eBooks

"Ein Nachtigall die waget"

2016
978-3-7720-5590-4
A. Francke Verlag 
Matthias Luserke-Jaqui

Das Buch verfolgt den Wandel des Luther-Bildes in der Literatur. Matthias Luserke-Jaqui schaut mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers auf die Entstehung und Tradierung des Luther-Bildes in der Geschichte. Dieses kulturelle Bild von Luther dient als Projektionsfläche individueller wie gesellschaftlicher Wünsche, es schwankt zwischen Monumentalisierung, Sakralisierung, Trivialisierung und Verkitschung bis hin zur völligen Ablehnung. Die Luther-Bilder der jeweiligen Zeit sammeln diese Tendenzen oder bringen sie recht erst hervor. Dabei wird die Rolle der Literatur untersucht, welchen Einfluss sie vorwegnehmend für die Ausbildung neuer Luther-Bilder nimmt oder inwiefern sie bestehende Luther-Bilder verharrend bewahrt. Der historische Bogen spannt sich von der Wittenbergischen Nachtigall des Hans Sachs, über Texte von Goethe, Hölderlin, Kleist, Werner, Klingemann bis hin zu Jochen Klepper und Thorsten Becker.

„Ein Nachtigall die waget“ Luserke-Jaqui „Ein Nachtigall die waget“ Matthias Luserke-Jaqui Das Buch verfolgt den Wandel des Luther-Bildes in der Literatur. Matthias Luserke-Jaqui schaut mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers auf die Entstehung und Tradierung des Luther-Bildes in der Geschichte. Dieses kulturelle Bild von Luther dient als Projektionsfläche individueller wie gesellschaftlicher Wünsche, es schwankt zwischen Monumentalisierung, Sakralisierung, Trivialisierung und Verkitschung bis hin zur völligen Ablehnung. Die Luther-Bilder der jeweiligen Zeit sammeln diese Tendenzen oder bringen sie recht erst hervor. Dabei wird die Rolle der Literatur untersucht, welchen Einfluss sie vorwegnehmend auf die Ausbildung neuer Luther-Bilder nimmt oder inwiefern sie bestehende Luther-Bilder verharrend bewahrt. Der historische Bogen spannt sich von der Wittenbergischen Nachtigall des Hans Sachs, über Texte von Goethe, Hölderlin, Kleist, Werner, Klingemann bis hin zu Jochen Klepper und Thorsten Becker. ISBN 978-3-7720-8590-1 Luther und die Literatur für Silvia Sarai, Rahel, Seraphina, Yolanda Rafael, Nikolai, Mats, Carlotta, Magdalena, Anton Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung - Martin Luther und die Literatur . . . . . . . . . . . 13 Exkurs. Sechs Bemerkungen über die Deutung von literarischen und religiösen Texten 2 Zwischen Bekenntnis und Verachtung - Das Luther-Bild in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 u. a.: Lazarus Spengler Schützred und christenliche antwurt (1518); Eobanus Hessus Elegien (1521); Thomas Murner Von dem grossen Lutherischen Narren (1522); Hans Sachs Die Wittenbergisch Nachtigall (1523), Das Walt got (1523); Friedrich Spee Trvtz-Nachtigal (1649); Simon Lemnius Epigramme (1538/ 39), Monachopornomachia (1539); Luther Dysenteria Lutheri in merdipoetam Lemchen (1538); Martin Rinckart Der Eißlebische Christliche Ritter (1613) 3 „ Bruder Martin “ - Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 u. a.: Christoph Friedrich von Derschau Lutheriade (1760); Johann Andreas Cramer Ode auf D. Martin Luther (1770); Goethe Brief des Pastors *** an den neuen Pastor zu *** (1773), Götz von Berlichingen (1773); Lessing Eine Parabel (1778), Axiomata (1778), Nathan der Weise (1779); Herder Mächtige Eiche (1774), Theophron (1781); August Hennings Doctor Martin Luther! (1792); Friedrich Christian Laukhard Ode auf Luther (1799); Novalis Die Christenheit oder Europa (1799) 4 Zwischen Hymnik und Trivialisierung - Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 u. a.: Hölderlin Luther-Hymne (1802/ 06); Zacharias Werner Martin Luther oder die Weihe der Kraft (1807); Theodor Fontane Schach von Wuthenow (1883); August Klingemann Martin Luther (1808); Ideenwettbewerb um das beste Luther-Denkmal (1803); Jean Paul Wünsche für Luthers Denkmal (1805); Kleist Michael Kohlhaas (1810); Johann Peter Hebel Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (1811); Theodor Körner Luthers Monolog (1812); Goethe Reformationskantate (1816); Heinrich Schorch Luthers Entscheidung (1817); Friedrich Nietzsche Fröhliche Wissenschaft (1882) 5 Das Luther-Bild in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 u. a.: August Strindberg Die Nachtigall von Wittenberg (1903); Ricarda Huch Luthers Glaube (1916); Johannes R. Becher Luther (1939); Thomas Mann Luthers Hochzeit (1954/ 55, postum 1996); Jochen Klepper Katharina von Bora (1935/ 42); John Osborne Luther (1961); Dieter Forte Luther & Münzer (1971); Thorsten Becker Das Ewige Haus (2009); Rolf Hochhuth 9 Nonnen fliehen (2014) Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Friedrich Hölderlin: Luther (1802/ 06) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Hans Sachs: Ein Epitaphium oder Klagred ’ ob der Leiche Doctor Martini Lutheri (1546) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 8 Inhalt Vorwort „ Daran fand ich nichts verdächtig, am rein fachlichen Reden über Luther. Um ehrlich zu sein, es war mir ein Vergnügen “ (Detlef Opitz: Klio, ein Wirbel um L. Roman. Göttingen 1996, S. 14). „ Man kann allerdings ein Mensch seyn, ohne daß man nöthig hat ein Autor zu werden “ 1 . W as der große Aufklärer, Literat, Theologe und Philosoph Johann Georg