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Kaleidoskop Kluge

2016
978-3-7720-5588-1
A. Francke Verlag 
Christoph Streckhardt

Alexander Kluge, so die These dieser außergewöhnlichen Studie, befreit die Kritische Theorie aus ihrer diskursiven Verschanzung der letzten Jahrzehnte und verknüpft sie auf ästhetische wie bildungsphilosophische Weise wieder mit Gesellschaft. Dabei arbeitet Kluge, wie Christoph Streckhardt zeigt, im Grunde nach vier Prinzipien: Entschleunigung, Subjektivierung, konstellative Darstellung sowie kooperative Gegenproduktion. Mit allen Freiheiten eines multimedial agierenden Erzählers gelinge es ihm darüber hinaus, auch die theoretischen Grundlagen insbesondere die Walter Benjamins und Theodor W. Adornos weiterzuentwickeln. Die Studie wird eingerahmt von zwei exklusiven Interviews mit dem "Hofpoeten" der Frankfurter Schule. Zusätzlich gewährt sie spannende Einblicke in bislang unveröffentlichtes Material wie verlagsinterne Protokolle aus dem Siegfried Unseld Archiv (Deutsches Literaturarchiv Marbach) oder die Briefkorrespondenz zwischen Kluge und Adorno aus dem Theodor W. Adorno Archiv (Berliner Akademie der Künste). Als ein Novum in der Kluge-Forschung erläutert sie zudem in einem etwa 30-seitigen lexikon-untypischen Kluge-Lexikon zentrale Schlüsselbegriffe und -motive.

Kaleidoskop Kluge Christoph Streckhardt Kaleidoskop Kluge Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8588-8 Umschlagabbildung: Alexander Kluge, © Manuel Braun (manuelbraun.fr). Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-STIFTUNG. Beim vorliegenden Werk handelt es sich um eine leicht veränderte Fassung der im Winter 2014/ 15 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommenen Dissertation. „Kunst der Gegenwart. Stellung der Wissenschaften zur Kultur Die soziale Frage. Besser leben, nicht mehr erkennen. Die jetzigen Menschen Trümmerhaufen.“ 1 1 Friedrich Nietzsche im Winter 1870 / 71 . „Ich erinnere mich“, schreibt Sigrid Montinari in einer Einladung zum 25 . Todestag ihres verstorbenen Mannes, „daß Mazzino den Akzent auf Besser leben legte, als er damals den Text kommentierte.- - Ich habe nachgesehen in der KGW und meine, daß der Zettel sich in den Nachlaß einordnen lässt, der in Bd. II/ 3 veröffentlicht wurde (im Umfeld von 8 [ 90 ] und 8 [ 93 ]). SM“. Eine Kopie der handschriftlichen Notiz Nietzsches liegt vor. Abb. 1: Der Triumph des Kaleidoskops oder das Grabmal des Kopfzerbrechers. Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Forschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1 Thekengespräch in der Cinémathèque . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln . . . . . . . . . . . . . 22 2 . 1 Skizzen zur Kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2 . 1 . 1 Die Haltung der Kritischen Theorie I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2 . 1 . 2 Zweifel und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2 . 1 . 3 Neuausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2 . 1 . 4 Eine kurze Genealogie der Vernunft (Ratio plus Emotio) . . . . 46 2 . 1 . 5 Arbeit (Habermas’ blinder Fleck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2 . 1 . 6 Wahre Ware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2 . 1 . 7 Die Haltung der Kritischen Theorie II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2 . 2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen . . . . . . . 63 2 . 2 . 1 Subjekt-Objekt I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2 . 2 . 2 Subjekt-Objekt II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2 . 3 Öffnung und Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2 . 3 . 1 Die Öffnung der Wissenschaften nach „unten“ (und zur Seite) 88 2 . 3 . 2 ‚Kälte’ als Metapher der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2 . 3 . 3 Denkbewegung: Prozess vs. Resultat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2 . 3 . 4 Fürchtet sich Intelligenz aus Verlustängsten ihrer Identität davor, verstanden zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2 . 3 . 5 Zwischenfazit: Zum Selbstverständnis einer kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2 . 4 Identität und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2 . 4 . 1 Arbeit am Projekt einer authentischen Öffentlichkeit . . . . . . 118 2 . 4 . 2 „Cogito quia natus sum“: Odysseus und der Begriff der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2 . 4 . 3 Übergang: Wissensspeicher Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2 . 5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2 . 5 . 1 Kritische Theorie und die Rolle der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 173 2 . 5 . 2 Ästhetische Theorie und Praxis bei Kluge . . . . . . . . . . . . . . . 179 2 . 5 . 3 Multi-, Trans- und Intermedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2 . 5 . 4 Fröhliche Wissenschaft und Anti-Stil: Merkmale Kluges Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2 . 5 . 5 Erzähltheorie und Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2 . 5 . 6 Über Verstehen und Wollen: Produktion und Rezeption . . . . 281 2 . 5 . 7 Übergang: Kunst-- Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 2 . 6 Mündigkeit-- Zum Verhältnis von Freiheit und Vernunft, Denken als intersubjektiver Vorgang, öffentlicher Raum zum Erfahrungsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2 . 6 . 1 Die historische Idee der Bifurkation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2 . 6 . 2 Zum Zeitbedarf von Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 2 . 6 . 3 Der Antirealismus des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 2 . 6 . 4 Selbstregulierung als Antwort auf die Gefahr des Selbstwiderspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 2 . 6 . 5 Zum Verhältnis von ‚Mündigkeit’ und ‚Humanismus’ . . . . . 333 2 . 6 . 6 Ästhetische Erfahrung und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . 335 2 . 6 . 7 Ästhetische Bildung zur Mündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 2 . 6 . 8 Resümee: Philosophie in Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 3 Telefongespräch über positive Dämonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Kluge-Lexikon: Schlüsselbegriffe und -bilder im Werk Alexander Kluges . . . . 377 Siglen und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Literatur (Alexander Kluge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Film, TV & Web- TV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Hörspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Interviews und Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Sonstige Online-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Verzeichnis aller Abbildungen und Bild-Text-Arrangements . . . . . . . . . 448 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 9 Vorwort Alexander Kluge ist in seiner Haltung wie auch in seiner Ästhetik, hierin sind sich Forschung und Feuilleton einig, ein aufklärerischer Geist im besten Sinne. Gemäß dieser Hypothese gilt es, das klugesche Gesamtwerk auf seine ästhetische Gestalt sowie seinen philosophischen Gehalt hin zu untersuchen: Kann Alexander Kluge als ein außergewöhnlich agierender Vertreter der Kritischen Theorie bezeichnet werden? Und wenn ja, was nützt eine solche Kategorisierung? Vorweggenommen sei: Es geht nicht darum, Kluge in die philosophischen Bibliotheken einzuspeisen, sondern im Gegenteil darum, die Philosophie zu entriegeln und ihr Ausdrucksmittel, Kommunikationswege und Kooperationsmöglichkeiten außerhalb des universitären Betriebs aufzuzeigen. Grund hierfür ist die Überzeugung, dass sich die Philosophie mit einem alten Vorwurf in Zeiten aufgeregter Unsicherheit und anhaltender Ungerechtigkeit neu auseinandersetzen muss: Ob sie nicht mit dem Übergewicht ihrer Ausrichtung auf Wissenschaftlichkeit den Anschluss an ihren eigentlichen Untersuchungsgegenstand verloren hat: das Leben. 2 Ob nun sie in abstrakten Diskursen und auf verwinkelten Wegen den Menschen vergessen hat oder ob dieser in seiner hektischen Effizienz verlernt hat zu staunen, zu hinterfragen, zu entdecken, ist einerlei. Da Philosophie eine Bildungsgröße ist, muss sie Verantwortung übernehmen und Schritte einleiten, die gegen diese Auflösungserscheinungen arbeiten. Die vorliegende Dissertation entzieht sich deshalb nicht, Wissenschaft im Allgemeinen und Philosophie im Besonderen in die Pflicht zu nehmen, aus inneren Zirkeln auszubrechen und in die Gesellschaft hineinzuwirken. Gelingt es, sich von akademischen Verklausulierungen und persönlichen Eitelkeiten zu verabschieden, ist die notwendige Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit möglich, wie sie das klugesche Werk vorlebt. 3 Gegenstand der Untersuchung ist das kaleidoskopische Werk eines multimedial agierenden Künstlers und Theoretikers-- die Arbeit soll dessen emanzipatorischen Gehalt in Form und Inhalt entfalten sowie, darauf basierend, sein Emanzipationspotenzial eingehend behandeln: Ob Kluges Kunst zu einer ästhetischen Ausbildung der menschlichen Sinneswelt beitragen kann und dies auch zum mündigen Demokraten befähigt, soll kontrovers und selbstprüfend diskutiert werden; etwa und besonders, ob Kluge durch seine anspruchsvolle Arbeit nicht einen großen 2 Paradoxerweise existiert zugleich seitens der Naturwissenschaften der Vorwurf von zu wenig Wissenschaftlichkeit (nach deren Maßstäben). 3 Erinnern wir uns etwa an Sokrates, der die Philosophie aus der Akademie zum Forum bringt, auf den Marktplatz; sie ist von öffentlichem und sie hat öffentliches Interesse. 10 Vorwort Teil der Gesellschaft ausklammert, ob er vielleicht tatsächlich nur Intellektuellenprogramm, Nischenprogramm betreibt- - und somit gar keine gesellschaftliche Relevanz besitzen kann, da er die Gesellschaft dann weder ansprechen, geschweige denn erreichen würde? An der Schnittstelle zwischen Wissen und Wissensvermittlung will diese Arbeit über Alexander Kluge eine dreifache Öffnung bewirken: Ihr ist es gleichermaßen um den Bruch mit Anti-Intellektualismus wie um den Bruch mit elitärer Hochkultur zu tun. Jedoch nicht, um sich in Schöngeistigem und Abstraktem zu verlieren, sondern um die Sinne, die Wahrnehmung, das tägliche Unterscheidungsvermögen zu schärfen. Gewissermaßen Kant, Schiller und Adorno verknüpfend und humanistische Bildungsideale mit kritischer Emanzipationsfähigkeit vereinend, soll die Arbeit Alexander Kluges als ästhetische Bildung zur Mündigkeit beleuchtet werden. Es gilt zu veranschaulichen, wie gegenwartszugewandt und möglichkeitsprojizierend das klugesche Werk ist, gerade indem es in produktivem, wechselseitigem Austausch mit Vergangenem steht. Man wird sehen, dass es ein prozessuales Projekt darstellt, das die alte Angst vorm Nichtverstehen nehmen, Mut zum Hinterfragen geben und schließlich Lust am selbstständigen Nachdenken machen will. „Wissen ist nicht ausschließlich begrifflicher Art.“ 4 Destruktiv wäre es deshalb, wollte man versuchen, Kluges Arbeit krampfhaft zu systematisieren und mit Begriffen festzuzurren. Seine bildungsphilosophisch geprägte Kunst, die zwar hier einer geisteswissenschaftlichen Beobachtung unterzogen wird, wird als Grenzgänger zwischen den Künsten und zwischen den Wissenschaften angesehen. Ihre autonome, sich immerfort metamorph und perpetuierend verhaltende, sich spontan aufspaltende und wie von selbst in neuen Kombinationen zusammensetzende Form muss in ihrem organischen Charakter, will man sie nicht zerstören, sondern wirklich verstehen, erhalten bleiben. Unter diesem Leitstern steht deshalb auch das angehängte Lexikon. Es soll Kluges Kunst nicht systemisch einfangen, sondern dieses Glossar, das bewusst experimentellen Charakter besitzt, soll wie ein Schlüsselkasten benutzt werden, um ein Werk aufzuschließen, das allgemein unter dem Vorwurf steht, kompliziert zu sein. Da die vorliegende Arbeit einen Erkenntnisgewinn anstrebt und der Form nach den Bedingungen für eine ordentliche Doktorarbeit einer philosophischen Fakultät einer Universität nachzukommen hat, kommt sie auch selbstverständlich gar nicht umhin, mit Begriffen zu hantieren, die sie zunächst einmal zu erläutern hat, will sie mit diesen zur Kritik schreiten. Es wird sich zeigen, dass Begriffe und Bilder, dass Wissenschaft und Kunst bei Kluge so sehr ineinander überlaufen, dass der Boden jeder Schublade längst aufgeweicht ist und es schon wieder in die nächste träufelt.-- Gerade weil das so ist, besteht 4 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2004 , S. 101 . Vorwort 11 für die Auseinandersetzung mit ihm die Gefahr, sein Verfahren nur zu wiederholen. Diesem Problem wird hier durch den nötigen Abstand in Form (z. B. keine Montage-Dissertation) wie Inhalt (kritische Reflexion und geistesgeschichtliche Einordnung etc.) Einhalt geboten- - ohne jedoch die Freiheit zur eigenen Ausdrucksweise zu untergraben. Grundsätzlich umkreisen die Themen Kluges und somit auch diese kritische Betrachtung philosophische Urfragen: Wie ist es um den menschlichen Anspruch auf Glück, auf Sicherheit und Wissen bestellt? So wird es um die Suche nach Identität und Wege des Identifizierens gehen, um eine überindividuelle Ontologie, um die Respektierung und die Förderung der Entfaltung des Subjekts im Angesicht seines ungleichen Plurals (die anderen). Dies mündet in die konkrete Frage, welche politischen Handlungsmöglichkeiten mir als zur Emanzipation strebendes Individuum zur Verfügung stehen, auch wenn keine Infrastruktur einer entsprechenden Bewegung existiert? Kluge antwortet darauf mit folgender Idee: Mithilfe der Störung des gängigen Unterhaltungsprogramms durch eine antikommerzielle und ästhetische Bespielung von Medien und Leitmedien wächst die Möglichkeit, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen und dieser Material und Plattform zugleich zu bieten, um somit eine kritische und mündige Öffentlichkeit entstehen zu lassen. Insofern: To fight the devil with fire-- oder um es mit Heiner Müller zu sagen: Die Hölle ist kalt. 12 Forschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau Forschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller und dem Filmemacher Alexander Kluge ist in Tiefe wie Breite durchaus beträchtlich, wenngleich er in den einschlägigen Feuilletons eine noch beachtlichere Aufmerksamkeit erfährt. Während Letzteres vermutlich auf das nicht-akademische und doch intellektuelle Moment sowie die multikünstlerische Form zurückzuführen ist, ist Ersteres besonders den Kluge-Spezialisten Rainer Stollmann und Christian Schulte zu verdanken, von denen auch die vielleicht interessantesten und schönsten Gespräche mit Kluge stammen. Seltsamerweise existiert bis auf wenige inhaltlich verwandte Essays wie zu unrecht entlegene Beiträge Schultes 5 und Stollmanns 6 oder eine treffende Titelzeile einer Kurzrezension Uwe Schüttes 7 im Prinzip keine Literatur, die den Weg dieser Arbeit bis zum Ende verfolgt: Das Werk Alexander Kluges, betrachtet als eine ästhetische Begleitung der Philosophie, als Gesellschaftsanalyse in erzählerischer Darstellung, als Fortschreibung der Kritischen Theorie mit Ausdrucksmitteln der avantgardistischen Moderne, die Verwandtschaftsgrade etwa mit dem epischen Theater, dem Russischen Formalismus oder dem frühen Stummfilmkino aufweist und gleichzeitig eigene Strömungen wie die des Neuen Deutschen Films mitbegründet hat. Letztlich haben insbesondere Aussagen Christian Schultes der Ausrichtung dieser Dissertation indirekt Mut gegeben. Das gilt ebenso für das Kluge-Panel im Rahmen der Konferenz „Critical Theory, Film and Media: Where is ‚Frankfurt’ Now? “, 8 die im August 2014 an der Frankfurter Goethe-Universität bzw. im Institut für Sozialforschung stattfand sowie für das zweite Alexander- Kluge-Jahrbuch, das unmittelbar vor dieser Publikation erschien. 9 Denn dass jene 5 Schulte, Christian: „Kritische Theorie als Gegenproduktion. Zum Projekt Alexander Kluges“, in gift-- zeitschrift für freies theater, Ausgabe 03 / 2010 . Link: http: / / www.freietheater.at/ ? page=service&subpage=gift&detail=42 458&id_text=11 [Zugriff: 20 . 07 . 2012 ]. 6 Stollmann, Rainer: „Eine Art Grundsatzrede. Einleitender Kommentar zur Rede Alexander Kluges bei Entgegennahme des Adorno-Preises 2009 “, in Glossen-- German Literature and Culture after 1945, Heft 35 / 2012 . 7 Schütte, Uwe: „Kritische Theorie als Literatur. Kluge, Alexander: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft“, in Wiener Zeitung vom 09 . 01 . 2010 . 8 „Kluge, or The Continuation of Critical Theory by Cinematic Means“ mit Beiträgen von Christian Schulte, Grégory Cormann, Jeremy Hamers, Nils Plath, Tara Forrest bzw. mit direktem Bezug in anderen Themenblöcken auch von Ben Gook sowie Dorothea Walzer. 9 Kurz vor Veröffentlichung kam dieser wichtige Essayband hinzu, der leider nicht mehr mit einbezogen werden konnte: Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christi- Forschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau 13 Spuren in der Forschung existieren und sich aktuell verdichten, weist auf den Sinn hin, dem Ausgangsgefühl nachzugehen, der Mangel an ihnen wiederum auf die Notwendigkeit, weitere Fußabdrücke zu hinterlassen- - im Grunde die Daseinsberechtigung der folgenden Seiten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Alexander Kluge in der Sekundärliteratur reagiert lebendig und vielfältig auf den Reiz der unzähligen theoretischen wie ästhetischen Anknüpfungspunkte, die sein Werk anbietet. Auch dieses Buch schlägt immer wieder Verbindungen zu verschiedensten Autoren, Bewegungen und Diskursebenen, um Ähnlichkeitsrelationen aufzuzeigen und Kluges Arbeiten besser beleuchten zu können. Im Umkehrschluss besteht zugleich aber auch die Gefahr der Beliebigkeit oder dem Eindruck, man habe es mit einem homogenen Autorenblock zu tun. Dem Wunsch, die Vielpoligkeit zu erhalten, soll mit dem Drang, Letzterem entgegenzuarbeiten, verbunden werden. Deshalb soll es bei der Suche nach etwas Grundlegendem keineswegs um ein Reduzieren gehen, sondern um das Bereitstellen von Verlässlichem. Für die Dissertation gilt deshalb die Leitthese, dass sich Alexander Kluges Werk trotz aller Polyphonie als Zusammenhang, gewissermaßen als Physiognomie eines philosophischen Denkzusammenhangs rekonstruieren lässt. Und der scheint mit der Chiffre „Kritische Theorie“ am kompaktesten zusammengefasst, auch und gerade weil diese sich einer geschlossenen Definition verwehrt. Diese unternimmt bekanntlich eine Analyse und Kritik von Gesellschaft, insbesondere hinsichtlich ihrer Macht-, Gewalt- und Freiheitsverhältnisse unter dem handlungsorientierten Leitstern, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“. 10 Die Kritische Theorie denkt Kant, Hegel, Marx, Freud und andere zusammen, ist ihren wesentlichen programmatischen Äußerungen nach undogmatisch und selbstreflexiv, ist antikapitalistisch, ideologiekritisch und antiautoritär. Entscheidend ist dabei, dass die Kritische Theorie kein geschlossenes System ist, sondern in erster Linie eine Haltung. Auf Kluge bezogen darf dabei ein methodisches Problem nicht unerwähnt bleiben: Sein theoretisches und sein künstlerisches Werk stehen nicht einfach im Verhältnis von Theorie und Anwendung. So geht es also nicht um den Versuch ästhetischer Darstellung von Theorie. 11 Vielmehr partizipieren auch die theoretischen Schriften Kluges an seiner literarischen Praxis und umgekehrt. Ja eigentlich kann man nicht an Schulte u. Rainer Stollmann (Hg.): Glass Shards. Echoes of a Message in a Bottle. In der Reihe: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 2 , Göttingen (V&R unipress) 2015 . 10 Adorno, Theodor W.: „Erziehung nach Auschwitz“, in ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hg. v.-Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1971 , S. 88 . 11 Dies wäre wohl auch nicht mehr als eine Verwechslung zwischen „Theorieschein“ und Kunstwerk. Vgl.: Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989 , S. 94 f. 14 Forschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau einmal solche Einteilungen vornehmen, da die dicken Bände mit Oskar Negt noch voller Poesie stecken und selbst der entlegendste Minutenfilm Theoretisches transportiert. Vielleicht liegt genau hier der besondere Reiz an Kluge: analytisch und ästhetisch zugleich am Werk zu sein. Es scheint, dass Form und Inhalt, theoretische Reflexion, intellektuelle Intervention und nie rein ästhetische Produktion (vielmehr: praktisches Arbeiten) im Gesamtprozess wahrgenommen werden müssen, will man etwas „Wahres“ aussagen. Um es mit seinem eigenen Vokabular zu verdeutlichen: Die Lücken und Bruchstellen im Werk sind „durchlässige“ und „reiche“ „Nahtstellen“, weil sie eine komplementäre, wechselseitige Durchdringung von „spontan (idiosynkratisch)“ und „bewusst (kritisch)“ ermöglichen. 12 Wenn man Kluge deshalb so etwas wie „Systematik“ andichten wollte, bestünde eine ähnliche Gefahr als wenn man ihm vorschnell „Unsystematik“ vorwürfe. Sein „System“ ist ein nach allen Seiten offenes und dennoch in sich stimmiges Anti- System und deshalb vielleicht treffender als „Zusammenhang“, als die „Kunst des Zusammenhangs“ zu bezeichnen. Die erwähnte Frankfurter Grundhaltung ihrerseits hat bekanntermaßen spezifische Theorien und Methoden geprägt, von denen Alexander Kluge zahlreiche nicht nur theoretisch aufgegriffen, kritisiert und weiterentwickelt hat in Bezug auf Probleme des späten 20 . und frühen 21 . Jahrhunderts. Gerade bezogen auf den praktischen Impetus der Weltveränderung hat er verblüffende neue Wege beschritten, die wie en passant die Kritische Theorie selbst ins nächste Jahrhundert vermittelt haben, indem er öffentlichen Erfahrungsraum zwischen Universität und Marktplatz, zwischen Metropole und Provinz, zwischen Intelligenzia und Proletariat eingerichtet hat. Dies, das werden die Untersuchungen zeigen, gelingt ihm durch zweierlei, durch etwas „Theoretisches“ und etwas „Praktisches“: Durch form-ästhetische Umsetzungen Adornos und Benjamins erkenntniskritischer Idee der Konstellationen sowie durch nach ähnlichem Prinzip funktionierende innerwie außerästhetische Kooperationen. Alexander Kluges Werk ist daher unbedingt auch als ein kugelhaftes Buch benjaminscher und adornoischer Wirkungsgeschichte zu lesen. Es war Paul Feyerabend (Wider den Methodenzwang, 1975 / 76 ), der darauf hingewiesen hat, dass es nicht die eine objektivistische Methode der Wissenschaften gibt, sondern höchstes durch Methodenpluralismus so etwas wie „Erkenntnis“ 12 Die Begriffsgegenüberstellung ist UM, MP, S. 993 entlehnt, wo das Subjektiv-Objekte behandelt wird. Das auch im Folgenden verwendete Sigel steht für: Negt, Oskar/ Kluge, Alexander: Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Bd. I: Suchbegriffe (SB), Öffentlichkeit und Erfahrung (ÖE), Maßverhältnisse des Politischen (MP). Bd. II: Geschichte und Eigensinn (GE). Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 2001 . Forschungsstand, Arbeitsmethoden und Aufbau 15 überhaupt möglich werden kann. Nach der Auseinandersetzung mit Kluge kann selbst dies nur ein Kompromiss sein. Überzeugt von der Ansicht, dass es entsprechend der Eigenarten eines so ungewöhnlichen Gegenstandes adäquater Werkzeuge bedarf, um diesen zu erfassen, verhält sich die Methodik dieser Untersuchung an ihre vielförmige Materie kritisch-assimilierend (jedoch nicht imitierend). Da wir es beim Werk Alexander Kluges mit multimedialen Formen und transmedialen Erzählweisen zu tun haben, da sein Inhalt von opulenter Artenvielfalt gekennzeichnet ist, die sich furchtlos allen Wissenschaften aufschließt und mit interesselosem Wohlgefallen fragt und lauscht, geradezu rauschhaft assoziiert, Grenzen verwischt und der es vor allem immer um den großen Zusammenhang gelegen ist- - da wir es mit einem solch außerordentlich komplexen Werk zu tun haben, muss auch der daran angewandte Schlüssel der Methode und Sprache transdisziplinär gegossen sein. So bedient sich diese Auseinandersetzung etwa dem Vokabular der Philosophie wie auch der Allgemeinen Rhetorik, der Filmanalyse wie der Literaturwissenschaft, der Erzähltheorie wie der Sozialwissenschaften-- jedoch nicht um akademisch-eloquent zu verschlüsseln, sondern um, umgekehrt, die Substanz unversehrt herausarbeiten zu können. Wiederholungen und Überschneidungen wurden versucht auf ein Minimum zu komprimieren, sodass die verbliebenen schlicht aus der Tatsache resultieren, dass die Grenzen in erster Linie theoretische Konstrukte sind und in der künstlerischen Praxis ineinander überlaufen. Dieser Konflikt ist sehr ernst zu nehmen, zumal er mit dem Sujet der Arbeit frappant korrespondiert. Auf dem skizzenhaften Hintergrund der Kritischen Theorie werden konturenartig die theoretischen Reflexionen der gemeinsamen Arbeiten Alexander Kluges und Oskar Negts gezeichnet, bevor diese anhand Kluges kaleidoskopischem Narrativ Ausmalungen erfahren. Es wird sich zeigen, wie die anfänglichen, schwarzen Skizzen plötzlich von Neuem aufscheinen, formvollendet unvollendet und in allerlei Farben. Alle „maskulinen“ Begriffe, wie etwa „der Rezipient“, stehen in dieser Arbeit für jedes und kein Geschlecht. 16 1 Thekengespräch in der Cinémathèque 1 Thekengespräch in der Cinémathèque Aus einem persönlichen Gespräch vom 27 . April 2013 während der mehr als einmonatigen Filmschau Alexander Kluge Rétrospective-- Prospective. Odyssée Cinéma der Cinémathèque française vom 24 . April bis 3 . Juni 2013 in Paris stammen die nun folgenden Seiten. Wenn nun in diesem geschichtsträchtigen Institut ganze sechs Wochen lang jeden Tag Kluges große Kinofilme wie auch kleine Minutenfilme gespielt werden, werden nicht nur besondere Einschnitte der Geschichte, die in seinen Filmen behandelt werden, in die Gegenwart geholt und mit dieser konfrontiert, auch tote Filmarbeit wird durch seinen Namen und die Namen, die ihn umgeben, stimuliert und wiederbelebt- - die Bewegungen der Nouvelle Vague und des Neuen Deutschen Films sind schließlich Schwestern. Sofort blitzen Namen wie Godard und Langlois auf. Zudem wird die Cinématèque nicht von ungefähr „Gedächtnis des Kinos“ genannt. Oder ist das nur ein nostalgisches Gefühl und in Wirklichkeit herrschen längst institutionelle „Trägheitsverhältnisse“? Mindestens zwei Dinge sprechen sofort dagegen, zumindest formal: Wenn man allein sieht, wie oft das Institut seinen Ort in der Stadt gewechselt hat (übrigens immer intra muros und immer in Reichweite zur Seine), dürfte es immer wieder neue Impulse ausgelöst haben. Das derzeitige Gebäude jedenfalls ist ohne Frage ein besonderes. Entworfen hat es Frank Gehry. Ich musste an ein Gebäude von ihm in Prag denken, vor allem weil ich es mit dem bekannten Marx-Zitat verbinde: Es heißt „Das tanzende Haus“ („Man muss die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zwingen.“). Das konnte ich Alexander Kluge leider nicht mehr sagen, denn dann ging es weiter für ihn mit dem Programm. In einer der „Pausen“ nahm er sich die Zeit für ein Gespräch, das wir einige Monate später dann am Telefon fortsetzten. Es ist ordentlich was los an diesem Tag im Café und Restaurant der Cinémathèque, das mit der „ 51 “ die Hausnummer im Namen trägt. Uns umgibt ein lautes Gemurmel aus Französisch, Deutsch, Englisch, fremde Gesprächsfetzen sind zu vernehmen, fließen mit ein, Leute kommen und gehen, stehen oder sitzen, essen, trinken, diskutieren, lachen, Musik dudelt, Gläser klirren. Es ist eine lebendige und ungezwungene, eine urbane Atmosphäre, eben: ein Thekengespräch. Kluge: […] Wenn Sie mir noch einmal kurz in Erinnerung rufen könnten, an was Sie genau arbeiten? CS: Gern. Ich beschäftige mich in meiner Arbeit mit Ihrem Werk aus einer philosophischen Perspektive heraus, weil meines Erachtens, und für mich 1 Thekengespräch in der Cinémathèque 17 unverständlich, eine solche vollkommen fehlt. Ich bin davon überzeugt, dass einem dadurch etwas Entscheidendes entgeht. Konkret gesagt, geht es mir um Kritische Theorie-- und zwar als Erzählung. Meine Arbeit wagt den Titel: „Die Fortsetzung Kritischer Theorie mit epischen Mitteln.“ Kluge: Das ist ein sehr schöner Titel, den Sie da gewählt haben. Vielleicht besser „narrativ“. Obwohl, „episch“ können Sie auch sagen. CS: An dieser Stelle bin ich mir auch unsicher. Ich will die Verwandtschaft zum epischen Theater so gern dabei haben, auch wenn das natürlich nicht der einzige Verwandtschaftsgrad Ihrer Arbeit ist und gleichzeitig ist der Begriff auch irreführend, weil er so viel bedeutet, weil er anderes ausschließt, was ich nicht ausschließen möchte. Mit „episch“ meine ich nicht Buddenbrooks, sondern natürlich eher Brecht. Wiederum ist es ja keine Moralveranstaltung, hier habe ich eher Verfremdungseffekte, Multimedia oder den Einsatz von Musik im Sinn-… Kluge: Sie verfolgen da einen richtigen Gedanken. Das Thema, Philosophie mit Erzählung zu begleiten, ist ein Uraltthema der Kritischen Theorie. Wenn man eine Enzyklopädie je neu schreiben würde, müsste man sie mindestens in sechs oder sechzehn Sprachen und in Dialekten gleichzeitig schreiben. Man müsste sie in einer plebejischen Ausdrucksweise und in einer individuellen gleichzeitig schreiben. Und das Cross-Mapping davon, diese Differenz davon, ist die wirkliche Information und die Enzyklopädie, also die Spannung. Wenn Sie z. B. das russische Wort für Liebe nehmen, oder für Wasser nehmen, oder Sie nehmen das russische Wort für Haut-- das heißt „Leder“; aber das Chagrinleder bei Balzac ist etwas anderes als „Haut“ und „Leder“ sich zueinander verhält. D.h. Sie würden hier eine Differenz in die Sprache kriegen und damit würde Philosophie überhaupt ihr Ausdrucksfeld haben. Man kann nicht versuchen, in Hochsprache Philosophie allein einzufangen. Auch Hegel schreibt ja offenkundig schwäbisch und Adorno schreibt eine Kunstsprache, die aber ganz schön frankfurterisch ist. In der Hinsicht ist also die Begleitung von Philosophie und die Vernetzung von Philosophie mit Erzählung mehr als die Beispiele zur Philosophie. Sondern man muss also jeden Gedanken 17 Mal erzählen, so wie das im Talmud auch üblich ist, also gewissermaßen einen Kreis machen um das, was unaussprechbar ist. CS: Einkreisen, umzingeln, bis man es begreifen kann. Kluge: Richtig. Um sozusagen die Gravitation zu spüren, die in einem Gedanken, einer verdichteten Haltung steckt. Und dies jetzt für die Kritische Theorie zu machen, würde u. a. bedeuten, dass Sie bei Walter Benjamin, bei seinem Passagen-Werk, überlegen: Wie können wir, meinetwegen, aus- 18 1 Thekengespräch in der Cinémathèque gehend vom 21 . Jahrhundert das 20 . Jahrhundert in eine Inventarliste, so wie das Passagen-Werk das ja macht mit dem 19 . Jahrhundert, kleiden? Wie können wir vom 22 . Jahrhundert aus, das ja mit Gewissheit irgendwie kommt, das 21 . Jahrhundert bereits im Vorgriff, weil wir im Grunde das Bedürfnis haben, schnell zu sein, einfangen? Und dann würden Sie sehen, die Frage „Was ist die Hauptstadt des 19 . Jahrhunderts? “… Beide: Paris. Kluge: Was wäre die Hauptstadt des 21 . Jahrhunderts? Ich weiß gar nicht, ob das eine Stadt wäre, das kann etwas anderes sein. CS: Das Internet vielleicht. Kluge: Vielleicht. Vielleicht wäre es eine Beziehung zwischen etwas. Aber Lagos ist es nicht. Und Moskau auch nicht. Und Berlin auch nicht. Wenn die Dominanz des Eisens nicht so sichtbar ist heute-… Es ist wichtig, aber der Eifelturm, die transsibirische Eisenbahn- - das ist alles Eisen. Während heute z. B. selten werden: Indirektheit und Silizium, und an die Stelle treten. Und die haben ja ganz andere Beziehungen als festgefügtes Eisen. Und das müsste man jetzt weiterentwickeln: CERN ist eine Riesenmaschine, sie würde Ihnen mit Sicherheit auffallen. Die Maschinerie Weltall, die jetzt erforscht werden kann, die dunkle Materie, die dunkle Energie, würden in die Institutionenlehre gehören. Auf diese Weise würde man jetzt die erzählerische Erfindung des Passagen-Werks fortsetzen. Das ist schon Narration at it’s best: die offene Form. Aber wie transkribiert man das in unser Jahrhundert und dessen Erfahrung? CS: Genau. Und das kann vielleicht nicht die Philosophie oder die Philosophie nicht alleine machen. Die Philosophie erklärt ja, verallgemeinert gesprochen, in Begriffen, die Literatur erklärt in sprachlichen, der Film in bewegten Bildern-… Kluge: Und jetzt müssen Sie alles das, einschließlich übrigens nach Adorno der Musik, die ja eine Kommentarfunktion hat-… Wenn etwas nach alter Weise tönt, will ich das hören. Wenn Keppler eine Himmelsmusik schreibt, möchte ich wissen, was das ist. Anders gesagt: Alle Formen des Ausdrucks lassen sich nochmals verbinden, um Kerngedanken der Kritischen Theorie auszudrücken, zu umkreisen, also zum gravitativen Zentrum der Kritischen Theorie Planeten, Monde und Planetoiden zu erzeugen. Und das würde dann weiter bei Sohn-Rethel bedeuten, dass Sie die Ableitung des Apriori und des Denkens aus der ökonomischen Praxis noch einmal in Erzählung nachvollziehen. CS: Das erreicht mehr Menschen. Kluge: Ganz viel mehr. Und sowas macht man auch nicht alleine. Aber man muss, wie bei den Brüdern Grimm, bereits Erzähltes überprüfen, ob es 1 Thekengespräch in der Cinémathèque 19 Kritische Theorie wiedergibt. Das ist eine Sammlung fremder Erzählung, die genauso dazugehören könnte. Es kommt erst Horkheimer und dann kommt Adorno. Jede dieser Erzählungen von denen lässt sich in dieser Weise fortsetzen-- zu mehreren. Und dass ich das tue, ist ganz sicher, also das kann ich Ihnen garantieren. CS: Und deshalb löst es bei mir eine Verwunderung aus, dass das nirgendwo in der Literatur, in der Forschung angekommen ist. Ihr Name steht nicht bei der Kritischen Theorie und Sie sagen ja selbst-… Kluge: Ja, aber das ist egal. Ob wo was steht, ist egal. Aber trotzdem: Wenn Sie jetzt Odysseus und die Sirenen als Beispiel nehmen, Grundmetapher der Dialektik der Aufklärung. Dann wäre hier jetzt die Transposition, also dass ich sozusagen das Ende der Odyssee hinzunehme. Wie kommt denn Odysseus nach Hause? Woran erkennt ihn Penelope? An dem von ihm in seiner Jugend gezimmerten, in einen Baum hineingehämmerten Bett, das unverrückbar ist. Da haben Sie die Kategorie der Identität, nicht der Zerreißung-- beim selben Homer. Und diese Sorgfalt gehört zur Kritischen Theorie dazu. CS: Die Analysefähigkeit trägt die Kritische Theorie ja in sich und ihr kommt jetzt durch das Narrative die Darstellungshilfe dazu. Kluge: Ja, das ist in der Narration sehr viel leichter. Es fällt einem in der Narration sofort auf, dass da was fehlt. Das fällt einem beim Denken nicht auf. CS: Richtig, so wie Adorno in der Negativen Dialektik sagt: „Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann.“ Kluge: Ja. Und schauen Sie, die Konstellationen, wenn Sie das sagen, dann ist „Konstellation“ eine Begriffsart, die im Talmud z. B. vorkommt. Also ein Rabbiner in Babylon würde von einem Zentrum oder von einem unsichtbaren Phänomen langsam Kreise bilden und im 52 . Kreis sind die Kommentare. CS: Das hat etwas von einer Spirale. Kluge: So ist es. Und dieses Denken liegt dem Horkheimer sehr. Der würde das ganz gut finden, was wir hier reden. Von daher würde man also bei Konstellationen die Ausdrucksform des Denkens vom Linearen wegbewegen. CS: Hin zum Kreisförmigen, Zyklischen? Kluge: Zyklischen-…-- auch. Es reicht schon, dass Sie die Kommentarebene sehr gründlich machen. Wenn Sie also haben: 17 Zeilen aus der Ethik von Aris- 20 1 Thekengespräch in der Cinémathèque toteles, verderbter Text, und jetzt kommt Abélard und schreibt 26 Bände Sic-et-non-Methode. 1 Das würde der Kritischen Theorie gefallen. CS: Die Nebenwege. Kluge: Ja, weil die Kommentarebene vertikal ist. Linear ist die eine Sache, die Darlegung. Und jetzt kommt die Vertikale, die Kommentare. CS: Die bifurcation, wenn man so will. Kluge: Natürlich, ja. Diese Form der in mehreren Stockwerken arbeitenden Analysen, wenn Sie so wollen: der Polyphonie im Denken, die gehört zur Kritischen Theorie dazu, Adorno liebt das, aber es gibt nicht so viele Beispiele, dass das gemacht wird. Meinetwegen den Begriff „Stadt“ können Sie in dieser Weise vertiefen, auflösen usw., in der Vertikale kommt etwas ganz anderes als „Stadt“ heraus hinterher. Sodass Sie sagen: Das Städtische ist eine Toleranzleistung, die es in wirklichen Städten am seltensten gibt, die aber mit der Stadtgründung zusammenhängt und immer wieder vorscheint. Aber wie schnell ist die Polis zerstört von Seeräubern, nicht?! Wie schnell ist Sokrates tot, ja?! Die Polis ist keine harmlose Sache. Aber die Sehnsucht danach, die Stadt, die wir in uns tragen, als Idee, und da ist Adorno und alle Mitglieder der Kritischen Theorie sind richtige Städter, die können Sie auf dem Land gar nicht aufhalten-… CS: Und das ist ja auch ein Problem. Sind Sie nicht vielleicht ein Bote, der von der Metropole aus zum Land geht durch das Darstellerische, durch das Narrative? Soll heißen, ein Botschafter, der Philosophie zu den abgehängten Provinzen bringt, ein Übersetzer von Kant und Marx und Nietzsche und der diese alle zusammendenkt? Kluge: Kann sein, kann auch umgekehrt sein, dass einer aus der Vorstadt Frankfurts, Adorno jetzt, etwas mitbringt von der mütterlichen Seite, das-…-- oder von der väterlichen Seite: Er lehnt den Vater ab, bringt aber etwas mit. Und das denkt in ihm. Und das kommt nicht aus der Stadt, das ist ein Weinhändler. Der richtige Weg wäre, dass man sowohl aus den übrigen 1 Pierre Abélard bzw. Petrus Abaelardus ( 1079 - 1142 ), Frühscholastiker. „Ein wichtiger Schritt zur Auflösung dogmatischer Starrheit in kirchlichen Lehren war Abaelards Schrift Sic et non (‚Ja und Nein’). Hier listete er in 158 Abschnitten Widersprüche in den Texten der Kirchenväter (insbesondere Augustinus) sowie in den Texten der Bibel auf, um aufzuzeigen, dass nur mit Hilfe der Interpretation Konflikte aus der Tradition heraus gelöst werden können. Damit wendete er sich gegen die starre Bindung an die Texte, weil nur so der eigentliche Sinn des Ausgesagten erfasst werden könne. ‚Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit.’ (Prolog). Dabei forderte Abaelard insbesondere zur textkritischen Analyse auf. Durch seinen systematischen hermeneutischen Ansatz hat er mit dieser Schrift wesentlich zur Entwicklung der scholastischen Methode beigetragen.“ Zit. n.: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Abelard [Zugriff: 29 . 04 . 2013 ]. 1 Thekengespräch in der Cinémathèque 21 Gebieten, aus der Geschichte, vom Lande, etwas in die Städte bringt als auch von der Stadt her etwas dorthin bringt. CS: Es geht nie immer nur in eine Richtung. Es muss ein Austausch stattfinden. Kluge: Nie nur in eine Richtung. Aggregieren ist aber die Grundtendenz, also Zusammenbringen, Sammeln. […] Kluge: Kritische Theorie hat ja sehr viele Facetten. Und auf jede dieser Facetten gehört etwas erzählt. Da ist eine Erzählung immer kürzer oder länger. Ich gehe ja hier nicht als Philosoph durch, sondern ich bleibe beim Erzählen. CS: Das ist mir auch sehr wichtig und das thematisiere ich. Ich sehe keinen Sinn darin, Sie als Philosophen zu bezeichnen-… Kluge: Nein-… CS: …Aber ich halte es für sinnvoll, auch aus einer philosophischen Perspektive Ihre Arbeit zu betrachten. Kluge: Und die Disziplin des Erzählens kommt aus der Philosophie! - … Sehen Sie, ich versteh das ja, was Sie sagen-… Und das reguliert mich, das sind Begrenzer und Propagatoren. Also ich kann z. B. Geschichten finden mit Hilfe der Theorie. CS: Also ganz ähnlich wie das Oskar Negt handhabt, wenn er von philosophischen Werkzeugen spricht. Kluge: Ja, Werkzeuge. Und dabei gibt es ein dominantes, das ist die Philosophie. Und die muss stimmen, auf eine etwas spielerische Art. Der Kant würde sagen: Das ist kein Erzählen. Er würde nicht sagen: Das ist Firlefanz. Sondern: Das ist eine Begleiterscheinung der Vernunft. Man muss spielen-- und damit meint er Karten spielen, mit Geld spielen-… CS: Da denke ich sofort an Schiller, die ästhetische Erziehung des Menschen. Kluge: Ja, bitte, bitte! -… Musik-- damit meint er Potpourris und sowas. Er hat eine ganz negative Vorstellung von dem, was Sie sagen. Das sind notwendige Begleiterscheinungen der Vernunft, selber keine Vernunfttätigkeiten. Damit unterschätzt er wieder das, was diese Begleiter machen. Aber dominant ist die Kritische Theorie. Sie gibt an: die Orientierung-- kann aber keine Vorschriften machen, wie man das erzählt. CS: Das ist dann eher fröhliche Wissenschaft, was Sie betreiben, ein Übergang sozusagen? Kluge: Ja-… ja. 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „In den kritischen Gesellschaftsentwürfen sind die Trümmer der Geschichte, sind Gewalt und Barbarei nicht verleugnet, sondern in einer menschenwürdigen Spannung zur Idee einer besseren Welt gehalten, zur Idee einer Menschheit, die sich ihres Zusammenhangs mit der Natur bewußt ist und der Gewalt zur Regulierung ihrer Angelegenheiten nicht mehr bedarf.“ 1 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie Sinn und Zweck dieses einleitenden Kapitels ist es, eine mehrgliedrige und grundsätzlich gehaltene Einführung in die Kritische Theorie zu geben, woran entlang sich peu à peu Merkmale Kluges ästhetischer Fortsetzung dieser abzuzeichnen beginnen, bevor sie in der Folge konkrete Formen annehmen werden. Kann man sagen: Kluge übersetzt Philosophie in Ästhetik und stellt sie, da sie wohlgemerkt nicht gekünstelt ist, so einer breiteren und vielschichtigeren Öffentlichkeit zur freien Verfügung? Ist Kluge ein Philosoph? 2 -- „In der Mehrzahl unserer Arbeiten“, erklären Kluge und Negt im Vorwort zu Der unterschätzte Mensch, „[…] versuchen wir Fragen der politischen Ökonomie und der Öffentlichkeit von der subjektiven Mitgift des Menschen her zu sehen. Für diese subjektive Seite ist charakteristisch, wie sehr sie unterschätzt wird; an dieser Unterschätzung sind schon große Reiche zerbrochen.“ Es folgt eine bodenständige oder sagen wir: urwüchsige Erläuterung, wie der Untertitel Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden konnotiert ist: „Wir haben uns den Untersuchungen mit viel innerer Zuwendung gewidmet, daher der Ausdruck philosophisch. Wir haben über die Jahre hin zu zweit gearbeitet, daher der Ausdruck gemeinsame Philosophie.“ Philosophie ist für Alexander Kluge und Oskar Negt „organisierte Form“ des „inneren Impuls“ „Unterscheidungsvermögen“ alias „Kritik“, weshalb sie jene für eine genuine Grundeigenschaft des Menschen halten. So handelt es sich genau genommen weniger um eine Übersetzungsleistung als viel mehr um eine Rückübersetzungsleistung, einen Vorgang der Rückkopplung. Und da dieses Rückkoppeln 1 Kluge, Alexander/ Negt, Oskar: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1992 , S. 260 . Im Folgenden MP. 2 UM, Bd. 1 , S. 17 (Vorwort; Hervorhebung gemäß Originaltext). Und jenes kooperative Nachdenken ist, so wird sich zeigen, Prinzip. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 23 zweigleisig ist, ist von einer Begleitung der Philosophie durch die Kunst sprechen. D.h. nicht Philosophie als Erzählung, sondern Philosophie und Erzählung. Immer wieder ineinander über gehen Knotenpunkte wie: Theorie- - Praxis, Ästhetik-- aisthesis-- Wahrnehmung, die Rolle der Kunst, Spiel, Humor, Phantasie, Vernunft-- Ratio-- Emotio, Aufklärung, Natur, Mythos, Kälte-- Überhitzung, Identität, das Subjektiv-Objektive, Erkennen, Erfahrungsraum, Arbeit, Öffentlichkeit. Die optische Linearität und Hierarchie der Kapitelanordnung ist derweil nur eine scheinbare und den Rahmenbedingungen geschuldet. 2.1.1 Die Haltung der Kritischen Theorie I Die hier entwickelten Charakteristika Kritischer Theorie sind wohlgemerkt als eine Art „Ideal“ der Frankfurt Schule zu betrachten. Sie dienen als methodische Folie, während die Realität dieser Schule durchaus auch anders aussieht und aussah. Die Kritische Theorie ist eine „Theorie, die die Gesellschaft analysiert im Lichte ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage.“ 3 Konkret knüpft sie an die marxsche Kritik der politischen Ökonomie an, verbindet diese aber mit (sozial-)psychologischen wie kulturtheoretischen Erkenntnissen. Wesentlich verfährt sie antidogmatisch, selbstreflexiv und antitotalitär, d. h. ebenso antifaschistisch wie antistaatssozialistisch. 4 Eine Aufbereitung der Theorien der Frankfurter Schule und ihrer zahlreichen und sich zum Teil widersprechenden Vertreter kann an dieser Stelle selbstverständlich nur bruchstückhaft erfolgen. Entscheidend ist nicht die Erkenntnis, dass es sich um eine niemals konsistent und stringent verhaltende Theorie handelt, sondern das, worauf sie bei all ihren Entwicklungen unbeirrt zielt: die Veränderung menschenunwürdiger Verhältnisse, hin zu einer vernünftigen Gesellschaft der Freiheit und Gerechtigkeit. In diesem entpersonalisierten und ent-institutionalisierten Verständnis ist sie mit der Aufklärung verschwistert: der Befreiung des Individuums aus fremdbestimmten Zwängen zum Zweck der Entfaltung des Individuums (Freiheit) ohne Beeinträchtigung anderer Individuen (Gerechtigkeit). In diesem Kontext deutet sich bereits an, dass der Begriff „Frankfurter Schule“ eigentlich irreführend ist und deshalb hier nur als Wendung, als Synonym verwen- 3 Marcuse, Herbert: Philosophie und kritische Theorie. In: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übers. v.-Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989 , S. 12 . 4 Vgl. z. B.: Schweppenhäuser, Gerhard: Kritische Theorie. Stuttgart (Reclam) 2010 , S. 24 . Dieser Band, der sich sehr zur Einführung in die Kritische Theorie empfiehlt, diente auch bei den Vorbereitungen zur vorliegenden Arbeit zur konzentrischen Orientierung. Im Folgenden „G. Schweppenhäuser“. 24 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln det wird. Denn im Institut für Sozialforschung soll nicht etwas im scholastischen Sinne gelehrt werden, sondern hier wird idealiter ein kritisches Denkvermögen vermittelt und angeregt, das sich selbstbewusst nicht hinter der bloßen Rezeption von Marx- oder Freud-Zitaten versteckt, sondern das mit der Arbeit dieser und sehr viel anderer reflektiert und produktiv am Werke ist. Den Hauptuntersuchungsgegenstand Kritischer Theorie stellt dabei die Pathologie von Vernunft und Gesellschaft dar, als deren beständiger Grund ein entfesselter Kapitalismus ausgemacht wird. 5 Zunächst muss man sich bewusst machen, dass der Rationalität nicht die Emotionalität als Irrationalität gegenübersteht, sondern diese mit der Ratio wechselseitig verbunden ist. Unter Irrationalität sind Denkweisen oder Handlungen zu verstehen, die mechanisch und ignorant ablaufen. Eindimensionalität im Denken, die sich in instrumenteller Vernunft und einem Pragmatismus des Erkenntnisbegriffs ausdrückt, gilt als totalitär. Mit Lukács gesprochen, ist das ursprünglich Intersubjektive des Warentausches mit dem Kapitalismus der Moderne deformiert, entsozialisiert, verdinglicht worden. 6 Komplementär zur Diagnose der Verdinglichung von Selbst- und Fremdverhältnissen im Kapitalismus wird die Diagnose der Entfremdung gestellt; beides arbeitet der Selbstentfaltung des Menschen entgegen. Festgestellt wird eine Distanz zwischen dem Arbeitenden und dem Handlungszweck seiner Tätigkeit. Zudem klaffen Lücken sowohl zwischen ihm und dem Prozess der Arbeit als auch zum Produkt. Schließlich besteht eine Diskrepanz zwischen ihm und dem Geldwert seiner Arbeit. Mit der Entfernung von der ursprünglich eigenen Arbeit durch ihre aufgeteilte Fremdbestimmung in der kapitalistischen Produktion entzweit sich der Mensch von seinem an und für sich identifikationsstiftenden Handeln. Geradezu tragisch-schicksalhaft schließt sich ein Teufelskreis, wenn die Arbeit sich fremd in ihrer Erscheinung und repressiv in ihrer Wirkung gegen ihren „Schöpfer“ wendet. Durch diese Zäsur entwickelte sich ein subjektiv-objektives Ohnmachtgefühl in den Menschen gegenüber einem Waren- und Produktionssystem, das nicht der vernünftigeren Logik der Gebrauchswertverhältnisse folgt, sondern der kapitalistischen Logik der Tauschwertverhältnisse und damit dem Gesetz von Kapitalakkumulation und folglich Asymmetrieerzeugung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung. Das hat zur Folge, dass sich „eine Tendenz zur Hemmung der individuellen und kollektiven Möglichkeiten“ 7 breitmacht und etabliert. Diese Entwicklungen verschärfen sich seither beständig-- das ist keine neue Erkenntnis-- mit dem globalen Neoliberalismus, der die Freiheit des Marktes, nicht aber die Freiheit des Menschen 5 Honneth, Axel: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 . 6 Lukács spricht von einer „Beziehung zwischen Personen“: Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin (Malik) 1923 , S. 94 . 7 G. Schweppenhäuser, S. 16 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 25 vorantreibt. An dieser Stelle ist im Freiheitsbegriff pikanterweise ein Kreuzungspunkt von Neoliberalismus und extremer Linke auszumachen, nämlich die libertäre Forderung von Freiheit bzw. der anarchistische Gedanke einer Loslösung vom Staat und dessen Rechtsordnung. Nur ist erster Freiheitsbegriff wirtschaftlich, also vom Markt, letzterer sozial, also vom Menschen aus gedacht. Hier also kippt das Gemeinsame in den absoluten Gegensatz. Beiden fehlt die Rechtsstaatlichkeit, die die Bürger schützt. Der Ausdehnungskampf der Märkte jedenfalls hat den ursprünglichen Freiheitsbegriff selbst bis ins Extreme verzerrt, schaut man allein auf das Problem der Freihandelsabkommen mitsamt dem Verklagen von Staaten durch Konzerne in Milliardenhöhen, weil diese sich beispielsweise durch Umweltrichtlinien wirtschaftlich benachteiligt fühlen. Die Abtrennung von Errungenschaften der bürgerlichen Öffentlichkeit wie Rechtsstaatlichkeit oder proletarischer Öffentlichkeit (Gewerkschaften, Arbeitszeiten, Arbeitsschutz usw.) sowie die Entrechtlichung, Verdinglichung, Entwürdigung und Instrumentalisierung von Menschen im Kampf um die verschiedenen Kapitalsorten ist mit der logistischen Organisation totalitärer Systeme durchaus vergleichbar. Der Kritischen Theorie wurde gerade zu Zeiten der Studentenunruhen Unrecht getan, als man sie als linksextreme, gar zur Gewalt aufrufende Intelligenzia diffamierte. Stattdessen hat sie sich nie „blindlinks“ positioniert, sondern ebenso kritisch die Fragen gestellt, wie es zum Stalinismus und zur Kulturrevolution kommen konnte. Sie nennt die „Schädelstätten des Sozialismus“ beim Namen (Tienanmen-Platz, Platz des Himmlischen Friedens etc.) und hält sich auch heute nicht zurück, was die „Betonwelt des ‚real existierenden Sozialismus’“ betrifft. 8 „Wir müssen darüber Rechenschaft ablegen, worüber Picasso schweigen kann. Eigentlich muß aus unserer Stellung klar werden, warum man Kommunist sein kann und die Russen verachten.“ 9 „Denn die ermordeten 20 Millionen Chinesen sind tot, und hier liegt, was uns vom Marxismus trennt.“ 10 Das Credo Kritischer Theorie galt stets der Verwirklichung der Vernunft in der Gesellschaft. Sie hat sich das Projekt der Moderne, die Emanzipation des Menschen, einverleibt. Sie zielt auf ihre Verwirklichung in realen Verhältnissen 11 und kämpft dabei gegen die beständig mitschwingende Gefahr einer autoritären Besetzung. Die Aufklä- 8 UM, MP, S. 811 bzw. 810 . 9 So Horkheimer im Gespräch mit Adorno, in HGS 19 , S. 66 . 10 So Horkheimer im Gespräch mit Adorno, in HGS 19 , S. 65 . 11 „Zielen“ ist hier nicht als „Hindrängen“ zu verstehen: Gerade Adorno hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Idee der „Umsetzung“ Kritischer Theorie in gesellschaftliche Praxis schnell zur Ideologie der „Machbarkeit“ wird, welche die Verhältnisse affirmiert, so als würden diese es hergeben, einfach verändert zu werden. Dementsprechend ist es eine seiner Leitideen, gerade die Unmöglichkeit der Verwirklichung im „schlechten Ganzen“ mit Impulsen der Hoffnung auf bessere Verhältnisse zu konfrontieren. 26 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln rung hat sich in einem irrational-rationalistischen Extrem verlaufen und mag als solches gescheitert sein, in ihrem Grundtrieb aber brodelt noch immer lüstern die leidenschaftliche Idee von der Befreiung des Menschen. Was die Möglichkeiten und Mittel zur Durchsetzung einer freien Gesellschaft in der Wirklichkeit der Verhältnisse anbelangt, so hält es Kluge wie einst Adorno (er ist jedoch in keiner Weise pessimistisch)-- auch er ist Pazifist und Demokrat, wie etwa an folgender Stelle aus indirekter Rede hervorgeht: „In jeder Krisenzeit müsse man sich auf die institutionellen Gegebenheiten zurückbesinnen, selbst dann, wenn es auf den ersten Blick nicht zweckdienlich scheine. Konkret gesagt, nicht den Maastricht-Vertrag aushöhlen, nicht die Parlamente umgehen, überhaupt ungut: falsche Hektik. Fähige Diktatoren wüssten sofort, was in verdichteter Zeit zu tun sei: Mit blankem Terror ersticken sie jede Revolution im Keim, bloß keine Reformen. Auch Demokratien hätten die Möglichkeit, sich im Sturm zu behaupten: indem sie sich auf ihre tradierten Institutionen und Gesetzeswerke zurückbesinnen“- - „bloß keinen Rechtsbruch zulassen“. 12 An den richtigen alten Ideen festhalten, ohne hinter die „fortgeschrittenste Kultur“ 13 zurückzufallen: Horkheimer und Adorno meinen hier die nicht-kommerziellen amerikanischen und europäischen Errungenschaften, besonders in Form von entsprechenden Rechten und Gesetzen, die die Freiheit des Bürgers stärken. Und sie vergessen insbesondere eines dabei nicht: Das Bewusstsein über die Individualität trotz allen Gleichheitsbestrebungen. 14 Aus diesem Grund und Gegensatz zum Konformismus zieht diese Arbeit ausdrücklich den Begriff der „Gerechtigkeit“ gegenüber dem der „Gleichheit“ vor. Hermann Schweppenhäuser unterteilt das Phänomen der Emanzipation in drei, man könnte sagen, Realgehalte auf. Als Ideal gilt ihm die bislang weitgehend unverwirklicht gebliebene „menschliche Emanzipation“ 15 . Diese müsste man etwas differenzierter weiter aufteilen in Emanzipation des Menschen und Emanzipation der Menschheit oder aller Menschen, Schweppenhäuser meint hier aber Letzteres. Hingegen gibt es mitunter ansatzweise eine „politische, ökonomische, kulturelle“ Emanzipation (die ebenso exakter aufgeschlüsselt werden müsste). Der freie Markt 12 Soboczynski, Adam: „Entgleist das Jahrhundert? Alexander Kluge fürchtet den Untergang Europas in der Schuldenkrise. Ein Werkstattbesuch bei dem Schriftsteller und Filmemacher in München“, in Die Zeit vom 22 . 09 . 2011 , Nr. 39 , S. 50 . Kluge verwendet gern das Bild vom „Notgriff“, den man rechtzeitig ziehen muss, damit „das Jahrhundert“ nicht „entgleist“. Das ist ein Bezug auf eine Entgegnung Walter Benjamins auf Marx. Vgl.: BGS I. 3 , S. 1232 (zit. n. UM, MP, S. 754 , Fußn. 11 ). 13 So Adorno im Gespräch mit Horkheimer, in HGS 19 , S. 69 . 14 Über dieses entscheidende Defizit Marx’ und des Marxismus sind sich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im Klaren. Vgl. (u. a.): HGS 19 , S. 71 . 15 Schweppenhäuser, Hermann: „Zur Dialektik der Emanzipation.“, in ders.: Vergegenwärtigung zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Lüneburg (zu Klampen) 1986 , S. 29 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 27 hat beispielsweise in den letzten Jahren seine Emanzipation von staatlich-gerichtlichen Schranken unter Beweis gestellt und ist immer wieder unbeschadet aus großen, zum Teil anhaltenden ökonomischen Krisen hervorgegangen, während sich soziale Bedingungen in einzelnen Krisenstaaten zunehmend verschärfen. Gerade diese beiden Emanzipationsformen, also die menschliche und die ökonomische sind in der gegenwärtigen Weltordnung antagonistische Triebe. Die dritte Form stellt nach Schweppenhäuser die „moderne Scheinemanzipation“ dar, die die Verwirklichung der eigentlichen, menschlichen auf subtile Weise verhindert, indem sie deren Realisierung propagiert. Die wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre, gerade in den führenden Industrienationen Europas und in den USA , haben allem Ohnmachtgefühl, aller „Gouvernementalität“ 16 und aller Gleichgültigkeit zum Trotz zu neuen Massenbewegungen geführt, die die ungleiche Verteilung von Macht und den Gütern dieser Welt anprangern, was sich etwa in plakativen Slogans wie „We are the 99 %“ ausdrückt. Bewegungen wie Occupy, nuit debout oder die der Anti-Atomkraft zeichnen sich durch Heterogenität von Geschlecht, Alter, Beruf, Nationalität und (Nicht-)Religiosität aus sowie durch ihre internationalen Netzwerke und digitalen Kommunikationsformen. Was zudem besonders auf die Occupy-Bewegung zutrifft: Spontaneität und Prozesshaftigkeit. Jene internationale antikapitalistische Vereinigung wird, gerade weil sie sich formal wie inhaltlich als eine in Bewegung befindliche versteht, sehr wahrscheinlich auch in Zukunft das politische Sprachrohr mündiger Bürgerinnen und Bürger bleiben, und sei es unter anderem Namen. Weiterhin wird es interessant sein, Aktivitäten insbesondere von Wikileaks, Anonymous oder auch der Piraten-Partei zu beobachten, die mit den Forderungen von Occupy & Co. verwandt sind und darüber hinaus ihrerseits für Transparenz sowie digitale Rechte bzw. Datengeheimnis (vergleichbar ist die Errungenschaft des Briefgeheimnisses) einstehen. Ersichtlich ist, dass entsprechende Gruppierungen zunehmen (nicht zu vergessen all die globalisierungskritischen Organisationen wie Attac oder Peoples Global Action) und dass der Kampf um die Einhaltung der Menschenrechte, den etwa Human Rights Watch und Amnesty International führen, aus rationalen Gründen zugleich ein antikapitalistischer Widerstand ist, der dezentralisiert geführt wird. Entscheidend für den Zusammenhang dieser Arbeit 16 Foucault führte diesen Begriff ein für eine historisch gewachsene, äußert komplexe Struktur der Machtausübung politischer und ökonomischer Institutionen: „Ich verstehe unter ‚Gouvernementalität’ die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, die es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“ Siehe: Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2006 , S. 162 . 28 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln ist derselbe Impuls, der einem Aufstand gegen die Absurdität der Realität gleichkommt, und der all diesen Bewegungen zugrunde liegt-- denn es ist ganz basal derselbe, aus dem auch die Kapitalismuskritik der Kritischen Theorie erwächst: „Das Elend als Gegensatz von Macht und Ohnmacht wächst ins Ungemessene zusammen mit der Kapazität, alles Elend dauernd abzuschaffen.-[…] Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet.“ 17 „Das kapitalistische System in der heutigen Phase ist die im Weltmaßstab organisierte Ausbeutung. Seine Aufrechterhaltung ist die Bedingung unermeßlicher Leiden. Diese Gesellschaft besitzt in Wirklichkeit die menschlichen und technischen Mittel, um das Elend in seiner gröbsten materiellen Form abzuschaffen.“ 18 Wie die aktuellen Beispiele zeigen, ist der Wille ungebrochen, das größte lösbare Problem auf der Welt zu beseitigen, das sinnlose Leiden aus Hunger und Armut, gerade weil sowohl die technischen als auch die finanziellen Ressourcen zur Abschaffung längst vorhanden sind. Keineswegs ist Kluge pauschal technikfeindlich. 19 Auch im Werk Kluges taucht diese Konkretion auf, die er in der theoretisch geprägten Kurzgeschichte „‚Die Armut’“ mit Heidegger und bezogen auf dessen Begriff vom „Hunger nach Welt“ zur Sprache bringt: „Die Gefahr der Hungersnot, sagte er, ohne auf Fragen zu warten auf das Ganze und Eigentliche des abendländisches Geschickes gesehen, liegt nicht darin, dass vielleicht viele Menschen umkommen, sondern darin, dass diejenigen die durchkommen, nur noch leben, damit sie leben.“ 20 Gesprächspartner in der Geschichte schalten sich ein und färben die Unterhaltung über den Wert des Lebens in klugeschem Ton: „Ist das nicht genug? fragte eine Studentin. Der Paläontologe unterstützte sie. Es gebe Ketten des Lebens über mehr als 40 000 Jahre hinweg, die doch Respekt verdienten.“ Schlicht eine Umverteilung und ein minimales Gleichgewicht sind vonnöten. In der Formel „Euer Reichtum ist unsere Armut“ steckt der Lösungsweg. Und dabei muss ja nicht einmal Reichtum als solcher abgeschafft werden, doch gibt es keine Legitimation, weshalb mit 870 Millionen jeder achte Mensch chronisch unterernährt ist 21 und auch keine, weshalb die Jugend Europas in prekären Lebens- 17 AGS 3 , S. 56 . Vgl. auch.: AGS 6 , z.B. S. 127 , 218 . 18 HGS 2 , S. 332 . 19 Bester Beweis: UM, MP, S. 1004 . 20 Kluge, Alexander: „‚Die Armut’“, in ders: 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann. Berlin (Suhrkamp) 2014 , S. 216 . Im Folgenden „ 30 . April 1945 “. 21 FAO, WFP und IFAD: The State of Food Insecurity in the World 2012. Economic growth is necessary but not sufficient to accelerate reduction of hunger and malnutrition. Rom 2012 , S. 8 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 29 situationen gefangen ist. Doch um von diesem legitimen Gemeinplatz wieder auf die Kritische Theorie zurückzukommen, sei explizit auf Horkheimers Ursachenanalyse hingewiesen. Dieser nämlich lokalisiert in den Produktionsverhältnissen den Motor der Maschine: „Die private Aneignung des kollektiven Mehrprodukts sei innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung zwar ein legaler Vorgang, aber unter normativem Gesichtspunkt illegitim.“ 22 Die Kritische Theorie zeichnet sich, wie ihr Name bereits verrät, durch einen Dualismus aus Theorie und Kritik aus (mit Kluge 23 ist vielleicht noch Darstellung als ein Drittes zu ergänzen 24 ), indem sie nämlich zugleich deskriptiv und normativ vorgeht, da ihrer sozialphilosophischen Gesellschaftsanalyse ein Potentialis anderer Verhältnisse innewohnt. Gerhard Schweppenhäuser identifiziert sie als „Ideologiekritik“, die hinter dem Schleier des Deskriptiven das Implizit-Normative von Theorien aufdeckt, da diese im Grunde „vorgeben, wie die Welt aufzufassen sei“ und darüber hinaus sogar die „Handlungsmöglichkeiten“ in ihr „festlegen“: 25 „Kritische Theorie als begriffliche Konstruktion struktureller und historischer Wesensmerkmale der hoch- und spätkapitalistischen Gesellschaft und deren Antagonismen ist materialistisch und normativ; ihre Begriffe beschreiben, was ist, und antizipieren, was sein soll und sein könnte.“ 26 Wobei dieses meist negativ aufgezeigte Potenzial einer Welt, in der alle Individuen selbstbestimmt und selbstverwirklicht in „kooperativer Freiheit“ 27 leben, bei Kluge erstens als Optativ formuliert wird und zweitens nichts mit dem Defätismus Horkheimers und Adornos zu tun hat, gleichwohl verrennt es sich nicht in blinden Optimismus. Entscheidend sind bei diesem dualistischen Verfahren eine permanente Selbstreflexion und ein Nicht-Dogmatismus, um nicht Gefahr zu laufen, selbst in totalitäre und ideologische Muster zu fallen. Wie Horkheimer in seiner Antrittsrede als Direktor des Instituts für Sozialforschung darlegt, liegt ein Grundproblem der Vorgehensweise von Philosophie darin, dass sie die „bestehende historische, soziale und kulturelle Wirklichkeit“ 28 mit dem Abstraktum ihrer „Konstruktionen aus Ideen, Begriffen und Kategorien“ konfrontiert. Die Konsequenzen lauten: gegenseitiges Kompromittieren sowie ausbleibende Verschränkung durch hermetische Fronten zwischen Theorie und Praxis, 22 G. Schweppenhäuser, S. 18 . 23 Wie schon bei Benjamin und Adorno, bei denen „Darstellung“ ein zentraler Begriff ist: Vgl.: Urbich, Jan: Darstellung bei Walter Benjamin: die „Erkenntniskritische Vorrede“ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Berlin/ Boston (De Gruyter) 2012 . 24 Konkret: ästhetische Entschleunigung sowie Subjektivierung. 25 Vgl.: G. Schweppenhäuser, S. 10 . 26 Ebd. 27 Vgl.: ebd., S. 11 . 28 Ebd., S. 19 . 30 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Idealwelt und Realwelt. Dieser Antagonismus zwischen dem Status quo gesellschaftlichen Zusammenlebens und konkret-realer Möglichkeit muss Horkheimer zufolge unter Zuhilfenahme der Empirie „reflexiv in die theoretische Konstruktion des Sozialen eingehen“ 29 -- eine Forderung, die Interdisziplinarität verlangt und der auch das Autorengespann Kluge/ Negt immer wieder nachgeht. Eingedenk Horkheimers Aussage, dass sich letzten Endes alles um den „Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit“ 30 drehe, ist bei Kluge zu konstatieren, dass dieser nicht eine bloße Konfrontation philosophischer Ideale mit der Realität sucht, sondern die in der Realität bereits existierenden Funken einer anderen, gerechteren Realität aufzeigen und mit Sauerstoff versorgen will. Die Utopien der Kritischen Theorie verlieren sich nicht in idealisierten Traumwelten, sondern nehmen unmittelbare Erfahrungen und Schwingungen in den wirklichen Verhältnissen sowohl wahr als auch ernst und reagieren selbst in ihren theoretischsten Momenten immer auch auf diese, sind also nie gänzlich abstrakt. Mit den versehrten Mitteln von Sprache und Analyse arbeitet das Unternehmen „negative Dialektik“ an einer unversehrten Erschließung des Unverstellten, Besonderen, nicht-deformierten Wesentlichen. Die Frankfurter Utopien stehen wie in einem Krafteld unter höchster Spannung, indem sie einerseits an konkrete Hoffnungen im Gegebenen andocken, zugleich aber auch Projektionen sind im (gegenwärtigen) Bewusstsein ihrer Unerreichbarkeit. Der systemtheoretische Vorwurf inkonsistenter Definition scheitert am fehlenden Bewusstsein dafür, dass die Kritische Theorie keine strenge, geschlossene Wissenschaft ist, sondern eine polydisziplinäre Gesellschaftstheorie mit klar formulierter Lebenshaltung. „Wissenschaft ist technische Übung, von Reflexion auf ihr eigenes Ziel so weit entfernt wie andere Arbeitsarten unter dem Druck des Systems.“ 31 Traditioneller Theorie, so Horkheimer, mangele es an „Selbstreflexion“, weshalb er von Wissenschaft, die dem Anspruch von Wahrheit nachgeht, fordert, sich erstens „kritisch zu sich selber“ zu verhalten und zweitens auch kritisch gegenüber der Gesellschaft, die sie produziere. 32 Damit dies gelingt, muss eine gewisse Selbstdistanz gewahrt sein, weshalb die Kritische Theorie-- wieder idealiter gesprochen-- keine wissenschaftliche Disziplin sein und möglichst außerhalb von Verwaltungsstrukturen bleiben will, 33 wenngleich etwa Adornos Glaube 29 Vgl.: HGS 3 , S. 40 ff. Zitat: G. Schweppenhäuser, S. 20 . 30 HGS 4 , S. 75 , Fußn. 31 AGS 3 , S. 104 . 32 HGS 8 , S. 337 f. 33 Bezüglich bestimmter Tendenzen und Hinsichten des Wissenschaftsbegriffs mag das nur für manche Vertreter gelten. Eine solch allgemein formulierte Aussage ist gerade in Bezug auf Horkheimer, Adorno und auch Habermas höchst problematisch, da es bei diesen auch unterschiedlich geprägte Begriffe von argumentativer Objektivität und strenger Geltung 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 31 an eine Dechiffrierung der Gesellschaft durch Empirie vor allem in ihrem riesigen Aufwand an bürokratischen Ressourcen sowie an dem eigenen Aktualitätsdruck leidet. Zu einer getreuen Abbildung fehlt es nicht selten schlicht an einer gewissen Lebendigkeit. Dies ist bei Kluges Geschichten natürlich anders, sie wimmeln und in ihnen wimmelt es von Anschaulichkeit. „Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht.-[…] Die kritische Theorie hat keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts.“ 34 Statt aufs Funktionieren des Bestehenden ist die Kritische Theorie aufs Transformieren aus. Sie koppelt in ihrer Analyse Rationalität und gesellschaftliche Wirklichkeit, Naturbeherrschung und Naturverbundenheit, äußere und innere menschliche Natur, Methode und Gegenstand, Theorie und Praxis. „An Philosophie bestätigt sich eine Erfahrung, die Schönberg an der traditionellen Musiktheorie notierte: man lerne aus dieser eigentlich nur, wie ein Satz anfange und schließe, nichts über ihn selber, seinen Verlauf “, mahnt Adorno in der Negativen Dialektik und fordert sodann Beweglichkeit und Selbstkritik in Permanenz: „Analog hätte Philosophie nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren. Sie muß in ihrem Fortgang unablässig sich erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich mißt; was in ihr sich zuträgt, entscheidet, nicht These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedankengang.“ 35 Alexander Kluge setzt dies um, indem er nicht oder wenn, dann niemals allein auf Deduktion oder Induktion setzt, sondern entschieden auf Konfiguration-- und somit jene „Konvergenz von Erkenntnis und Kunst“ 36 deutlicher denn je beobachtbar werden lässt. Freilich geht es nicht darum, die entstandene Sphärentrennung wieder aufheben zu wollen als wäre nichts gewesen. Nichts also liegt ferner als der Wunsch nach einer Re-Mythologisierung, zumal Adorno ja von der „historischen gibt, die nicht einfach „anti-wissenschaftlich“ sind. Für diesen Hinweis bin ich Jan Urbich dankbar. 34 Vgl.: Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 56 . 35 AGS 6 , S. 44 . Eigene Hervorhebung. 36 Rüdiger Bubner über Adorno, in ders.: „Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos“, in Lindner, Burkhardt/ W. Martin Lüdke (Hg.): Materialien zur ästhetischen Theorie. Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1980 , S. 109 . 32 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Notwendigkeit“ jener „Differenz“ spricht. 37 Nein, die Idee ist, in eine Art antirealistische Kooperation zu treten. 38 An diesen erkenntniskritischen Stellen kann man im Übrigen gut den Unterschied zum kritischen Rationalismus sehen, der im Gegensatz zur Kritischen Theorie die Gesellschaft nicht in ihren historischen Zusammenhängen bzw. ihrem genealogischen Gewordensein erkannte und auch den Fehler beging, Wissenschaft nicht als einen in diese verstrickten Part wahrzunehmen. Horkheimers Erkenntniskritik verbindet Kant mit Marx: „Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.“ 39 In diesem Kontext muss noch einen Schritt in der Entwicklung zurückgegangen werden, um die Problematik unserer Erkenntnisfähigkeit zu fundieren. In diesem Fall sagen die Naturwissenschaften nichts anderes als Nietzsche: „Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran.“ 40 Aller Verstandeslogik geht ein neuronales Chaos voraus: „Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirne entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab.“ 41 Wie Kluge stellt Nietzsche eine kulturkritische Gesellschaftsdiagnose an, die eine Menschheit behandelt, die an einer Überdosis Rationalität erkrankt ist: „Das Verdrängen kehrt in Schüben kollektiver Gewalt wieder, in denen sich die Zivilisation selbst zerstört, und Rationalität schlägt in Irrationalität um.“ 42 Freuds Unbehagen in der Kultur bestätigt etwa ein halbes Jahrhundert später diese Problematik psychoanalytisch. 43 Adorno analysiert: „Die dem Pseudokonservatismus entsprechende psychische Struktur ist Konventionalität und autoritäre Unterwürfigkeit in der 37 Dies tut er beispielsweise in einem Brief an Krenek, in Briefwechsel-- Theodor W. Adorno und Ernst Krenek, hg. v.-Wolfgang Rogge. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1974 , S. 85 . 38 Siehe Kapitel und Lexikon-Artikel zu „Antirealismus des Gefühls“ und „Kooperation“. 39 Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 13 . Ebenso verhält es sich mit den Gefühlen, wie Nietzsche schreibt: „Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! “ In: KSA 3 , II 57 . 40 KSA 3 , I 11 . 41 KSA 3 , III 111 . 42 G. Schweppenhäuser, S. 26 . 43 Allerdings kritisiert der frühere Horkheimer Freuds Theorie eines Destruktionstriebs als biologistische Fehlkonstruktion. Seinen „biologischen Materialismus“ kennt er wiederum später als Herzstück der Psychoanalyse an. Vgl.: HGS 4 , S. 81 bzw. HGS 5 , S. 399 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 33 bewußten Sphäre, begleitet von Gewalttätigkeit, anarchistischen Impulsen und chaotischer Destruktivität in der unterbewußten.“ 44 Eine multimediale Darstellung des allgemeinen wie individuellen Unbewussten, die in ihrer vernetzten, dynamischen und spontanen Struktur die Wahrnehmungs- und Denkprozesse imitiert, ist von beträchtlicher sozialpsychologischer wie epistemologischer Relevanz: Die „ästhetische Formfindung unbewusster und bewusster bildhafter Vorstellungen [kann] eine individuelle, soziale und kollektive psychohygienische Funktion haben, in dem sie diese unbewussten Bestände in eine potenziell öffentlich beobachtbare mediale Form bringt-- also von innen nach außen projiziert.“ 45 Nun geht diese Arbeit begrifflich davon aus, dass „Wahrnehmung“ und „Imagination“ einerseits als unterschiedliche Vermögen einander gegenüberstehen. Wahrnehmung ist auf ein Objekt gerichtet, das anwesend ist oder, genauer gesagt, als anwesend erscheint. Imagination ist hingegen auf ein Objekt in Abwesenheit gerichtet. 46 Der Objektbegriff ist hier intentional, d. h. extrem weit zu verstehen: andere Subjekte, Gegenstände, Zustände, Verhaltensweisen, Gefühle etc. Am deutlichsten ist bei den Phänomenen der Emotion zu erahnen, dass die voreilig aufgemachte theoretische Grenzziehung zwischen beiden Begriffen in der Praxis verwischt. Gefühle und Gedanken des Anderen werden antizipiert, scharf und unscharf, je nach Grad sozialer und emotionaler Kompetenz, Empathie, Erfahrung usw., können jedoch nie als „sicher“ gelten. Sie werden wahrgenommen und zugleich imaginiert. Täuschungen in der Wahrnehmung (Verwechslung der Person oder des Gegenstandes, Fata Morgana) offenbaren die Ungewissheit beider Weltzugänge. Die Subjektivität in der Weltwahrnehmung beweist die Pluralität der Wirklichkeit. Vergegenwärtigt sei an diesem Punkt erstens Kants Kritik der reinen Vernunft, die die Frage nach der objektiven Geltung von Realitätsaussagen mit der „reinen Vernunft“ und der Fähigkeit der „Anschauung“ (Sinnlichkeit) beantwortet. Zweitens der neurophysiologische Standpunkt, den etwa Hans Dieter Huber folgendermaßen beschreibt: „Die Wahrnehmung wird nachweislich von Erinnerungen, Erwartungen und Handlungsvorbereitungen eingeschränkt und geformt. Die endogenen Phänomene eines Organismus, wie selbst aktivierte Erinnerungen und bildhafte Vorstellungen, sind immer 44 Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1950 , S. 205 . 45 Huber, Hans Dieter: „Bildhafte Vorstellungen. Eine Begriffskartographie der Phantasie“, in ders./ Lockemann, Bettina/ Scheibel, Michael: Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst. Ostfildern-Ruit (Hatje Cantz Verlag) 2004 . S. 211 . 46 Verwiesen sei auf die klassische Unterscheidung rationalistischer Seelenlehre von Einbildungskraft (Abwesendes anwesend machen) und Anschauung (Gegenwärtiges vergegenwärtigen). 34 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Bestandteil von Wahrnehmungen. Umgekehrt ist aber auch die Erzeugung des Imaginären-[…] ein konstitutiver Bestandteil des ganz normalen, alltäglichen Lebensflusses.“ 47 Die Nähe von der Wahrnehmung zur Imagination und von der Imagination zur Wahrnehmung wird mit Kluges Vernunftbegriff zugespitzt, der an den Diskurs über die „Einbildungskraft“ des 18 . Jahrhunderts anknüpft. Die Phantasie ist gleichberechtigt zum Verstand realitätsgestaltend und besitzt erkenntnisvermögendes Potenzial. Dementsprechend gilt Kluges Aufmerksamkeit ästhetischen Phantasiestimulanzen wie Literatur und Film, Kunst und Musik. Die Phantasie aber, was in Kapitel 2 . 6 . 3 („Der Antirealismus des Gefühls“) eingehender behandelt wird, muss als der größte Kritiker der realen Verhältnisse angesehen werden. Tatsächlich zeugt ihr subversiver Impuls von ungeheurer Robustheit. Stürzt der vulnerable Mensch aus der Realität ab, stürzt er sich entweder physisch aus dem Leben oder aber geistig in ein neues. Interessant ist nicht, dass er sich im zweiten Fall sehr wahrscheinlich in einer Psychiatrie oder einem Weglaufhaus wiederfindet, sondern dass sein Organismus „wie von allein“, also durch schöpferische Selbsttätigkeit, den Realitätsschalter umzulegen vermag. 48 Phantasie erlaubt Zustände jenseits des Gegebenen zu entwerfen, wo strenge Vernunft im Gegebenen verbleibt. Zugleich aber ist die Phantasie doch auch das „arbeitsscheue“ affirmative Organ vermeintlich reiner unmittelbarer Evidenz, durch welches sie von der Warenwirtschaft so deutlich angesprochen wird. 49 Zusammengefasst: Die Phantasie ist wie auch der Körper in der klugeschen Philosophie nicht ausgeschlossen vom Erkennen, sondern hat entscheidenden Anteil neben und mit dem Geist am Prozess der Erkenntnis. Kluges epistemologisches Verdienst seiner „Chronik der Gefühle“ ist es, der weitgehend auf das Allgemeine zielenden Theorie das Besondere zur Seite zu stellen durch die Subjektivität der Gefühle und die Wiedererkennung ihrer Ausdrucksformen. Nehmen wir das Lachen: Es ist physiognomischer, äußerlich gewordener, sich mitteilender Ausdruck einer inneren Bewegung (Affekt). Das meint Nietzsches Ausdruck „fröhliche Wissenschaft“. Der sich dionysisch freilachende Humor im klugeschen Werk ist deshalb mehr als nur Unterhaltungsfunktion oder Zuschauermagnet: Subjektivität drückt sich intersubjektiv aus, wodurch so etwas wie Objektivität möglich wird. Auch aus dem „Antirealismus des Gefühls“, nicht aus dem Verstand allein, zieht der Mensch sein Erkenntnisvermögen. Und ähnlich 47 Ebd., S. 209 . 48 Das stellt die Frage, ob man hier von einer psychischen „Krankheit“ sprechen muss und ob einem solchen Menschen mit Mitleid und Medikamenten geholfen werden kann oder damit, dass seine Flucht in eine „Realität nach innen“ prinzipiell akzeptiert und er so als autonomes Individuum respektiert wird. 49 Roland Barthes’ Mythen des Alltags haben den Konformismus der Imagination in der Warenwirtschaft schon in den 60 ern vorgeführt. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 35 sieht Schiller allein in der Kunst die Rettung für den Menschen, d. h. sein inneres Gleichgewicht als Basis für das gesellschaftliche. Denn in der ästhetischen Sphäre-- Schiller spricht hier aber auch direkt vom „Spieltrieb“ - gelingt die Vermittlung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Hierzu das Kapitel „Fröhliche Wissenschaft“. „Man kann keine Erkenntnistheorie entwickeln, es sei denn in der Praxis des Erkennens selber“, weil „die Konstellationen zwischen Subjekt und Objekt in der realen Erkenntnis anders aussehen als in der Reduktion des Objekts und des Subjekts auf allgemeine Bestimmungen“-- daher: Arbeit und Abarbeiten am Gegenstand. 50 Anhand Kafkas Erzählung Der Kreisel, in der ein Philosoph jenes Spielzeug einer Gruppe von Kindern immer dann entreißt, wenn es in Bewegung gerät, veranschaulichen Kluge und Negt das Problem der Induktion narrativ. Was Kafkas Philosoph für einen Sekundenbruchteil glücklich-erkennend stimmt, stürzt ihn im nächsten Moment schlagartig in bittere Enttäuschung, sodass er den Kreisel wie vom Ekel übermannt wieder fallen lässt. „Indem sich das erkennende Subjekt auf die Gegenstände bezieht, erfolgt eine gegenseitige Konstitution, also eine innere Veränderung beider. Die Trennung von Subjekt und Objekt als Resultat einer Abstraktion, aus der sowohl der Konstitutionsprozeß des Objekts wie der des Subjekts herausgefallen ist, ist nur post festum möglich; -[…] Sobald Erkenntnis beginnt, löst sich die vereinfachte Vorstellung vom Objekt ebenso auf wie die vom Subjekt.“ 51 Sobald der Kreisel nicht mehr in seiner Eigenschaft des Kreiselns ist, ist er nur „dummes Holzstück“ und nur als solches festzustellen, also nicht in seiner Besonderheit zu fassen. Wie also kann es gelingen, sowohl den „konkreten Erkenntnisprozeß“ als auch die „Komplexität der beiden Pole selber“ zu vermitteln? 52 Die Antwort geben die Kinder vor: im Spiel. Und da sind wir bei Schillers ästhetischer Bildungsidee, in der Freiheit und Identität sich im Spiel verwirklichen: „Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken,- […] der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“ 53 Und Kluge, dies sei an dieser frühen Stelle bereits vorweggenommen, gelingt dies in seinem konstellativen Spiel wieder mannigfaltig spielerischer Elemente: „In der Momentaufnahme nicht Verbundenes wird zu einer Situation verbunden. Nur so 50 UM, GE, S. 518 . 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ( 1795 ), in ders.: Schriften zur Philosophie und Kunst. München (Goldmann) 1959 . Vierzehnter Brief, S. 102 . 36 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln wird die Vor- und Nachgeschichte, die jeder Situation immanent ist, offen sichtbar.“ 54 Schillers bipolares Begriffspaar Stofftrieb- - Formtrieb ähnelt Nietzsches (bzw. Schellings) Dualismus des Dionysischen und Apollinischen stark, schließlich stehen sich jeweils das Physische, Rauschhafte, Sinnliche und das Geistige, Zähmende, Begriffliche gegenüber, zwischen denen es bei dem einen durch den Spieltrieb, bei dem anderen durch den Willen zu vermitteln gilt. In Kluges Vernunftbegriff wie auch in seiner Formästhetik leben sie ungetrennt und sind doch in ihren Widersprüchen wahrnehmbar. Der wahrhaft friedliche Zustand ist nur möglich durch Akzeptanz der Differenz, nicht durch den Gewaltakt harmonischen Verschmelzens, jenen „Nicht-Krieg, der kein Frieden ist“. Insofern findet sich in Kluges affizierender Ästhetik der alte Dualismus des Immer-wieder-aufs-Neue-Schaffenden wieder: Kluge als rauschhafter Zertrümmerer von Homogenität, Kluge als rastloser Architekt von Plateaus für Parallel-Realitäten. Durch Assoziation und Phantasie, Neugier und Altgier, Ernsthaftigkeit und Humor bricht er Symmetrisches auf-- „an einem kollektiven Punkt ausbrechen in eine parallele Wirklichkeit“ 55 -- und zieht zugleich und immerfort Verbindungsbahnen mit kombinatorischer Intelligenz. Dabei ist es ihm stets um den großen Zusammenhang gelegen: „Ich glaube an Konstellationen.“ 56 „Horkheimer und Adorno gehen nicht mehr von einem mehr oder weniger intakten erkenntnistheoretischen Punkt des Ich aus.“ 57 „Die Anerkennung der Dissoziation des Ich ist Voraussetzung“ für eine Ich-Konstitution, die keine Herrschaft mehr über das Objekt ausübt. 58 Zentral für den historisch-materialistischen Gedanken ist es ja, auch beim Fall der vollkommenen epistemischen Durchdringung der Wirklichkeit nicht alle Subjekt-Materie im Objekt-Rauch aufzulösen-- „ein materieller Rest außerhalb des Bewusstseins“ muss immer existieren können. 59 „Aber Wahrheit, die Konstellation von Subjekt und Objekt, in der beide sich durchdringen, ist so wenig auf Subjektivität zu reduzieren, wie umgekehrt auf jenes Sein, dessen dialektisches Verhältnis zur Subjektivität Heidegger zu verwischen trachtet. Was wahr ist am Subjekt, entfaltet sich in der Beziehung auf das, was es nicht selber ist, keineswegs durch auftrumpfende Affirmation seines Soseins. Hegel hat das gewußt, den 54 Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1975 , S. 218 . Im Folgenden „Sklavin“. 55 Kluge über „Emergenz“ in einem „annotierten Index“ am Ende von Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten. Berlin (Suhrkamp) 2011 . S. 312 . Im Folgenden „Bretter“. 56 Scheck, Denis: „Alexander Kluge zum 80 . Geburtstag“, im Gespräch mit Alexander Kluge, Deutschlandradio am 14 . 02 . 2012 , 19 : 45 min. 57 UM, GE, S. 521 . 58 Ebd., S. 522 . 59 Vgl.: ebd. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 37 Schulen der Repristination ist es lästig. Wäre Wahrheit tatsächlich die Subjektivität, wäre der Gedanke nichts als Wiederholung des Subjekts, so wäre er nichtig. Die existentielle Erhöhung des Subjekts eliminiert diesem zuliebe, was ihm aufgehen könnte.“ 60 Noch einmal gefiltert: So etwas wie „Wahrheit“ scheint auf durch reziproke Durchdringung von Subjekt und Objekt, ja mehr noch: durch Aufgabe ihres bloß abstrakten Gegeneinanders, dem zugleich ein Ineinander zur Seite treten muss. Subjektivität heißt eben Rationalität und Mimesis, Ich-Stärke gegen das Objekt und Ich-Schwäche als Eingehen in das Objekt, zugleich Aufgeben der bloß festen, fixen Objektform zugunsten einer prozessualen, sinnlich-losen Realität als „Nicht-Identisches“. Schließlich aber ist das bei Adorno alles nicht als Gewahrung des Einzelnen gegen das Allgemeine der Vernunft und der Begriffe gemeint, sondern als Korrektur hin zu einem „wahren Allgemeinen“, das gerade im Herzen des Nicht- Identischen hausen soll. Für ein echtes Verstehen ist es notwendig, mich einerseits zu öffnen und andererseits in etwas anderes hineinversetzen zu wollen. 61 „Während über Besonderes nichts ohne Bestimmtheit und damit ohne Allgemeinheit prädiziert werden kann, geht darin das Moment eines Besonderen, Opaken, auf welches jene Prädikation sich bezieht und stützt, nicht unter. Sie erhält sich inmitten der Konstellation, sonst liefe die Dialektik auf die Hypostasis der Vermittlung hinaus, ohne die Momente der Unmittelbarkeit zu bewahren, wie Hegel umsichtig sonst es wollte.“ 62 2.1.2 Zweifel und Widerstand Die „ältere“ Kritische Theorie, dies sei grundsätzlich noch einmal ins Bewusstsein gerufen, war bis ins Mark geprägt von totalitären Erfahrungen des Faschismus, von Flucht, Verfolgung, Exil und Tod- - was die negativistische Aura ihrer Geschichtsphilosophie und den Pessimismus ihrer Gesellschaftstheorien besser verstehen lässt. Sie war voller Zweifel darüber, ob „die Ideale der europäischen Aufklärung mithilfe interdisziplinär organisierter, wissenschaftlicher Arbeit“ 63 jemals in die Lebenspraxis übertragen werden können (deshalb fügen Kluge/ Negt später dieser wissenschaftlichen die künstlerische und die pädagogische Arbeit hinzu). Doch nichtsdestotrotz haben sie ihre Arbeit ja niemals eingestellt, was zumindest für Hartnäckigkeit spricht. Kluge hebt gerade das bildungspolitische Engagement Adornos in den Jahren vor seinem Tod hervor, als er alles daransetzte, „dem Prozeß 60 AGS 6 , S. 133 . 61 Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen: „Drinnen ist es dunkel/ Für uns“- […] „Ich öffne mich/ Für uns“. Aus: Tocotronic: „Ich öffne mich“, von: Tocotronic („Rotes Album“), Vertigo Records 2015 . 62 AGS 6 , S. 322 . 63 G. Schweppenhäuser, S. 28 . 38 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln einer zivilisiert und pädagogisch befestigten Aufklärung zuzuarbeiten“. 64 Diese optimistische Produktion auf der einen Seite wird zur gleichen Zeit, wie Kluge pointiert gegeneinanderlegt, von einer pessimistischen Produktion flankiert: der Arbeit an den „‚schwarzen’ Texten“ Dialektik der Aufklärung bzw. Negative Dialektik, seinem „Lebenswerk“. 65 Trotz aller Aussichtslosigkeit kann also keineswegs von Kapitulation die Rede sein: „Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält, verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen.“ 66 So verzeichnet Jan Urbich ein Pulsieren in Adornos Innerem: „Adornos Philosophieren schwankt beständig zwischen der Resignation ob der unüberwindlichen Defizite einer gleichwohl notwendigen Vernunft und der Idee, diese könnten durch Eingriffe wie die der Kunst als virtuelle Konfiguration wahrer Rationalität letztendlich korrigiert werden. Er schwankt zwischen der Annahme eines substantiellen und eines nurmehr akzidentellen Defizits des Geistes, zwischen der Behauptung einer prinzipiellen Abhängigkeit des Denkens von naturhaften Zwangsverhältnissen und der seiner zumindest prinzipiellen Freiheit; die Aporien seiner Denkbewegungen resultieren letztlich aus dieser unentscheidbaren Ausgangslage. Folglich ist der seriell der Erlösung des Geistes am nächsten kommende Zustand zugleich der ontologisch fernste: so sehr ist die Zweideutigkeit in die Mikrostrukturen der Welt hineingedacht.“ 67 Der besonders von Max Horkheimer gespiegelte Begriff des „Materialismus“ tritt in der Gestalt der Kritischen Theorie selbst auf als kritischer Analysator von gesellschaftlichen Zuständen, die dem Anspruch des Menschen auf sein individuelles Glück zuwiderlaufen. In diesem Zusammenhang fungiere „Moral“ Horkheimer zufolge als Mittlerin zwischen dem Interesse des Individuums und den Interessen der Gesellschaft. Kants Theorie vom kategorischen Imperativ und mit ihr die Idee einer vernünftigen Gesellschaft sei in der entfesselten Konkurrenzgesellschaft schlechterdings ausgehebelt, statt eines allgemeinen Interesses dominiere hier das des Einzelnen. 68 64 Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin (filmedition suhrkamp) 2013 . Beiheft, S. 12 . 65 Ebd. 66 AGS 3 , „Zur Neuausgabe“. 67 Urbich, Jan: Darstellung bei Walter Benjamin: Die „Erkenntniskritische Vorrede“ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne. Berlin/ Boston (De Gruyter) 2012 , S. 103 , Fußn. 257 . 68 Vor Marx beschreibt das bereits Hegel mit dem Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 39 Max Horkheimer gelingt mit seiner Begriffsbestimmung der Vernunft als „Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ 69 eine geerdete und gerade deshalb auch allgemeinverständliche sowie pragmatisch überzeugende Formulierung, die das eigentliche Schulterschlusspotenzial zwischen Philosophie und Gesellschaft aufzeigt. Überhaupt ist die Geschichtsphilosophie der Frankfurter Schule eine skeptische und desillusorische. Moralische Appelle oder die begrifflich-theoretische Schöpfung irgendeines allgemeinen Normenkatalogs werden aufgrund ihrer komplexen und alternierenden äußeren Lebenszusammenhänge als unzweckmäßig eingestuft und deshalb abgelehnt. Einzug in die Kritische Theorie erhielt der idealistische Vernunftbegriff Hegels, der einen in der Geschichte der Menschheit agierenden wie formenden Trieb beschreibt: „Die Kritische Theorie kann mit ihrer Auffassung von Vernunft und Geschichte als ein partieller Rückgriff auf den Junghegelianismus begriffen werden.“ 70 Allerdings mit einer Einschränkung: Die Verharmlosung und Überformung der Gefahr des Totalitären wird scharf kritisiert. 71 Die „über die Menschen“ hinauswachsende „Gewalt des Systems“ führt den Vernunftbegriff „der vernünftigen Gesellschaft“ ad absurdum. 72 Präziser ist es die moralphilosophische Grundannahme der Kritik der praktischen Vernunft, die der Kritischen Theorie zugrundeliegt, und zwar dass die Bedingung für eine real gewordene Vernunft eine freie und durch Freiheit sich selbst bestimmende Menschheit ist. 73 Horkheimer unterscheidet zwischen einer subjektiven und einer objektiven Vernunft. Erstere ist instrumenteller Art, da das Subjekt selbsterhaltende, zweckrationale Kalküle ersinnt. Sie gilt den Vertretern der Kritischen Theorie in der Gesellschaft der Moderne als zweifellos herrschend. Letztere ist autonomer Art und die Kontrollinstanz der subjektiven Vernunft. Die objektive Vernunft finde sich jedoch nur in früheren Gesellschaften und in philosophischen Systemen, 74 also zeitlich und intellektuell nicht ohne Weiteres erreichbar. Die real dominierende Vernunft wird als gesellschaftsschädlich kategorisiert. „Kritik bedeutet unter diesen Bedingungen die Versöhnung des Menschen mit der Natur“ und richte sich „in erster Linie gegen die Beherrschung der Natur durch die Vernunft.“ 75 Nazi- Deutschland und der amerikanische Massenkonsumismus lassen Horkheimer ab- 69 Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 56 . 70 Mikl-Horke, Gertraude: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe. München (Oldenbourg) 2001 , S. 170 . 71 Vgl.: AGS 5 , S. 323 f. 72 AGS 3 , S. 56 . 73 Vgl.: G. Schweppenhäuser, S. 76 . 74 Vgl.: Mikl-Horke, Gertraude: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie- Entwürfe. München (Oldenbourg), S. 170 f. 75 Ebd., S. 171 . 40 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln leiten: Die Instrumentalisierung der Vernunft vernichtet diese. Was gleichzeitig zur Folge hat, dass der Prozess der Emanzipation des Subjekts scheinbar zurück auf Null geworfen wird, denn der „Zerfall der Vernunft und der des Individuums sind eines.“ 76 Die Vernunft läuft konkret Gefahr, durch egoistischen Erfolgstrieb und asozialen Konkurrenzgeist ihren Kern zu sprengen, den der Herstellung und Sicherstellung individuellen Glücks für jede_n. Ein weiteres Herzstück der Frankfurter Schule ist die Kritik an der Kulturindustrie, in deren endlosem Zirkel sich die Massenkultur pseudoindividualistisch immer wieder selbst reproduziert. Jede scheinbar subjektive Handlung sei nur Wiederholung und Nachvollzug, wie auch jede scheinbar individuelle Erfahrung bereits massenkommunikativ determiniert sei. So erklärt sich, weshalb das „Existieren im Spätkapitalismus“ für Adorno nurmehr ein „dauernder Initiationsritus“ 77 ist. Mit dieser fundamentalen Kritik der abendländischen Vernunfttradition wurde die schwerste Krise der Kritischen Theorie ausgelöst, die Selbstaufhebung der Möglichkeit zu unabhängiger Reflexion: „Adorno und Horkheimer hatten sich auf das Hochseil einer radikalen Vernunftkritik begeben, das durch kein Netz einer institutionell oder kulturell repräsentierten Vernunft mehr gesichert war.“ 78 Mit der Dialektik der Aufklärung sezieren die Protagonisten die Idee der Aufklärung und entdecken in ihrer dialektischen Struktur ein selbstzerstörerisches Potenzial: Die Rationalität der Moderne und der archaische Mythos sind janusköpfig miteinander verbunden. „Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter, und darum auch die Beziehung auf Wahrheit.“ 79 Das Credo aller Erkenntnis liegt deshalb in einer fortwährenden Selbstkritik, die der „Selbstzerstörung“ „Selbstbesinnung“ entgegenhält (hierauf wird in Bezug auf Kluges Odyssee-Bemerkung noch einmal zurückzukommen sein): 80 „Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“ 81 Eine Aufklärung, die den Menschen als Herrscher über die Natur setzt, muss tragisch fehlschlagen (jüngstes Beispiel: Fukushima). Stattdessen muss sich der Mensch als Teil eines kosmischen Ganzen 76 HGS 5 , S. 334 . Sowie vgl. Demmerling, Christoph: „Vernunft und Selbsterhaltung“, in Honneth, Axel (Hg.): Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2006 , S. 240 . 77 AGS 3 , S. 176 . 78 Dubiel, Helmut: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim/ München ( Juventa) 1988 , S. 91 . 79 AGS 3 , S. 13 (Vorrede). 80 HGS 5 , S. 21 . Siehe in dieser Arbeit das Kapitel zur Identität ( 2 . 4 ). 81 AGS 3 , S. 13 (Vorrede). 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 41 sehen, der im Einklang mit seiner Umwelt lebt. Stellvertretend für unzählige Beiträge und Erzählungen Kluges, die sich mit dem kosmologischen bzw. aquatischen Ursprung des Menschen beschäftigen, sei exemplarisch genannt: „Wir haben die Sehnsucht nach den Urmeeren, die 37 Grad Wärme enthalten, wie man weiß. Die tragen wir noch in uns, die Niere hat den Salzgehalt der Urmeere. Wir haben eine lange Erinnerungsfähigkeit, das sind wirklich die Gefühle. Das sind Erinnerungsträger, Quanten der alten Welt, für die also ein glücklicher Zustand vor 14 Millionen Jahren Gegenwart ist.“ 82 Wasser und Salz sind bekanntermaßen elementare Bestandteile von Organismen. In jenem Ursalz, das sich im Urmeer gebildet hatte, sind alle natürlichen Mineralien und Spurenelemente enthalten und in zellverfügbarem Zustand gebunden, durch die Leben erst ermöglicht wird (Magnesium, Calcium, Eisen, Kalium, Phosphor, Jod, Zink, Selen). Diese „Zündstoffe des Lebens“ sind die Grundvoraussetzung für Zellteilung und Stoffwechsel. „Das Blut und die Lymphe ist eine dem Urmeer identische Sole und weist das gleiche Konzentrationsverhältnis ( 0 , 9 %ige isotonische Lösung) auf, wie zu der Zeit, als das Leben das Urmeer verließ.“ 83 Hieran ist ganz gut nachzuspüren, wie Wissenschaftliches und Poetisches bei Kluge zusammenkommen-- wie von selbst und jenseits gegenseitig stilisierter Feindbilder. Ebenso unvoreingenommen wird sich auch Mythologischem genähert. Statt verlacht zu werden, wird dies als Ursprung von Erkenntnis und Wissenschaft anerkannt. Hexen und Gottheiten stehen am Anfang der urmenschlichen Frage nach dem Sinn allen Seins und gelten als kompensierende Projektionen, die der Schock der Naturgewalt auf den Menschen ausgelöst hat. 84 Um an dieser Stelle ein konkretes und aktuelles Beispiel der Umsetzung des Gedankens zu nennen, der die Natur nicht als Feind und Zubezwingendes fürchtet, dient Ecuador, das- - zumindest für einen gewissen Zeitraum- - die Natur von einem Besitzobjekt zu einem Rechtssubjekt erhoben hat, sich also bewusst mit ihr versöhnt, sich als Teil ihrer wiedererkannt hat. Der Problematik des Januskopfcharakters von Aufklärung begegnet die Kritische Theorie mit einer Rekonstruierung ihrer Konstitution, genauer mit einer Genealogie „moderner Subjektivität als eine Geschichte der Naturbeherrschung“. 85 Zentrale Größe dieser Untersuchung ist das Phänomen des Opfers, verbunden mit 82 An selber Stelle spricht Kluge auch von einer „Sehnsucht der Zellen“. In Kluge, Alexander: Die Kunst, Unterschiede zu machen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 , S. 45 . Im Folgenden „Unterschiede“. 83 Vgl.: http: / / www.praeventologie.eu/ saltz (Quelle: Biologin Andrea Krause, Remscheid) [Zugriff: 06 . 02 . 2014 ]. 84 Vgl.: HGS 2 , S. 261 . 85 G. Schweppenhäuser, S. 32 . 42 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln dem „kontemplativen Genuss“ 86 , dargestellt anhand jener fulminanten Lesart des an den Schiffsmast gefesselten Odysseus: „Kunstgenuss, wie er in der bürgerlichen Gesellschaft kultiviert wird, lebt von der Ausbeutung fremder Arbeit und findet in einer arbeitsteiligen Gesellschaft statt, in der Kunst als Objekt der Kontemplation hoch verehrt wird, aber zugleich auch ohnmächtig abgespalten ist.“ 87 -- Odysseus’ Besatzung muss mit verstopften Ohren, also dem Gesang der Sirenen entsagend, das Schiff manövrieren. Mit der Abspaltung ist die Trennung von Kunstsphäre und Wirklichkeitssphäre gemeint, wie sie Goethes Iphigenie andeutet: die Initialisierung der Kunst als die Institution einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich in jenem ausgehenden 18 . Jahrhundert gerade zu formen beginnt. Ihren süßen Sieg der Autonomie bezahlt sie, die Kunst, mit dem bitteren Beigeschmack des Verlusts realgesellschaftlicher Einflussnahme. 88 Etwas losgelöst von der Odysseus- Metapher ist zu ergänzen, dass dem Genuss durch seinen physischen Sicherheitsabstand notwendig die gegenständliche Seite abwesend ist: Der Herr muss für seine Sinnenfreuden an dem vom Knecht geformten Objekt (Arbeitsgegenstand) auf die unmittelbare Erfahrung verzichten-- Mangel an Gegenständlichkeit, Reibung, Austausch. 2.1.3 Neuausrichtung Der Geltungsanspruch einer Handlung ist auszumachen mit der Unterscheidung von „instrumentell“ (auch „strategisch“) und „kommunikativ“, also ob sie erfolgsbzw. zweckorientiert oder verständigungsorientiert ist. Wir haben hier also eine Gegenüberstellung von „asozial“ oder „nicht sozial“ und „sozial“. Während Ersteres einen äußeren Zweck verfolgt, liegt der Zweck bei Letzterem in sich selbst.-- Aus dieser Krise hilft Habermas’ kommunikativ konnotierter Vernunftbegriff, der zugleich den Pessimismus der Dialektik der Aufklärung abgelegt hat: Entgegen Adornos und Horkheimers „negativistischer Eindeutigkeit“ mache Habermas geltend, wie Helmut Dubiel schreibt, „daß für ihn Geschichte zu jedem Zeitpunkt eine 86 Ebd. 87 Ebd. 88 „Die von den Weimarer Klassikern ausgehende Trennung von Kunst und Leben bedeutet daher einmal Widerstand gegen eine alle Lebensbereiche dem Prinzip der Zweckrationalität unterwerfende zugleich aber Verzicht auf die Möglichkeit, in die Entscheidungen der bürgerlichen Öffentlichkeit regulierend einzugreifen.“ Vgl. Bürger, Christa: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Literatursoziologische Untersuchungen zum klassischen Goethe. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1977 . Zit. n.: Iphigenie auf Tauris. Johann Wolfgang Goethe. Programmheft des Meininger Theaters-- Südthüringisches Staatstheater, 2012 , S. 60 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 43 Einheit widersprüchlicher Tendenzen“ sei, „die sich niemals auf einen eindeutigen ‚Fortschritts’- oder ‚Verfalls’rahmen spannen“ 89 lasse. Den Wissenschaftsskeptizismus seiner Vorgängergeneration lehnt Habermas ab, da es dem Wissenschaftsbetrieb als alleiniger „Produktionsstätte“ verbindlicher wie kritischer Erkenntnisse gelungen sei, die „permanente Revidierbarkeit“ seiner eigenen Erkenntnisse institutionell zu verwirklichen. 90 Seine Theorien haben keinen finiten Wahrheitsanspruch, sondern werden ständig infragegestellt, verworfen, modifiziert und erneuert. Mit dem Aufbruch der Moderne und dem Einbruch traditioneller, religiöser, autoritärer Weltgebäude sind Lücken entstanden. Um diese zu füllen, d. h. vor allem um politische Vorgänge und gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen zu können, bedarf es der kollektiven Kommunikation-- so einer der zentralen Gedanken der habermas’schen Philosophie. Damit nimmt er zugleich die politischen Einrichtungen und Würdenträger in die Pflicht zu Transparenz und Gewährleistung „dieser Prozesse der kommunikativen Koordination“, 91 damit entsprechend jene demokratischen, kommunikativen Strukturen geschaffen werden. „Alle Teilöffentlichkeiten verweisen auf eine umfassende Öffentlichkeit, in der die Gesellschaft im Ganzen ein Wissen von sich ausbildet.“ 92 Dieses Wissen ist seinem Wesen nach metamorph, reflexiv und dezentral. Für Habermas ist Öffentlichkeit niemals vollständig administrativ kolonisierbar, sondern ein Gemisch aus verwaltetem und mündigem Bereich. In sogenannten „autonomen Öffentlichkeiten“ 93 entdeckt Habermas gar ein manipulationsfreies Territorium mündiger Bürger zur Gestaltung und Organisation ihrer öffentlichen Angelegenheiten. Um nicht Gefahr zu laufen, „selbst ein formales System in der Lebenswelt zu werden“, darf sie ein bestimmtes „Größenformat“ bzw. ihr „niedriges Organisationsniveau“ allerdings „niemals überschreiten“. 94 Durch die rhizomartige Kommunikation dieser autonomen Öffentlichkeiten entsteht ein immer dichteres Netzwerk demokratischen Gewebes, das den Krater der Eruption der Moderne mit einer „nachtraditionellen 89 Dubiel, Helmut: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim/ München ( Juventa) 1988 , S. 93 . 90 Vgl.: ebd., S. 92 . 91 Ebd., S. 93 . 92 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985 , S. 418 . 93 Ebd., S. 422 . 94 Vgl.: Dubiel, Helmut: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim/ München ( Juventa) 1988 , S. 120 . 44 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln kollektiven Identität der Gesellschaft“ 95 auszufüllen vermag, die sich durch Reflexion, Kritik, Offenheit und Metamorphose vorm Selbstwiderspruch bewahrt. Habermas hat eine „Reformulierung der Kritische Theorie“ unternommen, indem er sie als „Theorie des verständigungsorientierten Handelns“ begreift. 96 Erinnert man sich an seine These, dass der alltäglichen Sprache bereits die Idee eines gewaltfreien, gleichberechtigten Verstehens innewohnt, versteht man, was hinter Kluges Insistieren auf der Formulierung „Thekengespräch“ steckt: „In der Alltagskommunikation“ haust schon immer „das Potenzial egalitärer Verständigung“. Sprache gilt Habermas als „Medium menschlicher Selbstbestimmung“ 97 , weil sich durch sie Individuen selbst ausdrücken können und mit anderen in einen Austausch treten, der per se auf Verständigung aus ist-- und so spricht er, Honneth vorausgreifend, von „intersubjektiver Anerkennung“. 98 Und wenn Habermas sagt, dass bereits mit dem ersten Satz „die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsenses unmißverständlich ausgesprochen“ werde, formuliert er das Apriori von Mündigkeit: Durch ihre „Struktur“ ist sie immer schon „für uns gesetzt“. 99 Der Idealzustand des von Habermas postulierten „herrschaftsfreien Dialogs“ ist ein utopischer, aber konkret-utopischer Gedanke, der sich „erst in einer emanzipierten Gesellschaft“ 100 realisieren würde, deren Mitglieder mündige Menschen sind. In den 80 er Jahren verschiebt sich dann übrigens dieser Fokus habermas’scher Philosophie vom Begriff der Mündigkeit auf den der Verständigung. 101 Als die drei „Weltbezüge“ von Rationalität, die der abendländischen Moderne als Heilsbringer galt, diagnostiziert Habermas die zueinander relativ autonomen Beziehungen Mensch-- Natur, Mensch-- Gesellschaft und Mensch-- eigene Subjektivität. 102 An Max Weber und Niklas Luhmann anknüpfend, erkennt Habermas in seinem „nicht mehr dialektischen“ 103 , sondern nun „dualistischen“ Gesellschaftsmodell die Übermacht des Systemischen, das nicht nur mehr entfremdet, sondern in seiner „Eigenlogik immer gebieterischer“ in das Territorium der „Lebenswelt“ 104 95 Ebd. 96 G. Schweppenhäuser, S. 58 . 97 Ebd., S. 61 . 98 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981 . Bd. 1 , S. 401 . 99 Habermas, Jürgen: „Erkenntnis und Interesse“ ( 1965 ), in ders.: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1970 , S. 163 . 100 Ebd., S. 164 . 101 Vgl.: Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981 . Bd. 1 , insbesondere S. 385 - 388 . 102 Vgl.: ebd., S. 11 , 149 , 413 . 103 G. Schweppenhäuser, S. 63 . 104 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981 . Bd. 2 , S. 230 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 45 eindringt. Die „Zweckrationalität des gesellschaftlichen Reproduktionshandelns“ gilt Habermas als Hemmung von „kommunikativer Rationalität- […] verständigungsorientierten Handelns“. 105 Etwas plastischer: Menschen leben zunehmend in unsicheren bzw. prekären Arbeitsverhältnissen, wie man seit Jahren selbst an der in Europa zum Teil extremen Jugendarbeitslosigkeit beobachten muss. In sozialen wie existenziellen Druckverhältnissen, die durch heteronome „Machtverhältnisse“ „bestimmt“ sind und den „Gesetzen kapitalistischer Mehrwertproduktion“ folgen, stehen Individuum und Gesellschaft unter dem „Zwang“ zur „Selbsterhaltung durch Arbeit“, 106 die weder logistisch noch monetär der Arbeitsplatz-Nachfrage standhält und überhaupt nicht mit der ungebrochenen Automatisierung auf der einen und der neuen „Makers“-Mentalität auf der anderen Seite zu vereinbaren ist. Zudem hat die allgemeine Verbesserung des Lebensstandards für die Masse im Spätkapitalismus dazu geführt, dass sich ein innerer und dadurch steiferer Konformismus bezüglich äußerer sozio-ökonomischer Abhängigkeitsverhältnisse eingestellt hat. Dies ist dann auch der Grund dafür, dass Habermas den Akzent nicht länger auf „das Interesse an Emanzipation und an der Abschaffung der Klassenverhältnisse im Sinne von Marx und Horkheimer“ setzt, sondern „das Interesse aller Individuen an Mündigkeit ins Zentrum der sozialphilosophischen Theorie“ stellt. 107 „Eine Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie bleibt immer bestehen, weil Markt und Politik auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen.“ 108 Die Spannung nimmt, muss man hier erweitern, sogar zu, wenn Repräsentationspolitik sich Marktprinzipien annähert (um sich selbst zu erhalten). Die in Kauf genommenen sozialen und ökologischen „Kollateralschäden“ verdeutlichen den totalitären Charakter einer absoluten Freiheit des Marktes. Das ökonomische Ziel, sich von der Einflussnahme des Staates weiter und weiter loszusagen, heißt, sich im Idealfall außerhalb von dessen Gesetzen zu bewegen. Zudem werden soziale oder ökologische Faktoren nur dann eingeblendet, wenn sie wirtschaftliche Lukrativität versprechen. Wenn demnach weder Mensch noch Natur (als ob das zu trennen wäre) geschützt sind vor dieser Outlaw-Eigenlogik, ist der Rechtsstaat allein schon nach dem Grundgesetz gefordert zu handeln. Die Menschen jedenfalls haben keine Zeit für Revolution. Sie stehen in existenzieller Abhängigkeit zu den auf sie repressiv 105 G. Schweppenhäuser, S. 62 f. bzw. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981 . Bd. 2 , S. 226 ff. 106 G. Schweppenhäuser, S. 63 f. 107 So G. Schweppenhäuser (S. 59 f.), der sich bezieht auf Norbert Bonß („Warum ist die Kritische Theorie kritisch? “, in Demirovic, Alex: Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie. Stuttgart/ Weimar (Metzler) 2003 . S. 378 ff.) bzw. auf den von Habermas 1963 veröffentlichten Band Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1982 . 108 Habermas, Jürgen: „Internationale Weltordnung nach dem Bankrott“, in Die Zeit vom 06 . 11 . 2008 . 46 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln wirkenden Verhältnissen, müssen Miete und Krankenversicherung bezahlen, die Familie versorgen, ans Alter denken. Der habermas’sche Versuch des Imzaumhaltens von Wirtschafts- und Herrschaftsverhältnissen glaubt nicht an die große Umwälzung, sondern ist auf „die politische Domestizierung des systemischen Eigensinns von Ökonomie und Verwaltungsherrschaft“ 109 gerichtet. 2.1.4 Eine kurze Genealogie der Vernunft (Ratio plus Emotio) Bei der Beleuchtung Kluges Auffassung von Vernunft ist zunächst die Entstehung des Denkens nachzuzeichnen, was eingangs mit Lukács bereits angedeutet worden ist und was auf Theorien von Alfred Sohn-Rethel beruht, der, auch wenn niemals institutionell, unbedingt zur Bewegung der Kritischen Theorie zu zählen ist. So dient der Handel als Modell zur Veranschaulichung der Genese der Ratio bzw. ist laut ihm dem Denken tatsächlich vorausgehend, das also nachahmend tätig ist: Zunächst kommt der einfache Tausch, dem dann die Formal-Abstraktions-Leistung folgt, also das Vermögen, einer Ware einen bestimmten Wert zuzurechnen bzw. mit der Idee des Geldes symbolisch auf das eigentliche Substanzielle, das selbst nicht mehr anwesend sein muss, zu verweisen. Anders gesagt, bedeutet dies laut Sohn-Rethel also zugleich eine Entfernung des menschlichen Denkens von der empirischen Qualität und Erfahrung. Wenn Kluge hieran seine Gedanken entwickelt, und er tut dies ausführlich im zweiten Interview dieses Buches, blitzt jedoch gleichzeitig ein Funke der Hoffnung auf. Denn der Ausbildung dieser frühen denkerischen Fähigkeit zu Abstraktion und Konkretion wohnt ein bislang nur unzureichend entwickeltes Potenzial inne: Die Idee des Wertes der menschliche Würde. Soll heißen, der Handel gilt Sohn-Rethel und auch Kluge, dahingestellt ob nun in einer Analogie oder als Gleichnis, als erste zivilisierte Umgangsform, als eine Kompetenz, die nicht mehr barbarisch, sondern gewaltfrei ist. Über diese frühe Form menschlichen Zusammenlebens geht das kritische Denken aber noch einmal hinaus, indem es nicht mehr monetäre, nicht mehr wirtschaftliche Zwecke verfolgt, sondern einzig an der Herstellung einer friedlichen, freien und gerechten Weltgesellschaft interessiert ist. Der evolutionäre Unterschied liegt erstens in dem Vernunftbegriff des kritischen Denkens, der die Emotion, wie wir bei Kluge deutlich sehen können, nicht unterdrückt. Zweitens liegt er in Kluges und Negts Arbeitsbegriff sowie ihrer Kritik an der Arbeitsteilung, die mit ihrer „Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit“ 110 den Menschen derart emotional verkümmert hat, dass jene isolierte Logik der Kälte entstehen konnte, die dann so kulminiert, das beispielsweise eine 109 G. Schweppenhäuser, S. 65 . 110 MEW, 23 , S. 446 . Siehe hierzu Sohn-Rethels Theorem der „reellen Subsumtion“. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 47 Firma wie etwa die Erfurter „Topf und Söhne“ in lebendige wirtschaftliche Konkurrenz mit dem Berliner Unternehmen „Kori“, das übrigens bis heute existiert, 111 tritt, um immer effizientere Krematorien für Konzentrationslager herzustellen. Wiederholt betont Kluge als Bewusstmacher der Kraft der Gefühle zugleich die Bedeutung der „Verantwortlichkeit des eigenen Kopfes“, gerade im Angesicht des sich selbst überschlagenden Schlagzeilen-Diktats. „Es ist eine Ermutigung des Erkennens, daß das individuelle Denken in nichts sich vermindern läßt, angesichts so vieler objektiver Fakten, welche die ‚neue Unübersichtlichkeit’ ausmachen.“ 112 Nehmen wir uns in diesem Kontext einem Satz aus Der unterschätzte Mensch an: „In dieser Form ist ein Begriff (er ist nicht ausgeformt, er ist ein Rohling, eine Skizze) zugleich mit seiner emotionalen Verankerung einem Dritten sofort verständlich zu machen.“ 113 Die kursiven Hervorhebungen spielen vermutlich auf das Problem der Gleichzeitigkeit an. Eine solche gilt materiell als unmöglich (wie die Neurowissenschaften belegen, gibt es eine, wenn auch verschwindend geringe, Zeit, die vergeht zwischen Berührung eines Gegenstandes und des „Ankommens“ im Hirn), während es immateriell, also denkerisch, durchaus erreichbar ist. 114 Der Redner oder Erzähler „hat ein Bild in seinem Kopf, dieses Bild ist vielgestaltig emotional begleitet, und er sucht den direktesten Ausdruck, um sich einem anderen mündlich mitzuteilen.“ 115 Hier macht Kluge aufmerksam auf die Grenzen des sprachlichen Ausdrucksvermögens. Wir denken in Begriffen, aber nicht allein. Sie sind mit Bildern und mit Gefühlen verwoben, weshalb Kluge zu einem Vernunftbegriff kommt, der Ratio und Emotio ungetrennt involviert. Indem Kluge das Denken als intensive Äußerung des Gefühls definiert und indem er der Emotion Kritikfähigkeit zuspricht, 116 das eine erhält also eine idiosynkratische Eigenschaft des scheinbar anderen, hebt er das alte Gegensatzpaar von Rationalität und Emotionalität radikal auf: „Eine besondere Intensität des Gefühls nennen wir Denken/ Einen besonderen Intensitätsgrad der Beobachtung und der Hingabefähigkeit der Sinne nennen wir Emotion: 111 Bis heute hält sich die Firma zu ihrer eigenen Geschichte bedeckt und verweigert auch eine Mitarbeit bei der Ausstellung der Erfurter Gedenkstätte, wie dieser zu entnehmen ist. 112 Kluge, Alexander: „Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 2012 an Jürgen Habermas.“ Düsseldorf, am 14 . 12 . 2012 . 113 UM, Bd. 1 , S. 11 . 114 Weiterführend z. B.: Kluge, Alexander: „Der erste Draht zur Neuen Welt. Das Transatlantikkabel von 1858 . Im Gespräch mit Christian Holtorf “, in 10 VOR 11 vom 06 . 01 . 2014 . Link: http: / / www.dctp.tv/ filme/ draht-zur-neuen-welt-10vor11-06 012 014/ [Zugriff: 28 . 02 . 2014 ]. 115 UM, Bd. 1 , S. 11 . 116 Als ein primitives Beispiel nennt er die Fähigkeit von Warmblütern, zwischen warm und kalt unterscheiden zu können. 48 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln sie ist dann nicht sentimental, sondern besteht aus Unterscheidungsvermögen und ist, gerade in ihrer poetischen Natur, die Schwester des Denkens/ “ 117 Kluges Vorschlag an den Vernunftbegriff also ist ein Dualismus aus Gefühl und Verstand, aus David Humes Einfühlung und Adam Smith’ Sachlichkeit. 118 Hierbei existiert für ihn eine direkte Verbindungslinie zweier Kräfte, also die der Einfühlung und die der Sachlichkeit, die subjektiv-objektiv in beide Richtungen wirkt. Dies macht er im Telefoninterview noch einmal deutlich: „Sie haben keine Gedanken, wenn Sie sich nicht Mühe geben. Sie geben sich nur Mühe, wenn Sie einen Grund haben. Den Grund haben Sie in der Emotion. Verdichtete Emotion ist also ein Gedanke. Und das können Sie umdrehen.“ 119 Heißt also auch, ein sich verdichtender Gedanke führt zu einer Emotion-- eine Beobachtung, die ja durchaus so mit der Realität übereinstimmt. Die menschliche Empathiefähigkeit ist ein epistemologisches Vermögen: Menschen verfügen einerseits über den sachlichen Blick des impartial spectator, wie Kluge gerade David Hume in einer Geschichte erklären lässt, zugleich aber über einen „zwingenden Impuls zur Einfühlung in den Anderen“-- der „Apparat der Erkenntnis“. 120 Und als solcher empfänglich wie ein Seismograph für Erschütterungen der Ungerechtigkeit in der Welt. „Diese beiden Zangen, Empathie und Sachlichkeit, die bewegen die Menschen. Und so lange das gelingt, sind wir menschlich. Und wenn das ausfällt, sind wir es nicht.“ 121 Ein Textbeispiel für die Natürlichkeit jener Komplizenschaft : „Sie weinte bitterlich, als sie hörte, dass es für Eltern keine Verkehrsverbindung zur Front gibt Im ersten Impuls wollte meine Großmutter väterlicherseits, Hedwig Kluge, geborene Glaube, auf die Nachricht, dass ihr Erstgeborener Otto gefallen sei, den Zug besteigen, nach Belgien reisen und dafür sorgen, dass man den Toten begräbt. In der Stadt hieß es, 117 Zitiert von filmischen Schrifttafeln in: Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. 2 DVD’s, Filmedition Suhrkamp. Berlin (Suhrkamp) 2013 . „Das Handwerkszeug für Text und Film. Die Poetik selbst“ ( 2 . Vorlesung, 12 . 06 . 2012 ). Im Folgenden „Theorie der Erzählung“. 118 So Kluge im Interview am Ende dieses Buchs. 119 Vgl.: zweites Interview, S. 406 . Mit dem Denken als „verdichtetes Gefühl“ spielt er zugleich auf dessen poetischen Charakter an. 120 Kluge, Alexander: „Zungenlust, Empathie und impartial spectator“, in ders.: Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe. Berlin (Suhrkamp) 2012 , S. 167 . 121 Vgl.: „Alexander Kluge: Das Handwerk des Erzählers.“ Lesung Alexander Kluges im Literaturhaus München 2012 und Interview. Video von Suhrkamp und die kleine filmfabrik: http: / / www.suhrkamp.de/ mediathek/ lesung_das_fuenfte_buch_von_alexander_kluge_442.html [Zugriff: 12 . 09 . 2013 ]. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 49 viele Gefallene seien in Massengräbern verscharrt. Als sie hörte, dass es für Eltern keine Verkehrsverbindung zur Front gab, weinte sie bitterlich.“ 122 In dieser Kürzestgeschichte mit einem gefühlten Anteil von 1 : 2 zwischen Titel und Text greift Kluge in gerade einmal vier Sätzen 123 im Grunde das Antigone-Motiv auf. Es geht um den Wunsch nach einem ordnungsgemäßen Begräbnis eines engen Verwandten. Der Gerechtigkeitssinn verlangt nach einer ordentlichen Bestattung des Angehörigen, also vernunftgemäß „wie es sich gehört“. Das Gefühl ist in dieselbe Richtung gerichtet („Impuls“, „wollte“, „weinte bitterlich“) wie der Verstand („dass man den Toten ordentlich begräbt“). Beide stoßen auf Ungerechtigkeit („in Massengräbern verscharrt“) und auf starre Wirklichkeitsverhältnisse („keine Verkehrsverbindung zur Front“). Ein Begriff, der gerade noch der Sachlichkeit zur Seite gestellt wurde, erscheint nun als überzeugendstes Beispiel für die Vermischung von Emotion und Ratio, als das Vernünftige schlechthin: der Gerechtigkeitssinn. 124 Verwandt mit den vorangegangenen Überlegungen liest sich übrigens auch das, was Christoph Türcke als, wie Gerhard Schweppenhäuser sagt, „tiefen sozialanthropologischen“ Wandel angesichts der Kulturindustrie diagnostiziert: Die Wahrnehmung des Individuums und der Gesellschaft verändern sich wie auch ihre Kommunikation, die sich von ihrem Urgrund der Verständigung entfernt und vermehrt dem Charakter der Strategie entspricht. 125 -- Stichwort: virales Marketing. Verbindet man Türckes sozialwissenschaftliche Analysen der Erregten Gesellschaft mit Horkheimer, funktioniert die Genealogie des Kulturtraumas folgendermaßen: Auf den Schock, den die Naturgewalt auslöste, antwortete der Mensch mit Projektionen seiner Angst in Form von der „Verdoppelung der Natur in Schein und Wesen“, der Anfang von Mythos und schließlich Wissenschaft. 126 Türcke meint, das Denken habe sich vom Fühlen getrennt, und zwar aus Trauer um das Abwesende. 127 Aus diesem Sehnsuchtsimpuls heraus habe das Denken eine neue Abstraktionsstufe entwickelt, kann nun zwischen Signifikat und Signifikant, zwischen 122 In Alexander Kluge in Halberstadt, hg. vom Gleimhaus Halberstadt und dem Nordharzer Städtebundtheater in Zusammenarbeit mit Alexander Kluge und Thomas Combrink. Halberstadt 2013 , S. 33 . Hervorh. gem. Orig. Im Folgenden „Alexander Kluge in Halberstadt“. 123 Der Titel aufgrund seiner epischen Länge bzw. syntaktischen Verwandtschaft mit dem Text einberechnet, der außerdem die Geschichte bereits zusammenfasst und so im Prinzip die Extremform von Kurzgeschichte durchspielt-- und dabei zweifelsohne phantasieanregend, d. h. leserfordernd ist. 124 Auf dessen Bedeutung wurde am Anfang bereits hingewiesen. 125 G. Schweppenhäuser (S. 109 ) bezieht sich auf: Türcke, Christoph: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation. München (C. H.Beck) 2002 . 126 HGS 5 , S. 37 bzw. vgl. G. Schweppenhäuser, S. 110 . 127 Vgl.: Türcke, Christoph: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation. München (C. H. Beck) 2002 , S. 149 . 50 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Bedeutung und Repräsentation trennen. Aus dieser Trauer entsteht die phantastische Wieder-Holung, die Vorstellungskraft, mit der der Mensch dem Problem des Räumlichen (entfernte Personen oder Gegenstände) wie des Zeitlichen (tote Personen, vergangene Momente, zerstörte Gegenstände) entgegentritt. Der Traum ist die „‚Vorzeit in uns’“ 128 . „Oh diese Menschen von ehedem“, sagt Nietzsche, „haben verstanden zu träumen und hatten nicht erst nötig, einzuschlafen! “ 129 Die Frage ist doch: Gingen Wahrnehmung und Vorstellung ursprünglich ineinander über oder sind gar die Bereiche, die wir theoretisch wie alltagspraktisch mit der Kühle des Logisch-Rationalen trennen, nach wie vor untrennbar miteinander verbunden, sodass sich der Mensch einem Zwang aussetzt und einen Teil von sich unterdrückt und verdrängt? Wenn das stimmt, dann hat das klugesche Kunstwerk massentherapeutische Qualität, gerade in seiner architektonischen Verwandtschaft mit Träumen, Assoziationen und Spinnereien. Sicher bleibt das Wissen von der gesellschafts- und individualpsychologisch wertvollen Reflexionsmöglichkeit durch die Kunst, schließlich ist sie auch „Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleicht Möglichen“. 130 2.1.5 Arbeit (Habermas’ blinder Fleck) „Ob man es nun wahrhaben will oder immer noch nicht, daß, neben Liebe und Tod, auch die Arbeit, die gelingende, die quälende, erst recht die abhanden kommende oder bereits verschwundene, ein originär existentielles Thema ist, und damit ein literarisches-[…].“ 131 Laut Horkheimer sei die „neue dialektische Philosophie“ zur Erkenntnis vorgedrungen, „dass die freie Entwicklung der Individuen von der vernünftigen Verfassung der Gesellschaft abhängt. Indem sie den gegenwärtigen Zuständen auf den Grund ging, wurde sie zur Kritik der Ökonomie.“ 132 Arbeit und Mündigkeit sind, und das ist insbesondere eine ganz zentrale These Kluges und Negts, miteinander verbunden. Hegel ist es, der mit seiner Ansicht vom Selbstbewusstsein als Inhärenz des Bewusstseins den inneren Kosmos des Menschen bei dessen Urteilen und Handeln stärkt. Wenn in der menschlichen Arbeit das individuelle Können zur Entfaltung kommen kann, so kann sich Selbstbewusstsein entwickeln. 133 Damit 128 Zit. n. G. Schweppenhäuser, S. 111 . 129 KSA 3 , II 59 . 130 AGS 7 , S. 384 . 131 Lange-Müller, Katja: „Nachwort“, in Brasch, Thomas: Vor den Vätern sterben die Söhne. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2002 [ 1977 ]. S. 131 . 132 Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 58 . 133 Vgl.: Hans-Georg Gadamer in Gadamer erzählt die Geschichte der Philosophie, TV-Reihe, aufgenommen im Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Neapel 2000 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 51 nicht genug, ist die „Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation“ für Horkheimer bereits in der menschlichen Arbeitsteilung real, nur in der öffentlichen Wahrnehmung nicht präsent. 134 Mit diesem Aufzeigen ihrer verwandten Realität holt Horkheimer die Vorstellung einer freien Vernunftgesellschaft aus dem Utopischen ins Konkret-Alltägliche. Marx widerspricht Hegel in dessen Definition der Arbeit als geistiges Handeln und ersetzt diese durch eine Beschreibung, die sich aus Sinnesempfindung, Naturbezug sowie sozialer Tragweite speist: „Arbeit ist immer auch gesellschaftliche Arbeit; jeder Akt der Arbeit oder Produktion ist immer auch ein bestimmtes Verhalten zum Mitmenschen.“ 135 Die Art der Arbeit eines Menschen nimmt Marx zufolge maßgeblichen Einfluss auf sein Denken und Handeln. Der Umstand nun, dass im Kapitalismus die Arbeitskraft zu einer Ware degradiert wird, hat die Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit zur Konsequenz. Und da wiederum Arbeit, anthropologisch gesprochen, ein genuiner Trieb des Menschen ist um sich selbst auszudrücken, zu finden, zu verwirklichen, entfremdet sich auch der Mensch von sich selbst. Soweit als kurze Erinnerung an den Entfremdungsbegriff, der umfangreich umfasst, wie gesellschaftliche bzw. konsumistische Verhältnisse die Freiheit blockieren. Auch durch das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eigenen Arbeitskraft als Eigentum entsteht deren Warencharakter. 136 Es besteht die Gefahr, dass der Arbeiter diesen Kontakt verliert. Mit Geschichte und Eigensinn schließen Kluge und Negt inhaltlich wie gestalterisch 137 an den vorökonomistischen Marx an und ergänzen dessen Kapital mit der Analyse der menschlichen Arbeitskraft vor der Logik des Kapitals. 138 Sie erläutern darin etwa den Übergang von vorindustrieller zu industrieller Produktionsweise oder veranschaulichen, dass in sog. toter Arbeit Geschichte drin steckt, genauer gesagt, vergegenständlichte lebendige Arbeit, an der sich neue lebendige Arbeit abarbeitet, sie immer weiter formt. Die zentrale Devise ihrer Kritik lautet dabei: Eine ernstzunehmende Analyse der „Produktionssphäre“ kommt nicht ohne eine 134 Vgl.: Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 32 . 135 Mikl-Horke, Gertraude: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe. München (Oldenbourg) 2001 , S. 49 . 136 Vgl.: Kluge, Alexander/ Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn. Geschichtliche Organisation des Arbeitsvermögens. Deutschland als Produktionsöffentlichkeit. Gewalt des Zusammenhangs. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1981 , S. 140 f. Im Folgenden „GE“. 137 Hierauf weist Marion Pollmann hin: Didaktik und Eigensinn. Zu Alexander Kluges Praxis und Theorie der Vermittlung. Bd. 11 der Schriftenreihe des Instituts für Pädagogik und Gesellschaft, Münster. Wetzlar (Büchse der Pandora) 2006 , S. 226 . 138 Vgl.: GE, S. 139 bzw. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin (Dietz) 1953 . 52 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Analyse auch des „Lebenszusammenhangs einer Bevölkerung“ aus. 139 Als kleinstmöglichen Baustein dieser „elementaren Kreisläufe“ wird dabei allerdings nicht der isolierte Einzelmensch ausgemacht, da es nicht mehr als ein unrepräsentativer Laborversuch wäre, ihn außerhalb seiner realen intersubjektiven Relationen und sozialen Kontexte betrachten zu wollen. Gegenstand ist stattdessen die Einzelfamilie, die auch ihrerseits wiederum nur in Austauschverhältnissen zu existieren vermag. 140 Eine Wendung Kluges und Negts, leicht umformuliert: Das Legitimationsgeld der Demokratie könnte allein sich nicht durchsetzen, wenn nicht der demokratische Sinn in der Naturalform der Familie massenhaft hergestellt werden würde. 141 Jene Reproduktion dieses Sinns, die nur durch Selbstregulierung unaufgezwungen und somit nachhaltig sichergestellt werden kann, wird vernachlässigt- - in den Familien, in den Schulen, in den Universitäten, da sie sich abhängig machen von Kategorien des Wettbewerbs und existenziell abhängig von finanziellen Faktoren sind. Wozu dieser analytische Fokus auf die Arbeitsvermögen des Menschen? In ihnen findet sich Geschichtsmaterial, weshalb sie von Kluge und Negt im Grunde wie ein Medium, wie ein riesiges Archiv geschätzt werden, in dem die widerspruchsreiche Geschichte der Menschheit aufbewahrt ist. In den abstrakten und entfremdeten Produktionsverhältnissen ist demnach „Gegenständliches“ verborgen, jedoch ist es überschrieben: „Man kann sich das antagonistische Realismusproblem vorstellen als die Analyse eines Explosionsorts.“ 142 Die Metapher fortführend, schreiben sie, dass „diejenigen, die das Pulver, das Eisen, die Kanonen, die Kriegskunst, die Einzelschritte, die zum Krieg führen, produziert haben“, „mit je einem Partikel im Geschoß“ stecken würden und „ihre wirklichen Beziehungen“ „zerstreut“ seien. 143 Die „libidinösen Energien“ werden beim „Kampf zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip in die Verdrängung verschoben“. 144 Diese Libido drückt sich auf zweierlei Weise aus: einmal in jeder Wahrnehmung (Fühlen, Erkennen, Erinnern) und einmal in anderen Zusammensetzungen in der Arbeit. 145 Es besteht ein begrifflicher Konflikt zwischen Produktion und Reproduktion: Der Weg der Ware geht unidirektional von der Distribution zur Konsumtion, die ihrer- 139 GE, S. 243 . 140 Vgl.: ebd. 141 Vgl. GE, S. 319 : „Das Legitimationsgeld der Rechtsordnung könnte allein das Recht nicht durchsetzen, wenn nicht der rechtliche Sinn in der Naturalform der Familie massenhaft hergestellt würde.“ 142 GE, S. 348 . 143 GE, S. 349 (Teil einer Bildunterschrift). 144 GE, S. 478 . 145 Vgl.: GE, S. 478 f. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 53 seits wiederum Produktion erzeugt. Dies bezeichnen Kluge und Negt als „erweiterte Reproduktion“, 146 die gekennzeichnet ist durch einen Zirkel, da sie immer wieder auf den Punkt der Produktion zurückkehrt. Das Problem ist, dass in der Produktion nur Warenströme entstehen, die sich erst in der Konsumtion verwirklichen. Die Ware Arbeitskraft ist jedoch nur in der Produktion angeordnet. 147 Das Autorengespann macht hier also auf eine Lücke im Reproduktionskreislauf aufmerksam. An seiner offenen Stelle, „an der Mündung der Warenströme“ (Konsumtionssphäre), setze man daher einen weiteren Kreislauf an. Dieser gibt im Prinzip das Gedächtnis der Arbeitergenerationen samt ihrer „Erfahrungsübertragung“ wieder. 148 Mit anderen Worten: Ohne die Lebenszusammenhänge der Produzenten und ohne die Entstehungszusammenhänge der Waren ist der organische Ökonomiekörper unvollständig-- und somit auch unbegreiflich. Als die „Kategorie der gesellschaftlichen Veränderung“ gilt für Kluge und Negt die „Arbeit“. 149 Die menschliche Arbeit und ihre Produkte sind nicht allein mit ihrem ökonomischen Wert aufzurechnen. Dies ist nur eine und dabei vermutlich sogar die abstrakteste Realitätsschicht, die jedoch, wohl weil sie an der Oberfläche liegt, als einzige geläufig ist. „Eine Stadt wurde gebaut; eine Industriezone entsteht; diese bestimmte Landschaft ist jetzt in spezifischer Weise verändert: die zahlreichen Dinge, Baumaterialien, Beziehungen, von Menschen bewegt und verändert, daraus ist ein gesellschaftliches Verhältnis entstanden; es sind menschliche Interessen und Bedürfnisse, in Dinge eingebaut: das ist Arbeit.“ 150 Lebendige Arbeit drückt sich in ihrer Erscheinung nur in unvollständiger Weise aus. Weder ihre Lebenszusammenhänge und kooperativen Vernetzungen sind offensichtlich, noch sind es ihre Beziehungen zu toter Arbeit. 151 Ein kausales Analyseverfahren nach dem Muster Ursache-- Wirkung oder Reiz-- Reaktion liefert Ergebnisse, reflektiert aber nicht oder nur unzureichend all jene Wechselbewegungen und Geschichtsprozesse: „Die Linearität“ sei „durch den abstrakten Ausschnitt hergestellt“ und so „keine Eigenschaft“ lebendiger, sondern nur mehr toter Arbeit. 152 Lebendige und tote Arbeit denken Kluge/ Negt zusammen und betonen ihr kreislaufartiges und wechselwirkendes Moment, wodurch sie auch jene subtil und unbeachtet waltenden Arbeitsprozesse aus dem toten Winkel der Betrachtung 146 GE, S. 304 . 147 Vgl.: GE, S. 305 . 148 Ebd. 149 GE, S. 125 . 150 Ebd. Die letzten drei Wörter sind im Original fettgedruckt. 151 Vgl.: GE, S. 192 f. 152 GE, S. 229 . 54 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln holen, die zwar unbezahlt sind, ohne die wiederum nichts funktionieren würde. 153 Exemplarische Erscheinungsformen: Erholung vom Arbeitstag, kommunikatives-- zumeist unvollständiges-- Verarbeiten der Vorkommnisse, Ablenkung, Zerstreuung, häusliche Arbeit zum Ausgleich oder als zusätzliche Pflicht, Regeneration und Kräftesammeln für den nächsten Arbeitstag, was meist Verzicht, Kompromiss und Konflikt mit dem Privaten und Familiären bedeutet usw. Arbeit besitzt Transzendenzvermögen. In den Zwischenräumen entstehen Beziehungen zwischen den Kreisläufen von Arbeitsvermögen. Dies sei naturalistisch, da die Arbeitsvermögen „über ihre Vergegenständlichungsvermögen hinausschießen“. 154 Kluge und Negt gehen deshalb davon aus, dass in der Natur des Zusammenhangs eine „Materialität der Eigensteuerung“ 155 liegt, die Arbeitsvermögen in Wechselwirkungen versetzt, die sich also von sich aus dialektisch verhalten. Habermas’ Interaktionen konfrontieren Kluge und Negt in gewisser Weise mit den interagierenden Arbeitsvermögen, daher auch Negts vielfach geäußerte Kritik an Habermas, der bei aller Kommunikation die Arbeit vollkommen außer Acht lasse. Weshalb Kluge und Negt-- zumindest im Namen-- gerade so sehr an einer proletarischen Öffentlichkeit festhalten, nicht etwa an einer beispielsweise intellektuellen oder künstlerischen oder aber einer Mischform, zeigt sich an ihrem realistischen Bewusstsein von der Importanz der arbeitenden Vielen, die Gesellschaft und System tragen: „Wie auch immer sich Zusammensetzung und Funktion der Arbeiterklasse verändert haben mögen: nach wie vor ist sie der materielle Träger der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums und damit das Subjekt einer neuen Gesellschaft, die als menschliche Gesellschaftsorganisation plausibel gemacht werden kann.“ 156 Die Klasse der Arbeiter befinde sich indes ebenso in einem Veränderungsprozess wie die Intelligenzia, der ihrerseits zunächst nur eine theoretische, „negative Funktion“ zukomme. Ziel ist, dass sich diese so formen, dass beide eine Allianz eingehen. 157 Voraussetzung hierfür sowie für eine entsprechende Produktion von Partikeln jenes neuen Öffentlichkeitstypus’ stellt abermals ein historisches Bewusstsein proletarischer Erfahrungswerte dar. Unter dieses fällt nicht allein „erinnernde Vergegenwärtigung, die alle verzerrten Kommunikationsbezüge miterinnern müsste“. Im Kern geht es um eine Reaktivierung aller „Erfahrung der ganzen 153 Vgl. besonders: GE, S. 230 . 154 Vgl.: GE, S. 271 f. 155 GE, S. 273 . 156 UM, ÖE, S. 451 . 157 Vgl.: UM, ÖE, S. 452 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 55 Arbeiterbewegung“, die durch die bürgerliche Öffentlichkeit entweder „verdrängt“ oder aber „deformiert“ wurde. 158 Die faschistische Abtrennung von Intelligenz und Bürgertum sowie Kunst und Bürgertum, also das Blockieren der Zugänge jeglicher kritischer und aufklärerischer Kanäle, wirkt noch immer als antiintellektuelle Grundhaltung nach. Die entscheidende Wirksamkeit besteht hier im tiefen Einschnitt in das Selbst-Bewusstsein des Bürgertums, also der gewaltsamen Trennung des gesellschaftlichen Konnexes, von etwas, was eigentlich zusammenhängend lebt. 159 „Die Triebphantasien der Menschen, Hoffnungen, Wünsche, Bedürfnisse, sind nicht mehr freigesetzt, können sich nicht mehr nach zufälligen Interessen entfalten, sondern werden mit Gebrauchswerten, mit Waren konkret besetzt.“ 160 Um die individuellen Bedürfnisse in den Verwertungszusammenhang einzuführen, bedarf es längst keiner Gewaltdiktatur oder manipulierender Propaganda mehr, sondern schlicht der Werbung als Chancenverwerterin. 161 Realer Wert, Gebrauchswert und auratischer „Phantasiewert“ 162 einer Ware (Marke, Lebensgefühl, Versprechen etc.) stehen sich widerspruchsvoll gegenüber, wobei Letzterer die Übermacht gewonnen hat. „Tatsächlich können die Massen ihre Erfahrung am Phantasiegehalt der Warenzusammenhänge besser orientieren als an einer Kunst, die ohne ihre Mitwirkung zustande kommt.“ 163 Das jedoch sei kein Abgesang auf die „authentische Kunst“ und ihre „avancierten Kunstwerke“, sondern diese sei „‚Statthalter’ einer autonomen, gesellschaftlichen Erfahrungsgehalt fassenden Phantasieproduktion“, die nicht kapitalistisch organisiert sei. 164 Kluge und Negt weisen aber auf ein Kommunikationsproblem hin, das auf den Großteil authentischer Kunst und Wissenschaft zutrifft. Diese bleiben in kleinen, intellektuellen Kreisen und obwohl sie gesellschaftliche Zustände und die Erfahrungen der Massen transzendieren bzw. materialisieren, schließen sie gerade diese aus: „Während sie produziert, können die eigentlichen Produzenten gesellschaftlicher Erfahrung, die Massen, nicht selbsttätig antworten.“ 165 Mit anderen Worten: Es fehlt hier an „gesamtgesellschaftlicher Kooperation“. Etwas überspitzt formuliert, passiert hier eigentlich etwas sehr Ähnliches wie in einem Betrieb: Ein überschaubares Führungspersonal lebt (unverhältnismäßig besser) von der Produktions- und Arbeitskraft einer Vielzahl 158 UM, ÖE, S. 452 . 159 Vgl.: UM, ÖE, S. 519 - 522 . 160 UM, ÖE, S. 525 . 161 Vgl.: UM, ÖE, S. 521 f. 162 U.a. UM, ÖE, S. 525 . 163 UM, ÖE, S. 528 , Fußn. 13 . 164 Ebd. 165 UM, ÖE, S. 529 . 56 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln an Angestellten, während diese keinen Besitz an den von ihnen selbst produzierten Waren haben. Mit einer Kurzgeschichte über die Rettung von chilenischen Kumpels („Republikgründung aufgrund eines Unglücks in 750 Metern Tiefe“ 166 ) spielt Kluge auf Marx’ Begriff vom „Gesamtarbeiter“ an und veranschaulicht hier einen alternativen Gesamtarbeiter, der nicht Menschen stapelt, sondern einen, der ethisch, universalistisch und außerhalb der Kapitallogik agiert. Dieser besitzt selbstregulierendes Vermögen, es kommt zu spontaner und freiwilliger Zusammenarbeit, zu Vernetzung verschiedener Kompetenzen. 167 Die Grundvoraussetzung für eine proletarische Öffentlichkeit besteht darin, „eine kooperative Beziehung zwischen Intelligenz und materiellem Bedürfnis der Massen“ 168 herzustellen; in dieser Reihenfolge: Die Fähigkeit zur Erfahrungsorganisation trifft auf die Erfahrungsproduktion. Die Trennung zwischen denjenigen, die produzieren und denjenigen, die darüber verwalten, muss wie der alte Antagonismus von Proletariat und Bourgeoisie überwunden werden. Mittels ständiger, wechselseitiger Reflexion soll verhindert werden, dass menschliche Erfahrungen und Bedürfnisse irgendwann als „tote Interessen und Normen“ alles „Lebendige, das sie organisieren wollen, wieder-[…] zerstören“. 169 Die proletarische Öffentlichkeit wäre also tatsächlich ein Schulterschluss zwischen Intelligenzia, Kunst und Proletariat. Idee und umgesetztes Produkt: das Netz-Werk Alexander Kluges. Doch hier ist der Gedanke noch nicht zu Ende: „Dieser Transformationsprozeß bezeichnet freilich nur eine erste Stufe, da auf weiteren Stufen die Selbstorganisierung der Erfahrung der Massen durch die Massen an die Stelle arbeitsteilig betriebener Kopfarbeit treten muß.“ 170 Wir haben es demnach mit nichts weniger als einem gesamtgesellschaftlichen Bildungsprojekt zu tun, das auf eine neue evolutionäre Stufe menschlichen Zusammenlebens hofft. Die Verwertung allein von der klassischen menschlichen Arbeitskraft war vorgestern. Es sei „unwahrscheinlich“ 171 , dass die menschliche Psyche grenzenlos verwertbar ist. Auf kurz oder lang werde ihr die „Ersatzbefriedigung“ nicht mehr genügen und sie werde immer auf adäquate, auf reale Befriedigung drängen. 172 Der ubiquitäre Ausdehnungstrieb kapitalistischer Verwertung, prophezeit Öffentlichkeit und Erfahrung, wird letztlich am Menschen zerschellen: „Gerade wenn der Kapitalismus das menschliche Bewusstsein und die Lebenszusammenhänge zum 166 Bretter, S. 225 - 230 . 167 Vgl.: UM, MP, S. 765 - 792 . 168 UM, ÖE, S. 531 . 169 Ebd., S. 570 . 170 Ebd., S. 531 . 171 Ebd., S. 538 . 172 Vgl.: ebd. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 57 wichtigsten Rohstoff, zum Ort seiner Realisation macht, schafft er Verhältnisse, die zu fast jedem Zeitpunkt zu einer revolutionären Explosion tendieren.“ 173 Marx’ Begriff der „sekundären Ausbeutung“ hat heute eine neue Dimension erreicht. Zur Erinnerung: Als der primäre Ausbeuter des Arbeitsnehmers gilt sein Arbeitgeber und Lohnzahler- - der „Fabrikant“, der „Kapitalist“. Auf einer zweiten, mittelbaren Stufe der Ausbeutung stehen z. B. der Vermieter oder der Kreditgeber-- oder wie es im Kommunistischen Manifest heißt, „die anderen Teile der Bourgeoisie-[…], der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.“ 174 Indem der Markt den Freizeitbereich erobert, dringt diese zweite Form der Ausbeutung bis tief in die menschlichen Bewusstseinskammern vor, besetzt „Wünsche, Hoffnungen, Vorstellungen“ 175 . Dabei gelten diese urpersönlichen Interessen Kluge und Negt als Antriebe des Politischen. 176 Diese Wünsche sind von überindividueller Dauer. 2.1.6 Wahre Ware Sprechen wir über die Abbildung von „lebendiger Arbeit des Denkens“: Den Gebrauchswert von Intelligenzarbeit sehen Kluge und Negt in der Fähigkeit, Öffentlichkeit herzustellen-- was voraussetzt, dass sie die verschiedenen Gesellschaftsmitglieder erreicht und involviert, was wiederum eine Zugänglichkeit in Wort und Ort verlangt. 177 Erst wenn sie veröffentlicht wird, wird Intelligenz zum Produkt. Intelligenz arbeitet so gesehen unproduktiv und verwaltet eher sich selbst, wenn sie sich nicht mehr zu artikulieren weiß als in einem Tagungsband. 178 Zweifelsohne mangelt es an Vermittlern zwischen Intelligenzia und Proletariat-- auch, weil es keine Händler von Wahrheit, sondern nur Händler von Waren gebe. 179 Deshalb müsse eine kritische Arbeit an der Wahrheit oder dem Wahrhaftigen in den Produktionskreislauf einsteigen, dürfe sich nicht vor eigener Fetischwerdung fürchten, denn am Ende will sie doch nur verbreitet sein, um sich zu verwirklichen. Hierbei verfolgt sie parteilos und unabhängig das eine Ziel: die Mündigwerdung eines jeden Menschen. Ja, sie glaubt dennoch unumstößlich an eines: humanistische Werte. Doch ist das tatsächlich Parteinahme? Ist es nicht viel mehr Auflösung 173 UM, ÖE, S. 542 174 Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Das Kommunistische Manifest, in dies.: MEW, 4 , S. 469 . Zit. n. UM, ÖE, S. 534 , Fußn. 21 . 