lofum. (Prolog, S-Version, S. 126) 483 Wahrlich soll [wird] das hier zusammenkommen: preisen wir den König, der uns ein glückliches Schicksal gewährte, und danken wir Gott, weil er uns eben jenen Anführer schickte. Und es ist für uns passend, unseren König mit menschlichem Lob zu ehren, den Gott mit himmlischem Lob erhob. 481 Vgl. Sawyer/ Sawyer 1993, S. 219. 482 Ebd., S. 220. 483 Der Text der A-Version beginnt wegen fehlender erster Seiten erst im vierten Kapitel, schildert jedoch ganz ähnlich wie der Prolog der S-Version im Kapitel 54 die Rolle der beiden Olaf-Könige: Svá er at virða sem Óláfr konungr hinn fyrri efnaði ok setti grundv ǫ llin kristninnar með sínu starfi, en hinn síðari Óláfr reisti veggi (Kap. 54, S. 272; «So ist hervorzuheben, wie der frühere König Olaf mit seinen Bemühungen das Christentum vorbereitete und die Grundlage dafür schuf, während der darauffolgende Olaf die Wälle errichtete.»). Insgesamt ist eine Datierung der beiden Hauptmanuskripte schwierig, auch ihr Verhältnis zueinander kann kaum näher beleuchtet werden. Die Forschung geht allerdings davon aus, dass die S-Version eine verkürzte Version einer Übersetzung, die A-Version hingegen eine mit Ergänzungen aus anderen Texten angereicherte Version darstellt. Vieles spricht dafür, dass die A-Version älter ist und der Schreiber der S-Version seine Kürzungen im Hinblick auf die A-Version vornahm (vgl. Sverrir Tómasson 1988, S. 276 f.). 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 187 Bereits die Skandinavistin Julia Zernack stellte heraus, wie in der ÓlO die Geschichte Islands an die Schicksale und Regierungshandlungen der norwegischen Könige angeknüpft wird. 484 Olaf Tryggvason wird mithilfe einer typologischen Geschichtsdeutung als Vorläufer von Olaf dem Heiligen dargestellt, durch den die Christianisierung, besonders in Island, erst vollständig durchgeführt wurde. Die Saga bezeichnet ihn deshalb als postoli Norðmanna («Apostel der Nordleute»), was eine grundsätzlich heilsgeschichtliche Geschichtsauffassung nahelegt. Schon im Prolog wird das Vorbild dafür erläutert: Ok á enu fimmta ári hans ríkis helt Óláfr konungr nafna sínum undir skírn ok tók hann af þeim helga brunni, í þá líking sem Jóan baptisti gerði við Dróttin. Ok svá sem hann var hans fyrirrennari, svá var ok Óláfr konungr Tryggvason fyrirrennari ens helga Óláfs konungs […]. (Prolog, S. 125) Und im fünften Jahr seiner Regentschaft wurde König Olaf der Taufpate seines Namensvetters [hier eine Doppelung dieser Bemerkung, vermutlich durch eine lateinische Übersetzung 485 ] in der gleichen Form, wie der Baptist Jóan es mit Christus machte. Und so wie er dessen Vorläufer war, so war auch König Olaf Tryggvason der Vorläufer König Olaf des Heiligen […]. Weiter werden vom Verfasser Kriterien für seinen kritischen Umgang mit Erinnerungen angeführt, derer dieser Text unterliegt. In dieser Festlegung von Rahmenbedingungen kann man die Anfänge des hypoleptischen Diskurses sehen, dessen Ziel es ist, die «Wahrheit», also die ‹Sache›, zu rekonstruieren: Ok bœtra er slíkt með gamni at heyra en stjúpmœðra s ǫ gur er hjarðarsveinar segja, er engi veit hvárt satt er, er jafnan láta konunginn minnstan í sínum frás ǫ gnum. Bið ek góða ‹menn› eigi fyrirlíta þessa frás ǫ gn ok gruni eigi framar eða ifi s ǫ gnina en hófi gegni, því at vitrir menn hafa oss frá sagt n ǫ kkora hluti hans stórvirkja ok fátt frá því sem verit hefir hans afreksverka. Ok opt kann þat at at berask at fals er blandit s ǫ nnu, ok megu vér því eigi mikinn af taka, en ætlum þó at eigi muni rjúfask þessir, en kunna þ ǫ kk þeim er um má b œ ta. En ef menn verða til at lasta, en eigi um at bœta, ok kunni øngar s ǫ nnunnar á sitt mál at fœra at annat sé réttara, þá þykkir oss lítils verð þeira till ǫ g ok ómerkilig, því at vitrum m ǫ nnum þykkir hver saga heimsliga snýtt, ef hann kallar þat lygi er sagt er, en hann má øngar s ǫ nnur á finna. (Prolog, S. 126) Und es ist besser eine solche [Geschichte] mit Vergnügen zu hören als Ammenmärchen, die Hirtenjungen erzählen, von denen niemand weiß, ob sie wahr sind, da sie den König in ihren Berichten fortwährend als unbedeutend darstellen. Ich bitte euch gute ‹Leute› diese Erzählung nicht geringzuschätzen und misstraut oder zweifelt an der Geschichte nicht mehr als angemessen ist, da weise Leute uns von einigen seiner großen Taten erzählt haben, aber insgesamt nur wenig davon, was seine Heldentaten insgesamt gewesen sind. Häufig kann es geschehen, dass Falsches mit Wahrheit vermischt wird, und wir dürfen es deshalb nicht lebhaft beteuern. Dennoch wollen wir diese Berichte nicht als unwahr herausstellen, aber denjenigen dankbar dafür sein, die sie zu verbessern vermögen. Und falls jemand darüber tadeln sollte, es aber nicht besser 484 Vgl. Zernack 1998, bes. S. 84-90. 485 Vgl. ebd., S. 86. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 188 macht und keine Wahrheit in seiner Sprache hervorzubringen vermag, in der etwas anderes richtiger ist, dann scheinen uns diese Beiträge wenig wert und unverbürgt, denn weisen Männern erscheint jede Geschichte töricht verspottet, wenn er das, was berichtet wird, eine Lüge nennt, er aber keine Wahrheit zu finden vermag. Auf jene Kriterien trifft man in so gut wie jedem Prolog der späteren historiographischen Texte, vor allem in dem der Hkr. Sie bilden die Kriterien der Wahrheitssuche (der Darstellung der ‹Sache›), die gemäß Assmann den neuen Bezugsrahmen des intertextuellen Anschlusses in der Schrift bilden. Im Vergleich wiederum mit Aris Prolog wird hier die Wahrheitssuche deutlich stärker problematisiert. Auch die weisen Männer, die als Tradenten angeführt werden, werden in Abgrenzung zu «Hirtenjungen» und deren «Ammenmärchen» qualifiziert und zur Authentifikation von Berichten bevorzugt. Deutlich wird vor allem, dass der Verfasser seine Aufgabe, die Wahrheitssuche, als mühsam empfindet und daher als außerordentlich schätzbare Arbeit ansieht. Den Grund für diese Mühe offenbart er in der Unterscheidung von Falschem und Wahrem, woraus sich die Kriterien zur Kritik ableiten und weshalb extrem häufig zwischen verschiedenen Darstellungen abgewogen wird. Dabei kommt der Verfasser trotz seiner Abwägungen nicht zu einer abschließenden Bewertung des Wahrheitsgehalts, sondern versucht vielmehr den Bericht, der am meisten verbürgt ist oder am wahrscheinlichsten scheint, in den Vordergrund zu stellen. Hinter dieser Klassifizierung zeigt sich die grundsätzliche Vielzahl unterschiedlicher Erinnerungen, die das ‹Problem› des hypoleptischen Diskurses darstellen. Ein Verfasser muss ihrer habhaft werden und für sie einen Umgang finden. Fragt man nun nach dem konkreten Umgang mit den Vorrednern und dem ‹Problem›, lässt sich dieser am ehesten über die Art der Quellenkritik erschließen. Es finden sich wie bei Ari neben personalen Quellenverweisen auch nonpersonale, so gleich zwei Mal zu Beginn: þá er þat sagt, at (Kap 1., S. 127 & S. 128; «da wird davon berichtet, dass») sowie viele weitere in den späteren Kapiteln. 486 Da bei die- 486 A-Version, Kap. 5, S. 139: þá segja menn at; A-Version, Kap. 6, S. 144: Svá er sagt at; S-Version, Kap. 8, S. 153: þá er svá sagt at; S/ A-Version, Kap. 14, S. 166: þess er (ok) getit at; A-Version, Kap. 15, S. 177: þat er sagt; A-Version, Kap. 19, S. 185: Svá er ok sagt at; A-Version, Kap. 20, S. 191: Ok svá er sagt at; A-Version, Kap. 20, S. 193: þá er þó frá honum sagt at / Þat er ok frá honum sagt at; A- Version, Kap. 22, S. 203: Svá er sagt; A-Version, Kap. 24, S. 206: Svá er sagt at; S-Version Kap. 21/ A-Version, Kap. 26, S. 210: (Ok) þat er sagt at; S-Version, Kap. 25/ A-Version, Kap. 30, S. 218: Þat segja menn at; A-Version, Kap. 34, S. 225: En svá segja menn at [...] Þat segja menn at; A-Version, Kap. 39, S. 235: Svá er sagt at; A-Version, Kap. 42, S. 241/ 3: Þess er getit [...] ok er svá sagt at; A- Version, Kap. 44, S. 249: þá er sagt at; S-Version, Kap. 28/ A-Version, Kap. 47, S. 254-5: Ok þat segja menn at / En þat segja menn [...] Svá er sagt at; A-Version, Kap. 48, S. 259: Þat er sagt at [...] En svá segja menn at; S-Version, Kap. 41, S. 265: Þat er sagt frá Óláfi konungi [...] Þat er sagt at; A- Version, Kap. 51, S. 266: Ok svá er sagt at; A-Version, Kap. 52, S. 267: Ok svá segja menn at; A- Version, Kap. 54, S. 270: Svá er sagt at [...] En þat er sagt at; S-Version, Kap. 45/ A-Version, Kap. 55, S. 276: sem ǫ ll dœmi finnask til er frá Óláfi er sagt ok hans k ǫ ppum / sem dœmi finnask til þar er sagt er frá Óláfi konungi ok hans m ǫ nnum; S-Version, Kap. 51/ A-Version, Kap. 62, S. 290: (Ok) þat er sagt (eitt sinn) at; S-Version, Kap. 54, S. 294/ A-Version, Kap. 64, S. 295: Ok á enu fimmta ári ríkis Óláfs konungs er sagt frá / Ok eitt sinn er sagt frá; A-Version, Kap. 63, S. 294: Svá er sagt at; S- Version, Kap. 55, S. 299 f.: Þat er sagt meðan Óláfr [...] var konungr [...] Ok þat er sagt á pálmsunndegi; A-Version, Kap. 67, S. 305: Svá er sagt um sonu Hákonar jarls; A-Version, Kap. 68, 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 189 sem Text die erzählte Zeit nicht an die Gegenwart des Verfassers heranreicht, muss ein Großteil der Erinnerungen aus dem kulturellen Gedächtnis stammen - die beschriebenen Ereignisse liegen um 1200 etwa 100-150 Jahre zurück. Daher lösen die personalen Quellenberufungen die nonpersonalen nicht wie bei Ari ab. Generell lassen sich allerdings zwei verschiedene Arten nonpersonaler Quellenberufungen unterscheiden, obwohl sie alle gleichermaßen den Anspruch erheben, auf kollektive Erinnerungen zu verweisen: auf der einen Seite gibt es solche, die eine völlige Neutralität vermitteln, wie es bei þat er sagt der Fall ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch solche, die eine Qualifizierung seitens des Verfassers implizieren, so heißt es beispielsweise: Ok svá er sagt með s ǫ nnu, at (S-Version, Kap. 65, S. 341; «Und so wird wahrheitsgemäß berichtet, dass»), als der Verfasser der S-Version eine Bemerkung zu König Olaf in der Schlacht macht. Eine solche Qualifizierung findet man bei Ari nur im Ansatz an einer Stelle (nämlich direkt zu Beginn in Bezug auf die Landnahme), da es heißt: es sannliga es sagt (Kap. 1, S. 5; «wie es wahr berichtet wird»). Offenbar bewog etwas Ari dazu, die Authentifizierung seiner mündlichen Quelle selbst zu vollziehen, um gleich am Anfang seines Textes wahre Berichte als Grundlage anzuführen. Wahrscheinlich ist, dass unterschiedliche Erinnerungen vom Beginn der Besiedlung zu Aris Zeit kursierten, wodurch er dazu gebracht wurde, die von ihm ausgewählte Version zu untermauern, um sie als die wahre Version darstellen zu können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass dem Landnahmebericht über Ingólfr zu Aris Lebzeiten keine tatsächliche kollektive Erinnerung zugrunde lag. Solche Qualifizierungen kommen in der ÓlO in vielfach erweiterter Form vor, wodurch der kritisierende Umgang mit den Erinnerungen überhaupt zum hypoleptischen Diskurs entwickelt werden kann. Eine erkennt man in der folgenden Formulierung, die zwar augenscheinliche Neutralität vorgibt, jedoch einer gewissen Wertung seitens der Verfasser unterliegt: þat kalla menn at (S-Version, Kap. 20/ A-Version, Kap. 25, S. 209; «das sagen/ äußern/ behaupten die Leute, dass»). Das Verb kalla wird sonst nie in der nonpersonalen Quellenberufung benutzt, normalerweise findet man dort nur die Verben segja «berichten/ sagen/ erzählen», geta «erzählen/ berichten» oder mæla «sagen/ vorbringen». Der Grund dafür liegt wohl darin, dass diese Verben im Gegensatz zu kalla keine wertende, sondern einzig beschreibende Bedeutung haben. Insofern verwundert es auch nicht, dass eben jene genannte Quellenberufung in einer Quellendiskussion bzw. einer Qualifizierung von verschiedenen Erinnerungen platziert wird, so folgt kurz darauf die einschränkende Bemerkung ok þat má vera at/ en vera kann þat at («und es könnte/ kann sein, dass»). Diese neutral wirkenden Quellenberufungen beziehen sich zwar auf eine S. 310 & 312: Svá er sagt þá er [...] Svá er sagt at; S-Version, Kap. 62, S. 326: Svá er sagt at; A- Version, Kap. 72, S. 328: En svá er sagt; S-Version, Kap. 65/ A-Version, Kap. 75, S. 336 & 341: Ok þat er mælt at / Ok svá segja menn at [...] Ok svá er sagt með s ǫ nnu, at / Ok svá er sagt at; S-Version, Kap. 66/ A-Version, Kap. 76, S. 347: Þat segja menn at; A-Version, Kap. 78, S. 354: Ok þat er frá sagt at; S-Version, Kap. 69/ A-Version, Kap. 80, S. 357: Ok þat segja menn at [...] Ok menn segja at [...] at s ǫ gn vitra manna [...] at menn segja at / Þat er ok sagt at. A-Version, Kap. 82, S. 361: Þat er ok sagt at. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 190 mündliche Erinnerung, werden jedoch gleichermaßen zum Zweck der Distanzierung funktionalisiert. Sie dienen nicht länger der Authentifizierung des Berichts, sondern der Distanzierung bzw. Qualifizierung. So kommen die Verfasser beider Redaktionen zu dem Schluss: En hvárrtveggi vitni sýnask oss merkilig, ok hafi hverr slíkt af því sem sýnisk («Und beide Zeugen kommen uns bedeutsam vor und es nehme ein jeder davon, was ihm passend erscheint») bzw. En hvárratveggja vitni sýnask mér athuga verð, ok skynja þat hvat af þykkir fellt at hafa þvílíkum frás ǫ gnum («Und beider Zeugnis scheint mir beachtenswert und es ist zu prüfen [oder: zu verstehen/ erkennen], was von Berichten dieser Art brauchbar ist»). 487 Damit wird klar, dass die wiederkehrende Formel þat segja menn, formal inspiriert durch þat er sagt keine unzweifelhafte kollektive Erinnerung authentifiziert, sondern eine gewisse Vorsicht gegenüber dem Wahrheitsgehalt impliziert, auch wenn damit auf eine mündliche Erinnerung verwiesen wird. Die Differenzierung der nonpersonalen Quellenberufungen lässt sich damit auf ein weiteres Merkmal erweitern: nicht nur die Verbwahl markiert einen Unterschied, sondern auch die Diathese. Zwischen þat er sagt «es wird berichtet» und þat segja menn «das berichten Männer» erfolgt ein Wechsel der Bedeutungsbeziehung; nicht mehr das Gesagte, sondern der Erinnerungsträger wird als Subjekt des Satzes in den Vordergrund gestellt. Die Quellenberufungen, die passiv formuliert werden, verbürgen in Form ihrer kollektiven Relevanz eine hohe Authentifizierung und benötigen darüber hinaus keine Verifikation. Das erklärt auch, weshalb in jenen Berichten, die durch eine passive Quellenberufung (d.h. eine kollektive Quelle) gestützt werden, niemals eine Qualifizierung der Quelle vorgenommen wird. 488 Dort hingegen, wo der Erinnerungsträger in den Vordergrund gestellt 487 Die unterschiedlichen Formulierungen «uns» vs. «mir» sind zudem eines von vielen Beispielen dafür, dass der Verfasser der A-Version bedeutend kritischer ist und deutlich mehr aus dem Text hervortritt als der Verfasser der S-Version. An einigen Stellen kommen in der A-Version ausführlichere Erklärungen oder Abwägungen vor, während der Verfasser der S-Version von Vornherein nur eine Variante darstellt oder keine Beurteilung vornimmt. Diese Unterschiede deuten auf die Flexibilität des Verfassers hin, aufgrund derer er selbst das Maß seiner Kritik bestimmen kann. 488 Die einzige Möglichkeit einer kollektiven Erinnerung beizukommen, zu der keinerlei Konkurrenzdarstellungen existieren, wenn sie nicht in das Konzept des Verfassers passt, ist eine neue Einordnung. Das geschieht auf folgende Weise: Ok þótt margir hlutir sé harðir frá Hákoni sagðir, þá stóð þó hans ríki lengi með vild ok blóma; […]. / En þó at vér segim þvílíka hluti frá Hákon jarli, er svá þungligir ok harðir megu þykkja, þá er þó þat frá honum sagt at lengi stóð hans ríki með vinsælð í fyrstinni, en svá sem á leið hans ævi, þá gerðisk hann því harðari ok þyngra undir at búa. Þat er ok frá honum sagt […] (S-Version, Kap. 18/ A-Version, Kap. 20, S. 193; «Und obwohl viele schlimme Dinge von Hákon erzählt werden, bestand sein Reich dennoch lange Zeit mit seinem Willen und in vollem Glanz; […]. / Und obwohl wir solche Dinge von Jarl Hákon erzählen, die so hart und schlimm erscheinen mögen, wird trotzdem von ihm erzählt, dass sein Reich anfangs lange mit Beliebtheit bestand. Mit seiner Lebenszeit, die verstrich, fiel es ihm mühsamer und schwerer sich zu unterwerfen. Es wird auch von ihm berichtet […].» Vgl. weiterhin Kap. 38/ 48, S. 259). An diesem Beispiel wird deutlich, dass kollektive Erinnerungen nicht einfach übergangen werden konnten, selbst, wenn sie nicht in das Textkonzept passten. Hierfür kann man auch den Christianisierungsbericht der A-Version anführen, den er fast wörtlich übernahm. An der Stelle, an der in Aris Bericht die nonpersonale Quellenberufung angeführt wird, um die Erinnerung an Gizurrs und Hjaltis Rede auf dem Allthing zu authentifizieren, formuliert der Verfasser der A-Version so: Ok þótti ǫ llum mikils um vert hversu vel þeir t ǫ luðu (A-Version, Kap. 43, S. 247; «Und es schien allen 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 191 wird, liegt auch eine andere Funktion der Quellenberufung vor. Entweder nutzt der Verfasser sie als Distanzierung zum Berichteten oder es bedarf seinerseits einer näheren Beleuchtung der Quelle, so z.B. Ok eru þeir menn er þat segja at [...] Ok ef þetta er satt, þá er þat vitat at; (A-Version, Kap. 41, S. 240; «Und es gibt Leute, die davon berichten, dass […] Und wenn das wahr ist, dann bedeutet das, dass»). So können dann überhaupt solche Quellenverweise wie svá segja vitrir menn ok fróðir at (A- Version, Kap. 9, S. 153; «so berichten weise und gelehrte Männer, dass») entstehen, die vom Verfasser zusätzlich authentifiziert werden (müssen). 489 In Bezug auf bedeutsam, wie gut sie sprachen.»). Der Verfasser erwähnt hier in keinster Weise, dass Ari andere Quellen für diesen Bericht hatte, nämlich mündliche kollektive Erinnerungen, sondern verweist lediglich auf die kollektive Relevanz dieses Ereignisses. Man könnte noch daraus schließen, dass wegen der großen Bedeutsamkeit auch Erzählungen entstanden sein mögen, aber die Referenz zur kollektiven Quelle nicht mehr vorhanden ist. Hieran kann man sehen, dass der Umgang mit Verweisen auf das kulturelle Gedächtnis im Gegensatz zu personalen Quellenangaben keineswegs festgelegt war, sie aber wegen ihrer Relevanz auch nicht ignoriert werden konnten. 489 S-Version, Kap. 1, S. 128: ok þat hafa menn fyr satt, en engi veit hvárt hon var s ǫ nn at því; S-Version, Kap. 4/ A-Version, Kap. 5, S. 139: ok var þat orð á af alþýðu at / En þat bar til at sumra manna s ǫ gn at hon var stórráð [...] En sumir segja at hon vildi fyrir því eigi með honum vera; A-Version, Kap. 9, S. 153: svá segja vitrir menn ok fróðir at [...] Ok þat segja menn; A-Version, Kap. 11, S. 159: Þat hafa menn fyrir satt at; S-Version, Kap. 15/ A-Version, Kap. 16, S. 177: ok er þat almæli at / ok er þat allra manna mál at; S-Version, Kap. 18/ A-Version, Kap. 20, S. 193: Ok þótt margir hlutir sé harðir frá Hákoni sagðir / þá er þó frá honum sagt at; S-Version, Kap. 20, S. 207-9/ A-Version, Kap. 25, S. 207 f.: ok margir sanna þat at [...] Ok eru þeir sumir ríkir menn ok fróðir, er þat segja, at [...] ok þat má nú heyra hvernug þeir telja [...] Þat kalla menn at [...] Ok þat má vera at [...] En hvárrtveggi vitni sýnask oss merkilig, ok hafi hverr slíkt af því sem sýnisk. / Ok eru þeir fleiri er þat sanna, at [...] En þó eru þeir sumir menn fróðir, er svá vilja segja ok því trúa, at [...] Ok þat skal nú sanna hversu þeir telja [...] Þat segja þeir [...] En þessir menn samþykkja þetta með þessum hætti [...] er hvárstveggja s ǫ gn er trúlig [...] En þat þykkir þá mj ǫ k saman bera ok þessi frás ǫ gn [...] Þat kalla menn at [...] En vera kann þat at [...] En hvárratveggja vitni sýnask mér athuga verð, ok skynja þat hvat af þykkir fellt at hafa þvílíkum frás ǫ gnum; S-Version, Kap. 24/ A-Version, Kap. 30, S. 218: Þat segja menn; A-Version, Kap. 30, S. 219: Pro sustentatione rationem assumunt; A-Version, Kap. 41, S. 240: Ok eru þeir menn er þat segja at [...] Ok ef þetta er satt, þá er þat vitat at; S-Version, Kap. 38/ A-Version, Kap. 48, S. 259: Ok þótt slíkt sé sagt af tálum ok svikum óvinar ok blandat þessum hlutum við frás ǫ gn Óláfs konungs, kunnum vér eigi at greina með skýru. En allir vitu hvé m ǫ rg undr ok sjónhverfingar fjándinn hefir gert við sína menn, en trúum því af slíku sem oss sýnisk til þess fallit. / En þó at þvílíkir hlutir sé sagðir frá slíkum skrímslum ok undrum sem nú var sagt, þá má slíkt víst ótrúligt þykkja. En allir menn vita þat at fjándinn er jafnan gagnstaðligr almáttkum Guði ok þeir hinir aumu menn er Guði hafna. En fjándinn svíkr með allskonar vélum ok svikræðum ok vekr upp sinn óhreinan anda með hinum verstum hlutum þeim í móti er Guði þjóna ok blindar sjónir þeira ok ǫ ll vit líkamans, þá blekkir hann ok tælir með m ǫ rgum hlutum. En þessa hluti er vér segjum frá slíkum hlutum ok dœmis ǫ gum, þá dœmum vér þat eigi sannleik at svá hafi verit, heldr hyggjum vér at svá hafi sýnzk, því at fjándinn er fullr upp flærðar ok illsku.; A-Version, Kap. 51&52, S. 266 f.: Þat sýnisk m ǫ nnum minningar vert ok frásagnar, at [...] Þat hœfir ok at segja, er mikils er vert, at; A-Version, Kap. 54, S. 273: svá at eigi má þat gløggt vita jarðligir menn hvers heilagleiks hann er [...] Ok því er þat ǫ llum oss nauðsynligt at lofa nafn Dróttins Jesú Krists fyrir þenna mann, er hann gaf svá mikinn mátt ok atgervi, á þá leið sem vér lofum Guð af hinum helga Óláfi konungi.; S-Version, Kap. 46/ A-Version, Kap. 56, S. 277: Ok þat hafa menn mælti at / Ok þat hafa þeir menn mælt, er gløggt hafa vitat, at; A-Version, Kap. 65, S. 299: Þat viljum vér ok rita, at; A- Version, Kap. 80, S. 323: nefna sumir [...], en sumir [...] Sumir segja [...] Ok þat vilja flestir segja at; S- Version, Kap. 62, S. 327: ok þótt svá væri kallat at [...], þá var þó / En þó er svá væri kallat at [...], þá var þó [...], því at; A-Version, Kap. 82, S. 329: þó at hinna sé meir við getit; S-Version, Kap. 63/ A- 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 192 Aris Íb. zeigt sich somit, dass drei von insgesamt 5 nonpersonalen Verweisen  lässt man jene in Bezug auf chronologische Berechnungen aus  kollektive Quellenverweise darstellen. 490 Die beiden anderen enthalten eine Qualifizierung der Quelle durch Ari: es sannliga es sagt (s.o.) sowie svá hafa ok spakir menn sagt, at «das haben weise Leute auch gesagt, dass». Hierin lässt sich eindeutig der Ansatz jener Quellenqualifizierung sehen, die in der ÓlO ihren Höhepunkt zu erreichen scheint. Mit der sich hier entwickelnden kritischen Auseinandersetzung mit Erinnerungen erreicht auch die Autorschaft eine andere Ebene: die Verfasser der ÓlO-Übersetzungen stellen sich an zahlreichen Stellen über das Geschehen, um zum Beispiel die Struktur ihres Berichtes zu erläutern oder als Repräsentanten ihrer Zeit für ihr Publikum die Erinnerungen zu bewerten. 491 An einigen Stellen wird klar, dass auch der Verfasser der lateinischen ÓlO diese Form der Autorschaft ausübte. 492 Version, Kap. 83, S. 330 f.: ok eru þessir nefndir at á Orminum muni verit hafa: [...] ok margir aðrir er ágætir váru, þótt vér vitim eigi n ǫ fn þeira / En þessir menn eru nefndir at á hafi verit Orminum í hinni síðustu atl ǫ gu: [...] ok margir aðrir, þó at vér kunnim eigi nefna þá; A-Version, Kap. 84, S. 332: svá at þat er sumra manna s ǫ gn at; S-Version, Kap. 65/ A-Version, Kap. 85, S. 346: ok segja sumir hann braut hafa komizk, en sumir hyggja hann þar fallit hafa [...] Ok þó enn mest fyrir sakar tíðendanna er þvílíkr h ǫ fðingi fell er þá var frægstr maðr á Norðrl ǫ ndum. Ok svá gerðu menn sér mikit um alla umrœðu við Óláf konung ok ástúð, at mestr hluti manna vildi eigi heyra at hann mundi þar fallit hafa. / Þat vilja sumir menn segja at [...]