Hamann (1730 - 1788) da in seiner Aesthetica in nuce von 1762 geäußert hat, gilt unbestritten. Wenn ich einen Grund hatte zum Autor eines Buches Luther und die Literatur zu werden, dann allein denjenigen, dass mir Luther auch heute noch als jene ‚ kraftvolle Symbolfigur ‘ , wie es in dem EKD-Grundlagentext zum Reformationsfest 2017 Rechtfertigung und Freiheit heißt, erscheint, die in 500 Jahren deutscher Literatur- und Kulturgeschichte in je unterschiedlichen Konstellationen erinnerungsgeschichtliche Spuren hinterlassen hat. Welche Rolle spielte dabei die Literatur, wenn man ihr unterstellt, dass sie mehr ist als bloße Abbildung historischer Vorgänge? Wie gestaltete Literatur das Luther-Bild? Das große Reformationsjubiläum 2017 mag der Anlass sein, um die Aufmerksamkeit von uns Lesern auch darauf zu lenken, dass die Literatur einen entscheidenden Anteil daran hat, wie das Luther-Bild über die Zeiten hinweg gestaltet, geformt, geprägt oder schlicht tradiert wird. Das Thema ist aber nicht auf die Luther-Jubiläen begrenzt. In ausgewählten, exemplarischen Textstudien wird den verschiedenen Spuren eines Luther-Bildes in der Literatur gefolgt. Nicht berücksichtigt wird in diesem Buch die Menge der flachen, trivialen Luther-Erzählungen, Luther-Romane und Luther-Gedichte des 19. Jahrhunderts, die in ihrem nationalen Rausch weniger über Luther aussagen als vielmehr Einblick geben in die Sehnsüchte bürgerlicher Seelen. Ebenso bleiben auch nationalsozialistische Ela- 1 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hgg. v. Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1983, S. 97. borate außen vor. Die Zeit hat hier ihr Urteil gesprochen und es ist nichts mehr aus diesen Texten zu lernen. Sie bestätigen nur die elementare Erfahrung im Umgang mit Literatur und kulturellem Erbe, beides lässt sich bestens politisch funktionalisieren. Die Literatur und die Literaturwissenschaft treten bei der kritischen historischen Lektüre nicht in Konkurrenz zur Theologie, sondern sollten geschwisterlich diese Aufgabe weiter verfolgen. Mag dieses Buch ein Anstoß dazu sein. Gleichwohl nehme ich eine Bemerkung Lessings (1729 - 1781) aus seinen Axiomata (1778) in Anspruch: „ Ich bin Liebhaber der Theologie, und nicht Theolog “ 2 . Wer sich anschickt über Luther ein Buch zu schreiben, muss sich dem Diktum Johann Gottfried Herders (1744 - 1803) aussetzen, das er uns mit auf den Weg gegeben hat: „ Müßiggänger sind wir gegen einen Luther, Melanchthon, Zwingli u.[s].f. Sie handelten, sie veranstalteten mehr, als sie schrieben; sie schrieben mehr als wir zu lesen vermögen “ 3 . Trost finde ich angesichts dieser Entmutigung bei Luther selbst, in seinem Sendbrief vom Dolmetschen (1530) schreibt er nämlich: „ Es ist niemand verboten, ein bessers zu machen. Wer ’ s nicht lesen will, der laß es liegen “ 4 . Diese Worte kann ich mir in aller Bescheidenheit nur zu Eigen machen. Und am Ende obsiegt doch der Appell, übrigens Herders Appell: „ Leset Luther “ 5 . Meinem Team sage ich gerne herzlichen Dank für die Unterstützung, gemeint sind Lisa Wille M. A., Eva Mengler, Fabienne Scholz, Thomas Fuhrmann und Dorina Markert. Matthias Luserke-Jaqui Darmstadt/ Kusel, 31. 10. 2015 2 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 57 [s. Bibliographie]. 3 Herder: Sämtliche Werke, Bd. XI, S. 122 [s. Bibliographie]. 4 Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen. Hgg. v. Ernst Kähler. Stuttgart 1995, S. 153. 5 Herder: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 373. 10 Vorwort Zur Zitierweise: WA = Luthers Werke nach der Weimarer Ausgabe WA BR = Weimarer Ausgabe Briefwechsel WA TR = Weimarer Ausgabe Tischreden Vorwort 11 „ last uns [. . .] schreiben, tichten, reymen, singen, malen “ (WA 19, S. 43), Luther in seiner Schrift Das Papstthum mit seinen Gliedern gemalet und beschrieben 1526. 1 Einleitung - Martin Luther und die Literatur I n der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel stand jahrhundertelang unbemerkt ein Buch, in dem sich nun handschriftliche Notizen von Martin Luther (1483 - 1546) fanden. In der Fachwelt wurde der Fund als kleine Sensation bewertet. Den großen Bibliothekaren der Bibliothek, unter ihnen Leibniz und später Lessing, war dieser kleine Schatz jahrhundertelang unbemerkt geblieben. Die Bibliothek veröffentlichte am 19. 8. 2013 eine Pressemitteilung, die wesentlich detaillierter ausfiel als das, was die allgemeine Publizistik daraus gemacht hat. Tatsächlich handelte es sich nämlich um Marginalien im buchstäblichen Sinn, also um Randbemerkungen. Die Freunde der Literatur waren elektrisiert. Was für eine Sensation - wenn man den immer knapper werdenden Zeitungsmeldungen der darauf folgenden Tage Glauben schenken würde! Am Ende war sogar die Rede davon, ein bislang unbekanntes Manuskript aus der Feder Martin Luthers sei entdeckt worden. Qumran in Wolfenbüttel! Aber ganz so sensationell war es dann doch nicht. Ein Fund, gewiss, ein interessanter auch, ein wichtiger, auch das noch. Er komplettiert unsere Vorstellungswelt von Martin Luther, klärt die eine oder andere Detailfrage, mehr nicht. Folgendes war zu lesen: Neuer Lutherfund - ein Zeugnis seiner frühen humanistischen Studien Ein Sammelband der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel enthält