175 UM, ÖE, S. 535 . Dies zeigt sich sowohl protzig wie in „Familienausflügen“ in die Mall in der City an verkaufsoffenen Sonntagen als auch subtiler wie etwa in scheinbar marginal kostenpflichtigen Zusatzinhalten bei Spielen auf dem Smartphone. 176 Vgl.: UM, MP, S. 708 f. 177 Vgl.: GE, S. 430 ff. 178 Vgl.: GE, S. 435 ff. 179 Vgl.: GE, S. 454 f. 58 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln aller Parteien in einem friedlichen und gleichberechtigten Gemeinsamen unter Wahrung der Autonomie des Besonderen? Sie steht nicht wie ein Gott, eine Obrigkeit, eine Machtinstanz über dem Diskurs und sie waltet nicht hinter den Dingen, sondern sie ist zwischen allen Dingen und durch alle Dinge die vereinende Kraft. Kluge, den „Gebrauchswert“ von Theorie im Blick, macht Philosophie bzw. kritische Intelligenzarbeit gegenständlich und zwar in ihrer „emanzipatorischen Gestalt“ 180 . In seiner Ästhetik werden die Beziehungsverhältnisse nicht abstrakt, nicht entpersonalisiert dargestellt, sondern sind an Personen und Gegenstände gebunden, physisch und emotional erfahrbar. Die kritische Intelligenzarbeit vertraut auf einen „materialistischen Instinkt“, der „Lebens- und Arbeitszusammenhang“ verbindet. Gekennzeichnet ist dieser Zugang durch ein Näheverhältnis („Personalisierung“) sowie ein Fernverhältnis („Phantasie“). 181 „Intelligenz“- - Kluge und Negt zählen „arbeitsteilig“ Wissenschaft, Kunst, Nachrichtenproduktion (technische Information vs. kritische Information) auf, die jeweils für sich allein genommen nur „repräsentative“ (d. h. andere Bereiche ausgrenzend und das „Unvollständige“ leugnend) „Auszüge der wirklichen Verhältnisse“ veröffentlichen, „die Nachrichten produziert (einschließlich erzählten)“- - habe den ausgesprochenen Vorteil, „unmittelbar an dem Produkt Öffentlichkeit“ produzieren zu können. 182 Sie sei als einzige Intelligenzarbeit tendenziell an einer „allseitigen Vermittlung“ interessiert. Dem „Denken“ im Verständnis des „Intelligenzbegriffs“ stellt Kluge den „Prozessbegriff“ entgegen, der den Arbeitsprozess eines vielschichtigen Bewusstseins ausdrücken soll. Intelligenz hingegen sei ein „Interpretationsbegriff“, den nur das Resultat interessiert, sie könne ebenso gut wie schlecht sein. 183 „Bewußtsein“ wiederum stellt „das gesellschaftliche Beziehungsnetz zwischen materiellen, für sich objektiven Organprozessen“, das sich bidirektional „aus dem inneren Gemeinwesen nach Außen, aber auch aus dem Außen zum Inneren“ entwickelt. 184 In dieser Arbeit wird auf das bereits von Adorno zur Sprache gebrachte Dilemma der „totalen Integration“ einer und eines jeden in den „Verblendungszusammenhang“ 185 hingewiesen, das einen Totalitarismus in Latenz unserer Gesellschaften beschreibt. Kluge lernt bei Adorno, was die Vorraussetzungen dieses Dilemmas sind und setzt genau dort praktisch an: „Der Konsum ist keine letzte Gegebenheit, nach der man sich zu richten hätte, sondern in weitem Maße selbst eine Funk- 180 GE, S. 453 bzw. 446 . 181 GE, S. 434 . 182 GE, S. 430 f. 183 Vgl.: GE, S. 420 - 424 . 184 GE, S. 471 f. 185 Mit dem „Verblendungszusammenhang“ ist die Kulturindustrie gemeint. 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 59 tion des Gesamtzustandes. Er wäre wahrscheinlich von der Produktionsseite her entscheidend zu verändern, vorausgesetzt, daß man einmal wirklich die Probe aufs Exempel machen könnte.“ 186 Durch ein Aufweichen der Kulturindustrie mithilfe von Gegenproduktion (statt Reproduktion) wird an einem Grundpfeiler des universellen Verblendungszusammenhangs gesägt. Durch das Prozessuale, also das Weiterverarbeiten von Inhalt und Form in Wiederholung, Variation, Rekurs, entzieht sich Kluge darüber hinaus, mindestens auf der Metaebene der Ästhetik, dem Produktcharakter, da, auch wenn man Bücher, Filme usw. natürlich von ihm kaufen kann, diese niemals abgeschlossen oder vollendet sind-- Prozess statt Produkt, Arbeit statt Ware, das Werk lebt. Diese Maxime gilt auch für die Wissenschaft, für eine Wissenschaft, die auch den Prozess wertschätzt, Wahres nicht nur in Resultaten sieht. Das ebenfalls angedeutete Problem der Interpassivität, 187 das sich dabei stellt, weiß er durch die (undogmatische) Aktivierung des Rezipienten als (freiwilligen) Produzenten zu umgehen. Komplexe Sachverhalte und abstrakte Begriffe werden durch literarische Figuren oder durch Mythen und Märchen, diverses Bildmaterial oder durch Opernstoffe bespielt und greifbar gemacht. Ähnlich eigentlich wie das gelungene Programmheft zur Opernaufführung oder zum Theaterstück: Multiperspektivisch durch unterschiedliche Textgattungen wieder unterschiedlicher Autoren und unterschiedlicher Epochen, den Einsatz von Bildmaterial, von Partituren, von Texten in Fremdsprache usw. wird ein Thema beleuchtet-- das ist ja im Prinzip die klugesche Herangehensweise. Ein Beispiel: „On the tendency of species to form varieties: and on the perpetuation of the varieties and species by natural means of selection.”-- Die Zwei- Fakten-Theorie der biologischen Evolution um Darwin und Wallace, Begriffe wie Ontogenie oder Phylogenie, werden kurz und klar „übersetzt“ und in Variation angewendet auf „menschlich-gesellschaftliche“ Produktionsverhältnisse, also Zusammenhänge, in die ich involviert bin und wodurch deshalb Theorie interessant für mich wird. 188 Die Kritik an der Verdinglichung des Begriffs durch starre, verkürzte Definition bzw. durch instrumentelle Besetzung (z. B. ökonomischer Zweck) verhält sich äquivalent zur Kritik am Spezialistentum sowohl in den Produktionsverhältnissen als auch in der Bildungs- und Wissenschaftslandschaft: die zunehmende Entsubjektivierung der Menschen durch die Versachlichung im Produktions- und Kon- 186 AGS 20 . 1 , S. 340 . 187 Der Begriff kommt aus den Kulturwissenschaften und der Psychoanalyse: Die eigene Handlung und Empfindung wird delegiert und durch andere Lebewesen oder Dinge ausgeführt. 188 GE, S. 155 ff. 60 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln sumptionsprozess, die zweckrationalisierte und arbeitsteilende Kolonialisierung ihrer physischen wie psychischen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Heißt also, der Habitus eines Denkens, das allein (d. h. isoliert und ohne Reflexion) in bestimmten Kategorien einen Gegenstand identifizieren will, ist zum Scheitern verurteilt. „„Der B=Filosof schwärmt englisch vom Großn=Ganzn- - : ‚The Whole’! -- ‚von unten’ flüstert’s zärtlich : ‚hole’-- -“.“, tippt Arno Schmidt. 189 Es geht darum, eine „Sache selbst“ zu begreifen und nicht bloß analytisch-reduktionistisch in irgendein „Bezugssystem“ „ein[zu]passen“-- so die Vorgabe Adornos. 190 Alexander Kluge praktiziert das wie kein Zweiter: Zwar bedient er sich der akademischen Begriffe ebenso wie der Poesie, doch versucht er nicht, Gedanken und Dinge begrifflich festzuzurren, nein er umkreist sie mit Metaphern, Bildern, Assoziationen. Er wendet keine Gewalt an, sondern die, wenn, dann sanfte Gewalt der Hebammenkunst, die des empathiefähigen Feingriffs, 191 der sich auf die Eigenbewegung des Anderen einlässt. Auch wenn das Begriffspaar auf Paradoxie hindeutet: In der Kunst ist Natur noch undomestiziert und unbesetzt vom kapitalistischen Verwertungsprozess aufspürbar. Gerade in Geschichte und Eigensinn wird auf dieses Problem hingewiesen: „Arbeitsmittel der Theorie sind analytische Perspektiven und Elementarisierungen, die das, was sich in Wirklichkeit in Bewegung befindet, zergliedern und damit-- man mag so oft man will darauf hinweisen, daß es sich bewegt-- die Prozesse anhalten.“ 192 Man beachte den gedanklichen Einschub: Die ausgefeilteste Benennung genügt nicht. Mit einer Analyse ohne Mimesis der sich wandelnden Form tötet man das, was man doch verstehen will. Das Existierende aber hat Vorrang vor dem Begriff. 193 Die Kritik lautet also, dass zwischen Theorie bzw. Methode und Gegenstand ein inadäquates Verhältnis besteht. Alexander Kluge und seine Werkstatt der Autoren nun begleiten deshalb-- so die Hauptthese dieses Forschungsprojekts-- die Philosophie mit der konstellativen Darstellungskraft der literarischen wie filmischen Erzählung, mit dynamischen, infiniten Text- und Bildversatzstücken, und der Methode des epischen Bruchs gegen die lineare Dramaturgie, stellvertretend für den selbstbewussten Kampf gegen die scheinbare Fatalität des Schicksals, das es für Kluge gar nicht gibt. 189 Schmidt, Arno: Zettel’s Traum. Bargfelder Ausgabe: Werkgruppe 4 , Das Spätwerk. Berlin (Arno Schmidt Stiftung/ Suhrkamp) 2010 , Bd. 1 , S. 32 . 190 AGS 6 , S. 36 . 191 Vgl.: GE, S. 449 . 192 GE, 224 . 193 Vgl.: AGS 6 , S. 129 - 132 . 2.1 Skizzen zur Kritischen Theorie 61 2.1.7 Die Haltung der Kritischen Theorie II Gemeinsam mit Oscar Negt verfolgt Alexander Kluge eine grundlegende Verfahrensweise der Kritischen Theorie, die der geistes- und kulturwissenschaftlichen Kombination aus Multiperspektivik und Methodenpluralismus in Verbindung mit einem polygamen Theorie-Verständnis historisch-materialistischer Prägung. Kluge sagt, dass er und Negt sich „nicht auf einen der großen Theoretiker kaprizieren“, sondern dass sie „ihre gesamte Generationsfolge, wie ein Bündnis, wie ein Vertragsverhältnis mit der Theorie, immer erneut vollständig herstellen.“ 194 Dabei verknüpfen sie besonders die Gedanken Kants, Marx’, Hegels, Freuds, Nietzsches. Nicht jedoch begehen sie Fehler der unhistorischen Übertragung von einem zum anderen, sondern sie montieren die jeweiligen Kompetenzen und den ihnen allen innewohnenden „wissenschaftlichen Erfindergeist“ 195 zur kaleidoskopischen Durchleuchtung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die gesellschaftsverändernwollende Haltung der Kritischen Theorie ist das „Wirkliche an der Kritik“ 196 , also ihr basal gesellschaftszugewandter, praktischer Kern. „Die Kritische Theorie“, so Kluge in einer Fußnote, „ist und war immer eine politische Theorie“. Es folgt eine Anspielung auf Horkheimers Schrift Traditionelle und kritische Theorie, die geradezu selbstreferenziell mit einem wirklichkeitsverändernden Impuls schließt: „Sie kann nicht auf einen verengten Begriff der klassischen Theorie rückgeführt werden. Vielmehr muß sich Politik an Kritik und Theorie anpassen.“ 197 Kluges Arbeit bewegt sich ganz in diesem Sinne zwischen „Begreifen“ (erster Schritt) und „Einmischen“ (zweiter Schritt) in die Wirklichkeitsverhältnisse. 198 „Kritik“ ist daher auch als „produktive Unruhe des poetischen Prozesses“ anzusehen, wie Enzensberger formuliert. 199 „Die Kritische Theorie versucht nicht nur ein Verstehen, sondern darüber hinaus eine dialektische Erklärung der Geschichte, die zukunftsorientiert und auf Veränderung gerichtet ist. Gegenwart und Vergangenheit werden mithilfe der kritischen Instanz der Vernunft analysiert und die Irrationalität des Bestehenden aufgezeigt.“ 200 Diese Analyse geschieht bei Kluge sowohl in der Vorproduktion für seine literarischen wie filmischen Stücke als auch spontan-assoziativ in seinen Interviews. Die Form jenes Aufzeigens ist jedoch nicht mehr akademisch, sondern ästhetisch. 194 UM, Bd. 1 , S. 11 . 195 Hier steckt Phantasie drin. GE, S. 462 . 196 UM, Bd. 1 , S. 6 . 197 Ebd., S. 16 . „Selbstreferenziell“ ist bezogen auf die Kritische Theorie, nicht auf Kluge selbst. 198 Vgl.: UM, MP, S. 920 . 199 Enzensberger, Hans Magnus: „Poesie und Politik“, in ders.: Einzelheiten. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1962 . 200 Mikl-Horke, Gertraude: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe. München (Oldenbourg) 2001 , S. 169 . 62 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Nicht aber als l’art pour l’art, nicht als Schöngeisterei und erst recht nicht als elitaristische Hochkultur, sondern unprätentiös und frei von Allüren schließt er das Institut für Sozialforschung auf, baut Brücken und gräbt Tunnel zwischen Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft. Ein Schlüsselbegriff bei Alexander Kluge ist der eines fluiden „Zusammenhangs“, der seinen Geschichts- und Zeitbegriff prägt. Dessen innere Widersprüche, Aufhebungen, Synthesen werden durch sein ästhetisches Programm der Montage erfahrbar. Ihre Neukonstituierung ist bei ihm Methode, indem er einzelne Bausteine, Szenen, Sequenzen, Bilder, Sätze usf. in immer neuen ästhetischen Konstellationen verwendet (hierzu u. a. Kapitel 2 . 6 . 7 . 3 ). Adorno fordert die Kritische Theorie auf, aus der Enge eines Gegenwärtig-Realen hinauszuweisen auf ein Zukünftig-Mögliches. Sie müsse „die Starrheit des hier und heute fixierten Gegenstandes auflösen in ein Spannungsfeld des Möglichen und des Wirklichen.“ 201 Das „Mögliche“ ist Teil Kluges Realitätsbegriffs, der ein dialektischer ist (siehe 2 . 6 . 3 , „Der Antirealismus des Gefühls“). Er stellt der repressiven Realität eine dem Menschen immanente, subversive Anti-Realität gegenüber: „Wenn ich gegen das Realitätsprinzip, gegen das, was die Realität mir antut, Protest erhebe, bin ich realistisch. Ich bin also realistisch aus einem anti-realistischen Grund.“ 202 Verletzt die Macht des Faktischen die Macht der Werte und Ideen, wählen letztere erstere ab. In ihrem Kampf gegen den „Real-Terror“ 203 sind die essentiellen Kräfte des unter Verruf stehenden „Irrationalen“, der Träume und des Imaginären, auch „Gefühle“, potenziell emanzipatorischer Natur. Ganz im Sinne eines evolutionären Erbes also, ausgedrückt durch Begriffe wie „Instinkt“ oder „Intuition“, führen wir in unseren Zellen „etwas von den Errungenschaften mit uns, die zu diesem Überleben-[…] geführt haben, eine Lebensreserve, eine Reserve an Auswegen.“ 204 -- Ein ursomatischer Selbsterhaltungstrieb wider pure Vernunft brodelt in uns. Der Anthropologe Kluge betrachtet den Menschen weltverbunden, unspeziesistisch, kosmologisch, doch ohne aus dem Diesseitigen ins Spirituelle oder Religiöse 201 AGS 8 , S. 197 . An diese Forderung knüpft Alexander Kluge direkt an mit seinem Begriff der „Bifurkation“. Siehe hierzu Kapitel 2 . 6 . 1 . 202 Alexander Kluge im Interview mit Ulrich Gregor: Herzog/ Kluge/ Straub, m. Beitr. v.-Ulrich Gregor, Peter W. Jansen, Wolfram Schütte u. a., i. d. R. „Film 9 “. München/ Wien (Hanser) 1976 , S. 160 . Reflektiert man dies wiederum mit Hegel, ergibt sich ein interessantes Gegenstück. Eine maßgebliche Aufgabe der hegelschen Vernunft ist es, als Kontrollinstanz des Seins zu fungieren, um das Irrationale des Bestehenden aufdecken zu können. Kluges Antirealismus ist daher gut mit Hegels Vernunftbegriff zu veranschaulichen. 203 Kluge, Alexander: „Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren Charakter beruft“, in Sklavin, S. 215 . 204 Kluge, Alexander: Rede zum Georg-Büchner-Preis 2003. Darmstadt am 25 . 10 . 2003 . Siehe: http: / / www.kluge-alexander.de/ zur-person/ reden/ 2003-buechner-preis.html [Zugriff: 19 . 10 . 2013 ]. 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 63 abzugleiten („Es muß einen Ausweg geben. Und nicht nur in der Theologie.“ 205 ), bleibt er bei allem Assoziieren und Erzählen immer konzentriert gegenwärtig: „Die Evolution, die schon im Kosmos beginnt, ist zu vielfältig, um durch die Einfälle einer Gegenwart sabotiert zu werden.“ 206 Kluges poetisch-wissenschaftlicher Realismus hat zweifelsohne eine romantische Färbung, ja dieses Moment ist gar charakteristisch. Wiederum erwächst dieses Sehnsuchtsgefühl aus Tatsachen, die älter sind als die Menschheitsgeschichte. 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen „Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, daß es der Philosophie doch möglich sei; daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begrifflose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivität, an der sie krankt.-[…] Was aber an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene. Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ 207 Ähnliches entdecken die Adorno bewussten Kluge und Negt in Hegels 200 Jahre alter Wissenschaft der Logik, die verortet ist zwischen Seinslogik und Wesenslogik: „Es gibt, sagt Hegel, keinen direkten Übergang von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu Wesen und Begriff.“ 208 Die „Idee des Wesens“ 209 liegt für sie stattdessen in einem konstellativen Maßverhältnis. 1959 schreibt Kluge in einem Brief an Adorno: „[D]er Gedanke der Konstellation stammt ja von dir.“ 210 Wenn sich Habermas und Honneth einig darin sind, dass das richtige Leben nicht in direkter Weise skizziert werden kann, ist mit Kluge zu ergänzen, dass es aber immerhin durch narrative Umkreisungen und Einkreisungen erahnt, erfühlt werden kann-- und das ist mehr als ein Ex-Negativo: „Erst unter der Bedingung, dass die Erscheinungen eine bestimmte Konstellation annehmen- - sie verlieren ihre 205 GE, S. 368 . 206 Aus der DVD-Info zu Kluge, Alexander: Krieg ist das Ende aller Pläne & Woher wir kommen, wohin wir gehen. Edition Filmmuseum 31 . Filmmuseum München/ Goethe-Institut/ Kulturstiftung des Bundes, 2008 . 207 GS 6 , S. 21 . Mit dem „Begriffslosen“ meint Adorno das „Nichtidentische“ (Vgl. u.a. S. 24 ). 208 UM, MP, S. 696 . 209 Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik, Erster Teil, hg. v.-Georg Lasson. Leipzig (Meiner) 1951 , S. 339 (zit. n. Negt/ Kluge, UM, MP, S. 696 , Fußn. 1 . 210 Brief von Kluge an Adorno vom 29 . 06 . 1959 , S. 3 (Adorno-Archiv/ Akademie der Künste, Berlin). 64 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln bisherige Existenzweise und treffen auf andere Existenzen--, verdichten sich die in ihnen enthaltenen Beziehungen und werden zu einem eigentümlichen Gefüge, das wesentlichen Zusammenhang konstituiert.“ 211 Hier, wie Kluge/ Negt betonen, handelt es sich nicht um ein aristotelisches, harmonierendes „Maß“ der „Mitte“, sondern um „Reibungsflächen“ der „Extreme“, um ein vielfaserig gespanntes Netz zwischen Identischem und Nichtidentischem: „‚Pulsation des Lebendigen’“ und „‚Knotenlinien der Maßverhältnisse’“. 212 Mit dieser Strategie versucht Kluge zu entmystifizieren, zu erkennen, denn „je vollständiger die Welt als Erscheinung“, erinnern wir uns an Adornos Warnen in seinem „Prolog zum Fernsehen“, „desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie“. 213 Die Philosophie erklärt in Begriffen, die Oper in musikalischen, die Literatur in sprachlichen, der Film in visuellen, in bewegten Bildern. Die Grenzen der Sprache vor Augen, erscheint das konstellativ-narrative Verfahren, das gekennzeichnet ist durch Multi- und Intermedialität, infinite Bewegung, Metamorphose, Multiperspektivität und Methodenpluralismus, als geeigneteres Ausdrucksmittel-- sowohl um das signifié getreuer abzubilden, ja um „das Wirkliche von der bloßen Erscheinung unterscheiden“ 214 zu können, als auch um in Kommunikation mit anderen darüber treten zu können (Kluges Form von Kritischer Theorie erreicht noch weit mehr Menschen und Gesellschaftsschichten als Adornos und Benjamins Radioauftritte). In Platons Kratylos, das mit der kritisch-reflexiven Gegenüberstellung von Konventionalismus und semantischem Naturalismus als eigentlicher Ausgangspunkt moderner Semiotik gilt, kommt Sokrates zu dem Schluss, dass rein über Sprache, rein über Begriffe keine sichere Erkenntnis möglich ist. Um zum Wesen eines Dings vordringen zu können, sei es deshalb notwendig, es auch unabhängig seines Namens zu erforschen: „SOKRATES: Wohlan denn, beim Zeus, haben wir nicht oft eingestanden, daß wohlabgefaßte Wörter müßten demjenigen welchem sie als Namen beigelegt sind ähnlich, und also Bilder der Gegenstände sein. KRATYLOS: Ja. SOKRATES: Wenn man also zwar auch wirklich die Dinge durch die Wörter kann kennen lernen, man kann es aber auch durch sie selbst, welches wäre wohl dann die schönere und sichrere Art zur Erkenntnis zu gelangen? Aus dem Bilde erst dieses selbst kennen zu lernen, ob es gut gearbeitet ist, und dann 211 UM, MP, S. 696 . Hervorh. gem. Orig. 212 UM, MP, S. 697 . 213 AGS 10 . 2 , S. 508 . 214 UM, Bd. 1 , S. 18 (Vorwort). 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 65 auch das Wesen selbst, dessen Bild es war, oder aus dem Wesen erst dieses selbst, und dann auch sein Bild, ob es ihm angemessen gearbeitet ist? KRATYLOS: Notwendig ja, dünkt mich, die aus dem Wesen. SOKRATES: Auf welche Weise man nun Erkenntnis der Dinge erlernen oder selbst finden soll, das einzusehen sind wir vielleicht nicht genug, ich und du; es genüge uns aber schon, darin übereinzukommen, daß nicht durch die Worte, sondern weit lieber durch sie selbst man sie erforschen und kennen lernen muß, als durch die Worte. KRATYLOS: Offenbar, Sokrates. SOKRATES: Auch das laß uns noch bedenken, daß nicht doch etwa diese vielen Worte, welche sich alle dieselbe Richtung haben, uns betrügen, und in der Tat diejenigen zwar, welche sie bildeten es in diesem Gedanken getan haben, als ob alles immer im Fluß und in Bewegung sei, die Sache selbst sich aber gar nicht so verhält, sondern nur sie selbst gleichsam in einen Strudel hineingefallen die Besinnung verloren haben, und uns nun auch mit sich hineinziehen. Denn überlege nur, teuerster Kratylos, was mir oft so vorschwebt im Traume, ob wir wohl sagen wollen, daß das Gute, das Schöne und so jegliches wirklich etwas sei oder nicht? “ 215 Worte Adornos in der Negativen Dialektik beschreiben dieses Erkenntnis- und Darstellungsdilemma von Wissenschaft im Allgemeinen und Philosophie im Besonderen: „Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.“ 216 Adorno bietet also sofort einen Lösungsvorschlag an: eine konstellative, anti-hierarchische Darstellungsweise. Kluge hat sich dieser Idee angenommen und verwirklicht sie mit den Mitteln der literarischen Moderne und des selbst mitbegründeten Neuen Deutschen Films, etwa durch Montage und Cross-Mapping. Mit Nachdruck: Kluge als „Montagekünstler“ zu bezeichnen, ist zwar korrekt, doch greift es zu kurz. Die Montage ist ein, neben dem Essayistischen und der Kurzgeschichte vermutlich das klugesche Werkzeug zur Herstellung von Konstellationen: Sie „ist vielmehr Ausdruck der Autonomie dessen, was ich beschreibe, der Versuch, etwas schwer Verständliches in seinem Eigenleben zu erhalten; die Liebe zu diesem Ei- 215 Platon: Kratylos, 439 St. A-D, in: Platons Werke, hg. u. übers. v.-Friedrich Schleiermacher. Berlin (Akademie Verlag) 1986 , Bd. II, 2 . 216 AGS 6 , S. 164 f. Die Ästhetik begreift Adorno als „philosophisch in sich“. „Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.“ AGS 7 , S. 191 . 66 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln genleben ist das kommunikative Vehikel.-[…] Der Zusammenhang eines Gartens, das ist Montage.“ 217 Die Gärtner-Metapher weist auf das gerade nicht Destruktive der Montage hin, sondern auf ihre affizierend-konstruktive Kraft: „Man betreibt in meinem Sinn also nicht Montage aus der Lust der Zerstückelung, sondern aus Achtung davor, dass etwas von sich selbst wächst.“ 218 -- Ein Hinweis auch auf die mimetische Qualität der Montage. Die Idee der Konstellation erweitert Kluge zu einer eigenen, grundlegenden ästhetischen Darstellungsmethode. Über das Künstlerische hinaus, erweist sie sich von großer erkenntniskritischer Bedeutung: „Die einzelnen Phänomene, die sich beobachten und beschreiben lassen, sollen gerade ihr Eigenleben behalten. Sie sind primär und von sich aus nicht Instrument eines übergeordneten Sinnzusammenhangs.“ 219 In ihren wechselseitigen Beziehungen und in ihrer Eigenbewegung nehmen sie Gestalt an und werden begreifbar: „Oft stehen sie in Nachbarschaft, Konstellation oder Gegensatz, in Abstoßung oder Anziehung zu etwas anderem“, erklärt Kluge. 220 Doch es gebe „auch Spannungsverhältnisse zwischen Einzelheiten, die gleichgültig gegenüber einem gemeinsamen Sinn bleiben, bloß Parallelen bilden.“ Ein Begriff muss so lange durchgearbeitet werden, theoretisch und analytisch wie ästhetisch und spielerisch, bis er beginnt, sich an seinen Rändern dermaßen zu weiten, dass er in einen nächsten Begriff übergeht-- und so also auf das hinweist, was außer ihm noch existiert. Erst wenn man über den Begriff hinausgeht, kann man ihn bestimmen. Das Nichtbegriffliche ist deshalb für das Erkennen und Unterscheiden ein kostbares Instrument. Folglich stellt die klugesche Konstellationsmethode tatsächlich ein Erkenntnismittel dar, weil in ihr erstens der Begriff umfangreich (auch spielerisch) verifiziert wird, zweitens das Identische sowohl auf ein konkretes, ausgeschlossenes Nichtidentisches hinweist wie drittens überhaupt auf das Mehr an Welt. „Ich halte so lange an dem Wahrheitsanspruch eines Begriffs fest, bis er von sich aus sagt: ‚Ich bin nicht die ganze Wahrheit. Ich muss einen weiteren Begriff, einen weiteren Erfahrungszusammenhang aufnehmen’“. 221 Die Konstellation ist deshalb nicht nur ein Epistemologe, sondern auch Kommunikator, Vernetzer: Sie vermittelt zwischen den Begriffen, zwischen Identischem und Nichtidentischem, zwischen Bekanntem und Fremdem. An diesem Punkt werden somit auch soziale, kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen kritisch-theoretischer Überlegungen ersichtlich. 217 Kluge, Alexander: „Der Autor als Dompteur oder Gärtner.“ Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1993 , in ders.: Personen und Reden. Berlin (Wagenbach) 2012 , S. 26 . 218 Ebd. 219 Ebd., S. 25 . 220 Ebd. 221 Oskar Negt in Kluge, Alexander: Was heißt NICHTS? Kairos Film 2009 , 14 min. 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 67 Wie aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie unter dem Lemma „Konstellation“ zu erfahren ist, weist bereits Johann Friedrich Herbart in seinem Lehrbuch der Psychologie 222 auf die „Analogie in der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Bewusstseins und der Sternbewegungen des Himmels“ hin: „Vorstellungen assoziieren sich zu Gedanken und verfolgen einen regelmäßigen Ablauf wie die Planeten.“ 223 Dies im Hinterkopf, sind die auf den ersten Blick sicher poetisch aufgeladenen Kant-Worte aus Kluges Laudatio auf Jürgen Habermas ernst zu nehmen-- und zwar als Reflexion auf die konstellative Praxis: „Der bestirnte Himmel über uns ist-[…] auch die Metapher für beharrliche, konsistente Theorie gegenüber dem aktuellen Wechsel der Eindrücke.“ 224 An gleicher Stelle: „Vielmehr sind wir selbst aus Sternenstaub zusammengesetzt und das Poetische und das Denken besitzen in dieser Hinsicht innere Einheit. So sind Normen und Wirklichkeiten, Ausdrucksvermögen, Urteilskraft, Lebenswelt und die Natur, aus der wir kommen, miteinander verschränkt und zwar nicht ‚spukhaft’, sondern vernünftig.“ 225 Weiterhin spricht Herbart von einer „gegenseitigen Unterstützung der Assoziationen bei der Reproduktion“, was ein Selbstregulatives betont. „Eine Vorstellung wird nur dann durch eine andere angeregt, wenn die Beziehung zwischen beiden mit ins Bewußtsein tritt: Das Bewußtsein der Beziehung wirkt ‚konstellierend’.“ Mit anderen Worten tritt demnach also die alte Macht eines Autors zurück, da einerseits die Dinge untereinander kommunizieren und sich in ihren Anziehungen und Widersprüchen wie lauter wechselseitige Kommentare ausdrücken und da andererseits auch eine aktive Verknüpfungsleistung des Rezipienten erforderlich ist. Kluges Konstellationen sind von ihrer Bauweise so angelegt, dass sie in ihrem individuellen Rezipiertwerden bereits wieder neue Arrangements eingehen. Die offene und metamorphe Form ermöglicht es, dass der Rezipient nach Lust und Neugier auswählen kann, was und wie viel er liest oder sieht, und natürlich denkt er sich auch etwas Eigenes dabei (mehr zu diesem Punkt in Kapitel 2 . 5 . 6 ,„Über Verstehen und Wollen: Produktion und Rezeption“). Im selben Lexikonartikel wird aus psychologischer Perspektive (in Person von C. G. Jung, Bleuler und Müller-Freienfels) geradezu klugefreundlich darauf aufmerksam gemacht, dass hierfür der Intellekt allein unzureichend sei: „‚Die Konstellation ist der gesamte momentane Status unseres Ich, der in der Hauptsache 222 Die Erstausgabe stammt von 1816 . 223 Vgl.: Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel/ Stuttgart (Schwabe & Co.) 1976 . Bd. 4 : I-K, S. 989 . 224 Kluge, Alexander: „Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 2012 an Jürgen Habermas.“ Düsseldorf am 14 . 12 . 2012 . 225 Ebd. 68 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln durch affektive Momente bedingt ist.’“ 226 Die Gefühle also sind von besonderer Bedeutung, haben gestaltende, konstruktive, bildende, d. h. auch epistemische Kraft, zudem weisen sie auf ihre innere, pulsierende Historizität hin: „Jedes psychologische Moment wird ‚konstelliert’ durch alle vorausgegangenen psychologischen Ereignisse, und affektive Erlebnisse haben dabei die größte konstellationsbildende Kraft.“ 227 Auch die von Kluge unermüdlich betonte Relevanz der Phantasietätigkeit für die Verarbeitung von Erfahrung wird seitens der Psychologie bekräftigt: „Unbewußte Konstellationen finden ihren Ausdruck im Traum, aber auch in Symptomhandlungen wie Vergessen und Versprechen.“ 228 Im Prozess des identifizierenden Denkens- - die Nähe zwischen Identitätssuche und Denkvorgang liegt in derselben Dialektik: „Denken [ist] die Anerkennung meiner Gedanken aus der Rückantwort der anderen“ 229 -- ringen die Begriffe mit dem Nichtidentischen, versuchen es zu fassen und mit Zuschreibungen zu belegen. Wenn es so ist, wie es doch scheint, dass Selbstentfaltung und Identitätssuche dynamische und metamorphe Größen sind, kann die Starrheit des Begriffs diesem nur Gewalt antun. Der Drang nach Wahrheit droht also zu einer Gewaltanwendung zu mutieren und durch ein Unterdrücken des Nichtidentischen an den eigenen Ansprüchen zu scheitern. Ist Wahrheit deshalb „Gegensatz des Identischen“, 230 wie z. B. Britta Scholze Adorno liest? Wahrheitssuche bewegt sich somit zwischen Verstehen und Beherrschen von etwas, verirrt sich in Besitzansprüchen. Für Adorno stellt sich also nicht nur das Problem des Nichtidentischen zwischen Bezeichnung und Wesen, sondern zusätzlich das Problem eines Hierarchieverhältnisses wie zwischen Herr und Knecht. 231 Wie aber soll dann nun überhaupt das „Nichtbegriffliche“ „in seiner Nichtbegrifflichkeit zu begreifen“ 232 sein? Die Antwort liegt in den subjektiv-objektiven Beziehungen und deren multipler Darstellung. Genauer: in der Hebammenkunst klugescher Mimesis. Und sie wird begleitet von einer Haltung, die sich von einem Zwang des Identifizierenmüssens 226 Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel/ Stuttgart (Schwabe & Co.) 1976 . Bd. 4 : I-K, S. 990 . 227 Ebd. 228 Ebd. 229 Kluge, Alexander: „Augenblick tragisch-glücklicher Wiedererkennung.“ Rede zum Lessing- Preis der Freien und Hansestadt Hamburg 1989 , in ders.: Personen und Reden. Berlin (Wagenbach) 2012 , S. 7 . 230 Scholze, Britta: Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2000 , S. 348 . 231 Weiterführend: Bartonek, Anders: Philosophie im Konjunktiv. Nichtidentität als Ort der Möglichkeit des Utopischen in der negativen Dialektik Theodor W. Adornos. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2011 , S. 71 . 232 Adorno, Theodor W.: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/ 66. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 , S. 88 . 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 69 befreit hat. Von einer Haltung, die keine Angst vor dem Nichtverstehen hat, sondern die Eigenbewegung des Anderen mit Neugier verfolgt, ohne einen Drang des Anfassens oder Einfangens, sondern ihm immer seine Würde anerkennt, indem sie diese Bewegung nicht anzuhalten versucht. Der soeben verwendete Begriff der „Beziehung“ verrät es bereits: Trotz aller Nichtidentität gibt es doch einen Kontakt, also Kommunikation zwischen Nicht-Gleichen. Im selben Moment der Trennung liegt also auch der des Zusammenhangs. In diesem Sinne ist Kluges gesamte Arbeit elementar Vermittlungsarbeit, seine Strategie der Konstellationen Versöhnungsarbeit. Sie zeigt zugleich, dass weder von Identität noch von gänzlicher Trennung, von isolierten Monaden gesprochen werden kann. Nein, die Monaden spiegeln Gesellschaftliches wider, sind durchdrungen von Nichtidentischem. Und darüber hinaus bietet Kluges Konstellationsverfahren eine Alternative des Erkenntniswegs, der nicht mehr allein nur auf Begriffe zurückgreift, sondern reicher ist. Wahrheit ist konstellativ. Sie geht „weder in jenem noch diesem“ auf, notiert Adorno, sondern in der reziproken Gravitation der „Momente“, „die nicht als ‚Residuum’ der subjektiven oder objektiven Seite sich zurechnen lässt.“ 233 Es wäre ein Missverständnis, würde man meinen, dass es darum gehe, fortan alle Theorie unter den Zwang eines telos zu stellen. Doch die Frage ist nicht „Wozu Theorie? “, sondern erstens, in wie weit akademische Wahrheitssuche etwas mit den Problemen der Gegenwart zu tun hat oder nicht und zweitens, was unter „Vernunft“ zu verstehen ist. „Bei der Handhabung des Begriffsmaterials durch Philosophie rede ich nicht ohne Absicht von Gruppierung und Versuchsanordnung, von Konstellation und Konstruktion. Denn die geschichtlichen Bilder, die nicht den Sinn des Daseins ausmachen, aber dessen Fragen lösen und auflösen--, diese Bilder sind keine bloßen Selbstgegebenheiten. Sie liegen nicht organisch in Geschichte bereit; es bedarf keiner Schau und keiner Intuition ihrer gewahr zu werden, sie sind keine magischen Geschichtsgottheiten, die hinzunehmen und zu verehren wären. Vielmehr: sie müssen vom Menschen hergestellt werden und legitimieren sich schließlich allein dadurch, daß in schlagender Evidenz die Wirklichkeit um sie zusammenschießt.“ 234 Kluge pflichtet Adorno bei: „Was einen Sinn hat, ist eine Kategorie des Zusammenhangs und keine Definition. Man wird Sinn aber von den Kategorien Vernunft, Wirklichkeit, Glück und Zusammenhang (Proportionalität) nicht trennen können.“ 235 Ohne Vernunft keine Freiheit, ohne Freiheit keine Vernunft-- sie sind „Nonsens ohne einander“, stellt Adorno ihr Interdependenzverhältnis fest und weist so auf eine epistemische Notwendigkeit des Praxisbezugs von Theoretischem hin: 233 AGS 5 , S. 79 . 234 AGS 1 , S. 341 . 235 Kluge, Alexander: Die Patriotin. Texte/ Bilder 1-6. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1980 , S. 351 . 70 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Nur soweit das Wirkliche transparent auf die Idee der Freiheit, also die reale Selbstbestimmung der Menschheit ist, kann es für vernünftig gelten. Wer dies Erbe der Aufklärung aus Hegel eskamotiert und eifert, daß seine Logik eigentlich mit der vernünftigen Einrichtung der Welt nichts zu tun habe, verfälscht ihn.“ 236 Doch die Kritische Theorie soll jetzt selbstverständlich keine Montagefilme drehen: „Philosophie, die Kunst nachahmte, von sich aus Kunstwerk werden wollte, durchstriche sich selbst.“ 237 Auch deshalb bleibt es dabei: Kluge ist kein Philosoph und wehrt sich auch, eine solche Zuschreibung anzunehmen. Es geht prinzipiell um thematische wie mediale Öffnungen, 238 vor allem aber um Zusammenarbeit, um Synergieeffekte, um die Kraft der Exaktheit der Begriffe und die Kraft der Beziehungen und Zwischenräume zugleich. Im Grunde spiegelt sich dieser Schulterschluss von Philosophie und Kunst erstens auch in dem Gespann Negt/ Kluge wider, die sich mehrfach produktiv und erfolgreich zusammentaten, und zweitens in der Person Kluge selbst. Philosophie und Kunst sind bei und in Alexander Kluge zusammengewachsen, und sie sind nicht allein. Es geht aber keineswegs um eine Ästhetisierung der Theorie oder ein Ästhetischwerden der Philosophie (allein weil sie sich so der begrifflichen Kritik entziehen würde), sondern um ein Begleiten der Philosophie, an der selbst nicht gerüttelt wird, durch Kunst respektive Narration. Dass sich Kluges narrative Kritische Theorie über verschiedenste mediale Träger äußert, ist die eine Sache. Dass sie auch im Hörsaal standhält, zeigte Kluges multimedial konzipierte Poetikdozentur im Sommer 2012 an der Goethe-Universität in Frankfurt und ist als gelungene Bewährungsprobe einer anderen Form von Hochschule und Wissenschaft anzusehen (übrigens hat Kluge schon in den 70 ern Seminare gegeben). 236 AGS 5 , S. 288 . 237 AGS 6 , S. 26 . 238 Etwa eine öffentliche Tagung mit philosophischen Betrachtungen zu einer interessanten TV-Serie in nicht-akademischen Räumen und in einer Sprache, die weder trocken noch unseriös, weder unverständlich noch phrasenhaft ist. Eingehen auf den Anderen und gleichzeitig Unvoreingenommenheiten bekämpfen. 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 71 Abb. 2: Zwischen Vorlesungs- und Kinosaal: Alexander Kluges Poetikvorlesungen an der Frankfurter Goethe-Universität 2012. Nicht im Bild: die Leinwand. Theorie und Erzählung widmen sich Kluge zufolge demselben Gegenstand (der „Realität“ sowie ihrer „Abgründe“ 239 ), nähern sich diesem aber auf unterschiedliche Art und Weise. Während die Philosophie Komplexes meist nur kompliziert zu äußern vermag (aus Gründen der Exaktheit und des akademischen Habitus’), begegnet Kluge der Aufgabe von der Darstellung von Wirklichkeit mit der Leichtigkeit des Poetischen und der Anschaulichkeit des Bildhaften. Der Hörsaal platzte aus den Nähten und Publikum wie Feuilleton waren voll des Lobes über einen frei redenden, Filmausschnitte zeigenden und Textauszüge lesenden Alexander Kluge. Gravitativ verwoben mit Theoretischem, Autobiographischem, der Vergegenwärtigung der Aura Frankfurts der 60 er Jahre, begleitet von Musikbeiträgen (u. a. Adornos Valsette), sah man eine Montagevorlesung, die eine Hochzeit von Theorie und Erzählung feierte. Walter Jens fasste diese philosophische Kraft klugescher Kunst, nur wenige Monate nach dem Deutschen Herbst, in den Ausdruck „Begriff der Anschauung“: „Themen, die bisher zur Domäne der Philosophie gehörten (die Diskrepanz von Sein und Bewußtsein zum Beispiel) wurden von Kluge in die Literatur eingeholt 239 Theorie der Erzählung, 1 . Vorlesung, 05 . 06 . 2012 : „Das Rumoren der verschluckten Welt. Die Lebensläufe und das Wirkliche“. 72 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln und dort auf den Begriff gebracht, den Begriff der Anschauung-- und das verdient Respekt.“ 240 Kluges narrative Fortsetzung der Kritischen Theorie ergänzt und erweitert deren diskursive Gesellschaftskritik um eine ästhetische. Es ist also keine Frage des Ausschluss’ oder der Negation, die hier diskutiert wird, sondern die der Integration und Synthese. „Kunst berichtigt die begriffliche Erkenntnis“, schreibt schließlich Adorno, „weil sie, abgespalten, vollbringt, was jene von der unbildlichen Subjekt- Objekt-Relation vergebens erwartet: daß durch subjektive Leistung ein Objektives sich enthüllt.“ 241 Adorno weiß um die subjektentladene Qualität konstellativer Darstellungsweise. Den von ihr erzeugten „Zusammenhang“ liest er als „Zeichen der Objektivität“ eines „geistigen Gehalts“, in dem das Subjekt (hier: der Künstler Kluge) im gelungenen Fall verschwindet. 242 Die Gründungsgeneration des Instituts für Sozialforschung wollte „mit sozialwissenschaftlichen Mitteln erreichen, was Hegel einst der Philosophie als Aufgabe gestellt hatte, ‚nämlich ihre Zeit in Gedanken zu erfassen’“ 243 . Nach den Mitteln der Philosophie und den Mitteln der Sozialwissenschaften gebraucht Alexander Kluge-- ohne diese aufzugeben (dabei wandern sie nicht nur in den analytischen Prozess der Produktionsvorstufe, der inventio, sondern sind allgegenwärtig)-- die narrativen Mittel von Literatur und Film, um die zeitgeschichtlichen Verhältnisse mit diagnostischem Gespür und auf anschmiegsame Weise wiederzugeben. Die Form bildet ihren Gehalt ab, ohne dass sich dieser theoretisch erklären muss. Dieser Rückschluss geschieht assoziativ und intuitiv oder durch wissenschaftliche Reflexion. Im Gegensatz zu einem klassischen theoretischen Werk aber steht natürlich das Erfahrungsmoment im Vordergrund (im Sinne von Genuss), Theoretisches erschließt sich vielmehr beiläufig oder im Nachhinein, eher indirekt und nicht zwangsläufig. Adorno betont gerade in Bezug auf das Spannungsfeld von Direktheit und Indirektheit im Ausdrucksvermögen, dass Philosophie und Kunst einander bedingen. So benötige Letztere Erstere zu ihrer Interpretation, „um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“ 244 Die Idee der Konstellation, die laut Kluge von Balzac stammt und die sozusagen Adorno konstativ und Eisenstein performativ in Kluges Leben bringen, hat in 240 Walter Jens in Die Zeit vom 30 . 01 . 1978 . 241 AGS 7 , S. 173 . 242 Vgl.: AGS 6 , S. 167 . 243 Dubiel, Helmut: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim/ München ( Juventa) 1988 , S. 12 . 244 AGS 7 , S. 113 . 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 73 Walter Benjamins „Idee als Konfiguration“ eine weitere prominente Begleitung. 245 Begriffe und nicht nur Begriffe umzingeln eine Idee und verhelfen ihr so zu ihrer Darstellung: „Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich.“ 246 Entsprechend lauten die ausformulierten Ambitionen: „Darstellung der Ideen“ und „Rettung der Phänomene“. 247 Adorno formuliert das sehr ähnlich, auch wenn er sich zumindest bei der Begrifflichkeit des „Komponierens“ direkt eher auf Arnold Schönberg oder Max Webers Versuchsanordnungen und weniger auf Benjamin bezieht: 248 Es gelte, „die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnung“ zu bringen, „bis sie zu der Figur zusammenschließen, aus der die Lösung hervorspringt.“ 249 Adorno selbst, wenn auch in Analyse des konstellativen Arrangierens bei Max Weber, bezeichnet die Konstellation als eine dritte Lösung, als Alternative zu „Positivismus und Idealismus“. 250 Der Begriff des Komponierens verlangt zudem, nach der Rolle des Komponisten zu fragen. Sie wird an mehreren Stellen dieses Buches beantwortet und ihr soll bereits hier mithilfe eines Geistesverwandten, eines Freundes und Kollegen Kluges, nämlich mit Gerhard Richter bzw. dessen Künstlerideal begegnet werden: „Die Absicht: nichts erfinden, keine Idee, keine Komposition, keinen Gegenstand, keine Form- - und alles erhalten: Komposition, Gegenstand, Form, Idee, Bild“. 251 Auch wenn hier eine Differenz mit Kluges „Fakes“ noch zu tätigen ist, ist die gemeinsame Haltung bezüglich der Rolle des Künstlers, des Autors entscheidend. Er ist nicht Kunstschaffender, nicht Schöpfer, sondern Sammler und Bewahrer. So wie beim Ready-made liest er alles auf und so gar nicht wie beim Ready-made macht er seine schönen und hässlichen, besonderen und alltäglichen, wichtigen und (ver- 245 Mal sagt er Balzac, auch Eisenstein („leçon du cinéma“ in der Cinématèque française am 27 . April 2013 ), mal nennt er Adorno (Brief von Kluge an Adorno vom 29 . 06 . 1959 , S. 3 .), mal Benjamin (siehe zweites Interview). Zu Balzac: Sie liegt dessen Konzept der Comédie humaine zugrunde: Figuren gleich Versatzstücken in Textgenres unterschiedlicher Art, montagehaft-metamorph zu einem multiperspektivischen Spektrum des gesellschaftlichen Lebens arrangiert, gezwungenermaßen fragmentarisch (Lebensende). 246 BGS I. 1 , S. 215 . Adorno weist bei seiner Darlegung der Idee der Konstellation namentlich hierauf hin; ebenso auf Max Webers „Komponieren“. Vgl.: AGS 6 , S. 166 f. 247 BGS I. 1 , S. 214 . 248 „Wie Gegenstände durch Konstellation zu erschließen seien, ist weniger aus der Philosophie zu entnehmen, die daran sich desinteressierte, als aus bedeutenden wissenschaftlichen Untersuchungen-[…].-[…] Zu rekurrieren wäre auf einen so positivistisch gesonnenen Gelehrten wie Max Weber.“ Vgl.: AGS 6 , S. 164 ff. 249 AGS 1 , S. 335 . 250 AGS 6 , S. 168 . 251 Richter, Gerhard: „Notizen 1986 “, in ders.: Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, hg. v. lger, Dietmar/ Obrist, Hans Ulrich. Köln (Walther König) 2008 , S. 163 . 74 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln meintlich) unwichtigen Gegenstände zugänglich, ohne sich als Designer in den Vordergrund zu drängeln. Richter sieht sich eher als „Bildermacher“ und Kluge sich als ein „Unternehmer auf künstlerischem Gebiet“. Nicht aber ist der Autor tot und auch wird nicht alles subjektlos von Diskursen erzeugt-- die Subjekte nehmen sich nur einfach nicht so wichtig, sondern sie kooperieren im glücklichsten Fall so wie Kluge und Richter das etwa tun und verhelfen durch ihre Ablehnung jeder Künstlerattitüde, die Phänomene selbst darzustellen. 2.2.1 Subjekt-Objekt I „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.“ 252 Der nun folgende theoretische Streifzug zur Problematik von Subjekt und Objekt, von Erkenntnisvermögen und Handlungsfähigkeit, aber auch von eigener Identität und Identifizieren des Fremden soll als Fundament dienen, letztlich die Fähigkeit und Bedingung des aktiven und mündigen Citoyen-- „das ist der mündige, emanzipierte Demokrat, Citoyen, das ist der Teil einer Zivilgesellschaft“ 253 - - für eine gewaltfreie und gerechte Weltgesellschaft darzustellen. Mit Anbruch der Neuzeit und der (wieder) beginnenden Reflexion des Menschen auf das in ihm angelegte Erkenntnisvermögen wird allgemein unter dem Begriff der „Subjektivität“ das erkennende und somit auch sich erkennende „Ich“ verstanden. Dadurch ergab sich die Spaltung der Welt (abgesehen von einer spirituellen) in eine materielle Welt, die einer geistigen gegenübersteht, Innen und Außen, Subjekt und Objekt. Indem das Subjekt ausgerichtet ist auf die Dinge in der Welt, ist es Träger sog. „intentionaler Akte“ (Brentano, Husserl). Die intentionalen Gegenstände repräsentieren sich im Denkprozess. Sie sind die „Objekte“. Diese Vorstellung stellt die Philosophie seit jeher vor eines ihrer zentralen Probleme, aus dem auch die Naturwissenschaften keinen Ausweg finden konnten: Alles Wahrgenommene erscheint subjektiv und nicht „an sich“. Gleichwohl ergaben die sprachphilosophischen Erkenntnisse des 20 . Jahrhunderts, dass es die Sprache ist, die den erkenntnisbegabten Menschen und die zu erkennende Welt verbindet. Das Problem der Neurowissenschaften vom „neuronalen Korrelat des Bewusstseins“ (Francis 252 Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, in dies.: MEW, 3 , S. 20 . 253 Rittberger, Kevin: Wer sich traut, reisst die Kälte vom Pferd. Theaterstück nach Alexander Kluge in einer Bearbeitung von Kevin Rittberger. Residenztheater München, Spielzeit 2011 / 12 . Aus dem Programmheft. 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 75 Crick) besteht in zweierlei Hinsicht. In der Untersuchung bleibt das Mentale des als Objekt erscheinenden Subjekts dem Forscher ebenso unzugänglich wie alle „Vorprozesse“. 254 Dem Subjekt (Patient) wiederum bleibt eine Inneneinsicht in die neuronalen Vorgänge seines Körpers verwehrt, da er diese nur wie jeder Außenstehende an den Monitoren mehr oder weniger nachvollziehen kann. Kants kopernikanische Wende befreite den Menschen aus seiner unvernünftigen Knechtschaft, indem er die Welt und die in ihr befindlichen Dinge als Konstitutionen des Subjekts diagnostizierte. „Wirklichkeit“ und ihre Wahrnehmung hängen demzufolge von der individuellen Ausstattung ab. Mit Marx und der Fokussierung der Empirie, wie das einleitende Zitat verdeutlichen soll, wird der Mensch jedoch nicht nur als Einzelwesen, sondern auch als Gattungswesen erfasst. Diesbezüglich nehmen er und Engels bekanntermaßen eine historisch-materialistische Perspektive ein, die die komplexen Wandlungen gesellschaftlicher Verhältnisse im Prozess der Geschichte in ihren Untersuchungen berücksichtigt. Auf diesen Indikatoren fußend, beobachten sie eine Umwertung der Werte in der Arbeitswelt. Sie machen eine „Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsbestimmungen“ sowie eine „Versubjektivierung der materiellen Grundlagen der Produktion“ aus. 255 Dies zeigt sich konkret in dem Verhältnis des Arbeitenden zu seinem Fabrikat. Im kapitalistischen Warenaustausch ist er nicht mehr Besitzer des von ihm produzierten Werks und wird, indem seine Arbeitsleistung zur Ware wird, selbst Objekt des Produktionsprozesses. Die freudschen Analysen der Massengesellschaft identifizieren mitunter das Phänomen, dass die Mehrzahl der Individuen potenziell dazu bereit ist, ihr eigenes Ich-Ideal aufzugeben und eigene Triebe zu sublimieren 256 - - und zwar für ein „bestimmtes Objekt“, für eine „Ideologie“ oder: für einen „charismatischen Führer“. 257 Anlehnend an die Vorstellung Freuds von Kultur als Folge von Verdrängungsvorgängen, erkennt die Kritische Theorie in ihr die „intellektuelle Seite des historischen Prozesses der Emanzipation des Proletariats“ 258 und macht daher die gesellschaftliche Praxis zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Die Gesellschaft wird als pathologisch diagnostiziert, da sich die in ihr befindlichen Subjekte von 254 Ohne die Untersuchungen abschätzig zu behandeln, ist darauf hinzuweisen, dass sie unvollständig in der Analyse sind: Eindimensionalität in der Zeitlichkeit und fehlende Imagination der phantastischen Prozesse. Der Begriff der „Vorprozesse“ stammt aus GE, S. 466 f. 255 Marx, Karl: Das Kapital, III, in ders.: MEW, 25 , S. 887 . 256 Vgl.: Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur“, in ders.: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, in ders.: Studienausgabe, hg. v.- Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Frankfurt (S. Fischer) 1982 , Bd. 9 , S. 225 f. 257 Freud, Sigmund: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, in ebd., S. 108 f. 258 Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in ders.: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 1. Frankfurt (Suhrkamp) 1968 , S. 174 . 76 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln sich selbst entfernt haben, sich selbst fremd sind und so die Einheit des Subjekts mit sich selbst und in der Konsequenz die Einheit der Gesellschaft verhindert wird (im Sinne von „friedlich“, nicht im Sinne von „uniformiert“, versteht sich). Aus diesem Grund arbeitet die Kritische Theorie gegen die instrumentelle Vernunft und kreiert auf verschiedensten Wegen Gegenimpulse zur Befreiung des Menschen aus fremdbestimmten Lebensverhältnissen. Adorno macht in der Subjekt-Theorie Kants das Defizit des Transzendentalen aus, weil die komplexe gesellschaftliche Einflussnahme übergangen wird. Das Subjekt ist laut Adorno aufgrund der in einer Gesellschaft herrschenden Machtverhältnisse nicht als ein selbstbestimmtes, sondern als ein empirisches begreifbar. 259 Ebenso sieht Foucault das Subjekt als kulturell und historisch geformtes, als empirisches Ich. Im Hinblick nun auf Kluge entsteht auf der Textebene, wie Friedemann Weidauer bemerkt, „eine Öffentlichkeit“, in welcher „die in die Objektwelt eingegangenen subjektiven Elemente und der Anspruch der Subjektivität auf Einfluß auf die Objektivität dargestellt werden“ können. 260 Selbiger stellt einen sehr anschaulichen Vergleich an zwischen Dokument und Ware, deren jeweilige Herkunfts- und Entstehungsverhältnisse verschleiert sind durch eine entsubjektivierende Trennung von Warenproduktion und Marktzirkulation. Der entsprechende Tauschwert der Dokumente sei dabei der „Wert der Informationsvermittlung“: „Den Produktcharakter von Dokumenten wieder sichtbar zu machen, ist eines der Anliegen Kluges. In der ‚Nachbemerkung’ zu Schlachtbeschreibung redet er von den Menschen, die in Stalingrad ‚Quellen schufen’. Untergraben will er damit den Fetischcharakter, den, vergleichbar den Waren auf dem kapitalistischen Markt, die Quellen in der Geschichtsschreibung angenommen haben, als sei aus ihnen die reine und objektive Wahrheit ablesbar.“ 261 Nicht nur bedarf es daher der Wiederherstellung, sondern darüber hinaus der Gegenproduktion durch subjektive Dokumente, durch Fiktion und ihr Verwischen ineinander- - Artefakte und Artefiktionen- -, um den Fetischcharakter des Dokuments bloßzustellen. Kluge gelingt dies beispielhaft durch einen gewissen Glaubwürdigkeitsfetisch von Foto-Bildunterschrift-Kompositionen. Auch mit einer ungewöhnlichen Verwendung von Fußnoten und Zitierungen, den semiotischen Charakteristika von Wissenschaftlichkeit schlechthin, kritisiert er spielerisch 259 Vgl.: Adorno/ Horkheimer: „Exkurs II: Juliette oder Aufklärung und Moral“, in AGS 3 , S. 100 - 140 260 Weidauer, Friedemann J.: Widerstand und Konformismus. Positionen des Subjekts im Faschismus bei Andersch, Kluge, Enzensberger und Peter Weiss. Wiesbaden (Deutscher Universitäts-Verlag) 1995 , S. 104 . 261 Ebd., S. 105 . 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 77 seminaristische Wahrheitsfindung und sprengt autoritäre Macht von Dokument und Wissen. Mittels einer solchen von Kluge angewandten ästhetischen Methode gelange der Rezipient dann peu à peu zur „Einsicht in den Produktcharakter“ 262 . Hier jedoch ist Kluges Strategie nicht am Ende. So streut er gezielt „Verdachtsmomente“ 263 , gibt mehr oder weniger versteckte Hinweise, gern in Form von dezent komischen oder absurden Elementen, sodass der Rezipient beginnt, den jeweiligen Text infrage zu stellen, bald andere Texte, Filme, Embleme und irgendwann grundsätzlich mit einer skeptischeren und aufmerksameren Haltung an andere Texte und Dokumente herantritt. Die Lesebzw. Betrachtungsgewohnheiten werden also planmäßig durchkreuzt, um ein kritischeres Denken zu schulen. „Die ganze Welt“ sei, und hierbei zitiert Kluge quasi Habermas, „subjektiv-objektiv vermittelt“. 264 Auch stimmt Kluge mit diesem überein, dass das Verhältnis zur objektiven Wissenschaft nicht ein instrumentelles sein darf, sondern von kommunikativer Wechselseitigkeit geprägt sein soll: „Es sei notwendig, reziproke Annäherungsverhältnisse, wie sie dem Ich-Du-Verhältnis der Sprache entsprechen, auf die Welt als Ganzes zu projizieren.“ 265 „Ein ideales Gespräch“, schreibt Jan Philipp Reemtsma, finde dann statt, wenn sich die Gesprächspartner „in ihren Ansichten und Standpunkten verändern.“ 266 Damit ist nicht ein Aufgeben von etwas Eigenem bzw. ein Verschmelzen zu einem Kompromiss gemeint, sondern ein durch Empathie und Perspektivwechsel erreichter Akt des Aufeinanderzubewegens. Adornos Subjektbegriff ist dualistisch, seine beiden Ebenen verwachsen: Sowohl das Besondere des einzelnen Menschen als auch das Bewusstsein von der Existenz anderer Subjekte bzw. das Bewusstsein einer universalistischen Verbindung all jener ist hierin enthalten. 267 Einer festen Zuschreibung des Subjektiven wie des Objektiven verwehrt sich Adorno aus Prinzip (und Kluge tut es ihm gleich): Das Ding an sich, also konkret: Leben, ist so wertvoll, dass es „Priorität“ habe „vor aller Definition“, denn diese sei nur „soviel wie ein Objektives, gleichgültig, was es an sich sein mag, subjektiv, durch den festgesetzten Begriff einzufangen. Daher die Resistenz von Subjekt und Objekt gegens Definieren.“ 268 Der einzelne Begriff ist hierarchisch, indem er anordnet und unterordnet. Konstellatives Denken will nicht 262 Ebd., S. 106 . 263 Ebd. 264 Kluge, Alexander: „Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 2012 an Jürgen Habermas.“ Düsseldorf am 14 . 12 . 2012 . 265 Ebd. 266 Jan Philipp Reemtsma: „Osmantinische Aufklärung“, in: literaturkritik, Nr. 2 , Februar 2003 . Link: www.literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id=17 596&ausgabe=201 302 [Zugriff: 22 . 11 . 2013 ] 267 Vgl.: AGS 10 . 2 , S. 741 f. 268 AGS 10 . 2 , S. 742 . 78 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln ergreifen, will nicht besitzen, sondern sich sozusagen in friedlicher Absicht und aus Neugier annähern. Ein Verstehen, das sich vom Besitzenwollen befreit hat, das kein Eigentum am Anderen beansprucht. Wirkliches Verstehen, ohne das Zuverstehende in seiner Freiheit zu beschränken, ist demnach nur durch Reflexionsleistung bzgl. der wechselseitigen Beziehungen, kurz: durch Konstellationen, möglich. 269 Dies erhellt sich, wenn man auf Adornos Objektbegriff blickt. Er spricht zwar von einem dem Subjekt entgegengestellten, nicht aber einem ihm deshalb widersprechenden, einem es negierenden. Wir haben es also mit einer Form der „Kommunikation“ zu tun, und zwar „des Unterschiedenen“. 270 Subjekt-Objekt ist kein Gegensatz-, sondern ein Beziehungsverhältnis. Erkenntnis, wahrscheinlich eine umfassendere und weitaus präzisere, ist nicht mehr auf das einsame Verhältnis Subjekt-Objekt angewiesen, d. h. auf dessen subjektives und projizierendes Identifizieren, sondern Erkenntnis wird zu einer Sache des öffentlichen Erfahrungsaustausches der Vielen. Dieses Denken hält sich durch Selbstkritik variabel, weil das Objekt in seinem raum-zeitlichen Kontext selbst variabel ist und seine Identität, die einen festen Wesenskern zwar hat, sonst wäre es nicht wiederzuerkennen, nicht unveränderbar ist. Definieren ist sonst Deformieren, das meint Adorno mit dem „Vorrang des Objekts“ 271 , mit dem er das Imperialistische eines Vorrangs des Subjekts kritisiert: „Subjekt ist das Agens, nicht das Konstituens des Objekts“. 272 Adorno bringt jenes dem Identitätszwang unterliegende, präformierende Subjekt deshalb überzeugend in historische Verbindung mit dem Naturbeherrschungsdrang der Aufklärung: „Trug des zum Absoluten sich stilisierenden Subjekts“. 273 Was Kluge nun macht, ist eigentlich nicht mehr mit „Multiperspektivität“ zu fassen. Über sie hinaus geht das Verfahren und der Begriff der „Konstellationen“, weil hier die vielen Perspektiven zusätzlich in Wechselbeziehungen stehen und in Kommunikation miteinander treten. Das ist gerade deshalb so wichtig, weil die Variabilität eines Wesens oder einer Sache Auswirkungen hat auf seine bzw. ihre Gravitationen zu einem Zweiten, d. h. auch „die Konstellation“ selbst verformt sich „in der geschichtlichen Dynamik“ 274 . „Konstellation ist nicht System“, stellt Adorno klar. „Nicht schlichtet sich, nicht geht alles auf in ihr, aber eines wirft Licht aufs andere, und die Figuren, welche die einzelnen Momente mitsammen bilden, sind bestimmtes Zeichen und lesbare Schrift.“ 275 Die Methode des Multiperspektivismus 269 Vgl.: AGS 10 . 2 , S. 742 . 270 Ebd., S. 743 . 271 AGS 7 , S. 477 . 272 AGS 10 . 2 , S. 752 . 273 AGS 6 , S. 187 . 274 Ebd., S. 300 . 275 AGS 5 , S. 342 . 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 79 kommt nicht über die Darstellung von Pluralismus hinaus. Der Methode der Konstellation hingegen gelingt die Wiedergabe von Diversität und Zusammenhang. Der Begriff drückt letztlich etwas Allgemeines aus, das die Mehrdimensionalität des Besonderen verschweigt. Das Begriffliche scheitert am Nichtidentischen (Ding an sich) wie es am Bewusstseinsvorgang des selbstbewussten Subjekts (intelligibles Wesen) scheitert-- dem Unbegrifflichen. Ein vollständiges Erschließen erweist sich als unmöglich, ein herantastendes Erkennen dieser Universen wiederum scheint durch die Verwendung auch unbegrifflicher Werkzeuge bzw. Zustände möglich zu sein- - also etwa die Einbeziehung der Kunst in den Erkenntnisprozess. Dies immer unter Einbezug von Selbstkritik und der Transparenzleistung, die letztliche Unzulänglichkeit der Erkenntnis zu thematisieren. Wozu dann Erkenntnis? , könnte man fragen. Wozu Denken, wozu Wissenschaft, wozu Theorie? Adorno steht in der Tradition Kants, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Denken und „Ding an sich“ getrennte Bereiche sind. Ihr gemeinsames Ziel ist die Aussöhnung der Welt der Erscheinungen (Kant) bzw. Erfahrungen (Adorno) mit der Welt der Dinge an sich (Kant) bzw. des Nichtidentischen (Adorno). Der konstellative Erkenntnisprozess als allmähliche Annäherung (Adorno verwendet den mimetisch aufgeladenen Begriff des „Anschmiegens“ 276 ) an etwas, das wir „Wahrheit“ nennen, verkörpert eine soziale Idee: ein Verstehen im Sinne von Verständigung. Kluge als Vermittler und Versöhner zweier gegeneinander kämpfenden Sphären bringt begriffliche Schärfe und mimetisches Gefühl zusammen, verbindet Begriff und Anschauung, Philosophie und Kunst, Diskurs und Parataxe, Theorie und Praxis und wiedervereint dabei auch Ratio und Emotio der Vernunft. Das „Eindeutige und Feste mit dem Vieldeutigen und Verfließenden“ 277 zusammen führe zu vertrauenswürdigen Aussagen, wie Adorno schreibt. „Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, daß gerade sie, mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist.“ 278 „Das erzählende Moment der Sprache entzieht von sich aus sich der Subsumtion unter den Gedanken“ 279 , sagt Adorno an einer, „Die gestaltlose Flut des Mythos ist das Immergleiche, das Telos der Erzählung jedoch das Verschiedene“ 280 , an anderer Stelle- - angesichts dessen sich die These von Kluges narrativer Fortsetzung der Kritischen Theorie nur weiter verstärkt. Mit dem detektivischen Spürsinn eines 276 Im Original als Verb: AGS 6 , S. 24 . 277 AGS 11 , S. 34 . 278 AGS 6 , S. 152 . 279 AGS 11 , S. 474 . 280 Ebd., S. 34 . 80 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Narrators und der Erfahrung und Arbeit, der Texte und Bilder all seiner Gewährsmänner und Gewährsfrauen stöbert Kluge auch im letzten scheinbar Bekannten, Allgemeinen, das Besondere auf und tritt wiederholt den Beweis an, dass wahre, also qualitative Identität existiert. D.h. etwas existiert nicht nur als Einzelheit, sondern auch als Einzigartigkeit, womit ein jedes Leben einen nicht nur numerischen Wert hat. Ulrich Müller: „Indem [das ‚nichtidentifizierende Denken’] auf ein wahren Identifizieren eines Nichtidentischen, der wahren, ‚unverstümmelten’ Identität eines Einzelnen geht, bedient es sich des sprachlichen Erkenntnismittels der Konstellation und ihrer theoretisch-ästhetischen Erweiterung durch die Form der narrativen Rede.“ 281 Nicht das bessere Argument gewinnt, sondern alle Argumente spannen ein Netz der Ähnlichkeiten, Abweichungen und Widersprüche. Nicht das monadische Subjekt erkennt, sondern die interagierenden Subjekte im kommunikativen, öffentlichen Austausch der Erfahrungen- - und zwar durch Wahrnehmung und Nachempfinden, also nicht allein die eigene Erfahrung, sondern auch die der anderen. Folgt man hier Kluge, so ist ein Erkenntnisprozess, will er gelingen, immer intersubjektiv. Mit einem Wort: Das alte „cogito“ erfüllt sein Seins-Versprechen nur als „cogitamus“. Indem Kluge das konstellative Erkenntnisverfahren in Verbindung bringt mit ästhetischer Gegenproduktion und dem Herstellen von Gegenöffentlichkeit, gelangt er nicht nur über das Theoretische Adornos sowie dessen Bemühungen in der Praxis hinaus, sondern löst damit auch die Probleme der Vermittlung und der Subjektivität. Ich erkenne im Anderen nicht nur nicht mich und das Besondere, sondern auch einen Teil vor mir (z. B. Ursprung Afrika, Ursprung Wasser, Ursprung Kosmos, Existieren) und schließlich in mir das universalistische Moment. Das Besondere und das Allgemeine lassen sich nicht einander unterordnen. Das Produkt dieses „solidarischen Erkenntnisverfahrens“ 282 ist so also letztlich Selbstbewusstsein. Endlich werden selbst die konventionell „schwachen Eigenschaften“ 283 aufgewertet zu starken Eigenschaften, weil sie in wohl jedem Individuum wohnen; Verdrängtes wird behutsam befreit. 281 Müller, Ulrich: Erkenntniskritik und Negative Metaphysik bei Adorno: eine Philosophie der dritten Reflektiertheit. Frankfurt a. M. (Athenäum) 1988 , S. 207 . 282 GE, S. 113 . 283 GE, S. 116 . 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 81 2.2.2 Subjekt-Objekt II Abb. 3: Das Verhältnis „unten-- oben.“ „Gerda raffte sich hoch,-[…] schob ihre Brut die sechs Steintreppenstufen zur Geräteecke hinunter, dasjenige in diesem Häuschen, was noch am ehesten etwas Kellerartiges hatte. Es lag anderthalb Meter unter Straßenhöhe. Sie fühlte sich in ihrem ‚unausgestatteten Häuschen’ als ‚Leichtbewaffnete’. Sie glaubte nicht, daß die Gefahr bestand, verschüttet zu werden. Sie hatte, wenn die Sprengkörper fielen, jeweils den Atem lange angehalten, weil sie gehört hatte, daß der Luftdruck der Sprengbomben die Lungenbläschen zerriß, also einen Staudruck in der Lunge herstellen, bis es vorüber war. Sie flüsterte jetzt mit dem Kleinen: Nicht atmen, bitte nicht atmen. Das Flüstern machte den Kleinen nervös. Die Älteste machte dicke Backen, atmete gleichwohl.“ 284 Das im Werk Kluges womöglich bedeutsamste philosophische Problem, dem er sich als Erzähler widmet, ist das Subjektiv-Objektive: „Das sind einfach die wirklichen Verhältnisse, subjektiv, objektiv, unverstellt gegeneinander gesetzt. Das nennt man Konstellation. Und das ist meine literarische Methode.“ 285 Realität ist Graviationsverhältnisse zwischen den Menschen. 284 Auszug aus „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945“, in Kluge, Alexander: Neue Geschichten. Hefte 1-18. ‚Unheimlichkeit der Zeit’. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1977 . Heft 2 , S. 24 . 285 Alexander Kluge in: Philipp, Claus: „Ein Kapitän soll aufpassen, wohin er fährt“, in Falter, Wien 6 / 2012 vom 08 . 02 . 2012 , S. 22 . 82 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Wenn man jetzt den Subjektbegriff angehen würde, auch um die für Kluge so elementare Subjekt-Objekt-Beziehung gründlicher zu verstehen, dann müsste man philosophisch-disziplinär mindestens aufzählen: Aristoteles, Descartes, Kant, dann Adorno und die französischen Dekonstruktivisten. Oder aber man tut dies, wie Kluge, narrativ, und erzählt von der Mutter Gerda Baethe mit ihren Kindern, 286 abgetaucht im Keller des Hauses, ein kleines Mädchen bläst die Backen auf zum Luftanhalten, das hat sie sich abgeguckt, atmet aber in Wirklichkeit durch die Nase weiter, und von oben fallen unbarmherzig zufällig Bomben und schlagen vielleicht ein und vielleicht nicht. Kapitulation unmöglich: „Die Stadt war- […] ausradiert, sobald die Planung eingeleitet war“. 287 Und beide Male kommt man, wenn man das weiter denkt, auf den Begriff des Selbstbewusstseins- - und mit diesem zur Emanzipation. Das ist ein Machtwechsel, der hier in seinem Aufbruch beschrieben wird, und zwar ein epistemologischer und auch ein materieller: „Dinge, die an sich wie eine Rohstoffmasse uns umgeben und uns nicht verständlich sind“, können wir uns „aneignen“, uns „vertrauter“ machen, indem sie durch „Erzählfäden“ verbunden werden. 288 Die konstellative Narration also besitzt, wenn man ihre theoretischen Grundlagen zu Ende denkt, eine zweifache Bildungskompetenz. Sie vermittelt nicht nur in ihren Inhalten Wissen und Erfahrung, sondern ist zusätzlich in ihrer Rezeptionsweise bildend. Sie stattet den Rezipienten (zumindest potenziell) aus mit Unterscheidungsvermögen, Kritikfähigkeit und Selbstbewusstsein, was per definitionem die zentralen Bedingungen von Mündigkeit und Emanzipation sind. „Der beste in der Aufgabe, das Unerzählte, die gewaltigen Stoffe, die es objektiv gibt, der Formenwelt des Poetischen, des Erzählbaren, der Theorie, gegenüberzustellen“, so Kluge, „das ist Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk.“ 289 In Kluges Augen erscheint dieses nicht nur als eine „theoretische Arbeit“, sondern zugleich als „einer der kühnsten Romane“. Das, was Benjamin mit dem 19 . Jahrhundert auf außergewöhnliche Weise unternimmt, nämlich eine konkrete und kommentarhafte Darstellung von Geschichte und Wirklichkeit, 290 setzt Kluges Erzählprojekt in ähnlicher Manier mit dem 20 . und noch jungen 21 . Jahrhundert fort. 286 Figur aus „Luftangriff auf Halberstadt“, siehe Eingangszitat dieses Kapitels. 287 Kluge, Alexander: Neue Geschichten, Hefte 1-18, „Unheimlichkeit der Zeit“. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1977 , S. 80 . 288 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ ( 3 . Vorlesung, 19 . 06 . 2012 ). 289 Ebd. 290 Vgl. (u. a.): BGS V, 1086 . Brief an Scholem vom 23 . 04 . 1928 . 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 83 Insofern: Passagen-Werkstatt der Autoren. 291 „Wenn wir mit den Stoffmassen des 21 . Jahrhunderts umgehen wollen,“ müssen wir „gravitativ erzählen“. 292 „Es geht immer um eine Konstellation“, macht Kluge deutlich. 293 „Eine gegenständliche Situation für sich, also die bloße Momentaufnahme, hat in sich nicht das organisierende Moment“-- und erst dies mache eine Sache „konkret“, d. h. wahrnehmbar. Den Begriffen und Tatsachen, dem übermächtig erscheinenden Schicksal begegnet Kluge nun mit einer Entmystifizierung durch sein narratives Entcodierungsverfahren. Aus dem Ohnmachtgefühl gegenüber der Schicksalsmacht wird ein Bewusstsein für lebendige und tote Arbeit, für die unschuldige (? ) Schraube in der Fliegerbombe. Was da alles dahintersteht für ein Organisationsapparat, wie viel Generationen an Arbeit, an Erfindungen, an Schweiß; die planification, die hier Gerda Baethe lebensbedrohlich nah rückte, wird in einem der sicher prägnantesten literarischen (d. h. Fake-) Interviews Kluges zur Sprache gebracht, nämlich zwischen dem Halberstädter Reporter Kunzert und dem US -Brigadier Frederick L. Anderson mit Formulierungen wie „fliegende Industrieanlagen“ oder „Maschinenanlage, die da anfliegt.“ Die Absurdität der Logik der Vernichtung in einem längeren Auszug: „REPORTER: Es gibt Gerüchte. Früh halb zehn soll die Verteidigungszentrale der Stadt von Hildesheim aus durch einen amerikanischen Oberst über das Ziviltelefonnetz angerufen worden sein: Übergeben Sie die Stadt, beseitigen Sie die Panzersperren! Der Oberbürgermeister war jedoch nicht anwesend. Der Kreisleiter, Detering, in seiner Eigenschaft als Verteidigungskommissar anwesend, wies dieses Ersuchen ab. Daraufhin wurde gebombt. Es wird gesagt, wäre der Oberbürgermeister früher aufgestanden und hätte dem Ersuchen stattgegeben, wäre die Stadt dem Angriff entkommen. Wenn bis 11 Uhr eine große weiße Fahne am linken Turm der Martinikirche gehißt worden wäre (von Süden gesehen links), wären die Bomberverbände wieder umgekehrt. Eine Frau soll noch versucht haben, ein aus vier Laken zusammengenähtes Tuch zur Stadtzentrale oder zum Kirchturm zu bringen. 291 Fortsetzung des Passagen-Werks durch Kluge? Spätestens wenn er in seiner dritten Poetikvorlesung wiederholt Anspielungen macht, auch wenn er auf einen selbstreferenziellen Bezug, sicherlich bewusst, verzichtet. So spricht er z. B. von einer Begebenheit, die „in Fortsetzung dessen, was Benjamin längst schreibt darüber, was ihn interessieren hätte, zu erzählen wäre“ und in einem anderen Bezug gar von einem „Passagen-Werk von heute“. Vgl.: Theorie der Erzählung, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ ( 3 . Vorlesung, 19 . 06 . 2012 ). 292 Vgl.: ebd. 293 Sklavin, S. 218 . Das Zitat ist im Original fett hervorgehoben. 84 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln ANDERSON: Das ist Larifari. Um diese Uhrzeit waren die Bomber von einem Gefechtsstand in Hildesheim nicht mehr zu erreichen. […] REPORTER: Sie konnten die Bomben woanders hinschmeißen. ANDERSON: […] Die Ware mußte runter auf die Stadt. Es sind ja teure Sachen. Man kann das praktisch auch nicht auf die Berge oder das freie Feld hinschmeißen, nachdem es mit viel Arbeitskraft zu Hause hergestellt ist. Was sollte denn Ihrer Ansicht nach in dem Erfolgsbericht, der nach oben geht, stehen? REPORTER: Sie konnten wenigstens einen Teil auf freies Feld werfen. Oder in einen Fluß. ANDERSON: Diese wertvollen Bomben? Das bleibt doch nicht vertraulich.-[…]“ 294 In diesem Text, von dem hier nur Auszüge abgedruckt sind, steckt ungemein viel Diskussionsstoff, wie etwa durch den doppeldeutig belegten Begriff von „Wert“, der als Adjektiv zu den Bomben rein kommerziell auftritt, was kurz zuvor durch Bezeichnungen wie „Ware“, „teuer“ usw. eingeleitet wird, aber gerade dadurch einen Werteverfall beklagt („wertvolle Bomben“). Anhand narrativer Mimesis warnt Alexander Kluge in seinen Geschichten indirekt vor den Gefahren kalter Logik und maßloser Rationalität, die, wie „Auschwitz“ als mahnende Chiffre repräsentiert, an ihren äußersten Punkten in Irrationalität umschlagen. So etwa steht die literarische Figur des Brigadiers für den unreflektierten, unkritischen und nicht autonomen Befehlsausführer. Kluge setzt das Schlüsselvokabular entsprechend kursiv: „ANDERSON: […] Befohlen war Teppichwurf, d. h. Konzentration der Würfe, entweder im Süd- oder Mittelteil der Stadt.-[…] […] ANDERSON: Was der Angriff zu diesem Zeitpunkt des Krieges soll, können wir nicht wissen. Also wählen wir eine vernünftige Angriffslinie.“ 295 „ANDERSON: Podington 92 . Staffel, Chelveston 305 . Staffel, Thurleigh 306 . Staffel, Polebrook 351 . Staffel, Deenethorpe 401 . Staffel und Glatton 457 . Staffel. Das ist einwandfrei. REPORTER: Wenn Sie das mal nicht aufzählen, sondern anschaulich machen. Was sieht man? 294 Kluge, Alexander: Neue Geschichten, Hefte 1-18, „Unheimlichkeit der Zeit“. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1977 , S. 78 - 80 . 295 Ebd., S. 77 . 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 85 Anderson konnte kein anschauliches Bild vermitteln.“ 296 Widerspruchsfreie Gehorsamkeit, wie es sich für einen Soldaten natürlich gehört (sonst droht ihm Strafe, er hat eine Familie zu ernähren), dazu die Ausdrücke „Konzentration“ und „vernünftig“, rationale Vernunft und zynische Kriegslogik, maschinenartige Aufzählung statt menschliche, rezipierbare Anschaulichkeit. Dies bringt nicht nur die völlige Abwesenheit von Empathiefähigkeit und vernünftigem Menschenverstand zutage, es bestätigt Kluges kritische Analyse der kollektiven Katastrophe als konsequente Folge industrieller Produktionsverhältnisse. Hier spricht ein „Mann im Auftrag“, wie Kluge sagen würde, oder wie Agamben sagen würde, ein „Mann im Amt“, der Befehle annimmt, der sich von der Selbstverantwortbarkeit eines Subjektseins gelöst hat und sich insofern in einem quasi-rechtsfreien Raum bewegt oder zumindest in einem parallelen Rechtsraum, in dem er nicht als Individuum und auch nicht als Bürger einer Gesellschaft agiert, sondern als Objekt, als ausführender Arm in Fortsetzung seines Auftraggebers (Gott, Befehlshaber). „Ich habe nur Befehle ausgeführt“, lautete der Tenor der Nürnberger Prozesse. Ein sich gewaltig irrender Chor. Einen Chor braucht Kluge selbst derweil nicht; seine Kritik kommt aus dem Inneren durch Mimesis der spezifischen Form, nicht als Moralisierendes von Außen. Ohne emotionalisierendes Dazutun klagt im Prinzip der Text als Text die Verdinglichung des Menschen, gleichbedeutend mit der wortwörtlichen Unmenschlichkeit zweckrationaler Vernunft, an. Doch wirklich entscheidend ist Folgendes: Dieser Brigadier ist, genau wie der Bomberpilot über Gerda Baethe und ihrer Kinderschar, ebenso wenig wie diese da unten Herr der Geschichte. Kluges Konstellationen sind deshalb Orchestrierungen multipler subjektiv-objektiver Verhältnisse mit dem verlängerten Gedächtnis ihrer Vorgeschichte, die die Katastrophe entmystifizieren, menschliche Handlungen fern jeder Gut-Böse-Verkürzung verstehbar machen, komplexe Abhängigkeitsverhältnisse veranschaulichen und durch all das Auswege sichtbar machen. Heruntergebrochen in einem einfachen Satz: Wir hängen da alle irgendwie unglücklich drin und wollen dabei doch eigentlich nur glücklich sein-- lasst uns also kooperieren. „Enteignung, Geschichtsverlust, Trauerarbeit. Wir waren die ersten Zuschauer der Geschichte, dann waren wir Produzenten unseres Lebens und jetzt sind wir Zuschauer unseres Unglücks“, zieht Kluge ein human-historisches Fazit. „Menschen werden-[…] aufgerissen, zerrissen und zu Zuschauern eines kollektiven Unglücks gemacht-[…], das keiner beherrscht. Nicht die, die außen zündeln und nicht die, die inmitten leben und kämpfen.“ 297 Diese Konstellationen zeigen: Oben plant Erfahrung, unten fühlt sie: 296 Ebd., S. 75 . 297 Kluge in seiner Rede beim Berliner Theatertreffen am 02 . 05 . 2014 . 86 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Die Sprechkörper schlugen in die Keller des festen Hauses Nr. 21 ( EPA -Kaufhaus). Sie ‚fühlte’ das als Einschlag ‚in 5 m Entfernung’. Das Gartenhäuschen wurde von der Luftdruckwelle erschüttert, die nächsten Einschläge, Serien: Woort, Kulkplatz, Paulsplan, Franzosenkirche, Fischmarkt, Büttner-Kaufhaus, Gotisches Haus usw. Gerda registrierte das als ‚entfernt’. Sie konnte es ja auf keiner Lage-Karte eintragen oder sehen. Sie lag, auf und neben ihr ‚die Last’ der Kinderleiber, am Fußboden, ‚horchte’.- […] Leitsätze einer ‚Strategie von unten’, die Gerda in diesen Sekunden in ihrem Kopf zu versammeln suchte, konnten nicht übermittelt werden. Hier von ganz unten gesehen, zu den für Gerda nicht sichtbaren Planern in 3000 m Höhe über der Stadt hinauf, oder auch ganz fern zu den Absprungbasen der Bomber hin, wo die höheren Planungsstäbe saßen.“ 298 Mit dem subjektiv-objektiven Verhältnis beschreiben Kluge/ Negt in erster Linie das ohnmächtige Gefühl des Menschen gegenüber der Eigendynamik von Geschichte. Zur Veranschaulichung arbeitet Kluge als Erzähler deshalb immer wieder mit dem Verhältnis „Mensch- - Bombe“, da im Extremfall „Krieg“ dieses Ohnmachtverhältnis am verheerendsten zum Ausdruck kommt. 299 Gleichzeitig wird an diesem Punkt der Mensch eingeholt von der Irrationalität der Rationalität der Produktion und der eigenen Entfremdung durch das aus vielen für sich allein unproblematischen Einzelteilen zusammengesetzte Produkt „Bombe“, das ihm nun unerkannt (denn er sieht darin keinen Teil von sich) vernichtend wieder gegenübertritt. Jene fatale Übermacht des Objekts versucht Kluge durch die Veranschaulichung der Zusammenhänge ihrer einzelnen Partikel zu entkräften, um schließlich so die Subjekte mit kooperativer Macht auszurüsten. In der Philosophie stehen sich zwei Grundauffassungen von „Subjekt“ gegenüber. Während ihm unter ontologischen Gesichtspunkten eine passive Rolle zukommt, ist es vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus gesehen aktiv und unabhängig. 300 In seiner Aktivität ist es „schöpferisch“, also gestalterisch tätig. Gemäß diesen Definitionen könnte man die Absicht Kritischer Theorie auch so bezeichnen, dass sie im ontologischen Subjekt das erkenntnistheoretische Subjekt entzünden will, den ohnmächtigen (ohne Bewusstsein, nicht bei sich) und gleichgültigen (indifferent, unbeteiligt) Bürger zu einem freien und mündigen machen will, der befähigt ist, gesellschaftliches Leben mitzugestalten und sich aus seiner Unmündigkeit zu befreien. 301 „Nichts zwischen Himmel und Erde ist 298 Kluge, Alexander: „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8 . April 1945 “, in ders.: Neue Geschichten, Hefte 1-18, „Unheimlichkeit der Zeit“. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1977 , S. 23 f. 299 Den antagonistischen Realitätsbegriff definiert Kluge als Krieg zwischen den Großmächten Subjektivität und Objektivität. Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Handwerkszeug für Text und Film. Die Poetik selbst“ ( 2 . Vorlesung, 12 . 06 . 2012 ). 300 Schröder, Erich Christian: „Anthropologie als Grundwissenschaft“, in Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch, 4 . 1978 , S. 352 . 301 Pädagogisch u. a. mit Heinrich Roths Kompetenzbegriff pragmatisch gedacht („Mündigkeit als Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit“; Roth, Heinrich: Pädagogische 2.2 Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen 87 an sich ontisch oder ontologisch“, schreibt Adorno, „sondern wird es erst vermöge der Konstellationen, in welche Philosophie es bringt.“ 302 -- Und hier schließt sich der Gedankenkreis mit Alexander Kluge, über dessen außergewöhnliche Herangehensweise Walter Jens schreibt: „Wenn irgendwo in der Nachkriegsliteratur, dann wird hier die Totalität eines Vorgangs erhellt: Gedanken zweier Turmbeobachterinnen (Großaufnahme); Beschreibung einer Hochzeitsgesellschaft, die, ohne es zu ahnen, ihr Henkersmahl ißt (Halbtotale); Verfolgung der Flugzeuge unter dem Himmel (Totale). Konfrontation der Taktik von unten (Feuerpatsche, Behelfskeller), mit der Strategie von oben (Radarschirm, Kalkül der Vernichtung). Ein Hin und Her zwischen individuellem Plan (Was geschieht, wenn infolge des Bombenangriffs die Klavierstunde ausfällt? ) und der Organisation des Gesamten (Eine Stadt ist zu vernichten). Und schließlich die dialektische Volte: Die vom Himmel Herabgestiegenen begeben sich nach der Kapitulation zu den Überlebenden auf der Erde-- und siehe, es wird die gleiche Sprache gesprochen.“ 303 So also verhilft Kluge durch seine, von filmischen Mitteln geprägte, konstellativnarrative Darstellungsmethode, wie wir sie anhand der Beispiele von zwei von unzählig vielen, sich komplementär verhaltenden Perspektiven (aka Kameraeinstellungen), einer „von unten“ und einer „von oben“, sahen, der Kritischen Theorie zu neuen Hilfsmitteln in der Analyse wie zu neuen Ausdrucksmitteln in der Synthese. Diese sind epistemologisch von immenser Bedeutung und werden auch außerhalb der Universitäten gesprochen, wodurch sie letztendlich dem prozessualen Ziel der Emanzipierung des Menschen „näherkommen“. Die Emanzipation des Menschen ist das ideelle Ziel, aber die Emanzipation selbst ist etwas Prozesshaftes, Infinites. Von einer Teleologie kann deshalb nur bedingt eine Rede sein. Und selbst wenn, muss man fragen, was spielte es für eine Rolle? Wäre es das nicht wert? Um die immense Bedeutung der Subjekt-Objekt-Relationen für Kluge und die Kritische Theorie noch einmal zusammenfassend zu verdeutlichen, sollten aus dem typografischen Versteck Fußnote die letzten Worte von Öffentlichkeit und Erfahrung hier ins Licht eines Schluss-Zitats gerückt werden, da durch sie die elementaren Verbindungen zwischen dem Projekt kritischer Öffentlichkeit und dem Problem der Epistemologie sichtbar werden: Anthropologie, Bd. 2 . Hannover (Schroedel) 1971 , S. 180 ), nämlich Selbstständigkeit und Selbstverantwortung im Handeln zu vermitteln. Dieses Beispiel aus der erziehungswissenschaftlichen Perspektive reicht der philosophischen die Hand. So knüpft Pädagogik bzw. Erwachsenenbildung als Handlungswissenschaft etwa an Kant an, der die Erziehungswissenschaft in die Pflicht nimmt, der Erziehungspraxis Wissen zur Mündigkeitsförderung zur Verfügung zu stellen. Mündigkeit als Bedingung für die Teilnahme und Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft. 302 AGS 6 , S. 492 . 303 Walter Jens in Die Zeit vom 30 . 01 . 1978 . 88 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Das ‚menschliche Wesen’ ist nicht eine Natursubstanz, zu der im Sinne Rousseaus eine Rückwendung möglich ist, dessen Wesen also nur durch den Kapitalismus verkehrt worden ist. Vielmehr entsteht das menschliche Individuum erst durch die vollständige Aneignung seiner Vorgeschichte, als ein Resultat. Marx sagt in diesem Zusammenhang: ‚Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer Praxis Theoretiker geworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt. Ich kann mich praktisch nur menschlich zu der Sache verhalten, wenn die Sache sich zum Menschen menschlich verhält.’ ( MEW , Bd. I, S. 241) - Es sind die einzelnen Eigenschaften und einzelnen Sinne, so wie sie von der geschichtlichen Entwicklung als zerstreute hergestellt werden, der proletarische Rohstoff, der den Inhalt proletarischer Öffentlichkeit ausmacht. Proletarische Öffentlichkeit ist hier die Summe der Situationen, in denen in einem Prozeß miteinander verknüpfter Subjekt- Objekt-Beziehungen diese unterdrückte und im Kapitalverhältnis verdreht entfaltete menschliche Sinnlichkeit zu sich selbst kommt. Proletarische Öffentlichkeit ist der Name für einen gesellschaftlichen kollektiven Produktionsprozeß, dessen Gegenstand zusammenhängende menschliche Sinnlichkeit ist.“ 304 2.3 Öffnung und Kooperation Kluges Wille zur Kooperation ist die konsequente praktische Umsetzung der theoretisch reflektierten und ästhetisch realisierten Idee der Konstellation. 2.3.1 Die Öffnung der Wissenschaften nach „unten“ (und zur Seite) „Es wäre ein grosses und trefliches Werk zu liefern, wenn jemand die eigenthümlichen Fähigkeiten zu schildern unternähme, welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntniss zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen; den ächten Geist, in dem sie einzeln bearbeitet, und die Verbindung, in die sie alle mit einander gesetzt werden müssen, um die Ausbildung der Menschheit, als ein Ganzes, zu vollenden.“ 305 Der Begriff der Wahrheit ist dem historisch-materialistischen Denken nach von äußeren Bedingungen wie Zeit, Ort, Gesellschaftssystem usw. abhängig: „Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert.“ 306 Diese wahrheitsrelativistische, jedoch nicht wahrheitsverneinende Auffassung bedeutet also, dass eine Aussage in dem einen zeitlichen Kontext als 304 UM, ÖE, S. 674 , Fußn. 3 . Die beiden Absätze sind hier zur besseren Lesbarkeit eingeführt, der Originaltext ist ungebrochen. 305 Humboldt, Wilhelm von: „Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück“, in ders: Gesammelte Schriften, hg. v.-Albert Leitzmann. Berlin (Behr) 1903 . Bd. I, S. 282 . 306 AGS 6 , S. 166 . 2.3 Öffnung und Kooperation 89 wahr und in dem anderen als unwahr gelten kann. So ist der Wahrheitsbegriff niemals ein absoluter, sondern als ein, aktualisierungsbedürftiger zu verstehen-- das ist nicht nur zeitlich, sondern auch als wechselseitige Beziehung zum Anderen zu begreifen- -, dem sich Theorie möglichst nah annähern will, ohne ihn aber festhalten zu müssen: „Während bei Hegel ‚Begriff und Sein’ letztlich identisch sind, beharrt Horkheimer mit Marx darauf, dass zwischen Denken und objektiver Realität eine unaufhebbare Differenz bestehen bleibt.“ 307 Ja ohne ihn festhalten zu können, weil sich Wahrheit und Begriff, indem sie sich in ihrer Abbildungsarbeit immer schon auf eine metamorphe Realität beziehen, zwangsweise verändern müssen. Die eisernen Planetenbrücken Grandvilles sind unrealistisch. Der Wahrheitsbegriff erhält wie der Geschichtsbegriff bei Kluge eine vertikale Tiefe, der viel mit seinem Begriff der „Bifurkation“ zu tun hat, welcher in Kapitel 2 . 6 . 1 näher beleuchtet wird. Andeutend hierzu schon einmal ein Interviewschnipsel aus einem Gespräch zwischen Alexander Kluge und Anselm Kiefer: 308 „Kiefer: Wahrheit ist das, was an der Geschichte vorbeigeht, was die Geschichte nicht merkt. Kluge: Sozusagen die Untergrundarmee, die Partisanenarmee der wirklichen Verhältnisse-- das wäre ein Stück Wahrheit.“ Im Zeichen Horkheimers, der das Ziel aller Erkenntnis „unabgeschlossener materialistischer Dialektik“ (wie er die Kritische Theorie noch bezeichnete, bevor sich ihr heutiger Name etablierte) darin sieht, „die Wirklichkeit so genau wie möglich nachzubilden“, also zu imitieren, steht dann auch Kluges folgende Genauigkeit seiner Methode: Nicht Spiegelung der Wirklichkeit, sondern Erkenntnis durch Nachahmung, (Mimesis). Im Objekt könne sich das Subjekt nicht spiegeln (das Objekt ebenso wenig, denn es ist blind) und im Spiegel sehe es immer nur sich selbst, weshalb dies „keine Erweiterung“ des Ichs darstellen könne: „Die menschliche Beziehung über den Spiegel, das Wiedererkennen, funktioniert nur subjektiv, nicht zwischen Objektzusammenhängen und den Subjekten.“ 309 Wiederum stellen zwei einander wiedererkennende Subjekte zugleich eine Vermittlung eines „Subjekt-Objekt-Verhältnises“ dar. 310 Durch den Blick des Anderen erfährt sich das Subjektive auch als Objektives. Kluges und Negts Conclusio: Nur in Kollektivarbeit, die gekennzeichnet ist durch Solidarität wie individuelle Autonomie, kann die Objektwelt zuverlässig erkannt werden. Das isolierte, erkenntniswillige Ich 307 G. Schweppenhäuser (S. 68 ) bezieht sich auf die Stelle HGS 3 , S. 292 . 308 Kluge, Alexander: „Die Ungeborenen. Begegnung mit Anselm Kiefer in seinem Atelier in Croissy-Beauregard“, in NEWS & STORIES vom 01 . 09 . 2013 . 309 UM, GE, S. 523 . 310 Vgl.: ebd. 90 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln führt hingegen auf kurz oder lang in Mythos. 311 Kluges Kollektivarbeit mit gleichberechtigten Co-Autoren, im weitesten Sinne aber auch jeder Interview-Gast, die einen gemeinsamen Erfahrungs- und Wissensaustausch sowie gemeinsame Denkprozesse ermöglichen, nicht zu vergessen der als produktiv zu verstehende Einbezug des Rezipienten, ist als ein praktisches Gegenverfahren zur Arbeitsteilung, insbesondere in den Wissenschaften, anzusehen. Die Zweidimensionalität des marcusischen Denkens trennt, das ist noch nicht so außergewöhnlich, Wesen und Erscheinung bzw. Gegenstand und Begriff. 312 Marcuse trennt aber ebenso „Potenzialität“ und „Aktualität“, womit er dem Auseinanderklaffen von „begrifflich-theoretischem Anspruch“ auf der einen Seite und „sozialer Wirklichkeit“ auf der anderen durch gesellschaftskritische Reflexion etwas entgegenzusetzen weiß. 313 Um deutlich zu machen, was gemeint ist, dient etwa die Idee und die Umsetzung von Demokratie, die in jedem Staat, der sich jene „beste aller Staatsformen“ auf die noch so braune oder rote Flagge schreibt, in jeder Gesellschaft, in den jeweiligen Gesetzeskatalogen und nicht zuletzt in jedem Menschen mal mehr und mal sehr viel weniger real geworden ist. Es geht hier also immer um den Konflikt „zwischen erkenntnistheoretischem Wahrheitsanspruch und moralphilosophischem Geltungsanspruch“. 314 Marcuse argumentiert, trotz aller Emotionalität im Reden, hier streng aussagenlogisch, wenn er sagt, dass die Struktur „S- = p“, die z. B. einem dank Kant mittlerweile relativ etablierten Gemeinplatz wie „Der Mensch ist frei“ zugrundeliegt, die Architektur einer dialektischen Wirklichkeit nachbildet, indem sie immer auch den wahren Realgehalt einer allgemein akzeptierten Aussage kritisch befragt: „Wenn diese Sätze wahr sein sollen, dann stellt die Kopula ‚ist’ ein Sollen, ein Desiderat fest. Sie verurteilt Verhältnisse,-[…] unter denen die Menschen-[…] nicht frei sind.“ Deshalb müsse „S- […] zu dem werden, was es ist“, 315 also S- = S. So gesehen trägt die Sprache ein immanentes kritisches Potenzial in sich: „Ja im Begriff von allem, was ist, steckt ein normativer Geltungsanspruch“. 316 Allerdings bleibt der Begriff zugleich hinter der Realität (d. h. seiner Umsetzung) zurück. An diesem Gedankengang Marcuses kann sehr genau nachvollzogen werden, wie erstens der eben noch „philosophische Wahrheitsbegriff“ 317 in „Ideologiekritik“ übergeht, und wie zweitens die „ontologische Idee der Wahrheit“ an der „Antithese des Seinsollenden zum 311 Vgl.: ebd. 312 Vgl.: G. Schweppenhäuser, S. 69 . 313 Ebd. 314 Ebd. 315 MS 7 , S. 147 ff. Hervorh. gem. Orig. 316 G. Schweppenhäuser, S. 70 . 317 Ebd., S. 71 . 2.3 Öffnung und Kooperation 91 Seienden“ 318 zerschellt. Indes resignierte Herbert Marcuse weniger als das Autorenduo der Negativen Dialektik. Er legte seine Hoffnungen in eine umweltverträgliche Technik der Zukunft, die in nicht zu leugnender Kongruenz mit der im Menschen offensichtlich dominierenden instrumentellen Vernunft den Ausweg aus den düsteren Herrschaftsverhältnissen bringen könne. 319 Sprechen wir an dieser Stelle von der großen Leere der Moderne, die das Denken der Aufklärung ausgelöst hat, indem sie mit der „Konzeption objektiver Wahrheit“ 320 die Idee der Wahrheit an sich obsolet gemacht hat. „Wahrheit ist nach Adorno nur im Medium der Kritik und zugleich als Erfahrung des Denkens zu haben, als eine dynamische Subjekt-Objekt-Konstellation, in der sich der Gedanke mit dem Gegenstand sättigt.“ 321 In jenem Zusammenspiel also der „kantischen Kritik aller Bewusstseinsgestalten durch das Bewusstsein“ 322 mit den „Beziehungen des Gedankens auf die Sache“ 323 kann sich das Ich für einen Augenblick des Erkennens selbst erfahren. Hier erkennt das Subjekt mit einem fulminanten Schub des Selbstbewusstseins, dass ihm nicht eine Abstraktionsmacht „Wahrheit“ als unumstößliches Objekt gegenübersteht, sondern so etwas wie Wahrheit in Form „wechselseitiger Vermittlung von Subjekt und Objekt“ 324 immer wieder neu entsteht. Dieser dynamische Wahrheitsbegriff, noch einmal zusammengefasst, geht also von der Dialektik zwischen einem mit Kritikvermögen und Erfahrungsvermögen ausgestatteten Subjekt und einem fluktuativen, infiniten Objekt aus. Im Umkehrschluss bedeutet dies zwingend, dass ein unkritischer, nicht selbstreflektierter Mensch nur Scheinwahrheiten erkennen kann. Das korrespondiert mit Kluges und Negts Arbeit an einer anders strukturierten Öffentlichkeit, die „die Grundlage des Gemeinwesens“ 325 ist: „Dieser Erfahrungshorizont ist die bestimmte Form von Öffentlichkeit, in der die gesamte kulturelle Erfahrungsarbeit stattfindet.“ 326 Daher forcieren sie eine „Umproduktion der Öffentlichkeit“, die die privaten Erfahrungen der Individuen würdigt und miteinbezieht. Dieser Privatbereich, der zugleich ein authentischer Gegenentwurf ist zum Reality-TV-Voyeurismus, setzt sich laut Kluge und Negt zusammen aus „Intimität (Aufwachsen, Liebe, Verlust)“ 318 AGS 8 , S. 272 . 319 Vgl.: Dubiel, Helmut: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim/ München ( Juventa) 1988 , S. 96 . 320 G. Schweppenhäuser, S. 72 . 321 Ebd. 322 Ebd. 323 AGS 10 . 2 , S. 584 . 324 Ebd., S. 602 . 325 UM, Bd. 1 , S. 18 (Vorwort). 326 Sklavin, S. 219 . 92 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln und „Arbeitswelt“. 327 Entscheidend auch hier wieder ist das dialektische Moment der Rückkopplung: „Ohne Öffentlichkeit gibt es auch keine konsistente private Erfahrung.“ 328 Näheres hierzu findet sich vor allem in Kapitel 2 . 4 . 1 . Eine genuine Grundeigenschaft des Menschen bei seiner Suche nach Identität und Sinn stellt das Narrative dar. Der Zugang zum Erfahrungsschatz, den die Welt für ihn bereithält, ist narrativ geprägt, gerade die ersten Informationen erfährt er durch Gleichnisse, durch Märchen und „Stories“, die in der Familie erzählt werden. Das höchste Gut dieser Kulturtechnik ist die Weitergabe von Erfahrungen von einer Generation zur anderen. Von der Höhlenmalerei über Mythen und Märchen bis zu den Kommunikationsmitteln der Neuen Medien-- seit jeher erzählen sich die Menschen ihre Geschichten, ihre Erlebnisse und Empfindungen. Es kommt hier sehr darauf an, mittelbare und unmittelbare Erfahrung in Berührung zu bringen, sodass überhaupt „Lernprozesse“ entstehen können. 329 Aus epistemologischer und psychologischer Perspektive müsste man dieses Problem folgendermaßen veranschaulichen: „Ich erlange durch Einsicht in die Maschinerie des Vorkriegs nichts als eine sogenannte kognitive Dissonanz. D.h., das, was logisch einen Zusammenhang ergibt, ergibt für mich emotional keinen, und was für mich emotional einen Zusammenhang hätte, wird durch Logik widerlegt.“ 330 Mit anderen Worten gilt es, die Wurstigkeit des Menschen als eine Gegebenheit zu akzeptieren (anstatt sie von einem erhöhten Standpunkt aus zu verurteilen oder oberlehrerhaft an sein Gewissen zu appellieren und so den Kontakt zu ihm zu verlieren) und zu versuchen, seine ebenso natürliche Neugier im Unterhaltungsmoment (Humor) oder durch persönliches Interesse (Eros, Liebe) zu entfachen. Das attentum parare ist rhetorisch legitimiert. Siehe hierzu das Kapitel 2 . 5 . 4 . 1 („Fröhliche Wissenschaft“). „Persönliche, also private Erfahrungen von Menschen, machen wir alle lebenslänglich, ob aber Menschen mit diesem Resultat ihrer Erfahrung Selbstvertrauen verbinden, hängt davon ab, dass sie sie in der Öffentlichkeit kommunizieren können, dass ein Mensch sich in dem andern spiegelt.“ 331 Selbstvertrauen befähigt zu Vertrauensverhältnissen, diese wiederum produzieren Zusammenhang-- „Gegenstand der Theoriearbeit sind deshalb-[…] zunächst Vertrauensverhältnisse und nicht sogleich Erkenntnis.“ 332 Letzteres stellt sich durch 327 Vgl.: UM, ÖE, S. 333 . 328 Ebd. 329 Vgl.: UM, MP, S. 842 f. 330 Ebd., S. 860 . 331 Kluge, Alexander: „Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 2012 an Jürgen Habermas.“ Düsseldorf am 14 . 12 . 2012 . 332 Vgl.: GE, S. 487 . 2.3 Öffnung und Kooperation 93 die Rezeption des Ersteren ein, also auf dem Weg unmittelbarer oder mittelbarer Erfahrung. Weshalb die eingangs eher trivialen Bemerkungen hier vor Augen geführt wurden, ist die folgende Aussage Kluges: Durch das narrative Element bekomme man, „eine Differenz in die Sprache“, mit der erst die „Philosophie überhaupt eine Ausdruckswelt“ gewinne. Man könne „nicht versuchen, in Hochsprache Philosophie allein einzufangen.“ Das „allein“ heißt also, er rüttelt nicht an der Philosophie, auch nicht an Universität und Wissenschaft, nein er achtet dies in hohem Maße-- „Die Sprache mag dabei taumeln, in der Sache ist die Peitsche des philosophischen Motivs nicht ungeschickt.“ 333 -- und würde vermutlich nichts dagegen haben, wenn hier aus der Negativen Dialektik zitiert wird: „So wenig Definitionen jenes Ein und Alles der Erkenntnis sind, als welches der Vulgärszientivismus sie betrachtet, so wenig sind sie zu verbannen.“ 334 In der Folge betont Adorno, wie entscheidend die Fähigkeit zu „sprachlicher Prägnanz“, also auch zur Begriffsbestimmung ist. Es geht Kluge um Öffnung und Kooperation: „In der Hinsicht ist also die Begleitung von Philosophie und die Vernetzung von Philosophie mit Erzählung mehr als die Beispiele zur Philosophie.-[…] Es kommt erst Horkheimer und dann kommt Adorno. Jedes dieser Erzählungen von denen lässt sich in dieser Weise fortsetzen-- zu mehreren. Und dass ich das tue, ist ganz sicher, also das kann ich Ihnen garantieren.“ - So Alexander Kluge im gemeinsamen Gespräch während der sechswöchigen Filmschau „Alexander Kluge Rétrospective- - Prospective. Odyssée Cinéma“ der Cinémathèque française in Paris. Seine Texte und Filme sind also nicht bloß irgendwelche Illustrationen von philosophischen Thesen, sondern: autonom. Autonomie der Kunst meint nicht Selbstgenügsamkeit der Kunst, was etwa durch deren Doppelcharakterisierung seitens Adorno deutlich wird („Autonomie und fait social“ 335 ). Das Gleiche noch einmal auf einen anderen Punkt hin ausgerichtet: „Die Orientierungen, die sich an diese Erfahrungen, Bilder und Illusionen binden“- - im Grunde eine Beschreibung des eigenen multimedialen Verfahrens: Nachrichten, Bilder, Fiktion- -, „sind offensichtlich stabiler als das, was Wissen und Information an Beständigkeit schaffen können.“ 336 Deshalb die Warnung an die Intelligenzarbeit: „Das Wissen fällt, wenn es sich nicht mit diesen libidinös stark besetzten Kräften verbündet, gleichsam in ein gesellschaftlich-synthetisch 333 UM, GE, S. 518 . 334 AGS 6 , S. 167 . 335 AGS 7 , S. 340 . 336 UM, MP, S. 797 . 94 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln hergestelltes Bewußtsein zurück“. 337 Insofern ist Kluges Begriff der „Erfahrung“ auch als ein Gegenmodell zu „Wissen“ zu verstehen. 338 Alexander Kluge weiß, dass man im Kampf gegen Anti-Intellektualismus auch die Intelligenzia zur Verantwortung bewegen muss, hat sie für ihren schlechten Ruf doch allerhand getan: Unzuverlässigkeit der Theorie in der Praxis, Mangel an Gegenständlichkeit, Mangel an Weltbezug, Elfenbeinturmbau, abgehobene Sprache, geschlossene Zirkel. So erklärt sich auch Kluges Strategie, Gegenproduktion herzustellen: Theoretisches allein hat nicht funktioniert. Kluge und Negt erkennen das große Potenzial, das in einer Zusammenführung von den Erfahrungen und Intelligenzen aller „Klassen“ steckt. 339 Keineswegs geht ja bei dieser Arbeit darum, Kluge zu einem Philosophen zu stilisieren, ihn irgendwie „emporzuheben“. Nein, das Ziel ist, gegen jedes Ausschlussprinzip zu arbeiten, d. h. die Philosophie zu entsperren und ihr nicht-akademische Ausdrucksmittel und Kommunikationswege, sozusagen außerdisziplinäre Medien aufzuzeigen, mit denen es sich zu kooperieren lohnt. Sie darf nicht geschlossen sein- - das der Lösungsvorschlag all der erkenntniskritischen Thesen. Denn ausschlaggebend ist, dass die Emanzipation des Bewusstseins „nicht in dem Sieg dieser unterdrückten Klassen des psychischen Apparats über die herrschende, sondern in deren Verknüpfung“ besteht. 340 Noch einmal anders gesagt: Die Ohnmacht in der Gesellschaft entsteht und bleibt bestehen durch die Monoperspektive, besonders durch die Spezialisierung von Arbeitsteilung: „Die Maschinerie“, die dem arbeitenden Menschen „nur in Fragmenten entgegentritt, nimmt gerade deshalb, weil sie als Ganzes nicht wahrgenommen wird“-- es mangelt an Überblick--, „die Form einer mystifizierten Gegenständlichkeit an.“ 341 Mit einer Philosophie des Allzusammenhangs vereint Kluge scheinbar entlegendste Punkte wie Astronomie und Wirtschaftswissenschaften, Philosophie und Physik, Literatur und Mathematik zu einem verknüpfenden Denken. Den Forderungen Adornos nach Interdisziplinarität und Methodenpluralismus entspricht die klugesche Strategie: „An die von der wissenschaftlichen Arbeitsteilung befohlene Trennung der Disziplinen konnte eine Absicht nicht sich halten, welche nicht den Inbegriff oberster Allgemeinheiten, sondern die Konstellation konkreter Momente aufsucht, die zur Wahrheit zusam- 337 UM, MP, S. 797 . 338 Kluge drückt das literarisch aus z. B. in „Stalingrad als Nachricht“, insbesondere im ersten Abschnitt „‚Deutschland im Herbst’“. Darin die Sätze: „‚Daraus, wie er dastand und lief, konnte ich sehen, um was es sich handelt.“ „Sie weiß, ohne durch die Wand sehen zu können, daß vor der Datsche der Regenwind um den Hoppelberg fegt.“ Die Kursivsetzungen stammen von ihm. Vgl.: Unterschiede, S. 91 . 339 Vgl.: GE, S. 479 f. 340 GE, S. 479 . 341 UM, ÖE, S. 373 . 2.3 Öffnung und Kooperation 95 mentreten. Motive der Ästhetik, der Geschichts- und Gesellschaftslehre, der Psychologie verbinden sich mit kompositionstechnischen, musiktheoretischen und musikkritischen Analysen, so wie die innere Entfaltung des Gegenstandes es verlangt, ohne Rücksicht auf die departementalen Grenzen.“ 342 Der Mensch ist nicht eindimensional-- er erscheint nur so, weil er aufgrund mangelnder Organisation und mangelnden Ausdrucks seiner Eigenschaften seine Mehrdimensionalität gar nicht auszudrücken imstande ist. 343 Die Aufgabe von Theoriearbeit sehen Kluge und Negt entsprechend in der Herstellung von Zusammenhang. 344 Die Methodik von Theoriearbeit setzt sich dabei aus dreierlei zusammen. Erstens: Kritik. Genauer: „‚radikale Kritik des Bestehenden‘“, 345 die nicht nur Äußeres, Fertiges, Totes, sondern auch Inneres, Unfertiges, Pulsierendes wahrnimmt. Ein tieferer, sensibler Blick als der der Empirie: Latentes, im Prozess befindliches Werdendes, d. h. kein fertiges Seiende, sondern zur Realität drängende Tendenzen und Potenziale. Wir haben es hier also mit einer zweischichtigen Wirklichkeitstheorie zu tun, einer erscheinenden und einer verborgenen. Zweitens: Antizipation. Bestehendes mit dem, was objektiv möglich ist, konfrontieren, um zwischen gerechten und ungerechten Realzuständen objektiv unterscheiden zu können, die Mittel zur Berichtigung aufzuzeigen und auf eine solche hinzuarbeiten. Das Maß gibt Kant vor: „Nachdem Mündigkeit eine reale Möglichkeit menschlichen Verhaltens geworden ist, werden alle Versuche, sie zu verhindern, von Kant als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet.“ 346 Kluge und Negt fordern also, um den Ton aufzugreifen, eine Theorie der promesse du confiance und courage du réalisation nach dem Vorbild Stendhals Kunst-Begriff als „promesse du bonheur“. 347 Drittens: Orientierungshilfe. Orientierung für den Menschen der Moderne, der gewissermaßen aus allen Wolken fiel oder noch immer im Fallen begriffen ist. Sie muss „messbar“, also verständlich und praxistauglich sein. Hierzu bedarf es einer Liaison von Theorie und Wirklichkeit: „Der Gebrauchswert liegt in dem Verhältnis von Zusammenhang und Kontinuität.“ 348 Hier geht es jedoch nicht um Fragen der Umsetzung oder Übertragung von Theorie in Praxis bzw. umgekehrt: „Es ist-[…] nicht die unmittelbare Praktikabilität, die der Theorie fehlt, sondern was ihr mangelt, ist gerade die Distanz zur unmittelbaren Praxis, der bewußte Arbeitsprozesse 342 AGS 13 , S. 506 . 343 Vgl.: UM, ÖE, S. 523 , Fußn. 7 . Kluge bzw. Negt erweitern hier also Marcuses These. 344 Vgl.: GE, S. 480 - 485 . 345 GE, S. 481 (Marx-Wort). 346 GE, S. 482 . 347 Vgl.: ebd. 348 GE, S. 483 . 96 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln schafft.“ 349 Theorie soll Berührungsflächen aufzeigen, um Kooperationsarbeiten und neue vereinte Projekte in der Praxis anzuregen. Kluges Kunstwerke verfolgen all diese Punkte und stellen daher ein ideales Arbeits- und Unterrichtsmaterial dar. Eingehender hierzu Kapitel 2 . 6 . 7 . 2 („Didaktische Dimensionen“). Im Kampf gegen die faschistische Besetzung der Kunst, also die Ästhetisierung des Politischen, greifen Walter Benjamin und Bertolt Brecht zur Waffe der Politisierung der Kunst. Ästhetischer Widerstand gegen außerästhetische Wirklichkeit ist ja auch immer zugleich außerästhetischer Widerstand (diese Grenze hat Christoph Schlingensief immer wieder aufs Neue ausgedehnt, das Zentrum für politische Schönheit hat sie mittlerweile aufgesprengt). Sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse sollten in der Kunst, vordergründig in der Literatur, gespiegelt werden („Literarisierung aller Lebensverhältnisse“ 350 ). Um ein solch allumfassendes Vorhaben umzusetzen, hieß es sozusagen: „Schriftsteller aller Länder vereinigt euch! “: „Ein Autor, der die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden. Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat um so besser, je mehr er Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist.“ 351 Legt man diese Schablone nun auf die Hauptperson dieser Arbeit und dessen Werk und Wirken, so formen sich die klugeschen Merkmale: Autorenkollektiv, Autorenwerkstatt, Verlag/ Film/ Fernsehen der Autoren, Kollektivfilm, Kluges „dctp variety“ mit den Köpfen der Zeit, nicht zuletzt seine Schreibmethode als solche. Man erinnere sich nur an einen Off-Kommentar aus dem preisgekrönten Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. Darin beschließt die Hauptfigur Leni Peickert zum Fernsehen zu gehen, das Medium zu wechseln, weil jetzt dort die Zuschauer sind. Es heißt darin: „Sie erlernt die Technik. Sie sucht keine Karriere im redaktionellen Bereich, weil sie weiß: Hier wird man nur abhängig. Die Kenntnis der Technik versteht sie als materielle Basis ihrer gesellschaftlichen Bemühungen.“ Oder: „Irgendwann einmal wächst dies zusammen: Die Liebe zur Sache, die Romane und die Fernsehtechnik.“ Man ist dazu verleitet zu sagen: selbstreflexive Worte oder zumindest möglichkeits-projizierende Worte eines Alexander Kluge, der früh-- der Film ist von 1968 -- erkannte: Der Weg führt nur über grenzüberschreitend-kooperative Gegenproduktion, die mit der Vereinigung von Kunst und Handwerk die Grundidee des Bauhaus' aufgreift. 349 GE, S. 485 . 350 BGS II. 2 , S. 694 . 351 Ebd., S. 696 . Hervorh. gem. Orig. 2.3 Öffnung und Kooperation 97 Der Bestand an Briefen Kluges im Siegfried Unseld Archiv bzw. dem Deutschen Literaturarchiv Marbach ist zwar sehr überschaubar, doch hat die Einsicht in diesen immerhin dreierlei Erkenntnisse gebracht: Alexander Kluge war und ist ein von verschiedenen großen Verlagen heiß umworbener, höchst angesehener Autor und geschätzter Gewährsmann für verschiedenste Themen. Neben Suhrkamp warben Kiepenheuer & Witsch, Piper, Cotta (Merkur) um seine Feder (und das sind nur die dokumentierten). Sein Interesse galt und gilt dabei stets der möglichst breiten Streuung seiner Werke im In- und Ausland. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch sein Insistieren auf die Begrenzung von Lizenzzeiten, während monetäre Fragen eine untergeordnete Rolle spielen. 352 Vorausschauend beugt er damit für Neuausgaben und Neuzusammenstellungen vor- - die Verteilung des Werks und die Verformungen seiner Arbeiten haben für Kluge demnach Priorität. Für diese Deutung sprechen zudem unkomplizierte, sofortige und unterstützende Zustimmungen für fremde Arbeiten an seinem Werk, ob wissenschaftlicher oder künstlerischer Natur. So etwa die Einsicht in seine Brief-Korrespondenz im DLA (Zusage innerhalb von 20 Minuten) oder das Angebot, in den dctp-Regalen stöbern zu können. Nicht zu vergessen die aufwendige Untertitelbearbeitung seines gesamten kinematografischen Schaffens in die Weltsprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Chinesisch und Russisch. Schriften Kluges (sowie gemeinsame mit Negt) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter ins Schwedische, Norwegische, Koreanische, Japanische und besonders umfassend zuletzt ins Englische durch Richard Langston sowie ins Französische durch Vincent Pauval. Und auch hier offenbart sich Kluges eigentliches Interesse: Als etwa der italienische Verlag Mazzotta vereinbarte Vorauszahlungen für die Rechte an Öffentlichkeit und Erfahrung hinauszögert, schreibt der Suhrkamp Verlag Kluge verdächtigend an: „Wir haben ein wenig die Vermutung, daß man damit so nachlässig ist, weil man weiß, daß Sie nie einer Aufhebung des Vertrages zustimmen würden, ob gezahlt wird oder nicht.“ 353 Anhand der vorangegangenen Beispiele aus dem Verlagsalltag lässt sich letztendlich die These stärken, dass es Alexander Kluge um ein Erreichen von vielen Menschen gelegen ist und es ihm in diesem Zusammenhang vor allem auf eine wirkungsästhetische Inhaltsvermittlung ankommt, die in aufwendigen Bearbeitungen extra auf die unterschiedlichen Publikumsinteressen im Ausland eingeht und das Werk entsprechend zurechtschneidet: „Für den Fall einer englischen Über- 352 Das geht z. B. aus einem Schreiben Kluges an Helene Ritzerfeld, Peter Suhrkamps erste Mitarbeiterin, vom 06 . 10 . 1986 hervor: „Die Höhe der Vorauszahlung wäre mir nicht wichtig, dagegen wäre mir eine Begrenzung der Lizenzzahl wichtig- […].“ Vgl.: Siegfried Unseld Archiv (SUA)/ DLA Marbach, HS 008 881 920 . 353 Aus einem Brief von Helene Ritzerfeld an Alexander Kluge vom 22 . 12 . 1975 . Vgl.: ebd. 98 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln setzung würden wir hier anbieten, das Buch [Öffentlichkeit und Erfahrung, Anm. CS ] stark zu überarbeiten und dabei zu kürzen, so daß es auf ein spezifisches englisches Leserinteresse stärker antwortet.“ 354 In einer Arno Schmidt gewidmeten Geschichtenreihe, die in Blog-Form erschien, verrät Kluge seine, leider unverwirklicht gebliebene Idee, das Sortiment Bahnhofsliteratur zu bespielen, um aus elitären Dichterkreisen auszubrechen und ein breites Publikum zu erreichen: „Ich selbst hatte den Fimmel, daß wir Schreibenden das Feld der Bücher verlassen und uns auf Groschenhefte konzentrieren sollten.“ Es kam zwar zur Begegnung, jedoch nicht zu einem wirklichen Austausch mit Schmidt. Und zwar bei der Verleihung des Fontane-Preises in Berlin im März 1964. Biografisch gesehen ein Jahr der Gegensätze zwischen egalitär und elitär für Kluge: Im September trägt er zum ersten Mal in der Gruppe 47 vor. „Die Speerspitze der Literatur (‚aus dem Geiste der Philologie’) in Form der Groschenhefte“ jedenfalls „blieb Idee.“ 355 Dennoch verfolgt sie einen starken Gedanken, ist von benjaminscher Überzeugung: „Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle universale Geste des Buches in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenartikeln und Plakaten abbilden. Nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirklich gewachsen.“ 356 Benjamin fordert hier, in der Einbahnstraße, eine neue Rolle des Autors, die des „Produzenten“ in ihm: Er soll werkextern politisch auftreten, soll in seiner Werkstruktur Veränderung vorleben und möglichst gar die Kultureinrichtungen verändern. 357 Dass der Begriff der Produktion hier sehr bewusst dem der Reproduktion unserer Zeit entgegengesetzt wird, dürfte deutlich sein. Hier hält es Benjamin ganz wie sein Freund Bert Brecht, der die Produktionsapparate von innen heraus revolutionieren wollte. Diese Forderungen vor Augen, ist also Kluge ein erstaunliches Gelingen anzurechnen, denn sowohl als Kunstschaffender als auch als Produzent-- Stichwort: Etablierung und Sicherung eines festen Anteils an Kulturprogramm im Privatfernsehen-- veränderte er die Kultur- und Medienstruktur. 354 Aus dem Brief von Alexander Kluge an Helene Ritzerfeld (Suhrkamp) vom 08 . 08 . 1974 . Vgl.: ebd. 355 Kluge, Alexander: 20 Geschichten für Arno Schmidt. Ein Gruß zum 100. Geburtstag in 10 Folgen. „Folge 1 : Meine Begegnung mit Arno Schmidt“, veröffentlicht am 13 . 01 . 2014 . http: / / www.logbuch-suhrkamp.de/ forum/ alexander-kluge-20-geschichten-fuer-arnoschmidt [Zugriff: 18 . 01 . 2014 ]. 356 BGS IV. 1 , S. 85 . 357 Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“ (Vortrag 1934 in Paris), in ders.: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1978 , S. 101 und 106 f. 2.3 Öffnung und Kooperation 99 Man darf die Masse nicht aufgeben, wenn man Wirklichkeit verändern will: „Man muss bei der Mehrheit bleiben, selbst wenn sie irrt.“ 358 -- So erklärt sich das Bespielen der Privatkanäle, so die Entwicklung von Multi-Touch-Books, erhältlich im Apple-Store. Als ein Advokat des menschlichen Glücksanspruchs hat Alexander Kluge einmal ästhetisch-praktisch als Schriftsteller und Filmemacher und einmal als promovierter Justiziar und Medienpolitiker rechtlich die deutsche Bildungslandschaft geprägt. Indem er der wissenschaftlichen Herangehensweise der Kritischen Theorie spielerisch Sphären der Kunst (besonders mithilfe der neuen und neueren Medien) offenbarte und weil er mit großem bildungspolitischen Engagement und Geschick Rahmenbedingungen schuf und weiterhin sichert (Kulturstaatsvertrag 359 , kleine Gebietsgewinne 360 ), drängt er entschlossen auf deren praktische Erfüllung. Wohlgemerkt: Den „Irrlichtern der Revolution“ stellt Kluge die Trias „Recht, Unterscheidung, Autonomie“ entgegen, die um die Heteronomie der Menschen weiß. Kluge interveniert in der Öffentlichkeit in ebensolcher Vehemenz wie Jürgen Habermas, wenn auch in anderen Rollen und durch meist andere Kanäle. „Der Strukturwandel der Öffentlichkeit geht, wie Habermas das beschreibt, von der repräsentativen Öffentlichkeit aus, also jener der Obrigkeiten, der Könige, der Stände und geht in die bürgerliche Öffentlichkeit über.“ 361 Dies sei eine „entscheidende und grundlegende Phase der Entstehung moderner Öffentlichkeiten“. „Erst bildet sich, sagt Habermas, eine literarische Öffentlichkeit und aus ihr dann die politische.“ 362 An diesem Punkt wird der „moderne Charaktertyp des ‚öffentlichen Intellektuellen’“ geboren. Und Kluge ist ohne Zweifel eine solche öffentliche Person, die an der Öffnung, Transparenz und Verknüpfung insbesondere von kritischer, kultureller, 358 Kluge in: Matussek, Matthias: „Die Feier des Partisanen“, in Der Spiegel, 18 / 2008 , S. 170 . 359 „Zu Kluges wichtigsten medienpolitischen Erfolgen zählen- […] das Film-/ Fernseh-Rahmenabkommen ( 1974 ) sowie die Durchsetzung einer Sendelizenz für unabhängige Kulturprogramme bei den privaten Anbietern RTL und Sat.1 ( 1987 ), die ihm seit 1988 die wöchentlichen Ausstrahlungen der Kulturmagazine 10 vor 11, Prime Time und News & Stories ermöglicht.“ Aus: Kluge, Alexander: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v.-Christian Schulte. Berlin (Vorwerk 8 ) 1999 , S. 10 . 360 Was damit gemeint sein soll, soll ein Beispiel zeigen: In einem Brief offenbart Kluge Adorno, dass er „in irgendeinem Gremium“ erreicht habe, dass Adornos Aufsatz „Sittlichkeit und Kriminalität“ zu einer „Pflichtlektüre für irgendwelche in Ausbildung befindliche Juristen“ geworden ist. Kluge besaß demnach bereits früh ein Gespür für eine Gegenproduktion, die schon an der Strukturebene ansetzt. Ganz konkrete Gegenstandsbereiche, außerhalb der Kunst. Vgl.: Brief von Kluge an Adorno vom 22 . 06 . 1964 (Adorno-Archiv/ Akademie der Künste, Berlin). 361 Kluge, Alexander: „Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 2012 an Jürgen Habermas.“ Düsseldorf am 14 . 12 . 2012 . 362 Ebd. 100 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln proletarischer und politischer Öffentlichkeit (z. B. wiederholte Berichte von der Internationalen Sicherheitskonferenz in München 363 ) arbeitet. Er macht öffentlich, was öffentlich ausgegrenzt ist. Vielfalt der Inhalte und der Darstellungsweise in der weitgehend gleichgeschalteten Fernsehlandschaft ist das Verdienst der dctp und ihrer Partner. Wie man aus dem Bestand des Suhrkamp-Archivs im Deutschen Literaturarchiv in Marbach entnehmen kann, hatte Kluge Ende der 70 er den nicht nur ambitionierten, sondern bereits recht ausgefeilten Plan, ein riesiges Kollektivprojekt der Schriftsteller und Journalisten zu begründen und konnte dies seinem Verleger Siegfried Unseld auch überzeugend vortragen, der seiner Kollegschaft berichtet: „Er entwickelte sofort einen Plan: ihm ging es um die Gründung einer Autorenwerkstatt“ mit dem Ziel, eine „‚Chronik der laufenden Ereignisse’“ zu erstellen. 364 Die wichtigsten Persönlichkeiten, die die damalige Gegenwart entscheidend prägten, sollten in Interviews zu einer solchen Zeitspiegelung aufgesucht werden (genannt werden etwa Ernst Jünger, Helmuth Plessner, Herbert Marcuse und Gershom Scholem).-- Zu einer Realisierung dieser Idee kam es damals zwar nicht, doch hat sie da ihren Ausgangspunkt genommen, reifte, und hat sich, wenn man sich seine unzähligen Interviews mit den interessantesten Künstlern und Wissenschaftlern unterschiedlichster Couleur für die dctp vor Augen führt, heute in überwältigender Vielfalt verwirklicht. Es gibt zweifellos Namen, die zu einem engeren Kluge-Kreis gehören, aber das hat nichts Exklusives oder gar Mythisches, sondern es existiert ein expandierendes kooperatives Netzwerk aus autonom arbeitenden Künstlern, Wissenschaftlern und Journalisten, deren Netzwerker und Konzentrationspunkt Alexander Kluge ist. Ja es gibt sogar ein eigenes Kapitelnetz auf dem Web-Portal, das die „Werkstatt der Autoren“ heißt. Und in dieser Nachrichtenwerkstatt, wie dort zu erfahren ist, arbeite man „mit allen Partnern an der Aufhebung der Trennung zwischen Tatsachen, Musik, Vernunft und Emotion.“ Die Erfahrung der Welt ertönt in polyphonen Kooperationen: „Unser Orchester aus ‚Spiegel- TV ’, ‚Stern- TV ’, ‚ NZZ Format’, ‚Süddeutsche TV ’, ‚National Geographic Explorer’, ‚PM Reportage’, den BBC-Formaten und meinen Kulturmagazinen bringt einen Kammerton eigener Art ins Fernsehen ein. Die Akzeptanz können Sie an der Quote ablesen. Selbst die Kulturmagazine erreichen an manchen Abenden einen Marktanteil von 14 Prozent.“ 365 363 Insbesondere: Kluge, Alexander: „MSC: Wieviel Krisen verträgt die Welt? “, in NEWS & STORIES vom 01 . 06 . 2014 . Link: www.dctp.tv/ filme/ msc-krisen-newsstories-01 062 014/ [Zugriff: 16 . 07 . 2014 ]. 364 Aus dem verlagsinternen Reisebericht von Siegfried Unseld vom 15 .- 19 . 06 . 1979 . Vgl.: SUA/ DLA Marbach, HS 008 881 920 . 365 Kluge in: Schlosser, Sabine: „Der Zuschauer wird oftmals unterschätzt“, Interview mit Alexander Kluge, in MEDIEN HORIZONT 6 / 2002 . 2.3 Öffnung und Kooperation 101 Das ist ein nicht zu unterschätzendes Bollwerk an Institutionen und Köpfen, die da Kluge um und hinter sich versammelt hat. Zeitweilig gehörten auch die International Herold Tribune und Die Zeit dazu. 366 Und es ist noch längst nicht zu Ende gedacht: „Mit der Verlagsgruppe Handelsblatt stehen wir im Kontakt. Darüber hinaus würden wir gerne mit der ‚ FAZ ’ zusammenarbeiten.-[…] Wir hoffen, über eine befreundete Lizenz als Fensterprogramm in Paris on Air zu gehen. Auch an der Brücke zu New York bauen wir fleißig.“ 367 Die Senkung der Ich-Schranke, die Verbindung zu Geistesgrößen und die Arbeit im Autorenkollektiv zeichnen Kluges Haltung und Arbeitsmethode aus: „A la différence d’autres réalisateurs du Nouveau Cinéma allemand, il n’a jamais cherché la célébrité, et il ne s’est pas davantage présenté comme un artiste visionnaire investi d’une mission personnelle, ce qui est le vice germanique de plus d’un de ses collègues.- […] Marqué par l’ethos collectiviste des années soixante, pétri d’une profonde méfiance envers la spécialisation et toute forme de division du travail, Kluge est un parfait avocat de la coopération.“ 368 Öffnung aller Wissenschaften zur Seite und nach unten, Kooperation im Denken wie im Handeln für Fragen, die wirklich von Bedeutung sind. Denn: „The best minds of my generation are thinking about how to make people click ads”, lautet die ernüchternde Generationsanalyse von Jeff Hammerbacher, dem ehemaligen „Head of Data” bei Facebook. Kann uns das reichen? Dem vernunftbegabten Tier? Im Gespräch mit Kluge sagt der französische Philosoph Bernhard Stiegler: „Mathematik nimmt immer mehr an Macht zu und es ist sehr, sehr wichtig, die Mathematiker zu überzeugen, dass sie mit uns zusammenarbeiten-- und nicht mit den Märkten.“ 369 Er appelliert an den „echten Mathematiker“, der sich ja „für das Ideelle“ interessiere, sprich „für das, was nicht existiert, also für das Einzigartige, die Singularität“, das Noch-Nicht und das Besondere. Stattdessen aber sei die mathematische Forschung korrumpiert und betreibe „spekulativen Kapitalismus“: „Die besten französischen Mathematiker“, so ist zu erfahren, „sind die wichtigsten Zulieferanten für Finanzsoftware in der amerikanischen Wirtschaft geworden.“ „Man muss das ändern. Die wesentliche Frage für die kommenden Jahre ist, wie wir einen neuen Zweck, neue Ziele für das Wissen definieren können.“ 366 Vgl.: „Nachruf auf Adolf Theobald“: http: / / magazin.dctp.tv/ 2014/ 09/ 04/ nachruf-auf-adolftheobald/ [Zugriff: 04 . 09 . 2014 ]. 367 Kluge in: Schlosser, Sabine: „Der Zuschauer wird oftmals unterschätzt“, Interview mit Alexander Kluge, in MEDIEN HORIZONT 6 / 2002 . 368 Elsaesser, Thomas: „Mélancolie et mimétisme : les énigmes d’Alexander Kluge“, in Trafic. Nr. 31 , Herbst 1999 . S. 70 - 94 . 369 Kluge, Alexander: „Alchemie des Denkens. Bernhard Stiegler: Was heißt Aufklärung im 21 . Jahrhundert? “, in 10 VOR 11 vom 04 . 08 . 2014 . Link: http: / / www.dctp.tv/ filme/ alchemist-denken-10vor11-04 082 014 [Zugriff: 19 . 09 . 2014 ]. 102 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Etwas, allerdings nicht gänzlich entfernt zur Wissenschaft, lohnt der Blick in journalistische Gefilde. So ist an dem Crowdfunding-Projekt „Akte NSU “ um „Correct! v- - Recherchen für die Gesellschaft“ bereits eine solche Hinwendung zum Kooperativen hoffnungsvoll zu sehen. 2.3.2 ‚Kälte’ als Metapher der Moderne Abb. 4: Formen körperlicher Ertüchtigung „Teddie“ regt seinen Freund „Axel“ 370 1967 mehrmals an, gemeinsam etwas über „die Kälte“ in der Welt zu verfassen- - die „Metapher der Moderne“ 371 , als die sie Kluge später bezeichnen wird. Adorno nämlich erfuhr von Kluges Absicht, „einen Film über Bildung auf dem Lande“ zu drehen: „Du kannst nicht wissen, daß diese Frage mich seit geraumer Zeit beschäftigt, und zwar im allerernstesten Zusammenhang, nämlich dem, daß auf dem Lande gleichsam die Barbarei sich unablässig reproduziert.“ 372 Handschriftlich fügt er ein: „Schon im Kommunistischen Manifest findet sich die Ahnung davon.“ Dann setzt der Maschinentext wieder ein: „Angesichts der NPD -Entwicklung ist das von denkbar größtem Ernst.“ Die „Frage nach der Kälte“ und wie man „diese Intention einsenken“ könne, wolle er mit Kluge deshalb dringend diskutieren. So deutet er auch eine Stelle aus Abschied von gestern: „Ich friere auch im Sommer“ hieße es ja dort- - und exakt darum gehe es „wirklich“ und zwar „im allertödlichsten Ernst“. Frappant ist hier Adornos Wortwahl, die voller überhöhter Superlative steckt („allerernstesten“, „denkbar 370 Kluges Spitzname von Kindesbeinen an. 371 Kälte, S. 75 . 372 Brief von Adorno an Kluge vom 13 . 03 . 1967 . Vgl.: Adorno-Archiv/ Akademie der Künste, Berlin. 2.3 Öffnung und Kooperation 103 größtem“, „allertödlichsten“) und weder Zweifel daran lässt, dass er in großer Sorge ist, noch dass Kluge hier thematisch ins Herz gestochen hat. Noch zweieinhalb Monate später ist diese Aufregung zu spüren: „Und es ist mir aus tausend Gründen unendlich daran gelegen, Dich bald zu sehen, auch um wegen der Idee eines Films über die Kälte mit dir zu sprechen.“ 373 1999 läuft mitten im heißen Juli in der Primetime Spätausgabe der Beitrag „Die Welt-Eis-Theorie. Der kalte Kosmos, an den Hitler glaubte“. 374 Ein paar Jahre später folgt in der Filmedition Suhrkamp die kaleidoskopische DVD Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd, dazu mit Stroh im Eis ein paratextuales Beibuch mit Geschichten als zusätzliche Kommentare, ja schriftliche Fortsetzung des Filmischen (und umgekehrt)-- und in diesem finden sich nun auch Auszüge aus den eben zitierten Briefen Adornos wieder. Stark autobiographisch beginnt das Beibuch mit der Titelgeschichte, erzählt von einer geradezu triebhaft-natürlichen Handlung des Vaters, die dieser mit einer solchen Gewissenhaftigkeit ausführte, dass er auch schon mal Patienten in seiner Arztpraxis warten ließ: „In den Anfangstagen der Vereisung des Teiches, sobald er die Fläche für betretbar hielt, schlug mein Vater mit einer Spitzhacke Löcher in die Eisdecke. In die Öffnungen, denen er nicht allzu nahe kommen durfte, da die Stabilität des Eises in deren Nähe unberechenbar war, steckte er Bündel aus Stroh, die der Chauffeur vorbereitet hatte. Das Stroh kam aus Klein Quenstedt. Die enge Öffnung hielt die Bündel fest, hier froren sie ein. Es blieben aber mit den trockenen Halmen enge Röhren, welche die Fische im Teich mit Sauerstoff versorgten. Mein Vater nannte das ‚den Fischen Freiheit geben’. Er meint damit, daß die kristalline Absperrung durch das Eis nie vollständig sein sollte. Es schwammen unter der Eisdecke dicke Karpfen und fettleibige Goldfische. Ihnen galt die Einfühlung meines Vaters.“ 375 Gewissermaßen schließt sich übrigens noch ein Satz aus einer anderen Erzählung ergänzend im selben Buch an: „Offenes Wasser speichert Wärme.“ 376 -- Was sicherlich auch als Anspielung auf den menschlichen Lebensraum und die Formen von Öffentlichkeit zu verstehen ist. Gegen Ende der erstgenannten Erzählung fokussiert Kluge mit den Fähigkeiten zu Empathie und Solidarität (über die Grenzen der eigenen Spezies hinweg) sowie dem Bedürfnis nach Freiheit Charaktereigenschaften seines Vaters, die stellvertretend für eine ideale Gesellschaft stehen: „Als empfände er den Luftmangel der Fische in seiner eigenen Lunge. Die Mitempfindung bewegte ihn stärker als der Mangel an Nüchternheit, der sich in starken Kopfschmerzen und auch äußerlich rotgeäderten Augen zeigte. [Nach einer durchzechten Nacht machte er lieber die Praxis später auf als dass er die Versorgung der Fische ver- 373 Brief von Adorno an Kluge vom 26 . 05 . 1967 . Vgl.: ebd. 374 Ausgestrahlt am 11 . 07 . 1999 . 375 Kälte, S. 7 . 376 Aus „Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis“, in ebd., S. 68 . 104 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln nachlässigte; Anm. CS ] Mein Vater gehörte zu jenem Menschentyp, mit dem ein Volk durch Notzeiten kommen konnte.“ 377 Eine außerordentliche Fähigkeit Kluges ist die Verknüpfung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und philosophischen Thesen. So entzünden sich an der Poetik der Natur etwa aufklärerische Gedanken der Gleichheit und Brüderlichkeit des Menschengeschlechts, in diesem Fall jedoch nicht speziesistisch (und auch nicht sexistisch), sondern mit der Natur im Einklang (Adorno stellt der Vernunft ja die Aufgabe der „Versöhnung“ mit dieser, ihr nicht-identischen): „In einem Forschungslabor in Chicago wurden Atome auf ein Hundertmillionstel Grad Kelvin gekühlt. In diesem extremen Zustand nahe dem absoluten Nullpunkt läßt sich die Bose-Einstein-Kondensation beobachten.“ 378 Es folgt ein Satz, der Chemie sagt und Humanismus meint: „Alle Atome, gleich ob Eisen, Gold, Uran, Wasserstoff, Silizium oder Edelgas, sind absolut identisch.“ An benachbarter Textstelle finden sich Erklärungen zum absoluten Temperatur-Nullpunkt. Dieser liege, das wisse man zwar, bei minus 273 , 15 ˚C, allerdings sei er laut „drittem thermodynamischen Gesetz“ nicht zu erreichen: „Sämtliche Bewegungen der Materie wären angehalten. Das widerspricht dem Eigensinn der Natur“. 379 Kluge begeht nicht den methodischen Fehler, in fremden Kategorien zu messen, auch vereinnahmt er nicht beispielsweise Erkenntnisse der Naturwissenschaften, um eigene Ideologien zu propagieren, sondern den letzten Schritt der Verknüpfung oder des Vergleichs, der liegt immer beim Rezipienten und dieser kann, aber muss nicht eine Verbindung ziehen. Kluge sammelt und macht zugänglich, er arrangiert auch gedanklich verwandte Textbausteine in assoziationspotenzielle Nähe, aber er geht selten so weit, dass er etwas vorgibt. „Konstellation“ ist Adorno zufolge der direkte Gegenentwurf zu „System“ 380 und somit auch zu Systemischem wie Definition und Begriff. Wenn man es mit der Beschreibung von Aggregatzuständen versuchen wollte, könnte man sagen, die Konstellation ist gasförmig oder flüssig, vor allem weil sie das Gegenteil ist von Definition, die fest ist. Ausgestattet mit dem Wunsch nach Abbildung von Wirklichkeit, sei daran erinnert: Nach der Heisenbergschen Unschärferelation steht ein Teilchen tatsächlich niemals gänzlich still, d. h. auch nicht im „festen“ Zustand. „Die kleinsten Teilchen sind bei einem Feststoff nur wenig in Bewegung“-- aber sie sind in Bewegung: „Sie schwingen um eine feste Position, ihren Gitterplatz, 377 Kälte, S. 8 . 378 Ebd., S. 76 (Annotierter Index). 379 Im übertragenen Sinn haben wir hier (ebd.) wieder den Gedanken des „Eigensinns“ sowie die unbeirrte Hoffnung auf glückliche Wendung auch in letzter Sekunde. 380 AGS, 5 , S. 45 . 2.3 Öffnung und Kooperation 105 und rotieren meist um ihre Achsen.“ 381 „Zwischen den kleinsten Teilchen wirken verschiedene Kräfte, nämlich die Van-der-Waals-Kräfte, die elektrostatische Kraft zwischen Ionen, Wasserstoffbrückenbindungen oder kovalenten Bindungen.“ Anziehung im flüssigen Zustand: „Durch die Erwärmung ist die Bewegung der Teilchen so stark, dass die Wechselwirkungskräfte nicht mehr ausreichend sind, um die Teilchen an ihrem Platz zu halten. Die Teilchen können sich nun frei bewegen.“ Anziehung im gasförmigen Zustand hingegen: „Beim gasförmigen Zustand ist die Bewegungsenergie der kleinsten Teilchen so hoch, dass sie nicht mehr zusammenhalten.“-- Die metaphorische Ausdrucksfähigkeit von im klugeschen Werk nur so wimmelnden Temperatur-Angaben, insbesondere die Kälte als „Metapher der Moderne“, erklärt sich hier von selbst. Gleiches gilt für die Metapher des Wassers respektive des Flüssigen. 382 Es „verändert seinen Aggregatzustand, verbindet sich mit anderer Materie, wird wieder zu Wasser“; ihre Qualitäten liegen also vor allem in ihrem Verbindungsvermögen, ihrer Variationsfähigkeit (Verflüssigen verhärteter Verhältnisse) sowie ihrer Form des Kreislaufs. Im Prinzip stehen diese Gedanken in „Der Unterwasserkünstler“, wo sie in Form einer Kurzgeschichte zur Anschauung gebracht werden. Die Hauptfigur überlebt durch den minimalen Raum an Sauerstoff, der zwischen Wasser und Eisdecke gespeichert ist. Darin die Sätze: „Die Grenze zwischen den Aggregatzuständen ist nie genau.-[…] Man kann jeden beliebigen Punkt der Erde, auch die lebensunfreundlichen, ansteuern, sagte der Künstler nach seiner Rettung, indem man von seiner eigenen Mitte aus eine Spirale zieht.“ 383 -- Was uns wieder zurück zur Erkenntniskritik bringt: Man muss es als eine Selbstüberschätzung bezeichnen, wenn Begriff und Definition meinen, etwas umfassend, vollständig greifen zu können. Der klassische Glaube an eine Überzeitlichkeit der Begriffe ist kontextlos, ist geschichtslos. Dieser Arroganz ist die Konstellation gerade deshalb überlegen, weil sie auch die Definition selbst als Partikel des Erkenntnisprozesses achtet und involviert, nicht Begriff noch Deutung ausschließt, sondern sie in ihren hierarchiefreien Konfrontationen auf die Probe stellt. Adorno: „Die Terminologie, die unvermeidlich ist, muß in Zusammenhängen, in Konstellationen, in denen sie erneut einen Stellenwert zu gewinnen vermag, ihre eigene Verhärtung verlieren.“ 384 In einer kritischen Öffentlichkeit finden Erfahrung und Begriff zueinander. Konstellationen nicht nur der Begriffe, sondern auch der Ideen und Bilder und Filme und Töne, Geräusche und Stimmen. Gerade die klugesche Intermedialität schafft es, auch die Nicht-Begriff- 381 Die Zitate aus diesem Absatz stammen aus dem Wikipedia-Artikel zu „Aggregatzustand“: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Aggregatzustand [Zugriff: 19 . 05 . 2014 ]. 382 Näher erläutert in GE, S. 233 ff. 383 Unterschiede, S. 105 . Zur „Spirale“ siehe auch das Telefon-Interview am Ende der Arbeit. 384 Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1973 , Bd. 1 ., S. 55 . 106 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln lichkeit eines Etwas-- sowie seines Nichtidentischen-- zu involvieren. Und erreicht sie es nicht, dann ist es durch Schwingungen in konstellativen Beziehungen zu spüren. Der Begriff, notwendig endlich, ist isoliert, etwas Totes, die Konstellation jedoch lebt und ist so lebendig wie die Sache selbst, selbst wenn diese einmal vergangen ist-- und macht sie so letztlich unvergänglich. 2.3.3 Denkbewegung: Prozess vs. Resultat Für Adorno gilt es, „die Worte so um die neue Wahrheit zu stellen, daß deren bloße Konfiguration die neue Wahrheit ergibt.“ 385 Ein Paradoxon, das sich auch dann nicht gänzlich auflösen will, wenn man erkennt, dass es Adorno hier um Indirektheit gelegen ist, dass also die Kommunikation der Dinge selbst die Wahrheit verkündet. Schließlich deutet der Satz darauf hin, dass der Autor einer solchen Begriffskonstellation bereits zu einer „neuen Wahrheit“ vorgedrungen sein muss. Andererseits ist es denkbar, dass er selbst auf dem Weg einer zufälligen (? ) Begriffskonstellation dorthin gelangt ist und nun bei der Aufgabe der Wissensvermittlung eine entsprechende Umkreisung zu arrangieren hat, was uns wieder auf den Bildungs-Mehrwert des Prozess’ im Gegensatz zum Resultat bringt: Selbst verstehen, also kein Dogmatismus und keine Reduktion von Wissen in Form von Resultaten. „Die lineare Einzelverknüpfung nach Ursache/ Folge beschreibt ein Resultat, nicht die Bewegung.“ 386 Ein Beispiel von unzähligen im Werk Kluges, hier aus Geschichte und Eigensinn: Physikalische Untersuchungen von Wechselwirkungen, Kräfte der Anziehung und der Abstoßung, hinzu treten Überlegungen aus der Chemie, die wiederum neben gesellschaftliche Wechselwirkungen gestellt werden. 387 Solche Vergleiche, die für sich sprechen, von sich und mit sich, setzen einen Erkenntnisgewinn in Gang, weil man den Denkweg mitgehen kann, anstatt ein wissenschaftliches Endergebnis schablonenartig und passiv übernehmen zu müssen. Darüber hinaus ist auf diese Denk- und Lernweise sogar der Memoria- Effekt erheblich zu intensivieren: Worauf ich selbst komme, verstehe ich nicht nur, sondern ich merke es mir so auch besser. Bin ich hinter etwas gestiegen, stehe ich hinter etwas. „Beweglichkeit ist dem Bewußtsein essentiell, keine zufällige Eigenschaft. Sie meint eine gedoppelte Verhaltensweise: die von innen her, den immanenten Prozeß, die eigentlich dialektische; und eine freie, gleichwie aus der Dialektik heraustretende, ungebundene.-[…] Beide Stellungen des Bewußtseins verbinden sich durch Kritik aneinander, nicht durch Kompromiß.“ 388 385 AGS 1 , S. 369 . 386 GE, S. 226 . 387 Vgl.: GE, S. 118 f. 388 AGS 6 , S. 41 f. 2.3 Öffnung und Kooperation 107 „In einer Leistungsgesellschaft gilt die ganze Aufmerksamkeit den Resultaten. Die Resultate erscheinen als das Wirkliche, demgegenüber erscheinen die Prozesse, aus denen das Wirkliche hervorgegangen ist, als geminderte Wirklichkeit, sozusagen Privatsache.“ 389 Für die Hauptthese Kluges und Negts Arbeit kann hingegen nur die Bewegung das Entscheidende ausdrücken, nämlich „daß Arbeit und wirkliches Leben identisch sind.“ Weder Dogma noch Willkür waltet; der Autor tritt in den Hintergrund, aber er ist nicht weniger wichtig. Er ist des Rezipienten Vertrauensperson, er hat die Aufgabe, durch Arrangieren einen Zusammenhang herzustellen, in dem die Teile miteinander kommunizieren, sich kommentieren, sich gleichen, sich differenzieren. Adorno: „Es handelt sich nicht um ein Erklären von Begriffen aus einander, sondern um Konstellation von Ideen, und zwar der Idee von Vergänglichkeit, des Bedeutens und der Idee der Natur und der Idee der Geschichte. Auf diese wird nicht als ‚Invarianten’ rekurriert; sie aufzusuchen ist nicht die Frageintention, sondern sie versammeln sich um die konkrete historische Faktizität, die im Zusammenhang jener Momente in ihrer Einmaligkeit sich erschließt. Wie hängen diese Momente hier miteinander zusammen? “ 390 Wenn Adorno von der „Philosophie der neuen Musik“ erzählt und die Rolle des Komponisten beschreibt, beschreibt er zugleich, vermutlich ohne es zu wissen, die Aufgabe des Autors nach Kluge- - die Freiheit des Autors als Bedingung für die Freiheit des Nichtidentischen: „Was er tut, liegt im unendlich Kleinen. Es erfüllt sich in der Vollstreckung dessen, was seine Musik objektiv von ihm verlangt. Aber zu solchem Gehorsam bedarf der Komponist allen Ungehorsams, aller Selbständigkeit und Spontaneität. So dialektisch ist die Bewegung des musikalischen Materials.“ 391 Gleiches gilt, wenn er direkt von der Arbeit Schönbergs spricht: „Wohl redet Material, doch erst in den Konstellationen, in welche das Kunstwerk es setzt: das Vermögen dazu, nicht die bloße Erfindung einzelner Klänge, hat die Größe Schönbergs vom ersten Tage an ausgemacht.“ 392 Erst im Prozess der Selbstauseinandersetzung kann Verstehen entstehen: „Etwas davon schwingt auch in Hegel mit, dem das Absolute nicht der Oberbegriff seiner Momente, sondern deren Konstellation ist, Prozeß so gut wie ein Resultat.“ 393 Das Konstellative scheint also tatsächlich Grund für Adornos „erkenntnistheoretischen Optimismus“ 394 zu sein: 389 GE, S. 106 . 390 AGS 1 , S. 359 . 391 AGS 12 , S. 42 . 392 AGS 14 , S. 153 f. 393 AGS 1 , S. 462 . 394 Vgl.: Theunissen, Michael: „Negativität bei Adorno“, in Friedeburg, Ludwig von/ Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1983 , S. 52 . 108 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Und wie Rätsellösungen sich bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, während die Frage verschwindet- -, so hat Philosophie ihre Elemente, die sie von den Wissenschaften empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen, oder, um es mit einem minder astrologischen und wissenschaftlich aktuelleren Ausdruck zu sagen: in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet.“ 395 Das Wechselspiel ist nie rein induktiv, schon gar nicht rein deduktiv, sondern involviert beide Elemente ohne Zwang. Statt eines Schließens: Konstellation. Statt Exklusion: Inklusion. Widersprüche werden in den Konstellationen nicht nur offenbar, sondern bleiben es auch, werden nicht verdrängt, nicht harmonisiert. Das Ende der Gewalt des Begriffs: Identifizierendes Denken insofern ja (denn ich will die Sache ja wirklich verstehen, erkennen, ausdrücken) doch von Unterdrückung und Zwang befreit. Somit auch: transparente Repräsentation des Unterdrückten und des Unterdrückens selbst. So stellt die Philosophie der Konstellationen eine Aufforderung an die Realität dar, einen solchen Zustand ohne Unterdrückung der Besonderheiten, der Eigenbewegungen und der Widersprüche zu verwirklichen. 2.3.4 Fürchtet sich Intelligenz aus Verlustängsten ihrer Identität davor, verstanden zu werden? „Philosophie ist nichts Abstraktes“, stellt Kluge klar, „sie geht um mit dem, was für mein Leben relevant ist.“ 396 Damit hat er gewiss recht, zumindest in vielen Fällen. Das Problem aber ist: Sie spricht abstrakt und das grenzt eine gehörige Menge an Menschen aus-- und um die geht es doch letztendlich. „Diejenigen, die umstandslos oder scholastisch verschlüsselt in verba magistri schwören“, schreibt Rüdiger Bubner, die „sind leicht die geheimen Verächter, da sie den Dienst an einer Philosophie durch den Kult um eine Autorität ersetzen.“ 397 Im Gespräch fragte ich Kluge, ob er so etwas wie ein Brückenbauer sei zwischen Stadt und abgehängter Provinz, jemand, der die Philosophie vom Berg herunter zu den Bürgern bringt. Kluge meinte dazu: „Kann sein, kann aber auch nicht sein. Entscheidend ist: Dort war die Philosophie immer schon.“ Hierauf weist er auch an anderen Stellen hin: „Die Erfahrungen kommen von der Basis in die Großstadt und 395 AGS 1 , S. 335 . 396 Vgl.: Laudenbach, Peter: „Wir sind Glückssucher“, im Gespräch mit Alexander Kluge, in Der Tagesspiegel vom 13 . 02 . 2012 . Link: http: / / www.kluge-alexander.de/ aktuelles/ details/ artikel/ wir-sind-glueckssucher.html [Zugriff: 08 . 05 . 2013 ]. 397 Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989 , S. 71 . 2.3 Öffnung und Kooperation 109 nicht aus der Großstadt aufs Land.“ 398 Oder noch grundsätzlicher, wenn er an einen Satz von Sohn-Rethel erinnert: „‚Erst tun die Menschen etwas, dann verstehen sie, was sie tun, und so entsteht Philosophie.’“ 399 Dazu erstens: Für eine Verwirklichung der Philosophie, die die Kritische Theorie seit Anbeginn, ja seit ihren zentralen Vorläufern beschäftigt hat, muss sie also wieder zu sich selbst finden, dorthin, wo sie herkam-- eine Frage der Identität und Selbstverwirklichung, ganz wie Kluges Gleichnis des heimkehrenden, seine Wurzeln (das Baumbett) und sich selbst wiedererkennenden Odysseus’. Und zweitens: Dass man auf diese Richtigkeit so ausdrücklich hinweisen muss, zeigt bereits, wie weit die Philosophie sich entfernt hat in ihrer Außenwahrnehmung. Das Staunen des Menschen, das Fragen nach dem Sinn des Lebens ist der Anbeginn von Philosophie. Und der von Sprache. Dabei trägt nach den Auffassungen von Kluge/ Negt jeder Mensch auch einen Theoretiker in sich, auch wenn er selten das gängige Vokabular dafür aufweisen kann: „Jeder Mensch ist mit einem Anteil seiner Haltung praktisch-sinnlicher Theoretiker.