. En sumir vilja segja at [...] En þó mest fyrir sakir h ǫ fðingjans þess er átti, er var Óláfr konungr, er frægstr maðr var á danska tungu. Ok svá gerðu menn sér mikit um umrœðu um Óláf konung, at menn vildu eigi heyra at hann myndi fallit hafa, svá sem Halldórr vísar á í sínum flokki.; S-Version, Kap. 66/ A-Version, Kap. 86, S. 348: ok var þar margra manna s ǫ gn at [...] ok hefir sú frás ǫ gn lengi síðan fram verit h ǫ fð, sem heyra má í þeira manna orðum er þat sanna. En þetta er s ǫ gn Hallfrøðar, er svá mikit unni konungi at menn segja at hann sýkðisk fyrir ástar sakar við hann ok helt eigi heilsu sinni eptir er hann spurði fráfall konungs / ok er þat margra manna s ǫ gn at [...], ok hefir sjá frás ǫ gn víða farit síðan, sem heyra má í þeira manna kvæðum er þetta hafa sannat. Svá segir Hallfrøðr [...] Hér segir svá, at þegar var tvennt frá sagt þeim fundi, hvárt hann myndi fallit hafa eða braut komizk. Ok m ǫ rg ǫ nnur dœmi eru til þess.; S-Version, Kap. 69/ A-Version, Kap. 90, S. 356 f: Ok þat vil ek segja enn, er sumum m ǫ nnum þykkir ótrúligt, at [...] / Nú munum vér rita þann hlut er sumum m ǫ nnum þykkir n ǫ kkvot ifanligr, at [...] En margir eru þeir menn er þetta gruna ok tortryggva þessa hluti, ok margir ifa enn um, en þó ætla ek at vísu at þetta myni satt vera, at hann myni lifat hafa eptir bardagann ok fœrt sik Guði í fórn af áblásning heilags anda, ok var hann í munklífi í Girklandi eða Sýrlandi, ok bœtt svá sína misgerninga með iðran, er hann hafi gert á œskualdri.; A-Version, Kap. 82, S. 360: er sumir menn kalla helgan vera; A-Version, Kap. 83, S. 361: Þá heyrði hann margra menn segja með sannendum at. 490 Kap. 1, S. 5-6: es sanniliga es sagt, En svá es sagt; Kap. 2, S. 7: En svá es sagt; Kap. 3, S. 9: Svá hafa ok spakir menn sagt, (at t ǫ lu spakra manna, Þat vas ok þá es enir sp ǫ kustu menn á landi hér h ǫ fðu talit); Kap. 7, S. 16: En svá es sagt; (S. 18: at alþýðu tali; Kap. 10, S. 26: at því, es talit es sowie Kap. 10, S. 26: at almannatali). 491 Ok þat vilja ek segja enn (S-Version, Kap. 64, S. 356; «Und das will ich zudem berichten») bzw. Nú munum vér rita þann hlut er (A-Version, Kap. 80, S. 356; «Nun werden wir jenen Teil aufschreiben, der») oder um abzuwägen und zu bewerten: Ok er lítt Sigvalda við getit orrostuna (S & A-Version, Kap. 61/ 70, S. 324 f.; «Und wenig wurde von Sigvaldr über den Kampf berichtet») bzw. [...]; þó verðr Eiríks mest við getit, en þó sagði Skúli Þorsteinsson svá, at Sveinn væri við orrostuna [...] (S-Version, Kap. 57, S. 305; «obwohl am meisten über Eríkr [d.h. im Gegensatz zu Sveinn] berichtet wird, erzählte Skúli Þorsteinsson dennoch davon, dass Sveinn bei dem Kampf dabei gewesen wäre [...]») oder ganz deutlich auch: Ok þat hafa þeir menn mælt, er gløggt hafa vitat [...] 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 193 Die nonpersonalen Quellenberufungen in der ÓlO lassen sich im Gegensatz zur Verwendung in Aris Bericht nochmals hinsichtlich verschiedener Funktionen unterscheiden: Es gibt solche, die innerhalb von Berichten völlig unmotiviert auftreten und aufgrund ihrer offenbar dem Bericht inhärenten Funktion tatsächlich einzig auf die mündliche Erinnerung verweisen sollen wie z.B. Ok við trú tók Hallfrøðr ok hans skips ǫ gn, ok er svá sagt at hann gerði konung kost, at sjálfr hann skyldi halda honum undir skírn (A-Version, Kap. 42, S. 243; «Und Hallfrøðr nahm den Glauben an genau wie seine Schiffsmannschaft und es wird davon berichtet, dass er dem König die Entscheidung überließ, ob er ihn selbst taufen wollte.»). Es gibt allerdings auch solche, die motiviert sind und eine Distanz des Verfassers zum Bericht oder eine Erzählstruktur kennzeichnen sollen. Jene kommen an Kapitelanfängen oder neuen Inhaltsabschnitten vor, so beispielsweise [Ok] þat er sagt at í fyrstu er Haraldr enn hárfagri tók ríkit […] (S-Version, Kap. 21/ A-Version, Kap. 26, S. 210; «[Und] es wird berichtet, dass zu Beginn, als Harald Schönhaar das Reich übernahm, […].») oder auch þat er ok sagt at (A-Version, Kap. 83, S. 361; «es wird auch berichtet, dass»). Diese motivierten Quellenberufungen lassen sich in ihrer Funktion formal mit den vielfach auftretenden strukturierenden Erzählmitteln wie Þar er til at taka / Nú er þar til at taka (S-Version, Kap. 18, S. 181/ A-Version, Kap. 14, S: 184; «Dort ist [nun] [mit der Erzählung] einzusetzen/ die Erzählung aufzunehmen») oder Nú er at segja frá (S-Version, Kap. 4, S. 132/ A-Version, Kap. 79, S. 355; «Nun ist davon zu erzählen») vergleichen und werden somit funktionalisiert, ohne länger einzig auf einen kollektiven Charakter einer Erinnerung abzuzielen. Eine Stelle zeigt diesen Unterschied sehr gut: Þat er sagt frá Óláfi konungi, er hann var þar staddr sem Brimangr heitir ey ein; þar er fjall þat er menn kalla Smalsarhorn, ágætliga hátt. Þat er sagt at Óláfr konungr hafi þar hengt upp skj ǫ ld sinn til sýnis ok ágætis, ok er þat fjall nær framlútt (S-Version, Kap. 41, S. 266; «Es wird von König Olaf berichtet, als er an der Stelle einer Insel stand, die Brimangr heißt; dort gibt es einen Berg, den die Leute Smalsarhorn nennen, von einzigartiger Größe. Es wird erzählt, dass König Olaf dort seinen Schild zu Schau- und Ruhmeszwecken aufhing, und dieser Berg ist geradezu vorgeneigt.»). Die erste Quellenberufung hat keinerlei referentiellen Charakter, sie scheint sich mit der zweiten zu überschneiden, da es ja um eine Erinnerung in Bezug auf König Olaf geht und nicht in Bezug auf die Insel oder den Berg. Daher wird die (A-Version, Kap. 56, S. 277; «Und das haben jene Leute berichtet, die es genau gewusst haben [...].) 492 So zitiert der Verfasser der S-Version Oddr wie folgt: „ Trúi ek þessu “ , segir Oddr munkr, „ at Óláfr konungr hafi braut komizk, [ok] munu þeir trúa er mér eru líkir, þótt ek vita suma ifa þat, gamla menn, ok trúi ek at hann hafi verit í Girklandi ok Jórsalalandi ok Sýrlandi ok bœtt annmarka með iðran, er hann gerði á œskualdri. Ok þess vil ek biðja hvern sem einn er s ǫ guna less, “ segir Oddr munkr, „ at þess biði at Óláfr konungr hafi himinríki með Guði ok eilífan fagnað fyrir sitt starf. “ (S-Version, Kap. 69, S. 358; « „ Daran glaube ich “ , berichtet der Mönch Oddr, „ dass König Olaf davongekommen ist, [auch] die mir gleich sind, sollen daran glauben, auch wenn ich einige kenne, alte Männer, die daran zweifeln. Ich glaube außerdem, dass er in Girkland und Jórsalaland und Sýrland gewesen ist und seine Fehler mit Reue büßte, die er im Jugendalter beging. Und ich möchte jeden einzelnen, der diese Geschichte liest, darum bitten, “ vermerkt der Mönch Oddr, „ dafür zu beten, dass König Olaf das Himmelreich mit Gott und der Ewigkeit durch seine Taten begrüßt hat. “ »). 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 194 erste Berufung genutzt, um in den Inhalt dieses neuen Kapitels einzuführen, die zweite Berufung verifiziert hingegen die Erinnerung an Olaf und seine Handlung auf dem Berg. Interessant ist hierzu nun die etwas andere Ausführung der A-Version, wo es heißt: Þat sýnisk m ǫ nnum minningar vert ok frásagnir, at í eyju þeiri er Brimangr heitir, þar er hátt fjall ok mj ǫ k torsóttligt; þat er kallat Smalsarhorn af Norðm ǫ nnum. Þar hefir Óláfr konungr gengit upp í fjallit ok fest þar upp skj ǫ ld sinn í ofanverðu fjallinu, en fjallit sýnisk mj ǫ k yfir gnapa ǫ ðrum fj ǫ llum ok náliga skúta yfir fram sjóinn. Ok svá er sagt at [...]. (A-Version, Kap. 51, S. 266) Es scheint den Leuten Erinnerungen und Geschichten wert, dass auf jener Insel, die Brimangr heißt, ein großer und sehr schwer zugänglicher Berg ist; er wird von den Nordleuten Smalsarhorn genannt. Dort auf den Berg ist König Olaf hinaufgestiegen und befestigte oben auf dem höheren Teil des Berges seinen Schild. Und der Berg schien weit über die anderen Berge empor- und fast über das Meer hinauszuragen. Und es wird davon berichtet, dass [...]. Der Verfasser der A-Version bewertet die Erinnerungen von diesem Ereignis, indem er sie als erinnerungs- und erzählwürdig einstuft, denn sonst wären sie ja nicht erinnert worden - so seine Schlussfolgerung. Er formuliert die Stelle auffallend aus und es wird schnell deutlich, dass hier der Berg als Symbol für König Olaf gebraucht wird, der über alle anderen Herrscher hinausragte. Diese Deutung ist in der S- Version noch nicht zu erkennen, dort geht es vielmehr darum, dass der König sich ein Denkmal setzte, indem er durch seine überragende Kraft einen sehr hohen Berg erklomm. Der Verfasser der A-Version versucht die verschiedenen Quellenangaben einzuordnen und führt die zweite deshalb auch zu Beginn des neuen Sinnabschnitts nach der Erzählung über Olafs Bergerklimmung an. Geht man davon aus, dass die S- Version eine Verkürzung der lateinischen Vorlage unter Berücksichtigung der A- Version vornahm, ließe sich erklären, wieso die erste nicht referentielle Quellenberufung überhaupt vorkommt, nämlich als Verkürzung der Qualifikation des Eingangssatzes «Es scheint den Leuten der Erinnerungen und Geschichten wert», zu einer einführenden Phrase. Es gibt insgesamt 36 passivische nonpersonale Quellenberufungen, von denen 18 an Kapitelanfängen, 9 an neuen Sinnabschnitten innerhalb der Kapitel und nur 9 unmotiviert auftreten. Diesen neun ist gemein, dass sie an für das Erzählgeschehen völlig unerheblichen Stellen auftreten (wie es auch in Aris Christianisierungsbericht in Bezug auf die Rede Gizurrs und Hjaltis auf dem Gesetzesfelsen thematisiert wurde). Doch ist davon auszugehen, dass diese nun unerheblich erscheinenden Beschreibungen in ihrem ursprünglichen Kontext einstmals eine durchaus entscheidende Bedeutung hatten und deshalb auch erinnert worden sind. Ob der Kontext in allen Fällen den mittelalterlichen Verfassern noch zugänglich oder verständlich war, lässt sich höchstens in dem einen oder anderen Einzelfall entscheiden, doch spricht ihre Erwähnung dafür, dass ihnen noch immer eine gewichtige Funktion zugeschrieben wurde. Auffällig bei diesen neun Quellenberufungen ist, dass die ersten vier innerhalb eines Satzes auftreten, die letzten fünf hingegen immer an einem 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 195 Satzanfang stehen. Für die vier Fälle innerhalb eines Satzes scheint ihre unabdingbare Funktion für die Schilderung eindeutig, da sie keine strukturierende Rolle spielen, sondern einen konstituierenden Teil des Berichts darstellen. Bei den letzten fünf ist diese Frage nicht endgültig zu entscheiden, doch legt ihr unmotiviertes Vorkommen nahe, dass sie mindestens als (re-)konstruierter Teil einer kollektiven Erinnerung zu betrachten sind. Somit lassen sich folgende nonpersonale Quellenberufungen entsprechend ihrer kollektiven Funktion unterscheiden: Passives Verb (immer aus mündlicher kollektiver Erinnerung, teilweise funktionalisiert) 1) neutral a) Unmotiviert: innerhalb eines Satzes (4) oder am Satzanfang (5) b) Motiviert: Kapitelanfang (18) oder Sinnabschnittsbeginn in einem Kapitel (9) 2) qualifizierend Aktives Verb (immer qualifizierend, Grad unterschiedlich) 1) Neutralen Eindruck erweckend 2) Offensichtlich qualifizierend Aus diesen Kriterien zur Qualifizierung von kollektiven Quellen, die den Verfassern als unterschiedliche Erinnerungen vorlagen und gegeneinander abgewogen werden, leitet sich schließlich auch der Umgang mit personalen Erinnerungen ab. 493 Hier 493 A-Version, Kap. 6, S. 144: ok er þat kallat í bókum phítons andi er heiðnir menn spáðu; S-Version, Kap. 20, S. 204: sem í hans s ǫ gu getr; S-Version, Kap. 20/ A-Version, Kap. 25, S. 207 ff.: Þat segir Ari enn fróði, ok margir sanna þat, at [...] ok þessir menn samþykkjask, Sæmundr enn fróði ok Ari enn fróði Þorgilssonr, at [...] ok þat þykkir saman koma ok þessi frás ǫ gn [...] / Þat finnsk í frás ǫ gn Ara hins fróða, ok eru þeir fleiri er þat sanna, at [...] En þessir menn samþykkja þetta með þessum hætti: Sæmundr hinn fróði ok Ari hinn fróði, er hvártstveggja s ǫ gn er trúlig, at [...] En þat þykkir þá mj ǫ k saman bera ok þessi frás ǫ gn; S-Version, Kap. 32/ A-Version, Kap. 38, S. 232: Ok þessa getr Sæmundr enn fróði, at / Þessa þings getr Sæmundr prestr hinn fróði, er ágætr var at speki, ok mælti svá: „ [...] “ . Svá hefir Sæmundr ritat um Óláf konung í sinni bók; S-Version, Kap. 35, S. 246: sem segir í Íslendingabók; A-Version, Kap. 44, S. 248: Þenna atburð sagði Teitr Ísleifsson; A-Version, Kap. 49, S. 261: Ok segir svá Rúphus prestr frá því er konungr leiddi hana á brott; S-Version, Kap. 42, S. 269/ A-Version, Kap. 54, S. 270: ok bannaði konungr honum um at rœða meðan hann lifði, ok þat endi hann ok sagði miklu eptir andlát hans Haraldi konungi, sem ek gat / Konungr bannaði honum at segja þenna atburð sé einum manni meðan hann lifði, en hœtti honum dauða ef hann brygði af. Ok þat efndi hann, því at hann var hinn mesti vin konungs. Ok m ǫ rgum vetrum eptir andlát Óláfs konungs, þá er Þorkell var gamall maðr, þá sagði hann þenna atburð Haraldi konungi, ok virði hann Þorkel hinn sanns ǫ glasta mann.; S-Version, Kap. 44, S. 272: Ok þat segir sá er s ǫ guna hefir gert, sem; S-Version, Kap. 58, S. 35: þó verðr Eiríks mest við getit, en þó sagði Skúli Þorsteinsson svá, at; S-Version, Kap. 58, S. 308/ A-Version, Kap. 59, S. 310: Ok þetta hefir gert Oddr munkr á latínu [...] Ok at váru máli þýðisk þetta svá / Þetta er ritat af Sigvalda jarli [...] Þat segir svá; A-Version, Kap. 68, S. 312: Svá segir Halldórr hinn ókristni; S- Version, Kap. 61, S. 320/ A-Version, Kap. 80, S. 321: sem Hallfrøðr sagði [...] Þat sannaði Hallfrøðr [...] Ok er lítt Sigvalda við getit orrostuna. Svá segir Skúli Þorsteinsson [...] Hann var þar í þeiri orrostu með Eiríki jarli. / Svá sagði Hallfrøðr at [...] Þetta orð váttar Hallfrøðr svá [...] ok er Sigvalda lítt við getit orrostuna. En þó segir Skúli Þorsteins‹son› í flokki þeim er hann orti um orrostuna, at hann var 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 196 muss man unterscheiden zwischen einer Person, die Erinnerungen mündlich weiterträgt, oder Verweisen auf schriftliche Texte, die in der Regel durch den Verfasser repräsentiert werden, quasi als ‚ sein Wort ‘ (typischerweise geschieht das bei der direkten Zitation skaldischer Gedichte, wenn es heißt: sem Halldór kvað (S-Version, Kap. 65, S. 336; «wie Halldór dichtete») oder auch sem Hallfrøðr sagði (S-Version, Kap. 61, S. 320/ A-Version, Kap. 70, S. 321; «wie Hallfrøðr sagte»). Es wird dabei offensichtlich ein kategorischer Unterschied zwischen verbürgten und unverbürgten Erinnerungen gemacht, wie der einzig überlieferte Epilog der A-Version zeigt: Þessa s ǫ gu sagði mér Ásgrímr ábóti Vestliðason, Bjarni prestr Bergþórsson, Gellir Þorgilsson, Herdís Daðadóttir, Þorgerðr Þorsteinsdóttir, Inguðr Arnórsdóttir. Þessir menn kenndu mér svá s ǫ gu Óláfs konungs Tryggvasonar sem nú er s ǫ gð. Ek sýnda ok bókina Gizuri Hallssyni, ok rétta ek hana eptir hans ráði, ok h ǫ fum vér því haldit síðan. (A- Version, Kap. 82, S. 362) 494 þar; S-Version, Kap. 63/ A-Version, Kap. 83, S. 329: sem Hallfrøðr segir / Svá segir Hallfrøðr; S- Version, Kap. 65/ A-Version, Kap. 85, S. 336 f.: sem Halldórr kvað [...] sem Hallfrøðr segir [...] Ok svá sagði Sverrir konungr at [...] Ok svá kvað Halldórr / Svá segir Halldórr hinn ókristni, er hann kvað um Eiríki jarl [...] Svá segir Hallfrøðr [...] Ok svá sagði Sverrir konungr at [...] Svá segir Halldórr; S- Version, Kap. 67/ A-Version, Kap. 87, S. 350 f.: Hér er sagt frá þeim m ǫ nnum er fyrr gátum vér, er á skipi váru með Óláfi konungi, hvat þeir sá síðast til hans. En svá sagði Skúli Þorsteinsson, at [...]. En Einarr þambaskelmir kvazk [...]. Kolbj ǫ rn sagði ok svá, at [...]. / Ok ef Guð lofar skal ek segja sem ek veit sannast, hvat þeir menn báru frá, er þar váru í bardaganum, hvat þeir sá síðast til Óláfs konungs. Svá sagði Skúli Þorsteinsson, at [...]. Svá segir Einarr þambarskelfir, at [...]. Svá segir Kolbj ǫ rn at [...]. Nú svá sem fyrri s ǫ gðum vér at óvínir konungs leituðu hans vandliga ok fundu hann eigi, þá s ǫ gðu n ǫ kkvorir menn af liði jarls at [...].; S-Version, Kap. 69/ A-Version, Kap. 90, S. 357: Ok þessi er frás ǫ gn Ástríðar. [...] „ Trúi ek þessu “ , segir Oddr munkr, „ at Óláfr konungr hafi braut komizk, [ok] munu þeir trúa er mér eru líkir, þótt ek vita suma ifa þat, gamla menn, ok trúi ek at hann hafi verit í Girklandi ok Jórsalalandi ok Sýrlandi ok bœtt annmarka með iðran, er hann gerði á œskualdri. Ok þess vil ek biðja hvern sem einn er s ǫ guna less, “ segir Oddr munkr, „ at þess biði at Óláfr konungr hafi himinríki með Guði ok eilífan fagnað fyrir sitt starf. “ Ok þrýtr s ǫ guna Óláfs konungs, er at s ǫ nnu má kallask postoli Norðmanna, ok diktaði Oddr munkr at Þingeyrum þessi vers, dýrligr maðr ok mikill Guðs vinr. [...] Ok hann sá Óláf konung at sýn [...] / Þessum orðum er sagt at Ástríðr hafi um rœtt. / Hér þrýtr nú s ǫ gu Óláfs konungs Tryggvasonar, er at réttu má kallask postoli Norðmanna, ok svá ritaði Oddr munkr, er var at Þingeyrum ok prestr at vígslu til dýrðar almáttkum Guði, en þeim til minnis er síðar eru, þó at eigi ‹sé› gert með málsnilld.; S-Version, Kap. 70/ A-Version, Kap. 81, S. 359: Ok á ‹ein›hverju ári, páskadag, [sagði hann] s ǫ gu hans sínum m ǫ nnum ok lét þat fylgja at hann hafði fyrir sk ǫ mmu spurt af sannfróðum [m ǫ nnum], at þá hefði Óláfr konungr litlu áðr af heimi farit, ok þótti makligt at se[gja] á e[enni ---]. / Tók hann nú at vegsama Óláf konung Tryggvason, ok því var hann vanr á hverju ári at segja riddurum sínum frá Óláfi konungi á páskatíð, frá m ǫ rgum ágætligum verkum hans, er hann hafði unnit. Ok á einhverju ári [...], þá lét hann þat fylgja at hann hafði þá nýliga spurt þau tíðendi af þeim m ǫ nnum er kómu af Sýrlandi með merkiligum frás ǫ gnum, at þar h ǫ fðu orðit þau tíðendi er mikils váru verð, er Óláfr konungr Tryggvason var sagðr andaðr, ok fór hann með mikilli dýrð af þessari ver ǫ ldu til eilífrar sælu.; A-Version, Kap. 82, S. 362: Þessa s ǫ gu sagði mér Ásgrímr ábóti Vestliðason, Bjarni prestr Bergþórsson, Gellir Þorgilsson, Herdís Daðadóttir, Þorgerðr Þorsteinsdóttir, Inguðr Arnórsdóttir. Þessir menn kenndu mér svá s ǫ gu Óláfs konungs Tryggvasonar sem nú er s ǫ gð. Ek sýnda ok bókina Gizuri Hallssyni, ok rétta ek hana eptir hans ráði, ok h ǫ fum vér því haldit síðan. 494 Die Tatsache, dass der Skálholter Bischof Gizurr Hallsson im Gegensatz zu den Auftraggebern der Íb. ein knappes Jahrhundert später eine derart auf das norwegische Königshaus ausgerichtete Position vertrat, macht in beeindruckendem Maße deutlich, wie stark die Vergangenheit entsprechend dem gegenwärtigen Bedarf funktionalisiert werden konnte. 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 197 Diese Geschichte erzählten mir der Abt Ásgrímr Vestliðason, der Priester Bjarni Bergþórsson, Gellir Þorgilsson, Herdís Daðadóttir, Þorgerðr Þorsteinsdóttir, Inguðr Arnórsdóttir. Diese Leute machten mich mit der Geschichte von König Olaf Tryggvason bekannt, wie sie hier nun erzählt wird. Ich zeigte dieses Buch auch Gizurr Hallsson und bearbeitete es gemäß seinem Rat und wir haben seither daran festgehalten. Hier werden nur Personen aufgezählt, die weder im Text als Erinnerungsträger erwähnt wurden noch einen der zugrundeliegenden schriftlichen Texte verfassten. Der Anspruch einer vollständigen Quellensammlung am Ende des Textes scheint hier daher nicht vorgelegen zu haben, vielmehr die Distinktion verschiedener Quellenarten: die Tradenten werden als Träger kollektiver Erinnerungen betrachtet, weil sie selbst keine Augenzeugen sind. Sie transportieren die Erinnerung anderer und ermöglichen dem Verfasser einen Zugang zur Erinnerungskultur (bzw. speziell zum kulturellen Gedächtnis). Diese Erinnerungsträger werden hinsichtlich ihrer Funktion nicht von den schriftlichen Erinnerungsträgern wie Ari oder Sæmundr unterschieden. Jene transportieren auch nur Erinnerungen, die sie wiederum direkt von Augenzeugen oder auch ‚ nur ‘ von Erinnerungsträgern erhielten. In diesem Sinne werden die Berichte aus (einheimischen! ) schriftlichen Texten auch (bis auf eine Ausnahme) einzig mit dem Namen der Verfasser verifiziert: Þat segir Ari enn fróði / Þat finnsk í frás ǫ gn Ara hins fróða (S-Version, Kap. 20/ A-Version, Kap. 25, S. 207; «Das sagt Ari enn fróði / Das findet man im Bericht von Ari hinn fróði»). In fast allen Fällen gleichen diese Verweise formal denen auf mündliche Erinnerungsträger, so werden Verben des Sagens wie hier segja «berichten/ erzählen» verwendet und es wird nur selten darauf verwiesen, dass dieser Bericht schriftlich verfasst wurde. 495 Eine Textstelle zeigt besonders eindrucksvoll, dass der Verfasser eines Textes dann übergangen werden kann, wenn die mündliche Quelle mit Namen bekannt ist: in der A-Version entspricht der Bericht über die Christianisierung Islands (vgl. S. 244- 248) fast wortlautgetreu dem der Íb. Das bringt den Verfasser dazu, nicht Ari als seine Quelle zu nennen, sondern Aris Gewährsmann Teitr: Þenna atburð sagði Teitr Ísleifsson (A-Version, Kap. 44, S. 248; «Dieses Ereignis berichtete Teitr Ísleifsson.»). Interessanterweise unterscheiden sich die beiden ÓlO-Versionen im Hinblick auf dieses Ereignis grundlegend. Während die S-Version mit knappen vier Sätzen auskommt, führt die A-Version den Bericht genauso ausführlich aus wie die Íb. 495 Darauf verweist die ÓlO lediglich zwei Mal: Einmal nur in der A-Version im Zusammenhang mit einem (sonst nirgends vorkommenden) Originalzitat aus Sæmundrs Text: Ok þessa getr Sæmundr enn fróði, at / Þessa þings getr Sæmundr prestr hinn fróði, er ágætr var at speki, ok mælti svá: „ [...] “ . Svá hefir Sæmundr ritat um Óláf konung í sinni bók (S-Version, Kap. 32/ A-Version, Kap. 38, S. 232; «Und dies berichtet Sæmundr enn fróði, dass / Von dieser Sache berichtet der Priester Sæmundr hinn fróði, der ausgezeichnetes Wissen aufwies, und der so sprach: „ [...] “. So hat Sæmundr über König Olaf in seinem Buch geschrieben») und ein weiteres Mal in Bezug auf den Verfasser der lateinischen Vorlage Oddr Snorrason, wieder in der A-Version: ok svá ritaði Oddr munkr, er var at Þingeyrum ok prestr at vígslu til dýrðar almáttkum Guði, en þeim til minnis er síðar eru, þó at eigi ‹sé› gert með málsnilld (A-Version, Kap. 90, S. 357; «und so schrieb der Mönch Oddr, der in Þingeyrar war und zum Priester geweiht wurde, zur Verherrlichung vom allmächtigen Gott; und denen zur Erinnerung, die später leben, obwohl es nicht mit Redegewandtheit gemacht ist.»). 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 198 Dennoch gibt der Verfasser Teitr und nicht Ari als Quelle an. Ari wird also lediglich als Vermittler der Erinnerung (also als Erinnerungsträger) angesehen. Dieser Rückgriff funktioniert einzig im hypoleptischen Diskurs, dessen Rahmen in der Schrift gedehnt wird, sodass an den ca. 70 bis 100 Jahre älteren Text nahtlos angeknüpft werden kann. Wiederum erstaunlich ist der völlig entgegengesetzte Umgang mit diesem Bericht in der S-Version, der so minimalistisch wie nur möglich ist und stattdessen die oben schon erwähnte Ausnahme, nämlich einen Verweis auf einen Text anführt: sem segir í Íslendingabók (S-Version, Kap. 35, S. 246; «wie es in der Íslendingabók heißt»). Diese Form des Verweises auf eine schriftliche Quelle mit dessen Namen kommt sonst an keiner Stelle in den historiographischen Texten vor und spiegelt eine andere Perspektive des S-Verfassers wider, der voraussetzt, dass der Bericht der Íb. entsprechende Bekanntheit genießt. Möglicherweise ist hier der Grund für die unterschiedlichen Verweise der Übernahmegrad des Berichts: die S- Version paraphrasiert, verweist im Detail jedoch auf den Bericht der Íb., während die A-Version fast wörtlich den Bericht übernimmt, den Ari selbst ja Teitr zuschreibt. Daraus kann man schließen, dass die schriftliche Aufzeichnung einer Erinnerung für die mittelalterlichen Verfasser im hypoleptischen Diskurs nur eine Momentaufnahme der Erinnerung darstellte. Mit dem unaufhörlichen Versuch, den Urheber (in Form eines Augenzeugen) einer Erinnerung ausfindig zu machen, wird ein einzigartiges Kriterium für die Behandlung des ‹Problems› im hypoleptischen Diskurs erstellt: der Wahrheit, der ‹Sache›, kann man am nächsten kommen, indem man einen Augenzeugen wie einen zeitgenössischen Skalden findet. 496 Augenzeugen, die Teil des kommunikativen Gedächtnisses sind, werden angeführt, um konkurrierende Erinnerungen affirmativ zu stärken oder subversiv zu dekonstruieren. Dieses Prinzip wird in den erinnerungstheoretischen Ansätzen der Literaturwissenschaft zur Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses als ‹erfahrungsgestützte Ermächtigung› bezeichnet. 497 Mithilfe dieser in der Historiographie entwickelten ‹Augenzeugenideologie› kann man auch noch Jahrhunderte später die Zeitspanne zum Ereignis überbrücken, um der ‹Sache› auf den Grund zu gehen. Allerdings wird das eigene Gedankengut eines Verfassers auch als solches gekennzeichnet, denn an eben jenen Stellen wird der entsprechende Verfasser mit Namen als Urheber (quasi gleichwertig mit einem Augenzeugen) genannt, wie oben bereits zitiert, z.B. Ari und Sæmundr im Hinblick auf eine Datierung, die sie selbst erschlossen hatten. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Hierarchisierung der Quellen, die Snorri Sturluson um 1225/ 30 im Prolog seiner Hkr. fixierte, schon früher, nämlich bereits bei Ari und mit Sicherheit auch in den Übersetzungen der ÓlO, als Maßstab für den 496 Ok er lítt Sigvalda við getit orrostuna. Svá segir Skúli Þorsteinsson: […]. Hann var þar í þeiri orrostu með Eiríki jarli. / ok er Sigvalda lítt við getit orrostuna. En þó segir Skúli Þorsteins‹son› í flokki þeim er hann orti um orrostuna, at hann var þar: […] (S-Version, Kap. 61, S. 324 f./ A-Version, Kap. 70, S. 325; «Und es wird wenig von Sigvaldr bei dem Kampf berichtet. So erzählt Skúli Þorsteinsson: […]. Er war dort in jenem Kampf mit Jarl Eiríkr. / und es wird wenig von Sigvaldr bei dem Kampf berichtet. Und doch erzählt Skúli Þorsteins‹son› in der Strophe, die er über den Kampf dichtete, dem er beiwohnte: […].»). 497 Vgl. Erll 2005, S. 183. 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 199 Quellenumgang fungierte: als am besten authentifizierte Quelle gilt immer ein Augenzeuge, der das Geschehen selbst erlebt hat und davon berichtet. Danach folgen diejenigen Gewährspersonen, die von Augenzeugen ihren Bericht erhielten, dann diejenigen, die sich aufgrund verschiedener Charakteristika als verbürgte Erinnerungsträger einstufen lassen (z.B. aufgrund von Weisheit, ihrem Alter u.ä.). Als letztes folgt die mündliche anonyme Quelle, sozusagen das „ Hören-Sagen “ nicht verifizierbarer Erinnerungsträger. Folgendes Beispiel, das eine Erzählung der ÓlO aus der Legendenbildung um König Olaf aufgreift, laut der er nicht im Kampf gestorben, sondern davongekommen sei, illustriert die Anwendung dieser Hierarchisierung sehr anschaulich. 498 Erst werden die unverbürgten Berichte, die aber immerhin von vielen Leuten erzählt werden, angeführt, um sie dann mit dem Gedicht des Skalden Hallfrøðr, der ein Freund des Königs war, zu verifizieren: [...] ok var þat margra manna s ǫ gn at Óláfr konungr hefði steypzk af brynjunni í kafi ok kœmi með sundi ok miklum vaskleik til Vinðaskipsins, ok hefir sú frás ǫ gn lengi síðan fram verit h ǫ fð, sem heyra má í þeira manna orðum er þat sanna. En þetta er s ǫ gn Hallfrøðar, er svá mikit unni konungi at menn segja at hann sýkðisk fyrir ástar sakar við hann ok helt eigi heilsu sinni eptir er hann spurði fráfall konungs: [...]. / En í þessi svipan, þá røri á brott Vinðasnekkjan, ok er þat margra manna s ǫ gn at Óláfr konungr hafi steypt af sér brynjunni í kafi ok komizk með sundi í Vinðasnekkjunnar, ok hefir sjá frás ǫ gn víða farit síðan, sem heyra má í þeira manna kvæðum er þetta hafa sannat. Svá segir Hallfrøðr: [...]. (S-Version, Kap. 66/ A-Version, Kap. 76, S. 348) [...] und das war der Bericht vieler Männer, dass König Olaf sich beim Untertauchen die Brünne auszog und [dann] in den Sund und mit viel Anstrengung bis zum Schiff Vinðaskip gekommen sei. Und diese Geschichte hat seither lange fortbestanden, wie man an den Worten jener Leute hören kann, die das bestätigen. Und diese ist die Erzählung von Hallfrøðr, der den König so sehr liebte, dass - wie die Leute sagen - er wegen dieser Liebe zu ihm erkrankte und nicht eher gesundete, bis er vom Tod des Königs erfuhr: [...]. / Und in dieser äußeren Täuschung [d.i. der Austausch des Königs durch Kolbj ǫ rn] ruderte das Schiff Vinðasnekkja fort und es ist die Erzählung von vielen Leuten, dass König Olaf beim Untertauchen seine Brünne auszog und in den Sund bis zum Schiff Vinðasnekkja gekommen sei. Diese Geschichte hat sich weit herumgesprochen, wie man in den Gedichten jener Männer hören kann, die das bestätigen. So erzählt Hallfrøðr: [...]. Doch dabei belassen es die Verfasser nicht, sie führen eine weitere Quelle an, die Licht in die Frage nach dem Verbleib Olafs bringen soll: die Augenzeugen, die den König als letzte im Kampf gesehen haben: Hér er sagt frá þeim m ǫ nnum er fyrr gátum vér, er á skipi váru með Óláfi konungi, hvat þeir sá síðast til hans. En svá sagði Skúli Þorsteinsson, at [...]. En Einarr þambaskelmir kvazk [...]. Kolbj ǫ rn sagði ok svá at [...]. / Ok ef Guð lofar skal segja sem ek veit sannast, hvat þeir menn báru frá, er þar váru í bardaganum, hvat þeir sá síðast til Óláfs 498 Ganz anders geht nämlich Adam von Bremen in seinen Gesta Hamburgensis mit Olafs Tod um, indem er keinerlei Zweifel daran bestehen lässt, dass Olaf umgekommen sei, und entsprechend auch keine sich widersprechenden Erinnerungen aufnimmt - sofern diese überhaupt um 1076 bereits existierten (vgl. Gesta Hamburgensis, II 40-42, S. 276). 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 200 konungs. Svá sagði Skúli Þorsteinsson, at [...]. Svá segir Einarr þambarskelfir, at [...]. Svá segir Kolbj ǫ rn at [...]. (S-Version, Kap. 67/ A-Version, Kap. 77, S. 350) Hier wird von den Männern berichtet, die wir zuvor erwähnten und die auf dem Schiff mit König Olaf waren, und davon, was sie als letztes von ihm sahen. Skúli Þorsteinsson berichtet davon, dass [...]. Und Einarr þambaskelmir sagte, dass [...]. Kolbj ǫ rn erzählte auch davon, dass [...]. / Und falls Gott es gestattet, soll ich das berichten, was ich am zuverlässigsten davon weiß, was jene Männer bezeugen, die dort im Kampf waren, und was sie als Letztes von König Olaf sahen. So erzählte Skúli Þorsteinsson, dass [...]. So erzählt Einarr þambarskelfir, dass [...]. So erzählt Kolbj ǫ rn, dass [...]. Letztendlich zählt also der Bericht des Augenzeugen am meisten, durch den die Zeitspanne bis zum Geschehen in der Vergangenheit als am besten verbürgt gilt, sodass die Darstellung der ‹Wahrheit› jener am nächsten kommt. Nicht zuletzt der Historiograph selbst nimmt als Träger und Kritiker der Erinnerung am Ende die Rolle ein, seine Leserschaft auf den Verbürgungsgrad und somit auf den Wahrheitsgehalt der Erinnerungen hinzuweisen. Bemerkenswert ist an diesem Beispiel überdies, dass der Skalde Hallfrøðr vandræðaskáld mit seinem Preisgedicht hier nicht als Augenzeuge und damit beste Authentifikation genutzt wird, wie es häufig der Fall ist - an dieser Stelle ist er eben nicht derjenige, der dem Geschehen am nächsten ist, da er bei der Schlacht selbst nicht zugegen war und stattdessen erst, nachdem er von der Schlacht hörte, um das Jahr 1000 nach Norwegen reiste, um dort die Kampfberichte zu hören und daraus ein Gedicht über König Olaf zu verfassen. Diese Beobachtung hat einerseits zur Folge, dass die Skaldendichtung in den Snorri Sturluson zugeschriebenen Authentifizierungskriterien nicht grundsätzlich an oberster Stelle steht. Sie wird nur deshalb am häufigsten als Verifizierungsinstanz verwendet, weil sie wegen ihrer frühen Entstehung in der Regel den Geschehnissen zeitlich am nächsten kommt bzw. überhaupt die einzige Quelle für viele Ereignisse ist. Zum anderen berichtet bereits der Skalde in seinem Gedicht von den verschiedenen Versionen zu Olafs Ableben, von denen er nach der Schlacht Bericht erhält. Das bezeugt, dass schon die vorchristlichen Skalden Kriterien anwandten, um die Art ihrer Darstellung zu wählen und ihre Berichte zu verifizieren. Das spricht erneut für die Vermutung, dass die Grundlage der konventionalisierten Kriterien im hypoleptischen Diskurs schon in der vorchristlichen Mündlichkeit zu sehen ist und sich ihr Ursprung in der einheimischen kulturellen Mnemotechnik findet. In dieser Quellenhierarchisierung zeigt sich ein erstaunliches Paradoxon zwischen mittelalterlicher skripturaler und vorchristlicher oraler Perspektive: Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis vormoderner Kulturen als die Summe aller identitätsformenden Erinnerungen einer Gemeinschaft und gerade diese kollektiven Erinnerungen bewerten die mittelalterlichen Autoren Islands in diesem Diskurs als am wenigsten verbürgt und am wenigsten vertrauenswert. Dass trotzdem nonpersonale Quellenverweise auch in den historiographischen Texten auftreten (sowohl in ihrer wohl ursprünglichen Funktion als auch als formelhafte Wendung), zeigt dann doch, wie unverzichtbar kollektive Erinnerungen trotz ihrer Unverbürgtheit für das isländische Selbstbild noch im 12. und 13. Jahrhundert gewesen 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 201 sind, auch wenn sie im hypoleptischen Diskurs keine Hilfe bei der Suche nach der ‹Sache› waren. Dennoch scheinen diese Erinnerungen quantitativ nicht die Mehrheit unter den zugrundeliegenden Erinnerungen dargestellt zu haben, was die Beobachtungen in der Analyse der Íb. in Bezug auf die Existenz vieler regionaler Erinnerungsgemeinschaften und deren Gruppengedächtnissen untermauert. In diesem Sinne kreuzen sich in der Historiographie die orale Erinnerungskultur und die skripturale Erinnerungskultur, denn nur im dort entwickelten hypoleptischen Diskurs existierte die Hierarchisierung der Quellen als Kriterium bei der kritischen Suche nach der ‹Wahrheit›. Zu Beginn des ‹Traditionsstroms› steht ein Text wie die Íb. der oralen Erinnerungskultur noch sehr nahe, wenngleich auch Ari im Ansatz zu qualifizieren begann, wobei sich seine Bewertung allerdings auf die Erinnerungsträger statt auf die Erinnerungen bezog. Die ÓlO entfernt sich von der Íb. wiederum ein Stück, da sie nicht mehr nur die mündlichen Erinnerungen aufgreift, sondern auch schriftlich fixierte Erinnerungen nutzt und im gleichen Zug nicht mehr nur die Erinnerungsträger, sondern auch die Erinnerungen selbst bewertet. Aufgrund dieser Transformation von Erinnerungen und ihren Trägern lässt sich deutlich schwieriger zwischen kollektiven Erinnerungen bzw. ihrer Zugehörigkeit zum kulturellen oder kommunikativen Gedächtnis unterscheiden. Mit dem Fortschreiten der Schriftlichkeit ging auch das Fortschreiten des kritischen Umgangs mit fundierenden Texten einher, die bei Ari mit einer ersten Unterscheidung verschiedener Quellen und ihrer Verbürgtheit begann und bis zu Snorris ausführlicher Quellenhierarchisierung im Prolog der Hkr. eine stete Entwicklung durchlief. 499 In dem Prozess des entstehenden hypoleptischen Diskurses steht die ÓlO offenbar an einem Wendepunkt, da sie zwar die Quellenqualifizierung par excellence darbietet, doch gleichzeitig mit dem Versuch, verschiedene schriftliche Erinnerungen zu vereinen, scheitert. In keinem anderen Text wurde eine derartige Zusammenführung erneut versucht. Das Bemühen um die kritische Anknüpfung scheint in den darauf folgenden Texte rückläufig zu sein, da Erinnerungen zwar kritisch beleuchtet und Quellenqualifizierungen gemacht werden, aber im Gegensatz zur ÓlO nur an den Stellen, an denen auch tatsächliche Aussagen zum Wahrheitsgehalt gemacht werden können. 500 Diese Tendenz endet mit dem Beginn der Aufzeichnung der Isländersagas, die zu einer fingierten mündlichen Erinnerung zurückkehren, um mit dieser 499 Dort zieht er auch explizit die Skaldendichtung den Berichten aus Island vor, obwohl er sogar darauf hinweist, dass die Leute von den Erzählungen der Isländer ihr Wissen nehmen. Er begründet das damit, dass die Skalden «bei König Olaf waren und die Ereignisse sahen und hörten» und damit als Augenzeugen der ‹Wahrheit› am nächsten kommen (vgl. Ólafs saga helga hinni sérstaka, Hkr. II, Prolog, S. 422). 500 Wie beispielsweise Starý an einem Beispiel aus der Hkr. illustriert (vgl. Starý 2013, S. 106 f.). Dort wägt Snorri zwei verschiedene Varianten eines Ereignisses ab und bewertet sie letztlich durch das Hinzuziehen einer kenning in einer Skaldenstrophe hinsichtlich ihrer Wahrheit (vgl. Starý 2013, S. 110). Gerade anhand der Hkr. lässt sich beispielsweise genauso gut illustrieren, dass die Quellenkritik zwar ein Kriterium, aber keine Arbeitsmethode darstellte, denn vor allem Snorri schrieb bewiesenermaßen passagenweise aus den Ágrip ab, die wohlbemerkt keine einheimische isländische Quelle waren und vielleicht eben deshalb für Snorri keine Notwendigkeit für eine Quellenkritik bestand - die Ágrip waren schließlich nicht Teil des hypoleptischen Diskurses. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 202 völlig gegensätzlichen Strategie zur Überbrückung der zeitlichen Distanz selbst eine Quelle, d.h. gewissermaßen selbst ein ‚ Augenzeuge ‘ zu sein. So bekam ihr Inhalt wieder eine Präsenz in der Gegenwart - im Assmann ’ schen Sinne lässt sich in Bezug auf die Isländersagas daher eine andere Art des intertextuellen Umgangs feststellen: sie werden als ‹Klassiker› wahrgenommen, und zwar in zweifacher Weise: einerseits imitieren die schriftlichen Texte zu einem gewissen Grad mündliche Erinnerungen und andererseits werden die schriftlich fixierten Texte wiederum in Form anderer imitiert sowie in etlichen Abschriften noch Jahrhunderte lang kopiert. Sie werden als ‹Klassiker› verstanden und stellen damit eine andere Art kulturelle Kohärenz über den Bruch der Schriftlichkeit hinweg her, als es die Historiographie mit ihrem kritischen Rückgriff tut. In den klassischen Texten, den Isländersagas, geschieht die Quellenkritik nicht mehr transparent im Text, sondern entweder in einer stillen Vorauswahl des jeweiligen Verfassers, um von Vornherein nur eine einzige Variante eines Berichts darzustellen, oder, indem verschiedene Varianten aufgezeigt werden und der Leser zur eigenen Beurteilung angehalten wird: „ Das Überlieferte ist wahr, und wo die Tradition variiert, kann man zu keiner einheitlichen Wahrheit durchdringen. “ 501 5.5.2 Die Identitätskonstruktion auf der Textebene Wie aber finden sich nun die Verfasser als Mitglieder der isländischen Erinnerungsgemeinschaft(en) in den beschriebenen Geschichten über die Norwegerkönige wieder? Welche Rolle sehen sie für sich innerhalb dieser Ereignisse und Berichte? Lediglich einige wenige Hinweise in der ÓlO verraten etwas über die Zugehörigkeit der Verfasser zu spezifischen Gruppen. Zunächst wird an einer Stelle, an der ein lateinischer Begriff fällt, eine Sprachengemeinschaft genannt, derer sich der Verfasser zugehörig sieht: [...], þat er vér k ǫ llum vesl eða slagning á vára tungu (Kap. 7, S. 147; «[...], das, was wir in unserer Sprache Umhang oder Obergewand nennen.»). Hierin kann man eine Abgrenzung zur lateinischen Sprache und dessen Sprechern/ Schreibern durch die Bestimmung einer wir-Gruppe (vár «uns») erkennen. Solche wir-Formeln treten darüber hinaus nur noch in einigen Verfasserkommentaren auf (vgl. S & A-Version, Kap. 28/ 48, S. 259). Diese Sprachengemeinschaft deckt sich in der ÓlO allerdings im Gegensatz zur Íb. nicht mit der regional abgegrenzten Erinnerungsgemeinschaft. Es werden kaum typische Lokaladverbiale wie hingat/ þangat oder út(i) etc. gebraucht, wodurch der Eindruck ensteht, die Verfasser nähmen eher eine norwegenzentrierte Sicht ein, als dass sie die Ereignisse aus isländischer Sicht perspektivierten. Dieses Phänomen zeigt sich allen voran im Christianisierungsbericht der A-Version, der, wie bereits beschrieben, dem der Íb. auffällig ähnelt (vgl. A-Version, Kap. 37-38, S. 241-248). Doch trotz dieser Ähnlichkeit fällt ein Unterschied sofort ins Auge: die fehlenden islandzentrierten Attribute. Stattdessen wird mit einer vermeintlichen Neutralität der Weg af Íslandi til Nóregs («von Island nach Norwegen») beschrieben, die Isländer mehrmals 501 Vgl. Starý 2013, S. 106. 5.5 Die Óláfs saga Tryggvasonar eftir Odd munk - ein Wendepunkt 203 distanziert als íslenzkir menn («isländische Leute») und þeir Íslendingar («jene Isländer») bezeichnet. Statt der typischen hér «hier» und hingat «hierher» Beschreibungen werden (mit einer Ausnahme) Beschreibungen gebraucht wie til Íslands («nach Island»), á Íslandi («auf Island») af Íslandi («von Island weg»). Die intendierte Distanzierung gipfelt darin, dass der Verfasser die Verhandlungen Gizurrs und Hjaltis mit dem König umschreibt mit ok t ǫ luðu mál Íslendinga («und sie besprachen die Angelegenheit der Isländer»). Hier wird im Vergleich zur Íb. eine völlig andere Positionierung des Verfassers deutlich, die sich nur durch seine Textintention erklären lässt; schließlich würde eine kontranorwegische Darstellung der Überhöhung König Olafs zuwiderlaufen. Die S-Version zeigt wiederum zwar auch eine gewisse Distanz, jedoch nicht in der Schärfe wie die A-Version (vgl. S- Version, Kap. 35, S. 240-246). Dort wird auf der einen Seite von den Norwegern als landsmenn («Einheimische») im Gegensatz zu íslenzkir menn («isländische Leute») gesprochen, auf der anderen Seite aber erstaunlich islandzentriert formuliert, ausgewiesen durch Formeln wie hér «hier», komu síðan út hingat («kamen dann hinaus hierher [nach Island]») und þingat [ältere Form für hingat] til lands («hierher [nach Island] ins Land»). Die S-Version ist demnach auch in dieser Distanziertheit abgeschwächt worden. Der letzte Verweis in S zielt wiederum auf eine über die sprachliche oder regionale Gemeinsamkeit hinausreichende Erinnerungsgemeinschaft ab: ok varð þá alkristit allt Ísland af hans ráðum, ok hafa menn þær minjar hans þingat til lands (S-Version, Kap. 35, S. 246; «und dann wurde durch sein Zutun ganz Island gänzlich christlich und die Leute brachten die Erinnerungen an ihn hierher in das Land.»). Auf der Basis der Einbindung der norwegischen Geschichte in die isländische wird eine neue gemeinsame Identität zwischen Norwegen und Island hergestellt, die über die sprachlichen, regionalen und kulturellen Gemeinsamkeiten erhaben ist: eine religiöse Identität. Gleichzeitig werden aus dieser aber ganz offensichtlich die Dänen und Schweden ausgenommen. 502 So stellt Zernack heraus, dass „ es erst im Zusammenwirken der beiden christlichen Bekehrerkönige gelingen konnte, die Alleinherrschaft Harald Schönhaars (†933) wiederzuerrichten und endgültig zu etablieren. “ 503 Damit bezieht dieser Text bewusst Stellung in den Auseinandersetzungen des Bürgerkriegs in Norwegen, in denen König Sverrir an die 502 Vgl. Zernack 1998, S. 89. 503 Vgl. ebd., S. 84. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 204 Macht strebte und für dessen Machtlegitimation die ÓlO eine unabhängige christliche Tradition Norwegens zu eröffnen versuchte. Zernack argumentiert überzeugend dafür, dass der Text mit vornehmlich religiösen Motiven eine politische Geschichte Norwegens konzipiert und genealogische Ungereimtheiten in den verschiedenen Herrscherdynastien durch deren Überbrückung eliminiert, um deren Legitimität aus der biblischen Geschichte herzuleiten. 504 Sie regt an, dass die ÓlO (in ihrer ursprünglichen lateinischen Fassung) daher ähnlich wie die Königssaga des norwegischen Königs Sverrir (Sverris saga) eine propagandistische Auftragsarbeit habe sein können. Allerdings würde das nicht die Entstehung der Übersetzungen mit ihren spezifischen Stilmitteln erklären. Es macht den Anschein, als konstruieren die Verfasser über die propagandistische Aussage hinaus mit ihren Übersetzungen auch eine unauflösbare Verbindung Olaf Tryggvasons und Olaf des Heiligen mit der isländischen Gesellschaft, und zwar auf Basis der norwegischen Geschichte. Sie vereinnahmen die Könige geradezu für ihre eigene Vergangenheit. Dies wird nicht nur im Prolog der A-Version deutlich, in der die beiden Könige als Heilsbringer Islands bezeichnet werden, sondern auch in weiteren Anmerkungen wie der folgenden: at hann er foringi allra Norðmanna […]. Lofum Guð fyrir nafn hvárstveggja Óláfs ok gerum Guð þakkir at hann sendi oss slíka menn. / ok allir Norðmenn hafa hann sinn foringja ok árnanda (S-Version, Kap. 44/ A-Version, Kap. 54, S. 273; «dass er [d.i. Olaf] der Anführer aller Nordleute ist […]. Loben wir Gott für die beiden Olafe und sagen wir Gott Dank, dass er uns solche Männer schickte. / und alle Nordleute haben ihn [d.i. Olaf] zum Anführer und Fürsprecher»). Hier sind offenbar alle Nordleute, darunter werden sowohl Norweger als auch Isländer verstanden, über die beiden Olafe miteinander verbunden. Die gemeinsame politisch-religiöse Identität soll beide Gemeinschaften in derselben Vergangenheit fundieren. Daraus ergibt sich, dass die Isländer zum Zweck ihrer eigenen Fundierung der (bzw. den) norwegischen Königsdynastie(n) eine einheitliche Geschichte lieferten, deren Fortgang sie so für ihre eigenen Identitätsziele kontrollieren konnten. 5.6 Der hypoleptische Diskurs als Gedächtnis der Literatur Nach der ÓlO schließen sich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts viele weitere Texte an den hypoleptischen Diskurs an, mithilfe dessen sich eine neue Form der Herstellung kultureller Kontinuität und Kohärenz ausbildete. Im Folgenden soll dargelegt werden, wie sich daraus eine eigenständige skripturale Erinnerungskultur entwickelte, da sie eine zuvor der mündlichen Erinnerung nicht inhärente Sinngebung enthält sowie sich ein ‹Problem› zu eigen macht, das als Antrieb ihres Diskurses dient: eine gesamtisländische Identität durch Geschichte. Das Gedächtnis der altnordischen Historiographie ist demnach sein hypoleptischer Diskurs, mithilfe dessen Texte sowohl aneinander erinnern als auch die Anschlussfähigkeit der fundie- 504 Vgl. ebd., S. 92. 5.6 Der hypoleptische Diskurs als Gedächtnis der Literatur 205 renden Texte für die Zukunft gesichert wird, wie im Folgenden näher ausgeführt werden soll. Wie die Analyse der ÓlO im vorangegangenen Kapitel zeigen konnte, ist für die nach der Íb. entstandenen Texte charakteristisch, dass nicht mehr ausschließlich mündliche Erinnerungen einem Text zugrunde gelegt wurden, sondern diese wiederum über die Schrift (einen Text bzw. einen Verfasser) kritisch erschlossen wurden. Das Aufgreifen von Erinnerungen aus einem schriftlichen Text wird durch den Verfasser als authentifizierten Erinnerungsträger markiert. Das zeigt, dass beide Medien zunächst funktionsäquivalent als Medien des kulturellen Gedächtnisses betrachtet wurden, was wiederum den steten Medienwechsel ermöglichte, der die für das isländische Mittelalter typische Interferenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (wobei die Identität durch ‹rituelle› sowie ‹textuelle Kohärenz›hergestellt wurde) zur Folge hatte. Der Fokus der skriptural geprägten Erinnerungskultur lag allerdings weiterhin auf den Erinnerungsträgern, d.h. auf den Verfassern von Texten. Charakteristisch dafür ist, dass durch den schriftlichen Erinnerungsträger dessen Erinnerung (durch die Schrift) präsent (anschlussfähig) gehalten wird. Das ermöglicht, große Zeitspannen bis zur Wiederaufnahme zu überbrücken. Eine typische Verwendung dieser präsentischen Erinnerung findet man beispielsweise in einer Passage der Hkr. in Snorri Sturlusons Saga über Olaf Tryggvason Anfang des 13. Jahrhunderts: Svá segir Ari prestr Þorgilsson, at Hákon jarl væri þrettán vetr yfir f ǫ ðurleifð sinni í Þrándheimi, áðr Haraldr gráfeldr fell, en sex vetr ina síðustu, er Haraldr gráfeldr lifði, segir Ari, at Gunnhildarsynir ok Hákon b ǫ rðusk, ok stukku ýmsir ór landi. (Saga Óláfs Tryggvasonar, Hkr. I, Kap. 14, S. 239) So berichtet der Priester Ari Þorgilsson, dass Jarl Hákon dreizehn Jahre über sein Erbe in Trondheim geherrscht habe, ehe Haraldr gráfeldr fiel, und über die letzten sechs Winter, die Haraldr gráfeldr noch lebte, erzählt Ari, dass die Söhne von Gunnhildr und Hákon sich bekämpft sowie einander aus dem Land vertrieben hätten. Snorris Hkr. ist zudem ein anschauliches Beispiel für die Anwendung jener Kriterien des hypoleptischen Diskurses, die in der Íb. noch im Ansatz und in der ÓlO par excellence angewendet werden. Dort gibt Snorri im Prolog Ari als seine Hauptquelle an und schildert an jenen anschließend wie folgt seinen Umgang mit dessen Quellenqualifikation: Ari prestr inn fróði Þorgilsson, Gellissonar, ritaði fyrstr manna hér á landi at norrœnu máli frœði, bæði forna ok nýja. [...] Var hann forvitri ok svá gamall, at hann var fœddr næsta vetr eptir fall Haralds konungs Sigurðarsonar. Hann ritaði, sem hann sjálfr segir, ævi Nóregskonunga eptir s ǫ gu Odds Kolssonar, Hallssonar af Síðu, en Oddr nam at Þorgeiri afráðskoll, þeim manni, er vitr var ok svá gamall, at hann bjó þá í Niðarnesi, er Hákon jarl inn ríki var drepinn. (Hkr., Prolog, S. 5 f.) Der Priester Ari inn fróði Þorgilsson, der Enkel des Gellir, schrieb als erster der Leute hier im Land [geschichtliches] Wissen, sowohl altes als auch neues, in norröner Sprache. [...] Er war wissend und so alt, dass er im Winter nach dem Tod des Königs Harald Sigurðarson geboren wurde. Er schrieb, wie er selbst sagt, die Lebensgeschichten der Norwegerkönige gemäß dem Bericht von Oddr Kolsson, dem Sohn 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 206 von Hallr von Síða, und Oddr wiederum bekam diesen von Þorgeirr afráðskoll, jenem Mann, der weise war und so alt, dass er damals in Niðarnes wohnte, als Jarl Hákon inn ríki getötet wurde [ca. 995]. Hieran wird deutlich, dass Ari offenbar in seiner Snorri noch vorliegenden älteren Íb.