bisher unbekannte Einträge aus der Hand Martin Luthers. Sie gehören zu den ältesten erhaltenen handschriftlichen Zeugnissen des Theologen. Ulrich Bubenheimer (Pädagogische Hochschule Heidelberg) entdeckte die Einträge in dem Band mit der Signatur 72.5 Quod. Den Tischreden Martin Luthers (1483 - 1546) kann man entnehmen, dass der erste zeitgenössische Dichter, den er gelesen hat, der italienische Schriftsteller Baptista Mantuanus (1448 - 1516) war. Bubenheimers Fund bestätigt, dass sich Luther vermutlich in seiner Erfurter Studienphase zwischen 1505 und 1511 mit dem Werk von Mantuanus beschäftigte. Luther notierte eine Regel zum Versmaß eines Gedichtes und erklärte seltene lateinische Worte. Das Stichwort ‚ fides ‘ (Glaube) im Text griff er auf und zitierte eine Stelle aus dem Römerbrief des Apostels Paulus, die später zum Kernsatz seiner reformatorischen Rechtfertigungslehre werden sollte: ‚ Justus ex fide vivit ‘ ( ‚ Der Gerechte lebt aus Glauben ‘ ). In den Wolfenbütteler Sammelband 72.5 Quod wurden mehrere Druckschriften eingebunden. Ein weiterer Titel ist die Kaiserchronik des Straßburger Humanisten Jakob Wimpfeling (1450 - 1528). Hier sind weitere Einträge Luthers zu finden, aus denen sich sein zunächst noch ungebrochenes Verhältnis zur Heiligenverehrung seiner Zeit erkennen lässt. Besonderes Interesse zeigte Luther an Elisabeth von Thüringen, einer Heiligen aus seiner Heimat. Er fügte ihre Lebensdaten in die Chronik ein. Der Sammelband war einst Teil der Bibliothek des humanistischen Erfurter Lehrers Johannes Lang (1487 - 1548). Wie Luther gehörte er dem Erfurter Kloster der Augustinereremiten an und nahm selbst umfangreiche handschriftliche Anmerkungen im Band vor. Die neuen Funde geben eine Möglichkeit, Luthers humanistische Bildung und theologische Entwicklung nach zu verfolgen. Zusammen mit Langs Texten und den Beiträgen eines weiteren, bisher unbekannten Schreibers ist der Erfurter Band ein wichtiges Zeugnis des Erfurter Humanismus und der deutschen Rezeption des italienischen Humanismus. 1 Sollte einer der wichtigsten und zentralen Kernsätze von Luthers Theologie, das ‚ sola fide ‘ , allein aus Glauben ist der Mensch gerechtfertigt, von einem Poeten inspiriert worden sein? Das wäre sicherlich übertrieben, schlicht falsch. Aber die knappe handschriftliche Notiz des Augustinermönchs an den Rand einer Gedichtzeile von Mantuanus, in der von sancta fides gesprochen wird - das darf zumindest als Anknüpfungspunkt für eine Assoziation gewertet werden, in deren Folge sich eine ungeheure Erkenntnis entwickeln sollte, nämlich ‚ sola fide ‘ . 2 Der Kernsatz von Luthers Rechtfertigungslehre und 1 Nachzulesen unter http: / / www.hab.de/ files/ 2013-08-16-lutherfund.pdf (Zugriff am 4. 5. 2015). 2 Zu diesem für die Humanisten außerordentlich bedeutsamen Poeten Mantuanus vgl. Georg Ellinger: Italien und der deutsche Humanismus in der 14 Kapitel 1 das Gedicht eines humanistischen Poeten bilden eine gedankliche Allianz, die Luther am Ende zu seiner Rechtfertigungslehre führt. Luther und die Literatur ist also ein Thema, das auch durch den Reformator selbst vorgegeben und selbstverständlich ist. Literaturstatistiker haben errechnet, dass Luther im Durchschnitt pro Jahr etwa 1.800 Druckseiten geschrieben hat. Das entspricht einer Tagesproduktion von etwa fünf Druckseiten. 3 Natürlich gibt es bei solchen höchst ungenauen Berechnungen erhebliche Schwankungen, weil man sich zuvor etwa über die Zeichenmenge pro Seite verständigen müsste. Aber das Rechenspiel unterstreicht, welche zentrale Rolle die Veröffentlichung seiner Anschauungen für Luther hatte, das Publizieren, Verbreiten und Gelesenwerden. Luther nimmt damit eine Spitzenposition im Literaturbetrieb der Frühen Neuzeit ein. Wenige Jahrzehnte, nachdem der Buchdruck durch Gutenberg revolutioniert worden und die Verbreitung von Positionen und Gegenpositionen, von Glaubensinhalten und Häresien, von Thesen und Gegenthesen, von Beschreibungen und Erdichtungen, kurz von Literatur möglich geworden war. Zu Luthers Lebzeiten stammte etwa ein Drittel aller gedruckten deutschsprachigen Bücher von ihm. 4 Luther hat den zeitgenössischen Buchmarkt beherrscht. Die Produktion, die Distribution und die Rezeption von Literatur wird durch Luthers Schaffen nachhaltig verändert. Er, Luther, und die Reformation leisten damit einen entscheidenden Beitrag zur Demokratisierung des Wissens, auch wenn sich dieser Prozess realhistorisch als Bildungsaufgabe noch über einige Jahrhunderte hinstreckt und erst im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts einen breiten sozialen Effekt erreicht. Diese ungeheure Breitenwirkung der lutherischen Schriften fiel auch schon einem der schärfsten Widersacher Luthers, Johannes Cochläus (1479 - 1552) auf. Er schrieb 1549 in seinen Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri: neulateinischen Lyrik. Berlin, Leipzig 1929, S. 103 - 107. - Im Jahr von Luthers Eintritt in das Erfurter Augustinerkloster 1501 erschien in Erfurt der Gedichtband Vergilii Neoterici des Mantuanus. Luther hat also eine aktuelle literarische Neuerscheinung gelesen. Vgl. Morimichi Watanabe: Martin Luther ’ s Relations with Italian Humanists. With Special Reference to Ioannes Baptista Mantuanus, in: Lutherjahrbuch 54 (1987), S. 23 - 47, bes. S. 45. 