“ 400 Gerade deshalb tragen Kluges und Negts philosophische Schriften jenen Titel: Der unterschätzte Mensch. Intelligenz besitzt jede und jeder. Die allgemeine Intelligenz kritisiert in ihrer Praxistauglichkeit die professionelle, die an ihrem Unvermögen scheitert, mit dem Intelligenzvermögen aller in Kommunikation zu treten und eine „intelligente Öffentlichkeit“ zu bilden, also ein gesellschaftsvereinendes Verhältnis einzugehen, bei dem man voneinander profitieren könnte. 401 Ergänzend sei eine Stelle über Intelligenz aus Geschichte und Eigensinn angeführt, die das Vorausgegangene weiter zuspitzt: Intelligenz, so die Aussage, stand zu allen Zeiten vor der existenziellen „Gefahr, zwischen Klassenverhältnissen und Staat zerrieben zu werden“, weshalb sie „sich dementsprechend besonders akademisch verschanzt“ hat. 402 Sie muss ihre sprachlichen Festungsmauern einreißen, um in eine wechselseitige Versorgung mit der Welt zu treten. Das hat aber gar nichts mit Verkürzung zu tun. Mit Sorgfalt, Varianz und Wiederholung kann Komplexes dargestellt werden, ohne dass es kompliziert, also verbarrikadiert, ja mythisch erscheint: „Wer verlangt, daß alle Verhältnisse einfach und verständlich dargestellt werden sollen, übersieht, daß es nicht in der Macht des Begriffs liegt, objektiv komplizierte Verhältnisse 398 Kluge in: „Der Großstadtförster von New York. Mit Helge Schneider“, in 10 VOR 11 vom 14 . 04 . 2014 . Link: http: / / www.dctp.tv/ #/ filme/ grossstadtfoerster-schneider- 10vor11-14 042 014/ [Zugriff: 08 . 06 . 2014 ]. 399 Sohn-Rethel, zitiert nach: Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 58 . 400 GE, S. 84 . 401 Vgl.: GE, S. 440 u. 442 f. 402 GE, S. 413 . 110 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln einfach und durchsichtig auszudrücken. Je komplizierter die Sachverhalte sind, desto mehr Arbeit und Vorarbeit ist nötig, um sie adäquat auszudrücken. Was deshalb dem Leser als hermetisch verschlossen oder willentlich unverständlich erscheint, ist, sofern wirkliche begriffliche Arbeit am Werk ist, häufig nichts anderes als der eigensinnige Versuch, sich durch sprachliche Mittel einer Sache zu bemächtigen, die sich der Sprache entzieht.“ 403 Kluges Arbeit ist eine, die die Angst vorm konzentrierten Denken und die Angst vorm Nichtverstehen nehmen will. Eine, die Mut zum Hinterfragen geben will. Eine Arbeit, die gegen Elitarismus wie gegen Anti-Intellektualismus gerichtet ist, die wirklich auf Verständigung aus ist: „Es geht uns darum“, bekunden Alexander Kluge und Oskar Negt an recht unplakativer Stelle auf S. 764 von 1024 bzw. von 2272 , wenn man beide Bände des unterschätzten Menschen zusammenrechnet, „das Vorstellungsvermögen dahin zu provozieren, dass nicht der abstraktionsfähige Kopf das einzige Hauptwerkzeug bei den politischen Gestaltungsversuchen bleibt.“ „Politische Produktion“ nämlich bestehe nicht in der abstrakten „Gestalt eines Referats oder eines Buches“, sondern immer noch „aus Handlungen, die Wahrnehmung und Hautnähe, nicht Buchstaben voraussetzen“. 404 Verlässt Wissenschaft, verlässt Philosophie, verlässt Kritische Theorie nicht den Campus (und passt nicht ihre Sprachauswahl an), kommt es zum Ausschluss von „Menschen und einzelnen Eigenschaften, die nicht an die Entschlüsselung von Büchern und grammatischer Rede gewöhnt sind“ 405 - - was wohl die Mehrheit der Bevölkerung sein dürfte. Der Eindruck und schließlich Beweggrund zum Anfertigen dieser Arbeit über Alexander Kluge bestätigt sich hier: Es geht um eine aisthetische Bildungsarbeit zur Mündigkeitsaffizierung der Menschen. 2.3.5 Zwischenfazit: Zum Selbstverständnis einer kritischen Theorie „In Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, dröhnen die Dampfhämmer des Umbaus von Berlin bereits im Kopf von Franz Biberkopf. Die objektive Welt ergreift Besitz im Kern der Subjektivität.“ 406 403 GE, S. 430 , Fußn. 4 . 404 UM, MP, S. 764 . 405 Ebd. 406 UM, MP, S. 993 . An der Stelle der Verweis auf die folgende Fußnote: „Der Prozeß bildet den Untergrund von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften; in der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts wird diese Beobachtung nicht mehr reflektiert. Vermutlich ist der Prozeß von Vorgängen der Balance-Ökonomie verdeckt.“ 2.3 Öffnung und Kooperation 111 Kluge und Negt setzen sich, immer kritisch und immer differenzierend, für das „Bürgerecht“ Marx’ in der Wissenschaftskultur ein, dem dort wie einst Sokrates vorm Volksgericht eben jenes ständig droht, abgesprochen zu werden. 407 Das Autoren-Duo greift die Kapital-Analyse Marx’ auf und vollzieht die von der marxschen Theorie nur angedeutete, dadurch untergegangene Konstitution des Subjekts im Kontext von „Moral“ und „Menschenrechten“ 408 aus lebensnotwendiger Dringlichkeit: „Die Logik des Kapitals wird uns nämlich nicht sagen, wie einer seine Lebendigkeit verwirklicht.“ 409 Gleichwohl realisieren und beachten Kluge und Negt trotz des menschlichen Drangs nach Mündigkeit ebenso das Dilemma des Verwobenseins von Eigeninteresse und Abhängigkeiten in den Kapital- und Gesellschaftszusammenhängen, wie sie wahrnehmen, dass der „Prozeß“ der einstmals glücksversprechenden „Industrialisierung des Bewusstseins“ das Denken entmutigt hat (unerfüllt bleiben: Frieden, Sicherheit, Glückseligkeit). 410 Diese Ergänzung und Rückkopplung der Analyse der objektiven Welt mit einer sorgfältigen Analyse der subjektiven Innenwelten des eigensinnigen Subjekts ist zugleich Wissenschaftskritik: „In der Auseinandersetzung zwischen Lebenswelt und Systemwelt ist jede Theorie absurd, die nicht die abgründig verankerten Prämissen des subjektiven Faktors kennt und durch Zulassung einer Masse von Besonderheiten eine Art gravitative Gegenwirkung zum Allgemeinen berücksichtigt.“ 411 Dieser „subjektive Faktor“ ist insbesondere gekennzeichnet durch die „Ungleichzeitigkeit“ der Reaktion auf bzw. Verarbeitung von einschneidenden Erfahrungen (Ängste, Kriege, Krisen) sowie die ausgleichende innere Arbeitsleistung der „Balance-Ökonomie“ in der „Beziehungsarbeit“ („Verarbeitung von äußerem Unglück“ durch Privatsphäre). 412 Die Befriedigung des individuellen Glücksanspruchs bedarf anderer gesellschaftlicher Verhältnisse, für deren Entwicklung der Mensch aber eigentlich außerhalb seiner gesellschaftlichen Rolle treten können müsste. Im Sinne von Kluges Filmfigur Roswitha Bronski in Gelegenheitsarbeit einer Sklavin heißt der Hilferuf: Gib mir einen Platz außerhalb der Familie und außerhalb existenzieller Zwangsverhältnisse ökonomischer Selbsterhaltung und ich kann die Welt verändern. Soziale Ungerechtigkeiten und Pathologien prägen den Ist-Zustand. In welchen Gesellschafts- und Lebensentwürfen wollen und können Menschen frei und friedlich zusammenleben? 407 Vgl.: UM, MP, S. 911 - 930 . 408 Vgl.: UM, MP, S. 925 u. 929 . 409 Ebd., S. 1022 . 410 Ebd., S. 994 . 411 Ebd., S. 990 . 412 Vgl.: ebd. 112 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Die sich ausdrücklich zur Frankfurter Schule bekennenden 413 Alexander Kluge und Oskar Negt geben eine Wesensbeschreibung der Kritischen Theorie wieder: „Die kritische Theorie verbindet die starke Vernetzung und Interdependenz ihrer kritischen Projekte mit einem Höchstmaß organisierter Unabhängigkeit. Sie gehorcht weder einer Partei oder einer gesellschaftlichen Formation, noch ist sie im nationalen Kontext zu verstehen. Sie verknüpft Psychoanalyse mit Sozialforschung, mit Philosophie, mit Geschichtsschreibung, mit politischer Analyse und-- verstärkt bei Jürgen Habermas-- mit der Rekonstruktion und Verknüpfung großer theoretischer Zusammenhänge.“ 414 Die Befreiung der Vernunft aus der Einsamkeit des klassischen Philosophenkopfs wie aus der Indienstnahme der Ökonomie, hin zu einem kommunikativ-vernetzten, diversitär-kollektiven Denken und einer anti-elitaristischen Öffnung der Intelligenzarbeit „nach unten“; Reanimation des aktiven Subjekts und seine selbstbewusste Aktivität gegenüber einer „zu bearbeitenden“ Objektwelt. 415 Eingedenk des von Kluge und Negt eingeforderten Bewusstseins eines Lebens mit der Natur statt dem verirrten Glauben, sie domestizieren zu müssen, ist hier die „tote Arbeit“ gemeint. Die Arbeit Alexander Kluges wie die Oscar Negts setzt an dem Ursprungspunkt der Französischen Revolution an und überträgt deren aufklärerischen Gedanken erstens mit Kants Kopplung an den Begriff der Mündigkeit 416 und zweitens mit dem Erfahrungsgewinn von 200 Jahren auf die Machtverhältnisse der Gegenwart: „‚Écrasez l’infâme! ’ Entmystifizierung, Rückführung der Wirklichkeit auf ihre Bestandteile, das ist das Programm der Aufklärung. Heute nimmt anstelle der Religion die Realität diesen Vorsitz wahr.“ 417 Die Undurchsichtigkeit und unbegreifliche Bedrohlichkeit einer längst abstrakt gewordenen Realität entspreche nämlich einer „quasireligiösen Gewalt“ 418 (mehr dazu in Kapitel 2 . 6 . 3 , „Der Antirealismus des Gefühls“). Diese Mystifizierung des unwirklich wirkenden Wirklichen versuchen Kluge und Negt zu durchbrechen, indem sie Zusammenhänge veranschaulichen und das gemeinschaftlich denkende Subjekt anregen, sich mit einem Arsenal menschheitsgeschichtlicher Erfahrung zu bewaffnen. Das Problem mit der Vernunft, der puren, und das teilt die Kritische Theorie mit Marx sehr, ist, dass aus „ihrer“ Perspektive das Ich zum Ding degradiert wird. Das Bewusstsein, ob nun „das meine“ oder „das nationale“, ist deshalb nur ein Surrogat, ein Vertreter des Eigentlichen, das das Eigentliche niemals getreu oder gänzlich re- 413 U.a. hier: UM, MP, S. 991 . 414 Ebd., S. 992 . 415 Vgl.: Ebd., S. 993 f. 416 Vgl. u. a.: Ebd., S. 730 . 417 Ebd., S. 694 . 418 Ebd. 2.3 Öffnung und Kooperation 113 präsentieren kann: 419 „Die Verirrung der Philosophie ruht darauf “, wird Nietzsche von Kluge/ Negt zitiert, „‚daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also, ‚prinzipiell’ zu einer nützlichen Fälschung), in ihnen das Kriterium der Wahrheit, resp. der Realität zu haben glaubt. Das ‚Kriterium der Wahrheit’ war in der Tat bloß die biologische Nützlichkeit eines solchen Systems prinzipieller Fälschung.’“ 420 Ein Staat, ob nun ein politischer oder religiöser, bedient sich der menschlichen Grundbedürfnisse nach Sinn und Identität, obwohl diese älter sind als er selbst und verwurzelter als jeder Patriotismus stilisiert und jede seiner Institutionen für sich beansprucht: „Staaten haben jeweils nur einzelne Partialzüge aus der Geschichtsbewegung ausgeliehen.“ 421 -- So entstehen „kollektive Loyalitäten“ 422 . „Die Souveränität der selbstbewußten Vernunft entsteht von unten nach oben aus der Zustimmung aller Vernünftigen. Sie kennt keine obrigkeitliche Direktive.“ 423 Die sozialpsychologischen Studien Erich Fromms belegen, dass der Mensch, um sein existenzielles Identitätsbedürfnis zu befriedigen, dazu tendiert, auf soziale Repression paradoxerweise mit konformistischer Rebellion zu reagieren, also mit Identifikation und Autoritätshörigkeit, was Fromm zufolge wiederum nur zu einer Konflikt-Verlagerung und -Verdrängung ins Innere führt. 424 Bei Kluge finden sich damit eng verwandte Thesen in textlicher Form von sowohl Theorie als auch Narration wieder-- ob als Allegorie wie „Eulenspiegel in der Pferdehaut“, als narrativ wiedergegebene biologische und neurowissenschaftliche Studien, in Form von Geschichten über „Haut“, „Haus“ usw. oder als theoretischer Entwurf in akademischer Sprache der Kritischen Theorie. 425 419 Vgl.: GE, S. 382 , Fußn. 2 . 420 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München (Hanser) 1954 , Bd. 3 , 233 , S. 721 . Die Stelle wird ohne Verweis und ungenau zitiert in GE, S. 382 f. Hervorh. gem. Orig. bei Nietzsche. 421 GE, S. 402 . 422 GE, S. 403 . 423 GE, S. 401 . 424 Vgl.: Fromm, Erich: „Sozialpsychologischer Teil“, in ders. (u. a.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris (Alcan) 1936 , S. 77 - 135 . 425 Kluge vergleicht psychoanalytisch die Wirklichkeit mit einem Haus. Stürzt es ein, muss sich der Mensch ein neues bauen. Eine Realität kann in eine andere stürzen, also in den Wahnsinn führen oder in Ideologie. Aus der Wunde in der Seele fließt der Sinn in Abflüsse. In Kluges Interpretation der Allegorie von „Eulenspiegel in der Pferdehaut“ wird die Realität mit einer Anti-Realität unterwandert, um den Zwängen ersterer zu entfliehen. Vgl.: Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 110 f. 114 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Kluge betont oft, wie gefährlich das Subjektive anwachsen kann, wenn es das Objektive nicht gut mit ihm meint, es unterdrückt und demütigt. Wenn also die Gefühle nicht beachtet werden. Mit zunehmender Unterdrückung entladen sie sich in Formen der Gewalt. Ob explosiv, ob implosiv, tun sich menschliche Abgründe auf (Ideologie, Fanatismus, Terror, Amok, Krebs, Depression). Eine neue Kritische Theorie muss diesen gefährlichen Anfängen auflauern, sie aufdecken und ihnen erzählerisch entgegenwirken. D.h. breite Bildungsarbeit leisten. Deshalb muss Wissenschaftlichkeit andere, wärmere Kommunikationszugänge zu den Menschen finden. Nicht durch wissenschaftliche Vorträge und Sammelbände über sie, die die Betroffenen nicht hören, nicht lesen, nicht verstehen.-- „Je kälter die gesellschaftlichen Verhältnisse“ sind, desto „weniger will ich sie mit dem Blick kalter Kenntnisse anblicken“, schlussfolgern Kluge und Negt. 426 -- Sondern durch den Dialog mit ihnen. Und da der, praktisch gesehen, natürlich nicht jedes Mal direkt zu führen ist (Kluge kann ja schlecht mit Oskar Negt & Co. als platonische Propheten durch die Welt ziehen, an den Türen klopfen und die Nazis umdrehen), wird dieser Dialog durch den erzählenden wie fragmentarischen Text und Film abgehalten, die rezeptionsästhetisch betrachtet eine „Appellstruktur“ 427 besitzen. Also Platz für Gedanken, Phantasien, Eigensinn des Rezipienten (hierzu u. a. das Kapitel 2 . 5 . 6 . 3 , „Rezeptionsästhetische Notiz“). Und das geschieht, wenn man sich die Interviewfilme anschaut, auf eine ausgesprochen unprätentiöse und respektvolle Weise. Erstens nämlich begegnet er dem Gegenüber auf Augenhöhe und mit Neugier, die Ich-Schranke ist gesenkt, persönliche Eitelkeiten finden nicht statt. Und zweitens erleben wir in der Darstellung weder Akademisch-Erhabenes noch Poppig-Verkürztes-- und zwar aus einer respektvollen Haltung heraus gegenüber dem Rezipienten: Ihm wird etwas zugetraut. Er sagt es ja selbst, dass es ihm auf Vermittlung ankommt: Wir brauchen eine „neue Kritische Theorie“, eine „neue Enzyklopädie“- - „und die muss erzählen können, die darf nicht Reden halten, die darf nicht diskursive Texte [halten], die braucht nicht den Philosophen von oben, der vom Katheder her ‚was andern erklärt“ oder eben gerade nicht erklärt. Der Mensch brauche stattdessen eine „Autonomie der Geselligkeit-- und das heißt Erzählen, wie an der Theke“. 428 426 GE, S. 154 . 427 Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur des Textes. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanzer Universitätsreihe, Bd. 28 . Konstanz (Universitätsverlag Konstanz) 1970 . 428 Ammer, Andreas/ Kluge, Alexander/ Console: Eigentum am Lebenslauf. Das Gesamte im Werk des Alexander Kluge. Produktion: Bayerischer Rundfunk. Intermedium Records 2007 , Track 9 . 2.3 Öffnung und Kooperation 115 Hieran kann man sehr gut sehen, dass das Werk Kluges nicht nur der Vermittlung von Kritischer Theorie dient, sondern auch entscheidend zum nicht immer einfachen Selbstverständnis dieser beiträgt: „Kritik, d. h. Unterscheidungsvermögen, muß auf diese reale Praxis der menschlichen Intelligenztätigkeit antworten und sich deshalb in dieser Praxis selbst verankern. Sie steht dem gesellschaftlichen Prozeß nicht gegenüber. Sie kann sich deshalb nicht nur, wie im 18. Jahrhundert, schriftlich äußern oder auf eine diskutierende Öffentlichkeit vertrauen, deren Prozesse nur sehr langsam sich verbreiten, sondern sie muß selber praktische Instrumente formen, die in Form von Gegenproduktion in die Praxis einwirken.“ 429 In gewisser Weise als Selbstreflexivum durch die freie, ungezwungene, gerade nicht-akademische Distanz eines Ästhetischen, das über mehr Darstellungswerkzeuge verfügt als nur über Begriffskataloge. Und das heißt auch über Komik, Trash, Unsinn, einen Alfred Edel, Helge Schneider oder Peter Berling, wodurch bzw. durch die sich Kluge trotz aller Ernsthaftigkeit in der Sache immer eine gewisse authentische Leichtigkeit behält, die einen sowohl vor Verkrampfung im Denken wie vor Pessimismus und Resignation bewahren. „Fröhliche Wissenschaft“, wenn man so will. Das Zwerchfell erreiche schließlich „hohe kollektive Verständigungsstufen“ 430 , besitzt also Konsensfähigkeit über alle Sprachbarrieren hinweg, wodurch das Komische dem „bewußten Reden“ voraus ist, ja gar „kritische Fähigkeiten“ 431 offenbart: „Eine Sehnsucht, die sich als Albernheit kostümiert; ein energischer Wunsch, der als Understatement figuriert. Weil einer etwas was ihm wichtig ist, nicht verraten will tarnt er es.“ 432 Es zeugt von Feingeistigkeit, Kritik indirekt und mit Unterhaltungswert auszudrücken. Kluge weist aber noch auf ihre widerstandsfähige Struktur hin: Herrschaftssysteme produzieren in ihrer Ernsthaftigkeit beim Versuch des totalen systemischen Selbsterhalts, in dem eigens auferlegten Zwang der Importance of Being Earnest, unfreiwillig Komik, die sie imstande ist, zu stürzen. 433 Gefühle, Komik, Assoziation, Erinnerung, Lachen, Weinen usw. haben eines gemeinsam: Sie verhalten sich anti-autoritär. 434 Eingehender hierzu das Kapitel 2 . 5 . 4 . 1 („Fröhliche Wissenschaft“). Die Kritik der Frankfurter Schule am Positivismus ist im Wortsinn substanzieller Natur, da dieser sich, statt mit dem Wesenhaften der Dinge auseinanderzusetzen, mit der Phänomenologie der Dinge begnügt. 435 Gewissermaßen stecke 429 UM, MP, S. 995 sowie die dortige Fußn. 17 , die u. a. auf UM, GE, S. 450 ff. verweist. 430 GE, S. 383 . 431 GE, S. 384 . 432 GE, S. 381 . 433 Vgl.: GE, S. 400 . 434 Und eben aufgrund ihrer „Nicht-Emanzipation“ sind sie „Gegenstand der Bearbeitung“. Vgl.: GE, S. 476 . 435 Hierzu u. a.: Horkheimer, Max: „Materialismus und Metaphysik“, in ders.: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 65 - 94 . 116 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln hinter dem seriösen Begriff der „Objektivität“ eher „Oberflächlichkeit“, der weder zum Wesen noch zu den Wesenszusammenhängen vorzudringen vermag. 436 Durch ihre Rationalisierungsmethodik bleibt der positivistische Theoretiker entsprechend fern von den realen Lebensverhältnissen und Problemen der Menschen. Geradezu wettert deshalb Adorno gegen den subjektlosen Erfahrungsgehalt des Positivismus. Genormten Modellen stellt die Kritische Theorie die Dialektik entgegen, der Isolierung den Gesamtzusammenhang und mit diesem die Relation von Subjekt und Objekt. Hegels positivistische Theorie einer universalen Heilsgeschichte ist für Adorno mit Auschwitz widerlegt, ebenso lehnt er dessen Identitätsprinzip als Herrschaftsprinzip ab, da es die Vielheit zu einer Einheit assimiliert. 437 Hegels Kategorien „Identität“ sowie „Synthese“ weist Adorno zurück und markiert „Nichtidentität“ sowie „Widerspruch“ als die für ihn zentralen dialektischen Kategorien. 438 „Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der geurteilten Convenus darüber sich entschlägt und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken-- also das Objektive. Wie windig der formale Einwand subjektiver Relativität ist, stellt sich auf dessen eigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischen Urteile.“ 439 Der traditionellen Theorie wird insbesondere vorgeworfen, durch ihre isolierende Betrachtung und fehlende Selbstreflexion Ideologie zu sein. Die Vorherrschaft von Versachlichung und Methodisierung hat die Vernachlässigung von Substanziellem zur Folge und verliert so den Kontakt zum konkreten Menschen. Da die Kritikform der Frankfurter „die Menschen als Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand“ 440 hat, wird das Subjekt in eine aktive Rolle gesetzt. Aus dieser Sicht wird die Macht des Einzelnen wie auch seine Stellung in der Geschichte aufgewertet, was aber gleichzeitig bedeutet, dass er mit mehr Verantwortung bedacht wird-- der geschätzte Mensch. Was hat das mit „mir“ zu tun? Der von Kluge geprägte Begriff des „Eigensinns“ antwortet hierauf und verweist auf den menschlichen „Wunsch nach Persona- 436 AGS 8 , S. 198 u. 208 f. 437 Vgl. (u. a.): Adorno, Theodor W.: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/ 66. Frankfurt a. M. 2003 , S. 35 . Sowie ders.: Metaphysik: Begriff und Problem. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2006 , S. 21 . 438 Adorno, Theodor W.: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/ 66. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 , S. 15 - 17 . 439 AGS 4 , S. 76 . 440 Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 57 . 2.3 Öffnung und Kooperation 117 lisierung“ 441 und Vereinfachung beim Verstehensprozess der als kompliziert erscheinenden wirklichen Verhältnisse. Dieser Grundtrieb nach Erkenntnis, der älter ist als jede Universität, ist von emanzipatorischer Natur, befriedigt sich aber meist an Oberflächlichkeiten, Verkürzungen, Vereinfachungen, da er mit dem ebenso menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit bzw. menschlichen Eigenschaften wie Gemütlichkeit oder Faulheit kollidiert. 442 Die ermutigende Botschaft wie auch der eigene künstlerische Anspruch sind mündigkeitsappellierend: komplex ja, kompliziert nein. Die Dinge mögen komplex sein, aber das bedeutet weder, dass sie deshalb kompliziert sind und noch weniger, dass sie kompliziert dargestellt werden müssen. Nicht Verkürzung, nicht Pop und Plattitüde sind die Antwort, sondern Anschaulichkeit. Als ob es die Menschen nicht nach mehr dürsten würde. Es ist ja so, dass das überwältigende Ausmaß an Mittelmäßigkeit und Unterforderung nicht nur die kolossalen Potenziale der Menschen lähmt, sondern, weitaus schlimmer, es erweckt den Anschein als gäbe es nicht mehr als das, als gäbe es nicht andere Möglichkeiten der Existenz, als ob alles so sein müsste wie es ist. Dies alles mag an der analytischen Philosophie, die gekennzeichnet ist durch strenge Systematik und Arbeitsteilung sowie durch Absage an Kulturabhängigkeit und historische Gewordenheit als Idealismus, „Utopie“ oder schlicht „Literatur“ abprallen. Indes beschränken sich die Erwartungen an deren Interesse an ein Andieweltgekoppeltsein auf ein Minimum. Sie ist ja grundlegend auf rationales Verstehen des Bestehenden aus, das keine Kritik, keine Ethik und keine gesellschaftliche oder politische Rückkopplung kennt. Kurzum: Sie hält sich da raus. Mit dem konstellativen Verfahren wird nun jedoch auch deren Analysefähigkeit angezweifelt. Nicht zuletzt deshalb, weil eine logisch-deduktive Argumentation natürlich immer auf Sprache angewiesen ist, deren Begriffe trotz allem formalen Abarbeitens und aller definitorischer Bemühung letzten Endes nicht ohne Metaphorik in der Beschreibung auskommen. Eine Erkenntnis von Elementarem in der Welt zu gewinnen ist höchst selten, höchstens in den Naturwissenschaften und auch da erfahrungsgemäß revidierend. Die wirklichen Verhältnisse in und zwischen Gesellschaften, in der Politik, in der globalisierten Wirtschaft usf., auch die Gefühle von Menschen, kommen niemals isoliert, nicht an sich vor, sondern stehen immer im Austausch mit etwas Anderem, stehen in bestimmten Kontexten, erscheinen perspektivisch verschieden: „Im realen Zusammenhang [erscheint] nicht[s] elementar, sondern in komplexen Mischungen“. 443 441 UM, ÖE, S. 387 . 442 Vgl.: UM, ÖE, S. 386 f. 443 UM, ÖE, S. 402 . 118 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Als Zwischenfazit bleibt zu sagen, dass eine eingleisige, monowissenschaftliche oder auch monomethodische Bestandsaufnahme ohne Rückkopplungsbemühungen ob der kalten Isolierung wohl nicht einmal als wissenschaftliche Übung sinnvoll erscheint-- le science pour le science: „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.“ 444 Oder: „Wenn Wissenschaft Wissenschaft wird, ist nichts mehr dran.“ Dem gegenüber: Statt einer l’art pour l’art, einer Kunst, die sich selbst genügt, drängt der klugesche Poetikbegriff auf Sinn- und Glückssuche in der Realität. 445 2.4 Identität und Öffentlichkeit 2.4.1 Arbeit am Projekt einer authentischen Öffentlichkeit Kluge arbeitet sowohl auf rechtlicher wie auf künstlerischer Ebene seit über einem halben Jahrhundert an der Aufhebung jener Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Das theoretische Manifest für eine Dialektik der Öffentlichkeiten stellt das Kluge-Negt-Gesamtwerk Der unterschätzte Mensch dar, das bereits mit Geschichte und Eigensinn eine neue Kritische Theorie der Öffentlichkeit formuliert hat, bevor das Autorenduo dieser mit Öffentlichkeit und Erfahrung noch einmal Nachdruck verleihen sollte. Darin geht es ihnen zentral um die Wechselbeziehungen zwischen einer bürgerlichen Form und einer proletarischen Form von Öffentlichkeit. 446 Gegeneinandergestellt sind hier ein materialistischer Öffentlichkeitsbegriff und einer, der dem Produktionsprozess entstammt. Den „Fetischcharakter“ 447 jenes proletarischen Öffentlichkeitsbegriffs zu reflektieren, ist dabei Aufgabe des bürgerlichen. Öffentlichkeit ist für Kluge und Negt die einzige ihnen bekannte „Produktionsform von selbstbewußter gesellschaftlicher Erfahrung“. 448 Von „Öffentlichkeit“ besitzen sie ein desillusioniertes Wirklichkeitsbild, das nicht übersieht, dass in einer Öffentlichkeit zunächst einmal mannigfaltige und entsprechend auch gegensätzliche, mitunter unvereinbare Interessen und Meinungen koexistieren und nicht etwa alles friedensromantisch miteinander „plaudert“. 449 Dieses Bewusstsein der Diver- 444 AGS 4 , S. 281 . 445 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Handwerkszeug für Text und Film. Die Poetik selbst“ ( 2 . Vorlesung, 12 . 06 . 2012 ). 446 Vgl.: GE, S. 7 sowie UM, ÖE, S. 335 (Vorrede). 447 UM, ÖE, Bd. 1 , S. 336 . 448 Ebd., S. 333 . 449 Vgl.: UM, Bd. 1 , S. 8 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 119 sität ist dem der oberflächlichen Gleichmachung überlegen und springt notwendig der kantische Idee einer reflektierenden Urteilskraft zur Seite. 2.4.1.1 Formen von Öffentlichkeit Kluge knüpft seine konkrete Hoffnung auf eine glückliche Identität der Gesellschaft nicht etwa an den Markt oder den Nationalstaat, sondern an ein aus vernetzten Inseln bestehendes Netzwerk. Charakteristisch für Ersteres ist, dass Akkumulation von Verhaltensmustern zur Massenproduktion und -konsumption unternommen wird, der Mensch als Mittel benutzt und als Ware gehandelt wird sowie Pseudo-Identitätsstiftung durch eine Permanenz der Erneuerung in Form von Mode, Trends und Hypes betrieben wird. Zweites ist als Mythos zu identifizieren, liegt der nationalen Identität doch die Schicksalhaftigkeit des Wo-Geborenseins zugrunde. Die Deduktion vom Nationalkollektiv auf eine Subjektidentität sucht erst gar nicht nach individueller Wesenhaftigkeit. Dabei wird mal eben die Evolutionsbiologie ebenso ignoriert wie die menschliche Ur- und Frühgeschichte. Drittes begreift Subjekt und Gesellschaft als genuin-reziprok. Die sogenannte „Gegenöffentlichkeit“ der, um mit Habermas zu sprechen, nicht-vermachteten Zivilgesellschaft steht der staatlich-verwalteten Öffentlichkeit gegenüber (was Überschneidungen jedoch nicht ausschließt). Öffentlichkeiten-- politische Foren von Gesellschaftsmitgliedern-- werden durch ein soziales Band zusammengehalten, für welches Prozesse sinnlicher Vermittlung elementar sind. Hiermit ergibt sich eine hybride Wesenhaftigkeit von Öffentlichkeit als zugleich politisch und ästhetisch. Geselligkeitsformen sind gekennzeichnet von Kreativität und Spiel, Kunst und Kultur. Ästhetik und Politik kommen heute in den radikal-humanistischen (wohlgemerkt pazifistischen) Aktionen des Zentrums für politische Schönheit in zumindest für den deutschen Sprachraum bislang nicht dagewesener Vollkommenheit zusammen. „Öffentlichkeit“ wird von Kluge und Negt in ihrem emanzipierenden Potenzial begriffen und ergründet. Entsprechend fassen sie diese als jenen „gesellschaftlichen Betrieb, in dem das Selbstbewußtsein und damit die Autonomieerfahrumg von Menschen produziert werden kann.“ 450 Es werden drei an Kant angelehnte Grundfragen verhandelt: „Woher beziehen Menschen ihr Selbstbewußtsein? Was veranlaßt Menschen, ihren Erfahrungen zu vertrauen? Wie produziert sich Autonomie? “ 451 Zur Erinnerung Kants Vorlage, die in die Frage nach dem Wesen des Menschen mündet („Was ist der Mensch? “): „Was kann ich (nicht) wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? “ Die erste Grundfrage der Philosophie behandelt die Erkenntnisfrage, die zweite befasst sich mit dem menschlichen Handeln und die 450 UM, Bd. 1 , S. 16 . 451 Ebd., S. 15 . 120 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln dritte stellt die Frage nach dem Glauben. Kluge würde vermutlich letztere modulieren zu zwei Fragen, eine nach dem Vertrauen und eine nach dem Möglichen. Die vorletzte würde er vom Duktus her sicher entmoralisieren zu einem „kann“. An anderen Stellen im Werk tauchen kantische Kluge-Fragen folgendermaßen auf: „‚Wie kann ich mich schützen? Was muß ich fürchten? Was hält freiwillige Taten zusammen? Worauf kann ich vertrauen? ’“ 452 - - „‚Nicht sich von der Macht der anderen und auch nicht von der eigenen Ohnmacht dumm machen lassen’“, lautet das in Der unterschätzte Mensch mit Nachdruck wiederholte Credo aus Adornos Minima Moralia. 453 Beim Entfalten Kluges und Negts Öffentlichkeitsbegriff kommt es zunächst darauf an, sich die Bezeichnungen „lebendige“ bzw. „tote Arbeit“ in Erinnerung zu rufen. Sie bedingen einander wechselseitig: Die lebendige arbeitet sich an der toten ab, die selbst lebendige war. Werdendes trifft auf Gewordenes. Alles, was uns weder als solche noch als Natur gegenübertritt, sondern als durch Arbeit Hergestelltes (ein Gebäude, eine Institution, ein Smartphone, eine Software), bezeichnet man als „tote Arbeit“. Umgekehrt existiert „lebendige Arbeit“ immer nur als ein Werdendes, also im Prozess der Produktion, kurz: die menschliche Produktivkraft. Im Kapitalismus, begründet in dem Dreieck Gewinnmaximierung-- Effizienzlogik-- technischer Fortschritt, ist eine stete Zunahme von toter im Vergleich zu lebendiger Arbeit zu beobachten. 454 Mit diesen Kurzdefinitionen im Hinterkopf gilt es, die zwischen Ohnmacht, Resignation und Gleichgültigkeit oszillierenden Klagen des gemeinen Menschen zu vergegenwärtigen, die einem begegnen und die man selbst auch reproduziert. Sprachlich drückt sich das etwa aus in Formulierungen wie „Das ist eben so“, „Das war schon immer so“, „Da könnte ja jeder kommen“, „Man kann eh nichts ändern“, „Das entscheiden am Ende sowieso nicht wir, sondern die da oben“ usw. usf. Hier ist also ein Machtverhältnis zwischen beiden Typen zu beobachten. Der Schritt zur individuellen Emanzipation wird angetreten, wenn, noch hinausgehend über erstens: die Erkenntnis des Warencharakters der eigenen Arbeitskraft und zweitens: die Fremdheitserfahrung gegenüber toter Arbeit, das Konfliktverhältnis 452 So u. a. hier: Alexander Kluge in: Rack, Jochen: „Erzählen ist die Darstellung von Differenzen“, in Neue Rundschau, Heft 1 / 2001 . Link: http: / / www.kluge-alexander.de/ filmemacher/ sonstige-dvds/ details/ artikel/ erzaehlen-ist-die-darstellung-von-differenzen.html [Zugriff: 16 . 07 . 2014 ]. Hervorh. gem. Orig. 453 UM, Bd. 1 , S. 16 . Bei Adorno im Wortlaut: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1994 , S. 67 . 454 Weiterführend: Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 1 , 12 (Kapitel „Teilung der Arbeit und Manufaktur“). 2.4 Identität und Öffentlichkeit 121 zwischen der „Ware Arbeitskraft“ und der lebendigen Arbeit reflektiert wird. 455 „Nicht der Mensch schuf die Institutionen, sondern bestimmte Menschen in bestimmter Konstellation mit der Natur und miteinander“, heißt es in der Negativen Dialektik. 456 Es geht Kluge und Negt gewiss nicht um eine abstrakte Erweiterung des proletarischen Erfahrungsraums im Sinne Lukács’ holistischer „Geschichtskonstruktion“ („historische Mission“), sondern um konkrete private Selbsterfahrung, also eine „nach unten“ gerichtete Erfahrungserweiterung „zu den Voraussetzungen seines Bewusstseins, seiner Sozialisation, Erziehung, Triebökonomie, Lebensweise usw.“ 457 Alexander Kluge rüstet den von der Übermacht toter Arbeit eingeschüchterten Menschen aus durch die lebendige Verbindung mit der Vorgeschichte und dem historischen Erfahrungsschatz der Toten, zu dem wir Zugang haben durch die überlieferten Schriften, Bilder, Filme, Töne-- den Narrationen. Durch die Verlängerung des Gedächtnisses, die Ausdehnung der erfahrbaren Lebenszeit und das Bewusstsein, nicht allein zu sein, wird eine emanzipativ-affektierende Wirkung erzielt. Es gilt, jenes Machtverhältnis zwischen lebendiger und toter Arbeit umzukehren, indem letztere, enteignete wieder angeeignet wird. 458 Mit der klugeschen Textform der Lebensläufe wird tote Arbeit aufgeweckt und werden Produktionsverhältnisse freigelegt, was deren Prägung privater und gesellschaftlicher Arbeitsverhältnisse einschließt. 459 Dem Leser wird vor Augen geführt, dass in allem „ganze Generationsverbände“ von menschlicher Arbeit stecken: „Erfahren wird das Verhältnis von lebendiger zu der bereits Produkt gewordenen Arbeit in Lebensläufen.“ 460 Parallel dazu verstehen Kluge und Negt unter der ersehnten „proletarischen Öffentlichkeit“ die „Veröffentlichung der Produktionsprozesse der toten Arbeit im Verhältnis zur lebendigen.“ 461 Jener kollektive Erfahrungsschatz ist durchaus beim Wort zu nehmen: Es geht tatsächlich um Werte, die zwischen Menschen ausgetauscht werden, die bereichern. Reicher werden durch Partizipation und Kooperation. Mit Geld kann ich mir einen Bunker bauen. Mit kollektiver Erfahrung kann ich verhindern, dass ein Atomkrieg 455 Vgl.: UM, ÖE, S. 622 f. 456 AGS 6 , S. 454 . 457 UM, ÖE, S. 624 . 458 Vgl.: UM, MP, S. 714 ., 729 f. 459 „Im kleinen Gemeinwesen eines Körpers sind die Bürgerkriegsparteien der Vorfahren friedlich vereint.“ Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Rumoren der verschluckten Welt. Die Lebensläufe und das Wirkliche“ ( 1 . Vorlesung, 05 . 06 . 2012 ). Diese Multidimensionalität vor Augen, ist insofern der klugesche Lebenslauf mehr als nur metaphorische Repräsentanz und keinesfalls bloß als irgendeine Textform anzusehen, sondern transportiert in der Form bereits sein Innerstes. 460 GE, S. 98 . 461 GE, S. 102 . 122 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln überhaupt erst ausbricht. Was nachhaltig schützt, was wirklich Sicherheit bringt, liegt auf der Hand: Der Konservenvorrat im einsamen Bunker ist begrenzt. Wir haben es beim Modell des öffentlichen Erfahrungsaustausches mit einer Verkehrsform einer zweifellos würdigeren Evolutionsstufe von Gesellschaft als der existierenden zu tun. 462 Das mag auf den ersten Blick lächerlich oder kitschig wirken, selbstverständlich geht es aber nicht um ein reales Ersetzen der Währung „Geld“ mit „Erfahrung“, sondern zum einen um ein wirklich vernünftiges Abstraktionsvermögen (siehe Kapitel 2 . 1 . 4 ) und zum anderen um ein Innehalten in Form selbstkritischer Grundsatzbefragung menschlichen Zusammenlebens. Schließlich findet das menschliche Bedürfnis nach Austausch nur kurzzeitige, surrogative Befriedigung in Form des Warenaustausches. Bislang hat sich dieser eher nicht als menschliche Erfüllung erwiesen. In einem seiner jüngsten Interview-Filme reist Kluge gemeinsam mit Lorraine Daston, der Direktorin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, durch eben diese. Ausgehend von der großen Gründungszeit der Universitäten im 12 . Jahrhundert bis hin zur heutigen Entwicklung und den Fragen der nahen Zukunft, kommen die beiden auch auf den wahren Gehalt bzw. den Warengehalt von Wissen zu sprechen. So weist die Wissenschaftshistorikern darauf hin, dass Archive, Aufbewahrungsstätten von Materialien des Wissens, im 16 ./ 17 . Jahrhundert auch als „Warenhäuser“ bezeichnet wurden. Im Gegensatz zu den heutigen „Malls“ aber stand der Begriff zu Beginn der Neuzeit für eine nachhaltige Vorratssammlung „für zukünftige Zeiten“ im Sinne des Gedankens: „Wer weiß, wann wir dieses Wissen oder diese Objekte brauchen werden.“ 463 Der allgegenwärtige akute Mangel an Zeit ist gewalttätig: „Die Jetztzeit ist rücksichtslos, die Geschichtszeit ebenfalls. Es sind sog. Inkubationszeiten notwendig, in denen, entlastet vom Moment, Vermittlungen auf Vorrat angelegt werden.“ 464 Durch die Narration nähert Kluge die Geschwindigkeiten der Zeitebenen aneinander an, wie in „Zeitschleusen“ führt er objektive und subjektive Verhältnisse zueinander. 465 Exakt hier deutet sich folgender Punkt an: Um Kriege zu inhibieren, und das ist letztlich der klugesche Impetus, müssen die Perspektiven privater sowie proletarischer Öffentlichkeit, persönliche Erfahrungssplitter also, in die als ‚von oben’ gemacht empfundene, bürgerliche Öffentlichkeit dringen: „An den vorherrschenden Interpretationen des Begriffs Öffentlichkeit fällt auf, daß Öffentlichkeit eine Vielzahl von Erscheinungen zusammenzufassen sucht, die zwei wich- 462 Vgl.: UM, MP, S. 788 - 791 . 463 Vgl.: Kluge, Alexander: „Vom Wunderglauben zur exakten Beobachtung. Prof. Dr. Lorraine Daston über Wissenschaft und Bildung von 1150 bis heute“, in 10 VOR 11 vom 25 . 03 . 2013 . 464 GE, S. 212 . 465 Ebd. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 123 tigsten Lebensbereiche aber ausgrenzt: den gesamten industriellen Apparat des Betriebes und die Sozialisation in der Familie. Nach diesen Auffassungen bezieht Öffentlichkeit ihre Substanz aus einem Zwischenbereich, der keinen besonderen gesellschaftlichen Lebenszusammenhang in spezifischer Weise ausdrückt, obwohl dieser Öffentlichkeit die Funktion zugesprochen wird, das Ganze der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge zu repräsentieren.“ 466 Erst durch persönliche Teilgabe können sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger als Teil der Gesellschaft empfinden, sich widerspiegeln, erst dann können sie persönlich teilnehmen, und so echt-demokratisch mitgestalten. Für Adorno ist die „Herstellung eines richtigen Bewußtseins“, 467 also Mündigkeit, verstanden als „die selbständige bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen“, die basale Voraussetzung für einen demokratischen Staat. So formuliert er die politische und ebenso kulturanthropologische Grundthese, dass „eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll“, „mündige Menschen“ verlangt. Diesen urmenschlichen Bildungsdrang, die Neugier aufs Andere, den Hunger nach Wissen, beschreibt Kluge etwa in der märchenhaften Erzählung „Schulhungrige Kinder / Die neun Unzertrennlichen“ 468 oder auf unnachahmliche Weise im zweiten Interview. Das Projekt Kluges ist insofern immer auch das Projekt der Moderne, die Arbeit an der unvollendeten Emanzipation des Menschen: „Wenn es gelingt, Poesie und Wissenschaft wieder zu vereinigen, können wir das intellektuelle Selbstbewusstsein, das wir ja brauchen, die Intelligenzfähigkeit des bürgerlichen Menschen noch einmal neu konstruieren.“ 469 Die soeben angesprochene „Bekämpfung des Kriegs“ 470 setzt bereits zu einem frühen Zeitpunkt an, sie ist eine, wenn nicht die zentrale Bildungsaufgabe. Um den Anfängen zu wehren, muss „massenhaft“ „Unterscheidungsvermögen“ produziert werden: Ziel ist die „Unmöglichkeit der Industrialisierung-[…] menschlicher Eigenschaften, die zum Krieg führen“. 471 Sozialpsychologische Betrachtungen Kluges gehen schon Anfang der 80 er davon aus, dass Krieg und Gewalt vorwiegend durch depressive Menschen, Gleichgültige und Unentschlossene entstehen bzw. durch den Nichtkontakt, durch Nichtkommunikation, die ausbleibenden Beziehungen zwischen Menschen. 472 466 Kluge, Alexander/ Negt, Oskar: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1973 2 . S. 10 (Vorrede). Im Folgenden „ÖE“. 467 Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hg. v.-Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1971 . S. 107 . 468 Kälte, S. 67 f. 469 Radisch, Iris/ Greiner, Ulrich: „Der Friedensstifter. Im Gespräch mit Alexander Kluge“, in Die Zeit vom 23 . 10 . 2003 . 470 Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 , S. 539 . 471 Ebd. 472 Vgl.: ebd., S. 549 . 124 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Der unterdrückte Mensch, der seine Unterdrückung spürt („Brände im Inneren von Menschen“ 473 ), „verliert jegliche Vernunft und handelt wie ein Tier, um seine menschliche Würde wiederzugewinnen.“ 474 In der Arbeit kann der Mensch seinen Sinn finden (auch in der Nicht-Arbeit), seiner Begabung nachgehen. Im Produkt steckt eigentlich ein Stück Subjektivität des Produzenten, aber das ist überformt in der Massenproduktion. Selbstverwirklichung geschieht im Kapitalismus nicht durch das Arbeitsprodukt-- dieses ist nur Mittel zum Lohnzweck- -, sondern im Konsumverhalten, das gekennzeichnet ist von kurzlebiger Befriedigung und Zwang zur Wiederholung; Ersatzbefriedigung. Die menschliche Arbeitskraft ist in Wahrheit um ein Vielfaches reicher, als sie in dem arbeitsteilenden Produktionszusammenhang zum Ausdruck kommt. Regt man all die liegengelassenen, gestutzten oder unterdrückten, die subdominanten Energien zur Eigenbewegung, zur Selbstregulation an, kann man menschliche Arbeit für emanzipatorische Zwecke einsetzen, ja setzt sie sich selbst ein. Das Kaleidoskop Kluges ist, indem es die abgeschnittenen Nebenprodukte der Produktion, all die verschenkten und verdrängten Potenziale aufsammelt und wie tausend bunte Splitter zu immer neuen Gestalten zusammenfügt, und indem es die „besonderen Bewegungsgesetze“ 475 und Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt respektiert, Darstellung einer „politischen Ökonomie der Arbeitskraft“ 476 . Es bringt Ordnung in das Chaos, indem die einsamen Monaden in Beziehung zueinander geraten, die a priori da sind (Kant gilt solche „Verbindungsarbeit“ als „ursprünglich synthetisch“ sowie als aktiver, „selbsttätiger“ Vorgang der Verstandestätigkeit). 477 In diesem Sinne dient Kluges Arbeit auch hier der Entmystifizierung eines unübersichtlichen, übermächtigen Kapitalsystems, weil es sinn- und identitätsstiftend Felder der Arbeit außerhalb des Kapitalzusammenhangs absteckt. Was für Formen von Öffentlichkeit also existieren, welche könnten existieren? Bürgerliche Öffentlichkeit ist gekennzeichnet durch Instrumentalisierung der Massen und ihr fehlendes Interesse am Aufzeigen und Herstellen von Zusammenhängen, wie es die proletarische Öffentlichkeit ihrem Wesen nach vermag. 478 So herrsche ein „Widerspruch“ zwischen der Darstellung bzw. ihrem Repräsentationsanspruch eines gesellschaftlichen Ganzen und der inneren Ausgrenzung 473 Titel einer Kurzgeschichte in Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2008 , S. 101 ff. 474 Aus: Traven, B.: Die Rebellion der Gehenkten ( 1936 ), zit. n. ÖE, S. 308 . 475 UM, MP, S. 772 . 476 Ebd. 477 Vgl.: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in ders.: Werke in 6 Bänden, hg. v.-Wilhelm Weischedel, Bd. 2 , Darmstadt 1956 , S. 135 u. 138 (zitiert nach UM, MP, S. 779 , Fußn. 17 u. 18 ). 478 Vgl.: UM, ÖE, S. 337 (Vorrede). 2.4 Identität und Öffentlichkeit 125 „substanzieller Lebensinteressen“. 479 Jenes Ganze entlarven Kluge und Negt als oberflächlich, da es nur eine Abstraktion künstlich „aufeinander bezogener Einzelöffentlichkeiten“ 480 abbildet, nicht aber ihre wirkliche Verwachsenheit. 481 Wir sehen hier also eine Konfrontation der Begriffe „repräsentativer“ sowie „proletarischer“ Öffentlichkeit sowie die Kritik am Pseudocharakter des ersteren Modells. 482 Damit nicht genug, widerfährt dieser demnach unvollständigen Öffentlichkeit obendrein von sogenannten „Produktionsöffentlichkeiten“ 483 (dies kann eine Firma sein, aber auch ein Staat) eine Überlagerung. Da erstere ein Defizit an persönlicher Bedeutung hat, so die Argumentation Kluges und Negts, gelingt es letzteren, kapitalistisch motivierten Formen, in diesen Mangelbereich des Privaten vorzudringen und dort pseudo-bedeutungsvoll als Surrogate für Kurzzeitbefriedigung zu sorgen. 484 -- Radikal formuliert von der Branche selbst: „Aus Ideen werden Märkte.“ 485 Kluges Ansinnen ist es deshalb, die Chancen dieser „direkten Kanäle zur Privatsphäre“ 486 (und „Kanäle“ ist mit der dctp im Hinterkopf selbstredend doppelsinnig zu verstehen) zu nutzen, um die Menschen mit Rohbzw. Nährstoffen zu versorgen- - so etwa durch die digitale Oase der dctp: „Es ist wesentlich, daß 479 Ebd., S. 338 . 480 Ebd., S. 339 . 481 „Die Einzelöffentlichkeiten von Kindern, Jugendlichen und die Öffentlichkeiten bestimmter Lebenssituationen von Frauen wären Komponenten einer umfassenden proletarischen Öffentlichkeit, die aus solchen konkreten Einzelöffentlichkeiten entsteht.“ In UM, ÖE, S. 662 , Fußn. 5 . 482 Übrigens: Im 2 . WK unterläuft die private Kommunikation, die weit bis zum Schluss intakte Feldpost, die öffentlichen Propagandamedien des 3 . Reichs. Vgl.: Kluge, Alexander: 30. April 1945-- Der Tag, an dem Hitler sich erschoss. 90 min. Deutschland (dctp) 2014 . 483 Im Plural, da Sammelbegriff für u. a. „Bewußtseins- und Programmindustrien“, „Werbung“, „Öffentlichkeitsarbeit der Konzerne und Verwaltungsapparate“ in Verbindung mit dem fortschreitenden „Produktionsprozeß“ (Vgl.: UM, ÖE, S. 338 (Vorrede)). In Der Maulwurf kennt kein System erklärt Oskar Negt das folgendermaßen: Als eine dritte Dimension von Öffentlichkeit ist sie eine nicht-emanzipative (wie die bürgerliche), die auch Privates und Berufliches aufwertet und ins Öffentliche rückt (wie die proletarische), aber deshalb noch lange nicht von befreiender Natur ist (man könne da z. B. an das Mutterkreuz bei den Nazis denken). Diese Bedeutungsebene ist also noch einmal eine differenziertere, die etwas anderes markiert als dass die ebenso koexistierende und gebräuchliche Bedeutung von „Produktionsöffentlichkeit“ als einer Öffentlichkeit, die von Medienkonzernen produziert wird, tut (Vgl.: Schulte, Christian/ Stollmann, Rainer (Hg.): Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge. Bielefeld (Transcript) 2005 , S. 26 f.). Als eine neue Form wäre der erwähnte „Maker“ zu ergänzen. 484 Vgl.: UM, ÖE, S. 339 (Vorrede). 485 Heiner Müller zitiert diesen Slogan, den er im Münchner Gebäude der Deutschen Bank entdeckte- - „eine der brutalsten Formulierungen, die ich in der Richtung gelesen habe.“ Kluge, Alexander/ Müller, Heiner: „Das Garather Gespräch”, in dies.: „Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräche. Hamburg (Rotbuch) 1995 , S. 51 f. 486 UM, ÖE, S. 339 (Vorrede). 126 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln proletarische Gegenöffentlichkeit gerade an diesen vom Kapitalinteresse substantiell ausgefüllten Öffentlichkeiten ansetzt und sich nicht bloß als Gegensatz zur klassischen bürgerlichen Öffentlichkeit begreift.“ 487 Ganz einfach deshalb, weil ein rein ideelles Dagegenkämpfen kontraproduktiv wäre. Theoretisch-konfrontativ gegen das mit „Machtmitteln der Öffentlichkeit“ ausgestattete Kapital anzukämpfen, würde auf sich selbst zurückschlagen, da man als Öffentlichkeitspartikel immer zugleich gegen etwas von sich selbst ankämpfen würde. 488 Um dem in Permanenz oszillierenden „Zusammenhang von Schein, Öffentlichkeit und öffentlicher Gewalt“ begegnen zu können, helfe nur „Idee gegen Idee, Produkt gegen Produkt, Produktionszusammenhang gegen Produktionszusammenhang“. 489 Nur wenn dem Rezipient (stellvertretend für den nach Emanzipation strebenden Citoyen) der Produktionsapparat samt seiner Geschichte und seinen Funktionen (stellvertretend für Staats-, Gesellschafts-, Wirtschaftsordnung usw.) offenbar wird, bewusst wird, kann er wahre Kritik betreiben, die nicht mehr am (als Produkt sichtbaren) Resultat ansetzt und sich damit selbst aufhält, sondern die dessen Entstehungsbedingungen und Funktionszusammenhänge nachvollzieht- - und dadurch fundamentale Veränderungen bewirken. 490 Ausschlaggebend ist deshalb auch hier die Behutsamkeit der Hebammenkunst, die die Bewegung mitgeht, um einen neuen Menschen zu gebären. Kluge operiert deshalb sehr bewusst theoretisch und praktisch in der Sphäre der Produktionsöffentlichkeiten (aber nicht nur in dieser), nachdem sich in der Geschichte die Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit mit ihrer Anfälligkeit für allerlei Demagogie, Gewalt und Ideologie wiederholt als untauglich erwiesen hat. 491 „Die wirksamste Form der Kritik in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgt über den Markt“, weil sich hier, selbst wenn „verzerrt“, die individuellen und gemeinschaftlichen „Bedürfnisse“ äußern. 492 Das zeige sich etwa an der „Kulturkritik“, die ihre Wirksamkeit immer dann zeige, wenn sie sich „auf den Tauschwert der Kulturprodukte“ auswirke. 493 Man denke vergleichsweise an die Macht des bewussten Verbrauchers, der all den Fairtrade-, Bio- und regionalen 487 Ebd. 488 Vgl.: ebd. 489 UM, ÖE, S. 433 f. Als Beispiele für die Herausbildung von Gegenöffentlichkeiten „unter proletarischen Bedingungen“, auch als Zeichen des Gelingens zwischen Kunst und Proletariat und zugleich als plastischen Beleg für jenen „materialistischen Instinkt“ („auf Vinyl-Schallplatten (technischbewusst atavistisch) gepresst“; „‚Rohstoff’“) nennen Kluge und Negt die Musikbewegungen „Chicago House“ und „Detroit Techno“, die zumindest in ihren subkulturellen Anfängen, ursprünglich, als autonome und mächtige Konkurrenz zur Programmindustrie existierten. Vgl.: UM, ÖE, S. 512 ff. 490 „Fernsehkritik muß von dem geschichtlichen Körper des Fernsehens ausgehen, das heißt vom Fernsehen als Produktionsbetrieb.“ Zitat u. Vgl. s.: UM, ÖE, S. 462 f. 491 Vgl.: UM, ÖE, S. 339 (Vorrede). 492 UE, ÖE, S. 488 . 493 Ebd. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 127 Produkten erst einen breiten Markt verschaffte und so die Waren verhältnismäßig erschwinglich gemacht hat, was kreislaufförmig den Markt weiter wachsen (und an seine Grenzen und Prinzipien stoßen) lässt. Das ist ebenso „Gegenproduktion“. Außerdem ist es sinnvoll, die Bewegung der „Makers“ anzusprechen. Dezentrale Nischenmärkte sollen jene Zwischenräume schließen, die aus der Logik des Massenmarkts fallen: Lauter kleine Inseln öffentlicher Produktion (Open-Source- Community), die absolut transparent und weitgehend unhierarchisch gemeinsam an Ideen schrauben, um sie mithilfe neuester Technik ( 3 D-Drucker & Co.) direkt selbst zu produzieren. Hier passiert etwas Revolutionäres: Erstens braucht ein Erfinder kein Großunternehmen mehr, um sein Patent an den Mann zu bringen oder seine Ware produzieren zu lassen. Zweitens gehören geistige Eigentumsverhältnisse und Copyright zu einer überholten Denkweise. Hier wird öffentlich gedacht: Erfahrung und Wissen wird gleichberechtigt unter Experten, Laien und Talenten ausgetauscht, die Intelligenz der Vielen findet zusammen. Die Ernüchterung dieses Freiheitsrausches lautet: um coole Produkte auf den Markt zu bringen. Ist das immer noch Gegenproduktion? „Die Umproduktion der Öffentlichkeit“ jedenfalls ist die „Bedingung und zugleich der wichtigste Gegenstand, an dem sich die realistische Methode abarbeitet“-- deshalb Kluges permanente ästhetische Produktion und Bereitstellung von Erfahrungswerten. 494 Schon Adornos Minima Moralia hat für etwas sensibilisiert, das sich mit NSA - Affäre und Bundestrojaner, digitalem Datenhandel und personalisierter Werbung nun um ein Vielfaches verstärkt: Dass nämlich nicht etwa das Leben des Einzelnen von öffentlichem Interesse ist, sondern das Konsumverhalten des Einzelnen (Produktionsöffentlichkeiten) oder das möglicherweise terroristische Verhalten des Einzelnen (bürgerliche Öffentlichkeit). Hieran kann man sehr gut die Verkehrung jenes allgemeinen Wohlstandsversprechens des Kapitalismus ablesen: Nicht etwa die individuelle Existenz der Menschen wird durch wirtschaftlichen Erfolg verbessert (das trifft nur auf die Wenigen zu), sondern mittels einer zunehmenden Entindividualisierung des Lebens der Menschen („Auflösung des Subjekts“ 495 ) wird die Wirtschaft verbessert.-- Dabei will ich „doch nur wissen, was das Leben ist und ob es eventuell an mir vorbeigehen könnte.“ 496 „Proletarische Öffentlichkeit“ ist die (wohlgemerkt nicht-ideologische) Bezeichnung für den jeweiligen Emanzipationsgrad der Klasse der Arbeiter, die intra- oder subsozial als „Gesellschaft in der Gesellschaft“, also separat und unentfaltet, 494 Sklavin, S. 219 . 495 AGS 4 , S. 14 . 496 Pollesch, René: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, in ders.: world wide web-slums. Reinbek (Rowohlt) 2009 , S. 87 . 128 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln existiert. 497 Als ihr Gegenteil existiert die „bürgerliche Öffentlichkeit“, überlagert werden beide durch „Produktionsöffentlichkeiten“. 498 Unterschiedliche Öffentlichkeitsformen koexistieren teils in gleichen, teils in unterschiedlichen Sphären, wobei der Begriff der Koexistenz etwas zu friedlich daherkommt: Sie stehen mitunter in einem Konkurrenzverhältnis und unterwandern einander. So wirken etwa „alle materiellen Anteile repräsentativer Öffentlichkeit“ in die Phase entstehender Öffentlichkeit bzw. Produktionsöffentlichkeit hinein. 499 Kennzeichnend für die bürgerliche Öffentlichkeit ist, dass sie zwar als Repräsentantin der Gesamtgesellschaft, also auch ihrer Erfahrungen und Interessen auftritt, dabei jedoch erstens elementare Lebensbereiche und ganze Gesellschaftsschichten ausschließt, was sich vor allem in ihrer Sprache manifestiert, sowie es ihr zweitens an historischem Bewusstsein mangelt. Bürgerliche und proletarische Öffentlichkeit verhalten sich aus sich heraus dialektisch, jedoch meist unverständlich zueinander. 500 Erfahrungswerte des Berufslebens sowie des Privatlebens, also nichts Geringeres als die zentralen Interessen eines jeden Menschen, halten in die bürgerliche Öffentlichkeit ebenso wenig oder ebenso verklärt Einzug wie die wechselseitigen Beziehungs- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen individuellem Interesse, individueller Erfahrung und Marktinteresse. Neue Produktionsöffentlichkeiten nun setzen zwar an diesem Punkt an, indem sie vorgeben, diesen Mangel mit allerhand zugeschnittenen Programmen on demand zu beseitigen. Hieran ist der Wandel von einer passiven zu einer aktiven Rezeptionsart zu beobachten. 501 „Erst eine Industrialisierung des ‚Faktors Zuschauer’ kann Entfaltungsmöglichkeiten der Programmproduktion freisetzen“, 502 stellen Kluge und Negt bereits Anfang der 70 er fest, als sie in der „Nachbemerkung“ von 2001 eine sozusagen proletarisch-öffentliche „Revolutionierung des Bewusstseinsapparats“ identifizieren, da dieser nun begonnen habe „zu arbeiten“. 503 Wir sind Zeitzeugen einer „offenen Situation für Gegenöffentlichkeit“ 504 im Konvergenzprozess alter und sich neu bildender Medien, einer emanzipatorischen Chance, die dctp & Co. engagiert ergriffen haben und an allen Enden Kooperationen bilden für eine autonome Öffentlichkeit: 497 Vgl.: UM, ÖE, S. 377 u. S. 572 . Über Kluges und Negts Entscheidung für die Verwendung diesen Begriffs und somit gegen den habermas’schen einer „plebejischen Öffentlichkeit“ siehe ebd., S. 336 . 498 Vgl.: UM, ÖE, S. 377 , 406 f. 499 Vgl.: GE, S. 389 f. 500 Vgl.: UM, ÖE, S. 403 - 452 bzw. S. 393 - 397 . 501 Vgl.: Ebd., S. 514 . 502 ÖE, S. 200 bzw. UM, ÖE, S. 476 . 503 UM, ÖE, S. 515 . 504 Ebd. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 129 „Kennzeichen der neuen e-Medien [ist], dass eine riesenhaft wachsende Zahl von Zuschauern mit aktiven Interessen neu hinzutritt. Der von ihnen eingebrachte Rohstoff lässt sich ausdrücken als: mehr Interesse, mehr Zeit.-[…] Es entwickelt sich an dieser Stelle ein neuer Bildungsbegriff, der nicht der der Schule ist.“ 505 Das Produktionsinteresse aber versucht nur, sich mit dem Privaten zu verbinden, um es in den kapitalistischen Verwertungskreis einzuspeisen, worin ja ihr eigentliches Interesse, ihre innere Logik besteht (Wachstumsoptimierung, Möglichkeitsoptimierung). An wissenschaftlichen Studien und kritischer Literatur zum Thema Bedürfnisherstellung und Bedürfnisbefriedigung mangelt es bekanntlich nicht. Bedürfnisse werden nicht allein nur pseudo-befriedigt, sondern die Crux besteht darin, dass diese Bedürfnisse selbst bloß oberflächliche, aufgesetzte, nicht authentische sind. Die Produktionsöffentlichkeiten produzieren also Pseudo-Bedürfnisse und entsprechend auch nur Pseudo-Erfahrungen. 506 Kluge und Negt behandeln hier den marxschen Ausdruck des „materialistischen Instinkts“ 507 , der-- zumindest in diesem oberflächlichen Zustand- - den eigenen Zugang zu sich selbst und zu seinen eigentlichen Bedürfnissen versperrt. Menschliche Sehnsüchte und Sorgen werden kapitalistisch ausgenutzt (unseriöse private Arbeitsvermittlungen, an Gewinn statt an Heilung orientierte Pharmaindustrie) oder durch Reproduktion von in einer Gesellschaft propagierten Idealen eigens (re)produziert, um aus diesen dann wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen (anschauliches Beispiel: Schönheitsideale treffen Beautyindustrie und Schönheitschirurgie: Penisverlängerung, Brustvergrößerung, Silikonhaut, Beinebrechen zur Körpergrößenverlängerung). „Es besteht eine gesellschaftliche Notwendigkeit, den Ausdruck von Bedürfnissen, in ihrem Zusammenhang mit dem Ausdruck aller übrigen Bedürfnisse herzustellen“, d. h. sie dürfen weder psychologisch noch gesellschaftlich verdrängt werden, sondern drängen ihrerseits nach Öffentlichkeit. 508 Nun fällt es nicht schwer zu erkennen, dass weder die bürgerliche Öffentlichkeit noch die Produktionsöffentlichkeiten sich emanzipatorisch verhält bzw. verhalten, sondern ganz im Gegenteil regressiv und, auch wenn alle naslang von Fortschritt und Zukunft getönt wird, Bestehendes immerfort reproduzierend. Doch um noch einmal auf den „materialistischen Instinkt“ zurückzukommen: Geradezu offensichtlich wohnt diesem laut Kluge und Negt revolutionäres Potenzial inne. Wenn es nur zur vernünftigen Reflexion käme, wie aus einer sehr klugen Beobachtung hervorgeht: „Die Paläste sind gewiß nicht für die Massen gebaut, aber die Bedürfnisse der Massen messen sich an ihnen.“ 509 Der instinktive Wunsch 505 Ebd. 506 Das gilt natürlich auch für die bürgerliche Öffentlichkeit und ihre Konventionen. 507 Vgl.: UM, ÖE, S. 390 ff. 508 Ebd., S. 488 . 509 Ebd., S. 390 f. 130 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln also, das zu haben, was „die da oben“ haben, repräsentiert bereits konkret im Material die Ungleichheit und kann, reflektiert, zum objektiven Klassenbewusstsein und schließlich zur Systemkritik führen, denn die Unterschiede werden erfahrbar als nicht natürlich, sondern höchstens zweit-natürlich. Mit anderen Worten: Es muss nicht so sein, wie es ist und es muss deshalb auch nicht so bleiben, wie es ist. All dies verdeutlicht den materialistischen Willen als Bedingung für Protestbewegungen und weniger einen idealistischen. 510 Die Vermutung liegt nahe, dass beide geschilderten kritischen Potenziale der proletarischen Öffentlichkeit, namentlich Phantasie und materialistischer Instinkt, gerade im Verbund emanzipatorische Synergien entwickeln könnten. Vom allgemeinen lexikalischen Verständnis des Öffentlichkeitsbegriffs her stehen sich zwei Modelle von gegensätzlicher Qualität koexistierend gegenüber. Auf der Oberfläche liegt eine staatlich-verwaltungstechnische Öffentlichkeit ausgebreitet dar, die durchtränkt ist von kapitalen Interesse- und den oft eigentlichen Entscheidungsträgern, jenen NGO ’s des ökonomischen Sektors, den „Clubs der grauen Männer“ 511 , wie Kluge in Momo-Sprech formuliert. Informationen sind hier nicht vollständig einsehbar und deshalb auch nicht umfassend öffentlich diskutierbar. Deshalb Schwierigkeiten zu verstehen-- nicht, weil sie kompliziert sind, „mir zu hoch“ sind. Darunter liegt eine oder vielmehr: liegen mehrere dezentrale, nichtstaatliche Gegenöffentlichkeiten, die sich versuchen, Bahn zu brechen. Diese sind gekennzeichnet durch einen größtmöglichen Grad an Transparenz im ursprünglichen Sinne von „Staat“ als res publica. Wenngleich sich Politik immer weniger nur „national“ bewegt, liegen die primären Interessen der Menschen-- trotz des wachsenden Kosmopolitischen durch die Generation Y, die Arbeit, Handel, Produktion und Konsum sozial und ökologisch hinterfragt-- letztlich immer noch vor oder hinter der Haustür. Da Politik im Zuge der radikalen Globalisierung jedoch noch komplexer geformt ist, bedarf es einer anderen Informationspolitik, die Transparenz verkörpern muss, um das Bedürfnis der Bevölkerungen nach Sicherheit, Wissen und Mündigkeit herzustellen. Dies scheint sich, betrachtet man die Informationsbeschaffung in rhizomartiger Kommunikation im Netz und die dadurch leichtere Inter- und Transnationalisierung von politischen Bewegungen, von unten bereits zu verwirklichen. Dem gefährlichen Problem der Fehlinformation, der Verzerrung und Propaganda müsste, meint man, von oben entgegengewirkt werden. Es zeigt sich erstens, dass dies ausbleibt. Zweitens zeigt es sich jedoch, etwa durch „Inseln der Information“ wie der dctp und ihrer Partner, dass ernsthafte Bemühungen der Emanzipierung der Menschen, d. h. in ihnen das hierfür 510 Vgl.: Ebd., S. 611 . 511 Kluge, Alexander: „Der Club der grauen Männer. Dr. Julia Laura Rischbieter: Wer oder was reguliert die Finanzmärkte? “, in 10 VOR 11 vom 13 . 10 . 2014 . Darin übrigens Erkenntnisse wie diese: Es gibt im Grunde keine „Gründer“ mehr, sondern nur noch „Reparateure“. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 131 so nötige Unterscheidungsvermögen auszubilden, ebenfalls von unten kommen: von Seiten der Kultur, der Kunst, der Wissenschaft und des echten Journalismus. Im deutschsprachigen Raum prägte vor allem Ende des 17 . Jahrhunderts das aufstrebende Bürgertum den Begriff der Öffentlichkeit, die im Grunde ein Privileg männlich-elitärer Künstlerkreise blieb. Durch das Rumoren der Lumières gerieten im folgenden Jahrhundert Staats- und Gesellschaftskritik in den Fokus der öffentlichen Debatte. Allerdings manifestierten sich in dieser Kritik eher Interessen der bürgerlichen Klasse selbst, da vordergründig nur diese, mit Vertretern des aufgeklärten Adels, Teilnehmer jener Öffentlichkeitsform waren. Wir haben es also mit einem sehr begrenzten Publikum zu tun, das andere Schichten ausschließt: Frauen, Kinder, die Vertreter der Arbeiterklasse, „Ausländer“. Nachwirkungen bis ins Mark der „öffentlichen Meinung“ bis heute. Die von Kluge/ Negt bezeichnete „bürgerliche Öffentlichkeit“ obstruiere gesamtgesellschaftliche Erfahrungen und infolgedessen kollektive Lernprozesse. Diese Problemlage entstehe erst durch die Paradoxie, dass die Erfahrungsgehalte der eigentlich elementaren Lebensbereiche des Menschen keinen Einzug ins öffentliche Leben haben. 512 „Die Abschirmung von der Öffentlichkeit enthält eine prinzipielle Negierung der Gesellschaft und damit der Grundlage von Recht überhaupt.“ 513 Gerade die intransparente, ja „absolutistische“ 514 Struktur etwa einer Betriebsverfassung oder die Öffentlichkeit ausgrenzende und somit auch Rechtsstaatlichkeit aussparende Betriebsöffentlichkeit drängen Kluge und Negt zu ihrem sehr entschieden vorgetragenen Plädoyer der Öffnung. 2.4.1.2 Was Menschen außerdem produzieren: Erfahrung, Phantasie Die Aneignung der historischen Gewordenheit, insbesondere des Proletariats, ist ebenso als ein kollektiver Bewusstseinsprozess zu begreifen wie auch die Umsetzung in die emanzipative Handlungspraxis. „Lernprozesse auf Grund von Niederlagen müssen deshalb untersucht werden nach zwei verschiedenen Arten von Erfahrung: einer zerstörerischen und einer emanzipatorischen.“ 515 Es herrsche stets eine solche Widersprüchlichkeit, weshalb Kluge und Negt von einem analytischen Fehler sprechen, wenn nur eines von beiden herausgestellt wird. Näher hierzu: der Gedanke der „bifurcation“ in Kapitel 2 . 6 . 1 . Derweil steht „Klasse“ Kluge und Negt zufolge für einen „gegenständlichen historischen Prozeß der Entstehung, Veränderung und Aufhebung von Lebensbedingungen, denen Massen unterworfen sind“, der zudem durch die einzelnen 512 Vgl.: ÖE, S. 10 . bzw. UM, ÖE, S. 333 . 513 UM, ÖE, S. 402 , Fußn. 74 . 514 Ebd., S. 402 . 515 Ebd., S. 613 . 132 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Individuen „hindurch“ gehe. 516 Das Autorenduo sieht sich in der Pflicht, den Begriff des „Klassenbewusstseins“ mit empirischer Substanz auszustatten, ihn durch Sammeln und Organisieren „materiell auszufüllen“. 517 Damit formulieren sie zugleich eine Kritik an dem Begriff, dem es an Praktizität mangelt: „Es gehört dazu ein Selbstbewusstsein-[…], sich die Machtübernahme der Produktionsmittel durch die Produzenten vorzustellen und praktisch anzustreben, bevor diese eine gesellschaftliche Realität geworden ist.“ 518 -- Man müsste in diesem Zusammenhang mit Kluge und Negt das Phänomen der Open-Source-Community mitsamt dem moralisch problematischen Crowdsourcing, jedoch für ihre gemeinsamen Thesen hochinteressanten Part der Eigenproduktion ( 3 D-Drucker/ Scanner usw.) diskutieren. Die politische Ökonomie hat nicht nur eine Seite, nicht nur die des fertigen Produkts, die des Kapitals. Oskar Negts und Alexander Kluges Verdienst ist es, mit minutiöser Analysefähigkeit und erstaunlichem Einfühlungsvermögen unter Zuhilfenahme der Werkzeuge der Philosophie, der Soziologie, der Psychoanalyse und der marxschen Ökonomik eine Kritik der politischen Ökonomie der Arbeitskraft vorzunehmen, die Marx „immanent“ 519 voraussetzt. Diese theoretische Arbeit des Autorengespanns fußt auf einer Theorie der proletarischen Öffentlichkeit sowie einer Theorie der Genese sämtlicher einzelner Arbeitsvermögen. 520 Kritisch über Marx also hinausgehend, wie mit einem Stethoskop in das innere Gefühlskonzert des arbeitenden Menschen hineinhorchend, offenbaren sie so die eigentliche Janusköpfigkeit der politischen Ökonomie. Arbeitskraft hat einen Eigenwillen. 521 Menschen produzieren nämlich nicht nur Waren, sie produzieren auch und vor allem Erfahrung. Beide haben einen Gebrauchswert, der aber von unterschiedlichem Gehalt ist. Während Ersteres mehr oder weniger kurzzeitig ist (ein Haus, ein Kaffee zum Mitnehmen), ist Letzteres historisch gewachsen und ins Zukünftig- Mögliche gerichtet. Wie aber kann proletarische Öffentlichkeit wirklich öffentlich werden? Durch die Wertschätzung menschlicher Gefühle und menschlicher Phantasietätigkeit sowie deren öffentlicher Aufarbeitung, freudsch gesprochen durch „Wiederaneignung der individuellen Lebensgeschichte und ihrer Konflikte“ 522 . Proletarische Öffentlichkeit, normalerweise überlagert durch die repräsentative Öffentlichkeit, wird durch den Produktionszusammenhang sichtbar. 523 „Ohne bewusste Aufarbeitung“, ist mit Hinweis auf Habermas’ „Vom öffentlichen Gebrauch 516 Ebd., S. 617 . 517 Ebd., S. 618 . 518 Ebd., S. 619 . Der letzte Teilsatz ist im Original hervorgehoben. 519 GE, S. 88 . 520 Vgl.: GE, S. 87 - 358 . 521 Vgl.: GE, S. 95 . 522 UM, ÖE, S. 382 f., Fußn. 57 . 523 Vgl.: GE, S. 389 f. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 133 der Historie“ in einer Fußnote von Maßverhältnisse des Politischen zu lesen, sei „keine ‚Normalisierung’ im Umgang mit traumatisch erfahrenen geschichtlichen Ereignissen zu erreichen.“ 524 Nicht vergehend wie ein Nacheinander in der Zeit, sagt Freud, sondern wie ein unaufgeräumtes Neben- und Übereinander im Raum wohnen die Erfahrungen in den Menschen. Das ist genau das, was Adorno damit meint, wenn er sagt, „das Geheimnis der Zeit enthülle sich im Raum“. 525 Diese Toleranzleistung der menschlichen Psyche mit Erfahrungen müsste auch gesellschaftlich-öffentlich entsprechend respektiert bzw. nachgeahmt werden. Die Phantasie gilt Kluge und Negt als eine vom Produktionsprozess ignorierte oder wenn, dann nur ökonomisch-domestiziert aufgegriffene (Anzapfen der individuellen Kreativität im Crowdsourcing) sowie von gesellschaftlichen Konventionen unterdrückte und überlagerte Produktionskraft, die einerseits imstande ist, „Wissenschaft, Bildung und ästhetische Produktion als Organisationsformen der Phantasie der Massen zu verstehen“ sowie andererseits „die Phantasie, wie sie in den Massen in Erscheinung tritt, in die emanzipatorischen Bewusstseinsformen einzubeziehen“. 526 Entgegen des Stigmas des irrealen Charakters bzw. der ihr entgegengebrachten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Geringschätzung, ist sie sehr wohl realitätsbezogen: „die konkrete Situation der Wunschentstehung, die konkrete Situation des verarbeiteten aktuellen Eindrucks und die konkret vorgestellte Situation der Wunscherfüllung.“ 527 Nein, „Erinnerungslosigkeit“ ist es, die „irreal“ ist, wie Kluge nicht nur im Vorwort zur Schlachtbeschreibung deutlich macht. 528 Die phantastische Produktionsarbeit ist deshalb im Gegensatz zur auf Aktualität verkürzten industriellen Produktionsarbeit überzeitlich. 529 Sie besitzt als eine Vermittlerin zwischen den Zeiten und Gedanken, also auch zwischen den Menschen, kommunikative sowie organisierende Kompetenz. Besonders letzterer Punkt, jene „Fähigkeit-[…], eigene Erfahrungen des Menschen 524 UM, MP, S. 967 , Fußn. 3 . Als eine Allegorie für das überlagerte historische Bewusstsein einer Gesellschaft dient Kluges „Neuer Zweck für altes Grundstück“ in 30. April 1945, in der von einem „technischen Gebäude“ in Stuttgart aus US-Drohneneinsätze geplant und gesteuert werden, die wiederum in Afrika „vermutliche Terroristen gezielt umbringen“. Das Gebäude diente zuvor als „Geschäftshaus, das sich mit der Einfuhr afrikanischer Produkte befasste.“ Afrika, Ursprung der Menschheit-- mehrfach überbaut. 525 Vgl.: Theunissen, Michael: „Negativität bei Adorno“, in Friedeburg, Ludwig von/ Habermas, Jürgen (Hg.): Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1983 , S. 52 . 526 UM, ÖE, S. 381 f. 527 Ebd., S. 380 . 528 Kluge, Alexander: Schlachtbeschreibung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1983 , S. 7 . 529 Kurzzeitgedächtnis: In den neuen Produktionsöffentlichkeiten herrscht die naheste Zukunft über eine geschichtslose Gegenwart. 134 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln zu organisieren“, 530 ist ein revolutionärer Phantasie-Begriff, der dem Vorurteil des Chaotischen mit dessen absolutem Gegenteil begegnet: der Organisation. Ihre Qualität liegt also in der Vermittlungs- und Orientierungsarbeit, in ihrem formal spezifischen, prozessualen Arrangement zur Erweiterung des menschlichen und gesellschaftlichen Erfahrungsraums. Durch ihre kommunikative Struktur zwischen Arbeit am Produkt und Arbeit an sich selbst, zwischen Arbeitswelt und Privatwelt, zwischen Außenwelt und Innenwelt, zwischen Realität und Wunsch, Bewusstsein und Unterbewusstsein, produziert sie permanent unerhörte Balance-Arbeit („Balance-Ökonomie“). Durch diese kompensatorische Kraft, die sie aus dem Privaten zieht, ist sie dem Produktionsprozess von elementarem Nutzen, und das zudem als gänzlich unbezahlte Arbeitskraft. Doch weder in diesem noch im fertigen Produkt tritt sie oder ihr Arbeitsanteil in Erscheinung. Schlussfolgernd steht die Erkenntnis: Das emanzipatorische Ziel ist nur durch die Kontaktaufnahme der Menschen zu ihren eigenen, bislang jedoch von ihnen getrennten Erfahrungen möglich. Kluges gesamtes Werk wimmelt nur so voller Hinweise darauf, dass die Phantasie mit den Erfahrungen direkt und kritisch zusammenhängt. Sie gilt es, von den verschiedenartigen Repressionsmechanismen, einmal seitens der bürgerlichen Öffentlichkeit (Diffamierung), einmal seitens der Produktionsöffentlichkeiten (Deformierung), zu befreien: für eine kritische Öffentlichkeit mit Emanzipationsinteresse gegen Öffentlichkeitsformen bloßen Verwertungsinteresses. Die Phantasie erfährt eine Gering- und Unterschätzung, wenn man an dem gedanklichen Punkt ihrer Kompensationsfunktion stehen bleibt. Dies würde nur heißen, sie wäre auf die Realität bezogen, aber würde nicht auf ihre Veränderung aus sein. Ihre realitätskritische Macht besteht jedoch gerade in dem Punkt, dass auch sie den Mangel niemals vollständig oder nachhaltig kompensieren kann, sondern darin, dass sie auf eben diesen-- auch durch sie nicht zu befriedigenden-- aufmerksam macht. Auf die Tatsächlichkeit ihres nicht-irrealen Gehalts verweisen schließlich auch jene neuen Produktionsöffentlichkeiten. Dieser Missstand ist zugleich eine Chance, da sie eine andere Einstellung zur menschlichen Phantasie bewirken kann. Hier ist aufklärerisch anzusetzen. Entwarnung bzgl. der Produktionsöffentlichkeiten gibt derweil das gesamte klugesche Werk: Die Phantasie ist nicht zu vereinnahmen, sie ist autark. Die zu Beginn dieses Kapitels erläuterte, dreigliedrige Typisierung von Öffentlichkeiten erinnert gerade in ihrem historischen Nachvollzug in Öffentlichkeit und Erfahrung an Nietzsches Genealogie der Moral. Zur Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse und nachhaltigen Machtsicherung installiert die Bourgeoisie das Recht auf Privateigentum-- in großer Zahl enteignete Ländereien, die zudem 530 UM, ÖE, S. 379 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 135 vom Proletariat beackert werden und auch noch unverhältnismäßig hohe Abgaben zu leisten haben. Ein Grundpfeiler des Kapitalismus. Im Gegensatz zur Historizität der bürgerlichen Öffentlichkeit, deren Wert, einmal abgesehen von ihrem Elitarismus, ihrem Standesinteresse des Privaten und Wirtschaftlichen, darin besteht, eine gesellschaftliche Errungenschaft zu sein, sind die neuen Produktionsöffentlichkeiten von außen herangetragenes Konstrukt, also vom Markt und nicht von einer, wie es ihr Begriff vorgibt, Öffentlichkeit produziert. Proletarische Gegenöffentlichkeiten sind historisch, in Zeiten radikaler und revolutionärer Umbrüche, wiederholt aufgeblitzt, blieben jedoch formunvollendet. So kommt es etwa natürlich zu archaischen Formen des Miteinander und der Solidarität. 531 Ihre Existenz mag vorübergehend sein, doch sind sie deshalb nicht weniger real. Wiederholt drängen sie auf Dauer ihrer Verwirklichung, auf Materialisierung. Der Hinweis sei nachgetragen, dass es sich bei diesen Umbrüchen nicht zwangsweise um blutige Revolutionen handeln muss, sondern wir womöglich gerade Zeitzeugen werden, wie eine solche „proletarische Öffentlichkeit“ zur Wirklichkeit drängt in der Entstehung der neuen Kommunikationswege des Internets in Form von Social Media und Open Source; hier scheint sich ein kritisch-öffentliches Bewusstsein Bahn zu brechen- - Stichwort: Whistleblowing, Hacken und Transparenzbewusstsein, Wikileaks oder Chaos Computer Club. Die Masse aber ist ohne Zweifel nur Produktionsöffentlichkeit. Kluges Pluralwendungen von „Inseln“ oder „Gärten der Erfahrung“ deuten ebenso wie der Plural „Produktionsöffentlichkeiten“ darauf hin, dass die Antwort ebenso nur im Plural lauten kann: kritische Öffentlichkeiten, dezentral verortet, miteinander jedoch verlinkt. Denn entscheidend ist, dass ein Kitten gesellschaftlicher Kanten, also das Übermalen von Unterschieden trotz positiver Absicht der Herstellung von einer Öffentlichkeit und der Herstellung eines Allgemeininteresses die individuellen Situationen, Interessen und Bedürfnisse erneut nur beschneiden würde. Gesellschaftliche Teilhabe für alle und jede_n ist nur durch Diversitätsbewusstsein möglich. In diesem Sinne erreicht ein „interessegeleitetes, verallgemeinertes politisches Bewußtsein-[…] Bestimmtheit und überindividuelle Dauer“. 532 2.4.1.3 Wir sind dahingehend gleich, dass wir alle besonders sind Die Gleichheitsidee ist, wenn man Löwenthal folgen möchte, ideologisch, weil sie die „gesellschaftlichen Gegensätze“ mit dem „Schein der Harmonie“ überblendet. 533 Der Begriff ist geradezu ökonomisch verklärt: Waren sind in ihrem Wert 531 Narrativ verarbeitet u. a. in der Kurzgeschichte „Tauschhandel“ in 30. April 1945, S. 145 . 532 UM, MP, S. 708 . 533 Löwenthal, Leo: „Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur“, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1 . Jg. 1932 , Reprint, München (Kraus) 1980 , S. 95 . 136 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln mittels einer Währung bzw. durch Qualitäten untereinander messbar, menschliche Erfahrung und Interessen hingegen dürfen in keinen solchen Vergleichswettbewerb gebracht werden, denn dies führt zu einem faschistoiden Scheidepunkt, der in lebenswert und lebensunwert teilt. All die tatsächlichen Abhängigkeitsbeziehungen, Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse blenden die oberflächliche Gleichmachung aus: „Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen.“ 534 Wenn „wir“ in einer Sache gleich sind, dann darin, dass wir alle unterschiedlich sind. Erkennen des Nichtidentischen als Nicht-Identisches. Insofern ist ohne ein Diversitätsbewusstsein die Forderung nach Gleichheit ein Missverständnis der Aufklärungsbewegung, die sich bis heute zieht. Gleichwohl finden wir in einer universalen Sache zueinander: Wir wollen in Frieden und zumindest ohne existenzielle Sorgen leben (die Logik des gegenwärtigen Kapitalismus verhindert dieses basalste aller Menschenrechte). Wird dies alles als eine überindividuelle Gemeinsamkeit anerkannt, so ist echtes Zusammenleben möglich. Ein möglicher Ausdruck, wie Versöhnung des Besonderen und des Allgemeinen in eine sprachliche Form zu gießen wäre: Wir sind alle besonders. Kluge begreift ja den Menschen als Individuum und als Gattungswesen. Friedrich Schiller spricht hier vom „Menschen der Idee“. Er sieht das Besondere im Allgemeinen sich nur erhalten und ausdrücken, wenn die Prägung des Staates von friedlicher, nicht aber „feindseliger Individualität“ ist: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.- […] Nun lassen sich aber zwei verschiedene Arten denken, wie der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen, mithin ebenso viele, wie der Staat in den Individuen sich behaupten kann: entweder dadurch, daß der reine Mensch den empirischen unterdrückt, daß der Staat die Individuen aufhebt; oder dadurch, daß das Individuum Staat wird, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen der Idee sich veredelt.“ 535 - Die Aufhebung der Zeit, der Triumph über den Tod: „Wir sind bei dieser Operation nicht mehr in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns mit ihrer ganzen nie endenden Reihe.“ 536 Die Menschheit von außen lässt man erst zu, wenn man die Menschheit von innen zugelassen ist. Die Idee oder das Ideal der „Menschheit“ soll Schiller zufolge die Handlungen leiten und den infiniten Prozess zur Menschlichkeit vorantreiben. 534 AGS 4 , S. 114 . 535 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ( 1795 ), in ders.: Schriften zur Philosophie und Kunst. München (Goldmann) 1959 . Vierter Brief, S. 73 . Hervorh. gem. Orig. 536 Ebd., Zwölfter Brief, S. 98 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 137 Zunächst aber muss der Mensch wieder empfindsam gemacht werden. Hierfür muss er wiederum in Sicherheit leben, damit er sich überhaupt traut, aus seinem Schneckenhaus hervorzukriechen und die Fühler auszustrecken nach Welt. Erst dann wird eine „sinnlich-vergesellschaftete“ 537 Welt möglich sein. „Zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe, das Notwendige in uns zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche außer uns dem Gesetz der Notwendigkeit zu unterwerfen“ 538 -- das, was Schiller hier zweihundert Jahre vor Kluge schreibt, springt dessen antagonistischen Realismusbegriff samt der Idee des „Antirealismus des Gefühls“ zur Seite (Kapitel 2 . 6 . 3 ). 539 „Was am Nichtidentischen nicht in seinem Begriff sich definieren läßt, übersteigt sein Einzeldasein, in das es erst in der Polarität zum Begriff, auf diesen hinstarrend, sich zusammenzieht. Das Innere des Nichtidentischen ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist und was seine veranstaltete, eingefrorene Identität mit sich ihm vorenthält. Zu sich gelangt es erst in seiner Entäußerung, nicht in seiner Verhärtung; das noch ist Hegel abzulernen, ohne Zugeständnis an die repressiven Momente seiner Entäußerungslehre. Das Objekt öffnet sich einer monadologischen Insistenz, die Bewußtsein der Konstellation ist, in der es steht: die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere bedarf jenes Äußeren. Solche immanente Allgemeinheit des Einzelnen aber ist objektiv als sedimentierte Geschichte. Diese ist in ihm und außer ihm, ein es Umgreifendes, darin es seinen Ort hat.“ 540 Kein Drinnen und kein Draußen mehr: Kluge kultiviert also einen Öffentlichkeitsbegriff, der „Wahrnehmenkönnen“ und „Handelnkönnen“ zusammendenkt und sich auf Horkheimers Autorität und Familie als „Kernbuch“ beruft, weil jenes „die Alchemieküche“ sei, „in der in Wirklichkeit öffentlichkeitsfähige Impulse und Gedanken einer Gesellschaft einschließlich aller Ausgrenzung wie des Mordes am andern entstehen“-- eben dieses Ausgeschlossene sei der eigentliche „Ausgangspunkt“ von Öffentlichkeit und muss Einzug halten in die „offizielle Öffentlichkeit“. 541 Öffentlichkeit dient „von oben“ aus gesehen der Machtsicherung (Propaganda, Meinungslenkung, Informationsverkürzung/ Werbung, Kommerz), aber erst „von 537 Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin (filmedition suhrkamp) 2013 . Beiheft, S. 49 . 538 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ( 1795 ), in ders.: Schriften zur Philosophie und Kunst. München (Goldmann) 1959 . Zwölfter Brief, S. 95 . Hervorh. gem. Orig. 539 Vielmehr rückt er ihn mehr ins Licht, denn: „Die Kritische Theorie arbeitet mit einem antagonistischen Realismusbegriff.“ Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Rumoren der verschluckten Welt. Die Lebensläufe und das Wirkliche“ ( 1 . Vorlesung, 05 . 06 . 2012 ). 540 AGS 6 , S. 165 . 541 Koch, Gertrud: „Die Funktion des Zerrwinkels in zertrümmernder Absicht“, im Gespräch mit Alexander Kluge, in Erd, Rainer/ Hoß, Dietrich/ Jacobi, Otto/ Noller, Peter (Hg.): Kritische Theorie und Kultur. Suhrkamp (Frankfurt a. M.) 1989 , S. 123 f. Im Folgenden „Die Funktion des Zerrwinkels“. 138 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln unten“ erwächst ihr ganzen Potenzial: Transparenz, Diskurs, rhizomartige, kommentarhafte Artikulationsplattform und vor allem Kontrollorgan darüber, ob und wie die tatsächlichen Interessen der Menschen politisch und rechtlich vertreten und verwirklicht werden. Alex Demirović weist eindringlich darauf hin, dass Adorno die Überlegung einer gesellschaftlichen Neugestaltung von Seiten der Politik aufgrund von Totalitarismus ablehnt: „Die Vorstellung, dass die Gesellschaft in der Politik ihr Bewusstsein findet und von der Politik her die Gesellschaft gedacht und gesteuert wird“, habe Adorno grundlegend kritisiert. 542 Von der Politik her könne Gesellschaft nicht umgebaut werden, es gehe stattdessen um das Kräftespiel innerhalb der Gesellschaft. Das Spannungsverhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, zwischen individuellem und allgemeinem Interesse müsse offen gehalten werden. Entsprechende Aussagen finden sich in den Schriften gerade Adornos und Horkheimers zuhauf, besonders im Zusammenhang mit ihrer Positivismuskritik: „In der starren Entgegensetzung und Ergänzung formaler Soziologie und blinder Tatsachenfeststellung schwindet das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, an dem die Gesellschaft ihr Leben hat und darum die Soziologie ihr einzig menschenwürdiges Objekt.“ 543 Das staatstheoretische Muster Kluges ist „das Politische“. Emanzipative Umgestaltungen können nur aus der Gesellschaft kommen. Kommen sie als Beschluss von oben, werden sie also aufgezwängt, sind sie ideologisch-totalitär und daher weder bewusst noch nachhaltig. Betrachtet wird der Mensch nicht nur als Individuum und auch nicht als bloßes Glied eines Ganzen, sondern als Individuum in einer Gemeinschaft von Individuen, die wiederum mit Individuen anderer Gemeinschaften interagieren. 2.4.1.4 Die Stadt in mir sucht die Stadt außer mir In einem eindeutig autobiographischen Text, in Nachricht von ruhigen Momenten, eine Schrift, die erstaunlich viel Einblick in Kluges Seelenleben gewährt (Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod), erzählt er davon, wie elektrisiert er war, wenn er als junger Referendar mal wieder aus der ländlichen Kressborner Anwaltspraxis Hellmut Beckers in die Frankfurter Metropole beordert wurde: „Nach wenigen Wochen war ich ‚ausgehungert nach Stadt’. Wie flogen die Pfeile meiner Motive, die Pferde der Libido, mir voraus, wenn genug Grund für eine Dienstreise nach 542 Demirović, Alex: „Was ist Kritische Theorie? “ Eröffnungsvortrag im Rahmen der Tagung „Kritische Theorie und Emanzipation“ ( 11 .- 12 . 11 . 2011 ) an der Universität Bielefeld am 11 . 11 . 2011 (eigene Notizen). 543 Dieses Zitat nur als ein Beispiel von vielen; AGS 8 , S. 205 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 139 Frankfurt am Main bestand! “ 544 Urbanität sei in der Kanzlei nur von den Büchern im Regal ausgegangen, denn diese seien stets von städtischem Charakter.- - Die Stadt und das Rauschen. Doch Frankfurt ist nicht bloß ein biografisch bedeutender Ort im Leben Kluges: Hier in Frankfurt begegnet er Theodor W. Adorno, die sich sofort platonisch ineinander verlieben. 545 Adorno prägt ihn als Denker wie als Mensch, eine Freundschaft wächst, 546 die zuweilen, sicher auch aufgrund des Altersunterschieds, eine zwischen Vater und Sohn ist: Im September ’ 68 gratuliert Adorno ergriffen und geradezu emphatisch seinem „Sohn“ Alexander Kluge zur Verleihung des Goldenen Löwen: „Ich gratuliere Dir von Herzen. Mit solchen Dingen ist es ja, wie Monsieur Bergeret bei Anatole France vom Kreuz der Ehrenlegion redet: er verachtete es, aber noch schöner wäre es gewesen, es zu besitzen, und dann zu verachten. Und genau in diese Situation bist Du nun gekommen. Kurz, ich schwelle vor Stolz auf meinen Sohn.“ 547 Die Wortwahl ist mehr als tagesaktueller Gefühlsüberschwang. Oskar Negt verrät, dass Adorno „angenommene Söhne und Töchter“ in seinem nahen Umfeld hatte-- und „Kluge gehörte dazu“. 548 Frankfurt steht also immer auch für Erfahrungsraum und Raum des geistigen Austausches. Prägend dabei war das Institut für Sozialforschung „im Vortrott der Protestbewegung“ 549 : „Der Entschluss, die Verwaltungsstation im geordneten Rüdesheim auszuschlagen und die ‚Wirklichkeit’ in der Gestalt der Metropole zu suchen, erwies sich als gewagt.- […] Ich nehme an, dass die Meinungen in meinem Kopf sich anders sortiert hätten, wäre ich diesem Impuls, statt nach Rüdesheim nach Frankfurt zu gehen, nicht gefolgt.“ 550 544 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 53 . 545 Zum ersten Mal begegnen sich die beiden 1952 in Frankfurt während der Antrittsvorlesung Harald Patzers. Kluge beschreibt Adornos markante Augen und wie sie eine Dreiviertelstunde lang „seltsam beharrlich“ Blicke gewechselt hätten. Vgl. „Die Funktion des Zerrwinkels“, S. 111 . 546 Zu verschiedensten Anliegen holte Adorno gern Kluges Ansichten, nicht nur juristischer Art, ein (exemplarisch: Briefe Adornos an Kluge vom 12 . 10 . 1962 , 04 . 12 . 1962 und 16 . 07 . 1963 .). Die Briefkorrespondenz ist eine ausgesprochen freundschaftliche und herzliche, immer wieder fließen private Angelegenheiten mit ein (exemplarisch: Briefe von Adorno an Kluge vom 03 . 02 . 1964 und 06 . 04 . 1964 .). Vgl.: Theodor W. Adorno Archiv. 547 Brief von Adorno an Kluge vom 10 . 09 . 1968 . Vgl.: ebd. 548 Vgl.: Negt, Oskar: Unbotmäßige Zeitgenossen. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1994 , S. 33 . 549 Vgl.: Kluge, Alexander: „Entschluss eines aufgeregten Julitages“, in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 45 f. 550 Ebd., S. 46 . 140 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln So liegt es nahe, weshalb „Stadt“ für Kluge eine starke Symbolkraft hat für das „Projekt der Moderne“. 551 Weil so unterschiedliche Menschen in ihr auf engstem Raum weitgehend in Frieden zusammenleben, spricht er von der „Toleranzleistung Stadt“. 552 Auch erinnert er an Habermas, welcher dieses Phänomen „als den Anfang einer weltbürgerlichen Gesellschaft“ zu verstehen weiß, der trotz aller Rückschläge bis in unsere Zeit fort wirke. 553 Der kosmopolitische Mensch also ist noch ein Embryo. Kluge erinnert nur wenige Seiten danach an den „Judaist aus Princeton“, an Peter Schäfer, der vom Paradies Stadt spricht bzw. „das Paradies mit der Gründung der frühen Megastädte [identifiziert]“. 554 Wir tragen eine unsichtbare Stadt in uns, hört Kluge nicht auf zu erinnern. 555 Diese sei besonders dann zu erahnen, wenn wir eine uns fremde Stadt in Trümmern liegend sehen und wir dennoch „traurig“ werden. Mit dieser Metapher der unsichtbaren Stadt meint Kluge den genuinen Wunsch nach Frieden und Freiheit, der beim Anblick der Welt in uns weinen muss. Die Metapher der Stadt hat mehrere Bedeutungsebenen, von denen hier nur auserwählte rezitiert werden sollen. So steht sie nicht allein für einen idealtypischen Ort, für den praktischen Beweis friedlichen Zusammenlebens unterschiedlichster Kulturen und Sprachen, Religionen und Interessen. Negative Phänomene sind u. a. Gentrifizierung, Ghettoisierung, die Dichte von Armut, Obdachlosigkeit oder Kriminalität. Weiterhin haftet ihr (nicht nur als Symbol des Produktionszentrums), zumindest wenn man die rationierten Räume seiner Bewohner betritt, der Charakter der Entfremdung an, ja sie verkörpert die zweite Natur. Das Fehlen der Natur in der Hochhaus-Wohnung bedeutet zugleich aber auch die Erweiterung des Privatraums, was auf dem Land durch beispielsweise das Eigentum „Garten“ gar nicht nötig ist, und zwar die Erweiterung durch Teilung von öffentlichen Räumen wie einem Park in eine offene, wechselnde Gemeinschaft. Durch diesen teilweisen Verzicht auf Privatbesitz wird Zusammenleben erst möglich. Zusammengefasst: Eine Revolutionierung der Eigentumsverhältnisse ist in der Stadt durch deren Weniger an begrenztem Privatraum und durch deren Mehr an gemeinschaftlich geteilten (im Sinne von „gemeinsam haben“) Räumen sowie Freizeitmöglichkeiten allein aus logistischen Gründen schon in einem erweiterten Stadium als es auf den eher monokulturellen Dörfern und Kleinstädten der Fall ist, wenngleich Wald- und Wanderwege, Wiesen und Seen (weitläufige) Äquivalenzen dazu sind. Was an der Stadt-Metapher also auch deutlich wird, ist, dass öffentlicher Raum im klugeschen 551 Vgl.: Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 51 . 552 Ebd., S. 57 . 553 Ebd., S. 53 . 554 Ebd., S. 58 . 555 Vgl. u. a.: ebd., S. 59 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 141 Entwurf von Öffentlichkeit nicht nur physisch, sondern unbedingt auch geistig als inklusionistischer zu verstehen ist, d. h. gemeinsames Teilen von und gemeinsames Partizipieren am Raum, unvoreingenommenes Zulassen von Differenzen, von anderen Menschen wie Gedanken. Leben und Denken im Austausch, in Kooperationen. Das Ideal „Stadt“ heißt Inklusion aller Differenzen. Auch ist „Stadt“ als Synekdoche zu begreifen für ihren kolossalen Erfahrungsspeicher in Gestalt von Archiven und Magazinen, in denen verschiedene Zeitschichten und vergangene Realitätsschichten wie ein gewaltiges, urbanes Unbewusstes auf ihre Freilegung und Aufarbeitung warten. In diesem semiotischen Sinn spricht Walter Benjamin indirekt von der Stadt als „Buch“ und der Lesbarkeit alles Geschehenen. 556 Die Architekturen einer Stadt verhalten sich wie Texte, den Schaufenstern und Waren sind vergangene Zeiten, sind Lebensläufe eingeschrieben. Betrachtet man die Bedeutung von Schrift und Bild in den Städten des 21 . Jahrhunderts, bekommt diese allein durch die gesellschaftskritische Symbolik der Urban Arts, also Street Art, Graffiti, Tags, Adbusters usw., eine ganz neue Dynamik urbaner Kommunikation: Die Partizipation von politischen Bürgern an einer Art öffentlichem Forum, die Mauer als Buchseite. Kluges Methode des Cross-Mappings ist deshalb auch als ein Werkzeug zu verstehen, mit dem die verschiedenen historischen Schichten so herausgearbeitet werden können wie beim Anwesen des Mannes ohne Eigenschaften-- d. h. erstens: Veranschaulichung und Nachvollzug der historischen Gewordenheit eines Gegenstandes samt seiner Relationen und Kontexte, und zweitens: man kann darin leben. Benjamins Phänomenologie der Metropole, die er beileibe nicht nur in seinem epochalen Passagen-Werk oder der Einbahnstraße artikuliert, erzählt bekanntermaßen vom Flaneur, der sich die Stadt erschließt. Indem er schaut, indem er fühlt, indem er denkt, vermag er, die flüchtige Gegenwärtigkeit einer Stadt wahrzunehmen. Die Reflexionskraft eines solchen Denkens in Bewegung, assoziativ und ephemer, vermag der Inkonsistenz der Realität selbstbewusst zu begegnen: Das flanierende Denken Benjamins ist das redende Denken Kleists ist das konstellative Denken Kluges. 2.4.1.5 Öffentlichkeit: Tummelplatz, Erfahrungsraum, Reflexionsort „Das Grundbedürfnis nach Gesellschaftlichkeit drückt sich in dem kollektiven Drang zu den entsprechenden Orten aus- […]. Umgekehrt ist die Verödung der Stadtzentren, das Verbot von Versammlungen auf dem Betriebsgelände, die Räumung der Bahnhofshallen durch die Bahnpolizei eine wirksame Zerstörung dieser Grundform von Öffentlichkeit.“ 557 556 Vgl.: BGS V. 1 , S. 580 . 557 UM, ÖE, S. 635 . 142 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Die Chiffre „Stadt“ steht, wie wir gesehen haben, also für die höchste Form real gewordener menschlicher Kooperationsleistung. Kluge, der auch mit Richard Sennett im Verbund viel gesagt, geschrieben und gedreht hat zu „städtischer Öffentlichkeit“ 558 , wirft einen brisanten Vergleich auf (im Subtext mag man den Bombenangriff auf Halberstadt mitlesen): „Es können aber auch große Flotten von Investoren eine Stadt zerstören, und dann machen das nicht Bombenflugzeuge, sondern das macht das Geld. Und dagegen gewissermaßen Beobachtungsgabe und eine Empfindung zu organisieren, das ist das, was Richard Sennett und mich interessiert, weil Städte sind Öffentlichkeit und diese Öffentlichkeit ist etwas, was Menschen brauchen, genauso wie ihre Intimität.“ 559 Der Anfang des Kapitalismus liegt in einem Versprechen, das ohne Vertrauen zwischen Menschen nicht zustande gekommen wäre. Nun ist es aber so, dass dieses spezielle Vertrauen längst abhanden gekommen ist. Stattdessen ist es eher ein Verbund aus Wunsch, Angst und Gier. Laut Kluge ist ein so gearteter Kapitalismus für Menschen gänzlich ungeeignet und in dieser Form inakzeptabel. Kapitalismus müsse dazulernen: „Es gibt hundert Arten davon und der Produktionskapitalismus ist etwas total verschiedenes vom Finanzkapitalismus.“ 560 Man könnte es vielleicht so raffen: Ersterer handelt mit etwas Konkretem, das er hat, während Letzterer mit etwas Handel treibt, das er nicht hat, das abstrakt ist. Deshalb seien „manche Formen-[…] überhaupt kein Kapitalismus, sondern ein Derivat davon, eine Verirrung.“ 561 Nun ist es gewiss nicht sein Anliegen, einen neuen Kapitalismus zu formen, vielmehr geht es ihm um „eine Reinschrift dessen, womit Menschen leben können“, denn er ist sich sehr bewusst darüber, dass es eine „Ökonomie des Kapitals“ „immer“ geben werde. Diese sei zwar „relativ abstrakt“, jedoch ausgesprochen „kommunikativ“ und „geschickt“. Es gibt aber noch etwas Zweites, mit diesem Konkurrierendes, und zwar „die Ökonomie der lebendigen Arbeit“, also „das, was die Menschen in ihrer Lebenszeit machen“. 562 Wie in dem im Haus der Kulturen der Welt gezeigten Montage-Film Die Entstehung der Zivilisation. Paradies und Terror und das Prinzip Stadt thematisiert wird, haben unsere Vorfahren, die ersten Städtegründer, das mit uns physiologisch 558 Vgl.: Kluge, Alexander: „Die Welt auf engstem Raum- - das erfordert Toleranz. Die Entstehung der Zivilisation aus Paradies und Terror: Ein philosophischer Beitrag in sechs Episoden anlässlich der Tagung ‚Das Prinzip Stadt’ im Berliner Haus der Kulturen der Welt“, in Die Welt vom 02 . 04 . 2014 . Link: http: / / www.welt.de/ 126 456 227 [Zugriff: 03 . 04 . 2014 ]. 559 Kluge in: „Die Stadt als Paradies. Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge über Stadt, Religion und Kapitalismus als Wendepunkte der Zivilisation“, Moderation: Katrin Heise, auf Deutschlandradio Kultur am 03 . 04 . 2014 . 560 Kluge, ebd. 561 Kluge, ebd. 562 Kluge, ebd. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 143 gleiche Hirn anders und zwar „bikameral“ genutzt: rechts Götterstimmen, links Alltagssprache. Als notwendige Bedingungen für jene „‚einzig authentische Revolution im Menschengeschlecht’“-- die Megastadt-- gelten „Drogen, Religion und Versorgung durch Plantagen“ sowie: „Kooperation“. Heutige Städte, die etwas über das Ziel hinausgeschossen sind, zu viel „denken“, benötigen „Stressreduktionsmechanismen“. 563 Das Rauschmittel „Bier“ führt Kluge exemplarisch an, das wie ein gemeinsames Drittes fungiert (ich erkenne etwas von mir wieder im Anderen), das (in Maßen) Zivilisation, gesellschaftliches Zusammenkommen durchaus erleichtern kann, auch im Sinne von „Brot und Spiele“. Das episodenhafte „Thekengespräch“ steht für die Ungezwungenheit der Kommunikation und somit für ein zwischenmenschliches Aufeinanderzugehen. Das alte Wort „Klassenzugehörigkeit“ greift das gar nicht mehr, weil die Menschen unabhängig ihrer Klassenzugehörigkeit gemeinsame Interessengebiete haben. Was einst „Tauschgesellschaft“ war, wurde im „als Nationalsozialismus verkleideten Kapitalismus“ zu einer „Zwangstauschgesellschaft“: „Die Eigentumsgesellschaft trennt sich vom subjektiven Willen der Eigentümer. Nicht was der Markt aufnimmt, was wirkliche Menschen brauchen, sondern was produziert wird, wohin die einmal historisch gewachsene Industrie weist, bestimmt den Weg des Ganzen.“ 564 Es gilt daher, dass sich die Menschen öffentlich einbringen, beteiligen und wieder Miteigentümer werden von Öffentlichkeit und von Produkten (Lebensmittel, Energie, Kunst etc.), wie es etwa die Idee der sich langsam ausbreitenden Transition-Bewegung ist. 565 Aus einer Öffentlichkeit an sich muss eine Öffentlichkeit für sich werden: Es herrsche eine „gestörte Subjekt-Objekt-Beziehung“ zwischen den sich antagonistisch gegenüberstehenden Gesellschaftsschichten, die allerdings nur teilweise „auf ideologischer Verzerrung und Verzerrung der Wahrnehmungsstruktur“ beruhe. 566 Darüber hinaus sei sie nämlich nur „objektiv vermittelt“, als etwas Äußeres, Undurchdringbares, weil die „Berührungsfläche in den Klassenbeziehungen punktuell und partiell ist“, indem die „Lebenszusammen- 563 In Kluge, Alexander: „Sitz der Seele. René Pollesch über sein dynamisches Theater ‚Schmeiß dein Ego weg’“, in NEWS & STORIES vom 06 . 03 . 2011 . Aus dem Alexander-Kluge-Archiv, freundlich bereitgestellt von Beata Wiggen (dctp). 564 UM, ÖE, S. 521 . 565 Transition- = engl., Übergang. Lokale Öffentlichkeiten mit lokalem Wissen, lokaler Herstellung und Versorgung usw., aber mondial gedacht und praktiziert; d. h. ein dezentrales Netz des Erfahrungsaustausches, das der globalen Ressourcenverschwendung entgegenarbeitet: „Im Rahmen des Transition Town Movement (etwa ‚Bewegung für eine Stadt des Übergangs/ Wandels’) proben seit 2006 Umwelt- und Nachhaltigkeitsinitiativen in vielen Städten und Gemeinden der Welt den geplanten Übergang in eine postfossile, relokalisierte Wirtschaft.“ Vgl.: http: / / www.transition-initiativen.de/ bzw. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Transition_Towns [Zugriff: 14 . 06 . 2014 ]. 566 UM, ÖE, S. 667 . 144 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln hänge“ nur „über die Abstraktion des Kapitalverhältnisses“ bestimmt werden und nicht über „wirkliche Berührung wesentlicher Elemente“, nicht wirklich zwischenmenschlich. 567 Kluges multisensorische Arbeiten nun wiedervereinen das menschliche Wahrnehmungssystem, welches durch die spezialisierten Verwertungsinteressen des Marktes ebenso arbeitsteilig getrennt erscheint wie die Einzelwissenschaften in den Universitäten. 568 So komponiert er eine moderne Oper wissenschaftlicher Kooperation, arrangiert transdisziplinär Physik, Astronomie, Mathematik, Biologie, Neurowissenschaft, Verhaltensforschung, Psychologie, Geschichte, Pädagogik, Philosophie und sämtliche Humanities. Dass sich die Einzelwissenschaften historisch komplex so gebildet haben, sich spezialisiert haben, wird dabei aber nicht versucht zurückzunehmen (das wäre geschichtsverfälschender Kitsch). Es geht um eine Gegensteuerung zum notorischen Abgrenzungsdrang, darum, die Erfahrungen und Perspektiven zu wechseln, Wissen zusammenzutragen und zusammenzuarbeiten. Denn die „wirklichen Verhältnisse“, also „das Leben“ selbst, bilden im Kosmos Kluge die opulente Gegenproduktion zum reduktionistischen und „homogenisierten Programmstil des Fernsehens und jeder anderen Programmindustrie“. 569 Es deutete sich bereits an, dass all das weitaus tiefere Bedeutung hat als nur eine ästhetische. Das zwitterhafte Leitmedium TV / Internet, selbst Partikel des Bildungswesens, befindet sich entweder mehrheitlich in privatwirtschaftlicher Hand oder in staatlicher, sog. öffentlich-rechtlicher Hand, die sich aber erstens den kommerziellen Formaten gegenüber assimilierend verhält (Show, Soap, Heile- Welt-Film, Musikantenstadl etc.), zweitens ebenso wie diese nach Quotendruck funktioniert und zudem drittens von einer politischen Einflussnahme zumindest in der Personalstruktur geprägt ist, die, und das sind FAZ-Worte, bis zur „ultimativen Entmündigung der Öffentlichkeit“ 570 führt. Ein Teil dieses Zwitterwesens wird durch dctp und ihre Partner 571 gemeinnützig gemacht und, indem es themati- 567 Ebd. 568 Vgl.: UM, ÖE, S. 502 ff. 569 UM, ÖE, S. 515 . 570 Frank Schirrmacher sprach von einer „ultimativen Entmündigung der Öffentlichkeit“ in Bezug auf die Kontroverse um Ex-ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender (in „Der Fall Brender: Angriff auf das ZDF“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09 . 03 . 2009 ). Nachrichten-Moderator Claus Kleber zum selben Thema: „Es darf nicht sein, dass parteipolitische Seilschaften wieder versuchen, nach parteipolitischen Kriterien Journalistenposten im ZDF zu bestimmen.“ (In „Politik-Eklat beim ZDF-- Kleber attackiert Partei-Seilschaften“, Spiegel Online vom 20 . 02 . 2009 ). 571 Aus dem Programmauftrag der „Entwicklungsgesellschaft für Fernsehprogramm“: „Seit Firmengründung im Jahre 1988 ist dctp, die DEVELOPMENT COMPANY FOR TELEVISI- ON PROGRAM mbH, eine Plattform für unabhängige Dritte im deutschen kommerziellen Fernsehen. Sendestart war mit dem Kulturmagazin 10 VOR 11- - TEN TO ELEVEN am 2 . 5 . 1988 auf RTL. Ziel ist es, Information, Bildung und Kultur in einem Gesamtprogramm 2.4 Identität und Öffentlichkeit 145 sche, kulturelle und künstlerische Vielfalt produziert, tatsächlich einem irgendwann einmal formulierten Bildungsauftrag gerecht. Es ist eine Grundsatzfrage über Wert und Wirkung von Informationen. Was ist eine Ausrichtung wert, von möglichst vielen eingeschaltet, gelesen, geklickt zu werden und so den Interessen von Anzeigenkunden und Werbepartnern zu entsprechen als etwa die, wie sie von Stefan Niggemeier (Bildblog, Krautreporter) und anderen Qualitätsjournalisten (z. B. Der Sender) vertreten wird, 572 die auf die Zufriedenheit des Publikums setzt? Glück statt Klick, Besonnenheit statt Aufregung, Inhalt statt Hype. Es ist darüber hinaus darauf aufmerksam zu machen, dass ein Quotenerfolg keineswegs eine Repräsentanzkompetenz in Bezug auf eine Gesellschaft hat, da nur ein niedriger Prozentsatz der Bevölkerung (in MP wird er mit 1 - 2 Prozent beziffert 573 ) diese Schein-Mehrheit stellt, wohingegen gesellschaftliche Vielschichtigkeit und tatsächliche Bevölkerungsmehrheit gekappt werden. Das, was Kluges „Entwicklungsgesellschaft“ macht, hat deshalb, wenn man das etwas plakativ vergleichen möchte, in etwa den Stellenwert einer prä-proletarischen Gegenöffentlichkeit, die sich neben einer bürgerlich-verwaltenden Öffentlichkeit (öffentlich-rechtliches Fernsehen) und den Produktionsöffentlichkeiten (kommerzielle Sender) entfaltet. Kurzum: Kritik dringt in dasselbe Medium ein, in dem Macht und Kapital regieren und produziert ein Kaleidoskop der Gesellschaftssplitter. Der einstige Vorwurf des Quotenkillertums klugescher TV -Formate kann demnach auch aus monetärer Sicht, woher er kam und wo allein er überhaupt als etwas Negatives gelten kann, als überholt betrachtet werden. Gleiches gilt für die Plattform als Werbefläche, der es an Attraktivität offenbar nicht mangelt. Öffentlichkeit hat eine „elementare zivilisatorische Dimension“ 574 , ohne sie ist weder Wissenschaft noch Kunst, weder Politik noch Gesellschaft zu denken. Hört zu verbinden. In diesem Gesamtprogramm kooperiert dctp nach dem Herausgeberprinzip mit Partnern aus großen Verlagshäusern (Spiegel, Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung), mit BBC Worldwide und anderen. Hinzu treten die Kulturmagazine der dctp, die sich im Schwerpunkt der Oper, dem Film, dem Buch und wissenschaftlichen Themen widmen. Die Reihen ‚Klassiker des Deutschen und des Internationalen Films’ sowie Sonderprogramme in Längen von zwei bis fünf Stunden ergänzen das Gesamtangebot. Die für dctp lizenzierten Sendezeiten auf RTL, Sat.1 und VOX werden in der Gesamtverantwortung der dctp von den Partnern in redaktioneller Unabhängigkeit bestückt.“ Link: http: / / www.dctp. de/ programmauftrag.html [Zugriff: 17 . 07 . 2014 ]. 572 Vgl.: http: / / www.stefan-niggemeier.de/ blog/ was-krautreporter-mit-truedetective-zu-tunhat/ [Zugriff: 14 . 05 . 2014 ]; http: / / meedia.de/ 2015/ 01/ 16/ der-sender-journalisten-wollenalternative-medienplattform-gruenden/ [Zugriff: 16 . 02 . 2015 ]; . 573 Vgl.: UM, MP, S. 704 . Die Quotenrechnung, die über Programm, Personen und Inhalte entscheidet und letztendlich jene (pseudo-)„öffentliche Meinung“ bestimmt, ist also nicht mehr als ein „künstlicher Selektionsprozeß“. 574 Volker Gerhard in „Das Neue scheint immer das Wichtigste zu sein. Jan Feddersen u. Hans Hütt im Gespräch mit Volker Gerhardt“, in die taz vom 13 . 04 . 2013 . 146 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln man auf Bourdieu oder Jameson, so ist der öffentliche Raum wirksames Machtinstrumentarium herrschender Instanzen und einflussreicher Lobbyisten und in der Praxis demzufolge weit entfernt vom habermas’schen Ideal. Dass dies kein linker Populismus ist, sondern eine gerechtfertigte Bestandsaufnahme auch westlicher Staaten, ergibt sich aus den folgenden Auszügen couragierter journalistischer Berichte: Die Pressefreiheit ist auch in einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland ein gefährdetes demokratisches Gut, wie u. a. aus einer NDR -Reportage über den gestürzten ZDF -Chefredakteur Nikolaus Brender hervorging: „Immer wieder machen Politiker Machtansprüche gegenüber den Sendern geltend. Beim ZDF in massivster Weise, aber auch in der ARD . Zu gerne wollen Staatskanzleien in Programm und Personal hineinregieren und müssen immer wieder abgewehrt werden.“ 575 Gleiche Äußerungen finden sich etwa bei der Deutschen Welle: „Doch Pressestellen von Parteien und PR -Berater von Politikern versuchen oft, Einfluss auf die Berichterstattung der Medien zu nehmen. So dürfen Interviews häufig erst dann gedruckt werden, wenn sie vorher geprüft und überarbeitet wurden. Was der Zeitungsleser schließlich zu lesen bekommt, entspricht dann nicht mehr dem Originaltext.“ 576 Wie aktiv die politische Einflussnahme auf die öffentliche Meinung mitunter funktioniert, offenbarten zwei kurz aufeinander folgende, investigative Reportagen des ARD-Politmagazins „Report Mainz“. 577 In ihnen wurde aufgedeckt, wie von Politik und Lobby beauftragte PR - und Werbe-Agenturen systematisch vorproduzierte Beiträge, die die jeweiligen Interessen mithilfe gestellter O-Töne und gekaufter Umfrage-Stimmen als öffentliche Meinung darstellen, in der Nachrichten-Landschaft lancieren und digitale Foren durch Fake-Kommentare unterwandern: „Systematisch werden so die Hörer getäuscht. Unternehmen und Ministerien bestimmen redaktionelle Inhalte.“ 578 Selbst wenn diese Fälle Ausnahmen sein sollten, käme man nicht umhin, von einer Verzerrung des öffentlichen Meinungsbildes zu sprechen. Das Problem allerdings ist, dass man es hier mit einer „boomenden Branche“ zu tun hat: „Auf einen PR -Profi“, so heißt es beim Norddeutschen Rund- 575 Wübben, Josy/ Klofta, Jasmin: „Der Fall Brender und die Konsequenzen“, in ZAPP-- Das Medienmagazin, NDR-Sendung vom 30 . 11 . 2009 , 00 : 05 Uhr. Skript: http: / / www.ndr. de/ fernsehen/ sendungen/ zapp/ medien_politik_wirtschaft/ brender152.html [Zugriff: 13 . 03 . 2013 ]. 576 Schmeller, Johanna/ Schmaus, Stephanie: „Angriff auf die Pressefreiheit“, Deutsche Welle am 06 . 01 . 2012 . 577 „Getarnte Werbung. Die fragwürdigen PR-Kampagnen der Bundesregierung“, ARD-Sendung vom 27 . 08 . 2007 , 21 : 45 Uhr. Sowie: „Gekaufte Beiträge. Wie Ulla Schmidt politische Werbung als Information verkauft“, ARD-Sendung vom 07 . 07 . 2008 , 21 : 45 Uhr. 578 „Gekaufte Beiträge. Wie Ulla Schmidt politische Werbung als Information verkauft“, ARD- Sendung vom 07 . 07 . 2008 , 21 : 45 Uhr. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 147 funksender, kämen „nur noch zwei Journalisten“. 579 Ist also eine zunehmende Aushöhlung des demokratischen Kontrollorgans zu befürchten? Der Begriff „Öffentlichkeit“ ist juridischen Ursprungs. Die öffentliche Zugänglichkeit bei Gerichtsverhandlungen, also Öffentlichkeit als Überwachung von der Tatsächlichkeit von Rechtsstaatlichkeit, „Überwachung von unten“ sozusagen, hat sich in den demokratischen Gesetzestexten niedergeschlagen. 580 In derselben Sendung erklärte mit Thomas Leif der damalige Vorsitzende der Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“: „‚Wir sind jetzt an einem Punkt, wo schon die PR einen dominierenden Einfluss hat auf die Konstruktion von Öffentlichkeit.- […] Man versucht, die Mittel der normalen demokratischen Öffentlichkeit-[…] zu instrumentalisieren für die Teilbotschaften und die Interessen der Auftraggeber und der PR -Industrie.’“ 581 Durch gestellte Beiträge werden Meinungen in das Kleid von Information gehüllt. Auf diese Weise entsteht eine deformierte Öffentlichkeit mit inszenierten Realitäten. Michael Konken vom Deutschen Journalisten Verband bezeichnete die Vorgehensweisen ohne Umschweife als „Propaganda in bester Form“, 582 anders könne man es gar nicht nennen. Die „Politik der Bundesregierung“ werde „professionell verkauft und auch so versendet“, wie er in der Sendung weiter deutlich ausführte. Verschiedene Fakten über die deutsche Medienlandschaft, die von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht wurden, lassen die allgemeine Porosität jener „vierten Gewalt“ erkennen: „Das Funktionieren einer Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 GG ), setzt voraus, dass dessen Mitglieder über die Informationen verfügen, die sie benötigen, um sich auf rationale Weise eine eigene Meinung zu allen politischen Fragen bilden zu können. Diese Informationen können sie zum größten Teil nur aus den Medien beziehen.“ 583 Gleichzeitig wird diese Kapazität jedoch zuhauf von minderwertigen „Informationen“ besetzt. Die historisch gewachsene Errungenschaft von Öffentlichkeit und die eigentlichen Potenziale des öffentlichen Raums wie Aufklärung, Transparenz, Diskussion und demokratische Kontrolle von unten werden durch Boulevardisierung zersetzt. 579 Ruprecht, Anne: „Die PR-Branche und ihre Tricks“, in ZAPP-- Das Medienmagazin, NDR- Sendung vom 30 . 11 . 2009 , 00 : 05 Uhr. 580 Beispielsweise: EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention), Art. 6 , Abs. 1 . 581 Ruprecht, Anne: „Die PR-Branche und ihre Tricks“, in ZAPP-- Das Medienmagazin, NDR- Sendung vom 30 . 11 . 2009 , 00 : 05 Uhr. 582 „Getarnte Werbung. Die fragwürdigen PR-Kampagnen der Bundesregierung“, ARD-Sendung vom 27 . 08 . 2007 , 21 : 45 Uhr. 583 Branahl, Udo/ Donges, Patrick: „Warum Medien wichtig sind: Funktionen in der Demokratie“, in Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Informationen zur politischen Bildung, 309 , 4 / 2010 , S. 6 . Die Texte der BPB sind auch online abrufbar unter www.bpb.de. 148 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Massenmedien beeinflussen das Problembewusstsein. Die Menschen können ihre Aufmerksamkeit nur wenigen gesellschaftlichen Problemen widmen. Sie halten deshalb vor allem die Probleme für wichtig, über die die Medien besonders häufig berichten (Agenda-Setting-Effekt). Dieser Effekt kann einerseits positiv sein, weil er dazu beiträgt, dass sich eine Gesellschaft auf bestimmte Probleme einigt, die es zu lösen gilt. Er kann andererseits jedoch auch negative Konsequenzen haben, wenn sich die Medien mit Problemen beschäftigen, die eigentlich zweitrangig sind und von den wirklichen Problemen ablenken.“ 584 Denn das, was gedruckt und gesendet wird, richtet sich nicht unbedingt nach Substanz, sondern eher nach merkantilen Interessen: „Die Angebote reichen von der Tagesschau bis zur Verbreitung von Klatsch und Tratsch. Hergestellt wird, was sich auf dem Markt verkaufen lässt. Den Inhalt der Medien bestimmt nicht der Staat, sondern letztlich das Publikum, denn produziert wird auf Dauer nur, was auch Absatz findet.“ 585 Aufgrund dieses Mangels funktioniert Kluges Ästhetik deshalb nach kartographischem Prinzip, um dem Rezipienten bei der Orientierungs- und Standortsuche in einer unübersichtlichen Welt zu helfen („cognitive mapping“ 586 ). Nach dem Kommunikationswissenschaftler Joachim Westerbarkey liest sich die Signatur der Öffentlichkeitsidee folgendermaßen: „Dynamik und Pluralität“, 587 dazu Variation. Alles Indikatoren klugescher Formästhetik, die, durch die Ebene ihrer theoretischen Reflexion begründet, öffentlichkeitsproduzierend ist. In diesem Kontext sei zudem daran erinnert, dass Kluge durch Verfremdungseffekte die eigenen Produktionsverhältnisse seiner Öffentlichkeitsarbeit sichtbar macht. Ziel ist es, dass der Rezipient durch sinnlich-ästhetische Erfahrbarkeit individuell seine Umwelt anzueignen vermag und, wenn möglich, sich in einem weiteren Schritt ins gesellschaftliche Zusammenleben einbringt (so er denn möchte). Jenes eingeforderte Involvieren des Intimen in die Öffentlichkeitssphäre ist, wenn man einmal ein gedankliches Cross-Mapping mit der Öffentlichkeit einer griechischen Polis unternimmt, eine Emanzipierung jenes alten Vorbilds. Es ist bekannt, dass, abgesehen davon, dass es hier erstens nur den männlichen Polis- Bewohnern vorbehalten ist, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen- - d. h. keine 584 Maurer, Marcus: „Wirkungen der Medien aus Sicht der Gesellschaft“, in ebd., S. 65 . 585 Branahl, Udo/ Donges, Patrick: „Warum Medien wichtig sind: Funktionen in der Demokratie“, in ebd., S. 6 . 586 Jameson, Fredric: „Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“, in Huyssen, Andreas/ Scherpe, Klaus R. (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek (Rowohlt) 1986 . S. 95 f. 587 Vgl.: Westerbarkey, Joachim: „Öffentlichkeit als Funktion und Vorstellung. Versuch eine Alltagskategorie kommunikatorisch zu rehabilitieren“, in Wunden, Wolfgang (Hg.): Öffentlichkeit und Kommunikationskultur. Beiträge zu Medienethik. Münster (Lit) 2005 , S. 59 ff. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 149 Frauen, keine Sklaven, keine „Ausländer“- -, dieses Recht zweitens auch nur für finanziell Abgesicherte gilt. Als „freier Mann“ zählt nur, wer nicht in prekären Lebensverhältnissen kämpft, sondern wer seinen oikos (Haushalt) in Schuss hält (in Wirklichkeit sorgten hierfür die Frauen) 588 und sich sozusagen sorgenfrei dem Denken hingeben kann. Streng genommen gilt nach dem antiken Maß jeder arbeitende Mensch als unfrei. Nach dieser Logik braucht es also nicht erst einer „linken Lektüre“, um zu erkennen, dass wirkliche Freiheit nur möglich wird, wenn die Güter der Welt gerecht verteilt sind-- zumindest so, dass niemand in existenziellen Ängsten leben muss. Mit sinkender Arbeitszeit sinkt auch die Fremdbestimmtheit der eigenen Lebenszeit, wodurch also das eigene Herrwerden hierüber ansteigt. „Erst wenn die Wahrnehmungen nicht mehr eingeengt sind auf die unmittelbaren Bedürfnisse, wenn elementares Elend aufgehoben ist, die Interessen und Wünsche vielfältig geworden sind, entsteht Spielraum, Raum für einen neuen Lebensentwurf.“ 589 „Spielraum“ meint hier ein offenes Terrain für menschliche Energien, die im „Scheinraum“ des Realen missbraucht werden. Kluge und Negt beobachten eine zunehmend angstfreie Rückeroberung und Besetzung (occupy) von durch Macht „aufgeteiltem sozialen Raum“ 590 : „Revolution ist nicht ein Mittel für ein bestimmtes Ziel, sondern der Prozeß selber, in dem die Menschen ihre Alltagsutopien umzusetzen versuchen und neue Erfahrungen im Umgang miteinander und mit den Dingen machen.“ 591 Entscheidend ist, dass eine Erweiterung des öffentlichen Raums nicht nur räumliche, sondern zwingend auch zeitliche Ausdehnung meint und benötigt. Und zwar in zwei Dimensionen, einmal Zeit zur Reflexion und einmal Zeit in der Reflexion: „Zu Öffentlichkeit gehört auf alle Fälle ein Gedächtnis, ein Wissen um das, was vor dem Aktuellen liegt.“ 592 Deshalb erklingen in Kluges Geschichten Obertöne, wie man in der Musik sagt: Es schwingt immer Vergangenes mit. Zugleich muss die Ausbildung von Citoyens gekoppelt an das sich stets verändernde Zeitgeschehen erfolgen. Sie darf nie den Gegenwartsbezug aus den Augen verlieren und darf nicht die eigene Veränderung scheuen, um die Umset- 588 Durch die feministischen Bewegungen in den Politikbzw. Wirtschaftswissenschaften aufgedeckt. Deshalb galt lange Zeit „öffentlich“ als „männliche“, „privat“ als „weibliche“ Sphäre. Vgl. u. a.: Ferber, Marianne A./ Nelson, Julie A. (Hg.): Beyond Economic Man. Feminist Theory and Economics. Chicago (The University of Chicago Press) 1993 ; Benhabib, Seyla: Feminist Contentions: A Philosophical Exchange. New York/ London (Routledge) 1995 . Dazu auch: Arendt, Hannah: Was ist Politik? München (Piper) 1993 . 589 UM, MP, S. 753 . 590 Ebd., S. 748 . 591 Ebd., S. 749 . 592 Volker Gerhard in „Das Neue scheint immer das Wichtigste zu sein. Jan Feddersen u. Hans Hütt im Gespräch mit Volker Gerhardt“, in die taz vom 13 . 04 . 2013 . 150 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln zungsfähigkeit von revolutionären Ideen zu wahren, wie Kluge anhand einer gern erzählten Anekdote veranschaulicht. 593 „Nur beides, die Genauigkeit des Augenblicks und der Erzählraum von hundert oder tausend Jahren, produziert die Massen von Unterscheidungsvermögen, an denen Knappheit besteht: die zwei Klingen der Schere“-- „wie bei Simon’s Scissors“. 594 Dieser Pfad wird in den Kapiteln 2 . 6 . 1 und 2 . 6 . 2 weiterverfolgt. Was Kluge und Negt „Zeitsouveränität“ 595 nennen, bedeutet außerdem eine erhöhte Chance der zivilgesellschaftlichen Produktion für Gemeinschaft, Öffentlichkeit, das Politische. Hier ist also eine Umverteilung von Macht zu beobachten sowie eine Verschiebung vom konsumierenden oder reproduzierenden zum produzierenden Menschen. 596 „Ohne Mitbestimmung in allen Lebensbereichen, die wichtige Angelegenheiten der Menschen regulieren“, macht Negt deutlich, „ist demokratisches Lernen nicht möglich.“ 597 Um aber überhaupt mündig und selbstbestimmt handeln zu können, muss der Mensch entsprechend ausgebildet werden bzw. sich selbstregulierend ausbilden. Wohlgemerkt geht es Kluge/ Negt dabei keineswegs um einen Zwang zum politischen Handeln; dies steht jeder und jedem frei. Es kommt hier auf etwas anderes an, genauer gesagt zweierlei: Erstens geht es darum, dass Menschen mit Unterscheidungsbzw. Entscheidungskompetenzen ausgestattet werden. Zweitens werden menschliche Handlungen (das impliziert auch Unterlassungen) als öffentlich begriffen, indem sie direkt oder indirekt auf andere Individuen in Beziehung stehen. Diesem Verständnis folgend, wird der Einzelne in seiner Macht sowie in seiner Verantwortung gestärkt. Zugleich wird bereits Konstituiertem der Charakter des seit und für Ewig-Geltenden abgesprochen, Möglichkeiten seiner Umformungen werden real möglich. Wenngleich Perikles, den Kluge in „Die Gefallenenrede des Perikles in einer Veranstaltung des Jahres 1943 in Theben“ zitiert, einen sich nicht „politisch beteiligenden Staatsbürger“ nicht als „stillen“, sondern als einen „schlechten“ Bürger betitelt, sprich wenn er nicht seine aktive Rolle im Sinne eines Mitgestalters annimmt. 598 Doch bei den Griechen, den „‚Glückskindern’“, wie Marx sagte, entstand laut Kluge „die Idee des Politischen, wie sie zur Emanzipation langt.“ 599 593 Sie findet sich u. a. als Kurzgeschichte „Zeitbedarf von Bildungsprozessen“ in den Brettern auf Seite 97 . 594 30. April 1945, S. 307 . 595 Vgl.: UM, MP, S. 702 f. 596 Vgl.: UM, MP, S. 703 . 597 Negt, Oskar: „Demokratie als Lebensform. Mein Achtundsechzig“, in Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14 - 15 / 2008 . Bundeszentrale für politische Bildung. 598 Bretter, S. 280 ff. 599 Ebd., S. 311 (Marx zit. n. Kluge) bzw. 312 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 151 Das soeben geschilderte Theoretische komplementiert Kluge mit narrativer Praxis: dem Ausweiten auch des optisch kleinsten Erzählraums durch ein Verknoten entferntester Zeitstränge mit der Gegenwart. 600 Dass Öffentlichkeit ein Mittel ist zur politischen Befreiung, ist besonders im Zuge des Arabischen Frühlings eifrig diskutiert worden. Doch sie kann auch ein Mittel zur Befreiung des Individuums werden: „Individualität und Öffentlichkeit waren schon immer auf das engste verschwistert.“ 601 Volker Gerhardt weist in Öffentlichkeit-- Die politische Form des Bewusstseins darauf hin, dass gesellschaftliches und individuelles Bewusstsein strukturell immer zusammen zu denken sind. Die Tatsache dieser Verwobenheit und der Veranlagung des Menschen, ein öffentliches Wesen zu sein, bedeutet im Rückschluss also auch, dass Bewusstsein niemals nur subjektiv sein kann. Öffentlichkeit und Gesellschaftlichkeit sind hier nicht mehr aufzutrennen. Öffentlichkeit, so wie wir sie kennen, ist substanzarm und unterentwickelt. Das ist nicht nur physisch beobachtbar: Angleichung der Innenstädte, die das Besondere nach außen drängen (Gentrifizierung, Shopping-Straßen, Behandlung von Obdachlosen- - zwar nicht biologistisch „unwert“, doch wirtschaftlich, etwa bezogen auf Investoren und Touristen, als „schädlich“ bewertet und ins „Exil“ des Stadtrands gedrängt), Kommerzialisierung öffentlicher Plätze (Werbung, wohin man blickt, Sitzgelegenheiten nur bei Konsumieren freigegeben) oder die aseptische Umgebung von Malls. Sondern auch auf anderen Ebenen: Erst, wenn sich in ihr gesellschaftliche Erfahrungen ausdrücken und erst, wenn durch Abstraktion scheinbar Getrenntes in seinen wirklichen Zusammenhängen erkennbar wird, kann sie ihr emanzipatorisches Potenzial entfalten. In Öffentlichkeit und Erfahrung wird der individualistische Erfahrungsbegriff des klassischen Humanismus berichtigt durch den (weitaus humanistischeren) Gedanken des Heraustretens aus dem einsamen Menschenkopf, hin zur intersubjektiven Kommunikation in der Erfahrungsproduktion: „Die Auffassung des traditionellen Humanismus, die die Erfahrungsbildung in die einzelne Persönlichkeit hineinverlegt, stellt die wirkliche Bewegung der Erfahrung still. Gewiß kann diese nur durch die Köpfe von Menschen erinnert, verwandelt oder kastriert werden; ihre Produktion und Organisation aber ist ein kooperativer gesellschaftlicher Vorgang, der nur dann verstanden werden kann, wenn man die Fiktion der individuellen Erkenntnis und der Konstitution von Individuen aufgibt.“ 602 600 Ein Beispiel findet sich in Kapitel 2 . 5 . 5 („Erzähltheorie und Geschichtsschreibung“). 601 Volker Gerhard in „Das Neue scheint immer das Wichtigste zu sein. Jan Feddersen u. Hans Hütt im Gespräch mit Volker Gerhardt“, in die taz vom 13 . 04 . 2013 . 602 Hieran, an dieser Isolation, dem Monadentum, ist derweil gut das romantische Moment des Humanismus’ nachzuspüren. In dieser Weise ist er kontra-emanzipativ. Das Zitat fin- 152 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln So wie das Kunstwerk seinen Rezipienten benötigt, um sich zu verwirklichen, benötigt „Wahrheit“ Öffentlichkeit. Durch Kluges formästhetische Gleichstellung (z. B. durch Kontrafaktur: Imitation des verwaltungsbürokratischen Tons) objektiver Geschichte mit subjektiver Erfahrung sowie von Tatsachen und Erfundenem wird der Wahrheitscharakter des offiziellen Wissens infrage gestellt bzw. beide Seiten von ihrer Wertigkeit her aneinandergerieben. Durch den multiplen Anschluss realer menschlicher Erfahrungen gelingt eine Verlängerung des öffentlichen Gedächtnisses. Mit der Erweiterung des öffentlichen Erfahrungsraums werden Lebenszusammenhänge gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse wahrnehmbar und so die individuelle Mündigwerdung begünstigt. Kurzum: „Öffentlichkeit besitzt“ daher nur „dann Gebrauchswerteigenschaft, wenn sich in ihr die gesellschaftliche Erfahrung organisiert.“ 603 Deshalb auch der Hinweis auf den Erfahrungsbegriff Kants, die durch das „Produkt des Subjekts“ entsteht, dem seinerseits ausschließlich das erfahrbar wird, „was er selber zuvor produziert hat“. 604 Dieser mehr oder weniger unbewusst als dialektisch wahrgenommener Prozess der Erfahrungsproduktion im sozialen Raum ist also von einer intersubjektiven Wechselseitigkeit, sodass er zugleich auch Erfahrungsrezeption beinhaltet. 605 In der öffentlichen Sphäre kommt es also zu einem Erfahrungsaustausch, einem Sich-Abarbeiten an Erfahrung, und dadurch ebenso zu einer scheinbaren allgemeinen Übereinkunft in Gestalt eines objektiven gesamtgesellschaftlichen Erfahrungshorizonts, der grundsätzlich gemeinschaftsstiftend ist. So allerdings, wie der Erfahrungshorizont „organisiert“ 606 ist, ist sein Gehalt leer. Er ist holistisch, dadurch entpersonalisiert, also von ausgrenzender Art. Der Organisationsbegriff erfährt bei Kluge und Negt daher eine Bedeutungswandlung vom Technischen zum Dialektischen, d. h. nicht bloß Bestehendes organisieren, sondern dabei auch selbst produzieren. „Produktion“ ist hier von wirklich gesellschaftlicher Relevanz und will statt Waren „Lebenszusammenhänge“ herstellen. 607 Es geht um das Ergreifen des humanistischen Potenzials von Öffentlichkeit, das zur „Aufgabe“ die „kollektive Vermittlung“ hat. 608 Zusammengefasst: Wollen wir eine Gesellschaft sein, die Werte produziert oder eine, die Werte produziert? Das ist eine Frage nach der nächsten Evolutionsstufe von menschlichem Zusammenleben. In Einzelwesen und in Vorformen, als Ideen, aber auch als realiter gewordene, dezentral wirksame Projekte, existiert diese Gesellschaft bereits. det sich hier: UM, ÖE, S. 371 , Fußn. 45 . 603 UM, ÖE, S. 343 . 604 Ebd., S. 345 , Fußn. 9 . 605 Vgl.: ebd. u. S. 346 . 606 Ebd., S. 346 . 607 Vgl.: Ebd., S. 349 inkl. Fußn. 15 . 608 Ebd., S. 350 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 153 „Die menschliche Geschichte beginnt an dem Punkt, an dem die Menschen das, was sie träumen, was sie wollen und denken, ohne Verzerrung und Brechungen durch die Gewaltmassen der Gesellschaft in Wirklichkeit umsetzen können.“ 609 2.4.1.6 Zum Ideologieproblem von Sprache und ihrer realen Gewalt Die Sprachkritik Kluges und Negts klagt Geschichtslosigkeit an: „Staat, Nation, Kapital, Religion und Geld assoziieren sich nun in einer Weise mit Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie, als hätte es die Blutlinie dieser Begriffe im 20 . Jahrhundert nie gegeben.“ 610 Der Bedeutungswandel der Begriffe und Symbole, ihre Enteignungen und Fremdbesetzungen, haben zu einem Verlust ihrer „moralischen Unschuld“ im Laufe der Geschichte geführt. 611 Man muss den ideellen Ursprung eines Begriffs wie auch die Schichten an Übermalungen durch ideen- und begriffsgeschichtliche Aufarbeitung freilegen: „Kein Weg führt daran vorbei, genau und bis ins Detail Sinngehalt und Missbrauch, das Unabgegoltene ebenso wie das Überholte in den politischen Begriffen zu überprüfen, Unterscheidungsvermögen auszubilden.“ 612 Ein übereiltes, etwa der Aktualität oder dem Populismus geschuldetes Verwerfen eines Begriffs kann dessen Ursprungsidee zu Grabe tragen. Nur durch historisches Gedächtnis und kritische Reflexion kann der aufklärerische Prozess „Entmythologisierung der Sprache“ das Konfliktfeld in Permanenz zwischen Wort und Wirklichkeit sichtbar machen und somit zur Verbesserung dieser Wirklichkeit beitragen. 613 Kluge weist mit Negt auf Machtstrukturen und reale Gewalt durch das Normative der politischen Sprache hin-- „Wer über die öffentliche Sprache bestimmt, hat sich Legitimationsvorteile für Realitätsdefinitionen verschafft, und er hat leichtes Spiel, den Menschen autoritäre Vorgaben für trennscharfe Unterscheidungen zu machen: zwischen Freund und Feind, zwischen Realismus und Utopie, zwischen Tugenden der Ordnung und dem Protest und Widerstand.“ 614 - und durchbricht sie durch die tatsächliche Mannigfaltigkeit der Sprachen und die Formvielfalt des Sprechens. Gleich das erste Kapitel von Öffentlichkeit und Erfahrung ist sprachkritisch geprägt. Im Prinzip vergleichbar mit dem Problem der Spezialisierung durch Arbeitsteilung, die durch eine einseitige Inanspruchnahme weniger die Ausgrenzung vieler Fähigkeiten bedeutet, wird hier darauf hingewiesen, dass die allgemeine Verkehrssprache wie auch besondere Redesituationen (vor Gericht, bei einem Be- 609 Worte Negts und Kluges aus der Nachbemerkung des UM, S. 1019 . 610 UM, MP, S. 733 . 611 Vgl.: Ebd., S. 728 - 734 . Hierin wiederum findet sich ein Verweis auf Horkheimers Notizen und dessen Formulierung der „entehrten Begriffe“. 612 Ebd., S. 734 . 613 Vgl.: Ebd., S. 742 f. 614 Ebd., S. 731 . 154 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln werbungsgespräch, auf einer Konferenz usw.) die auf Mitteilung und Austausch dringenden Erfahrungen und Empfindungen beschneiden. Die „vielen Sprachen der Lebenswelt“ werden durch das Normative der „einen Sprache des Staates“ unterdrückt, 615 wodurch eine gewaltige Kommunikationsstörung zwischen „unten“ und „oben“ entsteht. Auch das erste Kapitel von Maßverhältnisse des Politischen beschäftigt sich, wie das letzte Zitat bereits deutlich macht, von benachbarten Ausgangspunkten mit demselben Thema und lohnt daher, an dieser Stelle ebenso miteinbezogen zu werden: Es genüge nicht, „Bedürfnisse zu haben“, sondern sie müssen zum Ausdruck gelangen, will man aus der Passivität des „Mangels“ einen einfordernden „Anspruch“ machen. 616 Dies gelingt aber erst durch Konstellation sowie Variation in der Darstellung, durch die Entsprechung des gleichen oder ähnlichen Gefühls im Anderen auf seine Weise: „[Der] Anspruch ist der Verallgemeinerung zunächst hinderlich. Er muß übersetzbar sein in die Ansprüche der anderen, um ein gemeinsames Selbstbewusstsein entstehen zu lassen.“ 617 Es scheitert an Austausch wie an Rückkopplung. 618 Augenscheinlich ist es so, dass der Wissenschaftssektor nicht an die Gesellschaft angeschlossen ist, seine Prozesse und Erkenntnisse in nur sehr geringem Maße rücküberführt werden. Der kritische Blick richtet sich auf Wissenschaft, die gesellschaftliche Verantwortung trägt und daran gemessen wird: „Eine derart gesteuerte Wissenschaft kann nicht Organisatorin von gesamtgesellschaftlicher Erfahrung sein, sondern akkumuliert spezialisierte Erfahrung.“ 619 Diese wiederum wird in Formen ausgedrückt, die „für die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung“ unrezipierbar bleibt. Anders hingegen „Theorie“ bei Kluge, die sich in jedem Interview mit wechselnden Gesprächspartnern und an wechselnden Themen dialogisch prüfend und reflektierend praktisch abarbeitet.-- Dem vorangegangen Satz mangelt es allerdings an folgender Überzeugung: Theorie und Praxis sind, zumindest bei Kluge, ebenso wenig wie Vernunft und Emotion oder Tatsache und Fiktion zu trennen. Die begrenzte Ausdrucksmöglichkeit der Sprache domestiziert die Unbegrenztheit der Gefühle, was letztlich eine Hemmung individueller Identitätsfindung bewirkt. Das Problem umfasst also nicht allein die Ebene ungleicher Bildungschancen, 615 Vgl.: Ebd., S. 709 . 616 Vgl.: ebd. 617 Ebd. 618 Kluge und Negt behaupten, zumindest im UM, dass das nicht an „äußeren Schranken der akademischen Sprache“ läge, sondern an einer unterschiedlich gearteten materiellen Situation (darunter auch kulturelles Kapital): „[D]er Proletarier braucht die Organisierung seiner Erfahrung, um seine Lebensumstände zu verändern. Der Wissenschaftler organisiert seine wissenschaftliche Erfahrung, um seinen Lebensstandard beizubehalten.“ In UM, ÖE, S. 70 bzw. S. 369 , Fußn. 42 . 619 Ebd., S. 370 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 155 also des schulischen und dadurch beruflichen Erfolgs, der die Kollision zwischen vorausgesetzter Hochsprache und überforderter Arbeitersprache (hinzukommt: Fremdsprache) bzw. den Konflikt von unterschiedlich hohem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital umfasst. 620 Wie versucht wurde nachzuskizzieren, hat das Problem weitaus tiefergehende psychologische Reichweiten: Verstümmelung der Erfahrungen und Ausbremsen ihrer Verarbeitungsprozesse. Diesem Dilemma bleibt das Mitteilungsbedürfnis jedoch unbenommen. In unseren Zellen steckt der Erfahrungsgehalt der Vorgeschichte- - und somit unbewusst, aber wimmelnd und murmelnd im Inneren des Menschen. Wie also können Erfahrung und Ausdruck zueinander gelangen? Nicht durch Begriffe allein, nicht in einer Sprache oder einem Dialekt allein, nicht nur aus einer Perspektive, nicht nur mit einem Bild- - sondern im illustrationsreichen Verbund. Die „Erweiterung der Sprache ist eine direkte Funktion der Politisierung der Gesellschaft“, heißt es in Öffentlichkeit und Erfahrung. 621 Wider den Zwang des abstrakten und allgemeinen Redens entökonomisiert Kluge die Interview- und Redegewohnheiten, 622 gerade im TV -Bereich, und feiert das Dionysische der Sprache. Ein entfesselter Eros im Reden, der den ganzen Reichtum der menschlichen Sprachen bis ins Regionale und Lokale hinein erfasst, ermöglicht die natürliche Entfaltung ungeziemten Assoziierens und Abschweifens-- Nebenprodukte-- als Grundvoraussetzung für einen authentischen, einen wirklichen, einen lustvollen Erfahrungsaustausch. Umgangssprache, Dialekte und Fremdsprachen haben ebenso Teil am Kluge-Universum wie die Gelehrtensprache. Die klugesche Praxis erhellt sich an adornoischer Theorie, die als „Modell“ für eine konstellative Verfahrensweise eben die Sprache ausruft, die selbst ja Konstellation von Begriffen und Lauten ist, begleitet wird von Gestik und Mimik, gekennzeichnet ist von Improvisation, Spontaneität und Interaktion: „Sie bietet kein bloßes Zeichensystem für Erkenntnisfunktionen. Wo sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken.“ 623 „Der Zusammenhang, den sie stiftet-- eben die ‚Konstellation’--, wird lesbar als Zeichen der Objektivität: des geistigen Gehalts. Das Schriftähnliche solcher Konstellationen ist der Umschlag des subjektiv Gedachten und Zusammengebrachten in Objektivität vermöge der Sprache.“ 624 620 Pierre Bourdieu im Hinterkopf. 621 UM, ÖE, S. 641 . 622 Vgl.: Ebd., S. 393 - 397 . 623 AGS 6 , S. 164 f. 624 Ebd., S. 167 f. 156 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 2.4.1.7 Verständigung, Anerkennung, Identität Ein großes Verdienst Habermas’ ist zweifelsohne die Transferleistung der subjektphilosophischen Autonomie-Moral Immanuel Kants „in die Sphäre der intersubjektiven Verständigung“. 625 Habermas geht in seiner Sprachphilosophie bzw. Diskursethik von einem „universalistischen Moralprinzip“ aus, also davon, dass der Sprache basal eine Intention eingeschrieben ist, die normativ ist. Sprache ist sozusagen grundlegend pazifistisch, da sie, und das leuchtet sofort ein, immer schon auf Verständigung als Gegensatz zu (mindestens physischer) Gewalt aus ist. Das entspricht dem rhetorischen vir-bonus-Ideal, dem nicht nur stilistisch, sondern zugleich ethisch guten Redner. In diesem extrem positiven Verständnis eines Sprechakts geht es um „nichts Geringeres als demokratische Verständigung im Sinne eines freien Konsenses aller Beteiligten.“ 626 Es ist aber nur deshalb so positiv, weil Habermas hier von einem Idealzustand her antizipiert, der von „zwangfreier Argumentation“ und „herrschaftsfreiem Konsens“ geprägt ist. Auch hier kritisiert das Mögliche das Wirkliche. Honneth sagt, und damit stimmt er mit dem kanadischen Philosophen Charles Taylor überein, Identität entstehe durch intersubjektive Anerkennung. Da dies ein elementarer menschlicher Drang ist, begibt sich und stürzt sich mitunter der Mensch in einen „Kampf um Anerkennung“, der sich von der habermas’schen romantischen Vorstellung „entgegenkommender Lebensformen“ 627 wieder entfernt und eher auf Hegel, Marx und Freud zurückgreift. Der von Kluge in den Mittelpunkt menschlichen Handelns gerückte Anspruch auf Glück ist im Grunde nicht weit entfernt von dem, was Honneth etwas bieder als „Anspruch auf die Integrität der eigenen Person“ 628 bezeichnet. Honneth überträgt das auch auf den Arbeitsbegriff (den Habermas, wie vor allem Oskar Negt emphatisch kritisiert, ja so fatal vernachlässigt), indem er an Marx erinnert, der erkannt habe, „dass nichtentfremdete Arbeit eine reziproke Struktur haben müsse“. 629 Und zwar in der Gestalt „individueller Selbstverwirklichung“ sowie „intersubjektiven Handelns“, dies wiederum aufbauend auf intersubjektiver Anerkennung. So ist der Weg der Gedanken nicht weit, als Bedingungen kommunikativen Handelns nicht nur „epistemische“, sondern auch „affektive“ anzunehmen. 630 Es geht Honneth im 625 G. Schweppenhäuser, S. 79 . 626 Ebd. 627 Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1991 , S. 70 . 628 Honneth, Axel.: „Integrität und Mißachtung. Grundmotive einer Moral der Anerkennung“, in Merkur, Nr. 44 , 1990 , S. 1052 . 629 G. Schweppenhäuser, S. 84 . 630 Vgl.: G. Schweppenhäuser (S. 87 f.), der sich auf Honneths Band Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie von 2005 bezieht. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 157 Prinzip um eine Art „Dezentrierung“ 631 durch Einfühlung als Voraussetzung für kommunikatives Handeln und überhaupt für gesellschaftliches Zusammenleben. Genauer gesagt, um die Anerkennung des Anderen als Subjekt sowie um das Verlassen der eigenen und das Einnehmen einer konkret anderen Perspektive auf die Welt und ihre Objekte. 632 Honneth erklärt die „Idee einer posttraditionellen, demokratischen Sittlichkeit“ 633 zum Fixpunkt der gesamten Kritischen Theorie und beschreibt damit in seinen Worten die gleiche Welt, wie sie schon Adorno und Horkheimer herbeisehnten, nämlich eine, in der „alle Subjekte als zugleich autonome und individuierte, als gleichgestellte und doch besondere Personen Anerkennung finden“. 634 Die Entwicklung von Selbstbewusstsein ist ein intersubjektiver Akt der Anerkennung und Spiegelung. Alexander Kluges ästhetisches Bildungsprogramm (das weder dogmatisch noch programmatisch ist, noch hat Kluge je ausgerufen, so etwas entwurfen zu haben-- diese Bezeichnung ist eine Überzeugung, die diese Arbeit formuliert) knüpft an den bildungstheoretischen Befund der Kritischen Theorie an, die auch in der Bildung eine Hegemonie instrumenteller Vernunft konstatiert und deshalb alle Versuche unternimmt, „die Fähigkeit der Subjekte zu unverkürzter Erfahrung“ 635 zu stimulieren. Was würden Adorno, Horkheimer oder Benjamin in diesem Zusammenhang wohl zur dctp sagen? Doch ist es überhaupt richtig, dem instrumentellen Denken entgegenzuarbeiten? Ja, denn nicht nur die Frankfurter Schule erkennt hier eine große Gefahr der „Kälte“ (Adorno, Kluge): Denn im Angesicht des Holocausts „schockiert“ im Grunde nicht so sehr „das Ungeheuerliche“ selbst wie „dessen Selbstverständlichkeit“, die Normalität des Ungeheuerlichen. 636 Auch Studien aus der Entwicklungspsychologie sprechen bei Lernprozessen von der Priorität emotionaler Intelligenz gegenüber kognitiver: „[Die] Vernachlässigung des emotionalen Bereichs ist- - im Lichte der entwicklungspsychologischen Erkenntnisse über Anteilnahme und Anerkennung des anderen als Voraussetzung des kognitiven Weltbezugs- - nicht bloß eine Akzentsetzung, über die 631 Honneth, Axel: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2005 , S. 47 . 632 Vgl.: ebd. 633 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1992 , S. 280 f. 634 Ebd., S. 281 . 