-Version, sem hann sjálfr segir («wie er selbst sagt»), einen Bericht über die Lebensdaten der Norwegerkönige schrieb, den er von Oddr Kolsson hatte, dem Enkel von Síðu-Hallr, der in der Íb. eine entscheidende Rolle bei der Christianisierung spielt. Kolr wiederum habe sein Wissen von einem gewissen Þorgeirr afráðskollr, einem sehr weisen und alten Erinnerungsträger. Weiterhin greift Snorri auch auf drei von Aris Gewährspersonen, Teitr, Þóríðr (Kap. 1, S. 4) sowie Hallr (Kap. 9, S. 21), wie folgt zurück: Hallr var maðr stórvitr ok minnigr. Hann munði þat, er Þangbrandr prestr skírði hann þrévetran. Þat var vetri fyrr en kristni væri í l ǫ g tekin á Íslandi. [...] Hallr andaðisk níu vetrum síðar en Ísleifr byskup. Þá var Hallr at vetratali nírœðr ok fj ǫ gurra vetra. [...] Teitr, sonr Ísleifs byskups, var með Halli í Haukadal at fóstri ok bjó þar síðan. Hann lærði Ara prest, ok marga frœði sagði hann honum, þá er Ari ritaði síðan. Ari nam ok marga frœði at Þuríði, dóttur Snorra goða. Hon var sp ǫ k at viti. Hon munði Snorra, f ǫ ður sinn, en hann var þá nær hálffertøgr, er kristni kom á Ísland, en andaðisk einum vetri eptir fall Óláfs konungs ins helga. Því var eigi undarligt, at Ari væri sannfróðr at fornum tíðendum bæði hér ok útan lands, at hann hafði numit at g ǫ mlum m ǫ nnum ok vitrum, en hann sjálfr námgjarn ok minnigr. Hallr war ein sehr weiser Mann und hatte ein gutes Gedächtnis. Er erinnerte sich daran, dass der Priester Þangbrandr ihn als Dreijährigen taufte. Das war ein Jahr, bevor das Christentum in Island per Gesetz angenommen wurde. [...] Hallr starb neun Jahre später als Bischof Ísleifr. Da war Hallr 94 Jahre alt. [...] Teitr, Bischof Ísleifrs Sohn, war bei Hallr im Haukadalr in Pflegeschaft und wohnte dort später. Er unterrichtete den Priester Ari und übermittelte ihm viel [geschichtliches] Wissen, welches Ari später niederschrieb. Ari erhielt auch viel Wissen von Þuríðr, der Tochter des Goden Snorri. Sie war sehr klug. Sie erinnerte ihren Vater Snorri, der fast 35 Jahre alt war, als das Christentum nach Island kam, und er starb ein Jahr nach dem Tod von König Olaf dem Heiligen. Daher war es nicht verwunderlich, dass Ari großes Wissen hinsichtlich weit zurückliegender Ereignisse sowohl hier als auch im Ausland hatte, denn er bekam es von alten und weisen Männern übermittelt. Ari selbst war außerdem wissbegierig und hatte ein gutes Erinnerungsvermögen. Snorri knüpft also an die Informationen, die Ari zu diesen Personen bereits in der Íb. festhält, an und ergänzt diese noch zur Betonung ihres Alters mit den genau errechneten Altersangaben. In die Aufzählung der Erinnerungsträger, von denen Ari seine Erzählungen erhalten hatte, bettet Snorri nun nach dem gleichen Prinzip der Quellenkette Qualifizierungen zu Aris Verlässlichkeit ein. Auch in seiner Óláfs saga helga 505 in der Hkr. rekurriert Snorri wie folgt auf Ari und dessen Quellen: 505 Zur Handschriftenüberlieferung s. Bjarni Aðalbjarnarson 2002, S. CV-CIX sowie weiterführende Literatur. 5.6 Der hypoleptische Diskurs als Gedächtnis der Literatur 207 Þessa grein konungdóms hans ritaði fyrst Ari prestr Þorgilsson inn fróði, er bæði var sanns ǫ gull, minnigr ok svá gamall maðr, at hann munði þá menn ok hafði s ǫ gur af haft, er þeir váru svá gamlir, at fyrir aldrs sakir máttu muna þessi tíðendi, svá sem hann hefir sjálfr sagt í sínum bókum ok nefnda þá menn til, er hann hefði frœði af numit. (Óláfs saga helga, ÍF XXVII, Hkr. II, Kap. 179, S. 326) 506 Diesen Bericht über seine [d.i. König Olafs] Herrschaft verfasste zuerst der Priester Ari Þorgilsson der Weise, der sowohl ehrlich war, ein gutes Gedächtnis besaß als auch so ein alter Mann war, dass er sich an die Männer erinnerte, von denen er seine Geschichten hatte, die wiederum so alt waren, dass sie wegen ihres Alters jene Ereignisse erinnern konnten, von denen er [d.i. Ari] selbst in seinen Büchern berichtet hat und von denen er die Männer mit Namen nannte, von denen er sein Geschichtswissen bekommen hatte. Diesen Verweis entwickelt Snorri nun in Analogie zu den schon von Ari angewandten Kriterien. Mittels dieser Quellenkette versucht er anknüpfend an Aris Gewährspersonen eine lückenlose Erinnerung bis in seine Gegenwart nachzuweisen. In diese Reihe stellt er aber nicht nur die mündlichen Erinnerungsträger, sondern auch Ari, über den er als Mittelsmann an die mündliche Erinnerung anschließen kann. Als ein weiteres Beispiel lässt sich der anfangs bereits auszugsweise zitierte Prolog der Sverris saga noch einmal anführen. Dort heißt es an etwas späterer Stelle in Bezug auf den zweiten Teil des Buches, der erst nach König Sverrirs Tod verfasst worden sein muss und über den er demnach nicht mehr selbst bestimmen konnte: Inn síðarri hlutr bókar er ritaðr eftir þeira manna frás ǫ gn er minni h ǫ fðu til svá at þeir sjálfir h ǫ fðu sét ok heyrt þessi tíðendi, ok þeir menn sumir h ǫ fðu verit í orrostum með Sverri konungi. Sum þessi tíðendi váru svá í minni fest at menn rituðu þegar eftir er nýorðin váru, ok hafa þau ekki breytzk síðan. En vera kann þat ef þeir menn sjá þessa bók er allkunnigt er um at þeim þykki skyndiliga yfir farit í m ǫ rgum st ǫ ðum ok mart þat eftir liggja er frásagnar myndi vert þykkja, ok megu þeir þat enn vel láta rita ef þeir vilja. En þó at sumir hlutir sé hér annan veg sagðir en mest líkendi myndi á þykkja í orrostum fyrir fj ǫ lmennis sakir þá vitu þó allir sannendi til at þetta er ekki aukit. Ok þykkir oss þat líkara at þær sagnir muni vera við sannendum er á bókum eru sagðar frá ágætism ǫ nnum þeim er verit hafa í forneskju. (Sverris saga, Prolog, S. 3 f.) Der zweite Teil des Buches wird gemäß dem Bericht jener Männer geschrieben, deren Erinnerung darauf zurückgeht, dass sie selbst jene Ereignisse gesehen oder davon gehört hatten und einige jener Männer mit König Sverrir in Kämpfen gewesen waren. Einige dieser Ereignisse wurden so an das Gedächtnis geheftet, dass die Leute sofort danach aufschrieben, was sich gerade begeben hatte, und sich das seither nicht verändert hat. Und es ist möglich, falls Männer, die darüber informiert sind, dieses Buch ansehen, dass sie es an vielen Stellen für zu knapp berichtet halten und zu viel unerwähnt 506 Darüber hinaus verweist Snorri noch an einer weiteren Stellen auf Ari: Kap. 246, S. 410: at s ǫ gu Ara prests ins fróða sowie in der etwas älteren eigenständigen Óláfs saga helga inni sérstaka, Kap. 10, S. 431: at s ǫ gu Ara prests ins fróða Þorgilssonar. Zur komplexen Handschriftenüberlieferung der eigenständigen Olafs Saga s. Oscar Albert Johnsen/ Jón Helgason. Saga Óláfs konungs hins helga: Den store saga om Olav den hellige efter pergamenthåndskrift i Kungliga biblioteket i Stockholm nr. 2 4to med varianter fra andre håndskrifter, 2. In: Det norske historiske kildeskriftfond skrifter 53. Oslo: Dybwad 1941, S. 872-7. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 208 finden, das einem Bericht wert gewesen wäre. In diesem Fall können sie es ebenfalls aufschreiben lassen, wenn sie wollen. Und obwohl manche Dinge hier auf andere Weise erzählt werden, als in Kämpfen wegen der großen Anzahl der Kämpfenden [oder: wegen des Unterschiedes der Truppenstärke] naheliegen würde, wissen doch alle die Wahrheit darüber, dass es nicht hinzugefügt ist. Uns scheint es wahrscheinlicher, dass jene Berichte der Wahrheit entsprechen, die von ruhmvollen Männern der Vergangenheit in Büchern erzählt werden [oder: erzählen]. 507 Diese in allen historiographischen Texten festgehaltenen Kriterien machen deutlich, dass die Historiographen (darunter auch Snorri) ihre Textmotivation ganz im Sinne des hypoleptischen Diskurses formuliert haben und dabei nicht einer eigens erschlossenen ‹historischen Methode› folgen. Sie intendieren mit der Form dieses kritischen Anschlusses die mündlichen Berichte mit dem Ziel zu erinnern, sich der ‹Wahrheit› möglichst genau anzunähern. In der kurz vor der Hkr. um 1220 verfassten eigenständigen Saga des Heiligen Olaf, Óláfs saga helga inni sérstaka, äußert Snorri seine Bedenken in Bezug auf Erzählungen, die manche nicht genau ihres ursprünglichen Wortlautes wiedergeben können, weil sie sich durch die Zeit hinweg nicht daran erinnern könnten, wie sie ihnen einst erzählt worden wären. Je mehr Zeit also zwischen der Erzählung und deren Wiederaufnahme vergeht, desto unsicherer ist die ‚ korrekte ‘ Wiedergabe: En s ǫ gur þær er sagðar eru, þá er þat hætt at eigi skiliz ǫ llum á einn veg, en sumir hafa eigi minni þá er frá líðr hvernig þeim var sagt, ok gengz þeim mj ǫ k í minni optliga, ok verða frásagnir ómerkilegar. Þat var meir en cc. vetra xii. r ǫ ð, er Ísland var byggt áðr menn tøki hér s ǫ gur at rita, ok var þat l ǫ ng æfi [...]. (Ólafs saga helga hinni sérstaka, Hkr. II, Prolog, S. 422) Und auf jene Erzählungen, die hier geschildert werden, trifft zu, dass sie nicht alle auf nur eine Weise verstanden werden können. Einige Leute haben keine Erinnerung daran, wie ihnen etwas erzählt wurde, und jene Erzählungen verändern sich oft sehr in der Erinnerung, woraus wiederum unverbürgte Berichte entstehen. Es geschah mehr als 212 Jahre zuvor, dass Island besiedelt wurde, bevor die Leute hier die Erzählungen aufzuschreiben begannen, und das war eine lange Zeit [...]. Diese Unzuverlässigkeit der Quellen konnten die Historiographen nur über die Anschlussfähigkeit an bestehende Vergangenheitsversionen im hypoleptischen Diskurs umgehen. Neben Aris Rolle als Erinnerungsträger für spätere Texte, darunter zuvorderst für die Hkr., lässt sich auch ein häufiger Bezug zum um ca. 1150 von Eiríkr Oddsson verfassten, aber verlorenen * Hryggjarstykki feststellen. Auf diesen Text bezieht sich 507 Anhand dieser Episode lassen sich sowohl die Faktoren Selektivität, mit denen ein Verfasser konfrontiert war als auch das problematische Verhältnis zwischen Erfahrung und ihrer Externalisierung in die Schriftlichkeit nachvollziehen (vgl. Hermann 2014, S. 32 f.). Daraus folgert Hermann im Hinblick auf die mittelalterliche Wahrnehmung verschiedener Vergangenheitsversionen: „ Textual representations that do not depict the past in the same ways will not merely represent the past - or more precisely competing memories about the past - but also actively take part in the construction of the past, in as much as they will be formative for how the past is understood among the recipients “ (ebd., S. 33). 5.6 Der hypoleptische Diskurs als Gedächtnis der Literatur 209 nicht nur Snorri, sondern vor allem auch die Morkinskinna. In der Hkr. spricht Snorri Eiríkr als Erinnerungsträger nach demselben Prinzip wie den anderen eine umfassende Kenntnis sowie den Status eines Augenzeugen zu, da er offenbar lange Zeit in Norwegen gewesen ist und daher dort vieles miterlebt sowie vor Ort gehört und gesehen hat: Hallr, sonr Þorgeirs læknis Steinssonar, var hirðmaðr Inga konungs ok var við staddr þessi tíðindi. Hann sagði Eiríki Oddssyni fyrir, en hann reit þessa frás ǫ gn. Eiríkr reit bók þá, er k ǫ lluð er Hryggjarstykki. Í þeiri bók er sagt frá Haraldi gilla ok tveimr sonum hans ok frá Magnúsi blinda ok frá Sigurði slembi, allt til dauða þeira. Eiríkr var vitr maðr ok var í þenna tíma l ǫ ngum í Nóregi. Suma frás ǫ gn reit hann eptir fyrirs ǫ gn Hákonar maga, lends manns þeira Haraldssona. Hákon ok synir hans váru í ǫ llum þessum deilum ok ráðagørðum. Enn nefnir Eiríkr fleiri menn, er honum s ǫ gðu frá þessum tíðendum, vitrir ok sannreyndir, ok váru nær, svá at þeir heyrðu eða sá atburðina, en sumt reit hann eptir sjálfs sín heyrn eða sýn. (Haraldssona saga, Hkr. III, ÍF XXVIII, Kap. 11, S. 318 f.) Hallr, der Sohn von Þorgeirr læknir Steinsson, war der Gefolgsmann von König Ingi und bei diesen Ereignissen zugegen. Er berichtete Eiríkr davon, und jener schrieb diese Erzählung auf. Eiríkr schrieb jenes Buch, das Hryggjarstykki genannt wird. In diesem Buch wird von Haraldr gilli und seinen zwei Söhnen sowie von Magnús blindi und von Sigurðr slembr berichtet sowie alles bis zu ihren Todestagen notiert. Eiríkr war ein kundiger Mann und in jener Zeit lange in Norwegen. Einige Berichte schrieb er nach der Erzählung von Hákon magi, dem Lehensmann der Söhne von Harald. Hákon und dessen Söhne waren in allen jenen Streitsachen und Beratungen dabei. Außerdem nennt Eiríkr viele Männer, die ihm von diesen Begebenheiten berichteten, weise und die Wahrheit erforschend. Sie waren so nah dabei, dass sie diese Ereignisse hörten oder sahen. Einiges schrieb er auch gemäß dem auf, was er selbst hörte oder sah. Eiríkrs Status als Augenzeuge oder Ohrenzeuge wird noch mehrmals betont, so beispielsweise in Form von Quellenketten des Hören-Sagens. 508 Die Morkinskinna, entstanden um 1220 und überliefert in einem Manuskript von 1275, verweist dann in Form eines ganzen Kapitels, wahrscheinlich als Einleitung für die darauf folgenden Berichte, auf Eiríkr als Erinnerungsträger: Nú er at segja frá sonum Haralds konungs, Inga ok Sigurði, sem sagt hefir vitr maðr ok skynsamr, Eiríkr Oddsson, ok er þessi frás ǫ gn mest eptir s ǫ gu Hákonar maga, lends manns. Hann sat yfir ok sagði frá þessum tíðendum er ritat var fyrsta sinni, en hann sjálfr ok synir hans váru í þessum ferðum ok í flestum orrostum. Váru honum þeir 508 Svá segir Eiríkr Oddsson, er fyrsta sinn reit þessa frás ǫ gn, at hann heyrði í Bj ǫ rgyn segja frá þessum atburðum Einar Pálsson (Hkr. Haraldssona saga, Hkr. III, Kap. 7, S. 313; «So berichtet Eiríkr Oddsson, der als erster diesen Bericht aufschrieb, dass er in Bergen Einarr Pálsson von diesen Begebenheiten sprechen gehört habe.»). Svá sagði Guðríðr Birgisdóttir, systir Jóns erkibyskups, Eiríki Oddssyni, en hon lézk Ívar byskup heyra þat mæla (Kap. 10, S. 317; «So erzählte Guðríðr Birgisdóttir, die Schwester des Erzbischofs Jón, Eiríkr Oddsson, und sie sagte, dass sie das Bischof Ívarr habe sagen hören.»). Svá sagði Eiríki Ketill prófastr, er varðveitti Máríukirkju, at Sigurðr væri þar grafinn (Kap. 12, S. 320; «So berichtete der Probst Ketill, der die Mariakirche verwaltete, Eiríkr, dass Sigurðr dort begraben worden sei.»). 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 210 menn kunnir er hér eru nefndir. Hefir sá ok er ritaði s ǫ guna fleiri sannorða menn nefnda til þessar frásagnar. (Morkinskinna II, ÍF XXIV, Kap. 96, S. 185) Nun ist von den Söhnen König Haralds zu berichten, Ingi und Sigurðr, wie es ein weiser und verständiger Mann, Eiríkr Oddsson, erzählt hat. Dieser Bericht stammt zum großen Teil von der Erzählung Hákon magis, einem Lehensmann. Er beaufsichtigte und erzählte diese Ereignisse, als sie das erste Mal aufgeschrieben wurden. Er selbst und seine Söhne waren auf jenen Reisen und in den meisten Kämpfen dabei gewesen. Er kannte die Männer, die hier genannt werden. Derjenige, der diese Erzählung schrieb, hat auch viele glaubwürdige Männer als Zeugen für diese Berichte benannt. Der Verfasser folgt mit auffälliger Ähnlichkeit demselben Prinzip, wie die zuvor genannte Passage der Hkr. Eiríkr wird dort mit bestimmten Charakteristika beschrieben, die seine Zuverlässigkeit als Erinnerungsträger bezeugen, doch letztendlich wird auf die Augenbzw. Hörensagenzeugen mit Angabe der Quellenkette des Erinnerungsprozesses verwiesen, die die Berichte erst als verbürgt markieren und damit der ‹Wahrheit› am nächsten kommen. Man kann aufgrund dieser offenbar konventionalisierten Referenzstruktur nicht länger von einer ‹historischen Methode› sprechen, wie es Heinrich Beck und an ihn anknüpfend Jiřî Starý tun, 509 sondern muss dieses Phänomen in einen erweiterten Zusammenhang stellen: Der hier präsentierte Umgang mit den für die Berichte zuständigen Erinnerungsträgern geht weit über reine Intertextualität hinaus, da die Referenz auf einen Text allein nicht ausreicht, um die Berichte zu authentifizieren. An dieser Stelle bewegt sich Erinnerung auf einer anderen Ebene, es geht nicht länger nur um den Text als Medium kultureller Erinnerung, sondern um eine im Text entstandene Erinnerung an den Erinnerungsprozess selbst - einer Erinnerungskultur innerhalb der Texte. Diese spezifisch auf die Authentifizierung historischen Wissens ausgerichtete Erinnerungskultur wurde offenbar, angetrieben durch das ‹Problem› (der Suche nach der eigenen Geschichte zur Fundierung einer gesamtisländischen Identität) innerhalb der historiographischen Texte entwickelt, um Vergangenheit entsprechend der bekannten mündlichen Erinnerungsform außerhalb von Verweisen auf eine nonpersonale, formelhafte mündliche Erinnerung (wie svá er sagt) verifizieren zu können und zwar auf der Basis von speziellen Erinnerungsträgern bzw. Augenzeugen, die als Personen aufgrund ihrer nachweisbaren Nähe zur Erinnerungsentstehung oder dem Geschehen für die Authentizität eines Berichtes bürgen konnten: „ Literarische Werke können intertextuelle Verweise funktionalisieren, um ihren Anspruch auf Deutungshoheit anzuzeigen oder um andere Medien der Erinnerungskultur [wie die Mündlichkeit] mit Autorität auszustatten. “ 510 Darüber hinaus wird das System aber auch übertragen: in Aris Schilderung der Erinnerung an die Gesetzessprecherabfolge ging es um kulturelles Spezialwissen, das nur 509 Vgl. Starý 2013, S. 118. 510 Erll 2005, S. 171. 5.7 Das Gedächtnis der Literatur als Abgrenzung zu Erinnerungskonkurrenzen 211 wenigen Erinnerungsspezialisten (d.h. einer differenzierten Partizipationsstruktur) vorbehalten war. Im Fall der historiographischen Texte geht es zwar noch immer um kulturelle Erinnerung, jedoch bezogen auf historisches Wissen. Hierin erkennt man im Ansatz die Wertigkeit dieser Kenntnisse für die mittelalterlichen Historiographen: sie wurden als genauso formativ eingestuft. Formative Erinnerungen stellen kulturelle Kohärenz her und stiften Identität. Mittels des Gedächtnisses der Historiographie, das auf der Ebene des hypoleptischen Diskurses das ‹Problem› der (gesamtisländischen) Identität zu lösen versucht, entsteht eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: „ Zugleich vermag Literatur […] selbst kulturelles Gedächtnis zu stiften, indem sie einen vorgängigen Text durch intertextuelle Bezugnahme zum fundierenden werden lässt. “ 511 Damit stellt der hypoleptische Diskurs eine konventionalisierte Erinnerungsform dar, mit deren Hilfe die historiographischen Texte als fundierende Texte im ‹Traditionsstrom› gesichert werden. Mit ihm entsteht ein neues Register des kulturellen Gedächtnisses, nämlich ein Gedächtnis der Literatur. 5.7 Das Gedächtnis der Literatur als Abgrenzung zu Erinnerungskonkurrenzen Auf der einen Seite stiftet die Historiographie also Identität, indem sie ein gesamtisländisches Thema problematisiert und sich auf die Suche nach einer gemeinsamen Geschichte begibt, wobei die Grundlage dieses Identitätsdiskurses schon in der vorchristlichen einheimischen Dichtung zu sehen ist. Auf der anderen Seite entsteht Identität aber auch dadurch, dass sich die Historiographen durch ihre Teilhabe an diesem Diskurs von anderen Geschichtsdarstellungen (also Erinnerungskonkurrenzen) abgrenzen, die sich einer anderen Identitätsfundierung verschrieben haben. So teilen sie diesen Diskurs beispielsweise nicht mit den Sagas über die Königsdynastien anderer Länder wie die der Dänenkönige (Knýtlinga saga, Skjöldunga saga, Jómsvíkinga saga, die drei Sagas über die Knút-Könige und die Ágrip af s ǫ gu Danakonunga) aus der Zeit vom Ende des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Hier finden sich bis auf wenige nonpersonale Quellenangaben und Verweise auf Skalden kaum Referenzen. Allerdings zeigt die Vergangenheit (und damit die Identität) der Dänen auch nur wenige Überschneidungspunkte mit der isländischen Geschichte, weshalb es sich hier nicht um tatsächliche Erinnerungskonkurrenzen handelte. Anders verhält es sich mit der Geschichte Norwegens; während sich nämlich der ‹Traditionsstrom› in Island gegen Ende des 12. Jahrhunderts zu entwickeln beginnt, entstehen (vermutlich) zur selben Zeit, zwischen 1180 und 1190, in Norwegen drei historiographische Synopsen der norwegischen Geschichte: zwei lateinische Texte (die H.N. um 1170 sowie die H.A. von Theodoricus monachus um 1180) und die 511 Ebd., S. 171, in Anlehnung an die Assmann ’ schen Studien. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 212 volkssprachlichen Ágrip um 1190. 512 Da die auf Island verfassten Königssagas und die drei norwegischen Synopsen mit der norwegischen Geschichte dasselbe Thema behandeln, stellt sich die Frage, ob sie dies auch auf dieselbe Weise tun. Zunächst einmal fällt auf, dass die norwegischen Texte von den isländischen Historiographen offenbar nicht als Teil des identitätsstiftenden hypoleptischen Diskurses betrachtet werden, da sie als Quelle weder offiziell einbezogen, noch gemäß den Kriterien kritisch aufgegriffen werden. Dies lässt sich nur damit erklären, dass die norwegischen Texte Erinnerungskonkurrenzen darstellten, die dem Identitätsbedürfnis der isländischen ‹Interpretationsgemeinschaft› zuwiderliefen. Für die H.N. wurde das bereits sehr deutlich herausgestellt durch den Bezug auf die behauptete Abstammung der Isländer von Mördern und Gesetzlosen sowie hinsichtlich der Darstellung Islands als eine der tributpflichtigen Inseln Norwegens, aber auch die beiden anderen Texte fundieren (wie zu erwarten ist) nicht die isländische, sondern die norwegische Identität. 513 Man könnte also sagen, dass von außen, aus sowohl literarischer, aber vor allem aus historischer norwegischer Perspektive, die isländischen Vergangenheitsdarstellungen eine sog. counter-history (Gegen-Geschichte) der unterdrückten Isländer darstellen. In ihrem Fall führten die begünstigenden Faktoren der Abgeschiedenheit und reger Literaturproduktion dazu, dass jene Gegenperspektive im Nachhinein bestimmt hat, welche Geschichte erinnert wird. Solche Erinnerungskonkurrenzen müssen jedoch in den Texten nicht zwingend nur auf der Textebene (wie in Epilogen und konkreten Aussagen) auftreten, sondern können auch auf der Metaebene konstruiert werden, beispielsweise in Form verschiedener Darstellungsweisen oder -konventionen wie bestimmten literarischen Verfahren, Kombinationen und Konfigurationen von Narrativen und eben durch Strategien der historischen Erklärung, die in dieser Abhandlung vorwiegend betrachtet werden. 514 Im Kapitel zur um 1200 entstandenen ÓlO wurde bereits kurz auf die divergierenden Erinnerungen bezüglich der Todesumstände Olaf Tryggvasons eingegangen, die dort besonders ausführlich und kritisch aufgegriffen und bewertet wurden. Das- 512 Da diese drei Texte auffällige Parallelen zeigen, sollen an dieser Stelle auch die lateinischen Texte einbezogen werden, deren Funktion für die norwegische Identität offenbar zentraler war als die der lateinischen Texte auf Island für die isländische Identität. 513 So hat der norwegische Philologe Gustav Indrebø beispielsweise in Bezug auf die Ágrip festgestellt, dass auf der Textebene kaum Interesse, sogar etwas Ignoranz gegenüber den Isländern zu erkennen sei, was naturgemäß nicht dem Fundierungsbedürfnis der isländischen Historiographen entsprochen haben wird (vgl. Gustav Indrebø. ‚ Aagrip ‘ . In: Edda. Nordisk tidsskrift for litteraturforskning, XVII. Oslo 1922. S. 18-65, S. 58-59). Auch die H.A. fügt sich in die Distanzierung der Norweger von den Isländern ein, indem Abgrenzungen vorgenommen und die norwegische (königliche) Identität in den Vordergrund gestellt wird (vgl. Peter Foote. Introduction. In: Theodoricus Monachus: Historia de antiquitate regum Norwagiensium. An Acoount of the Ancient History of the Norwegian Kings. Ed. by David McDougall and Ian McGougall. London 1998. Viking Society for Northern Research, 11. S. vii-xxxi, S. xxix). 514 Hierzu erhält man Anreize in den verschiedensten Forschungsdisziplinen, die sich mit Literatur als Medium des kulturellen Gedächtnisses beschäftigen (überblickshaft hierzu Erll 2005 sowie weiterführende Literatur). All jene Darstellungsweisen hier zu berücksichtigen, würde den Rahmen sprengen, weshalb sie an dieser Stelle nur als Anregung genannt werden. 5.7 Das Gedächtnis der Literatur als Abgrenzung zu Erinnerungskonkurrenzen 213 selbe Ereignis berichten auch die zur selben Zeit vermutlich in Nidaros, Norwegen, entstandenen Ágrip. Dort wird ebenfalls auf die unterschiedlichen Erinnerungen zu Olafs Tod hingewiesen: En til falls Óláfs konungs var ekki vitat; hitt var sétt, at [...]. Sumir menn geta hann á báti braut hafa komizk ok segja, at hann hafi verit sénn síðan í munklífi n ǫ kkvuru á Jórsalalandi. En sumir geta, at hann hafi yfir borð fallit. En hvatki er lífi hans hefir lukt, þá er þat líkiligt, at guð hafi sálina. (Kap. 20, S. 23 f.) Doch über Olafs Tod wurde nichts bekannt; es wurde gesehen, dass [...]