3 Vgl. Debus: Über Martin Luthers Bedeutung in sprachlicher und literarischer Perspektive, in: Sprachwissenschaft 39/ 4 (2014), S. 425 - 443. 4 Vgl. Debus: Über Martin Luthers Bedeutung, S. 434. Einleitung 15 Luthers Neues Testament [war] durch die Buchdrucker dermaßen gemehrt und in so großer Anzahl ausgesprengt, also daß auch Schneider und Schuster, ja auch Weiber und andere einfältige Idioten, soviel deren dies neue lutherische Evangelium angenommen, wenn sie auch nur ein wenig Deutsch auf einem Pfefferkuchen lesen gelernt hatten, dieselbe gleich als einen Bronnen aller Wahrheit mit höchster Begierde lasen. Etliche trugen dasselbe mit sich im Busen herum und lernten es auswendig. Daher maßen sie sich in der Folgezeit innerhalb weniger Monate soviel Geschicklichkeit und Erfahrung selber zu, daß sie keine Scheu trugen, nicht allein mit den katholischen gemeinen Laien, sondern auch mit Priestern und Mönchen, ja auch mit Magistern und Doktoren der Heiligen Schrift vom Glauben und Evangelium zu disputieren. 5 Anders verhält es sich mit Luthers Bedeutung für die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache. Luther ist zwar durchaus der Begründer des protestantischen Kirchenlieds in Form, Inhalt und sprachlichem Ausdruck. Er selbst versteht sich aber nicht „ als Begründer oder Kreator der deutschen Einheitssprache “ 6 . Dass Luther der Schöpfer einer deutschen Schriftsprache gewesen sei, hält sich außerhalb akademischer Kreise als ein hartnäckiger Mythos. Luther hat keine Normierung des Neuhochdeutschen geschaffen. Vielmehr war es ein langer historischer Prozess, in dem Luthers Bibelübersetzung freilich eine entscheidende Rolle spielte. Luther war ein „ trefflicher, gewaltiger Redener “ , sagt schon sein Freund und Mitarbeiter Justus Jonas (1493 - 1555) in der Leichenrede auf Luther. Jonas fährt fort: „ Item ein überaus gewaltiger Dolmetscher der gantzen Bibel. Es haben die Canzleien zum teil von im gelernet recht deudsch schreiben und reden, denn er hat die Deudsche sprach wider recht herfür gebracht, das man nu wider kann recht deudsch reden und schreiben und wie das viel hoher leut müssen zeugen und bekennen “ . 7 Und Luthers Sprache wurde bereits 1578 die Grundlage einer zeitgenössischen erfolgreichen Grammatik, die bis 1720 elf Auflagen erlebte. 1663 wird er sogar als „ ein rechter Teutscher Cicero “ 8 tituliert. Zu bedenken ist, dass es zu Luthers Zeit keine einheitliche deutsche Schriftsprache, sondern lediglich regionale Schreibsprachen gibt. 5 Zitiert nach: Debus: Über Martin Luthers Bedeutung, S. 433. 6 Debus: Über Martin Luthers Bedeutung, S. 439. 7 Zitiert nach Werner Besch: Deutscher Bibelwortschatz in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2008, S. 143 - 153, hier S. 143. 8 Besch: Deutscher Bibelwortschatz, S. 143. 16 Kapitel 1 Sein Übersetzungsprinzip 9 besteht darin, nicht dem Wort, sondern dem Sinn nach zu übersetzen, das erlaubt ihm eine große, aus dem ostmitteldeutschen Sprachraum stammende muttersprachliche Freiheit; seine Sprachbegabung ist unbestritten; seine lebenslange Spracharbeit, stets auf der Suche nach dem besseren Wort, was die Beratung durch andere Übersetzer mit einschließt; und schließlich die Sprachneuerungen, Luther nutzt die sprachlichen Möglichkeiten seiner Zeit am besten aus. Schließlich ist es die Autorität des Gegenstands, es ist die Bibel, die der Luthersprache zum entscheidenden Durchbruch und zur weitesten Verbreitung verhilft. Man schätzt, dass allein von der Bibelübersetzung einschließlich der Teilübersetzungen eine halbe Million Exemplare in Umlauf waren, bei einer Bevölkerungszahl von 12 bis 15 Millionen. 10 Hinzu kommt die ungeheure Flut an Traktaten und Kleinschriften aus Luthers Feder. Aber erst in einem über 200jährigen Prozess schlossen sich allmählich die anderen Sprachregionen einer neuhochdeutschen Schriftsprache an. Luther befördert den Übergang zur Deutschsprachigkeit und Volkssprachlichkeit durch seine Veröffentlichungen. Obwohl er auch in der Gelehrtensprache Latein veröffentlichte, tritt das Deutsche mehr und mehr an dessen Stelle. Ulrich von Hutten (1488 - 1523) hat diesen Prozess ebenfalls durchlaufen und mit folgendem Ausruf kommentiert: „ Latein ich vor geschrieben hab ‘ - / das war eim jeden nit bekannt, / jetzt schrei ich an das vaterland / deutsch Nation in ihrer Sprach, / zu bringen diesen Dingen Rach. “ 11 Die Literatur wird nach 1520 zum wichtigsten Medium der Reformation und der Gegenreformation - neben der Mündlichkeit der Predigten. Erstmals treten die unteren sozialen Schichten der Handwerker und Bauern als literarisch agierende und theologisch-konfessionell argumentierende Figuren in der Literatur auf. Der Buchdruck verändert sich durch Luther, die großen und teuren Foliobände bekommen Konkurrenz durch die Kleinformate. Luthers Bücher und Traktate werden von den Lesern regelrecht gierig erwartet. Der historische Martin Luther, der Reformator und der durch die Jahrhunderte kulturell geformte und verformte Luther eignen sich 9 Folgende Ausführungen nach Besch: Deutscher Bibelwortschatz, S. 148. 10 Vgl. Werner Besch: Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung. Berlin 2014, S. 57. 