635 G. Schweppenhäuser (S. 87 ) bezieht sich hier auf Scherr, Albert: „Das Projekt Postmoderne und die pädagogische Aktualität kritischer Theorie“, in Kritische Erziehungswissenschaft-- Moderne-- Postmoderne, Bd. 1 , hg. v.-Marotzki, Winfried/ Sünker, Heinz. Weinheim (Deutscher Studien Verlag) 1992 , S. 110 . 636 Adorno, Theodor W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in ders.: Prismen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1955 , S. 305 . 158 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln sich streiten lässt, und auch keine Frage des Erziehungsstils, sondern ein prinzipieller Fehler, weil sie eine grundlegende Voraussetzung von Lernvorgängen ausblendet.“ 637 In Bezug auf die erziehungswissenschaftlichen Studien Gruschkas 638 und Huiskens 639 spricht Gerhard Schweppenhäuser von der „Erfahrung der eigenen Nichtigkeit“, die sich derart fatal mit „kompensatorischem Größenwahn und massenmedial erlernten Aufmerksamkeitspräferenzen“ verbindet, dass ein „explosives Gemisch“ entsteht, das auf Entladung drängt. 640 Bei-sich-Sein versus Außer-sich- Sein: „le sauvage vit en lui-même-; l’homme sociable, toûjours hors de lui ne sait vivre que dans l’opinion des autres“, heißt es bei Rousseau. 641 Gerade deshalb muss, wie Oskar Negt nicht müde wird einzufordern, „Schule als eigener Lebensraum“ 642 erschlossen werden. Durch die Förderung von Mitgestaltung und Mitverantwortung eines jeden Einzelnen sowohl in den Einrichtungsstrukturen als auch in der Unterrichtspraxis (statt der bloßen Fokussierung auf Faktenlernen und Auswendiglernen) kann Schule von einem dem Subjekt objektiv gegenüberstehenden Ort zu einem Entfaltungsraum der eigenen Persönlichkeit im Austausch mit anderen werden, zu einem identitätsstiftenden Ort in gegenseitiger Anerkennung. Der Begriff der Selbsterhaltung ist eine theoretische Säule in der Dialektik der Aufklärung. Damit „Selbsterhaltung“ Subjektivität auszubilden vermag, muss sie zunächst als Maxime gesetzt werden. Nur ein sich selbst als Zweck setzendes identisches Subjekt besitzt die Fähigkeit, den Anderen als Mittel und Zweck zugleich zu begreifen. Die große Auseinanderreißung seiner Naturen in eine äußere und eine innere schickt den Menschen auf eine verzweifelte Suche nach Identität eines „Wo bin ich? “ und „Wo ist ‚Ich’? “. Das Subjekt findet sich nur unvollständig, in unserer Gesellschaft zumeist als ein bürgerliches, nicht aber als ein autonomes. Die Struktur der Macht liegt allen menschlichen Beziehungen zugrunde: Der Herrschaftsdrang des Menschen über die Natur schlug um in die Herrschaft des Menschen über sich selbst und die Herrschaft über den Anderen; in der Reihenfolge: äußere Natur, innere Natur, zweite Natur. Einen Schritt zurück ist also zu erkennen, dass es der Drang zur Selbsterhaltung ist, der Hierarchien produziert, indem er aus der Natur 637 G. Schweppenhäuser, S. 88 . 638 Gruschka, Andreas: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Erziehung und Gesellschaft. Wetzlar (Büchse der Pandora) 1994 . 639 Huisken, Freerk: „Zum Amoklauf von Winnenden: Die Schule ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.“ Link: www.fhuisken.de/ loseTexte.html [Zugriff: 08 . 09 . 2012 ]. 640 G. Schweppenhäuser, S. 90 . 641 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine de l’inégalité, in ders.: Œuvres complètes, Bd. 3 , Paris (Gallimard) 1964 , S. 193 . 642 Negt, Oskar: „Demokratie muss gelernt werden.“ Oskar Negt im GEW-Interview vom 03 . 07 . 2008 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 159 wie auch aus dem Subjekt ein Objekt macht. Die Befreiung des Menschen ist für die Kritische Theorie an die Aufhebung von allen drei Herrschaftsformen geknüpft, also nur in Versöhnung durch Einklang mit der äußeren und inneren Natur sowie Akzeptanz des Nichtidentischen. Adorno kritisiert Hegels Segenssprechung über dem Allgemeinen und dem Besonderen als Zwangsehe, als Gewaltausübung, die gleichzumachen versucht, was nicht gleich ist. Das, „was jedoch Hegel dem Naturschönen als Mangel vorrechnet, das dem festen Begriff sich Entziehende“, berichtigt Adorno, „ist die Substanz des Schönen selber“ 643 - - womit ihm im Grunde eine eher narrative als begriffliche Definition des Je ne sais quoi gelingt, denn was ist es anderes als jenes Unbestimmte, nach dem die Kritische Theorie als Nichtidentisches fahndet? Der Logik des ubiquitären Herrschaftszusammenhangs zufolge ist für Adorno das Kunstwerk als Produkt von Mensch und Gesellschaft Teil dieses anti-natürlichen Prozesses: „Je freier von auswendigen Zwecken sie [die Kunstwerke; Anm. CS ] sich machten, desto vollständiger bestimmten sie sich als ihrerseits herrschaftlich organisierte.“ 644 Noch einmal auf den Punkt gebracht: Im Je ne sais quoi scheint das Naturschöne auf. Dieses lässt sich aber auch im Kunstschönen, wie es Kluge vollführt,-- eben nicht: herstellen, sondern: -- nachahmen. Das in der Kunst perzipierbar gemachte Andere weist auf dessen Realpräsenz hin. Ästhetik ist zu verstehen als ein Erkenntnismittel und deshalb auch als ein Emanzipationsmittel. Kluges häufig verwendete Begriffswahl des „Sammelns“ und die der Behältnisse (also „Gefäße“ usw.) deutet in diesem Zusammenhang auf die konservierende Kompetenz der Kunst hin, indem sie als Spurensucher und Bewahrer dieses Nichtidentischen fungiert. Das Problem des Identitätskampfes ist, dass er nach einem verkrampft abgrenzenden Denkmuster funktioniert, ein Feindbild braucht, etwas Nichtidentisches. Aufklärung schlägt dann zurück in Mythos um, wenn die menschliche Domestizierung der Natur und die gesellschaftlichen Verhältnisse als Natürliches, als Immer-schon-Gegebenes erscheinen. Der Identitätszwang beruht auf dem Selbsterhaltungsprinzip. Sein Dilemma besteht im Spannungsverhältnis von Individualität und Allgemeinheit. Die Erhaltung des „Selbst“, das noch nicht zu sich gekommen ist und das zur Entfaltung drängt, korreliert mit dem Kampf um soziale Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe. In der Sphäre der Kunst ist es möglich, dieser Zerreißung zu entgehen, weil in ihr das Besondere autonom sein kann. Genauer: Unabhängig vom Subjekt kann das Objekt und unabhängig vom Anderen kann das eine sich selbst Zweck sein und nicht nur Mittel zu etwas. Sedimente der Realität werden in der Kunst verfremdet, um sie perzipierbar zu machen. Vergegenwärtigen wir uns diesen Vorgang der Pro- 643 AGS 7 , S. 118 . 644 AGS 7 , S. 34 . 160 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln duktion und der verschiedenen Rezeptionen eines Kunstwerks noch einmal mit anderen Worten: Material der außerästhetischen Wirklichkeit wird dieser entnommen, im Medium der Kunst umgeformt und als Inhalt in neuer Form-- aber eben nicht nur als Form, sondern als Inhalt- - dem empirischen Wirklichkeitsmaterial aktualisiert, sozusagen noch glühend von der Bearbeitung, wieder zugeführt. Ob dieser infinite Kreislauf nun ein in irgendeiner Weise „reinigender“ Vorgang ist, sei dahingestellt. Entscheidend ist die Kompetenz eines Kritisch-Reflexiven der Kunst sowie: Die Loslösung des Besonderen von seinen Existenzbedingungen (die Unsterblichkeit in der Kunstwelt) bedeutet gleichsam eine Loslösung von den Zwangsverhältnissen und ermöglicht somit in der Idealwelt des Schönen das Aufscheinen einer herrschaftsfreien und emanzipierten Realität. 645 Wie kann, fragt Adorno, die Philosophie „über den Begriff durch den Begriff“ 646 hinausgelangen, wenn nicht durch die Kunst und ihre Eigenschaft, in ihren Aussagen ohne Begriffe auskommen zu können. Umgekehrt aber bedürfe auch die „Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“ 647 Die Begriffe begrenzen aber deshalb nicht nur theoretische Analyse- und Darstellungsmöglichkeiten, sondern sie haben auch eine Öffnungsfunktion, weil sie Gemeinsames stiften, wenn sowohl Theorie als auch Kunst auf sie zurückgreifen. Über die eigene Art des Schreibens und welche Rolle Adorno dabei spielt, berichtet Kluge: „Er ist eine Vertrauensperson für mich, bis heute. Wo immer ich bin, kann ich mir Gedankengänge von Adorno vergegenwärtigen. Weil ich mich nicht so ausdrücke wie er, klingt eine Geschichte, die ich in seinem Geiste schreibe, nicht wie ein Adorno-Text. Es ist mein Text, in dem er anwesend ist, wie er in meinem Leben anwesend ist. Aber die Gravitation kommt aus seiner Zuverlässigkeit.“ 648 Die Welt der Kunst, wenngleich sich zumindest die Kunstwerke selbst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit und kommerziellen Universal-Okkupation 649 niemals gänzlich den Produktionsverhältnissen entwinden können, ist ein sinn- 645 Weiterführende Literatur: Lüdke, Martin: Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls“: Adorno-- Beckett. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981 . 646 AGS 6 , S. 27 . 647 AGS 7 , S. 113 . 648 Kluge in: Laudenbach, Peter: „Wir sind Glückssucher“, im Gespräch mit Alexander Kluge, in Der Tagesspiegel vom 13 . 02 . 2012 . 649 Beide Faktoren sind wesentlich, denn beispielsweise stellt bereits im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts die Cranach-Werkstatt mit ihrer Reproduktion ausgewählter wiedererkennbarer Motive auf unterschiedlichen medialen Trägern Massenware her. D.h. zu einem Zeitpunkt, an dem von einem „Kunstmarkt“ so noch nicht gesprochen werden kann. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 161 lich begehbarer Anti-Raum, der „eine befreiende Distanz zu den Zwängen und Routinen der Alltagspraxis herstellen“ 650 kann. Die ästhetische Reflexion steht bei Kluges Kunst der philosophischen oder begrifflichen nicht feindlich und auch nicht ergänzend gegenüber, sondern ist mit ihr verschränkt, ja in gewisserweise wie ein Katalysator wirkend. „Obgleich ihr Kriterium allein in ihr selbst liegt, ist Kunst nicht weniger Erkenntnis als Wissenschaft“, 651 schreibt Max Horkheimer gedankenverwandt. Dabei weist er auf ihre identitätsfördernde Spurensuche in den Sphären des Privaten hin, die ästhetische (Wieder-)Kontaktaufnahme mit prägenden Kindheitserfahrungen von Nähe und Wärme, Liebe und Anerkennung. Umgekehrt kennzeichne die im Kindesalter erfahrene „Verbindung von Unterwürfigkeit und Kälte“ „den potentiellen Faschisten von heute mehr als irgend etwas anderes“. 652 Und ob sich Kälte widerspiegeln kann. Und Lebensläufe, nicht zufällig die klugesche Literaturgattung, sind Träger von Identitäten: „Die wesentlichen Haltungen, Werte und umwälzenden Ereignisse“, stellt Kluge fest, „finden heute-[…] im Inneren der Menschen statt.“ 653 Und Identität, Selbstbewusstsein, ist eine zentrale Grundvoraussetzung für die Emanzipation. Wir erinnern uns: „Ich bin, aber ich habe mich nicht-- darum werden wir erst.“ 654 -- Das sagt Ernst Bloch in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie, während etwa zeitgleich Alexander Kluges Lebensläufe erscheinen. 655 Die Freiheit des Individuums, d. h. nicht fremdbestimmt zu sein, sondern sich zu besitzen, zu haben, ist für die Kritische Theorie wie für Kluge die Grundlage, auf der die Emanzipation der Gesellschaft sowie die Gerechtigkeit in ihr entstehen kann. In den gemeinsamen Gesprächen kam Kluge wiederholt auf einen Moment im Odysseus zu sprechen, der Adorno und Horkheimer entging. Als Penelope nämlich Odysseus auf die Probe stellt, um herauszufinden ob er wirklich der ist, für den er sich ausgibt, kommt es zu einem Wiedererkennungsmoment. Es geht also um den Identitätsbegriff, auf den Kluge hier anhand der Grundmetapher der Kritischen Theorie hinweisen will: Kluge: […] Oder eine Geschichte wie Die Heimkehr des Odysseus, dahingehend, dass er zu Hause, nachdem er heimkehrt nach 20 Jahren Irrfahrt, das Bett 650 G. Schweppenhäuser, S. 92 . 651 HGS 4 , S. 420 . 652 HGS 5 , S. 387 f. 653 Kluge, Alexander: „Der Autor als Dompteur oder Gärtner.“ Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1993 , in ders.: Personen und Reden. Berlin (Wagenbach) 2012 , S. 37 . 654 Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Bd. 1 . Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1963 , S. 11 . 655 Erstveröffentlicht 1962 (Stuttgart), erscheinen sie 1964 bei Suhrkamp im Taschenbuchformat. Im Jahr dazwischen erscheint Blochs Werk ebenfalls im Hause Suhrkamp. 162 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln vorfindet und seine Identität seiner Frau, die denkt, da kommt ein Hochstapler angefahren, dadurch beweist, dass er weiß, wie er es gemacht hat. CS: Das Bett im Baum. Kluge: Er hat es in den Baum gezimmert, selber in seiner Jugendzeit. Und deswegen können es die Freier auch nicht verrücken. Das heißt, das ist ein Moment der Identität. Und dieses Moment der Identität bei Homer ist ein Narrativ und steht im Gegensatz zu den Irrfahrten und dem Auseinanderreißen eines Odysseus zwischen Skylla und Charybdis, sodass er sich anbinden und von den Gefährten die Ohren verstopfen muss. CS: Und so erweitern oder so ergänzen Sie, wenn ich Sie richtig verstehe, diese Grundmetapher der Kritischen Theorie? Kluge: Ich ergänze sie nicht, sondern ich verbinde gewissermaßen die beiden Narrationen. Das heißt ich stelle mir vor: Wenn ich jetzt diskutieren würde als Autor, also als Schriftsteller, mit Horkheimer und Adorno über diese Stelle in der Kritischen Theorie, würde ich ja nicht negativ argumentieren, wenn ich darauf aufmerksam mache, dass es bei Homer noch eine andere Seite desselben Odysseus gibt. Und schon im ersten Gespräch sagte Kluge: „Da haben Sie die Kategorie der Identität, nicht der Zerreißung-- beim selben Homer.“ Das „Bett“ ist aufgeladen mit großer archetypischer Symbolik, steht es doch für den Ersatz des Mutterleibs, imitiert jene Wärme und Geborgenheit, Sicherheit und Sorglosigkeit. Auf Kluge gemünzt könnte man vielleicht auch sagen, dass es ein Ort des Antirealismus des Gefühls ist. Täglich neu geboren, wollen wir das Nest ungern verlassen. Hinzu kommt bei Odysseus’ Baumbett, dass auch der Baum das natale Moment verkörpert, verwurzelt in der „Mutter Erde“. Es bestehe, schreiben Kluge und Negt, ein „Heißhunger des Realitätsprinzips“ nach „Naturalien“ wie der Hautnähe. 656 -- Doch im Kontext der Kritischen Theorie steht die klugesche Odysseus-Metapher vor allem für eines: Wiedererkennung des Ichs in der eigenen, nicht entfremdeten Arbeit. Ein Problem der Selbstverwirklichung ist das begleitende Verlangen nach Zuhause, nach Sicherheit und Gewissheit durch gewohnte Rollenverteilung und Verhaltensmuster. Wie in Musils Erzählung Die Amsel verschiedenfach versinnbildlicht, lockt die Freiheit des offenen Fensters ebenso wie die vertraute Umgebung eines begrenzten Zuhauses (samt Futter). Es existiert also ein paradoxes Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, zwischen Fernweh (Faszination des Unbekannten) und Heimweh (Fatalität regressiven Verhaltens). Sicher ist nur eines: Solange der Mensch nicht selbstverwirklicht lebt, lebt er im inneren Exil. 656 Vgl.: GE, S. 315 - 318 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 163 CS: Man muss aus sich heraus gehen, um zu sich selbst zu finden-- um es mal viel zu verkürzt zu sagen. Kluge: Aber so können Sie es gut sagen. Und jetzt gibt es niemals etwas nur Objektives und niemals etwas nur Subjektives, das eine Chance hat zu existieren und lebendig zu sein. Es wäre mindestens niemals sozial. Sondern es ist immer eine subjektiv-objektive Beziehung, die die Grundlage von allem bildet, was man erzählt, was man arbeitet, was man tauschen kann, was man lieben kann und woraus man Gemeinwesen bilden kann. 657 2.4.2 „Cogito quia natus sum“: Odysseus und der Begriff der Identität Helmer (springt auf). Was sagst du? Nora. Ich muß auf eigenen Füßen stehen, um mich selbst und das rechte Verhältnis zu meiner Umgebung zu finden. Und deshalb kann ich nicht bei dir bleiben. […] Helmer. Du sprichst wie ein Kind. Du verstehst die Gesellschaft nicht, in der du lebst. Nora. Nein, ich versteh sie auch nicht. Aber jetzt will ich sie kennenlernen. Ich muß mich überzeugen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich. 658 Habermas fasst die „Identität des Ich“ als „symbolische Struktur“ für die gegenwärtigen Verhältnisse, da sie „sich mit wachsender Komplexität der Gesellschaft zentrifugal immer weiter von ihrem Mittelpunkt entfernen muß, um sich zu stabilisieren.“ 659 Dieser Übermacht des Über-Ichs, die jedes Zu-sich-selbst-Kommen hinunterdrückt, versucht Kluge entgegenzuwirken, indem er die Bruchstellen weder der Geschichte noch der Gesellschaft noch im Einzelnen verbirgt, womit er an die alte Arbeit (sie ist noch am Werk) der Befreiung des Unbewussten und Verdrängten anknüpft. Das geschichtlich bewusste Subjekt nimmt sein Leben selbst in die Hand. Das Bewusstsein einer historischen Gewordenheit der Dinge besitzt Kluge auch für sich selbst. In seiner „Rede über das eigene Land: Deutschland“ setzt er sich mit den eigenen Wurzeln auseinander und geht dabei minuziös sprachanalytisch vor („eigen“, „über“), ohne sich dabei ins Patriotische zu verirren. 657 Siehe zweites Interview. 658 Ibsen, Henrik: Nora oder Ein Puppenheim. Originaltitel: Et dukkehjem, 1879 . Übertr. v.-Richard Linder. Stuttgart (Reclam) 1982 , S. 81 u. 83 . 659 Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1973 , S. 162 . 164 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Es geht Alexander Kluge übrigens nie um „die Deutschen“, nicht um positiv-nationalistische Fragen nach Schuld und Nichtschuld, Stolz und Nichtstolz, sondern es geht ihm immer ganz grundlegend um den Menschen. So ist die Thematik „Holocaust“ nicht etwas, das „die Deutschen“ anders angehen würde als andere, sondern im Gegenteil etwas, das die gesamte Menschheit betrifft, weil es das gesamte Menschsein erschüttert. Diese Position verdeutlicht besonders die eindrucksvolle Kurzgeschichte „Bericht vom perfektesten Genozid der Welt“ 660 über die Vernichtung der tasmanischen Aborigines, eine „Urgesellschaft“. Der entscheidende Auszug hierzu stammt aus einem Interview-Spiel zwischen einem Dokumentarfilmer und einem Zeitungskritiker: „HIRTE: […] Ich muß, als Deutscher, nicht betonen, daß ich das grausam finde. Es ist auch dramatisch.-[…]“ 661 „HIRTE: […] Jedenfalls betrifft diese Geschichte die Angelsachsen, deren Trauerarbeit wir nicht auch noch leisten wollen. Wir haben die unsere. HAYDEN: Vielleicht, daß das die Menschheit insgesamt betrifft, und von der wollen Sie sich doch nicht ausschließen? “ 662 Hieran sieht man recht gut, wie Kluge offiziell-öffentliche Meinung, d. h. Stigmata und Klischees der Massenöffentlichkeit, nachahmen und etwa als Pseudo-Betroffenheit demaskieren kann, um dann endlich substanziell darauf zu antworten und die Debatte zum Eigentlichen vorzustoßen. An anderer Stelle sagt er übrigens: „Es ist außerdem nicht so, dass ich allein durch die Luftangriffe erschüttert bin. Ich bin durch die Katastrophe von Auschwitz stärker erschüttert.“ 663 -- Nein, an „Land“ und „Deutschland“ hält er sich nicht auf, es geht um eigene Identität (und damit wieder zurück zur Rede). Es geht um Halberstadt und dessen Entfernung zu New York, wenn man so will. Und um die Umwelt eines Kindes, die die Persönlichkeit eines Erwachsenen geprägt hat: „Cogito quia natus sum. Ich sage das nicht als Glaubensbekenntnis, sondern, um eine Variante zu liefern zu cogito ergo sum, das ich lieber ändern würde in: Ich vermag zu denken, weil ich davon absehen kann, dass ich Ich bin.“ 664 Die Modifikation des bekannten Satzes Descartes’ kennt bei Kluge noch eine zweite Übersetzungsmöglichkeit, die noch etwas 660 Kälte, S. 38 - 43 . 661 Ebd., S. 42 . 662 Ebd., S. 41 . Mit „Luftangriffe“ meint er die auf seine Heimatstadt Halberstadt, die er als Kind miterlebte. 663 Alexander Kluge in: Illies, Florian: „Herr Kluge, wie wird das Jahr 2013 ? “, in Die Welt vom 12 . 01 . 20013 . 664 Kluge, Alexander: „Rede über das eigene Land: Deutschland“ (Ausschnitt), in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 15 . Die vollständige Rede ist erschienen in Heym/ Kluge/ Gaus (u. a.): Reden über das eigene Land: Deutschland, Bd. 1 . Gehalten auf dem „Münchener Podium in den Kammerspielen 83 “. München (Bertelsmann) 1983 . 2.4 Identität und Öffentlichkeit 165 Zweites aussagt: „‚Ich denke so und nicht anders, weil ich an einem bestimmten Ort geboren bin.’“ 665 „Natus“ ist hier also ebenso fern jedes Grenzenziehens zu verstehen, den der Begriff der „Nation“ verkörpert, wie auch fern jeder völkischen Tümelei, die „Nationalität“ transportiert. Gemeint ist der Begriff der Natalität (lat. „nasci“: geboren werden, entspringen), den auch Hannah Arendt schon prägte: „Dabei ist aber das Handeln an die Grundbedingung der Natalität enger gebunden als Arbeiten und Herstellen. Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.“ 666 Zurück auf Kluges Hinweis darauf, dass man nicht so ohne Weiteres „über“ etwas sprechen kann, wenn man zugleich Teil dessen ist. Kluge veranschaulicht dies mit der Figur des heiligen Christopherus, der das Jesuskind auf seinen Schultern trägt, das wiederum die Welt schultert. Die Frage nach dem Standpunkt des Christopherus in der Welt ist dabei ein logisches Dilemma. Entscheidend ist aber etwas anderes, nämlich dass Kluges Achtung der individuellen Herkunft gerade deshalb wirklich identitätsfördernde Qualität besitzt, weil er die Ebene der Diversität mittransportiert und dadurch für Auflösungserscheinungen der Mär von „nationaler Identität“ sorgt. Dem Problem der Entfremdung entgegnet man wesentlich durch die Auflösung des Antagonismus Identität-- Nicht-Identität, die Beendigung des Selbstkrieges durch die „Rückkehr“ zum gleichen Ursprung. Hier setzt Kluges Odysseus-Bild ein, jenes der „Wiedererkennung“ (auch der eigenen Arbeit) als Bedingung der Selbstbestimmung mit dem Ziel der Mündigkeit: durch Identität zur Autonomie. Freiheitsdrang und Entwurzelung bilden das innere Spannungsverhältnis der Identitätsfindung. Und so ist Odysseus in der klugeschen Metapher zu begreifen als die Personifikation der „re-volutio“. Der Begriff der Identität wird hier in der Bedeutung von „ipse“, „Selbstheit“ verwendet, der im Gegensatz zu unveränderlicher „Gleichheit“ („idem“) von der metamorphen Prozesshaftigkeit ausgeht. Da sich alles Leben ständig verändert (altert, entwickelt), ist Selbstbewusstsein, ist Identität, ist Mündigkeit notwendig Prozess-- was folglich auch für demokratische Bildung gilt. Mit Platon im Hinterkopf sei jedoch dabei auf die identitätsstiftende Kompetenz von Erinnerung hingewiesen. Dieser Vorgang des Sich-selbst-wieder-bewusst-Machens allerdings ist wiederum ideologisch, wenn man sich nicht seine möglichen Irrtümer ebenso bewusst macht (Vergessen, Verwechseln, Verdrängen, Aussparen, Hinzufügen). 665 Alexander Kluge in Halberstadt, S. 15 . 666 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/ Zürich (Piper) 1994 , S. 15 . 166 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Und nach ganz ähnlichen Mustern gehen wir auch vor, dies geben Studien der narrativen Psychologie wieder, indem wir anderen über uns erzählen. 667 Die narrative Psychologie ist hier ganz nah an der Sprechakttheorie dran, wenn es darum geht, Erzählen als soziales Handeln zu begreifen. Vergangene und gegenwärtige Handlungen und Emotionen werden artikuliert und somit reflektiert, intersubjektiv diskutiert und bewertet. Ebenso werden zukünftige Handlungen und Folgen auf ähnliche Weise kritisiert und vorbereitet. Ereignisse werden dabei geordnet, in kausale Zusammenhänge gebracht, verdrängt, verschönt usw. Guy Widdershoven spricht bei „narrativer Identität“ von der „Einheit des Lebens einer Person, so wie diese Person sie in den Geschichten erfährt und artikuliert, mit denen sie ihre Erfahrung ausdrückt“. 668 Der homo narrans ist kein Novum der Moderne, doch ist seine Autorschaft seit der Sattelzeit mit dem Auseinanderbrechen von traditionellen Normen, Werten und Rollen (Identitäten! ) geforderter denn je. Die Aufgabe der Identitätskonstruktion fällt dem Subjekt zu und steht im engen Zusammenhang mit der damals einsetzenden Aufklärung und Selbst-Bildung des Bürgertums. Homo narrans bedeutet Erzählproduktion und Identitätsproduktion, Einbettung von Selbstgeschichte in der Geschichte, mit der wir durch kulturelle Texte sowie Meta-Texte (Philosophie und Religion, Mythen und Märchen) konfrontiert werden. Wir wollen unterhalten und unterhaltsam sein, gefallen uns in unseren klugen und witzigen Momenten für gewöhnlich am meisten. Erzählstränge (Ideen, Haltungen, Formulierungen) des Konversationspartners oder einer anderen Identität zugehörig werden kopiert, integriert und zu eigenem Text-- Erzählung als Kollektivwerk. Nun könnte man einwenden, ob hier nicht einfach Narration mit Sprechen verwechselt wird. Die Pointe der narrativen Psychologie aber ist, dass wir gleich einer Erzählung, genauer: gleich eines Autors einer Erzählung unser Leben strukturieren, d. h. Rollen zuweisen, Anfangs- und Endpunkte festlegen oder Höhe- und Wendepunkte stilisieren. Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, mit welchen Methoden wir dies tun, dann ist ein bisschen besser zu verstehen, dass es Alexander Kluge sehr ernst damit ist, wenn er sagt, dass man bei seinen Arbeitsweisen nicht von „Stil“ reden kann. Denn sprechen wir jemals gänzlich linear? Kommen wir nicht viel eher immer wieder auf Abwege, verlassen sozusagen die Haupt- 667 Vgl. (u. a.): Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst: die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Pfaffenweiler (Centaurus) 1996 ; Mancuso, James C.: „The acquisition and use of narrative grammar structure“, in Sarbin, Theodore R. (Hg.): Narrative psychology. The storied nature of human conduct. New York (Praeger) 1986 , S. 91 - 110 . 668 Widdershoven, Guy A. M.: „The story of life: Hermeneutic perspectives on the relationship between narrative and life history“, in Josselson, R./ Lieblich, A.: The narrative study of lives. Newbury Park (Sage) 1993 , Bd. 1 , S. 7 . Der Ansatz der narrativen Identität wird hier als eine befruchtende zusätzliche analytische Methode in der Diskussion um das Problem der Identität betrachtet, nicht als die eine Lösung. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 167 handlung, betreten Nebenpfade, gehen Assoziationen nach, sind widersprüchlich, sind witzig oder albern, verwenden wir nicht immer wieder Rückblenden und Vorwärtsblenden, wiederholen und variieren wir nicht ständig und überhaupt: Montieren wir nicht ständig? Und stecken wir nicht auch voll unvollendeter Geschichten, wenn ein Ereignis noch ansteht und wir antizipieren, projizieren dann verschiedene Möglichkeiten eines Ausgangs? Der Drang, Kausalverbindungen zu knüpfen und einen kohärenten Plan zu entwerfen, wird immer wieder durchkreuzt von Zufällen des Lebens, die Wendepunkte sein können-- Brüche im Lebenslauf. Und mit den Facts nehmen wir Ästheten des Lebens, wir Verschöner und Stilisierer, Vertuscher und Schwindler, Erfinder und Fabulanten es auch nicht immer so genau: „People do not deal with the world event by event or with text sentence by sentence. They frame events and sentences in larger structures-[…]. The larger structures provide an interpretive context for the components they encompass.” 669 Um aber noch einmal auf die narrative Psychologie zurückzukommen, sei eine Ergänzung nachgetragen. Die jüngeren Bewegungen haben vehement auf die Kontextualität „hinter“ der Narration hingewiesen und die Bedeutung der Narration insoweit relativiert, dass der soziokulturelle Rahmen prägender ist und dieses Setting auch die Narration wiederum beeinflusst. Hinzu kommt die Autorintention, also persuasive Gründe und dergleichen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. Es ist bei all dem von einer wechselseitigen Einflussnahme auszugehen. Doch der überfällige Hinweis auf die Kontextualität muss nicht ein Verwerfen der Narrations-Idee bedeuten, sondern scheint sie durch Rückkopplung noch zu stärken. Bedenkt man das Beziehungsnetz zwischen Individuen bzw. zwischen Mensch und Welt, das durch das Erzählen entsteht, indem durch sie vielfache zeitliche, räumliche und auch personale Bezüge hergestellt werden (ein In-Beziehung-Setzen), hat eine fortwährende Narration des eigenen Lebens im sozialen und (zeit)geschichtlichen Kontext eine ordnungsstiftende sowie eine kommunikative Funktion. Auch wenn man vermuten könnte, dass die Selbstfindung eine sehr einsame Angelegenheit wäre, so ist sie im Gegenteil eine intersubjektive, die „‚vielmehr durch den anderen vermittelt’ [ist], und zwar im gemeinsamen und öffentlichen Handeln innerhalb der polis.“ 670 Identität im Kontext: Dem Identitätskonzept Paul Ricœurs wohnt im Kern eine moralische Appellstruktur inne: der Gedanke einer „komplementären Dialektik 669 Bruner, Jerome S.: Acts of Meaning. Cambridge, MA (Harvard University Press) 1990 , S. 64 . 670 Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2 , „Identität“, begr. v.-Krings/ Baumgartner/ Wild, neu hg. v.-Petra Kolmer u. Armin G. Wildfeuer. Freiburg i. Br. (Karl Alber) 2011 , S. 1203 . 168 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln von Identitätsbildung und Anerkennung des Anderen“. 671 Dialektik wird als „wirklicher Bewegungsprozeß der menschlichen Gattungsgeschichte“ gefasst, der in die „Überproduktion von Potentialen“ ebenso verflochten ist wie in die „daraus dialektisch hervorgerufenen Devolutionen an Zusammenhang, die Abwehrmechanismen des prekären Ich“ sowie „die kollektiven Ausgrenzungsmechanismen als die äußeren Indizien für die Verstrickung.“ 672 In den dialektischen Prozessen, die „aus der selbstregulierenden Bewegung von Zusammenhängen“ entstehen, spiegeln sich die zusammenhängenden materiellen Prozesse wider. 673 Erst durch den Anderen kann ich mich als Objekt abstrahieren und mich von ihm unterscheiden. Zugleich stellt sowohl der Andere einen Wert dar als auch das Selbst. Daher: Selbstwert. Den Standpunkt des eigenen Selbst zu finden, korrespondiert mit dem Begriff der Selbst-Ständigkeit. Und erst durch diesen sicheren eigenen Halt ist es möglich, auch einen fremden Standpunkt einzunehmen. Hans Joas spricht in diesem Zusammenhang deshalb von einem „Ethos der Differenz“ und begreift die Identitätssuche als aktives, soziales und ethisches Unternehmen: „Identität-[…] im Sinne-[…] einer kommunikativen und konstruktiven Beziehung des Menschen auf sich selbst und das nicht zum Selbst Gehörige“. 674 Hier lässt sich, weiterführend mit Meads und Habermas, die Stufe anschließen, in einen dialektischen Austausch mit konventionellen Werten und eigenem Wollen zu treten, um zu einer „postkonventionellen Ich-Identität“ vorzudringen. 675 Zum besseren Verständnis Kluges dürften auch Ricœurs narrativ-hermeneutische Thesen beitragen. An die Poetik des Aristoteles anschließend, stellt Ricœur die These auf, dass der Weg zur Identität ein narrativer sei. Eine Biografie entspricht für ihn einem narrativen Zusammenhang. Es gilt, durch das Erzählen der „Geschichte eines Lebens“ in diesem Sinn zu stiften, was aber nicht bedeutet, diesen posteriori zu konstruieren, sondern viel eher mimetisch. Spätestens eingedenk Ricœurs psychoanalytischer Kompetenz bekommt das den Charakter von Aufarbeitung und Revuepassieren mit selbsttherapeutischer Tendenz. Ricœurs Vorstellung ist also synthetischer, teleologischer und poietischer Natur, denn für ihn hat ein Leben respektive eine Geschichte romanhafte Handlungsstruktur mit einem Anfang und einem Ende, ist bedeutungsgeladen und kommt also nicht ohne Plot aus-- alles Dinge, die Kluge ablehnt. Doch letztlich kann in Bezug zu Kluge mehr von Ricœur gerettet als verworfen werden, denn geht dieser nicht von der einen Identität aus, sondern von vielen veränderbaren Identitäten, die eine Person in sich trägt-- ein Netz der Identitäten, 671 Ebd., S. 1210 . 672 GE, S. 241 . 673 GE, S. 240 f. 674 Joas, Hans: Die Entstehung der Werte. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1997 , S. 251 . 675 Vgl.: Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1992 , S. 227 ff. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 169 wenn man den Netz-Begriff noch einmal bemühen möchte. Interessant bleiben noch mehrere mit Kluge erstaunlich verwandte Gedanken Ricœurs wie, neben dem Medium „Erzählung“ zur Selbstfindung, das narrative Konglomerat aus Wahrem und Erfundenem oder die Akzeptanz von Widersprüchen, Inkonsequenzen, Brüchen sowie die Rolle eines aktiven Rezipienten. Noch einmal präzisiert vor Augen geführt: Durch den narrativen Prozess wird Identität produziert. Übertragen auf Kluge ist die Rolle des Autors (aber auch die des Rezipienten als Autor wiederum seiner assoziierten Geschichte) entscheidend: Er ist produzierender Autor, also aktiver Gestalter seines Lebens und nicht passive, ohnmächtige Figur in einer festgelegten, unveränderlichen Handlung- - er ist schöpferisches, nicht determiniertes Subjekt, epistemisches, nicht nur ontisches. Von der Frage nach Identität, also der reflexive Bewusstseinsprozess über eigene Interessen, Wünsche und Werte auf der einen Seite und das Schweigen der Welt auf der anderen, hängt die Qualität des eigenen Unterscheidungsvermögens ab: „Unsere Identität ist das, wodurch wir zu bestimmen vermögen, was für uns wichtig ist und was nicht. Sie ist es, die diese Unterscheidungen ermöglicht, einschließlich derjenigen, die von starken Wertungen abhängen.“ 676 So verwundert es nicht, dass Habermas, aber auch Kluge, den Weg zur Selbstverwirklichung ausgehend von der Selbstbestimmung her zieht. Ein Einwand wäre jedoch noch zu artikulieren, dass nämlich die Aufgabe, eine Identität zu bilden, ein äußerer Zwang ist, dem ich mich vielleicht ja gar nicht unterwerfen will. Das Problem ist wiederum, dass wir sozial eingebunden sind und in einem Austauschverhältnis mit unserer Umgebung stehen. „Frühere Gesellschaften und Epochen, die kohärente Angebote der sozialen Konstruktion von Realität gemacht haben, erleichterten es den Individuen, ihre Selbst-Narrationen im Sinne von Narrationsnestern anzubinden“ 677 - - und diese Angebote sind nicht neutralisiert, sondern koexistieren gleichzeitig mit anderen und neuen Formen. „Aber dennoch: Ein Verzicht auf einen narrativen Selbstentwurf und auf die damit konstruierte Kohärenz hat die Selbstauflösung des Subjektes zur Folge.“ Identitätsfindung durch narrative Subjektkonstruktion bedeutet nicht eine (Re-)Konstruktion einer Kontinuität, sondern ist wandelbar, kommunikativ, offen-- im Fluss begriffen wie alles Leben selbst. Wir verändern uns, weil wir Erfahrungen machen. Die im Neoliberalismus entstandene Verzerrung der eigenen Identität und Identitätsschreibung hin zur Selbststilisierung, die nach wie vor anhält, trägt zum 676 Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1996 , S. 60 . 677 Kraus, Wolfgang: „Identität als Narration“ (Colloquium vom 22 . 04 . 1999 ), in Psychologie & Postmoderne. Berichte aus dem Colloquium Psychologie und Postmoderne am Studiengang Psychologie der Freien Universität Berlin, Nr. 3 , Jan. 2000 . 170 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Gegenteil von Selbstfindung bei, also zur Selbstentfremdung. Phänomene: Selbstinszenierung und Selbstvermarktung („Self-Marketing“, „Ego-Marketing“), einhergehend mit einer notwendigen Radikalisierung von Konkurrenz und somit mit einer sich weiter ausprägenden Entsolidarisierung der Menschen, die bis zur Selbstfirmierung reicht („Ich- AG “), einhergehend mit einer Selbstausbeutung, die das alte Gewaltprinzip der Ausbeutung und Unterdrückung in subtilsten Formen perfide gegen sich selbst gerichtet hat. Besonders delikat zeigt sich Letzteres gerade im Kulturbetrieb (z. B. im Theater), der über die Identifizierung mit, dem Einbringen in und die Aufopferung für die Sache funktioniert (extreme Arbeitszeiten bei Niedrig- oder gar keinem Lohn, Praktika, freie Mitarbeit oder Kurzzeitverträge, Zusammenfallen von Privatleben und Arbeit). Verinnerlichung des Kapitalismus: Durch diese dezentrale Durchdringung, d. h. er reproduziert sich längst auch von unten, und scheinbar reißfeste Verästelung ist seine Totalität radikal omnipräsent. Bei der Stabilität der eigenen Identität kommt es zu Interpretationen. Je nach individuellem Bedürfnis kann deshalb der Begriff der Sicherheit und Beständigkeit variieren. Hinzu kommt das Bewusstsein nicht nur von der Veränderbarkeit der Identität, sondern von dem Plural der Identitäten einer physisch erfahrbaren Person. Das Zweistromland Der unterschätzte Mensch macht darauf immer wieder aufmerksam: Die Subjektivität sei eine solch „reiche historisch erfahrene“ (und dies nicht nur auf materialisiertes Vergangenes bezogen), dass sie nur in adäquater Darstellung ihres Spektrums der Mehrdimensionalität, jener Kommunikation der subjektiven Innenwelt, authentisch ausgedrückt werden kann: „In keiner der realen Rollen (z. B. als Konsument im Weihnachtsverkehr) besitzt dieser Reichtum ein ausreichendes Ausdrucksvermögen, Autonomie oder Selbstbewusstsein. Man muß nacheinander alle Rollen durchlaufen, um sich zu versammeln.“ 678 - - Identitätssuche und Ausdrucksbedürfnis. Je nach Bezugspunkt (z. B. Familie, Beruf, Freizeit) verhalten wir uns anders, zeigen eine andere Seite oder mitunter gar eine andere Persönlichkeit, und so erzählen wir entsprechend auch verschieden von uns. Je nach Ausprägungen muss entsprechend in erster Ordnung zwischen einer starren Identität und einer unbeständigen Identität differenziert werden. In zweiter Ordnung kann von einer Identität mit unterschiedlichen Seiten oder einer pluralen Identität gesprochen werden. Ganz ähnlich der freudschen Thesen über die Umschriften des Bewusstseins und die Annahme eines mehrfach vorhandenen Gedächtnis’ attestieren Kluge und Negt der „geschichtsevolutionären Person“ die Inhärenz „mehrerer Personen und damit mehrerer Realitäten“. 679 Eine Sonderform stellt die im Zusammenhang mit Pollesch erwähnte Pseudo-Identität dar, die eine 678 UM, MP, S. 941 . „Zweistromland“ deshalb, weil zwei kooperierende, autonome Autoren unterschiedlichen Naturells eine gemeinsame Kulturlandschaft mit Nährstoffen versorgen. 679 Vgl.: GE, S. 342 bzw. Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fliess: 1887-1904, hg. v.- Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1986 , S. 151 f. 2.4 Identität und Öffentlichkeit 171 oder mehrere erwähnte Ausprägungen nur imitiert, ohne also authentisch zu sein. In diesem Fall hat das Subjekt nurmehr Objektcharakter. Es verhält sich in etwa wie „der“ Alfredo im Pollesch-Stück Ein Chor irrt sich gewaltig. Dieser wird nicht von einer Person imitiert, sondern von einem ganzen Chor repräsentiert: Das Ich als Polyphonie der Identitäten. Jene Stimmen in mir stehen dabei auch für all die Ahnen, die Zellen, die Sterne, Menschheitsgeschichte. 680 Ein Phänomen der Spätmoderne, das im Kontext der Identitätsfrage besonders kritisch ist, ist der flächendeckende Wegfall der Profession. So verschärfen etwa prekäre und befristete Arbeitsverhältnisse, Massenarbeitslosigkeit, immer feingliedrigere Arbeitsteilung, „Outsourcing“ von Produktionsschritten und Dienstleistungen auf den (unbezahlten bzw. geizigen) Konsumenten und rasante technische Erneuerungen die eigene Beziehung zu einem Beruf. So hat auch dessen Ausübung längst nicht unbedingt mehr etwa damit zu tun, wofür ein Mensch eine Begabung hat, was er besonders gut kann, was er gern macht, was ihn ausmacht usw.- - also kaum eine identitätsstiftende Wirkung. Indem Arbeitskraft zurechtgeschnitten wird, wird also zwangsläufig immer auch etwas Individuelles gestutzt. 681 Mehr dazu in Kapitel 2 . 1 . 5 („Arbeit“). 2.4.3 Übergang: Wissensspeicher Literatur Von der legendären Bibliothek von Alexandria sind bis heute keine physischen Überreste aufgetaucht, doch die archäologische Qualität von Literatur hat es nicht zugelassen, dass sie wirklich abgebrannt ist (oder was auch immer mit ihr passiert sein mag). Dank der Verweise in den überlieferten Schriften (Materie) hat sie und ihre Idee überlebt, dank ihnen steht heute unweit der alten eine neue Bibliothek von Alexandria. Zentral in Michel Serres’ Kommunikationstheorie, die auch Niklas Luhmann nicht unbeeinflusst ließ, ist die Rolle des Boten als Figur der Vermittlung und des Übergangs: Hermes, der Götterbote, als Leitfigur. Als Bote fungiert auch die dctp oder das Medium „Kluge“ selbst. Im Mikroorganismus dieses Mediums wimmelt es wiederum an einzelnen Boten der Zeitgeschichte. Interaktion und Kommunikation lassen sich bei Kluge nicht wirklich aufsplitten, wie das etwa Luhmann tut, also zu trennen zwischen direktem intersubjektiven Kontakt und Kontakt über ein vermittelndes Medium, weil das klugesche Ich universell denkt. Kluge sammelt nicht irgendeinen Kanon der Weltliteratur unter der Flagge des Schönen ein, sondern die von ihm referierten und einbezogenen Quellen aus Literatur, Film, Musik, 680 Vgl.: Kluge, Alexander: „Mein Chor und ich. Sophie Rois spielt die Traviata“, in 10 VOR 11 vom 16 . 11 . 2009 . 681 Das trifft nicht für die erwähnten „Maker“ zu. Allerdings bleiben hier bislang ausgeklammert: (gerechter) Lohn, Arbeitsrecht, Sozialabgaben, Gewerkschaften usw. 172 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln bildender Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik eint das Moment der Auflehnung gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Und so sammelt er wie Homer die Mythen, wie die Brüder Grimm die Märchen, Flaubert die Fabeln oder Diderot und d’Alembert die Begriffe und Ideen sammelt die menschlichen Erfahrungswerte ein-- „zum Zweck des Handelns“ 682 : „Die Dialektik der Aufklärung ist mein Grundbuch, auf das ich eingeschworen bin. Selbstunterdrückung ist verlangt, will der Mensch zwischen Skylla und Charybdis hindurchfahren und heimkommen. Und damit ist zugleich die Versklavung anderer und des eigenen Inneren verbunden. Die Gefährten des Odysseus, die im Schiff rudern müssen, sind ja in Wirklichkeit Sklaven, keinesfalls Ritter. Wenn wir das auf unser Land beziehen, muß man hinzufügen, daß unsere Vorfahren in den mittelalterlichen Bauerngehöften, in der Zeit vor den Bauernkriegen, nicht die Möglichkeit besaßen, auf einem Schiff dem Zyklopen zu entkommen. Sie waren seßhaft. Deshalb entspricht bei uns eher das Märchen von den SIEBEN GEI ß LEIN dem, was für seefahrende Griechen die ODYSSEE ist. Da werden die elementaren Fragen gestellt: Wen darf ich hereinlassen, wen darf ich auf keinen Fall hereinlassen? Wen muß ich aus dem Haus ausschließen? -- Das machen ja die Zicklein zuerst falsch, sie lassen den Wolf herein, so wie wir 1933 Hitler hereingelassen haben. Und dann geschieht umgekehrt das Wunder, daß die Zicklein unversehrt wieder aus dem Bauch des Wolfes hervorkommen. Das sind kontinentale Varianten desselben Versuchs, Sicherheit zu gewinnen: ‚Wie kann ich mich schützen? Was muß ich fürchten? Was hält freiwillige Taten zusammen? Worauf kann ich vertrauen? ’ Auf die Ziegenmutter und ihre Pfote darf ich vertrauen, man kann diese Pfote allerdings fälschen, kann Mehl auf die Wolfspfote streuen. Das sind Grundprobleme, die in der Odyssee anders als in diesen Märchen behandelt werden. Es ist jedoch die gleiche Auseinandersetzung-- das Gefühl wird sich vom Mythos beherrschen lassen, bis der Verstand das Gefühl emanzipiert, indem er es unterdrückt. Aus dieser Dialektik muß es einen Ausweg geben.“ 683 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion Adorno offenbart Kluge in einem Brief, dass gerade zu einem Zeitpunkt, als er sich so sehr „in die ästhetischen Dinge“ versenkt habe (er arbeitete an seiner Ästhetischen Theorie), er „die soziologischen als eine Art Korrektiv“ empfunden habe. 684 682 GE, S. 443 . 683 Alexander Kluge in: Rack, Jochen: „Erzählen ist die Darstellung von Differenzen“, in Neue Rundschau, Heft 1 / 2001 . Hervorh. gem. Orig. 684 Brief von Adorno an Kluge vom 05 . 03 . 1968 . Vgl.: Theodor W. Adorno Archiv. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 173 2.5.1 Kritische Theorie und die Rolle der Kunst Ein für dieses Kapitel wichtiger Gedanke vorweg: Epochen und Strömungen werden hier wie da als theoretische Hilfsmittel zu Zwecken der Werkanalyse benutzt. Der Gedanke, dass es aber so etwas wie Linearität in eine Richtung oder gar einen „Fortschritt“ in der Kunst gäbe, wird abgelehnt und stattdessen die Überzeugung einer gewissen Gleichzeitigkeit und Unabgeschlossenheit von Strömungen vertreten. Dementsprechend wird auch der Drang einer Zuordnung Kluges in eine der genormten Schubladen als irreführend betrachtet. Dies tut er auf eine Weise, die seiner Ästhetik einen charakteristischen Wiedererkennungswert verschafft. In der Folge kann es nur darum gehen, diese Elemente zu identifizieren, sie z.T. im Kontext ihrer originären Bedeutungen zu spiegeln, vor allem aber ihre (Un-)Zweckmäßigkeit im Hinblick auf die Grundthesen dieser Arbeit hin zu untersuchen. Eine Einmischung in die unübersichtlichen Kämpfe im Bedeutungswirrwarr um Begriffe wie „Moderne“, „Postmoderne“, „zweite Moderne“, „Supermoderne“ und dergleichen oder auch nur ein Versuch des Entknäulens jener führe hingegen zu weit. Entscheidend ist vielmehr, dass mit „Moderne“ hier nicht eine historische Epoche gemeint ist, sondern eine Idee. Im Zentrum dieser Idee, die idealische Züge trägt, steht der mündige und freie Mensch in einer emanzipierten und friedliebenden Weltgesellschaft. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen deshalb die ästhetischen Kräfte zahlreicher zusammenhängender, avantgardistischer Bewegungen dieses unvollendeten Projekts, die Kluge bündelt. Ästhetische Erfahrung gilt der Kritischen Theorie als Gegenentwurf zum funktionalen Denken der instrumentellen Vernunft, da sie dazu befähigen kann, auch Bereiche außerhalb der Ratio zu erschließen. 685 Die Kunst gilt ihr nicht als etwas per se Gutes oder Schlechtes und wird als ein gefährdetes, weil von allen Seiten beeinflussbares Territorium, wahrgenommen. Nichtsdestotrotz gilt sie als ein phantastischer Ort, als virtueller Ort der Utopie, an dem zukünftige Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens erprobt werden können. Solche Ideal-Leben sind ästhetisch verschränkt mit dem Real-Leben (Heterotopie). Im Kunstwerk scheint eine bessere Welt auf, und sei es nur als Negativ. Die Kunst wagt mehr Demokratie und mehr Humanität als jede existierende Gesellschaft und jeder jemals existierte Staat, in denen Utopie und Phantasie tendenziell desavouiert oder verkitscht werden, belächelt werden. Während hingegen die Wirklichkeit nicht weniger grausam und abgründig ist als Gewaltdarstellungen in der Kunst. So bleibt etwa anzuzweifeln, ob eine Vergewaltigung irgendwie „romantischer“ abläuft als in Irréversible von Gaspar Noé. Für Herbert Marcuse gilt die ästhetische Erfahrung so ziemlich als letzte Bastion nonkonformistischen Denkens. Weil die 685 Vgl.: G. Schweppenhäuser, S. 91 . 174 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Sprache der Fantasie“ genuin frei sei, sei sie zugleich „Sprache des Protests“: „In der Imagination würden wir die Konturen einer Welt sehen, die weniger unvernünftig und ungerecht wäre.“ 686 Kluge sagt es: „Das Unverfilmte kritisiert das Verfilmte“. 687 Eine Variation dieses Gedankens wäre: Das Unrealisierte kritisiert das Realisierte. 688 Der vielleicht stärkste Ausdruck dieses Motivs findet sich übrigens in Tarantinos Inglourious Basterds: Die nicht gezeigten Filme-- das verbotene Material, die „entartete Kunst“-- vernichten das Nazi-Regime; die Nitrofilmrollen dienen als Zündstoff für den Brand eines Kinos, in dem die ranghöchsten Nazis inkl. Hitler sitzen. Insofern: Wie der Phönix aus der Asche zerstört die Welt der Kunst sich selbst, um eine freie Welt zu gebären. „Daß aber die Kunstwerke da sind, deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte. Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen. Worauf die Sehnsucht an den Kunstwerken geht-- die Wirklichkeit dessen, was nicht ist--, das verwandelt sich ihr in Erinnerung. In ihr vermählt sich was ist, als Gewesenes, dem Nichtseienden, weil das Gewesene nicht mehr ist.“ 689 Die Inkonsequenz und Indifferenz, die Wurstigkeit des modernen Menschen klagt Herbert Marcuse an: „Nur in der Kunst hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen.“ 690 „Ästhetische Erfahrung ist-[…] auch der Ort eigensinniger Wahrnehmungen, Empfindungen und Wunschproduktionen, die das Bestehende transzendieren und seine Geltung relativieren.“ 691 Die „Alltagsroutine“ hat nach Max Horkheimer schließlich eine „ertötende Wirkung“ auf unser Wahrnehmungsvermögen“. 692 Die epistemische Wahrnehmungs-Kompetenz der Kunst begegnet dem Abstrakten des Realen mit der Authentizität der Phantasie und des Sinnlichen-- ästhetischer vs. ideologischer Schleier. Deshalb muss Kunst als das demokratiefördernde Bildungsgut schlechthin angesehen und entsprechend gefördert werden (kulturelle und ästhetische Bildung). Das ist zumindest auf eine Weise recht nah an Schiller gebaut bzw. an dessen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen, die dem (über-)ambitionierten 686 Ebd., S. 56 . 687 Dies u. a. an folgender Stelle, hier als Titel einer Kurzgeschichte: Kluge, Alexander: Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 , S. 256 . Deshalb auch die Titelwahl der Kluge-Wochen in der Cinémathèque française, die nicht nur „rétrospective“, sondern eben auch „prospective“ trug. 688 Eine narrative Bearbeitung dieses Gedankens wäre z. B. die Geschichte „Freie Zeit" in 30. April 1945, S. 84 f. 689 AGS 7 , S. 200 . 690 MS 3 , S. 210 . 691 G. Schweppenhäuser, S. 22 f. 692 HGS 5 , S. 397 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 175 Zeitschriftenprojekt Die Horen leitmotivisch vorangestellt sind. In diesen skizziert er einen ästhetischen Staat, aber nicht als Ziel, sondern als Ideal, durch den man gehen muss, um in den moralischen Staat zu gelangen, der trotz seiner Sittlichkeit „den subjektiven und spezifischen Charakter in den Individuen“ 693 -- im wahrsten Sinne des Wortes-- würdigt. Kunst als öffentlich-kritische Plattform, als Korrektiv und Anklage, Pionier und Wegweiser von Wirklichkeit. Das Zurückdrängen der anthropologisch nachgewiesenen Emanzipation des Menschen deuten Kluge/ Negt, anders als Schiller, eher sozialpsychologisch, weil sie dieses in den Herrschaftsverhältnissen begründet sehen, was tiefer geht als die von Schiller beklagte ästhetische Stumpfsinnigkeit und Unzulänglichkeit. Das „vollkommenste aller Kunstwerke“ wäre schließlich für Schiller der „Bau einer wahren politischen Freiheit“. 694 Das Prozessuale von „Bau“ im Kontrast zur „Vollkommenheit“ lässt zumindest kurz an Kluges Baustellen-Metapher 695 denken. Doch an Stelle eines „moralischen Staates“, in dem bei Schiller der Mensch die Natur domestiziert hat, d. h. auch die eigene harmonisiert, drängen Kluge und Negt auf einen friedlichen und freien Staat, in dem die Menschen im Einklang mit der inneren und äußeren Natur leben. Auch im Gegensatz zur Idee des „ästhetischen Staates“ bei Schiller ist diese Akzeptanz der Differenz in Kluges Kunst zentral. Wohlgemerkt positioniert Kluge seine Kunst, die er nicht aus Pose als „Anti-Kunst“ deklariert, beileibe nicht als ein leuchtendes Weiß als Kontrast zur Schwärze des Wirklichen, sondern hier ist das Spektrum der Wirklichkeit in all seinen unzählbaren Grautönen so vielschichtig wiedergegeben wie im Werk Gerhard Richters. Mit dem Schiller-Vergleich wird also ebenso auch eine Differenz erkennbar, denn das ist keine Ästhetik der Klassik nach Winckelmann, die Kluge da betreibt, wenn er die subjektiv-objektiven Perspektiven wechselt, sondern eine Ästhetik des Lumpensammlers. Grundsätzlich erscheint die kooperative Allianz zwischen Erfahrungssubjekt und intellektuellem Geist, würde man Kluge mit dem einen und Negt mit dem anderen etikettieren wollen, ähnlich. Anders als sich 1794 zwei entgegengesetzte Pole verbündeten, leidet dieser stets unaufgeregte No-Name-Pakt glücklicherweise nicht am Ikonenhaften des Künstlersubjekts und agiert weder elitär noch inszenierend noch dogmatisch. 693 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ( 1795 ), in ders.: Schriften zur Philosophie und Kunst. München (Goldmann) 1959 . Vierter Brief, S. 73 . 694 Ebd., Zweiter Brief, S. 68 . 695 „Charakter einer Baustelle“; „grundsätzlich imperfekt“; „weil es ohnehin um ein Provisorium geht“ usw. Vgl.: Sklavin, S. 220 . 176 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Schiller aber ordnet bei aller Wertschätzung und Betonung ihrer Wechselwirkung letztlich doch das Sinnliche dem Verstand als Entscheidungsinstanz unter. 696 Für Kluge hingegen ist auch das Gefühl vernunftfähig. Überein kommen sie bei den Problematiken des Besonderen und der Identität. „Der Staat soll nicht bloß den objektiven und generischen, er soll auch den subjektiven und spezifischen Charakter in den Individuen ehren“, verbrieft Schiller. 697 „Veränderung“ sei durchaus „mit Identität zu vereinbaren“. 698 Erst müsse eine ästhetische Empfindlichkeit im Menschen erwachsen, damit „das Gesetz auf den Thron“ kommen könne, wodurch der Mensch „endlich als Selbstzweck“ gewürdigt werde und so alles Politische auf „wahrer Freiheit“ ruhe. 699 Der Moment der Möglichkeit einer Materialisierung der Emanzipation sei zwar gegeben gewesen (in Schillers Worten: „eine physische Möglichkeit“)-- gemeint ist natürlich die Zeit der Französischen Revolution vor ihrem Umschlagen in Terror--, der Mensch jedoch war zu diesem Zeitpunkt schlicht „unempfänglich“ für ein Ergreifen, will sagen er war nicht genügend ästhetisch ausgebildet (und dies trotz Gründung einer freien Zeichenschule zur Geschmacksbildung für die breite Bevölkerung zwanzig Jahre zuvor). 700 696 „Sobald man einen ursprünglichen, mithin notwendigen Antagonism beider Triebe behauptet, so ist freilich kein anderes Mittel, die Einheit im Menschen zu erhalten, als dass man den sinnlichen Trieb dem vernünftigen unbedingt unterordnet. Daraus aber kann bloß Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen, und der Mensch bleibt noch ewig fort geteilt. Die Unterordnung muss allerdings sein, aber wechselseitig; denn wenngleich die Schranken nie das Absolute begründen können, also die Freiheit nie von der Zeit abhängen kann, so ist es ebenso gewiss, dass das Absolute durch sich selbst nie die Schranken begründen, dass der Zustand in der Zeit nicht von der Freiheit abhängen kann. Beide Prinzipien sind einander also zugleich subordiniert und koordiniert, d. h., sie stehen in Wechselwirkung; ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form. (Diesen Begriff der Wechselwirkung und die ganze Wichtigkeit desselben findet man vortrefflich auseinandergesetzt in Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Leipzig 1794 .) Wie es mit der Person im Reich der Ideen stehe, wissen wir freilich nicht, aber dass sie, ohne Materie zu empfangen, in dem Reich der Zeit sich nicht offenbaren könne, wissen wir gewiss: In diesem Reich also wird die Materie nicht bloß unter der Form, sondern auch neben der Form und unabhängig von derselben etwas zu bestimmen haben. So notwendig es also ist, dass das Gefühl im Gebiet der Vernunft nichts entscheide, ebenso notwendig ist es, dass die Vernunft im Gebiet des Gefühls sich nichts zu bestimmen anmaße. Schon indem man jedem von beiden ein Gebiet zuspricht, schließt man das andere davon aus und setzt jedem eine Grenze, die nicht anders als zum Nachteil beider überschritten werden kann.“ Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ( 1795 ), in ders.: Schriften zur Philosophie und Kunst. München (Goldmann) 1959 . Dreizehnter Brief (erste Fußnote), S. 98 . 697 Ebd., Vierter Brief, S. 73 . 698 Ebd., Vierzehnter Brief, S. 102 . 699 Ebd., Fünfter Brief, S. 75 . 700 Ebd., Hervorh. gem. Orig. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 177 Und so gilt Adornos Satz: „Weil es in der Welt noch keinen Fortschritt gibt, gibt es einen in der Kunst; ‚il faut continuer’.“ 701 - Gemeint ist hier freilich der humanitäre, nicht der technische, wissenschaftliche oder wirtschaftliche Fortschritt, die dessen Erhabenheit potenziell zuarbeiten könnten, in der Wirklichkeit hingegen eher bremsen. Auch ist dieser Fortschrittsgedanke der Menschheit selbst nicht linear zu verstehen, sondern ist, da er mit ständigen Rückschlägen behaftet ist, eher unregelmäßig zirkulierend; begrifflich weniger belastet und deshalb geeigneter: der Begriff der „Aktualisierung“. Dieser adornoische Imperativ des Immer- Weiter künstlerischer Arbeit an Emanzipierung gegen alle Absurdität des Seins vermittelt Notwendigkeit und Hoffnung auf deren Verwirklichung. Im Gegensatz zu einem religiösen Erlösungsszenario etwa besteht der nicht abstrakte Glaube an die humanitäre Weltgesellschaft. „Göttliches“ ist hier ein diesseitiges Übermenschliches, das nicht von oben, sondern von unten kommt, das der Mensch aus sich selbst heraus entwickelt- - die „unbezwingliche Gegenmacht des menschlichen Eigensinns“ 702 . Das wird in der Kunst angedeutet und in ihr-- etwa durch Kluge-- lebendig aufbewahrt, und beim Revuepassieren von Geschichte rückt es faktisch und nachvollziehbar näher. „Es gibt Physiker, die können auf Mikrosekunden die Plasmaphysik beherrschen oder irgendetwas anderes beherrschen und daraus nehmen sie die Gewissheit, für die eine ganze naturwissenschaftliche Entwicklung geradestehen muss. Und so ähnlich ist es in der Geisteswissenschaft oder der Philosophie: Wenn Sie an irgendeiner Stelle ein Glück erkannt haben, dann wissen Sie, dass es das gibt, das kann Ihnen die ganze Realität nicht wieder ausreden. Und die Realität hat als Realitätsprinzip in uns und als umbauter Raum in unseren Städten oder unseren Gesellschaften-- als verbauter Raum-- eine ungeheure Überredungskraft, dass es diese ganzen Kinderzeiten nie gegeben hätte und manchmal auch, dass es sie geben möge, denn es könnte ja chaotisch werden. Und hier tritt Adorno als Ungläubiger heran. Es ist eine zweite Säkularisierung eigentlich, die er predigt: Man soll, man kann nur an das Glück glauben, sonst kann man nicht weiterleben.-[…] Und er sagt: Keiner kann das Glück ausschließen, das plötzlich durch ein 701 AGS 7 , S. 310 . Das innere Zitat stammt von Samuel Beckett. Eine Deutung, weshalb Adorno gerade ihn hier verwendet, könnte sein, dass es ein Wink auf das „Absurde“ ist, in dem Fall die Absurdität, die Unvernünftigkeit der Einrichtung von Welt. Dies würden zumindest die folgenden Zeilen aus der Ästhetischen Theorie unterstützen: „Vorrang des Objekts und ästhetischer Realismus sind heute fast kontradiktorisch einander entgegengesetzt, und zwar nach realistischem Maß: Beckett ist realistischer als die sozialistischen Realisten, welche durch ihr Prinzip die Wirklichkeit verfälschen. Nähmen sie diese streng genug, so näherten sie sich dem, was Lukács verdammt, der während der Tage seiner Haft in Rumänien geäußert haben soll, nun wisse er, daß Kafka ein realistischer Schriftsteller sei.“ Vgl.: AGS 7 , S. 477 . 702 UM, Bd. 1 , S. 19 (Vorwort). 178 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Bündnis aller Spuren mit allen Spuren, durch eine plötzliche Ankunft mehrerer Flaschenposten in einem glücklichen Hafen hier eine gesellschaftliche Veränderung stattfindet.“ 703 Die Frage muss deshalb lauten: Gibt es also nicht doch ein telos, das auch wissenschaftlich gerechtfertigt ist? Zumindest, wenn man es nicht als Zwang, sondern als erstrebenswertes Ideal begreift? Von jenem Fortschritt schreibt schließlich, und zwar ausgesprochen eindringlich, bereits Kant, auf den sich Kluge und Negt immer wieder direkt berufen. Er nennt es das „‚Fortschreiten in der Aufklärung’“ 704 : „Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf schwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentlichen) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten.“ 705 So ist Kluges telos zu verstehen: „Ich kann auf ein Ziel hin erzählen, weil ich ein gesellschaftliches Modell vor Augen habe.“ 706 Hier wird deutlich, weshalb es Kluge nicht nur um historische Gewordenheit geht, sondern um den in alle Zeiten gerichteten Prozesscharakter, der die Zukunftsmenschen gleichberechtigt neben den Vergangenheitsmenschen und den Gegenwartsmenschen platziert. „Souveränität hat ihren Sitz nicht allein in der Gegenwart“, schreiben er und Negt anlehnend an Marx’ Argument, dass auch in Fragen des „Grundstücks Erde“ zwischen Besitzer (Gegenwartsgeneration) und Eigentümer (alle bereits vergangenen und noch kommenden Generationen an Lebewesen) zu unterscheiden ist. 707 Doch weiter im Kant-Zitat: Dies wäre nichts weniger als „ein Verbrechen wider die menschliche Natur“, deren Ursprungsbestimmung eben „in diesem Fortschreiten besteht“. Alle zukünftigen Generationen sind deshalb „vollkommen dazu berechtigt“, Altes als „unbefugte“ und „frevelhafte“ Anmaßungen „zu verwerfen“, was sie in dieser Entwicklung, „dem Naturrecht der Menschen auf Erweiterung ihrer Mündigkeit“, 708 zu hindern droht, im Interesse der Menschlichkeit.-- „Il faut continuer“… 703 Alexander Kluge in: Burk, Henning/ Lüdke, Martin: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Theodor W. Adorno. Philosoph, Soziologe und Kritiker. Eine Produktion des Hessischen Rundfunks und des Westdeutschen Rundfunks. TV-Film von 1989 . Eigene Transkription mit Auslassungen von Interjektionen. 704 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Erstdruck: Berlinische Monatsschrift von 1784 . (Zit. n. Kluge/ Negt: UM, MP, S. 705 , Fußn. 2 ). 705 Kant, ebd. 706 Alexander Kluge im Gespräch mit Thomas Combrink in: „Die Stunde Null als ‚Zeitmaß der sich überstürzenden Ereignisse’“, veröff. in Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Materialien zur Ausstellung, hg. v.- Busch, Bernd/ Combrink, Thomas. Wallstein (Göttingen) 2009 , S. 290 - 300 . 707 UM, MP, S. 706 . 708 Ebd., S. 705 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 179 2.5.2 Ästhetische Theorie und Praxis bei Kluge Kluge sieht sich als ein literarischer Vertreter der Kritischen Theorie und folgt damit auch dem benjaminschen Vorhaben einer konkreten, d. h. nicht abstrakten Darstellung von Welt. Nach seinem Debüt in der Gruppe 47 heißt es über ihn: „Einen der interessantesten Versuche, die Wissenschaft mit der Dichtung zu vereinen, brachte Alexander Kluge, der seine Collagentechnik diesmal auf ein gruppensoziologisches Material anwandte. Seine ‚Anwesenheitsliste bei einer Beerdigung’ war wie ein Fragebogen geschrieben, wobei sich die bürokratische Sprache genau an das kleinbürgerliche Milieu anzupassen schien. Wie auch Heißenbüttel eröffnete Kluge der Gesellschaftskritik neue Möglichkeiten.“ 709 Im Kunstwerk wird Utopisches ästhetisch realisiert und wirkt so ermutigend und vorbildhaft auf die Wirklichkeit ein (oder Dystopisches warnend): „Man kann es malen.“ 710 Kluges Selbstbezeichnung als „Poet der Kritischen Theorie“ 711 ist weder als Hybris noch als Selbstinszenierung zu verstehen, auch ist sie mit Bescheidenheit vorgetragen, was hier, aus dem Gesprächskontext gerissen, arg leidet. Bezieht man die zeitlich entfernten Maßverhältnisse des Politischen bzw. seine Rede zum Lessing- Preis 1989 mit ein, so weist sie auf eine Grundüberzeugung hin, mit der es Kluge sehr ernst ist: Die „notwendige“ Verbindung des „Projekts der Aufklärung“ mit dem „Projekt der Poetik“, will man die Emanzipation des Menschengeschlechts verwirklichen. 712 Diese emanzipatorischen Ideale drücken sich bei Alexander 709 Aus dem Tagungsbericht vom 10 .- 13 . September 1964 im schwedischen Sigtuna, in: Lettau, Reinhard: Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied (Luchterhand) 1967 , S. 190 . An benachbarter Stelle im selben Buch (Schwab-Felisch, Hans: „Lesungen am Mälarsee“, a.a.O, S. 200 f. bzw. in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17 . 09 . 1964 ): „Es lief alles auf die Fragestellung hinaus, ob unsere Gesellschaft tatsächlich bereits derart präformiert ist, daß sie in ihren einzelnen Gruppen Modellcharakter hat, ob sie also protokollierbar geworden ist. Hier ist der Spielraum, den das Individuum noch hat, zur grundsätzlichen Frage geworden.“ 710 Auszug aus Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, in Kluge, Alexander: Neue Geschichten. Hefte 1-18. ‚Unheimlichkeit der Zeit’. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1977 . Heft 2 , S. 29 . 711 Exakter Wortlaut: „Für mich ist die Kritische Theorie nach wie vor der entscheidende Gravitationspunkt. Ich bin sozusagen der Poet dieser Theorie.“ Das Interview wurde im Rahmen seiner Stiftungsgastdozentur Poetik im Sommersemester 2012 an der Goethe- Universität Frankfurt am Main geführt. Nachzulesen in UniReport, Ausgabe 3 - 2012 , S. 5 . 712 Vgl.: UM, MP, S. 962 bzw. Kluge, Alexander: „Augenblick tragisch-glücklicher Wiedererkennung“, Rede zum Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg 1989 , in ders.: Personen und Reden. Berlin (Wagenbach) 2012 , S. 20 f. „Es ist lohnend, dieses Bergwerk philosophischer Texte nach poetischer Struktur zu durchsuchen. Sie haben nicht nur sinnlichen, nicht nur informativen Gehalt.“ Zugleich zollt Kluge der Alltagssprache, dem Gespräch in der Kneipe, hohen Respekt, was durchaus einer akmeistischen Sichtweise entspricht. Sie sei „reich, nuanciert und komplex“ und durch ihre 180 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Abb. 5: „Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten.“ 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 181 Kluge umfassend in Inhalt, Form und Produktion aus. 713 Seine Produkte sind keineswegs unbestimmte Negationen des Realen, er transportiert nicht nur etwas in ihnen sondern zugleich auch mit und zwischen ihnen. Man kann es ein Infiltrieren nennen, in Strukturen, in Materie, in Realität. Wir haben es also, ganz rational betrachtet, wirklich mit realer Veränderung zu tun. Und es findet dabei eine Rückkopplung statt, eine reziproke zwischen ästhetisch-freier Welt und unfreier Realwelt, zwischen realem menschlichen Innenleben und irrealem menschlichen Zusammenleben, zwischen Öffentlichkeit und Scheinöffentlichkeit, Subjektivem und Objektivem, und zwar durch rückkoppelnde Aufarbeitung des in der Kunst Aufbewahrten an menschlicher Energie, an menschlichen Wünschen und Bedürfnissen: „Der Spieltrieb also, in welchem beide vereinigt wirken“, notiert Friedrich Schiller (und meint damit den sinnlichen Trieb und den Formtrieb), „wird zugleich unsre formale und unsre materiale Beschaffenheit, zugleich unsre Vollkommenheit und unsre Glückseligkeit zufällig machen; er wird also, eben weil er beide zufällig macht und weil mit der Notwendigkeit auch die Zufälligkeit verschwindet, die Zufälligkeit in beiden wieder aufheben, mithin Form in die Materie und Realität in die Form bringen.“ 714 „Die Chronik der Gefühle verzeichnet die Genotypen unseres Empfindens, Glaubens, Liebens, Hoffens, sie durch alle historischen Phänotypen hindurch verfolgend.“ 715 Es gilt, diese menschlichen Energien ernst zu nehmen, sie nicht in die Schlucht der menschlichen Psyche hinunterfallen zu lassen, sondern ihr öffentlichen Raum zu bieten, noch bevor sie überhaupt als Gewalt ausbrechen können. Sind sie und ihre individuellen Träger nicht zu würdevoll, als dass sie sich in Ideologie, reiner Warenwirtschaft oder Kriminalität kanalisieren sollten? Klees Engel der Geschichte gleich, der doch nichts lieber als „die Toten wecken“ und die Beimengen des Witzes von poetischer Qualität. Als Drittes nennt Kluge, stellvertretend auch für die exakten Wissenschaften, die Mathematik, die ebenfalls poetische Ideale wie perspicuitas und brevitas verfolgt und zugleich einen komplexen Gegenstand aufweist. Eine poetische Spurensuche, die so viele Indizien gefunden hat, dass sich ein Bewusstsein davon gebildet hat, dass allem etwas Poetisches innewohnt. Und dies wiederum ist nicht spirituell gemeint, sondern anthropologisch und kosmologisch. Kluge also ist als ein nachmetaphysischer Denker zu bezeichnen, der die Sehnsucht des metaphysischen Denkens respektiert. Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Handwerkszeug für Text und Film. Die Poetik selbst“ (2. Vorlesung, 12. 06. 2012). 713 Dadurch Vermittlung der „Arten des Meinens“ auf mehreren Ebenen. Vgl.: BGS IV. 1 , S. 14 . 714 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ( 1795 ), in ders.: Schriften zur Philosophie und Kunst. München (Goldmann) 1959 . Vierzehnter Brief, S. 103 . 715 Trapp, Wilhelm: „Hörbuch. Ganz und gar wunderbar: Wie allerlei Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller Alexander Kluges bunte ‚Chronik der Gefühle’ lesen“, in Die Zeit vom 08 . 10 . 2009 . 182 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln zerschlagenen Trümmer „zusammenfügen“ will, 716 will Kluge nichts so sehr wie die „geschichtlichen Kreisläufe in ihren Berührungen“ umsortieren, um aus den versammelten Arbeitsvermögen „das Bild einer emanzipatorischen Geschichte“ zu gewinnen: 717 „Die im Dritten Reich organisierten Arbeitspotentiale wären zureichend für jede Veränderung von Ökologie, Politik, zur Herstellung der Autonomie anderer Völker und des eigenen usf. Verausgabt wurden sie zu Vernichtungszwecken.“ 718 Axel Honneth über Alexander Kluge, dessen Bedeutung für das Institut für Sozialforschung sowie zur Stoßrichtung dieser Arbeit: „Wenn es […] tatsächlich gelingt, Kluges ästhetische Strategie in eine Linie mit der Erkenntniskritik Adornos zu bringen, so ist damit auch klar, dass er eine kreative, von der Habermas-Linie abweichende Fortsetzung der Kritischen Theorie darstellt. Im übrigen habe ich den Eindruck, dass von kaum jemandem bezweifelt wird, dass Kluge in dieser Tradition steht und tatsächlich darum bemüht ist, sich mit dem Vermittlungsproblem der Wissenschaft ästhetisch zu beschäftigen.“ 719 Wenngleich eine Differenzierung nachgeschoben werden muss: Von Habermas „abweichend“, heißt ja nicht unbedingt „gegen“ Habermas. Kluges Emanzipationsliteratur bietet stoffliche Substanz für die in den 60 er Jahren aufgekommene und in den 70 er Jahren durch die Theorien Habermas’ erweiterte kritische Erziehungswissenschaft. Kluge sagt, dass alles, was er produziere, „aus den Wurzeln der Kritischen Theorie“ komme, nennt konkret und in erster Linie Adorno und Benjamin, dann Horkheimer, aber auch der Name Habermas fällt immer wieder: „Das Denken von Habermas gehört zu dem Grundriss auf dem ich mich bewege“, weshalb ihm dieser eine Orientierungshilfe gebe. 720 Wiederum: Wenn Kluge von 716 BGS I. 2 , S. 697 f. Der neunte Absatz ist eine Interpretation Benjamins von Klees Angelus Novus, welcher vom Sturm des Fortschritts mit Blick zurück auf einen zum Himmel ragenden, weiter wachsenden Trümmerhaufen unaufhaltsam gen Zukunft weht. In einem Interview von Der Freitag mit Kluge spricht Letzterer über Benjamins Klee-Interpretation jenes Engels der Geschichte. Es sei nicht nur ein böser Wind der Geschichte, sondern auch ein Wind, der von der Zukunft auf uns zuweht, weil er in der Gegenwart schon längst vorhanden war, uns also auch „Auswege aus der Gegenwart“ aufzeigt. Vgl.: „Auswege aus der Gegenwart“, Alexander Kluge im Gespräch mit Redakteuren von Der Freitag via Skype. Link: http: / / www.dctp.tv/ #/ meinungsmacher/ auswege-aus-der-gegenwart/ [Zugriff: 22 . 10 . 2011 ]. 717 GE, S. 283 . 718 ebd. 719 Kurze Stellungsnahme Axel Honneths in einer E-Mail vom 7 . März 2014 auf die Frage nach Kluges Bedeutung für die Kritische Theorie. 720 Vgl.: Kluge, Alexander: „Der Theoretiker als Navigator“, in Funken, Michael: Über Habermas. Darmstadt (Primus/ WBG) 2008 , S. 171 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 183 denjenigen „Frankfurtern“ spricht, die ihn bei der Arbeit über die Schulter gucken, nennt er nur Benjamin, Adorno und Horkheimer. 721 Mit seiner Philosophie der Kommentare zeichnet er dort in der Vertikale weiter, wo Habermas auf der Grundlage der Klassiker einen horizontalen Grundriss gezeichnet hat. 722 Kluges Erzählform ist eine im Sinne von „vertika“ als „Wechselbeziehungen“ und „Verknüpfungsnetze“, 723 die er bis in den mikroskopisch feinsten Verästelungen von Mensch und Gesellschaft aufspürt, sie mimetisch reproduziert und so ihre Abhängigkeiten und Fernwirkungen durch narrative Modellierungen erfahrbar macht. Die „Stockwerke des emotionalen Bergwerks“ Mensch sind nicht durch Linearität im Denken betretbar, sondern auf einer narrativen Treppe. Walter Jens formuliert hier ganz ähnlich, wenn er die Abkehr vom Chronos seitens Gide, Joyce und Proust richtig erkennt (jedoch deren Hinwendung zum Kairos-Moment, der auch bei Kluge entscheidend ist, unerwähnt lässt): „Nur wenn der Kommentar-[…] in den Mittelpunkt tritt und das Faktum selbst in einem hingestreuten Nebensatz verschwindet, wird die Totalität: nicht das Leben, sondern seine Lehre, nicht die Erscheinung, sondern ihre konzentrische Spiegelung im menschlichen Herzen wieder sichtbar werden.“ 724 „Philosophie und Kunst konvergieren in ihrem Wahrheitsgehalt“, sagt Adorno, um dann fortzufahren: „Die fortschreitend sich entfaltende Wahrheit des Kunstwerks ist keine andere als die des philosophischen Begriffs“. 725 Adornos Gedanke des Konstellativen nun-- die Begriffe „um die zu erkennende Sache [zu] versammeln“, die dadurch „potentiell deren Inneres“ bestimmen und „denkend“ erreichen, „was Denken notwendig aus sich ausschließt“-- ist mit der klugeschen Form der Narration rezeptionsästhetisch zu verbinden. Im Übrigen gibt es selbstverständlich nicht nur theoretische Verwendungen für Begriffe, sondern auch das polymorphe ästhetische Spiel mit ihnen. Künstlerische Mittel, konkret das Verfremdungsverfahren als Reflexionsstimulanz, 726 dienen zur Thematisierung und Kontrastierung der eklatanten Widersprüchlichkeit von Realwelt und Möglichkeitswelt bzw. der unerfüllten Bedürfnisse und Wünsche ihrer Individuen. Um es einmal mit mithilfe Schweppenhäusers und Horkheimers zu sagen: Das Überleben der kritisch-transzendierenden Ebene ist nur „in kompromisslos befremdeten Werken“ gesichert, weil sie dem Menschen seine „eigene Fremdheit und-[…] soziale Verzweiflung in symbolischer Form auf- 721 Vgl.: das zweite Interview. 722 Vgl.: Kluge, Alexander: „Der Theoretiker als Navigator“, in Funken, Michael: Über Habermas. Darmstadt (Primus/ WBG) 2008 , S. 171 . 723 GE, S. 244 bzw. 245 . 724 Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen (Neske) 1957 , S. 37 . 725 AGS 7 , S. 197 . 726 Vgl.: Kapitel 2 . 5 . 4 , besonders Unterkapitel 3 , in dieser Arbeit. 184 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln zeigen“. 727 Die Splitter einer brüchigen Wirklichkeit, die nur als kompakte und erdrückende Totale erscheint, werden ästhetisch zu neuen Objektivationen zusammengesetzt, die formal gesehen den „Systemen konventioneller Begriffe fremd gegenüberstehen“ und inhaltlich „die Welt, in der sie entstanden sind, als entfremdet und falsch erscheinen“ lassen. 728 Das Kunstwerk hat, wie Habermas erklärt, u. a. dadurch ein solch großes Kommunikationsvermögen, weil es „Bedeutungspotenziale [zu] aktualisieren“ und zu artikulieren vermag, „die an vorsprachliche Erfahrungen gebunden sind und an die unbewusste, sozusagen archaische Bedürfnisstruktur heranreichen.“ 729 Davon spricht auch Kluge ständig, wenn er vom elementarsten Rechtsanspruch des Menschen-- dem auf sein Glück-- erzählt. Die elementaren, die wirklichen Wünsche der Menschen bleiben konstant, haften sich aber mit dem Willensdrang nach Einlösung erfahrungsgemäß an vielversprechende Diskontinuitäten, mit denen sie nicht identisch sind. Bestes Beispiel klugescher Darstellung dieses Phänomens dürfte wohl Porträt einer Bewährung sein. In dem knapp viertelstündigen Film von 1964 steht ein Mensch im Mittelpunkt, der seine Fähigkeiten in den Dienst sich völlig antagonistischer Systeme stellte. Aus dem Ankündigungstext: „Ein Polizeibeamter, der schon im Kaiserreich diente. Dann knüppelte er in der Weimarer Republik auf Radikale ein. Nach 1933 erwarb er sich Verdienste im neuen Staat, aber in der schönen neuen Welt der Bundesrepublik hat er deutlich an Einsicht hinzugewonnen: ‚Ich würde jetzt jedem in die Fresse hauen, der sich nicht demokratisch benimmt.‘ Die notwendige individuelle Fähigkeit zur ständigen Reflexion stimuliert Kluge durch seine künstlerische Produktion, die bereits in den 60 ern mit konventionellen Erzählformen brach: durch multimediale Komposition und Collage, durch das Fragmentarische, Lückenhafte, Offene als Forderung nach einem Hinzufügen durch die Eigentätigkeit des Rezipienten. Zumeist geht er dabei von einem historisch aufgeladenen Punkt aus und zoomt parabelhaft auf das individuelle Schicksal. Dazu die hohe taciteische Kunst der Lakonie, die Textkonzentrate herstellt, und um auf das Moralisierende der Fabel verzichtet. Markant auch die Parodie von protokollarischem Beamtendeutsch, wodurch die Kälte des Zweckrationalen eben nicht mit der euphemistischen Zensur eines Sentimentalen belegt wird. Und dazwischen lacht sich immer wieder die Absurdität des Seins frei. Bei alledem geht es Kluge darum, das Gewohnheitsdenken, jene „schulmäßig erlernte Arbeit des Bewußtseinsapparats“, 730 in seiner konstruierten Ordnung zu erschüttern. Nicht Chaos ist dabei das Ziel, sondern Übersicht-- und diese muss 727 G. Schweppenhäuser, S. 98 . 728 HGS 4 , S. 421 . 729 G. Schweppenhäuser, S. 100 f. 730 Sklavin, S. 209 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 185 in ihrer Darstellung konsequenterweise unkonventionell sein, will sie ihrem komplexen Gegenstand gerecht werden. Dies versucht Kluge vor allem durch konstellative „Themenschleifen“, die sich multispektral und multimedial ihrem jeweiligen Gegenstand annähern, ihn spiralenförmig und kommentarhaft zu umzingeln versuchen. 731 2.5.2.1 Netz I: Die zusammenhängenden Gärten der dctp Gegenproduktion in Endlosschleife: Die hybride dctp-Plattform ist so strukturiert, dass man dort verschiedenste „Themenschleifen“ finden kann, d. h. eine unterschiedlich große Anzahl von ständig abrufbaren Videos (on demand) ist einem Thema zugeordnet, die dieses aus verschiedenen Richtungen und auf unterschiedliche Weise umkreisen. Die Metapher der Schleife steht, das adäquate Symbol der Lemniskate (∞) im Hinterkopf, für Unendlichkeit und fortwährende Bewegung, für Zyklen und Entwicklung, kulturell geprägt aber auch für Ausgleich und Gleichgewicht. Zudem verweist sie auf die frühe Filmgeschichte, die für Kluges Filmphilosophie enorm wichtig ist, genauer gesagt auf die sog. „Filmbetrachter“ Ende des 19 . Jahrhunderts. Die „Kinetoskope“ (griech. „kinematos“ = „Bewegung“; „skopein“ = „schauen“) aus dem Hause Edison zeigten Filmszenen von sehr kurzer Dauer (Sekunden, Minuten), deren Anfang und Ende zu Endlosschleifen zusammengeklebt waren und so für Ausstellungs- und Unterhaltungszwecke eingesetzt wurden. Kluges Ästhetik war mit seinen Verlinkungen und seiner Multi- und Intermedialität, auch mit der extremen Kürze von Filmen und Geschichten bereits internetartig, als es dieses noch gar nicht gab. Dieses Medium und seine Struktur scheinen die klugesche Ästhetik noch am ehesten adäquat darstellen zu können. In diesem Kontext entfaltet die vorherige Abbildung aus dem Band zum Jungen Deutschen Film erst ihre ganze utopische Aussagekraft, wenngleich die gegenwärtige Umsetzung der Garten-Metapher 732 im Web- TV -Portal sicher noch ausbaufähig ist. Man sieht dort in einen Kosmos und erblickt vier glühende Planeten, deren Strahlen einzelne Themenschleifen sind, die über den Bildrand hinausweisen. Als solche kennen sie keinen Anfangs- und keinen Endpunkt, nur die Endlosschleife von Videos, die einen „Zusammenhang“ bilden. Und sie kennen den farbverwandten anderen Lichtstrahl, mit dem sie einen übergeordneten „Kontext“ bilden. 733 Benjamin und Brecht verfolgten dasselbe Ziel, und zwar die Entwick- 731 Vgl.: Das Cinémathèque-Gespräch. 732 Siehe Kluge-Lexikon. 733 Siehe „Gärten der Information“ auf dctp.tv. Außerdem gibt es mit „magazin.dctp.tv“ seit kurzer Zeit noch einen „Magazin-Modus“, der in der Darstellung zwischen Blog und Online-Zeitung tendiert. Redaktionsarbeit und Aktualitätsbezug bauen Brücken zu den Filmen auf der Mutter-Homepage. Aktualität meint hier wohlgemerkt Aktualisieren; so 186 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln lung einer neuen Ästhetik, deren Struktur es verhindert, faschistisch okkupiert zu werden. 734 Die Atonalität klugescher Ästhetik und die Rolle der Phantasie in ihr stehen zweifelsohne in dieser Tradition. Das Internetportal der dctp gleicht in seiner fluktuierenden wie verzweigten Variation unzähligen Plateaus: „Le rhizome procède par variation, expansion, conquête, capture, piqûre. À l’opposé du graphisme, du dessin ou de la photo, le rhizome se rapporte à une carte qui doit être produite, construite, toujours démontable, connectable, renversable, modifiable, à entrées et sorties multiples, avec ses lignes de fuite.“ 735 Kluges Bezeichnungen „Inseln“, „Gärten“ und „Gefäße“, mit denen er sein analoges wie digitales (und beide sind verbunden) Konglomerat der Geschichten und Gespräche, der Bilder, Texte und Filme, der Poesie und der Wissenschaft beschreibt, müssen in ihrer metaphorisch bereits angelegten Raumstruktur wahrgenommen werden. Das dctp-Portal ist anzusehen als ein digital begehbarer Öffentlichkeitsraum, ein heterotoper Kulturraum im topologischen Sinne des „spatial turn“ 736 . Zwar kann sich der „User“ höchstens durch angrenzende Social Media einbringen (die dctp hat eine Facebook-Seite, unzählige Clips können via YouTube angesehen und kommentiert werden usw.), doch ist der Rezipient auch durch die formalen Besonderheiten immer schon einbezogen, sodass jene außergewöhnlich „anderen Räume“ auch durch intersubjektive Beziehungen entstehen. Zu dieser sozialen Raumkonstruktion tragen ebenso bei die Beiträge der dctp-Partner sowie die unzählbaren Interview-Gäste Kluges, die wenn nicht gar an Menge, dann zumindest an Vielfalt eine Großstadt repräsentieren dürften. Diese kolossale Gegenproduktion kreiert das, was Foucault mit „Heterotopien“ meint, nämlich reale, nicht-statische Orte, „die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“ 737 werden beispielsweise nicht extra zu Jubiläen Videos gedreht. So gibt es Filme und Interviews, die Jahre alt sein können und doch mehr Aktualitätsvermögen aufweisen als die neueste Nachrichtensendung in den konventionellen Mediatheken. Upcycling alter Erfahrungswerte. 734 Vgl.: BGS I. 2 , S. 473 u. S. 506 . 735 Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2. Paris (Les Éditions de Minuit) 1980 . S. 32 . 736 Sog. „raumkritische Wende“, die die kulturelle Bedeutung von Räumen untersucht. Vgl.: Bachmann-Medick, Doris: „Spatial Turn“, in dies.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek (Rowohlt) 2006 . 737 Foucault, Michel: „Andere Räume“ ( 1967 ), in Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig (Reclam) 1992 , S. 39 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 187 Konkurrenzrealitäten, Inseln für Utopien, „stillschweigende Vorgriffe auf das Reich der Freiheit.“ 738 So ist es Kluges ästhetische Maxime, „die kritische Haltung des Zuschauers, den Anspruch des Zuschauers, als ein aufgeklärter Mensch behandelt zu werden, vorwegzunehmen.“ 739 Entscheidend ist hier darauf hinzuweisen, dass Kluges heterotope Räume nicht abgekapselt sind von der Wirklichkeit, sondern durch die Vielfalt an Medien, Veröffentlichungen und Kooperationspartner lauter offene Fenster und Türen haben. Foucault äußert sich übrigens konkret zum „Garten“ als Besonderheit der Heterotopie, dem als „erstaunliche Schöpfung von Jahrtausenden“ 740 im alten Morgenland „sehr tiefe und gleichzeitig übereinander gelagerte Bedeutungen“ zukommen und der in seiner Symbolik universal angelegt ist: „Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und darauf ist er die Totalität der Welt.“ 741 Damit nicht genug, steigen die tausend Plateaus der dctp in die höchsten Höhen der foucaultschen Heterotopie-Theorie auf. Durch den klugeschen Zeitbegriff, der in dieser Arbeit ausführlich behandelt wird, treffen Heterotopie und „Heterochronie“ (Foucault nennt sie auch „Zeitschnitte“) aufeinander: „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.“ 742 Weiter: „Überhaupt organisieren und arrangieren sich Heterotopie und Heterochronie in einer Gesellschaft wie der unsrigen auf ziemlich komplexe Weise.“ Zum Willen der Moderne nach Universalität-- „die Idee, eine Art Generalarchiv zusammenzutragen, der Wille, an einem Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen, alle Geschmäcker einzuschließen, die Idee, einen Ort aller Zeiten zu installieren, der selber außer der Zeit und sicher vor ihrem Zahn sein soll, das Projekt, solchermaßen eine fortwährende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einem unerschütterlichen Ort zu organisieren“ 743 - verhält sich der Kluge-Kosmos verschwistert, jedoch mit zwei entscheidenden Erweiterungen: Nicht einschließen und somit ausschließen, sondern aufschließen lautet das Prinzip, unprätentiöses Zugänglichmachen mit radikalem Gegenwartsbezug. Das ist im Sinne der Collaborateurs de l’Encyclopédie zu verstehen, steht schließlich Kluges dctp ganz in der Tradition Diderots, wenn dort in einer dezentralen Autorenwerkstatt versucht wird, aus Fachwissen Allgemeinwissen zu generieren (in dieser Beziehung hätte Kluges Unterhaltungsmoment seiner litera- 738 GE, S. 95 . 739 Kluge, Alexander: „Die Utopie Film“ ( 1964 ), in ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod: Texte zu Kino, Film Politik, hg. v.-Christian Schulte. Vorwerk 8 (Berlin), S. 51 . 740 Foucault, Michel: „Andere Räume“ ( 1967 ), in Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig (Reclam) 1992 , S. 42 . 741 Ebd., S. 43 . 742 Ebd. 743 Ebd. 188 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln rischen Nachrichten Züge von Melchior Grimms Correspondance littéraire, dem Paratext der Encyclopédie). Mit dem grundlegenden Unterschied allerdings, wie Christian Schulte differenziert, dass es bei Kluges Enzyklopädismus nicht um eine Totalität des Wissens geht, sondern um ein offenes Kompendium der Erfahrungen. Hinzu kommt zweitens das Element des Spontanen neben der akkumulierten Zeit. „Der letzte Zug der Heterotopien besteht schließlich darin, daß sie gegenüber dem verbleibenden Raum eine Funktion haben.“ 744 Ob diese im Falle der dctp enhanced nun „illusorisch“ oder „kompensatorisch“ ist, so die einzigen Kategorien, die Foucault anbietet, oder beides oder nichts oder von beidem ein bisschen, wird indirekt in Kapitel 2 . 6 . 3 beantwortet, in dem es um Kluges dialektischen Realismusbegriff geht. Übrigens ist die dctp von der Struktur so angelegt, das die Macht der Redakteure erhöht und das Technische, Verwaltende auf ein Minimum reduziert ist. 745 Damit gilt ein formuliertes Ideal aus Öffentlichkeit und Erfahrung als realisiert, nämlich „Stoffülle“ statt „organisiertem Zeitmangel“. 746 Also Substanz statt Bürokratie, Zensur und Programmatik. Das ist nur ein konkretes Beispiel von vielen, wie Theorie und Praxis gerade durch den Rechtswissenschaftler und Bildungspolitiker Kluge verschränkt sind, ja wie sehr seine Erweiterung der Kritischen Theorie in wirkliche Verhältnisse hineinwirkt. Kluges Kunstwerke haben pragmatischen Charakter, durchaus auch im Sinne Brechts gesellschaftsrelevantem „Gebrauchswert“, also Gegenproduktion durch Artefakte, die „praktikable Abbildungen der Gesellschaft“ herausarbeiten, welche als „Spiel“ (! ) wiederum auf diese einwirken. 747 Die Autorenwerkstatt ist de facto ein Projekt versammelter Künstler, Wissenschaftler und Journalisten zur politischen Bildung-- nicht nur (wie zahlreiche Übersetzungen, Untertitel und internationale Kooperationen belegen), aber gerade-- Deutschlands. Kluge stellt eine kulturelle Öffentlichkeit her, die den Kulturbegriff so weit ausdehnt (durch Inklusion, 744 Ebd., S. 45 . 745 „Das ‚Herausgeberprinzip’ sieht Fernsehsendungen analog zur Unabhängigkeit angesehener publizistischer Unternehmen. Die TV-Programme, die von den Fernsehtöchtern namhafter Verlage produziert werden, stehen in der Verantwortung, dem renommierten Namen gerecht zu werden und versprechen Qualität, solide Recherche und Information auf hohem Niveau. Die Sicherheit der nach dem Mediengesetz lizenzierten Sendezeiten der dctp wiederum erlaubt es den Verlagen, in gewohnter Unabhängigkeit ihren Weg in die TV-Welt zu gehen, ohne als individueller Direktzulieferer bei den privaten Fernsehsendern bei der Entwicklung ihrer Formate in kürzester Zeit unter (Quoten-)Druck zu geraten.“ Link: http: / / www.dctp.de/ herausgeberprinzip.html [Zugriff: 17 . 07 . 2014 ]. 746 UM, ÖE, S. 477 747 Vgl.: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1964 . Bd. 16 : „Schriften zum Theater II“, S. 672 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 189 nicht durch Abstraktion), dass sie Künstler und Nicht-Künstler, Wissenschaftler und Nicht-Wissenschaftler zusammenbringt, und die bereit ist, in eine kritische Öffentlichkeit aller überzugehen. 2.5.2.2 Netz II: Arachnes Hybris Bei der Textgenese verwendet Kluge eine Zwei-Spalten-Technik, ähnlich wie sie etwa Autoren wie Arno Schmidt noch im Produkt sichtbar lassen und die eine lange Bedeutung in der Psychoanalyse hat. Freud notiert in seinen Traumdeutungen so zunächst seinen Traum (z. B. „Irmas Injektion“, den er in der Nacht vom 23 . auf den 24 . Juli 1895 hatte), daneben lässt er seinen Assoziationen zu den Details freien Lauf. Arno Schmidt verwendet diesen unkonventionellen zweispaltigen Satz seit KAFF auch Mare Crisium, um darin freie und phantastische Gedanken adäquat literarisch illustrieren zu können. In Zettel’s Traum entwickelt er diesen dann weiter zu einer Drei-Spalten-Technik, die kegelförmig gedacht, also ohne eine Hierarchie der Spalten verstanden werden soll. Dieses losgelöste Abbildungsverfahren von meist assoziativen Bewusstseinsinhalten ist mit der écriture automatique der Surrealisten verwandt. Kluge: „Auf meinen Blöcken beschreibe ich die rechte Seite, auf der linken Seite sammeln sich während des Schreibens Notizen. Oft sind das Kerne für weitere Geschichten, die später und manchmal auch im Anschluß daran geschrieben werden.“ 748 Der zweite Satz weist darauf hin, dass seine Geschichten bereits im Prozess ihres Entstehens Knotenpunkte bilden, die sein gesamtes Werk zusammenhalten. Neben inhaltlichen Verbindungen komme es „häufig“ zu einer „Oberflächenbeziehung zwischen den Geschichten“, etwa „weil ein Satz aus der ersten Geschichte den Hauptinhalt einer zweiten bildet oder weil sich Variationen ergeben. Oder auch Kommentare.“ Diese Texte nehmen eine Eigendynamik an, sodass „der Subtext oder das, was ich, während ich schreibe, wie eine Filmszene vor mir sehe, also ‚die Sache selbst’ und nicht der Plan oder die Konstruktion, den Text regiert.“ 749 Vielmehr ist hier die poetische Libido am Werk: die Emotion als „die Schwester des Denkens“. 750 „Eine Leitfigur der dctp und von mir persönlich ist Arachne. Das ist eine Tuchweberin aus Byzanz, die auf die Gewänder die Weltgeschichte und die Geschichte der 748 Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin (Filmedition Suhrkamp) 2013 . Beiheft, S. 16 . 749 Ebd., S. 16 u. 20 . 750 „Ich schreibe meine Geschichten“, so Kluge, „mit der Spitze des Bleistifts“ (ebd. S. 22 .).-- Die zitierte Bleistiftspitze ist insofern, wenn man einmal eine Vermessung vornehmen würde, Metapher für den äußersten Punkt des Dichters, lokalisiert am Ende (bzw. Anfang) des Schreibmediums und bereits Fast-Schrift, in maximaler Entfernung vom Kopf des Autors, berührt durch den geübten Feingriff der Fingerkuppen der sensiblen Hand, die jeweils, wie man weiß, über gut 700 Berührungs- und Druckrezeptoren verfügen. 190 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Götter webte.“ 751 Als Teil Ovids Verwandlungen erzählt der Mythos vom Kampf der eifersüchtigen Göttin Athene mit der ihr überlegenen menschlichen Weberin Arachne. Bewegt man sich einmal durch dessen hexametrische Metamorphosenwelt, so kann man durchaus auf einige Attribute der Arachne stoßen, die an Kluge erinnern. Arachne führt, über all ihr Hybrisverhalten noch hinausgehend, mit ihrer Auswahl amouröser Motive die für ihre Liebesenthaltung bekannte Athene vor: Während die griechische Minerva das Motiv einer Siegerin wählt, ein erfolgreicher Wettstreit gegen Poseidon, entwirft Arachne gleich einundzwanzig Szenerien, allesamt Liebesabenteuer der Götter- - und gewinnt den Wettstreit mit Athene, die selbst keine Liebeserfahrungen hat. Allein eine solche Kollektion an Geschichten entspricht der klugeschen Methode einer Bindungsstruktur, genauer gesagt jenes Chronikhafte, Kataloghafte, Verzeichnisartige (die Abbildung aller Liebeslaster der Götter), und auch wenn der thematische Aspekt der Libido freilich alles andere als selten in der Literaturwelt ist, so ist doch gerade für Kluge als den Autor von Die Chronik der Gefühle das „Gefühl“ so inhärent. Jene eindimensionale Darstellung einer Geschichte der siegenden Göttin durch die Siegerin selbst ist übrigens vergleichbar mit der basalen Kritik des historischen Materialismus’ an einer Geschichtsschreibung „von oben“, dem additiven Schreiben an der Geschichte, stets von den Siegern ausgehend. 752 Als nun Athene, wutentfacht über ihre unerwartete Niederlage, mit ihrem Weberschiffchen mehrfach auf die Stirn Arachnes einschlägt, versucht diese sich mit einem Strick von ihrem Leiden zu erlösen. Dieser Anblick löst bei der Göttin Mitleid aus, woraufhin sie Arachne von der Qual befreit-- jedoch nicht ohne Rachegelüste. Von einem „traurigen Gift“ (das einer libidinös Frustrierten) beträufelt, verwandelt sich Arachne in ein Spinnenwesen, das wie seine Nachkommen dazu verdammt ist, auf ewig weiter zu weben. 753 Wortspiel und Metapher zugleich, so heißt „textura“ erstens „Gewebe“, weist darüber hinaus also hin auf die „Textur“, sprich auf den „Text“. 754 Das Gewebe der Geschichten wird zur Tautologie, zum 751 Exakte Wortfolge anders, jedoch unveränderte Aussage; Vgl.: Auswege aus der Gegenwart. Alexander Kluge im Gespräch mit Redakteuren von Der freitag via Skype: http: / / www. dctp.tv/ #/ meinungsmacher/ auswege-aus-der-gegenwart/ [Zugriff: 22 . 10 . 2011 ]. 752 Mehr hierzu in Kapitel 2 . 5 . 5 . 753 Ovid: Metamorphosen (Verwandlungen). In der Übertragung von Johann Heinrich Voß, 1798 . Frankfurt a. M. (Insel Verlag) 1990 . VI., 1 - 145 . 754 Weitere Assoziationsketten seien nur angestoßen: Das christliche „Am Anfang war das Wort“ (Bildung der Welt, Mythos vom Weltgewebe), Platons Metapher vom webenden Staatsmann, der zur Herstellung der Einheit seiner Polis die in ihr verschieden wirkenden Kräfte zusammenflechtet, oder auch die Buchbinderei vom Mittelalter (Einwebungen zum Schutz) bis heute (Fadenbindung). Eine weiterführende Metaphernuntersuchung liefert das Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. v.- Konersmann, Ralf. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2007 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 191 endlosen Prozess, zum sich selbst einholenden Kreislauf. Wenn Kluge nun von seinen Gewährsmännern oder „Vertrauenspersonen“ 755 spricht, und dabei mal Ovid, Montaigne und Kleist, mal Tacitus und Hieronymus im Gehäuse, mal Michel Foucault und Heiner Müller nennt, auch Eisenstein und Godard oder Schönberg und Cage gehören dazu, also Literatur, Theater, Film und Musik, dann meist in Verbindung mit einem Kommentar, das zu verstehen gibt: Sie alle sind im Geiste und in ihrer Arbeit verwandt, sie alle texten seit jeher an „einem“ Weltenteppich der Geschichten, Bilder und Töne (es ist demnach ein multimedialer Textkörper), erzählen und überliefern, warnen und hoffen-- polyphon. Das künstlerische Werk steht nicht für sich allein, sondern wird aufgefasst als ein Strang der dicht verwobenen Geistesgeschichte. 756 Die Assoziationsebenen zu anderen Autoren veranschaulichen, dass es sich wohlgemerkt nicht um ein homogenes oder totalitäres, sondern um ein mehrdimensionales Werk handelt, das sich einer Kategorisierung verwehrt. Statt klassischem Autor-Subjekt selbstbewusster Diskursteilnehmer ohne Exklusivansprüche am Denken und Texten. Kluge betrachtet seine Texte stets als Texte im Kontext. Er webt unentwegt an einem arachnischen Netz der Erfahrungen, das alle Bomben abfangen soll: „Spinnenseide“, so liest man in der zeitgenössischen Enzyklopädie der Vielen, „ist, bezogen auf ihr Gewicht, vier mal belastbarer als Stahl und kann um das dreifache ihrer Länge gedehnt werden ohne zu reißen.“ 757 Weitere Assoziationen lassen sich 755 Dies tut Kluge häufig, u. a. hier: „Und in der Literatur, deshalb liebe ich Bücher, ist es ganz reich an Vertrauensmännern. Ich könnte sie nicht aufzählen zwischen Ovid, Montaigne bis zu mir, so klein mit Hut ich, aber es sind große Andere und ich kann von Ihnen abgucken, und wenn mir mal nichts einfällt, habe ich sie immer noch.“ Vgl.: „Der Mensch ist das Medium. Alexander Kluge über die Ursprünge des Kinos, über Erfahrung und Öffentlichkeit und Nahtstellen, an denen Chaos und Glück entstehen“, in Der Freitag vom 02 . 03 . 2007 , http: / / www.freitag.de/ 2007/ 09/ 07 091 601.php [Zugriff: 15 . 05 . 2012 ]. 756 Kluge agiert viel zu bescheiden und unprätentiös, als dass er sich in eine Reihe großer Namen stellen würde, doch ist er realistisch genug, seine Sammlermethode hier wiederzufinden (Vgl. auch Fußnote zuvor). Auch sieht er sich eher in der Funktion des Kommentators, wenn er von ihnen erzählt. Strategie der indirekten Selbstreferenz: Ein grundsätzliches Phänomen ließ sich beim Aufspüren von theoretischen und selbstreferenziellen Stellen im Kluge-Kosmos beobachten: Insbesondere in seinen Reden und Hinweisen auf Dritte beschreibt er nicht nur Theoretisches und Praktisches anderer Personen, sondern betreibt sogleich auch immer ein Stückweit versteckte Selbstauskunft. Seien es Haltungen, seinen es Theorien oder ästhetische Methoden-- die dichtesten wie aufschlussreichsten Angaben über die eigene Poetik äußert Kluge, dahingestellt ob bewusst oder unbewusst, indirekt. Es sind die Reden auf Verwandte im Geiste, von Ovid über Adorno bis Müller, in denen Kluge Beschreibungen vornimmt, die nur allzu gut gerade auf die eigene darstellende Praxis zutreffen. Seine Poetik also spiegelt sich im Anderen, was Kluges geschätzter Senkung der Ich-Schranke konsequent entspricht, unprätentiös und selbstbewusst zugleich ist. 757 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Spinnennetz [Zugriff: 13 . Mai 2012 ]. 192 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln anknüpfen: Fliege: Flüchtiges. Spinne: webt und wartet geduldig. Gewebe: Haltbarkeit; wahrscheinlich der erste beschreibbare Stoff vor der Erfindung von Papyrus. Roland Barthes’ Le Plaisir du Texte zufolge entsteht der Text durch ein ununterbrochenes Flechten und bearbeitet sich demzufolge ständig selbst. Vertraut man ihm hierbei, so vollbringt die Literatur das, woran die Physik scheitert: ein Perpetuum mobile. In „diesem Gewebe-- dieser Textur-- verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge“ 758 -- diese Allegorie soll überleiten auf das zurücktretende ‚Ich’ Kluges in einer Vielzahl an Kooperationswerken. Und auch Benjamin verwendet dieses Bild, wenn er Proust huldigt: „Wenn die Römer einen Text das Gewebte nennen, so ist es kaum einer mehr und dichter als Marcel Prousts.“ 759 Eingedenk Kluges Nähe zu Adorno, könnte womöglich folgende Stelle in der Minima Moralia inspirierend oder zumindest bestätigend gewesen sein: „Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben: dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt. Sie ziehen alles in sich hinein, was da kreucht und fleucht. Metaphern, die flüchtig sie durcheilen, werden ihnen zur nahrhaften Beute. Materialien kommen ihnen angeflogen. Die Stichhaltigkeit einer Konzeption läßt danach sich beurteilen, ob sie die Zitate herbeizitiert.“ 760 Spätestens mit Foucaults Hinweis auf die Relation Text-„Prätext“, also die Heteronomie eines jeden Textes, der wie ein „Knoten im Netz“ mit Fäden an andere Knoten gebunden ist, auf sie verweist oder auf sie verwiesen wird, wird auch die Dimension klugescher Texte im klugeschen Gesamtwerk deutlich: „C’est que les marges d’un livre ne sont jamais nettes ni rigoureusement tranchées : pardelà le titre, les premières lignes et le point final, par-delà sa configuration interne et la forme qui l’autonomise, il est pris dans un système de renvois à d’autres livres, d’autres textes, d’autres phrases : nœud dans un réseau.“ 761 758 „Texte veut dire Tissu; - […] dans ce tissu- - cette texture- - le sujet s’y défait, telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans les sécrétions constructives de sa toile.“ Roland Barthes: Le plaisir du texte, in: Œuvres complètes II: 1966-1973. Paris (Seuil) 1994 , S. 1527 . bzw. Die Lust am Text, aus. d. Frz. v.- Traugott König. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1974 , S. 94 . 759 Benjamin, Walter: „Zum Bilde Prousts“, in ders.: Medienästhetische Schriften. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2002 , S. 10 . 760 AGS 4 , S. 95 . 761 Foucault, Michel: L’Archéologie du savoir. Paris (Gallimard) 1969 , S. 34 . Übersetzt in etwa: „Das heißt, die Ränder eines Buches sind niemals weder sauber noch exakt geschnitten: Jenseits des Titels, der ersten Zeilen und des Schlusspunkts, jenseits seiner inneren Beschaffenheit und autonomisierenden Form, wird er beansprucht in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze: ein Knoten in einem Netz.“ 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 193 Kluge schreibt eine Erzählung in einem anderen Medium fort. Insofern auch die Effekte multimedial sind, steht der Gedanke im Mittelpunkt, der Content, und es gibt in dem Sinn nie ein übergeordnetes Medium. Jedoch gibt es Texte und Paratexte, es gibt Hypertexte und Hypotexte, weshalb das Klugenetz im Grunde auch eine praktisch-ästhetische Verwirklichung der Theorien des Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus ist. Mit Rückkopplung auf die elementaren Thesen dieser Arbeit kommt dem arachnischen Unendlichkeitsprinzip jenes kaleidoskopischen Textverbunds eine besondere Tragweite zu. Zur Erläuterung genügt hierfür im Grunde eine Zeile Ulrich Müllers über Adornos „nichtidentifizierendes Identifizieren“, also jenen Willen zur Erkenntnis, der nicht feststellen, sondern verstehen will: Dieses sei nämlich „dadurch charakterisiert, daß es mit den genannten Mitteln, durch die es sich Flexibilität und kritische Offenheit verschafft, die volle Erkenntnis des Seins einer Sache in ihrer Geschichtlichkeit anstrebt.“ 762 „Wo der Gedanke eine Zelle der Wirklichkeit aufgeschlossen hat, muß er ohne Gewalttat des Subjekts in die nächste Kammer dringen“, sagt Adorno, denn er „bewährt seine Beziehung zum Objekt, sobald andere Objekte sich ankristallisieren.“ 763 Durch Erfahrung, Infinität sowie Variabilität der tausendköpfigen Arachne-Arbeit gelingt es, Genese und Vielschichtigkeit eines Wesens (das kann eine Person sein, das kann das Phänomen „Krieg“ sein) abzubilden und das Fließende seiner Metamorphosis wie das Feste seiner Wesenhaftigkeit zusammenzutragen-- um in der Brisanz der Gegenwart kritisch unterscheiden und zuverlässig entscheiden zu können. Kluge nimmt, hierauf weist etwa Hosung Lee hin, Zitatergänzungen und -modulationen vor. Als Beispiel nennt Lee ein Zitat Bertrand Russels in den Lebensläufen. 764 Der dort angegebene Seitenverweis ist falsch. Liest man an jener Stelle bei Russel, findet sich dennoch etwas, das zum Kontext passt, aber einen neuen Gedanken bringt. Die vermutlich bewusst falsche Seitenangabe (denn dies, so Lees zu bemitleidenden Übersetzungserfahrungen, ist keine Ausnahme) schafft, wenn man sich zumindest für den Gedanken von aller Ernsthaftigkeit eines Urheberrechts löst und einen ästhetischen Standpunkt einnimmt, eine zusätzliche Verwebung, einen weiteren Zwischenraum für einen Kommentar und so fließen die Stimmen von Gesprächspartnern und zitierten Autoren mit Kluge als Autor zusammen. In dieser Philosophie des Zusammen-Denkens geht es beileibe nicht 762 Müller, Ulrich: Erkenntniskritik und Negative Metaphysik bei Adorno: eine Philosophie der dritten Reflektiertheit. Frankfurt a. M. (Athenäum) 1988 , S. 207 . 763 AGS 4 , S. 95 . 764 Hosung Lee in seinem Vortrag „Ein Kommentar zum Kommentar der Authentizität. Zur koreanischen Übersetzung der Lebensläufe“ auf der internationalen Konferenz „Reading/ Viewing Alexander Kluge’s Work“ am 11 . Dezember 2013 an der Université de Liège. 194 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln mehr um so etwas wie Originalität oder gar persönliche Eitelkeit, sondern um das gemeinsame Moment, um Kollektivarbeit mit dem Bewusstsein der Diversität, der zu wahrenden Eigenheiten der Autoren samt ihrer Textformen und -inhalte. Der Homer des 21 . Jahrhunderts ist für Kluge nicht mehr ein Dichter, sondern sind viele Autoren, die sich die digitale Kommunikation zunutze machen, um im Kollektiv die Erfahrungen der Welt zusammenzutragen. Der Plural der Realitäten drückt sich auch in dem Plural der Erzähler dieser Realitäten aus. Kluge hat sich zur Aufgabe gemacht, diese an einen Tisch zu bringen. Statt sich einen Kokon der Abschirmung, der Weltenflucht ins Ästhetische oder Illusionäre zu spinnen, stellt Kluge gastgeberisch Geselligkeit her, Vernetzung statt Ausschluss. Für ihn geht es darum, „zu erzählen, einen Kokon zu spinnen, um die Wirklichkeit zu versüßen, sie so zu verschönern, daß sie kommunikationsfähig ist.“ 765 „Dass ich von Haus aus ein Autor bin, der gelernt hat, dass die Studierstube nicht der Ort ist, an dem man Autor sein kann. Man entfernt sich aus der Realität. Das habe ich schon, als ich zum Film ging, so empfunden. Während ich schreibe, spreche ich mit anderen vertrauenswürdigen Menschen wie Adorno, Montaigne, Ovid oder Heiner Müller, aber auch mit meiner Mutter oder unserer Erzieherin. Mein Netzwerk ist die Literatur und meine Lieblingsfigur Arachne, eine schöne Weberin, die in den Wettstreit mit der Göttin Athene trat, besser war und deswegen in eine Spinne verwandelt wurde.“ 766 - Kluge hat sich selbst längst in eine solche Spinne verwandelt und sich so, ganz wie Arachne, bereits unsterblich gemacht. 767 Seine Idee der Kontinuität und der Kooperation in Gestalt eines sich selbst weiter ausbreitenden Netzwerks kritischen Denkens könnte eine adäquate Antwort sein auf den global vernetzten, schier übermächtigen Kapitalismus. Zum Schluss soll Alexander Kluge selbst das Wort haben- - die auslösende Frage stellte die FAZ : „Wie hat das Internet ihr Denken verändert? “ Zugleich stellt die Antwort eine prägnante Zusammenfassung Kluges Arbeit und somit auch der vorliegenden dar: „Das Internet hat mein Denken in ganz bestimmter Hinsicht verstärkt, insofern als ich vorher auch schon mit Vernetzung zu tun hatte: Ein Netz bilden auch meine literarischen Arbeiten und die Filme. Von Veränderung würde ich in meinem Fall nicht sprechen. Bei den jungen Menschen aber ist eine neue Form der Intelligenz im Entstehen begriffen, so wie hier auch ein neues Medium entsteht, das nicht identisch ist mit dem Internet, 765 Unterschiede, S. 59 . 766 Kluge in: Schlosser, Sabine: „Der Zuschauer wird oftmals unterschätzt“, Interview mit Alexander Kluge, in MEDIEN HORIZONT 6 / 2002 . 767 „Wir müssen einfach das Niveau und unsere Breite vergrößern und da entsteht dann ein Sog, der dann ein neues Kino und neue Filme hervorbringen wird, auch wenn wir dann einmal passé sind.“ Aus dem Protokoll zum „Podiumsgespräch mit der ‚Gruppe junger deutscher Film’ zum Thema ‚Forderungen an den Film’ während der ‚Internationalen Filmwoche Mannheim 1962 ’“, an dem auch Adorno teilnahm, vom 17 . 10 . 1962 . Das Protokoll ist im Adorno-Archiv der Berliner Akademie der Künste einzusehen. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 195 sondern auch das Fernsehen, die klassische Öffentlichkeit und das Buch umfasst und miteinander verbindet. Es gibt eine neue Sehnsucht nach Nachhaltigkeit und nach einem ‚Hortus conclusus’, einem abgeschlossenen Garten. Das hat nichts mit der Lust am Surfen zu tun- - auf einem Ozean können Sie als Surfer kaum überleben. Stattdessen ist ein neues Interesse an Gefäßen und Begrenzungen entstanden. Und hier hat die Kunst ihre neue Bestimmung. Sie wird alles, was früher Oper, Ölgemälde, literarischer Text für sich geleistet haben, verbinden, und das Material in einer konstellativen Dramaturgie ordnen, die nicht-sichtbaren Kräften gehorcht. Diese Dramaturgie können Sie im Keim schon bei Ovid sehen. Der erzählt 1200 Geschichten, die alle denselben Inhalt haben: Eine Kreatur, die leidet, ändert ihre Gestalt. Ein einziger Gedanke geht durch alle Stränge-- und das ganze Weltall wird beschrieben. Bei Balzac ist das ähnlich, der spricht ausdrücklich von Konstellationen, nicht innerhalb des einzelnen Romans bloß, sondern durch viele Romane, die einander umkreisen und beeinflussen. Dieses Konzept ist dann über Döblin und Dos Passos bis in die Moderne gelangt. Diese neue Dramaturgie wird jetzt bestärkt dadurch, dass aus der Zukunft, nämlich von Youtube her, Forderungen, die wir bei Ovid und Balzac längst hatten, neu auf uns zukommen. In der Filmgeschichte gibt es ein plastisches Beispiel. Da gab es anfangs nur Einminutenfilme, die sich addierten. Und das gleiche haben Sie heute wieder bei Youtube, Sie haben wieder Filme, die ein bis drei Minuten lang sind. Die neue Herausforderung an die Kunst ist nun, und sie kann von Youtube nicht eingelöst werden, denn Youtube ist Dschungel und sozusagen freier Ozean, dass die Kunst Leuchtfeuer, Häfen und Flöße schaffen muss. Zu unseren neuen künstlerischen Aufgaben gehört es, die Gefäße neu zu definieren. Und die werden sich radikal verändern: Nicht mein Denken, sondern die Formwelt, in der ich es äußere, ändert sich.“ 768 2.5.3 Multi-, Trans- und Intermedialität 769 „Alexander Kluge ist der größte Medienkünstler Deutschlands“- - dieser Auffassung ist zumindest Peter Weibel. 770 Zweifelsohne ist er ein multimedial wie intermedial agierender Künstler, der die Künste und Wissenschaften zusammenbringt. Dies jedoch in einem kommunikativen Sinn, nicht in einem Gesamtkunst- 768 Alexander Kluge in: „Gärten anlegen im Daten-Tsunami“, Uwe Ebbinghaus im Interview mit Alexander Kluge, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14 . 01 . 2010 . 769 Kurze Begriffsklärung in Bezug auf Kluge: Multimedialität: Er produziert unterschiedliche Medien (Buch, Film, Videoinstallation etc.). Intermedialität: Er kombiniert verschiedene mediale Formen in den jeweiligen Produktionen (z. B. kommen in einem Montage-Film Videosequenzen, Fotos, Opernszenen, Interview, Schrift-Art usw. vor)- - in der Intermedialitätsforschung gilt das als sog. „Medienkombination“. Transmedialität: Er überträgt Strukturen eines Mediums auf ein anderes (z. B. Räumlichkeit des Films Mehrfachbilder für 5 Projektoren; Anwendung von Zeitraffer, Montage oder Schnitttechnik im Text; visuelles Seiten-Umblättern im Film)- - in der Forschung auch als „intermediale Bezüge“ beschrieben. Entscheidend ist etwas anderes: Die Autonomie der einzelnen Medien (das Besondere) wird gewahrt, es wird nichts verschmolzen (zu einem Allgemeinen vermengt). 770 Zit. n. Verlag Antje Kunstmann, „Herbstkatalog 2013 “, S. 56 . 196 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln werk-Sinn, da die Einzelteile widerwagnerisch nicht zu einem großen Ganzen verschmolzen sind, sondern in ihrer Autonomie, ihrer Kompetenz und Eigenart immer wahrnehmbar bleiben. Der Medienwechsel senkt die Bedeutung des einzelnen Mediums und hebt die Inhalte samt ihrer Protagonisten. Interessant ist auch die Veränderung der Perzeption eines Mediums durch die Perzeption anderer. Hierauf weist bereits Benjamin hin, heutige wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen ihn: So können sich beispielsweise Lesegewohnheiten bei einem Roman verändern, wenn man etwa bestimmten filmischen Gewohnheiten ausgesetzt ist. 771 Die verschiedenen Texte (und damit sind in dem Fall auch Filme usw. gemeint) wirken für sich und sie wirken noch stärker zusammen, sie beeinflussen, modifizieren und stimulieren sich wechselseitig. Alte Texte werden durch neue lebendig gehalten (Aktivierung der Texte toter Dichter) und neu geprüft (Wissensaustausch zwischen Vergangenheit und Gegenwart). Das konstellative Vernetzen und Bespielen eigener Theorien oder Textbausteine mit fremden verleiht diesen auf dialogische Weise Glaubwürdigkeit durch den so entstehenden Autoritäts- und Wahrheitscharakter. Kluges Anliegen ist es, die Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern. Hierfür bedient er sich gerade in seinen multimedialen Filmen der Verschärfung und Konfrontation einzelner Parameter wie beispielsweise des Visualisierens von Schrift oder des Kontrastierens eines Textes mit von ihr unabhängiger Musik. 772 Die Autonomie der einzelnen Medien versucht Kluge dabei stets zu wahren, wodurch eine differenzierte Wahrnehmung ermöglicht wird. Löst dies Irritation aus, so, weil es ungewohnt ist. Lässt man sich darauf ein, auf etwas Fremdes, dann ist es nicht selten bereichernd. Die Augen sehen ein anderes Fernsehen, eines, das Tempo herausnimmt, das Schrift als gleichrangig ansieht, eines, das spielerisch am Werke ist. Die Aufmerksamkeit wird also auf andere Dinge gerichtet als bei der Perzeption von Mainstream-Formaten. So etwa auf die Produktionsstufen des jeweiligen Films und auf das Herstellen von Film allgemein: Aufsprengen der Illusion Film und somit auch der Reproduktionsmechanismen des allgemeinen Verblendungszusammenhangs. Dem „Abbildrealismus“, der Bestehendes nur reproduziert, setzt Kluge auf jazzige Weise Montage, V-Effekte, Komik und Trash entgegen- - entsprechend der von Adorno geforderten „Improvisation“, welche „dem Zufall ungesteuerter Empirie planvoll sich überläßt“. 773 Kluges Darstellung 771 Vgl.: Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“ (Vortrag 1934 in Paris), in ders.: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1978 , S. 101 . 772 Vgl.: Kluge, Alexander: „Zur Theorie des Films“, in ders./ Negt, Oskar: Kritische Theorie und Marxismus. Radikalität ist keine Sache des Willens sondern der Erfahrung. Den Haag (Rotdruck) 1974 , S. 52 - 61 . 773 „Zufall“ und „planvoll“ scheinen widersprüchlich, verweisen aber auf Kluges Konzept des „nichtprofessionellen Professionalismus“ und die Strategie von Mimesis bzw. Konstellati- 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 197 des Films in seiner Vielschichtigkeit und historischen Gewordenheit bedeutet nicht nur den kulturellen Wert einer Abbildung der Filmgeschichte, sondern legt darüber hinaus Identitätsschichten unterschiedlicher Ausprägung frei. Das Erkennen kann ob der Selektionsmechanismen der Sinne-- einer schärft sich, alle sind aktiv, aber andere ziehen sich zurück, Energie wird zusammengelegt-- nicht auf alle Facetten eines Objekts gleichzeitig eingehen, d. h. nie etwas „Ganzes“ erfassen. Der Totalen fehlen die Details. „In der Montage organisiert die Erzählung gewissermaßen die Totale und die extreme Nahaufnahme.“ 774 -- Diese cinematographische Metapher des Heran- und Herauszoomens ist an einem Beispiel genauer zu untersuchen: Die gerade einmal 27 Zeilen lange Erzählung „Husten und Tod“, zu finden in Das Bohren harter Bretter, dessen Coverbild geziert ist von einem jener Bleiflieger aus Glas und Mohn Anselm Kiefers. 775 Mit dem Stoff des „tödlichen Hustens“ fädelt er auf engstem Raum gekonnt aneinander: Biographisches („Großvater mütterlicherseits“), Krieg, Literatur („Der Zauberberg“, „Balzac“, „Stendhal“), Oper („Violetta“ = Rigoletto, „Mimi“, „Rodolfo“ = La Bohème), Medizin („Antibiotika“). Man muss bei Kluge also eine mikroskopische und eine makroskopische Montage unterscheiden. In on. AGS 10 . 1 , S. 354 . 774 Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 . S. 383 . 775 Bretter, S. 264 . Abb. 6: Fernrohr: Internet-- Film-- TV / Fernseher-- Oper/ Bühne: Monteverdi verarbeitet den alten Odysseus-Text. Im Hintergrund eine Videoprojektion. 198 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln der Nahaufnahme sehen wir einen Text, der gerade in der Relation Kürze/ Dichte montiert ist aus einzelnen Themenbausteinen. Etwas herausgezoomt sehen wir nebeneinander montierte Texte, Bilder, auch Partituren und anderes in einem Buch beispielsweise. Zoomt man nun noch eine Ebene heraus, sind unterschiedliche Medien wahrzunehmen, also Filme, Hörspiele, Interviews usw., aber ebenso auch andere Bücher, die wiederum einzelne Montageblöcke des Gesamtwerks Kluges darstellen. Um dessen Idee des einen heterogenen Monatage-Buchs der Menschheitsgeschichte ergänzt, ist, wie gesehen, auch dieses wiederum Montageteil in nächster Nachbarschaft etwa zu Adorno, Benjamin, Enzensberger oder Sebald bis hin zu Ovid und Homer. Überdies verbinden Intertextualität und Intermedialität einzelne Sätze mit ganzen Werken und geben somit dem Einzelwie auch Gesamtwerk eine ungemeine Stabilität in ihrer Struktur. Kluges Texte arbeiten zusammen. 2.5.3.1 Eine (unvollständige) Aufzählung medialer Formen zur Veranschaulichung Kluges Präsenz und multikanaler gegenproduktiver Bespielung - Kluges Interview-Filme mit einer ihm eigenen Form der Oral History, die im Grunde erweitert wird durch so etwas wie Oral Present, Future und Possibility. Zeitzeugen sind etwa Künstler von Sophie Rois und Durs Grünbein über Heiner Müller und Jean-Luc Godard bis hin zu Gerhard Richter und Pierre Boulez. Zeitzeugen sind Theoretiker von Stiglitz und Groys über Negt und Sloterdijk bis Luhmann und Sennett. Ebenso unpopuläre, aber anerkannte Wissenschaftler und zahlreiche namhafte Politiker. Immer wieder gleichberechtigt daneben: unbekannte Menschen sämtlicher Berufe. - Die dctp im Fernsehen mit verschiedenen Formaten. Die dctp im Internet, als „Garten“ und als Magazin mit noch unterschiedlicheren Formaten. Die Blog- Form auf „suhrkamp-logbuch.de“. In Kooperation mit dem Goethe-Institut Frankreich wurde unlängst das Blog „ MARIANNE und GERMANIA “ realisiert, in dem nicht nur Kluge bzw. die dctp multimediale Beiträge posten, sondern die durch eine doppelköpfige, internationale Kommentarebene etablierter Öffentlichkeitsorgane bereichert werden: Abwechselnd kommentieren Jacques Mandelbaum (Le Monde) und Joseph Hanimann (Süddeutsche Zeitung). - Der dctp-Auftritt auf Facebook, der zu diesem Zeitpunkt weit über 3 . 000 Likes erhalten hat, ist geschmückt mit Interview-Zusammenschnitten und Reportage-Ausschnitten, die die netztypische Ideallänge für Videos von zwei bis drei Minuten niemals übersteigt. Genauer gesagt, handelt es sich eigentlich um eigens erstellte Trailer, die durch Kürze, Komik und Schnitt eine überraschende 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 199 Dynamik entwickeln und so auf die verwiesenen Filme und Themenschleifen des dctp-Netzes neugierig machen. 776 - Apps: Dieses Medium (als E-Book konnte man bereits vorher schon z. B. Das fünfte Buch erwerben) betritt Kluge am 8 . Oktober 2012 mit Der Kuss (Suhrkamp, 42 Seiten): „Das Multi-Touch Book enthält folgende Features: Bewegtbild mit Musik und Montagen zum Thema ‚Der Kuss’. Lesung der Geschichte ‚Fifi’ vom Autor, Ausschnitte aus Alexander Kluges Kinofilmen, Texte aus der Reihe der Basisgeschichten.“ Zum gleichen Zeitpunkt erscheinen noch Sterne- - Geschwister der Sonne und Zeit. Es folgen Moritaten und andere. Mit der Reihe ‚Alexander Kluge- - Prismen’ wird erstmals ein Zugang zum intermedialen Wechselspiel von Bewegtbildern und literarischen Texten im Werk Alexander Kluges geschaffen.“ 777 - Im März 2013 ist es Alexander Kluge, der eines der beiden ersten veröffentlichten E-Books des ersten reinen E-Book-Verlags des Landes stellt (mikrotext): Die Entsprechung einer Oase. Essay für die digitale Generation. - Online, wie er einmal sagte, sei für ihn schon das Ideal gewesen, als es noch gar kein Online gab. Er benutzt Skype und Smartphone privat und vor allem beruflich-künstlerisch, bezeichnet YouTube als ein „Opernhaus“. Wie und „was er liefert, wirkt ungemein frisch“. 778 - Musik-Film-Montagen wie die kabarettistische Sehnsucht nach der nächsten Katastrophe, bei der Eva Jantschitsch alias „Gustav“ eine Filmmontage Kluges zur Geschichte des deutschen Hoheitsadlers besingt. Man könnte aber auch schlicht von „Musikvideo“ sprechen. - Kinofilme, Minutenfilme, 10 -Stunden-Filme. Autorenkino, Neuer Deutscher Film. Der einzige Patriotismus, den die jungen Filmautoren kannten, war der des Kinos. Der Kollektivfilm, ein Staatenbund: „Jeder schneidet an seinem ‚Vaterland’. Meine Staatsgebiete sind Akt 1 a, Akt 2 b, Akt 3 b und 4 a und b, sowie Akt 6 a, b, c. Die übrigens Teile sind Zollgebiete Schlöndorffs.“ 779 - Kluge als Künstler, als Produzent, als Netzwerker, als Jurist, als politischer Aktivist; 1962 : Oberhausener Manifest sowie Treffen der Oberhausener Gruppe mit der Gruppe 47 ; 780 1963 : Gründung des Instituts für Filmgestaltung an der 776 Vgl.: http: / / www.facebook.com/ dctp.tv bzw. http: / / www.facebook.com/ media/ set/ ? set=vb.107 798 649 296&type=2 [Zugriff: 17 . 11 . 2012 u. 25 . 07 . 2014 ]. 777 http: / / www.kluge-alexander.de/ aktuelles/ details/ artikel/ suhrkamp-verlag.html [Zugriff: 26 . 10 . 2012 ]. 778 Fuhr, Eckhard: „Helge Schneider und der Lungenzug. Geld ist nicht alles: In der DVD-Edition ‚Früchte des Vertrauens’ setzt sich Alexander Kluge mit der Finanzkrise auseinander“, in Die Welt vom 24 . 11 . 2009 . 779 Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 , S. 391 . 780 Die Hoffnung einer literarisch-filmischen Kooperation aber zerschlug sich sogleich: Es sei „fürchterlich“ gewesen, die Kritiker hätten die Filme wie in einer „Bartholomäusnacht“ 200 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Hochschule für Gestaltung in Ulm als Nachfolgerin des Bauhaus, auch was die Internationalität der Lehrkräfte bzw. Künstler angeht. - Das schriftstellerische Werk. Von Kurzgeschichten und Erzählungen wie Kalendergeschichten bis, selten, früh, zu Lyrik („Sprüche der Leni Peickert“ 781 ; Elefantengedicht). Vorlesungen, Reden. - Hörspiele: Chronik der Gefühle, Die Pranke der Natur, Auf dem Dach der Welt: Frei nach Alexander Kluge, Das Eigentum am Lebenslauf. - Kluge als journalistischer Autor für Die Welt. - Das sog. theoretische Werk mit Oskar Negt. - Honorarprofessor und Frankfurter Poetikvorlesungen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. - Paratexte: Textbücher zu Filmen und unverfilmte Drehbücher. Das klugesche Universum ist in seiner inneren wie äußeren Struktur voller Monde, die wie unschuldige Kommentare ihre Planeten begleiten und umkreisen. Selbst unscheinbare Beihefte zu Veröffentlichungen von DVD - und Hörbuch-Ausgaben sind bei Kluge eigenständige Werke, die etwas Zusätzliches bieten und deshalb streng genommen so etwas wie Paratexte von erweiterter, nämlich autonomer Qualität sind. - Videoinstallationen (u. a. d OKUMENTA 6 und 13 , Haus der Kunst, Cinémathèque française). 782 - Schließlich: Bekanntheit, Präsenz und Anerkennung durch alle im Prinzip wichtigen Auszeichnungen in der Literatur- und Filmszene (u. a. Georg-Büchner- Preis, Adorno-Preis, Kleist-Preis, Heine-Preis, Goldener und Silberner Löwe „zermetzelt“. So Kluge in der „leçon du cinéma“ in der Cinématèque française am 27 . April 2013 . Und dennoch sei ein gewisser „Impuls“ von diesem Culture Clash ausgegangen: „Und dann machen Jean-Marie Straub und Heinrich Böll einen literarischen Film.“ 781 Kluge, Alexander: Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. München (Piper) 1968 . 782 Zu Kluge als Videokünstler stehen kuratorische und künstlerische Reflexionen noch aus, doch wäre es ein Fehler, diese Veröffentlichungsform Kluges wegen ihrer Rarität auszublenden. Er nahm u. a. an der dOKUMENTA 1977 und 2012 teil, und zeigte zuletzt in der Cinémathèque française ( 2013 ) seine im Haus der Kunst in München 2007 uraufgeführte Installation Mehrfachbilder für 5 Projektoren. Das Projekt mit dem autoreflexiven Titel, was die mediale Installation als solche natürlich noch einmal aufwertet, ist Hans Richter gewidmet und stellt ein semantisches Kraftfeld dar. Was sieht man? Was hört man? In dieser Reihenfolge der Fragen: Stadt und Land. Und natürlich geht es um die menschlichen Sinne, ebenfalls fünf an der Zahl, die sozusagen die wirklichen Adressaten über die technische Ausschreibung hinaus sind. Also auch: Mehrfachbilder für 5 Sinne. Übrigens existiert von Kluge auch der Essay „Die fünf Sinne-- Sinnlichkeit des Zusammenhangs“, der sich mit dem „‚sinnlichen Bedürfnis’“ und dem „‚sinnlichen Bewußtsein’“ beschäftigt. Bei den Mehrfachbildern ist es so als betrete man ein lebendiges Kaleidoskop, nur dass es sich nicht immer symmetrisch verhält. Expanded Cinema, räumlicher Film, filmische Raumarchitektur. Benjamin würde womöglich sogar von taktiler und optischer Wahrnehmung sprechen. Nur, dass hier die taktile die optische nicht determiniert. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 201 der Filmfestspiele von Venedig, Bambi, Deutscher Filmpreis), bis hin zum Bundesverdienstkreuz. Im Prinzip fehlt nur noch der Literaturnobelpreis, aber den „Todesstoß“ wünscht man ihm zugleich nicht. Ebenso einen Namen machte er sich durch seine Arbeit am Institut für Sozialforschung und die Verbindungen zu Adorno und Habermas. Nicht zu unterschlagen auch sein Volontariat bei Fritz Lang, als er der Hollywoodwelt begegnete. Nicht zuletzt galt Kluge als einer der vielversprechenden Nachwuchsschriftsteller in der Gruppe 47 . 783 2.5.3.2 Multi- und Intermedialität im Buch am Beispiel von Geschichte und Eigensinn Robert Musil schreibt in dem Vorwort für eine Neuausgabe seiner ersten Novellen: „Der Fehler dieses Buchs ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten und sie von Zeit zu Zeit wechseln.“ Alexander Kluge und Oskar Negt wiederholen das, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer über die gemeinsame Produktion der Dialektik der Aufklärung angeben, nämlich dass „beide für jeden Satz verantwortlich“ 784 seien. Hier geht es gewiss nicht um unbedingte Abbildung des genauen Produktionsverlaufs, sondern um eine Haltung: die des zurücktretenden Ichs samt einer symbolisch aufgeladenen Entscheidung gegen eine Arbeitsteilung. In den Oskar Negt gewidmeten „Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit“, das noch dem Vorwort von Der unterschätzte Mensch vorangestellt ist, spricht Kluge von einem „‚kommunikativen Urvertrauen’“, einem interesselosen, d. h. „‚absichtslosen Sich-der-Diskussion-Anvertrauen’“, indem z. B. „jeder eine Hauptsache seines Interesses außen vor läßt“. 785 Die Ideen sollen so von jedem Besitzanspruch eines Egos befreit werden. Die gegensätzlichen Geister (Kluge: eher assoziatives Denken, Chaos; Negt: eher logisches Denken, Ordnung; beide: Konzentration) schaffen deshalb einen gemeinsamen Text, eben weil sie einander produktiv ergänzen, kommentieren, widersprechen und die „Rollen“ auch tauschen- - es entsteht ein Montage-Text. 786 Bei dieser kooperativen Produktion lassen sich die Gefährten freien Denkraum und 783 Bei der er 1962 im „Alten Casino“ am Wannsee in Berlin und 1964 im 50 Kilometer nordwestlich von Stockholm gelegenen Sigtuna vortrug (u. a. in Anwesenheit von Günter Grass, Walter Jens, Hans Werner Richter und Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel, Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki). Vgl.: Lettau, Reinhard: Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied (Luchterhand) 1967 . 784 AGS 3 , S. 9 („Zur Neuausgabe“). 785 Hier nennt Kluge bei Negt das Thema Gewerkschaft und bei sich das Thema Film. Die zitierten Formulierungen finden sich hier: Kluge, Alexander: „Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit“, in UM, Bd. 1 , S. 5 - 7 . 786 „Es läßt sich, gerade weil es gegensätzlich ist, gut zusammenfügen, gegeneinandersetzen, also montieren.“ UM, Bd. 1 , S. 9 . 202 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln beschützen sich zugleich gegenseitig durch kritische Aufmerksamkeit. Es ist ein dialektisches Verfahren: „Analysiert man diesen Prozeß im einzelnen, so kann man behaupten, daß derjenige, der etwas abbildet und formuliert, gerade nicht kritisch prüft, dies tut in diesem Moment der andere. Gleich darauf wechselt diese Funktion, der eine konzentriert sich ‚wie blind’ und der andere ‚paßt auf ’.“ 787 An die Erstausgabe von Geschichte und Eigensinn tritt man, hält man es in der Hand und beginnt darin zu blättern, sofort mit einer angestachelten Neugier und Wertschätzung, ausgelöst durch den Eindruck, dass es sich offensichtlich um ein besonderes Buch handeln muss, so bibliophil wie es aufgemacht ist. Es fällt allein schon durch den in Gold eingeprägten Titel auf dunkelblauem Einband gestalterisch ins Auge, zwischen dem mehr als tausend Seiten in zartem Rosa gehalten sind. Zudem ist der Schutzumschlag auch von innen bedruckt: Vorn findet sich ein Foto von Kluge und Negt bei der gemeinsamen Arbeit an eben diesem Buch (sie schreiben sich förmlich ein). Hinten findet sich in der rechten unteren Ecke, gewissermaßen im letzten beschreibbaren Zipfel ein lakonisches „Außerdem“, dem rätselhafte Zeichen folgen, die die Botschaft verkörpern: Das Gleiche auf vielfältige Weise ausgedrückt. Diese Unendlichkeit des Buchs und seiner Gedanken wird so in Form, Sprache und gar auf materiell erfahrbarem Platz angedeutet. Durch die Beschriftung sogar des Innenteils der Buchdeckel, der im technischen Entstehungsverfahren des Buchdrucks streng genommen nicht einmal Teil des Buchblocks, d. h. des Buchinhalts ist, geschieht gewissermaßen eine stoffliche Erweiterung des Textes. Hierdurch gelingt dem Buchäußeren das Ausdrücken seines kugelhaften, infiniten Inneren, da selbst auf den äußeren Rändern des Mediums textliche Andockungsstellen geschaffen wurden, bereit zum Weiterschreiben in anderen Medien. Die Kapitel zweiter Ordnung (zwölf an der Zahl) laufen ebenso wie die Kapitel erster Ordnung (drei) durch das ganze Buch. So beginnt etwa das zweite der drei Oberkapitel mit „Kapitel 5 “. Aber eigentlich ist auch dies ungenau, weil sich überall weitere, meist unnummerierte Unterkapitel, Exkurse, Zusätze, Kommentare dazwischenschieben, mal vereinzelt gestreut, mal als Konglomerat. All dies erzeugt eine derart innere Vernetzung, dass es das Gesamte ausgesprochen reißfest werden lässt. Diese ungewöhnliche Struktur zeigt, dass Bestandteile einzelner Konstellationen mehrfache Verbindungen eingehen. Die Kommentare, d. h. die extra als solche ausgeschriebenen, sind geprägt von fremden, kürzeren oder längeren Textpassagen aus der Literatur- und Philosophiegeschichte sowie von einem gedrängten Einsatz von Bildmaterial. Da wiederum auch mit eigenen Textbausteinen gearbeitet wird, ist der Unterschied zu den Kapiteln marginal. 787 Ebd. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 203 Das Buch ist stark illustriert. Gestreut und teils ganzseitig tummeln sich Bilder und Fotografien, Skizzen und Grafiken, Tabellen und Diagramme. Das Schriftbild variiert durch Fettschrift, Majuskeln, Kursivierungen. Besonders ungewohnt sind die Seiten weißer Schrift auf schwarzem Grund, die wie Negative erscheinen und so ihren Teil zu einem abwechslungsreichen Lese-Erlebnis beitragen. Aber auch zur Fokussierung, denn die Aufmerksamkeit des Lesers, besonders des durchblätternden bzw. hineinlesenden, wird neben Bildern und Symbolen auch durch dieses „Textnegativ“ angeregt. Die schwarzen Bausteine werden intuitiv als interessant empfunden, da sie mit einer Aura des Geheimnisvollen 788 spielen. Hinzu kommt eine Zettelkastenoptik von Einrahmungen, vertikalen Texten und Abbildungen, der besondere Einsatz von Bildunterschriften, Fußnoten und Zitaten. Dabei erinnern die Textrahmen, z.T. gerade wenn es sich nur um sehr wenige Worte und Zeilen handelt, an die Zwischentafeln in Kluges Filmen. 789 Während die Verwendung von toten und lebendigen Kolumnentitel satztechnisch keine Außerordentlichkeit darstellt, sind die großen Kapitelüberschriften hervorzuheben, die in übergroßen Ziffern und Symbolen gehalten sind. Hinzu kommt der im Text gestreute Gebrauch von Symbolen, sogar Hieroglyphen und Keilschrift finden sich. Hiermit wird die Wiege der Weltliteratur in die Gegenwart von 1981 geholt, ist doch das Gilgamesch-Epos als ihr ältestes Werk in sumerischer Keilschrift gehalten. Die auf der hinteren Umschlag-Innenseite abgebildeten und benannten „Thränen der Isis“ verweisen auf die altägyptische Schutzgöttin der Seefahrer zur Zeit der Alexandriner. „Ursprünglich war Isis nichts Anderes, als die Personification der fruchtbaren Erde, Osiris die der Erde durch Vermittelung des Nil einverleibte Zeugungskraft der Sonne.“ 790 Der Mythos vom göttlichen Geschwisterkönigspaar Isis und Osiris erzählt vom Brudermord durch den hasserfüllten Seth. Dieser tötet Osiris und, da Isis die Leiche findet, zerstückelt er später aus Eifersucht den Körper und verteilt ihn in der ganzen (d. h. ägyptischen) Welt. Übrigens verschlingt dabei ein Fisch- - und ein Fischsymbol findet sich in Geschichte und Eigensinn direkt neben der Darstellung-- die bijoux de famille. Wie bei Herodot zu lesen ist, schwillt aus den bitteren, nicht enden wollenden Tränen der Isis der durch Osiris entstandene Nil an. Isis begibt sich auf die Suche, um alle Teile ihres geliebten Mannes einzusammeln. Nachdem dies gelingt, sucht sie Anubis auf, den Gott der Schakale und Beschützer der Toten, der die Teile einbalsamierend wieder zu einem Ganzen fügt. Der Legende nach breitet daraufhin Isis ihre Flügel aus, mit denen sie dem Körper des Osiris für kurze Zeit ein letztes Mal Leben einzuhauchen vermag. Aus 788 Vielleicht aus diesem Grund, dem Schein des Mystischen, hat Kluge später dieses Layout abgelehnt. 789 Z. B. GE, S. 297 , dort auch so angekündigt als „Zwischentitel“. 790 Vollmer, Wilhelm/ Binder, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie aller Völker. Stuttgart 1874 , S. 282 , „Isis (Aegypt. M.)“. 204 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln dieser Wiederbegegnung geht, man könnte sagen kairós-artig, der gemeinsame Sohn Horus hervor, der später seinen Vater rächen wird. Zur Demonstration eine Aufzählung der Vielfalt in der Form pars pro toto: Fremdsprachige Textelemente wie vor allem französische (z. B.- S. 371 ) und englische ( 51 ). Gedichte ( 727 f.), Briefkorrespondenzen ( 833 f.), Märchen ( 369 ), Mythen ( 741 ff.), Gesänge ( 371 ), Film-Ausschnitte ( 887 f.), Tagebucheinträge ( 406 ), abgelichtete Skizzen (Freud: 8 ) oder Entwürfe (Hölderlin: 1068 ) und immer wieder Abbildungen; Fotos von allen möglichen Dingen gleich einer Inventarisierung von Wirklichkeit, darunter natürlich auch Fotos von Menschen, Bekannten ( 1174 ) wie Unbekannten ( 198 ). Gerne Bildeffekte, darunter Verzerrung ( 419 ), Negativ ( 572 ), Ausschnitte ( 178 ) und Schnittmuster (frei: 463 ; geometrisch: 440 ), Klonen ( 186 ), bewegte Bilder, die auf das Medium Film verweisen ( 980 ; auch Bildfolgen wie 918 ), mal ganzseitig abgedruckt ( 860 ), mal als ganzseitige Komposition gleich einem Filmstreifen ( 879 ), auch längs-halbseitig mit Vakanz daneben ( 953 ), Pfeile in Bildern ( 354 ). Texteffekte, darunter vertikal ausgerichtete Schrift ( 655 ), Überlagerungen ( 1128 ), Lupenschrift ( 962 ), Texte als Zwitterwesen zwischen Schrift und Bild ( 357 ), alte Schriftzeichen ( 350 , Innenseite hinterer Buchdeckel). Karten ( 897 f.), Kriegspläne ( 822 ), historische Comic-Vorläufer ( 592 f.), Sternbilder (mythologisch: 356 ; abstrakt: 1056 ), geometrische Figuren ( 549 ), rätselhafte Symbole, die mitunter in einem anderen Werk entschlüsselt werden (das seltsame Mischwesen auf S. 966 entpuppt sich in Maßverhältnisse des Politischen als Darstellung einer „Chimäre“ 791 ), Karikaturen ( 355 ), Zeitungsausschnitte ( 189 ) und Werbung (Filmplakate, Propagandamaterial etc.: z. B. 847 , 859 ), Statistiken ( 584 f.), extraterrestrische Abbildungen wie die Milchstraße ( 146 f.), Skizzen und Grafiken aus Physik ( 789 ), Mathematik ( 775 ) oder Psychoanalyse ( 828 ff.), abgedruckte Dialoge bzw. Interviews ( 823 ff.). Gemälde wie Der Kaufmann von Berlin von László Moholy-Nagy ( 772 f.), Der Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel d. Ä. ( 627 ) oder natürlich den schon von Walter Benjamin behandelten Angelus Novus von Paul Klee ( 282 ) finden sich ebenso wie Zeichnungen eines Leonardo da Vincis ( 340 ) oder handschriftliche Manuskriptseiten eines Galileo Galileis ( 149 ), zudem Portraits ( 168 ), Skulpturen oder Plastiken ( 575 f.). Nicht nur die Medien sind ausgesprochen vielgestaltig, auch deren Branchenspektrum: ältere ( 225 ) und neuere Biologie ( 238 ), Neurowissenschaften ( 153 ), Verhaltensforschung ( 289 ff.), Medizin ( 25 f.), Rüstungstechnologie ( 781 ), Geologie ( 51 ), Astronomie ( 148 ), Technik ( 896 ), Landwirtschaft ( 638 f.) und anderes. 791 UM, MP, S. 979 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 205 Selbst die Instanz für Ordnung und System in einem Buch schlechthin, das Inhaltsverzeichnis, wird gestört und aufgelockert durch Variation der Schriftgröße oder Setzung von Rahmen ebenso wie durch eine unleserliche Skizze Freuds oder eine zunächst seltsam wirkende Abbildung (jedoch mit versteckt biografischem Hintergrund), die mal eben zwei Drittel einer Seite einnimmt. Hinzu kommt schon hier die ungewöhnliche Setzung von weißer Schrift auf schwarzem Grund (technisch gesehen ist es eine großflächig schwarze Textumrandung). 2.5.3.3 Kugel Kluge Die Figur der Kugel und deren Illustration ist eine, die bis an die Anfänge der Philosophiegeschichtsschreibung zurückreicht. Sie ist, wie auch die Form der Kreisbahn, schon in der griechischen Antike kosmische Grundform und Urbild von Vollkommenheit. In Platons Timaios wird der Kosmos beschrieben als eine in sich selbst drehende Kugel, die vollkommene Einheit zwischen unbewegt Göttlichem und innerkosmischer Bewegung. Auch Nietzsche greift mit seiner Idee der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ auf jene Symbolik zurück: „Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder: ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein, um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“ 792 Genau nach dieser zyklischen Vorstellung baut Kluge unentwegt und prinzipiell unvollendend. So sind seine Texte und Bücher, Kurz- und Kinofilme, Bilder, Embleme, Interviews, Fragen oder Bemerkungen als Teile eines Kosmos zu begreifen, die miteinander verwandt und untereinander andockungsfähig sind. „Montage“ ist bei Kluge daher nicht allein ästhetisches Verfahren, sondern zugleich Ausdruck und Darstellung von Welt. „Stellen Sie sich einen Erzähler im Zentrum einer Kugel vor, der alles erzählt, was um ihn herum ist, als ob er einen Sternenhimmel beschriebe, gesehen vom Zentrum der Erde. Sie müssen sich außerdem noch vorstellen, daß sich das alles in Bewegung befindet, die Horizonte wechseln, die Kugel behält nicht ihre Gestalt und der Erzähler wandert und ist nicht immer derselbe. Die Erzählung ist also komplexer, dynamischer und chaotischer.“ 793 792 KSA 4 , S. 221 . An benachbarter Stelle: „Alles Gerade lügt- […] alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ein Kreis.“ (ebd., S. 158 ). Nietzsches Zarathustra sieht den Menschen eingesperrt in einem von Religion und Metaphysik gemachten Begriff von Zeit als linear und zielgerichtet (telos: Erlösung vom Leid, vom irdischen Leben). Siehe dazu u. a. das Kapitel Von der Erlösung im Zarathustra (KSA 4 ) oder auch die Aphorismen 32 und 33 im Antichrist (KSA 6 ). 793 Alexander Kluge in: Rack, Jochen: „Erzählen ist die Darstellung von Differenzen“, in Neue Rundschau, Heft 1 / 2001 Werkgespräch. 206 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Diese Erzählstruktur liegt auch den Äußerungen der Kritischen Theorie zugrunde. Adorno schreibt im Gestus von Fragmenten.“ 794 Dieses Fragmentarische, das vor allem auch Benjamin praktiziert, ist auf einer höheren Stufe substanz- und zusammenhangsstiftend: „Die authentischen Werke der Desintegration wären solche, in denen der Zerfall einen Sinn der Kunstwerke stiftete, Synthesis zweiten Grades“, so sind mit Adorno im Grunde die Werke Kluges zu deuten. 795 Die Montage also markiert die Zersplitterung der Realität und versucht, den Subjektcharakter ihrer Einzelteile wiedererkennbar zu machen: „Im Verlauf der Geschichte sind die subjektiven Eigenschaften in ihrer Masse in Produkte eingegangenen und liegen in ihnen verstreut. Um die Gravitationen dieser toten Arbeit bewegen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Menschen. Man müßte zu der wirklichen Bewegung (Verstreuung) hingehen, die subjektiven Splitter wiedererkennen, einsammeln und daraus eine menschlich zentrierte Welt zusammensetzen.