. Einige Leute meinen, dass er auf einem Boot davongekommen sei und erzählen, dass er irgendwo in Jórsalaland in einem Mönchskloster gesehen worden sei. Und manche berichten, dass er über Bord gefallen sei. Doch wie sein Leben auch geendet haben mag, es ist wahrscheinlich, dass Gott seine Seele hat. Auch die entsprechende Passage in der lateinischen H.N. formuliert ganz ähnlich, vermeidet aber alle spekulativen Aussagen und lässt diese Debatte daraufhin sogar lieber ruhen, als sich auf die Suche nach einer ‹Wahrheit› zu machen: Quare honestius hoc parum determinatum omittendo quam de re incerta falsa diffiniendo pretereamus (H.N., Kap. XVII, S. 98 f.: «For this reason it would be more creditable to omit something so unsettled than give a false explanation of such doubtful matter, and I shall pass over it.» [Übersetzung Ekrem/ Mortensen]). Hier zeigen sich eine völlig andere methodische Herangehensweise bei der Darstellung der Vergangenheit und überdies das völlige Gegenteil von einer kritischen Auseinandersetzung mit Erinnerungen, wie man sie für dieses Ereignis in der ÓlO vorfindet. Dennoch haben die offensichtlichen inhaltlichen Gemeinsamkeiten in der Forschung zu umfassend diskutierten Entlehnungsfragen geführt, die nicht zuletzt auch die heute üblichen, aber nicht unstrittigen Datierungen der norwegischen Synopsen nach sich zogen. 515 Doch unabhängig davon, von welcher Interferenz der Texte man ausgehen will, muss konstatiert werden, dass sie nicht nur inhaltlich gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, sondern auch hinsichtlich ihres grundsätzlichen Umgangs mit Erinnerungen. In den Ágrip trifft man beispielsweise in den ersten Kapiteln drei Mal auf den nonpersonalen Verweis svá er sagt (S. 8, 11, 13; «es wird erzählt»), wie man ihn auch aus der isländischen Historiographie kennt (deren Parallelen auch aufgrund derselben 515 Eine überblickshafte Zusammenfassung der Forschung zu den Relationen der Texte geben Andersson 1985, S. 201-11 und die Einführungen zu den aktuellsten Editionen und Übersetzungen (Tor Ulset. Det genetiske forholdet mellom Ágrip, Historia Norwegiæ og Historia de antiquitate regum Norwagiensium. En analyse med utgangspunkt i oversettelseteknikk samt en diskusjon omkring begrepet „ latinisme “ i samband med norrøne tekster. Oslo 1983; Debra Kunin (transl.) and Carl Phelpstead (ed.). A History of Norway and the Passion and Miracles of the Blessed Óláfr. London: Viking Society for Northern Research 2001 und Matthew J. Driscoll (ed.). Ágrip af Nóregskonungas ǫ gum. Ed. and transl. with an Introduction and Notes by Matthew J. Driscoll. Viking Society for Northern Research Text Series 10. 2nd ed. London 2008). Weiterführend hierzu sind vor allem Bjarni Einarsson. Formáli. In: ÍF XXIX. Bjarni Einarsson gaf út. Ágrip af Nóregskonungas ǫ gum. Fagrskinna - Nóregs konunga tal. Reykjavík 1984. S. V-CXXXI, Gudrun Lange. Die Anfänge der isländisch-norwegischen Geschichtsschreibung. Studia Islandica, 47. Reykjavík 1989 und Ellehøj 1965 hilfreich. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 214 Sprache und ähnlichem kulturellen Hintergrund offensichtlich sind). Danach folgen nur noch solche nonpersonalen Verweise, wie sie in dieser Abhandlung als kritisch klassifiziert worden sind, z.B. er sumir kalla (S. 5, 37; «wie es manche nennen»), at því sem sumir segja (S. 15, 25, 32, 46; «gemäß dem, was manche erzählen»), sem sumir segja, ok trúa því flestir (S. 19; «wie manche erzählen, und die meisten glauben das»), en þeira ørnefni eða ørferðir vitum vér eigi (S. 26; «aber über ihr Schicksal [oder, aber weniger wahrscheinlich: ihren ursprünglichen Namen] oder ihren Lebensweg wissen wir nichts [zu berichten]»). Mit dieser Auflistung sind jedoch schon alle Angaben über Erinnerungsträger erfasst - es gibt keine personalen Verweise (bis auf solche, die sich auf die Skalden beziehen, wenn ihre Strophen zitiert werden). Man könnte diese Parallelen mit der auf Island entstandenen Historiographie auf gemeinsame erinnerungskulturelle Strategien zurückführen oder darauf, dass die drei norwegischen Synopsen möglicherweise sowohl Sæmundr als auch Ari als Quelle nutzten. 516 Die H.N. verweigert sich hingegen jeglicher diffuser Überlieferungen, weshalb man dort auf nur sehr wenige trifft. Theodoricus teilt in seiner H.A. diese Ansicht und vermerkt an mehreren Stellen, dass er sich weiterer Ausführungen oder Bewertungen enthalte, da er sowieso zu keiner Einschätzung der Wahrheit aufgrund fehlenden Wissens kommen könne (vgl. z.B. Kap. 3, als er sich zur Landnahme Islands äußert). Damit gibt es zwar mit den nonpersonalen Verweisen auf mündliche Erinnerungen eine grundsätzliche Gemeinsamkeit im Quellenumgang zwischen den isländischen und den norwegischen Texten, aber auch entscheidende Unterschiede: keine personalen Quellenangaben und auch keine typischen Quellenketten, wie sie für die isländische Historiographie herausgestellt wurden. Unabhängig von allen Entlehnungsfragen muss man daher feststellen, dass es dort keine Quellenhierarchisierungen gibt, die als Hilfsmittel eingesetzt werden, um der ‹Wahrheit› möglichst nahe zu kommen, die überdies überhaupt nicht das Leitthema der Texte ist. Dieses Phänomen ist auf die in Island entstandene Historiographie begrenzt. Nur dort hat sich jener hypoleptische Diskurs entwickelt, der der ‹Wahrheit› verpflichtet war und das Ziel hatte, auf die Suche nach der isländischen Identität zu gehen. 517 Die isländischen Historiographen hatten offenbar kein Interesse daran, die 516 In Bezug auf diese Korrelationen gibt es noch immer keinen Forschungskonsens. Debra Kunin und Carl Phelpstead fassen knapp die möglichen Folgen unterschiedlicher Entlehnungswege zusammen: „ As Andersson says, the difference between these two positions ‘ does not appear great, but the implications of the difference are farreaching ’ (1985, 202). If the lost source [d.i. ein Mittelstext, der für etliche Gemeinsamkeiten verantwortlich sein soll] is a Norwegian text, rather than Ari ’ s Icelandic history, then ‘ we are led to believe that there was an independent Norwegian school of history writing and that the synoptics are a specifically Norwegian manifestation ’ (Andersson 1985, 202). If, on the other hand, Ágrip and Historia Norwegiae depend on Ari ’ s work this, together with Theodoricus ’ s admission of his debt to Icelandic sources (ch. 1), means that medieval Norwegian historical writing was modelled on and indebted to that of Iceland ” (Kunin/ Phelpstead 2001, S. xiv). Im Rahmen dieser Abhandlung können hierzu keine Spekulationen angestellt werden, allerdings hätte jede der beiden Textbezüge auch Einfluss auf die Beurteilung der beiden Erinnerungskulturen. 517 Dieser Unterschied lässt sich auch anhand der unterschiedlichen Motivationen unterstreichen, die der Verfasser im Prolog der H.N. für seinen Text wie folgt erläutert: Si quid uero nostris temporibus 5.7 Das Gedächtnis der Literatur als Abgrenzung zu Erinnerungskonkurrenzen 215 norwegische Synopsis in ihren identitätsstiftenden Diskurs einzubeziehen, und grenzen sich über den hypoleptischen Diskurs eindeutig von jener ab. 518 Erzähltheoretisch betrachtet bezieht die isländische Historiographie damit im ‹antagonistischen Modus› Stellung bei der Vereinbarung bzw. dem Ausschluss von bestehenden Erinnerungskonkurrenzen: Literatur greift auch aktiv ein in aktuelle Erinnerungskonkurrenzen und das Ringen um Erinnerungshegemonie. Zu Medien der Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen werden literarische Texte dort, wo sie Gegen-Erinnerung entwerfen, etwa indem sie […] andere Selbstbilder und Werthierarchien als die der dominierenden Erinnerungskultur inszenieren. […] Mit dem antagonistischen Modus bezieht der literarische Text als Medium einer von Erinnerungskonkurrenzen geprägten Erinnerungskultur Stellung. 519 Die isländische Historiographie fordert daher mit ihrer mehrere Jahrhunderte umfassenden Geschichtsdarstellung Norwegens die Erinnerungshoheit, das heißt, sie beansprucht die einzig wahre Geschichtsversion zu sein, in der die Isländer ihre eigene Identität entsprechend fundieren können. 520 Damit lassen sich die historiographischen Texte Islands zwischen 1100 und 1300 als Zirkulationsmedien des kulturellen Gedächtnisses begreifen und können daher als ‹kollektive Texte› bezeichnet werden: Anders als es bei dem Assmann ’ schen Konzept des kulturellen Textes der Fall ist, wird mit dem Begriff des kollektiven Texts jedoch auf ein Leseverhalten verwiesen, bei dem literarische Werke nicht als verbindliche Elemente, als zu erinnernde Gegenstände des memorie dignum accidisse repperi, hoc ipse addidi, quoniam multorum magnificencias cum suis auctoribus ob scriptorum inopiam a memoria modernorum cotidie elabi perspexi (H.N., Prolog, S. 52 f.: «If I have discovered any happening of our own times worth remembering, I have inserted that fact myself, since I have observed that many men ’ s splendid feats, together with their performers, sink daily into oblivion among our contemporaries owing the shortage of written records.» [Übersetzung Ekrem/ Mortensen]). Hier wird die Externalisierung der Erinnerung in die Schrift als einzig möglicher Erhalt der Erinnerungen verstanden, woraus sich eine zentrale Rolle der Schrift für den Verfasser (wohlmöglich abgeleitet von der christlichen Schriftkultur) ablesen lässt. Allerdings lässt sich daran keine Absicht der Aushandlung von Vergangenheiten oder eine gegenwartsrelativierende Funktion erkennen. Die Schrift wird hier im antik-klassischen Sinn als ‹Archiv› verstanden. 518 Allerdings nutzten sie die Texte dennoch stillschweigend als Quellen, wie beispielsweise Snorri Sturluson in seiner Hkr., jedoch mit dem entscheidenen Fehlen des kritischen Wiederaufgreifens. 519 Erll 2005, S. 179. 520 So könnte man anhand von Snorri Sturlusons Geschichtsdarstellung beispielhaft illustrieren, auf welche Weise sich die Isländer mittels ihrer eigenen Geschichtsrekonstruktion in Abgrenzung zu Norwegen fundieren konnten: „ Snorri Sturluson, for example, put great emphasis on the coercive violence of their [i.e. the kings] missionary methods. It may be suggested that, by making the pagans spokesmen for common sense in contrast to the cruelty and impetuosity of the missionary kings, Snorri was commenting on the contemporary conflict between Icelandic chieftains and the Norwegian archbishop and king and indirectly criticizing the Norwegians for their disregard of traditional Icelandic customs “ (Sawyer/ Sawyer 1993, S. 224). 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 216 kulturellen Gedächtnisses rezipiert werden, sondern als Vehikel der kollektiven medialen Konstruktion und Vermittlung von Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen. Kollektive Texte erzeugen, perspektivieren und zirkulieren Inhalte des kollektiven Gedächtnisses. 521 Aufgrund der hier herausgestellten Abgrenzung der einheimisch isländischen Historiographie von der norwegischen und der dänischen durch diesen Identitätsdiskurs ist zu erwägen, ob weiterhin an der fortwährend kontrovers diskutierten, aber beharrlich aufrechterhaltenen Genredefinition der historiographischen Texte festgehalten werden sollte. Es bietet sich möglicherweise an, ihre Aufhebung wenigstens partiell zugunsten einer Definition, basierend auf den textimmanenten Erinnerungsdiskursen, zu erwägen, die den ‚ Sitz im Leben ‘ der Texte noch deutlicher hervorheben und den Textkontexten besser entsprechen würde. 5.8 Exkurs: ‹Rituelle Kohärenz› in der semioralen Erinnerungskultur Skandinaviens Man muss im mittelalterlichen Skandinavien von einem sich reziprok beeinflussenden Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausgehen, d.h. die isländische Kultur reproduzierte ihre Identität in einer Semioralität sowohl über ‹rituelle› als auch über ‹kulturelle Kohärenz›. Gemäß der Assmann ’ schen Begriffsdefinitionen beschreiben diese beiden Kohärenzherstellungen unterschiedliche Mechanismen, die zunächst einmal grundsätzlich den Medien des kulturellen Gedächtnisses zugeordnet werden können. Über die ‹textuelle Kohärenzherstellung› wurde hauptsächlich in den vorangegangenen Kapiteln diskutiert und immer wieder darauf verwiesen, dass die Schrift nur ein Medium des kulturellen Gedächtnisses darstellt - ein weiteres ist die mündliche Erinnerung. Daher soll in Form eines kurzen Exkurses zur Abgrenzung sowie der Vollständigkeit halber auch ein Einblick in die ‹rituelle› Kohärenzherstellung zwischen 1100 und 1300 gegeben werden. 522 Durch die Entwicklung eines Gedächtnisses der Literatur, dessen Kriterien die Beschäftigung mit Erinnerungsträgern und Erinnerungsprozessen erforderte, finden nicht nur kurze Beschreibungen über die vorchristliche, sondern zum großen Teil auch über die gegenwärtige semiorale Erinnerungskultur Eingang in die Texte. Erinnerung entsteht erst durch Kommunikation und durch Wiederaufnahme der Berichte. An der Erinnerung partizipieren grundsätzlich alle Mitglieder einer Gesellschaft, doch bestimmte formative Aspekte des kulturellen Gedächtnisses unterliegen einer eingeschränkten Partizipationsstruktur. Diese ist in Island nicht so stratifiziert ausgebildet wie in kulturellen Gedächtnissen anderer Gesellschaften, doch geben 521 Erll 2005, S. 158. 522 Mit Mnemotechniken in vorskripturaler Zeit hat sich insbesondere Stefan Brink befasst, s. hierzu Verba Volant, Scripta Manent? Aspects of Early Scandinavian in Oral Society. In: Literacy in Medieval and Early Modern Scandinavian Culture. Ed. by Pernille Hermann. The Viking Collection, 16. Odense 2005. S. 77-135. 5.8 Exkurs: ‹Rituelle Kohärenz› in der semioralen Erinnerungskultur Skandinaviens 217 beispielsweise Gesetzessprecherlisten einen Einblick in die stark personenabhängige Erinnerungskultur Islands. Da die historiographischen Texte auf einmalige Art abbilden, welche Relevanz einzelnen Erinnerungsträgern beigemessen wurde, ist eine ähnliche Wertigkeit auch für die mündliche Erinnerungskultur zu vermuten. Neben den hier untersuchten beiden primären Texten isländischer Geschichte haben die anderen, sekundären historiographischen Texte die norwegischen Könige im Fokus, weshalb sich erst einmal die Frage stellt, wie die Erinnerungen an jene überhaupt Island und dann die isländischen Historiographen erreichen konnten. In der Haralds saga Sigurðarsonar 523 , einer der Königssagas der Hkr., verweist der Verfasser auf einen Isländer namens Halldórr Snorrason, der am Hof der Hauptfigur, König Harald, für einige Zeit gelebt und an dessen Seite gekämpft hat: Menn íslenzkir eru nefndir, þeir er fóru þar með Haraldi: Halldórr, sonr Snorra goða - hann hafði þessa frás ǫ gn hingat til lands - […] (Haralds saga Sigurðarsonar, Hkr. III, Kap. 9, S. 79; «Isländische Männer werden genannt, die dorthin mit Harald gereist waren: Halldórr, der Sohn des Goden Snorri - er brachte diese Erzählung hierher [nach Island] ins Land - [...].»). Ihm sagt die Saga nach, er sei dafür verantwortlich gewesen, dass die Erzählungen nach Island kamen, wo sie seither erinnert worden sind. Um eine solche Erinnerung lebendig zu halten, ist die Grundvoraussetzung die Wiederaufnahme einer Erzählung. Erinnerung musste kommuniziert werden, um im Gedächtnis zu bleiben. Diese Wiederholung findet laut den Texten meist in einem konventionellen und häufig durch ein Individuum selbst festgelegten Rahmen statt. Auf Island scheint das, begründet durch die wenig stratifizierte Gesellschaftsstruktur hauptsächlich von den persönlichen Ambitionen erinnerungswilliger Personen abhängig gewesen zu sein. So berichtet der kurze, aber interessante Text des Íslendings þáttr s ǫ gufróða 524 von einem sagakundigen Isländer, dem der norwegische König wegen seiner Fähigkeiten des Geschichtenerzählens «zwecks Unterhaltung» (at skemmta) Aufnahme am Hof gewährt. Der Isländer erzählt daraufhin dem König über die Monate hinweg viele Geschichten und an Weihnachten steht als erzählerischer Höhepunkt noch der Bericht über die Auslandsreise des Königs nach Jerusalem an. Nach einem anscheinend vorgeschriebenen, wiederkehrenden Erzählrhythmus an dreizehn aufeinander folgenden Tagen ist auch diese Geschichte beendet und der König fragt den Isländer, woher er diese Erzählungen habe. Der Isländer antwortet ihm folgendes: „ Þat var vanði minn út á landinu at ek fór hvert sumar til þings, ok namk hvert sumar af s ǫ gunni n ǫ kkvat at Halldóri Snorrasyni. “ (Íslendings þáttr s ǫ gufróða, Morkinskinna III, Kap. 44, S. 236; «Es war meine Gewohnheit drüben in Island, dass ich jeden Sommer zum Thing ritt und mir jeden Sommer etwas von dieser Erzählung von Halldórr Snorrason aneignete.»). 525 Der Isländer machte es 523 Zitiert im Folgenden nach ÍF XXVIII. 524 Zitiert im Folgenden nach ÍF XXIII, Kap. 44, S. 235-237. Der Text entstand vermutlich Ende des 13. Jahrhunderts. und ist überliefert in den Codices Morkinskinna, Hulda und Hrokkinskinna. 525 Immer wieder hat dieser Text die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, weil er vermeintlich viel über die mündliche Kultur Islands zu vermitteln scheint (vgl. Heinrich Matthias Heinrichs. Die Geschichte vom sagakundigen Isländer (Íslendings þáttr s ǫ gufróða). Ein Beitrag 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 218 also zu seiner eigenen «Gewohnheit» (vanði), jedes Jahr etwas von dieser Erzählung zu erfahren, d.h. er selbst hatte die Ambition, sich von diesen Geschichten etwas anzueignen. Für die (wohlgemerkt mündliche) Weitergabe dieser Erzählungen wird hier auf ebenjenen Halldórr Snorrason verwiesen, der auch gemäß der zuvor genannten Passage der Haralds saga Sigurðarsonar für die Überführung der Erzählungen nach Island verantwortlich gewesen sei. Dabei allein blieb es wohl nicht, denn dieser kurze þáttr verweist darauf, dass von Halldórr auch die Wiederaufnahme und damit die Weitergabe der Berichte ausging. Er als Augenzeuge hatte also auch für die mündliche Erinnerungskultur einen hohen Authentifikationswert, wobei sich hier die Frage stellt, ob die Grundlage dafür bereits in der oralen Erinnerungskultur zu suchen ist oder erst durch die Semioralität zustande kam? Diesen Authentifikationswert hat der kurze þáttr allerdings wiederum genauso auf der Textebene der Saga, in der er die Funktion erfüllt, die Berichte über die Auslandsreise des Königs in der Saga zu bestätigen, indem der König selbst über die Erzählung und ihren Wahrheitsgehalt urteilt: Mér þykkir allvel ok hvergi verr en efni eru til [...] (Íslendings þáttr s ǫ gufróða, Morkinskinna III, Kap. 44, S. 236; «Sie [d.i. die Geschichte] gefällt mir sehr gut und weicht in keiner Hinsicht von den tatsächlichen Ereignissen ab […].»). 526 Damit authentifiziert der Text gleichzeitig auf zwei verschiedenen Ebenen: auf der einen wird die mündliche Erinnerung an die Auslandsreise des Königs durch den isländischen Augenzeugen und Erinnerungsträger Halldórr Snorrason bestätigt und auf einer zweiten Ebene wird diese Erinnerung erneut und gleichzeitig die Saga selbst durch den König, die Hauptfigur der Erinnerung, persönlich verifiziert. Damit ist wie im Fall der Sverris saga der höchste Authentifizierungsgrad für eine Erinnerung erreicht, denn wenn der Erinnerte selbst bestätigt, dass die Erzählungen über ihn den Ereignissen entsprechen, lässt sich keinerlei Zweifel mehr gegen die Berichte anführen. Der Íslendings þáttr s ǫ gufróða zeigt auch, dass Ort und Zeit auf Island für die Erinnerungskultur entscheidende Faktoren darstellten: jeden Sommer auf dem Thing erfuhr der Isländer etwas von dieser Erzählung. Immer wieder treten die Thingorte, insbesondere in den Isländersagas, als zentrale Angelpunkte des sozialen Zusammenlebens sowie in Bezug auf die Erinnerungskultur auf. Vor allem in den Sommermonaten versammelte sich der Großteil der isländischen Gesellschaft auf zur Sagaforschung. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Hrsg. v. Helmut Arntzen, Bernd Balzer, Karl Pestalozzi und Rainer Wagner. Berlin 1975. S. 225-31; Carol Clover. The Medieval Saga. Ithaca/ London 1982, S. 195; Jürg Glauser. Erzähler - Ritter - Zuhörer. Das Beispiel der Riddarasögur: Erzählkommunikation und Hörergemeinschaft im mittelalterlichen Island. In: Les sagas de chevaliers (Riddarasögur). Actes de la Ve Conférence Internationale sur les Sagas. Ed. by Regis Boyer. Toulon 1982. S. 93-119; Stephen A. Mitchell. Heroic Sagas and Ballads. Ithaca/ London 1991, S. 98; Lars Lönnroth. The man-eating Mama of Miklagard. Empress Zoe in Old Norse saga tradition. In: Kairos. Studies in Art History and Literature in Honour of Professor Gunilla Åkerström-Hougen. Jonsered 1998. S. 37-49, S. 47-8). 526 Vgl. Elena Gurevich. The Fantastic in Íslendinga þættir, with Special Emphasis on Þorsteins þáttr forvitna. In: Gripla, XIX. Ed. by Margrét Eggertsdóttir, Gísli Sigurðsson, Svanhildur Óskarsdóttir, Úlfar Bragason. Reykjavík 2008. S. 77-92, S. 89. 5.8 Exkurs: ‹Rituelle Kohärenz› in der semioralen Erinnerungskultur Skandinaviens 219 dem Allthing, der größten Rechtsversammlung auf der Insel. Sie fand im Sommer auf dem Allthingplatz Þingvellir statt und urteilte bezirksübergreifend. Aufgrund seiner Funktion als größte Rechtsversammlung reisten fast alle (freien) Isländer in den Südwesten der Insel, wo sie mehrere Wochen verbrachten. Eine Veranstaltung solchen Ausmaßes war auch für den Handel relevant und bot darüber hinaus den Rahmen für wichtige gesellschaftliche und soziale Aktionen wie Heiratsplanungen, Bündnisabsprachen sowie die Verbreitung neuester Ereignisse. Dementsprechend kann man davon ausgehen, dass ein Großteil der gesamtisländischen Erinnerungskultur schon aufgrund der großen Erreichbarkeit der Menschen an diesem einem Ort bei dieser Gelegenheit stattgefunden hat, was wiederum Texte wie der zuvor genannte Íslendings þáttr s ǫ gufróða und etliche andere bestätigen. So kann man an dieser Stelle nochmals den Prolog der Óláfs saga helga inni sérstaka anführen, in dem ebenfalls davon berichtet wird, dass die Ereignisse aus Norwegen jeden Sommer nach Island gelangten: Spurðu menn þá á hverju sumri tíðendi landa þessa á milli, ok var þat síðan í minni fœrt ok haft eptir til frásagna (Óláfs saga helga inni sérstaka, Prolog, S. 422; « Die Leute erfuhren jeden Sommer von den Ereignissen zwischen diesen Ländern [d.s. Norwegen und Island], die dann in das Gedächtnis überführt und danach für Erzählungen verwendet wurden.»). Die isländische orale Erinnerungskultur (wenigstens in hochmittelalterlicher Zeit, aber wahrscheinlich auch noch in vorskripturaler Zeit) war also in der mündlichen Kultur Islands festen Rahmenbedingungen unterworfen. Wirft man nun einen kurzen Blick auf die norwegische bzw. skandinavische Erinnerungskultur, schildern die Texte für diese ähnliche Umstände. Sie ist dort allerdings eng verbunden mit dem höfischen Leben, wie der zuvor genannte þáttr belegt. Dort wird zudem geschildert, dass die Erzählungen immer in einem bestimmten Rahmen stattfanden, nämlich am Hof zur Unterhaltung des Königs und seines Gefolges. Darüber hinaus exemplifiziert die letzte Erzählung über den König einen speziellen zeitlichen Rahmen, nämlich das Erzählen über dreizehn Tage hinweg um Weihnachten herum. Aus der christlichen Perspektive der Entstehungszeit des þáttr scheint es nahegelegen zu haben, dass der aufregendste Bericht über die Auslandsfahrt des Königs als Höhepunkt an einem entsprechenden Feiertag vorgetragen wurde. Eine ähnliche Schilderung findet man auch in der ÓlO, in der am Ende berichtet wird, wie mit der Erzählung über Olaf Tryggvason nach seiner Niederlage in seiner letzten Schlacht am englischen Hof verfahren wird (also nach seinem vermeintlichen Tod). Dem Text gemäß war König Olaf gut befreundet mit König Aðalráðr, dem Vater des gerade herrschenden Englandkönigs Játvarðr, der sich gut an die Freundschaft zwischen Olaf und seinem Vater «erinnert» (minntisk). Er erzählt deshalb seinem Gefolge «wie gewohnt» (hann var vanr) jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit, nämlich zu Ostern, (á ‹ein›hverju ári, páskadag / á hverju ári á páskatíð; S-Version Kap 70/ A-Version, Kap. 81, S. 359) von König Olaf, um diesen «zu ehren» (at vegsama). Erinnerung hat hier also ganz konkret nicht (nur) die Funktion zu unterhalten, sondern allen voran den König zu ehren. Dieser Unter- 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 220 schied zum Íslendings þáttr s ǫ gufróða könnte unter anderem darin begründet sein, dass dort der König noch lebt, als die Geschichten über ihn erzählt werden, während Olaf Tryggvason in der ÓlO bereits zum genannten Zeitpunkt tot war bzw. für tot gehalten wurde. Der Text fährt damit fort, dass Játvarðr in diesem Jahr eine «neue» Erzählung erreicht hat, nämlich dass König Olaf im Osten verstorben sei, woraus Játvarðr nun ableite, dass er damals in der Schlacht tatsächlich habe fliehen können: Tók hann nú at vegsama Óláf konung Tryggvason, ok því var hann vanr á hverju ári at segja riddurum sínum frá Óláfi konungi á páskatíð, frá m ǫ rgum ágætligum verkum hans, er hann hafði unnit. Ok á einhverju ári á páskadeginum sjálfum [...], þá lét hann þat fylgja at hann hafði nýliga spurt þau tíðendi af þeim m ǫ nnum er kómu af Sýrlandi með merkiligum frás ǫ gnum, at þar h ǫ fðu orðit þau tíðendi er mikils váru verð, er Óláfr konungr Tryggvason var sagðr andaðr, ok fór hann með mikilli dýrð af þessari ver ǫ ldu til eilífrar sælu. „ Ok vita skolu þér þat, “ sagði konungrinn, „ at miklu er hann dásamligri ǫ ðrum konungum, ok því skal segja á hinni œztu hátíð frá hinum ágætasta konungi, Óláfi Tryggvasyni [...]