11 Zitiert nach Werner Lenk: Martin Luther und die deutsche Literatur, in: Weimarer Beiträge 29/ 11 (1983), S. 1870 - 1887, hier S. 1876. Einleitung 17 nicht zum tragischen Helden. Zu diesem Urteil muss man gelangen, wenn man sich die Frage stellt, weshalb Luther in den vergangenen 500 Jahren so selten Gegenstand einer Tragödie geworden ist - sieht man einmal von den unmittelbar reformations- und gegenreformationsbedingten dramatischen Tagesproduktionen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ab. Für die Literaturwissenschaft stellt sich schlicht die Frage, weshalb es keine Luther-Dramen in der Literatur mehr gibt, nachdem die unmittelbaren Kämpfe um Für und Wider der Reformation ausgefochten waren. Als Tragödie eignen sich weder die Person Luther noch die Reformation selbst, denn sie sind kein tragischer Stoff. Im Gegenteil, sie sind eine Erfolgsgeschichte. Als Komödie eignen sie sich aber auch nicht, denn dafür wird Luther über viele Jahrhunderte hinweg viel zu sehr verehrt, mehr als nur gewürdigt, phasenweise geradezu heiliggesprochen und für politische und ideologische Zwecke instrumentalisiert. Bleiben also nur die dramatischen Luther-Sottisen, die aber ihre historische Widerstandskraft schon bald nach Erstarken der Reformation im 16. Jahrhundert verloren haben. Dass das 19. Jahrhundert die Luther- Epik entdeckt und Luther-Romane erscheinen, nimmt nicht wunder, können sie doch am ehesten zum einen dem feuilletonistischen Geschmack des zeitgenössischen Lesepublikums entsprechen und zum anderen in eingängiger Form für die nationalen und nationalistischen Bestrebungen vor allem nach der Reichsgründung 1871 in Anspruch genommen werden. Der verkitschten Fiktion sind hier Tür und Tor geöffnet. Am historischen Gegenstand Luther werden dann Befindlichkeiten, Erwartungen, Denkhaltungen, Ängste der jeweiligen Gegenwart widergespiegelt. Bleibt zum Schluss die literarische Form des Gedichts. Das lyrische Sprechen über Luther ist zeitlos - und es ist die persönlichste Form der literarischen Aussage. Doch auch hier macht sich bemerkbar, dass die Angst vor Trivialisierung angesichts eines solchen heroischen Stoffes manchen Plan im Status des Fragments erstarren lässt. Diejenigen Luther-Gedichte, die dokumentiert sind, bewegen sich zwischen Anerkennung, Bewunderung, Verteidigung, Angriff oder Sottise. Das führt zu der Frage, wie die Tatsache zu erklären ist, dass sich nur wenige Vertreter der sogenannten Höhenkammliteratur finden, die sich der historischen Person Luther literarisch stellen, gibt es tatsächlich, wie vermutet wurde, 18 Kapitel 1 eine „ offenkundige Zurückhaltung der meisten bedeutenden und [. . .] klassischen Autoren “ 12 ? Ein Blick in die Forschung ist ernüchternd. Neben zahlreichen Spezialstudien 13 liegen keine tauglichen Überblicksdarstellungen vor. Gustaf Hildebrants Arbeit Lutherdramen beschränkt sich lediglich auf sieben Luther-Dramen, die für ihn die bedeutendsten sind: August Strindberg Nachtigall von Wittenberg (1903), Adolf Bartels Luther-Trilogie (1903), Friedrich Lienhard Luther auf der Wartburg (1906), Hans von Wolzogen Luther auf der Coburg (1918), Alfred Graf Der Prophet (1921), Waldemar Müller-Eberhart Luther, der Lebendige vor seinem Gewissen im Kampfe mit Teufeln (1927) und Josef Buchhorn Wende in Worms (1937) - allesamt Dramen, die heute vergessen sind, teils nationalistisch, teils antisemitisch und nationalsozialistisch geprägt (mit Ausnahme von Grafs Drama). 14 1973 hat Kurt Aland sein Buch Martin Luther in der modernen Literatur 15 veröffentlicht. Er führt Textbeispiele aus der deutschen bzw. deutschsprachigen Literatur an. Der Autor ist einem sehr feingeistigen und engen Verständnis von Literatur verpflichtet und lässt nur Thomas Mann gelten, was ihn zu dem Bekenntnis verleitet: „ Von daher verzweifelt man beinahe an der Hoffnung auf der Sache gerecht werdende [! ] Lutherromane oder Lutherdramen “ 16 . Hedwig Kiesel spricht davon, dass zwischen 12 Günter Hartung: Luther-Bilder in der deutschen Literatur, in: Ders.: Literatur und Welt. Vorträge. Leipzig 2002, S. 11 - 32, hier S. 15. Hartung meint weiter: „ Selbst literarisch Gebildete werden nämlich auf die Frage nach Werken, in denen Luther thematisch ist, sehr wenige nennen können “ (ebd.). 13 Vgl. etwa Heinz Otto Burger: Luther als Ereignis der Literaturgeschichte, in: Luther-Jahrbuch 24 (1957), S. 86 - 101. Der Beitrag beschäftigt sich ausnahmslos mit dem Kirchenliederdichter Luther. - Manfred Karnick hebt drei Themenbereiche in der literarischen Luther-Rezeption hervor: Luther als Ordnungshüter, Luther als Ehemann und Vater und Luther der Fleißige. Damit umschreibt er die soziale, die familiale und die arbeitsethische Funktion in der Geschichte des literarisch dargestellten Luther-Bildes, vgl. Manfred Karnick: ‚ Fructus germinis Lutheri ‘ oder Ehe und Unordnung. Über Themen der literarischen Lutherrezeption, in: Luther in der Neuzeit. Hgg. v. Bernd Moeller. Gütersloh 1983, S. 265 - 283, bes. S. 267. 14 Vgl. Gustaf Hildebrant: Lutherdramen. Dramen der Luther-Renaissance von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Eine literaturgeschichtliche Betrachtung. Cottbus [ca. 1937]. 15 Vgl. Kurt Aland: Martin Luther in der modernen Literatur. Ein kritischer Dokumentarbericht. Witten, Berlin 1973. 