“ 796 Theorie und Praxis, Wissenschaft und Erfahrung, Zitat und Kommentar, Text und Bild etc. werden bei Kluge in eine zuvor nicht vorhandene Darstellungsform integriert. Sie sind einander ebenbürtig, ergänzen und widersprechen einander kommentarhaft und assoziativ. Diese intermedialen Konstellationen mit einem Begriff fassbar zu machen, könnte durch den eisensteinschen Begriff des „Kugelfilms“ gelingen. Dass sich darüber hinaus „Kugel“ als ein Anagramm zu „Kluge“ verhält, macht die Angelegenheit nicht weniger poetisch. „Die lineare Erzählung“, so dieser, „ist eine Ausnahme und eine Idee des 19 . Jahrhunderts. Indem sie konsequent von A nach B, entlang eines roten Fadens erzählt, drückt sie alle Nebensachen weg, sie ist eine Hauptstraßeneine Autobahnstrategie.“ 797 Doch für den Autorenfilm gibt es nichts Minderwertiges: „Das Unwichtige ist genauso wichtig wie das Wichtige“ 798 -- vor allem deshalb, weil es am Erkenntnisprozess teilhat, was die Asepsis der Resultatsaussage verschweigt (wo doch das Resultat ohne den Prozess und seine Nebenproduktion selbst nicht existieren würde). Weil es nun bei Kluge keine „klassischen“ linearen Handlungen mit Kausalketten, Anfang und Ende gibt, ist das noch längst kein Abgesang auf eine Dramaturgie. Sie, so eine Hauptthese dieser Arbeit, existiert in Kluges Arbeiten konstellativ, in dramaturgischer Kugelform. Das korrespondiert selbstverständlich mit Kluges „Baustellen“-Metapher, 794 Ebd. 795 AGS 16 , S. 618 . 796 GE, S. 154 . Zu ergänzen wäre: im Einklang mit der Natur, nicht speziesistisch. 797 Alexander Kluge in: Rack, Jochen: „Erzählen ist die Darstellung von Differenzen“, in Neue Rundschau, Werkgespräch, Heft 1 / 2001 . 798 Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, hg. v.-Alexander Kluge. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1983 , S. 437 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 207 der gern von bewusster Imperfektion, „Provisorium“ oder Fragment spricht. 799 Dramatisch ist die Sache selbst, es bedarf keines künstlichen Dramatisierens. Im editorischen Nachwort Rolf Tiedemanns zu Adornos unvollendet gebliebener, gleichsam bewusst nach einem kugeligen Darstellungsprinzip angelegter Ästhetischen Theorie wird aus Briefen Adornos zitiert, in welchen er sich zum Spannungsverhältnis von Inhalt und Form äußert: „[…] daß die einem Buch fast unabdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist, daß deswegen eine Disposition im traditionellen Sinn, wie ich sie bis jetzt noch verfolgt habe (auch in der ‚Negativen Dialektik’ verfolgte), sich als undurchführbar erweist. Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken.“ 800 Gegen Ende wird es Adorno immer bewusster und bewusster, dass sich der Inhalt dermaßen stark ins Reale drückt, dass er in der Form aufgeht, sodass der Autor notwendig darauf eingehen muss: „Interessant ist, daß sich mir bei der Arbeit aus dem Inhalt der Gedanken gewisse Konsequenzen für die Form aufdrängen, die ich längst erwartete, aber die mich nun doch überraschen. Es handelt sich ganz einfach darum, daß aus meinem Theorem, daß es philosophisch nichts ‚Erstes’ gibt, nun auch folgt, daß man nicht einen argumentativen Zusammenhang in der üblichen Stufenfolge aufbauen kann, sondern daß man das Ganze aus einer Reihe von Teilkomplexen montieren muß, die gleichsam gleichgewichtig sind und konzentrisch angeordnet, auf gleicher Stufe; deren Konstellation, nicht die Folge, muß die Idee ergeben.“ 801 Insofern könnte man sagen, ergreift Kluge dieses Unvollendete und das Ringen Adornos mit der Ästhetischen Theorie und überführt es in das dctp-Universum. Bei der Kugel-Metapher gilt in Bezug auf Kluge daher nicht die „Ideologie des Kreises“, der Vollkommenheit und „in sich geschlossener Ordnung“, sondern entscheidend ist das Prinzip der Vielpoligkeit. 802 2.5.4 Fröhliche Wissenschaft und Anti-Stil: Merkmale Kluges Ästhetik Kluge verfolgt konsequent eine realistische Poetik: Sämtliche „ästhetischen Formgesetze“ seien „der Wirklichkeit abgelesen“, weshalb „‚künstlerische Erfindung’“ zu kurz greife. 803 Demnach ist Alexander Kluges „ästhetischer Stil“ im Grunde Ent- 799 Vgl. Sklavin, S. 220 . 800 AGS 7 , S. 541 . 801 Ebd. 802 Vgl.: GE, S. 235 und S. 35 . 803 Sklavin, S. 222 . 208 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln sprechung seiner Sinneseindrücke als Mensch und kein aufgesetztes Kunstkonzept, keine Künstlerpose. Und wenn es kein Stil ist, dann ist es also Substanz. Und es ist Aussage: Da er sein Werk theoretisch reflektiert und dabei die Kritische Theorie selbst als „Höhle“, die Dialektik der Aufklärung als sein „Grundbuch“ bezeichnet, auf das er „eingeschworen“ sei, 804 ist es, gerade auch beim Vergegenwärtigen der beiden hier abgedruckten Gespräche mit ihm, sicher kein Wagnis, ihn in eine gedankliche Konstellation mit Walter Benjamin und Theodor W. Adorno zu rücken. In gewisser Weise geht er, und das würde Letzteren entzücken, musikalisch vor, wenn er bei der Behandlung einer Sache, eines Gegenstandes oder beim Gespräch mit einer Person nicht mit dem Willen des Festzurrens agiert, sondern die Gegenstände multimedial-multiperspektivisch anspielt und sie so erklingen lässt, sie selbst klingen lässt. Die von Kluge angewendete konstellative Ausdrucksform ist insofern einer nominalistischen überlegen, indem sie versucht, weniger über einen Gegenstand zu sprechen als diesen selbst zur Sprache kommen zu lassen. So spricht er auch über Adorno wie von einer Art Medium der Ideen: „Und in diesen Spuren [Kluge nennt auszugsweise Freud, Marx, Kant, Vorkantisches; Anm. CS ], zwischen denen er weder Registrator noch Entscheider, noch Denker, noch irgend etwas anderes ist-- so wie Heidegger als Denker auftritt--, sondern ohne Attitüde als einer, der gar nichts macht, in dessen Kopf dieses fließt und noch einmal sich denkt.-[…] Fast wie eine kleine, sehr sensible, lebendige Maschine, die gewissermaßen als eine Art Konstrukt, wie eine Zisterne, dieses sich bewegende Gedankengut mehrerer Jahrhunderte noch mal denkt. Und dabei ist dann nicht mehr zu unterscheiden, ist das jetzt ein ästhetischer Gedanke oder ist es ein politischer Gedanke.“ 805 Entsprechend ist es Kluge daran gelegen, seine multimediale Montage-Methode nicht theoretisch zu präsentieren, sondern er tut dies beispielsweise indem er von den Lesegewohnheiten seines Vaters erzählt- - also narrativ: „Dabei ging er bereits dazu über, auf seinen Rezeptblöcken Eindrücke jener ersten Kriegstage festzuhalten (teils Erinnerungen, teils Lesefrüchte, wobei er auch andere Dokumente als Tuchmans Buch hinzuzog).“ 806 Montage und Intermedialität werden direkt und ohne theoretische Reflexion, ganz natürlich und selbstverständlich angewendet: „Er begann, Abbildungen aus Büchern auszuschneiden und in ein Diarium zu kleben, wobei er Seiten ausließ, in die er später Beobachtungen des 22 jährigen vom August 1914 , der er damals ja gewesen war, einfügte.“ Gleichzeitig verweist Kluge hier auf die biographische Prägung seines ästhetischen Verfahrens. Das intuitive Rezeptionsverhalten des Vaters, das schöpferisch tätig ist (also über die 804 Vgl.: Kluge in: Rack, Jochen: „Erzählen ist die Darstellung von Differenzen“, in Neue Rundschau, Werkgespräch, Heft 1 / 2001 . 805 „Die Funktion des Zerrwinkels“, S. 110 . 806 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 127 . Gemeint ist Barbara Tuchman’s August 1914. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 209 Imagination hinaus stellt es materiell etwas her-- so etwas wie ein „passives Leseverhalten“ gibt es nämlich nicht, denn in der Phantasie werden Erinnerungen, Assoziationen und Vorstellungen produziert), wird von Kluge quasi „professionalisiert“, wobei der Begriff im Sinne Kluges „professionellem Nichtprofessionalismus“ zu verstehen ist, denn Kluge geht ebenso intuitiv vor, nur ist es zu seiner Profession geworden, dies zu tun (und nicht z. B. wie der Vater als Arzt Kinder auf die Welt brachte). In dem Begleitbuch zum Theaterstück „Alexander Kluge: Hoffnung und Widerstand“, eine Dramatisierung von Kluge-Schnipseln durch Sebastian Fust in Halberstadt und Quedlinburg, das Alexander Kluge aktiv, aber zurückhaltend mitgestaltet hat, findet sich nicht nur eine Abbildung der gestalterischen Aktivitäten des Vaters, sondern direkt links daneben ein von Kluge dorthin montiertes Portrait des Vaters in Uniform, das zudem die handschriftliche Notiz „Weihnachten 1914 “ trägt. Hier verbindet Kluge also die Montagetechnik des Vaters mit der eigenen und somit auf ästhetischer Ebene auch den Vater mit sich selbst. Sie kommen hier, dem Tod zum Trotz, in ästhetischer Ewigkeit noch einmal Seite an Seite zusammen. Der Ausschnitt aus dem Kriegstagebuch des Vaters zeigt indes die Kombination aus Text, Bild und Bildunterschrift, die einander mal direkt (Bildunterschrift/ Bild), mal indirekt (Bild/ Text) kommentieren und komplementieren. Der Text zeichnet sich optisch vor allem dadurch aus, dass er in kürzere, lesefreundliche Absätze eingeteilt ist und Unterstreichungen zur inhaltlichen Hervorhebung sowie Fettdruck und Symbole als gestaltende Elemente verwendet. Inhaltlich wechseln sich individualgeschichtliche Erlebnisse und historische Fakten ab, es gibt reflexive, kritische und warnende Äußerungen: 210 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Abb. 7: Verwandte Darstellungsformen. Nach den Abbildungen folgen Passagen, in denen Kluge angibt, dass sein Vater zwei Buchentwürfe anfertigte. Der eine sei jenes Tagebuch, der andere eine „Art Lexikon“, eine Sammlung mit Stichwörtern, Listen und Kommentaren über Krankheiten und deren individuelle Variationen („So ist die eine Bronchitis nicht wie die andere.“). 807 Diese literarischen Formen verwendet auch Alexander Kluge (Stichwörter: Lebensläufe, Chronik, Enzyklopädie, Sammeln, Kommentar, Metamorphose). Auch hier wird indirekt der Eindruck vermittelt, dass diese Formen des Schreibens „natürlich“ sind und gewissermaßen autonom von der Literaturwissenschaft und vor professionell angefertigter Literatur existieren. Authentisches Schreiben statt Stilaneignung. Anti-Kunst, Anti-Fernsehen usw. steht also für die Authentizität im Ausdruck, freies Spiel statt Schau-Spiel. Die Wirklichkeitskraft der Narration artikuliert Kluge in einer Kurzgeschichte über seinen Vater, wie dieser das erwähnte Buch August 1914 von Barbara Tuchman liest: „Eigentlich hatte er nichts von dem gesehen, von dem Barbara Tuchman schrieb. Er hatte es nachträglich, wenn Berichte von oben durchsickerten, wenn die 807 Ebd. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 211 höhergestellten ‚Kollegen’ sich über die Lage besprachen, ‚erlebt’.“ 808 Es folgt die Sentenz: „Man erlebt, was erzählt wird.“ Interessant ist dieser Gedanke in Verbindung mit dem für die Kritische Theorie und Kluge bedeutsamen Identitätsbegriff sowie korrespondierend mit Paul Ricœur. In „Die erzählte Zeit“, dem dritten Band von Zeit und Erzählung, stellt dieser seine Idee der „narrativen Identität“ vor und charakterisiert die erzählerische Vermittlung der Zeiten, also von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als eine „offene“, „unabgeschlossene“ sowie „unvollkommene“. 809 In der reflexiven Form des „Sich-Erzählens“, ist dort weiter zu lesen, entwerfe sich die narrative Identität. Von Adorno übernimmt der Filmemacher Kluge die ästhetisch-theoretische Trinitas aus „Polyphonie, Epiphanie und Metamorphose“, wie er in einem Interview verrät und was gar direkten Einzug gehalten hat in die Lehren und Projekte des Ulmer Filminstituts. 810 Die Maxime lautet, einen steten Wechsel aus „intensiver“ und „extensiver Beschreibung“ zu betreiben. Wenn Kluge hierzu den Gedanken der Epiphanie so erklärt, dass er „zwei Bilder“ zeige, wodurch sich „ein drittes Bild“ ergebe, dann kann man das zweifach lesen: Zum einen materiell als Collage-Technik von übereinander oder Montage-Technik von aneinander gelegten Bildern. Nicht zu vergessen ist der Einsatz von Bildunterschriften, die mitunter so wirkungsvoll sind wie das zugehörige Bild, das sie kommentieren, kontrastieren, komplementieren oder scheinbar ignorieren. Zum anderen aber auch immateriell als das Bild im Kopf des Zuschauers, das Bild, das nicht gezeigt wird und doch affiziert wird. In keinem anderen Film gelingt Kluge eine so vollkommene Entsprechung dieser adornoischen Ideale wie in Mehrfachbilder für 5 Projektoren. Das, was wir als „Realität“ lesen, wird als ein mehrfach übereinandergelegter Be-Schreibungstext entlarvt. Kluge ist ein Praktiker der Kritischen Theorie mit den Mitteln multimedialer Narration und dem bewussten Verzicht auf den positiven Systementwurf. 811 Die Aufgabe der Kunst liegt für ihn in ihrer revoltierenden Haltung gegen die Kultur mit all ihren festgefahrenen „Regeln und Gewohnheiten“ sowie „deren adäquater Rezeptionsform“ und sie ist im Gegensatz zu ihr „nicht von beliebigen Menschenmengen ausübbar“- - womit er sich indirekt auch zur Rolle des Rezipienten als 808 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 128 . 809 Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. München (Fink) 1991 . 810 „Die Funktion des Zerrwinkels“, S. 114 . 811 „Man darf eigentlich von seinen Absichten und Plänen nicht sprechen, sondern man muss sie ausführen.“ Vgl.: „Alexander Kluge: Das Handwerk des Erzählers.“ Lesung Alexander Kluges im Literaturhaus München 2012 und Interview. Video von Suhrkamp-und-die-kleine- filmfabrik: http: / / www.suhrkamp.de/ mediathek/ lesung_das_fuenfte_buch_von_alexander_kluge_442.html [Zugriff: 12 . 09 . 2013 ]. 212 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln künstlerischen Produzenten äußert. 812 Kunst aber wird selbst wieder Kultur und muss sich und ihre Ausdrucksmittel deshalb ständig neu befragen und neu erfinden. Eine Systematik, ein Programm, eine eigenständige Philosophie entwirft Kluge so wenig wie eine eigenständige Ästhetik oder eine eigenständige Filmtheorie. Und zwar aus der Überzeugung heraus, dass sich das Kognitive immer nachträglich, reflexiv zum sinnlichen Erleben verhält: „Wir glauben, daß es eine Filmtheorie gar nicht gibt, sondern daß die Filmtheorie Rücksicht nimmt auf Theorien der Erfahrung und des Ausdrucksvermögens, der Expressivität. In dem Maße, in dem sie Rücksicht nimmt, ist sie eine kluge Filmpraxis.-[…] Das Auge hat alles schon einmal gesehen, bevor es etwas erkennt. Eine eigenständige Filmtheorie ist deshalb ein unsinniges Unterfangen.“ 813 Kunst ist deshalb im Kern Ausdrucksmittel von Erfahrungsgehalten. 814 In der „parallelen Welt des Ausdrucksvermögens die eben mehr ist als Ästhetik“, sagt Kluge, „kann man sich als einzige unabhängig fühlen von der Ethik, weil wir in der Parallelwelt niemand totschlagen können.“ 815 „Die Philosophie bewegt sich wie die Kunst im Medium des imaginativen Geistes“, beschreibt John Dewey jene Parallelen und weist auf die täuschend echte Qualität von Kunstblut hin: „Und da die Kunst die direkteste und vollständigste Manifestation von Erfahrung als Erfahrung ist, ermöglicht sie eine einzigartige Kontrolle für die imaginativen Risiken der Philosophie.“ 816 - - Kunst als Experimentierfeld zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Auf diesem agiert Kluge, angedockt an das reichhaltige Archiv verschiedenster Stile und Bewegungen der Literatur- und Filmgeschichte und belebt diese, indem er sie modifiziert und kombiniert. Neben bereits Genanntem, noch ausführlicher zu Nennendem und Ungenanntem seien beispielsweise erwähnt: Objet trouvé (Ready-mades), Jump Cuts, Cut-up (Schnitttechnik des Neuzusammensetzens, geprägt von Brion Gysin und William S. Burroughs), Verwendung von Blenden aus der Zeit des Stummfilms (Irisblende), Darstellung unterschiedlicher Zeitempfindungen durch das Spiel von Zeitraffer und Zeitlupe, Loops, Stills usw. usf. 812 Kluge in: „Die Funktion des Zerrwinkels“, S. 117 . 813 Kluge, ebd., S. 116 . 814 Vgl.: ebd., S. 122 f. 815 Ebd., S. 108 . 816 Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1980 , S. 346 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 213 2.5.4.1 Hitler irritiert über Eiergeruch: Jetzt spricht Verhaltensforscher Professor Pups „Im August 2006 stellte sich der deutsche Autor, Film- und TV -Macher Alexander Kluge im Rahmen der Salzburger Festspiele als Gastgeber einer einzigartigen Veranstaltungsreihe zur Verfügung: Im MAGAZIN DES GLÜCKS , einem ‚Salon zur Erforschung der Grundlagen des Komischen’, präsentierte er Filme und Kulturmagazine und führte, ausgehend von einem Revue-Fragment von Ödön von Horvath, Gespräche mit der Schauspielerin Hannelore Hoger, dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, dem Musikjournalisten Fritz Ostermayer, dem Satanologen Josef Dvorak, dem Regisseur Martin Kusej, dem Soziologen Oskar Negt, dem Germanisten Peter von Matt, Christoph Schlingensief, dem Kulturphilosophen Herbert Lachmayer und der damaligen EU -Botschafterin in Bagdad, Gudrun Harrer. Das Lesebuch dokumentiert den Witz und den Kenntnisreichtum, der sich im MAGAZIN DES GLÜCKS entfaltete: Acht Tage mit Alexander Kluge-- als Konzentrat der Themenvielfalt und des Unterscheidungsvermögens, die an Kluges Werk seit jeher faszinieren.“ 817 Alexander Kluge in einem Gespräch mit Joseph Vogl über Kritik und Reflexion; sie kommen auf den gehemmten Handlungsimpuls zu sprechen: „… etwas in mir zögert, etwas in mir versagt. Ich bekomme Durchfall und kann deswegen nicht morden. Das wäre für Othello zum Beispiel die Rettung der Desdemona gewesen, wenn er wirklich Durchfall bekommen hätte, was so einem Feldherrn passieren kann.“ 818 -- Gesprächsverläufe wie diese sind es, die dem unverkrampften Zuschauer oder Kritiker zu Urteilen wie diesen bringen: „Ein intellektueller Spaß! “ 819 Oder auch: „Alexander Kluge-[…] ist der witzigste und neugierigste Mann im deutschen Fernsehen.“ 820 Sicher tut man sich keinen Gefallen damit, wissenschaftlich über die Komik eines Künstlers zu schreiben, weil man ihr sogleich das Komische nimmt. Die Wiedergabe witziger Szenen würde an der Transmedialität scheitern- - und an begrifflichen Reflexionen wie dieser. Zur Bedeutung der Komik im Werk Kluges, deshalb lieber ein kurzer philosophisch-literarischer Streifzug durch die menschliche Lust am Erkennen: 821 817 Aus dem Ankündigungstext zu Kluge, Alexander: Magazin des Glücks, hg. v.- Sebastian Huber/ Claus Philipp. Wien/ New York (Springer) 2007 . 818 Kluge, Alexander/ Vogl, Joseph: Soll und Haben. Fernsehgespräche. Zürich/ Berlin (diaphanes) 2009 , S. 10 . 819 Rüdenauer, Ulrich: „Buch der Stunde“, in Falter vom 16 . 12 . 2012 . 820 Matussek, Matthias: „Alexander Kluge: Guerilla-Filme fürs Fernsehvolk“, in Spiegel Online vom 01 . 05 . 2008 . 821 „Erkenntnis befriedigt- […] nicht nur den Verstand, sie verschafft auch Lust, Genuß und Wohlbefinden“ und „bringt dem Menschen des wissenschaftlichen Zeitalters die ihm gemäße, zur Kritik einladende Unterhaltung“. In Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen (Neske) 1957 , S. 189 . 214 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee.“ 822 ‚Humor’ verfügt für Jean Paul über ein Bewusstsein von der Diskrepanz der Welt und besitzt gleichzeitig versöhnende Kraft. Durch die befreiende Leichtigkeit des Lachens soll die Absurdität des Lebens diesseitsbejahend verlacht werden-- das Lachen als Sisyphos-Akt. Löscht umgekehrt Hegel nicht eigentlich den Eros des Philosophischen aus, indem er auf den Ernst setzt, weil er die Philosophie zu angeblich Höherem, eben zu einer ernsten Wissenschaft beruft? : „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme-- dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein--, ist es, was ich mir vorgesetzt.-[…] Daß die Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft an der Zeit ist, dies aufzuzeigen würde daher die einzig wahre Rechtfertigung der Versuche sein, die diesen Zweck haben, weil sie die Notwendigkeit desselben dartun, ja weil sie ihn zugleich ausführen würde.“ 823 Man beachte freilich, dass Hegel die Philosophie hier nicht als eine von vielen Bereichswissenschaften versteht, sondern als universelle, ubiquitäre, als die Wissenschaft schlechthin. „Herkunft des Komischen.- - Wenn man erwägt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Tier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hieß, ja dass selbst später, in sozialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Tätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und Tat, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in’s Gegenteil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde, zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit,-- der Mensch lacht. Diesen Übergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Übermut nennt man das Komische.“ 824 Für Nietzsche ist das Lachen durch und durch dionysisch. Lyäus, der Sorgenbrecher, könnte das Wappen der klugeschen Interview-Spiele zieren. „Dieses Spielerische der Philosophiearbeit-- gerade die kritische nimmt daran teil-- ist die Bedingung für die ‚Verflüssigung’, das plötzliche Zerbrechen oder Aufweichen der autoritativen Anordnung der Dinge, insbesondere der mit hoher Fiktion zusammengebauten Realität. Die Arbeitsweise der Sinne antwortet darauf. Es gibt einen materialistischen Instinkt, dieses übermächtige Realitätsgebilde zu anarchisieren, das Übermächtige in Witz zu zerlegen.“ 825 822 Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Hamburg (Felix Meiner) 1990 , S. 125 . 823 Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Vorrede, in GW 9 , S. 11 . 824 KSA 2 , MA I, IV 169 . 825 GE, S. 97 , Fußn. 9 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 215 Kluge knüpft hier die marxsche Metapher des Verflüssigens durch etymologische Nachweise (indogermanisch), wodurch sich eine Sinnkette mit Spiel, Witz und Humor ergibt: „In der mittelalterlichen Naturlehre heißen die Körpersäfte humores, d. h. Feuchtigkeiten (lat. Humor- = Feuchtigkeit).“ 826 Die „Entdeckung der Disproportionen in der Sache selber“ sei die entscheidende Erkenntnisqualität des Humors, von daher brechtsche „Dialektik als ‚Witz der Sache’“. Die eigenen methodischen Merkmale sind, so wird hier deutlich, Entsprechungen der „elementaren Wahrnehmungsweise“: „Komik, freie Assoziation, Erinnern, Antizipieren.“ 827 „Nur nebenbei sei“ mit Walter Benjamin „angemerkt, daß es fürs Denken gar keinen besseren Start gibt als das Lachen. Und insbesondere bietet die Erschütterung des Zwerchfells dem Gedanken gewöhnlich bessere Chancen dar als die der Seele.“ 828 Da „Helge“ ein Anagramm, wo möglich gar ein Antonym zu „Hegel“ ist, aber Ersterer im Gegensatz zu Letzterem noch lebt, kommt Kluge häufig mit diesem zusammen. Die gemeinsamen Fernsehgespräche finden sich nicht bloß auf dctp.tv oder der Homepage Helge Schneiders, sondern zuhauf und verstreut im Internet. Allein auf YouTube kommen dabei einzelne Videos auf deutlich über eine viertel Million Klicks. 829 In der WDR -Sendung Helge hat Zeit-- Menschen, Quatsch und Philosophen bei Helge Schneider dreht jener das Para-Interview-Szenario zwischen Alexander Kluge und ihm noch die entscheidende Stufe weiter, wodurch nun auch der sozusagen ungelernte Zuschauer die Szenerie als Quatsch definieren kann. 830 Helge tritt hier also auch aus jener klugeschen Zwischenwelt, in der Facts und Fakes gleichberechtigt existieren. Eines der kurzen Para-Interviews Schneiders (Kluge wird, nicht von Helge selbst allerdings und ziemlich schlecht, parodiert) mündet in einem Herunterreißen des Mikrofons und einem wütenden „Unterbrechen Sie mich nicht! “ durch den Protagonisten „Helge als“, woraufhin dieser das Gespräch abbricht und aus dem Bild verschwindet. Da Kluges Interviews geprägt davon sind, den Redefluss zu unterbrechen und dem Gegenüber assoziativ ins Wort zu fallen, und da dieses ungewohnte Vorgehen zunächst einmal häufig auf Ablehnung stößt, ist dieser parodierte Ausruf eine eindeutige Spiegelung zurück auf die Interview-Art Kluges und deren hervorgerufenen Irritationen beim unerfahrenen Gesprächsteilnehmer. Da er bei der erwähnten MAZ überdies als „Ver- 826 Ebd. 827 Ebd. 828 BGS II. 2 , S. 699 . 829 So schaffen es Kluge mit Helge Schneider als Abrißunternehmer Borovsky auf über 280 . 000 und Helge Schneider als Studienrat und Major gar auf über 350 . 000 Aufrufe. Vgl.: http: / / www.youtube.com/ watch? v=Cjf21Y19aUQ- bzw.- http: / / www.youtube.com/ watch? v=- V3RMjiEVFNs [Zugriff: 04 . 03 . 2013 ]. 830 Siehe: http: / / www.wdr.de/ tv/ helge_hat_zeit/ [Zugriff: 14 . 08 . 2013 ]. An dieser Stelle geht es um einen Ausschnitt aus der zweiten Folge, ausgestrahlt am 05 . 01 . 2013 . 216 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln haltensforscher Professor Pups“ im Namen (und entsprechenden Verlautbarungen) auftritt, wirkt das Ganze, egal ob man es mit dem Zwerchfell oder mit dem Kopf untersucht, wie eine Kritik am elitären Akademikertum. Schneider bläst mehrfach die Backen auf, die wiederholt in der Äußerung „Pups“ münden, bis er schließlich diese imitiert. Vielleicht will uns dieses Bild sagen: „Ich rede nichts als heiße Luft“, vielleicht ist es auch nur improvisierter Nonsens. Entscheidend ist vielmehr eine Haltung zu Beginn. Den Bekenntnissen „Mich gibt es nicht! “ und „Phantasie! “ folgt bald ein entgegengesetztes „Natürlich gibt es mich! “. Angeblich aber führe die reine Willenskraft zu einer „Koexistenz“ von real und phantastisch Existierendem, wie der Professor mehr oder weniger „erklärt“. Diese parodistische Einlage kann trotz aller helgeschen Absurditäten deshalb über ihre referenzielle Kraft hinaus durchaus als eine Personifikation von Kluges dialektischem Realismusbegriff gelesen werden. Da zudem dieser unablässig die Wichtigkeit der Stimulierung des Zwerchfells betont, ist auch die komische Form ganz im Sinne Kluges. Auch Kluges mehrmaliger Interview-Gast Georg Schramm weist hin auf die Bedeutung des Unterhaltungswerts, um möglichst viele Menschen erreichen zu können: „Ich bin in der Unterhaltungsbranche tätig und ohne Unterhaltungswert hört mir keiner zu.“ 831 Schramm ist sich sicher: „Ohne diesen Aspekt des Expressiv-Emotionalen“ von Tragik, Komik, Verzweiflung und Zorn gäbe es keine „Breitenwirkung“. Zudem gelten Spontaneität und Vergnügen als anerkannte Lernstimulanzen. Kein Wunder also, weshalb Kluge entsprechende Mittel „immer verteidigen“ würde: „Das halte ich sogar für erkenntnisträchtig, für einen Teil der Erkenntnis.“ 832 Hier ist Kluge nicht nur ganz nah bei Nietzsche, der das Lachen als Phänomen der Reflexion und der Autonomie erkenntnistheoretisch prägt. Er ist darüber hinaus der medialen wie schulischen Vermittlungspraxis sowohl inhaltlich als auch didaktisch voraus: „Im Wertesystem einer Erziehung, die nur rational Verstehbares mit rational Verstehbarem koppelt, entsteht Ungeduld des Verstehens. Die Praxis der Massenmedien, z. B. der Zeitungen und des Fernsehens, ist in unseren Ländern darauf angewiesen, mit dieser Ungeduld auszukommen. Eine Fernsehsendung, eine Zeitungsnachricht oder eine Unterrichtsstunde müssen kurzgeschlossene, die Zeit zerstückelnde Pointen setzen, um die Aufmerksam wachzuhalten.“ 833 Um dieses menschliche Bedürfnis nach Abwechslung, Unterhaltung und Amüsement weiß Kluge, er respektiert und kitzelt es. Dem Menschen dürstet es nach der Unbefangenheit des „Thekengesprächs“ (Kluge), „Tankstellen- […] prompter 831 Schramm, Georg: „Rede zum Erich-Fromm-Preis 2012 “, Stuttgart am 26 . 03 . 2012 . 832 Kluge in Herzog/ Kluge/ Straub, m. Beitr. v.-Ulrich Gregor, Peter W. Jansen, Wolfram Schütte u. a., i. d. R. „Film 9 “. München/ Wien (Hanser) 1976 , S. 176 . 833 UM, ÖE, S. 642 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 217 Sprache“ (Benjamin). 834 Was heute Helge Schneider und Peter Berling sind, auch Hannelore Hoger vermehrt, waren zuvor ja schon Alfred Edel und, längst vergessen, Hans-Friedrich von Homeyer: Mit den lebendigen und wandlungsfähigen Figuren des Humors gewinnt das klugesche Werk enorme Leichtigkeit, wodurch es sich vor der Gefahr jenes Ernstes des Intellektuellenfilms bewahrt. Dass insbesondere Humor oder Dada von anti-autoritärer Struktur sind, das bedeutet ja nicht, dass sie etwas Hergestelltes sein müssen. Im Gegenteil funktioniert die künstliche Herstellung von Humor eher nicht. Es verhält sich vielmehr so, dass sie zunächst natürliche Impulse sind, aus dem Bauch und aus dem Zwerchfell kommen. „Humor”, „Ironie“, „Sarkasmus“ usw. sind theoretische Reflexionen, die wiederum in gegenseitige Rückkopplungen mit dem treten können, von dem sie abstrahieren. „Komik, Groteskes liebe ich sehr, aber keine Ironie“, 835 sagt Kluge. Ist das selbst Ironie? Nein, denn er sagt dies erstens nicht nur glaubwürdig, besonnen und ohne Ironie in der Stimme, sondern er konfrontiert zweitens den Begriff mit seinem Basisbegriff des Vertrauens („Ich vertraue der Ironie nicht“), gibt drittens zu, große „Lust“ an der Ironie als Rezipient zu verspüren, und fügt viertens hinzu, dass ihm ihr spezifischer „Blick von oben“ missfalle. Ironie ja, aber nicht als persönliches Gestaltungsmittel. Kluges Humor ist ein Ausdruck des Antirealismus des Gefühls, der Protest, der sich unter dem schelmischen Schutzmantel über die absurde und enttäuschende Welt lächerlich macht. „Etwas in uns, in den Menschen, das würde auch er [Adorno; Anm. CS ] sagen, ist spielerisch gesinnt. Und nimmt lieber Verwilderung in Kauf, als sich zu disziplinieren. Dies ist eine der besten Kräfte der Menschen. Die Libido ist verwildert, und sie wird sich immer selbst behaupten. Es ist das einzige, was spontan bleibt unter allen Verhältnissen. Das beschreibe ich-- “ 836 2.5.4.2 Interview-Spiel und ichloser Dialog Die Form des Gesprächs, die eine lange Geschichte in der Philosophie hat, ist vielleicht die eigentliche Aorta klugescher Methodik und pulsiert in allen Text- und Medienformen seines Schaffens. Eine eigene, philosophische Betrachtung, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann, verdienen die Suchbegriffe, Unterhaltungen zwischen Alexander Kluge und Oskar Negt für die TV -Magazine der dctp, 834 Vgl.: BGS IV. 1 , S. 85 . 835 CdG (Hörspiel), CD 13 , Track 12 . 836 Alexander Kluge im Gespräch mit Christoph Buchwald: „‚Menschen haben zweierlei Eigentum: Lebenszeit und Eigensinn.’ 9 Fragen an Alexander Kluge“, in CdG (Eine Navigationshilfe), Begleitheft vom Suhrkamp Verlag, S. 6 . 218 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln die zu Beginn in der zweibändigen Schrift Der unterschätzte Mensch abgedruckt sind, und im Prinzip ein eigenständiges Werk darstellen. 837 Werfen wir zunächst einen kurzen Rückblick auf die Anfänge der abendländischen Philosophie und das von Platon überlieferte Gespräch zwischen Sokrates und Kriton, 838 bevor wir im Anschluss an die getätigten Vorbemerkungen in den „Skizzen zur Kritischen Theorie“ mit Habermas, Honneth und Schiller zu Kluge gelangen: Es besteht großer Handlungs- und Zeitdruck, die Hinrichtung Sokrates’ steht kurz bevor. Dieser wurde zuvor von Meletos der Unfrömmigkeit und des Verderbens der Jugend beschuldigt. Im Kriton geht es um die Frage nach Gerechtigkeit sowie nach dem guten Leben („Recht-Leben“). Sokrates stellt die Regeln für das gemeinsame Gespräch auf: Kriton sei berechtigt, Einwände zu erheben. Dabei wird er aufgefordert, stets nur das zu sagen, was er auch selbst für wahrhaftig erachte. An diese allgemeine Wahrhaftigkeitsmaxime hält sich Kriton ernsthaft. So wird die homología (Zustimmung, Übereinstimmung) bzw. die homilía (Gewohnheit) die Grundvoraussetzung für jeden Dialog. Nicht nur für das Gespräch an sich, auch für die Argumentation der Gesetze ist sie Grundvoraussetzung. Habermas trennt „zweckrationales“ und „kommunikatives Handeln“: „Arbeit“ und „Interaktion“. Während ersteres, kognitiv eher passiv, technischen Regeln folgt, funktioniert letzteres durch kritisch-analytisches, dialektisches Denken, das dem Subjekt seine Aktivität abverlangt. Er verbindet also historischen Materialismus mit analytischem Vermögen der Sprachphilosophie. Dergestalt, dass er die Sprache fern ihrer zeichensystemischen Beheimatung zu einem Handlungsakt erhebt, trennt er zwischen illokutionärem Akt und propositionalem Gehalt, also zwischen Äußerung und Aussage, Gebrauch und Inhalt. Durch diese Aufspaltung rückt Habermas die realen Bezüge in den Fokus. Dabei werden konkrete Geltungsansprüche an die kommunikative Begegnung gestellt, wie etwa die Verständigung zwischen verschiedenen Interessengruppen, die Förderung sozialer Einbeziehung oder die Persönlichkeitsbildung. Im Gespräch sieht er die Chance enthalten, konsensdemokratisch ein friedliches Miteinander zu schaffen. In dessen Setting ist 837 Hierfür sprechen allein schon der Aufbau des Buchs mit der gleichberechtigten Positionierung neben Öffentlichkeit und Erfahrung sowie Maßverhältnisse des Politischen als erste von drei Titulierungen. Auch der Seitenumfang der drei Werke ist annähernd identisch (jeweils ca. 300 - 340 Seiten). Vgl. u. a. die Übersicht auf der 4 . Seite von UM, Bd. 1 . Die erwähnten Suchbegriffe finden sich ebenfalls im 1 . Band, S. 20 - 321 . Das hat auch der Steidl-Verlag richtig erkannt und sie als eigenständigen Band in der Negt- Werkausgabe neuveröffentlicht: NWA 15 (Negt, Oskar/ Kluge, Alexander: Werkausgabe, Bd. 15 : Suchbegriffe. Göttingen (Steidl) im Erscheinen). 838 Platon: Apologie des Sokrates. Kriton. Übers., Anm. u. Nachw. v.- Manfred Fuhrmann. Stuttgart (Reclam) 1987 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 219 der erste Konsens, das erste Übereinkommen, bereits angelegt: ein rhetorischer. Verständlichkeit, Angemessenheit und Richtigkeit, in den Termini der Allgemeinen Rhetorik: perspicuitas, aptum, latinitas. Im kommunikativen Akt also scheint für Habermas die Hoffnung auf echte Demokratie auf. Axel Honneth nun entwickelt die von Habermas eingeführten Kommunikationsstrukturen durch die intersubjektiven Anerkennungsprozesse weiter. Er weist darauf hin, dass die Gesprächsteilnehmer von „Unrechtsempfindungen“ und „strukturellen Formen der Mißachtung“ ihrer Person geprägt seien und dies deutlich ausschlaggebender sei als mangelnde kommunikative Kompetenzen. 839 Habermas’ Entwurf des kommunikativen Handelns zog, womöglich aufgrund dessen, dass er ein recht ent-emotionalisiertes Bild zwischenmenschlichen Aufeinandertreffens zeichnet, nicht nur beipflichtende Urteile auf sich. Plastischer wird seine Theorie dann schon eher anhand seiner Bemerkungen über Schiller. 840 Für Jürgen Habermas ist Schillers Entwurf der „ästhetisch versöhnten Gesellschaft“ 841 eine kommunikative Struktur eingraviert, die Freiheit und Gerechtigkeit für alle impliziert. Wie Habermas darauf kommt, wird kaum an einer anderen Stelle so deutlich wie bei jener Formulierung im 26 . Brief, wenn Schiller allegorisch beschreibt, wie der Mensch, wenn er nur erst einmal sein Haus und Denkgebäude verlässt, den Dialog mit der Menschheit aufnimmt: „[…] in eigener Hütte still mit sich selbst und, sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht-[…].“ 842 Die Gesprächskunst Kluges ist gekennzeichnet durch Neugier und poetische Faszination. Auch im hohen Alter ruht sich Kluge nicht auf seinem zweifellos außergewöhnlich großen Wissen aus, er ist nicht auf Bestätigung aus, sondern sitzt konzentriert und mit kindlicher Neugier dem Gesprächspartner wie dem Gegenstand gegenüber und will ebenso etwas erfahren. Das ist Hingabe, die eine Angst, die „Kontrolle“ zu verlieren, ebenso wenig kennt wie die, nicht zu wissen, wohin das Gespräch führt. Zu erleben sind nicht selten dialogische Stegreifreden voller Assoziationsströme, Spontaneität und Kreativität, Absurdität und Maskerade. 843 839 Vgl.: Honneth, Axel: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2000 , S. 100 . 840 Vgl.: Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985 , S. 59 f. 841 Ebd., 63 . 842 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, ( 1795 ), in ders.: Schriften zur Philosophie und Kunst. München (Goldmann) 1959 . Sechsundzwanzigster Brief, S. 138 . 843 Weiterführend zu den Fake-Interviews: Kapitel 2 . 5 . 4 . 1 . 220 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Auch in der Schriftform wendet Kluge immer wieder die Textform des Interviews an, sei es mit klaren, benannten Rollen, 844 sei es mit anonymen Stichpunkten. 845 Mit der-- tendenziell anonymen und lakonisch vorgetragenen-- Dialogform als wiederkehrender Textart setzt Kluge einen bewährten Weg der Erkenntnissuche fort, der von Platon über Erasmus von Rotterdam bis Diderot auf ganz verschiedene Weise begangen wurde. Bei Kluge trägt sie nicht selten den Charakter eines inneren Monologs à la Nouvelle Vague. Man kennt sie, die bewusst 846 unauthentischen Dialoge in den Godard-Streifen, in denen bei Weitem nicht nur das verkündete Ideal freier Improvisation ohne Drehbuch praktiziert wird, sondern der Autor eigene Thesen essayistisch durch (meist) zwei Figuren ausdrücken lässt. Kommen wir auf die Spezifität klugescher Frageweise zu sprechen. Diese nämlich entzieht sich der allgegenwärtigen Reproduktion einer ergebnisorientierten Frage- Antwort-Routine. Er selbst weigert sich tendenziell stark, eine Frage direkt zu beantworten, sich auf einen Ist-Wert einzulassen. Stattdessen antwortet er auf Umwegen, in Gleichnissen oder auch schlicht „daneben“. Definitionen, Fixes, Starres, vermeidet er, was gewiss mit seinen theoretischen Reflexionen zu vereinbaren ist. Manchmal ist der Gedanke lang und die Antwort ebenso, weil der Sachverhalt nun einmal komplexer ist. Es scheint ganz so, als ob die klugeschen Fragen in ihrer Signatur die klugesche Montage im Medium Interview fortsetzen. D.h. sie unterbrechen nicht aus Unhöflichkeit, sondern aus der besprochenen Haltung heraus, die man hier auch als epische bezeichnen könnte, vergleichbar also mit der Unterbrechung der Handlung. Hinzu kommt die Besonderheit des Bildausschnitts. Die Kamera, die meist das ganze Gespräch über nur in einer bestimmten Einstellung auf den Gesprächspartner gerichtet ist (zuweilen zurückhaltender Zoom-In), führt ein Markenzeichen des Neuen Deutschen Films fort: Der Sprechende ist nicht unbedingt im Bild zu sehen und wenn, dann nur für Augenblicke in Andeutungen durch eine Armbewegung, eine Hand oder ein bisschen Kopf, professionell nichtprofessionell und auf etwas außerhalb des Blickfelds weisend. Stattdessen erhält der Rezipient die im herkömmlichen Film seltene Gelegenheit, den passiven Gesprächspartner zu beobachten. Ein Zuhörer, der im Nachdenken begriffen ist, der versteht und zweifelt, etwas einwerfen will und darüber abstirbt, der also in all seiner Mimik und Gestik zu erfahren ist, wodurch auch gerade das als Nicht-Schön-Bezeichnete 844 Augenscheinlich am häufigsten setzt Kluge hierbei gern Reporter der NZZ ins Spiel-- ein Blatt, mit dem nicht nur die dctp zusammenarbeitet, sondern das Kluge nach eigenen Aussagen zufolge außerordentlich schätzt. Die Verehrung geht gar so weit, dass er sagt, wäre er Journalist geworden, würde er am liebsten in jenem Hause arbeiten. Eine Hand voll Beispiele: UM, MP, 881 ff., 983 f., 988 ; 30. April 1945, S. 80 , 90 f. 845 Exemplarisch: „Netzwerk der Treue“ in 30. April 1945, S. 265 f. 846 „Professioneller Nichtprofessionalismus“ bei Kluge. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 221 seine Daseinsberechtigung erhält und zugänglich gemacht wird. Und exakt durch diese Abbildung des Denkens wird Denken als Prozess begriffen, der in seiner Sinnproduktion auch Fehler ausspuckt, manchmal auch bewusst, da wahrheitskritisch, gegen die verkrampfte Sinn-Sucht anredet. Kurzum: Die Interview-Filme sind gleichberechtigte Kunstwerke neben Text, Spielfilm oder Kurzfilm-- und nicht selten agieren sie als autonomer Teil in diesen. Im Hörspiel zur Chronik der Gefühle 847 wird jene klugesche „Ästhetik“ deutlich, „die den Hunger nach Sinn wie das Bedürfnis nach Befreiung vom Sinnzwang gleichermaßen im Blick hat.“ 848 Die Befreiung der Begriffe und Gedanken gelingt besonders im Interview-Spiel. Dada- - und die Interviews mit Helge Schneider sind aus guten Gründen mit jazziger Improvisation zu vergleichen (zumal dieser auch oft sein vielseitig-musikalisches Können einfließen lässt)- - ist verbrüdert mit dem stream of consciousness, und der ist bekanntermaßen eine literarische Technik des Erzählens. Doch nicht Helge Schneider bringt dies neu ins klugesche Werk, es stößt dort auf Widerhall, wie ein Gesprächsauszug zwischen Kluge und Anselm Kiefer zeigt: Kluge: Als Schriftsteller geht es mir darum, dass man Dinge wörtlich nimmt. Da gibt es eine Geschichte von Till Eulenspiegel. Ein Städter sagt zu ihm: ‚Geh mir aus den Augen.’ Und Eulenspiegel antwortet ihm: ‚Wenn ich in deinen Augen wäre, dann müsste ich ja durch deine Nase kriechen, wenn du die Augen zumachst.’ Kiefer: ‚Die Augen schließen’, das kann einer im Augenblick tun oder es kann bedeuten, er stirbt. Kluge: Wenn du tot bist, muss ich durch die Nase raus-… 849 Wenn Kluge sagt, solch eine Realität wie die, die wir vorfinden, gehöre abgeschafft, 850 dann ist das eine zutiefst dadaistische Trotzhaltung mit einer Mischung aus Absurdem und Galgenhumor: Wenn das hier die Wirklichkeit sein soll, dann, ganz ehrlich, nein danke. 847 CdG (Hörspiel). 848 Kaube, Jürgen: „Auch Schiffe brauchen Orientierung. Akustische Ähnlichkeit mit den Wunderkammern der Renaissance: Alexander Kluges ‚Chronik der Gefühle’ als Hörspiel“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14 . 10 . 2009 . 849 Aus: Kluge, Alexander: „‚Europa-- Eine Kuh mit Sternenhimmel im Bauch’. Aus Sorge um Deutschland: Der Maler Anselm Kiefer schwimmt im Fluss der Zeit, wirft mit Diamanten und erreicht nie sein Ziel“, ein Gespräch von und mit Alexander Kluge, in Welt am Sonntag vom 24 . 10 . 2010 . 850 Vgl.: Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 . S. 386 . 222 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Das Parodistische in den Interview-Spielen, also Imitation der Form mit Diskrepanz des Inhalts oder angrenzender Texte und Textsorten, überrascht den Zuschauer in seinem Erwartungshorizont an eine Fernsehsendung, ein Interview und dergleichen. Mögliche Konsequenzen: Verwirrung, Ablehnung, Neugier, Imitation. Der „Hanswurst“ als eine literaturwissenschaftlich anerkannte Größe, also etwa Helge Schneider als Harlekin, „besitzt von vorn herein alle Freiheiten der Poesie“. 851 Als autonom agierender Antiheld gelingt es ihm etwa durch Übertreibungen, Absurditäten oder dadaistische Ausschlachtungen einzelner Begriffe und Motive gesellschaftliche, politische oder historische Werte und Wahrheiten spielerisch bis dekonstruktivistisch infrage zu stellen. Ein gutes Beispiel für Dr. Kluges Fähigkeit zur Hebammenkunst sind die mittlerweile unzähligen Interviews mit Helge Schneider in verschiedensten Rollen, den bekanntermaßen bis dahin niemand in ein Sendeformat pressen konnte, nicht mal in sein eigenes. 852 Allein das auf ein absolutes Minimum reduzierte Sendeformat von Kluges Fernsehen scheint dasjenige zu sein, das den Frei- und Eigenheiten genügend Platz zum Entfalten lässt. Die Gespräche zwischen ihnen sind gekennzeichnet durch einen komischen Assoziationsstrom, der zuweilen an die surrealistische Methode der écriture automatique erinnert, sozusagen also l’acte de parole automatique, der sich wie von selbst ergibt. Dieser wird mit gedankenverbindenden Stichwörtern und Fragen seitens Kluge (oder auch seines Gegenübers) immer wieder angeregt. Hierzu zählt unbedingt dessen nicht immer erfreuliche Angewohnheit zum Unterbrechen, was jedoch für eine gewisse Dynamik sorgt und neue Assoziationsstränge keimen lässt. Was der unbedarfte Betrachter wie auch der unbedarfte Gesprächspartner nicht selten als unangenehme oder gar arrogant anmutende Störung empfindet, ist ein bewusst angewandter Bruch mit konventionellen Regeln des Interviews, wie sie im TV - und Internet-Alltag die Praxis sind. Dies unterstreichend, ein kurzer Auszug aus einem, wie sollte es anders sein, Interview: 853 Sie konfrontieren Ihre Gesprächspartner häufig mit ungewöhnlichen Assoziationen, die sich auf Ihre Leidenschaft für die Oper beziehen. Zum Beispiel haben Sie den Regisseur Spike Lee zu seinem Film ‚Summer of 851 Vgl.: „Hanswurst“, in Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, hg. v.-Heike Gfrereis. Stuttgart/ Weimar (Metzler) 1999 , S. 77 f. 852 Nach nur zwei Folgen beendet Helge Schneider die Show Helge hat Zeit im WDR. 853 Ralf Krämer im Gespräch mit Alexander Kluge für das Online-Portal „Planet Interview“: „Ein Gespräch ist keine Planwirtschaft. Alexander Kluge über die Bedeutung des Interview- Genres, das Gespräch als Kunstform und zwei Begegnungen mit Spike Lee“, 06 . 12 . 2010 . Link: http: / / planet-interview.de/ leseansicht/ index.php? id=1379 [Zugriff: 10 . 12 . 2012 ]. Mehr zur Senkung der Ich-Schranke, zu Kluges „Interview-Gespräch“ sowie dessen Eintrainieren in Kapitel 2 . 5 . 4 . 2 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 223 Sam’ interviewt und diesen Film mit einer Oper verglichen. Er reagierte verwirrt, fast verärgert. Kluge: Wir kannten uns ja nicht. Wir haben uns da zum ersten Mal in unserem Leben gesehen. Er konnte nicht wissen, wie ich frage und hielt mich für einen normalen Filmjournalisten aus Deutschland. Einige Jahre später haben Sie Lee zu einem weiteren Film, ‚25th Hour’, erneut interviewt. Wieder verglichen Sie seinen Film mit einer Oper und seine Reaktion war beinahe amüsiert, auf jeden Fall zustimmend und erfreut. Kluge: Er gewöhnte sich nur allmählich daran, dass das jetzt kein ganz so übliches Gespräch ist und merkte an Nebensachen, dass ich auch Filmemacher bin und ging auf mich zu. Das ist ja ein kluger Mann. Anders gesagt: wenn ich ihn von Anfang an als den nehme, der er ist und ihn nicht wie einen Star oder eine Rolle behandle, hat er Grund, sich auf mich zuzubewegen. Das ist wieder ein typisches Beispiel für die Senkung der Ich-Schranke. Die Ich-Schranke ist das Visier des Öffentlichkeitsritters, das ist oben zu, wenn er auf Presse trifft. Der will Erfolg haben und seinen Film loben. Wenn ich das nicht bringe, ist er erstmal irritiert. Aber dann mache ich ihm sozusagen das Angebot, dass er sich so verhalten kann, wie er wirklich denkt. Und ganz allmählich verhält er sich so, wie er auch Filme produziert. Und das ist der Spike Lee, den ich mag, mit dem ich etwas zu tun haben möchte.“ Kluges Kunstwerke im Allgemeinen und seine Interview-Filme 854 im Besonderen sind also Marktplätze der Kommunikation, die fern von eingleisiger Sender-Kanal- Empfänger-Rhetorik sind. Auf ihnen tummeln sich mindestens gleichberechtigte, auf einander rückgekoppelte Sender-Empfänger und all die Ichs verschwinden in der assoziativen Ekstase. Mit zunehmender Rezeption von Kluges Interviews erhärtet sich gleichwohl der Eindruck, Kluge wolle, bei allem Interesse für den Gesprächspartner, immer wieder auf etwas Bestimmtes hinaus, was man ihm natürlich nicht verdenken kann. Dieses Bestimmte kreist meist um die eigenen Schlüsselmotive, die im Anhang dieser Arbeit lexikalisch eingefangen sind. Um das einmal nachzuzeichnen, sollen transkribierte O-Ton-Auszüge aus einem Gespräch mit Gerhard Richter dienen. Hierin versucht Kluge mehrmals vergeblich, Richter zu einer Stellungnahme bezüglich 854 Das gängige Muster ist hierbei: Kluge im Gespräch mit einem Gesprächspartner im assoziativen Austausch, dazu eingeblendete Schrifttafeln, Bilder und Grafiken, Filmausschnitte, Musik etc. Bisweilen werden auch andere Medien, allen voran Bücher, im Bild gezeigt, aus ihnen zitiert oder vorgelesen. 224 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln des Begriffs des Möglichkeitssinns zu bringen. Gegen Anfang der Unterhaltung eher auf subtile Weise, später dann ausdrücklicher: „Und da ist im Bildermacher sozusagen ein Mönch versteckt.-[…] Das heißt Transkription,-[…] eine ganz bestimmte Kunstform. Und die ist modern-[…], sie kann nach Rückwärts transkribieren und nach Vorwärts und zur Seite, zur Möglichkeit hin.“ 855 Wenig später: „Unschärfe ist ja ein Mittel, das du oft verwendest.-[…] Wenn du mir mal diese Verhältnis [erläuterst], die Möglichkeitsform, also das, was neben dem Wirklichen auch noch alles da ist, das wird ja hervorgerufen, wenn man ein unscharfes Bild betrachtet.“ Richter geht nicht darauf ein, sondern spricht, nichtsdestoweniger interessant, vom Immateriellen einer Foto-Oberfläche und dem materiellen Reiz beim Malen. Doch Kluge gibt nicht auf und startet einen weiteren Versuch, Richter etwas zum Optativ zu entlocken: „Du gehst ja mit ’ner Wirklichkeit um auf der einen Seite, nicht? Auf der anderen Seite ist das, was sozusagen du dann daraus entwickelst, ja, und wie du da Oszillationen reinbringst, das ist nicht immer ’ne Störung, manchmal ist es auch ’ne Unterstützung, nicht? -[…] Das ist wie ’ne zweite Wirklichkeit. Und die Spanne ist wohl das Interessante.“ Den Gefallen, in dieser Richtung mehr als „Ja“ zu sagen, tut ihm Richter bedauerlicherweise nicht, überhaupt ist der Redeanteil Kluges untypisch hoch, die Äußerungen Richters beschränken sich nicht selten nur auf Zustimmungen ohne eigene Ergänzungen. Die guten Stellen des Gesprächs, die es ohne Zweifel gibt, liegen anderswo. Und zwar dort, wo Kluge, wie zumeist, den eigenen Prinzipien entspricht. Hierzu passen Tagebuchnotizen des von Kluge hochgeschätzten Einar Schleef über die klugesche Gesprächssituation, der er des Öfteren „ausgeliefert“ war: „Die Wände scheinen zusammenzurücken, so drückt mich der dunkle holzgetäfelte Raum, das ist ein Ambiente, in dem Kluges Filme entstehen, der mir dann gegenübersitzt, das wievielte Mal, er irrt ab, ich versuche ihm zu folgen, verweigere mich, sträube mich, versuche ihn abzulenken, doch das gelingt nicht, Kluge bleibt hartnäckig bei sich, wieder ein gescheiterter Moment, meine Sicht geradezurücken, erfolglos. Überlegenswert trotzdem, ob Luxemburg, Liebknecht am Leben geblieben wären, wäre der Kaiser noch an der Macht.“ 856 855 Kluge, Alexander: „Gerhard Richter: Bildermacher“, in 10 VOR 11 vom 18 . 03 . 2013 . 856 Eine besondere Komik hat derweil die erste Zeile des Tagebucheintrags, die an eine Sprechstunden-Situation erinnert: „Kluge bestellt mich, Krenz sitzt im Kempinski, er war vor mir dran-[….].“ In Schleef, Einar: Tagebuch 1999-2001, Berlin-- Wien. Hg. v.-W. Menninghaus, S. Janßen u. J. Windrich. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2009 . Tagebucheintrag vom 21 . 11 . 1999 , S. 101 f. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 225 Wir haben es demnach mit einem raumatmosphärisch unangenehmen Setting zu tun. Abgesehen davon, das Kluge überall und gern auch zu Hause dreht, dürfte das allerdings für die filmische Produktionsweise schlechthin gelten (Kulissen, Provisorien, grelles Licht, viel Technik, viele Menschen etc.). Interessanter scheint eher die Formulierung, Kluge bleibe „hartnäckig bei sich“, die so gar nichts hat von der beschriebenen Ichlosigkeit, sowie die Möglichkeit, hier die Perspektive des Gesprächspartners einnehmen zu können, die sich mit Vorurteilen decken, die Zuschauer mitunter über das Kluge-Fernsehen äußern. Am Ende schließt Schleef, ob ironisch oder nicht, wohlwollend und von den eigenen Interessen („meine Sicht geradezurücken“) abgekoppelt, dass die inhaltlichen Gedankenspiele zumindest interessant waren. Insofern müsste man noch einmal nachhaken, ob Kluge tatsächlich „bei sich“ oder nicht viel eher bei der Sache bleibt-- was wohl irgendwo auf beides hinausläuft. Auf den Gesprächspartner jedenfalls hat er sich offenbar nur bedingt eingelassen. Höher scheint: der Redegegenstand. Ganz davon abgesehen, dass es eine unaufgeregte Gewissheit wäre, dass auch Kluge mal einen schlechten Tag haben kann, lohnt eine weitere Überlegung: Ist es womöglich eine Form unablässiger Selbstprüfung eigener Grundüberzeugungen? Ein Aufdieprobestellen eigener Gedanken an immer wieder neuen Untersuchungsgegenständen, quer durch alle Wissenschafts- und Erfahrungsbereiche und mit tausenden Gesprächspartnern wieder tausender Perspektiven, Thesen und Ideen? Schlussendlich steht es dieser Arbeit, deren Perspektive bei allen Bemühungen der Einfühlung eine Außensicht bleibt, freilich nicht zu, hier zu urteilen. Wenn man Kluge Böses nachsagen will, findet man hier wohl einen Schwachpunkt, an dem er eigene Ideale zu enttäuschen scheint. Will man nachsichtig sein, kann man versuchen, die Sache, also wenn man so will: sein Projekt, zu verteidigen, allerdings wäre das eher eine utilitaristische oder holistische und somit nicht unanfechtbare Haltung. Für die Glaubwürdigkeit dieser Untersuchung jedenfalls bringt der Konflikt ein Positives mit sich: Desillusionierung. Improvisation und assoziative Rede An einer Beispielszene aus Abschied von gestern erläutert Kluge die Hauptgründe seines Zurücknehmens als Autor, der kein Regisseur ist, sondern auf die Selbstregulation und die Erfahrungen der Schauspieler vertraut: „Man hätte, wenn jetzt Zeit gewesen wäre, den Dialog auch selbst schreiben können. Nicht jedoch wären damit die Erregung der Szene, die Gleichzeitigkeit des Redens und die verkappte Angleichung der Sätze (unabsichtlich gehen die Streitenden aufeinander ein) in die Szene gelangt.“ 857 In der Klammer: der Glaube an geglückte Kommunikation. 857 Vgl.: Kluge, Alexander: „Filmische Herstellung eines Textes“, in ders.: Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 , S. 267 ff. (Zitat auf S. 269 ). 226 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Das Wort gehört zur Hälfte dem, welcher spricht, und zur Hälfte dem, welcher hört. Dieser muß sich darauf gefaßt machen, es in der Bewegung aufzufangen, worin es ihm zukommt“, sagt Montaigne. 858 Ein Gespräch, sofern es nicht einstudiert ist, ist genuin durch Kohärenz gezeichnet. Doch sind das einfach nur Dialoge, an denen wir teilnehmen? Kluge selbst widerspricht dem und sagt zumindest in Bezug auf die aufgenommenen Gespräche mit Heiner Müller, d. h. das dürfte immerhin etwas Singuläres sein und muss deshalb bei Weitem nicht auf alle Interviews zutreffen, dass dies jedenfalls „keine Dialoge“ seien: „Ich frage den etwas, der antwortet fast nie darauf, und nach einer Stunde kommt er darauf zurück-- mit einer Variante.“ 859 Deshalb sei das nicht etwas, was man üblicherweise mit „Kommunikation“ (Kluge) umschreibe, sondern das seien „Echolote“, „Messungen“ (Müller/ Kluge). 860 Thomas Combrink nennt es „inszenierten Originalton“. 861 Denken mit Musil und Musik: Es ist eine Gesprächssituation des ephemeren Wortes, der Vollendung des Gedankens im Reden, der sich per se frei redet und dabei auch Nebensachen, Ungenauigkeiten und Fehler zulässt-- um im gemeinsamen Dialog über sie hinaus zu gelangen, anstatt sich als Sklaven der eigenen Eitelkeit und Pose gegenseitig auszubremsen, zu „besiegen“. „Der Widerstand der Philosophie aber bedarf der Entfaltung. Auch Musik, und wohl jegliche Kunst, findet den Impuls, der jeweils den ersten Takt beseelt, nicht sogleich erfüllt, sondern erst im artikulierten Verlauf.“ 862 Kluge selbst weist auf Heinrich von Kleist als einen seiner zentralen „Vertrauensfiguren“ hin. Seine eigentümliche Interviewpraxis scheint an diesem wie auch an Robert Musil geschult. Bestechende Belege hierfür liefern vor allem Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und insbesondere ein Kapitel in Musils Jahrhundertwerk, dem Mann ohne Eigenschaften, mit dem Mise-enabyme-Titel „Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat“. Beiden gemein ist die These, dass wahres Denken immer etwas Prozesshaftes ist, ein Werden und Sich-Entwickeln. 858 Montaigne, Michel de: „Von der Erfahrung“, in ders.: Essays. Übers. v.- J. J. C. Bode, Hg. v.-Rudolf Noack. Leipzig (Reclam) 1967 . S. 333 . 859 Vgl.: Kluge, Alexander: „Sitz der Seele. René Pollesch über sein dynamisches Theater ‚Schmeiß dein Ego weg’“, in NEWS & STORIES vom 06 . 03 . 2011 . 860 Vgl.: ebd. 861 „Heiner Müller wirkt authentisch, nicht angepaßt an das Medium Fernsehen. Zwischen privater und öffentlicher Rede scheint es keinen Unterschied zu geben. Die Dialoge erwecken den Eindruck, als würden sie auch so geführt werden, wenn die Kamera ausgeschaltet ist. Es handelt sich um inszenierten Originalton.“ Combrink, Thomas: „Über die Dialoge zwischen Heiner Müller und Alexander Kluge. Zum 20 . Todestag des Dramatikers am 30 . Dezember 2015 .“ Link: http: / / www.kluge-alexander.de/ aktuelles/ details/ artikel/ ueberdie-dialoge-zwischen-heiner-mueller-und-alexander-kluge.html [Zugriff: 24 . 01 . 2016 ]. 862 AGS 6 , S. 27 f. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 227 Ein sich mitteilendes und nicht solitäres Nachdenken, ein Miteinanderdenken, so die Vorstellung, kann Centauren gebären. Durch ein sich entwickelndes Nachdenken beginnen die Gedanken ein Eigenleben, machen sich gewissermaßen selbst. Was die Leute als „Intuition“ oder „Inspiration“ bezeichnen, so Musils literarisches Ego, und als „überpersönliche“ Erscheinung deuten, sei in Wahrheit „nur etwas Unpersönliches“, und zwar die „Affinität und Zusammengehörigkeit der Sache selbst, die in einem Kopf zusammentreffen“. 863 Der denkende Mensch als Medium von Wahrheiten? „Je besser der Kopf, desto weniger ist dabei von ihm wahrzunehmen“ 864 -- eine Zeile Musils, die recht treffend jene ego-dezentrierte Diskussionskultur Kluges beschreibt. Sokrates bevorzugt die mündliche Rede und ihr kommunikatives Wechselspiel, weil er ihr eher als der festzurrenden und schweigenden Schrift zutraut, der Lebendigkeit der Gedanken zu entsprechen. „l’idée vient en parlant“, 865 weiß auch schon Kleist und Humboldt, ganz ähnlich, begreift Sprache als das „bildende Organ des Gedanken“. 866 Und immer wieder: Walter Benjamin. Auch bei ihm ist das Denken gebaut wie Schnitzlers Reigen, in wandelnder Bewegung, kaum einmal Bild (ein „Still“), schon wieder übergehend in eine neue Szenerie: „Und wie ich im Gehen meine Gedanken so kaleidoskopisch durcheinanderfallen fühlte-- mit jedem Schritt eine neue Konstellation; alte Elemente verschwinden, unbekannte kommen herangestolpert; viele Figuren, wenn aber eine haftet, heißt sie ‚ein Satz’---[…].“ 867 Auf diesem Prinzip der Denkbewegung und des Denkweges, wir denken auch an den Wanderer Nietzsche oder den angesprochenen Kreisel Kafkas, ist auch Kluges Erkenntniskritik gebaut: Verstehen bedeutet nicht, so etwas wie ein fertiges Antwortprodukt abspeichern und abrufen zu können, sondern den Denkweg mitzugehen, dem Gedanken folgend. Erkenntnis muss nicht in einem Satz oder einem Begriff liegen, sondern kann zwischen den Wörtern schweben, mitunter sprachlich nicht einzufangen sein. Denken, Verstehen, Wissen sind Bewegungsvorgänge, Prozesse: „An Philosophie bestätigt sich eine Erfahrung, die Schönberg an der traditionellen Musiktheorie notierte: man lerne aus dieser eigentlich nur, wie ein Satz anfange und schließe, nichts über ihn selber, seinen Verlauf. Analog hätte Philosophie nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren. Sie muß in ihrem 863 Vgl.: Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, in ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. v.-Frisé, Adolf. Hamburg (Rowohlt) 1952 , S. 112 . 864 Ebd. 865 „Die Idee kommt mit dem Reden.“ Kleist, Heinrich von: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Hamburg (HörGut) 2010 , Track 1 . 866 Humboldt, Wilhelm von: „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, in ders.: Gesammelte Schriften, hg. v.-Albert Leitzmann. Berlin (Behr) 1908 . Bd. VII, S. 53 . 867 BGS IV. 1 , S. 586 f. 228 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Fortgang unablässig sich erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich mißt; was in ihr sich zuträgt, entscheidet, nicht These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedankengang.“ 868 Ein Text gilt auch im digitalen Zeitalter, deren Texte eigentlich von mündlicher Struktur geprägt sind, noch immer als etwas Festes, Verbindliches, Offizielles, Amtliches. Die Gedanken in der Rede hingegen können sich ungehemmt entfalten, weil sie sich leicht auch als etwas So-Dahergesagtes, etwas Nicht-so-Gemeintes aus der Affäre ziehen können, sich nachträglich revidieren und berichtigen können. Text und Rede, Statik und Dynamik.-- Durch das konstellative Verfahren, also dadurch, das vielfache Querverbindungen und Spannungen zwischen den Kluge-Bausteinen, in ihrer Anzahl und Art letztlich Angelegenheit des Verknüpfer-Rezipienten, ahmen auch die Kluge-Bücher das dynamische Prinzip der Welt und des Denkens nach. Ihnen wohnt das „mimetische Prinzip-[…] der Mündlichkeit“ 869 inne. Denn die „Mimik“ eines erzählenden Menschen reagiert auf und interagiert mit dem Redegegenstand- - und transportiert so also auch außersprachliche bzw. nichtbegriffliche Informationen. Wenn man nun Worte von Walter Jens über Musils Credo des „intransitiven Denkens“ als Antipode zu einem „Oberflächendenken“ heranzieht, ist die direkte Nachbarschaft zur Ästhetik der Montage bereits zu erkennen: „Ein winziger Reiz, Lockung und geheimer Verweis-… und der Mensch springt ab, gibt sich hin und vertraut dem Gehen und Kommen der Bilder“. 870 Es folgt, ganz im Sinne Kluges, die Perzeptionsleistung des Betrachters: „Vorstellungen weiten sich zu visionären Gesichten; zwanglos folgt die Maxime, der Maxime die Reflexion, von der sich die Assoziationen wieder ans Subjekt binden, bis man am Ende zur Realität zurückkehrt und ein Denken erwacht- […]“, das- - und nun Musil direkt- - „sich in uns herauf[denkt]“ 871 . Es bietet sich hier die Variante an, direkt im Kapitel „Über Verstehen und Wollen“ ( 2 . 5 . 6 ) weiterzulesen. Musik Heiner Müller erkennt in der Musik ein Kondensationsmittel, da sie Dinge verdichten, zusammenziehen könne, während der Text das nur unter Einsatz von Ausführlichkeit schaffe. 872 Kluges Musikeinsatz orientiert sich am eisensteinschen 868 AGS, S. 44 . 869 UM, Bd. 1 , S. 11 . 870 Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen (Neske) 1957 , S. 68 f. 871 Wörtlich: „Wir denken nicht über etwas nach, sondern etwas denkt sich in uns herauf.“ Musil, Robert: Tagebücher. Reinbek (Rowohlt) 1976 , Bd. 1 , S. 117 872 Vgl.: Kluge, Alexander/ Müller, Heiner: „Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräche. Hamburg (Rotbuch) 1995 , S. 99 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 229 Ideal des Kontrapunkts zwischen Ton und Bild, 873 was im Grunde dem anti-aristotelischen Theater des unterbrechenden Moments wider Illusion und Katharsis entspricht. Die besondere Rolle der Musik in seinen Filmen verweist weiterhin auf die Stummfilmzeit, die mit dieser untrennbar verbunden ist. Einige seiner Montage-Filme können gar als Opernfilme bezeichnet werden. Indem er die für sich genommen bereits multimedialen Gattungen miteinander kurzschließt und so jene Erfindung des 17 . Jahrhunderts in die neuen medialen Welten überführt, gelingt ihm jedenfalls ein anspruchsvoller Versuch einer modernen Fortsetzung der Oper. Nahezu alle Genres der Musik werden thematisch (Inhalt) und/ oder ästhetisch (Soundtrack) benutzt: Death-Metal, Detroit-Techno, Klassik, experimenteller Elektropop, Geräusche, einfach alles. Es würde zu kurz greifen, dabei die Hintergrund- und Störgeräusche als ironisch gebrochene Darstellung vom Rauschen im Fernsehkanal zu deuten-- mit dem Fensterfernsehen als allgemeines Störgeräusch. Diese Störgeräusche mögen „unnatürlich“ für die Interview-Praxis sein, doch geben sie das natürliche Rauschen der Welt wieder, das in der sterilen oder überladenen Medienlandschaft künstlich ausgeblendet wird. Auf einer weiteren Ebene ist die Vielstimmigkeit der unzähligen Gesprächspartner und Co-Autoren „insofern Musik“ 874 . Außerdem orchestriert Kluge seine Geschichten so, dass eine Polyphonie des Realen hörbar wird: Es existiert eine Gleichzeitigkeit von Realitäten, die, einmal auditiv beschrieben, mit einer unverständlichen, weil vielstimmigen Geräuschkulisse bzw. aus dieser spontan hervortretenden, konkreten Fetzen wahrzunehmen sind. Die Schwingungen dieser „Mehrdimensionalität“ von Wirklichkeit fängt Kluge ein-- und zwar durch „Respekt“ und „Beobachtung“, nicht durch Kreation. 875 Semantik im Cross-Mapping Wie erwähnt, verzichtet Kluge nahezu gänzlich auf den gängigen Normenkatalog journalistischer Interview-Befragungstechnik und kreiert eine ganz eigene Gesprächssituation, die für das intendierte Spontane und Unsystematische steht. Sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formellen Ebene setzt Kluge Philosophie und Literatur in dialektische Verhältnisse mit Wissenschaft, Politik, Ökonomie usw. Das spiegelt sich auch in der selbstverständlichen Präsentation menschlicher Sprachenvielfalt wider. In Kluges Interviews mit fremdsprachigen Gesprächspartnern wird zwischendurch die Übersetzerin (meist ist es eine Frau) ins Bild gerückt. Die Aufmerksam- 873 Vgl.: Eisenstein, Sergej: „Manifest zum Tonfilm“ ( 1928 ), in Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart (Reclam) 1979 , S. 55 . 874 Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 , S. 383 . 875 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Rumoren der verschluckten Welt. Die Lebensläufe und das Wirkliche“ ( 1 . Vorlesung, 05 . 06 . 2012 ). 230 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln keit des Rezipienten wird vom Inhalt des Gesprächs weggelenkt (aber immer noch wahrnehmbar) und auf sie gerichtet; ihre extrem konzentrationsfordernde und anstrengende Aufgabe des beidseitigen Simultanübersetzens von meist geistes- und naturwissenschaftlich geprägten Inhalten ist ins Wahrnehmungsfeld gerückt. Natürlich ist das ein V-Effekt, aber das ist es nicht allein. Die Arbeit des Dolmetschens, die im normalen TV -Format spukhaft aus dem Off kommt, wird wahrnehmbar und sie wird dadurch aufgewertet bei der Filmproduktion (und als Beruf selbst). Da es in so ziemlich allen entsprechenden Filmbeiträgen zu Nah- und Großaufnahmen des Übersetzers kommt, handelt es sich nicht um Zufall. Auf einmal erlebbar werden etwa: Konzentration, Zweifeln, Hadern, Verbessern, Fehler, Interpretieren, Auslassen, Dazutun. Erkenntnis: Da sitzt und denkt und spricht ja noch ein drittes Individuum und trägt seinen Anteil nicht nur an meiner Perzeption, sondern auch an meiner Rezeption. Wenn Sprache so etwas wie die Republik ihrer Wörter ist, 876 dann vereint der mehrsprachige Mensch die Nationen. Kluge verweist gern auf Joyce’ Finnegans Wake und sagt, dass „die Wörter“ „ihrer Natur nach“ bis dahin „Arbeiter oder Diener“ waren. 877 „Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen“, formuliert es Wilhelm von Humboldt, „wächst unmittelbar für uns der Reichtum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen“. 878 Ausdruck des Nicht-Gleichen: „Mehrere Sprachen sind nicht ebensoviele Bezeichnungen einer Sache; es sind verschiedene Ansichten derselben“, so Humboldt. 879 Polyphonie und Plateaus ergeben die überlegene Form, die Vielfalt ermöglicht. 880 Der Rezipient als Flaneur Sozusagen postdramatisch erhält man als Zuschauer seiner Interviews einen kurzen Einblick in ein laufendes Gespräch. Unmittelbarkeit des Erzählens, in medias res, 881 wie besonders für die Kurzgeschichte üblich. Es gibt keinen Anfang (oder zumindest keine Einleitung, sieht man einmal von der Titeltafel ab; kein Anderhandnehmen) und kein Ende, keinen (dramaturgisch erzeugten) Höhepunkt und keine 876 Nach Kluge: „Politik der Wörter“, in Bretter, S. 297 f. 877 Vgl.: ebd. 878 Humboldt, Wilhelm von: „Ueber das Sprachstudium oder Plan zu einer systematischen Encyclopaedie aller Sprachen“, in ders.: Gesammelte Schriften, hg. v.- Albert Leitzmann. Berlin (Behr) 1908 . Bd. VII, S. 602 . 879 Ebd. 880 Vgl.: Ammer, Andreas/ Kluge, Alexander/ Console: Eigentum am Lebenslauf. Das Gesamte im Werk des Alexander Kluge. Produktion: Bayerischer Rundfunk. Intermedium Records 2007 , Track 2 . 881 Gehört zu Kluges häufigsten Stilmerkmalen, auch in der Literatur. Durch die Sogwirkung des Textes entfalten die meist besonderen Überschriften oder ersten Sätze ihre volle poetische Kraft bei der Wiederholung nach bzw. mit der Leseerfahrung des Textes. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 231 Peripetie, keinen typischen roten Faden und keine Fabel- - sondern: Fluss. Ästhetisch wird das etwa durch Ein- und Ausblenden in die Gespräche ausgedrückt. Mitunter mitten im Satz, im Gedanken beginnt oder endet der Filmbeitrag, so als ob man als vorbeigehender Flaneur den steigenden und wieder sinkenden Geräuschpegel samt ein paar Gesprächsfetzen aus einem Café aufnimmt. Des Weiteren weist das Ausblenden auch auf den strengen Faktor Zeit des Systems Fernsehen hin. Doch statt einer „An- und Abmod“, die künstlich den Formatzwang überlagert, um ein Interview oder eine Sendung „rund“ zu machen, als sei alles gesagt, weist die klugesche Variante auf die tatsächliche Unendlichkeit und Unvollständigkeit hin: Ausschnitte von Wirklichkeit statt Scheinhaftigkeit einer vollständigen, abgeschlossenen Repräsentation von Wirklichkeit. Die Ohren nicht in der Schublade „Ich würde immer aufs Ohr vertrauen. Ob ’was vertrauenswürdig ist, sagt mir das Ohr. Das Auge lässt sich täuschen, auch bestechen durch Glitzer.“ 882 Kluge betont in einem Interview mit Thomas Combrink die stilistische Wichtigkeit des Gehörs: „Ich schreibe nach Tönen, die ich mit dem Ohr gehört habe. Davon brauche ich nicht furchtbar viele; deswegen sind auch manche Sachen bei mir eher stereotyp wie zum Beispiel die Anfänge. Der Text ‚Ein Heimkehrer auf Umwegen’ beginnt ja so: ‚Der Studienrat Alfred E. Glöckner hatte als Reserveoffizier 1939 Polen besetzt-…’ Nun würden Sie einwenden, dass er ja allein gar nicht Polen besetzen kann. Und der Ausdruck ‚Reserveoffizier’ ist auch ganz unwesentlich für diese Sache. Trotzdem handelt es sich hier um seine Denkform. Dann geht es weiter: ‚… in Frankreich im Juni 1940 getafelt, war (gierig nach veränderten Umstände, rerum novarum cupidus) in Griechenland eingefallen- …’ Das habe ich aus dem Lateinunterricht; das Wort ‚eingefallen’ habe ich mal gehört. Weiter: ‚… nicht nur der glanzvollsten Sprache des Altertums, des Griechischen, mächtig, sondern inzwischen auch als LKW -Fahrer tüchtig’, daran interessiert mich nur ‚mächtig’ und ‚tüchtig’, weil es sich reimt.“ 883 882 So Kluge in: Ammer, Andreas/ Kluge, Alexander/ Console: Eigentum am Lebenslauf. Das Gesamte im Werk des Alexander Kluge. Produktion: Bayerischer Rundfunk. Intermedium Records 2007 , Track 12 . Eigene Transkription. Hierbei handelt es sich übrigens um ein bemerkenswertes Projekt um Hörspielproduzent Andreas Ammer und Martin Gretschmann alias Console (seinerseits Bandmitglied von The Notwist, die in ihrer Genese wiederum eine einzige Metamorphose darstellen: von Hardcore durch orchestrale Klangwelten zu Indietronic. The-Notwist-Frontmann Markus Acher wiederum spielt bei der Band Lali Puna, die auf Kluges Hörspiel Chronik der Gefühle erklingen). Das Musik-Literatur-Crossover-Unternehmen ist eines von vielen ungewöhnlichen interdisziplinären Projekten der Reihe intermedium records, die, getreu ihrem Namen, immer wieder unterschiedliche Medien miteinander zu verschränken suchen. So liest und erzählt Kluge mal mit Ammer, mal technisch geklont mit sich selbst, eingebettet in Consoles elektronischem Klangteppich. 883 Das Interview wurde abgedruckt in Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Materialien zur Ausstellung. Hg. v.- Busch, Bernd u. Combrink, Thomas. 232 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Die Stimme Gernot Böhme betont die präsentische Dimension der Stimme: „Stimme ist die atmosphärische Präsenz von etwas oder jemandem. Sie ist eine der Dimensionen, in denen etwas oder jemand aus sich heraus tritt und die Atmosphäre in der Umgebung wesentlich emotional tönt.“ 884 Kluges einprägsame Stimme, hat man sie ein paar Mal gehört, liest man in seinen Texten mit, ja eigentlich liest Kluge, als ob er einem im Ohr sitzt, vor. „Es sind Höhepunkte, wenn Hoger und Kluge sich wispernd und verschwörerisch über eben erzählte Anekdoten unterhalten-[…]. Was beim bloßen Lesen oft verborgen bleibt, hier erwacht Kluges Komik zum Leben.- […] Enzensberger hat bemerkt, dass die Geschichten von Alexander Kluge der gesprochenen Sprache nahe stehen, da sie dem Leben abgelauscht sind. Streng und karg in Schriftsprache fixiert, werden sie durchs Vorlesen ins Menschliche transponiert, gewinnen ein Gefühl, das dem Protokollarischen fehlt.“ 885 2010 erntet das Hörspielunternehmen Chronik der Gefühle unter der Regie von Karl Bruckmaier hohe Anerkennung mit dem Deutschen Hörbuchpreis, zuvor überschlägt sich der Feuilleton mit fabulierenden Lobpreisungen: So erlauscht die FAZ eine „akustische Ähnlichkeit mit den Wunderkammern der Renaissance“, in denen „Korallen neben antiken Münzen, Skeletten und komplizierten Uhren zu liegen kamen“-- „Wunderkammer-Sociologia“. 886 Die akustische Wiedergabe also der großen Welt im kuriosen Kleinen vor der bürgerlichen Musealisierung im 19 .-Jahrhundert. Das Hörmedium empfängt den „Radiosound“, „in dem Kluge ohnehin schreibt“, um Wellenlängen genauer als die Schrift. Tatsächlich funktioniert das Lesen klugescher Schriften besser, wenn man die Ohren antennengleich nach Kluges Stimme ausrichtet. Durch diese Vergegenwärtigung ist man sensibilisierter, wörtlich empfangsbereiter für Feinheiten wie Humor und Ironie, die einem sonst vielleicht entgehen. Es ist eine jung gebliebene, sehr sanfte und ruhige, ja einfühlsame Stimme, bei der man sich wohl fühlt, zu der man Vertrauen knüpft: „Die Kühle verwandelt sich schlagartig in Wärme, wenn man Kluges Stimme hört“, urteilt das Wiener Stadtmagazin Falter. 887 Gleichsam ist seine Stimme Tonträger seiner neugierigen wie gründlichen Beharrlichkeit, die wissen will, die mit großer Lust der gelungenen Göttingen (Wallstein) 2009 . S. 290 - 300 . 884 Böhme, Gernot: „Die Stimme im leiblichen Raum“, in Kolesch, Doris; Pinto, Vito; Schrödl, Jenny (Hg.): Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielefeld 2009 . 885 Heidkamp, Konrad: „Kluges Hörstandpunkt“, in Die Zeit vom 19 . 04 . 2001 , 17 / 2001 . 886 Kaube, Jürgen: „Auch Schiffe brauchen Orientierung. Akustische Ähnlichkeit mit den Wunderkammern der Renaissance: Alexander Kluges ‚Chronik der Gefühle’ als Hörspiel“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14 . 10 . 2009 . 887 Rüdenauer, Ulrich: „Buch der Stunde“, in Falter vom 16 . 12 . 2012 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 233 Formulierung hinterhereilt, zuweilen sich mit der Gegenüber-Stimme überschlägt, „Ja? “: „[…] jene sanfte Getriebenheit, jener Enthusiasmus, über den Kluge hin und wieder fast zu stolpern scheint-- um dann doch wieder die Kurve zu kriegen. Eine Zungenakrobatik, bei der die Vokale zerdehnt und die Konsonanten aufgeweicht werden, erlaubt es ihm. So wird etwa aus einem ‚beschäftigte sich’ ein ‚beschäftesche sich’.“ 888 - ein taumelndes Gemisch von Wissensdurst und Neugiertrunkenheit, Assoziationsrausch und einem Schuss heimischen Dialekts. „Nach zwanzig Jahren Klugescher Fernsehgespräche ist kein medialer Autor so emblematisch mit seiner Stimme verwachsen, ja, sein Interview-Werk scheint dieser Stimme direkt zu entspringen.“ 889 Kluges Stimme ist der „magnetische, alles zusammenbindende Mittelpunkt“ seines Werkes, und mehr noch: seines Künstler- und Expertenkreises. Zu diesem gehört auch Hannelore Hoger: „Liest man im Buch“, urteilt Die Zeit, „bleiben die Stimmen der beiden wie eine akustische Täuschung auf der Membran des Ohres haften. Man wird sie nicht los.“ 890 Kluges Persönlichkeit Diese Aufzählung wäre unvollständig, würde nicht auch die Ausstrahlung Alexander Kluges als Redner und Gesprächspartner zur Sprache gebracht werden, freilich fern einer Stilisierung.. Damit eine gewisse unparteiische Distanz zum „Untersuchungsgegenstand“ gewahrt wird, soll ein aktueller Artikel von Le Monde herangezogen werden, dessen erzählte Eindrücke die eigenen aus den persönlichen Begegnungen bestätigen: „Courtoisie chaleureuse, voix de velours, présence magnétique, allégresse musicale.“ 891 -- Ins Deutsche übersetzt etwa: „Warmherzige Höflichkeit, Stimme aus Samt, magnetische Präsenz, musikalische Freude.“ Dass Kluge etwas ausstrahlt und dass dieses gewisse Etwas irgendwie nachwirkt, irgendwie bleibt, zeigen weitere Umschreibungen seiner Aura derselben großen französischen Tageszeitung, die davon spricht, dass er vor Geist nur so sprühen würde und in ihm nichts weniger als das Gesicht der Aufklärung deutscher Geistigkeit zu erkennen sei: „De l’esprit à revendre, du savoir à ne plus savoir avec qui le partager, pour autant pas un gramme de suffisance : la face de lumière de la spiritualité allemande, si elle devait exister.“ Je ne sais quoi. 888 Lehmkuhl, Tobias: „Gleich fällst du hin. Sanfte Getriebenheit: Alexander Kluges ‚Chronik der Gefühle’“, in Süddeutsche Zeitung vom 12 . 10 . 2009 . 889 Trapp, Wilhelm: „Hörbuch. Ganz und gar wunderbar: Wie allerlei Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller Alexander Kluges bunte ‚Chronik der Gefühle’ lesen“ in Die Zeit vom 08 . 10 . 2009 . 890 Heidkamp, Konrad: „Kluges Hörstandpunkt“, in Die Zeit vom 19 . 04 . 2001 . 891 Mandelbaum, Jacques: „Du cinéma et de l’utopie, selon Alexander Kluge“, in Le Monde vom 26 . 04 . 2013 . 234 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 2.5.4.3 Verfremdung gegen Entfremdung Verfremdungseffekte und Produktionsprozess: Kluges Kunstwerke lösen sich nie gänzlich von ihrer Produktion. Ästhetisch geformte Einblicke in den Produktionsprozess eines konkreten Films (Montage, Cross-Mapping) oder Interviews (Simultanübersetzer im Bild, Blue-Screen-Trash) können ein Bewusstsein herstellen für die eigentliche Brüchigkeit, die Auswahl- und Ausgrenzungsmechanismen aller Produktionsverhältnisse. Die gelebte Autonomie vieler einzelner Subjekte im Autorenkollektiv, die ein gemeinsames Werk fabrizieren, steht exemplarisch-fordernd für Autonomie zusammenarbeitender Subjekte in der Produktion generell (das ist nicht nur wirtschaftlich gemeint, sondern z. B. auch künstlerisch und praktisch (einander helfen, Solidarität)). Damit einher geht auch das Transparentmachen von Konstruktionsprinzipien durch die facettenreichen Mittel der Verfremdung. In den „Inszenierungen“ Kluges wird Produktion und Mediales mitreflektiert. Zusätzlich bewahrt gerade dieses Selbstreflexionsmittel des epischen Theaters davor, ideologisch zu werden. Mehrfachbelichtung der Realität I: Montage Im April 1969 versucht Adorno Kluge für ein Kapitel zum berühmten Buch Komposition für den Film zu gewinnen, in dem er etwas über die Musik im Neuen Deutschen Film beitragen soll: „Ich jedenfalls möchte Dir heute sagen, wie schön ich es fände, wenn wir auf diese Weise einmal in einer Arbeit gemeinsam aufträten.“ 892 -- Adorno/ Kluge als Neuauflage von Adorno/ Eisler. Man müsste Kluge fragen, wo die theoretischen Reizpunkte gelegen hätten bei einer solchen Kooperation. Womöglich die Überhöhung der Montage durch Konstruktion, wie sie Adorno forderte? Adorno an Kluge: „Ich glaube, die Montageform, die auch für Dich sehr wichtig ist, an einer Stelle gleichsam deduziert zu haben, und eben dieser Komplex sollte den Gegenstand des längst projektierten und immer wieder vertagten Gesprächs zwischen uns bilden.“ 893 Schon in der Auflage mit Hanns Eisler schreibt jedenfalls Adorno ausdrücklich „Ich hoffe, einmal zum Problem gemeinsam mit Alexander Kluge etwas beizutragen.“ 894 Adorno kritisiert an der Methode der Montage, dass sie zu viel nur übernehme. Die Konstruktion, die dieser entspringe, hätte ihm zufolge größere analytische Kraft. 895 Wir betreten hier eine der wenigen, jedoch grundlegenden Stellen, an denen Kluge nicht Adorno folgt. Bei Kluge wird der Rezipient zum Kompositeur ernannt (nicht: verpflichtet), während eine Konstruktion bereits autoritären Cha- 892 Brief von Adorno an Kluge vom 01 . 04 . 1969 , S. 2 . Vgl.: Theodor W.-Adorno Archiv. 893 Brief von Adorno an Kluge vom 24 . 07 . 1964 . Vgl. ebd. 894 AGS 15 , S. 145 . 895 Vgl.: AGS 7 , S. 91 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 235 rakter und, wie Ruth Sonderegger anmerkt, den verklärenden Schein „harmonischer Einheit“ 896 trägt. Doch ist das überhaupt von Adorno so gemeint? In der Montage habe Eisenstein erkannt, wie Adorno ausführt, dass „die Aneinanderfügung der einander fremden Elemente“ diese „zum Bewußtsein“ erhebe und dadurch nichts weniger als „die Funktion der Theorie“ selbst übernehme. 897 Die Summe autonomer Teile macht das filmische „Ganze“, zumindest wenn es nach der Ästhetik Eisensteins, Godards, Kluges geht. Als Gründe für die Verwendung der Montagetechnik zählt Letzterer auf: Erstens die Möglichkeit der Darstellung des konstellativen Zusammenhangs mit gleichzeitigem Respekt vor der Eigenartigkeit des Einzelwesens. Zweitens kann die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit nur in einer ihrer Struktur entsprechenden, nämlich fragmentarischen Darstellung verständlich gemacht werden. 898 Dass einzelne Bausteine prinzipiell verrückt, ausgetauscht oder entfernt werden können, ist u. a. einem Schreiben Kluges an Suhrkamp zu entnehmen, als es um eine französische, eine schwedische sowie eine italienische Ausgabe von Neue Geschichten ging, bei denen die jeweiligen Verlage Kürzungen vornehmen wollten. 899 Allerdings keineswegs beliebig, sondern stets im Bewusstsein eines sich ergebenen Sinnzusammenhangs, der unbedingt gegeben sein muss. Auch wollte Kluge auf bestimmte Texte, Bilder und Bildunterschriften unter keinen Umständen verzichten-- die entsprechend als Knotenpunkte gedeutet werden müssen. Daraus wird deutlich, das die Versatzstücke (dazwischen Platz für lauter Rezipienten, die diese und neue eigensinnig rangieren) nicht nur theoretische Reflexion sind. Durch die Autonomie der einzelnen Teile setzt Kluge Benjamins Forderung an den Rundfunk um, „es müsse dem Publikum jederzeit möglich sein, einzusteigen“. 900 Allein das Orchestrieren von gesellschaftlichen Phänomenen in Form von Einzelbildern, an denen sich kristallgittergleich die Zusammenhänge bilden, obliegt dem Autor- - 896 Vgl.: Sonderegger, Ruth: „Ästhetische Theorie“, in Kleid, Richard/ Kreuzer, Johann/ Müller- Doohm, Stefan (Hg.): Adorno Handbuch. Leben- - Werk- - Wirkung. Stuttgart/ Weimar (Metzler) 2011 , S. 418 . 897 AGS 15 , S. 73 . 898 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Handwerkszeug für Text und Film. Die Poetik selbst“ ( 2 . Vorlesung, 12 . 06 . 2012 ). 899 „[…] mache ich mehrere Vorschläge: -[…] Man kann auch nach Heft 7 oder Heft 8 , das Heft 18 als Schluß folgen lassen. Alle diese Lösungen ergeben einen Sinn.- […] Für den Band zwei wäre ich auch einverstanden, wenn man die Hefte 8 und 9 ganz ausläßt, und die Hefte 10 bis 19 (bzw. bis 17 , wenn man Heft 18 in den Band 1 einbezieht), zu einem Band zwei zusammenfaßt. Auch dies ergäbe Sinn.-[…]“ Vgl.: Brief i.A. Kluges an Helene Ritzerfeld vom 07 . 12 . 1978 . Siehe SUA/ DLA Marbach. 900 Benjamin, Walter: „Was ist episches Theater? “, in ders.: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1978 , S. 22 . 236 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln was folgendes Beispiel eines typischen multimedialen Arrangements veranschaulichen kann: Durch die Gegenüberstellung von Bildern und ihrer zugeschriebenen Bildunterschriften entsteht oft eine Mischung aus Komik und Erkenntnis. Auf den Seiten 180 und 181 von Geschichte und Eigensinn gehen so z. B. zwei Bilder, die, isoliert betrachtet, eher nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, eine sinnvolle Verbindung ein. Links ein Gentechniker, der in einem Sicherheitslabor an einer übermenschlich großen Maschine Untersuchungen vornimmt. Rechts sog. „Spezialisten, 1946 “, nämlich drei kleine Kinder, hinter ihnen Trümmer. Der Kontrast liegt auf der Hand: Die eigentlichen Spezialisten (Gentechniker) werden genarrt, Grad und Grenzen von Sicherheit werden so illustriert (Trümmer). Die Konfrontation ist also zugleich Anklage oder Warnung, die sich unaufdringlich und undogmatisch artikuliert. Wenige Seiten später ein sich anknüpfender Kontrast durch die Gegenüberstellung eines Schiffs voller Sklaven auf dem einen Bild und einer Anzeige des Ölkonzerns „Mobil“, die mit einem Kind für die Broschüre „Lebensfrage Energie“ wirbt, auf dem Bild darunter. 901 Das lässt sich ohne Weiteres fortsetzen, nur ein Letztes aber an dieser Stelle: Besondere Wirkung entfacht eine große Abbildung von Bahngleisen, die aus der Vogelperspektive aussehen wie von Flugscharen gezeichnete Felder. Die dazugehörige Bildunterschrift verstärkt den Eindruck mit der Pointe: „‚Acker des Verkehrs.’“ 902 Dazu sei angemerkt, dass Kluge und Negt die These vertreten, dass sämtliche Wirtschaftszweige ihren Ursprung in der Landwirtschaft haben. Das Grundmotiv des Fotos ist die Erinnerung, das Wiederholen und Wiederaneignen von Vergangenem oder Entferntem. 903 Die Fotografie ist untrennbar verbunden mit dem Gedanken des Dokumentarischen, allein schon im Moment ihrer Produktion wird sie als Historisierendes wirksam. Zugleich konterkariert Kluge den damit verknüpften Wahrheitsanspruch (Wiedergabe von Realität) immer wieder durch bewusst auffällig schlechte und dadurch komische Fotomontagen, die zuweilen an die satirischen Illustrationen John Heartfields erinnern. Besonders im Rahmen der Fake-Interviews. 901 GE, S. 188 . 902 GE, S. 190 . 903 „Nur als Bild-[…] ist die Vergangenheit festzuhalten.“ BGS I. 2 , S. 695 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 237 Abb. 8: „Fake“ Mehrfachbelichtung der Realität II: Cross-Mapping Cross-Mapping, die Technik des Übereinanderlegens von Material, entwickelte wohl zuerst Filmpionier und Illusionist Georges Méliès 1902 in Le Voyage dans la lune. Das Verfahren gehört zu Kluges Handschrift wie auch zu seinen zentralen theoretischen Reflexionen. Durch das Übereinanderlegen treten die Bilder nicht nur in ein Spannungsverhältnis und verändern sich nicht nur für sich, sondern es entstehen neue Bilder, die wiederum auf ihre originalen Bestandteile wirken. Unterschiedliche Themen und Personen, getrennte Räume und Zeiten geraten in kommunikative Verhältnisse. Durch die Technik der Bildstapelung entsteht zudem eine Tiefe im Bild und im Film, die das Ideal der Nichtlinearität des Jungen Deutschen Films verwirklicht (also Bilder nicht nur horizontal, sondern nun auch vertikal montiert). Einer Craquelure gleich treten die Tiefen vergangener Zeitschichten illustrativ-narrativ hervor und stellen das Gewordensein alles Gegenwärtigen dar-- historischer Materialismus als Form. Filmische Mittel sind z. B. Illumination, Virage und Farbfilter. Geschichte wird vergegenwärtigt, sei es inhaltlich oder formell-- etwa durch Montage mit einem Foto der Jetztzeit. Und umgekehrt erlangt Gegenwärtiges historischen Charakter bzw. Endlichkeit-- zum Beispiel, wenn man es durch Effekte altern lässt oder ebenso mit einer anderen Zeitebene konfrontiert. 238 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Da das „dramaturgische Prinzip“ das der „Überlappung“ ist, 904 wird verständlich, weshalb Bild- und Tonspur mitunter asynchron verlaufen (Überblendungen). Ähnliches gilt auch für die Gesprächspartner, die sich ins Wort fallen. Professioneller Nichtprofessionalismus Der Pianist Mark Lawson spielt und singt am Klavier aus der Cavalli-Oper La Calisto und wirkt im Kontext des Gesprächs zwischen Kluge und dem Altphilologen Niklas Holzberg über Ovid unfreiwillig (tatsächlich? ) komisch: Sein sportliches „lotto“-T-Shirt steckt in der Hose, und man fragt sich, ob er beim Grillen im Garten mit Freunden nicht genauso angezogen ist. Das ist nicht spießig gemeint, es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir es hier mit einer sehr ungezwungenen, menschlichen, alltäglichen Handlung zu tun haben. Im Hintergrund Sternenbilder. 905 Oder auch: Blue-Screen, nackte Glühbirnen und Lampen als Erleuchtung im Bild-- so sieht typisches Kluge-Setting aus. Einmal sicher als Komik durch die profane Allegorie von „Mir geht ein Licht auf “/ „Ich habe eine Idee“. Einmal aber auch aus minimalistischen, sozusagen Anti-Hollywood-Gründen. Der Gedanke des „professionellen Nichtprofessionalismus“, ein zentrales Anti- Ideal des Jungen Deutschen Films, das sich wohl zuerst bei den russischen Formalisten findet, korrespondiert allein schon morphologisch mit Adornos Ausdruck des „methodisch unmethodischen“ Verfahrens. 906 Gerade zum Film gehöre es, „dass er sich entreichert“ und „hinter seine Produktivkraft zurücktritt“-- „um der Kunst“ und „um der Ehrlichkeit willen“. 907 „Deshalb Methode: ja, aber antiprofessionalistisch, mit aller Imperfektion: ‚cinéma impur’.“ 908 Professioneller Nichtprofessionalismus heißt deshalb auch: das hässliche Ästhetische, das Hässliche als Bruch mit dem klassischen Ästhetikbegriff des Schönen. Beide, die hässliche wie auch die schöne Ästhetik, sind bei Kluge gleichberechtigte Teile der Formensprache. Den Hintergrund dieser Haltung der Unglätte erläutert er folgendermaßen: „Wir nahmen damals-- anders als es Gewohnheit in der Filmindustrie ist-- aus Aberglaube und auch um uns selbst im schöpferischen Streß zu halten, jede Szene nur einmal auf. Ist nämlich jede mißlingende Szene ersetzbar und gelangt der Film nicht beim Schnitt in 904 Sannwald, Daniela: „Kluge-Land, revisited. Ungewöhnliche Studien über deutsche Gegenwart und Vergangenheit: der Filmemacher Alexander Kluge“, in Ray-- Filmmagazin, 2 / 07 . Link: http: / / www.ray-magazin.at/ magazin/ 2007/ 02/ dossier-alexander-kluge-kluge-landrevisited [Zugriff: 04 . 12 . 2012 ]. 905 Kluge, Alexander: „Ovid, der Dichter ohne Ehrfurcht. Begegnungen mit einem der stärksten Autoren der Antike“, in ders.: News und Stories vom 06 . 05 . 2007 . 906 AGS 11 , S. 21 . 907 Kluge, Alexander: „Zur Theorie des Films“, in ders./ Negt, Oskar: Kritische Theorie und Marxismus. Radikalität ist keine Sache des Willens sondern der Erfahrung. Den Haag (Rotdruck) 1974 , S. 57 . 908 Sklavin, S. 220 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 239 die Krise, wird er fett und stellt sich zwischen den Zuschauer und den lebhaften Impuls, den wir (17 sind es am Drehort) bei den Dreharbeiten empfanden.“ 909 Es geht nämlich nicht um die Szenerie, sondern die „Verantwortung“, so Kluges Vokabular, liegt im Sichtbarmachen zwischenmenschlicher Beziehungen. 910 Und dies ist nicht umzusetzen durch ein Spiegeln im Sinne eines überzeichneten Nachspielens, sondern dadurch, dass man bereitwillig Brüchigkeit und Absurdität durchsickern lässt, was grundsätzlich heißt, Fehler, Menschlichkeit zuzulassen. Retro-Science-Fiction-Trash Auch persönlich verspürte Kluge den Antirealismus des Gefühls, der bereits angedeutet worden ist und der noch eingehend in Kapitel 2 . 6 . 3 besprochen wird: Die Pseudo-Science-Fiction-Phase Kluges war eine „Realitätsflucht“ 911 nach dem Auseinanderfallen des Instituts für Filmgestaltung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und fehlender Strukturen für die Umsetzung weiterer Kollektiv-Produktionen. Vor den zahlreichen seriösen Gesprächen mit Wissenschaftlern und Zukunftsforschern- - exemplarischerweise sei hier hingewiesen auf „Das schockgefrorene Böse“ 912 , wo es um ein Gespräch geht, dass der Mensch eines Tages auf Basis von Nano-Rechnern das Universum domestizieren könnte und so etwa die Stellung der Sterne neu arrangiert-- hatte Kluge eine beinahe legendäre Science-Fiction-Phase im Retro-Trash-Stil. Allen voran der Kultfilm Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte von 1971 mit Alfred Edel in der Hauptrolle sei hier genannt. Der klugesche „professionelle Nichtprofessionalismus“, der sich aus Prinzip und mit subversiver Kraft jeder Illusionswirkung, jeder technischen Perfektion und jedem linearen Handlungsbogen verwehrt, ist hier in seiner ganzen Schwerelosigkeit zu erleben: bewusster Einsatz billiger Effekte, alberner Kostüme, unglaubwürdiger Drehorte oder „misslungener“ (richtig: natürlicher) Szenen, die im Hollywood-Film höchstens als Outtakes auf der Bonus- DVD gezeigt werden (also z. B. ein Lachanfall, mit der sich der Schauspieler aus seiner Rolle lacht). 909 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 102 . 910 Alexander Kluge in: „Über den Weg zum ‚Mittelweg’ und andere Filme. Vorarbeiten/ Drehbuch/ Drehen/ Schnitt/ Godard“, Gespräche mit Alexander Kluge, in Filmkritik, Nr. 240 , 12 / 1976 , S. 567 . 911 Vgl.: Kluge in Herzog/ Kluge/ Straub, m. Beitr. v.-Ulrich Gregor, Peter W. Jansen, Wolfram Schütte u. a., i. d. R. „Film 9 “. München/ Wien (Hanser) 1976 , S. 176 . 912 Kälte, S. 48 - 52 . 240 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 2.5.4.4 Der Entmystifizierung des Schicksals geht die des Dramas voraus-- Konstellative Dramaturgie In der linearen Erzählung ist das Schicksal schon besiegelt. In dem Sinn, dass das Drama nichts kennt außerhalb seiner selbst, ist es absolut. Der Autor darf nicht zu spüren sein, die Kunst sich nicht als Künstliches verraten. Der Rezipient ist passiver Betrachter, in keinster Weise miteingebunden. Selbstverständlich haben wir es dennoch mit einer kommunikativen Situation zu tun, besonders wenn es einen Erzähler gibt, wie bereits im aristotelischen Theater („la règle de bienséance“ 913 ). Mit Erfüllung des Ziels der Illudierung jedoch, kann der Rezipient im Spiel aufgehen. „Das Verhältnis Zuschauer-Drama kennt nur vollkommene Trennung und vollkommene Identität, nicht aber Eindringen des Zuschauers ins Drama oder Angesprochenwerden des Zuschauers durch das Drama“, wie bei Peter Szondi zu lesen ist. 914 Die Form des Absoluten zeigt sich konkret etwa in der Zeitlichkeit, in der Räumlichkeit und in der Bühnenform. Das dramatische Schauspiel hat einen Anfang und ein Ende, ist durch diese klare Rahmensetzung getrennt von den wirklichen Zuständen. Die Distanz Bühne/ Zuschauer gewahrt zugleich die Distanz Spiel/ Wirklichkeit. Um die erwähnte Maxime des Authentischen sicherzustellen (die Kunst muss ihr Kunstsein verbergen), darf das Produktionsverhältnis zwischen Darsteller und Rolle nicht wahrnehmbar sein. Gefordert ist daher der „dramatische Mensch“ 915 . Das Drama weiß nichts von Abbild und Zitat, nichts von Zufall oder Variation. Es ist primär, originär und stellt immer nur sich selbst dar. Seine Zeit ist die Gegenwart, sein Zeitablauf die „absolute Gegenwartsfolge“ 916 . In jedem Augenblick jedoch trägt diese Gegenwart auch einen „Keim der Zukunft“ 917 in sich, ermöglicht durch Dialektik, die wiederum durch das Zwischenmenschliche erzeugt wird. Wenn in Szondis Maßstabe setzender Dramentheorie die Rede ist vom absoluten Raum, der keinen Zufall und keine „Motivierung“ zulässt, 918 so ist dies doch zugleich auch eine Beschreibung des unfreien Charakters des Dramas. Der Durchbruch mittels Reflexion, der Ausbruch aus dem 913 Die „Sittlichkeitsregeln“ stammen aus der Französischen Klassik und wurden begrifflich von Nicolas Boileau ( 1636 - 1711 ) geprägt, der seine, übrigens gereimten, Theorien auf der aristotelischen Poetik aufbaute. „Ce qu’on ne doit point voir, qu’un récit nous l’expose- : / Les yeux en le voyant saisiront mieux la chose- ; / Mais il est des objets que l’art judicieux/ Doit offrir à l’oreille et reculer des yeux“ (Boileau, Nicolas: L’art poétique. 1674 . Hg. v.-Guy Riegert. Paris (Larousse) 1972 . III. Gesang, Z. 51 - 54 ). 914 Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1963 , S. 16 . 915 Ebd. 916 Ebd., S. 17 . 917 Ebd. 918 Vgl.: ebd. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 241 determinierten Schicksal, das die Dramenform hergibt, ist ein emanzipatorischer Akt des Schauspielers, dann des Stücks, bald des Theaters selbst, bevor es auch die Zuschauermenge erreicht. Als Spiegel der Gesellschaft steht das epische und das daran anschließende postdramatische Theater so gesehen ästhetisch Modell für Mündigkeit und Freiheit- - mit eindeutig formulierter affizierender Absicht zumindest bei erstgenanntem. Während die Energie des aristotelischen Zuschauers durch dessen Illudierung in das Stück aufgesaugt wird („verwickelt [in] eine Aktion“, „verbraucht seine Aktivität“ 919 ), will das epische Theater diese erstens nicht selbst aufzehren, sondern zweitens anregen, sie auf gesellschaftliche Verhältnisse umzuleiten. Das entscheidende Novum der brechtschen Theaterrevolution ist die Frage nach dem Aktionsreservoir des Betrachters. Anders als bei Brecht verzichtet Kluge jedoch auf die Fabel und ein Moralisieren der Medien; auch die erhöhte Stellung der Ratio bei Brecht (das ändert sich zugegebenermaßen dann beim späteren Brecht) ist nicht im klugeschen Sinne. Hingegen: Kommuniziert die Bühne direkt mit dem Publikum, ist für einen Moment „unmittelbare Öffentlichkeit“ Realität. Dies veranschaulicht Kluge in seiner Rede beim Berliner Theatertreffen im Mai 2014 anhand einer autobiographischen Anekdote über seine erste Theater-Erfahrung, als er nämlich als Vierjähriger von einem Schauspieler während des Spiels gefragt wurde, ob er denn auch richtig aufpasse. „Handlung ist Tarnung“, sagt Kluge, und verwendet sie nach eigener Aussage eher als einen Gestus der „Höflichkeit gegenüber den Zuschauern“, die eine erwarten. 920 Und wer Kluges Filme kennt, weiß, dass sie zum größten Teil unhöflich sind, dass sie nicht hofieren, sondern dass sich Handlungsfäden einfach verlieren, aufdröseln, ins Absurde geführt oder einfach nie wieder aufgegriffen werden. Der dramatischen Spannung setzt Kluge die gravitativen Kräfte seiner Konstellationen entgegen. Kluges metamorphe Orchestrierung erinnert an Performance Art, an performance avant la lettre, die niemals gleich erscheint, wodurch übrigens auch die Vergänglichkeit eines Zeitverlaufs zur Darstellung gelangt. Zur Darstellungsform von „Zeit“, die ein elementares Thema im Werk Kluges darstellt, ist grundsätzlich zu sagen, dass ihr Wesen, also ihr Dauern, Wandeln und Vergehen, inhaltlich wie szenisch zum Ausdruck gebracht wird. Linearität wird durch die weitgehende Aufhebung des Dramatischen, durch Anachronie in der Abfolge und den spielerischen Wechsel von Raum und Zeit offensiv angegriffen und aufgebrochen. Das klu- 919 Brecht, Bertolt: Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, in ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1964 . Bd. 17 : „Schriften zum Theater III“. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1967 , S. 1009 f. 920 „Die Funktion des Zerrwinkels“, S. 119 . 242 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln gesche Theater ist, will man es unbedingt einordnen, am ehestens eines zwischen epischem und postdramatischem und darüber hinaus: konstellative Dramaturgie. Kluge und Negt kritisieren im Habitus des Dramas und seiner Aufführung Zwangstendenzen, die wirkliche Erfahrungen hemmen. Sozusagen fällt am Ende aus der Flinte an der Wand schicksalhaft der Todesschuss: „Der ‚dramaturgische Inzest’, d. h. der Grundsatz, dass eine im Bühnenbild vorhandene Tür im Theaterstück auch benutzt werden muß, dass an einen im Bühnenbild vorhandenen Kleiderhaken irgendwann ein Kleidungsstück gehängt wird, dass eine im Drama auftretende Person mit anderen Personen des Dramas in Beziehung treten muß, ist das Kennzeichen einer Wertabstraktion, die die meisten Formen der bürgerlichen Kunst und Ausdruckstradition bestimmt. Es herrscht hier ein Primat der Ökonomie, welcher Erfahrung, Wirklichkeit vom Handlungsfaden wegdrängt.“ 921 In der Ökonomie einer Handlung ist die Rezeption bereits vorprogrammiert: „Es bildet sich auf Grund des roten Handlungsfadens eine Hierarchie der Aufmerksamkeit.“ 922 „Die lineare Einzelverknüpfung nach Ursache/ Folge beschreibt ein Resultat, nicht die Bewegung.“ 923 Demzufolge haben wir es bei den klugeschen Arbeiten mit Entdramatisierung und Entkausalisierung zu tun, was ja auch das postdramatische Theater kennzeichnet. Statt dass sich die Erzählung steigernd auf einen Höhepunkt zuspitzt, unterbricht Kluge konsequent. Werden deshalb aber Emotionen wie Trauer, Wut, Mitleid usw. verhindert? Die Antwort lautet eindeutig nein, nur werden Emotionen nicht künstlich aufgebauscht, sondern stehen meist in unaufgeregter Darstellung für sich selbst. Besonders nachdrücklich wirken solche Inhalte in ihrer Diskrepanz zur protokollarischen Form, in der sie meist auftreten. So zerreißt beispielsweise in Ein Liebesversuch der Inhalt die äußere Form. Kluges Filme produzieren „nicht Aussagen, sondern Proportionen; einen Gegenstand, mit dem man sich auseinandersetzen kann.“ Etwas genauer werden Kluge und Reitz beim Erläutern einer Häuserräumungsszene in ihrem gemeinsamen Film In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, was zugleich das bewusste Festhalten eines Minimums an dramatischer Handlung beschreibt: „Inmitten des Kino-Alltags- […] drücken die Proportionen der wirklichen Häuserräumung die sonst neunzigminütige Spielhandlung zurück; zugleich halten wir an einem Rest von Kinohandlung fest, an der sich die Proportionen messen lassen (das Übergewicht objektiver Ereignisse), die aber auch, solange Menschen in ihren Köpfen Romane bewegen, etwas ununterdrückbar Reales ist.“ 924 921 UM, ÖE, S. 642 . 922 Ebd. 923 GE, S. 226 . 924 Kluge, Alexander: Sämtliche Kinofilme. 1961 bis 2007. 2053 Minuten. 16 DVD’s inkl. Bonus-Material und 116 -Seiten-Beibuch. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 2007 . DVD 7 , 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 243 Aufgelistet zusammengefasst: Hoffnung durch eine Chronologie der Anti-Linearität: „Das unabwendbare Ende, das jede glückliche Alternative ausschließt, hat seine Macht nur dann, wenn man von der Abgeschlossenheit der Anfänge ausgeht.“ 925 Geschichte darf nicht als Fortschritt gelesen werden, insofern Anachronismus in der Darstellung. Aufsprengung der aristotelischen Schicksalshermetik- - auch in der Wirklichkeit: „Den Einzelnen trifft sie real, als Schicksal. Aber sie ist kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas ganz anderes wollten und wollen. Insofern ist sie in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig wirklich und unwirklich. Wirklich und unwirklich in jeder ihrer einzelnen Seiten: kollektive Wünsche der Menschen, Arbeitskraft, Produktionsverhältnisse, Hexenverfolgung, Geschichte der Kriege, Lebensläufe der Einzelnen. Jeder dieser Ausschnitte für sich und alle zusammen haben antagonistische Eigenschaft: Sie sind eine reißerische Erfindung, und sie treffen wirklich.“ 926 Kurzgeschichten statt Roman „Die Geschichten sind sehr kurz. Das ist für mich die Bedingung für ein dickes Buch: dass die einzelnen Geschichten kurz sind-- und Konstellationen bilden.“ 927 Kluges Patchwork-Erzählungen (infinit, offen) stehen, im Geiste Julia Kristevas („Intertextualität“) und Jean-François Lyotards („Postmoderne“), der Idee des Jahrhundertromans (vollendet, geschlossen) diametral gegenüber. „Produktionsmittel und Erfahrungshorizont, d. h. die Erzählweise, müssen wiederum so produziert werden können, daß sie auf das partikelhafte ‚zerstreute’ Interesse der Leser antworten“, gibt Kluge in einer Fußnote rezeptionsästhetisch zu verstehen. 928 Im folgenden Verlauf beschreibt er deren Bedürfnisse: So würden die Leser seiner Ansicht nach, „wenn sie tagsüber arbeiten, vermutlich vorziehen, die Substanz von tausend Seiten oder des hochorganisierten Erinnerungsvermögens des Proustschen Werkes als Kurzgeschichte von höchstens ein bis zwei Din-A- 4- -Seiten zu lesen“. Diese früh im Werk auftauchende Beobachtung der Gewohnheiten und Interessen respektiert Kluge und nimmt sie so ernst, dass er sich darauf in der eigenen Produktion einstellt und die Maxime formuliert, dass es weder zu einer „Überkonzentration (übermäßige Textverdichtung durch Kürze)“ noch zu einer „Abstraktion (Digest, bloße diskursive Zusammenfassung)“ kommen dürenhanced, Textarchiv: Text von Alexander Kluge und Edgar Reitz zu In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod aus dem Kursbuch 41, Berlin (Rotbuch Verlag), 1975 . 925 Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin (filmedition suhrkamp) 2013 . Beiheft, S. 32 . 926 Ebd., S. 46 . Im Orig. fett hervorgeh. 927 Alexander Kluge in: Philipp, Claus: „Ein Kapitän soll aufpassen, wohin er fährt“, in Falter, Wien 6 / 2012 vom 08 . 02 . 2012 , S. 22 . 928 Sklavin, S. 221 , Fußn. 5 . 244 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln fe. 929 Heißt also: nicht zu wissenschaftlich, nicht zu luftig, nichts verkomplizieren, nichts verkürzen. In gewisser Hinsicht tritt Kluge in den Zeugenstand und erzählt getreu, was geschehen ist: „Je entschlossener der Autor den Menschen ‚von außen’, aus der Perspektive der Wirklichkeit zeichnet, und, mit Hemingway, nicht die Gefühle, sondern die Dinge selbst schildert, die die Gefühle erregen; je konsequenter er auf alle psychologischen Erklärungen verzichtet und sich, nicht als allgewaltiger Richter, sondern als mitbeteiligter Zeuge, allein auf seine Erfahrung beruft, desto unverhüllter wird er die Diskrepanz zwischen Zugriff und Reaktion, elementarer Bedrohung und menschlicher Behauptung darstellen können.“ 930 Der Lakonie, dem Textkonzentrat gegen die ausschmückende Phrase auf der einen Seite, muss das Thekengespräch zur Seite gestellt werden. „Die Substanz verdrängt die Grammatik“, 931 so Kluge über Tacitus versus Cicero-- und indirekt auch über sich selbst: „Wenn ich in einem Text mit einem Gedanken den Leser provozieren will, sich mit eigener Erfahrung und eigenem Gefühl die Komplexität dieses Gedankens selber anzueignen, dann habe ich die Neigung, die dünnste Formulierung zu wählen, die überhaupt möglich ist.“ 932 Heinrich Böll, der mit der Arbeit Kluges allein schon durch seine Drehbucharbeiten bei den Kollektivfilmen Deutschland im Herbst ( 1978 ) und Krieg und Frieden ( 1982 ) in Verbindung steht, äußert sich folgendermaßen zur modernen Qualität der Kurzgeschichte: „Ich glaube, daß sie im eigentlichen Sinn des Wortes modern, das heißt gegenwärtig ist, intensiv und straff. Sie duldet nicht die geringste Nachlässigkeit, und sie bleibt für mich die reizvollste Prosaform, weil sie auch am wenigsten schablonisierbar ist. Vielleicht auch, weil mich das Problem ‚Zeit’ sehr beschäftigt, und eine Kurzgeschichte alle Elemente der Zeit enthält: Ewigkeit, Augenblick, Jahrhundert.“ 933 In ihrer Konzentrationsleistung „von höchstem künstlerischen Anspruch“ 934 ist die Short Story mit ihrer lyrischen Dichte und gleichzeitig prosaischen Struktur so etwas wie ein Kuppler zwischen Lyrik und Epik. In ihrer Historizität gilt die Kurzgeschichte „engstens auf die deutsche Nachkriegsliteratur bezogen“, 935 was im Fall Kluge allen voran durch das Stalingrad-Buch Schlachtbeschreibung ( 1964 ) sowie 929 Ebd. 930 Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen (Neske) 1957 , S. 20 . 931 Kluge, Alexander/ Müller, Heiner: „Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräche. Hamburg (Rotbuch) 1995 , S. 19 . 932 GE, S. 142 f. 933 Heinrich Böll in Bienek, Horst: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München (dtv) 1965 , S. 170 . 934 Durzak, Manfred: Die Kunst der Kurzgeschichte: zur Theorie und Geschichte der deutschen Kurzgeschichte. München (UTB/ Fink) 1994 , S. 62 . 935 Ebd. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 245 Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 ( 2008 bzw. in Neue Geschichten, 1977 ) nachgewiesen werden kann. In der Literaturwissenschaft ordnet man sie, also die Kurzgeschichte, einer „kommunikativen ‚demokratischen Literatur’“ zu, da sie in ihrer Distribution und Konsumtion anti-elitär strukturiert ist. 936 Ein sehr konkretes Bewusstsein dieser Qualität zeigt sich in Kluges einstigem Vorhaben, u. a. mit Arno Schmidt Groschenhefte zu vertreiben. 937 Die Kurzgeschichte zeugt, und das trifft auf Kluge insbesondere zu, von einem Realitätsbezug, der auch das Unbewusste und Verborgene involviert: Sie „ist realistisch im Ansatz, da sie überwiegend ihre Stoffe aus der Wirklichkeitserfahrung ihrer Leserschaft nimmt, wobei die Gestaltung dieser Wirklichkeitserfahrung durchaus auch jene Bereiche miteinschließt, die als Phantasieräume, als Wunschbilder, als Träume die äußerlich sichtbare Dimension der Wirklichkeit ergänzen.“ 938 Aufgrund dieser „Erkenntnisintention“, mit der die Kurzgeschichte „Gesellschaft und Wirklichkeit analysiert, entlarvt und zu verändern aufruft“ ist sie prinzipiell als kritisch einzustufen. 939 „Durch das bedeutungsgeladene einzelne Wort oder einzelne Satzbild“ muss sich die Kurzgeschichte „Bedeutungsspielräume“ schaffen, „die im Text nur gestisch gestaltet sind“ und, hier meinen wir sofort Kluges Vokabular zu erkennen (dabei ist es das von Manfred Durzak), „sich aus den Lücken und Zwischenräumen zwischen den Wörtern und Sätzen ergeben.“ 940 Wurfsendungen gänzlich autonomer Textform wie die Gastbeiträge Reinhard Jirgls in Kluges Das Bohren harter Bretter und 30. April 1945 unterstützen die Poetik der Unterbrechung, die als Ausbruch, als Befreiuung verstanden wird. Exakt durch diese Bruchkanten, auf die Kluge so vehement hinweist, wird es möglich, einen „Erkenntnishorizont“ aufzumachen, der „über die Lektüre der spezifischen Geschichte“ hinausragt und „von der Denkbewegung des Lesers aufgenommen wird“. 941 „Zwischen der dritten Person Balzacs und der Flauberts liegt eine ganze Welt (die von 1848).-[…] Die Modernität beginnt mit der Suche nach einer unmöglichen Literatur.“ 942 Der Roman ist für Barthes ein „mythologisches Objekt“, 943 ja gar „ein Tod“, 944 weil er „aus dem Leben ein Schicksal“ macht, „aus der Erinnerung einen nützlichen Akt 936 Vgl.: ebd. 937 Vgl.: Das Kapitel 2 . 5 . 2 („Ästhetische Theorie und Praxis bei Kluge“). 938 Durzak, Manfred: Die Kunst der Kurzgeschichte: zur Theorie und Geschichte der deutschen Kurzgeschichte. München (UTB/ Fink) 1994 , S. 62 . 939 Ebd., S. 63 . 940 Ebd., S. 62 . 941 Ebd., S. 63 . 942 Barthes, Roland: „Schreibweise des Romans“, in Wagner, Karl (Hg.): Moderne Erzähltheorie: Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart. Wien (WUV) 2002 , S. 161 . 943 Ebd., S. 159 . 944 Ebd., S. 162 . 246 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln und aus der Dauer eine gelenkte bedeutungsvolle Zeit.“-- Eine Betrachtung, die, beiläufig bemerkt, durchaus übertragbar ist auf die Bedeutung der Geradlinigkeit unserer Lebensläufe in der Arbeitswelt. Adornos Ideal des Anti-Romans besteht in ästhetischer Einmischung statt in Distanz, was etwa durch ein Vermischen von Handlung und Kommentar gelingen kann. 945 Letzteres, auch ein Element des epischen Theaters, lenkt in gewisser Weise die Interpretation, gibt Hinweise und kann dadurch das Bedeutungsspektrum entweder eingrenzen oder ausweiten. Eine glanzvolle Hochzeit von Roman und Historiografie jedoch beobachtet Roland Barthes im 19 . Jahrhundert, und nennt sogleich mit Balzac und Michelet bewusst einen ihrer jeweiligen Hauptvertreter in einem Atemzug. 946 Beide Bereiche agieren wie Sammler und beide haben sie „große Werke“ von „kugelförmiger Gestalt“ hervorgebracht. 947 Gerade Balzacs multipersonales „‚Er’“ entfaltet die geschichtliche Gewordenheit der Welt und ihrer Ich-Existenzen, indem er keine ästhetische Gewalt anwendet und so dem Eigentlichen zur Sichtbarkeit verhilft: „[E]s ist das originale unbearbeitete Element des Romans selbst, das Material, nicht die Frucht der Schöpfung.“ 948 Im Mittelpunkt steht die Herstellung des Kontakts zwischen Geschichte und Individuum: „Wenn im Innern der Erzählung die Erzählvergangenheit durch weniger ornamentale, frischere, dichtere, dem gesprochenen Wort nähere Formen (das Präsens, das Perfekt) ersetzt wird, wird Literatur zum Bewahrer der Dichte der Existenz und nicht zum Verkünder ihrer Bedeutung. Zwar mögen dann die Akte von der Geschichte abgetrennt sein, sie sind es aber nicht mehr von den Personen.“ 949 Spätestens jetzt wird vorstellbar, was Gegenproduktion konkret heißt. Nämlich Geschichte „von unten“ zu erzählen, mit der Hilfe aller Mittel der Kunst und durch ein kooperativ-konstellatives Zusammenwirken von Künstlern, Kunstwerken und Rezipienten: „Es gilt aber Folgendes: Entweder erzählt die gesellschaftliche Geschichte ihren Real- Roman, ohne Rücksicht auf die Menschen, oder aber Menschen erzählen ihre Gegengeschichte. Das können sie aber nicht, es sei denn in den Komplexitätsgraden der Realität. 945 Vgl.: Adorno, Theodor W.: „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“, in Wagner, Karl: Moderne Erzähltheorie: Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart. Wien (WUV) 2002 , S. 167 - 180 . 946 Vgl.: Barthes, Roland: „Schreibweise des Romans“, in Wagner, Karl (Hg.): Moderne Erzähltheorie: Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart. Wien (WUV) 2002 , S. 153 - 166 . 947 Ebd., S. 156 . 948 Ebd., S. 160 . 949 Ebd., S. 158 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 247 Das fordert im wörtlichsten Sinne den ‚Kunstgegenstand’, ein Aggregat von Kunstgegenständen. Sinnlichkeit als Methode ist kein gesellschaftliches Produkt.“ 950 Ausbruch der Schrift aus ihrem Zeichensystem Abb. 9: „Soll das besagen, dass an einem bestimmten Punkt des Unglücks Liebe nicht mehr zu bewerkstelligen ist? “ Die Zwischen- und Springtitel (caption bzw. flash title) erinnern an die Stummfilmzeit, den Anfang des Kinos, der verhältnismäßig noch moderatkapitalistischer Art ist. Die Schrift wird durch den Wechsel des Mediums in ihrer Präsenz aufgewertet. Manche Kurzfilme funktionieren ausschließlich mit diesem Prinzip, das bei Kluge als eigenständiges mediales Ereignis erscheint. Ein Terminus technicus sollte hierfür gefunden werden, ein Begriff, der das Dazwischen von Schrift(-gestaltung) und filmischer Abfolge etikettiert. Als Vorläufer ist die visuelle Poesie oder auch visualisierte Literatur zu sehen, als verwandtes Phänomen die visual music. Mit seiner Typo-Art befördert Kluge die Semantik ins Visuelle, „exzentrische Bildlichkeit“ 951 der Schrift, würde Benjamin sagen. Die lautmalerischen wie symbolhaften Zwischentafeln erheben die Sprache zum Akteur, welcher illustern überspielt, um die Metaphorik der Sprache und unser Vergessen ihrer Geschichte sichtbar werden zu lassen. In einem Kluge-Film ist das Phänomen „Schrift“ nicht als Statisches, sondern als ein Dynamisches zu erleben. Da Kluge die Schrift aber nicht nur gestalterisch visualisiert, sondern animiert, gleichermaßen nicht die übergeordneten Medien, der Film und schließlich TV / Internet außer Acht gelassen werden dürfen, empfiehlt sich hier der gänzlich unbeachtete Begriff des „Schriftfilms“, der auch die 950 Diese Argumentation findet sich u. a. hier: Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin (filmedition suhrkamp) 2013 . Beiheft, S. 54 . 951 BGS IV. 1 , S. 104 . 248 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln animierte Typographie beachtet. 952 „‚Liebesversuch’ [ist] ein erschütterndes typografisches Meisterwerk.“ 953 Interessant ist eine Bemerkung seitens Gunther Martens, der mit technischen Hilfsmitteln herausfand, dass selbst die Fonts, d. h. die Schriftarten in Kluges Werk mit Bedeutungen aufgeladen sind. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Das dctp- Logo geht auf eine Typographie aus dem Ulmer Institut für Filmgestaltung zurück (hier wird also etwas fortgesetzt), das übrigens von der Geschwister-Scholl-Stiftung kofinanziert worden ist. Zudem sind die, nennen wir sie einmal „Schlagzeilen“ in den Fernsehbeiträgen Kluges Fonts, die typisch für Printzeitungen sind (mittlerweile eher ältere als neue). Heißt also, das Medium der klassischen Tageszeitung wird ins Digitale transportiert und hier erhalten bzw. verweist der digitale Text also auf die Gutenberg-Galaxis. 954 Zwei weitere Dinge bleiben noch wichtig, benannt zu werden: Da ist zum einen die Ebene der didaktischen Unterbauung des Films, was an Piscators und Brechts Anwendung von Lehrtafeln im Theater zumindest erinnert. Dies geschieht bei Kluge allerdings weniger plakativ oder demonstrativ und wirkt dadurch auch eher nicht belehrend. Zum anderen der Einsatz eines Art Newstickers, der in Fords Fließbandmanier am unteren Bildrand läuft, doch statt der aktuellen Börsenstände (kalte Information) Narration (warme Information) wiedergibt. 2.5.5 Erzähltheorie und Geschichtsschreibung Es ist, als würde Walter Benjamin Alexander Kluge über die Schulter gucken, wenn er sagt: „Ein zentrales Problem des historischen Materialismus, das endlich gesehen werden sollte: Ob das marxistische Verständnis der Geschichte unbedingt mit ihrer Anschaulichkeit erkauft werden muß? Oder: auf welchem Wege es möglich ist, gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden. Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus den kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten 952 Weiterführende Literatur zum Thema: Scheffer, Bernd/ Stenzer, Christine (Hg.): Schriftfilme. Schrift als Bild in Bewegung, in Bild und Schrift in Bewegung, Bd. 16 . Bielefeld (Aisthesis) 2009 ; Friedrich, Hans-Edwin/ Jung, Uli (Hg.): Schrift und Bild im Film. Bielefeld (Aisthesis) 2002 .; Paech, Joachim: „Vor-Schriften-- In-Schriften-- Nach-Schriften“, in Ernst, Gustav: Sprache im Film. Wien (Wespennest) 1994 , S. 23 - 40 . 953 Lueken, Verena: „Auf der Suche nach einer praktisch-realistischen Haltung. Bilden Sie sich einen weiteren Begriff von Deutschland, den Menschen, der Geschichte und dem Kino: Alexander Kluges gesamtes filmisches Werk“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04 . 09 . 2007 . 954 Vgl.: Martens, Gunther: „Alexander Kluge and Distant Reading.“ Vortrag im Rahmen der internationalen Konferenz Reading/ Viewing Alexander Kluge’s Work am 13 . 12 . 2013 an der Université de Liège. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 249 Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. Also mit dem historischen Vulgärnaturalismus zu brechen. Die Konstruktion der Geschichte als solche zu fassen. In Kommentarstruktur.“ 955 Kollektive Erinnerung steht aufgrund ihres makrologischen Weltzugangs in einem Spannungsverhältnis zur individuellen Erfahrung. Kluge beschreibt dieses ohnmächtige Gefühl des Menschen gegenüber der Eigendynamik von Geschichte als ein subjektiv-objektives Verhältnis: „In der Nähe, die uns erfahrbar ist, finden die Entscheidungen nicht statt.“ 956 In der für die Erfahrung unzugänglichen Ferne hingegen sind „die wirklich großen Schläge“ zu verzeichnen. Kluge bildet einen herrschaftsfreien Erzählraum, indem er die Elemente beider Seiten orchestriert. Mittels Montage werden, ähnlich der Funktionsweise eines Kaleidoskops, die objektiven Dokumente ebenso dionysisch zersplittert wie die subjektiven Erfahrungen, jedoch nur um sie im nächsten kairos-gleichen Moment apollinisch neu zusammenzusetzen; illuminierte Farb- und Formenfelder markieren Ränder ihrer zusammenhängenden-- nicht verschmolzenen-- Einzelteile. Durch das narrative Element ihrer Komposition schließlich gehen die zuvor auseinandergerissenen Wirklichkeitsfetzen einen Dialog ein: „In dem Nebeneinander der Texte befinden sich sowohl verschiedene Klassen als auch verschiedene Zeiten im Gespräch und im Konflikt sowie die verschiedensten Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit, von der Reflexion bis zu den Formen des Ausdrucks des Unbewußten, vom Abstraktesten zum Konkretesten.“ 957 Diese textimmanente Kommunikation ist nicht nur durch Herrschaftsfreiheit, sondern auch durch den Verzicht auf Wertung gekennzeichnet, 958 wodurch die Dinge nicht nur einander kommentieren, sondern auch für sich selbst sprechen, ohne dass es eines bevormundenden Dazutuns eines Autors bedarf. Daraus wird ersichtlich, wie die denkerische Eigentätigkeit des Rezipienten angeregt und geachtet, das Subjekt aufgewertet wird. In Geschichte und Eigensinn beschreiben Kluge und Negt mit für Kluge selbstreferenzieller Tragweite, wie mit dem Ende des 2 . Weltkriegs und den vier unterschiedlichen, z.T. ja völlig entgegengesetzten Besatzungsmächten, der Geschichtsunterricht (und nicht nur dieser) improvisiert werden musste, da sich der letzte 955 BGS V. 1 , S. 575 . Eig. Hervorh. 956 Kluge, Alexander: „Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle“, Rede zur Verleihung des Fontane-Preises in der Berliner Akademie der Künste, 1979 . In ders.: Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde-- Zur Grammatik der Zeit. Berlin (Wagenbach) 1987 , S. 10 . 957 Weidauer, Friedemann J.: Widerstand und Konformismus. Positionen des Subjekts im Faschismus bei Andersch, Kluge, Enzensberger und Peter Weiss. Wiesbaden (Deutscher Universitäts-Verlag) 1995 , S. 104 . 958 Hierauf weist bspw. auch Weidauer hin (ebd., S. 104 f.). 250 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Lehrplan erübrigt hatte und ein neuer noch nicht ausgehandelt, bestimmt war. So stellten Berliner Lehrer deutsche Geschichte „nicht nach geschichtlichen Quellen, sondern nach literarischen dar: Kleist, Goethe, Lessing, Heinrich Mann usf.“ Literatur erweist sich in dieser äußerst gegenständlichen Zeit einer Realitätslücke als „eine besonders intensive Zone der Lehrfreiheit“, als Träger von Geschichte. 959 In Öffentlichkeit und Erfahrung wird überzeugend erörtert, weshalb selbst Nachrichtensendungen oberflächlichen Unterhaltungscharakter haben. Durch Verkürzung, Raffung und Zeitzwang (besonders: Newsflash-Formate) entstehen Abstraktionsgrade, die eine Kontaktaufnahme mit den Erfahrungsgehalten und ihren Trägern blockieren. Der Amorphismus des gegenwärtigen, globalen Kapitalismus wird pseudo-anschaulich reproduziert. Unmöglich gemacht wird ein „sinnlicher Eindruck“ und somit Empathiefähigkeit, unmöglich wird also letztendlich auch, aus der Erfahrung anderer klug zu werden. Kluge illustriert das etwa so: „Todesfälle, über die kurz berichtet wird, lösen keine Erschütterung aus. Summieren sie sich in der Tagesschau (z. B. 87 Tote bei einem Flugzeugunglück, 500 getötete Vietkong, ein Alterspräsident, ein namhafter Wissenschaftler, zwei tödliche Autounfälle), so erhalten sie die Abstraktion einer Leichenzählung, des bloßen Registrierens.“ 960 Es fehlt die Narration, die im Gegensatz zum Protokoll eine Erfahrungsübertragung möglich macht: „Hierzu müsste wirkliche Geschichte erzählt werden; erst sie konstituiert die Nachricht wirklich.“ 961 Immer ersichtlicher wird somit die nicht zu unterschätzende Bedeutung der gesamten klugeschen narrativen Nachrichtenproduktion-- „Erlöst die Fakten von der menschlichen Gleichgültigkeit“. Ein verwandtes Problem ist, dass, ähnlich wie durch Arbeitsteilung, ein höherer Grad an „Professionalität“ tendenziell „zur Verarmung an wirklicher Erfahrung“ führt. 962 Kluges Ästhetik des professionellen Nichtprofessionalismus und die Vielfalt an Sprachen und Dialekten, dazu die Vielfalt an Berufen in seinen Interviews und Interview-Spielen, nicht zu vergessen sein Freilegen von individuellen Erfahrungssplittern-- all das beschränkt die Gefahr einer „Trennung von den Zuschauern“ und deren „wirklichen Lebensbereichen“ auf ein erstaunlich geringes Maß trotz (oder wegen? ) seines Kulturfernsehens. Heiner Müller sagt in einem Gespräch zu Kluge: „Kultur kommt nur von den Verlierern und aus der Niederlage. Das produziert Kultur. Die Sieger haben noch nie Kultur produziert.“ 963 Ein bemerkenswerter Gedanke, der im Übergang und in 959 Vgl.: GE, S. 380 . 960 UM, ÖE, S. 482 . 961 Ebd. Kluge verweist an der Stelle übrigens auf Hans-Joachim Piechotta, „Antwort auf Enzensbergers Medientheorie“, in Ästhetik und Kommunikation, Heft 2 , 1970 , S. 34 . 962 Kluge bezieht sich auf die Fernseh-Kritik von Karl Holzamer: UM, ÖE, S. 481 f. Fußn. 28 . 963 Kluge, Alexander/ Müller, Heiner„Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräche. Hamburg (Rotbuch) 1995 , S. 81 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 251 aller Konsequenz zum nächsten Absatz die Frage in den Raum stellen muss: Ist das vielleicht wirklich so gegeneinanderzustellen: Die Sieger sind die Produzenten der Geschichte und die Verlierer die der Kultur? Und daran anschließend: Kann Kultur Geschichte nicht mitproduzieren? Der Glaube an eine objektive Geschichtsschreibung ist nichts als eine Chimäre, denn er verkennt, dass jede Generation seine eigene Reflexion und Interpretation von historischem Material betreibt. Benjamin vergleicht jene „Wechselfälle der Geschichte“ mit einem „Kaleidoskop in der Kinderhand“, wo „bei jeder Drehung alles Geordnete zu neuer Ordnung zusammenstürzt“. 964 Es findet insofern eine ständige Aktualisierung von Geschichte statt, je nach Perspektive einer Gesellschaft oder einer Staatsmacht, will heißen eine ständige Veränderung von historischen Fakten, und deren Auslegung die in ihrer Semantik des Festen, Bestehenden und Wahren aufweichen. Kontrafaktische Realitäten sozusagen. Die Schreibung von Geschichte- - und diese ist mit der von Information und in letzter Konsequenz mit der von Wahrheit verknüpft- - wird generell aus der Perspektive der Machthaber verfasst. Ob diese nun sich als Sieger oder als Opfer inszenieren, ist einerlei, es ist beide Male eine Geschichtsschreibung „von oben“. Aufgrund dieser monoperspektivischen Parteilichkeit kommt es zu Defiziten am Geschichtsmaterial, das schon Balzac kritisiert und dem dieser mit einer sehr ähnlichen Idee wie Kluge begegnet. Im Grunde vergleichbar mit dem bürgerlichen Trauerspiel, durch das plötzlich das Private, Innere Einzug auf die öffentliche Bühne hält, arbeitet Kluge an der Geschichtsschreibung. Der „Antirealismus des Gefühls“ (Kapitel 2 . 6 . 3 ) erscheint nur deshalb auf den ersten Blick als unwirklich, weil er nicht genügend erforscht ist, nicht dokumentiert ist wie die kalten Daten und Fakten, schwieriger abzubilden ist. Diesem Versäumnis arbeitet Kluge analytisch wie ästhetisch entgegen. Da das vorhandene Dokumentationsmaterial also schlicht unvollständig ist, kann man beim Verstehensprozess nicht allein auf dieses vertrauen: „Jede dieser Geschichten, dieser Märchen in den ‚Metamorphosen’ von Ovid ist vertrauenswürdiger als eine Nachrichtensendung von heute, in der zumindest alles äußerst verkürzt erzählt wird.“ 965 Aufgrund dieses epistemischen Mangels interessiert sich Alexander Kluge besonders für die Froschperspektive, und das nicht nur als Filmemacher. Dem gleichgültigen Duktus von Zahlen und Dokumenten-- den Facts-- setzt er die poetische Kraft der menschlichen Gefühle und Phantasien entgegen. Diese sammelt er mit großer Beharrlichkeit seit über einem halben Jahrhundert ein und macht sie ästhetisch erfahrbar („Einzelmenschliche Existenz wird unter Konstellationen gedeutet, um Definitionen zu vermei- 964 Vgl.: BGS V. 1 , S. 428 . 965 Facts und Fakes. Aus: Unterschiede, S. 59 . 252 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln den.“ 966 ), etwa in seiner großen Chronik der Gefühle. Und weil sie über die Zeit nicht sonderlich beachtet, geschweige zuverlässig archiviert wurden, erfindet er als Autor auch welche dazu-- die Fakes. „Die Konstellation von Seiendem und Nichtseiendem ist die utopische Figur von Kunst.“ 967 - - Anknüpfend hierzu das direkt folgende Kapitel über „Autobiographie und Krieg“, das u. a. die Funktion der Facts und Fakes in einem größeren, ihrem poetologischen Zusammenhang beleuchtet (Mimesis, Imitatio). Der wahre „Chronist“, wie bei Benjamin zu lesen ist, erzählt die Ereignisse, „ohne große und kleine zu unterscheiden“ und erfüllt dadurch den Wahrheitsanspruch von Geschichte, für die nichts, „was sich jemals ereignet hat“ „verloren zu geben ist“. 968 Mit einer solchen Haltung verwandt, versteht nun Kluge unter dem Begriff „Nachrichten“ allgemein Dinge, die es „wert“ sind, „berichtet zu werden“, was derweil besonders für solche gelte, „die Verwunderung auslösen“. 969 Kluge definiert „Nachricht“ als eine „Mitteilung“, welche aus Gründen ihrer „Tagesaktualität“ „in einer Zeitung Platz findet“. 970 Dem entgegen stellt er das „Kunstwerk“, das eine „Wahrnehmung“ enthalte, „die man nicht Zeitung nennen würde“. Was er produziert, sind also ästhetische „Nachrichten über die Tagesgrenzen hinweg.“ 971 Der Althistoriker Christian Meier entwarf vor gut vierzig Jahren ein Konzept multiperspektivischer Geschichtsschreibung, eine räumliche, voller Querschnitte und mit stilistischem Anspruch. 972 Es verwundert nicht, dass sich Kluge mit ihm traf und ergänzte. 973 In Kultur, um der Freiheit willen 974 wird ein Prozess der Kulturbildung beschrieben, der in aller Regel Herrschaft als Voraussetzung hat. Meier macht bei der Geschichtsschreibung ein multisubjektives Moment aus. Sie sei nur möglich, „wenn sie mehrere Subjekte unabhängig aufeinander wirken“ lasse. 975 966 AGS 2 , S. 132 . 967 AGS 7 , S. 347 . 968 BGS I. 2 , S. 694 . 969 Alexander Kluge im Gespräch, in CdG (Hörspiel), CD 5 : „Schlachtbeschreibung“, Track 6 . 970 Kluge, Alexander: „Kritik an einem Kriegsausbruch durch Fragmentierung eines Gemäldes“, in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 36 . 971 30. April 1945, S. 125 . 972 Siehe: Meier, Christian: „Narrativität, Geschichte und Sorgen des Historikers“, in Koselleck, Reinhart/ Stempel, Wolf-Dieter: Geschichte- - Ereignis und Erzählung. Poetik und Hermeneutik, 5 . München (Fink) 1973 , S. 571 - 585 . 973 Christian Meier im Gespräch mit Kluge in: „Das Wunder der Antike- - Christian Meier über die Einzigartigkeit der griechischen Polis“, in News und Stories vom 20 . 06 . 2011 . Link: http: / / www.dctp.tv/ filme/ entstehung-der-polis/ [Zugriff: 01 . 11 . 2013 ]. 974 Meier, Christian: Kultur, um der Freiheit Willen. Griechische Anfänge-- Anfang Europas? München (Siedler Verlag) 2009 . 975 Christian Meier im Gespräch mit Kluge in: „Das Wunder der Antike- - Christian Meier über die Einzigartigkeit der griechischen Polis“, in News und Stories vom 20 . 06 . 2011 . Link: http: / / www.dctp.tv/ filme/ entstehung-der-polis/ [Zugriff: 01 . 11 . 2013 ]. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 253 Zudem wachse Geschichtsnarratologie in ihrer anspruchsvollen Form zu einem „literarischen Genus“, das die Vorstellungskraft aktiviert. Sie verfügt demzufolge über eine rezeptionsästhetische Qualität. Meier fügt ausdrücklich hinzu, dass es sich hierbei deswegen noch längst nicht um Populärwissenschaft handelt, sondern um Forschung. Kluge pflichtet ihm daraufhin bei: „Die Synthese ist eine Gegenprobe auf die Realität.“ Das, was Aristoteles noch dualistisch in den Historiker und den Dichter trennt-- „daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“ 976 - -, fügt sich bei Kluge also symbiotisch zu Einem: „Ein Mann lebt in der Kontinuität der Zeit. Er sieht sich verantwortlich gegenüber den Vorfahren und denen, die ihm nachfolgen. Das ist die Tugend des Chronisten, des Menschen mit Bewußtsein.“ 977 Es geht Kluge um die Aufarbeitung und Aktualisierung von Erfahrungen der Vergangenheit, der, auf den Schultern seines Riesen Adorno alle Zeiten überblickend, das „fiktive eindimensionale Jetzt“ 978 vertieft zum „Erkenntnisgrund des inneren Sinnes“. Auch das aristotelische Bild der Dichtung als das „Philosophischere und Ernsthaftere“ von beiden, da diese eher das Allgemeinere, die Geschichtsschreibung eher das Besondere mitteile, beginnt zu flimmern, wenn Kluge Hannelore Hoger als Geschichtslehrerin Gabi Teichert in Die Patriotin buchstäblich nach verschütteter deutscher Geschichte graben lässt. „Tiefbau-Arbeiten“ heißt das bei Benjamin (da kann man schon mal auf dem Weimarer Marktplatz auf mexikanische Kirchenspitzen stoßen). 979 Diese Verbindung des Begriffs der Archäologie in Bezug auf Geschichtsschreibung erinnert freilich an Michel Foucaults Kritik an deren fatalistischer Epik, der auf diese deshalb mit multiperspektivischem Tiefgang antwortet und erkenntniskritisch jene Mär von „Wahrheit“ diskursanalytisch zersetzt. Sebald zufolge arbeitet Kluge an der „Regenerierung des kollektiven Gedächtnisses seiner Zeitgenossen“, 980 womit er also eine höchst kosmopolitische und kommunikative Idee verfolgen würde. Die „Arbeit am verschütteten Selbst“, wie Pestalozzi sagt. Mit der Figur der Gabi Teichert wird die Psychoanalyse einer ganzen Gesellschaft (in diesem Fall der deutschen Nachkriegsgesellschaft) als eine archäo- 976 Aristoteles: Poetik. Griech./ Dt., übs. v.-Manfred Fuhrmann. Stuttgart (Reclam) 1982 , S. 29 . 977 Worte mit selbstreflexiver Note in der „Totenrede für Peter Glotz“, zu finden in den Brettern, S. 268 . 978 AGS 6 , S. 63 . 979 Vgl.: BGS IV. 1 , S. 101 . 980 Sebald, W. G.: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung mit Anmerkungen zu Kasack, Nossack und Kluge. Manuskriptseite 24 , Handschriftenmagazin DLA Marbach. Der Text findet sich veröffentlicht im Hanser Verlag (Campo Santo, München 2003 ), aber auch als Beigabe in Kluge, Alexander: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2008 . S. 129 - 140 . 254 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln logische Arbeit der Wiederaneignung des Verdrängten filmisch figurativ. Weshalb? Weil sich das Subjekt selbst wie auch seine Umwelt nur durch die Reflexion seines bzw. ihres historischen Gewordenseins zu erkennen und schließlich zu emanzipieren vermag. Kluge wehrt sich vehement gegen eine individualfeindliche Geschichtsschreibung, deren Hauptakteure Zeit und Ort sind. Entsprechend ist auch der Zugang zu Geschichte gestrickt: Die Fähigkeit, zeitlich wie räumlich entfernte, große und kleine Ereignisse der Geschichte konzentrisch so zu verdichten, dass ein rhizomartiger Zusammenhang entsteht, kann als genuin klugesch bezeichnet werden. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht hat ein solch multiperspektivisches wie transnationales Verfahren Ähnlichkeiten mit den Methoden einer entangled history oder histoire croisée, denen allerdings die erwähnte Froschperspektive fehlt. Diese Lücke könnte vielleicht mit der oral history (die Kluge selbst auf seine Weise in vielen Interviews betreibt) gefüllt werden, der das von Kluge gewürdigte Gefühl, der Hebammen-Griff und zuweilen gar Poesie innewohnt. Der Chor im fünften Auftritt in Sophokles’ Elektra besingt die Untoten: „Es leben die, die tief die Erde birgt! / Denn sühnend fließt des Blutes/ reicher Quell den längst Gestorbenen! “ Wie Kluges Denken ästhetisch Gestalt annimmt, kann exemplarischer Weise anhand des Buch-Bild-Projekts Dezember mit Gerhard Richter illustriert werden. Während der „Bildermacher“ Richter als Fotograf je eine aufgeschlagene Seite mit der Stille winterlichen Geästs bebildert, läuft daneben eine rumorende Mischung aus Kalenderblatt, Kriegsbericht und Kurzerzählung aus der Hand Kluges. Nach nur wenigen Seiten erreicht der Kontrast im Kessel Stalingrads die Farbebene: Auf das kontemplative Weiß der schneebedeckten Bilder Richters träufeln mehr und mehr die Zeilen Kluges als tiefes Rot vergossenen Blutes verirrter Menschheitsgeschichte. Den kurzen Kalendergeschichten ist dabei jeweils ein Datum vorangestellt, deren Tage zwar gewohnt fortlaufend sind, deren anschließenden Jahreszahlen jedoch vor und zurück in der Zeit springen: 1 . Dezember 1941 , 2 . Dezember 1991 , 3 . Dezember 1931 usw. 981 - - Blättern im Kalender der Geschichte. Auf die Frage, ob er lieber in die Vergangenheit oder die Zukunft reisen würde, antwortet Kluge: „In beide Richtungen“, 982 ausgestattet also mit einer ebenso großen Portion Neugier wie „Altgier“. 983 Überzeugt davon, dass man ohne historische Erfahrungen weder Gegenwart noch Zukunft verstehen kann, ergänzt er, wie auf einem benja- 981 Ebenso wechseln übrigens auch die Spielorte (hier: vor Moskau, im Kreml, in Mecklenburg). 982 Scheck, Denis: „Alexander Kluge zum 80 . Geburtstag“, im Gespräch mit Alexander Kluge, Deutschlandradio am 14 . 02 . 2012 , 19 : 45 min. 983 Auf den Begriff der „Altgier“, der neugierigen Gier nach Altem, kommen Alexander Kluge und Heiner Müller in einem ihrer schönsten Gespräche: Der Tod des Seneca. 1993 . Siehe: -http: / / muller-kluge.library.cornell.edu/ de/ video_exp.php? f=103-[Zugriff: 09 . 01 . 2012 ]. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 255 minschen Tiger reitend, dass er „gern in die Vergangenheit reisen“ würde-- um von dort aus dann zu „springen“. Die halb chronologische, halb anachronistische Form in Dezember symbolisiert also ein Schlüsselmotiv im Werk Kluges: die Allgegenwärtigkeit der Zeiten, ihre Verwandtschaften und Gleichnisse, ihre unterirdischen Verbindungen. Am dritten Dezembertag berichtet Kluge von einem beinahe historischen Autounfall zwischen dem Wagen der Brautmutter Goebbels und dem davor fahrenden Mercedes Hitlers. In der Fußnote fließt Autobiographisches ein, genau genommen gar Vorbiographisches: „Ich, einliegend im wohltemperierten Bauch, wäre beinahe geboren worden, ohne daß Hitler ein Stück Zukunft gehabt hätte. Es fehlte am tödlichen Zusammenstoß auf der Eisfläche ein Abstand von 40 Zentimetern zwischen den hochmotorisierten Fahrzeugen.“ 984 Die doppeldeutige Angabe von 40 Zentimetern, darauf weisen Céline Letawe und Maud Hagelstein von der Université de Liège bemerkenswert hin, 985 entspricht darüber hinaus der durchschnittlichen Körpergröße eines siebenmonatigen Kindes im Mutterleib, was in etwa dem angesprochenen hitlerfreien Zeitraum zwischen dessen Machtergreifung und Kluges eigener Geburt entspricht. Eine Entfernungsangabe also, die sowohl in die Horizontale (Abstand der Autos-- Katastrophe der Maschinen) als auch in die Vertikale (Wachstum des Kindes-- Hoffnung auf den Menschen der Zukunft), d. h. in historische Tiefe geht. So finden wir deshalb auch eine literarische Veranschaulichung des klugeschen Bifurkationsbegriffs, der hier den geringen Abstand zwischen schlechtem und gutem Ausgang markiert. Gleiches gilt für den Luftangriff auf Halberstadt und wie sich dieser bekanntlich „zufällig“ zugetragen haben soll. 986 Wer aus diesem 984 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Dezember. Berlin (Suhrkamp) 2010 , S. 11 . Kluge kommt am 14 . Februar 1932 zur Welt. Übrigens weist hier die Formulierung „hochmotorisiert“ hinaus auf die spätere Kulmination totalitärer Erfahrung mitsamt der indifferentmaschinellen Vernichtungsapparatur des Nazi-Regimes. Der Antikapitalismus der Kritischen Theorie erfährt hier ihren stärksten Impuls. Über direkte Verbindungen zwischen Industrie- und NS-Logik hat Kluge u. a. die Kurzgeschichte „Ich, der letzte Nationalsozialist in Kabul“ verfasst, worin es heißt: „Es müssen Industrie, unabdingbare Aufträge der Vorfahren, also eine Vorsehung, hinzutreten, so daß neben jedem Nervenpaar, neben jedem Muskel des Körpers eine zweite, parallele Leitung gelegt ist, welche die nationalsozialistische Zugrichtung bewirkt. Wie die Fäden bei einem Hampelmann? Nein! Vielmehr wie bei einer ZÜCHTUNG.“ In 30. April 1945, S. 235 ff. 985 „Protégé du froid glacial du mois de décembre, Kluge dans le ventre ‚bien tempéré’ de sa mère devait encore attendre un peu plus de 2 mois pour naître (il est né le 14 février 1932 ). On a vérifié: selon les standards, un bébé à 7 mois de gestation mesure environ 40 cm.“ So Céline Letawe und Maud Hagelstein in ihrem Vortrag „Images et textes en tension: le dialogue Kluge/ Richter“ auf der internationalen Konferenz „Reading/ Viewing Alexander Kluge’s Work“ am 11 . Dezember 2013 an der Université de Liège. 986 „Am Vormittag des 8 . April 1945 wurde Halberstadt Ziel eines Luftangriffs der 8 . US-Flotte. Vier Geschwader mit 218 Maschinen und einer Bombenlast von 550 Tonnen nahmen 256 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln verheerenden Tag ( 82 Prozent der Innenstatt wurden zerstört)-- nur einen Monat vorm erlösenden Kriegsende in Europa- - mit dem Leben davon kam, wer wie der 13 -jährige Alexander Kluge in jenem zerstückelten Überlebenswinkel stand, glaubt an eine glückliche Wendung des Schicksals. Wenn man es im Sinne der Postdramatik ausdrücken will, geht es im Grunde um ein Auflehnen gegen das schlechte, ungerechte Ende einer Geschichte, deren Ende man bereits kennt oder welches man als Außenstehender ohnmächtig näherrücken sieht; den „Wunsch, das Handeln reversibel sei, dem Kinderimpuls nachzugeben, der den Kasperl vor der Verhaftung durch Zuruf zu retten sucht.“ 987 Und das spannt sich über die Gespräche mit Heiner Müller („Der Tod ist ein Irrtum“) bis hin zu jüngsten Veröffentlichungen wie die Fritz Bauer gewidmete Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter-- der Titel ist der zweite Teil jenes berühmten Zitats Bazon Brocks, das den Anfang trägt: „Der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muß aufhören.“ Das Prinzip des klugeschen Geschichtsbegriffs ist, zusammenfassend gesagt, zugleich das seines Geschichtenbegriffs, seine Erzählweise die konsequente poetologisch-ästhetische Fortsetzung seiner geschichtsphilosophischen Reflexionen als Verbündeter der Kritischen Theorie: Die lineare Erzählung und ebenso die lineare Geschichtsschreibung wird ersetzt durch eine jeweils konstellative. Es geht um ein Verständnis von Zeit, die sich in alle Richtungen bewegt, „vorwärts und rückwärts“, eine Zeit, die „kein Pfeil, sondern ein Kreis ist“. 988 Kluge ergänzt eine Zeitebene neben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: die Möglichkeit. Und diese erstreckt sich durch alle Zeiten hindurch, vergleichbar mit dem Prinzip der Ideengeschichte. Dies hat Auswirkungen auf das Verständnis von Geschichte sowie deren Darstellung und Vermittlung, außerdem auf die Epistemologie und fundamental auf die Konzeptionen von „Zeit“ und „Realität“. zunächst Kurs auf Zerbst und Staßfurt, schwenkten dann aber wegen der über Halberstadt günstigeren Wetterlage um und änderten entsprechend ihr Ziel. In dem Präzisionsbombardement und den sich daraus ergebenden Bränden wurde die Stadt zu drei Vierteln vernichtet. Zwischen 1800 und 3000 Menschen fanden den Tod.