. Má af því øngan daginn makligra til fá eða finna hans lofi at yppa heldr en þenna. “ (ÓlO, A-Version, Kap. 81, S. 359 f.) 527 Er begann nun König Olaf Tryggvason zu ehren, weshalb er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, seinen Rittern jedes Jahr zur Osterzeit von König Olaf zu erzählen [und] von seinen vielen ruhmhaften Taten, die er begangen hatte. Und in irgendeinem Jahr am Ostertag selbst [...], fügte er noch hinzu, dass er kürzlich von den Männern, die mit bedeutsamen Berichten aus Sýrland gekommen waren, die Neuigkeit erfahren habe, dass sich dort Ereignisse von hohem Wert begeben hatten, nämlich, dass von König Olaf Tryggvasons Tod erzählt wurde. Er sei mit großem Ruhm von dieser Erde in die ewige Seligkeit eingegangen. „ Und ihr sollt eines wissen “ , sagte der König, „ dass er viel außerordentlicher als alle anderen Könige war und deshalb soll man an diesem höchsten Feiertag von diesem ruhmhaften König, Olaf Tryggavson, erzählen [...]. Es kann deshalb kein anderer, passenderer Tag als dieser dazu gewählt oder gefunden werden, sein Lob hochzuhalten. “ Genau wie bei der isländischen Erinnerungskultur wird hier von Gewohnheiten, festen Orten und Zeiten gesprochen, die den Rahmen der Erinnerung bilden. Die Rolle des Hofes war dabei sicherlich prägend, insbesondere, was die Erinnerungen an vergangene Könige betraf - die Entscheidung, ob erinnert oder vergessen wurde, lag bei den Herrschern. Man kann wohl mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, dass es ganz ähnliche Rahmenbedingungen auch in der Zeit der beschriebenen Ereignisse gab, auch wenn man wohl insbesondere bei den erwähnten christlichen Feiertagen Weihnachten und Ostern (wie sie in den beiden zitierten norwegischen Fällen genannt werden) mit einer christlichen bzw. einer verfassergegenwärtigen Perspektivierung rechnen muss. Das allerdings spricht dafür, dass den mittelalterlichen Verfassern eine mündliche Erinnerungskultur noch immer bekannt und diese offenbar noch immer stark an Konventionen ausgerichtet war. 527 Diese Passage wird nach der A-Version zitiert, da der Text S-Version beschädigt ist und mitten in der Beschreibung abbricht. 5.9 Ausblick: die Stilllegung des ‹Traditionsstroms› nach 1300 221 5.9 Ausblick: die Stilllegung des ‹Traditionsstroms› nach 1300 Der ‹Traditionsstrom› in Island ist zwischen 1100 und 1300 geprägt durch unterschiedlichste Identitätsstrategien und verschiedene Positionierungen gegenüber Norwegen, die wiederum überaus divergierten: entweder gab es eine vollständige Ablehnung des norwegischen Einflusses in Island, wie es die Íb. und die Hungrvaka eindrucksvoll demonstrieren oder aber eine Hinwendung zu den norwegischen Königen (in Form genealogischer Verbindungen oder politischer Freundschaft) bis hin zur Erklärung ihres Apostelstatus für Island, wofür wiederum die ÓlO ein gutes Beispiel abgibt. Interessant ist zudem die etwa gleichzeitige Entwicklung der Isländersagas, die wiederum völlig unterschiedliche Verhältnisse der Protagonisten zum norwegischen Königshaus darstellen, ohne dass sich darin eine Entwicklung erkennen ließe. Die Verschriftlichung der eigenen Familiengeschichte in Form der Isländersagas zeugt davon, dass das Interesse an der eigenen Geschichte in Island ab 1200 stark gewachsen sein muss und sich damit der Fokus im 13. Jahrhundert weg von der zuvor versuchten Angliederung einzelner Magnaten an skandinavische Königshäuser hin zur innerisländischen Geschichte und Fundierung einer personalen Identität wandte: „ The family sagas, dealing with an earlier Golden Age, can be seen as a reaction against the violence and disruption of the 1220s […]. ” 528 Doch gleichzeitig entstanden Anfang bis Mitte des 13. Jahrhunderts auch drei große Kompilationen, die sich mit einer längeren Periode der norwegischen Geschichte befassten (Morkinskinna, Fagrskinna, Heimskringla; später im 13. Jahrhundert auch auf diesen basierende weitere Manuskripte wie Hulda und Hrokkinskinna). Nach 1230 entstanden keine neuen Königssagas, die Zeit der Isländersagas hingegen ging auf ihre Blüte zu: „ Another response, represented by the family sagas, was to look back to the good old days before kings and archbishops challenged the traditional interests of the aristocracy. “ 529 Im Übergang zum 14. Jahrhundert zeigt sich dann die Tendenz der Stillegung dieses ‹Traditionsstroms›. Nicht nur die Entstehung neuer historiographischer Texte, sondern auch die der Isländersagas ist zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen. In der Folgezeit beginnt ein Rezeptionsprozess, der bis in das 19. Jahrhundert hinein währen wird. Er charakterisiert sich durch den Rückgriff auf die Texte der vorigen Jahrhunderte, die zu großen Sammelhandschriften kompiliert werden, um eine möglichst weite Zeitspanne der Geschichte abzubilden. Das gilt einerseits für die historiographischen Texte zur norwegischen Geschichte, die zu Sammelhandschriften wie Eirspennill, AM 47 fol. (Anfang des 14. Jahrhunderts), zusammengestellt werden. Der Text schließt inhaltlich direkt an die Óláfs saga helga an, indem er von dessen Nachfolger Magnús goði und anderen Norwegerkönigen bis zu Magnús Erlingssons Schlacht in Ré 1177 berichtet, in der er seinen Widersacher Eysteinn meyla besiegt. Darauf folgen die Sverris saga, die Böglunga sögur und die 528 Sawyer/ Sawyer 1993, S. 221. 529 Ebd., S. 231. 5 Eine neue Form kultureller Kontinuität und Kohärenz: der hypoleptische Diskurs 222 Hákonar saga Hákonarsonar. Damit deckt das Manuskript eine Zeitspanne von 1130 bis 1263 der norwegischen Geschichte ab. Andererseits werden zeitgleich solche Sammelhandschriften auch für die isländische Geschichte erstellt (so z.B. die Sturlubók von Sturla Þórðarson um 1270 und die Hauksbók von Haukr Erlendsson, 1299). In dieser literaturgeschichtlichen Wende um 1300 lässt sich eine erneute Veränderung des Identitätsbedürfnisses erkennen: Gab es zuvor tendentiell betrachtet zwei sich abwechselnde Strategien zur Fundierung einer kollektiven Identität nach der Íb. und einer frühen Version der Lb., nämlich die historiographische Abgrenzungsliteratur über die norwegische Geschichte und etwas später die innerisländische Identifikationsliteratur der Isländersagas, erhalten nun beide Darstellungsformen eine gleichwertige Rolle bei der Herstellung kultureller Kohärenz. 530 Dennoch bleiben in der Literatur die beiden Welten, Norwegen und Island getrennt. Ein hervorragendes Beispiel hierfür stellt die größte Sammelhandschrift Islands dar: die Flateyjarbók (GKS 1005 fol.) vom Ende des 14. Jahrhunderts. Sie enthält auf 225 Seiten neben poetischen Texten und Genealogien der Norwegerkönige (wie z.B. Hversu Nóregr byggðisk «Wie Norwegen besiedelt wurde») auch Versionen jener Königssagas, die schon in der Hkr. verzeichnet wurden, sowie eine kurze Beschreibung von Islands Besiedlung und einer Vielzahl an þættir (kurze Erzählungen), die von Isländern am norwegischen Königshof handeln. Alle Texte dieser Handschrift thematisieren das Verhältnis der Isländer zu Norwegen, das zudem in der ‚ neuen ‘ Erzählform der integrierten þættir in den Sammelhandschriften eine neue literarische Aufbereitung erfährt. Die þættir sind alle in die historiographischen Texte eingebettet, tragen aber die Formalia der Isländersagas statt die des hypoleptischen Diskurses der Historiographie. Hierin kann man einen wiederum neuen Versuch der Identitätsfindung sehen, der die Auseinandersetzung der (wohlbemerkt derzeit nur noch rein literarisch) autonomen Isländer mit Norwegen nach ihrer politischen Eingliederung in das norwegische Reich darstellt. Es bleibt jedoch zu jeder Zeit dabei, dass die Fundierung durch ‹Distinktion› in den Isländersagas und die Fundierung durch ‹Integration› mit den Königssagas zu keinem Zeitpunkt miteinander in Berührung kommen - sie stellen zwei Identitätsstrategien dar, deren Vereinbarung oder Auflösung es nie bedurfte und die ab 1300 gleichzeitig der Herstellung kultureller Kohärenz dienten. 530 Wobei diese beiden Darstellungsformen chronologisch nicht vollständig aneinander anschließen. Es entsteht am Anfang des 13. Jahrhunderts nicht nur die ÓlO als Beispiel der Abgrenzungsliteratur, sondern auch die Hungrvaka, die der Darstellung von Aris Íb. folgt. Sie blendet sogar die Rolle Olaf Tryggvasons für die Christianisierung Islands völlig aus und verfolgt eine islandzentrierte Identifikationsstrategie. Trotzdem lassen sich grob zeitengebundene Favorisierungen feststellen. 6 Fazit: Erinnerungskultur 1100-1300 in der altnordischen Historiographie Die isländische Erinnerungskultur wurde während des Mittelalters seitens vieler Historiographen und Chronisten innerhalb und außerhalb Skandinaviens als bedeutsam hervorgehoben - die Isländer erinnerten ganz aktiv, insbesondere in Form von Gedichten, ihre eigene Geschichte, aber auch die anderer Gesellschaften in Skandinavien. Es verwundert daher nicht, dass diese außergewöhnliche Erinnerungskultur auch die volkssprachliche Literaturproduktion seit ihrem Beginn um 1100 wesentlich geprägt hat, die dann in der Wende zum 14. Jahrhundert in einen umfangreichen Rezeptionsprozess überging. Dieser mündete in eine bemerkenswerte literaturgeschichtliche Entwicklung, die sogar noch in der gegenwärtigen Zeit durch die Aufnahme der Arnamagnäanischen Handschriftensammlung isländischer Manuskripte in das UNESCO-Dokumentenerbe ‹Memory of the World› am 31. Juli 2009 gewürdigt wird. Schon lange wird die isländische Literatur von den Isländern als Teil ihrer Identität betrachtet, die seit Beginn in Verbindung mit der noch heute archaischen Sprache zu sehen ist. Während in der Forschung bisher noch unklar war, wann der Beginn dieses Identitätsdiskurses anzusetzen ist und ob die Literatur diese Rolle von Anfang an spielte, konnte diese Untersuchung hierzu präzisere Antworten liefern. 6.1 Wie erinnern die Texte? Welches Selbstbild konstruieren sie? Um die Frage nach der Funktion der Literatur in der isländischen Erinnerungskultur des Mittelalters näher zu beleuchten, wurden die volkssprachlichen historiographischen Texte Islands, die naturgemäß einen expliziten Vergangenheitsbezug haben, unter kulturanthropologischen Gesichtspunkten betrachtet. Das Verhältnis von Erinnerung, Geschichte und Schrift sollte dabei eine besondere Rolle spielen und führte zu der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gedächtnisbegriffen und -theorien aus der kulturwissenschaftlichen Forschung (Kap. 2). Hierfür erwies sich das Konzept des kulturellen Gedächtnisses des Ägyptologen Jan Assmann, basierend auf Studien vormoderner Gesellschaften, als erhellender Zugang zur isländischen Erinnerungskultur. Unter der Anwendung zuvor kategorisierter Begriffe verschiedener Erinnerungsoptionen und deren Zielen (Kap. 2.2) hat sich herausgestellt, dass im isländischen Fall die Schrift einen zentralen Anteil an der Wahl jener Erinnerungsoptionen hatte und sie trotz ihrer Adaption in Folge der Akkulturation die Formung des kulturellen Gedächtnisses maßgeblich prägte. Dass die Einführung der Schrift durch die Christianisierung um das Jahr 1000 herum einen Medienwechsel im mittelalterli- 6 Fazit: Erinnerungskultur 1100-1300 in der altnordischen Historiographie 224 chen Island bedeutete, steht außer Frage. Allerdings entsteht erst über einhundert Jahre später, Anfang des 12. Jahrhunderts, der erste, jedoch nicht überlieferte, lateinische Text des Gelehrten Sæmundr Sigfússon über die norwegischen Könige. Mit diesem beabsichtigte er vermutlich, seine eigene Abstammung aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen zu jenen zu fundieren. Doch schon bald darauf tritt mit der volkssprachlichen Íslendingabók (kurz Íb.) des Gelehrten Ari Þorgilsson zwischen 1122 und 1133 eine entscheidende Wende innerhalb dieser frühen Schriftkultur ein: der isländische ‹Traditionsstrom› beginnt (Kap. 4.2.). Anhand dieses Textes konnte besonders gut das Potential herausgestellt werden, welches das neue Medium mit sich brachte: Nicht nur die Darstellung der Gesellschaftsstruktur, sondern auch einzelne, vor allem lokal gebundene Erinnerungen konnten erst durch die Überführung in die Schrift auch in das kulturelle Gedächtnis eingespeist werden. Einen ähnlich nachhaltigen Prägungseffekt hatten die etwa zur selben Zeit entstandenen Landnahmeberichte, die jedoch über zwei Jahrhunderte hinweg durch die Schrift modifiziert und erst später in Form der Landnámabók (kurz Lb., Kap. 4.1.) überliefert worden sind. Diese war im Gegensatz zur Íb. für die isländische Gesellschaft über eine lange Zeit hinweg identitätsfundierend. Diese beiden ersten Texte des ‹Traditionsstroms› weisen in ihrer Vergangenheitsdarstellung, in Form von ‹Distinktion›, die gleiche nach innen auf die Geschlossenheit und Abgrenzung der isländischen Gesellschaft ausgerichtete Perspektive auf. Neben diesen gemeinsamen Aspekten zeigte die Untersuchung jedoch auch, dass die Texte völlig entgegengesetzte Identitätsfundierungen der isländischen Gesellschaft anstreben, indem sie die Vergangenheit gemäß unterschiedlicher ‹Erinnerungsinteressen› (re)konstruieren. Vor dem Hintergrund der speziellen Überlieferungssituation der Lb. ließen sich in ihrer diachronen Betrachtung profunde Änderungen im Fundierungsbedürfnis der isländischen Gesellschaft herausstellen. So wurden am Anfang des 12. Jahrhunderts zunächst separate familienbezogene Erinnerungen, wahrscheinlich aus lokalem Interesse heraus und dementsprechend regional begrenzt, zusammengetragen. Als Inzentiv hierfür konnte, neben in der Forschung diskutierten möglichen rechtlichen Ansprüchen der Landnahmegrenzen oder kirchenpolitischen Gründen zur Festlegung des Kirchenzehnten, die Außenperspektive (mindestens) Norwegens auf die Isländer wahrscheinlich gemacht werden. Diese tritt in der norwegischen Historia Norvegiae zu Tage, wo behauptet wird, die isländischen Auswanderer seien Mörder und Gesetzlose gewesen. Hierauf entgegnet eine der Lb.-Versionen im Epilog, dass die Erinnerungen an die Ursprünge wichtig seien, um Kritikern gegenüber die wahre Abstammung der Isländer nachweisen zu können. Vor diesem Hintergrund erinnern sie ihre Herkunft in aller Ausführlichkeit und fundieren so im Sinne einer ‹Allianz von Herrschaft und Erinnerung› ihre Abstammung. In ihrer ursprünglichen Form umfasste eine familienbezogene Landnahmeerinnerung wahrscheinlich die namentliche Nennung eines Landnehmers, dessen eingenommenes Gebiet sowie die durch ihn begründete Familie. Hierin lässt sich ein Fundierungsbedürfnis erkennen, das nicht dem Kollektiv, sondern dem Einzelnen 6.1 Wie erinnern die Texte? Welches Selbstbild konstruieren sie? 225 und/ oder seiner Familie entspricht. Diese Identität kann man in Abgrenzung zur kollektiven Identität als personale Identität, im Sinne der sozialen Funktion einer Person oder einer Familie, bezeichnen. Mit der ersten nachgewiesenen Lb.-Version Styrmisbók nimmt diese Zusammentragung erstmals den Charakter eines inselumfassenden Landnahmeberichts an, wodurch sich wahrscheinlich der Titel -bók als Bezeichnung für die Lb. erhellen lässt und die Island umfassende Beschreibung den gemeinsamen Nenner mit der genau so bezeichneten Íb. darstellt. Mit der Styrmisbók wird erstmals nachweisbar eine kollektive Identität fundiert, in der die personalen Identitäten einen Platz in einem gemeinsamen Rahmen finden. Diese Tendenz einer Kollektivierung als neue Identitätsstrategie nimmt in den jüngsten Redaktionen der Lb. eine nochmals gesteigerte Form an: dort werden zum einen mittels anekdotenhafter Interpolationen aus den Isländersagas, die hauptsächlich in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstehen, einzelne Landnahmeberichte erweitert, woraus eine kohärente Vergangenheitsdarstellung in Lb. und Isländersagas geschaffen wird. Damit wird die Lb. weggerückt von dem Anspruch eines historiographischen Textes, hin zu dem Anspruch der Isländersagas, selbst eine Quelle zu sein. Zum anderen wird ein neuer Sinnrahmen - im Sinne einer gemeinsamen Vergangenheit - des gesamten Landnahmeprozesses durch eine neue Kontextualisierung der Landnahme erreicht, indem Island im Prolog geographisch lokalisiert, in den Entdeckerberichten beschrieben sowie durch den Stammvater Ingólfr Arnarson letztendlich besiedelt und damit symbolisch urbar gemacht wird. Auf dieser Basis lassen sich dann alle personalen Identitäten in diesen Sinnrahmen einordnen und es wird eine Entwicklung von der Person zum Kollektiv angestrebt. Diese kollektive Identität wird auf der einen Seite durch die Zusammenführung der separaten personalen Identitäten erreicht, auf der anderen Seite aber auch über eine gemeinsame kulturelle Entwicklung: im Text kann man anhand der Darstellung mythischer und religiöser Beschreibungen auf ein religionsgeschichtliches Deutungsmuster schließen. Auf dessen Grundlage wird die zunächst mythisch-sakralisierte und damit gottgewollte Landnahme durch eine Abschwächung der numinosen Motive im Laufe des Textes hin zu einer allgemeinen Religiosität dargestellt, die mit dem Begriff der ‹natürlichen Religion› bezeichnet werden kann. So gelang eine Verschleierung des Bruchs durch die Christianisierung und die Einbindung der heidnischen Vergangenheit in die christliche Zeit. Gleichzeitig konnte die Phase der allgemeinen Religiosität aber auch dadurch erklärt werden, dass eine eigenständige kulturelle Entwicklung und damit Emanzipation von den Einflüssen von außerhalb wie durch Norwegen angestrebt wurde. Ob diese Darstellung in einem Zusammenhang mit ähnlichen Beschreibungen eines «Naturrechts», wie es in Adam von Bremens Gesta Hamburgensis zu finden ist, gebracht werden kann, ist zwar hypothetisch, aber aufgrund der Ähnlichkeit doch nicht unwahrscheinlich. Die Isländer hatten allerdings gleichzeitig noch eine autochthone Basis dafür, dass sie ihre eigene Vergangenheit hatten einbinden wollen: auf der genealogischen Basis des schwedischen und norwegischen Königsgeschlechts im Skaldengedicht Ynglingatal und der später darauf basierenden Ynglinga saga des Historiographen und Politikers Snorri Sturlu- 6 Fazit: Erinnerungskultur 1100-1300 in der altnordischen Historiographie 226 son lässt sich in der Y.s. ein ähnliches Deutungsmuster ausmachen, auf dessen Basis eine strukturelle Übertragung in die Lb. für den isländischen Kontext entstand. Dadurch kann man die zuvor ‹kalten› mythologischen Erinnerungen nun als ‹heiße› verstehen, die vor allem im Kontext des Verlustes der politischen Unabhängigkeit an Norwegen 1262-64 betrachtet werden müssen: zusätzlich zur fundierenden Funktion erhalten die Erinnerungsfiguren nun eine gegenwartsrelativierende ‹kontrapräsentische› Funktion. Die Lb. ist somit - spätestens seit ihrer islandumfassenden «Buch»form - ein ‹kultureller Text› im kulturellen Gedächtnis der isländischen Gesellschaft, der mittels normierter und formierender Vorstellungen die kollektive Identität der Isländer fundiert. Im Sinne einer solchen Betrachtung wird deutlich, dass man die Lb. als ein kulturelles Produkt sehen muss. Wegen ihrer zeitlosen Identitätskonstruktion personaler Identitäten blieb sie auch noch während der Bürgerkriegszeit (Sturlungaöld) und nach der Angliederung an Norwegen im 13. Jahrhundert im fundierenden Erinnerungsmodus mit einer ‹kontrapräsentischen Funktion› stets anschließbar und wiederaufnehmbar. Während die Lb. die gesellschaftliche Fundierung auf Basis eines religionsgeschichtlichen Deutungsmusters intendiert, spielen solche Aspekte für die Vergangenheitsdarstellung in der Íb. keine Rolle: Zwar liegen einigen Beschreibungen unbewusste mythische Denkmuster in Form von ‹prolonged echoes› zugrunde, die wahrscheinlich auch schon in der oralen Erinnerungskultur konstituierende Funktion hatten. Sie werden aber in der Schriftlichkeit im Sinne einer ‹Allianz von Herrschaft und Vergessen›, auf das nur unterdrückte Gruppen oder Gesellschaften zurückgreifen, bewusst nicht für die Identitätskonstruktion verwendet, um den Fokus ganz auf die historisch lineare Herleitung eines spezifischen politischen und gesellschaftlichen Zustands der Gegenwart zu legen. Trotz des Ausschlusses bestimmter Erinnerungen zugunsten dieser Geschichtskonstruktion eröffnet der Text aufgrund seiner Entstehungszeit und der Überlieferung in seiner ursprünglichen Form eine wertvolle Darstellung hinsichtlich der Erinnerungskultur der 1120er Jahre: er bezieht seine Erinnerungen sowohl aus dem kommunikativen als auch aus dem kulturellen Gedächtnis und nimmt damit eine Sonderstellung ein. Man kann sowohl anhand des Umgangs des Autors mit Erinnerungen als auch anhand der (re)konstruierten Erinnerungsfiguren sehr gut nachvollziehen, dass sich der Text an der Schwelle vom einen modus memorandi zum anderen befindet. Eine der entscheidendsten Erkenntnisse ist, dass der Text durch die Überführung biographischer Erinnerungen entscheidend dazu beitrug, welche Erinnerungen in das kulturelle Gedächtnis eingespeist wurden. Dabei wird vor allem deutlich, dass der Verfasser des Textes an einigen Stellen mehr eine Vergangenheit konstruiert als rekonstruiert. Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zu den Ergebnissen der Lb.-Analyse, die verdeutlichten, dass dort Ereignisse aus vielen verschiedenen lokalen und familiären Erinnerungen rekonstruiert und daher die Identitäten vieler Familien fundiert werden. So wird im Gegensatz zur Lb. die Gesellschaft vom Kollektiv zur Person definiert. 6.1 Wie erinnern die Texte? Welches Selbstbild konstruieren sie? 227 Diese gesamtisländische kollektive Identität in der Íb. hat als solche offensichtlich nie existiert und stellte letztendlich ein Rezeptionshindernis des Textes dar, der entsprechend in nur zwei neuzeitlichen Abschriften eines Manuskripts des 12. Jahrhunderts überliefert ist. Diese spezielle Überlieferungssituation ermöglichte jedoch eine eingehende Analyse der Textintention. Während die Forschung bisher hauptsächlich dafür plädierte, Aris Ziel sei es gewesen, eine Kirchengeschichte Islands zu schreiben, konnte in dieser Untersuchung dafür argumentiert werden, dass vor allem der Anspruch erhoben wird, den Isländern mit dem Text ein Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln und das Fundierungsbedürfnis eines regionalen Magnatenkollektivs in Verbindung mit frühesten kirchenpolitischen Interessen zu befriedigen. Damit wird die Íb. zu einem nicht geringen Teil auch ein politisch und kulturell motivierter Text. Allerdings ist sie von der Lb. insofern zu unterscheiden, dass sie kein ‹kultureller Text› des kulturellen Gedächtnisses im Sinne eines ‹Speichermediums› für formative Inhalte ist, sondern als ‹kollektiver Text› betrachtet werden muss, der quasi als Vehikel der medialen Konstruktion und Vermittlung von Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen fungierte. Eine dauerhafte Fundierung konnten diese beiden islandzentrierten Texte allein jedoch nicht leisten, denn schon Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelt sich (bis ca. 1230) in Form der Königssagas eine ganz andere Form der Vergangenheitsdarstellung, nämlich die der ‹Integration› (Kap. 5). Diese beinhaltet eine Identitätsstiftung, die auf Anbindung an bestehende politische Organisationsformen bedacht ist: die Tatsache, dass die Isländer die kohärente norwegische Geschichte mit den Königssagas überhaupt erst und zugleich in einer solchen Masse schufen, lässt sich nur mit einer innerisländischen Motivation erklären, die in dem Problem des Fehlens gemeinsamer kollektiver Erinnerung zu sehen ist. Daher entwickelt sich in der Historiographie bis etwa 1300 ein Identitätsdiskurs, der Erinnerungskonkurrenzen aushandelt, im Dialog miteinander kritisch wieder aufgreift und den Texten damit gleichzeitig einen fundierenden Charakter verleiht. Dieser hypoleptische Diskurs stellt in Form einer konventionalisierten kritischen Bezugnahme ‹textuelle Kohärenz› über den Bruch her, den die Schriftlichkeit bedeutete. In diesem Diskurs fundieren die Isländer ihre eigene Vergangenheit, indem sie den norwegischen Königen zunächst eine kohärente Geschichte in Form von Dynastien verschaffen, auf die sie selbst ihre Herkunft zurückführen können. Indem die Texte hier in Form ‹kollektiver Texte›, verstanden als Zirkulationsmedium des kulturellen Gedächtnisses, aneinander erinnern, wird ein Gedächtnis der Literatur etabliert. Die Tatsache, dass sich auch die jüngsten Lb.