16 Kurt Aland: Martin Luther in der modernen Literatur. Ein Beitrag zur Begegnung des Schriftstellers mit der Historie, in: Karl Lehmann (Hg.): Einleitung 19 1717 und 1984 allein 205 Dramen mit Luther als Hauptfigur erschienen seien. 1625 reiße die Reihe der Luther-Dramen ab, und erst mit Zacharias Werners Weihe der Kraft werde der Faden der Dramatisierung Luthers wieder aufgenommen. 17 Für das 16. und 17. Jahrhundert gibt sie insgesamt 105 Drucke an. Allerdings muss man diesen Zahlen mit Vorbehalt begegnen, denn exakte wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema fehlen immer noch. Auch für Kiesels Angabe, der 1524 in Speyer veröffentlichte Trivmphvs veritatis. Sick der wahrheyt. Mitt dem schwert des geysts durch die Wittenbergiische Nachtgall erobert von Hans Heinrich Freyermut sei bereits 1521 entstanden, fehlen die Belege. 18 Denn wäre dies richtig, dann hätte Hans Sachs seine Bezeichnung der Wittenbergischen Nachtigall für Luther von Freyermut übernommen - dem ist aber nicht so. 19 Gibt es tatsächlich eine Art ‚ lutherisches Literaturprogramm ‘ 20 ? Wenn dazu die Funktionsbestimmung zur bürgerlichen Sozialdisziplinierung und zur staatsbürgerlichen Erziehung gezählt wird, dann sicherlich. Auch wenn literarische Formen wie Kirchenlied, Märtyrerlied, Fabel, Biblisches Parabelstück, Predigt, Dialogschrift, Streitschrift etc. berücksichtigt werden, dann gibt es in der Tat ein lutherisches Literaturprogramm, das sich zwar nicht systematisch, also poetologisch entwirft, das aber im Werk selbst wächst und dokumentiert ist. Und wenn man formgeschichtlich argumentiert, dann lassen sich auf der Ebene von Rhythmus und Klangfarbe, von Assonanzen und Alliterationen, von Metaphern und Allegorien, vom Zusammenhang von Bildhaftigkeit und Musikalität genügend Belege für eine kunstvolle Anwendung finden. 21 Wie aber verhält es sich mit dem, was Literatur im engeren Sinne ausmacht, mit Poesie und Luthers Sendung für Katholiken und Protestanten. München, Zürich 1982, S. 116 - 146, hier S. 136. Aland verlangt vom Schriftsteller Einfühlungsvermögen und eigene Erfahrungen mit Luther und der Reformation - eine antiquierte Vorstellung von der Funktion von Literatur. 17 Vgl. Hedwig Kiesel: Martin Luther - ein Held John Osbornes. Luther - Kontext und historischer Hintergrund. Frankfurt a. M. 1986, S. 16. 18 Vgl. Kiesel: Martin Luther, S. 15. 19 Vgl. den Volltext unter http: / / www.dilibri.de/ rlbdfg/ content/ pageview/ 597730 (Zugriff am 20. 5. 2015). 20 So Lenk: Martin Luther und die deutsche Literatur, S. 1880. 21 Vgl. Heinrich Bornkamm: Luther als Schriftsteller. Heidelberg 1965, S. 14 f. 20 Kapitel 1 Fiktionalität? Welchen Stellenwert hat die Dichtung in Luthers Theologie? Luther selbst gibt zum Verständnis dieser theologie- und literaturgeschichtlichen Fragen einige Hinweise. In der Vorrede zum Wittenberger Gesangbuch von 1524 schreibt er, die Jugend solle in den Künsten ebenso erzogen werden wie in der Sittenlehre. Auch Luther klagt schon, dass sich darum keiner mehr richtig kümmere, die Jugendlichen sollten statt Liebesliedern und anstößigen Gesängen lieber geistliche Lieder lernen, „ damit sie der bul lieder und fleyschlichen gesenge los werde und an derselben stat ettwas heylsames lernete, und also das guete mit lust, wie den iungen gepürt, eyngienge “ (WA 35, S. 474 f.). Es sei keineswegs seine Absicht, die Künste insgesamt durch das Evangelium zu vertreiben. Das bedeutet demnach, dass Luther selbstverständlich Konfession und Dichtung für vereinbar hält. Aber diese muss einem höheren Zweck unterstellt sein, nämlich der Verkündigung des Evangeliums. Von dieser religiösen Funktionsbestimmung der Literatur wird sich erst die Literatur der Aufklärung befreien können. Darüber hinaus gibt es Stellungnahmen Luthers, in denen er sich dezidiert zu Fragen von Dichtern oder Dichtung äußert. Beispielsweise in den Tischreden: „ Ach, daß ich ein guter Poet wäre, so wollte ich gern ein köstlich Lied oder Gedicht davon machen. Denn ohne das Wort ist alles nichts “ . 22 Oder in der Vorrede zum apokryphen Buch Judith (1534), wo Luther die Meinung zitiert, die Erzählung der Judith stünde zu sperrig im Gesamt der übrigen biblischen Geschichten, um als solche gelten zu können, und müsse deshalb als „ ein geistlich schön Gedicht eines geistreichen heiligen Manns “ 23 gelesen werden. Luther hält dem entgegen, dass der Dichter absichtlich falsche Zeit- und Namensangaben verwendet hätte, um die Leser daran zu erinnern, dass es ein geistliches, heiliges Gedicht sei. Möglicherweise seien solche Dichtungen sogar dramatisiert und aufgeführt worden. Die Figurenrede solle man so verstehen, als spreche die Worte ein heiliger Poet oder gar ein Prophet aus dem Heiligen Geist, der „ durch sie uns prediget “ 24 . So wird das Drama zur Predigtform und Literatur zur Predigt. 22 Martin Luther: Tischreden. Hgg. v. Kurt Aland. Stuttgart 2013, S. 10. 23 Luthers Vorreden zur Bibel. Hgg. v. Heinrich Bornkamm. Göttingen 1989, S. 147. 