“ Aus dem Programm Dem Gleichen fehlt die Trauer, ein Leseprojekt der Stadt Halberstadt zum 60 -jährigen Gedenken an jenes Bombardement am Ende des Zweiten Weltkriegs. 987 „Die Funktion des Zerrwinkels“, S. 103 . 988 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 122 f. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 257 2.5.5.1 Autobiographie und Krieg Abb. 10: Erfahrung der Katastrophe mit glücklichem Ausgang: Sein Geburtsort Halberstadt wird am 8. April 1945 zu über 80 Prozent zerstört. Alexander Kluge überlebt Dank zehn Metern, aus denen er bis heute schöpft. Eine noch größere Sprengkraft löst die Scheidung der Eltern aus. Die Frage nach Autobiographie und Krieg bei Alexander Kluge stellt zugleich die nach seiner spezifischen Poetik eines Spannungsverhältnis’ zwischen autobiographischem Faktum und narrativer Fiktion. Das Einfließen von Autobiographischem im Werk entspricht den Thesen von Geschichte und Eigensinn, und zwar dass die Teilprozesse von Arbeit und Produktion ihre „eigene Geschichte“ 989 haben. Einmal mehr wird offenbar, dass in der ästhetischen Konstruktion und Darstellungsmethodik zahlreiche Hinweise zur theoretischen Reflexion liegen. Anders als autobiographisch überladene Texte modifiziert und vermengt Kluge. So tauchen Personen und Erfahrungssplitter aus seinem Leben in Chiffren und Metamorphosen immer wieder neu bespielt auf. Zur Darstellung gehören ebenso historische Aufnahmen aus dem Familienalbum, deren gestreute Beigabe besonders persuasive bzw. authentische Kraft hat. Wer eine autobiographische Spurensuche im Werk Kluges betreiben will, muss sich bewusst machen, dass sich die Fäden des Hinzugedichteten kaum von den Tatbeständen lösen lassen, eben weil das klugesche Realismusmodell auf dieser Dialektik fußt. 990 Bei der Literarisierung (die oft einhergeht mit der Verfremdung) von privaten Erfahrungen verfährt er mit gewohnt analytischer Distanz und gleichzeitig einfühlendem Gespür fürs Detail, 989 GE, S. 130 . 990 Verwiesen sei dennoch auf folgende Schriften Kluges, in denen persönliche Dokumente verdichtet auftreten: CdG, Bd. II: Lebensläufe. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2000 . Hier besonders „Unheimlichkeit der Zeit“, und darin „Heft 9 “. Weiterhin: ders.: Glückliche Umstände, leihweise. Das Lesebuch. Hg. v.- Thomas Combrink. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2008 . Hier besonders das Kapitel „Was ein Mensch ist“. 258 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln verzichtet so vollkommen auf Pathos. Und so bleiben die biographischen Impulse im Werk fern von referenzieller Beweihräucherung und sind als autofiktional zu identifizieren. Private Öffentlichkeit dringt hier annäherungsweise subjektentladen in die publizierten Texte und Filme. Insofern nämlich, dass das Eigene als eines von vielen gleichberechtigten Wirklichkeitssegmenten individueller Erfahrung in eine Beziehung mit Zeitgeschichte gesetzt und der übergeordneten Untersuchung eingespeist wird: Wie wirken sich historische Ereignisse und Zäsuren auf individuelle Biographien aus? Einer seiner kürzesten Texte, der laut Aussage des Autors auf Kants Aufforderung zur Vernunft (welche verortet ist zwischen dem Gewissen und dem Kosmos) antwortet, beschreibt die empfundene Koexistenz unterschiedlicher Ich-Stufen, die allesamt zum Jetzt-Ich gehören, eine Gegenwartsberechtigung haben, Einfluss ausüben und deren Stimmen wie in einem Resonanzkörper ertönen können: „In mir höre ich den Sechsjährigen, der ich einmal war UND DER ICH AN SICH ZU JE- DEM ZEITPUNKT MEINES LEBENS BIN . Oft sprechen in mir auch der Siebzehnjährige oder der Zweiunddreißigjährige, Sie sprechen aber selten zur selben Zeit, während die Einwürfe des Sechsjährigen zu jeder der übrigen Stimmen zu passen scheinen.“ 991 Dieser Sechsjährige ist gleich neben dieser Aussage abgebildet, aus Modelleisenbahnperspektive fotografiert, scheinbar unbeobachtet und ganz bei der Sache. 992 991 Aus: ebd., S. 61 . Hervorh. gem. Orig. 992 Die Aufnahme steht gleichzeitig stellvertretend für den Blick unter die Tischdecke einer Trinkstube, in der Kluges Eltern mit „Fremden und Freunden“ zusammenkamen und sich in „lustiger Gemeinde“ über die aktuelle Kriegslage austauschten, sich Mut machten. Unter dieser Decke versteckt sich ihr Junge und lauscht neugierig in die Erwachsenenwelt. Vgl.: „Der Zuhörer unter dem Tisch.“ In Kluge, Alexander: Glückliche Umstände, leihweise. Das Lesebuch. Hg. v.-Combrink, Thomas. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2008 . S. 60 . bzw. Philipp, Claus: „Die Geduld der Bücher“, Alexander Kluge im Gespräch, in Volltext. Zeitung für Literatur. Hg. v.-Thomas Keul, Wien, Nr. 6 / 2006 . Ein früher Eindruck, wie der Mensch durch Gesellschaft, Gespräch und Humor Krieg und Elend zu überleben vermag. Die Bedeutung erlebten Glücks und erlebter Zuwendung in der Kindheitserfahrung für das Erwachsenenleben ist für Kluge von basaler Bedeutung: „Ohne solches Vertrauen keine Erkenntnis, keine Assoziationsfähigkeit, kein Vermögen von Solidarität.“ (GE, S. 274 .) Dieser Gedanke ist nicht stark genug hervorzuheben. Erstens anthropologisch und psychologisch: Unglückliche Kindheiten gebären Gewalt und Unglück in der Welt. Zweitens epistemologisch und wahrnehmungsästhetisch: Widerfährt mir als Kind keine Sensibilität, kann ich auch keine entwickeln; an stumpfer Empfindsamkeit scheitert die Wahrnehmung von Mensch und Welt. Dieses Bild des Lebens mit den Ahnen taucht immer wieder auf, etwa im halbseitigen „Meine Vorfahren väterlicherseits“ (Glückliche Umstände, leihweise, S. 66 .). Wenn er hier einen Vorfahr beschreibt, wie dieser jeden Tag zur gleichen Zeit seine „persönliche Uhr“ nach der „Großuhr der Martinikirche“ stellt und man kurz zuvor erfährt, dass die Familie Kluge im 18 . Jahrhundert Großuhren herstellte, liegt die Vermutung nahe, dass wir hier abermals eine Allegorie dessen wiederfinden, was zu Kluges Grundkonzeption von Welt zählt: die Präsenz vergangener Zeiten, das Nichttotsein der Toten („Die Toten sind nämlich 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 259 Gern erinnert sich Kluge an einen besonders eindrucksvollen Ort seiner Kindheit: Versteckt unter dem Tisch lauschten er und seine Schwester Alexandra hinein in eine Erwachsenenwelt, die besonders von Opernmusik und den Gesprächen der Eltern mit Gästen geprägt war. Wenn die vier Kinderohren auch nur Fetzen von alledem begriffen haben mögen, hat Kluge dieses vertrauenserweckende Empfinden von Musik und Erzählen dermaßen verinnerlicht, dass er diesen glücklichen Kindheitszustand seither permanent wiederherzustellen versucht. Die Musik steht hier auch für sinnliche Erinnerung. „Die ‚Meistersinger’ sind soeben im Radio verklungen. Axel hörte mit größter Spannung zu- - und fast war es, als ob diese traurige Welt für 2 Std. mal ihren vergifteten Atem angehalten hätte.“ 993 Kluges Affizierungsbemühung um eine Emanzipation der Gefühle drückt derweil aus, dass es nicht darauf ankommt, ob etwas physisch anwesend ist. Es geht um die reine Möglichkeit und die ist in der Vorstellung so existent, dass sie Auswirkung auf das Außerhalb ihrer hat. Da im Besonderen die Bedeutungshoheit der Realität gegenüber der Fiktion von Kluge aufgehoben wird und im Allgemeinen selbst fiktives Erzählen nicht gänzlich ohne realiter existierende Elemente und Begriffe auskommt, könnte man hier narratologisch vom fiktionalisierten Realen sprechen, doch damit am Eigentlichen vorbeiakademisieren. Festzustellen ist, dass es bei allen autobiographischen Elementen nicht um einen Wahrheits-Pakt zwischen Autor und Leser geht. 994 Jedoch existiert so etwas wie ein Wahrhaftigkeits- oder ein Aufrichtigkeits-Pakt, der sagt: Ich kann darauf vertrauen, dass es dem Autor ernst damit ist, was er ausdrücken will. Man merkt der Fiktion weniger an, dass sie eine ist. Wie sagt es Strindberg so schön über seine Mosaikstücke: „Was nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, ist hinzugedichtet, nicht gelogen.“ 995 Zu ergänzen ist die epistemologische Kompetenz der Fiktion und der Mimesis, die durch ihre Differenz zum Tatsächlichen Wesenhaftes erkennbar machen: Denn der Kontrast nicht tot. Mit diesem Gedanken tröste ich mich über den Tod meines Freundes Christoph.“ So Kluge in einem ‚Nachruf ’ auf Christoph Schlingensief, der ausdrücklich ‚keiner’ ist. Den einleitenden Worten folgt der Abdruck eines gemeinsamen Gesprächs über den Tod, was erstmals am 05 . 05 . 2002 im TV gezeigt wurde. In ders.: „Wie Schlingensief über den Tod sprach“, in Die Welt vom 29 . 08 . 2010 .). 993 Aus dem Brief von Kluges Vater Ernst Kluge an dessen geschiedene Frau Alice Kluge vom 28 . 02 . 1945 . Abgedruckt (allerdings mit digital abgeschnittenem Text) in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 29 . 994 Siehe der von Philippe Lejeune geprägte Terminus des „autobiographischen Paktes“, der dem Rezipienten den Wahrheitsgehalt der angeführten Fakten zusichert (Le Pacte autobiographique, 1975 bzw. Der autobiographische Pakt, 1994 ). 995 August Strindberg an Emil Schering im März 1907 , in dies.: Strindbergs Werke, VIII. Abt., Bd. 3 : Briefe an Emil Schering. Leipzig/ München (Müller) 1924 . 260 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln löst umgekehrt im Leser das Empfinden aus, dass die Realität auch nicht so sein müsste, wie sie ist. Kluges Erfindung und Prägung der literarischen Gattung „Lebensläufe“ ist formgewordenes Realitätskonzept einer Dialektik von Geschichte und Eigensinn, das die Realität der Biographien und Lebensläufe impliziert. Insofern ist Kluge auch Autor einer Menschheitsbiographie. Und diese steckt auch in den Dingen, womit wir bei Sergej Tretjakov wären („Biographie der Dinge“). Eine solche Genealogie der Dinge ist also hier nicht bloß geologisch oder biologisch gemeint, sondern bezieht sich auf von Menschenhand gefertigte Gegenstände und entstandene Verhältnisse, denen immer eine menschliche Idee oder Erfindung eingeschrieben ist. Die Geschichte des Menschen, so wird bei der Kluge-Lektüre nicht weniger deutlich als bei der von Adorno und Horkheimer, ist eine Geschichte der metamorphen Reproduktion von Machtverhältnissen und Unterdrückungszuständen und somit auch des „Subjekts historischer Erkenntnis“. 996 Die frühe Trennung seiner Eltern, wie Kluge nicht aufhört zu betonen, habe mehr Erschütterung in seinem Leben ausgelöst als der spätere Einschlag jener Sprengbombe im April ’ 45 . Es liegt eine besondere Zärtlichkeit darin, wenn der Mitte- 80 - Jährige mit der alten Traurigkeit des Kindes in ihm von dieser Zerreißung spricht. Während er Letzteres dann nach etwa 30 Jahren verstanden habe, begreife er die Scheidung bis heute nicht: „Mir war klar, daß eigentlich alles, was ich tue, der Herstellung eines Friedens zwischen meinen beiden Eltern, der Rücknahme der Scheidung dient.“ 997 Diese Aussage ist bei der Betrachtung seines Schaffens unbedingt ernst zu nehmen: „Meine Politik liegt weit zurück, ist sehr intim und privat begründet.“ 998 Was mit seinem autobiographischen Impuls gemeint ist, wird bei der Charakterisierung seiner recht gegensätzlichen Eltern deutlich. Kluge betrachtet sein Jurastudium als eine hilfreiche „Bewaffnungsform in unserer Welt“: „Ich halte es für nötig, sozusagen die realistische Seite, die von meiner Mutter sehr verstärkt ist.“ Während sein Vater als Opernliebhaber das Künstlerische mit nach Hause brachte, war sie die Pragmatischere von beiden, eine Entscheiderin. Auch war sie eine ausgesprochen gute Zuhörerin, der Vater hingegen ein Geschichtenerzähler. So setzt Kluge den Gedanken fort und wirft im Grunde einen Gedanken aus Benjamins Passagen-Werk wieder auf („Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ 999 ): „Auf 996 Vgl.: BGS I. 2 , S. 700 . 997 Kluge, Alexander: „Mein wahres Motiv“, in ders.: Tür an Tür mit einem anderen Leben. 350 neue Geschichten. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2006 . S. 594 . 998 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Die Unabweisbarkeit des Erzählens“ ( 4 . Vorlesung, 26 . 06 . 2012 ). 999 BGS V. 1 , S. 574 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 261 der anderen Seite aber das Erzählen, das entscheidet nichts, sondern beobachtet und gibt wieder, und Erzählen ist eine andere Haltung zur Wirklichkeit, als sie z. B. ein Jurist einnehmen kann.“ 1000 Diese persönlichen Notizen vor Augen, darf man sich hinreißen lassen zu der Aussage: In seiner Poetik sind die Eltern niemals geschieden. Den ungebrochenen Wunsch, sie wieder zusammenzuführen, erfüllt Alexander Kluge durch seinen Vernunftbegriff als Dialektik von Ratio und Emotio auf persönlicher Ebene sowie auf einer ästhetischen Ebene durch die Hochzeit von Analysis und Narratio (übertrieben: mütterliche Information und väterliche Narration) mit dem Ziel der Befreiung der Tatsachen von menschlicher Gleichgültigkeit: Unter diesem Stern arbeitet die „Nachrichtenwerkstatt“ der dctp beharrlich, wie es auf dem Internet-Portal leitmotivisch heißt, an einer „Aufhebung der Trennung zwischen Tatsachen, Musik, Vernunft und Emotion“. Denn ein Denken ohne Musik, eine Vernunft ohne Emotion, führt zu Ideologie. In einem Gespräch mit Anselm Kiefer sagt Kluge diesen einen Satz, der, hier gesetzt, die autobiographische Dimension bestätigt: Er sagt, dass man dem Wunsch, den man einst als Kind hatte, in der Kunst ein Denkmal setzen kann.-- Lauter Portraits einer Familie: Das Sonnenlicht scheint in das Zimmer, der Vater sitzt im Anzug am Tisch, der Blick ist der eines Sohnes, der sich die Vergänglichkeit seines Vaters und des Lebens bewusst macht. Wenn Kluge beschreibt, wie sein alter Herr Rübensaft schlürft und dabei eine Fliege beobachtet, die er schließlich verfehlt, dann tut das Kluge mit einer Genauigkeit in der Beobachtung, der Zuneigung, Zärtlichkeit und Melancholie vorausgehen. Es ist die Alltäglichkeit des Vorgangs, der Gang des Lebens, der rührt. Und ein Lächeln ist erlaubt, wenn der Vater der „Junifliege“ 1001 samt ihrer Fähigkeiten seinen Respekt ausspricht. Im April und Mai hätte er sie noch erwischen können, doch im Juni habe sie schon „so viel gelernt“, dass sie nun schlicht „nicht zu fangen“ sei. Das Urteil kommt zu früh, wenn man meint, dass das teils derbe Vokabular (der „jetzt ziemlich fettlose Hintern“) Mangel an Respekt wäre. Das ist schlicht unbefangener Umgang mit der Situation, das ist Ventil, das ist Galgenhumor, der zum Überlebenskonzept Kluges gehört. 1002 Jene Ungezwungenheit ist vermutlich die einzig echte menschenwürdige Form, die sich nicht an übertriebenem Mitleid oder Betroffenheitspose erkältet, und so dem Selbstwertgefühl des Anderen nicht schadet. 1000 Rack, Jochen: „Chronist der Gefühle. Eine Lange Nacht über Alexander Kluge zum 80 . Geburtstag“, auf Deutschlandradio Kultur, gesendet am 11 . 02 . 2012 , aus dem Manuskript eines Interviews von 2000 . 1001 „Erfahrenheit der Junifliegen.“ In Kluge, Alexander: Glückliche Umstände, leihweise. Das Lesebuch. Hg. v.-Combrink, Thomas. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2008 , S. 81 . 1002 Eine anderes Beispiel von Kluges Fähigkeit zur Selbstironie (und zum Galgenhumor) ist ein Titel, den er und Heiner Müller ihrer Gesprächsreihe nach Müllers schwerer Krebsoperation geben: „Postoperative Gespräche“. 262 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Abb. 11: Die Lebendigkeit des bewegten Bildes überlebt jeden Tod: Dr. Ernst Kluge mit seinem Vetter beim gestenreichen Singen des „kleinen Matrosen“ 1003 und beim Hüpfen von einer Pfützeninsel auf die andere. Bereits 1970 filmt er den schon nicht mehr jungen Vater in Ein Arzt aus Halberstadt: hüpfend über Münchner Pfützen, zitierend aus La Traviata (er war u. a. Opernarzt) und ein Quatschlied singend mit seinem Vetter aus Tübingen. Eine weitere liebevolle, nonchalante und dadurch wahrhaft respektvolle Portraitierung erfährt seine Großmutter mütterlicherseits in Frau Blackburn wird gefilmt ( 1967 ). Martha Hausdorf, geborene Blackburn, erlebt man mit ihren damals schon stattlichen 95 Jahren als kultivierte und fidele Frau, die sich in einer Filmszene gar selbst spielt. Nachdem man sie hier bei Dehnübungen bestaunen und durch die Wohnung huschen sehen kann, wundert es nicht, dass sie über hundert Jahre alt werden sollte. 1004 Abb. 12: Porträts einer Familie zwischen Fact und Fake: Links wie rechts ist Martha Hausdorf, geborene Blackburn, abgebildet. Der Fokus liegt weniger auf ihren Katzenaugen als auf ihren Händen: Sie litt unter Gicht. Kluges Großmutter wurde 101 Jahre alt, ihr Mann Alfred, dessen Atem hier neue Wege geht, starb an einer Lungenentzündung. Autobiographische Schnipsel wie diese sind gestreut in Kluges Werk eingebettet, die Übergänge zwischen Authentizität und Verfremdung sind dabei fließend. 1003 Das Lied wird auch in Die unbezähmbare Leni Peickert von 1970 aufgeführt. 1004 Die 1872 Geborene starb 1973 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 263 Die hier vorgestellten Eindrücke sind beileibe nicht die einzigen Auftritte von Menschen aus Kluges Verwandtschaft in seinem Werk. Man denke allein an seine Schwester Alexandra Kluge, deren Gesicht für die Kino-Leinwand der 60 er Jahre geradezu prädestiniert war, die in Venedig für Abschied von gestern den Preis als beste Darstellerin gewann und die heute über die neuesten Manuskripte ihres Bruders schaut. Doch nicht nur die Familie steckt, mal mehr, mal weniger offensichtlich, in den Texten, Filmen, Bildern. Schließt man das Meer seiner Gesprächsrunden der dctp mit ein, findet man von Hannelore Hoger und Sophie Rois, Peter Berling und Helge Schneider über Heiner Müller und Christoph Schlingensief bis hin zu Oskar Negt und Joseph Vogl Kluges phänomenalen Kreis der Künstler und Intellektuellen vor, unter denen enge Freundschaften waren und sind. Der Encyclopédie-Essay „Krieg“ „Ähnlich ist das, was Krieg heißt, etwas Bestimmtes, gewiß Zerstörerisches, während das, was Frieden heißt, nicht in bestimmter Weise Frieden sein muß, sondern Scheinfrieden, ein Nebeneinander, ein Ignorieren oder unerklärter Krieg sein kann.“ 1005 Abb. 13: Während der klassische Kabinettskrieg noch dadurch gekennzeichnet war, dass die Kriegsregeln auf einen Friedensschluss ausgerichtet waren, verlieren nunmehr Teilnehmer, Absichten oder Abwandlungen des Krieges ihre Konturen. Als Teil einer kommentarhaften, essayistischen Spiegelung von Lemmata der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts entfaltet Alexander Kluge die verschiedenen Arten und Abarten von „Krieg“. 1006 In bewusst unlexikalischer Form gehalten, entfernt er sich von Ansprüchen wie der Unveränderlichkeit oder einem Wahrheitsmonopolismus des Begriffs. Dennoch aufbauend auf dem definitorischen Fundament von Krieg als einem bewaffneten Streit unter Herrschern, stellt Kluge 1005 UM, MP, S. 758 . 1006 Kluge, Alexander: „Krieg“, in Die Welt der Encyclopédie. Ed. v.-Annette Selg u. Rainer Wieland. Die Andere Bibliothek, hg. v.- Hans Magnus Enzensberger, Sonderband. Frankfurt a. M. (Eichborn) 2001 , S. 211 - 216 . Im Folgenden „Krieg“. 264 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln seine Reflexionen an. In jener Neuausgabe des Chef d’Œuvre der Aufklärung geht Kluge chronologisch-periodisch vor: Nach den „Metzeleien des Mittelalters“ galt in den „Kabinettskriegen“ der sich bekämpfenden Herrscher die „Bezähmung des Krieges“ als Maxime jeder l’art de guerre. Insofern ist der groteske und pietätlos erscheinende Begriff der „Kriegskunst“, die begriffliche Vergewaltigung des Schönen durch das Grausame ( Janusköpfigkeit der Minerva), zu verstehen als ein Appell an Ideale von Ehre und Tugend. Statt auf Vernichtung aus zu sein, soll dem Gegner stets die Möglichkeit zum Schwenken der weißen Flagge bleiben: die Kapitulation, Tugend der Begnadigung und des Respekts. Es gilt, den „Königsweg“ freizuhalten: den „Friedensschluss“, der nicht nur gegenwärtiges Blutvergießen beenden, sondern überdies zukünftigen Konflikten entgegenarbeiten soll. 1007 Dieses Aischylos-Motiv des Respekts für den toten Anderen, das trotz allen Bluts noch Empathie bewahrt, hat einen Heiner Müller und einen Dimiter Gotscheff (mit beiden drehte Kluge) ein Leben lang beschäftigt und findet sich auch in Kluges Poetik wieder: Der in den Perserkriegen für die Athener kämpfende Aischylos verfasst trotz allen Siegesstolzes keinen Triumphgesang, sondern nimmt die tragische Perspektive des Gegners im Kontext seiner Niederlage ein, fühlt mit dem toten Feind und zollt dem untergehenden Imperium Respekt. Und exakt darin liegt eine „Warnung“, wie Rüdiger Schaper im Standard treffend beschreibt: „Da liegt eine Wurzel unserer Zivilisation. Es ist die Empathie, die Fähigkeit, etwas zu empfinden, wenn eine Geschichte erzählt, wenn etwas vorgetragen wird, das von Menschen und ihren Taten und ihrem Leid handelt. Dem Leid, das sie anderen Menschen antun, das dann auf sie zurückfällt.“ 1008 Aischylos’ Werk von der Seeschlacht von Salamis von 480 v.u.Z., das älteste erhaltene Tragödienwerk, ist als eine Chiffre der Warnung zu lesen für eine bedrohte Demokratie. Kluge projektiert eine Parabel: „Wenn im Asymmetrischen Krieg eine Drohne, ferngeleitet, einen vermutlichen Terroristen in Somalia tötet, gibt es keine Chance der Kapitulation.“ 1009 Erinnernd an seinen Halberstadt-Zyklus ergänzt er den Satz: „Sie ist auch für die Kellerinsassen in einer Stadt, die von Bombengeschwadern angegriffen wird im Moment unmöglich.“ Die Möglichkeit zur Kapitulation würdigt Kluge als eine „zivilisatorische Errungenschaft mitten in den Monstrositäten des 1007 Genau das ist die Denkweise des häufig missverstanden Satzes Clausewitz’ vom Krieg als der „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Die Politik steht über dem Militär und nicht etwa umgekehrt. 1008 Schaper, Rüdiger: „Das Lachen am Abgrund der Geschichte. Zum Tod von Dimiter Gotscheff“, in Der Standard vom 20 . 10 . 2013 . 1009 Aus dem Programmtext zur Sendung „Eine Geschichte der Kapitulation“ vom 09 . 03 . 2014 , 00 : 25 Uhr auf Sat.1. Link: http: / / magazin.dctp.tv/ 2014/ 03/ 09/ heute-abend-im-tv-eine-geschichte-der-kapitulation09-03-2014-025-uhr-auf-sat1/ [Zugriff: 11 . 03 . 2014 ]. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 265 Kriegs“: „Sie ist dem Vernichtungsprinzip abgerungen und folgt aus dem Wunsch nach Selbsterhaltung. Das Frontschwein spricht (meist erst am Ende des Kriegs): Kapitulation ist mein Menschenrecht.“ 1010 Erst nach Louis de Jaucourt, der für die Encyclopédie u. a. dem Lemma ‚Krieg (Naturrecht und Politik)’ seinen Inhalt lieferte, entflammte der erste „Volkskrieg“, welcher laut Kluge von Anfang an Weltkrieg war und von 1792 bis 1815 währte. Als Begründung für diesen knapp ein viertel Jahrhundert andauernden globalen Krisenherd führt er an: die transatlantische Vernetzung der brodelnden Konflikte, zu denen er u. a. die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika, die kolonialen Eroberungen Englands sowie Napoléons kontinentale Schlachten rechnet. 1011 An diesem bewegten Punkt der Geschichte beginnt Carl von Clausewitz seine Theorien über den modernen Krieg anzuknüpfen (Vom Kriege, Berlin 1832 - 34 . In einer Neuausgabe für Suhrkamp/ Insel sollte übrigens ursprünglich Kluge das Vorwort verfassen 1012 ). Diese Definition verliert jedoch spätestens mit dem Kosovo-Krieg, auf den Kluge hinweist, seine Gültigkeit. Die Zeit des Kalten Krieges, des säbelrasselnden Wettrüstens, jenes jahrzehntelang andauernde Bedrohungsszenario versetzte eine ganze Welt in lähmende Angst vorm Supergau. Die abstrakte Anwesenheit eines jederzeit möglichen Krieges erfährt in den 70 er und 80 er Jahren eine Modulation, wird extraterrestrisch (was auch auf Kluges Filme zutrifft). Mit dem Schauplatzwechsel in den Weltraum erreicht er so eine neue Abstraktionsstufe. 1013 Kluge tauft ihn „virtuell“- - allerdings nicht zu verwechseln mit Cyberkrieg (den er hier seltsamerweise unerwähnt lässt), sondern im prädigitalen Sinne von „dazu fähig“, sozusagen „potenziell existent“, ein paradox erscheinender „ NICHT KRIEG DER KEIN FRIEDEN IST “. Das führt uns zu einer Differenzierung des üblichen Kriegs-Antonyms „Frieden“, den Kluge zunächst einmal als „Zustand“ bezeichnet: „Ist der Krieg die Vernichtung des Willens eines anderen, so ist der begriffliche Gegenpol die Herstellung des Willens eines anderen und geht über den bloßen Friedenszustand hinaus.“ 1014 Der allgemein verwendete Begriff „Krieg“ ist für Kluge aufgrund seiner vollkommen verschiedenen Formungen keiner im „philosophischen Sinn“, sondern vielmehr eine Chiffre, ein Codewort für „selbstständiges, stapelbares Material des 1010 Ebd. 1011 Vgl.: Krieg, S. 211 . 1012 Dies geht aus einem Schreiben Siegfried Unselds an Alexander Kluge vom 14 . 11 . 1978 hervor: „Das wäre eine Sensation! “, kommentierte Unseld die ursprünglich von Enzensberger stammende Idee. Der Brief liegt im noch nicht gänzlich erschlossenen Siegfried Unseld Archiv und ist Teil des DLA Marbach. 1013 „Krieg im Weltraum oder aus dem Weltraum hinaus.“ Siehe: Krieg, S. 212 . 1014 UM, MP, S. 863 , Fußn. 10 . 266 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln bösen Willens“. 1015 Diese Dichte, diese Übermacht des Krieges ist Ursache des entgegengesetzten Ohnmachtgefühls der Kriegsgegner. Die Einteilungen im Überblick: 1 . atavistischer Krieg, 2 . Kabinettskrieg, 3 . Volkskrieg, 4 . Abschreckungskrieg, 5 . virtueller Krieg, 1016 6 . asymmetrischer Krieg. Allen Modifikationen zum Trotz weist Kluge auf eines hin: die Koexistenz aller Kriegsformen. 1017 Dies leuchtet ein beim Blick auf die Tatsache, dass sich einzelne Menschen, Gesellschaften, Nationen usf. heterogen entwickeln und heute gleichzeitig auf der Welt Cyber-Kriege, Bürgerkriege und Seekriege herrschen. Kluge ist sich sicher, dass es darauf ankommen muss, deren Beziehungen und Wechselwirkungen eingehenden Untersuchungen zu unterziehen, um sie zu verstehen und die „Zeitbombe zu entschärfen“. Die tägliche Entscheidung über Krieg oder Frieden kann und darf, so der Öffentlichkeitsarbeiter Kluge, nicht ohne eine „funktionierende Öffentlichkeit“ 1018 getroffen werden. Dass diese entsprechend befähigt, also aufgeklärt sein muss, erwähnt Kluge an dieser expliziten Stelle zwar nicht, wohnt seinen Gedanken jedoch ganz zentral inne. Nichtsdestotrotz gibt es auch Erscheinungen im Krieg, die Hoffnung geben. In allererster Linie tatsächliche Errungenschaften des Krieges, also solche, die wie die Genfer Konventionen von Humanität und Kriegszähmung zeugen: Zu nennen wären etwa Völkerrecht, 1019 Kriegsrecht, Rotes Kreuz, Marshallplan. Weiterhin glaubt Kluge an eine gewisse „Vergesslichkeit des Krieges“, da er eine Sterblichkeit von Waffen auszumachen meint (nicht aber des Krieges allgemein). So sind Giftgasangriffe trotz ihrer Ausübung im Ersten Weltkrieg im Zweiten nicht verzeichnet. Der Wahnsinn des moral bombing gegen die Zivilbevölkerung (mit dem Ziel der sich auslösenden Revolte gegen die eigene Führung) hat sich als sozialpsychologischer Unsinn herausgestellt und wurde „vergessen“. Es erscheint plausibel, dass sich Waffen und Methoden schlicht als unbrauchbar erwiesen haben. Es lohnt sich, den Fokus auf eine bemerkenswerte Zustandsbeschreibung zu richten: „Das Szenario des eigenen Schutzes gegen Raketen, bei beibehaltener Bedrohung der übrigen Welt (Raketenabwehrschild), enthält ein Exekutionspotential, das über das Prinzip des Luft- oder Gasangriffs weit hinausgeht und bereits auf der Ebene der vorangehenden wirtschaftlichen und diplomatischen Sanktionen einen Zustand herstellt, gegenüber dem es keine wirksame Kapitulation durch konkrete Menschen gibt. Sie werden durch abs- 1015 Vgl.: Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 . S. 551 . 1016 Vgl.: Krieg, S. 211 f. 1017 Vgl.: Krieg, S. 212 . 1018 Ebd. 1019 Kluge führt Hugo Grotius und dessen Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens an (ebd., S. 213 ). 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 267 trakte Mächte, einschließlich ihrer ohnmächtigen eigenen Obrigkeit, ENTREALISIERT , noch bevor getötet wird.“ 1020 Kluge und Negt beharren auf der clausewitzschen Kriegsdefinition und stellen diese vehement gegen „quantitativ-bürokratische“ Versionen wie die von J. David Singer und Melvin Small. 1021 Speziell diese gehen statt von „Lebewesen“ mit „Eigenwillen“ von Partikeln von „Staatssystemen“ aus und legen eine starre Schablone willkürlicher Maße auf doch bewegliche, immer kontext- und situationsabhängige Geschehen und entscheiden so, was den Stempel „Krieg“ aufgedrückt bekommt und was nicht. Demnach würden z. B. 999 Opfertote diese Auszeichnung nicht verdienen, denn erst ab 1 . 000 setzt die Definition an. Die Clausewitz-Definition hingegen ist nicht fatalistisch und „grenzt die Seite der lebendigen Arbeit“ nicht aus. Längst sei also das klassische Verständnis und das, was der Begriff „Krieg“ einst umfasst habe-- und zwar die Entscheidungsfähigkeit des „subjektiven Faktors Mensch“--, in Anbetracht der Maßlosigkeit und der „Selbsttätigkeit der Zerstörungspotentiale an sein Ende gelangt“. 1022 Die sich brisant multiplizierenden Wechselwirkungen sich gegenüberstehender Mächte erhöhen auch den Abstraktionsgrad, der sich im Grunde erst dann wieder auflöst, wenn er verheerend mit Realität kollidiert und wirkliches Leben auslöscht. 1023 Schließlich richtet Kluge das Wort an die „Internationale der Kriegsgegner“ 1024 und schafft es, fern von alten Irrwegen „realsozialistischer Administration und Repression“, die ursprünglich richtige Idee zu bewahren: „Der antimilitärische Impuls der sozialistischen Bewegung ist bleibender Stachel, unwiderlegt.“ Die Thesen, ja ganze Formulierungen aus dem Kriegs-Essay tauchen in ihren Grundzügen überall im Werk auf, besonders konzentriert beispielsweise in Geschichte und Eigensinn und natürlich in der Schlachtbeschreibung, ebenso in dem kollektiven Filmprojekt Krieg und Frieden (u. a. mit Schlöndorff, Böll und anfangs auch Fassbinder) 1025 oder dem Fernsehgespräch Was ist Krieg? mit Oskar Negt. Ausgangspunkt ist dabei immer wieder Clausewitz. Wie die Untersuchungen 1020 Ebd. 1021 Vgl.: UM, MP, S. 851 . 1022 Ebd. S. 853 , Fußn. 6 . 1023 Vgl.: ebd. S. 853 - 857 . 1024 Wohl bewusst wählt er keinen plakativen Titel wie „Pazifisten aller Länder, vereinigt euch! “. 1025 Die Verfilmung nahm nach dem überraschenden Tod Fassbinders im Juni 1982 einen zumindest personell anderen Weg. Dessen Ideen jedoch sind fragmentarisch in Dokumenten, Kommentaren und Bildern enthalten, als unvollendetes Kunstwerk in einem anderen Medium, einem drehbuchartigen und assoziativen Filmbuch (statt eines bloßen „Buchs zum Film“): Kommentare zum Parallelprojekt: KRIEG UND FRIEDEN (unverfilmt). In Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 . 268 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln zeigen, verblassen dessen Thesen Vom Kriege 1026 mehr und mehr, da sie dem Gestaltwandel nicht mehr standhalten, weshalb man umgekehrt „den Kriegsbegriff so differenzieren“ müsse, „dass man ihn nicht mehr abdecken kann durch das, was einmal Krieg gewesen ist.“ 1027 Kluge verlangt deshalb nach einem supranational unabhängigen Gericht, das fortan „Verbrechen an der Geschichte“ ahndet. 1028 Ihr Vertrauen setzen Kluge wie Negt aber lieber direkt in den unterschätzten Menschen selbst, der sich hierfür allerdings aktiv zu rüsten habe. Mit der Aufforderung zur „Selbstbewaffnung des Menschen“ 1029 ist weder Waffenschein noch Sprenggürtel gemeint, sondern Bildung, die jenen Anfängen wehrt. Hierzu gehört ganz entschieden Geschichtsbewusstsein, das nicht ein Abhaken von Geschichte begünstigt (Was hat das mit mir zu tun? Was kann ich dafür? ), sondern deren Vergegenwärtigung lebt, um aus ihr zu lernen. Aus Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? zitierend, stellt Kluge den Lehrsatz „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ in hervorgehobenen Lettern an den Anfang eines Abschnitts, in dem er, auch anhand von Horkheimers und Adornos Untersuchungen in Autorität und Familie, anti-aufklärerische Strukturen an den Pranger stellt. Ein zu verzeichnender autoritärer Geist erzeuge „überhitzte Energien“, die bis in die Familien hineinwirken: „Bei den naiven Übertragungen solcher Energien in die Gesamtgesellschaft (‚Gefühlspolitik’) entstehen Massenbewegungen, Ausgrenzung, Zerstörungen, subjektiver Rohstoff für Krieg.“ Kluge begeht hier nicht den Fehler, die Analyse eines vergangenen Zeitfensters unreflektiert auf das heutige zu übertragen. „Für den Anbruch des 21 . Jahrhundert“ fügt er deshalb hinzu, „daß der gesellschaftliche Prozeß und die subjektiven Autoren dieses Prozesses stärker auseinandergeschaltet sind, als sie es je waren.“ Im Zuge des Auseinanderbröckelns einer klassischen Rollenverteilung, die bereits im 20 . Jahrhundert begann und mittlerweile als „Unschärferelation der Macht“ in Erscheinung tritt, ist eine klare Trennung zwischen Kriegsteilnehmern und Zivilbevölkerung kaum mehr gegeben, was allein anhand der zunehmenden Anzahl an Opfertoten in den neueren und neuen Kriegen statistisch nachvollzogen werden kann. 1030 Kluge verdeutlicht, dass Angriffe auf der Ebene der Symbole 1026 Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Als Handbuch bearb. u. mit e. Essay hg. v.-Wolfgang Pickert u. Wilhelm Ritter von Schramm. Reinbek (Rowohlt) 1992 [ 1832 - 1834 ]. 1027 Kluge, Alexander: Was ist Krieg? Oskar Negt über Konstanten und Veränderungen des Krieges im 21. Jahrhundert. München (Kairos-Film) 2002 , 24 min. 1028 Wörtlich sagt Kluge „Geschichtsverbrechen“. Vgl.: Krieg, S. 213 . 1029 Ebd., S. 214 . 1030 Dazu Negt: „Drei Viertel aller Kriege nach dem 2 . Weltkrieg sind interne Kriege, d. h. Bürgerkriege. Und bis 80 , 90 Prozent ist die Zivilbevölkerung von diesen Kriegen betroffen.“ Vgl.: Kluge, Alexander: Was ist Krieg? Oskar Negt über Konstanten und Veränderungen des Krieges im 21. Jahrhundert. München (Kairos-Film) 2002 , 24 min. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 269 geführt werden und durch exakt diese entrealisierende Faktoren der Abstraktion und Dezentralisierung die Unsicherheit wächst (und auch bis auf Weiteres kein Kriegsende in Sicht ist). Die Abstraktionsgrade gelten derweil nicht allein für das spezifische Problem „Krieg“, sondern auch allumfassender für die Politik: „Die Wirklichkeit“ wandere „aus dem System der Politik“ aus, da „Konzerne und Börsen“ „wie Territorialstaaten“ agieren. 1031 Die Verunsicherung und der Zorn der Menschen entladen sich in Bürgerbewegungen und Protesten wie Occupy/ Blockupy, Anti-Atomkraft, Stuttgart 21 ebenso wie in nationalen, xenophobischen und religiös-fanatischen Bewegungen (von Anti-Europa-Parteien über die Tea Party bis zu Daesh und Boko Haram)-- alles übrigens narrativ aufgegriffen und bearbeitet von Kluge. „Der Absturz der Kurse sanktioniert schärfer als ein Territorialstaat es vermag“, heißt es in der Skizze für einen Nachruf auf den Nationalstaat. 1032 Die Freihandelsabkommen zwischen den USA und Europa sowie Kanada und Europa sind der vorläufige Höhepunkt dieser demokratiefeindlichen Gefahr der wirtschaftlichen Unterwanderung und Aushebelung von geltenden Rechtssystemen. Von exakt einer solchen Gefährdung warnt (mit beinahe seherischen Qualitäten) bereits Maßverhältnisse des Politischen, das nicht Globalisierung kritisiert, sondern diese Globalisierung, die nur eine der Abstraktion, nämlich einer der Finanzwelt ist und in Bezug auf die Realwelt und ihre real existierenden Lebewesen sich anti-global verhält: „Je näher wir also an die wirklichen Lebenszusammenhänge der Menschen kommen, je entschiedener wir also die Realabstraktion durchbrechen, desto deutlicher wird, daß der Globalisierungsbegriff heute zu einem Kampfbegriff geworden ist, um die nationalen Ökonomien zu erpressen. Wesentliches Ziel dieses Erpressungsvorgangs ist der Abbau sozialstaatlicher Sicherungen.“ 1033 Kriegsarbeit Der Wert eines Arbeitsaktes hängt laut Kluge/ Negt davon ab, wie hoch der Anteil an der „Humanisierung der Natur“ bzw. an der „Naturalisierung des Menschen“ ist. Vorausgesetzt ist hier Marx’ Definition von Arbeitsprozessen als auf der Beziehung Mensch-Natur beruhende. - Bizarr verzerrt: „An diesem Tag warfen in den Karstgebirgen Abessiniens, weit entfernt vom Moskauer Sitz des Poeten, italienische Piloten in handwerklicher Einzelfertigung gebaute Bomben aus Flugmaschinen, deren Zellen die Ingenieure kunstvoll wie Insektenkörper gegliedert 1031 Bretter, S. 324 . 1032 Ebd., S. 265 f. 1033 UM, MP, S. 986 . 270 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln hatten und deren Rümpfe bemalt waren, auf Ziele die, menschlich beseelt, zu keiner Seite hin ausweichen konnten.“ 1034 -- Arbeitsqualität bemisst sich demnach vom Grad der sinnlichen Wahrnehmung eines Arbeitsgegenstandes her sowie dem Begreifen dessen Natur, dem „Austausch“ mit dieser. 1035 Bei „Kriegsarbeit“ geht dieses Einlassen auf den Arbeitsgegenstand Feind, die Nähesuche, Subjektsuche, Natursuche zurück auf eine kalte Subjekt- Objekt-Beziehung. Es sei daran erinnert, dass es die Kategorien „Arbeitsteilung, Konkurrenz und Wertabstraktion“ sind, die eine kapitalistische Gesellschaft beschreiben. 1036 Durch Anonymisierung, Entfremdung, Materialisierung setzt eine Lethargie der Sinne ein, die für ein Erfassen, gar einen „Austausch“ dienstunfähig werden. Diese Entpersonalisierung setzt zum Ausführenkönnen von Kriegsarbeit notwendig ein. Der verdinglichte Arbeitsgegenstand ist jedoch, so Kluge/ Negt, stets „ein anderes Volk, eine Geschichte der Motive und Wünsche, eine menschliche Produktionsweise“. 1037 Bei „Kriegsarbeit“ haben wir es also mit einer so geringen „Arbeitsqualität“ zu tun, dass sie als wertlose Arbeit gelten muss. Der hysterische Vorwurf diverser Rezensionen an Geschichte und Eigensinn, die Analyse von Krieg als Arbeit verharmlose Schreckliches, verschenkt und verkennt, dass mit ihr nichts weniger als endlich eine grundlegende Entmystifizierung des Krieges gelang und im Speziellen sogleich eine Entmystifizierung der „totalen Katastrophe“. Märtyrertum à la „Kriegsheld“ oder „fürs Vaterland gefallen“ führen nur die nächste Generation von Rekruten heran. Erkenne ich aber im Krieg die katastrophale Konsequenz von sich verselbstständigten Prozessen oder unreflektierten Produktionszusammenhängen, kann ich den nächsten vielleicht verhindern. Die Verdinglichung der Arbeitskraft kulminiert in der Kriegsarbeit, in der ehemals lebendige Arbeit einem zeitversetzt „als Übermacht der Verhältnisse“, als „Marsch der verunglückten Wünsche“ 1038 gegenübertritt. Die Montage nun bricht jene Übermacht auf. Die Teile des Ganzen verraten den Produktionsprozess der Geschichte und geben Mut zum Eingreifen in diese. Für die neuen Kriegsformen allerdings ist eine solche Massenmobilisierung im Grunde obsolet geworden. Hieß es im Kabinettskrieg“ noch, man könne „in zwei Kilometer Entfernung vom Schlachtfeld in Ruhe zu Mittag essen“, sieht die Entwicklung im Zeitalter von Drohnen und 1034 Aus: Kluge, Alexander: „Libellen des Todes“, in ders.: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2008 , S. 93 f. 1035 (H. D. Müller) Vgl.: GE, S. 809 . 1036 Vgl.: UM, MP, S. 852 . 1037 GE, S. 810 . 1038 „Marsch der verunglückten Wünsche, Augen, Beine, Hirne, Rippen, der von den Leibern nach Stalingrad mitgeschleppten Haut usf., die friert“, in: Kluge, Alexander: Schlachtbeschreibung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1983 , S. 301 . Hierzu auch das Kapitel 2 . 3 . 2 (‚Kälte‘ als Metapher der Moderne). 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 271 Cyber War eher so aus: in tausend Kilometer Entfernung vom „Zielobjekt“ in Erregung, währenddessen Mittagessen. „Während aber der klassische Vernichtungskrieg auf einer Ballung von Material, Arbeitskraft und vor allem Willenskraft, also auf Mobilisierung beruht, beruht der nachklassische Krieg auf Stillstellung, Automatik und Erleiden.“ 1039 Kluge diagnostiziert bereits früh, was heute Realität geworden ist: Kein Wille, keine Chance zur Kapitulation, keine Öffentlichkeit. „Vor kurzem wurde, ganz in der Nähe des Brandenburger Tors,-[…] ein DENKMAL DES UNBEKANNTEN DESERTEURS errichtet.-[…] Das Denkmal kommt um mehr als hundert Jahre zu spät.“ 1040 Denn in künftigen Kriegen, fährt er fort, könne einer vermutlich nicht einmal mehr fliehen. Abstraktion plus Automatisierung gleich Entmündigung der Gesellschaft und jedes Einzelnen-- und das in Fragen des Krieges, der Kriegsbedrohung, der eigenen Todesgefahr? 1041 Der Tod im weitgehend 1042 nachmetaphysischen Zeitalter erscheint nicht weniger bedrohlich, allgegenwärtig und virtuell zu sein als die Ankunft des Jüngsten Gerichts: Atombomben, Atomkraftwerksunfälle, Selbstmordattentäter, Amokläufer. Das Andauern eines Krieges, und mag er noch so hoffnungslos, noch so sinnlos verloren sein, das haben psychoanalytische Beobachtungen bzw. Kriegsursachentheorien längst nachweisen können, funktioniert durch ein Ausschalten der sog. prosozialen Gefühle einerseits und die isolierte Logik der strikten Befehlsausführung andererseits. Für eine Sicherung der Fortführung der Kriegstätigkeit muss die Wahrnehmungsfähigkeit der subjektiven Erfahrung durch abstrakte, zweckrationale Planung verdrängt werden. Der Frankfurter Psychiater und Psychoanalytiker Stavros Mentzos beleuchtet den Impuls zum Krieg, der weit früher ansetzt als Theorien, die nur den Aggressionstrieb im Menschen fokussieren. Die entscheidende Differenzierung lautet: narzisstische Bedürfnisse. „Indem innere Konflikte, Identitätskrisen, Depressionen, Sinnlosigkeitsgefühle nach außen verlegt werden, finden sie auf einem Schlachtfeld den Schauplatz, auf dem sie übertönt 1039 UM, MP, S. 980 . 1040 Kluge, Alexander: „Unversöhnliche Trauer der Alcina“, in ders.: Facts & Fakes 2/ 3: Herzblut trifft Kunstblut. Berlin (Vorwerk 8 ) 2001 , S. 29 . Das von Mehmet Aksoy stammende Kunstwerk zeigt einen überlebensgroßen Stein, aus dem schablonengleich ein Mensch ausgebrochen ist, sich verdünnflüssigt hat. Auf der dazugehörigen Tafel Tucholsky-Zeilen: „Hier lebte ein Mann/ der sich geweigert hat/ auf seine Mitmenschen zu schießen/ Ehre seinem Andenken.“ 1041 Vgl. u. a.: UM, MP, S. 982 . 1042 Weltuntergangsszenarien, die neben Panikauch echte Geldmacher sind, werden nicht nur (ironischerweise lebensgefährlich) in sektiererischen Zirkeln heraufbeschworen, sondern erreichen auch immer wieder die Aufmerksamkeit der Mainstream-Öffentlichkeit. Zuletzt: Millennium, Maya-Kalender, Urknall-Experiment. 272 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln werden.“ 1043 Mentzos beschreibt den „Betrug“ an der subjektiven Erfahrung, von denen „gerade die tiefsten, innersten, authentischen“ sowie die „intrapsychischen Veränderungen“ durch die Kriegsverantwortlichen „ausgenutzt, ausgebeutet und hochstilisiert“ werden, um ein Aufrechterhalten der „Kriegsbereitschaft“ zu sichern: „Das Betrügerische liegt besonders darin, daß den Beteiligten suggeriert wird, nur durch den Krieg hätten sie in dieser Weise erfahren können.“ 1044 Dass und wie bereits z. B. in der Grundausbildung der US -Marines zum Zweck der Ausschaltung des Gefühls (Mitleid, Trennungsgefühle, Trauer usw.) eine systematische und in diesem Fall brutale Dekonditionierung stattfindet, schildert in seinen Studien der Psychoanalytiker Chaim Fiszel Shatan. Der Umgang mit Emotionen, die in der Logik des Krieges die Sicherheit des Einzelnen und somit der Gruppe oder des Landes gefährden, geschieht aber nicht nur durch Drill und das Zufügen von Gewalt, das übrigens Selbsthass und Selbstgeißelung zur Folge hat. Bei der gezielten Unterdrückung spielen vor allem Surrogate wie spezielle Rituale oder ein heroischer Wertekanon (Stolz, Tapferkeit, Opfertod) eine Rolle. Die „natürlichen Gefühle der Mitmenschlichkeit“ werden ausgeschaltet, damit die zweifelhafte Kampfmoral bzw. die Bereitschaft zum Töten nicht beeinträchtigt wird. 1045 Dies geschieht vordergründig durch das Zusammenwirken zweier Faktoren: Durch die Angst vor der Strafe, was Mentzos die „Furcht vor dem Vorgesetzten“ nennt, und durch „komplizierte psychologische Mechanismen“, in deren Zentrum das Schuldgefühl steht. 1046 Die psychoanalytische Kriegsforschung weist bereits seit Mitte der Neunziger darauf hin, dass im Krieg von außen gesehen zwar fehlgeleitete und befremdliche, aber dennoch echte Formen von Liebe, Freundschaft und Zuneigung zu den eigenen Kameraden entstehen, die die Nähe- und Schutzbedürfnisse einer fehlenden Familienstruktur ersetzen. Es zeigt sich, dass nicht nur eine Fortsetzung des Kampf- und Tötungswillens, sondern gar eine Befeuerung dieses durch die persönliche, familiäre Bindung in den eigenen Reihen stattfindet. Die Äußerungen der Gewalt, des Hasses und der Rachelust im Krieg sind demnach zu einem großen Teil auf jene libidinösen Fehlleitungen zurückzuführen. Hinter dem hässlichen Gesicht der Gewalt verbirgt sich paradoxerweise philía: „the reality of combat calls forth the language and emotion of the earliest and strongest family relationships in every place and era.“ 1047 1043 Mentzos, Stavros: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2002 . Zitiert von der U 4 . 1044 Ebd., S. 183 . 1045 Vgl.: ebd., S. 124 . 1046 Vgl.: ebd. bzw. S. 115 - 121 . 1047 Shay, Jonathan: Achilles in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character. New York, NY (Simon & Schuster) 1994 . S. 40 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 273 Trauerarbeit ist die notwendige Voraussetzung zur Verhinderung der sich einstellenden Kriegsreproduktion: „Eine Verarbeitung von Kriegstraumata, die zur Friedensfähigkeit führt, verlangt, dass die in sie eingehenden schmerzlichen Verluste von Freunden, Kameraden und Verwandten, ebenso wie die von Idealen und Träumen, angemessen betrauert werden.“ 1048 Wenn Trauerarbeit jedoch ausbleibt und die Deformation der Psyche unbehandelt bleibt, gärt in dieser ein Trieb zum „Wiederholungszwang“, der die „ungelösten inneren Spannungen, welche die Kriegserfahrungen erzeugt haben, durch die Flucht in immer neue Gewalttaten zu entlasten“ versucht. Die Gefahr lautet: „replacement of grief by rage“. 1049 Das Vorwort der deutschen Übersetzung der hier zitierten Untersuchung Achilles in Vietnam lieferte übrigens Jan Philipp Reemtsma. In seiner sozialpsychologischen Analyse setzt Reemtsma den Akzent auf Krieg als Form einer „fortdauernden individuellen Pathologie“. 1050 Danach bestimmt der Krieg den Zustand einer Gesellschaft auch über sein sozusagen urkundliches Ende hinaus mit, sodass deshalb eine „Nachkriegsgesellschaft“ niemals eine in Frieden sein könne. Im Handbuch Kriegstheorien formuliert es Gerhard Vinnai so: „Kriege hören nie ganz auf, jeder Krieg stellt eine Art Fortsetzung vorhergehender Kriege dar.“ 1051 An gleicher Stelle ist in dem genannten Grundriss weiter zu lesen, dass vergangene Kriege entscheidend mitbestimmen würden, wie Politiker und Militärs kommende führen. Diese kurzen Ausflüge in die psychoanalytischen wie sozialwissenschaftlichen Forschungsterritorien belegen also Alexander Kluges Denken und seine konsequente Reaktion in Form ästhetischer Bildungsarbeit. Das teilte er jahrelang mit seinem Freund Heiner Müller. Für diesen ist Trauer als Gedächtnis „das Gegenteil“ von „Wehleidigkeit (Nostalgie)“ und „eine Arbeit der Kunst“. In der Haltung „würdelosen Wegwerfens einer Erfahrung“ auf den Müllberg der Geschichte identifiziert er die „neue Unfähigkeit zu trauern“, was Gefahr läuft „in dumpfe Gewalt“ umzuschlagen“. 1052 In einem der vielen Gespräche zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller, die ein großes, glückliches Zeitdokument für die deutsche Kulturgeschichte darstellen (das gilt übrigens generell: 1048 Vinnai, Gerhard: „Psychologische Kriegstheorien: Psychoanalytische Konstruktionen zum Thema Krieg“, in Jäger, Thomas/ Beckmann, Rasmus: Handbuch Kriegstheorien. Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2012 , S. 42 f. 1049 Shay, Jonathan: Achilles in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character. New York, NY (Simon & Schuster) 1994 , S. 53 . 1050 Reemtsma, Jan Philipp: „Vorwort zur deutschen Ausgabe“, in Shay, Jonathan: Achill in Vietnam: Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Hamburg (Hamburger Edition) 1998 , S. 9 - 14 . 1051 Vinnai, Gerhard: „Psychologische Kriegstheorien: Psychoanalytische Konstruktionen zum Thema Krieg“, in Jäger, Thomas/ Beckmann, Rasmus: Handbuch Kriegstheorien. Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2012 , S. 41 . 1052 HMA 5275 (Heiner Müller Archiv, Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin). 274 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Alexander Kluge hat das späte 20 . und frühe 21 . Jahrhundert interviewt), kommen die beiden zu dem Punkt von Theater als Ort der Gleichzeitigkeit aller Zeiten und zum Austausch von Erfahrung: „Kluge: Was ist deine Meinung vom Theater? Müller: Keine so hohe jedenfalls. Keine so moralische. Es ist vielleicht… Kluge: …es ist das Beerdigungsinstitut der Weltgeschichte… Müller: …Beerdigungsinstitut ja, kann man auch schwer sagen. Aber es ist vielleicht eine Möglichkeit, kollektive Erfahrungen festzuschreiben und tradierbar zu machen. Kluge: …sichtbar zu halten. Müller: Sichtbar und dadurch tradierbar zu machen. Über die Erfahrung des Zuschauers, wenn man Glück hat. Kluge: Also eine Generation gibt der anderen, ja… Müller: …ihre Erfahrungen weiter… Kluge: …ihre Erfahrungen weiter, es ist also nicht so, daß die Bühne mit dem Zuschauerraum korrespondiert, sondern eigentlich ist es so, daß beide korrespondieren mit den Nachfahren und den Vorfahren. Ist das richtig? Sodaß es eigentlich eine Zeitreise ist, die man im Theater macht. Müller: Ja.-[…]“ 1053 2.5.5.2 Zur Nachrichtenlage: Narration holt Information ein „Montag, 12. August 2013, Elmau/ -[…] Hier dichtet die politische Realität an einer ‚Erzählung’, unbemerkt von der Hauptmacht der Geschichtsschreibung oder der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dienstag, 13. August 2013, Elmau/ Mir fällt ein, wie vor einigen Wochen meine Tochter bereit war, mir zuzuhören. Unmittelbar nach der gemeinsamen Besichtigung der Tagesschau und noch bevor die Mordgeschichte des sonntäglichen Abends Platz griff, debattierte ich mit ihr über die Schwierigkeit, den Kokon von geronnener Öffentlichkeit (Krise, Schulden, Städte, Gewohnheiten) als Filmemacher zu durchbrechen (meine Tochter ist Filmemacherin), weil das diesen Stoffen zugrundeliegende, wenn es in der Tagesschau zusammengefasst wird, verborgen bleibt. Das wollte meine Tochter ganz anders formuliert wissen. Gerade hatte sie Krach mit der Mitbewohnerin ihrer Wohnung. Sie wollte über persönliche Geschichten sprechen.-[…]“ 1054 Weshalb es ab einer bestimmten Geschwindigkeit zu Zeitverlust kommt: Zur Durchdringung von Wirklichkeit sind, mit Kluge gedacht, zwei Elemente nötig: Information und Narration. Die Kriegsschauplätze wechseln zu schnell und 1053 Kluge, Alexander: „Wer raucht, sieht kaltblütig aus“, im Gespräch mit Heiner Müller, in Prime-Time/ Spätausgabe vom 21 . 01 . 1996 . 1054 Tagebucheinträge Kluges „Anstelle eines Nachworts“ in ders: 30. April 1945, S. 294 f. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 275 mischen sich mit anderen Schlagzeilen (Hierarchisierung der Tragödie 1055 ), als dass die Gefühle hinterherkämen und sich Empathie einstellen könnte. Die menschlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten werden durch Rasanz und Bildwechsel in den „News“ permanent überfordert-- das Auge übersieht die Existenz dessen, was sich zwischen den als ein Fluss erscheinenden 16 oder 24 Bildern pro Sekunde befindet. Deshalb sind Einzelbilder, nicht nur Bildsequenzen, auch theoretisch so wichtig bei Kluge. Die Bilder in den Nachrichten, die sich so gleichen, täuschen darüber hinweg, dass die Menschen darauf immer neue sind. In einer unübersichtlichen Welt von sich überschlagenden Informationen ist die Urteilsfähigkeit gefährdet, auch wird es erschwert, sich nicht gleichgültig zu verhalten. Was sind derartige „Informationen“ also wert? „Die Alltagserfahrung ist obligat“, stellt Raddatz fest, „jemand hat etwas im Fernsehen gesehen, weiß aber nicht mehr, was. Sehen nicht mehr als Begreifen und Wahrnehmung, sondern als Desinformation. Tempo als Ortlosigkeit.“ 1056 Denken benötigt schließlich Zeit, Reflexion benötigt Zeiten, also nicht nur den Gegenwartsmoment. Die Elimination der Vergangenheit aus dem flüchtigen Augenblick Gegenwart ist geformt von Zukunftsangst oder vielmehr von einer Angst, beim Rennen um Aktualität abgehängt zu werden, offenbart sich also als Gegenwartsflucht. Da all die gefährdeten Grundvoraussetzungen nicht nur für Erkenntnis, sondern letztlich für eine mündige und gerechte Gesellschaft Zeit benötigen, ist es Kluge mit seiner undogmatischen ästhetischen Bildungsarbeit um Übersicht zur Ausbildung von Unterscheidungsvermögen und einer damit verbundenen Entschleunigung zur Verlängerung des Wahrnehmungsprozesses gelegen. Dazu gehört entschieden, die „Tagesnachricht in eine Dauermitteilung zu verwandeln“, 1057 d. h. sie in einen gesamtgesellschaftlichen Erfahrungsraum aufzunehmen. „Indem die Erzählung also mehr als Information und dazu weniger praktisch ausgerichtet ist, kann sie in vielen Realitäten gleichzeitig tätig sein. So wird das Erzählen nie eindeutig, sondern immer vieldeutig sein.“ 1058 Wirkliche Politik ist keine Live-Show, oder um es mit Paul Virilio zu sagen: 1055 Die Gefahr, die Menschenwürde zu verletzen, beginnt an dem Punkt, menschliches Leid und Schicksal in Relation zu einem noch dramatischeren Schicksal zu setzen. Wir haben es hier also mit sehr viel Taktgefühl zu tun. Für Glorifizierung und patriotischen Heldentot kein Platz auf dem Schlachtfeld der Antihumanität. Das ist eine Haltung des Respekts gegenüber den Toten wie auch den zukünftigen Toten. Und das ist Nachrichtenkritik. Vgl. auch das Kapitel 2 . 5 . 4 . 4 („Der Entmystifizierung des Schicksals geht die des Dramas voraus“). 1056 Raddatz, Fritz J.: „Die Ästhetik des Verschwindens. Nach dem High-Tech-Krieg am Golf: Geschwindigkeit ist doch Hexerei-- Paul Virilios Aktualität“, in Die Zeit vom 08 . 03 . 1991 . 1057 Kluge, Alexander: „Kritik an einem Kriegsausbruch durch Fragmentierung eines Gemäldes“, in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 36 . 1058 Paul Virilio, zit. n. Raddatz, Fritz J.: „Die Ästhetik des Verschwindens“, in Die Zeit vom 08 . 03 . 1991 . 276 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Eine Politik in Lichtgeschwindigkeit ist nicht möglich. Politik, das ist Zeit und Reflexion. Heute hat man keine Zeit mehr zum Nachdenken. Die Dinge, die man sieht, haben schon stattgefunden. Und es muß unmittelbar reagiert werden. Ist eine Politik in Realzeit möglich? Eine autoritäre ja. Aber wahre Demokratie ist Gewaltenteilung. Wenn keine Zeit mehr zum Teilen bleibt, was teilt man? Die Gefühle.“ 1059 In seinen Geschichten, besonders dicht in den Brettern, arbeitet Kluge greifbar jene Überforderung politischer und ökonomischer Entscheidungsträger heraus, die unter enormem Zeitdruck stehen-- dies nicht als Rechtfertigung verhängnisvoller Beschlüsse, sondern natürlich als Veranschaulichung einer Zerbrechlichkeit und Gefährdung. „Das Macht- (und Verwüstungs-) Instrument der Moderne ist die Geschwindigkeit“, schreibt Fritz J. Raddatz in seinem ausgezeichneten Artikel über die Aktualität von Paul Virilio, was auch bald 15 Jahre später nicht minder den Zeitgeist trifft. 1060 „Die Realität verschwindet durch Geschwindigkeit“, deren Ziel ja tatsächlich-- Stichwörter: Tarnkappenbomber, Drohnen, militärisch genutzte Nanotechnologie- - „das Verschwinden, die Unkenntlichkeit“ ist. 1061 Es kommt zu einem „Wettlauf zwischen Geschwindigkeit und Verschwinden der Realität. Je beschleunigter die Bewegung, desto schneller vergeht die Zeit und umso bedeutungsloser wird die Umwelt.“ 1062 Indem „Realität“ durch „Simulation“ von Realität ersetzt wird, entzieht sich das Unterscheidungs- und das Einfühlungsvermögen, Gefahrenwahrnehmung und Empathie werden blockiert. 1063 Mit der Aktualisierung von einem Etwas aus der Vergangenheit, das aber selbst etwas Nicht-Vergangenes ist, etwas Nicht-Vollendetes, das im Subtext der Realität mitschwingt, wird der Realgehalt des Optativs ins Bewusstsein gebracht. „Es muss dann wohl eine Bewegung sein, eine Aktualität des Möglichen als einer Potentialität“, 1064 heißt es im Ulysses. „Wie der Lichterdom über einer Großstadt bildet die NACHRICHTENLAGE eine Aura, in der sich die gemeinsame Vorstellung von dem verbindet, was auf dem Globus als wichtig gilt.“ 1065 Mit „Aura“ und „Lichterdom“ wird der Charakter des Heiligen und Einzigartigen, des Unantastbaren und Gott-Gegebenen angedeutet. Es folgt ein Kernsatz: „Aus solchen NACHRICHTEN - WERTEN , nicht aus den Tatsachen selbst, ist das tägliche Bild der Wirklichkeit unserer Welt zusammen- 1059 Paul Virilio, zit. n. ebd. 1060 Raddatz, Fritz J.: ebd. 1061 Ebd. 1062 Ebd. 1063 Vgl.: ebd. 1064 Joyce, James: Ulysses. Übers. v.-Hans Wollschläger. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2006 , S. 36 . 1065 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 83 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 277 gesetzt.“ Kluges Antwort lautet ästhetische Gegenproduktion: „Poetische Produkte bilden zu diesem täglichen Wechsel einen Gegensatz. In gemalten Bildern, in den Erzählungen der Novellen und Romane steht die Zeit draußen still.“ An anderer Stelle erhält diese vor allem philosophische und medienkritische These zusätzlich noch eine soziologische Note-- und zwar in ihrer Anklage der Ausgrenzung durch Verkürzung: „So sind durch die Wertabstraktion (‚Was hat in der Börsenwelt der Tatsachen den Wert, in einer Zeitung zu erscheinen? ’) breite Teile der Wirklichkeit abgeschnitten, während sich die Kunst durchaus mit ihnen befasst.“ 1066 Kluge spricht von einer Grammatik der historisch gewordenen Erfahrung und Erinnerung, die in den kulturellen Schätzen einer Gesellschaft aufbewahrt sind und also einen langen Atem beweisen, von Dauer sind und von Zuverlässigkeit zeugen. Eine solche „Grammatik, die sozusagen im Erzählstrom einer Gesellschaft historisch enthalten ist, ist der äußerlich-sprachlichen Grammatik überlegen“, 1067 also der Alltagssprache, der Sprache der Nachrichtensendungen und dem hitzigen Vokabular aller kurzlebigen Schlagzeilen allemal. Die eigene Erfahrung der Bombe hat sich eingeschrieben in die Arbeit von Alexander Kluge. Und so schreibt und filmt und redet er wie ein literarischer Abfangjäger gegen alle an, die da noch kommen wollen. Übersicht über hundert Kriege, Übersicht über hundert Auswege: „Es gibt Glücksfälle, die in der Vergangenheit verborgen sind und nicht genutzt wurden, das ist das futur antérieur“ 1068 - - die Zukunft also liegt in der Vergangenheit. Hierfür baue er unentwegt Metaphern, um „die wirklichen Verhältnisse in der Beschreibung so zu verlangsamen, dass die Emotion Kontakt zur Sache aufnehmen kann.“ Das Mittel der Metapher interessiert nicht etwa als Redeschmuck, sondern wird hier als Entschleuniger zur Ermöglichung von Erfahrungen gesellschaftsrelevant: „Heiner Müller sagte, Metaphern sind eine Vorkehrung, ein Raster, ein Werkzeug, um eine Erfahrung, die zu schnell auf uns eingestürzt, sodass wie sie nicht wahrnehmen können, wenigstens nicht mit allen unseren verschiedenen sinnlichen Fähigkeiten wahrnehmen können, so zu verlangsamen, dass wir sie wahrnehmen.“ 1069 Durch Verlangsamung des Schrecklichen und Tragischen ist das Unglück, selbst wenn es bereits geschehen ist, doch noch psychisch einzuholen, ist es zu verarbei- 1066 Kluge, Alexander: „Kritik an einem Kriegsausbruch durch Fragmentierung eines Gemäldes“, in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 36 . 1067 UM, Bd. 1 , S. 11 . 1068 Kluge in: Radisch, Iris/ Greiner, Ulrich: „Der Friedensstifter. Im Gespräch mit Alexander Kluge“, in Die Zeit vom 23 . 10 . 2003 . 1069 Alexander Kluge in: „‚Man kann nicht lernen, nicht zu lernen’- - Alexander Kluge im Unterricht“, in Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, H 6553 , Jg. LXIV, Heft 3 / 2012 , S. 14 . 278 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln ten. 1070 Insofern hat der Bildersturm der einschlagenden Flugzeuge und einstürzenden Türme weder zu einem Verstehen noch zu einem Verarbeiten beigetragen. 1071 Es ist nicht einfach, dieser Übermacht der Bildermassen der Gegenwart die „Verankerung in Vorzeiten“ 1072 entgegenzusetzen, die wenig Anschaulichkeit bereithält. „Ohne Zeit und rasante Zeitbeschleunigung zu unterbrechen, ist lebendige Erfahrung von Gegenwart nicht möglich.“ 1073 Und so setzt er der Information die Narration entgegen; 1074 „Nachrichten von ruhigen Momenten“ als Prinzip. Dass Kluges medienkritische Position der Entschleunigung zugleich immer auch eine erkenntniskritische ist, liegt auf der Hand. Die Kunst der Unterbrechung ist aufgrund ihrer Entschleunigung, ihrer Entdramatisierung ein analytischer Akt. Auf den Pessimismus Adornos und Horkheimers und den anschließenden Optimismus Habermas’ folgt mit Alexander Kluge ein zuversichtlicher Realismus: 1075 Er weiß von der Inkubationszeit des Emanzipativen. Mit der Haltung eines Nichtsdestotrotz lebt Kluge eine konkret-optimistische Erinnerungskultur vor, die auf das emanzipative Potenzial menschlicher Möglichkeiten vertraut und sie mit historischem Erfahrungsgehalt versorgen will, um sie in ihrem krankheitsanfälligen Entwicklungsprozess davor zu bewahren, in Mythos zurückzuschlagen. 1076 „Wenn Sie die Irrtümer aller Vergangenheiten hinzufügen, haben Sie etwas mehr Orientierung. Man kann also gar nicht mehr sagen, wir horten Wahrheiten. Sondern wir unterscheiden, was die größten Irrtümer waren, und isolieren das, was wir auf gar keinen Fall mehr wiederholen wollen.“ 1077 1070 Vgl.: UM, MP, S. 962 . 1071 Stattdessen Rückfall in Mythos („War on Terror“, „Achse des Bösen“) und Zeichen der Angst in Form von Aggression (erstarkter Patriotismus bis zum Nationalismus; totale Überwachung). 1072 30. April 1945, S. 288 . 1073 UM, MP, S. 753 . 1074 Der Gedanke, der Information das Narrative zur Seite zu stellen, erinnert mit Kluges Multi-Touch-Book Moritaten übrigens an das 17 . bis 19 . Jahrhundert. Neben Briefen, Journalen und Zeitungen waren es jene Schauerballaden, die als Kommunikationsmedium zur Informationsübermittlung fungierten. Ähnlich des klugeschen Erzählprinzips orientierte sich diese Eigenart der Bänkelgesänge an wahren Begebenheiten, jedoch in literarischem Gewand. Bemerkenswert bei dieser Gegenüberstellung ist außerdem der damalige Einsatz von Leinwänden zur Veranschaulichung des erzählten Geschehens. Ein frühes Multimedium also, das durchaus in Verwandtschaft mit Kluge Schrift, Bild und Musik gemeinsam zum Einsatz brachte. 1075 D.h. zuversichtlich aufgrund von konkreten Erfahrungswerten: Sicher sei er kein Pessimist, sagt Kluge über sich selbst, aber im Grunde sei er auch kein Optimist. Er sei schlicht Sammler und somit Kenner von unzähligen Auswegen. Mit dieser Nuance eines realistisch-zuversichtlichen Dritten beschützt Kluge seine Arbeiten hier vor Angriffen. 1076 Siehe hierzu auch die Einleitung zum Kapitel „Mündigkeit“ sowie das zweite Interview. 1077 Kluge in: Illies, Florian: „Herr Kluge, wie wird das Jahr 2013 ? “, in Die Welt vom 12 . 01 . 20013 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 279 Das Ziel muss lauten, allerhand geistige Zugänge zu den Museen und Archiven zu legen, sodass ihre Erfahrungsschätze Einzug in gegenwärtige- - insbesondere öffentliche-- Reflexionsprozesse halten. „Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt. Der Chorismos von draußen und drinnen ist seinerseits historisch bedingt. Nur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderen gegenwärtig hat; Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt. Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert.“ 1078 Raum und Zeit scheinen sich zu krümmen, trotzige Formfindung ersetzt vergebliche Formvollendung eines Anfang-Ende-Szenariums: Die Idee der Gegenwart dehnt Kluge aus zu der der Gegenwärtigkeit, was einem Sog der Zeiten gleichkommt. Benjamins „Vor- und Nachgeschichte“ 1079 plus die musilsche und klugesche Zeitdimension des Optativs-- Vergangenes, Zukünftiges, Mögliches und Wünschbares- - werden, etwa durch die Stilmittelkombination von Lakonie und Ellipse (auf der Ereignisebene), in die Jetztzeit eingespeist, wodurch das fatalistische Geschichtskontinuum, jene Mär von objektiver Geschichtsschreibung, regelrecht aufgesprengt wird, schließlich Energie freigesetzt wird. 1080 Die Erziehung der Eltern und die Hoffnung auf etwas in der Zukunft beeinflussen schließlich die gegenwärtige Handlung. Kluge regt ein Zeitbewusstsein an, das das Punktuelle von Gegenwart verdickt, den Moment lang hält. Der Zeitpunkt wird zu einem extensionalen Zeitfeld, in dem die Zeiten ungetrennt und gemeinsam wirken. Man erhält eine Entideologisierung der Gegenwart, einen Zeitgewinn, der einen Reflexionsraum schafft mit einer Distanzierung zur Hektik des Jetzt, sodass man sich der geschichtlichen Bedeutung bewusst werden kann, Gegebenheiten einzuordnen weiß. Dies ist also nicht nur von ästhetischer Bedeutsamkeit (durch das Narrativ gelingt die Überführung des Flüchtigen ins Dauerhafte): Durch die Montage wird auch das Objektive in unmittelbare Reichweite des Subjektiven, das Entscheidungsferne an den eigenen Zuständigkeitsbereich gesetzt, die Entscheidungsgewalt und mit ihr der Bereich des Möglichen in die Breite gezogen. Dergestalt ist eine solche Denkart sowohl ein Abgesang auf Fortschrittsideologie und Kapitalakkumulation als auch Gegenprojekt zu moralisierendem, pseudo-betroffenem Denkmaltum. Die Versöhnung von Mythos und Natur, das steht in der 1078 AGS 6 , S. 165 . 1079 BGS I, S. 227 . 1080 Die fünf Zeitformen des Vergangenen, Gegenwärtigen, Zukünftigen, Möglichen und Wünschbaren koexistieren, denn nur „zusammen bilden sie ein menschliches Verhältnis zu den Dingen“. Vgl.: Theorie der Erzählung, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ ( 3 . Vorlesung, 19 . 06 . 2012 ). 280 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Dialektik der Aufklärung, gelingt schließlich durch Erinnerungsarbeit. 1081 Letztlich dient also Arbeit an und mit Erinnerung dem übergeordneten, eigentlichen Ziel: der Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Schließlich gilt als „eine der edelsten Aufgaben des Denkens“ die „Wiedereinsetzung der Erinnerung in ihr Recht als Mittel der Befreiung“. 1082 Die unübersichtliche Gegenwart konfrontiert mich mit akuten Problemen, die ihre Übermacht über mich ausbreiten; von Zeitnot in die Enge getrieben, werde ich zu Entscheidungen gedrängt. Reflexion jedoch bedarf der Zeit, also gewinne ich Zeit auf einer höheren Ebene: Ich öffne die schmale Gegenwart nach allen Seiten. Wenn Kluge also in 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann gerade nicht nur isoliert von eben jenem Tag erzählt, sondern zeitlich Entferntes und inhaltlich Vergleichbares einbezieht, zudem objektive und subjektive Geschichte gleichwertig behandelt, dann tut er dies mit dem Bewusstsein darüber, dass „der reale Gang der Geschichte-[…] zum Aufsuchen von Konstellationen [nötigt].“ 1083 Objektive Geschichte und subjektive Erfahrungen kollidieren, überschneiden sich oder laufen aneinander vorbei. Entscheidend ist, diese Beziehungen zwischen Allgemeinem und Besonderem nicht isoliert, nicht in einem Bild wiederzugeben, sondern mit weiteren Beispielen ähnlicher Muster in Konstellationen von Texten, Bildern und Filmen zu konfrontieren, sodass sich Auswege und Lösungen für den Betrachter auftun. „Man muß vielmehr für den gleichen Zeitraum an anderen Orten der Welt, bei einer ähnlichen Konstellation, nach dem charakteristischen Schema suchen und wird dort auch das Detail in der Wiederkehr vorfinden.“ 1084 Hierfür ist der Autor als Sammler (ein Sammler interessiert sich für die Geschichte seines Gegenstandes) und als Konstrukteur 1085 gefordert, der das Material durch Unterscheidungsvermögen auswählt und so montiert, dass die einzelnen Elemente im Rezipientenkopf in Kommunikation treten können. Kluge entmystifiziert verdinglichte Subjektivität: „Was Subjekt und was Objekt ist, ist in geschichtlichen Zusammenhängen nicht danach zu beurteilen, wie etwas aussieht, auch kein Substanzbegriff wie in der ersten Natur, sondern hängt immer von der Konstellation ab.“ 1086 1081 Vgl.: HGS, 5 , S. 64 . 1082 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1967 , S. 228 . 1083 AGS 6 , S. 168 . 1084 UM, MP, S. 701 . 1085 „Konstruktionsarbeit, so wie man Eisenbahnen, Brücken baut, Städte gründet, aber überhaupt nicht viereckig oder geradlinig.“-- Das Herstellen also von Verbindungen. Sklavin, S. 208 . 1086 UM, GE, S. 520 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 281 Die für Kluge idiosynkratische Interaktion von Geschichten, die ihre Formen ständig wechseln, geht bei ihm einher mit der Interaktion der Medien, die ebenso alternieren. Wenn kein Unterscheidungsvermögen herzustellen sei oder dieses nichts auszurichten vermag gegen gesellschaftliche Verdrängungsmechanismen, helfe an dessen Stelle ein möglichst mannigfaltiges Ausdrucksvermögen: „Es müssen in reichem Maße verschiedenartige Gefäße für die Erinnerung zur Verfügung stehen. Unwahrscheinlich ist es, dass sämtliche Varianten eines Erfahrungsgehalts gleichzeitig abgewehrt werden. Daher sind verschiedenartige Behälter für den gleichen Erfahrungsgehalt notwendig.“ 1087 Klugesche narrative Variation und Wiederholung sind also reflektiert, sind beabsichtigt, und dienen der Erhöhung an Wahrscheinlichkeit emanzipativer Wirkung; mit der Vielfalt an Formen (die Gefäße) reagiert er auf die Vielfalt der Rezipienten. Unübersichtliche und nebulöse Sachverhalte werden aufgeschlossen, indem sie anhand von Geschichten, Bildern, Filmen noch einmal erzählt werden und einen Zusammenhang eingehen. So wird, wenn es gelingt, der einzelne Mensch aus dem lähmenden Zustand seines Ohnmachtgefühls zum gesellschaftspolitischen Leben erweckt und in seinem Selbstbewusstsein gestärkt. Abstraktes wird durch Illustrationen, Geschichten und Analogien zu Konkretem, Verständlichem, Persönlichem. Die gesellschaftsanalytischen Beobachtungen münden, umzingelt von Beispielen, in präzise Reflexionen wie etwa dieser: „Die konsumtiven Bedürfnisse treten als Forderungen eines besseren Lebens in den Vordergrund, die auf Autonomie und Selbstbestimmung sich richtenden Bedürfnisse dagegen in den Hintergrund.“ 1088 2.5.6 Über Verstehen und Wollen: Produktion und Rezeption „Verzweifeln Sie nicht! Sie müssen das nicht auf einen Schlag lesen, das ist das Wesen einer Chronik, daß man in ihr auch vorwärts und rückwärts blättern kann, nach Interessengebieten lesen, in dem Buch herumspringen von hinten nach vorn, je nachdem, wohin einen die Neugier und die Kapitelüberschriften treiben.“ 1089 1087 UM, MP, S. 708 . Kluge und Negt geraten bei diesem Punkt übrigens nie in Verschwörungstheorien oder dergleichen: „Es wäre jedoch ein Irrtum, anzunehmen, dass die Leugnungsversuche der Ämter oder die überredende Tätigkeit der Medien solche Vergeßlichkeit bewirken könnten.“ Auch begnügen sie sich nicht mit psychologischen Vereinfachungen: „Menschen sind nur unter größten Anstrengungen imstande, eine unerträgliche Erfahrung vor ihrem Selbstbewußtsein wachzuhalten, sofern das Unerträgliche sie zu andauernden Ohnmachtsgefühlen verdammt. Sie löschen die Dissonanz-[…].“ UM, MP, S. 707 . 1088 GE, S. 104 . 1089 Alexander Kluge im Gespräch mit Christoph Buchwald: „‚Menschen haben zweierlei Eigentum: Lebenszeit und Eigensinn.’ 9 Fragen an Alexander Kluge“, in Kluge, Alexander: CdG (Eine Navigationshilfe), Begleitheft vom Suhrkamp Verlag, S. 4 . 282 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln In der Süddeutschen Zeitung vom 6 . Februar des Jahres 1969 ist eine kleine Anekdote zu lesen, die von „vierzehn schwergewichtigen Artisten“ handelt, die in ein Düsseldorfer Kino gingen, weil sie sich durch den Filmtitel Die Artisten auf der Zirkuskuppel: ratlos angesprochen gefühlt hatten, bald aber wutentbrannt aus dem Kinosaal gingen, um ihr Eintrittsgeld zurückzufordern: „Wir wollen keinen Reformzirkus, sondern ’n Zirkusfilm.“ In den Beständen des Deutschen Literaturarchivs in Marbach offenbaren dutzende Sammelmappen eine mehr als 50 -jährige Rezensionsgeschichte über Alexander Kluge, die auch eine zunehmende Wertschätzung Kluges Werk und Wirken dokumentiert. Die Feuilletons der großen Tages- und Wochenzeitungen sind voll mit Interviews und Erzählungen Kluges (mal seitenweise lang, mal nur schnipselgroß), selbst in der ausländischen Presse tauchen hin und wieder Artikel auf. 1090 Eher unerwartet finden sich Ausschnitte z. B. aus seinen neuesten Veröffentlichungen auch in Regional- und Lokalblättern-- ein Vordringen der Kritischen Theorie vermittels Kluges literarischer Sprache bis in die Küche. Kluges Geschichten richten sich an ein Publikum unterschiedlichster Altersgruppen: „Ein älterer Leser, der viel Zeitgeschichte erlebt hat, wird sich sicher zuerst in die Historie vertiefen, ein junger Mensch vielleicht ‚wilder’ lesen oder zuerst die vielen Geschichten, die jetzt spielen-[…], die mit seinen unmittelbaren Erfahrungen und Fragen zu tun haben.“ 1091 Kommentare auf YouTube schwanken (naturgemäß) und erheitern zuweilen: „Mein Kompliment an der Interviewer, der macht seine Sache richtig, richtig gut! Man merkt richtig, dass dieser Neurowissenschaftler durch seine Fragen angeregt wird und sich freut.“ 1092 1090 Kluge ist international weniger bekannt als in Deutschland, wo er nun auch nicht gerade zum Allgemeinwissen zählt. Doch auch im Ausland gibt und gab es zeitlebens immer wieder Meldungen, Interviews Textauszüge und Textexegesen. Kursorisch zu nennen sind etwa die französische Le Monde, die italienische Tuttolibri (gehört zur italienischen Tageszeitung La Stampa) oder die spanische El País, ihres Zeichens größte und bekannteste Tageszeitung des Landes, die gleich eine Doppelseite brachte. Vgl.: Mandelbaum, Jacques: „Du cinéma et de l’utopie, selon Alexander Kluge“, in Le Monde vom 26 . 04 . 2013 ; Del Buono, Oreste: „Lo scandaloso Kluge abbrevia la Storia per orrore e pietà“, in Tuttolibri, Nr. 121 ., vom 12 . 06 . 1982 , S. 2 ; Dreymüller, Cecilia: „‚Los seres humanos creamos diablos’-- Alexander Kluge conforma en 200 relatos un gran mosaico del mal con múltiples escenarios”, in El País, Babelia, Nr. 1116 ., vom 17 . 11 . 2007 , S. 16 f. 1091 Alexander Kluge im Gespräch mit Christoph Buchwald: „‚Menschen haben zweierlei Eigentum: Lebenszeit und Eigensinn.’ 9 Fragen an Alexander Kluge“, in Kluge, Alexander: CdG (Eine Navigationshilfe), Begleitheft vom Suhrkamp Verlag, S. 5 . 1092 Von der Userin aliciahannahmaria im Jahr 2010 getätigter Kommentar zu „ 10 vor 11 -- Wie frei ist mein Gehirn? ( 2 / 3 )“. Link: http: / / www.youtube.com/ watch? v=0iIW1RYuke 4 &lc=- Xv 3 _jMfkYo_ 9 MO 0 szvHoOxPXGl 1 if 9 W 2 NPh_l 2 J 3 ZII Jahr [Zugriff: 16 . 11 . 2012 ]. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 283 „Der Typ, der Helge interviewt nervt irgendwie. Er fügt hinter fast jeden Satz ein ‚ja’ wahlweise auch ein ‚nicht’. Ganz miese Rhetorik! Sowieso stell ich den Sinn der ganzen Sendung in Frage.“ 1093 „Das gehört zu Alexander Kluges Strategie. Durch absurde Fragen, unentwegtes Unterbrechen, Inhalte in merkwürdige Richtungen treiben zu lassen-- zu lassen, wiederhole ich. Er verleiht dem Dialog dadurch eine Form Autonomie, denn keiner der beiden steuert das Gespräch wirklich klar.“ 1094 Vorwürfe, nach denen Kluges Arbeit zu intellektuell, zu kompliziert und sowieso komplett verworren sei, erweisen sich nach eingehender Auseinandersetzung als unsachlich und greifen vor allem zu kurz. Es stellte sich heraus, dass dem gleich auf mehren Ebenen entgegengehalten werden muss. Zunächst muss die Vermischung zwischen den Zuschreibungen „komplex“ und „kompliziert“ aufgehoben werden. Zweifellos untersucht Kluge komplexe Zusammenhänge in komplexer (intermedialer, interdisziplinärer) Form. Kompliziert, also unverständlich und undurchsichtig sind sie deshalb aber noch nicht. Man kann seine optisch zuweilen einschüchternd großen, innen drin jedoch von lesefreundlich kleinen Geschichten wimmelnden Bücher aufschlagen und anfangen, wo man will, nach Belieben vor- und zurückblättern, dem idealen Körper gleich. Kluge macht nicht nur Kugelfilme, er mach auch Kugelbücher. 1095 Die NZZ jedenfalls bescheinigt Kluge das Gelingen von Anschaulichkeit (ohne dabei nur einem Genre zugerechnet werden zu können): „Das Ganze wirkt bald didaktisch wie Schulfunk, bald wie höhere Komik. Abstraktes wird greifbar.“ 1096 Zweitens zeigen konkrete Beispiele seiner Produktionen, dass er nicht wenige filmische wie literarische Beiträge wirklich leicht und simpel (nicht: billig und oberflächlich) gehalten hat. So wird etwa in dem viertelstündigen „Unterwasserwanderer“ 1097 mit Helge Schneider die gängige Redewendung „den Dingen auf den Grund gehen“ beim Wort genommen. Auf diesem vollkommen allgemeinverständlichen Niveau sprechen Kluge und Helge Schneider in der Rolle des 1093 Dieser Kommentar der Userin MrsDebbieJersey aus dem Jahr 2011 ist ausgerechnet eine Reaktion auf „Helge Schneider als Studienrat und Major ( 1 of 2 )“. Link: www.youtube. com/ watch? v=V3RMjiEVFNs&feature=related [Zugriff: 16 . 11 . 2012 ]. 1094 Vom User Schurik 72 im Jahr 2012 getätigter Kommentar auf Georg Schramm als Oberstleutnant Sanftleben ( 1 of 5 ). Link: http: / / www.youtube.com/ watch? v=a5fX7E7nbTI&feature=related [Zugriff: 16 . 11 . 2012 ]. 1095 Zuletzt: 30. April 1945, das mit dem Kapitel „Ankunft am Endpunkt“ beginnt. Früheres Beispiel: Bestandsaufnahme: Utopie Film, wo linksseitig ein Standbild einer Filmschlusseinstellung („THE END“) dem rechtseitigen, ebenfalls in Majuskeln gesetzten Anfangskapitel des Buches („TEIL EINS“) vorangestellt ist. Zum Kugel-Thema siehe Kapitel 2 . 5 . 3 . 3 . 1096 Freuler, Regula: „Film zur Finanzkrise: Helge Schneiders letzte Zigarette“, in Neue Zürcher Zeitung vom 10 . 01 . 2010 . 1097 Kluge, Alexander: „Der Unterwasserwanderer“, mit Helge Schneider. Link: http: / / www. dctp.tv/ filme/ helge-schneider-der-unterwasserwanderer/ [Zugriff: 01 . 02 . 2013 ]. 284 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Unterwasserwanderers“ über jenen Ausspruch Marx’, dass harte Materie flüssig gemacht werden müsse, indem den versteinerten Dingen ihre Melodie vorgespielt werde, um ihnen ihr Ozeanisches zu entlocken, also ihr ursprünglich, natürlich Wesenhaftes. 1098 Diese eulenspiegelhafte Ausbuchstabierung der metaphorisch gewordenen Sprache dient ihrer Dekonstruktion wie ihrer Sinnbelebung. Davon abgesehen gibt es bei beinahe jedem Sachverhalt mehr als eine gedankliche Ebene, zu der man vorstoßen kann; man muss nicht alles erschließen, sondern es reicht ja schon, wenn man etwas mitnimmt. Drittens muss offensichtlich, so trivial das auch erscheinen mag, das Anliegen von Kluges Kulturfernsehen vergegenwärtigt werden, d. h. die Frage nach Kultur als Gemeingut und nach Kultur als Ware gestellt werden. Schließlich geht es ja nicht darum, irgendwie eine hohe Quote zu erzielen, Fernsehen und Web- TV für die Masse zu machen, sondern im Gegenteil darum, etwas anderes bereitzustellen, das sich sonst nicht findet. Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, dass Mensch, Gesellschaft, Leben reichhaltiger sind als es das Standard-Programm erscheinen lässt. Etwas, das nicht in der Reproduktionsdauerschleife des Immergleichen gefangen ist, sondern etwas, das immer wieder den produktiven Ausbruch zelebriert. Kluges Kulturfenster stellen schließlich den Unterhaltungscharakter des Fernsehens generell infrage. Aber nicht verschroben, indem sie Unterhaltung aussperren würden, sondern ungezwungen, indem sie Unterhaltung neu erfinden, und zwar so, dass sich der Zuschauer beim Lachen nicht mehr für dumm verkauft fühlen muss. Der Warencharakter von Kultur ist hier, gerade in Anbetracht der Umstände des Gesamtzusammenhangs (Privatfernsehen; Werbung), natürlich vorhanden, jedoch als extrem niedrig einzustufen. Psychologisch ist die Reaktion der Ablehnung womöglich darauf zurückzuführen, dass die komplexe Verknüpfung von heterogenen Formen und Inhalten erstens die Rezeptionsgewohnheiten stört, indem sie zweitens eingefahrene Schematismen bloßstellt und sicher geglaubte Ordnungssysteme infrage stellt (etwa Vorstellungen von Chronologie und Linearität) und drittens inhaltlich auf die individuelle Konfliktsphäre stößt, die dann entsprechende Abwehrreaktionen auslöst. Der Lessing-Preis wurde Kluge u. a. mit folgender Begründung überreicht: „Er regt mit seiner ausgeprägt historischen Perspektive wie in seiner wachen Zeitgenossenschaft Leser und Zuschauer zu ungewohnter, unbequemer Wahrnehmung an, fordert unsere Mündigkeit heraus und fördert unsere Orientierung in der aktuellen Medienwelt.“ 1099 1098 Helge Schneider als „der Unterwasserwanderer“: „Wenn man der Sache auf den Grund gehen will-[…], muss man tief runter.“ Vgl.: ebd. 1099 Auszug aus der Begründung der Jury für die Vergabe des „Lessing-Preises für Kritik“ 2002 an Alexander Kluge. http: / / www.kluge-alexander.de/ aktuelles/ details/ artikel/ pressenotizzur-vergabe-des-lessing-preises-fuer-kritik-2002.html [Zugriff: 16 . 10 . 2012 ]. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 285 Letztlich ist es eine Frage der Einstellung, des Zulassens, der Bereitschaft, sich auf andere Formen und Inhalte einzulassen, sich „ohne Angst“ der „Flucht der Bilder“ 1100 anzuvertrauen. D.h. auch keine Angst vorm Nicht-Begreifen: Die sinnliche Anschauung kommt zunächst ohne Begriffe aus, die Begriffe treten erst hinzu. Entsprechend: „Begriffliche Uneinholbarkeit aller Wahrnehmungsprozesse“. 1101 Da Gewohnheiten gezielt gestört werden, ist eine Abwehrreaktion so natürlich wie das Auslösen von Neugier. Der krampfhaften Suche nach Sinn jedoch entgleitet dieser. Ist die Wahrnehmung gehemmt durch Ängste und Stigmata, Voreingenommenheit und Intoleranz, mündet dies beim viereckigen Zuschauer im erschreckten Zurückschalten in die Wirklichkeit eines Dschungelcamps oder beim engstirnigen Akademiker in peinlichen Entgleisungen. 1102 Noch einmal: Es geht nicht darum, dass Kluges Arbeiten „verstanden“ werden, sondern es geht darum, dass sie etwas auslösen. Überträgt man Benjamin geltende Äußerungen Adornos auf Kluge, scheint das keineswegs unlauterer Wettbewerb zu sein, so ähnlich sind sich die beiden nichtakademischen kritischen Theoretiker in ihren Entwürfen einer „athematischen Philosophie“ (im Prinzip ein Synonym zu „postdramatisch“, was zusätzlich die Konstellationsästhetik berücksichtigt): „So wie die Neue Musik in ihren kompromißlosen Vertretern keine ‚Durchführung’, keinen Unterschied von Thema und Entwicklung mehr duldet, sondern jeder musikalische Gedanke, ja jeder Ton darin gleich nahe zum Mittelpunkt steht, so ist auch Benjamins Philosophie ‚athematisch’. Dialektik im Stillstand bedeutet sie auch insofern, als sie in sich eigentlich keine Entwicklungszeit kennt, sondern ihre Form aus der Konstellation der einzelnen Aussagen empfängt. Daher ihre Affinität zum Aphorismus. Zugleich 1100 AGS 17 , S. 40 . 1101 Siegmund, Judith: „Das Kunstwerk zwischen Produktion und Rezeption. Zur Reichweite des Begriffs ästhetische Erfahrung und zu seiner reduktionistischen Fassung in rezeptionsästhetischen Theorien“, in Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006 , S. 12 . Online-Publikation. Link: http: / / www.sfb626.de/ veroeffentlichungen/ online/ aesth_erfahrung/ aufsaetze/ siegmund. pdf [Zugriff: 05 . 03 . 2013 ]. Hervorh. gem. Orig. 1102 Wie etwa der folgenden: 1980 erscheint bei Matthes & Seitz ein irritierender (und irritierter) Beitrag Christian Linders, der sich in eine verstörende Tirade auf die Person Alexander Kluge einschießt. Auf jenen fünfzig zu vielen Seiten bellt einem eine demagogische Hass-und-Hetz-Rede hinter akademischer Fassade entgegen, die dazu noch nicht einmal gut geschrieben ist, sich in polemischen Redundanzen, missbrauchten Zitaten und faschistoider Sprache suhlt. Zur Veranschaulichung eine Wortsammlung, die an der Existenz eines Verlagslektorats zweifeln lässt: „Klugscheißer“, „Anormalität“, „gestört“, „lächerlich“, „Narziss-Problem“, „Größenwahn“, „feige“, „Sinnentzug“, „gehemmter Vatermörder“, „Nekrophilie“, „versteckte Aggression“, „Mangel an Emotionalität“, „höhnisch und böse“, „Voyeurismus“, „Behinderung“ usw. usf. Vgl.: Linder, Christian: „Die Behandlung der Welt. Über Alexander Kluge“, in ders.: Noten an den Rand des Lebens. Portraits und Perspektiven. Berlin (Matthes & Seitz), 1980 , S. 200 - 249 . 286 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln jedoch erfordert das theoretische Element Benjamins stets wieder große gedankliche Zusammenhänge. Seine Form hat er einem Gewebe verglichen, und ihr überaus verschlossener Charakter wird davon bedingt: die einzelnen Motive sind aufeinander abgestimmt und ineinander verschlungen ohne Rücksicht darauf, durch ihre Folge einen Denkprozeß abzubilden, etwas ‚mitzuteilen’ oder den Leser zu überzeugen: ‚Überzeugen ist unfruchtbar.’“ 1103 Und schließlich haben wir es mit einer bewussten Entscheidung Kluges zu tun: „Ich vertrete (gelegentlich auf Kosten der leichteren Verständlichkeit) einen strikt anti-rhetorischen, nicht überredenden Standpunkt.“ 1104 Es geht ihm um die Unmittelbarkeit von Erfahrung, die ein tiefenpsychologisches Verstehen ist. 1105 „Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch. O. Negt/ A. Kluge.“-- Das Vorwort von Geschichte und Eigensinn ist eigentlich eine Gebrauchsanleitung. Eine, die bemüht darum ist, mit Vorurteilen aufzuräumen und Ängste zu nehmen, besonders die Angst vorm Nichtverstehen: „Wir legen ein Gebrauchsbuch vor“, heißt es. Eines, dessen Form ausgerichtet sei „auf eine entspannte Aufmerksamkeit des Lesers“. Von diesem wird nicht mehr erwartet als dass er mit „Eigeninteresse“ an das Werk herangeht. Es gehe nicht darum, tausend Seiten von vorn bis hinten zu wälzen, sondern sich das herauszupicken, was mit dem eigenen Leben zu tun habe und am besten immer mal wieder darin zu blättern. Lieber das, was einen wirklich interessiert, drei Mal lesen und etwas fühlen, als alles lesen und nichts fühlen. Das Buch ist auch gar nicht so ausgerichtet, es ist nicht ein Fluss, der in eine Richtung fließt, sondern es sind zich Flüsse, Biegungen und Verläufe. Darf oder muss Kunst eine Gebrauchsanweisung geben, wie sie zu verstehen ist? Vermutlich sehe die Anzahl an Kunstschaffenden äußerst gering aus, die hierauf ohne Weiteres mit „Ja“ antworten würde. Es ist die Frage, die sich umstellen muss: Darf die Kunst eine Gebrauchsanweisung geben, sicher nicht was in ihr zu lesen ist, wie sie „gemeint“ ist, was sie „will“ (sprich: keine Handlungsanleitung), aber vielleicht immerhin wie sie zu lesen ist, damit zumindest die Möglichkeit vergrößert wird, sich selbstständig mit ihr auseinanderzusetzen? Wann so ein Schritt legitim ist, gibt Adorno vor: „Anstelle des Schocks, der mit seiner Explosion zugleich verschwindet, tritt in den Kunstwerken das Eingedenken der Konstellation, die in jedem einmal sich kristallisierte. Kunstwerke verständlich machen heißt eigentlich, solchem Eingedenken beistehen, 1103 AGS 11 , S. 578 . 1104 Kluge, Alexander: „Der Autor als Dompteur oder Gärtner“, Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1993 , in ders.: Personen und Reden. Berlin (Wagenbach) 2012 , S. 25 . 1105 „Und dieser Erzählstrom der gesprochenen Sprache der Kinderzeit, also der unmittelbaren Erfahrung (unabhängig davon, ob der Inhalt der Gespräche vom Kind verstanden wird), ist für den Autor die Verständigung wiederum mit dem Leser, der auf seiner Seite ebenfalls ein Autor ist, der seine Autorenschaft nur nicht berufsmäßig ausübt.“ Ebd., S. 28 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 287 einer Schicht des Lebens der Werke, die anders ist als ihre reine Unmittelbarkeit. Sie darf die ihres Nachlebens heißen. Damit die Werke dauern, bedürfen sie des Verständnisses derer, die sie hören. Um dieser Dauer willen, nicht als Mittel bloßer informatorischer Verbreitung sind Höranweisungen zu verantworten.“ 1106 2.5.6.1 Eine Haltung des Respekts Der Tagesspiegel betitelt 1978 einen großen Artikel zu Kluge mit der „kopernikanischen Wende der Literatur“: „Der Autor weist den von ihm beschriebenen Ereignissen und Phänomenen nicht mehr ihren Stellenwert in einer sinnstrukturierten, sinngebenden Hierarchie zu, an deren Spitze der gottähnliche Autor selbst als der alles Überschauende, Lenkende steht.-[…] Er läßt dem Leser Freiheit-[…]. Auf den weißen Stellen richtet sich der Rezipient ein und schreibt, von dort aus das Buch weiter-[…].“ 1107 „Kluges fast schockierende Intelligenz hat es geschafft, aus Marx und Brecht zu lernen“, erkennt Fritz J.-Raddatz-- „nicht aber, indem er ‚Expropriation der Expropriateure’ nachschmatzt oder härene Partizipialkonstruktionen nachäfft“, fügt er sogleich hinzu. „Alexander Kluge ist ein großer Ausbeuter aller vorhandenen Denkresultate und artistischen Spielformen-- und ein Künstler ganz eigener Kategorie; unverwechselbar.“ 1108 Raddatz erlebt das Affizierende der klugeschen Erzählweise am eigenen Leib: „Der Kritiker hat sich vom Autor verführen lassen. Die erregende Lektüre eines anderen Buches, einen Tag zuvor beendet, drängte sich in den Leseeindruck von Kluges Text-Bild- Montage ein, als sei sie ein Teil dieser Arbeit. Das eine Buch sog das andere auf, wie Löschpapier.-[…] Teile des einen hätten Teile des anderen sein können.“ 1109 Was diese Eindrücke hier belegen, ist, dass Kluges Arbeiten, nur weil sie keinem klassischen roten Faden folgen, nicht irgendwelche Geschichten ohne Sinn und Ende sind, sondern andockungsfähig, weiterverarbeitungsfähig, also kollektivgestalterisch wirken. Es gelinge ihm, so Die Zeit, „ästhetischen Blick“ und „analytische Deutung“ zu verbinden. 1110 Ein nicht-lineares Leseerlebnis, da die Texte nicht dramaturgisch aufeinander aufbauen, sondern rhizomartig in Verbindung stehen. Ein Sujet, ein Gedanke oder auch nur ein Begriff der einen Kurzgeschichte 1106 AGS 15 , S. 248 . 1107 Jochum, Norbert: „Die kopernikanische Wende der Literatur. Alexander Kluges ‚Neue Geschichten- - Unheimlichkeit der Zeit’“, in Der Tagesspiegel, Nr. 9900 , vom 16 . 04 . 1978 , S. 57 . 1108 Raddatz, Fritz J.: „Es ist nämlich ein Irrtum, daß die Toten tot sind. Alexander Kluge: ‚Die Patriotin’-- Ein Buch das kein Buch das ein Buch ist-- und eine Kritik die keine Kritik die eine Kritik ist“, in Die Zeit vom 18 . 01 . 1980 . 1109 Ebd. 1110 Cammann, Alexander: „Wenn die Erde läutet. Alexander Kluge fantasiert über die Fukushima-Katastrophe“, in Die Zeit vom 26 . 04 . 2012 . 288 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln erinnert an eine oder mehrere andere. Je mehr Texte rezipiert sind, je mehr verdichten sich diese zu einem Textorganismus. Je mehr wollen sie sich verdichten: „Reading Kluge’s stories produces strange effects. Given their sheer number and the shortness of many, it is inevitable that the reader will forget a lot of them quickly. But eventually one feels the cumulative impact of his kid of storytelling, which operates on a paradigmatic rather than a syntagmatic level. And then there emerge those stories that begin to work in one’s head. The gaps and fissures left by Kluge’s minimalist narrative strategy beg to be filled in. The reader is hooked.“ 1111 Andreas Huyssen von der Columbia University beschreibt hier die Rezeptionserfahrung als eine abhängig machende, was dafür spricht, dass auch eine mit der Romanform brechende Schreibweise einen lesesüchtig machen kann. Dieses Lesevergnügen passt so gar nicht zum Vorwurf der Kompliziertheit, mit dem Kluge z.T. konfrontiert wird. Erstens beschreibt Huyssen, dass die Texte nachwirken, dass sie weiter arbeiten im Rezipientenkopf. Und zweitens, dass bereits in der Grundstruktur der Produktion der Rezipient angelegt ist: „The very structure of his writing is designed to transform the reader’s head into a construction site.“ 1112 „Es geht Kluge um den nachhaltigen Anbau eigensinniger Gedanken, wachen Geschichtsbewusstseins und um die Pflege des Sinnes für das Einmalige und Schöne.“ 1113 Entgegen anderslautender Urteile 1114 verdeckt Kluge nicht irgendeinen Sinn im Rätselhaften, welchen dann der ersuchte Zuschauer zu enträtseln hat, sondern er fungiert als Kritiker und Komponist, der das Wirklichkeitsmaterial gefiltert hat und nun dem Zuschauer das wesentlich Zusammenhängende auf musikalische Weise (und zwar atonale, nicht harmonische) vorstellt. Wie Nietzsche seine Texte wiederzukäuen empfiehlt, steht es auch um Kluges Versatzstückverfahren, dessen Gehalt anders zu verdauen ist als das Fast Food einer konventionellen Filmhandlung (was aber auch mal sein muss): „Das Rätselhafte erhält eine neue Chance“ durch die Wiederholung-- und seine Filme sind „auf Wiederholbarkeit angelegt“. 1115 Im Grunde ist es eine dadaistische Befreiungsaktion der Aussage vom Zwang einer unbedingten Sinnzuschreibung. Kein Zwang zu etwas Bestimmtem, da es nichts Festgelegtes gibt, sondern Impulse zu einem freien, individuellen und unabhängi- 1111 Huyssen, Andreas: Twilight Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia. New York/ London (Routledge) 2010 , S. 147 . 1112 Ebd., S. 146 . 1113 Fuhr, Eckhard: „Helge Schneider und der Lungenzug. Geld ist nicht alles: In der DVD-Edition ‚Früchte des Vertrauens’ setzt sich Alexander Kluge mit der Finanzkrise auseinander“, in Die Welt vom 24 . 11 . 2009 . 1114 Vgl. etwa Fischer, Matthias-Johannes: „Die Wollust des Films ist keine Lust“, in Alexander Kluge, hg. v.-Heinz Ludwig Arnold, Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, 85 / 86 . München (edition text + kritik) 1985 , insbesondere S. 129 . 1115 Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, hg. v.-Alexander Kluge. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1983 , S. 541 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 289 gen Denken. Ein ähnlicher Vorwurf lautet: „Der Kopf-Film des Publikums entsteht eben nie ohne die Tätigkeit des Künstler-Subjekts, dessen enorme theoretische Phantasie ein kompliziertes Montage-Kino produziert, das einer freien Produktion des Zuschauer-Autors ständig im Weg steht.“ 1116 Der erste Teilsatz ist eine Binse, „theoretische Phantasie“ ein Kompliment, „kompliziert“ undifferenziert (komplexe Verhältnisse, komplexe Darstellung) und der letzte Part eine Überheblichkeit: Dem zu entgegnen ist grundlegend mit einer Haltung des Respekts gegenüber dem Rezipienten, die dem auch etwas zutraut. Zudem weist Kluge immer wieder darauf hin, dass solche Verkrampfungen (So, jetzt tue ich etwas für meine Bildung und sehe etwas Anspruchsvolles, Schwieriges, Intellektuellenkino; das teile ich im Anschluss auch unbedingt anderen mit) hinderlich für die Rezeption sind. Stattdessen: auf sich wirken lassen, sehen, etwas verstehen, etwas anderes nicht verstehen. Als Pestalozzi Kindern aus der Encyclopédie vorlas, ging es eben nicht darum, dass sie alles verstehen und es war auch nicht „weltfremd“, dass er ihnen daraus vorlas, obwohl sie es doch nicht verstehen konnten, sondern ganz im Gegenteil weltzugewandt, indem er ihnen dadurch nämlich vermitteln konnte, dass es da noch allerhand in der Welt mehr gibt. Er entwickelte in ihnen „eine Vorstellung vom Anderen, von der Fremdartigkeit der Welt“ und ein erstes Bewusstsein dafür, dass „im unmittelbaren Verstehen“ allein „nicht das aufgeht, was die Welt tatsächlich ist“: „Gerade hier entwickelt er eine Vorstellung des in der Wirklichkeit verborgenen Reichtums, an dem sich die Kinder abarbeiten müssen.“ 1117 So werden die Entwicklungsprozesse der eigenen Identitätssuche und des Selbstbewusstseins wechselseitig mit dem Erkenntnisgewinn gefördert. Hier formulieren Kluge und Negt eine konkrete aisthetische Bildungsmaxime, bei der Sinnlichkeit der Erkenntnis vorausgeht: „Etwas zu lernen, sinnlich aufzunehmen, um es später zu verstehen, das Fremde auflösen zu lernen, nachdem man es als Eigenes sinnlich angeeignet hat-[…].“ 1118 Zusammenfassend: Kluges dctp ist ein einzigartiges Unternehmen für Erfahrungsproduktion-- aufgrund seiner unseminaristischen Gestalt: „Hypertext scheint unter der Annahme kognitiv plausibel zu sein, dass Wissen-[…] im menschlichen Gehirn in vernetzt topologischen, nichtlinearen Strukturen organisiert sei. Unter dieser Annahme könnte die Wissensaufnahme über eine vergleichbare Organisationsform, wie sie durch Hypertext gegeben ist, effizienter sein als eine Aufnahme, die den ‚Umweg’ über lineare Präsentationsformen (Vorlesungen, Texte) nimmt.“ 1119 1116 Barg, Werner: Erzählkino und Autorenfilm. Zur Theorie und Praxis filmischen Erzählens bei Alexander Kluge und Edgar Reitz. München (Fink) 1996 , S. 188 . 1117 Vgl.: UM, ÖE, S. 642 . Besser, da zwangslos, wäre allerdings die Aussage: können. 1118 Ebd. 1119 Kuhlen, Rainer: Hypertext. Ein nichtlineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. Berlin/ Heidelberg/ New York 1991 , S. 182 . 290 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Kluges Bücher sind ein Beweis dafür, dass vernetzte Denkprozesse und synthetisierende Strukturen nicht nur im digitalen, sondern auch im analogen Medium stattfinden können. Denken in Zusammenhängen also ist keine Frage der Technologie, sondern eine der Haltung. An dieser Stelle sei dem analytischen (linearen) Denken der Begriff des konstellativen (vernetzten) Denkens gegenüber gestellt: Das analytische Denken neigt dazu, Zusammenhänge Schritt für Schritt in Details zu zerlegen; das konstellative Denken hingegen versucht, assoziative Gedankenbilder eines größeren Zusammenhanges zu erstellen, wobei sich auch diese Form des Denkens analytischer Denkweisen nicht entziehen kann und will, wenn nach Möglichkeiten der Verknüpfung von Elementen eines Zusammenhangs gesucht wird. Überspitzt ausgedrückt: Lineare Denkstrukturen bringen eher die überrationalisierten Erkenntnisprozesse der Spätaufklärung zutage, die zumindest tendenziell mit universalem Geltungsanspruch vertreten werden, während vernetzte Denkstrukturen eher der Gegenbewegung zur Spätaufklärung entsprechen, die sich in der Epoche der Romantik deutlich vernehmbar zu Wort meldete und mehr nach der tieferen Bedeutung des „Ganzen“ suchte, mit Pluralität selbstverständlicher umzugehen vermochte und sich dabei auch auf Assoziationen und Umwege einzulassen bereit war als dies von analytischen Denkmodellen akzeptiert wurde (wenngleich: harmonisierend; „synthetisches Denken“). An der Oberfläche sehen wir eine medienkritische Auseinandersetzung, die letztlich lineare Fragen nach dem Muster von Ursache und Wirkung in den Blick nimmt und somit Oppositionen schafft (Kinder lesen immer weniger- - die Verfügbarkeit des Internets ist Schuld; Leute laufen Amok-- Gewalt betonende Computerspiele sind Schuld etc.). Unter der Oberfläche aber geht es um grundlegende Fragen der Erkenntnistheorie. Hier haben vernetzte Denkstrukturen einen großen Vorteil: Sie können mit linearen Denkstrukturen im Grunde leben, da sie die so gewonnen Erkenntnisse bzw. Thesen in ihr Netz integrieren können, während ihr Pendant vernetzte Formen des Erkenntnisgewinns zwar analysieren, nicht aber integrieren können ohne sie zu zerreißen. 2.5.6.2 Dialektik von Produktion und Rezeption Auf der einen Seite eine Erweiterung des Kunstwerks durch das Hinzutreten des rezipientischen Eigensinns (Assoziationen, Evidenz). Der Rezipient reproduziert die rezipierte Metapher noch einmal in Begriffen und Bildern seiner eigenen Erfahrung, vergleicht, knüpft Erinnerungen an, gewinnt darin für sich seinen eigenen Sinn. Auf der anderen Seite eine Erweiterung der Erfahrung nebst ästhetischer Stimulierung der Sinne durch das Hinzutreten des ästhetischen Stoffs. Voraussetzung für Letzteres ist die bipolare Bereitschaft zur Auseinandersetzung (also eine offene, kommunikative, interessierte Haltung auf beiden Seiten). 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 291 In diesem Zusammenhang steht ebenso der Begriff der aísthēsis im Zentrum, der daran erinnert, dass „aisthetische Erfahrung“ nicht nur an Kunstgegenständen gemacht werden kann (aber gut an ihnen trainiert, da man sich in einer zügellosen Welt wähnt). Die Stimulierung der Wahrnehmungsfähigkeit soll die Denkfähigkeit fördern. Ein Denken, dem es nicht um Informationsanhäufung und Auswendiglernen geht, sondern um eine höhere, weil gesellschaftlich relevantere Stufe: ein Denken der Unterscheidungsfähigkeit. Die sinnliche Erfahrung als Primat der Vernunft, als Grundlage für Bildung schlechthin. Nun ist hier nicht vordergründig die Erfahrung eines Kunstwerks gemeint, sondern es ist einer ästhetischen Bildung grundsätzlich um die Rehabilitation rudimentären Einfühlungsvermögens gelegen, oder positiver formuliert: um die Ausbildung sinnlicher Wahrnehmungsfähigkeit. 2.5.6.3 Rezeptionsästhetische Notiz Rezeptionsästhetisch betrachtet, kann vor allem dreierlei festgestellt werden. Zunächst, dass den Arbeiten Kluges eine dialog-affizierende Struktur eingeschrieben ist (die erwähnte „Appellstruktur“) und zweitens durch diese Bereitschaft zur Kommunikation der Rezipient und somit das konkrete Subjekt aufgewertet wird. Durch sein kooperatives Dazutun ist er statt passivem Betrachter gleichrangiger Co-Autor, was die dritte wirkungsästhetische Komponente darstellt: die sinnkonstitutive. Auf dieser ästhetischen Ebene fußend, ist über sie hinausgehend ein emanzipierender Effekt zu beobachten, denn der Rezipient ist zugleich gleichberechtigter Mitdenker. „Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen.“ 1120 Gerade in dem „Prinzip der Trennung“, will man mit Geschichte und Eigensinn ergänzen, liegt also „der Schlüssel zum Zusammenhang“, zur gewaltfreien Darstellung der Differenz. 1121 -- Ganz im Sinne Roland Barthes also geht es Kluge umnichten um Interpretation eines Textes seitens institutioneller Instanzen und kultureller oder akademischer Autoritäten, sondern um die Rezeptionsleistungen und Textbestimmungen der Rezipienten. „Kontingenz ist der Konstitutionsgrund der Interaktion“, schreibt Wolfgang Iser in dem viel beachteten Werk Der Akt des Lesens. 1122 Mit Kontingenz, verstanden als Unvorhersehbarkeit des Ausgangs durch das Vorhandensein aller auch gegensätzlichen Möglichkeiten, wird also die basale Voraussetzung eines freien Gesprächs offenen Ausgangs begriffen. Durch ihren „in sich geschlossenen“ Ordnungscharakter ist hingegen Harmonie, worauf Kluge und Negt hinweisen, 1120 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München (Fink/ UTB) 1984 , S. 302 . 1121 GE, S. 270 . 1122 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München (Fink/ UTB) 1984 , S. 258 . 292 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln weder in der Lage, diese Differenz wiederzugeben, noch überhaupt Erkenntnis zu bringen. Erkenntnisvermittlung gelinge eher „unvermittelt“, „nebeneinander“, „miteinander“ und im doppelten Wortsinne von „durcheinander“. „Die stärksten Beziehungen enthalten durcheinander vermittelte Kreisläufe.“ 1123 Literaturgeschichte ist, wie alle anderen Einzelhistorien, nicht zu denken ohne die allgemeine Geschichtsschreibung. Ästhetische Wahrnehmung und Wirklichkeitswahrnehmung bedingen und verändern einander, wodurch sich ein breiterer „Erwartungshorizont“ sowie eine sog. „ästhetische Distanz“ 1124 bildet. Die ästhetische Erfahrung ist deshalb imstande, Realitätskritik zu betreiben, Reflexion von und Handlungen in der Wirklichkeit zu beeinflussen. 1125 Auf die wirklichkeitsverändernde Kraft von Kunst spielt Kluge z. B. an in einer kurzen Erzählung über den einstigen französischen Staatschef Pétain, dem sein „literarischer Begleitarzt“ Sieburg mit einer Geschichte den nicht mehr für möglich gehaltenen Ausweg aus seiner todbringenden Situation weist (direkt). 1126 Oder in einer anderen über den für den Volksaufstand von 1989 günstigen Umstand, dass der SED -Bezirkschef Modrow an einer entscheidenden Zeitschneise in Beethovens Fidelio sitzt, sodass für einen Augenblick Zuständigkeiten außer Kraft geraten (indirekt). 1127 2.5.6.4 Der Künstler als Rezipient Über die Rolle des Rezipienten als Quasi-Mitkünstler wurde bereits gesprochen. Was aber ist, wenn nun dieser selbst ein „richtiger“ Künstler ist, der neben der Rezeption als Co-Produktion eigene, autonome Artefakte in direktem oder indirektem Bezug auf Kluges Arbeiten anfertigt, also eigene ästhetische Kreisläufe einleitet? Wird man nicht schnell zur Aussage gelangen, dass erstere Betrachtung 1123 GE, S. 235 , Fußn. 9 . 1124 Dazu aus Jauß’ These IV: „Bezeichnet man den Abstand zwischen dem vorgegebenen Erwartungshorizont und der Erscheinung eines neuen Werkes, dessen Aufnahme durch Negierung vertrauter oder Bewußtmachung erstmalig ausgesprochener Erfahrungen einen ‚Horizontwandel’ zur Folge haben kann, als ästhetische Distanz, so läßt sich diese am Spektrum der Reaktionen des Publikums und des Urteils der Kritik (spontaner Erfolg, Ablehnung oder Schockierung; vereinzelte Zustimmung, allmähliches oder verspätetes Verständnis) historisch vergegenständlichen.“ Vgl.: Jauß, Hans Robert: „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“, in Warning, Rainer: Rezeptionsästhetik. München (Fink) 1979 , S. 126 - 162 . 1125 Dazu aus Jauß’ VIII. These: „Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist erst dann vollendet, wenn die literarische Produktion- […] als besondere Geschichte auch in dem ihr eigenen Verhältnis zu der allgemeinen Geschichte gesehen wird.-[…] Die gesellschaftliche Funktion der Literatur wird erst dort in ihrer genuinen Möglichkeit manifest, wo die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis eintritt, sein Weltverständnis präformiert und damit auch auf sein gesellschaftliches Verhalten zurückwirkt.“ 1126 Vgl.: „Friedrich Sieburg als literarischer Begleitarzt Pétains“, in Bretter, S. 131 f. 1127 „[Zufall als Stärke der Politik]“, in Bretter, S. 323 f. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 293 nichts als Kitsch ist? Doch die Argumentation wird eher gestärkt, wie das folgende Beispiel zeigt: Der Theaterregisseur und Autor Kevin Rittberger hat bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt vier Stücke nach Alexander Kluge auf die Bühne gebracht. Auf eine persönliche Anfrage, die besonders die Produktionsgenese hinterfragt, betont dieser dabei eine produktive und zugleich autonome Zusammenarbeit mit Alexander Kluge: „Ich stand während aller vier Bearbeitungen (Hunger nach Sinn; Hunger nach Sinn. Zweiter Teil; Nachrichten aus der ideologischen Antike; Wer sich traut, reisst die Kälte vom Pferd) mit Kluge in Kontakt, mal haben wir uns getroffen, öfters telefoniert. Er hat mir eine große Autonomie gewährt, auch Ideen (musikalisch, szenisch, filmisch) mitgeteilt, eigentlich nur in einem Fall von einem eigenen Text abgeraten, der ihm im Nachhinein zu defätistisch erschien.“ 1128 - Mit anderen Worten: Was interessiert noch Urheberrecht, wenn es doch um die Sache geht? Dadurch gelingt es, wie die nächsten Zeilen berichten, dass es zu einem echten wechselseitigen Austausch in Form von inhaltlichen Rückkopplungen und Modifizierungen des Substrats kommt. Das Recht auf geistiges Eigentum erscheint besonders in den Kooperationsarbeiten Kluges als überholt oder zumindest rückt es in den Hintergrund. Stattdessen wird auf gemeinsamem Textboden fleißig Ackerbau betrieben: „Er hat mir ermöglicht, die Texte zu ‚gebrauchen’-- so war ich auch in der Lage, mehrere Texte zu einem zusammenzunehmen, neu zu arrangieren, Verbindungen, Assoziationen herzustellen, die teilweise noch kleinere Partikel bildeten. Manchmal habe ich mich auch entschlossen, Figuren zu skizzieren, denen ich dann theoretischere Passagen in den Mund legen konnte.- In zwei Fällen kam es auch zur unmittelbaren Zusammenarbeit. So tauchten-Figuren aus der Hamburger Inszenierung Hunger nach Sinn. Zweiter Teil in seinem Film Nachrichten aus der ideologischen Antike auf, mit denen er improvisierte. Auch war er zum Drehen einer Vorstellung von Wer sich traut… in München.“ 1129 Ihre Zusammenarbeit belegt, dass es Kluge wirklich um eine möglichst breite (dabei stets substanzielle) Streuung geht, dass er das Metamorphosenhafte und Essayistische nicht nur als immanente Form eines Kunstwerks begreift (Intermedialität), auch nicht als immanente Form all seiner Kunstwerke (Multimedialität), sondern-- und hier tritt auch das allerletzte Stückchen Ich des Autors in den Hintergrund- - es ihm um ein werkexternes Weiterwirken, Weiterassoziieren, Weiterphantasieren geht, das mündigkeitsinitiierende Qualität besitzt. Eine nicht nur beiläufige Folge dieser Kooperationsarbeit ist der Fakt, dass Kluge (wieder 1130 ) 1128 Aus einem E-Mail-Verkehr vom 24 . 10 . 2012 . 1129 Ebd. 1130 Anfang der 80 er Jahre führte die Theatergruppe „Schlicksupp Theatertrupp“ Kluges Filmszenario Drei Frauen / Mitten im Sumpf / Hunger nach Sinn auf (Regie: Paul Binnert). Das 294 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Einzug in ein weiteres Medium hat: das Theater. Und in Zusammenarbeit mit Rittberger auch nicht ohne Wirkung: „Die Inszenierung aber stürmt durch Sinnbilder, Verstand und Gemüt, wobei sie vermarxte und vermurkste Assoziationen hervorruft, dass es ein reiner Gewinn ist.“ 1131 Dies ist keine Ausnahme, wie die Erfahrung anderer Projekte zeigt. Zu nennen sind die Hörbuchproduktionen, gerade in Federführung eines Andreas Ammers oder Karl Bruckmaiers. Zu nennen ist beispielsweise das multimediale Projekt in Halberstadt mit Theateraufführung, Ausstellung im Gleim-Haus und dem John-Cage-Orgel-Projekt. Einmal mehr ist zu erkennen: Es geht ihm wirklich um die Sache, nicht um Ruhm und Eitelkeiten. Die Kooperationshaltung Kluges mit Künstlern, die sein Werk weiterentwickeln, ist eine vom Ego und vom Copyright befreite. Neue Texte gehen aus alten hervor. 2.5.7 Übergang: Kunst-- Öffentlichkeit „Geschichtlich“ ist das Signum der ersten Natur, „vergänglich“ das der zweiten: „Die Natur als Schöpfung ist von Benjamin selbst gedacht als gezeichnet mit dem Mal der Vergänglichkeit. Natur selbst ist vergänglich. So hat sie aber das Moment der Geschichte in sich. Wann immer Geschichtliches auftritt, weist das Geschichtliche zurück auf das Natürliche, das in ihm vergeht. Umgekehrt, wann immer ‚zweite Natur’ erscheint, jene Welt der Konvention an uns herankommt, dechiffriert sie sich dadurch, daß als ihre Bedeutung klar wird eben ihre Vergänglichkeit.“ 1132 Die zweite Natur ist jünger und überlagert die erste, „stört“ sie, bedrängt sie, aber tötet sie nicht, auch wenn sie es wollte-- denn ihr eigenes Existieren labt an ihr. 1133 Kluge legt den Finger in die Wunde, wenn er fragt, wie es dazu komme, dass sich die „‚ungeheure Warensammlung’“ um die „menschlichen Bedürfnisse gar nicht kümmert“ und er, der Mensch, dies nicht einmal wahrnehme. 1134 Domestizierte und „organisierte Gefühle“ 1135 produzieren Gewalt. Das konsequente Gegenprogramm lautet daher, um es mit Pollesch zu formulieren: Der deregulierte Markt muss von innen her aufgesprengt werden durch deregulierte Gefühle. 1136 Oder geht aus Briefen Helene Ritzerfelds (Suhrkamp) an Alexander Kluge vom 29 . 01 . 1981 und 03 . 09 . 1981 hervor. Vgl. SUA/ DLA Marbach. 1131 Grund, Stefan: „Alexander Kluges Ideologische Antike in Hamburg“, in Die Welt vom 01 . 02 . 2010 . 1132 AGS 1 , S. 359 . 1133 Vgl.: GE, S. 477 . 1134 Sklavin, S. 216 . 1135 UM, ÖE, S. 865 . 1136 „Deregulierte Märkte brauchen deregulierte Emotionen“. Pollesch, René: world wide webslums 1-7. Reinbek (Rowohlt) 2009 , S. 214 . Vgl. auch S. 305 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 295 aber direkt mit Kluge selbst: „Daß der Markt etwas verwirrt, was an sich als ein Begehren, als ein Bedürfnis da ist, das war schon immer so.“ 1137 Wo sind die Gefühle sicher, wo kommen sie zusammen? In der Liebe, im Privaten, dem letzten Zufluchtsort utopischer Phantasiefähigkeit. Das letzte bisschen Nachthimmel, den das grelle Neonlicht einer Kulturindustrie, die noch jeden revolutionistischen Geist auf ein T-Shirt gebannt hat, noch nicht überblendet hat. Doch auch hier hat längst die pseudo-individualistische Selbstvermarktung Einzug gehalten. Verhaltensmuster der Liebe scheinen, reflektiert man allein den Siegeszug der Reality-Shows, nurmehr imitiert anstatt erlebt zu werden. Baudrillard würde wohl sagen: Simulacrum der Liebe. Wimmelt es nicht geradezu von Pseudo-Emotionen, die statt authentischen Gefühlen bloß ein lauwarm-blubberndes Wechselbad im Jakoozie der Affekte kennen und dabei allen Ernstes auch noch den Begriff der „Authentizität“ besetzen und aushöhlen? „Vielleicht ist die Polygamie oder diese ‚polyamore’ Gesellschaft- - ein grässlicher Ausdruck- - auf die kapitalistische oder neoliberale Produktionsweise zurückzuführen.“- - So der O- Ton des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Byung-Chul Han aus einem Interview mit Thomas Ostermeier und Florian Borchmeyer von der Schaubühne Berlin. 1138 Han meint, Strukturen der Produktionsverhältnisse in der Sphäre der Liebe wiederzuerkennen, schließlich gehe es hier wie da um die Maximierung von Möglichkeiten und Affektoptionen: „Treue und Produktivität schließen einander aus. Es ist die Untreue, die für mehr Wachstum und Produktivität sorgt.“ Es kommt hier sehr auf eine definitorische Unterscheidung an: Gefühle werden subjektiv und bewusst erlebt (allerdings nicht zwingend kognitiv; z. B. Schmerz) und drängen auf Lusterhaltung bzw. Schmerzvermeidung. Affekte sind nicht oder kaum kontrollierbare physiologische Reaktionen. Wie u. a. aus Kapitel 2 . 5 . 5 . 2 („Zur Nachrichtenlage“) ersichtlich wird, ist ein zeitlich wie räumlich eindimensionales Denken ideologisch. Kritische Öffentlichkeit, kollektive wie subjektive Erfahrung und Zeit müssen zusammenkommen. Entsprechend brisant gestaltet sich die Frage nach Schreibung und Vermittlung von Geschichte: Kann es ein demokratisches Gemeinwesen verantworten, wenn konventioneller Geschichtsunterricht historisches Interesse und Bewusstsein nicht adäquat fördert? Ein klugescher Ansatzpunkt für die Pädagogik wäre demnach das leitmotivische Prinzip „Wo war ich am 11 . September? “ 1139 Statt einer objektivierenden „Chronik der Ereignisse“, Bestandsaufnahmen aus der Vogelperspektive, 1137 Kluge, Alexander: Facts & Fakes 1: Verbrechen. Berlin (Vorwerk 8 ) 2000 , S. 65 . 1138 „Der Kapitalismus liebt die Stille nicht.“ In schaubühne, Spielzeit 2013 / 14 . 1139 Angelehnt an Kluges Ausspruch „Wo war ich, als Kennedy starb“, zu finden in Rack, Jochen: „Erzählen ist die Darstellung von Differenzen. Werkgespräch“, Interview mit Alexander Kluge, in Neue Rundschau, Heft 1 / 2001 . Die folgenden Zitate stammen ebenfalls aus diesem Gespräch. 296 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln empfiehlt Kluge, eine „Chronik der Gefühle“ zu wählen, die fähig ist, eine Beschreibung dessen zu liefern, „was subjektiv stattgefunden hat“. Kluge orchestriert große und kleine Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu einem polyphonen Ensemble menschlicher Erfahrung. Historisch-objektives Wissen wird erzählerisch konfrontiert mit subjektiven Wahrnehmungen. Ersteres gerät dabei nicht zwangsläufig ins Bröckeln, sondern gelangt durch den personalisierten Kanal ins Interessefeld des Rezipienten. Dieser wird in seinem Empfinden für Geschichte gestärkt und erlangt ein Bewusstsein für seine eigene Partizipation an dieser. Historische Fakten und Schlagwörter werden umspielt und gefüllt mit Gefühl und Substanz, was die Wahrnehmung von geschichtlichen Fernwirkungen und Zusammenhängen sowie die Erinnerungskultur als solche prägt. Der Vorzug der Gefühle ist der, dass sie von einer widerstandsfähigen, geradezu chronischen Beharrlichkeit sind, und trotz aller Kriege, Krankheiten und Katastrophen immer noch dieselben sind. Sie sind das Einzige, auf das man von der Zerstörung Pompejis über die Pest und den Zweiten Weltkrieg bis hin zu Fukushima und Paris 2015 mit Sicherheit vertrauen kann-- denn in ihren „Grundannahmen“ bleiben sie gleich. An dieser Stelle wird fühlbar, was Wirklichkeit und Möglichkeit vereint: Warum lässt Kluge immer wieder Mythen und Märchen einfließen, die durch das flickenteppichartige Aneinanderweben mit historischen Dokumenten oder wissenschaftlichen Expertenthesen in ihrer Wertigkeit mit „Wahrheit“ gleichgestellt werden? 1140 Weil ihnen gemein der menschliche Wunsch nach Glück, nach Sicherheit und Freiheit, nach Sinn und Zusammenhang ist. In diesen alten Geschichten, die vielleicht mehr Projektionen als Fiktionen sind, ist 1140 Kluge nimmt mythische Überlieferungen ernst, da ihr plurales Vorhandensein in Variationen über alle Zeiten, in allen Regionen und durch alle Religionen hindurch zumindest kritische Analysen abverlangt. Den Märchen wird von wissenschaftlicher Seite aus ihr Aktualitätsbezug attestiert. Allein deshalb werden sie „nie vergehen“, weil sich „jeder“ in den Geschichten „wiederfinden“ kann. Vgl.: Schmiedekampf, Katrin: „Brüder Grimm: Es war einmal in Göttingen“, in Zeit Online vom 01 . 12 . 2012 . In Mythen wie in der Etymologie der Wörter sind geschichtliche Prozesse rudimentär konserviert. Exemplarischerweise: Bei einer Beschäftigung etwa mit dem altfranzösischen Chanson de Roland, dem Rolandlied, wird dies deutlich, genauer bei der Stelle „N’avez baron de si grant vasselage“, die mit „Ihr habt keinen Baron von gleicher Tapferkeit“ übersetzt wird: „Vasselage kommt von vassus, der Tapfere, dann: der Lehnsträger, dann: der Hörige, der Vasall. Darin ist eine Erfahrungskette enthalten.“ (GE, S. 373 , Fußn. 4 .) In einem Gespräch mit Michael Haneke lässt Kluge diesen die „Geschichte von der 13 . Fee“ vorlesen, was die Vorgeschichte zu „Dornröschen“ darstellt. Kurz danach drückt der Oscar-Preisträger seine anhaltende Berührung aus für das zuvor von Kluge vorgetragene kürzeste Märchen der Brüder Grimm: „Das eigensinnige Kind.“ Dieses ist im Werk Kluges ein wiederkehrendes Sinnbild für seinen Zentralbegriff des „Eigensinns“. (Kluge, Alexander: „Die rechte Hand Gottes. Michael Haneke über seinen preisgekrönten Film ‚Das weiße Band’“, in NEWS & STORIES vom 01 . 11 . 2009 .) 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 297 jene Ursprungssehnsucht über Jahrtausende narrativ aufbewahrt, anschaulich konserviert. 1141 Diesen Gedanken unterstützen insbesondere die analytisch-psychologischen Studien Carl Gustav Jungs, der bekanntermaßen mit seinem Begriff des „kollektiven Unbewussten“ beschreibt, wie Mythen, Märchen, Träume usw. Konservatorien der Menschheitsgeschichte darstellen und dass die menschliche Psyche zeit- und kulturübergreifend archetypische Strukturen aufweist, die das menschliche Bewusstsein und somit Handeln beeinflussen. Aus diesen Tiefenschichten des Menschheitsgedächtnisses gräbt Kluge immer wieder etwas an unser Tageslicht. 1142 Auch wenn Kluge zuweilen poetisch-spirituell anmutet, ist es nicht vielmehr realistisch, ja wissenschaftlich fundiert, wenn all das, also Sternenstaub und Zellen, Träume und kollektives Unbewusste, Kosmos und Tiefsee, die Gewissheit vermittelt: Im Nichtidentischen ist ein Moment des Identischen wiederzuerkennen? An die erwähnten menschlichen Urwünsche docken seit jeher immer wieder autoritäre Interessen an. Deshalb sei es „gefährlich“, wenn sich niemand um sie kümmere: „Es ist nicht so, daß ich Gefühle feiere, ich möchte nur, daß man sie wahrnimmt.“ 1143 Jede Schwarz-Weiß-Malerei, jedes Gut-Böse-Schema wird dank Kluges Sensibilität und Respekt gegenüber dem Einzelschicksal Lügen gestraft. In dieser Hinsicht ist er ein Manometer, weil er ein Gespür hat für die Druckverhältnisse, die in Gesellschaften herrschen und unter denen Individuen stehen, die mitunter aus vergangenen Verhältnissen noch in toter Form in die gegenwärtigen hineinwirken und für Ungerechtigkeitsempfinden sorgen. Nicht als Entlastung, nicht als Rechtfertigung, aber als Empathie und vor allem als Mahnung spürt Kluge Ursachen auf, die Menschen für Ideologien und Fanatismen anfällig machen. Nimmt man die Gefühle wahr und nimmt man sie ernst, wie es etwa die Psychoanalyse tut, wie es die Soziologie, die Philosophie, aber auch die Medizin ja tun, so ist ihre opponierende Realitätskritik nicht zu leugnen. Die Frage, die sich unsere Gesellschaften stellen müssen, ist: Wollen wir, dass sie sich weiterhin als ein Destruktives äußern-- Ausbruch als Krieg, Gewalt, Terror und Amok; mit den üblichen oberflächlichen, oft populistischen Gegenmaßnahmen wird zunehmend Freiheit für fragliche Sicherheit geopfert-- oder als ein Konstruktives? 1141 „Soziologie und Märchen sind eben nicht, wie man annimmt, Gegensätze, sie sind Pole in ein und derselben Sache, die verschieden aussieht, je nachdem, ob man von der Fähigkeit des Menschen, es mit den Fakten auszuhalten, oder von seiner Fähigkeit, Wünsche zu bilden, ausgeht.“ Kluge, Alexander: Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste. Stichwort: Bestandsaufnahme. München (Hanser) 1980 , S. 7 . 1142 In dieser archäologischen Arbeit ist übrigens Anselm Kiefer sicher einer der engsten Verwandten Kluges, weshalb es eigentlich verwunderlich ist, dass sie erst so spät künstlerisch zueinander fanden. 1143 Alexander Kluge in: Rack, Jochen: „Erzählen ist die Darstellung von Differenzen“, in Neue Rundschau, Heft 1 / 2001 . 298 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Kunst und Massenkultur verhalten sich für die Kritische Theorie zueinander wie utopische Vision und Ersatzbefriedigung.“ 1144 Letztere suggeriert dem Menschen dessen Selbstbestimmung und Emanzipation durch Glücksversprechen und Pseudo-Individualismus. In Wahrheit ist das Glückserlebnis von nur temporärer Qualität und auf Wiederholungszyklen ausgelegt („Kauf dich glücklich! “), der „individuelle Style“ in Wirklichkeit eine Uniformierung, die mit den Trends kommt und geht (Pseudo-Identität auf Zeit). Das eigentlich Delikate ist jedoch die direkte kapitalistische Ausdehnung ins Private durch eine Kolonialisierung der Freizeit-- d. h. gleichzeitig: Freiheit--, die bereits längst indirekt als regenerative und regulative Phase den Produktionsprozess instand hält, insbesondere durch die Freizeitindustrie oder das Verschwimmen von vorgegebener und „frei“ bestimmter Arbeitszeit. 1145 Hinzu kommt, dass die vermeintlichen Kulturgüter des Mainstreams in ihrer primitiven Beschaffenheit höchstens die Oberflächlichkeiten der Sinne streicheln und kaum in die Tiefe des Bewusstseins vordringen, was die ästhetische wie auch kritische Urteilsfähigkeit weitgehend lahmlegt. 1146 Hier versteckt sich keine Verschwörungstheorie, sondern eine Zustandsbeschreibung des entfesselten Marktes, der sich vom Staat und seinen Gesetzen bis zu einem gewissen Grad befreit hat und eine Massenkulturindustrie betreibt, die nicht von der Masse kommt, sondern von außen und die sich bis zur Identifikation mit ihr in ihr reproduziert, wie die Studien Erichs Fromms zum autoritären Charakter zeigen. Es entsteht dadurch eine sehr allgemeine Front zwischen Massenkultur und autonomer Kunst, zu Zeiten Adornos eigentlich nur noch sehr undifferenziert aufgespalten in alte, festgefahrene und neue, progressive Kunst (oder tonale und atonale, wenn man die Musik als Beispiel heranziehen möchte). Interessanter aber ist Benjamins „Transformation des Kunstbegriffs“, 1147 der den technischen Fortschritt nicht undifferenziert verteufelt, sondern geradezu verheißungsvoll sieht, wie zugleich auch die „unbewusste Phantasmagorie“ einer „Erlösung“ der Gesellschaft mitproduziert wird. 1148 Für Benjamin ist konsequenterweise das Medium neutral, die Technik begreift er als Gefahr und Chance, die Masse zu erreichen und Kluge sieht das nicht anders. Die wertende Aufteilung von einer Kunst der Vormoderne und einer der Moderne findet bei Alexander Kluge nicht statt. Er verbindet Vor-, Post- und Moderne und bedient sich ihren Verfahrensweisen. Es geht hier nicht um eine kulturwissenschaftliche Frage zwischen Hochkunst und niederer Kunstform, ebenso wenig um eine kunsttheoretische Frage wie bei der Erfindung der Fotografie im frühen 19 . Jahrhundert, als eine heiße Debatte entfachte, ob als Kunst nur 1144 G. Schweppenhäuser, S. 102 . 1145 Vgl.: Adorno GS 10 . 2 ., S. 645 - 655 . 1146 Beispielsweise Adorno über den Schlager: AGS 12 , S. 19 . 1147 G. Schweppenhäuser, S. 103 . 1148 Vgl.: ebd. 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 299 die Malerei zählen dürfe oder auch der Fotografie solch ein Status zugesprochen werden könne. Für Benjamin geht es um die Etablierung der Kategorien „Kultwert“ (kultisch), „Ausstellungswert“ (auratisch) und „Technik“ (reproduzierbar) sowie die mögliche Veränderung des „Gesamtcharakters der Kunst“ 1149 durch neue technische Möglichkeiten. Die Aura des autonomen Kunstwerks durch sein einzigartiges Hier und Jetzt, das sei an dieser Stelle ergänzt, ist für Benjamin das entscheidende Element seines Anschauungserlebnisses. Doch erst a posteriori und mit dem Auflösen seiner unicité durch die technische Reproduzierbarkeit, sozusagen post-auratisch, wird das autonome Kunstwerk als solches perzeptibel. 1150 Neben der Veränderung der Kunst im Allgemeinen entsteht auch eine Veränderung der Wahrnehmung bis hin zur Bewusstseinserweiterung. Benjamin beschreibt eine biologische Evolution menschlicher Perzeption mit einer Korrelation der technischen Evolution: „Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert-- das Medium, in dem sie erfolgt- - ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.“ 1151 Durch technische Veränderungen und Verfremdungseffekte, wie sie ja Kluge permanent einsetzt, wird das „Optisch-Unbewusste“ wahrnehmbar. Jenen rezeptionsästhetischen Begriff der Durchdringung von Wirklichem hat Benjamin bekanntermaßen Freuds „Triebhaft-Unbewusstem“ entlehnt. 1152 „Der Rohstoff, aus dem proletarische Öffentlichkeit sich bilden kann, ist genau der Gegenstand, den der Medienverbund bearbeitet.“ 1153 Kluges und Negts Projekt Öffentlichkeit versteht diese als „Gegenmacht“, 1154 weshalb sie angetreten sind, die kommunikativen Strukturen von Öffentlichkeit zu verbessern: Habermas knüpft bei der Betrachtung der Massenkultur eher an Benjamin an als an seine Vorgängergeneration, die den Begriff nahezu rein ideologisch aufgeladen empfand. So attestiert er der Medienöffentlichkeit ein „ambivalentes Potential“ 1155 und registriert sehr wohl, dass das mondiale „Vereinigt euch! “ durch die digital zugängliche Welt logistisch möglich ist: autonome, dezentrale Kommunikation. Die Frage drängt sich also spätestens mit der von Kluge und Negt konzipierten „Gegenöffentlichkeit“ auf, ob nicht der Staat öffentliche Plattformen entprivatisieren, d. h. entkommerzialisieren sollte, um eine politische Öffentlichkeit zu schaffen. Und zwar 1149 BGS I. 2 , S. 486 . 1150 Dazu: Kramer, Sven: Walter Benjamin zur Einführung. Hamburg ( Junius) 2003 . S. 90 - 94 . 1151 BGS I. 2 , S. 478 . 1152 Vgl.: BGS II. 1 , S. 368 - 385 , insbesondere S. 371 . 1153 ÖE, S. 246 . 1154 Vgl. u. a. in Kluge, Alexander: „Das Unternehmen Aufklärung“, mit Georg Mascolo, in 10 VOR 11 vom 28 . 03 . 2011 . 1155 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981 . Bd. 2 , S. 573 . 300 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln im Sinne des „Politischen“, nicht der „Politik“, d. h. ebenso ohne staatliche Einflussnahme-- dessen Aufgabe würde allein in der Sicherung jener Freiheit bestehen. 2.5.7.1 Zur Trias Freiheit-- Vernunft-- Kritik Die Entfaltung freier Intersubjektivität ist für Sartre und Foucault deshalb nicht möglich, weil diese in jedem Akt Machtverhältnisse ausdrückt und den anderen zum Objekt macht. Hegels Modell der Sittlichkeit bezieht sich auf mindestens zwei Personen, die sich in ihrer verschiedenartigen Individualität anerkennen und dennoch auf gemeinsame Schnittmengen kommen. Aufgrund des menschlichen „Kampfes um Anerkennung“ müssen wechselseitige Anerkennungsverhältnisse vermehrt installiert und geschützt werden, hierauf weist ja Axel Honneth so vehement hin, denn nur so kann Sozialität gelingen. 1156 Die Autonomie des Einzelnen, die Entfaltung des Besonderen und der Frieden zwischen all diesen in Gemeinschaft kann nur sichergestellt werden, wenn keiner Macht über den anderen hat. Das mag unrealistisch klingen, aber in diese Richtung, sei es als Ideal, ist zumindest einzuwirken. Was ist vernünftig und was läuft dem Vernünftigen entgegen? Das Bedürfnis der Kritischen Theorie, eine Genealogie der Vernunft zu zeichnen, um neu über Vernunft zu debattieren, resultiert aus dem Grenzübertritt vom Rationalen ins Irrationale, an dem Punkt, wo sich Aufklärung in Mythos verkehrt. Also immer dann, wenn der Wille nach Enträtselung, etwa durch den Fortschritt in den Naturwissenschaften, totalitäre Formen annimmt. Dies geschieht im Prinzip schon dann, wenn Metaphysik kategorisch verweigert, also quasi positivistisch verfahren wird: Wissenschaft bzw. Epistemologie fallen hier hinter Kant zurück, ja führen sich selbst ad absurdum, wenn Gesellschaft nur noch an das angepasst wird, was die theoretischen Begriffe, Kategorien und Formeln ihrer Struktur nach aufnehmen können und sodann als die Realität abbilden. 1157 Die Kritische Theorie hingegen erkennt, dass in der metaphysischen Sehnsucht gesellschaftskritisches Potenzial steckt. Auch wenn metaphysische Erfahrungen niemals zuverlässig seien, so drängt sich doch in jenem metaphysischen Interesse die unerfüllte Lebenserwartung des Subjekts mit dem Bedürfnis nach persönlichem Glück auf und damit ebenso der Makel des Bestehenden. 1158 Mit dem Drang zur Naturbeherrschung ist auch die Herrschaft über die menschliche Natur, also die Lenkung von Trieben und Bedürfnissen, verknüpft. Ihr be- 1156 Vgl.: Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 . Einführend: Interview von Thorsten Jantschek mit Axel Honneth in der Gesprächszeit des Nordwestradios vom 26 . 10 . 2009 . 1157 Vgl.: HGS 6 , S. 103 . 1158 Vgl.: AGS 6 , S. 364 - 368 . 2.5 Kluges Werkstatt der Gegenproduktion 301 gegnet der Mensch in vergesellschaftlichten Formen wieder, doch erkennt er sie als etwas Fremdes. Das eigentlich Subjektive erscheint als Objekt, was zur Degeneration des Subjekts führt. Am deutlichsten vielleicht ist die demokratische Relevanz von Bildung und Kunst in Bezug auf das Normative zu erkennen, denn insbesondere hier steht Bildung in einem eklatanten „Widerspruch zu Herrschaft und ist das Medium autonomer Subjektivität“ 1159 . Kluges „Eigensinn“ ist im Prinzip der Entwurf eines normativen Bildungsbegriffs, nämlich die reflektierte, prozessuale Aneignung des Kulturell- Allgemeinen und des Historisch-Gesellschaftlichen in korrelativer Abstimmung mit den individuellen Bedürfnissen und Interessen. Dessen Struktur verwehrt sich jedem Dogmatismus und jeder Ideologie, indem es das Allgemeine durch das Einfließen des Eigenen verändert. Es gilt, eine Balance zu finden zwischen Eigensinn und Gemeinsinn, oder wie Kluge sagen würde, zwischen warm und kalt. Zum Überleben darf es nicht zu warm, aber auch nicht zu kalt sein. Die Verwirklichung des freien Willens in der Gesellschaft eines sittlichen Staates behandelt Hegel: Die „Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit“; da all die „sittlichen Momente“ die „Individuen [regieren]“, „ihre Vorstellung“ bestimmen, macht die Vernünftigkeit der Gesellschaft auch ihr Freiheitssystem aus. 1160 Das Subjekt kann sich nur unter sittlich-bürgerlichen Verhältnissen entfalten: „Ob das Individuum sei, gilt der objektiven Sittlichkeit gleich, welche allein das Bleibende und die Macht ist, durch welche das Leben der Individuen regiert wird.“-- Das „Sittliche“ als „ewige Gerechtigkeit“. 1161 Dies hat zur Konsequenz, dass für Hegel der Staat dem Bürger, das Objektive dem Subjektiven, das Allgemeine dem Besonderen erhöht und waltend gegenübersteht. Bei genauerer Betrachtung der Freiheitsidee in Hegels Sittlichkeitsstaat wird deutlich, dass Individuum und Staat nicht einfach nur auf Ausgleich aus sind und das Allgemeine pauschal über dem Einzelnen steht, sondern ihr ist auch eine Einflussnahme der Subjekte eingeschrieben, die Gesellschaft mitgestalten können, indem sie „die Sittlichkeit immer wieder erneuern“ können: „Die kritische Funktion der Hegelschen Rechtsphilosophie besteht auch darin, dass der sittliche Staat, der sich als eine organische Totalität des gesamten Volkes betrachtet, die subjektive Freiheit nicht unterdrücken kann, weil der sittliche Staat in der modernen Zeit nicht durch sich selbst, sondern nur durch das Individuum dargestellt werden kann.“ 1162 1159 G. Schweppenhäuser, S. 85 . 1160 Hegel, G. F. W.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Leipzig (Meiner) 1911 , § 142 u. § 145 . 1161 Ebd., § 145 , Zusatz. 1162 Wei, Chu-Yang: Hegels Theorie des sittlichen Staates. Doktorarbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität. München 2010 , S. 181 . 302 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 302 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Adorno und Horkheimer haben die Vernunft aus dem Schädel des Subjekts befreit, und Habermas hat sie zu einem Akt des intersubjektiven Diskurses gemacht. Vernunft existiert also zwischen den Menschen im kommunikativen Austausch. Gespräche und Diskussionen sind geprägt von Geschichten, die sich Menschen erzählen, um ihre Erfahrungen und Gefühle bildhaft auszudrücken oder ihre Thesen und Meinungen persuasiv vorzutragen. Mit Habermas ist somit eine weitere Brücke zu bauen, auf der die Literatur und somit Alexander Kluge den Zugang zur Kritischen Theorie erhält. Adorno schließlich verknüpft die Vernunftkritik Kants mit der Dialektik Hegels. Angesichts der Vorstellung eines sozialen Evolutionsverlaufs ersetzt Habermas später Hegels subjektzentrierte Vernunft mit dem Entwurf einer kommunikativen Vernunft. Erst indem Kritik zur Vernunft hinzutritt, ist Krieg, ist Gewalt, ist Verirrung nach Auschwitz zu verhindern. Kluge/ Negt beziehen sich hier stark und ausdrücklich auf Kant, der da schreibt: „Die Kritik-[…] verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchen wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Prozeß.“-- Die „Kritik der reinen Vernunft als der wahre Gerichtshof “, ohne den Vernunft in einen barbarischen Naturzustand zurückfällt, in dem sie sich nur „durch Krieg“ zu behaupten weiß. 1163 Wie ein direktes Gegenmodell stellt Kant hier, formal verstärkt zum Ausdruck gebracht, dem Phänomen „Krieg“ die Idee des Prozesses entgegen: „als durch K r i e g“ / „als durch P r o z e s s“. 2.6 Mündigkeit-- Zum Verhältnis von Freiheit und Vernunft, Denken als intersubjektiver Vorgang, öffentlicher Raum zum Erfahrungsaustausch In Erinnerung an Kant hört Alexander Kluge nicht auf zu betonen, dass „jeder Versuch, die Emanzipation aufzuhalten“, eine „Fehlkonstruktion“ sei. Das funktioniere vielleicht eine zeitlang, breche aber zwangsläufig zusammen- - „Verfallserscheinung der Macht“. 1164 Mit zwei aufeinanderfolgenden Kurzgeschichten über den SS -Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski hat Kluge diesen kantischen Grundgedanken in seiner Gedenkschrift an Fritz Bauer in ein süffisant-ernstes Narrativ gegossen: „Die ramponierte Seele sucht den körperlichen Ausdruck“ 1165 1163 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in ders.: Werke in 6 Bänden, hg. v.-Wilhelm Weischedel, Bd. 2 , Darmstadt 1956 , S. 639 f. (zitiert nach UM, MP, S. 777 f.; eigene Auslassung). 1164 Kluge, Alexander: Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann. Berlin (Merve) 2001 , S. 103 . 1165 Kluge, Alexander: „Das Leiden eines Täters. Der Fall einer POSTTRAUMATISCHEN BE- LASTUNGSSTÖRUNG bei einem SS-Obergruppenführer im Osteinsatz“, in ders.: „Wer ein 2.6 Mündigkeit 303 und „Flammend zeigten sich im Gesäß die Hämorrhoiden“, 1166 heißt es dort über den im Winter ’ 41 / ’ 42 an einer heftigen Darmkolik leidenden Unmenschen, der übermannt wird von Menschlichkeit. Diese hält es in dem gepanzerten Körper irgendwann nicht mehr aus-- und bricht sich wörtlich Bahn durch jenen Kanal, an dem die früheste Erziehung ansetzt. „Die im Menschen unabweisbare ‚Einfühlung’“, schreibt Kluge, setze sich „gewaltsam“ durch, „wenn sie in ihrer Äußerung längere Zeit unterdrückt wird.“ 1167 Der Clou von all dem Literarischen Kluges aber ist: Es gab diese Person wirklich und tatsächlich litt er physisch wie psychisch unter der eigenen brutalen Tat, wie es historisch überliefert ist: Seine Darmerkrankung war begleitet von „nervösem Erschöpfungszustand“ der der „psychischen Behandlung“ Schwierigkeiten bereitete: „er leidet insbesondere an Vorstellungen im Zusammenhang mit den von ihm selbst geleiteten Judenerschießungen“; ein „zitterndes“ „Wrack“.-- Das ist bei Kluge zu lesen. Die Originaldokumente geben das gleiche Bild ab, wie Reichsarzt- SS Grawitz zu Protokoll gibt: „Von dem Bach-Zelewski-[…] schrie nachts auf und verhedderte sich in Halluzinationen, verfolgt von den Gespenstern eigener Schuld-[…] im Zusammenhang mit den von ihm selbst geleiteten Judenerschießungen und anderen schweren Erlebnissen im Osten.“ 1168 Eine Grundannahme der Kritischen Theorie ist: Gesellschaften sind in komplexen historischen Prozessen durch menschliche Handlungen geformt, verändern sich permanent und können deshalb von innen heraus auch verändert werden. Eine rein passiv geartete Betrachtung von Gesellschaft als ein so vorhandener Zustand, der sich entwickelt hat, wäre eine Fehleinschätzung. Ihre konstante Veränderung sowie die parallele Existenz unterschiedlicher, sich wiederum alternierender Gesellschaften beweist ihre Wandlungsfähigkeit. Der aktive Einfluss des Menschen auf die Gesellschaft wäre demnach eher abzuleiten als irgendein metaphysischer, immanenter Trieb. Dieser Einfluss ist jedoch als ein langwieriger Prozess, ähnlich der biologischen Evolution des Menschen zu begreifen. Diese soziale Evolution weist dem Menschen eine aktive Mitgestaltungsrolle zu, wenn auch zumeist mit zeitlicher, d. h. überlebenszeitlicher Fernwirkung. Auf dieses sukzessive Vermögen, das historisch nachzuvollziehen ist, besinnt sich auch Alexander Kluge. Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter“-- 48 Geschichten für Fritz Bauer. Berlin (Suhrkamp) 2013 , S. 66 . 1166 Kluge, Alexander: „Ort der Einfühlung“, in ebd., S. 64 . Der vortreffliche Name der Geschichte ist Programm: Die Notdurft wird dem SS-Mann mit der Hand aus dem strapazierten Darm geholt (Vgl. „Das Leiden eines Täters“, S. 67 ). 1167 Ebd. Im wahrsten Sinne Tiefergehendes hierzu erzählt Kluge im transkribierten Telefongespräch, das diesem Hauptkapitel folgt. 1168 Zit. n.: Lifton, Robert Jay: Ärzte im Dritten Reich. Stuttgart (Klett-Cotta) 1988 , S. 188 . 304 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 304 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Entscheidend ist, den politikverdrossenen, indifferenten bzw. „interpassiven“ 1169 Bürger aus seiner Wurstigkeit zu ziehen. Diese ist eine bequemliche Erscheinung, die erwachsen ist aus Eindrücken, dass die Prozesse, die in der Gesellschaft wirken, außerhalb seiner Zuständigkeit und seines Einflusses zu liegen scheinen. Max Horkheimer: „Der zwiespältige Charakter des gesellschaftlichen Ganzen in seiner aktuellen Gestalt entwickelt sich bei den Subjekten des kritischen Verhaltens zum bewußten Widerspruch. Indem sie die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die gesamte auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit erkennen, als die Organisation, die sich die Menschheit in dieser Epoche gegeben hat und zu der sie fähig war, identifizieren sie sich selbst mit diesem Ganzen und begreifen es als Willen und Vernunft; es ist ihre eigene Welt.“ 1170 Indem sich der Bürger seiner Welt annimmt, erkennt er-- das meint Horkheimer hier mit der Widersprüchlichkeit--, dass sie fremdbestimmt ist und kolonialisiert wird: Diese „Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals.“ 1171 Es gilt, den Gesellschaftsorganismus zu beseelen, indem man einen höheren Anspruch an sich selbst und an das Leben stellt, der mehr ist als eine vor sich hinvegetierende Parzelle eines wabernden Gesellschaftsgelees: „Dieser dialektische Charakter der Selbstinterpretation des gegenwärtigen Menschen bedingt letzten Endes auch die Dunkelheit der Kantischen Vernunftkritik. Die Vernunft kann sich selbst nicht durchsichtig werden, solange die Menschen als Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln. Der Organismus als natürlich wachsende und vergehende Einheit ist für die Gesellschaft nicht etwa ein Vorbild, sondern eine dumpfe Seinsform, aus der sie sich zu emanzipieren hat.