-Redaktionen trotz ihrer Nähe zu den Isländersagas aufgrund ihres vereinzelten kritischen Aufgreifens anderer Texte dem hypoleptischen Diskurs annähern bzw. sich zu ihm bekennen - und sich damit insbesondere von der norwegischen Historiographie deutlich abgrenzen, wie in Kap. 5.7. herausgestellt worden ist, - spricht dafür, dass das Bedürfnis der Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen auch gegen Ende des 13. Jahrhunderts noch überaus groß war. Durch die Diskurszugehörigkeit der historiographischen Texte ergab sich für diese auch ein deutlicheres Gattungskriterium, als die bisher von der Forschung 6 Fazit: Erinnerungskultur 1100-1300 in der altnordischen Historiographie 228 vorgeschlagenen. Gleichzeitig stellt dieses aber auch die bisher zwar durchaus kontrovers diskutierten, doch stets beibehaltenen Genredefinitionen in Frage, deren partielle Auflösung zugunsten textimmanenter Identitätsdiskurse bzw. Erinnerungsoptionen man diskutieren könnte. Im Fall der am hypoleptischen Diskurs teilhabenden Texte besteht deren Intention in der Aushandlung von bestehenden Erinnerungskonkurrenzen innerhalb der norwegischen und isländischen Erinnerungskultur. Die Texte verpflichten sich einer gemeinsamen Suche nach der einen ‹Wahrheit›, die durch ‹Kriterien› der Quellenqualifikationen und Annäherung an möglichst authentische Erinnerungsträger erlangt werden soll. Daher bietet der mündliche Erinnerungsträger, im Bestfall ein Augenzeuge, für die isländischen Historiographen auch immer die größte Chance, sich den Ereignissen der Vergangenheit anzunähern. So charakterisiert sich die skripturale Erinnerungskultur vornehmlich durch personale Quellenangaben und sogar schriftliche Quellen werden im Sinne einer kontinuierlichen Weiterführung der mündlichen Erinnerungstechnik nicht durch ihren Titel, sondern mittels ihres Verfassers gleich einem Träger mündlicher Erinnerung verifiziert. Es konnte herausgestellt werden, dass dieser Diskurs mit seinen spezifischen Kriterien aufgrund eines Erinnerungsdesiderats in der isländischen Gesellschaft entwickelt wurde, nämlich dem Fehlen eines umfassenden Bestands kollektiver Erinnerungen. Dieser Mangel stellte das ‹Problem› dar und gab dem hypoleptischen Diskurs seinen Antrieb, ähnlich wie es die ‹Mythomotorik› für die Gesellschaft tut. Durch die Aufdeckung dieses autochthonen Diskurses konnte die Untersuchung sowohl die Entstehungshintergründe der historiographischen Texte und ihr Zusammenspiel erhellen als auch den ‚ Sitz im Leben ‘ der Texte näher bestimmen. Dieser hypoleptische Diskurs stellt einen fundamentalen Identitätsdiskurs der isländischen Gesellschaft dar, obwohl er auf den ersten Blick mit der auf Norwegen gerichteten Perspektive keinen erwähnenswerten Beitrag zum isländischen Selbstverständnis leistet. Ein jähes Ende fanden diese Entwicklungen im Übergang zum 14. Jahrhundert, als der ‹Traditionsstrom› stillgelegt wurde. Diese Stilllegung charakterisiert sich zunächst dadurch, dass die Fundierung durch ‹Distinktion› durch die Isländersagas sowie die Lb. und die Fundierung durch ‹Integration› mit den Königssagas gleichzeitig existieren, aber zu keinem Zeitpunkt miteinander in Berührung kommen, wie z.B. in Form von Kodices, die beide Textformen rezipieren würden. Damit werden zwei deutlich differenzierte Identitätsstrategien erkennbar, zwischen denen aber nie eine Vereinbarung oder Auflösung erforderlich war und die ab 1300 gleichzeitig der Herstellung kultureller Kohärenz dienten. Diese stellten die Isländer nun nicht mehr als ‹heiße Gesellschaft›, sondern fortan als ‹kalte Gesellschaft› her: indem sie den Textbestand fortwährend aufgreifen und damit lebendig halten, frieren sie den Gesellschaftszustand quasi ein und blenden jegliche Veränderung ab 1300 aus der Geschichte aus. 6.2 Was ist das isländische kulturelle Gedächtnis? 229 6.2 Was ist das isländische kulturelle Gedächtnis? Aus dem geringen Bestand kollektiver Erinnerungen werden allen voran Erinnerungsfiguren wie die Landnahme, die primäre norwegische Herkunft sowie die Entwicklung der Rechtsprechung immer wieder aufgegriffen. Markant an diesen Erinnerungsfiguren ist, dass sie am Anfang des 12. Jahrhunderts als ‹heiße Erinnerungen› eingesetzt werden, um die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung daran auszurichten. Später, im 13. Jahrhundert, werden eben jene Erinnerungsfiguren dann mit ‹kontrapräsentischer Funktion› erinnert, um den als defizitär betrachteten aktuellen Gesellschaftszustand zugunsten eines besseren zu verändern. Dieser Wandel im Gebrauch der Erinnerungsoptionen deutet auf die Entwicklung der isländischen Gesellschaft zu einer unterdrückten Gesellschaft hin. Für das isländische Selbstverständnis leistet der hypoleptische Diskurs einen bedeutenden Beitrag dadurch, dass er Erinnerungskonkurrenzen aushandelt und so eine Art Gegenentwurf zur dominierenden oder wenigstens konkurrierenden Erinnerungskultur Norwegens erstellt. Nach innen zeigt sich hingegen ein ganz anderes Inzentiv für die Erinnerung der Isländer: auch dort galt es sich abzugrenzen, nämlich untereinander, wovon insbesondere die Lb. und die Isländersagas zeugen. Hier agieren die Herrschenden, nicht die Unterdrückten. Diese typische Ambivalenz im kulturellen Gedächtnis der Isländer erklärt zu einem großen Teil die andauernde Suche nach Identität mithilfe unterschiedlichster Strategien. Ein anderer Aspekt der Erinnerungskultur ist, dass ein Großteil der Erinnerungen zu Beginn der Schriftlichkeit noch nicht in das kulturelle Gedächtnis eingegangen war, wie es die Analyse der Íb. aufzeigen konnte. So war zum Beispiel die Christianisierung anfangs nur für eine kleine Gruppe Kleriker von fundierender Bedeutung, weshalb sie zur Zeit der Íb. noch nicht im kulturellen Gedächtnis erinnert wurde. Erst durch Aris Versinnlichung mit kollektiver, d.h. mit rechtlicher und sozialer Relevanz sowie durch die Verschriftlichung wurde sie in das kulturelle Gedächtnis überführt. Hieraus lässt sich die Rolle der Schrift als Medium für das kulturelle Gedächtnis der Isländer erahnen: sie eröffnete überhaupt erst die Möglichkeit, eine kollektive Identität zu fundieren. Aufgrund dieses Mangels an gemeinsamen Erinnerungen versuchen die Lb. und die Íb. als Identifikationsliteratur mittels unterschiedlicher Strategien, diese Lücke im kulturellen Gedächtnis zu schließen, während die Königssagas als Abgrenzungsliteratur in einen Dialog über die Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen treten und der isländischen Gesellschaft auf Basis der eigenhändig rekonstruierten norwegischen Geschichte eine kollektive Identität verleihen. Aus diesen unterschiedlichen Identitätsstrategien konnte der Schluss gezogen werden, dass sich das kollektive Gedächtnis der Isländer aus einem wenig ausgeprägten kulturellen Gedächtnis, dafür aber vielen lokal geprägten kommunikativen Gedächtnissen konstituierte. So lässt sich abschließend festhalten, dass das kulturelle Gedächtnis der Isländer zwischen 1100-1300 die Aufforderung zu einem unaufhörlichen Erinnern in sich trug, um mithilfe von Kontrolle über die Geschichtsschreibung die unablässig be- 6 Fazit: Erinnerungskultur 1100-1300 in der altnordischen Historiographie 230 drohte personale und kollektive Identität nicht zu verlieren. Die Gesellschaft entwickelte daraus ihre ‹Mythomotorik›: durch ihre Erinnerungskultur grenzt sie sich von Erinnerungskonkurrenzen ab und gewinnt so eine Identität. Sie bewältigt die fortwährenden Bedrohungen eines Identitätsverlustes bis über das Ende des ‹Freistaats› hinaus durch ihr ausgeprägtes Erinnerungsvermögen und die über Jahrhunderte entwickelte Fähigkeit, Erinnerungen in Form außerordentlicher Erzählungen dauerhaft festzuhalten. 7 Schlussbemerkungen Eines der Phänomene, das die Altnordistik seit langem zu erklären versucht, ist die außergewöhnliche literaturgeschichtliche Entwicklung der isländischen Literatur im Mittelalter. Diese entwickelte sich aber nicht aus sich heraus, sondern konnte erst durch die Einführung der lateinischen Schrift im Zuge der Christianisierung entstehen. Doch schon bald setzt sie sich von der lateinisch gelehrten Literatur Kontinentaleuropas durch den Gebrauch der Volkssprachlichkeit ab und transformiert die autochthonen Stoffe aus dem Medium der vorangegangenen mündlichen Erinnerung in neue Textformen und -inhalte. Trotz der Schrift bleibt die Semioralität und damit die reziproke Beeinflussung der Medien ein zentraler Aspekt der isländischen Überlieferung. Die medienunabhängige konstante Basis dieser Erinnerungskultur ist das, was in den Kulturwissenschaften kulturelles Gedächtnis genannt wird: der Bestand allen relevanten Wissens zur Fundierung einer kollektiven Identität. Mit diesem Konzept versuchte diese Abhandlung den Beginn der isländischen Literatur um 1100 bis zum Übergang zur Rezeptionskultur um 1300 neu zu perspektivieren und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Textformen, die sich im mittelalterlichen Island entwickelten, aufzudecken. Dabei sollte auch demonstriert werden, wie sich eine solche kulturanthropologische Herangehensweise für die Betrachtung der isländischen Literatur des Mittelalters eignet. Zugunsten einer vertieften Methodenprüfung stützte sich diese Untersuchung auf eine Auswahl besonders geeigneter Aspekte und Konzepte aus dem Fundus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien. Diese wurden im Hinblick auf ihre methodische und begriffliche Eignung einer kritischen Modifikation unterzogen und im Hinblick auf ihre Funktionalität überprüft. Ihre Übertragung ermöglichte eine exemplarische und ergebnisreiche Betrachtung der hierfür ausgewählten historiographischen Texte sowie deren Einordnung in den literaturgeschichtlichen Kontext. Diese Bewertung muss allerdings dem Problem der teils eingeschränkten Überlieferung von Texten Rechnung tragen, sodass an einigen Stellen nur hypothetische Schlussfolgerungen möglich waren. Dennoch machen die Ergebnisse dieser Abhandlung evident, dass eine neue Einordnung von in der Forschung bereits erklärten Zusammenhängen erforderlich scheint. Dafür bietet diese Abhandlung an vielen Stellen neue Perspektiven zur Diskussion an. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Phänomen der isländischen Erinnerungskultur in seiner Betrachtung noch am Anfang steht, und diese Abhandlung versuchte einen Beitrag dafür zu leisten, die Frage nach dem kulturellen Gedächtnis der Isländer und der Rolle der Literatur weiter zu erhellen. Literaturverzeichnis Abkürzungen FS Festschrift ÍF Íslenzk Fornrit. Hið íslenzka fornritafélag. Reykjavík 1933-. HrwG Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Vol I-V. Hrsg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Karl-Heinz Kohl. Stuttgart/ Berlin/ Köln 1988-. RGA Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Begr. von Johannes Hoops. 2., völlig neu bearbeitete Auflage, hrsg. v. Heinrich Beck, Herbert Jankuhn et al. Berlin/ New York 1973-. KLNM Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder fra vikingetid til reformationstid. Red. John Danstrup et al. 22 Bände. København 1956-1978. OG Originalausgabe Pulsiano Pulsiano, Phillip (ed.). Medieval Scandinavia. An Encyklopedia. 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Anhang Historiographische Texte 1100-1300 im Überblick Königssagas (Einzeltexte, die die norwegische Geschichte behandeln) 531 Zeitspanne Bók á latínu eftir Sæmundi fróða, um 1120 [verloren] 810/ 60-1120 (spätestens) Konungaævi í eldri gerðinni af Íslendingabók Ara fróða, um 1120 [verloren] ? -1120 (spätestens) Íslendingabók Ara fróða (1122-33) 870-1120 Hryggjarstykki eftir Eirík Oddsson, um 1150 [verloren] c. 1130-1160/ 70 [c. 1136-1139 532 ] Elsta saga Ólafs helga, um 1190 [verloren] 1015-1028 Ólafs saga Tryggvasonar eftir Odd Snorrason, rituð á latínu um 1190 [verloren; Übersetzung] 995-1000 Ólafs saga Tryggvasonar eftir Gunnlaug Leifsson, rituð á latínu um 1190/ 5 [verloren] 995-1000 Sverris saga, eftir Karl Jónsson, um 1205 1177-1202 Helgisaga Ólafs Haraldssonar, um 1210 1015-1030 Ólafs saga helga eftir Styrmi fróða eða Lífssaga Ólafs helga, eftir Styrmi Kárason, um 1220 [verloren] 1015-1030 Böglunga sögur, um 1225 1202-1217 Ólafs saga helga hin sérstaka, eftir Snorra Sturluson, um 1225 1015-1028 Hákonar saga Hákonarsonar, eftir Sturlu Þórðarson, um 1265 1217-1263 Magnúss saga lagabætis, eftir Sturlu Þórðarson, um 1280 [größtenteils verloren] 533 1264-1274 531 Beachtet man, dass die hervorgehobenen Sagas über die beiden Könige Olaf Tryggvason und Olaf den Heiligen über mehrere Jahrzehnte hinweg immer wieder aufgegriffen werden, und extrahiert diese Wiederaufnahmen, ergibt sich eine zeitliche Abfolge der behandelten Zeitperioden, sodass jeder Text an den vorigen chronologisch anknüpft - die Geschichte wird so mit fortschreitender Zeit mit fortgeschrieben. 532 Neuere Untersuchungen stellen die Vermutung auf, sie hätte eine deutlich engere Zeitspanne umfasst (vgl. Adison Finlay. Fagrskinna 2004, S. 34). Anhang 246 Ólafs saga Tryggvasonar hin mesta, um 1300 995-1000 534 Norwegische Synopsis Historia Norvegiæ, um 1170 860 (Yngl.)-1177 Historia de Antiquitate Regum Norwagiensium von Theodoricus monachus, um 1180 Vorzeit (Yngl.)-1130 Ágrip af Noregskonungas ǫ gum, um 1190 880-1136 [vermutl. 1177] 533 Über spätere Könige entstanden keine Königssagas mehr, der Umbruch zum 14. Jahrhundert ist geprägt von Umarbeitungen bestehender Texte. 534 Ein gutes Beispiel für Variationsdruck in der Schriftkultur: diese späte Saga, die auf die älteren Sagas zu Olaf Tryggvason zurückgreift, schließt gleichermaßen auch an sie an, denn sie bietet viele Erzählungen, die nicht Bestandteil der älteren Sagas sind. Codices (sie charakterisiert das gemeinsame Ziel, die Geschichte bis 1177 überblickhaft zusammenzufassen) Morkinskinna, um 1220 [älter als Fagrskinna] 1025-1157 (vermutlich einst -1177) Fagrskinna, um 1220 850-1177 Heimskringla eftir Snorra Sturluson, um 1225-30 Vorzeit (Yngl.)-1177 Hulda-Hrokkinskinna, um 1280 1035-1177 Sagas über Königsdynastien anderer skandinavischer Länder mit Verbindung zu Norwegerkönigen Skjöldunga saga, um 1180 [verloren; in lateinischer Übersetzung aus 16. Jh. erhalten] Vorzeit c. 950 Knýtlinga saga, líklega eftir Ólaf Þórðarson hvítaskáld, um 1250 950-1187 Motiv-Index der mythischen und mythifizierten Motive in der Landnámabók 247 Motiv-Index der mythischen und mythifizierten Motive in der Landnámabók Wenn eine Episode sowohl in der Sturlubók als auch in der Hauksbók (oder sogar in der Melabók) vorkommt, wird sie aus der Sturlubók-Fassung (S) zitiert, sofern H und M inhaltlich nur unwesentlich abweichen. Zitiert wird nach der Ausgabe ÍF I. I Landnahmeriten Ia Opfer im Rahmen des Landnahmeritus S. 37 Flóki Vilgerðarson - fekk at blóti miklu ok blótaði hrafna þrjá, þá er honum skyldu leið vísa [hier aber ganz deutlich eine Weihe und keine Opferung im Sinne einer Tötung, da die Raben danach noch den Weg weisen] (H 5) S. 42 Ingólfr - fekk at blóti miklu ok leitaði sér heilla um forl ǫ g sín [...] fréttin vísaði Ingólfi til Íslands (SH 7) S. 42 Hj ǫ fleifr - vildi aldri blóta (SH 7) S. 48 Helgi goðlaus & Hallr goðlaus - vildu ekki blóta ok trúðu á mátt sinn (S 12) S. 163 f. Hallsteinn son Þórólfs Mostrarskeggs - blótaði til þess at Þórr sendi honum ǫ ndvegissúlur; síðan kom tré á land ok þar af eru gørvar ǫ ndvegissúlur nær á hverjum bœ um þverfj ǫ rðuna (S 123, H 95) S. 188 f. Vébj ǫ rn - gekk þá at blóti miklu; hann kvað Hákon þann dag blóta þeim til óþurftar. En er hann var at blótinu, eggjuðu brœðr hans hann til brautfarar, ok gáði hann eigi blótsins, ok létu þeir út (S 149, H 120) S. 233 f. Ǫ nundr víss - felldi blótspánn til, at hann skyldi verða víss, hvern tíma Eiríkr mundi til fara at nema dalinn (S 198, H 166) S. 250 ff. Helgi inn magri - gekk til frétta við Þór, hvar land skyldi taka, en fréttin vísaði honum norðr um landit (S 218, H 184) Ib Göttlich geleitet Hochsitzpfeiler ( ǫ ndvegissúlur) S. 42 Ingólfr - skaut fyrir borð ǫ ndugissúlum sínum til heilla (SH 7) S. 49 Þórðr skeggi - frá til ǫ ndvegissúlna sinna (H 11) S. 52 f. Ørlygr - en hásetar hans námu þar sumir land (S 15, H 15) S. 68 ff. Skalla-Grímr - ok var skotit fyrir borð kistu hans; hann reisti þar bœ, er kista Kveld-Úlfs kom á land (S 29 f.) S. 124 Þórólfr Mostrarskegg - þá skaut hann fyrir borð ǫ ndvegissúlum sínum, þar var skorinn á Þórr (S 85, H 73) Anhang 248 S. 216 ff. Ingimundr inn gamli - hann bjó at Hofi ok fann hlut sinn, þá er hann gróf fyrir ǫ ndvegissúlum sínum; síðan er hann dauðr í ǫ ndvegi (S 179, H 145) S. 302 ff. Loðmundr enn gamli - skaut fyrir borð ǫ ndvegissúlum sínum í hafi ok kvazk þar byggja skyldu, sem þær ræki á land, frá til ǫ ndvegissúlna sinna ok nam þar land (S 289, H 250) S. 307 Þórhaddr enn gamli - hafði með sér hofsmoldina ok súlurnar (S 297, H 258) S. 312 f. Þórðr skeggi - hann frá til ǫ ndvegissúlna sinna í Leiruvági (S 307, H 268) S. 316 f. Hrollaugr - skaut fyrir borð ǫ ndvegissúlum sínum, frá til ǫ ndvegissúlna sinna (S 310, H 27) S. 370 f. Hásteinn - skaut setst ǫ kkum fyrir borð í hafi at fornum sið (S 371, H 326) Odin (altn. Óðinn) S. 36 f. Flóki Vilgerðarson - Raben als Divination, bzw. Symbol Odins? (S 5, H 5) Thor (altn. Þórr) S. 55 Kollr - en Kollr hét á Þór, þegar storm mikinn gerði at þeim (H 15) S. 124 f. Þórólfr Mostrarskegg - hann trúði á Þór, ǫ ndvegissúlum sínum, þar var skorinn á Þórr; helgaði Þór allt landnám sitt ok kenna við hann; þar fann hann Þór rekinn á nesi einu; gerði hof mikit ok helgaði Þór (S 85, H 73); Þar á nesinu, sem Þórr kom á land, hafði Þórólfr dóma alla, ok þar var sett heraðsþing með ráði allra sveitarmanna («Dort auf der Landzunge, wo Thor an Land kam, da hielt Þórólfr alle gerichtlichen Urteile ab, und dort wurde das Bezirksgericht aufgrund der Entscheidung aller zum Bezirk gehörender Männer gegründet.»). S. 232 ff. Kráku-Hreiðarr - hét á Þór (S 197, H 164) S. 233 Eiríkr - hét á Þór (S 197, H 164) S. 250 ff. Helgi inn magri - hét á Þór til sjófara ok harðræða (S 218, H 184) S. 344 f. Ásbj ǫ rn - helgaði landnám sitt Þór (S 343, H 301, M 8) Frey (altn. Freyr) S. 216 ff. Ingimundr inn gamli - þat (hlutinn eða á hlutinum) var Freyr ok g ǫ rr af silfri (S 179, H 145) S. 315 f. Úlfljótsl ǫ g [Eid] - Hverr sá maðr, er þar þurfti l ǫ gskil af hendi at leysa at dómi, skyldi áðr eið vinna at þeim baugi ok nefna sér vátta tvá eða fleiri. „Nefni ek í þat vætti“, skyldi hann segja, „at ek vinn eið at baugi, l ǫ geið, hjálpi mér svá Freyr ok Nj ǫ rðr ok hinn almáttki áss, sem ek mun svá s ǫ k þessa sœkja eða verja eða vitni bera eða kviðu eða dóma, sem ek veit réttast ok sannast ok helzt at l ǫ gum, ok ǫ ll l ǫ gmæt skil af hendi leysa, þau er undir mik koma, meðan ek em á þessu þingi.“ (H 268; «Ein jeder Mann, der dort beim Gericht ein Rechtsverfahren ausführen müsste, sollte zuvor einen Eid leisten auf den Ring Motiv-Index der mythischen und mythifizierten Motive in der Landnámabók 249 und zwei Zeugen oder mehr ernennen. „Ich benenne hiermit Zeugen“, sollte er sagen, „dass ich einen Eid auf den Ring leiste, einen Rechtseid, möge mir auf diese Weise Frey und Njörd und der almächtige Ase helfen, wie ich auf diese Weise diese Sache ersuchen oder verteidigen oder Zeugnis ablegen oder sprechen oder urteilen werde, wie ich es am richtigsten und ehrlichsten und am besten nach dem Gesetz weiß, und alle gesetzlich vorgeschriebenen Handlungen ausführen, die mir zugetragen werden, während ich auf diesem Thing bin.») Njörd (altn. Nj ǫ rðr) S. 315 f. Úlfljótsl ǫ g - Eid (H 268) Mentale, aber ‚göttliche‘ Führung S. 52 f. Ørlygr - þá hét Ørlygr á Patrek byskup til landt ǫ ku sér, at hann skyldi af hans nafni gera ørnefni, þar sem hann tœki land (S 15, H 15) S. 218 f. Ingimundr inn gamli - Þeir sá þaðan fj ǫ ll snælaus í landsuðr ok fóru þann veg um várit; þar kenndi Ingimundr l ǫ nd þau, er honum var til vísat [durch die Finnen auf Zauberfahrt, die dort sein Amulett entdeckten] (S 179, H 145) S. 232 ff. Kráku-Hreiðarr - en er þeir kómu í landsýn, gekk Hreiðarr til siglu ok sagðisk eigi mundu kasta ǫ ndvegissúlum fyrir borð, kvezk þat þykkja ómerkiligt at gera ráð sitt eptir því, kvezk heldr mundu heita á Þór, at hann vísaði honum til landa (S 197, H 164) S. 233 Eiríkr - kvað þangat Þór hafa vísat honum ok þar stafn á horft, þá er hann sigldi upp á Borgarsand (S 197, H 164) S. 250 Helgi inn magri - hann hét á Þór til sæfara; þá er Helgi sá land, gekk hann til frétta við Þór, hvar land skyldi taka, en fréttin vísaði honum norðr um landit. Durch andere numinose Kräfte geleitet S. 24 Garðarr Svávarsson - fór at leita Snælands at tilvísan móður sinnar framsýnnar (S 4) S. 299 Hrafnkell Hrafnsson - þá dreymði hann, at maðr kom at honum ok bað hann upp standa ok fara braut sem skjótast, hann vaknaði ok fór brutt. En er hann var skammt kominn, þá hljóp ofan fjallit allt, ok varð undir g ǫ ltr ok griðungr, er hann átti. Síðan nam Hrafnkell Hrafnkelsdal ok bjó þar. [Hinweis auf landvættir] (S 283, H 244) Ic tierisch-numinos geleitet S. 36 Flóki Vilgerðarson - hafði hrafna þrjá með sér í haf [...] enn þriði fló fram um stafn í þá átt, sem þeir fundu landit (S 5) Anhang 250 S. 94 ff. Grímr Ingjaldsson - marmennil (vermutl. mit den landvættir in Verbindung zu bringen) spár Þóri um forl ǫ g þeirra ok hvar þeir skulu nema land (S 68, H 56) Id Christlich geleitet S. 52 f. Ørlygr - byskup Patrekr sér um með honum (eine Art Prophezeiung) ok vísar honum land […] hann skyldi þar taka sér bústað ok láta þar kirkju gera […]. Hann lét þar gera kirkju, sem mælt var (S 15); hann gerði kirkju at Esjubergi, sem honum var boðit (H 15); en hásetar hans námu þar sumir land, sem enn mun sagt verða (S 15, H 15) S. 284 f. Torf-Einarr - Þeir settu øxi í Reistargnúp ok k ǫ lluðu því Øxarfj ǫ rð; þeir settu ǫ rn upp fyrir vestan ok k ǫ lluðu þar Arnarþúfu; en í þriðja stað settu þeir kross; þar nefndu þeir Krossás. Svá helguðu þeir sér allan Øxarfj ǫ rð (S. 285; «Sie stellten eine Axt auf der Reistargnúpr (Bergspitze) auf und nannten ihn deshalb Axtfjord; sie setzten einen Adler westlich davon aus und nannten es dort Adlerhügel, und am dritten Ort stellten sie ein Kreuz auf, dort nannten sie es Kreuzhöhenrücken.») Ie Rechtlich legitimierende Landnahmeriten mit religiösem Hintergrund S. 233 f. Ǫ nundr víss - En þá er Eiríkr vildi til fara at nema dalinn allan allt fyrir vestan, þá felldi Ǫ nundr blótspán til, at hann skyldi verða víss, hvern tíma Eiríkr mundi til fara at nema dalinn, ok varð þá Ǫ nundr skjótari ok skaut yfir ána með tundr ǫ ru ok helgaði sér svá landit fyrir vestan ok bjó milli á (S 198, H 166; «Aber dann, als Eiríkr beginnen wollte das ganze Tal, das Gebiet westlich, einzunehmen, da warf Ǫ nundr dafür ein Opferstäbchen, dass er in Erfahrung bringen würde, zu welcher Zeit Eiríkr beginnen würde das Tal einzunehmen, und Ǫ nundr war [dadurch] schneller und schoss einen Pfeil mit brennendem Zunder an der Spitze über die Flüsse und heiligte sich so das Land im Westen und wohnte zwischen den Flüssen.» S. 250 ff. Helgi inn magri - gerði eld mikinn við hvern vatsós ok helgaði sér svá allt herað (S 218, H 184) S. 285 Vestmaðr ok Vémundr - settu øxi, settu ǫ rn, settu kross ok svá helguðu þeir sér allan Øxarfj ǫ rð (S 257, H 221) If Motiv der Trennung auf See zwecks unabhängiger Landnahme S. 35 Garðarr Svávarsson - en er hann sigldi í gegnum Péttlandsfj ǫ rð, þá sleit hann undan veðr, ok rak hann vestr í haf (H 3) S. 35 Garðarr Svávarsson - þá sleit hann undan veðr, ok rak hann vestr í haf (H 3) S. 36 Garðarr Svávarsson - sleit frá honum mann á báti, er hét Náttfari, ok þræl ok ambátt (S 4) Motiv-Index der mythischen und mythifizierten Motive in der Landnámabók 251 S. 38 f. Flóki & Herjólfr - ok sleit frá þeim bátinn ok þar á Herjólf, er tók þar sem nú heitir Herjólfsh ǫ fn (S 5, H 5) bis hierhin: at sleita («abreißen, losreißen» des Bootes - schicksalshafte Beschr.) S. 42 Ingólfr & Hj ǫ rleifr - Þeir h ǫ fðu samflot, þar til er þeir sá Ísland; þá skilði með þeim. (SH 8) S. 52 f. Ørlygr & Kollr - þeir skilði í storminum (S 15, H 15) S. 68 f. Skalla-Grímr und Grímr inn háleyski - skilði þá með þeim, svá at hvárigir vissu til annarra (S 29) bis hierhin: at skilja («trennen, auseinanderbringen» - deutliches Trennungsmotiv) S. 139 Auðr inn djúpauðga - Síðan fór hon at leita Íslands. Hon kom á Vikrarskeið ok braut þar (S 97, H 84) S. 188 f. Vébj ǫ rn - þeir brutu þann dag skip sitt undir h ǫ mrum miklum í illviðri; þar kómusk þau nauðuglega upp; gekk Vébj ǫ rn fyrir; þat er nu k ǫ lluð Sygnakleif (S 149, H 120) S. 371 Hásteinn - hann skaut setst ǫ kkum yfir borð í hafi at fornum sið; þeir kómu á Stálfj ǫ ru fyrir Stokkseyri, en Hásteinn kom í Hásteinssund fyrir austan Stokkseyri ok braut þar (S 371, H 326) bis hierhin: at brjóta («zerbrechen, schiffsbrüchig» - zusätz. Motiv für gefahrvolle Reise) Ig Paradiesische Beschreibungen S. 34 Naddoddr - þeir lofuðu mj ǫ k landit (S 3) S. 35 f. Garðarr Svávarson - þeir lofuðu mj ǫ k landit (S 3), Garðarr sigldi austr aptr ok lofaði mj ǫ k landit (H 3); Garðarr fór þá til Nóregs ok lofaði mj ǫ k landit (S 4); þeir lofuðu mj ǫ k landit (H 4) S. 36 Garðarr Svávarson - ok var þá skógr milli fjalls ok fj ǫ ru (S 4) S. 38 f. Flóki Vilgerðarson - „Þetta mun vera mikit land, er vér h ǫ fum fundit; hér eru vatnf ǫ ll stór“ (S 5, H 5) S. 38 f. Flóki Vilgerðarson - en Þórólfr kvað drjúpa smj ǫ r af hverju strái á landinu [H: á landi því], [S: því] er þeir h ǫ fðu fundit; [...]