24 Luthers Vorreden zur Bibel, S. 149. Einleitung 21 In der Vorrede aufs Buch Tobia (1534), einer anderen apokryphen Schrift, geht Luther etwas genauer auf die Gattungstypologie ein. Wenn sich jemand daran stoße, dass diese Erzählung nicht dem Muster einer biblischen Geschichte entspräche, dann solle er den Text als „ ein recht schön, heilsam, nützlich Gedicht und Spiel eines geistreichen Poeten “ 25 verstehen. Möglicherweise hätten die Griechen die Art und Weise ihre Komödien und Tragödien zu spielen von den Juden übernommen. Dann fallen diese erstaunlichen Worte Luthers: „ Denn [das Buch] Judith gibt eine gute, ernste, tapfere [= stattliche] Tragödie; ebenso gibt Tobias eine feine, liebliche, gottselige Komödie “ 26 . Darin spiegelt sich die herkömmliche poetologische Norm einer ständedistinkten Argumentation. Judith bringt demnach als Tragödie die gesellschaftlich höher Gestellten auf die Bühne, Tobias hingegen stellt als Komödie die Unterschichtigen, in der Regel Bauern, dar. Dass sich Luther mit der schönen, also nicht-wissenschaftlichen Literatur beschäftigt hat, steht außer Frage (wie das ja auch der eingangs zitierte Fund bestätigt) und es kann völlig ausgeschlossen werden, dass Luther die Gattungsdiskussion in der griechisch-antiken Literatur unbekannt gewesen ist. Natürlich studierte er nicht nur die griechischen und lateinischen Klassiker, das war eine Pflichtübung. Er übersetzte und bearbeitete die äsopischen Fabeln, er versuchte sich selbst auch an Neudichtungen, an Fabeln oder fabelartigen Tiergeschichten, die sich verstreut über sein Werk finden, stets einem satirischen oder später dann einem didaktischen Zweck untergeordnet, aber voller Spaß am Fabulieren. 27 Luther schrieb und dichtete eigene Verse, Glaubenslyrik, Kirchenlieder - und er war ein großartiger Essayist. Für Luther war Kunst aber stets Gebrauchskunst, einzig dem Zweck unterstellt, das Evangelium in treuem Glauben und einzig auf der Grundlage der Heiligen Schrift zu verkünden. Neben der unbestreitbar einmaligen Leistung seiner Bibelübersetzung ist Luther aber auch der Begründer einer neuen Literaturgattung. Er kreiert das evangelische Märtyrerlied. Sein Lied Eyn new lied von den zween Merterern Christi / zu Brussel von den Sophisten zu Löuen 25 Luthers Vorreden zur Bibel, S. 154. 26 Luthers Vorreden zur Bibel, S. 154 27 Vgl. Martin Luthers Fabeln und Sprichwörter. Mit Einleitung u. Kommentar hgg. v. Reinhard Dithmar. Darmstadt 1995. 22 Kapitel 1 verbrant eröffnet diese neue Liedgattung. 28 Ein Märtyrerlied ist „ ein erzählendes, strophisches Lied über ein abgeschlossenes Märtyrerschicksal, das im 16. und 17. Jahrhundert von einem lutherischen oder täuferischen [. . .] Autor verfaßt wurde “ 29 . Das erste Märtyrerlied stammt aus der Feder Martin Luthers: Ein neues Lied wir heben an. 30 Der anzunehmende Einzeldruck des Lieds ist nicht erhalten, erst im Wittenberger Gesangbuch von 1524 wird es dann wieder abgedruckt. Luther dichtete dieses Lied, als er von der öffentlichen Hinrichtung der beiden Augustinermönche Johannes van den Esschen und Hendrik Voes erfuhr. Sie hatten sich zu Luthers protestantischer Kirchenkritik bekannt, widerriefen nicht, und wurden am 1. 7. 1523 auf dem Scheiterhaufen in Brüssel auf dem Marktplatz verbrannt. 1524 erschien Ein neues Lied (vgl. WA 35, S. 411 ff.). 31 Luther litt unter diesem Vorfall, er schrieb neben dem Lied noch die Trostschrift Ein Brief an die Christen im Niederland von 1523 (vgl. WA 12, S. 73 ff.). Die theologische Forschung hat nicht danach gefragt, was für die Literaturwissenschaft wiederum von zentralem Interesse ist, ob sich Luther je mit jenem Regelwerk der Dichtung beschäftigt hat, das für die klassische römische und griechische Literatur ebenso wie für die Literatur des Humanismus und der Frühen Neuzeit und der nachfolgenden Epochen die entscheidende Autorität darstellt in den Fragen, was Literatur kann, was ihre Funktion ist und wie eine gute Tragödie und eine gute Komödie beschaffen sein müssen - nämlich hat sich Luther mit der aristotelischen Poetik beschäftigt? Gibt es bei Luther Spuren einer solchen Rezeption dieser Poetik? 32 Ob Luther also das Lehrbuch der griechischen Dramentheorie schlechthin, die aristotelische Poetik gelesen oder zumindest auszugsweise gekannt hat, lässt sich nicht beweisen. Allerdings gibt es eine 28 Text vollständig unter http: / / de.wikisource.org/ wiki/ Eyn_newes_lied_wir _heben_an (Zugriff am 13. 05. 2015). 29 Ursula Lieseberg: Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1991, S. 16. - Vgl. ferner Debus: Über Martin Luthers Bedeutung, S. 435. 30 Vgl. Gerhard Hahn: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München, Zürich 1981, S. 106 ff. 31 Vgl. Peter Burschel: Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit. München 2004, S. 24 ff. 32 Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vgl. ausführlich Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995. Einleitung 23 Bemerkung Luthers, die wiederum zum Grundverständnis der oben zitierten Passagen aus den beiden Vorreden passt. In den 1530er Jahren hat sich Luther etwas intensiver mit dem antiken Drama beschäftigt. Er liest sogar täglich im Terenz, einem der bekanntesten römischen Komödiendichter. 