“ 1172 Kluge und Negt behandeln in ihren Arbeiten die „drei großen Herausforderungen des 20 . Jahrhunderts“-- wohlgemerkt im Zusammenhang: die „soziale Frage“, die „Frage der politischen Demokratie“ und das „Problem der individuellen Emanzipation“. 1173 Es sei eine Illusion, wenn man meine, diese jeweils für sich lösen zu können-- dies sei nur bei Beachtung ihrer Beziehungen und Wirkungen aufeinander möglich. 1169 Der Begriff wurde von Robert Pfaller und Slavoj Žižek, die auch von Kluge und Negt genannt werden, eingeführt. Medien der Interpassivität, ob Ding ob Mensch, ersetzen die Eigenhandlung, nicht aber das Gefühl der Beteiligung. Siehe Beiträge der beiden Autoren in Pfaller, Robert (Hg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Wien/ New York (Springer) 2000 . Weiterführend: Feustel, Robert/ Koppo, Nico/ Schölzel, Hagen (Hg.): Wir sind nie aktiv gewesen. Interpassivität zwischen Kunst- und Gesellschaftskritik. Berlin (Kadmos) 2011 . 1170 Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1975 , S. 28 . 1171 Ebd. 1172 Ebd., S. 28 f. 1173 UM, MP, S. 909 f. 2.6 Mündigkeit 305 Die Vernunft muss aus dem einsamen Kokon des Kognitiven herausbrechen und endlich in realen Lebensverhältnissen wirken, d. h. es muss jener Schritt zu Ende gegangen werden, den Kant so befreiend angesetzt hat: „In der bürgerlichen Epoche wurde die Wirklichkeit der Vernunft zu der Aufgabe, die das freie Individuum leisten sollte. Das Subjekt war die Stätte der Vernunft: von ihm aus sollte die Objektivität vernünftig werden. Die materiellen Daseinsverhältnisse ließen der autonomen Vernunft jedoch nur im reinen Denken und im reinen Wollen ihre Freiheit. Nun aber ist eine gesellschaftliche Situation erreicht worden, in der die Verwirklichung der Vernunft nicht mehr auf das reine Denken und Wollen beschränkt zu werden braucht.“ 1174 Die Vernunft ist das verbindende Element zwischen Philosophie und Bürgertum wie es das zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist. 1175 Vorausgesetzt, unter „Vernunft“ ist „die Gestaltung des Lebens nach der freien Entscheidung der erkennenden Menschen“ zu verstehen und vorausgesetzt ist auch „die Schaffung einer gesellschaftlichen Organisation, in der die Individuen nach ihren Bedürfnissen ihr Leben regeln“, als die vernünftige und dringliche Konsequenz. 1176 Was nützt Kants kopernikanische Wende in Gedanken? „Vermittelte Erfahrung muß unmittelbar nachgeahmt und nicht nur als Gedanke und Ergebnis angenommen werden können.“ 1177 -- Nur dann, durch das Mitnehmen des Anderen im eigenen Gedanken, etwa durch ein illustratives Beispiel oder eine Kurzgeschichte, kann Erfahrung und nur dann kann auch Theorie „Nichttheoretikern“ 1178 vermittelt werden. Denken ist für Kluge und Negt von dialogischer, universalistischer sowie zeitloser Natur. 1179 Im Denkvorgang kommt es zu einem Erfahrungsaustausch mit anderen, ihren Erkenntnissen und Aussagen, mündlich überliefert oder schriftlich verewigt, sei es von Lebenden oder Toten. „Denken ist ein kollektiver Prozess“, so Kluge in einem Gespräch mit Oskar Negt über Kants Begriff des „Selbstdenkens“. 1180 Dieser, zur Sprache gebracht in Was heißt: sich im Denken orientieren? , meint ein autonomes Denkvermögen, das sich reflektierend, prüfend, verknüpfend verhält. Wie Kluge sagt, sei es, also das Selbstdenken, unterirdisch verbunden mit 1174 Marcuse, Herbert: Philosophie und kritische Theorie. In: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übers. v.-Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989 , S. 233 . 1175 „Vernunft ist die Grundkategorie philosophischen Denkens, die einzige, wodurch es sich mit dem Schicksal der Menschheit verbunden hält.“ In: ebd., S. 228 . 1176 Vgl.: ebd., S. 233 f. 1177 UM, ÖE, S. 388 . 1178 Ebd. 1179 Vgl. (u. a.): ebd., S. 366 . 1180 In Kluge, Alexander: „Selbstdenken. Wie man sich im Denken orientiert nach Immanuel Kant.“ Link: http: / / www.dctp.tv/ filme/ selbstdenken-immanuel-kant/ [Zugriff: 30 . 03 . 2014 ]. 306 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 306 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln anderen eigenständig denken könnenden Individuen. Allein in den eingesperrten Gedanken eines Einzelnen nämlich kann es seine Kraft nicht entfalten. Kritisierbar und gemeinschaftsstiftend wird es erst, wenn es öffentlich wird. „Denken ist nichts Monadologisches“, stimmt Oskar Negt zu. 1181 Denken verstehen die beiden nach kantischem Vorbild als ein evolutionäres „Ereignis“, als ein intersubjektives Vermögen der Menschen: „Es ist nicht im Kopf beheimatet“, erklärt Kluge, „sondern zwischen den Menschen.“ 1182 Ganz so wie sich bei den Gesprächen zwischen Kluge und Müller Texte zwischen den Körpern ausbreiten und miteinander verflechten. Wie gesehen, ist Denken ein intersubjektiver Prozess, der auf persönliche Mitteilung, prüfenden Austausch sowie gegenseitige Anerkennung aus ist und deshalb mit dem Begriff der Öffentlichkeit verwachsen ist: „Es gibt kein Denken, das sich darauf beschränkt, die Stärke seiner Gedanken monologartig vorzutragen; die Rückantworten, die Anerkennung meiner Gedanken aus der Rückantwort der anderen, das ist überhaupt denken. Da ich auf das Denken (und nach Kleist heißt das auch: ‚auf das Unterscheidungsvermögen der Gefühle’) nicht verzichten kann, ist die elementare Fähigkeit, sich mit anderen auszutauschen, Öffentlichkeit zu bilden, lebensnotwendig. Es ist kein Pathos, sondern Lebenspraxis, dass substanzreiche Öffentlichkeit die Voraussetzung dafür ist, dass ich mir traue, dass ich Selbstvertrauen habe und anderen trauen kann.“ 1183 Jenen Standpunkt des Öffentlichkeitssowie Gemeinschaftscharakters des Denkens, den Kluge so engagiert artikuliert, hat schon Kant herausgearbeitet. 1184 Echte Öffentlichkeit bedeutet freien Denkraum einer autonomen Bevölkerung. 1185 An diesem Knotenpunkt kristallisiert sich die Verbindung zwischen Wahrheit und Wahrnehmen, denn das, „was eigentlich Bewußtsein ausmacht“, sagt Adorno im Gespräch mit Hellmut Becker, sei „Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt: die Beziehung zwischen den Denkformen und -strukturen des Subjekts und dem, was es nicht selber ist.“ Der von Kluge und Negt zum Buchtitel erhobene Begriff der „Erfahrung“, der dort nicht zufällig in unmittelbarer Verbindung zu dem der „Öffentlichkeit“ steht, erfährt im Verlauf desselben denkwürdigen Gesprächs seine ganze gesellschaftliche Tragweite: „Dieser tiefere Sinn von Bewußtsein oder Denkfähigkeit ist nicht einfach der formallogische Ablauf, sondern er stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, 1181 Ebd. 1182 Ebd. 1183 Alexander Kluge, zitiert nach: Reisnegger, Kurt: „Für eine substanzreiche Öffentlichkeit“, Ö1/ ORF, 07 . 08 . 2010 . Link: http: / / oe1.orf.at/ artikel/ 215 919 [Zugriff: 05 . 01 . 2014 ]. 1184 Die „‚Richtigkeit’ unseres Denkens“ liege darin, „daß wir gleichsam in Gemeinschaft mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, denken.“ Aus Kants Was heißt, sich im Denken orientieren? , zitiert nach UM, VM, S. 952 . 1185 Vgl.: UM, MP, S. 963 . 2.6 Mündigkeit 307 überein. Denken und geistige Erfahrung machen-[…] ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit-[…] miteinander identisch.“ - Hellmut Becker ergänzt in dieser Analogie noch die „Erziehung zur Phantasie“, dem Adorno, und Kluge wird das gewiss nicht anders sehen, sogleich zustimmt. 1186 Erfahrungsraum, Denkraum, Spielraum-- das gehört bei Kluges/ Negts Öffentlichkeitsentwurf alles zusammen (siehe auch: 2 . 4 . 1 . 4 „Die Stadt in mir sucht die Stadt außer mir“). „Wir hegen keinen Zweifel-- und darin liegt unsere petitio principii--“, schreiben Adorno und Horkheimer, „daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist.“ 1187 Dennoch wohnt der Aufklärung mit dem „Keim zu jenem Rückschritt“ etwas Selbstzerstörerisches inne. Ohne Selbstreflexion droht ihr der Krebsgang zum Mythos und Totalitären. „Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“ 1188 Es gibt eine poetische Formulierung Kluges hierzu: „Nichts hat Schlüsselgewalt zur Utopie, das nicht auch die Hölle aufschließt.“ 1189 Die Aufgabe lautet deshalb: Entmystifizierung und Entideologisierung des Geistes: „Der Historische Materialismus-[…] ist vielmehr als Geschichtsphilosophie und Revolutionstheorie in einem zu begreifen, ein revolutionärer Humanismus, der seinen Ausgang nimmt von der Analyse der Entfremdung und in der praktischen Revolutionierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sein Ziel hat, um mit ihnen zugleich Entfremdung überhaupt aufzuheben.“ 1190 So wie Nietzsche den Menschen von seiner devoten Abhängigkeit gegenüber Gott und der Kirche befreit und zurück ins Diesseits rettet, so wie Freud das Unterbewusstsein und damit das Ich von der determinierenden Schicksalhaftigkeit befreit und das Subjekt durch seine Innerlichkeit aufwertet, ja so wie Schönberg die Töne befreit, so befreien der historische Materialismus und die Kritische Theorie die Geschichte von ihrer hehren Fatalität und somit den Menschen von seiner Ohnmacht am Geschichtsverlauf und drängen ihn dazu, zum Mitakteur gesellschaftspolitischer Zustände zu werden: „Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit.“ 1191 Adorno, an Kant anlehnend: „Die Freiheit besteht eigentlich nur in der Verwirklichung der 1186 „Genau“, sagt Adorno. Vgl.: Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1971 , S. 116 . 1187 AGS 3 , S. 13 (Vorrede). 1188 Ebd. 1189 Kälte, S. 35 . 1190 Habermas, Jürgen: „Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus“, in ders.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Frankfurt (Suhrkamp) 1974 , S. 394 . 1191 AGS 3 , S. 38 (Vorrede). 308 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 308 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Menschheit.“ 1192 Eine Verwirklichung der Freiheit für den Einzelnen ist demnach nur in Korrespondenz zu allen anderen individuellen Freiheiten denkbar. Kritische Theorie entwickelt eine indirekte Befreiungstheorie aus ihrer Gesellschaftstheorie anhand der Erforschung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen nicht nur von ökonomischen, sondern ebenso von ökologischen, sozialen und sozialpsychologischen, kulturellen und politischen Prozessen. 1193 Kluges „Korallenriffe“, Inseln richtigen Lebens und gewaltloser Kommunikation, revidieren Adornos Satz, wie es dieser selbst später tat, von der Unmöglichkeit richtigen Lebens im falschen, indem sie Plattformen bieten für ein von innen sukzessiv entstehendes, sich allmählich ausdehnendes vernünftiges Allgemeines, dessen Impuls ein „Ethos des Nicht-Mitmachens“ 1194 oder vielmehr ein Ethos des Anders-Machens ist. Wir haben es hier mit einer weiterentwickelten Wiederholung der Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit zu tun, hin zu einer aktiven Gestaltung einer gerechten und freien Gesellschaft. Diese Erschütterungen der Moderne sind letztlich Stimulanzien des Menschen als mündiger Weltbürger und sozial verantwortungsvoller sowie umweltbewusster Verbraucher, der aufgefordert ist (nicht aber: gezwungen wird), Gesellschaft und somit Geschichte unter humanistischen Prämissen mitzugestalten. Bildgewaltig und flankiert von komplementären Bildunterschriften wird im „Zwischenstück 2 “, eine Art Montagesplitter zwischen zwei Werken, der die Brücken zwischen Öffentlichkeit und Erfahrung und Maßverhältnisse des Politischen mit zusätzlichem Licht versorgt, die Problematik jenes Ohnmachtgefühls des kleinen Menschen gegenüber der erdrückenden Schicksals- oder Staatsmacht zum Ausdruck gebracht. Fundiert, nämlich gespeist aus Geschichts- und Naturwissenschaft, wird dieser unterschätzte Mensch, der sich auch selbst unterschätzt, beruhigt und ermutigt. Es gibt eine Art Intelligenz, die der menschlichen Ratio Millionen Jahre voraus ist: die Natur in uns, die Überlebenskunst, die wir unbewusst in uns tragen: „Irgendetwas, gewiß aber nicht das, was sie wollten oder beabsichtigten, war intelligenter als sie. Anders kann ich mir ihr Überleben nicht erklären.“ 1195 Es gibt so etwas wie Schicksal gar nicht. Was jedoch nicht minder so auf einen wirkt, bezeichnen Kluge/ Negt entmystifizierend als „Drittschaden“, der aus „Mangel an gesellschaftlichem Zusammenhang“ entsteht. 1196 1192 So Adorno im Gespräch mit Horkheimer, in HGS 19 , S. 51 . 1193 Vgl. (u. a.): Demirović, Alex: „Was ist Kritische Theorie? “ Eröffnungsvortrag im Rahmen der Tagung „Kritische Theorie und Emanzipation“ ( 11 .- 12 . 11 . 2011 ) an der Universität Bielefeld am 11 . 11 . 2011 . 1194 G. Schweppenhäuser, S. 78 . 1195 UM, Zwischenstück 2 , S. 688 . 1196 UM, MP, S. 845 . 2.6 Mündigkeit 309 Im Prinzip das, was René Pollesch seit Jahren fulminant auf der Bühne zeigt- - gemeint ist die Pseudo-Selbstverwirklichung am Beispiel einer Figur wie Heidi Hoh--, hat Kluge bereits Ende der 80 er formuliert: „Commodities and industries now realize themselves in human beings.“ 1197 Die zunehmende Industrialisierung der Privatsphäre, das Verschwimmen der (auch räumlichen) Grenze von Arbeitszeit und Freizeit, in seiner Intensität gefördert nicht mehr nur durch die ständige mobile Erreichbarkeit, sondern moderne Formen des Arbeitsplatzes (Home Office, Latte-Macchiato-Bar, Common Working Areas), Selbstvermarktung usw. sind hier nur eine Hand voll akuter Zwiespalte, denen Kluge beharrlich etwas entgegenzusetzen versucht. Das noch in den Kinderschuhen steckende Phänomen der subtilen Versklavung vom Kunden als unbezahlten Arbeiter ist dabei der vorläufige Höhepunkt des ökonomischen Totalangriffs auf das Private („arbeitender Kunde“). 1198 -- Dieser schrumpfende Raum an Intimität durch sich zur Privatwelt kolonialistisch verhaltender Phänomene im Bereich Arbeit, Konsum, Prosuming und Überwachung ist auch anhand soziologischer Definitionen als eine zunehmende Totalisierung auf Kosten persönlicher Freiheit einzustufen (Begriff der „totalitären Institutionen“ etc.). Ein zweiter Anlauf: Geschichte und Eigensinn ist die umfangreiche Darstellung einer politischen Ökonomie der menschlichen Arbeitskraft, weil im Produktionsprozess noch etwas anderes entsteht oder potenziell entstehen könnte, als das materielle Endprodukt abbildet. In der kapitalistischen Arbeitswelt und der davon immer weniger getrennten, deshalb mehr und mehr entfremdeten Privatwelt bzw. Freizeit wird menschliche Energie in maximalem Ausmaß für das Produzieren und Konsumieren von Produkten zur Gewinnmaximierung von Wirtschaftsunternehmen und -unternehmern angezapft. Soweit zur schlichten Darstellung eines Systems, dessen eigene Logik nur in sich vernünftig ist (als gebe es kein Außen, keinen Zusammenhang). Man muss nicht gleich in Gutmenschentumsrhetorik verfallen, um zu sehen, dass bei diesem Mechanismus „Kollateralschäden“ entstehen, gegen deren Eindämmung nur mit angezogener Handbremse etwas unternommen wird (beispielsweise-- oberflächlich und verpuffend statt strukturell und nachhaltig-- durch Spenden). 1199 Aus der Systemlogik heraus ist ersichtlich, dass der Mensch 1197 Alexander Kluge in: Liebman, Stuart: „On New German Cinema, Art, Enlightenment, and the Public Sphere: An Interview with Alexander Kluge”, in October, no. 46 , fall 1988 , S. 40 . 1198 Deshalb singen Tocotronic „Was du auch machst, mach es nicht selbst.“ Zum Begriff des „arbeitenden Kunden“: Voß, G. Günter/ Rieder, Kerstin: Der arbeitende Kunde. Wie Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden. Frankfurt a. M./ New York (Campus) 2005 . 1199 Exkurs: Thomas Piketty widerfährt, was sicher auch am ehrgeizig gewählten Titel seiner umfangreichen Wirtschaftsanalyse liegt, ja auch deshalb so erstaunliche Beachtung, weil er wirtschaftliche Argumente findet, die die ökonomische Welt erfahrungsgemäß mehr reizen als soziale und ethische Bedenken. Die Unverhältnismäßigkeit liegt zwischen ausufernden Kapitalgewinnen und gleichzeitig geringfügigen Wachstumsraten, was Piket- 310 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 310 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln vielleicht nicht systematisch (direkter Wille), wohl aber systemisch (indirekte Wirkung) nur extrem wenig Kapazitäten für eine Form von Arbeit zur Verfügung hat, die von Gemeinnutz wäre. Kaum Zeitkapazitäten, Gefährdung des Arbeitsplatzes, extremer Mangel an konsumfreiem Raum usw. erfordern also Bedingungen wie Zeit, kommunikativ-öffentliche Foren und Strukturen, die zu Kooperationen ermöglichen, und natürlich existenzielle bzw. finanzielle Grundabsicherungen (etwa durch ein globales bedingungsloses Grundeinkommen). Es ist, allein rein rational, ein eklatanter Widerspruch festzustellen zwischen dem Potenzial menschlicher Arbeitskraft und der gesamtgesellschaftlichen Situation aus Hunger und Armut, Krieg und Gewalt, Ausbeutung und prekären Arbeitsverhältnissen, Menschenhandel und Zwangsprostitution, Pathologien und Psychosen. Die Idee einer gesellschaftlichen Selbstverständigung, einer sich selbstaufklärenden, praktisch-vernünftigen Gesellschaft, markiert den öffentlichen Strukturwandel. Kennzeichen: historisch validierte Herleitung der Öffentlichkeit von einer sich mündig machenden Bürgerlichkeit in Europa. Ein diskursiver Öffentlichkeitsbegriff, über eine nur institutionelle Komponente hinaus, hin zum Gedanken eines öffentlich-medialen Raums. Massenmedien statt Medien der Masse ist die Realität. Bürgerliche Partizipation an und politische Transparenz bei der Ausgestaltung von Gesellschaft. Öffentlicher Diskurs als die große anti-totalitäre Chance. Vermachtung und Vermarktung der öffentlichen Kanäle, von direkter bis hin zu subtiler Werbung, Handel mit persönlichen Daten und Nutzerverhalten, persönliche Akte mit Kaufverhalten und Beziehungsnetzwerk aus Familie, Freunden und Kollegen. Kommunikative Kompetenzen der Bürger werden nicht gefördert oder wenn, dann nur im Markt-Interesse, nicht aber sinnstiftend (Kennenlernen, Austausch, gemeinwohlorientiertes Handeln etc.). 1200 Wie können andere, davon losgelöste Möglichkeiten des Informationsaustausches und öffentlicher Beteiligung aussehen? Kluge macht einen Vorschlag: Er stellt Informationen in Zusammenhängen zur Orientierung bereit und er stellt einen gemeinsamen intermedialen Raum her. ty auf die simple Formel „r > g“ bringt- - „return of capital“ ist größer als „economic growth“-- und somit freilich den Wahrheitsgehalt seiner Analysen durch die auf Wissenschaftlichkeit verweisende Darstellung als Formel persuasiv untermauert (zudem hat das Größer-als-Symbol mit der Assoziation einer Schere hohe Anschaulichkeit). Vgl.: Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München (C. H.Beck) 2014 . 1200 Beispiel: Der Niedergang des Fachs der Allgemeinen Rhetorik nach Jens und Ueding vom humanistischen Ideal des vir bonus zu einer modernen Version der Sophisten; Manager- und Erfolgsrhetorik. 2.6 Mündigkeit 311 2.6.1 Die historische Idee der Bifurkation „Noch ‚gestern’ (nämlich im Jahr 1895) wären hier in Venezuela im Ringen um den Bergbau in der Cordillera de Mérida (am Fuße des Pico Bolívar) die USA und England um ein Haar kriegerisch aneinandergeraten. Schiedsrichter in einem solchen Krieg hätte dann Deutschland sein können. Auch das Reich besaß Ansprüche auf die genannten Minen. Durch ein Bündnis zwischen Deutschland, USA und England wäre der Frieden in der Welt dauerhaft erhalten geblieben.“ 1201 Ähnlich wie Nietzsche mit den hellenischen Götter-Allegorien Apollon und Dionysos arbeitet, bildet bei Kluge das Kräftemessen zwischen den Gottheiten Chronos und Kairos ein poetologisches Gravitationszentrum. Der Urgott Chronos ist der Zeitenfresser. Er verschlingt seine Kinder und somit seine eigene Zukunft, ist Verfall, ablaufende Zeit. Und es gibt Kairos, die substanzgeladene, jedoch flüchtige Chance, ein Zeitenwender im Vorbeiflug innerhalb dieser unaufhaltsam tickenden Uhr. Ein damit zusammenhängendes Schlüsselmotiv Kluges ist die sog. „Bifurkation“. Den französischen Ausdruck übernimmt er wahrscheinlich von Michel Serres (frz.: la bifurcation-= Abzweigung, Weg-Gabelung), die Allegorie findet sich aber z. B. als „Gabelung“ bereits früh im Werk, so etwa in dem Kollektivfilm Krieg und Frieden von 1982 . Dies ist ein Scheidepunkt, an dem „sich ein evolutionärer Weg von einem anderen getrennt hat“. Diese koexistierenden Parallelwelten gilt es aufzuspüren und offenzulegen. 1202 Der Begriff steht also erstens, und da korrespondiert er direkt mit dem Kairos-Gedanken, für die an einer zeitlichen Gabelung Licht gewordene reale Möglichkeit eines anderen Verlaufs der Dinge, die Suche nach Auswegen, ein Aufblitzen einer glücklicheren Welt. Wie viele Menschen wären am Leben geblieben, wenn der 20 . Juli 1944 , das Attentat auf Hitler, gelaufen wäre wie geplant? Wäre Halberstadt im April 1945 bombardiert worden? Zweitens ist dieses Bild der bifurcation von ideengeschichtlicher Prägung, also dem Bewusstsein von der mitunter unterirdisch und zeitlich versetzten Wanderung eines in der Geschichte schon einmal so oder so ähnlich Gedachten. Allen voran: Die Idee der Emanzipation des Menschen, die sich, historisch betrachtet, trotz ständiger Rückschläge sukzessiv weiterentwickelt. So hat sich ein „emanzipatives Minimum“ 1203 bereits realisiert. Evolutionistisch also im Sinne nicht von Fortschritt, sondern von Anpassung an sich ständig verändernde Verhältnisse. Literarisch verarbeitet findet sich diese Überzeugung etwa in „Die Nordpolarstellung“ wieder, in der es um einen auf Eis gelegten Plan der NATO geht, die Regionen des Nordpols aus militärstrategischen Gründen zu besetzen: 1201 Kluge, Alexander: „Ein Baustein für das Vierte Reich“, in ders.: 30. April 1945, S. 237 . 1202 Vgl.: Bretter, S. 314 . 1203 GE, S. 482 . 312 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 312 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „Wie aber die in der Evolution erworbenen Eigenschaften ohne äußere Anwendung lange Zeit liegenbleiben und sich dennoch durch Mutation fortentwickeln, um dann als neue Anpassungen hervorzutreten, so führen die Akten und gespeicherten Datenmassen in der Brüsseler Zentrale ein aktives, verborgenes Leben.“ 1204 Aneignung des Jetzt durch Wiederaneignung von Vergangenem und Antizipieren von Kommendem in Konstellation bringt uns auf Walter Benjamin und seine Begriffe der „Konfiguration“ oder des „dialektischen Bildes“: „‚Dialektische Bilder’“ seien, so zitiert Kluge einen Brief Adornos an Benjamin, „‚Konstellationen zwischen entfremdeten Dingen und eingehender Bedeutung, inne haltend im Augenblick der Indifferenz von Tod und Bedeutung.’“ 1205 Benjamin direkt: „Nicht so ist es, daß das Vergangne sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild, sprunghaft.“ 1206 Der Begriff des „dialektischen Bilds“ weist hin auf eine „‚objektive Schlüsselgewalt’“, deren Ausgang gut oder schlecht sein kann. 1207 Vergleichbar steht die Bifurkation für jene „abarischen Punkte“, an denen alte Kraftverhältnisse sich neu verteilen oder umkehren, an denen eine Freiheit ephemer existiert, die das Potenzial einer Umkehrung der Verhältnisse in sich trägt. 1208 Das ist etwas ganz Entscheidendes in der Grundhaltung: Nichts ist zu verteufeln, nichts in den Himmel zu loben. An die Wurzeln gehen und zusammentragen, was es zu bewahren gilt und was sich nicht wiederholen darf-- also zunächst einmal unterscheiden können. Und dann überlegen, an welchen Punkten, die nicht umgesetzt worden sind, es sich lohnen würde, noch einmal anzusetzen. Was Kluge macht, ist also nicht Historismus, sondern Revitalisierung von geschichtlichen Fakten oder deren Vorformen. Geschichtsbetrachtung nicht kausal, nicht als roter Faden, sondern als Aufsuchen der Bruchstellen und sodann spiralförmiges Einkreisen des historischen Punkts. So wird ein Verstehen möglich, das sich für einen Moment frei macht von den Ketten einer fertigen, schicksalbesiegelten Geschichtsschreibung und eine Zeitwahrnehmung ermöglicht, die multidimensional ist. „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint 1204 Kälte, S. 56 . 1205 Brief Adornos vom 5 . August 1935 an Benjamin, in: BGS V. 1 , S. 582 , zit. n.: Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, hg. v.- Alexander Kluge. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1983 , S. 447 . 1206 BGS V. 1 , S. 576 f. 1207 Unterschiede, S. 38 . 1208 Vgl.: GE, S. 280 f. u. 789 f. 2.6 Mündigkeit 313 das dialektische Bild. Es ist die Zäsur der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige.“ 1209 Sie sei dort anzutreffen, „wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten“ sei. „Demnach“, fährt Benjamin fort, „ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand; es rechtfertig seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs.“ Sprengung, Splitter, Kaleidoskoparbeit: Erst die Zeit-Ausschnitte sind von solch einer Bildlichkeit, dass sie nur noch in Konstellationen gebracht werden müssen, in Sternbilder wenn man will, damit eine echte Erkenntnis der Vielfalt des Besonderen möglich wird: „Rettung der Phänomene“. 1210 Und sie werden dabei, befreit von ihrem schicksalhaften Ganzen, zu neuem Leben erweckt. Der seinem Werk inhärente Klang der Zuversicht übertönt deshalb jedes Anstimmen sentimentaler Trauergesänge auf gescheiterte Revolutionen mit unzähligen bestärkenden Beispielen eines Beinahe-Gelingens. Durch das Werk Kluges erhält man erst einmal ein Bewusstsein davon, wie viel (und zwar sehr realistisches) Utopievermögen in der Geschichte enthalten ist, wie viele Menschen hieran schon gearbeitet haben. Kluge ist hier also Reproduzent von konkreter Hoffnung und Besetzer von Plateaus der Zukunft durch angestachelte, unerfüllt gebliebene Phantasie. Hier zeigt sich einmal mehr, dass seine Montageform Sinn hat: Die „Dialektik von Bruch und Kontinuität“ erzählt vom noch „unausgetragenen“ Teil der Geschichte. 1211 „Le goût de l’infini“ (Baudelaire): Das Werk lebt, es schließt nicht ein (im Sinne von Gefängnis) und es schließt nicht aus (im Sinne von Ausgrenzung), weil es nicht abgeschlossen ist. In der Ästhetik des Fragmentarischen liegt die Handlung in Trümmern. Die Zersplitterung jener eben noch ausweglos geschlossenen Übermacht der Schicksalhaftigkeit offenbart plötzlich Lücken: Kluge legt „den offen zutage liegenden und leerlaufenden Mechanismus als irrlaufenden Determinismus“ 1212 bloß und produziert ein Bewusstsein des Resistierens. „Die Macht des Schicksals: Name einer Oper, der auf fast alle Opern paßt. Aber es bleibt zweifelhaft, ob es Schicksal wirklich gibt. Vielleicht gab es nur hunderttausend Gründe, die hinterher Schicksal heißen.- […] Der Name meines letzten Films heißt: Die Macht der Gefühle. Die Macht gibt es wirklich, und die Gefühle gibt es auch wirklich.-[…] Ich möchte Geschichten erzählen, wieso die Gefühle nicht ohnmächtig sind.“ 1213 1209 BGS V. 1 , S. 595 . 1210 BGS I. 1 , S. 214 . 1211 GE, S. 483 . Siehe auch Kapitel 2 . 2 („Kluges erkenntniskritische Philosophie der Konstellationen“). 1212 „Die Funktion des Zerrwinkels“, S. 100 . 1213 Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1984 , S. 5 (Vorwort). Hervorh. gem. Orig. 314 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 314 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Mit einschneidenden geschichtlichen Erschütterungen ist beim Autorenduo Alexander Kluge/ Oskar Negt der Begriff der „Öffentlichkeit“ zentral verwoben. Sie blitzt in historischen Brüchen auf („Die Lücke, die der Teufel lässt“) und muss durch die Rekonstruktion ihres realen Aufflammens freigelegt werden. 1214 Zieht man die habermas’sche Bezeichnung zum gleichen Sachverhalt heran, ist schon eher die eigentliche Bedeutung dessen zu erahnen, was da im „Augenblick der Katastrophe“ durchbricht: „Dieser Augenblick totaler Erschöpfung, da ein Organisationszustand in den nächsten übergeht, ist der einzige Moment der Freiheit.“ 1215 Vermöge der Reproduktion durch das Kunstwerk und dessen Verzögerungsfähigkeit gelingt es Kluge, die Dunkelheit dieses gelebten Augenblicks real gewordener Freiheit aufzureißen, ihn lang zu halten und somit die Chance seiner Wahrnehmung und Verwirklichung zu erhöhen. Durch das Montieren mehrerer Bilder oder Geschichten in einem Erzählraum werden die Zwischenräume vorübergehend zugänglich, sodass auch all „das Nichterzählte“ plötzlich „zu ahnen ist“. 1216 In dieser unerzählten Wirklichkeit ist zugleich auch enthalten ein unverwirklichtes Realitätsreservoir aus Erfahrungen und Energien.-- Und deshalb dürfte der Bifurkationsbegriff die Toleranzgrenze eines streng faktisch arbeitenden Historikers zwar bis aufs Äußerste strapazieren, pauschal als kontrafaktisch bezeichnet werden kann man ihn jedoch auch nicht. Mit dem beschriebenen Aufspüren und Freilegen von zugewachsenen Zeitschneisen setzt der Adorno-Schüler 1217 Kluge also die Kritische Theorie mit narrativen Mitteln fort. So würdigt Jürgen Habermas dessen rastlose „Suche nach den Spurenelementen zerronnener utopischer Energien“ mit der augenscheinlichen Identifizierung Kluges Denkweise als einer frankfurterischen: „Er entwindet sich der negativen Dialektik, ohne deren Einsichten preiszugeben. Und so verschafft er sich eben Luft für jenes prekäre Moment Zuversicht.“ 1218 Bereits der vorinstitutionelle Frankfurter Walter Benjamin erkennt die eigentliche „Gabe“ des „Geschichtsschreibers“ darin, „im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen“, 1219 um Überlieferungen vor konformistischen Vereinnahmungen und ideologischen 1214 Vgl.: ÖE, S. 7 (Vorrede). 1215 Habermas, Jürgen: „Nützlicher Maulwurf, der den schönen Rasen zerstört. Lessing-Preis für Alexander Kluge“, in ders.: Vom sinnlichen Eindruck. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1997 , S. 144 . Eig. Hervorh. 1216 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ ( 3 . Vorlesung, 19 . 06 . 2012 ). 1217 Kluge war in den 50 ern Justitiar am Institut für Sozialforschung. Mit Adorno verband ihn eine enge, zuweilen väterliche Freundschaft. 1218 Habermas, Jürgen: „Nützlicher Maulwurf, der den schönen Rasen zerstört. Lessing-Preis für Alexander Kluge“, in ders.: Vom sinnlichen Eindruck. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1997 . Zitate von den Seiten 139 bzw. 138 . 1219 BGS I. 2 , S. 695 . 2.6 Mündigkeit 315 Instrumentalisierungen zu schützen. Und so gräbt Kluge den Erfahrungsschatz, der in der Geschichte verstreut und zugeschüttet liegt, heraus, um gewappnet zu sein für die Fragen von Gegenwart und Zukunft. Diese für eine Gesellschaft notwendige Erinnerungs- und Trauerarbeit betreibt er so leidenschaftlich wie sorgfältig, ohne in Dämonisierungen oder Dogmatismen zu verfallen. Sitzend auf den Schultern der Toten, sehe ich durch die Vergangenheit hindurch auf die Zukunft der Gegenwart. „Kunst ist die Verbindung zwischen Zeiten“, heißt es in einer Videoinstallation Kluges. Sie ist „die Arche Noah, die unsichtbar durch die Geschichte fährt“ und, so wäre zu ergänzen, die alle Vertreter der menschlichen Emanzipation durch jede Sintflut manövriert. 1220 2.6.2 Zum Zeitbedarf von Revolutionen Es ist jenes Vibrieren, das Max Weber mit „ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“ als Umschreibung von „Politik“ formuliert, das auch in Kluge oszilliert. „Leidenschaft“ ist bei ihm das „Gefühl“, „Augenmaß“ das „Unterscheidungsvermögen“. Die besagte Kraft und Geduld („stark“, „langsam“) sind in Gestalt von Intensität und Zähigkeit klugesche Erscheinungen. Vor allem aber ist es eine Umschreibung von Politik, die substanzhaltiger ist als das Verständnis von Politik als einem Geschäft von Parteien. Weber und Kluge meinen eine Politik, die in allen Dingen steckt, eine die „mich“ betrifft, an der ich teilhabe und die ich mitgestalte. Kluges indirekte Botschaft lautet im Grunde: Auch beispielsweise als Berufsschullehrer oder Naturschützer kann man verhältnismäßig Großes bewegen, Bestimmtes erhalten, anderes verändern. 1221 Viele kleine, dezentrale Projekte mit kooperativem Geist sind die Losung. So wird Macht aufgeteilt, der Okkupation von Wenigen entzogen, wodurch weniger Schaden etwa durch einen Einzelnen angerichtet werden kann. „Diderot hat gesagt: ‚Kein Mensch hat in der Natur das Recht, andere zu kommandieren.’ Dies ist inzwischen etwas, was in den Menschen steckt, die ja gewarnt sind vor ihren Obrigkeiten. Die gehorchen nicht mehr so viel. Meine Hoffnung auf diese sieben Milliarden Erdenbewohner ist, dass wir so komplex sind, dass wir uns dem Kommando zunehmend entziehen. Katastrophen wie 1914 sind immer möglich. Aber eine Naturkatastrophe wie Fukushima, die Pranke der Natur, kann heute viel leichter Verwüstung mobilisieren als der Gehorsam.“ 1222 1220 Aus: Kluge, Alexander: Mehrfachbilder für 5 Projektoren. Videoinstallation mit Lesung. Uraufführung im Haus der Kunst in München, 2007 . 1221 Vgl.: „Als Denkmalschützer im Einsatz“, in Kälte" S. 43 ff. 1222 Kluge in: Illies, Florian: „Herr Kluge, wie wird das Jahr 2013 ? “, in Die Welt vom 12 . 01 . 20013 . Link: http: / / www.welt.de/ kultur/ literarischewelt/ article112 714 753/ Herr- Kluge-wie-wird-das-Jahr-2013.html [Zugriff: 07 . 03 . 2013 ]. 316 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 316 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln In Zeitbedarf von Bildungsprozessen 1223 ist von einem ehemaligen Hauslehrer zu lesen, der mithilfe eines Kredits ein unabhängiges Unterrichtsunternehmen gründete, das bald seine Nachahmer fand. In solchen „Attraktionsstätten des Wissens“ wurden Revolutionäre zum Republikanismus ausgebildet, wobei die Lehrer in einem nicht-hierarchischen, diskussionsfreundlichen Verhältnis zu ihren Schülern standen („Die Unterrichtenden wußten vom Gegenstand des Unterrichts nicht mehr als die Schüler.“ 1224 ). Als der erste Jahrgang ausgebildet war ( 1802 ), oder wie Kluge geradezu ökonomisch 1225 formuliert: als die erste „Produkt“-Reihe „fertig“ war, zeigte sich, dass die Zeit niemals still steht. Die einst benötigten Republikaner mussten in den Untergrund, weil sich mittlerweile ein Polizeistaat geformt hatte. Nichtsdestotrotz zeigte sich die Nachhaltigkeit des Unternehmens („Bildung wirkt langfristig“): „ 1832 war wieder Verwendung für Republikaner.“ Die Bildung innerhalb einer Gesellschaft ist schließlich niemals homogen. Dies belegt auch die angedockte, mit dieser hier korrespondierenden Geschichte über den Unterschiedlichen Bildungsstand in den Provinzen, 1226 in der Schreibkundige zusammen mit Analphabeten die Altardecke gegen die Weltkarte eintauschen und ihre Lebensmittel vergemeinschaften: „Für den gemeinsamen Elan, der unterhalb dessen strömt, was durch Unterricht und Regeln vermittelt werden kann, machte dies keinen Unterschied.“ Das Thema bespielt Kluge weiter mit Ein Gesetzgebungsversuch für etwa eine Woche, 1227 das mit der Hervorhebung im Satz „Das Jahrhundert war ja das der ERZIEHUNG DES MENSCHENGESCHLECHTS“ auf Friedrich Schiller anspielt. In dieser Geschichte ist von einem Fachkräftemangel der neuen Lehre zu lesen. Die Überzeugung von Lern- und Lesezirkeln mit der Teilhabe aller Klassen und Altersklassen leuchtet auf. Gedanken wie „Wissen ist Ausübung von Freiheit“ 1228 oder „Autonomie der Erkenntnis“ bestimmen die Denkhaltung. Die Idee aber wird zu Tode debattiert, sodass das Thema der Bildung „bis zum Ende der Großen Revolution“ nie mehr das wurde, was sie doch so substanziell ist: „ein Hauptgegenstand der 1223 Bretter, S. 97 . Mit einer abgebildeten Spielkarte, auf der Jean-Jacques Rousseau mit dem „Contrat Social“ zu sehen ist. 1224 Dieser Satz hat eine autobiographische Konnotation: Kluge berichtet, dass sich die unerfahrenen Oberhausener Filmrevolutionäre im eigens gegründeten Institut für Filmgestaltung den Film selbst beibrachten. Vgl.: Eigenhändige Notizen der „leçon de cinéma-- Kluge par Kluge“ vom 27 . 04 . 2013 in Paris (Teil der sechswöchigen Filmschau „Alexander Kluge Rétrospective-- Prospective. Odyssée Cinéma“ der Cinémathèque française). 1225 Denn das liest sich tatsächlich wie ein Kommentar zur Logik vom sich überschlagenden Wechsel von Angebot und Nachfrage. 1226 Bretter, S. 98 . 1227 Ebd., S. 99 - 101 . 1228 Ebd., S. 100 . 2.6 Mündigkeit 317 politischen Auseinandersetzung.“ 1229 So verblassen nach und nach die großen Ideen, was sich im Titel der anschließend montierten Kürzestgeschichte widerspiegelt: Über die allmähliche Entleerung der revolutionären Gedanken beim Reden 1230 - - unschwer zu erkennen als eine negativierende Paraphrasierung des kleistschen Essays Über die allmähliche Vollendung der Gedanken beim Reden. Auf eine längere Inkubationszeit von Emanzipationsgedanken und damit auf die Notwendigkeit von Beharrlichkeit und Geduldsamkeit weist Kluge allerorts hin. Statt Blut und Gewalt von Umstürzen, halben Revolutionen, ganzen Konterrevolutionen und dergleichen, vertraut Kluge auf eine allmähliche Entwicklung, die auf der Hut ist auch vor sich selbst. Sozusagen mit dem „Prinzip der umgekehrten Zisterne“, wie es Hans-Jürgen Krahl illustrierte: „Tropfenweise“ spendet die Zisterne dem „Durstigen in der Wüste Wasser“ aus dem Fels. 1231 Statt Durchbruch und Trümmer also „Verflüssigung der versteinerten Verhältnisse“: Das Wasser (überlebenswichtig) muss laut Kluge in den Fels der Gesellschaft hineingedrückt werden. Das verlangt viel Entschlossenheit und Geduld ab und das macht man besser nicht allein und nur an einer Stelle. Die Metapher des Fließens zieht sich durch das ganze klugesche Werk und findet sich schon als „Eindringgesetze des Wassers“ in Geschichte und Eigensinn. 1232 Ja die oszillierende architektonische Bauweise jenes Fluiden selbst drückt praktisch in jedem Moment Entdinglichung und Geschichtsbewusstsein aus, macht dem Subjekt praktisch vor, dass eine menschliche Kontaktaufnahme mit dem Objekt möglich ist. In diesem Sinn setzt er in der Emanzipationsfrage auf eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Wenn Kluge den Begriff der Radikalität für sich verwendet, ist er formal-ästhetisch zu verstehen, d. h. gemäß dessen lateinischer Etymologie „radix“ als „an die Wurzel gehend“-- wie er etwa Elemente des Stummfilmkinos anwendet, um an die historische Wurzel des Mediums zu gehen und so dessen Gewordenheit mitzutransportieren im „Text“. „Soll eine politische Bewegung mit der ‚Fackel der Freiheit’ stürmen oder mit der ‚Kerze der Geduld’? “, 1233 fragt Kluge in Nachricht von ruhigen Momenten. Bereits der Publikationstitel weist auf die Antwort hin: Der Künstler Kluge entfacht unzählige Feuer, der Mensch 1229 Ebd., S. 101 . 1230 Ebd. 1231 Ebd., S. 313 . 1232 Vgl.: GE, S. 58 . 1233 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 98 . 318 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 318 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Kluge aber niemals (er springt höchstens darüber 1234 )-- hier folgt er ganz seinem geistigen Vater, Theodor W. Adorno. 1235 Die Erfahrung von Revolutionen, ihre Überlieferung und vor allem die „öffentliche Auseinandersetzung“ mit ihnen ist gerade deshalb unerlässlich, weil „gesellschaftliche Veränderung in anderer Gestalt auftritt, als in den Formen von Revolution“. 1236 Beispiele, im Kleinen: Jürgen Habermas in politischen Vor-Entscheidungsrunden; Gründung einer deutsch-türkischen Universität in Istanbul; Eröffnung von homophilen Moscheen in Paris oder Berlin etc. „So sehen wir doch einen Fortschritt in einem Bereich, in dem machtvorbereitende Diskussionen stattfinden; ein Intellektueller greift direkt ein und wird angehört (und muß sich nicht wie Heine über eine allgemeine Öffentlichkeit, also indirekt, vernehmen lassen).“ 1237 Kluge weiß, und die Gewissheit holt er sich von Kant, dass sich der mündige Mensch unaufhaltsam Bahn bricht: „Es ist ein auf etwas Unmögliches gerichteter Versuch, Emanzipation dauerhaft verhindern zu wollen.“ 1238 Nun kommt hier aber noch etwas entscheidendes Zweites hinzu: Kooperation. Um nicht zu Resignieren, geht das Vorausgehende in der Idee der Kooperationen und des Erfahrungsaustausches in einer kritischen Öffentlichkeit auf. Am besten viele, dezentrale, vernetzte Kooperationen, um nicht von der Überhand nehmenden Logistik und Verwaltung erdrückt zu werden. Dieser konkrete und praktische Lösungsvorschlag Kluges findet sich u. a. in dem für diese Arbeit wie von selbst so zentral gewordenen Text „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8 . April 1945 “, der auch die Dauer von Bildungsprozessen thematisiert: „Zusatz: Um eine strategische Perspektive zu eröffnen, wie sie sich Gerda Baethe am 8. April in ihrer Deckung wünschte,-[…], hätten seit 1918 siebzigtausend entschlossene Lehrer, alle wie sie, in jedem der am Krieg beteiligten Länder, je zwanzig Jahre, hart 1234 In der Kluge-Ausstellung im Gleimhaus Halberstadt (vom 10 . 11 . 2013 bis zum 09 . 06 . 2014 ) war ein Foto zu sehen, auf dem Kluge diesem alten Brauch (in ansehnlicher Sockenwahl) nachgeht. 1235 Statt Patron eines blutigen Umsturzes zu sein, zeigt sich Kluge genährt vom empirisch bestätigten Glauben an eine allmähliche Entwicklung- - ebenfalls ausgestattet mit dem Bewusstsein, dass diese aber nicht ohne Antrieb von selbst geschieht. Den Gewaltexzess der siebziger Jahre verurteilt er mit Negt vor allem deshalb, weil nicht einmal ein wirklicher Feind zu fassen ist, sondern allemal ein pars pro toto, das aber immer ein Konstrukt bleibt und dessen reale Vernichtung „immer auch etwas von [einem] selbst“ habe und deshalb auch „auf etwas“ treffe, „das der Gegner gar nicht war“. Kluge/ Negt verstehen und teilen Wut und Verzweiflung, ja sie antworten mit derselben „Unerbitterlichkeit“ in der Haltung-- jedoch nicht mit ihrem oder fremden Leben, sondern mit exzessiver Arbeit. Vgl.: GE, S. 362 - 368 . 1236 Vgl.: Kluge, Alexander: „Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 2012 an Jürgen Habermas.“ Düsseldorf, am 14 . 12 . 2012 . 1237 Ebd. 1238 Ebd. 2.6 Mündigkeit 319 unterrichten müssen; aber auch überregional: Druck auf Presse, Regierung; dann hätte der so gebildete Nachwuchs Zepter oder Zügel ergreifen können (aber Zepter und Zügel sind keine strategischen Waffen, es gab kein Bild für hier erforderliche Gewaltnahme.) ‚Das alles ist eine Frage der Organisation.’“ 1239 Der objektiven Organisation eine kooperierend-subjektive Organisation entgegensetzen. Auch später spielt Kluge auf die literarische Formwerdung dieses Grundgedankens an: „Sie können mir glauben“, spricht er sein Publikum in vertrauter Direktheit an, „und wissen es auch selber, Strategie von oben hilft nichts, wenn wir im Keller sitzen und bombardiert werden.“ 1240 Deshalb gilt: „Gemeinsam Vorräte an Strategie von unten zu entwickeln, mit zäher Geduld-- und ich kann Ihnen versichern, es gibt sie, die Strategie von unten-- das würde etwas nützen.“ 1241 Und diese Macht der Vielen, Kluge nennt das „Schwarmintelligenz“, 1242 besteht konkret aus drei Faktoren: Erstens aus „Tuchfühlung“, 1243 also Nähe und Zusammenhalt, zweitens aus individueller Freiheit und drittens aus „Vorwärtsdrang“ im Sinne von Entschlossenheit. Mit Adam Smith 1244 beschreibt Kluge die Grundausstattung menschlicher Eigenschaften als Dualismus von „Sachlichkeit (attitude of the impartial spector)“ und „Einfühlung (involvement)“, die zusammen die „natürliche Verfassung“ menschlicher Gesellschaft bilden (gleichbedeutend mit Kluges Vernunft-Begriff). „Und man hätte noch mal eine bürgerliche Revolution in Reinschrift, ohne Todesurteile, ohne Guillotine schreiben können. Wir hatten Frankfurt, ich war damals hier, wir haben es alle gehofft und sind massenweise hingefahren und es sind ein paar schöne Freundschaften und auch Kinder daraus entstanden.“ 1245 Dass eine solche nicht-putschhafte Revolution, also eine, die auf einen Bildungsprozess ausgerichtet ist, eine entschleunigte Revolution sozusagen, die mit Selbstreflexion und Kritikfähigkeit ausgestattet ist, nicht funktionieren sollte, „ist nicht 1239 Kluge, Alexander: „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8 . April 1945 “, in ders.: Neue Geschichten, Hefte 1-18, „Unheimlichkeit der Zeit“. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1977 , S. 27 . 1240 Kluge, Alexander: „Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle.“ Rede zur Verleihung des Fontane-Preises in der Berliner Akademie der Künste 1979 , in ders.: Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde-- Zur Grammatik der Zeit. Berlin (Wagenbach) 1987 , S. 43 . Hervorh. gem. Orig. 1241 Kluge, Alexander: „Rede über das eigene Land: Deutschland“ (Ausschnitt), in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 16 . 1242 Bretter, S. 22 . Eine Grundüberzeugung der Kritischen Theorie, dass nämlich das Subjektive dem ihm gegenüberstehenden Objektiven nicht nur ebenbürtig ist, sondern sogar mächtiger ist als dieses, vertritt Kluge unisono. Ausdrücklich siehe: Theorie der Erzählung, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ ( 3 . Vorlesung, 19 . 06 . 2012 ). 1243 Bretter, S. 22 . 1244 Verweis auf Ein Mensch ist des anderen Wolf. Vgl.: Bretter, S. 51 f. 1245 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ ( 3 . Vorlesung, 19 . 06 . 2012 ). 320 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 320 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln widerlegt“, eben weil das, was gemeinhin als Revolution gilt, immer nur als plötzlicher Umschlag, also „überhastet“ in Erscheinung trat. 1246 Oder wie an anderer Stelle formuliert: „Es hat noch nie eine Revolution stattgefunden, die Zeit hatte, aus der gesellschaftlichen Veränderung einen sorgfältigen Produktionsprozess unter Menschen zu machen.“ 1247 Bislang wurden all diese Werkstätten der Emanzipation noch in ihren Frühstunden geschlossen. Aktueller Versuch, überzeitlich angelegt: Kluges Werkstatt der Autoren. 2.6.3 Der Antirealismus des Gefühls Das Gefühl verdichtet sich zum Gedanken. Diese These Kluges ist am radikalsten bei seinem wohl basalstem Motiv zu beobachten: Die enttäuschten Gefühle verdichten sich zu einem Antirealismus. Das ist ein Wille zur Einlösung des nicht Vorhandenen, des nicht Gegenwärtigen-- und sei es als phantastisches Surrogat. Thomas Combrink, Literaturwissenschaftler und persönlicher Mitarbeiter Kluges, riet in einem Gespräch in kleinerem Kreis dazu, eine Arbeit allein über Kluges Idee vom Antirealismus des Gefühls zu verfassen. Dieser sei bei Kluge so allgegenwärtig, setze bereits bei eher unbedeutenden Alltagssituationen an und ziehe sich durch das ganze Schaffen. Dies kann diese Auseinandersetzung nun zwar nicht leisten, wie elementar aber der Antirealismus des Gefühls für das Denken Kluges sowie die theoretischen Dimensionen seiner Arbeiten ist, wird dennoch versucht werden wiederzugeben. Der besondere Hinweis Combrinks auf das Geerdetsein jener Idee soll dabei als Warnung im Hinterkopf bleiben, sie nicht eindimensional als theoretisches Konstrukt zu werten. Dass sie im Zentrum allen künstlerischen Schaffens steht, verschweigt Kluge indes nicht: „Der Kernpunkt meiner Wahrnehmungen im Film und in der Literatur ist der Antirealismus des Gefühls.“ Auch, was dieser eigentlich aussagt, erläutert Kluge-- hier entlang der „vier Wirklichkeiten“: „Das heißt: Menschen, die mit einer Wirklichkeit konfrontiert werden, die diese Menschen missachtet, leugnen diese Wirklichkeit-- dies ist wirklich. Und dass diese bittere und harte Wirklichkeit durch Menschen nicht einfach zu verändern ist zu Lebzeiten, mit den Mitteln, die wir kennen: Das ist eine zweite Wirklichkeit. Eine weitere Wirklichkeit ist unsere außerordentlich noble Herkunft, die übrigens jeder Bauer im Bauernkrieg empfunden hat, wenn er sagte: Wir und die Adeligen waren seinerzeit im Paradies gleich. Eine vierte Wirklichkeit: Wir sind von drei Sonnen, die zu Grunde gehen müssen, ehe Materie unserer Art entsteht, gezeugt. Dieser Aufwand, damit so etwas wie Menschen 1246 Vgl.: ebd. 1247 Vgl.: Kluge, Alexander: Lesung im Literaturhaus Frankfurt am 26 . 06 . 2012 . In ders.: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. 2 DVD’s, Filmedition Suhrkamp. Berlin (Suhrkamp) 2013 . 2.6 Mündigkeit 321 entstehen, scheint irgendwie mehr wert zu sein als das, was wir in einem einzelnen Leben empfinden und tun.“ 1248 Der Antirealismus des Gefühls zeigt die direkten Verbindungskanäle in der Vernunft zwischen der Sinnesempfindung und dem Denkvermögen, also die Zusammenarbeit von Gefühl und Verstand beim Denkprozess. Ich will nicht, wie es ist, ich will etwas anderes, das nicht da ist und ich stell es mir vor, ich hol es mir in Gedanken herbei und ich arbeite an deren Verwirklichung. Trauma des Verlusts und Ablehnung des Todes: 1249 Das Denken, so sagt man, hat sich der Leib erschaffen aus Trauer um das Verlorene und Abwesende, um es sich wenigstens zu imaginieren. Sinnlichkeit der Idee. 1250 Von der Phantasie (Kunst) zur Abstraktion (Theorie) ist es dann nur noch eine Gradwanderung. All das, auch sein Konzept von Vernunft, steckt in Kluges Kernbegriff. Das vierte Kapitel Musils Mann ohne Eigenschaften wird zum Leitmotiv Kluges und macht ihn zu einem „Möglichkeitsmenschen“: Die essayistisch geprägte Passage trägt den Titel „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“. 1251 Der Träger dieser Fähigkeit sei imstande, „alles, was ebensogut sein könnte, zu denken“ und dabei „das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Vor allem aber ist der Möglichkeitsmensch „schöpferisch“ tätig, d. h. nicht schicksalsergeben. Musil beschreibt diese Eigenschaft als kindlich und 1248 Philipp, Claus: „Die Geduld der Bücher“, Alexander Kluge im Gespräch, in Volltext. Zeitung für Literatur, hg. v.-Thomas Keul, Wien, Nr. 6 / 2006 . 1249 Im mythischen Denken, zumindest im altägyptischen, existiert so etwas wie ein „natürlicher Tod“ nicht. Der Tod wird immer als eine Beraubung des Lebens empfunden, weshalb man stets von „Ermordung“ sprach. In diesen Protestgesang gegen den Tod stimmt ein Alexander Kluge mit ein. In dieser Anti-Haltung wiederholt er mit dem Titel seiner Schrift „Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter“ den zweiten Teil des Ausspruchs Bazon Brocks, der bekanntermaßen so beginnt: „Der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muß aufhören.“ 1250 Literarische Entsprechung z. B.: „Auf dem knirschenden Sand und Geröll an Helgolands windreicher Küste eilig voranmarschierend, im Dienste seiner körperlichen Ertüchtigung, hatte Werner Heisenberg seinen legendären Einfall: die UNSCHÄRFE-RELATION.“ Aus: Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 91 . Hervorh. gem. Orig. Einmal abgesehen von dem für das klugesche Werk nicht unbedeutenden Begriff der Unschärfe-Relation kann der hier zitierte Textauszug erkenntnistheoretisch gelesen werden. Am Anfang steht die Natur („Sand“, „Geröll“, „Wind“, „Küste“), die wir mit Hilfe unserer Sinne wahrzunehmen imstande sind („knirschend“, „körperliche Ertüchtigung“). Direkt gekoppelt an diese haptisch-akustischen, sicher auch visuell-olfaktorischen Sinneseindrücke wird mit dem genialen „Einfall“ hier die „Idee“ gestellt. Kurzum: Aus der körperlichen Leistung entsteht erst die geistige. 1251 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. In Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. v.-Frisé, Adolf. Hamburg (Rowohlt) 1952 , S. 16 . 322 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 322 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln phantastisch im positivsten Sinne, erkennt sie als selten und gefährdet an, da ihr in der Welt gezielt entgegengearbeitet wird. Der Ton der Anfeindungen erinnert stark an anti-intellektuelle und faschistoide Denkmuster: „Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler.“ Der Möglichkeitsmensch ist keineswegs weltfremd, sondern er begreift das Bestehende als verbesserungswürdige „Aufgabe und Erfindung“, denn die Wirklichkeit ist es schließlich, die erst „die Möglichkeiten weckt“. 1252 In seinem Wirklichkeitssinn, den auch ein Möglichkeitsmensch besitzt, unterscheidet er sich von einem Wirklichkeitsmenschen darin, dass er gefüllt ist mit „noch nicht geborenen Wirklichkeiten“ sowie dem Bewusstsein, dass deren Verwirklichung meist ein langwierigerer Prozess ist. In dieser Geduld kontrastiert er sich erstens zum eiligen Menschen selbst, zweitens erscheint sein Gegenstand von nachhaltigerer Substanz. Die Fähigkeit zum Möglichkeitssinn ist ein ein kritisches, dekonstruktivistisches Vermögen und zugleich ein phantastisch-konstruktives. Der Sinn zum Abstrakten ist über den Sinn zum Realitätskonformen hinausgekommen. Der „klassische“ Opern-Besucher versteht eine Inszenierung Calixto Bieitos nicht, der „klassische“ Theater-Besucher ist mit einem Pollesch-Stück überfordert. Möglichkeitssinn ist der menschliche Wille zur Umformung der Realität zum Schönen (d. h. zum Humanen). „Es muß möglich sein“, formuliert Kluge bereits früh im Werk sehr genau (und wiederholt es seither mit Nachdruck), „die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch darzustellen. Sie hat eine Papiertiger-Natur. Den Einzelnen trifft sie real, als Schicksal. Aber sie ist kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas ganz anderes wollten und wollen.“ 1253 Und dieses Eigentliche, wie Kluge mit sozialpsychologischer Schärfe analysiert, ist keineswegs verschwunden, sondern brodelt subkutan weiter: „Realität ist wirklich insofern, als sie Menschen real unterdrückt. Sie ist unwirklich insofern, als jede Unterdrückung die Kräfte lediglich verschiebt.“ 1254 Wirklichkeit kann für den einzelnen Menschen aufgrund seines spezifischen „Wirklichkeitsinteresses“ im gesellschaftlichen Spannungsgefüge antagonistisch waltender Kräfte daher sowohl als „wirklich“ („bestimmt“, „gegenständlich“) als auch als „unwirklich“ (unbestimmt, abstrakt) erscheinen. 1255 Auflehnung gegen die Wirklichkeitsverhältnisse, nicht ihre Bestätigung sei das tatsächliche „Motiv für Realismus“. 1256 Das Gesicht dieses Widerstands ist dann 1252 Ebd., S. 17 . 1253 Sklavin, S. 215 . 1254 Ebd. 1255 Vgl. u. a.: GE, S. 343 . 1256 Sklavin, S. 216 . 2.6 Mündigkeit 323 entweder das einer „radikalen Nachahmung“ (Kluge nennt etwa Imitation, Insistieren, Oberflächen-zusammenhang), eines „Ausweichens“ durch eine Übersprungsbewegung in Form von Traum, Negation, Utopie usw. oder das des „Angriffs“, zu dem Kluge nicht eigens („Guillotine“) sowie eigens vertretene Formen („aggressive Montage“) zählt. Interessant ist, dass bei den zahlreichen Beispielen immer mindestens eines dabei ist, das Kluges eigene ästhetische Verfahrensmethode referiert. So wendet er den Protest der radikalen Nachahmung durch „Mimesis“ an, allgemein gesprochen durch die mimetischen Darstellungsformen seiner Filme und Bücher. Will heißen, eine substanziell erweiterte „Imitation“, die über eine bloße Nachahmung beispielsweise eines bürokratischen Tons mit einem mimetischen Vorstoß in der Geschichte hinausgeht. Eine solche Mimesis von Normverhalten kritisiert grundsätzlich unreflektiertes Wirklichkeitsbewusstsein. 1257 „Clownerie“ und „absurder Sinn“ verweisen auf die Fake-Interviews um Helge & Co. Für „Erfindung“, die er unter die Protestformen des Ausweichens zählt, stehen eindeutig seine Fake-Geschichten. Doch ebenso durch die besondere Beziehung zu „Traum“ und Phantasie, auch (konkreter) „Utopie“, sind Spiegelungen zu beobachten. Am offensichtlichsten aber ist natürlich die bereits erwähnte „aggressive Montage“, mit der er sich zum Gegenangriff wappnet. Das menschliche Gehirn reagiere auf die Wirklichkeit durch die Methode der Umformung. 1258 Die Mimesis ist, und das trifft auch auf die Bifurkation zu, eine Metapher der Bewegung, der Auswegssuche („ausweichen“): „Diese Bewegungen enthalten den gesamten kollektiven geschichtlichen Erfahrungsschatz, allerdings zersetzt in individuelle Ausschnitte und samt den Verdrehungen, die aus den Antagonismen der subjektiven und objektiven Realität entstehen, also den vollständigen Rohstoff an geschichtlicher Erfahrung-[…].“ 1259 - Womit wir übrigens recht plastisch bei dem Titelbegriff dieser Arbeit wären, dem des „Kaleidoskops“: „zersetzt“, „individuelle Ausschnitte“, „Verdrehungen“; in der kurz darauf folgenden Fußnote außerdem: „partikelhaftes, ‚zerstreutes’ Interesse der Leser“. „In einer antagonistischen Realität wechseln die Wirklichkeitscharaktere zwischen unwirklich, antiwirklich und wirklich.“ 1260 Kategorisierungsversuche wie wahr/ falsch oder Realität/ Utopie greifen zu kurz. Durch Perspektivwechsel und Antizipation wird deutlich, dass widersprüchliche Interessen koexistieren und die 1257 Ein gutes Beispiel ist „Anita G.: Die Flucht“ in den Lebensläufen. „Warum schließt sie sich dem Mann nicht an, der sich um sie bemüht? “ (ebd., S. 69 ). 1258 Vgl.: Sklavin, S. 218 . 1259 Ebd., S. 216 f. 1260 GE, S. 128 . 324 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 324 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Wirklichkeit vielschichtig ist. Sie ist ein Mosaikgebilde aller subjektiv-objektiven Verhältnisse. 1261 Kluge konfrontiert das naive Realismusmodell der Gewohnheiten, Konventionen und Abstraktionen mit einem kritischen, das Wirklichkeit „in Reduktion und Konstruktion“, 1262 in Analyse und in ungeschliffener, konstellativer Synthese zur Darstellung bringt. Sein kritischer Realismusbegriff wiederum schützt sich selbst vor Naivität, indem er die menschliche Neigung zum „Gewohnheitsblick“ nicht übergeht, sondern diesen immer wieder aufklärerisch zu durchbrechen sucht. Nehmen wir das komplex gewachsene Spannungsfeld 68 er-Bewegung und 70 er-Jahre-Terrorismus: „Was in diesem Verhalten realistisch ist (der Protest selber, das Motiv), und das, was ideologisch ist (das Resultat, die Aussage), kann nicht mehr getrennt werden.“ 1263 Während Kluge die Beweggründe und Ziele unterstützt und als zwangsläufigen anti-realistischen Widerstand diagnostiziert, lehnt er die Auswüchse von Gewalt und Terror wie schon Adorno ab. Um nicht in die alte Ideologie-Falle zu geraten, verkündet Kluge die folgende Lösung: „Der Schlüssel liegt in dem Arbeitsgang selber. Zunächst geht es darum, um jeden Preis das Unterscheidungsvermögen zu produzieren: nicht Radikalisierung der Resultate (sie sind nicht die Wurzel), sondern Unterscheidung des Realismus des Motivs“, von dem die Bewegung ausgeht. 1264 Bei der Prüfung des Realismus des Motivs ist jenes in Beziehungsverhältnisse zu setzen, wodurch konkret sein antagonistischer Ausdruck gegenüber direkter wie indirekter Erfahrung (d. h. kollektive und individuelle Erlebnisse bzw. „erzähltes Wissen“) hervortritt, der sowohl in Gedanken als auch in Wirklichkeit stattfindet. 1265 Die Basis hierfür bilden Assoziationsfähigkeit sowie Erinnerungs- und Orientierungsvermögen, wodurch sich schließlich das Unterscheidungsvermögen zusammensetzt. 1266 Kluges Bestreben liegt in dem universalistischen Gedanken einer „Umstrukturierung des sinnlichen Interesses zu einem sinnlich-vergesellschafteten“, 1267 worauf in den ausgewiesenen Kapiteln genauer eingegangen wird. 1261 Vgl.: ebd., S. 347 . 1262 Hensing, Dieter: „Die Erzählung der sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre“, in Handbuch der deutschen Erzählung, hg. v.- Karl Konrad Polheim. Düsseldorf (August Bagel) 1981 , S. 540 . 1263 Sklavin, S. 217 . 1264 Ebd. 1265 Vgl.: ebd., S. 218 . 1266 Vgl.: ebd. 1267 Ebd. 2.6 Mündigkeit 325 2.6.4 Selbstregulierung als Antwort auf die Gefahr des Selbstwiderspruchs Die Idee der Aufklärung ist in der Pädagogik der Moderne verankert: Ihr Fokus richtet sich auf das Individuum sowie dessen Verhältnis zu sich selbst und auf die Welt in einer dynamischen Wechselwirkung der Bestimmung-- und damit auf eine Erziehung, die drei große Ziele verfolgt: den Abbau von Vorurteilen, die Förderung der Selbsttätigkeit des Denkens und das Erreichen von Glückseligkeit im Einklang mit anderen Individuen, in und mit Gesellschaften. 1268 Die Ur-Aporie der Pädagogik, wie man zur Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung gelangen soll, wird mit Kluge durch Indirektheit, Subtilität sowie Entdogmatisierung durchbrochen, und zwar mit der Hinwendung auf ein Subjekt, das die kühle Rationalität der Aufklärung mit Emotion und Empathie erwärmt. Diese Arbeit geht beim Begriff der Mündigkeit von der Befähigung zu einem selbstständigen und verantwortungsvollen Handeln aus. Elementar hierfür sind die Emanzipierung des Subjekts in Bezug auf die Gesellschaft (Freiheit) sowie, damit zusammenhängend, eine kritische und unabhängige Reflexionsfähigkeit. Dies setzt beim jeweiligen Menschen wiederum eine aktive Rolle in seiner Lebensgestaltung voraus. Selbstregulierung lautet die pädagogische Maxime-- und involviert damit logisch auch das Nichtinteresse an einer aktiven Gestaltung (hätte sie das nicht, würde Bildung nicht mehr als Zwang und Manipulation sein, sprich totalitär). 1269 Anhand Freuds Gleichnis von Rom als psychischem Wesen 1270 weisen Kluge und Negt anschaulich auf die psychoanalytische Erkenntnis hin, dass in der Selbstregulierung der psychischen Prozesse „den dort arbeitenden Vermögen deren 1268 Vgl.: Einleitung von Alfred Schäfer in ders: Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim (Beltz/ UTB) 2004 . 1269 Kant selbst formulierte ausgesprochen pointiert den Gedanken sinngemäß so: Wenn das Kind schon fremdbestimmt (also ohne eigene Entscheidung) in die Welt geworfen wird, so sind die Entscheidungsträger (die Eltern bzw. abstrakter: die bestehende Generation) dafür verantwortlich, dass das Kind mit seinem In-der-Welt-Sein zufrieden ist, heißt eine Welt vorfindet, in der es glücklich werden kann. Vgl.: Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten, in ders.: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Berlin/ New York (De Gruyter) 1968 . AA VI, S. 281 . Der Tübinger Erziehungswissenschaftler Hans Thiersch begreift das pädagogische Handeln als offenes Kooperationsprojekt „zwischen zwei Subjekten“ mit jeweils eigenem Willen und eigener Potenzialität, begreift es „als Interaktion in der Asymmetrie im Medium des Vertrauens mit den Aufgaben des Behütens, des Gegenwirkens und vor allem des Förderns mit offenem Ausgang.“ Was der eine vorschlägt, muss der andere nicht annehmen. Vgl.: Thiersch, Hans: „Einführung in die Erziehungswissenschaft“, Vorlesung am 08 . 01 . 2004 an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Link: http: / / timms.uni-tuebingen.de/ [Zugriff: 08 . 11 . 2012 ]. 1270 Siehe GE, S. 216 , Fußn. 81 . 326 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 326 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Vorgeschichte permanent gegenwärtig ist“: „Das seelische Geschehen hat seine Geschichte gegenwärtig.“ 1271 Aufgabe der Menschheit muss es nun sein, dies auch auf das soziale und gesellschaftspolitische Geschehen zu übertragen. „Das Eigengesetz solcher Bahnungen“, Kluge/ Negt veranschaulichen hier den Aufbau des menschlichen Nervennetzes und sprechen vom assoziativen Denken, „und die Entstehung der polizeilich nicht regulierbaren Trampelpfade in der bombardierten Stadt sind, ihrem Eigensinn nach, miteinander verwandt.“ 1272 Beide Male liegen „Selbstregulierungen des Verhältnisses von Aktualität und Geschichte“ vor. Selbstregulative Prozesse geben die Kategorie des Zusammenhangs wieder. 1273 Die Entwicklung des Menschen ist bereits früh durch eine Zange äußerer erzieherischer bzw. kultureller Einflüsse gekennzeichnet; erstens durch die Reduktion von Selbsttätigkeiten und zweitens durch die Produktion der Selbstbeherrschung. Er ist also aufgrund von Triebsublimierung in seiner Entfaltung gehemmt. 1274 Der SZ - Redakteur Sebastian Schoepp stieß unlängst die (bislang ausgebliebene) Debatte an, ob es sich dabei nicht vielleicht gar um eine Art von Kinderarbeit westlicher Zweitnatur handle, da der Erfolgs- und Optimierungsdruck bereits von klein auf aufgebaut wird. 1275 Das müsste man zusammen diskutieren mit den in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung präsent veröffentlichten Langzeitstudien zu Hochbegabung, die erstens belegen, dass Eltern vermehrt dazu neigen, in ihren Kindern Hochbegabte zu sehen, was zweitens in diesen unglaubliche Druckverhältnisse erzeugt, weil sie naturgemäß um die Anerkennung ihrer Eltern werben und sie nicht enttäuschen wollen. Von „schweren emotionalen und sozialen Problemen“ bis hin zum Therapiefall ist dabei die Rede. 1276 Eine Emanzipierung gelänge nur durch Selbstregulation, die wiederum zwar eine Naturqualität ist, jedoch nicht ohne Stimulierung ihren Frieden findet mit anderen, ihr z.T. gegenläufigen, selbstregulativen Kräften in einem pluralistischen Leib-Seele-Komplex und in einer pluralistischen Gesellschaft. Gleichheit und Konformismus kreieren eine künstliche Einheit, die deren Einzelteile und Eigenheiten nicht respektieren. Die antagonistischen Kräfte werden dadurch gerade nicht versöhnt, sondern gefährlich gestaut und in andere Bereiche geschoben, bis der Druck einfach zu groß wird. „Nur negativ kann man sagen,“ wird in Geschichte und Eigensinn zur Sprache gebracht, „daß keine emanzipatorischen Prozesse stattfinden 1271 GE, S. 216 . 1272 GE, S. 67 . 1273 Vgl.: GE, S. 70 . 1274 Vgl.: ebd. 1275 Vgl.: Schoepp, Sebastian: „Kinderarbeit in Bolivien-- Sie schuften für die Reichen“, in Süddeutsche Zeitung vom 04 . 07 . 2014 . 1276 Vgl.: „Eltern auf Genie-Trip. Angebliche Hochbegabung: Kinder leiden unter Leistungsdruck“, in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23 . 03 . 2014 . 2.6 Mündigkeit 327 werden, wenn sie ihre Kräfte nicht aus Selbstregulierung schöpfen. Damit positiv emanzipatorische Selbstregulierung möglich wird, sind Eingriffe erforderlich.“ 1277 „Niemand wird kultiviert, sondern jeder hat sich selbst zu kultivieren. Alles bloß leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil der Kultur; Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit, und zweckt auf Selbsttätigkeit ab. Kein Plan der Kultur kann also so angelegt werden, dass seine Erreichung notwendig sei; er wirkt auf Freiheit, und hängt vom Gebrauche der Freiheit ab. Die Frage steht also so: sind Gegenstände vorhanden gewesen, an denen freie Wesen ihre Selbsttätigkeit auf den Endzweck der Kultur hin üben konnten? “ 1278 Mit diesen Zeilen Fichtes kann das basale Problem einer wie auch immer gearteten Erziehungsarbeit zur Mündigkeit gut herausgearbeitet werden. Adorno tut das Seinige dazu und offenbart eine Zirkelschlussgefahr: „Die Tendenzen, von außen her Ideale zu präsentieren, die nicht aus dem mündigen Bewußtsein selber entspringen, oder besser vielleicht: vor ihm sich ausweisen, diese Tendenzen sind stets noch kollektivistisch-reaktionär.“ 1279 Um diesem logischen Widerspruch vorzubeugen, erscheinen folgende Maßnahmen unentbehrlich: Eine ständige Selbstreflexion neben einer grundlegenden Selbsttransparenz sowie die formelle wie inhaltliche Verabschiedung des determinierten und zwangbehafteten Begriffs der „Erziehung“ und seine Ersetzung durch den neutraleren Begriff der „Bildung“. Aus dieser grundlegenden Diskrepanz zwischen Anspruch und Anwendung ergibt sich die Unmöglichkeit eines zunächst naheliegenden Demokratie-Unterrichts o. ä. zur Ausbildung von zukünftigen demokratischen Bürgern zur Wahrung von demokratischen Gesellschaftsformen. Auch wenn allein definitorisch in einem solchen, für dieses Gedankenexperiment imaginierten Fach die Entfaltung des Individuums gefördert werden würde, so entstände ein selbstzerstörerischer Konflikt zwischen Freiheit des Individuums und seiner Determiniertheit. Selbst das reale demokratische Gesellschaftsmodell darf nicht unkritisch vorausgesetzt werden, sondern muss stets neu geprüft werden. Es würde der Demokratie-Idee den Boden entziehen, würde sie aufgestülpt werden. Unabhängig von diesem, die Mündigkeit des Menschen bislang am meisten fördernden Staatssystems muss die Autonomie des Einzelnen im friedlichen Ganzen stimuliert werden. Warum sind dabei aber humanistische Werte gerechtfertigt? Weil sie den Konsenspunkt aller Interessengruppen, ob kultureller, religiöser oder ethnischer Art, bildet: die friedliche Koexistenz pluralistischer Existenzen. Nun ist es doch sehr wahrscheinlich, dass der mündige Mensch diejenige Staatsform begrüßt und einfordert, in der er möglichst freie, gerechte und friedliche 1277 GE, S. 81 . 1278 Fichte, Johann Gottlieb: SW VI, S. 90 . 1279 Adorno, Theodor W.: „Erziehung nach Auschwitz“, in ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hg. v.-Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1971 , S. 107 . 328 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 328 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Strukturen antrifft. Dies kann eine parlamentarische Demokratie sein, wie sie beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland herrscht, dies kann eine bislang nicht real existierende und in den letzten Jahren herbeigesehnte „echte Demokratie“ „solidarischer Ökonomie“ sein oder eine neue, noch nicht abzusehende Form gesellschaftlichen Zusammenlebens. Demokratische Staatsformen erhalten sich nur durch eine reflexive Auseinandersetzung. Das Ziel von Erziehung darf deshalb nicht die „Staatsform Demokratie“ sein, sondern sie muss ihren Zweck in der Mündigkeitsentwicklung des Menschen sehen. Demokratische Politik muss das allein schon per definitionem aushalten, muss lebendig sein, die öffentliche Debatte suchen und unterschiedliche Ideen und Konzepte transparent und selbstkritisch mit- und gegeneinander diskutieren. Ohne das Bewusstsein von der Möglichkeit eigener Unzulänglichkeit wohnt auch der Demokratieform Autoritäres inne und führt sie ad absurdum. Dieses Vertrauen in den mündigen Menschen muss per se vorausgesetzt sein. Um Missdeutungen zu vermeiden, sei an dieser Stelle deshalb an den Konnex zwischen Mündigkeit und Kants kategorischem Imperativ erinnert: Es geht um die Fähigkeit des verantwortungsvollen Handelns zur Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit für alle Individuen (unabhängig ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer sexuellen Neigungen etc.) in friedlicher Gemeinschaft und in unspeziesistischem Einklang mit der Natur. Nach der Erfahrung der Entmenschlichung im Zweiten Weltkrieg wurde mit der Mündigwerdung des Einzelnen das leitende und Demokratie ermöglichende Bildungsziel ausgerufen: „Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen“, so Adorno. 1280 Der Grad einer echt-demokratischen Gesellschaft (China nennt sich „Demokratie“, die DDR trug sie im Namen) steht und fällt mit der Zahl ihrer mündigen Bürgerinnen und Bürger. Im Umkehrschluss heißt das, dass „Erziehung (als Mittel) ihr Ziel nicht erreichen“ kann, „weil Mündigkeit (als Zweck)“ überhaupt „nicht vermittelt werden kann.“ 1281 Die Argumentationslage noch einmal zusammengefasst: Die Mündigkeit-- immer verstanden als etwas Prozesshaftes-- der Mitglieder einer Gesellschaft ist eine notwendige Bedingung für Demokratie. Mündigkeit muss ständig angeregt, vorgelebt und bearbeitet werden. Wenn die Bildungseinrichtungen eines Staates weder vordergründig für die Entwicklung von Mündigkeit arbeiten oder sogar gegen sie, wird ein Demokratie-Abbau betrieben, der das gesellschaftliche Zusammenleben und somit jede_n einzelne_n Bürger_in gefährdet. In dem Fall käme also ein Staat der 1280 Ebd. 1281 Eidam, Heinz: „Erziehung und Mündigkeit. Von Mittel und Zweck der Erziehung im Ausgang von Kant und Adorno“, in ders./ Hoyer, Timo (Hg.): Erziehung und Mündigkeit. Bildungsphilosophische Studien. Berlin (Lit Verlag) 2006 . S. 107 . In der Reihe: Ethik und Pädagogik im Dialog, hg. v.-Burckhart, Holger/ Hoyer, Timo/ Sikora, Jürgen. Bd. 4 . 2.6 Mündigkeit 329 Schutzpflicht seiner Bürger als der obersten Maxime seiner Aufgaben, ergo seines Existenzrechts nicht nach und würde sich obsolet machen. Der Macht des Dogmatismus’ und normativer Postulate soll also, um es mit Peter Weiss zu formulieren, historische, wissenschaftliche, philosophische wie ästhetische Bildung entgegengehalten werden. Entsprechend sieht sich die Kritische Theorie „mit einer praktischen Aufgabe“ ohne „aktives Eingreifen“ betraut. 1282 Diesem schwierigen inneren Konflikt stellt sich Kluge mit künstlerischer Vermittlungsgestalt und ihrer affizierenden Wirkung, womit ihm zweierlei gelingt: Erstens, das Ausdehnen jener passiven Rolle des Nichteingreifens bis zum Äußersten. Zweitens, ein spektakulär größeres wie breiteres Publikum. In diesem Kontext ist noch einmal auf die bedeutsame Rolle des Rezipienten hinzuweisen: Er wird zum Mitautor emporgehoben. Auch der Kommunikations-gegenstand erfährt eine ähnliche Aufwertung. „Ein neues philosophisches Denken ist notwendig, das sich aber nicht als Propaganda mißversteht, indem es Anleitungen zum Handeln geben will. Die Philosophie soll vielmehr Korrektiv der Geschichte und Gewissen der Menschheit sein.“ 1283 Auch Kluge selbst legt Wert darauf, nicht dogmatisch und belehrend zu agieren, sondern als eher als Medium oder Korrektiv aufzutreten. Der Autor trifft nur insofern Entscheidungen, indem er sorgfältig auswählt, was er in eine einzelne Konstellation fügt. Die letzten Entscheidungen aber liegen beim Rezipienten, der zu eigenständigen Assoziationen gereizt wird, indem etwa der Autor analysiert, gegen-analysiert, wiederholt, vergleicht, abstrahiert oder kommentiert. 1284 Alexander Kluge und Ulrike Sprenger, die man als Dolmetscherin und Gesprächspartnerin aus Kluge-Interviews kennt, unterscheiden zwei grundsätzliche Arten von Bildung, die einander entgegengesetzten Haltungen entsprechen. Zum einen die des Schleifens eines Rohdiamanten und zum Zweiten die des Hebens eines Schatzes. Einerseits also Erziehung als Anpassung an Bestehendes (Reproduktion) und anderseits das Hebammenprinzip, das auf eine Entwicklung einer besseren Gesellschaft aus ist und das Hoffnungen in die nächste Generation setzt, dass es diese besser mache. In diesem Zusammenhang weist übrigens bereits Wilhelm von Humboldt darauf hin, dass die Bildungsarbeit nicht dafür da ist, die Menschen vorzubereiten auf Normen, Handlungs- und Denkmuster, nicht dafür, ihn aus- 1282 Mikl-Horke, Gertraude: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe. München (Oldenbourg) 2001 , S. 170 . 1283 Ebd., S. 171 . 1284 „The author does not take any decisions. The author analyses or counter-analyses, or repeats, or makes comments. The spectator is asked to make her/ his own associations.“ So Kluge in: Koutsourakis, Angelos (University of Sussex): „Brecht Today: Interview with Alexander Kluge“, in Film-Philosophy vom 15 . 01. 2011 , S. 223 . 330 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 330 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln zustatten, um in der Gesellschaft bestehen zu können, gleichbedeutend mit funktionieren zu können, um diese z. B. wirtschaftlich weiter nach vorne zu treiben. Die Frage nach dem „richtigen“ Bildungssystem stellt sich also nach dem Grundmuster: Ist das Ziel der Erziehung der Erwachsene oder ist das Ziel das Kind? Welche Variante die Emanzipation des Menschen im friedlichen Zusammensein eher vorantreibt, dürfte offensichtlich sein. Kluge/ Negt nennen die Bildungsphase des Menschen eine weitere Art der Geburt nach der natürlichen: die „gesellschaftliche Geburt“. 1285 „Es wäre ein plausibler Einfall eines nationalsozialistischen Vierjahresplans oder eines Rüstungsplans, die Schwangerschaft von 9 auf 6 Monate zu verkürzen.“ Bei „Erziehungsprozessen, dem Studium, für Inkubationszeiten (Wachsen, Heilung), die für die Herausbildung von Arbeits- und Lebensqualifikationen nötig sind,“ 1286 hinterlässt ein ähnlicher Gewalteingriff der Abkürzung Spuren im Individuum. Es ist nur unzureichend gegen Umwelteinflüsse geschützt. „Das beachtet aber die Wachstumsgesellschaft nicht.“ 1287 Die „emanzipatorischen Arbeitsvermögen“ weisen an ihren Knotenpunkten das „Denkvermögen“ auf, das jedoch im Alltag oft „eingeschlossen“ im Produkt liegt, weshalb sich die Bedürfnisse einer Gesamtgesellschaft und die Bedürfnisse von Einzelmenschen zu etwas anderem transformieren- - dann verallgemeinert und den individuellen Lebenszusammenhängen entrissen. 1288 Diese Entfremdung tritt problematisch etwa dann in Erscheinung, wenn körperliche Reife verfrüht und psychische Reife verspätet auftritt, sodass sich beide aneinander überfordern. Der Problem des Intellekts: Im Gegensatz zur Wissenschaft und Technik-- dem objektiv angehäuften Wissen menschlicher Geschichte-- ist mit jeder neuen Generation-- den Subjekten-- neu anzufangen. Man kann nicht auf etwas aufbauen, weil noch nichts da ist. Das Feuer, das Rad, das Licht, das Internet, alles schon da und ohne große Anstrengung und Vorkenntnisse, ohne wirkliches Erkennen sogleich nutzbar. Anders die Vernunft: Sie muss mit erheblichem Aufwand angeeignet werden. Offenbar kann dies nur eine emanzipierende Bildung humanistischer Werte mit selbstkritischer, undogmatischer Methode vollbringen. „Die neurale Geschwindigkeit nimmt zwischen Geburt und Adoleszenz um das 16fache zu- - (Klein-)Kinder verfügen noch über zu viele mögliche Leitungsbahnen, was Erregungen länger ‚fließen’ lässt. Die Ausbildung von doppelt so viel Synapsen, wie letztlich benötigt werden, ist ein Zeichen für die große Plastizität des Gehirns-- und die enorme Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings bzw. Kleinkinds. Das Neugeborene fängt geistig nahezu bei Null an: Abgesehen von ein paar Instinkten ist es weitgehend auf 1285 GE, S. 37 . 1286 Ebd. 1287 Ebd. Eig. Hervorh. 1288 Vgl.: GE, S. 209 . 2.6 Mündigkeit 331 Wahrnehmung und Reaktion beschränkt. Die Regionen des Gehirns, die später für komplexe Funktionen wie Sprechen oder Denken zuständig sind, liegen weitgehend brach. Aber das ist genau die große Chance des Menschen: Der Neugeborene ist praktisch für ganz unterschiedliche Kulturen und Milieus offen-- für einen Indianerstamm bestehend aus Jägern und Sammlern in den Tiefen der Dschungel Brasiliens, für eine Bauern- und Hirtengemeinschaft in Westafrika wie auch für eine hoch technisierte Wissensgesellschaft in Westeuropa oder Ostasien.“ 1289 In dem Gespräch „Rettungsboot namens Bildung“ zwischen Alexander Kluge und Ulrike Sprenger wird darauf hingewiesen, dass im Kleinkindalter eine automatisierte Akkumulation von Wissen, also Auswendiglernen, in höchster Qualität vorhanden ist. Mit fünf, sechs Jahren dann gelangen die Kinder auf eine komplexere Ebene des Wissens: die des Denkens im Verbund mit anderen Kindern sowie die des Denkens in Zusammenhängen. 1290 Kooperationen und Konstellationen also. Eine Bildungsphilosophie, die ausgerichtet ist auf Abfragen von Auswendiggelerntem, das man zudem schnell wieder vergisst, kommt demnach nicht über die Qualität des Verstandes eines 5 -Jährigen hinaus. Weder in der Evolution noch bei den Denkprozessen im Bewusstseinsapparat gibt es ein durchgängiges Entwicklungskontinuum, sondern es gibt immer wieder Sprünge. Diese „Entwicklungs- Sprünge“ 1291 erhalten Einzug in das ästhetische Darstellungsverfahren Kluges. Die Hebammenkunst, wie sie Platon in seinen Dialogen zur hohen Kunst der Unterredung entwickelt, nimmt Kluge als Metapher in seine affizierende, aber undogmatische Ästhetik des literarischen und filmischen Erzählens auf: Über einer Abbildung, die mit „‚Erzählen’“ unterschrieben ist und auf der eine eindringliche Nahaufnahme eines Mädchens mit ihrem vermeintlichen Großvater zu sehen ist, laufen u. a. die folgenden Zeilen: „Es wäre gar nicht möglich, daß die Hebamme gewaltsam, d. h. mit ihren Händen, diese Arme so legt, daß sie kreuzweise vor der Brust liegen und die Geburtsöffnung passieren können.“ 1292 Anschließend die indirekt eigenreferenzielle Bemerkung: „Ihr Griff provoziert die Eigenbewegung des Kindes.“ 1293 Es folgt eine ambiguitäre Feststellung, der vorausgeschickt sei, dass Kluge zwischen Gewalt als „Kraftgriff“ und der hier gemeinten Gewalt als „Feingriff“ differenziert. Letztere sei auf „Feingliedrigkeit und Lebendigkeit ‚des Gegenstandes’“ ausgerichtet. „Solche Gewalt, wie sie die Hebamme professionell 1289 Informationen des Staatsinstituts für Frühpädagogik (Rechtschreibfehler beibehalten): http: / / www.ifp.bayern.de/ veroeffentlichungen/ infodienst/ textor-gehirnentwicklung.html [Zugriff: 06 . 02 . 2014 ]. 1290 Vgl.: Kluge, Alexander: „Ein Rettungsboot namens Bildung. Ulrike Sprenger über das Potential, das Menschen verändern kann.“ Link: http: / / www.dctp.tv/ filme/ sprenger-rettungsboot-namens-bildung/ [Zugriff: 07 . 11 . 2013 ]. 1291 GE, S. 446 . 1292 GE, S. 26 . 1293 GE, S. 25 f. 332 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 332 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln anwendet, unterscheidet sich von der Gewalt von-- und nun spielt Kluge auf die totalitären Gewaltherrschaften des 20 . Jahrhunderts an-- „Hämmern, Sicheln, Hacken oder Sägen.“ 1294 Spiegelt man diesen Absatz der Subtilität nun auf die politische Qualität von Kunst, lohnt ein interessanter Gedanke, über den sich Kluge und Müller unterhalten haben: Die besondere Fähigkeit der Kunst ist, dass ihr Subversives immer dann in Gefahr gerät, wenn sie nur politisch ist. 1295 Die Wichtigkeit des indirekten Wegs ist demnach auch aus Sicht der Kunst von existenzieller Bedeutung. Der Königsweg lautet, bewusstseinsanregend, aber weder dogmatisch noch manipulierend zu sein. Der Übersetzer von Kluges Lebensläufe ins Koreanische, Hosung Lee, weist auf eine lateinische Stelle in dem Werk hin, die man sprachkritisch auffassen kann. Dem Satz „Der ductor et doctor gregis führt docendo et ammonendo zur salus animarum.“ 1296 ist deshalb in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der Lehrer darf kein „doctor“ sein, weil ihn nur eine schmale Gratwanderung, nur ein „u“ von Hitler trennt (ductor, lateinisch: Führer). „Indoktrination“ ist hier als Gefahr mit enthalten. Das Motto lautet deshalb nach Brecht und dabei doch gerade unbrechtianisch: „Der Lernende ist wichtiger als die Lehre.“ 1297 Nicht die Bildung eines vorgegebenen Willens, sondern die „Entwicklung eines reicheren Wahrnehmungsvermögens“ zur eigenen Willensbildung bedeutet „demokratischer Prozeß“: 1298 1294 Hammer und Sichel, selbstredend, stehen für die kommunistische bzw. staatssozialistische Ideologie. „Hacken“ trägt das Phonem von Hakenkreuz in sich, könnte somit auf Nationalsozialismus bzw. Faschismus anspielen. „Sägen“ schließlich, dies ist allerdings eine bloß wage Vermutung, wandelt sich bei nur leicht anderer Betonung in „Segen“ und könnte womöglich eine Anspielung sein auf religiöse Fanatismen. Hierfür spricht zumindest erstens die Formtreue der Aufzählung von vier Begriffen, die hinter ihrer augenscheinlichen, wörtlichen Bedeutung als Werkzeug (Arbeit! ) eine weitere, allegorische in sich tragen sowie zweitens die Verwendung von Begriffspaaren, deren letzteres Glied formell, nämlich phonetisch doppelt belastet ist, während das erste einem inhaltlichen Zusammenhang dient. Kluges Formtreue spiegelt sich außerdem in einer doppelten Alliteration wieder, wodurch die Bestandteile zusätzlich gebündelt werden. „Hammer“ könnte ebenso auf seinen Alliterationspartner Bezug nehmen, da er auf germanische Mythen anspielt und von der Nazipropaganda gern symbolisch für „Stärke“ verwendet worden ist. Bei der Kombination von „Sichel“ und „Sägen“ müsste man schon etwas erfinderischer sein und Letzteres durch ein Dazutun zu „Särgen“ wandeln, wodurch beide den Tod und somit das Todbringende der Ideologien warnend symbolisieren würden. 1295 Vgl.: Kluge, Alexander/ Müller, Heiner: „Ich schulde der Welt einen Toten“. Gespräche. Hamburg (Rotbuch) 1995 , S. 57 . 1296 Kluge, Alexander: Lebensläufe. Frankfurt a. M. (S. Fischer) 1986 , S. 64 . Hervorh. gem. Orig. 1297 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Frankfurt (Suhrkamp) 1968 , Bd. 20 , S. 46 . (zit. n. UM, MP, S. 930 , Fußn. 8 . 1298 UM, MP, S. 935 . 2.6 Mündigkeit 333 „Gesellschaftliches Lernen ist ein auf die Herausbildung einer moralischen Ordnung gerichteter Prozeß. Aber das System lernt nicht.-[…] Dieser politisch-moralische Anspruch bedarf keiner Förderung und keiner Parolen von oben, sondern lediglich des Bewegungs- und Entfaltungsraums.- […] Es ist hier nur von den Bedingungen der Möglichkeit geschichtlicher Lernprozesse die Rede, nicht davon, daß sie sich nach Art eines Naturgesetzes vollziehen müssen.“ 1299 Alexander Kluge gibt eine Beschreibung des mündigen Bürgers. Er spricht vom „homo novus“, unter dem er den „bürgerlichen Mensch“ versteht. 1300 Dieser irrt zwar viel, lernt aber dadurch auch viel. „Ich bin nicht Zuschauer meines Lebens“, sondern „der Produzent meines Lebens“, heißt es dort. 1301 Dies ist allerdings nicht als eine Forderung, als ein In-die-Pflicht-nehmen zu verstehen, sondern als Couragierung, als Befreiung des Subjekts aus seiner Ohnmachtshaltung. Der homo novus ist ausgestattet mit Unbestechlichkeit, Unterscheidungsvermögen, Eigenverantwortlichkeit und universalistischem Geist. 1302 „Ich unterscheide zwischen dem, was ich in der Welt für unverkäuflich halte, und dem, womit ich tausche“-- womit die Konfrontation Werte- - Warenwert endgültig als Grundsatzfrage formuliert sowie als Grundthema in Kluges Arbeit identifiziert ist. Das bildungsphilosophische Fazit also lautet erstens: „Bildung“ statt „Erziehung“ zur Mündigkeit im Sinne Kluges Metapher der Hebammenkunst als ein Eingehen auf die Eigenbewegung des Kindes beim Heraushelfen in die Welt, womit im Prinzip eine indirekte Didaktik formuliert wird. 1303 Zweitens: Eine Bildung zur Mündigkeit, die zumindest sich über ein „negatives Erziehungsziel“ definieren kann (Adorno), muss notwendig ambivalent bleiben, muss sich mit Selbstreflexion und Selbstkritik in Bewegung halten, um nicht selbst durch den in ihrem Begriff angelegten, kontradiktorischen Dogmatismus in Ideologie umzuschlagen. 2.6.5 Zum Verhältnis von ‚Mündigkeit’ und ‚Humanismus’ „Erziehung“ ist, in definitorischer Abstraktion gesprochen, ein Vorgang, der bewusst und zielgerichtet Individuen in ihrer Entwicklung beeinflussen will. In dieser Kälte des Versuchs einer Begriffsanalyse wird der hohe Verantwortungsgrad dieses Unterfangens deutlich. Nur und ausschließlich mit der Intention „zur 1299 UM, MP, S. 970 f. 1300 Bretter, S. 269 . 1301 Ebd., S. 269 f. 1302 Vgl.: ebd., S. 270 . 1303 Marion Pollmann spricht gar von „negativer Didaktik“: Pollmann, Marion: Didaktik und Eigensinn. Zu Alexander Kluges Praxis und Theorie der Vermittlung. Bd. 11 der Schriftenreihe des Instituts für Pädagogik und Gesellschaft, Münster. Wetzlar (Büchse der Pandora) 2006 , S. 304 . 334 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 334 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Mündigkeit“ als „Letztziel der Erziehung“ 1304 ist dieses Einwirken auf Menschen mit demokratischen Werten sowie der Würde des Menschen vereinbar. Das Individuum darf nicht von außen geformt werden, da dies seine Selbstbildung verletzen würde. „Die Erziehung hat keine Verfügungsgewalt über die Subjekte und sollte sich diese auch nicht anmaßen“, da sie kein Prozess der Herstellung, sondern der Interaktion ist. 1305 Auf dem Weg zu sich selbst ist die Aufgabe der Pädagogik eine aktiv unterstützende, indem sie im Subjekt Reflexionsfähigkeit und Kritikfähigkeit ausbilden soll-- unter undogmatischer Einbeziehung humanistischer Werte. Letztere verletzen deshalb nicht das Verbot der Formung, weil sie mit den Grundprinzipien von „Mündigkeit“ gebaut und in ihrer offenen Form mit ihr verwandt sind. „Die Systemform des Humanismus ist nicht eine lückenlose Theorie, nicht die Deduktion aus dem Begriff ‚Mensch’, ‚Menschheit’ oder ‚Geist’. Die spezifische Systemform des Humanismus ist die offene Form, die unfertige Weltanschauung.“ 1306 Wenngleich sie als Negativum eine wichtige und notwendige Größe ist, um ihr Gegenteil zu identifizieren. Als eine Erprobung der besseren argumentativen Waffen zur Verteidigung einer gemeinsamen Sache kann der Foucault-Habermas-Streit bezeichnet werden: Als entscheidende Schwachstelle im foucaultschen Begriffsarsenal macht Habermas einen instabilen normativen Unterbau für Foucaults Kritik der Macht aus. 1307 Auf der Gegenseite wird als großes Defizit Habermas’ offenbar, dass dieser wiederum strukturierende Verhältnisse der Macht übersieht. Entsprechend stehen sich zwei unterschiedliche Ausübungsfelder von praktischer Kritik gegenüber: einmal die auf Konsens ausgerichtete Kommunikation, die frei von Machtverhältnissen sein will, und demgegenüber ein von Strategien situiertes und entscheidend von Macht geprägtes zwischenmenschliches Verhältnis. 1308 Ein für diese Arbeit noch gewichtigerer Unterschied liegt jedoch in der Kritik und Erweiterung Habermas’ Humanismusbegriffs seitens Foucault. Humanismus ist für Habermas dialogische Offenheit 1304 Derbolav, Josef: Pädagogik und Politik. Eine systematisch-kritische Analyse ihrer Beziehungen. Stuttgart (Kohlhammer) 1975 , S. 14 . 1305 Hoyer, Timo: „Erziehungsziel Mündigkeit. Eine problemgeschichtliche Skizze“, in ders./ Eidam, Heinz (Hg.): Erziehung und Mündigkeit. Bildungsphilosophische Studien. Berlin (Lit Verlag) 2006 . S. 9 . In der Reihe: Ethik und Pädagogik im Dialog, hg. v.- Burckhart, Holger/ Hoyer, Timo/ Sikora, Jürgen. Bd. 4 . 1306 Aus der Ankündigung zur Tagung „Humanismus: ein offenes System“ (Konzeption: Helmut Hühn, Forschungsstelle „Europäische Romantik“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena). In Kolleg Friedrich Nietzsche. Programmheft 2012. Weimar 2012 , S. 7 . 1307 Vgl.: Kelly, Michael: „Introduction“, in ders. (Hg.): Critique and power: recasting the Foucault/ Habermas debate. Cambridge, MA (MIT Press) 1994 , S. 5 . 1308 Vgl.: Ingram, David B.: „Foucault and Habermas“, in Gutting, Gary (Hg.): The Cambridge Companion to Foucault. Cambridge, UK (Cambridge University Press) 2003 , S. 241 . 2.6 Mündigkeit 335 mit befreiender Auswirkung. Foucault ergänzt hierbei theoretisch bislang vernachlässigte Bereiche bzw. benachteiligte Menschen, Minderheiten, Randgruppen und dabei allen voran die Rolle der Frau. In diesem Geist lehnt er sich gegen das insbesondere durch Rousseau und Kant geprägte und schließlich von Habermas aufgegriffene Postulat der „universalen Menschheit“ auf. Dieser Einspruch Foucaults ermöglicht die Einsicht in die Genealogie des Humanismus-Begriffs und entlarvt dessen Regression, zeigt seine europazentrierte, elitäre wie sexistische Prägung sowie seine dogmatische, da nicht-kommunikative und kolonialistische, ja herrische Haltung. 1309 In seiner Forderung nach Einlösung seines Potenzials ergibt sich für den Begriff des Humanismus bzw. der humanitas ein Spannungsfeld zwischen Faktum und Desideratum. 1310 Entsprechend seines universalen und überzeitlichen Gehalts gerät ein humanistisches Bildungsprojekt in Konflikt mit der zeitlichen Gedrängtheit eines Gegenwartsdenkens, das charakterisiert ist durch unterschiedliche Druckverhältnisse (Praktikabilität, Effizienz, Ökonomie etc.). Hieran anschließend empfiehlt sich deshalb das Kapitel 2 . 5 . 5 . 2 . 2.6.6 Ästhetische Erfahrung und Wahrnehmung „Das subjektive Moment“ surrealistischer Kunst steckt für Adorno in der Montage, weil diese „vielleicht vergebens, aber der Intention nach unverkennbar, Wahrnehmungen herstellen [möchte], so wie sie damals gewesen sein müßten.“ 1311 Mit dem geradezu archaischen oder romantischen „damals“ meint Adorno das surrealistische Sehen des Kinderauges, das wir verloren haben. Ähnliches beschreibt auch der Russische Formalismus, der die Bildungskompetenz der Kunst zur Sprache bringt: „Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Ziel der Kunst ist es, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur ein Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Verfahren: Verfremdung der Dinge und Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu 1309 Vgl.: Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung? “, in Erdmann, Eva/ Forst, Rainer/ Honneth, Axel (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a. M./ New York (Campus) 1990 , S. 35 - 54 . 1310 Vgl.: Blum, Paul Richard: „Was ist Renaissance-Humanismus? Zur Konstruktion eines kulturellen Modells“, in Philosophie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher „Philologie“, hg. v.-Ralph Häfner. Tübingen (Niemeyer) 2001 , S. 227 . 1311 AGS 11 , S. 103 . 336 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 336 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozeß ein Ziel in sich und muß verlängert werden.“ 1312 In der Kritik der Urteilskraft hebt Kant das Ästhetische in den Kreis des Wissenschaftlichen und verwebt es zugleich, als Teil seiner Philosophie, mit Moral und Erkenntnis, weshalb es anthropologische wie konstitutive Bedeutung erlangt. 1313 So wie Parmenides das Sinnliche (Sinneswahrnehmung, Erfahrung) und das Intelligible (Erkenntnis) unterscheidet, 1314 stellt sich das Problem, ob die Ästhetik ein Erkenntnisvermögen neben dem Rationalen ist, mit ihm in Wechselwirkung steht oder Bedingung ist von Reflexion und Erkenntnis, also ob sie direkt und/ oder indirekt einwirkt. In einer Rezension in der ZEIT zu Geschichte und Eigensinn jedenfalls wird die Schrift Kluges und Negts in ihrer Qualität als Sehhilfe geschätzt: „Der theoretische Sinn des Buches ist ein praktischer: Es übt Wahrnehmungen ein, Blicke.“ 1315 Eine Fernsehkritik der Schweizer WOZ titelte generell: „Mehr Wahrnehmung mit Kluge.“ 1316 Um zur (Selbst-)Erkenntnis vorzudringen, genügt eine passive Haltung, ein bloßes Hinnehmen und sich Berieselnlassen nicht. Die Mindestleistung lautet Selbstbezug. Das notwendige Dazutun des Rezipienten ist mindestens die eines „äußeren Vergleichs“ 1317 , was zur ästhetischen Auseinandersetzung nötig ist: Die Gegenüberstellung von Kunstwerk und Zustand der Wirklichkeit. Theorie, d. h. gewisse Wissensvoraussetzung, ist nicht der entscheidende Faktor, sondern die Empfindungsfähigkeit, der wiederum eine akademisierte Grundhaltung zuwiderlaufen kann. Gelingt der Balance-Akt zwischen Denken und Fühlen, zwischen Abstraktion der Ratio und Konkretion der Emotio, zwischen Begriff und Bild, schließt die Theorie anderseits unbemerkte Türen auf. Neue Formen der Wahrnehmung von Realität bewirken Gewohnheitsbrechung. Aus den sich auftuenden Lücken dieser Realitätsbrechung leuchten Möglichkeiten 1312 Shklovskij, Viktor: „Kunst als Verfahren“, in Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1971 , S. 14 . Zit. n. einer Wand im „Studio Literatur und Theater“ in Tübingen; Etage an Etage mit Seminaren zur Ethik der Genetik. 1313 Weiterführende Literatur hierzu u. a.: Werschkull, Friederike: Ästhetische Bildung und reflektierende Urteilskraft. Zur Diskussion ästhetischer Erfahrung bei Rousseau und ihrer Weiterführung bei Kant. I. d. R.: Studien zur Philosophie und Theorie der Bildung, Bd. 27 . Weinheim (Deutscher Studien Verlag) 1994 . 1314 Vgl.: Hager, Fritz-Peter: „Aisthesis“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v.-Joachim Ritter, Joachim, Bd. 1 , A-C. Basel/ Stuttgart (Schwabe & Co.) 1971 , S. 119 . 1315 Rossum, Walter van: „Lehrbücher für eine Subkultur. Spielanleitung in Theorie. Oskar Negt/ Alexander Kluge: ‚Geschichte und Eigensinn’“, in Die Zeit vom 19 . 03 . 1982 . 1316 Deuber-Mankowsky, Astrid: „Mehr Wahrnehmung mit Kluge“, in Die Wochenzeitung vom 22 . 02 . 2001 . 1317 Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989 . S. 84 . 2.6 Mündigkeit 337 der Realitätsveränderung hervor, Verhältnisse kehren sich um: „Die Realität muß an die sensiblen Instrumente angepasst werden, anstatt daß die Sinnlichkeit lernt, mit Realitätszusammenhängen robust umzugehen.“ 1318 Unter diesen Prämissen erscheinen auch die V-Effekte in einem neuen Licht: Ihr Einsatz dient auch einem Re- Realismus der Sinne. 1319 Multimedialität also als technische Mimesis der menschlichen Sinne, um deren Abstumpfung aufzuhalten. Die „Perspektiven des mittleren Realismus“ bilden laut Kluge eine „ideologische Ballung“, eine „Schein-Wirklichkeit“. An dieser „kristallisieren“ sich „Gewöhnungen“, die ihrerseits „programmgleich“ sind „mit der schulmäßig erlernten Arbeit des Bewußtseinsapparats“. Unter diesem versteht Kluge das „offizielle“, „domestizierte“ und „beherrschende“ „Bewußtsein“, das an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhatte.“ Doch unter dieser Schicht pulsiert etwas, das sich gegen dieses auflehnt und nach oben drängt: „unterdrückte lebendige Arbeit“, das sog. „subdominante Bewußtsein“, 1320 welches im Wahrnehmungsprozess selbstregulative Qualität besitzt. Dieses „Verdrängte“, wie Kluge freudianisch betont, leiste „unterhalb des Real-Terrors alle Arbeit“. 1321 Verdrängung geht mit Kontrollverlust einher: „Etwas, das unterdrückt wird, wird dadurch auch unabhängig und unbeeinflußbar.“ 1322 Wenn das Lustprinzip auf das Realitätsprinzip stößt (also Wunsch versus Wirklichkeit, ein Warm-Kalt-Verhältnis) und wenn dieses nicht mit ihm übereinstimmt, so Kluge/ Negt mit Freuds Beschreibung vom Untergang des Ödipus-Komplex’, zerfällt die Identität, die Einheit einer Person in ihre Einzelteile, die dann neu besetzt werden. Dies sei genau der Grund dafür, dass „eine relativ vollständige Eingliederung in die Warenproduktion“ stattfinde. 1323 Die „analytische Methode“ ist für Kluge keineswegs eine „Sache des Kopfbewusstseins“- - es ist „die Grundform der sinnlichen Erfahrung“ und ist intelligenter Ausdruck des Antirealismus des Gefühls. 1324 Deshalb die Wendung: „analytischsinnliche Methode“. 1325 Die klugesche Gegenproduktion speist sich aus eben diesem radikalen analytisch-sinnlichen Verfahren sowie einer radikalen Fiktion als 1318 Sklavin, S. 205 . 1319 Vgl.: ebd., S. 216 . 1320 Ebd., S. 209 . Kluge/ Negt bezeichnen diesen Antagonismus auch als „äußere“ und „innere Geschichte“, also eine, die offiziell bekannt ist, dokumentarisch festgehalten wird, und eine, die im Verborgenen liegt und der Öffentlichkeit vorenthalten ist (wie auch der eigenen Auseinandersetzung). Vgl.: GE, S. 676 - 687 . 1321 Sklavin, S. 215 . 1322 GE, S. 335 . 1323 GE, S. 336 . 1324 Sklavin, S. 207 f. 1325 Ebd., S. 208 . 338 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 338 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Gegenstück zum ideologischen Realismus. Es geht im Prinzip darum: Intensivierte Gefühle führen zu Gedanken. 1326 Das Kino besitzt die Kraft, „nicht nur ein kritisches Bewußtsein, sondern insofern auch ein emanzipiertes Bewußtsein des Publikums zu erzeugen, als man die Neugierde und die Erwartungen des Publikums dazu benutzen kann, ein richtiges Kino zu schaffen-[…].“ 1327 Soweit Alexander Kluge. Über das Gespräch „Fernsehen und Bildung“ ist in einem Brief Kadelbachs an Adorno Folgendes zu lesen: „Das Fernsehen als Bildungsfaktor liegt also in sehr viel weniger Hängen, als die sonstige allgemeine Bildung- …. Damit verbindet sich eine ungewöhnliche Chance, nämlich die der Vervielfältigung von Qualität.“ 1328 Die Chance des Fernsehens ist ja zugleich sein Problem, denn wie auch Adorno und Becker betont haben, übe es „immer eine bildende Wirkung“ aus-- ganz gleich, „ob es nun Bildungsfernsehen ist oder nicht.“ 1329 Das Medium ist unschuldig. 1330 Dass es unschuldig ist, veranschaulicht eine der ungewohnt titellosen Kurzgeschichten mit Notizcharakter aus dem zweiten Buch-Bild-Band mit Gerhard Richter, in dem es um das europäische Eisenbahnnetz geht. Der entscheidende Auszug: „Der Gleisanschluß an ein Konzentrationslager bedeutete Vernichtung. Für Menschen, in Trauben an den Zügen hängend, die 1945 den letzten Evakuierungszug noch erreicht hatten, konnte die Bahnverbindung Rettung sein.“ 1331 Dass die Maschine eine Dynamik erreichen kann, die von Menschenhand nur schwer wieder aufzuhalten ist, zeigt hingegen die Erzählung „Eine letzte Frontfahrt“ 1332 , in der Kluge Gedanken Rainer Werner Fassbinders entfaltet, mit dem er ja auch gearbeitet hat. Im Kern dreht es sich um den Unterschied zwischen Mensch und Maschine, selbst wenn der Mensch Albert Speer heißt und unreflektiert als Maschine oder Monster stilisiert, ja mystifiziert wird. Niemand, so die anthropologische These, kann zu hundert Prozent und in jeder Lebensphase nach einem theoretischen Prinzip handeln. Alltagssituationen, Kleinigkeiten, Schicksalsschläge, vor allem aber die grundlegende menschliche Unbeständigkeit verhindern dies: 1326 Vgl.: Unterschiede, S. 71 f. 1327 Aus dem Protokoll zum „Podiumsgespräch mit der ‚Gruppe junger deutscher Film’ zum Thema ‚Forderungen an den Film’ während der ‚Internationalen Filmwoche Mannheim 1962 ’“, an dem auch Adorno teilnahm, vom 17 . 10 . 1962 , S. 22 . Das Protokoll ist im Adorno-Archiv der Berliner Akademie der Künste einzusehen. 1328 Brief von Kadelbach an Adorno vom 26 . 03 . 1963 , S. 1 . Vier Punkte im Original; Vgl. ebd. 1329 Zit. n. Kadelbach/ Becker: „Fernsehen und Bildung“, veröffentlicht im Merkur. 1330 Fackeln der Freiheit des 21 . Jahrhunderts? : Bildvergleich z. B.: Demonstration für mehr Demokratie vorm Rat der Legislative in Hongkong am 29 . September 2014 . Smartphone und Social Media zwischen Boulevardisierung und Bildung, Propaganda und Aufklärung, Kommerzialisierung und Partizipation, Überwachung und Autonomie. 1331 Kluge, Alexander/ Richter, Gerhard: Nachricht von ruhigen Momenten. Suhrkamp (Berlin) 2013 , S. 51 . 1332 Kälte, S. 65 ff. 2.6 Mündigkeit 339 „In einer Diskussion im Frankfurter Volksbildungsheim, an der Rainer W. Fassbinder sich beteiligte, der mit seiner Meinung auf vehementen Widerspruch stieß, ging es um den ungleichmäßigen Charakter ‚des Kriegsverbrechers Albert Speer’, phasenweise verhielt er sich gleichgültig, phasenweise agierte er emotional. Dieser Charaktertyp, so Fassbinder, sei für Auschwitz weniger ausschlaggebend als die Gemütslage, die sich im staatlich gesteuerten Unterhaltungsprogramm äußere, noch im April 1945 völlig intakt. Der Befehlshaber der Totenkopfverbände auf der Eisenbahnfahrt in Richtung Osten, so Fassbinder- […], habe den Schlager ‚Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht-…’ auf der Zunge gespürt.“ 1333 - Eine kritische Gegenproduktion in den Leitmedien ist deshalb von bildungspolitischer Notwendigkeit. Erinnert sei dabei auf die Radiotheorien Benjamins und Brechts, die erkannten, dass neue Medien auch neue Mittel im Ausdruck verlangen. Als zentraler Bestandteil von Kultur stellen Medien sowohl Ergebnis als auch Bedingungen von ‚kulturellen Praktiken’ 1334 dar und sind von ihnen letztlich nicht zu trennen: „‚Medien sind-- kulturgeschichtlich betrachtet-- nicht nur als (moderne) technische Medien zu verstehen, sondern historisch und systematisch als das, worin Wahrnehmen, Fühlen und Denken seine charakteristischen Formen und Darstellungen findet.“ 1335 „Das was der Film erreichen kann, ist nur eine Veränderung des Bewußtseins und das kann er erreichen“, betont Adorno während eines Podiumsgesprächs zum Thema „Forderungen an den Film“ am 17 . Oktober 1962 . Doch das kann der Film nicht mit vereinzelten Lichtblicken schaffen, „sondern nur durch die Umwälzung des Kinos als Gesamtinstitution, das dann in seiner Kontinuität ein solches verändertes Bewußtsein schafft.“ 1336 „Der Film“, sagt Adorno ebenfalls an diesem Tag, 1333 Ebd., S. 67 . 1334 Gegenüber dem Konzept der ‚Kulturtechniken’, das zwar ebenfalls eine reflexive Rückbesinnung auf kulturelle Praktiken verspricht, andererseits mit dem Begriff ‚Technik’ ein bestimmtes Können und eine Zweckdienlichkeit der eingeübten Handlungen impliziert, soll hier den als spontan angenommenen visionären Effekten kultureller Praktiken, also den Selbstbeschreibungen des konfessionellen Zeitalters, Rechnung getragen werden. Vgl. für eine Übersicht zu neueren Ansätzen einer Kulturtechnikforschung, wie sie am Hermann-von-Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin oder am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar verfolgt werden: Maye, Harun: „Was ist eine Kulturtechnik? “, in Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 ( 2010 ), S.- 121 - 135 . 1335 Böhme, Hartmut/ Scherpe, Klaus R.: „Zur Einführung“, in dies. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Hamburg 1996 , S.- 7 - 24 bzw. S.- 17 . 1336 Aus dem Protokoll zum „Podiumsgespräch mit der ‚Gruppe junger deutscher Film’ zum Thema ‚Forderungen an den Film’ während der ‚Internationalen Filmwoche Mannheim 1962 ’“, an dem auch Adorno teilnahm, vom 17 . 10 . 1962 , S. 15 . Das Protokoll ist im Adorno-Archiv der Berliner Akademie der Künste einzusehen. 340 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 340 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln „ist dem eigenen Gehalt nach eine Kollektivkunst.“ 1337 Adorno bringt die damalige Diskussion auf den Punkt, indem er das Ziel ausspricht, ein Bewusstsein zu vermitteln, das nicht mehr dem chauvinistischen Automatismus erliegt, der allein beim Wort „utopisch“ mit Gelächter reagiert. „Früher war das so, daß die Kunst utopisch war, indem sie den Menschen das an der Realität aufbewahrt hat, was über den losen Betrieb der Selbsterhaltung, über die sturen Interessen, hinausgewiesen hat.“ 1338 Da die Utopie kategorisch ausgegrenzt wird, ist es Aufgabe der Kunst, zu zeigen, „was versperrt und was anders ist“. 1339 Durch seine Mittel gelangt der Film „über die bloße Wiedergabe der Wirklichkeit“ hinaus. Es muss dadurch möglich sein, „von dem verborgenen Unwesen etwas aufblitzen zu lassen und darin die Treue an das utopische Moment der Kunst eigentlich zu halten.“ Zumal sich mittlerweile „das Verhältnis zwischen Utopie und Wahrheit verkehrt“ habe, wie Oskar Negt sagt: „Nur noch Utopien sind realistisch.“ 1340 2.6.7 Ästhetische Bildung zur Mündigkeit Das Leistungsprinzip als oberstes Gesetz bestimmt Schule, Studium, Arbeit, womit konsequent eine Denunzierung von Leistungsschwachen einhergeht. Im gesellschaftlich relevanten Zusammenhang gilt es, eine zentrale Frage an die Wissenschaft zu stellen: Was ist das Identitätsstiftende von Intelligenzarbeit? Ist es technischer Fortschritt, lautet die Antwort: Kapital (für wenige). Ist es emanzipatorischer Fortschritt, lautet die Antwort: Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden (für alle). Das menschliche Hirn ist weder in seiner natürlichen Ausstattung noch funktioniert es in seiner Arbeitsweise „logisch noch teleologisch (zielbezogen), noch theologisch (mythenbildend)“. Seiner Genese nach ist es hingegen „vorbereitet auf Komplexität, Bewegung, auf ein natürliches Verhältnis zu Objekt- und Menschenwelten, die beziehungsreich und vielfältig zusammengesetzt sind.“ 1341 -- Eine anti-ideologische und kosmopolitische Faktensprache aus neurowissenschaftlicher Perspektive. 1337 Ebd., S. 11 . 1338 Ebd., S. 23 . 1339 Ebd., S. 24 . 1340 Oskar Negt im Gespräch mit René Aguigah über sein Buch Gesellschaftsentwurf Europa. In „Oskar Negt auf dem Blauen Sofa. Literarische Gespräche“ vom 12 . 10 . 2012 , 13 : 30 Uhr. Ein Gemeinschaftsprojekt von u. a. ZDF, Süddeutsche Zeitung und Deutschlandradio Kultur. 1341 GE, S. 50 . 2.6 Mündigkeit 341 2.6.7.1 Prozess vs. Resultat, Zusammenhang vs. Akkumulation Das Gegenteil von gut ist gut gemeint: Kluge und Negt zweifeln schon früh an der pädagogischen Wirkung und Nachhaltigkeit von moralisierenden Bildungsprogrammen, die es zwar meistens gut meinen, aber deren indoktrinierende Struktur eine echte, persönliche Auseinandersetzung verhindert und so erfahrungsfern bleibt. 1342 Generell gilt vom heuristischen Standpunkt her das eigene Mitgehen im Denken zum Nachvollzug der Gedanken als geeignetere Voraussetzung für wirkliches Verstehen. Statt Wissens-Akkumulation und Googlen, fixem Anklicken und ebenso fixem Vergessen, also Formen bloß „simulierten Denkens“, wie es Stanislaw Lem sagen würde, oder wie Kluge/ Negt (man will heute meinen, verblüffend vorausahnend) „Knopfdruckkompetenz“ 1343 , muss die Entwicklung von Urteilsfähigkeit im Zentrum stehen. Das entspricht im Grunde dem humanistischen Gedanken der Rhetorik, die zwischen „scientia“ und „sapientia“, also „bloßem Wissen“ und lebenswirklicher „Weisheit“ differenziert. 1344 Erkenntnis vermittelt sich nur unvollständig oder gar nicht durch Resultatsübertragung, sondern nur durch eine Vermittlung, die zum Mitdenken auffordert. Studien zeigen, dass die Vorzüge des Frontalunterrichts aus Sicht der befragten Lehrkräfte in der zeitökonomischen Bewältigung der Stofffülle und der effizienten Vermittlung von Begriffswissen liegen. 1345 Dabei schätzen die Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht schülerorientierter ein als die Schülerinnen und Schüler selbst. Diese werden in eine tendenziell passive und rezeptive Rolle der Wissensaufnahme gedrängt. Regelkataloge und Wissensakkumulation statten Personen mit einem Instrumentarium der Fertigkeiten aus, doch Persönlichkeiten können sich so kaum entwickeln. Diesen Qualitätsunterschied macht ein Blick auf Habermas’ Unterscheidung von Interaktion (kommunikatives Handeln) und Arbeit (zweckrationales Handeln) deutlich: „Die Funktion von Normen besteht darin, das zerbrechliche Netzwerk menschlicher Verständigung zu erhalten und gegebenenfalls institutionell zu verstärken. Die Funktion technischer Regeln besteht darin, für ein Problem die einzig mögliche oder billigste oder irgendwie optimale Lösung zu finden.“ 1346 1342 Dazu u. a. das Kommentar-Kapitel über Kinderöffentlichkeiten in UM, ÖE, S. 657 - 663 . 1343 GE, S. 99 , Fußn. 13 . Die Sprache ist an der Stelle von abstrakter, einseitiger Arbeit. 1344 Vgl.: Ueding, Gert/ Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart/ Weimar (Metzler) 1994 , S. 86 . 1345 Vgl.: Pätzold, Günter: Lehr-Lern-Methoden in der beruflichen Bildung. Eine empirische Untersuchung in ausgewählten Berufsfeldern. Oldenburg (BIS) 2003 , S. 241 ff. 1346 Dubiel, Helmut: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim/ München ( Juventa) 1988 , S. 98 . Hervorh. gem. Orig. 342 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 342 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 2.6.7.2 Didaktische Dimensionen Kluges Werks Dem klugeschen Kunstwerk ist eine didaktische Struktur eingeschrieben. Auch der Pädagogik ist seine Aufklärungsarbeit nicht entgangen, wie etwa die Arbeit von Marion Pollmann belegt. 1347 Diese Tragweite reicht weit zurück, mindestens bis 1956 , als Kluge als Referendar Hellmut Beckers (Stichwort: Berliner Max-Planck- Institut für Bildungsforschung 1348 ) seine Stelle als Justiziar am Institut für Sozialforschung antritt. Becker gibt wortwörtlich die Richtung vor: „Durch pädagogische Aufklärung den Menschen helfen.“ 1349 Kluge fördert Öffentlichkeit deshalb, weil sich in ihr die Subjekte entfalten, sich austauschen und selbstverwaltet organisieren können. Insbesondere zwei Vorteile enthalten die Neuen Medien. Erstens, die Partizipation lauter Sender-Empfänger 1350 und zweitens, eine damit zusammenhängende Verlangsamung im Verstehensprozess durch die Möglichkeit der Nachfrage samt gegenseitiger Erklärungshilfe, die Möglichkeit von Debatte und Diskussion. Gerade angesichts der Möglichkeit der Selbstorganisation durch die Neuen Medien wird das Subjekt gestärkt (nichtsdestotrotz Gefahren und Missbrauch: Überwachung, Datenhandel, virale Werbung, Social Signals, PR - und Marketing-Agenturen unterwandern die sozialen Netzwerke 1351 ). Für eine verantwortungsvolle Nutzung und schließlich politische Mitgestaltung bedarf es entsprechender Bildung. Etwa anhand emanzipatorischer und diskursiver „Übungstexte“ 1352 , wie sie etwa eine hybride Plattform wie dctp. tv bereitstellt. Nicht von ungefähr forderte so das Fachmagazin Der Deutschunterricht mit einer komplett Kluge gewidmeten Ausgabe den Einzug von dessen Werk in die Lehrpläne. 1353 1347 Pollmann, Marion: Didaktik und Eigensinn. Zu Alexander Kluges Praxis und Theorie der Vermittlung. Bd. 11 der Schriftenreihe des Instituts für Pädagogik und Gesellschaft, Münster. Wetzlar (Büchse der Pandora) 2006 . 1348 Es gab einen gemeinsamen Versuch, das „Becker-Institut“ nach Frankfurt zu holen; dies belegen Briefe von Kluge an Adorno vom 12 . bzw. 21 . 02 . 1962 . Becker schlug der Max- Planck-Gesellschaft vor, ein „Institut für Forschungen auf dem Gebiet des Bildungswesens“ zu gründen (siehe dazu der „Entwurf “ im Brief Kluges an Adorno vom 21 . 02 . 1962 , S. 4 ). Vgl. Adorno-Archiv/ Akademie der Künste, Berlin. 1349 In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 8 , 1990 / 91 . 1350 Vgl. Kluge in: Barfuss, Thore: „Götter, Liebe und Gegenwart. Ein Gespräch mit Alexander Kluge“, in The European, 4 / 2014 , S. 102 . 1351 Ein Beleg: Julian, Hans: „Putins Trolle. Propaganda aus Russland“, Süddeutsche Zeitung vom 13 . 06 . 2014 . Link: http: / / www.sueddeutsche.de/ politik/ propaganda-aus-russlandputins-trolle-1.1997470 [Zugriff: 13 . 06 . 2014 ]. 1352 Kaes, Anton: From Hitler to Heimat: the return of history as film. Cambridge, MA/ London, UK (Harvard University Press) 1989 , S. 120 . Im Original: „semiotic training grounds“. 1353 Vgl.: „‚Man kann nicht lernen, nicht zu lernen’-- Alexander Kluge im Unterricht“, in Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, H 6553 , Jg. LXIV, Heft 3 / 2012 . 2.6 Mündigkeit 343 Seine Kunstwerke entwickeln nachweisbar didaktische Dimensionen, da sie in diesem Sinn günstig aufbereitet sind (als Beispiel die Schriften: sehr kurze Texte, Bilder, Hervorhebungen wie Fettdruck, Majuskeln), ohne dabei belehrend zu sein. Sie sind ausgerichtet, das Selbstregulative anzustoßen. Tatsächlich wird der Leser zudem durch die Überschaubarkeit der oft nur wenige Seiten umfassenden, nicht selten ganz-, halb oder viertelseitigen Texte zum Weiterlesen angeregt. Aus pädagogischer Sicht ergibt sich ein weiterer positiver Effekt: Selbst der Lesefaule erzielt sehr schnell, sehr viele Erfolgserlebnisse, die ihn erstens dazu ermutigen können, nach einem „Etappensieg“ noch einen weiteren Text zu schaffen, und ihn zweitens auf bestätigende, motivierende Weise ans Lesen allgemein heranführen können. Aber wie schreiben Kluge und Negt eigentlich? Exemplarischerweise eine Hand voll Seiten aus dem sog. theoretischen Werk Geschichte und Eigensinn im Augenschein: 1354 Kluge und Negt ziehen hier Verbindungsbahnen-- ohne Einschlafgefahr-- vom Aufbau eines Computerspeichers über die Schichtenstruktur der Großhirnrinde über die Französische Revolution, die Schulform, den Aufbau der Zelle, Krieg und Sokrates, über psychoanalytische Einflüsse bis hinein in die Fußnote, ins Formelle, und, wie man sehen wird, auch inhaltlich bis ins Kleinste hinein: „An den Rändern des Empfindungsfeldes gehen die Nerven kooperativ auf dem Gegenpol. Sie schalten auf ‚aus’, bilden eine Hemmzone. An der Nahtstelle zwischen erregtem Gebiet und Umfeld entsteht selbsttätig ein Kontrast, auf dem die Trennschärfe der Empfindung beruht.“ 1355 Dies alles gibt, literarisch betrachtet, ein funktionierendes, abwechslungsreiches und zugleich lehrreiches Textbild ab. Es ist überzeugend deshalb, weil es multiwissenschaftlich fundiert, in einem einfachen, zugleich niveauvollen Ton gehalten ist. Nach dem rhetorischen Vokabular kann man deshalb von einer gelungenen Balance zwischen docere (belehren) und delectare (unterhalten) sprechen. Auflockerungen durch Abbildung und kürzeste Unterkapitel wahren die Aufmerksamkeit. Auch die emotionale Note (movere) tritt an diesem Textbeispiel hinzu. 1356 Kurzum: Hier sprechen zwei Gelehrte als Vertraute in unprätentiöser Sprache. Zweifellos gibt es auch dichtere Stellen im Werk, die nur mit viel Gründlichkeit und nietzscheanischem Wiederkäuen zu durchdringen sind, wo die Sprache etwas anzieht-- aber immer um der Sache und ihrer Komplexität wegen: „Die libidinösen Verbindungen und triebökonomischen Befriedigungen zwischen Lernprozeß und 1354 Knotenpunkt: GE, S. 52 - 62 . 1355 Zitat S. 62 , Fußn. 11 . 1356 GE, S. 61 , Fußn. 9 . 344 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 344 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Unterhaltung-[…] ergeben sich aus der organisatorischen Verflechtung von Fiktion und Dokumentation in einem Produkt.“ 1357 Der alte Vergleich zwischen Computerchip und Hirntätigkeit ist keinesfalls 70 er Oldschool, sondern wird bis heute eifrig von den Wissenschaften bemüht. 1358 Kluge und Negt tun dies beispielsweise auch an folgender Stelle: „Die Zellen wissen alles bis zu den Sternen hin, der Kopf hat so etwas nie erfahren oder vergessen.“ 1359 Ein paar Illustrationen nach diesem beinahe romantischen Satz über die Überlegenheit der unbewussten Körperkräfte, der in einem kleinen Textkasten zu lesen ist, sieht man Wellen tätiger Hirnareale abgebildet. Sie schlagen besonders dann aus, wenn die Augen geschlossen sind (korrespondiert mit einem ca. einhundert Seiten entfernten, ganzseitigen Foto eines Jungen bei seiner Schuleinführung, der, zwischen Anspannung, Konzentration und Genuss des Augenblicks, die Augen geschlossen hält 1360 ). Darunter die Zeilen: „Kein menschliches Hirn hat je Sterne gesehen. Hirnzellen sehen nicht, sie denken.“ 1361 „Für Großhirn und Körper, die psychischen Apparat und Gesellschaftlichkeit voraussetzen, ist die Gesamtheit zahlreicher Kreisläufe und nichts einzelnes das Element.“ 1362 „In der psychischen Evolution geht wiederum der Organismus in die höhere kooperative Stufe ein. Psychisches Wesen und Vergesellschaftung sind die Elementarform.“ „Generell aber sagt Kuhn [Hans Kuhn, biophysikalischer Chemiker des Max-Planck-Instituts; Anm. CS ], daß es dafür nötig sein wird, daß ‚präparative Chemiker umdenken und daß sie das Ziel ihrer Bemühungen mehr in der Konstruktion von Molekülverbänden als Funktionseinheiten als im Einzelmolekül zu sehen beginnen’.“ 1363 -- Erneut erleben wir indirekte Selbstreferenz durch den Wechsel der Fachperspektive oder der Person. Nicht nur die Idee von Kreisläufen, vor allem das Kooperationsparadigma vom Kollektivfilm über die Autorenwerkstatt bis hin zur interdisziplinären Wissenschaft steckt hier drin und wird immer wieder aus dem Blickwinkel anderer wissenschaftlicher Argumentationen gestützt. „Die Analogie ergibt eine die Vorstellungskraft anregende Querbeziehung“, heißt es in Geschichte und Eigensinn. Diese entstehe eigentlich immer, „wenn man Unzusammenhängendes vergleicht, das sich aber gleichermaßen gegen ein durch 1357 UM, ÖE, S. 497 . 1358 Vgl. u. a.: „ 2 Millionen Dollar für einen alten Chip? Der Kilby-Prozessor ist ein Kultobjekt.“ Der Medienwissenschaftler Jochen Koubek im Gespräch, Deutschlandradio Kultur am 18 . 06 . 2014 . 1359 GE, S. 151 . 1360 GE, S. 57 . 1361 GE, S. 153 . 1362 GE, S. 238 . 1363 GE, S. 237 . 2.6 Mündigkeit 345 Vorurteile eingewöhntes Drittes richtet.“ 1364 Die Kluge-Forschung erkennt diese besondere Bildungsqualität seiner Kunst schon Ende der 80 er, spricht von der Stimulierung der Rezipienten-Tätigkeit 1365 und von „semiotic training grounds“, also vom Text als Trainingsgelände für kritisches Denken. Und die Pädagogik scheint das Textuniversum Kluge gerade für sich zu entdecken: „Kluge schreibt eine Aufklärungsliteratur, die nicht belehrt, sondern das selbstständige Denken des Lesers fordert.“ 1366 „Es wird niemals direkt produziert (so daß einer den anderen, als wäre er Knete, formt), sondern ich produziere am Anderen, indem ich die Voraussetzung zulasse, daß er sich selber ausdrückt und produziert.“ 1367 Nur so, durch die „zunehmende Autonomie des Anderen“, könne eine wirklich reiche Beziehung entstehen. Verhält sich dies wechselseitig, entsteht mehrfach „Eigenwert“ statt einfach „Mehrwert“. 1368 Kluge gibt Orientierungshilfe von Vorhandenem in seiner bestehenden Vielfalt und ist dabei bewusst nicht kreationär. 1369 Auch wenn empirische Studien zur Wirkungsmacht der klugeschen Kunst diese Arbeit nicht leisten kann und soll, ist dessen ungeachtet festzuhalten, dass auch wenn nicht jedes Werk von affizierender Qualität sein sollte (es gibt aber auch keine solche Ausweisung, weshalb es unlauter wäre, so zu messen), dies nichts an Kluges Vorgehensweise aus Ernsthaftigkeit, Beharrlichkeit und Sensibilität für die Sache ändern würde. Zitierend aus aufwendigen pädagogischen Untersuchungen von Arbeiten Kluges ist hierzu zu ergänzen: „Bevor man Kluges Werk aber als Aufklärung für Aufgeklärte und damit als Kulturgüter für die Privilegierten einstuft, müsste man die Rezeption bspw. der TV -Formate empirisch untersuchen; ansonsten reproduziert man nur sein eigenes Vorurteil, die meisten anderen könnten damit nichts anfangen.“ 1370 Selbstverständlich ist es Unsinn zu glauben, dass man einen Kluge-Film sieht und sich plötzlich ganz „mündig“ fühlt. Hier geht es um Indirektheit, Affizierung von Selbstregulation und das Prinzip eines langen Atems- - „Erziehung zur Zu- 1364 GE, S. 1048 . 1365 Lewandowski, Rainer: Alexander Kluge. München (edition text + kritik) 1980 , S. 18 . 1366 Birkmeyer, Jens/ Pflugmacher, Torsten: „Geschichten, Gefühle, Glück und Kritik. Warum Alexander Kluge in der Schule gelesen werden sollte“, in „‚Man kann nicht lernen, nicht zu lernen’-- Alexander Kluge im Unterricht“, in Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, H 6553 , Jg. LXIV, Heft 3 / 2012 , S. 4 . 1367 GE, S. 934 . 1368 Ebd. 1369 Vgl.: Kluge im Gespräch in „Kino und Grabkammer“, in Rogenhofer, Sara/ Rötzer, Florian (Hg.): Kunst machen? Gespräche und Essays. München (Boer) 1991 , S. 381 . 1370 Pollmann, Marion: Didaktik und Eigensinn. Zu Alexander Kluges Praxis und Theorie der Vermittlung. Bd. 11 der Schriftenreihe des Instituts für Pädagogik und Gesellschaft, Münster. Wetzlar (Büchse der Pandora) 2006 , S. 304 . 346 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 346 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln kunft“ 1371 . Mündigkeit selbst kann man nicht herstellen, aber dafür die Strukturen zu ihrer Ausbildung. 2.6.7.3 Mimesis und Erweiterung des Bildungsprogramms um die konfigurative Methode Eine Richtigstellung zur sog. „Spiegelung“ von Wirklichkeit sei nachgetragen: Im gemeinsamen Gespräch beschreibt Kluge seine Tätigkeit eben nicht als ein Spiegeln und auch nicht als ein Bearbeiten von Wirklichkeit (also im Sinne der Imitatio nach Horaz), sondern als eine dritte imaginäre Wirklichkeit zwischen den Dingen-- eben der „Ort der Narration“. Das involviert also auch den Optativ bzw. die Fiktion, die Fakes neben den Facts. Mimesis, nicht Imitatio. Nachahmung nach der Poetik des Aristoteles-- auch das ganz im Sinne Adornos. Und besonders Benjamins-- mit ihm ist die Tragweite der Mimesis in Kluges Ästhetik auf den Punkt zu bringen: „Die Kunst ist ein Verbesserungsvorschlag an die Natur- - die Rede ist von der zweiten Natur bzw. der Realwelt, „ein Nachmachen, dessen verborgenstes Innere ein Vormachen ist. Kunst ist, mit anderen Worten, vollendete Mimesis.“ 1372 Weiterhin hört sich die Nicht-Spiegelung etwas nach der lehmannschen Theorie postdramatischen Theaters aus Raum, Zeit und Körper an: Nicht Re-Präsentation von Realität, sondern Erfahrbarmachung. Und tatsächlich ist es ja auch dem Autor Kluge ganz entschieden darum gelegen, gegen eine kontemplative, schicksalsmythische Hinnahme des Geschehens vorzugehen, indem er die Akteure des Schauspiels „Wirklichkeit“- - Darsteller und Zuschauer- - gerade durch den professionellen Nichtprofessionalismus vermischt, zur Handlung ermutigt. Die Körperpräsenz in Kluges Theater wiederum spielt nicht eine solch zentrale Rolle. Die Idee präzisiert sich weiter mit Joyce’ „‚re-embody’“-Begriff (mosaikhafte Wiederverkörperung oder rekursives Zum-Ausdruck-Bringen): „Es müssen Eindrücke, die entscheidend sind, aus der Zerlegung wiederentdeckt und zusammengesetzt werden können, als Ganze überwältigen sie mit der Folge, daß sie in diesem Direktgriff nicht ‚wiederverkörpern’.“ 1373 Nach dem Ephemeren des wahrnehmungsfähigen Moments zerfällt die Welt in abertausend Scherben-- und wird von Kluge kaleidoskopisch immer wieder neu arrangiert: „Nicht für sich, dem Bewußtsein nach, jedoch an sich will, was ist, das Andere, und das Kunstwerk ist die Sprache solchen Willens und sein Gehalt so substantiell wie er. Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes 1371 Eidam, Heinz: „Erziehung und Mündigkeit. Von Mittel und Zweck der Erziehung im Ausgang von Kant und Adorno“, in ders./ Hoyer, Timo (Hg.): Erziehung und Mündigkeit. Bildungsphilosophische Studien. Berlin (Lit Verlag) 2006 . S. 120 . I. d. R.: Ethik und Pädagogik im Dialog, hg. v.-Burckhart, Holger/ Hoyer, Timo/ Sikora, Jürgen. Bd. 4 . 1372 BGS I, S. 1047 . 1373 GE, S. 301 . 2.6 Mündigkeit 347 versetzt, in neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle zu finden. Weniger als daß sie imitierten, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor. Umzukehren wäre am Ende die Nachahmungslehre; in einem sublimierten Sinn soll die Realität die Kunstwerke nachahmen.“ 1374 Dieses rekursive Versatzstückverfahren bewirkt, dass verschiedene Bedeutungsebenen und Kontexte eines Gegenstands durchleuchtet werden. Darüber hinaus wird durch die Vielfalt des Zugangs und der Perspektiven der Rezeptionsvorgang selbst mitreflektiert. „Normalerweise lernt man in unseren Bildungseinrichtungen die deduktive Methode“, resümiert Kluge mit Blick auf die hiesige Bildungslandschaft. 1375 Ohne sich dabei der Wendung einer „Strategie von oben“ selbst zu bedienen, geht es um diese Abwärtsrichtung: „Von Gesetzen, Regeln, Werten geht es abwärts zu ihrer Anwendung oder Ausfüllung durch Beispiele. Wirklichkeit wird repräsentiert. Prinzip der Illustration: Die Abstraktion regelt die Konkretion, indem sie sie zerstört.“ Es kommt aber auf Beobachtung und Mimesis an, auf eine „direkte Nachahmung von Realität“. Kluge führt u. a. Lukács an und beschreibt den Charakter von Experimenten der Naturwissenschaften „im Verständnis des 18 . und 19 . Jh.“ als scheininduktiv. Damit meint er ein artifizielles Setting, was den Gegenstand von seinen natürlichen wechselseitigen Einflüssen mit seiner Umgebung abschneidet. In einem solch isolierten Verfahren wird also streng genommen Realität abstrahiert. Durch die fehlenden kontextualen Bedingungen entsteht ein unvollständiger Wahrnehmungseindruck sowie auf der Metaebene eine fehlerhafte heuristische Vorstellung. Die Wirklichkeit des Gegenstands entzieht sich also der Erkenntnis. „Eine gegenständliche Situation wird erkennbar gemacht“, indem wiederum die „sie konstituierenden geschichtlichen Faktoren als Synthese derselben in Erscheinung“ treten. 1376 Es kommt also auf die Verlängerung des Denkraums in die Vergangenheit wie auch projizierend in die Zukunft an. Nun macht sich Kluge aber auch keine Illusionen darüber, dass die Dinge selbst darstellbar wären. Man kommt ihnen aber näher, wenn man Elementarpartikel der Wirklichkeit wahrnehmbar macht. Dies ist möglich auf zwei sich ergänzenden Wegen: Erstens durch Dokumentation, also die Beobachtung und narrative Sichtbarmachung „einfacher Vorgänge“ nach Vorbild der Brüder Lumière. Zweitens durch Fiktion, also fingierte Narrationen nach Vorbild Méliès’. 1377 Die Arbeit mit 1374 AGS 7 , S. 199 f. 1375 Sklavin, S. 201 . 1376 Hensing, Dieter: „Die Erzählung der sechziger und der ersten Hälfte der siebziger Jahre“, in Handbuch der deutschen Erzählung, hg. v.- Karl Konrad Polheim. Düsseldorf (August Bagel) 1981 , S. 541 . 1377 Vgl.: Sklavin, S. 202 . 348 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 348 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln Elementen des frühen Films hat dabei nichts mit Stil oder Retroromantik zu tun. Erstens: Ästhetische Gegenstände, d. h. auch die eigenen, werden in ihrem gesellschaftlichen wie historischen Zusammenhang und Entwicklungsprozess erfahrbar gemacht. Zweitens: Es liege ein konkreter Sinn darin, jene „elementaren Wurzeln des Films ‚radikal’ offenzuhalten“, 1378 denn sie haben, neben der Vermittlung der Historizität des Mediums, gegenseitige Korrektivwirkung, was Kluge am Beispiel des kritischen Dokumentarfilms verdeutlicht. Dessen aufklärerische Intention nämlich scheitert oft an sich selbst, wird vom eigenen schockierenden Bildmaterial erdrückt. Nehmen wir beispielsweise den Dokumentarfilm We feed the World von Erwin Wagenhofer ( 2005 ), der einiges Aufsehen erregt hat. Sein honorables Ziel ist es, durch Abbildung der Wirklichkeitsverhältnisse bei der Massenproduktion von Nahrungsmitteln ein kritisches Bewusstsein zu erzeugen für Massentierhaltung, Verbrauch und Kaufverhalten. Hier wird also, um Kluge-Vokabular zu verwenden, „eine Masse kritischer Wirklichkeit versammelt, an der sich der Protest des Zuschauers entzünden kann.“ Das Problem ist, dass es ebenso eine Ohnmachtwirkung auslösen kann, eine Gewisse „Gewöhnung“ „produziert“: „Gleichzeitig wird aber auch der Wirklichkeitsdruck dokumentiert: die Übermacht des unveränderten Realgeschehens. Gerade die Reduktion auf Sachlichkeit und Tatsachen hat die negative Wirkung, daß schlechte Realität ihre Dauerexistenz beweist.“ 1379 Der Dokumentarfilm reproduziert deshalb wie der Spielfilm die massenmediale Trennung von Tatsache und Wunsch: „Im menschlichen Kopf “ aber seien „Tatsachen und Wünsche immer ungetrennt. Der Wunsch ist gewissermaßen die Form, in der die Tatsachen aufgenommen werden.“ Kluges Antwort ist deshalb der Essay-Film. Die essayistische Form, auch wenn er in dem Fall die Literatur vor Augen hat, huldigt Adorno als die für philosophische Aussagen allein angemessene. 1380 In der Neuen Zürcher Zeitung ist die wirkungsästhetische Dimension der klugeschen Mischwesen zu Papier gebracht: „Fraglos zieht uns das Flimmern dieser Irritation tiefer in die ‚Chronik’ auch unserer Gefühle hinein, als wir dies von Darstellungen eindeutig fiktiver oder faktischer Art her kennen.“ 1381 Es kommt auf Mimesis in Permanenz an: „Die Wünsche haben nicht weniger Real-Charakter als die Tatsachen. Sie haben ihre Hauptwurzel in der Tatsache, daß die gesamte libidinöse Erfahrung in der Kinderzeit an Personen, den Urobjekten, erlernt wird“, erläutert Kluge geradezu autobiographisch. 1382 „Es ist der Wunsch, diese persönlichen Beziehungen in Form der Spielhandlung wiederzuerkennen, die Welt in 1378 Ebd., S. 220 . „‚Radikal’“ in Anführungszeichen als begriffsgeschichtsbewusster Hinweis auf dessen Urbedeutung: Das Wort kommt von „radix“ und meint „an die Wurzel gehend“. 1379 Ebd., S. 204 . 1380 Vgl.: AGS 11 , insbesondere S. 21 f. 1381 Czz: „‚Chronik der Gefühle’-- Kluge, akustisch“, in Neue Zürcher Zeitung vom 02 . 10 . 2009 . 1382 Sklavin, S. 204 . 2.6 Mündigkeit 349 menschliche Beziehungen zu zerlegen. Die Utopie davon ist realistisch.“ 1383 Durch Mimesis und Metamorphose gelingt es, über die reine Existenz hinaus auch die Eigenschaften von etwas zur Anschauung zu bringen, das Sein in seinem „Zustand“ des Werdens zu vermitteln. Bereits in der Negativen Dialektik wird statt Induktion oder Deduktion die Konstellation gefordert, die „das Spezifische des Gegenstands“ belichten soll, das dem Klassifikationsschema entweder „gleichgültig“ oder gar eine „Last“ ist. 1384 2.6.8 Resümee: Philosophie in Bewegung Gleich einer Craquelure bricht durch die schwarze Oberfläche der Texte Adornos und Horkheimers die Leuchtkraft Kluges ästhetischer Bildungsarbeit im Dienste einer „zivilisierten“ und „pädagogisch befestigten“ Aufklärung hervor. 1385 Kluge erweitert die philosophischen, erkenntniskritischen sowie ästhetischen Theorien Adornos mit konkret-rezeptionsästhetischen, mit bildungsvermittelnden sowie wirklichkeitsverändernden Ideen, etwa durch die Schaffung von Räumen kommunikativer Öffentlichkeit (allein durch die dialogische Struktur seiner Kunstwerke: unzählig, die Gespräche mit Lebenden und „Toten“) oder durch die gleichrangige, mitgestaltende Rolle des Rezipienten. In der Dialektik der Aufklärung steht, dass Wahrnehmung durch die Zusammenwirkung aus Sensualität, der Rationalität des Begriffs und der Kraft der Einbildung entstehe. Ohne Projektion, ohne Dazutun also des Subjekts, gibt es keine Wahrnehmung. 1386 Die Schrift enthält demnach eine epistemologische Theorie von reflektierter Projektion. „In der poetischen Darstellung wird sich das bloß berichtete Unheil seiner selbst bewusst und gewinnt im Ausstellen des Verhängnisvollen und damit im Benennen des Leidens die Kraft jenes zu brechen: Theoretischer Gestus und praktischer Impuls verschränken sich im Medium des Kritischen der ästhetischen Darstellung immer schon.“ 1387 Alexander Kluges Arbeit ist durchzogen von einem realitätszugewandten Ethos, aus einem hoffnungsvollen Nichtsdestotrotz zieht er seine Entelechie. Kluges Ästhetik ist Weiterentwicklung der Kritischen Theorie nicht als abstrakter, normativer Handlungskatalog, sondern als bereits Praxis gewordenes, wirklichkeitsnahes, metamorphes Anwendungsfeld für kritisches, vernünftiges Denken. So ist seine 1383 Ebd., im Original fett hervorgehoben. 1384 AGS 6 , S. 164 . 1385 Mit diesen Charakteristika beschreibt Kluge Adornos Arbeit in dessen letzten sieben Lebensjahren. Vgl.: Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. (Filmedition Suhrkamp) 2013 . Beiheft, S. 12 . 1386 Vgl.: HGS 5 , S. 223 f. bzw. S. 220 . 1387 Urbich, Jan: „Nicht lange. Über Theorie und Praxis bei Adorno“, in: Die Neugier des Glücklichen. Weimar (Verlag der Bauhaus-Universität) 2012 , S. 142 . 350 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln 350 2 Die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln eigene Textproduktionsstrategie der Assoziations- und „Analogiebildung“ 1388 zugleich eine Aufforderung an den Rezipienten, den eigenen Denkwegen zu vertrauen und ihnen nachzugehen. Nicht einmal unbedingt „Befähigung“, denn die Fähigkeit wohnt bereits im Menschen, sondern vielmehr Ermutigung zu einem phantasievollen Denken in Kontexten, zu einem historisch vernetzten Denken und Befähigung zu eigenem Unterscheidungssowie Entscheidungsvermögen: „Die Menschen haben selbst diese Assoziationen. Man muss sie ihnen nicht eintrichtern. Der Einzelne mag das Eine wissen und das Andere nicht. Wenn aber viele beisammen sind, die können einander die ganze Geschichte erzählen.“ 1389 Weiterhin knüpft Kluge als Jurist und Produzent die emanzipierenden Ziele Kritischer Theorie an konkrete politische Gegenstandsbereiche, vom Institut für Filmgestaltung bis hin zur Bildungsreform im deutschen Fernsehen. So gelingt es Alexander Kluge, die Kritische Theorie aus ihrer diskursiven Verschanzung zu befreien und sie auf ästhetische wie bildungsphilosophische Weise wieder mit Gesellschaft und ihren Individuen zu verknüpfen. Seine Verfahrensweise kann dabei auf vier Grundprinzipien zurückgeführt werden: Entschleunigung, Subjektivierung, konstellative Darstellung sowie kooperative Gegenproduktion. Mit allen Freiheiten eines multimedial agierenden Erzählers gelingt es ihm darüber hinaus, auch theoretische Aspekte, insbesondere Walter Benjamins und Theodor W. Adornos, in bewegten Begriffen und Bildern weiterzuentwickeln: „Alle Formen des Ausdrucks lassen sich nochmals verbinden“, sagt schließlich Kluge im Eingangsgespräch, „um Kerngedanken der Kritischen Theorie auszudrücken“. „Die Philosophie als ganzes System kann sich nur auf eine schon abgeschlossene Realität beziehen, sie nimmt ihren Zusammenhang aus der Beobachtung, d. h. im Nachhinein. Das gilt nicht für den Prozeß des Philosophierens, insbesondere nicht für den Philosophen, der als Partikel in jeder einzelnen menschlichen Eigenschaft, z. B. auch in den Fingerspitzen, in den Füßen, den Augen usf., steckt. Dieser Philosoph ist im Detail in Berührung mit der Realität, ist immer Zeitgenosse, gegenwärtig, aber angewiesen auf den glücklichen Moment, in dem er sich hat, sonst kann er nicht greifen und eingreifen. Dieser Philosoph hat die Aufmerksamkeitsspannung eines Glücksspielers. Zu dieser Aufmerksamkeitskonzentration gehört ein innerer Seismograph, die Zuspitzung, so wie die Fingerspitzen Nerven konzentriert haben, weil das Tasten libidinös war.“ 1390 Was hier von Alexander Kluge und Oskar Negt beschrieben wird, ist eine Philosophie, die nicht wie die Eule der Minerva erst mit Einbruch der Dunkelheit 1388 Weidauer, Friedemann J.: Widerstand und Konformismus. Positionen des Subjekts im Faschismus bei Andersch, Kluge, Enzensberger und Peter Weiss. Wiesbaden (Deutscher Universitäts-Verlag) 1995 , S. 115 . 1389 Kluge in: Widmann, Arno: „Am gefährlichsten sind Waffen für den Waffenbesitzer selbst. Interview mit Alexander Kluge“, in Frankfurter Rundschau vom 22 . 07 . 2014 . 1390 GE, S. 84 , Fußn. 3 . Hervorh. gem. Orig. 2.6 Mündigkeit 351 ihren einsamen Flug beginnt. Das Denken prüft sich, indem es aus dem Kopf tritt und sich mitteilt. Indem es sich einem Anderen öffnet, wird dieser angeregt, es ihm gleichzutun, wodurch nach der Einsamkeit auch die Eingleisigkeit durchbrochen wird und ein wechselseitiger Austausch stattfinden kann. Philosophie als Bewegung erkennt, dass sie eingreifen muss und dass sie eingreifen kann; die Kritische Theorie erhebt die Philosophie zum Akteur-- mit dem Bewusstsein davon, dass auf die „politisch-ökonomische Praxis“ ausschließlich mit „Gegenproduktion kritisch geantwortet werden“ kann. 1391 Dies gelingt nach und mit Kluge ästhetisch wie analytisch durch das Konzept der Konstellationen. Und praktisch, also politisch, durch grenzüberschreitende Kooperationen. 1391 GE, S. 89 . 352 3 Telefongespräch über positive Dämonen 3 Telefongespräch über positive Dämonen Am Telefon mit Alexander Kluge am Nachmittag des 16 . Juli 2013 . Zwischendrin imaginiert man sich in sein Büro und staunt: jede Hand und jedes Ohr scheint für ein Telefon gemacht, und denkt: er kann sogar Montagegespräche. Schnelles Umschalten und dabei immer konzentriert bei der Sache. Aufgrund seiner Länge wird das Gespräch hier in drei Abschnitten dargestellt: „Leuchtfeuer Philosophie“, „Das schönste Gold“ und „Geerdete Konstellationen“. Leuchtfeuer Philosophie CS: Wir hatten bei unserem Thekengespräch in Paris von den Grenzen der Sprache und der von Wissenschaft gesprochen: Die Philosophie erklärt in Begriffen, die Literatur in sprachlichen, der Film in bewegten Bildern. Sie ergänzten im Sinne Adornos unbedingt die Musik. Die Grenzen der Sprache vor Augen, erscheint also das Narrative als ein geeigneteres Ausdrucksmittel-- sowohl um das zu Bezeichnende getreuer darzustellen als auch in Kommunikation mit anderen darüber zu treten. Nun ist es mir ja klar, dass Sie kein Philosoph sind, meine Arbeit aber schreibe ich in ihr, in der Philosophie. Halten Sie denn eine philosophische Betrachtung Ihres Werks generell für sinnvoll? Kluge: Die Philosophie müssen Sie sich wie ein Leuchtfeuer vorstellen oder wie eine Orientierung nach Sternen, die man ja nicht anfassen kann. Während wenn Sie sprechen, sind Sie sozusagen Meeresbewohner, sitzen auf einem Floß, einem Dampfer, einem Boot. Insofern ist Philosophie Orientierung. Orientierung auch für alle Arten von Narration und selber eine besondere Form der Narration. Sie werden öfter Geschichten in meinen Büchern finden, in denen sozusagen diese narrative Qualität des Philosophierens für eine Geschichte genutzt wird. Also Heidegger auf der Krim, Horkheimer in Los Angeles. Oder eine Geschichte wie Die Heimkehr des Odysseus, dahingehend, dass er zu Hause, nachdem er heimkehrt nach 20 Jahren Irrfahrt, das Bett vorfindet und seine Identität seiner Frau, die denkt, da kommt ein Hochstapler angefahren, dadurch beweist, dass er weiß, wie er es gemacht hat. CS: Das Bett im Baum. Kluge: Er hat es in den Baum gezimmert, selber in seiner Jugendzeit. Und deswegen können es die Freier auch nicht verrücken. Das heißt das ist ein 3 Telefongespräch über positive Dämonen 353 Moment der Identität. Und dieses Moment der Identität bei Homer ist ein Narrativ und steht im Gegensatz zu den Irrfahrten und dem Auseinanderreißen eines Odysseus zwischen Skylla und Charybdis, sodass er sich anbinden und von den Gefährten die Ohren verstopfen muss. CS: Und so erweitern oder so ergänzen Sie, wenn ich Sie richtig verstehe, diese Grundmetapher der Kritischen Theorie? Kluge: Ich ergänze sie nicht, sondern ich verbinde gewissermaßen die beiden Narrationen. Das heißt ich stelle mir vor: Wenn ich jetzt diskutieren würde als Autor, also als Schriftsteller, mit Horkheimer und Adorno über diese Stelle in der Kritischen Theorie, würde ich ja nicht negativ argumentieren, wenn ich darauf aufmerksam mache, dass es bei Homer noch eine andere Seite desselben Odysseus gibt. Und von daher kann ich sozusagen in meinem Metier bleiben, des Erzählens, gleichzeitig aber mich mit den Orientierungen beschäftigen, die die Philosophie vorgibt und an denen ich nicht rühre. Ich habe keine Kompetenzen, an denen zu rühren. Ich kann sagen, ich fahre danach oder ich fahre nicht danach, aber ich bin kein Leuchtturm. CS: Das sind die stellarischen Konstellationen, an die Sie sich halten, nach denen Sie navigieren können. Kluge: So ist es. Eine von mir mit am höchsten geachtete Art der Poetik ist die Philosophie. Aber: Ich achte sie und übe sie selbst nicht aus. CS: Heißt das auch, das sind Werkzeuge? Sie und Oskar Negt verbindet, so scheint mir, die grundlegende Haltung einer praktischen Anwendung von Kritischer Theorie-… Kluge: Aber seien Sie vorsichtig. Die Werkzeuge liegen auf meinem Floß. Ich mache nicht mit Werkzeugen an den Leuchttürmen rum. Ich verändere Philosophie nicht, sondern ich nehme Philosophie als eine gegebene Größe. So wie ich, sagen wir mal, das Phänomen Stadt oder das Phänomen Hochmut/ Hybris, oder das Phänomen Aufklärung oder das Phänomen Einfühlung oder den Standpunkt des independent spectator weder erzeuge noch willkürlich verändere, wenn ich erzähle. Der Erzähler ist überhaupt nicht der Herr der Geschicke. Er ist nicht wirklichkeitsändernd tätig, sondern wirklichkeitserzählend. Nicht mal spiegelnd, sondern nachahmend. CS: Heißt das deshalb auch, dass da noch keine Kritik enthalten ist? Gebe ich, wenn ich das nicht spiegle, also noch keinen Kommentar ab? Kluge: Wenn ich einen Verbrecher beschreibe, und Macbeth bei Shakespeare ist ein Verbrecher, dann wird sich doch Shakespeare nicht ohne Weiteres mit ihm identifizieren und sagen, den find’ ich nun gut. Aber er wird auch nicht zögern, ihn so darzustellen mit seiner Frau Lady Macbeth, dass es gewissermaßen Erschütterung auslöst, d. h. es ist etwas Eindringliches. 