. (S 5, H 5) S. 38 f. Flóki Vilgerðarson - þá var fj ǫ rðrinn fullr af veiðiskap (S 5, H 5) II Opfer S. 124 Þórólfr Mostrarskegg - ok þar stendr enn Þórssteinn, er þeir brutu þá menn um, er þeir blótuðu, ok þar hjá er sá dómhringr, er menn skyldu til blóts dœma. (S 85, H 73) S. 139 Auðr inn djúpauðga - var á Krosshólum þá g ǫ r h ǫ rg, er blót tóku til (S 97, H 84) S. 222 Hrolleifr ok Ljót móðir hans - hafa blótat til langlífis honum (S 180, H 147) Anhang 252 S. 236 Kollsveinn enn rammi - hafði blót á Hofst ǫ ðum (S 203, H 170) S. 270 f. Þórir snepill - blótaði lundinn (S 237, H 202) S. 313 f. Úlfljótsl ǫ g & h ǫ fuðhof - hverr goði skal blóta sjálfr (H 268) S. 341 Ásgeirr - hafnaði sjálfráði blótum (H 297) S. 358 Þorsteinn rauðnefr - hann var blótmaðr mikill ok blótaði forsinn, ok skyldi bera leifar allar á forsinn. Hann var framsýnn mj ǫ k. En þá nótt, er hann andaðisk, rak sauðrinn allan í forsinn. [wahrscheinl. Hinweis auf Opfer an die landvættir] (S 355, H 313) S. 365 Loptr inn gamli - fór at blóta á Gaulum, at Flósa var ófritt í Nóregi (H 315) S. 368 f. Loptr inn gamli - hann fór útan fyrir h ǫ nd þeira Flosa beggja, at blóta at hofi því, er Þorbj ǫ rn móðurfaðir hans hafði varðveitt (S 368, H 323) S. 396 f. Endbemerkung - en þat (kristin trú) gekk óvíða í ættir, því at synir þeira sumra reistu hof ok blótuðu, en land var alheiðit nær hundraði vetra (S 399, H 356) III Zauberei/ Prophezeiungen/ numinose Erscheinungen S. 110 Þórarinn korni - var hamrammr mj ǫ k (S 76, H 64) S. 112 Gunnlaugr - dó af meini því, er hann tók, þá er hann fór at nema fróðleik at Geirríði (S 79) S. 141 Auðr inn djúpauðga - svá sem Auðr spáði fyrir (S 97, H 84) S. 186 Þuríðr sundafyllir - seiddi til þess í hallæri á Hálogalandi, at hvert sund var fullt af fiskum (S 145, H 116) [bezieht sich nicht auf Island] S. 216 ff. Ingimundr inn gamli - Heiðr v ǫ lva spáði þeim ǫ llum at byggja á því landit, er þá var ófundit vestr í haf; þá mundi horfinn hlutr ór pússi hans ok mundi þá finnask, er hann grœfi fyrir ǫ ndvegissúlum sínum á landinu (S 179, H 145) S. 216 ff. Ingimundr inn gamli - þó sendi hann þá Finna tvá í hamf ǫ rum til Íslands eptir hlut sínum; Finnar kómu aptr ok h ǫ fðu fundit hlutinn ok nát eigi; vísuðu þeir Ingimundi til í dal einum (S 179, H 145) S. 257 f. Steinrøðr enn rammi - er m ǫ rgum manni vann bót, þeim er aðrar meinvættir gerðu mein (S 225, H 191) S. 257 f. Geirhildr - hét fj ǫ lkunnig kona ok meins ǫ m. Þat sá ófreskir menn, at Steinrøðr kom at henni óvarri, en hon brá sér í nautsbelg líki vatsfulls (S 225, H 191) S. 285 ff. Oddr - hann var hamrammr svá mj ǫ k, at hann gekk heiman ór Hraunh ǫ fn um kveldit, en kom um morguninn eptir í Þjórsárdal til liðs við systur sína, (S: ) er Þjórsdœlir vildu berja grjóti í hel [Anm. 6: þannig voru galdramenn drepnir] / (H: ) er Þjórsdœlir vildu grýta hana fyrir fj ǫ lkynngi ok tr ǫ llskap (S 259, H 223) Motiv-Index der mythischen und mythifizierten Motive in der Landnámabók 253 S. 302 ff. Loðmundr enn gamli - var rammaukinn mj ǫ k ok fj ǫ lkunnigr, hann veitti vatnit með fj ǫ lkynngi (S 289, H 250; «er war gestaltwandlungsfähig und zauberkundig, er leitete das Wasser mit Zauberkunst um») S. 302 ff. Þrasi - hann er ok fj ǫ lkunnigr ok veitti vatnit með fj ǫ lkynngi (S 289, H 250) S. 355 f. Dufþakr - var hamrammr mj ǫ k; þat sá ófreskr maðr um kveld nær dagsetri, at bj ǫ rn mikill ok griðungr fundusk á Stórólfsvelli ok gengusk at reiðir. Um morguninn var þat sét, at dalr var þar eptir, er þeir h ǫ fðu fundizk, sem um væri snúit j ǫ rðinni, ok heitir þar nu Ǫ ldugróf. Báðir váru þeir meiddir (S 349, H 309, M 14) S. 358 Þorsteinn rauðnefr - hann var framsýnn mj ǫ k (S 355, H 313) S. 366 Þorsteinn lunan - honum var þat spát, at hann mundi á því landi deyja, er þá var eigi byggt (S 363, H 319) IV Heilige/ numinose Orte S. 102 ff. Ásmundr - var heygðr í Ásmundarleiði. Vísu þessa heyrði maðr kveðna í haugi hans (S 72, H 60) S. 108 f. Laugarbrekku-Einarr - haugr hans er ávallt grœnn vetr ok sumar (S 75, H 63) S. 125 Þórólfr Mostrarskegg - Hann hafði svá mikinn átrúnað á fjall þat, er stóð í nesinu, er hann kallaði Helgafell, at þangat skyldi engi maðr óþveginn líta [...] Þat var trúa þeira Þórólfr frænda, at þeir dœi allir í fjallit (S 85, H 73 «Er hatte einen solch starken Glauben an diesen Berg, der auf der Landzunge stand und den er Helgafell [heiliger Berg] nannte, dass dorthin kein Mann ungewaschen den Blick richten sollte. Es war der Glaube von Þórólfrs Verwandten, dass sie alle in den Berg hineinsterben würden […].»). S. 139 Auðr inn djúpauðga - hafði bœnahald sitt á Krosshólum, þar lét hon reisa kross; var þar þá g ǫ r h ǫ rg, er blót tóku til (S 97, H 84) S. 358 Þorsteinn rauðnefr - hann blótaði forsinn (S 355, H 313) V Motiv des In-den-Berg-Sterbens S. 98 f. Sel-Þórir - Þeir Sel-Þórir frændr enir heiðnu dó í Þórisbj ǫ rg (S 68, H 56) S. 124 Þórólfr Mostrarskegg - þat var trúa þeira Þórólfs frænda, at þeir dœi allir í fjallit (S 85, H 73) S. 124 Þórólfr Mostrarskegg - þá var þat ráð tekit at fœra brutt þaðan þingit ok inn í nesit, þar sem nú er, var þar helgistaðr mikill, ok þar stendr enn Þórssteinn, er þeir brutu þá menn um, er þeir blótuðu, ok þar hjá er sá dómhringr, er menn skyldu til blóts dœma (S 85, H 73) S. 139 Auðr inn djúpauðga - þar h ǫ fðu frændr hennar síðan átrúnað mikinn á hólana, trúðu þeir því, at þeir dœi í hólana (S 97, H 84) S. 232 ff. Kráku-Hreiðarr - kaus at deyja í Mælifell (S 197, H 164) Anhang 254 VI Das Motiv des vom-Glauben-Abfallens S. 147 Auðr inn djúpauðga - eptir þat (hon andaðisk) spilltisk trúa frænda hennar (S 110) VII Reichtum (Symbol für Fruchtbarkeit) S. 62 f. Ásólfr - menn gengu til lœkjar þess, er fell hjá skálanum, var hann fullr af fiskum; þegar hann er rekinn brutt, hvarf á brutt veiði ǫ ll ór lœknum (S 24, H 63) S. 186 Þuríðr sundafyllir - seiddi til þess í hallæri á Hálogalandi, at hvert sund var fullt af fiskum (S 145, H 116) [bezieht sich nicht auf Island] S. 156 f. Steinólfr enn lági - hurfu svín þrjú; þau fundusk tveim vetrum síðar í Svínadal, ok váru þau þá þrír tigir svína (S 116, H 88) S. 216 ff. Ingimundr inn gamli - hurfu svín tíu ok fundusk annat haust í Svínadal, ok var þá hundrað svína (S 179, H 145) S. 250 ff. Helgi inn magri - þar skaut hann á land svínum tveimr, þau fundusk þremr vetrum síðar, váru þá saman sjau tigir svína (S 218, H 184) S. 330 f. Hafr-Bj ǫ rn - dreymði um nótt, at bergbúi kœmi at honum ok bauð at gera félag við hann, en hann þóttisk játa því. Eptir þat kom hafr til geita hans, ok tímagaðisk þá svá skjótt fé hans, at hann varð skjótt vellauðigr, síðan var hann Hafr-Bj ǫ rn kallaðr. Þat sá ófreskir menn, at landvættir allar fylgðu Hafr-Birni til þings, en þeim Þorsteini ok Þórði til veiða ok fiskjar (S 329, H 284) S. 358 Þorsteinn rauðnefr - hann var blótmaðr mikill ok blótaði forsinn, ok skyldi bera leifar allar á forsinn. En þá nótt, er hann andaðisk, rak sauðrinn allan í forsinn (S 355, H 313). Ari und die Haukdœlir Æsa landnámsmaðr Þórðr skeggi (Schwester von Ladejarl Hákon Grjótgarðsson) (verkaufte Ulfljótr sein Land) landnámsmaðr Ketilbj ǫ rn enn gamli oo Helga (Mosfell auf Grímsnes) Teitr Þormóðr Gizurr hvíti Teitsson Þórhalla oo 2. ? ? oo 3. Þórdís oo 1. Halldóra (Schwester von Þórarinn Skapti Þóroddsson) Þórkatla Ísleifr Gizurarson Vilborg oo Hjalti Skeggjason Hallr Þórarinsson Þórlákr im Haukadalr Þorvaldr Teitr Ísleifsson Gizurr Ísleifsson Jó(a)n Ǫ gmundarson Rúnólfr Hafliði Másson oo Rannveig Hallr Teitsson Gróa oo Ketill Þórsteinsson ARI Þorgilsson Þórlákr Gizurr Hallsson Magnús byskup verwandt Schüler/ Pflegeschaft Quelle Aris Genealogie der norwegischen Könige und seine eigene Óláfr trételgja Svíakonungr andere Quellen 535 : Halfdan hvítbeinn Upplendingakonungr Eysteinn fretr Goðrøðr Halfdan enn mildi ok enn matarilli Óláfr Goðrøðr veiðikonungr Helgi 1. Frau oo Goðrøðr oo 2. Frau Halfdan enn svarti Ingjaldr Halfdan svarti Óláfr Geirstaðaálfr Haraldr enn hárfagri Óleifr enn hvíti Haraldr hárfagri Tryggvi R ǫ gnvaldr Bj ǫ rn Sigurðr hrísi Óláfr [Geirstaðaálfr? ] Þorsteinn rauði Sigurðr hrísi Bj ǫ rn Óláfr Tryggvason Goðrøðr Halfdan Tryggvi Óleifr feilan [landnámsmaðr] Halfdan Goðrøðr Haraldr Sigurðr Óláfr Tryggvason Þórðr gellir Sigurðr Haraldr grenske Óláfr enn digri Haraldr [harðráði] Eyjólfr Haraldr harð. Óláfr enn digri Óláfr Þorkell Óláfr Magnús Gellir Magnús Eysteinn Sigurðr Þorkell Þorgils Haraldr gilli Brandr Ari Sigurðr 535 Ynglingatal (entstanden frühes 9. Jh.), Háleygjatal (entstanden spätes 10. Jh.) Þáttr af Upplendinga konungum, überliefert als Teil der Hauksbók (ca. 1299; entstanden wohl schon im 12. Jh.), Ynglinga saga (um 1225), Hversu Noregr byggðist, überliefert in der Flateyjarbók (überliefert Ende 14. Jh.). Dem entgegen steht das Nóregs konunga tal (1190 entstanden), das ähnlich wie die Íb. behauptet, die ersten zehn Norwegerkönige seien alle Nachfahren von Harald Schönhaar. Aris Machtfundierung Hálfdan hvítbeinn Herv ǫ r úr Sogni Hálfdan enn gamli Upplendingakonungr (Ynglingar) Verðrar-Grímr í Sogn Ívarr Upplendingajarl Bj ǫ rn buna Eysteinn glumra Ingjaldr konungr Ketill flatnefr (Sogn) Hrappr R ǫ gnvaldr jarl (Møre) Óleifr hvíti oo Auðr Þórðr skeggi Helgi enn magri Þorsteinn inn rauði Bj ǫ rn austrœnn Ketilbj ǫ rn enn gamli oo Helga Hrollaugr Helga Þórólfr Mostrarskegg Óleifr feilan Ótarr Teitr Ǫ zurr keiliselgs Hróaldr Einarr Þorsteinn þorskabítr oo Þóra Þórðr gellir Helgi Gizurr enn hvíti Þórdís Óttarr Eyjólfr Þorgrímr Þórhildr rjúpa Eyjólfr Ósvífr Hjalti Skeggjason oo Vilborg Síðu-Hallr Guðlaugr Goðmundr Snorri goði Þórðr hesth ǫ fði Þorkell oo Guðrún Ó. Þorsteinn Ísleifr Þorvarðr Egill Þorgerðr Yngvildr oo Eyjólfr Þúríðr Snorradóttir Karlsefni Gellir Guðrýðr Magnús Þórdís Þorgerðr Járngerðr oo Markús Þórey Þorsteinn Skeggjason Snorri Þorkell Þorgils oo Jóreiðr Einarr Gizurr Teitr oo Jórunn Jón Ǫ . Sæmundr Ketill byskup byskup prestr fróði byskup Hallfríðr Ari Magnús Hallr prestr Rannveig oo Hafliði Másson byskup Þórlákr byskup Gróa oo Ketill Þórsteinsson Landnehmer Weltliche Machthaber Kleriker/ religiöse Macht Anhang 258 Aris Gewährspersonen Pers.gebunden Pers.ungebunden insgesamt Datierungen 3 (6; o.D. 5) 5 536 7 Gesetze 8 (12; o.D. 8) 2 10 Andere Ereignisse (v.a. weltliche) - 3 3 Bischöfe 3 (3; o.D. 2) - 3 insgesamt 14 (21 Quellen; insg. 15 Personen) 10 Insgesamt Gewährspersonen: Teitr (+1x indirekt þann «jener»), Þorkell Gellison (+1x indirekt sá «der/ dieser»), Þóríðr Snorradóttir, Hallr Órœkjuson, Ulfheðinn Gunnarsson, Sæmundr prestr, Gisrøðr byskup, Markús Skeggjason (indirekt: dessen Bruder Þórarinn, Vater Skeggi, Grossvater Bjarni enn spaki) Direkt: 8 Indirekt: 6 (davon 2 unbekannt sá und þann) Auflistung Quellenberufungen 1. Nonpersonale Angaben Andere (v.a. weltliche Berichte) [3]: - Kap. 1, S. 5: es sanniliga es sagt (Ingolfr war erster Landnehmer) - Kap. 1, S. 6: Es svá es sagt (König Haralds Regierungszeit und Sterbealter) - Kap. 3, S. 9: Svá hafa ok spakir menn sagt (Island wurde innerhalb von 60 Jahren besiedelt) 536 Davon zwei Angaben, die die Jahresrechnung betreffen, aber eine allgemeine Bekanntheit voraussetzen: at alþýðu tali und at því es talit es. Aris Gewährspersonen 259 Gesetzesberichte [2]: - Kap. 2, S. 7: En svá es sagt (Grímr geitsk ǫ r reiste auf Ulfljótrs Geheiß um Island herum, um einen geeigneten Platz für ein Thing zu finden; wahrscheinlich das Allthing; s. Kap. 8.) - Kap. 7, S. 16: En svá es sagt (bezieht sich auf die „ gute “ Rede von Gizurr und Hjalti auf dem Allthing, als sie sich für eine Schlichtung im Streit zwischen den christl. und den heidn. Männern einsetzen) Jahreszählung/ -einordnung [5]: - Kap. 3, S. 9: at t ǫ lu spakra manna (Jahresangabe; Eadmundrs Tod, Haralds Tod) - Kap. 4, S. 9: Þat vas ok þá es enir sp ǫ kustu menn á landi hér h ǫ fðu talit (Zeitrechnung; Kalender) - Kap. 7, S. 18: at alþýðu tali (Einordnung der Geschehnisse in christliche Jahreszählung) - Kap. 10, S. 26: at því, es talit es (Jahreseinordnung Christianisierung Englands) - Kap. 10, S. 26: at almannatali (Geburt Christi) 2. Personale Angaben Gesetzesberichte [8]: - Kap. 1, S. 6: Svá sagði Þorkell oss Gellissonr (bezugnehmend auf die Schiffs- und Hafenzolle, die an den norwegischen König bei Ausfuhr nach Island zu entrichten waren) - Kap. 2, S. 7: svá sagði Teitr oss (bezugnehmend auf den Bericht, wie das erste Gesetz nach Island kam; Ulfljótsl ǫ g) - Kap. 3, S. 8: Svá sagði Hallr Órœkjusonr (bezugnehmend auf die Geschichte, wie der Platz für das Allthing ausgewählt wurde) - Kap. 3, S. 9: Þat sagði Ulfheðinn oss (bezugnehmend auf die Einrichtung des Allthings und Nutzung des Platzes) - Kap. 5, S. 12: Svá sagði Ulfheðinn Gunnarssonr l ǫ gs ǫ gumaðr (bezugnehmend auf die Teilung Islands in Viertel und die Einrichtung der Viertelsgerichte) - Kap. 7, S. 15: Svá kvað Teitr þann segja, es sjalfr vas þar. (Bezugnehmend auf die Geschichte, aufgrund der die Zeitfestsetzung des Allthings zustande kam.) - Kap. 7, S. 17: Þenna atburð sagði Teitr oss at því, es kristni kom á Ísland. (Annahme des Christentums auf dem Allthing per Gesetz.) - Kap. 10, S. 22: At hans (gemeint ist: Gesetzessprecher Markús ’ ) s ǫ gu es skrifuð ævi allra l ǫ gs ǫ gumanna á bók þessi, [...] en hónum sagði Þórarinn bróðir hans ok Skeggi faðir þeira [...] at því es Bjarni enn spaki hafði sagt, f ǫ ðurfaðir Anhang 260 þeira, es munði Þórarin l ǫ gs ǫ gumann ok sex aðra síðan (bezugnehmend auf die Informationen zu allen Angaben ueber Gesetzessprecher in der Íb.) Jahreszählung/ -einordnung [3]: - Kap. 1, S. 4: at ætlun ok t ǫ lu þeira Teits [...] ok Þorkels [...] ok Þóríðar Snorradóttur (bezugnehmend auf die zeitliche Einordnung der Landnahme in nordische und kirchliche Ereignisse/ Zeitrechnung.) - Kap. 6, S. 14: at því es sá talði fyrir Þorkeli Gellissyni á Grœnlandi, es sjalfr fylgði Eiríki enum rauða út (bezugnehmend auf die Jahreseinordnung der Entdeckung Grönlands in Bezug zur Christianisierung) - Kap. 7, S. 17 f.: at s ǫ gu Sæmundar prests (Tod des Königs Olaf Tryggvason) Bischöfe [3]: - Kap. 8, S. 18: at s ǫ gu Teits (ausländische Bischöfe) - Kap. 9, S. 21: Svá sagði Teitr oss. (Bischof Ísleifrs letxte Lebensjahre & christlich orientierte Jahreseinordnung auf die Bischofsweihe von Ísleifr und dessen Todesjahr.) - Kap. 10, S. 22: En þá vas nafn hans rétt, at hann hét Gisrøðr; svá sagði hann oss. Quellencharakterisierungen (häufig zusammenhanglos) [3]: 1. Kap. 1, S. 4: Teitr, Þorkell und Þóríðr (im Text: s.o. personengeb. Zeitangabe) 2. Kap. 9, S. 21: En Hallr sagði oss svá, es bæði vas minnigr og ólyginn ok munði sjalfr þat es hann vas skírðr, at Þangbrandr skírði hann þrevetran, en þat vas vetri fyrr en kristni væri hér í l ǫ g tekin. 3. Kap. 10, S. 22: Markús Skeggjasonr (im Text: s.o. unter personengeb. Gesetzesangabe Beiträge zur Nordischen Philologie Band 1 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. 1973, 117 Seiten und 23 Karten Band 2 Conradin Perner: Gunnar Ekelöfs Nacht am Horizont. 1974, 250 Seiten Band 3 Heinz Klingenberg: Edda - Sammlung und Dichtung. 1974, 185 Seiten Band 4 Oskar Bandle u.a.: Studien zur dänischen und schwedischen Literatur des 19. Jahrhunderts. 1976, 225 Seiten Band 5 Hartmut Röhn: Untersuchungen zur Zeitgestaltung und Komposition der Islendingasögur. 1976, 159 Seiten Band 6 Ulrike Sprenger: Untersuchungen zum Gebrauch von sá und nachgestelltem inn in der altisländischen Prosa. 1977, 282 Seiten Band 7 Hans-Peter Naumann: Sprachstil und Textkonstitution. Untersuchungen zur altwestnordischen Rechtssprache. 1979, 188 Seiten Band 8 Wilhelm Friese u.a.: Strindberg und die deutschsprachigen Länder. Internationale Beiträge zum Tübinger Strindberg-Symposion 1977. 1979, 396 Seiten Band 9 Wolfgang Pasche: Skandinavische Dramatik in Deutschland. Björnstjerne Björnson, Henrik Ibsen, August Strindberg auf der deutschen Bühne 1867-1932. 1979, 310 Seiten Band 10 Aldo Keel: Innovation und Restauration. Der Romancier Halldór Laxness seit dem Zweiten Weltkrieg. 1981, 161 Seiten Band 11 Oskar Bandle u.a.: Strindbergs Dramen im Lichte neuerer Methodendiskussionen. Beiträge zum IV. Internationalen Strindberg-Symposion in Zürich 1979. 1981, 289 Seiten Band 12 Jürg Glauser: Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island. 1983, 357 Seiten Band 13 Radko Kejzlar: Literatur und Neutralität. Zur schwedischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1984, 278 Seiten Band 14 Hans Joerg Zumsteg: Olav Duuns Medmenneske-Trilogie. 1984, 304 Seiten Band 15 Festschrift für Oskar Bandle. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 1986. Herausgegeben von Hans-Peter Naumann unter Mitwirkung von Magnus von Platen und Stefan Sonderegger. 1986, 316 Seiten Band 16 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. I. Teil: 1859-1898. 1986, 414 Seiten Band 17 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. II. Teil: 1899-1909. 1987, 330 Seiten Band 18 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890- 1940. In Zusammenarbeit mit Oskar Bandle herausgegeben von Klaus Düwel und Heinrich Beck. 1989, 739 Seiten Band 19 Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies 7-12. August 1988 in Zürich und Basel. 1991, 528 Seiten Band 20 Stefanie Würth: Elemente des Erzählens. Die þættir der Flateyjarbók. 1991, 170 Seiten Band 21 Susan Brantly: The Life and Writings of Laura Marholm. 1991, 206 S. Band 22 Thomas Seiler: På tross av - Paal Brekkes Lyrik vor dem Hintergrund modernistischer Kunsttheorie. 1993, 193 Seiten Band 23 Karin Naumann: Utopien von Freiheit. Die Schweiz im Spiegel schwedischer Literatur. 1994, 226 Seiten Band 24 Wilhelm Friese: Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. 1995, 164 Seiten Band 25 Stephen N. Tranter: Clavis Metrica: Háttatal, Háttalykill and the Irish Metrical Tracts. 1997, 226 Seiten Band 26 Stefanie Würth: Der „Antikenroman“ in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. 1998, 294 Seiten Band 27 Wolfgang Behschnitt: Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs. 1997, 325 Seiten Band 28 Hans-Peter Naumann / Silvia Müller (Hrsg.): Hochdeutsch in Skandinavien. Internationales Symposium, Zürich 14.-16. Mai 1998. 2000, 254 Seiten Band 29 Bettina Baur: Melancholie und Karneval. Zur Dramatik Cecilie Løveids. 2002, 234 Seiten Band 30 Uwe Englert: Magus und Rechenmeister. Henrik Ibsens Werk auf den Bühnen des Dritten Reiches. 2001, 368 Seiten Band 31 Oskar Bandle: Schriften zur nordischen Philologie. Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte der skandinavischen Länder. Herausgegeben von Jürg Glauser und Hans-Peter Naumann. 2001, 638 Seiten Band 32 Jürg Glauser / Barbara Sabel (Hrsg.): Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit. 2002, 350 Seiten Band 33 Susanne Kramarz-Bein: Die Þiðreks saga im Kontext der altnorwegischen Literatur. 2002, 396 Seiten Band 34 Astrid Surmatz: Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. 2005, 618 Seiten Band 35 Iris Ridder: Der schwedische Markolf. Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung. 2002, 276 Seiten Band 36 Barbara Sabel: Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit. 2003, 171 Seiten Band 37 Verschränkung der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann herausgegeben von Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth. 2004, 582 Seiten Band 38 Silvia Müller: Schwedische Privatprosa 1650-1710. Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich. 2005, 370 Seiten Band 39 Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. 2005, XII, 510 Seiten Band 40 Jürg Glauser (Hrsg.): Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen. 2012, 195 Seiten Band 41 Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. 2009, X, 327 Seiten Band 42 Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.): Text - Reihe - Transmission. Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800. 2012, 319 Seiten Band 43 Lena Rohrbach: Der tierische Blick. Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur. 2009, XII, 382 Seiten Band 44 Andrea Hesse: Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen. 2009, 254 Seiten Band 45 Jürg Glauser / Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. 2014, 274 Seiten Band 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.): Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. 2009, 241 Seiten Band 47 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. Reprint der Erstauflage mit einer Einführung von Kurt Braunmüller. 2011, XXV, 117 Seiten und 23 Karten Band 48 Simone Ochsner Goldschmidt: Wissensspuren. Generierung, Ordnung und Inszenierung von Wissen in Erik Pontoppidans Norges naturlige Historie 1752/ 53. 2012, 296 Seiten Band 49 Frederike Felcht: Grenzüberschreitende Geschichten. H.C. Andersens Texte aus globaler Perspektive. 2013, 312 Seiten Band 50 Thomas Seiler (Hrsg.): Wildgänse und Windmühlen. Aspekte skandinavisch-iber(oamerikan)ischer Kulturbeziehungen. 2013, VIII, 231 Seiten Band 51 Klaus Müller-Wille/ Joachim Schiedermair (Hrsg.): Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus. 2013, XXVI, 213 Seiten Band 52 Hendrik Lambertus: Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern. Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur. 2013, 260 Seiten Band 53 Alois Wolf: Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter. 2014, 121 Seiten Band 54 Walter Baumgartner: Gibt es den Elch - Fins elgen? Aufsätze 1969- 2011 zur neueren skandinavischen Lyrik. Essays 1969-2011 om nyere skandinavisk lyrikk. 2014, 338 Seiten Band 55 Band 56 Katharina Seidel: Textvarianz und Textstabilität. Studien zur Transmission der Ívens saga, Erex saga und Pacevals saga. 2014, 248 Seiten Lukas Rösli: Topographien der eddischen Mythen. Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda . 2015, VIII, 227 Seiten BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 57 Die isländische Literatur hat heute eine zentrale Funktion für die Identitätsstiftung, der Beginn dieses Identitätdiskurses ist bisher jedoch ungeklärt. Diese Frage greift der Band auf und diskutiert mit dem Blick auf die Literaturproduktion von 1100-1300 mithilfe kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien die Rolle der Schrift, Erinnerungstechniken und -strategien. Diese zeigen, dass Vergangenheit in Island konträr erinnert wurde und nur ein geringer Bestand an kollektiven Erinnerungen existierte. Kompensiert wurde dieses Desiderat durch die Königssagas, innerhalb derer ein Identitätsdiskurs entwickelt wurde, der Erinnerungskonkurrenzen dialogisch aushandelte. Durch diese Kontrolle über die Historiographie gelang es den Isländern, ihre bedrohte kollektive Identität zu erhalten. Die Entwicklung der Literatur ab 1100 geht daher mit der Aufforderung zu einem unaufhörlichen Erinnern einher, die das kulturelle Gedächtnis der Isländer stets in sich trug. Dr. Laura Sonja Wamhoff promovierte und lehrte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Wamhoff Isländische Erinnerungskultur 1100-1300 Laura Sonja Wamhoff Isländische Erinnerungskultur 1100-1300 Altnordische Historiographie und kulturelles Gedächtnis