354 3 Telefongespräch über positive Dämonen Aber er schraubt nicht am Macbeth rum und macht ihn z. B. für Kinder etwas freundlicher. Das wäre keine poetische Tätigkeit. Was ich hier interpretiere, ist Kritische Theorie, ja, die Arbeitsanweisungen Kritischer Theorie eines Erzählens. Und das ist weder Spiegelung, noch ist es gewissermaßen Bearbeitung, sondern es gibt etwas, was zwischen dem Bearbeiten eines Gegenstandes, also einem subjektiv-objektiven Verhältnis dieser Art liegt und diesem, ich will nicht manchmal behaupten kommunikativen Akt, sondern dem poetischen Akt des Niederschreibens von Verhältnissen in Form von Texten. Es ist etwas Drittes. Es ist nicht: Reales tun. Ich schreibe meinetwegen einen Satz hin: Ich morde. Aber damit habe ich nicht gemordet. Aber umgekehrt habe ich auch nicht nichts gemacht. Es ist auch nicht egal, was ich schreibe. Sondern es gibt eine dritte imaginäre Wirklichkeit zwischen den Dingen und dies ist der Ort der Narration. Sie haben, um es mit Adorno zu beleuchten, auf der einen Seite die objektive Masse der Tatsachen, und die ist für Menschen gar nicht ergreifbar oder begreifbar, weil sie ein Für-Sich darstellt. CS: Es ist eine Übermacht. Man steht dieser wortwörtlich ohnmächtig gegenüber. Kluge: Eine Übermacht- - und selbst wenn wenige Tatsachen da sind, sind sie trotzdem fremd. Sie müssen erst angeeignet werden. Ohne Sprache, etwas, was der einzelne Mensch gar nicht erfinden kann und was er sich übrigens auch nicht aussuchen kann oder nicht beliebig aussuchen kann, sondern was er nur dehnen oder verkürzen könnte-- diese Sprache braucht er, um sich die Gegenstände anzueignen-… CS: Das ist eine Verlangsamung. Eine Entschleunigung. Kluge: Eine Verlangsamung und eine Subjektivierung. Eine subjektive Kontamination findet statt, wenn die Objektivitäten ihr Für-sich-Sein verbinden mit einem Für-Menschen-sprachlich-verständlich-Sein. CS: Richtig, und das ist ja auch eine besondere Facette der Kritische Theorie, die ja mit Benjamin vorinstitutionell war, der war ja nun auch kein Freund des Akademischen-… Kluge: Nein-… CS: …-und jetzt haben wir das, was Sie machen, was ich auch nicht als akademisch bezeichnen würde. Vielleicht nicht anti-akademisch, aber zumindest nicht-akademisch. Und da wird es ja interessant, denn es schließt Sie für eine breitere Bevölkerung auf. Es ergibt sich die Konstellation, dass die Philosophie aus dem Hörsaal heraus, vom Katheder weg geht, hin zum Bürgertum, sag ich jetzt mal, und in einen Dialog tritt durch die „vermischten Nachrichten“-… 3 Telefongespräch über positive Dämonen 355 Kluge: Und da müssen Sie jetzt weiter und die einzelnen Schritte der Kritischen Theorie ins Auge fassen, nämlich: Dort war die Philosophie immer schon. Die war nicht bei den Philosophen bloß, sondern die Philosophen werden wie ein Boot von einem Gewässer getragen von einer bürgerlichen Gesellschaft, die diskutiert. Also erst kommt der Handel-- das ist jetzt Sohn-Rethel. Und Sohn-Rethel beschreibt das so, das zuerst der Tausch stattfindet und an der Tausch- Abstraktion, dem Handel, lerne ich das quid pro quo, ich lerne das Abstrahieren. Und dadurch lerne ich aber auch das Konkretisieren. Also ich kann abstrahieren auf einen Preis. Und ich kann kontrollieren auf eine konkrete Qualität. Das macht der Kaufmann. Und diese Fähigkeit über das bloße Produzieren hinaus, zu tauschen, eine Tauschgesellschaft zu installieren-- die ist der Beginn der Ratio. Die Tauschabstraktion ist das Vorbild, das hinterher nachgeahmt wird durch das Denken. Und dieses Denken wird dann kritisch nach beiden Richtungen, dass ich wiederum die Würde denken kann, die den Preis ersetzt und unter sich auch Preise hat. Und auf der anderen Seite die Qualitätskontrolle, in denen ich die Konkretionen des Begriffs ebenfalls prüfe. Und so kann ich nach oben fallen, wie Hölderlin sagt, und nach unten graben. Und das ist das Prinzip der dichterischen Narration und insofern können Sie eigentlich zwischen Dichten und Denken eine Verbindung herstellen.-- Das ist jetzt ein bisschen außerhalb dessen, was die Kritische Theorie deutlich formuliert. Das wäre hier im Sinne von Adorno gesagt, während Horkheimer intervenieren könnte oder aber ’nen freundlichen Tag hat und tolerant ist,-… CS: (lacht) Kluge: …-was aber bei Benjamin wieder zusammengefügt wird. Sie haben subjektiv-objektive Reaktionen-- das ist das einzige menschliche Verhältnis zu den Dingen. Und aus diesem subjektiv-objektiven Zusammenhang entsteht jetzt eine Kette, ein Prisma, ein Kaleidoskop von Zwischenlösungen. Und die sind immer aufgestellt zwischen der Erfindung der Tauschgesellschaft und ihrer Praxis, die den Städter, den zivilisierten Menschen, den Odysseus vom Zuschläger Ajax oder von Agamemnon oder Menelaos unterscheidet. Das ist jetzt ein weites Feld, ja, es ist aber nicht anthropologisch gemeint, sondern es wiederholt sich in jedem modernen Menschen, diese ganzen Entwicklungsstufen, die übereinanderliegen. CS: Man muss aus sich heraus gehen, um zu sich selbst zu finden-- um es mal viel zu verkürzt zu sagen. Kluge: Aber so können Sie es gut sagen. Und jetzt gibt es niemals etwas nur Objektives und niemals etwas nur Subjektives, das eine Chance hat zu existieren und lebendig zu sein. Es wäre mindestens niemals sozial. Son- 356 3 Telefongespräch über positive Dämonen dern es ist immer eine subjektiv-objektive Beziehung, die die Grundlage von allem bildet, was man erzählt, was man arbeitet, was man tauschen kann, was man lieben kann und woraus man Gemeinwesen bilden kann. CS: Das ist ein gutes Stichwort. Wenn man jetzt einmal den Subjektbegriff philosophisch angehen würde-- das müssen wir jetzt hier nicht tun--, aber auch um die für Sie so elementare Subjekt-Objekt-Beziehung gründlicher zu verstehen, dann müsste man philosophisch-disziplinär mindestens aufzählen: Descartes, Kant, dann Adorno und die französischen Dekonstruktivisten wahrscheinlich auch-- oder aber man tut dies, wie Sie, narrativ, und erzählt von der Mutter mit ihren Kindern, abgetaucht unten im Haus, ein kleines Mädchen bläst die Backen auf zum Luftanhalten, atmet aber durch die Nase, wenn ich mich recht erinnere, und von oben fallen unbarmherzig zufällig Bomben und schlagen vielleicht ein und vielleicht nicht. Und beide Male kommt man auf den Begriff des Selbstbewusstseins- - und mit diesem zur Emanzipation; von zwei unterschiedlichen Richtungen, ja. Kluge: Das interpretieren Sie absolut exakt. Und jetzt müssen Sie wiederum das, was da oben Bomben wirft, also die Bombe, den Bomber und diejenigen, die die Bomber ausschicken als einen zusammenhängenden Kontext analysieren und Sie werden wieder subjektiv-objektive Partikel finden. Denn wenn Sie das Pulver nicht erfunden haben, was ja eine Erfindung enthält, also ein Stück Mensch enthält, also winzige, Milliardstel Partikel von Menschen, aber von vielen-… CS: Die unschuldige Schraube in der Bombe-… Kluge: So. Und nichts, auch der Propeller, außer der Luft, die brauchen Sie nicht durch Menschen erzeugen zu müssen, aber das Übrige im Flugzeug und im Geschwader und in der Bombe ist von Menschen gemacht und gleichzeitig verarbeitet Objekte. Und was unten sitzt im Keller, geschützt von ein paar Mauern, ist immer noch, auch wenn es wie eine reine Subjektivität dort hockt mit den Kindern und nur noch aus Wünschen besteht, besteht in seinen Zellen, die Sternenstaub sind, ja-…-- wir kommen irgendwann einmal aus der Explosion einer Nova --… objektiv sind auch die Institutionen der Angst, die Art, dass ich vielleicht beten könnte oder darauf verzichte, das Denken-- das sind alles subjektiv-objektive Partikel. Und aus diesen Fragmenten als dem Realen bestehen Weltverhältnisse und die kann man analysieren. Und aus dem Ganzen davon entstehen Täuschungs- und Produktionsverhältnisse. Und dieses Produktionsverhältnis, das natürlich Gerda Baethe ablehnt, ja, die will doch nicht bombardiert werden, nicht, das ist das Gesamtverhältnis. Das gesellschaftliche Verhältnis ist hier: Bomber gegen Leute, die im Keller sitzen, verbunden 3 Telefongespräch über positive Dämonen 357 damit, dass die im Keller Sitzenden Verwandte, gemeinsame Schulen, gemeinsames Vaterland haben mit denjenigen, die schon Coventry bombardiert haben und die in Auschwitz nicht weniger subjektiv-objektiv Gewaltverhältnisse einrichten. Diese Zusammenhänge, die können Sie jetzt sehr groß machen oder verkleinern-- Sie treffen immer wieder auf die Elemente. Und in den Elementen-… CS: Und Sie tun beides-… Kluge: Und beides müssen Sie erzählen. Der Begriff besteht tatsächlich aus beidem. Er existiert, so die Kritische Theorie und so das Narrativ, das ich gebrauche, in der Beschreibung dieser Elemente und Fragmente und dieser Einzelheiten bis hinunter zur Zelle wie in dem Gesamten, was auf dem Globus entsteht-- und nicht nur Globus, ja, das können Sie im Kosmos verlängern. Und diese Zusammenhänge der Konkretion und der Abstraktion, die umkehrbar sind, denn gemessen an einer Milchstraße ist natürlich ein Menschenwesen eine Abstraktion, gemessen an sich selbst-… CS: …-hat es ein Recht traurig zu sein-… Kluge: …-traurig zu sein, übrigens auch hoffnungsfroh zu sein über das Firmament, also die Deutungshoheit zu haben, und dann sind Sie wiederum das Konkrete und das Weltall ist das Abstrakte. Und diese Wechselwirkung, die ist fast musikalischer Natur. CS: Und das ist phantastisch, wenn ich das mal so mehr oder weniger off the record sagen kann, dass Sie es schaffen, dieses unendlich Kleine und das unendlich Große, die kosmologischen Weltzusammenhänge darzustellen, narrativ darzustellen, in vielen Geschichten und Erzählungen und Interviews, ohne dass es jemals kitschig oder esoterisch ist. Das ist eine hohe Kunst. Kluge: Das kann ich aber nur, weil ich mich ganz eng an das halte, was mir der Adorno, der mir über die Schulter guckt, und der Benjamin, der mir über die andere Schulter guckt und der Horkheimer, der über beide guckt und sie beaufsichtigt-… CS: Wer ist der Teufel, wer ist der Engel? Kluge: Die beiden sind echte positive Dämonen,-… CS: (lacht) Kluge: …- Benjamin und Adorno, also Engel. Und gewissermaßen der Stellvertreter des Teufels wäre Horkheimer im positivsten Sinne, das ist der Dialektiker. CS: (lacht) Kluge: Und der würde nicht selber in die Narration eingreifen wollen. Er würde sich relativ einheitlich ausdrücken. Und bei Sohn-Rethel würde er sagen, vielleicht muss mal überprüft, ob es nicht zu phantastisch wird und den 358 3 Telefongespräch über positive Dämonen Pollock fragen, was er davon hält. Er ist sehr viel skeptischer und nicht ganz so unternehmungslustig wie Benjamin. Aber ich verehre ihn sehr, denn er ist ein Leuchtfeuer eigener Art, Horkheimer. Er ist nicht besonders-… also „Poetik gehört in den Stall“, würde er sagen-… die Vorrede-… CS: Machte ihn das also etwas unnahbarer als Adorno? Gut, Adorno am Anfang sicherlich auch-… Kluge: Ja. Also ich würde nicht auf Du gehen mit Max Horkheimer. Und zwar aus Respekt nicht. CS: Es gibt ein „Sie“, was sehr viel mehr Wert sein kann als ein „Du“. Kluge: Jawohl. Ich würde einen Steuermann eines Schiffes mit „Sie“ anreden, egal wie lange ich ihn kenne. Ich würde Adorno als Steuermann meines Schiffes bedenklicher finden als Horkheimer. Nun muss ja nicht jeder Steuermann sein. Man kann ja auch Odysseus sein oder Sänger sein oder alles Mögliche-… CS: Ja, jeder hat so seine Aufgabe, seine besonderen Fähigkeiten-… Kluge: …-Genau, man kann sogar der Vogel sein, der hinter dem Schiff herfliegt. Aber es steht mir nicht zu, sie einzuteilen. Ich wollte nur den Unterschied markieren, was am Narrativ teilnimmt, wenn ich mich der Kontrolle quasi oder der Anregung der Kritischen Theorie unterwerfe. Und wenn Sie jetzt z. B. etwas nehmen wie das 12 . Jahrhundert. Das ist von uns extrem entfernt. Es ist das Jahrhundert, in dem die Universitäten entstehen. Es ist aber auch das Jahrhundert, in dem Venedig Handel treibt, bis Byzanz, Kreta, zum Nahen Osten hin, Ägypten. Und auf der Spur dieses Handels entwickelt sich quasi ein Kalkül: die Buchhaltung und das Denken. Und später die oberitalienische Dichtung, also-… Petrarca-… aber das kann ich jetzt zeitlich nicht, weil ich eine Metapher bilde, möchte ich zeitlich nicht koordinieren, weil Dante ist dann 14 . Jahrhundert und-… CS: Kein Problem, Sie sind ja ein Zeitenverbinder. Kluge: Ja, aber wenn man es genau nachprüft, würde man finden: Die Verwurzelung, das Netzwerk lässt sich zeitlich über drei Generationen festmachen, dass ganz allmählich-… am Himmel steht Philosophie und Dichtung und am Anfang steht Handel und Seefahrt und Gründung-- und dies ist zusammengefasst in einer jetzt erschienenen Habilitationsschrift, die heißt Eine Stadt lernt schreiben und die handelt nur davon, dass eine überdurchschnittliche Zahl von Menschen in diesem Venedig, das ich hier beschreibe im 12 . Jahrhundert, lesen und schreiben kann. Und die Stadt ist Schiedsrichter zwischen Barbarossa und dem Papst, als Notar. Sie merken, diese Dinge kommen extrem exakt zusammen und zwar nicht, indem ich grobe Historik betreibe, sondern indem ich die Einzelheiten, also die Szenen, die man narrativ beschreiben kann, hintereinander stelle, mich 3 Telefongespräch über positive Dämonen 359 ganz jeweils auf die Szene konzentriere, hinterher überlege, welchen Zusammenhang haben diese Bedeutungsinseln, diese erzählten Fragmente und aus diesen Fragmenten können Sie wieder Beziehungsnetze bilden. Sie müssen in Kauf nehmen, dass Sie da eine Menge Begründung auslassen dazwischen, da sind viele Lücken, Löcher usw. Aber auch zwischen zwei Planeten, zwei Monden, zwei Sonnensystem, mehreren Asteroiden würden ja gewaltige Lücken sein-… CS: Das ist wohl wahr. Viel dunkle Materie-… Kluge: (lacht) Viel dunkle Materie. Die dunkle Materie trägt das ja gravitativ. Und die Gravitation hält diese Körper zusammen und zwingt sie zu einer Kon-Stellation im wörtlichsten Sinne, einer Ver-Sternung, einer Mit-Versternung. CS: Der Begriff findet sich ja bei Adorno wie bei Benjamin-- oder zumindest dieselbe Idee. Kluge: Absolut, auch bei Benjamin. Und diese Konstellationen, die gravitativ durch Schwerkraft, also durch Sachlichkeit, also Substanz des Begriffs zusammengehalten sind, die könnte man nicht gleichzeitig, so wie ein Schullogiker das macht, wie übrigens auch Descartes das noch machen würde, miteinander verlöten, mit Scharnieren versehen, d. h. zu einer Maschine bauen. CS: Das wäre unbeweglich. Wie die eiserne Brücke, gespannt über die Planeten. Kluge: Ja und es könnte gar nicht funktionieren, denn wenn Sie die Planetenbrücke von Grandville, die ja bei Benjamin abgebildet ist, bauen würden mit schönem französischen Stahl, dann würde die an der Seite des Saturn, wo sie landet, abreißen, und zwar in jeder Sekunde, und auf dem Mond und auf der Erde, wo die anderen Relais sind, ebenfalls dauernd abreißen. Es wäre ganz unmöglich, so ein System mechanisch oder nach Zwecken oder nach bloßer Rationalität zu verknüpfen. CS: Und so muss man insgesamt Ihr Werk sehen: Es ist ja in ständiger Bewegung, es ist rhizomartig, um noch mal einen philosophisch aufgeladenen Begriff zu verwenden-… Kluge: Ja-… CS: …-eben aus diesem Grund: Also Geschichten, Teile von Geschichten werden wiederverwendet, recycelt, leicht verändert und gehen neue Verbindungen ein. Kluge: Und vor allem Lücken sind mal extrem groß und mal etwas weniger groß. D.h. Fragmente der Erfahrung nähern sich aneinander an und entfernen sich voneinander und lassen Lücken zu. Also es sind zwei Entscheidungen, die ich habe als Narrateur. Die eine ist: Wie weit auseinander können 360 3 Telefongespräch über positive Dämonen zwei Textmitteilungen sein? Und die Information liegt dort in der Weite der Lücke-… CS: Wo dann der Rezipient reingeht-… Kluge: Wo er reingeht oder er muss auch nicht reingehen, sondern er kann auch Messungen vornehmen. Also der Abstand Erde- - Mond ist sozusagen gleichzeitig ein Bild, eine Orientierungshilfe. Und da gibt’s jetzt den abarischen Punkt zwischen Mond und Erde, wo die Schwerkräfte einander aufheben. Wenn Sie den finden, haben Sie einen Moment der begrifflichen Ruhe. Ich nehme das nur als Metapher, verstehen Sie, aber dass man die Substantialität, die im Pathos des Begriffs steckt, so mit dem Gleichnis der Gravitation auslotet-- selbstverständlich sind Begriffe keine gravitativen Körper, ja-… [Telefon klingelt: Kluge. Ja, ich telefoniere gerade-…] …-Also ich mach da keine Analogie, sondern eine Metapher, ein Gleichnis. Es ist aber so, dass die Macht des Objektiven so groß ist, dass es wie eine Gravitation andere Objektivität an sich zieht, bis es zu einem schwarzen Loch, zu einer Gravitationsfalle würde. Das pure Objektive ist die tote Landschaft nach einem Durchzug von Dschingis Khan. Wenn Sie umgekehrt das Subjektive richtig verstehen, wenn sie selber so viel Macht und angeeignete Objektivität-…-- nach der Philosophie ist es ja nie nur subjektiv, dass es ebenfalls zu einer dem Vakuum ähnlichen Ganzen, in dem alle Energie überhaupt steckt, wird. Also das Nichts, das aus der geballten Subjektivität Fichtes entstehen würde, wäre sie herstellbar, hätte eine ungeheuerliche Gewalt- - und Gewaltsamkeit. Es wagt niemand, dem zu begegnen. Der Tigersprung des Subjekts, der zupackt und beißt und tötet, bei Adorno, den muss man so verstehen als das isolierte Subjektive. Das wäre niemals ein Subjekt. Subjekt wird daraus nicht, sondern es ist eine Ballung. Also wenn Sie sich vorstellen: Eine sog. Volksgemeinschaft oder 1 , 5 Millionen Menschen, versammelt zu einer bestimmten Stunde auf dem Tempelhof-Feld in Berlin, das war in der Nazizeit so- - das wäre sozusagen ein geballtes Subjektives. Und das bildet sich dabei die Subjektivität aber nur ein. Denn sofort würde Adorno, und das würde auch ich tun, das würde auch Spinoza tun, das würde Nietzsche tun und ein Haufen anderer Eideshelfer-… Wenn Sie das auseinandernehmen, dann merken Sie, da sind lauter Subjektivitäten drin und die es organisiert haben, sind auch zum Teil natürlich subjektiv, zum Teil aber rein objektiviert. Speerspitzen früherer Absichten ihrer Eltern. Ressentiments sind immer Speerspitzen von etwas früheren Objektivem, abgestorbenen Objektivgewordenem. Und hier hört jetzt sozusagen die Narration für einen 3 Telefongespräch über positive Dämonen 361 Moment lang auf, denn so allgemein kann man nicht erzählen. Aber das kann der Philosoph denken, aber dafür lässt er auch exzessive Lücken aus. Aber wenn Sie hier jetzt dieses konkrete Tempelhofer Feld analysieren, das ist ein Ereignis vom 1 . Mai 1933 , der Tag der Arbeit 1933 , in dem Moment merken Sie, es lohnt sich, so zu erzählen. CS: Ich verstehe. Nicht weit von diesem Begriffspaar ist ja, wenn ich in Geschichte und Eigensinn das Kapitel über Intelligenz lese-… und wenn ich an Max Horkheimers Begriffsbestimmung von „Vernunft“ als „Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts“ denke-- die eine sehr geerdete ist, soll heißen auch eine allgemeinverständliche und pragmatisch sofort überzeugende Formulierung, dann zeigt das für mich-… Kluge: Und eine sehr gute, also-… zeigt Bodenhaftung, ja-… CS: …-Genau. Und das zeigt für mich das eigentliche Schulterschlusspotenzial zwischen Philosophie und „Bürgertum“, wenn mal so will, auf. Und ein für die Kritische Theorie zentraler Begriff ist ja der der Vernunft-- wie würden Sie diese-… Kluge: Da haben Sie total recht, total recht. Dabei rekonstruieren Sie aber einen Begriff des bürgerlichen Charakters, der dem Horkheimer sehr liegt und den Benjamin und Adorno sehr gelebt haben, ohne ihn gleicherweise zu betonen. Die würden auch mal sagen: „Ich bin unbürgerlich“- - was Sie nicht sagen können, denn wo sollen Sie denn sein? Diese Seite des bürgerlichen Charakters, die um 1600 sozusagen so richtig plastisch in Erscheinung tritt und da noch nicht zwingend mit dem Kapitalismus verknüpft ist. Sie kann ihm vorangehen, sie kann ihm folgen. D.h. also ein Galilei kann einen Enkel haben und der ist dann richtig kapitalistisch geschult im Hirn, und wird Protestant. Er selber ist sozusagen auch noch mittelalterlich, aber schon in der Lage, Naturwissenschaft zu betreiben. Und tauschen kann er auch. Das heißt also, der bürgerliche Charakter ist eine ganz großartige Emanation des agrarischen Menschen und je stärker er sich damit, und da weiche ich ab von der Kritischen Theorie, je stärker er wiederum Bodenhaftung in sich erzeugt, also die Bauern, aus denen er hervorgegangen ist, in sich wiederbeleben kann-… Also über einen Anker verfügt er. Da würde mir Horkheimer nicht widersprechen, Benjamin würde indifferent gucken und Adorno würde sagen, Bauer ist was Furchtbares. CS: (lacht) Das ist eine lustige Runde, wenn ich mir die so vorstelle-… Kluge: Ja. Aber mit denen rede ich täglich. CS: Das merkt man. Und deswegen schreibe ich ja auch diese Arbeit-… Also, wenn wir jetzt noch einmal zu dem Begriff der Vernunft zurückkommen: Ist das jetzt für Sie ein Dualismus von Ratio und Emotio? Das eine ist 362 3 Telefongespräch über positive Dämonen das Korrektiv des anderen, um den Menschen sowohl vor der Kälte der puren Vernunft, aber auch vor der Hitze der Gemüter gleichermaßen zu schützen? Also eines allein kann irrational ausschlagen. Kluge: Also ich kenne den Gedanken und ich bestätige, dass der in der Kritischen Theorie so erörtert wird. Ich würde hier aber einen anderen Versuch machen, ebenfalls gestützt auf die Kritische Theorie und andere Textstellen. Und zwar würde ich sagen: Sie haben keine Gedanken, wenn Sie sich nicht Mühe geben. Sie geben sich nur Mühe, wenn Sie einen Grund haben. Den Grund haben Sie in der Emotion. Verdichtete Emotion ist also ein Gedanke. Und das können Sie umdrehen. Und insofern würde ich zwischen menschlich verstandener und bearbeiteter und solidarisch entstandener Ratio trennen. Das ist keine instrumentelle Vernunft. Diese Vernunft wird hergestellt aus Emotion. Aus David Humes Einfühlung entsteht sie. Und Sie haben David Hume auf der einen Seite, wenn er von Einfühlung spricht, der der Mensch gar nicht entkommen kann, denn es sind nur die Menschen mehrheitlich übriggeblieben, die der Einfühlung fähig sind. Und selbst Franz Moor, der Bösewicht, ist immer noch einfühlend. Er leidet auch darunter und wird auch daran sterben, weil er der Einfühlung nicht folgt. Und auf der anderen Seite ist der independent spectator, der Sachliche, also den könnten Sie als kritischen Menschen oder rationalen Marktteilnehmer nach Adam Smith beschreiben. Und aber genauso ist der Ursprung der Sachlichkeit in der Einfühlung und der Emotionen fundiert, wie die Einfühlung in der Sachlichkeit. Da ist eine Kritik der Phantasie mitenthalten. Die Phantasie, die nur schweift, die sich den Anderen einfach quasi vorstellt und verändert, wie er gar nicht ist, ist eine schlechte Einfühlung. Würde übrigens durch Einfühlung widerlegt. Wenn also Robinson sich eine Vorstellung von Freitag macht und der eine von Robinson, und beide beruhen auf Irrtum, weil es Herr und Knecht gar nicht gibt oder sich ineinander verwandelt, dann ist nur der Weg der Einfühlung, der Genauigkeit, des Auges, also der Weg der Sympathie und des Abstand-Gewinns in der Lage, diesen Irrtum zu beseitigen. Und ich hätte jetzt weder die Ratio als Kritiker aufgestellt der Emotion noch die Emotion als Kritiker der Ratio, sondern hätte wieder eine subjektiv-objektive Verbindung zwischen diesen beiden Kräften als seien sie quasi subjektiv-objektiv, sie sind aber jeder auf seine Weise subjektiv-objektiv. Sie sind verschiedene Aggregatzustände des Subjektiv- Objektiven, also wie Eis, Wasser, Luft und Plasma. CS: Der Begriff der Einfühlung hat mich an etwas erinnert, was ich Sie auch fragen wollte. Nun würde ich mal behaupten, dass Sie Ihre Kunstwerke nicht als solche ästhetisch isoliert verstehen, sondern stets in ihrer gesell- 3 Telefongespräch über positive Dämonen 363 schaftlichen Funktion. Sie können mir da gleich widersprechen. Also wenn ich an Friedrich Schiller denke, der entwirft ja in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen einen ästhetischen Staat idealiter, also eine real nicht zu erreichende Staatsform, die jedoch als Ideal oder Utopie meinetwegen nötig ist, um in einen moralischen Staat zu gelangen. In wie weit, ist die Frage, halten Sie die ästhetische Erfahrung, die sinnliche Wahrnehmung, aisthesis, wichtig für die Bildung, gerade im Hinblick auf demokratische Bildung? Kluge: Ich würde den Gedanken, der ja endemisch ist in der Kritischen Theorie, anwenden von der ersten und zweiten Natur. Es gibt eine Wirklichkeit, die ich selber erlebe, wenn ich z. B. als Kind ’ne Treppe runterfalle, mir einen Ellbogen verstauche- - das ist eine unmittelbare Erfahrung. Aus der Summe solcher Erfahrungen setzt sich zunächst einmal ein Bild, ein vorläufiges Bild der Welt zusammen. Dieses Bild wird aber schon ganz schnell durch ein Kristallgitter von Vorstellungen, die kollektiv erarbeitet sind, die die Kultur und die Zivilisation darstellen, überlagert und attrahiert. D.h. der Attraktor sind jetzt zwei Arten von Wirklichkeiten: in der ersten Natur eine persönliche Erfahrung, in der zweiten Natur die schon erzählte Welt, in der ich lebe. In der sozusagen Arno Schmidt, ja, Kant, Ovid, Montaigne, Adorno, äh-… CS: Alle Ihre Gewährsmänner. Kluge: Alle Gewährsmänner-- und das ist ’ne große Kette. Ich habe die Musik jetzt noch gar nicht genannt, die gehören alle dazu-… (lacht)-… mit denen redet man und die strukturieren bereits. CS: Die weben an der textura. Kluge: Ganz genau. Die textura, die es wirklich gibt als soziales Netz des Schon- Erzählten ist sozusagen ein Attraktor, ein gravitativer Anziehungspunkt oder Punkt zur Vielfalt, an die sich wiederum das, was ich sinnlich sehe im Moment, ankristallisiert, sodass ich sozusagen eigentlich gar nicht mehr einen Park sehe, sondern ich sehe einen Park, über den schon erzählt wurde. Ein Park, in dem dem Begriffe nach Morde stattfinden können, aber der auch ein Paradies sein kann. Wenn Sie alle Parks der Welt nehmen, das wär’ der Begriff des Parks, dann hätte der eine Bedeutung, der den konkreten Park für mich einfärbt. So wie Adorno ein Rumpsteak à la Voltaire bestellt, weil auf der Speisekarte das das Einzige ist, was er als befreundetes Gelände empfindet, ja-… CS: (lacht) Ja, wunderbares Beispiel-… Kluge: Und man kann diese zweite Natur, man soll sie auch gar nicht verleugnen. Man soll in der Lage sein zu unterscheiden, ob man jetzt gerade in der zweiten Natur denkt oder in der ersten Natur wahrnimmt. 364 3 Telefongespräch über positive Dämonen CS: Und in welcher man dann handelt. Kluge: Und in welcher man dann handelt. Da müssen Sie dann sehr genau vernetzten. Da können Sie eigentlich die zweite Natur des Schon-Erzählten nur narrativ für Mitteilung verwenden. Sie können nicht auf der Bühne Schillers ein Leben führen. Nicht mal in der Politik, die ja viel Theatermäßiges hat. Sondern da müssen Sie immer in der ersten Natur bleiben und Bodenhaftung in der ersten Natur-… also Sinnlichkeit und den Menschen in direkter, unmittelbarer Erfahrung-… müssen Sie verharren. Da aber das Meiste, was sie tun, dennoch symbolisch geführt wird, also durch Vorstellung begleitet ist, haben Sie sozusagen als Koordinator, als Navigationselement immer das bereits schon Erzählte, das Netz der Vertrauensleute um sich herum. Es klingt komplizierter als es im konkreten Moment ist, denn so viel muss man gar nicht denken, wenn man in den Bundestag zur Tür hereintritt. Also z. B. dieser einfache Satz: So wie man zur Tür herausgeht, muss man auch wieder hereinkommen. Das ist ein politischer Satz. Den könnten Sie jetzt abwägen und Sie würden im Grunde dort in eine unendliche Erzählung kommen, die so beendet wird durch die nächste Szene des realen Handelns. Und da würden Sie wie ein Irrer in der vorherigen Szene weitererzählen. Was man aber machen könnte und was eine interessante ästhetische Figur wäre, das wär’ ein schöner Witz, mit Helge Schneider für ich Ihnen das vor-… CS: (lacht) Das schalte ich ein. Kluge: Der geht durch ’ne Tür, kommt in ’ne neue Gesellschaft und erzählt in der alten Gesellschaft weiter. CS: (lacht) Ich freu mich drauf. Sagen Sie, wie lange arbeiten Sie eigentlich mittlerweile mit Helge Schneider zusammen? Kluge: Vielleicht drei Jahre. CS: Ach nur? Nun kenne ich Sie nicht sehr lang, sagen wir vier Jahre vielleicht. Das erste, was ich gelesen habe, waren die Lebensläufe …-und mittlerweile glaube ich, habe ich einen groben Überblick, der mich zur folgenden Frage bringt: Es war schon immer Humor da, ja, vor allem mit dem professionellen Nichtprofessionalismus usw., aber mit Helge Schneider oder auch mit Georg Schramm, kurz: mit den Fake-Interviews, hat für mich alles noch einmal an Leichtigkeit gewonnen. Würden Sie das auch sagen, dass es noch mal leichter geworden ist, noch mal mehr „fröhliche Wissenschaft“? Kluge: Aber wenn Sie Alfred Edel nehmen in Abschied von gestern-… CS: Sie haben Recht-… Kluge: …-dann ist das-… CS: Willi Tobler! 3 Telefongespräch über positive Dämonen 365 Kluge: Und wenn Sie nehmen, meine Stadt Halberstadt, da gibt es an der Theke eines Lokals dieselben Verhältnisse wie in Mühlheim. Und auch Adorno kennt das aus Sachsenhausen. D.h. jede plebejische Kultur hat das Bedürfnis für die Fallhöhe vom Ernsten zur Komik, zwischen Situation und deplatzierter Situation, gewissermaßen Fehler zu konstruieren. Also wenn einer dauernd richtig redet, würde mich das nach ’ner Weile stören. Das schönste Gold Kluge: Darf ich Sie noch auf zwei Sachen aufmerksam machen? CS: Aber ja, gerne. Kluge: Also in dem neuen Buch, Wer ein Wort des Trostes spricht ist, ist ein Verräter, das kennen Sie doch? CS: Genau, die Fortsetzung eines bekannten Zitats von Bazon Brock. Kluge: So ist es. Und da gibt’s eine Geschichte über einen SS-Obergruppenführer. Wenn Sie sich den mal suchen-… CS: …-Hmh, mach ich. Kluge: Das ist schon ein sehr verbrecherischer Mensch. Von dem Bach-Zelewski. Und der hat sich im Winter ’ 41 -… oder ’ 42 , das weiß ich nicht ganz genau, extrem verausgabt an der Front, aber auch in Erschießungen mit Sonderkommandos. Und jetzt kriegt er einen wütenden Ausbruch seiner Hämorrhoiden, Entzündung und alles. Man muss ihm den Kot mit der Hand ausräumen aus dem Darm, denn der Darmmuskel, wenn er operiert wird, ist unglaublich unruhig. Den können Sie überhaupt nie zur Ruhe kriegen und deshalb heilt der auch nicht. Also Sie haben jetzt bei ihm sozusagen, was bei Immanuel Kant das Gewissen ist und auf das Menschen nicht verzichten können, das haben Sie auch, wenn Sie’s nicht haben wollen. Und das ist ihm an die Stelle gerutscht, wo die früheste kindliche Erziehung angreift und die erste moralische Unmöglichkeit dem Kind zumutet-… Es soll nämlich das Schönste, was es macht, denn es soll ja kacken, und es ist das Schönste Gold, was es da macht, es ist stolz darauf, es ist ein Stück von mir-… CS: Das erste eigene Werk, ja-… Kluge: (lacht) Ja. Und dies alles aber zurückhaltend. Und dieser widersprüchliche Grundauftrag dieses Schließmuskels, ja, der ist das letzte Residuum von Gewissen, das hier bei dem Obergruppenführer pocht. Ich wollte das nur sagen, um zu zeigen, der Gedanke bleibt vollkommen kantianisch: Dem Menschen ist eingefleischt, dass er das Gute gar nicht erst vermeiden kann. CS: Das macht Hoffnung, nach wie vor, und gibt Lust auf das Gelingen. 366 3 Telefongespräch über positive Dämonen Kluge: Das gibt Lust auf das Gelingen und das ist sapere audem und all sowas im positivsten Sinne. Und dieser ganze Prozess der inhärenten Moralität des Menschengeschlechts, das ist selbst für diesen SS-Führer belastbar und nachweisbar. Und das ist für diese Kampffront der Kritische Theorie-…-- die heißt im Jahr 1932 : Kann man das Dritte Reich verhindern? Wie kann ich einen Nationalsozialisten umdrehen? Und dann taugt die Philosophie was, dann taugt die Narration was, dann taugt die Physik was, egal was Sie anwenden. CS: Und Sie befragen ja alle, wenn man Ihr Interviewnetzwerk anguckt-… Kluge: Wie hätte man das machen können im Jahre ‚ 32 , als das noch ging? -- Das ist die Grundfrage und da ist jetzt Horkheimer vorne weg, da ist er der Schiffsführer, das gilt es zu erforschen. Die Frage, ob Strawinski besser ist als Schönberg, ist eine vollkommen sekundäre Frage, weil sie nur Kritiker interessiert und an der Substanz einer Gesellschaft ganz wenig ändert. Beide haben keine Mehrheiten-… es ist völlig egal, was die Gesellschaft da denkt. Da hat Adorno noch großes Pathos, das zu unterscheiden. Das ist nicht egal, aber ob ich einen Nationalsozialisten umdrehen könnte im Ernstfall, dies vielleicht noch massenhaft könnte, und dann als Produzent einer Gesellschaft teilnehme-- das ist eine entscheidende Frage. Und wenn ich sie nicht ‚ 32 lösen kann, was ich nicht glaube, das man’s hätte machen können, dann muss man sie während der Bauernkriege stellen-… CS: …-früher stellen-… Kluge: …-früher stellen. Und da all diese Prozesse in uns weiter anhalten-…-- das ist jetzt Benjamin: Kein historischer Prozess ist, bevor die Menschlichkeit nicht hergestellt ist, abgeschlossen. CS: Alles läuft, und wenn auch unterirdisch, weiter. Kluge: Unterirdisch, bis es erlöst ist. CS: Und so auch die Emanzipation des Menschen. Kluge: Aber absolut. Und er wird darauf beharren. Und das steht nicht nur bei Benjamin, das steht bei Kant: Das werden sich Menschen nicht ausreden lassen. Jeder Tyrann, der ein Gesetz erlässt, das zu verbieten- - dieses Gesetz ist hinfällig, da kann er gar nicht fassen-… das ist nichtig. (lacht) Sie müssen mal da nachgucken, was er da sagt. Da regt sich Kant richtig auf, wie unmöglich es ist, dem Menschen den Willen zur Emanzipation austreiben zu wollen. Es ist nicht böse, sondern auf etwas Unmögliches gerichtet! Es ist ausgeschlossen, dass das je gelingen kann. Das find’ ich interessant, das benutzt er als sei es ein Stück Natur. Und in Wirklichkeit ist es das ja. CS: Das stimmt, denn Natur bricht sich ja Bahn, selbst durch den Asphalt. 3 Telefongespräch über positive Dämonen 367 Kluge: Es ist evolative Natur. Wir wären gegen alle Wahrscheinlichkeiten als Menschengeschlecht nicht übrig, sagt er- - hätte er jetzt Darwin noch gekannt! - -, wären wir nicht präformiert dazu, dass wir uns von dem Pfad, vernünftige Menschen zu werden und uns zu vertragen, wenn wir da ablassen. Wir sind zur Kooperation vorbereitet. Und das ist ein wunderbarer Entwurf, wissen Sie. Das ist mir vollkommen egal, ob der stimmt oder nicht, der ist bereits dichterisches Paradies. Da merken Sie, dass das Poetische und das Denken-…- - innerlich, in einer verlängerten Linie sind sie identisch --… also auf dem Wort „poetisch“ würden sie sich verbinden lassen. Auf dem Wort „Literatur“, „Dichtkunst“, „Musik“, „Oper“ und „Philosophie“ würden sie sich nicht verbinden. Der Kant würde in einem Opernhaus kopfschüttelnd dasitzen und sagen, das ist ja eine Begleiterscheinung der Vernunft, dass sie irgendwie diesen Unsinn braucht, sie braucht den Spieltisch-… CS: Der würde rausgehen und sich fragen: Ich verstehe nicht, warum die singen. Kluge: Das würde er vielleicht noch hinnehmen, es würde ihm erklärt. Weil er sagt, was man nicht sagen kann, das muss man singen. Das würde er als Entschuldigung nehmen und würde sagen: Es ist gut, dann merke ich doch wenigstens: Vernünftige Leute würden sprechen; wenn sie anfangen zu singen, deklarieren sie das, was sie tun, als nicht ganz wirklich, denn wer singt das schon? Aber er würde die Handlung z. B. immer auf den Prüfstand stellen und sagen, dieses dauerhafte Vorzeigen von unmoralischen Handlungen auf der Bühne, das kann doch nicht angehen. CS: Der würde sich umgucken in der Postmoderne. Kluge: Ja, der würde sich in der Postmoderne schwer zu orientieren haben. Beide: (lachen) Kluge: Er bräuchte jetzt sozusagen einen Nachhilfeunterricht von Sigmund Freud, dass man ihm sagt: Also wenn du die Vernunft aktiv und positiv forderst, wird sie niemals eintreten. Denn du wirst niemals zum ganzen Menschen sprechen, sondern du würdest das Ich auf dem dahingaloppierenden Pferd vorfinden und dem Reiter gehorcht das Pferd nicht, vergiss doch in der Philosophie das Pferd nicht! Entwickle eine Philosophie des Pferdes, des menschlichen Unterbaus! - - Das würde der verstehen nach ’ner Weile, der würde das auf den Prüfstand stellen und würde sozusagen das nächste Mal amüsiert in Göttingen mit Lichtenberg gemeinsam ein Stück ansehen, in dem ganze Akte lang das durch den Kakao gezogen wird. Ich darf, wenn ich mit einem anderen Menschen spreche, immer nur mit dem Ganzen des anderen Menschen sprechen-- würde er verstehen. Und dieses Ganze herzustellen, kostet arbeitet. 368 3 Telefongespräch über positive Dämonen CS: Ich wollte vielleicht-…/ Kluge: Der andere-… Kluge: Ja? CS: Bitte, bitte fahren Sie fort-… Kluge: Nein, nein, ich folge jetzt mal Ihren Fragen ein bisschen. Ich hab’ jetzt genug philosophiert. CS: Nein, nein,- … das ist ja das Leuchtfeuer, das Sie schon im ersten Satz angezündet haben. Aber gut: In welchem Maße kann mit dem, was die Werkstatt der Autoren macht, in welchem Maße kann die Unterscheidungsvermögen und somit Mündigkeit ausbilden? Das ist jetzt sehr platt gefragt, ich weiß es-… Kluge: Nein, nichts ist platt. Es ist ja ’ne klare Frage. Also meinen Sie jetzt Nachrichten im Fernsehen oder wie? CS: Grundsätzlicher: Ich meine erzählende Nachrichten. Also grob: Das, was Sie machen. Kluge: Ach so. Also sagen wir mal so: Informationen, so wie die Tagesschau im Fernsehen etwas mitteilt, ja, ist nicht besonders variabel. Denn Sie verletzen die Vereinbarung mit dem Zuschauer, wenn Sie da plötzlich Nachricht mit Musik machen würden. Können Sie nicht machen. Heute ist ‚was ganz Wichtiges passiert, jetzt komm ’n Orchester und jetzt wird die Nachricht mit Musik erzählt.- - Das kann Homer machen, das kann man im Theater machen, aber nicht im Fernsehen. Jetzt erzähle ich ja anders. Ich erzähle ja, indem ich dauernd gegen diese Art einfacher Informierung verstoße. Wenn ich also das Wort „Nachricht“ sage, dann ist da ein Beiklang von Clausewitz, dessen Buch Vom Kriege anfängt mit dem Wort: „Nachricht“. Wenn ich von „Nachricht“ spreche, würde ich, jetzt adornisch gewendet, immer sagen, eine Nachricht hat immer einen Boten, immer einen Empfänger und immer einen Absender. Es sind also schon drei Leute tätig, wenn ich vom Wort „Nachricht“ spreche. CS: Es ist mehr als die Sender-Empfänger-Rhetorik. Kluge: Es ist mehr als Sender-- Empfänger. Und wenn ich jetzt Stille Post spiele als Kind, wo Sie sich das zuflüstern, und ’ne Nachricht 20 Mal kreisen lasse, dann hat sie sich verändert. Und das, was diese Nachricht leicht verändert, ist etwas ganz Menschliches, etwas sehr Wichtiges, was übrigens schwer einzufangen ist. Und ich wüsste, wenn ich diese Vereinbarung messen kann und verfolge, die bei Stiller Post entsteht, also durch die Transkribierung einer Information entsteht, dann wüsste ich, was die wirklich denken, was sie wirklich gemein haben. Das kann ich übrigens, wenn ich die Literatur eines Jahres oder Jahrzehnts oder Jahrhunderts studiere, dann kann ich diese Strömung sehen und über das Jahrhundert 3 Telefongespräch über positive Dämonen 369 mehr erfahren als durch Faktensammlungen, die es über das Jahrhundert gibt. Das ist eine sehr starke Potenz, die nicht ornamentaler Natur ist, sondern etwas herstellt und das ist wiederum kein Spiegel, sondern ein Zwischenbereich, eine Plattform, in der sich die Tatsachen und die Deutungen, die Narrationen mischen. In Narrationen stecken Wünsche und Wahrnehmungen. Und in den Tatsachen steckt: Vorgeschichte. Eine Tatsache ist ja kein Mensch mehr. Aber sie ist von Menschen gemacht und in der Vorgeschichte, die die Tatsache bereitet hat, steckt dieses subjektiv-objektive Verhältnis. Und diese Vorgeschichte kann eigentlich am besten umgehen mit dem, was ich jetzt auf der narrativen Ebene genannt hatte, den Wünschen und Wahrnehmungen, die sich miteinander verbunden haben. Und wenn ich diese Korrespondenz, die ja gewissermaßen nicht direkt subjektiv-objektiv, sondern über einen Umweg, nämlich die Vorgeschichte, subjektiv-objektiv ist, das ist die Wahrnehmungsform, in der ich eine menschliche Haltung, eine Urteilskraft, eine vernünftige Haltung, ein Handeln nach Vernunft usw. zustandebringe. Also im Produktionsprozess der Aufklärung, der ja sehr komplex ist und sehr schwer zu beschreiben ist, gehen die Sprünge gewissermaßen so, dass ich durch Konfrontation mit Tatsachen, indem ich also meine Wahrnehmungen und Wünsche in Not bringe, also meine Erzählung überprüfe, dies an Tatsachen tue, da reiben sie sich ab. Diese Tatsachen kann ich aber nur verstehen, indem ich die Vorgeschichte der Tatsache und auch ihre Elemente studiere, und diese Elemente, die der Tatsache vorausgehen und aus denen sie zusammengesetzt ist, wiederbelebe. Und wenn Sie das fünfzig Mal hin- und herschieben, dann hat sich das eine am anderen abgerieben-- nicht kritisiert, oder „kritisiert“ in dem romantischen Sinne von Schlegel und Tieck: dass daran gearbeitet wurde; dass Unterscheidungsvermögen sich verschärft hat. Also die Massenproduktion von Unterscheidungsvermögen an den richtigen Stellen, die sich zueinander verhalten-- das ist im Grunde der Werkzeugkasten, den Sie brauchen, und der ist kein technisches Werkzeug. Und der fordert zweierlei: Erstens, dass man analytisch immer wieder die Dinge zerlegen kann. Also nehmen Sie mal die Wünsche, die werden ja erst dicht in ihrer Zuspitzung. Also kann ich die nicht beliebig zerlegen. Wenn ich die Wünsche zerlege, verschwinden Sie. Das Zweite, die sinnliche Wahrnehmung wiederum, die kann ich auch nicht beliebig zerlegen. Ich habe einem Mord zugesehen oder ich habe es nicht, ja, aber ich habe nicht ’nem halben Mord zugesehen usw. Und ich hab’ kein totes Auge gekriegt dadurch. Sie verstehen, manche Dinge können Sie nicht nach un- 370 3 Telefongespräch über positive Dämonen ten zerlegen, aber nach oben hin zuspitzen. Es kann eine Wahrnehmung geben, die ich nicht vergesse. Es kann eine Wahrnehmung geben, die ich nicht verzeihe. Ich kann eine Wahrnehmung haben, die mich glücklich macht-- da bin ich übrigens den Wünschen schon wieder ganz nahe, weil ich die Wahrnehmung nicht ohne meine Wünsche haben werde. Also ich habe keine Gedanken ohne mein Zwerchfell- - das wär’ jetzt der Witz. Ich habe keinen Gedanken ohne die Emotionen, die ich dazu hege. Und in sofern ist diese sehr nervös oszillierend zwischen Wahrnehmung und Wünschen, zwischen „subjektiv“ und „objektiv“ in mir als Menschen. Und das wäre wiederholt in der Narration. Das ist eine sehr lebhafte, schnelle Bewegung und die kann ich festhalten. Ich schreibe einen guten Text, wenn ich das festhalte. Das hat Musil tausendmal gemacht. Und wenn ich das jetzt anwende auf einen Produktionsprozess, darf ich nicht aufs Ende, auf das Ergebnis einfach stieren, sondern das muss ich akzeptieren, feststellen und gleichzeitig muss ich seinen Entstehungsprozess, in dem es beweglich war, und es ist auch veränderbar-… und diese Gedankenfigur, die ist die der Kritischen Theorie. Die klingt sehr komplex, ist aber im Einzelnen und wenn Sie es einmal gewöhnt sind, sehr einfach und konkret, weil Sie ja immer nur von etwas Genauem erzählen. Sie würden daraus keine Abstraktionen ableiten, sondern daraus wieder eine Erfahrung bilden und aus dieser Erfahrung können Sie dann Abstraktionen bilden.-- Das macht man nicht mit dem Kopf, was ich hier erzähle, sondern das macht sich selbst, weil Sie’s gewöhnt sind. CS: Man darf sich nicht den Kopf zerbrechen. 1 Kluge: Es ist so wie Fahrrad fahren. Wenn Sie theoretisch erläutern, wie Fahrradfahren geht, können Sie nicht Fahrrad fahren. Alles, was mit Gleichgewichtsgefüge zu tun hat, mit Gewohnheit zu tun hat, mit Machen zu tun hat usw., das geht intuitiv vor sich, ohne besonders ahnungs--… CS: Es ist ja kein Konstrukt. Kluge: Es ist kein Konstrukt. Es ist aber etwas, womit wir Menschen 90 Prozent unserer tagtäglichen Praxis beschreiben. Geerdete Konstellationen CS: Ich muss gerade noch an das Erleben denken in Paris, in der Cinémathèque française. Wir hatten damals nicht die Zeit darüber zu sprechen, und es würde mich freuen, wenn wir das hier nachholen könnten. Das war 1 Siehe Abb. 1 . 3 Telefongespräch über positive Dämonen 371 ja durchaus etwas Besonderes, dass, ich glaube, sechs Wochen lang Filme von Ihnen gezeigt wurden. Kurze, lange, Interviews, noch Unveröffentlichtes usw. Besonders aber hat mich die Videoinstallation Mehrfachbilder für 5 Projektoren, die Sie ja Hans Richter widmen-… Kluge: Das freut mich. CS: …-und die ja vor ein paar Jahren im Haus der Kunst in München, wenn ich mich recht erinnere, uraufgeführt worden ist-… Kluge: Ja. CS: …- und nun gerade in der Cinémathèque den Eröffnungsfilm gab, und das fasziniert mich sehr. Auch, weil ich Sie zuvor nicht als Videokünstler wahrgenommen habe. Zuhause am Bildschirm natürlich, alleine was Sie mit der Schrift fabrizieren, aber nicht in einem begehbaren Räumen wie eine Pipilotti Rist z. B., ja… Kluge: Ja-… CS: Und bei den Mehrfachbildern ist es, als betrete man so ein lebendiges Kaleidoskop, nur dass es sich nicht immer symmetrisch verhält. Expanded Cinema, räumlicher Film. Kluge: Ja, ja-… CS: Und auch wenn so ein Raum vier Ecken hat, ist das alles doch ausgesprochen kugelig, da hab ich-… Kluge: (lacht) CS: …- an allen vier Leinwänden, wenn das richtig aufgeführt wird, Sie erklären das ja, nicht in jeder Räumlichkeit konnten Sie das ja so verwirklichen, wie es gedacht ist-… Kluge: Nein, nein, man muss an der Decke, an den vier Wänden und auf dem Fußboden-… CS: Genau, an allen vier Leinwänden und auch an der Decke blitzen Bilder auf, die wiederum in einzelnen Collagen nebeneinander und hintereinander montiert sind-… Und das Publikum auf dem Boden ist wie eine weitere Collage, so empfinde ich das, und-… Kluge: So ist es-… CS: …-die lebendigste von allen, so bunt und vielfältig wie die zuckenden Bilder an der Wand und ebenso in Bewegung. Nur dass die Einzelmenschen vielleicht noch zufälliger zusammengekommen sind als die Einzelbilder der Projektionen. Und dann sitzen Sie auch noch dort, auf einer Ebene mit dem Publikum, und lesen vor. So war das ja zumindest in München. Durch Ihre Texte und Ihre vertrauenserregende Stimme, die ich übrigens immer mithöre, wenn ich Ihre Texte lese, und durch Ihre intonierten Texte treten in diesem Saal Konstellationen, Korrespondenzen auf-- zwischen Ihnen und den Bildern, 372 3 Telefongespräch über positive Dämonen die aus der Geschichte der Menschheit erzählen, und diese multiplizieren sich noch einmal um ein Vielfaches mit den Gedanken und mit den Erfahrungen der Rezipienten um Sie herum. Und dieser zeitaufsprengende, ja, Erfahrungsaustausch gewissermaßen, der da geschieht, eben nicht diese eingleisige Sender-Empfänger-Rhetorik, von der wir es vorhin hatten. Und es ist auch zu kurz gegriffen, die ganze Tragweite nicht erfasst, wenn man sagt, dass ein Austausch zwischen Redner und Auditorium stattfindet. Also das, ja, wollte ich nur loswerden. Kluge: Also das sehen Sie absolut richtig, aber da können Sie natürlich auch von konstellativer Dramaturgie sprechen. D.h. also, es gibt ja neun Planeten, und die haben wieder zahlreiche Monde, und wenn Sie die ganzen kleinen Weltkörper noch zuzählen und die Kometen usw., dann ist das schon ’n ganz schöner Haufen. Dies ist für mich im Grunde Film in Wirklichkeit. Dafür ist das Medium eigentlich geeignet. CS: An diesen ja symbiotischen Sinneseindruck angeschlossen hätte ich noch ein, zwei wahrnehmungsästhetische Fragen. Zunächst geht es mir um den Rezipienten als Künstler. Wird der Rezipient an einem gewissen Punkt und unter gewissen Voraussetzungen ein Künstler oder ist es eigentlich egal, ob man ihn nun einen Mitkünstler nennt oder nicht, womöglich würde er sich ja gar abgeschreckt fühlen durch eine solche Verantwortung, eine solch aktive Rolle? Kluge: Also sagen wir mal so: Kunstverstand hat jeder Mensch. CS: Das ist eine Respekthaltung ihm gegenüber. Kluge: Ja. Und wenn Sie nehmen, was ein Körper, ein Geist und ein Mensch macht, was ein Liebespaar macht oder so, ja, dann kann ich schon finden, ist er ein Künstler seiner selbst. Das ist schon eine schöne Perfomance, ein Mensch. Insofern würde ich das Wort „Künstler“ eigentlich immer nur als Attribut verwenden. Auch ich bin kein Künstler. Ich bin ja Rechtsanwalt u. a., und als Filmemacher bin ich in geringem Maße als Künstler tätig, das könnten Sie auch Organisator nennen, ja. Öffentlichkeitsmacher kann ich mich nennen-… CS: Das auf jeden Fall-… Kluge: Aber wie gesagt, ich glaube nicht, dass alle Menschen, die da im Zuschauerraum sitzen, das Motiv haben, jetzt künstlerisch tätig zu werden, weil es ja sehr viel Arbeit kostet. Und insofern ist das Herstellen von Konzentraten derzeit ein bisschen spezialistisch. Und ich würde nicht vertreten wie Beuys, das hab ich früher mal gemacht: „Jeder ist ’n Künstler“. Ich würde allerdings auch die Eigenschaften des Künstlers wiederum fragmentieren wollen. Ich sagte vorhin „Navigation“: Wer steuert das Schiff? Wer gibt den Schiffskurs an? -- Das ist das Eine. Das Zweite ist: 3 Telefongespräch über positive Dämonen 373 Wer kann steuern, wer kann ein Schiff bewegen? Wer kann ein Schiff bauen? -- Das ist ja eine ganz andere Art von Kunst. Wer ist der Kapitän, der die Ziele setzt? Wer ist ein Künstler im Segelreffen bei Sturm oder bei Nicht-Sturm, wenn ein schöner Wind kommt, es aufzuziehen? Das sind alles verschiedene Künste und ich bin jetzt bloß bei einem Schiff. Wenn ich mich jetzt beim Ackerbau oder im Gartenbau bewege, können Sie ganz verschiedene Arten von künstlerischen Eigenschaften, von Feinsteuerungen unterscheiden. Und diese Feinsteuerung, die haben eigentlich die Mehrzahl der Menschen-- ob sie es nun nutzen oder nicht. CS: Die Bilder im Kopf kommen von allein, dazu muss ich nicht Künstler sein. Kluge: Nein. Ich könnte es ja machen, indem ich das Wort „künstlerisch“ auf die Feinsteuerung anwende. Das könnte ich ja machen, aber das Bild des beruflichen Künstlers hätte ich dabei nicht. Wenn Sie sagen, ich bin Unternehmer auf künstlerischem Gebiet, dann würde ich das besser finden. CS: Es ist auch geerdeter. Kluge: Dann bin ich geerdeter. Also ich finde, dass man gerade als Künstler keine Allüren haben darf. CS: Das ist ja auch das Zusammenbringen, also gegen den Anti-Intellektualismus auf der einen Seite und gegen, wie soll ich sagen, Ikonenmaniaque auf der anderen Seite. Kluge: Ja. Und nehmen Sie zum Beispiel mal Architekten, die etwas bauen, worin Menschen wohnen können und leben können. Das ist ja eine künstlerische Tätigkeit par excellence. Und da sagte neulich der Demand 2 in so einer Diskussion, mit Recht: Man könnte doch nicht nach den Gesetzen, nach denen ein Künstler ein Ölgemälde malt, Wohnungen bauen, in denen man dann gar nicht leben kann. [Telefon klingelt: Ja? Gut, ich hol mir’s raus-… Mach’ ich in Ruhe-… Ja, ja, genau-… Ich bleibe bei Ihren-… Sie haben mich davon überzeugt.-… Bis dann! ] Hallo, bin wieder da. Ist Ihre Frage beantwortet? CS: Ja. Kluge: Antiprofessionell kann man Künstler sein. CS: Welche Bedeutung hat es dann eigentlich für Sie, wenn sich neben dem gängigen Rezipienten (der Zuschauer Ihrer Filme, der Leser Ihrer Bücher, der Hörer Ihrer Hörbücher) auch Künstler und Wissenschaftler mit Ihrem Werk auseinandersetzen, also mit dem Material, dass Sie als Substrat zur Verfügung stellen, etwas Neues formen oder die Schraube weiterdrehen-- sei es eine Theaterinszenierung (ich denke da an Kevin Rittberger), ein 2 Gemeint ist der Künstler Thomas Demand. 374 3 Telefongespräch über positive Dämonen musikalisches Projekt (wie von Andreas Ammer oder Karl Bruckmaier) oder an die nicht zu knappe Sekundärliteratur über Ihr filmisches wie literarisches Werk? Und in diesem Zusammenhang interessiert mich noch etwas Besonderes, nämlich das Phänomen, dass der Ursprungskünstler-- oder ein Unternehmer auf künstlerischem Gebiet-- das eigene Kunstwerk in adaptiver Umformung durch einen zweiten Künstler verfremdet plötzlich als Rezipient erfährt. Wobei man natürlich sagen muss: als Rezipient mit besonderer Autorität. Also was mich nun weniger interessiert, ob das nun ein Unbehagen ist, durch den Blick des Anderen Objekt zu werden, sondern-… Kluge: Nein, nein-… CS: …- sondern dieser fremde Blick auf das eigene Bekannte, der es ja verändert, vor allem in Hinsicht der ästhetischen Erfahrung und Selbsterfahrung. Kluge: Also ich empfinde so etwas als extrem belebend. Ich bin ja nicht in dem Moment, in dem ich so etwas gemacht habe, sondern zu einem späteren Moment sehe ich plötzlich, das wer anderes etwas anderes daraus macht oder hinzufügt, es kommentiert oder verändert. Und dann ist es manchmal so, dass mir etwas neu erscheint, ja, also auf wohltuende Weise neu. Also ich würde sehr gerne anknüpfen und andocken an das, was andere tun, mache das auch häufig. Also dass ich meinetwegen eine Geschichte von Heiner Müller schreibe, die er ja jetzt nach seinem Tod nicht mehr schreiben kann, aber ich kann sie schreiben-… CS: Und ihn lebendig halten. Kluge: …- ja. Oder Fassbinder. Ich behaupte, dass ich das kann. Ich kann den Fassbinder so nachahmen, mich in ihn so einfühlen, dass er sicher nicht beleidigt wäre, wenn er das sehen würde. Insofern finde ich dieses Fortspinnen, was ja bei Ovid z. B. extrem angelegt ist; die Metamorphosen spinnen etwas fort, was schon erzählt wurde. Und jetzt verknüpft er das mit anderen Erzählungen, die ebenfalls schon erzählt wurden. Sodass wir eigentlich in der Moderne gar nicht schöpferisch tätig sind als Pioniere, die Neuland beackern. So wie ich sagen würde, dass selbst Joyce, der so stark eingreift in die Sprache, dass er wie ein Neuland wirkt- - aber auch bei ihm ist ja der Homer anwesend. Und insofern geht die Moderne eigentlich auf einer sekundären Ebene des Schon-Erzählten weiter. Und dieses Schon-Erzählte kann aufsteigen und absteigen, kann also Bodenhaftung erzeugen und mehr Übersicht erzeugen, in den Orbit vorstoßen. Also Vernetzung, das ist eigentlich der Kerngedanke. Und Vernetzung bedeutet immer, eine Superstruktur zu etwas, was es schon gibt. Insofern 3 Telefongespräch über positive Dämonen 375 ist die Moderne gewissermaßen etwas darüber hinaus. Man kann auch zurückgehen und etwas von Heraklit aufgreifen, also Zeiten verbinden. CS: Und Zeiten haben Sie ja auch zuletzt wieder verbunden mit Die Entsprechung einer Oase, also dem E-Book bei mikrotext. Also einem Verlag, wenn ich richtig weiß, dem ersten deutschen reinen E-Book-Verlag-… Kluge: Ja. CS: …-Und in Ihrer Erzählung kommt auch ein lateinischer Satz vor, ich habe ihn jetzt zwar nicht parat-… aber Sie schaffen es, das alte Latein ins E- Book zu überführen-… Kluge: Ja. CS: …-und genau diesen Text weiterspannen zu lassen. Kluge: Ja. Und da wär’ ich umgekehrt natürlich ganz stolz, wenn irgendein anderer, ein Franzose z. B., von mir etwas nimmt und in seinen ganz anderen Raum stellt. Und beim Angelsächsischen würde es mich noch mehr entzücken. Es ist die reichste Sprache. Es ist die Sprache von Joyce, es ist die von Shakespeare, von Oxford Dictionary- … Das Englische ist viel reicher im Grunde als eine kontinentale Sprache. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Und es kann flacher sein als jede mir bekannte Kontinentalsprache und es kann substanzreicher, subtiler und verästelter sein. Dass es 30 Worte für etwas gibt, wo wir nur fünf haben. Ohne Rückgriff auf Altenglisch. Und deswegen finde ich, das mag sein, dass der Kommunikationsraum so groß ist, dass die Sprache dann auch etwas davon angenommen hat. Ich kann nicht begründen warum, aber ich empfinde es so-- und da etwas gespiegelt zu kriegen in der englischen Sprache, finde ich immer, also richtet mich sehr auf. Und das macht in mir sofort Lust, da an einer Stelle, die mich wundert, weiterzuschreiben. Also „Die Lücke, die der Teufel lässt“ ist ein langes Wort. „The Devil’s Blind Spot“ ist sofort verständlich und viel prägnanter. 376 3 Telefongespräch über positive Dämonen Abb. 14: Im Bildertaumel der Gefühle. Kluge-Lexikon Schlüsselbegriffe und -bilder im Werk Alexander Kluges Vorbemerkungen Das nun folgende „Kluge-Lexikon“ beinhaltet in alphabetischer Reihenfolge wiederkehrende Begriffe, Bilder (mit „#“ gekennzeichnet) und Metaphern aus dem Werk Alexander Kluges, die es erstens in ihrer Präsenz feststellt, zweitens im Einzelnen zu beleuchten und drittens in ihren gegenseitigen Verweisen und Abhängigkeiten wiederzugeben versucht. Insofern geht es also durchaus umfassend um den „ganzen“ Kluge, jedoch im nicht-abgeschlossenen Sinn. Übrigens neigt dieser selbst hin und wieder zu einer Art künstlerischem Glossar, etwa in den Schriftversionen von Facts & Fakes oder in Das Bohren harter Bretter, nennt es gern „annotierter Index“. Im Grunde ordnet sich Kluge aber auch einer solchen Textform und ihren durch Definitionen und Konventionen entstandenen Regeln niemals unter, sondern schreibt und bildet ab wie eh und je: durch bewegliche Konstellationen, nicht durch feste Definitionen. Nichtsdestotrotz stellt er dadurch bestimmte Ausdrücke in den Fokus und andere wiederum nicht. Auch hier wurde sorgfältig abgewogen, was und in welchem Maße es den Einzug in die vorliegende Liste findet. Die Existenz eines Motivlexikons, eine durch Bildersprache erweiterte Form eines Begrifflexikons, das mit der Ausweisung „Lexikon“ scheinbar ein System erkennen und aufschlüsseln will, bezogen auf einen augenscheinlich so unsystemisch (nicht: unsystematisch) arbeitenden Schriftsteller und Filmemacher, Historiker und Kulturtheoretiker wie Alexander Kluge, muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, etwas eigentlich Dynamisches durch ein aufgesetztes System zu bändigen. Doch unsystemisch heißt nicht inkonsistent. Mit sich zum klugeschen Werk deshalb eher unakademisch-experimentell, nicht aber assimilierend verhaltender Multitextualität und Multimedialität, was auf einer Ebene dem heuristischen Verfahren dient, soll einem Systemzwang auf einer weiteren Ebene spielerisch entgegengearbeitet werden. Von Vollständigkeit kann derweil aus Prinzip keine Rede sein. Dieses Lexikon versteht sich als offen zur Veränderung und zum Weitertexten durch andere. Letztlich bleibt zu hoffen, dass der eigentliche Beweggrund für das Anlegen der nun folgenden Kartierung erkannt wird: schwerelose Orientierungshilfe. 380 Kluge-Lexikon # Abb. 15 Zusammenhang/ Vernetzung Kluge-Lexikon 381 Antirealismus des Gefühls Menschlicher Urtrieb der gefühlsintensiven Reaktion auf Störungen der eigenen Interessen, Bedürfnisse und Wünsche. Dieser Widerstand aus dem Inneren heraus aktiviert sich nicht nur bei existenzieller Bedrohung (Ich will nicht sterben), sondern beginnt bereits im Alltäglichen (Ich will nicht aufessen) und besitzt politisches Potenzial: „Enthalten Akte der Exekutive oder Umweltveränderungen grobe Verletzungen von Lebensinteressen, so entsteht ein Intensitätsgrad an Abwehr, der ein alltägliches Verhältnis zu einem politischen macht.“ 1 Kann sich dieser Abwehrmechanismus nicht materialisieren und nicht öffentlich ausdrücken, schlägt das Politische in Unpolitisches, in Verdrängung und Abstraktion um. 2 Das „Anti“ richtet sich also immer konkret gegen die Realität, die es nicht gut mit mir meint und bekämpft diese direkt (politisch) oder indirekt (phantastisch). Deshalb basales Phänomen für Kluges Entwurf einer antagonistischen (d. h. dialektischen) Realität. Optativ Arbeit Die nicht entfremdete Arbeit ist eine „von allen Gesellschaftsnormen unabhängige Existenzbedingung des Menschen“. 3 Neben dem Privaten bzw. Intimen elementarer menschlicher Lebensbereich, der allerdings keinen Einzug in die Sphäre der repräsentativen Öffentlichkeit erhält. Entsprechend arbeitet Kluge theoretisch sowie praktisch an der Herstellung einer proletarischen Öffentlichkeit bzw. Gegenöffentlichkeit. Im Autorenduo mit Oskar Negt Schriften zu einer Kritik der politischen Ökonomie der Arbeitskraft, zentral: Öffentlichkeit und Erfahrung. # Mein Nam’ ist Milchsack Nummer IV Ich saufe Schmieröl, du saufst Bier Ich fresse Kohlen du frißt Brot Du lebst noch nicht, ich bin noch tot Ich mache täglich meine Tour Ich war vor dir hier an der Ruhr Bist du’s nicht mehr, bin ich’s noch lang Ich kenne dich an deinem Gang. 4 Zum Unterschied von „lebendiger“ und „toter Arbeit“: Bedingen einander wechselseitig. Die lebendige arbeitet sich an der toten ab, die selbst lebendige war. Werdendes trifft auf Gewordenes. Alles, was uns nicht als solche und nicht als Natur gegenübertritt, sondern als durch Arbeit Hergestelltes (ein Gebäude, eine Institution, ein Smartphone, 1 UM, MP, S. 757 . 2 Vgl.: ebd. 3 Kluge/ Negt zitieren Marx (Das Kapital, Bd. I, Berlin 1966 , S. 57 ): GE, S. 108 . 4 Aus: Brecht, Bertolt: „Song des Krans Milchsack IV“, zit. n. Kluge/ Negt: GE, S. 98 . 382 Kluge-Lexikon eine Software), d. h. seine menschlichen Produktionsspuren verbirgt, bezeichnet man als tote Arbeit. Lebendige Arbeit existiert immer nur als ein Werdendes, also im Prozess der Produktion, kurz: die menschliche Produktivkraft. Assoziation Gegenmodell zu Versuchen logischer Welterklärung: „I am anti-Wittgenstein. I do not believe in logic, I believe in the power of- associations.- […] They are full of illusion, temperament and music. This world of associations has its own logic.“ 5 Elementares Vermögen des Bewusstseins. Montage Aufklärung Prozesshaft, janusköpfig; kantisch mit Mündigkeit und kritischer Selbstreflexion („Selbstaufklärung“ 6 ) verknüpft. Heißluftballon Autor / Autorenkino Abb. 16 Kluge legt Wert darauf, nicht als Künstler und nicht als Philosoph etikettiert zu werden, auch gegen Zuschreibungen wie Filmemacher oder Schriftsteller wehrt 5 So Kluge in: Koutsourakis, Angelos (University of Sussex): „Brecht Today: Interview with Alexander Kluge“, in Film-Philosophy vom 15 . 01. 2011 , S. 223 . 6 UM, MP, S. 754 . Kluge-Lexikon 383 er sich mitunter und bezeichnet sich am liebsten als „Autor“- - was auf die Verwandtschaft zu „autonom“ hinweist. Indem er nicht einer Richtung zuzuordnen ist, versucht er sich automatisch deren Zwangsmechanismen und somit auch jeder Konstruiertheit zu entwinden: Authentizität und Spiel statt Originalität und Stil. „You are the author, but you must not impose anything. Therefore, the object you describe, or the persons you film are the second author or the third.“ 7 „The author does not take any decisions. The author analyses or counter-analyses, or repeats, or makes comments. The spectator is asked to make her/ his own associations.“ 8 Genauso sind die Prinzipien des Autorenkinos zu verstehen. Das damit grundlegend einhergehende Prinzip der Senkung der Ich-Schranke korrespondiert zudem mit dem Begriff der Kooperation, d. h. also der von Kluge seit jeher praktizierten Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Nicht-Künstlern in sog. Kollektivarbeiten (z. B. Deutschland im Herbst). Balance-Ökonomie Der Mensch ist klüger als sein Verstand, sagt Kluge, und zwar deshalb, weil in seinem Körper Kräfte des Ausgleichs und des Kompensierens walten; Kluge spricht hier von „homo compensator“, „Gleichgewichtsmensch“ oder „Balance-Ökonomie“ im Inneren des Menschen. 9 Unbezahlte Arbeitskräfte. Baustelle Metapher für das Prozesshafte, Projekthafte, Experimentelle, Fragmentarische, also Imperfekte (neben der ästhetischen Struktur Kluges Poetik insbesondere von Aufklärung bzw. Mündigkeit). 10 Bifurkation Frz.: „la bifurcation“ = Abzweigung, Weg-Gabelung; Michel Serres. 11 Die an einer zeitlichen „Gabelung“ Licht gewordene reale Möglichkeit eines anderen Verlaufs der Dinge, die Suche nach Auswegen, ein Aufblitzen einer glücklicheren Welt. Deshalb spricht Kluge auch von Lernprozessen mit tödlichem Ausgang, denn „in der „negativen Entwicklung [liegen] die Auswege versteckt.“ 12 Nach dem vor allem ideengeschichtlich geprägten Motiv gilt es, durch Rückverfolgung an solch einem Scheidepunkt einer Entwicklung wiederanzusetzen, jedoch einen alternativen Pfad 7 So Kluge in: Koutsourakis, Angelos (University of Sussex): „Brecht Today: Interview with Alexander Kluge“, in Film-Philosophy vom 15 . 01. 2011 , S. 224 . 8 Ebd., S. 223 . 9 Vgl.: Theorie der Erzählung, 1 ., 2 . u. 3 . Vorlesung. 10 Vgl. u. a.: Sklavin, S. 220 . 11 Vgl. u. a.: Bretter, S. 314 („Annotierter Index“). 12 UM, MP, S. 841 . 384 Kluge-Lexikon zu nehmen-- und zwar mit dem Erfahrungsgewinn eines falschen anderen. Insofern ein Begriff der Revitalisierung von Ideen, Geschichte, Toten. Wiederholung Geschichtsschreibung Chronik Griech.: „chronos“= Zeit. Gegenwort zu Kairos. Die wahre Chronik, anhand der sich Menschen im Leben eigentlich orientieren, ist kein in eine Richtung weisender Zeitstrahl und verläuft auch nicht chronologisch: Es sind die Gefühle. Sie gilt es zusammenzutragen, ähnlich wie Benjamin z. B. mit seiner Berliner Chronik filmisch-topographisch die städtische Erfahrungswelt der Orte, Personen, Dinge sammelt und arrangiert. Navigation. Orientierung Zusammenhang Cross-Mapping Metaphorisch aufgeladene ästhetische Methode. „Mit der Straßenkarte von Groß- London den Harz durchwandern.“ 13 Phantasietätigkeit, Überlagerung von Unbekanntem mit Bekanntem bzw. von Gegensätzen, wodurch Bruchstellen, Widersprüche, auch Komik entstehen. 14 Die Idee stammt aus der Dada-Bewegung bzw. konkret von den Situationisten und meint ein durchlässiges Übereinanderlegen von Bildern und Texten zur Darstellung von Mehrschichtigkeit, die bei Kluge mehrfach theoretisch reflektiert ist: In einem menschlichen Lebenslauf koexistieren parallele Leben, die changieren, sich überlagern (Privatleben, Geschäftsleben etc.). Dies tun sie erst seit etwa 400 Jahren mit Beginn des bürgerlichen Lebens. 15 Verweist auch auf Freuds Beschreibung vom Erfahrungserhalt in der Psyche: statt wie ein Nacheinander in der Zeit wie ein Neben- und Übereinander im Raum. 16 Diese Toleranzleistung der menschlichen Psyche mit Erfahrungen müsste auch gesellschaftlich-öffentlich entsprechend respektiert bzw. nachgeahmt werden. 13 1994 erschien ein Interview in der WoZ, in der Kluge, wie an vielen weiteren Stellen, dieses Bild verwendet und was sich abgedruckt bei Christian Schulte in Die Schrift an der Wand von 2000 findet. Einer Anekdote zufolge soll das ein Kollege Guy Debords ausprobiert haben (allerdings nicht mit einer Karte des Harzes, das ist autobiografische Überschreibung des Halberstädters). 14 Vgl. u. a.: Kluge, Alexander: Facts & Fakes 2/ 3: Herzblut trifft Kunstblut. Berlin (Vorwerk 8 ) 2001 , S. 24 . 15 Vgl.: Ammer, Andreas/ Kluge, Alexander/ Console: Eigentum am Lebenslauf. Das Gesamte im Werk des Alexander Kluge. Produktion: Bayerischer Rundfunk. Intermedium Records 2007 , Track 6 . 16 Vgl.: UM, MP, S. 966 f. Kluge-Lexikon 385 dctp Engl.: Development Company for Television Program- = „Entwicklungsgesellschaft für Fernsehprogramm“ oder frei: „Korallenriff in nährstoffarmen Meeren“: 1987 gegründet, bietet das TV - und Web- TV -Portal Alexander Kluges und seiner Partner nach dem Herausgeberprinzip „eine Plattform für unabhängige Dritte im deutschen kommerziellen Fernsehen“ bzw. im Internet. Gärten der Information Nachrichten Erzählen Information Denken Intersubjektiver Prozess der Erkenntnissuche (Kleist: „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“); „besondere Intensität des Gefühls“; bei Gelingen von poetischer Qualität. Dialektik Hegel setzt das Dialektische sowohl als das „Prinzip aller Bewegungen“ als auch das dem Menschen ureigene Unterscheidungsvermögen („die Seele alles wahrhaft wissenschaftlichen Erkennens“ 17 ; „Widerspruchsgeist“ 18 ). Kluge/ Negt, daran anknüpfend: „Die Form des Denkens, die sich im Material bewegt, und zwar so, daß über das Material nicht äußerlich verfügt wird, sondern daß in der Anstrengung des Begriffs sich das Material in seiner Eigenbewegung zusammenfügt.“ 19 Hebammentechnik Mimesis Eigensinn Mit „Eigensinn“ ist hier weder der gemeinhin verstandene, negativ konnotierte Begriff eines egoistisch agierenden Menschen zu verstehen, noch ist damit ein Identitätszeichen eines Individuums gemeint, sondern ein Phänomen subjektivobjektiver Beziehung. „Eigensinn ist keine ‚natürliche’ Eigenschaft, sondern entsteht aus bitterer Not“. 20 D.h. es handelt sich um ein Phänomen, hervorgebracht durch die zweite Natur, in ihr aber lagern die unbeachteten Wünsche der ersten. Die verhinderte Selbstwerdung, die Emanzipation, die nach außen gehen muss, um sich durch Distanz erst finden zu können-- dieser unterdrückte Wille zur Freiheit faltet sich nun umgestülpt nach innen, verkriecht sich, erkrankt oder verstümmelt. 17 Die ersten beiden Zitierungen stammen aus: Hegel, G. F. W.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil, in ders.: Theorie-Werkausgabe, Bd. 8 . Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1970 , S. 173 . 18 Zit. n. AGS 4 , S. 79 . 19 UM, MP, S. 929 . 20 GE, S. 766 . 386 Kluge-Lexikon Einfühlung (emotio)  Gefühl Gegenteil von Kälte bzw. Gegenpart zu Sachlichkeit, mit der gemeinsam die menschliche Vernunft entsteht. Im Fernsehprogramm steht die Einfühlung als Empathie dem Voyeuristischen gegenüber. Grundlage der Kommunikation und so auch Basis des Erzählens. 21 Gerät an seine Grenzen beim Erzählbarmachen im Angesicht z. B. von Massenmord (bezieht sich auf die von Adorno provozierend aufgeworfene und von der Gruppe 47 behandelte Grundsatzfrage der Literatur: Ob ein Schreiben nach Auschwitz überhaupt noch möglich sei 22 ). Elefant Die mehrschichtige Metapher des Elefanten, die sich durch das gesamte Werk Kluges zieht, steht für historisches Bewusstsein sowie als pars pro toto auch für die Metapher des Zirkus, d. h. für alle jemals unterdrückten Lebewesen der Geschichte, die die ihnen angetanen Ungerechtigkeiten nie vergessen werden (Elefantengedächtnis) und gleichermaßen allem Leid und allen Katastrophen zum Trotz weiter leben, hoffen, kämpfen (Dickhäuter). Emanzipation „Die menschliche Geschichte beginnt an dem Punkt, an dem die Menschen das, was sie träumen, was sie wollen und denken, ohne Verzerrung und Brechungen durch die Gewaltmassen der Gesellschaft in Wirklichkeit umsetzen können.“ 23 Mündigkeit Emergenz „Symmetriebrechung“; „Attribut eines Verhaltensmusters, welches durch das Zusammenspiel vieler kleiner Verhaltensmuster erzeugt wird, die sich zusammenschließen und an einem kollektiven Punkt ausbrechen in eine parallele Wirklichkeit.“ 24 Bifurkation Kooperation 21 Kluge, Alexander: Balladen und Moritaten. In Seen sind für Fische Inseln. Fernseharbeiten 1987-2008. Begleitalbum zur DVD-Sammlung von Alexander Kluge und Martin Weinmann. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins/ dctp) 2007 . „Wurzeln der Öffentlichkeit“, S. 27 . 22 Adorno wörtlich: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ In: AGS 10 . 1 , S. 30 . 23 Worte Negts und Kluges aus der Nachbemerkung des UM, S. 1019 . 24 Bretter, S. 312 . Kluge-Lexikon 387 Entfremdung „Irritation zwischen Subjekt und Objekt.“ 25 Schein-Subjektivierung eines Objektiven im Menschen entmenschlicht diesen (Ausgangspunkt sind also „subjektive Kräfte im Menschen“ und keine äußeren): „Sonst gutmütig auftretende Familienväter, organisiert als Polizeibataillon, erschießen fremde Menschen im Osten.“ 26 Das eigene Produkt bzw. die eigene Tat wird nicht als Eigenes wiedererkannt, sondern als Fremdes, das Macht über einen ausübt. Dabei enthält jene „tote Arbeit“ doch ihre eigene „Lebenszeit“ 27 , ist also eigentlich Mitbesitzer. Entsteht, wenn Teile menschlicher Eigenschaften (Fähigkeiten, Triebe, Wünsche etc.) ausgegrenzt und unterdrückt und so aus ihrem inneren Zusammenhang gerissen werden- - was meist in Prozessen der Rationalisierung, Ratifizierung, Effizienz von Arbeitsvermögen für die jeweilige Warenproduktion geschieht. Dies wiederum ist „die Chance der Bewußtseinsindustrie“: 28 Der Markt macht sich diese unausgeschöpften Energien ökonomisch zu Nutze, indem er sie schein-befriedigt (ebenso: ideologische, extremistische, sektiererische Organisationen). Die Auswirkungen gehen über das Berufsleben hinaus und beeinflussen das ganze Leben, da die Arbeit für den Menschen so elementar ist, dass sie sich in die Persönlichkeitsstruktur einschreiben kann. Die „selbstverschuldete Entfremdung“ ist „nicht notwendig“. 29 Aus ihr führt das Politische. Entschleunigung Verlangsamung Epiphanie In der Lücke zwischen den montierten Elementen entsteht ein „drittes Bild“, 30 verschieden von Zuschauer zu Zuschauer. Wo der Autor zurücktritt und die Kunst unprätentiös zu Werke geht, lasse sich „Differenz“ „ausdrücken“. 31 Montage Cross-Mapping Assoziation Selbstregulation 25 Ebd., S. 314 . 26 Ebd., S. 314 f. 27 Ebd., S. 315 . 28 UM, ÖE, S. 527 . 29 Bretter, S. 315 . 30 Kluge, Alexander: Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 , S. 325 . 31 Vgl.: Sklavin, S. 222 , Fußn. 5 . 388 Kluge-Lexikon Erfahrung Persönliche, aber auch gesellschaftliche bzw. historische Erfahrungen tauschen sich idealerweise öffentlich aus, wodurch ein gemeinnütziger Erfahrungsschatz entsteht, aus dem eine ganze Gesellschaft schöpfen kann. Dergestalt besitzen sie nicht bloß eine passive Verarbeitungsfunktion, sondern auch eine aktive Widerstandsfunktion in Bezug auf die Realität. Im Prinzip eine alternative Form des Wert-Austausches zwischen Menschen zu „Geld“ und ebenso mit dem Bedürfnis nach Sicherheit verbunden. In dem Zusammenhang Kluges philosophische Grundfragen, die an Kant anschließen: „Worauf kann ich vertrauen? Wie kann ich mich schützen? Was muß ich fürchten? Was hält freiwillige Taten zusammen? “ 32 Außerdem z.T. Ähnlichkeiten mit dem sinnhaften Erfahrungsbegriff Benjamins. Ernstfall Krieg u. seine Abwandlungen. Erzählen / Narration Gegenbegriff zu Information: „Erlöst die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit.“ Der Mensch ist genuin ein Narrator. So verstanden, ist auch der Film als Medium seit jeher sozusagen prätechnologisch in der menschlichen Phantasie aktiv. 33 Gärten der Information Eulenspiegelei Wenn Kluge von Till Eulenspiegel erzählt, ist das mit dem in der Literaturwissenschaft anerkannten Begriff „Hanswurst“ besser zu verstehen. 34 An jener Definition orientiert, ist Helge Schneider insofern Till Eulenspiegel in der Kluge- Welt, weil es ihm als autonom agierender Antiheld gelingt, durch Übertreibungen, Absurditäten und dadaistische Ausschlachtungen einzelner Begriffe und Motive gesellschaftliche, politische oder historische Konventionen, Werte und Wahrheiten spielerisch bis dekonstruktivistisch infrage zu stellen. 32 CdG, Bd. 2 , S. 7 (Vorwort). 33 „The medium already exists in people’s brains. You find film since the Stone Age, in the people’s mind. Then we have the technical invention, which is more than 100 years old. This film exists before in our brain and our emotions.“ So Kluge in: Koutsourakis, Angelos (University of Sussex): „Brecht Today: Interview with Alexander Kluge“, in Film-Philosophy vom 15 . 01. 2011 , S. 223 . 34 Vgl.: „Hanswurst“, in in Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, hg. v.- Heike Gfrereis. Stuttgart/ Weimar (Metzler) 1999 , S. 77 f. Kluge-Lexikon 389 Facts & Fakes Verschwimmen von Realität und Phantasie, Tatsache und Wunsch (Optativ, Mimesis), Information und Narration (Erzählen). Am deutlichsten in den spielerischen Fake-Interviews. Diese von Menschen natürlich ausgeübte und von Kluge ästhetisch aufgegriffene Grenzüberschreitung dient nicht direkt der Erkenntnis, sondern zunächst der aisthesis-- und dadurch indirekt der Erkenntnis: „Man findet nicht mehr Wahrheit dadurch, sondern man findet mehr Wahrnehmung, und das geht nur auf lustvolle Weise, denn sonst würde man es nicht tun.“ 35 -- „Lust“ ist hier Suche nach Glück, aber auch Flucht vor Unglück: „In den Romanen halten wir es nicht aus, und in den wirklichen Verhältnissen halten wir es auch nicht aus, weil sie für Menschen nicht gemacht sind. Und deswegen ist die Flucht vom einen zum anderen das Angenehme.“ 36 Zwerchfell Das Fließen „Menschliche Wesenskräfte, von Natur aus flüssig, werden zu Stein.“ 37 Die oszillierende architektonische Bauweise des fluiden klugeschen Werks selbst drückt praktisch in jedem Moment Entdinglichung aus: Die „versteinerten Verhältnisse“ müssen „zum Tanzen“ gebracht werden (Marx). Entfremdung subjektiv-objektive Verhältnisse Fortschritt „There is an element of progress but you cannot tell whether progress favours people. It may be progress for the people (more liberty) or progress that leads to Auschwitz.“ 38 Folglich wäre der einzig vertretbare Fortschritt einer, der sich der „Selbstaufklärung der Aufklärung“ 39 verpflichten würde. 35 Kluge, Alexander: Facts & Fakes 1: Verbrechen. Berlin (Vorwerk 8 ) 2000 , S. 76 . 36 Ebd. 37 Bretter, S. 315 . 38 So Kluge in: Koutsourakis, Angelos (University of Sussex): „Brecht Today: Interview with Alexander Kluge“, in Film-Philosophy vom 15 . 01. 2011 , S. 224 . 39 UM, MP, S. 754 . 390 Kluge-Lexikon Gärten der Information Abb. 17 Die Metapher des Gärtnerns, des Anlegens von Gärten, gehört zu Kluges selbstreferenziellen Verweisen-- ein Garten bedarf tüchtiger, behutsamer und beharrlicher Arbeit (man denke an den Schluss in Voltaires Candide)-- und ist für ihn ein Gegenbegriff zum Dompteur (Zirkus): im Einklang mit der Natur leben. „Franzosen sind Gartenbauer des Geistes. Sie denken anders. Ich folge ihnen zwar nicht, denn ich würde keine Hecken stutzen. Bei mir wird das eher ein englischer Garten-- oder Pückler. 40 Aber das Chaos in meinem Kopf fühlt sich gut an, wenn es einmal durchs Französische gegangen ist.“ 41 Der Englische Landschaftsgarten ist bekanntlich das Gegenmodell zum französisch geprägten Barockgarten, in der die 40 Hermann von Pückler-Muskau: u. a. Landschaftskünstler und Schriftsteller des 19 . Jh. 41 Lehnartz, Sascha: „Wie ein altes Ehepaar. Der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge beleuchtet in Paris das Verhältnis von Marianne und Germania“, in Die Welt vom 25 . 10 . 2010 . Kluge-Lexikon 391 Form die Natur beherrscht (symmetrische Strenge, geometrischer Formenzwang). Deshalb ist er ein exzellentes Gleichnis für Kluges anti-zwekrationalistischen Impuls sowie für sein Prinzip der Hebammentechnik: Eingehen auf die Bedürfnisse und Eigenarten der Natur, damit diese sich frei entfalten kann, von selbst wachsen kann (statt „Beschneidung“). 42 Im Subtext von „ CENTRAL PARK “ (siehe Abb.), zumal hervorgehoben, schwingt nicht nur die zweite Natur, sondern vor allem die Frankfurter Schule mit: So kamen etwa die ins amerikanische Exil geflohenen Siegfried und Lili Kracauer in unmittelbarer Nähe des Parks unter und auch Adorno und Horkheimer hielten dort Ausschau nach einer Wohnung für Walter Benjamin, der es jedoch nicht mehr bis dorthin schaffen sollte. Über eine Fragmentsammlung zu Baudelaire notiert er den Titel: „Zentralpark“. 43 Erzählen Information Gefühl  Einfühlung (emotio) Ursprünglich: heiß/ kalt: „Als es auf dem blauen Planeten sehr kalt wurde, dachten wir oft sehnsüchtig an die Urmeere von 37 Grad Wärme. Wir lernten, Gefühle zu haben, nämlich zu sagen: zu heiß, zu kalt.“ 44 Überhitzte Gefühle: la Terreur von 1793 / 94 . 45 Erkaltete Gefühle: Auschwitz. 46 Der Mensch sehnt sich nach seiner ursprünglichen Erfahrung von Wärme, dem Glück und der Sicherheit des Mutterleibs. Robustheit durch Metamorphose: Die Gefühle sind aufgrund ihrer außerordentlichen Wandlungsfähigkeit nicht zu unterdrücken, sondern verschieben sich nur (Von dem Bach-Zelewski). Gleiches gilt für ein Lebewesen im Ganzen: Hält es einem Druck nicht länger stand, wandelt es sich eher als dass es stirbt. 42 Weiterhin kann es als eine Allegorie Kluges anti-realistischen Gedankens angesehen werden, dass Pückler, wie man weiß, den Boden aufwendig artgerecht präparierte, damit z. B. ein Baum zu seiner vollen Blüte gelangen konnte: „Die Realität muß an die sensiblen Instrumente angepasst werden, anstatt daß die Sinnlichkeit lernt, mit Realitätszusammenhängen robust umzugehen.“ (Sklavin, S. 205 .) Selbst Kluges Engagement für die Herstellung von Öffentlichkeit kann hier assoziiert werden: Pückler setzte sich erfolgreich dafür ein, dass die Gärten für jede und jeden zugänglich waren. 43 BGS I. 2 , S. 655 - 690 . In der englischen Übersetzung „Central Park“. 44 Kälte, S. 70 . 45 „Geheiligte Montagne, werde ein Vulkan, dessen heiße Lava die Hoffnung der Bösewichter für alle Zeiten zerstört und jene Herzen verbrennt, denen noch ein Gedanke an das Königtum innewohnt! “ Aus der dem Konvent vorgelegten Petition vom 05 . 09 . 1793 . 46 „Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des gesellschaftlich isolierten Konkurrenten, ist als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, dass alle zusahen und keiner sich regte.“ Adorno, Theodor W.: „Erziehung nach Auschwitz“ (Vortragstranskription), Radiovortrag des Hessischen Rundfunks von 1966 . 392 Kluge-Lexikon „Gefühl“ ist bei Kluge nicht zu verwechseln mit „Sentimentalität“. Sie, die Gefühle, zählen zum Unterscheidungsvermögen, 47 genauer: sind „das Unterscheidungsvermögen der Sinne“. 48 Nennt Kluge also die Emotion die „Schwester des Denkens“, so enthält das auch eine Anspielung auf die Vernunftidee der frühen Aufklärung, die noch nicht rational verirrt ist, die innere Natur noch nicht domestiziert hat wie zuvor schon das Christentum: „‚Die Aufklärung, sagt die Romanistin Dr. Ulrike Sprenger, beginnt emotional und ist begründet aus der Lust an anderen Menschen.’“ 49 So ist also das Gefühl nicht vom Vorstellungsvermögen zu trennen, dem gedanklichen Herholen, Wiederholen von Abwesendem. Andererseits stellen Gefühle Beziehungsverhältnisse im Gegensatz zum Verstand „nur willkürlich und unzureichend her“, 50 weshalb dieser nicht weniger zählt. Kant nennt neben dem Verstand die Sinnlichkeit als Voraussetzung der Erkenntnis: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden.“ 51 Kluge: Ein Gedanke ist verdichtete Emotion (Vernunft). Gemeinwesen Echtes Gemeinwesen entsteht selbstregulativ und dezentral, d. h. wenn zwischen Menschen Diversität, wechselseitige Anerkennung und Kommunikation zueinanderfinden: Es „gründet sich nicht auf Administration, sondern auf einen reichen, gemeinsamen Ausdruck.“ 52 Nur ein solches Gemeinsames aller Wesen ist imstande, die Entfaltung und Sicherung der Verschiedenheit ihrer Einzelwesen zu gewährleisten, ganz wie es die eigentliche Kernaufgabe des Staats ist: „Das Element des Allgemeinen im Politischen verneint nicht das Recht des Besonderen, sondern verschafft ihm seinen spezifischen schützenden Umkreis.“ 53 Öffentlichkeit 47 Vgl.: Laudenbach, Peter: „Wir sind Glückssucher“, im Gespräch mit Alexander Kluge, in Der Tagesspiegel vom 13 . 02 . 2012 . Oder auch: „Gefühle können unterscheiden“, in Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 , S. 183 . 48 Agathos, Katarina: „Es lebe die Mündlichkeit! Es lebe die Öffentlichkeit! “, Alexander Kluge im artmix-Gespräch auf Bayern 2 . Bayerischer Rundfunk vom 25 . 09 . 2009 . 49 Vgl.: Kluge, Alexander: „‚Wenn du mich anblickst, siehst du dich selbst’ / Landkarten der Gefühle zu Beginn der Aufklärung“, in NEWS & STORIES vom 30 . 05 . 1999 bzw. in ders.: Facts & Fakes 2/ 3, S. 97 . 50 Vgl.: Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 . S. 381 . 51 Der Verstand arbeitet mit Begriffen, die Sinnlichkeit mit Anschauung (und die Vernunft produziert Ideen). Vgl.: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 74 - 75 , in ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 2 , hg. v.-Wilhelm Weischedel. Darmstadt (WBG) 1976 . 52 Vgl.: UM, MP, S. 722 . 53 Vgl.: ebd. Kluge-Lexikon 393 Geschichtsschreibung / graben „Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit.“ 54 Bifurkation Kairos Geschichte verläuft nicht nacheinander, sondern übereinander, wird überschrieben. Ähnlich der Psychoanalyse gilt es deshalb, z. B. mit dem Prinzip des Cross- Mapping diese Schichten so lichtdurchlässig zu machen, dass sie lesbar werden uns so ihr Recht an der Wirklichkeit erhalten. Die Narration ist hier geradezu archäologisch tätig, was nirgendwo so stark verbildlicht wird wie mit der Figur Gabi Teichert in Die Patriotin, die nach verschütteter Geschichte gräbt (Kluge und Negt nennen Marx einen Maulwurf, Habermas tut selbes mit Kluge). Knie 54 Marx, Karl: Brief an Arnold Ruge in Dresden, Kreuznach im September 1843 , in: Padover, Saul K.: Karl Marx in seinen Briefen. München (C. H.Beck) 1981 , S. 47 . Abb. 18 394 Kluge-Lexikon Gespräch / Mündligkeit Vorteil der Authentizität und Bewegungsfreiheit im Gegensatz zur Grammatik der Schriftform. Gemeinsames Denken, Dialektik, Aufeinanderzubewegen, Verständigung, Emotionen, Empathie. Gravitation Konstellationen. Gegenmodell: Abb. 19 Kluge-Lexikon 395 # Geburtsstadt Kluges. Ausgangspunkt vieler Geschichten und Namenspool deren Akteure. Am 30 . April 1945 bombardiert, zu über 80 Prozent zerstört. Kluge überlebt nur knapp: Einschlag in zehn Meter Entfernung. Abb. 20 396 Kluge-Lexikon # Arbeit Lebenslauf Kooperation Handel Prinzip Hautnähe Kugelfilm/ Kugelbuch Zusammenhang/ Vernetzung Handel Modell zur Veranschaulichung der Genese der Ratio bzw. laut Sohn-Rethel dem Denken vorausgehend, das hier nachahmend tätig ist: Tausch- - Tausch-Abstraktion- - Fähigkeit zu Abstraktion und Konkretion bis hin zum Ersetzen eines Geldwerts durch einen Wert wie die Würde (auch das ist mit dem Titel Der unterschätzte Mensch gemeint). 55 D.h. der Handel ist die erste zivilisierte Umgangsform, eine Kompetenz, die nicht mehr barbarisch ist, zumindest in ihren Anfängen keine Gewalt ausübt. Über diese frühe Form menschlichen Zusammenlebens geht das kritische Denken aber noch einmal hinaus, indem es nicht wirtschaftliche Zwecke verfolgt, sondern einzig an der Herstellung einer friedlichen, freien und gerechten Weltgesellschaft interessiert ist. Der evolutionäre Unterschied liegt in dem Vernunftbegriff des kritischen Denkens, der die Emotion (Gefühl) nicht unterdrückt. 55 Vgl.: Zweites Interview in dieser Arbeit. Abb. 21 Kluge-Lexikon 397 Prinzip Hautnähe Hebammentechnik Gefühlvoller Feingriff (statt gewalttätiger Kraftgriff), der die Eigenbewegung des Anderen mitgeht. Man könnte es auch ein „klügliches“ Unterfangen nennen. 56 Metaphorisch bedeutsam als Geburtshelfer des mündigen Menschen (Zeit). 56 „clūclich“, mitteldeutsches Adverb, zart, fein; auf kluge, geschickte Weise. Abb. 23 Abb. 22 398 Kluge-Lexikon # Abb. 24 / 25 Der Heißluftballon als Symbol der französischen Aufklärer, stellvertretend für den neu-menschlichen Drang zur Überwindung der Natur (nach der Katastrophen-Erfahrung von Lissabon 1755 ), findet sich bereits früh in Kluges Werk. Das abermalige Scheitern dieser Welteroberung findet mahnend Darstellung in Bildern der Havarie nicht nur von Ballonfahrten. Ähnliche verwendete Symbole sind abstürzende Zeppeline oder Flugzeuge ( 9 / 11 ), sinkende Schiffe (Titanic) und andere, außer Kontrolle geratene Technik, die sich gegen den Menschen wendet (Fukushima). Katastrophe Kong Zirkus Humor Zwerchfell Identität ich weiß recht gut, wie du aussahst, Als du von Ithaka fuhrst im langberuderten Schiffe. Aber wohlan! bereite sein Lager ihm, Eurykleia, Außerhalb des schönen Gemachs, das er selber gebauet. Setzt das zierliche Bette hinaus, und leget zum Ruhen Wollichte Felle hinein, und prächtige Decken und Mäntel. Also sprach sie zum Schein, den Gemahl zu versuchen. Doch zürnend Wandte sich jetzt Odysseus zu seiner edlen Gemahlin: Wahrlich, o Frau, dies Wort hat meine Seele verwundet! Wer hat mein Bette denn anders gesetzt? das könnte ja schwerlich Kluge-Lexikon 399 Selbst der erfahrenste Mann; wo nicht der Unsterblichen einer Durch sein allmächtiges Wort es leicht von der Stelle versetzte: Doch kein sterblicher Mensch, und trotzt’ er in Kräften der Jugend, Könnt’ es hinwegarbeiten! Ein wunderbares Geheimnis War an dem künstlichen Bett; und ich selber baut’ es, kein andrer! Innerhalb des Gehegs war ein weitumschattender Ölbaum, Stark und blühendes Wuchses; der Stamm glich Säulen an Dicke. Rings um diesen erbaut’ ich von dichtgeordneten Steinen Unser Ehegemach, und wölbte die obere Decke, Und verschloß die Pforte mit festeinfugenden Flügeln. Hierauf kappt’ ich die Äste des weitumschattenden Ölbaums, Und behaute den Stamm an der Wurzel, glättet’ ihn ringsum Künstlich und schön mit dem Erz, und nach dem Maße der Richtschnur; Schnitzt’ ihn zum Fuße des Bettes, und bohrt’ ihn rings mit dem Bohrer, Fügete Bohlen daran, und baute das zierliche Bette, […] Der Fürstin erzitterten Herz und Kniee, Als sie die Zeichen erkannte, die ihr Odysseus verkündet 57 Information „Menschen können zwischen Sachlichkeit und Einfühlung nicht wählen: Sie können nur beides ausüben oder keines.“ 58 Gegenbegriff zu „Narration“ (Erzählen). Gärten der Information Intelligenz Entsteht aus „sozialer Nähe“ und „Emotion“, also Einfühlung. 59 Das Denken und das Poetische sind in einer verlängerten Linie identisch. 60 Vernunft Gefühl Sachlichkeit 57 Ein Bild, das es noch zu malen gilt: Homer: Odyssee. Übers. v.-Johann Heinrich Voß. Frankfurt a. M. (Insel) 1990 , 23 . Gesang, 175 - 206 . 58 Aus Kluges Ankündigungstext zur Frankfurter Poetikvorlesung 2012 . 59 Kluge/ Negt führen auch Erkenntnisse der Hirnforschung an, die dies bestätigen. Vgl.: UM, MP, S. 1003 (inkl. Fußn.). 60 Vgl.: Zweites Interview in dieser Arbeit. 400 Kluge-Lexikon Kairos Griech.: „kairós“ = „das rechte Maß, der rechte Zeitpunkt“. Gegenbegriff zu Chronik. Die Chance am Schopfe packen: Der vorbeifliegende Augenblick eines Gelingens kann ergriffen werden, indem man den geflügelten Gott Kairos an seiner Locke packt. Ist man zu langsam, rutscht man am kahlen Hinterkopf ab und der günstige Zeitpunkt der Entscheidung verstreicht, führt mitunter zum Unglück. Kairos wird meist dargestellt mit einer Balkenwaage, die er auf des Messers spitzer Schneide balanciert, in einer Waagschale sein Finger. Bifurkation Wiederholung Kälte Abb. 27 „Metapher der Moderne“ 61 (Kluge), „Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“ 62 (Adorno), „organisierte Gefühle“ 63 . Kälte entsteht laut Kluge in Entfremdungsverhältnissen, also immer dann, wenn Mensch und Wirklichkeit voneinander getrennt sind (z. B. in Produktionsverhältnissen). 64 Adorno zufolge ist sie „abgezweigt“ von „libidinöser Energie“ und „produziert“ dadurch „Gleichgültigkeit“. 65 Ein ganzer „Kältestrom“ entsteht durch das Zusammenspiel von einer Mentalität des Liebe-deinen-Nächsten im Sinne von nur der eigenen Sippe und gleichzeitiger „Ausgrenzung“ aller anderen. 66 Den paradoxen Vorgang der „Akzeptanz der Kälte“ bezeichnet Kluge als „Introjektion des Aggressors“, eine Art Übersprungshandlung, um den Wärmeverlust zu kompensieren. 67 Die sozialpsychologischen Studien Erich Fromms 61 Kälte, S. 75 . 62 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1966 , S. 356 . 63 UM, MP, S. 865 . 64 Vgl.: Kälte, S. 56 . 65 Notizen Adornos zu einem nicht mehr zustandegekommenen Werk, zitiert nach Kluge, Alexander: „Adorno über den Kältestrom“, in a. a. O., S. 69 . 66 Ebd., S. 70 . 67 Ebd., S. 75 . Abb. 26 Kluge-Lexikon 401 belegen, dass der Mensch, um sein existenzielles Identitätsbedürfnis zu befriedigen, dazu tendiert, auf soziale Repression paradoxerweise mit konformistischer Rebellion zu reagieren, also mit Identifikation und Autoritätshörigkeit, was Fromm zufolge wiederum nur zu einer Konflikt-Verlagerung und -Verdrängung ins Innere führt. 68 Kassandra Die klugesche „Poesie als Form der Wahrnehmung“ warnt wie einst Kassandra davor, dass „künftig etwas passiert, was ich aus Vergangenem schließen kann“. 69 Deshalb sei Erzählung immer auch eine „Kassandra-Tätigkeit“, wie Kluge betont, „etwas, was Warnleuchten setzen kann“ und deshalb praktische Kompetenz hat. Poesie und Gebrauchswert finden bei Kluge, wie er selbst sagt, in einem „Balanceakt“ zusammen, weshalb seine Kunst als etwas zu begreifen ist, das klar auf einen menschlichen bzw. gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtet ist. Bifurkation Katastrophe „Ob etwas aus dem Marianengraben hervorkriecht oder eine fliegende Industrie eine Stadt angreift, das ist unterschiedlich, aber die Wirkung auf Menschen und auf das Trümmergelände hinterher ist gleich. Ob der Vesuv zuschlägt oder ein amerikanisches Luftkommando, kann dem, der stirbt, egal sein.“ 70 68 Vgl.: Fromm, Erich: „Sozialpsychologischer Teil“, in ders. (u. a.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris (Alcan) 1936 . S. 77 - 135 . 69 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Die Wirklichkeitsmassen, die auf ihre Erzählung warten“ ( 3 . Vorlesung, 19 . 06 . 2012 ). 70 Aus: Kluge, Alexander: Die Pranke der Natur (Und wir Menschen). Das Erdbeben in Japan, das die Welt bewegte, und das Zeichen von Tschernobyl. Regie u. Bearbeitung: Karl Abb. 27 402 Kluge-Lexikon Es existieren zwei Arten von Katastrophen, die Kluge gegeneinanderstellt: Naturkatastrophen und Havarie, also Technikkatastrophen (zur Erinnerung: gemacht von Menschenhand). In Fukushima verbinden sich erstere (Erdbeben, Tsunami) und letztere (Atomkraftwerk) verheerend. Das „Kind in mir“ Kluge betont am eigenen Beispiel den Zusammenhang von prägender Kindheitserfahrung und der lebenslangen Sehnsucht nach Wiederherstellung. In späteren Handlungsmustern ist dieses Kind zu entdecken. Oper Identität # Abb. 28 Ein Knie geht einsam um die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts. Es ist kein Baum, es ist kein Zelt, es ist ein Knie, sonst nichts. 71 „Nun ist festzuhalten, daß ein Knie grundsätzlich vorwärtsschreitet. Alle halben Meter einknicken und alle halben Meter straffen. Das über 2 . 000 km bis Stalingrad, dirigiert von einem zänkischen Gehirn, das ja jetzt im Nordkessel liegt und nichts mehr zu sagen hat.“ 72 „Offenbar neigt die Macht zur perversen Form der Parade. Der preußische Stechschritt gehört zu dem Ungesundesten, was es gibt. Und ich verteidige im Grunde den menschlichen Körper gegen die Institutionen. Die menschlichen Knie Bruckmaier. Sprecher: Katja Bürkle, Hannelore Hoger, Nico Holonics, Alexander Kluge, Gabriel Raab, Edgar Reitz, Helge Schneider, Helmut Stange, Kathrin von Steinburg, Jochen Striebeck. Musik: Gustav, Ikue Mori, alva noto. 2 CD’s, 140 min. Kunstmann 2012 . 71 Aus dem Gedicht „Das Knie“ von Christian Morgenstern; Teil des Films Die Patriotin, darin mehrfach aus dem Off vorgetragen durch Alexander Kluge. 72 Off-Kommentar Kluges, ebenfalls aus Die Patriotin. Kluge-Lexikon 403 und Füße wollten nicht nach Stalingrad. Menschliche Körper wollen generell nicht verbrannt werden.“ 73 Kommentare „Grundform der Texte“. 74 Die Kommentar-Ebene eines Textes steht für das dialektische Sich-Abarbeiten an diesem, also ein Prozess des Verstehens (im Sinne eines kommunikativen Vorgangs), Reflektierens, Kritisierens sowie Neuproduzierens. Das konstellative Darstellungsverfahren Kluges ist als wechselseitiges Beziehungsfeld kommentarhaft. Kong „Mighty Kong please help“. 75 Monsterkind des Kinos. Erfordert Unterscheidungsvermögen zwischen Gut/ Böse/ Grauwerten. Angst/ Abwehr vor dem und Tränen/ Empathie für das Fremde (? ); Wiedererkennung. Überlagerung fiktionaler, faktionaler und dokumentarischer Bilder von Flugzeugen um wahrzeichenhafte Hochhäuser (Cross-Mapping). Adorno: „Wahrhaft eine Allegorie des unmäßigen und regressiven Monstrums, zu welchem das öffentliche Wesen sich aufwuchs.“ Kultur vs. Natur, Zivilisation vs. Barbarei, Technik vs. Triebe. Zirkus, Feingriff (Hebammmentechnik), Vertrauen Konstellationen Die Idee der Konstellationen, d. h. die Orchestrierung von subjektiv-objektiven Beziehungen um einen Themenkreis, einen Begriff oder eine Idee, erkennt Kluge bei Adorno und Benjamin, erweitert sie aber entscheidend zu einer eigenen, grundlegenden ästhetischen Darstellungsmethode. Das Konstellative ist über das Künstlerische hinaus von großer erkenntniskritischer Bedeutung: „Die einzelnen Phänomene, die sich beobachten und beschreiben lassen, sollen gerade ihr Eigenleben behalten. Sie sind primär und von sich aus nicht Instrument eines übergeordneten Sinnzusammenhangs.“ 76 In ihren Anziehungs- und Abstoßungsverhältnissen nehmen sie Gestalt an und drücken ihre Wesenhaftigkeit aus. Damit sammelt Kluge das von Wittgensteins Radikalität Abgeschnittene, doch nicht minder Existierende auf, lässt es durch die in Konstellationen spürbar werdenden Gravitationen selbst zum Ausdruck kommen. Verdrängtes und Übereinandergelegtes (Cross-Mapping) werden freigelegt und so rezipierbar, d. h. verarbeit- 73 Alexander Kluge in der „leçon du cinéma“ in der Cinématèque française am 27 . April 2013 . 74 Kluge, Alexander: „Der Autor als Dompteur oder Gärtner“, Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1993 , in ders.: Personen und Reden. Berlin (Wagenbach) 2012 , S. 36 . 75 Aus: The Notwist: „Kong“, von: Close to the Glass. Sub Pop Records 2014 . 76 Kluge, Alexander: „Der Autor als Dompteur oder Gärtner“, Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1993 , in ders.: Personen und Reden. Berlin (Wagenbach) 2012 , S. 25 . 404 Kluge-Lexikon bar: „Nicht schlichtet sich, nicht geht alles auf in ihr, aber eines wirft Licht aufs andere, und die Figuren, welche die einzelnen Momente mitsummen bilden, sind bestimmtes Zeichen und lesbare Schrift.“ 77 Kooperation Ästhetisches wie praktisches Arbeitsprinzip des Autors Kluge. Praktische Entsprechung des theoretischen Begriffs der Konstellationen: Co-Produktionen, Kollektivfilm, Werkstatt der Autoren etc. Im gewissen Sinn auch das Gegenteil von Arbeitsteilung: Die „geselligen Erregungszustände“ sind in Wirklichkeit produktiver als das Prinzip des übereinandergestapelten Menschen im Produktionszusammenhang (Pseudo-Kooperation; „Illusion der lebendigen Arbeit“). 78 Prinzip Hautnähe. # 77 AGS 5 , S. 342 . 78 Vgl.: UM, MP, S. 714 f. Gegenmodell: Abb. 29 Abb. 30 / 31 Kluge-Lexikon 405 Immer wieder bricht Kluge in den Kosmos aus: kosmologischer Ursprung; Herauszoomen aus unwirklich gewordener Realität (funktioniert auch durch Hineinzoomen: Mikrokosmos 79 ); Entschleunigung der Jetzt-Zeit; Besinnung; kosmologische Beständigkeit als größere, vertrauenserweckendere Macht; mit der Überzeugungskraft der Rationalität der Naturwissenschaften (statt sog. „Sozialromantik“) gegen Ungerechtigkeiten. Das Kosmische und der ewige Fluss der Dinge (das Fließen) fungieren als Identitätsstifter zwischen Subjekt und Objekt (Subjektiv-objektive Verhältnisse): die Ursuppe allen Seins. Konstellationen Krieg „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz). Größte Errungenschaft: Kapitulation als Sieg gegenüber Zerstörung und Tod. 80 Kritik Griech.: „krinein“-= „unterscheiden“. Unterscheidungsvermögen Kritische Theorie Abb. 32 / 33 „Die kritische Theorie verbindet die starke Vernetzung und Interdependenz ihrer kritischen Projekte mit einem Höchstmaß organisierter Unabhängigkeit. Sie gehorcht weder einer Partei oder einer gesellschaftlichen Formation, noch ist sie im nationalen Kontext zu verstehen. Sie verknüpft Psychoanalyse mit Sozialforschung, mit Philosophie, mit Geschichtsschreibung, mit politischer Analyse und-- verstärkt bei Jürgen Habermas-- mit der Rekonstruktion und Verknüpfung großer theoretischer Zusammenhänge.“ 81 79 „Die Wesenheiten der Ferne und der Nähe [korrespondieren] in der Realität miteinander.“ Kluge, Alexander: Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 , S. 325 . 80 Literarisch hat das Kluge besonders verdichtet in 30. April 1945 und dort wiederum im Kapitel „Ich, der letzte Nationalsozialist in Kabul“ (S. 231 - 282 ). 81 UM, MP, S. 992 . 406 Kluge-Lexikon Kugelfilm / Kugelbuch Metapher für eine die konstellative Ästhetik ideale, da vielpolige, infinite, nichtlineare und somit nicht-schicksalhafte Darstellungsform, die sich erst im digitalen Medium verwirklichen lässt (bzw. durch Verknüpfung von analog und digital). Verweist auf einer weiteren Abstraktionsebene auch auf Kants kugeligen Begriff der Menschheit bzw. eine echte Globalisierung der Menschen (und nicht der Waren und der menschlichen Arbeitskraft). 82 Lebenslauf „Normalerweise sagt man, ein Lebenslauf ist das, was man bei einer Bewerbung vorlegt. Das sind die äußeren Fakten. So schauen Menschen von außen auf die Lebensläufe anderer Menschen. Aber diese Lebensläufe schauen zurück. Und sie schauen mit den Augen all ihrer Erfahrungen und aller Lebenszeiten des jeweiligen Lebensläufers. Ein Lebenslauf hat viele Zimmer, viele Zeiten. Mein Lebenslauf enthält auch das, was die Großeltern erzählt haben. Erfahrung gelangt in Brocken, in Fragmenten an die jungen Menschen. Es gehört auch dazu, was die eigenen Kinder erleben. Vier Generationen hängen zusammen als ein Erzählraum. In dem ersten Buch, das ich 1962 geschrieben habe, ging es um Lebensläufe, die durch das Jahr 1945 zerrissen wurden. Mich hat erstaunt, wie anders Lebensläufe von 2012 sich erzählen. Heute fällt mir auf, dass auch Gegenstände und Landschaften Lebensläufe haben. Das Ruhrgebiet besteht aus acht Generationen.“ 83 Licht Elementar für die Herstellung von Bild und Film. Das Licht eines entfernten Sterns der Vergangenheit trifft ein im Hier und Jetzt. In diesem Sinne sei laut Kluge, was an Benjamins Geschichtsphilosophie erinnert, „die ganze Weltgeschichte-[…] als bewegte Bilderfolge- […] im Kosmos unterwegs“ und diese „antiken Bilder“ strömen an uns vorbei und durch uns hindurch. 84 Bifurkation Wiederholung Geschichtsschreibung 82 Dass die Menschen miteinander auskommen müssen, wohnt Kant zufolge nicht nur der Vernunft inne, sondern ergibt sich ebenso zwingend aus der Tatsache, dass die Erde rund ist und alle miteinschließt, sie also logischerweise gar nicht umhin kommen, dass sie sich früher oder später aufeinander zubewegen. Für ein friedliches Miteinander müssen universale Gesetzmäßigkeiten gefunden werden, die, zwingend für ein Gelingen, aus dem inneren Selbstverständnis der Meinscheit kommen und nicht von oben aufgepfropft werden („Moralität“ statt „Legalität“). Vgl.: UM, MP, S. 800 - 804 . 83 Vgl.: Laudenbach, Peter: „Wir sind Glückssucher“, im Gespräch mit Alexander Kluge, in Der Tagesspiegel vom 13 . 02 . 2012 . 84 Kluge, Alexander: „Der Kosmos als Kino“, in ders.: Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 , S. 44 f. Kluge-Lexikon 407 Liebe Vertrauen Die Lücke, die der Teufel lässt Matrjoschka Metapher für die Pluralität der Identitäten eines Menschen und der Polyphonie der in ihm wohnenden Stimmen: „Jeder Mensch ist so etwas wie eine russische Puppe. In ihm sind alle Alter, Erfahrungen, Redesorten ineinander verschachtelt. Besser ist, man deckt das auf und verdeckt es nicht.“ 85 Maulwurf Geschichtsschreibung Kritische Theorie Medium Das Medium ist unschuldig. 86 Entscheidend ist, die Verbindung zum Publikum, zum einzelnen Menschen nicht zu verlieren. Daher gegenproduzierende Bespielung der Leitmedien. Metamorphose 1 . Werk Ovids, auf das sich Kluge immer wieder beruft. 2 . Doch „nicht die Götter, sondern die wirklichen Verhältnisse betreiben Metamorphose“: 87 Eh’ ein Lebendiges von etwas erdrückt wird, verändert es seine Form (Gefühl) oder verkriecht sich in einen antirealistischen Kokon; insofern: Transzendenzvermögen. 3 . Wiederholung Mimesis Ästhetisches Mittel zur Realitätssowie Erkenntniskritik: Form der Imitation nach Aristoteles bzw. Benjamin, die über den Gegenbegriff der Imitatio nach Horaz schöpferisch hinausgeht: Nicht mehr nur bloßes Spiegeln oder Nachäffen, also Reproduzieren von Wirklichkeit, sondern durch die Mischung aus Vorhandenem, das narrativ neu arrangiert wird, sowie Erfundenem wird die Realität um die Möglichkeitsform erweitert: „Die Kunst ist ein Verbesserungsvorschlag an die Natur, ein Nachmachen, dessen verborgenstes Innere ein Vormachen ist. Kunst 85 Unterschiede, S. 107 . 86 Nicht die Medien sind an allem Schuld, sondern deren Gebrauchsweise ist ausschlaggebend: Gegenproduktion statt Verteufelung. Vgl. u. a.: UM, ÖE, S. 432 ff. 87 UM, ÖE, S. 434 . 408 Kluge-Lexikon ist, mit anderen Worten, vollendete Mimesis.“ 88 Dabei Mittel, Eigenschaften eines Sachverhalts o. ä. so zu schärfen, zu überspitzen, dass die Wahrnehmungsfähigkeit erhöht wird. Facts & Fakes Optativ Montage Ästhetische Methode (als filmisches Vorbild nennt Kluge Sergej Eisenstein), mit der das narrative bzw. epistemologische Ideal der Konstellationen verwirklicht wird. Oberste Erzählinstanz der frühen Filmgeschichte, bevor die Schauspieler zu sprechen begannen. Ein Film entsteht am Schneidetisch („la table de montage“), sagt Kluge. Nicht nur räumliche (neben-, nach- oder übereinander; Collage, Cross-Mapping), sondern auch zeitliche Montage (zeitlich entfernte Ereignisse kontrastieren). Letztere ermöglicht die Wahrnehmung von Zusammenhängen, die sich dieser in der Realzeit entziehen bzw. als Getrenntes erscheinen (Zeit). Außerdem: mediale Montage bzw. Intermedialität. Mündigkeit Menschliche „Selbstbestimmung“, „Autonomie in Denken und Handeln“, das Prinzip „Selbstdenken“. 89 Bildungsziel und Grundvoraussetzung für Rechtsstaatlichkeit. Mit dem Grundimpuls der Aufklärung verbunden. Emanzipation 88 „Die Kunst ist ein Verbesserungsvorschlag an die Natur, ein Nachmachen, dessen verborgenstes Innere ein Vormachen ist. Kunst ist, mit anderen Worten, vollendete Mimesis.“ BGS I. 3 , S. 1047 . 89 Vgl.: UM, MP, S. 730 f. Kluge-Lexikon 409 # Abb. 34 Musik bzw. das Komponieren verweist auf die adornoische Erkenntniskritik 90 sowie das kleistsche Gesprächs-Ideal der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“, also auf einen Erkenntnisprozess, der keinem Identitätszwang unterliegt, der auch nicht-begrifflich, also nicht deduktiv (aber auch nicht induktiv) verfährt, sondern konfigurativ bzw. konstellativ. Denken Mimesis Da sich hinter dem Ohr der Gleichgewichtssinn befindet (er dient der Standhaftigkeit und der Orientierung im Raum), hat die bei Kluge enorm wichtige Oper als die „bürgerliche Tugend“ der Balance zwischen Verstand und Gefühl zugleich metaphorische Bedeutung. 91 Gefühl Vernunft. Weiterhin: sinnliche Erinnerung. Nachrichten Gärten der Information Information Erzählen 90 Vgl. z. B.: AGS 6 , S. 44 , 115 u. 167 . 91 Vgl.: Kluge, Alexander: „[Gleichgewichtler. Homo compensator]“, in Bretter, S. 308 („Annotierter Index“). 410 Kluge-Lexikon Öffentlichkeit „Medium der politischen Emanzipation des Bürgertums und ‚Legitimationsfassade’ 92 für dessen Zerfallsformen.“ 93 Der (pseudo-)repräsentativen, bürgerlichen Öffentlichkeit arbeitet emanzipatorisch eine autonome, proletarische Gegenöffentlichkeit entgegen-- als „einzige Produktionsform von selbstbewußter gesellschaftlicher Erfahrung.“ 94 Private Erfahrung kann ohne die öffentliche nicht widerspruchsfrei sein. Kluge arbeitet daher bewusst an einer „Umproduktion der Öffentlichkeit“ 95 bzw. dem Herstellen von echter Öffentlichkeit durch ein „Politisieren“ von Unten und ein Entmachten von Oben: die „öffentliche Aufmerksamkeit auf einen Schwerpunkt konzentrieren“ bzw. „Durchbrechung von Geheimpolitik“. 96 Ökonomie Zergliedert in Nationalökonomie, Erfahrungsökonomie und Beziehungsökonomie, die im Austausch stehen. 97 Balance-Ökonomie Öffentlichkeit Handel Oper „Kraftwerk der Gefühle“. Musik Das „Kind in mir“ Optativ Die Grammatik Kluges Geschichtsschreibung; Möglichkeitssinn und vierte Zeitform. Handlungstheoretisch bedeutsam: Einfluss von Erfahrung (Vergangenheit) und Wunsch (Zukunft/ Möglichkeit) auf die Entscheidung im Augenblick (Gegenwart). Eng verbunden mit dem Antirealismus des Gefühls. Möglichkeitssinn ist der menschliche Wille zur Umformung der Realität zum Schönen (d. h. zum Humanen). Siehe auch das Kapitel zum Möglichkeitssinn in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. 92 UM, ÖE, S. 336 . 93 G. Schweppenhäuser, S. 135 . Der von Schweppenhäuser hier (ungenau) markierte Begriff stammt aus Öffentlichkeit und Erfahrung: UM, ÖE, S. 336 . 94 UM, ÖE, S. 333 . 95 Vgl.: Sklavin, S. 219 f. 96 Bretter, S. 312 . 97 GE, S. 778 - 782 . Kluge-Lexikon 411 Orientierung Grundziel und pragmatischer Nutzen klugescher Produktion. Als „massenhaftes Unterscheidungsvermögen“ 98 Gegensatz zu „Ordnung“ oder „Übersicht“, da es erstens Zusammenhänge nicht verdeckt und zweitens eigenständige Rezipiententätigkeit aktiviert. „Niemand wird so viele Seiten auf einen Schlag lesen. Es genügt, wenn er, wie bei einem Kalender oder eben einer CHRONIK , nachprüft, was ihn betrifft.“ 99 Unter einer Orientierung, die subjektiv ist, versteht man die Bündelung der basalen Fragen „Worauf kann ich vertrauen? “ usw. (siehe Erfahrung). Pausen Gehören zur Musik. Thekengespräch Das „Kind in mir“ Phantasie Steht für Freiheit und Autonomie; entzieht sich dem Warentausch; 100 Teil Kluges Realitätskonzepts; hält durch das Assoziative und Konstellative Einzug in die Theorie (die nicht das Gegenteil von Praxis, sondern mit ihr verschränkt ist). Statt einer Mobilisierung des Irrationalen Entmystifizieren der Phantasiekräfte als gerade Nicht-Irrationales durch (Wieder-)Aneignung und Aufarbeitung. 101 Philosophie „Philosophie ist nichts Abstraktes. Sie geht um mit dem, was für mein Leben relevant ist. Das ist so in ‚Liebe als Passion’ von Luhmann und in Adornos ‚Minima Moralia’. Die Theorie, unser Denken, ist verankert in den Emotionen. Ratio ist verdichtete Emotion.“ 102 Die „drei großen Herausforderungen des 20 . Jahrhunderts“: 1 . Die soziale Frage, 2 . Politische Demokratie und 3 . Die individuelle Emanzipation. All diese Probleme sind miteinander verbunden und nicht ohne das andere zu lösen. 103 98 UM, MP, S. 844 . 99 Aus dem Vorwort zu CdG, S. 7 . Hervorh. gem. Orig. 100 Vgl.: ÖE, 66 ff. 101 Vgl.: Kluge, Alexander: „Zur Theorie des Films“, in ders./ Negt, Oskar: Kritische Theorie und Marxismus. Radikalität ist keine Sache des Willens sondern der Erfahrung. Den Haag (Rotdruck) 1974 , S. 50 f. 102 Vgl.: Laudenbach, Peter: „Wir sind Glückssucher“, im Gespräch mit Alexander Kluge, in Der Tagesspiegel vom 13 . 02 . 2012 . 103 Aktuell ebenso für das 21. Jahrhundert. Vgl.: MP, S. 260 . 412 Kluge-Lexikon # Abb. 35 / 36 Das Politische „Intensitätsgrad alltäglicher Gefühle, der durch besondere Aggregatzustände, die die Konflikte und Interessen annehmen, seine Form permanent verändert“; 104 kann „Gemeinwesen und Emanzipation“ schaffen. 105 In den einzelnen Individuen, in und zwischen ihren „Basisgeschichten“, brodeln partisanengleich die „Quellen des Politischen“, die etwas anderes sind als die Produkte der „Resultate der Politik“, weil es zu keinem „Austausch“ kommt. 106 „Ein interessengeleitetes, verallgemeinertes politisches Bewußtsein erlangt Bestimmtheit und überindividuelle Dauer.“ 107 Demzufolge setzt sich das Politische aus dreierlei zusammen: persönlichem „Rohstoff“/ „Eigensinn“ (individuelle Antriebe), „Verallgemeinerung“ oder „verallgemeinertem politischen Bewußtsein“, „situationsüberschreitendem Geltungsanspruch“ (z. B. „verletztes Rechtsgefühl“). Dieser „Anspruch“ des Politischen muss aber letztlich auch zum „Ausdruck“ kommen: Öffentliches Nachdenken über Mögliches ist politisches Handeln. Das „Prinzip Kino“ Öffentlichkeitsdrang „innerer Bewegung“ (Gefühle, Phantasie). Funktioniert aktiv in zwei Richtungen, ganz wie der alte „Lichtbild-Apparat“ der Brüder Lumiè- 104 UM, MP, S. 720 . 105 Vgl.: ebd., S. 721 . 106 Vgl.: Theorie der Erzählung, „Das Handwerkszeug für Text und Film. Die Poetik selbst“ ( 2 . Vorlesung, 12 . 06 . 2012 ) bzw. UM, MP, S. 723 . 107 Vgl.: UM, MP, S. 708 f. Kluge-Lexikon 413 re: Aufnahme/ Sammeln/ Neugier (Kamera) und Wiedergabe/ Abbilden/ Erzählen (Projektor). 108 Professioneller Nichtprofessionalismus Authentizität statt Stil; Verfremdungseffekte zur Desillusionierung; korrespondiert mit Adornos Ausdruck des „methodisch unmethodischen“ Verfahrens. 109 Autor Protest „Motiv für Realismus“. 110 Ablehnung des Wirklichkeitszustands durch a) „radikale Nachahmung“, b) „Ausweichen“ oder c) (gewaltlosen) „Angriff“. 111 Prozess vs. Resultat, denn er trennt nicht zwischen Wertem und Unwertem; ohne die Nebenprodukte weder Prozess noch Resultat. Produktionsprozess wird an der Oberfläche gehalten. Denken tote Arbeit Realität „Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge. Moosbrugger stand immer mit den Beinen auf zwei Schollen und hielt sie zusammen, vernünftig bemüht, alles zu vermeiden, was ihn verwirren konnte; aber manchmal brach ihm ein Wort im Munde auf, und welche Revolution und welcher Traum der Dinge quoll dann aus so einem erkalteten, ausgeglühten Doppelwort wie Eichkätzchen oder Rosenlippe! “ 112 Das Unrealisierte kritisiert das Realisierte. 113 „Es gibt immer neben der Realität den Konjunktiv, die Möglichkeitsform, ganz dicht neben dem Realen. Es gibt Hetero- 108 Vgl.: Kluge, Alexander: Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 , S. 7 u. 33 . 109 GS 11 , 21 . 110 Kluge, Alexander: „Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft“, in Böhm-Christl, Thomas (Hg.): Alexander Kluge. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1983 , S. 292 . 111 Vgl.: Sklavin, S. 215 ff. 112 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek (Rowohlt) 1996 , I, S. 241 . 113 Variation der klugeschen Wendung „Das Unverfilmte kritisiert das Verfilmte“. Diese findet sich u. a. als Titel einer Kurzgeschichte in Kluge, Alexander: Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2007 , S. 256 . Der womöglich stärkste Ausdruck dieses Motivs findet sich in Tarantinos Inglourious Basterds: Die nichtgezeigten Filme-- das verbotene Material, die „entartete Kunst“-- vernichten das Nazi-Regime: Die Nitrofilmrollen dienen als Zündstoff für den Brand eines Kinos, in dem die ranghöchsten Nazis inkl. Hitler sitzen. Insofern: Die Welt der Kunst zerstört sich selbst, um eine freie Welt, wie der Phönix aus der Asche, zu gebären. 414 Kluge-Lexikon topien, die Wand an Wand mit der Wirklichkeit permanent existieren.“ 114 Deckend mit dem von Kant wie Adorno problematisierten unversöhnten Zustand zwischen der Welt der Erscheinungen bzw. Erfahrungen und der Welt der Dinge an sich bzw. des Nichtidentischen, identifiziert Kluge sowohl Realität an sich als auch „jede menschliche Verarbeitungsweise“ ihrer als „antagonistisch“ (Antirealismus des Gefühls). 115 Die Realität leidet dann an „Realitätsverlust“, also führt sich selbst ad absurdum, wenn es das Besondere ihrer Einzelexistenzen durch die Totalität des Allgemeinem unterdrückt. 116 Insofern: Herrschaft des „ideologischen Realismus“. 117 Kluges Realitätskonzept erhellt sich weiter in der Korrespondenz mit dem Begriff der Geschichte („Geschichtsverlust“), denn es kommt auf die Genese des Bestehenden an, ihre Konstruktion, die einen mythischen Schein des Ewig-Dagewesenen trägt, obwohl es durch endliche und relative Faktoren entstand (ein Menschenleben, eine Gesellschaft, ein Staat und seine Gesetze etc.). Metamorph wiederkehrende Mehrdimensionalität der Wirklichkeit: „horizontal, vertikal, funktional, zeitlich, imaginär (virtuell) und dann zerstörerisch“. 118 Rohmaterial = „radikale Fiktion und radikal authentische Beobachtung“ 119 bzw. das dadurch gesammelte Erfahrungsmaterial aus Wünschen und Tatsachen. Der „Rohstoff des Politischen“ steckt in jedem Menschen und besteht aus „Interessen, Gefühlen, Protesten usf.“, 120 ist in dieser basalen Form weder gut noch schlecht. Sachlichkeit (ratio) Bildet gemeinsam mit der Einfühlung die Vernunft. Kälte Sammeln Gehört gemeinsam mit dem Kommentar zur grundlegenden Erzählstrategie Kluges. Erfahrung Unterscheidungsvermögen 114 Kluge in: Laudenbach, Peter: „Wir sind Glückssucher“, im Gespräch mit Alexander Kluge, in Der Tagesspiegel vom 13 . 02 . 2012 . 115 Kluge, Alexander: „Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft“, in Böhm-Christl, Thomas (Hg.): Alexander Kluge. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1983 , S. 293 . 116 Vgl. u. a.: UM, GE, S. 523 f. 117 Sklavin, S. 209 . 118 Vgl.: Kluge, Alexander: Facts & Fakes 1: Verbrechen. Berlin (Vorwerk 8 ) 2000 , S. 76 . 119 Sklavin, S. 208 . 120 Vgl.: UM, MP, S. 721 . Kluge-Lexikon 415 Selbstregulation Selbstregulation im Menschen: „Die vollständige Anerkennung der verschiedenen Bewegungsgesetze der in einem Menschen zusammenstoßenden Kräfte.“ 121 Selbstregulation des Menschen: Der Mensch braucht keine „Verkehrspolizisten“, da er aufgrund seiner kooperativen Natur der „selbstregulierenden Ordnung“ fähig ist. 122 Mit der Erfahrung „wechselseitiger Anerkennung“ unterschiedlicher Identitäten und Interessen sei eine beständige kooperative Vergemeinschaftung möglich. Stadt Metapher für hohe menschliche Leistung der Toleranz bzw. Akzeptanz („die Stadt in mir“, Gemeinwesen), die mit der Realität der Stadt kollidiert. Problematisch etwa ist, dass sich die „Cities“ der Welt zunehmend gleichen und mit der Differenz auch die Realität aus der Innenstadt, dem Getümmel und Raum für öffentliche Ansammlungen nach außen-- ins Exil-- drängen (Obdachlose, Asylheime, Friedhöfe etc.). Heraus aus dem Stadtbild, heraus aus der Auseinandersetzung mit Realität-- verdrängt, nicht gelöst. Strategie von unten vs. Strategie von oben. Oder: Kooperation vs. Planifikation. Subjektiv-objektive Verhältnisse Subjektiv-objektive Verhältnisse Erkenntnistheoretische Problemstellung (bei Kant: Bewusstsein/ Gegenstand) mit gesellschaftskritischer Tragweite bei Adorno und Kluge. Mit seiner inhaltlichen wie formalen Thematisierung durch die Methode der Konstellationen, die aus subjektiv-objektiven Verhältnissen besteht, kristallisiert sich sogleich Kluges ästhetische Strategie als Weiterentwicklung der Erkenntniskritik Adornos und Benjamins heraus. Es herrscht ein Kampf zwischen Subjekt und Objekt. Ersteres versucht, „Eigentum zu bilden an der Welt“. Die ihm zur Verfügung stehenden Mittel reichen dafür aber nicht aus. Letzteres achtet den Menschen nicht. Das Subjekt reagiert auf diese Situation mit der Entwicklung des Antirealismus des Gefühls gegen das Objekt. Beide treten in eine Wechselwirkung, die komisch und tragisch sein kann („Man ist nicht Sklave der Umwelt und man ist nicht Herr der Umwelt.“). 123 Unter dem subjektiv-objektiven Verhältnis verstehen Kluge/ Negt in erster Linie 121 GE, S. 55 . 122 Vgl.: GE, S. 54 f. 123 Vgl.: Ammer, Andreas/ Kluge, Alexander/ Console: Eigentum am Lebenslauf. Das Gesamte im Werk des Alexander Kluge. Produktion: Bayerischer Rundfunk. Intermedium Records 2007 , Track 4 . 416 Kluge-Lexikon das ohnmächtige Gefühl des Menschen gegenüber der Eigendynamik von Geschichte. Zur Veranschaulichung arbeitet Kluge immer wieder mit dem Verhältnis „Mensch-- Bombe“, da im Extremfall Krieg dieses Ohnmachtverhältnis am verheerendsten zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig wird an diesem Punkt der Mensch eingeholt von der Rationalität der Produktion und der eigenen Entfremdung durch das aus vielen für sich allein unproblematischen Einzelteilen zusammengesetzte Produkt „Bombe“, dass ihm nun unerkannt (denn er sieht darin keinen Teil von sich) vernichtend wieder gegenübertritt. Kraft der Selbstreflexion erscheint das „Ich“ fremd, das Subjekt macht sich zum Objekt. Es wird Objekt im Vergangenen (Wie habe ich mich verhalten? Was habe ich getan? ), im Optativen (Wie will ich mich verhalten? Was könnte ich tun? ) oder im Zukünftigen (Wie werde ich mich verhalten? Was werde ich tun? ), doch in der Gegenwart nie (die Dunkelheit des gelebten Augenblicks). Es scheint aber in der Gegenwart auf, nämlich im inneren Monolog, der auch nach außen treten kann. „Identisches Subjekt-Objekt“ = Subjekt-Tat bzw. Ich-Tätiger: Bewusstsein über 124 eine Sache bzw. Reflexion über eigene Handlung/ Rolle/ Funktion. Eigene Subjekt- Objekt-Erfahrung führt zur Erkenntnis. Die Verbindung, die gegenseitige Öffnung und Kommunikation, die sich zwischen Menschen, aber auch zwischen Produzent und Produkt bildet, schafft Gesellschaft (Öffentlichkeit). 125 124 Vgl.: UM, MP, S. 783 . 125 Vgl.: Kluge, Alexander: „[Subjektiv-objektiv]“, in Bretter, S. 308 („Annotierter Index“). Tritt übrigens von außen ein Psychologe, Sozialforscher o. ä. befragend/ forschend/ analysierend dem Untersuchungsobjekt gegenüber, so haben wir es mit einer reflektierenden/ untersuchenden/ reproduzierenden Figuration der Epik zu tun. Mit Szondi formuliert, wird mit dieser Technik eine „epische Subjekt-Objekt-Beziehung“ hergestellt (Erzählen). Kluge-Lexikon 417 Thekengespräch Abb. 37: Glühbirnen über Gesprächspartnern im Le 51. Einstellung: amerikanischer Schnappschuss. Ton: Geräuschkulisse. Rechts: Vorhang (schließt sich). Natürliche Redesituation; reichhaltiger, lebensnaher, unbefangener als z. B. ein akademischer Diskurs. Der klugesche Ausdruck verweist auf den menschlichen Hang zum Nicht-Ernsten (Zwerchfell) und in dem Zusammenhang auf die Sprachbarrieren zwischen proletarischer und bürgerlicher Öffentlichkeit und damit auf seine sprach- und erkenntniskritische Komponente. Wertet man außerdem die Wendung „Bedürfnis zu tratschen“ als ein Synonym, zählt es zu den vermeintlich „schwachen“, jedoch „kontinuierlichen“ menschlichen Gefühlen, ebenso etwa wie „Geselligkeit“ oder „Gastfreundschaft“, die allesamt universalistischen Charakter haben. 126 „Die Toten sind nicht tot“ Von Kluge häufig herangezogenes Zitat von Heiner Müller, das seit dessen Tod noch einmal autoreferenziell aufgeladen ist. Die Toten, im sokratischen Sinn die 126 Vgl.: UM, MP, S. 955 . 418 Kluge-Lexikon „Gesamtheit der Wahrheitssuchenden“, 127 stehen für Erfahrung, die durch „Totengespräche“ am Leben gehalten wird und für Probleme der Gegenwart und Zukunft überlebenswichtig sein kann. In diesem Sinne produzieren die Toten also- - unbrauchbar für den Produktionszusammenhang- - Erfahrung. „‚Wenn die Solidarität unter den Lebenden Risse aufweist, dann sind wir angewiesen auf die Solidarität der Toten.’“ 128 Bifurkation Träume Homöonym zu „Trümmer“. In einem idealen „kollektiven Gedächtnis“ haben sowohl die „Trümmer der Geschichte“ als auch die bislang verdrängten „Träume“ der Menschen Raum und gehen ein dialektisches, dadurch wirklichkeitskritisches Spannungsverhältnis ein. 129 Unterscheidungsvermögen Synonym für Kritik, Trennschärfe. Kompetenz zu Analogie und Gleichnis. Setzt sich zusammen aus Assoziationsfähigkeit und Erinnerungsvermögen (historisches Bewusstsein) sowie Orientierungsvermögen. 130 Urvertrauen Glückserfahrung des Lebens, anthropologisches Urwissen, „Sehnsucht der Zellen“, 131 Gefühl. Der Begriff des „Urvertrauens“ findet sich in der deutschen Übersetzung von Childhood and society ( 1950 ) des Psychoanalytikers und Freud- Schülers Erik H. Erikson (im Original: „basic trust“). Im Frühkindalter sind die ersten sozialen Kontakte und Erfahrungen entscheidend für das Selbstverhältnis bzw. die Entwicklung eines Menschen. Urmeere tragisch-glückliche Wiedererkennung Vertrauen Urmeere Konkrete, naturwissenschaftlich nachgewiesene Tatsache, die jegliche Rassenideologie, jeglichen Nationalismus ad absurdum führt bzw. wiederkehrende Metapher ist für die Evolution, für eine historische Erfahrung in uns sowie für das Band zwischen Menschen bzw. zwischen Mensch und Natur: Der Salzgehalt der Urmeere stimmt mit dem der menschlichen Niere überein. Die Urmeere hatten eine 127 Die Wendung wählt Negt bei der Erwähnung der „Urszene“ gestörter Maßverhältnisse zwischen Realität und Wahrheit: die Apologie des Sokrates vor dem Volksgericht Athens. Vgl.: UM, MP, S. 915 f. 128 So zitiert Kluge Heiner Müller in seiner Rede beim Berliner Theatertreffen am 02 . 05 . 2014 . 129 Vgl.: UM, MP, S. 754 . 130 Vgl. u. a.: Sklavin, S. 201 - 211 . 131 Kluge, Alexander: „Die Sehnsucht der Zellen“, in Unterschiede, S. 9 . Kluge-Lexikon 419 Durchschnittstemperatur von 37 Grad, was der des Menschen entspricht. 132 Neben aquatischen sind es insbesondere kosmische Ursprungsmetaphern bzw. generell genealogische Erkenntnisse, anhand derer Kluge darauf hinweist, dass alle Menschen miteinander verwandt sind, Natur sind. 133 Verdrängung Vor allem sozialpsychologisch bedeutsam: Was an Geschichte gesellschaftlich nicht aufgearbeitet ist, sondern geleugnet, verzerrt und verdrängt wird, droht sich gewaltsam zu wiederholen. # Kluge erhebt die Entschleunigung zur Kunstgattung: „Lyrik, Dramatik, Epik und Kritik, das sind nach Alfred Kerr die vier Kunstsorten, und jetzt kommt eine fünfte Kunstsorte hinzu, und die heißt: Verlangsamung.“ 134 Mittels ihr und der Subjektivierung bzw. Narration und Humor kann sich der Mensch in eine „Tatsache“ einfühlen (Menschlichkeit), hat Zeit zur Reflexion, kann Informationen besser verarbeiten und so eigenes Unterscheidungsvermögen ausbilden. Erzählen Zeit 132 Vgl.: ebd., S. 9 u. 87 sowie „Sklavenwasser“, in CdG, Bd. II, S. 1006 . 133 Literarisch verarbeitet z. B. mit „‚Der Mensch ist ursprünglich anderen Lebewesen ähnlich gewesen, nämlich dem Fisch’“ (30. April 1945, S. 208 ). Bei der Lektüre der mythologischen Kurzgeschichte schießen sofort Darstellungen der Ontogenese von Wirbeltieren in den Kopf. Die Geschichte des Menschen, die Evolution der Natur sind in den Embryonalstadien aufbewahrt. Je früher, desto ähnlicher gleichen sich die Lebewesen, also „wir“ und unsere stammesgeschichtlichen Vorfahren. 134 Kluge, Alexander/ Müller, Heiner: Ich schulde der Welt einen Toten, S. 80 . Abb. 38 420 Kluge-Lexikon Vernunft Dualismus der subjektiv-objektiven Kräfte Einfühlung und Sachlichkeit. Es ist die verdichtete Emotion, die zum Gedanken führt-- und umgekehrt. „Denken“ als „besondere Intensität des Gefühls“, „Emotion“ als besondere Intensität der „Beobachtung und Hingabefähigkeit der Sinne“, die kritische Qualität besitzt (verfügt über Unterscheidungsvermögen). In ihrer „poetischen Natur“ ist die Emotion „die Schwester des Denkens“ („verdichtetes Denken“, Intelligenz). 135 Reine Vernunft bzw. zweckrationales Denken hingegen ist von totalitärem Charakter. Adorno sagt: „Freiheit und Vernunft sind Nonsens ohne einander.“ 136 Verstand / Verstandesarbeit Produktion von Orientierung/ Navigation, weniger von Urteilen. Ist mit Unterscheidungsvermögen ausgestattet. 137 Denken Intelligenz # Abb. 39 „Gegen-Kapital“. 135 Theorie der Erzählung, „Das Handwerkszeug für Text und Film. Die Poetik selbst“ ( 2 . Vorlesung, 12 . 06 . 2012 ). 136 Adorno, GS 5 , S. 288 . 137 Vgl.: Kluge, Alexander: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1984 . S. 379 f. Kluge-Lexikon 421 Von dem Bach-Zelewski Literarisch angeeignete reale Figur eines SS -Obergruppenführers („Ort der Einfühlung“, „Das Leiden eines Täters“ 138 ), dessen Krankheit einer „posttraumatischen Belastungsstörung“ bzw. deren Verlauf die Personifikation darstellt des verdrängten schlechten Gewissens, das sich immer irgendwann Bahn bricht, einfach weil ein Mensch Unmenschlichkeit nicht aushalten kann. Damit Allegorie für die zentrale Kluge-These: Die Emanzipation des Menschen lässt sich nicht aufhalten, früher oder später wird sie wirklich. Werkstatt der Autoren dctp. Der Begriff „Werkstatt“ transportiert eine vergleichbare Bedeutung wie die der Baustelle. Autor Tragisch-glückliche Wiedererkennung Tragischer Verlauf mit glücklichem Ausgang durch „rechtzeitiges Erkennen“ im Sinne des Mythos der Merope; nach Aristoteles die vierte und höchste Form der Tragödie. 139 Ebenso die Wiedererkennungsszene bei der Heimkehr Odysseus (Identität), der sich erstens selbst in der eigenen Arbeit, dem von ihm gefertigten, im Boden verwurzelten Baumbett wiedererkennt und zweitens von Penelope durch diese gemeinsame Erfahrung glücklich wiedererkannt wird. Urvertrauen Bifurkation Wiederholung Wiederholung: Ästhetische Methode im Zusammenspiel mit Variation, deshalb genauer: Rekurs. Philosophische Ebene: Das, was unvollendet oder unverarbeitet ist, kehrt so lange wieder, bis es sich verwirklicht bzw. ausgedrückt hat. Durch die Metamorphosis von Zeit, Raum, Kontext, Erfahrung ist das Gleiche nicht das Selbe (man steigt nie zweimal in denselben Fluss usw.)- - insofern ein logischer Beweis für die Diversität in der Welt, entgegen Uniformismus. 140 Weiterhin als lebensbejahendes Nichtsdestotrotz gegenüber der (objektiven) Sinnlosigkeit allen Seins. Siehe dazu: Nietzsches Idee der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, Camus’ Mythos des Sisyphos oder Klees Engel der Geschichte, in dem Kluge neben dem Fortschrittssturm, den Benjamin beschreibt, auch einen Wind der Hoffnung er- 138 Beide Erzählungen finden sich hintereinander in Kluge, Alexander: „Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter“-- 48 Geschichten für Fritz Bauer. Berlin (Suhrkamp) 2013 , S. 64 bzw. 66 . 139 Vgl.: UM, MP, S. 951 - 964 . Im letzten Moment erkennt die im Begriff des Tötens befindliche Königin Merope den vermeintlichen Mörder ihres letzten noch lebenden Kindes-- als eben ihr Kind. 140 Beispiel in der Kunst: Peter Drehers Wassergläser „Tag um Tag guter Tag“. 422 Kluge-Lexikon kennt, der in der Vergangenheit entfacht ist und aus der Zukunft auf uns zuweht. 141 Womöglich ist so auch Kairos’ Wort „Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin, wird mich auch keiner von hinten erwischen“ 142 zu verstehen: Der günstige Moment kommt wieder-- von vorn (Geschichtsschreibung)--; ich muss darauf vorbereitet sein, will ich ihn diesmal ergreifen. Wie aber erkenne ich den Kairos-Moment? Indem ich ihn wiedererkenne: durch Unterscheidungsvermögen. Zeit Entschleunigung, Verlangsamung, auf Turmuhren schießen, 143 Großuhrmacher-Firma „Prudens“ aka Kluge, 144 Zeit gewinnen, Zeit anhalten. Voraussetzung für Empathie und Trauerarbeit. Kluge produziert gleichzeitig Minutenfilme und 10 -Stunden-Filme. Realpolitik, Gesellschaft und Arbeitswelt: unter dem „Gesetz ökonomisierter, geraffter Zeit“. 145 „Zeitbedarf von Revolutionen“: Die Emanzipation des Menschen gelingt, wie die Geschichte gezeigt hat, nicht oder zumindest nicht nachhaltig durch die Gewalt eines Umsturzes. Strategie stattdessen: Emanzipierung in homöopathischer Dosierung. Politik 141 Vgl. u. a.: Kluge in: „Der Angriff der 13 . Fee“, Michael Angele, Ingo Arend, Jakob Augstein u. Philip Grassmann im Skype-Gespräch mit Alexander Kluge, in Der Freitag vom 24 . 12 . 2009 . 142 Gründel, Johannes: „Kairos“, in Lexikon für Theologie und Kirche. Freiburg 1996 , Bd. 5 ., Sp. 1131 . 143 Im Gegensatz zu Uhren sind Kalender die kulturessentiellen „Monumente eines Geschichtsbewußtseins“, sagt Benjamin. Dabei verweist er auf den ersten Abend der Juli-Revolution in Paris, als es dazu kam, dass an verschiedenen Stellen unabhängig voneinander auf die Turmuhren geschossen wurde, um symbolisch die Zeit anzuhalten und eine neue einzuläuten. Die aufbegehrende Masse hatte im Moment ihres Handelns ein Bewusstsein ihrer „das Kontinuum der Geschichten aufsprengenden“ Macht. Vgl.: BGS I. 2 , S. 701 f. 144 Siehe die Kurzgeschichte „Meine Vorfahren väterlicherseits“, in Unterschiede, S. 23 . 145 UM, MP, S. 819 . Abb. 40 Kluge-Lexikon 423 Zirkus Metapher für den Natur-Dompteur Mensch. 146 Zirkus, Elefantendressur oder Ballonfahrt sind mahnende Motive, die sich durch das Werk Kluges ziehen und die symbolisch auf den Menschen der Französischen Revolution und seine verheerende Verirrung verweisen, Herrscher über die Natur sein zu müssen anstatt sich als Teil ihrer zu begreifen und mit ihr zu leben. Elefant Heißluftballon Kluge verwendet dieses Bild auch für große und größere Organisationen, für den Fernsehbetrieb oder die Gruppe 47 , der er selbst angehörte. # Das Zwerchfell besitzt autonome Widerstandskraft: sich freilachen. Das Auslösen von Leichtigkeit ist emanzipatorisch. Humor, Unsinn, das Groteske usw. sind von anti-autoritärer und anti-ideologischer Struktur. Geht Wissenschaft und Theorie eine Verbindung mit diesen ein, kann dies von hoher Erkenntniskraft („Eine Wahrheit wird erst geprüft, dadurch dass man sie ins Komische zieht.“ 147 ) und Bildungsqualität (Erlangung der Aufmerksamkeit, Erweiterung der Aufnahmefähigkeit-- „fröhliche Wissenschaft“) sein. Facts & Fakes 146 „Der Zirkus ist eine der abstraktesten Darstellungen der Ideale der Französischen Revolution, in der er entstanden ist: daß der omnipotente, neue Mensch Elefanten auf einem Fuß balancieren lässt, in der Zirkuskuppel fliegen könne, daß Löwen Männchen machen usf.“ Sklavin, S. 213 . 147 Alexander Kluge in der „leçon du cinéma“ in der Cinématèque française am 27 . April 2013 . Abb. 41 424 Kluge-Lexikon Zusammenhang / Vernetzung Subjektiv-objektive Wechselverhältnisse bilden Zusammenhänge. Anti-systemisch, anti-hierarchisch. Text im Kontext, „Knoten im Netz“, Anti-Linearität, textura; „Man kann auch von Architektur des Zusammenhangs und von Konstellationen sprechen.“ 148 „Während ich schreibe, spreche ich mit anderen vertrauenswürdigen Menschen wie Adorno, Montaigne, Ovid oder Heiner Müller, aber auch mit meiner Mutter oder unserer Erzieherin. Mein Netzwerk ist die Literatur und meine Lieblingsfigur Arachne, eine schöne Weberin, die in den Wettstreit mit der Göttin Athene trat, besser war und deswegen in eine Spinne verwandelt wurde.“ 149 148 Alexander Kluge in seinem Ankündigungstext zur zweiten Poetikvorlesung am 12 . 06 . 2012 in Frankfurt. Neben diesen Satz lege man beispielsweise den Absatz „Konstellation in der Wissenschaft“ aus Adornos Negativer Dialektik; darin: „Der Zusammenhang-[…]-- eben die ‚Konstellation’“. 149 Kluge in: Schlosser, Sabine: „Der Zuschauer wird oftmals unterschätzt“, Interview mit Alexander Kluge, in MEDIEN HORIZONT 6 / 2002 . 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Cover: Alexander Kluge 2013 , Foto: Manuel Braun (manuelbraun.fr). Abb. 1 : Dem „casse-tête chinois“ („Kopfzerbrecher“) überlegen. Vgl.: BGS V. 1 , S. 662 („Photo Bibliothèque Nationale“) bzw. 230 . Abb. 2 : Poetikvorlesung in Frankfurt, 2012 . Foto: Jürgen Lecher. Abb. 3 : Zwei Abbildungen aus Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 Im Original nicht direkt nebeneinander. Vgl. u. a. CdG, Bd. II , S. 43 u. 52. Abb. 4 : UM , GE , S. 844 f. Abb. 5 : Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, hg. v.- Alexander Kluge. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1983 , S. 589 . Abb. 6 : Still aus Il ritorno d’Ulissee in patria (Monteverdi), dctp.tv. Abb. 7 : Aus Kluge, Alexander: „Seine beiden Bücher“, in Alexander Kluge in Halberstadt, S. 32 . Abb. 8 : Still aus Der Hartbrettbohrer, mit Helge Schneider, dctp.tv. Link: www. dctp.tv/ filme/ hartbrettbohrer-helge-schneider/ [Zugriff: 18 . 05 . 2013 ]. Verzeichnis aller Abbildungen und Bild-Text-Arrangements 449 Abb. 9 : Stills aus Ein Liebesversuch, Fernsehmagazin, Erstsendung 09 . 08 . 1998 , 13 min. In: Sämtliche Kinofilme, DVD 1 . Abb. 10 : Stills aus Bomben über Halberstadt, Zeitzeuge Siegfried Gebser berichtet, dctp.tv. Link: www.dctp.tv/ filme/ bomben-ueber-halberstadt/ [Zugriff: 15 . 08 . 2012 ]. Abb. 11 : Stills aus Ein Arzt aus Halberstadt, Kurzdokumentarfilm, BRD (Kairos- Film) 1970 , 29 min. In: Sämtliche Kinofilme, DVD 16 . Abb. 12 : Stills aus Frau Blackburn, geb. 5. Jan. 1872, wird gefilmt, Kurzdokumentarfilm, BRD (Kairos-Film) 1967 , 13 min. In: Sämtliche Kinofilme, DVD 16 bzw. Kluge, Alexander/ Aust, Stefan/ Engstfeld, Axel/ Schlöndorff, Volker: Krieg und Frieden, Drehbuch: Heinrich Böll u. die Regisseure. BRD (Pro-jekt Filmproduktion/ Bioskop-Film, Kairos-Film) 1982 , 118 min. In: Sämtliche Kinofilme, DVD 11 . Abb. 13 : Stills aus Was ist Krieg? , Oskar Negt über Konstanten und Veränderungen des Krieges im 21 . Jahrhundert, BRD (Kairos-Film) 2002 , 24 min. In: Seen sind für Fische Inseln, DVD 7 . Abb. 14 : Stills von Mehrfachbilder für 5 Projektoren („ SIMULTANE “), Hans Richter gewidmet, Uraufführung im Haus der Kunst, München 2007 . Zur Verfügung gestellt von Beata Wiggen, dctp. Abb. 15 : Matthäus Merian d. Ä., Illustration zu Ovids Metamorphosen, Buch VI , 1619 . Abb. 16 : Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, hg. v.- Alexander Kluge. Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 1983 , S. 479 . Abb. 17 : Screenshot von dctp.tv, „Gärten der Information“ [Zugriff: 15 . 07 . 2015 ]. Abb. 18 : Abb. u. a. in CdG, Bd. II , S. 7 (Vorbemerkung) und Die Patriotin, BRD (Kairos-Film) 1979 . Abb. 19 : Grandville: Le pont des planètes, 1844 . Wiederholt bei Kluge und abgedruckt in Walter Benjamins Passagen-Werk, BGS V. 1 , S. 670 . Abb. 20 : Alexander Kluge in Halberstadt, S. 39 . Abb. 21 : UM , GE , S. 246 . Abb. 22 : Abb. u. a. in GE , S. 289 . Abb. 23 : Alexander Kluge in Halberstadt, S. 30 . 450 Siglen und Quellenverzeichnis Abb. 24 : Bretter, S. 94 . Abb. 25 : UM , Suchbegriffe, S. 51 . Abb. 26 : Ausschnitt aus Francesco de’ Rossis Fresko im Audienzsaal des Palazzo Sacchetti in Rom ( 1552 / 54 ). Link: https: / / commons.m.wikimedia.org/ wiki/ File: Francesco_Salviati_005.jpg (The Yorck Project: 10 . 000 Meisterwerke der Malerei. DVD - ROM , 2002 . Distributed by Directmedia Publishing GmbH). Abb. 27 : U.a. in UM , GE , S. 1158. Abb. 28 : Stills aus Die Patriotin, BRD ( ZDF , Kairos-Film) 1979 , 118 min. In: Sämtliche Kinofilme, DVD 10 . Abb. 29 : U.a. in GE , S. 343 . Abb. 30 : GE , S. 146 f. Abb. 31 : UM , Suchbegriffe, S. 165 . Abb. 32 : Theodor W. Adorno und Alexander Kluge 1963, Foto: Stefan Moses. Abb. 33 : Jürgen Habermas und Alexander Kluge 1985 , Foto: Christiane Strub. Abb. 34 : Kluge, Alexander: Facts & Fakes 2/ 3: Herzblut trifft Kunstblut. Berlin (Vorwerk 8 ) 2001 , S. 32 . Abb. 35 : U.a. in GE , S. 313 . Abb. 36 : Bretter, S. 36 . Abb. 37 : Foto: Bert-Christoph Streckhardt. Abb. 38 : UM , Zwischenstück, S. 676 . Archiv Kairos. Abb. 39 : U.a. in Die Kunst, Unterschiede zu machen, S. 87 . Abb. 40 : UM , Suchbegriffe, S. 311 . Abb. 41 : Still aus dem Musikvideo Kluge, Alexander: Sehnsucht nach der nächsten Katastrophe. Geschichten vom Hoheitsadler, Eva Jantschitsch singt zur Filmmontage von Alexander Kluge. Link: http: / / www.dctp.tv/ filme/ sehnsucht-nach-der-naechsten-katastrophe/ [Zugriff: 07 . 06 . 2003 ]. Dank Meiner Frau Olivia Mauny und meiner Mutter Heike Streckhardt danke ich zutiefst für all das entgegengebrachte Vertrauen, für Inspiration, Unterstützung, wertvolle Fragen und das Zerstreuen der Zweifel. Meinen Geschwistern für das Wachhalten des alten Spielplatzes des Absurden in uns. Für die Aufgeschlossenheit einem Thema gegenüber, das sich nicht nur auf dem Terrain der philosophischen Disziplin bewegt, danke ich herzlich meiner Doktormutter Prof. Dr. Friedrike Schick sowie meinem Zweitprüfer Prof. Dr. Andreas Schmidt. Diese Arbeit wäre nicht zustande gekommen ohne die großzügige finanzielle Absicherung durch die FAZIT -Stiftung. Danke an die Stiftung für eine Arbeitsatmosphäre ohne bürokratische Zwänge sowie die finale Publikation. Mein Dank gilt zudem den so wichtigen Einrichtungen zur Bewahrung und Offenlegung deutscher und europäischer Kulturgeschichte: dem Deutschen Literaturarchiv Marbach mit dem darin befindlichen Siegfried Unseld Archiv, der Deutschen Schillergesellschaft für ein einmonatiges Suhrkamp-Stipendium zur Forschung in den Marbacher Katakomben sowie dem Theodor W. Adorno Archiv bzw. dem Walter Benjamin Archiv der Berliner Akademie der Künste, die mir den Briefwechsel zwischen Kluge und Adorno zugänglich gemacht haben (das Kluge-Archiv wurde erst nach Abschluss dieser Arbeit gegründet). Danke an die dctp und Beata Wiggen für die Offene-Tür-Politik, danke auch an Thomas Combrink, insbeondere für die Gelegenheit, der Heinrich-Heine-Preis-Verleihung beizuwohnen. Dem Fotografen Manuel Braun danke ich für die großzügige Erlaubnis, eines seiner wunderbaren Kluge-Portraits für die Titelseite verwenden zu dürfen. Es ist, als würde man durch seine Kamera hindurch den Porträtierten zum ersten Mal richtig sehen können. Mit meinem Freund Jan Urbich bin ich einem ausgezeichneten Spezialisten (nicht nur) der Kritischen Theorie für Ratschläge zu großem Dank verpflichtet. Beim Erinnern an den Eintritt in diesen ganzen Kluge-Kosmos denke ich zudem an meinen Freund Michel Metrangolo. Zu guter Letzt sei Alexander Kluge selbst sehr herzlich für seine unprätentiöse und interessierte Bereitschaft zum gemeinsamen Gespräch und die anregende Auseinandersetzung mit dem Thema dieser Arbeit gedankt, was den Sinn ihrer Existenz für mich persönlich längst erfüllt hat. Ob Thekengespräch in Paris, Skype-Schaltung nach München oder Teilnahme an der Kunst des klugeschen Simultantelefonierens-- es war jedes Mal ein außerordentliches Erlebnis, ein außerordentlich schönes.