33 Luther befürwortet die Aufführung antiker Komödien durch Schüler an evangelischen Schulen, er versteht die Aufgabe der Komödie als Erziehung der Kinder hin zur Ehe, die für den Fortbestand des Gemeinwesens unverzichtbar ist, als Erziehung zum Gehorsam den Eltern gegenüber und zur Sicherung familialer Strukturen. Luther geht dabei nicht von geistlichen, sondern von weltlichen Stoffen aus, die Dramen seien in lateinischer Sprache verfasst - sie sollten nebenbei ja auch noch die Fremdsprachenkompetenz der Schüler fördern - und Luther benutzt in diesem Zusammenhang nur den Begriff comoedia, wobei dieser Terminus lediglich meint, dass das Stück ein gutes Ende nimmt. Gegenüber dem geistlichen Drama nimmt Luther eine differenzierte Haltung ein. Das Passionsspiel betrachtet er kritisch. Die Leidens- und Auferstehungsgeschichte Christi eigne sich nicht zum dramatischen Spiel. 34 Den beliebten volkstümlichen Osterfestspielen steht er also distanziert gegenüber. Anders verhält es sich bei anderen biblischen Stoffen. Ein Brief Luthers an Nikolaus Hausmann (um 1479 - 1538) vom 2. 4. 1530 belegt allerdings, dass die Taten Christi durchaus in Schulen von Schülern in lateinischer oder in deutscher Sprache in korrekten Spielen bzw. Komödien dargestellt werden könnten. Die Funktion dieser Aufführungen von Theaterstücken, die Taten Christi zum Inhalt hätten, sieht Luther allein darin, dass sie der Verkündigung des Evangeliums dienten - neben dem moralischen ‚ Mehrwert ‘ und der Sprachübung. Für Luther hat das geistliche Drama also eine ausschließlich didaktische und theologische Funktion. Ausgehend von dieser offenen Wertschätzung der Literatur durch Luther entwickelte sich in der Folge die besondere Form des protestantischen Dramas, 35 auch als ein Gegenstück zum jesuitischen Schuldrama. Wie war nun seine Einstellung zu den Regeln der Literatur, die in seiner Zeit unvermindert galten und sich an den antiken klassischen 33 Vgl. Detlef Metz: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter. Köln, Weimar, Wien 2013, S. 123 ff. 34 Vgl. Metz: Das protestantische Drama, S. 131 f. 35 Vgl. Metz: Das protestantische Drama, S. 151. 24 Kapitel 1 Vorbildern orientierten? Luthers Kenntnis der aristotelischen Poetik ist an die Überlieferungsgeschichte dieses Werks gekoppelt. Historisch gesehen war das Junktim zwischen Aristoteles und der aristotelischen Poetik in der reformatorisch-feudalen Gesellschaft durchaus gegenwärtig. In seinem Sendschreiben An den christlichen Adel deutscher Nation von 1520 beispielsweise schreibt Luther über den Stagiriten: „ Es thut mir wehe in meinem hertzen, das der vordampter, hochmutiger, schalckhafftiger heide mit seinen falschen worten soviel der besten Christen vorfuret und narret hat: got hat uns also mit yhm plagt umb unser sund willen “ (WA 6, S. 458). Dies bezieht sich allerdings nur auf die Philosophie des Aristoteles. Ausdrücklich nimmt Luther dessen Poetik aus. Die Gründe hierfür liegen in deren komplizierter Überlieferungsgeschichte. Diese Poetik wurde bis in die Neuzeit als eine logische Schrift des Aristoteles gelesen, was ihr wiederum schlicht die Überlieferung sicherte. Und so verwundert es auch nicht, wenn Luther zu dieser Schlussfolgerung kommt: „ Das mocht ich gerne leyden, das Aristoteles bucher von der Logica, Rhetorica, Poetica behalten, odder sie in eine andere kurtz form bracht nutzlich geleszen wurden, junge leut zuuben, wol reden und predigen, [. . .] “ (ebd.), oder in Neuhochdeutsch: „ Das will ich gern dulden, daß Aristoteles ‘ Bücher von der Logik, Rhetorik, Poetik behalten oder sie in eine andere kurze Form gebracht mit Nutzen gelesen würden, junge Leute zu üben, gut zu reden und zu predigen “ 36 . Die Empfehlung, die Poetik des Aristoteles als Predigthilfe zu nutzen, bleibt in der Literatur- und Kulturgeschichte ein Einzelfall. Und es wäre sicherlich interessant zu untersuchen, ob Luthers eigene Predigten einem poetologischen Muster folgen. Dass Luther rhetorikgeschichtlich höchst belesen und rhetorisch bestens geschult war, steht auf einem anderen Blatt. Auf der Ebene einer instrumentellen Adaption müsste untersucht werden, inwieweit Luther Regeln der zeitgenössischen Poetiken ebenso wie der klassischen poetologischen Texte von Aristoteles bis Horaz adaptiert, und ob seine Texte poetologisch strukturiert sind. Bei Luthers Literaturverständnis geht es letztlich um seine spezifische theologische Begründung und Rechtfertigung von Literatur. Theologisch gesehen beruft er sich dabei auf Paulus und seinen Brief an die Epheser. In den Vorlesungen über die Genesis, Kap. 44, führt Luther aus: „ Ut Paulus eleganter dicit Ephesorum 2: ‚ Nos sumus 36 Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation, S. 92. Einleitung 25 poíäma poëma Dei ‘ . Ipse poëta est, nos versus sumus et carmina quae condit “ (WA 44, S. 572). Er bezieht sich dabei auf diese paulinische Textstelle: „ Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen “ (Eph 2, 10). In einer anderen Übersetzung kommt der Wortlaut klarer zum Ausdruck: „‚ Wir sind Gottes Werk ‘ , sein Poem. Er selbst ist der Poet, wir sind seine Verse und Lieder, die er macht und schafft “ 37 . Wenn demnach der Mensch Gottes Gedicht ist, dann ist Gott der Dichter. Hier ist die bloße Analogie überstiegen und berührt eine fundamentale Aussage. Wie ist Gott als Dichter und wie ist die Welt als Dichtung zu begreifen? So verstanden würde das bedeuten, dass die Welt Fiktionalität ist oder zumindest beinhaltet, also ein Universum des Möglichen. Luther vergleicht in Analogien Texte der Heiligen Schrift mit Texten der Literaturgeschichte. In einer seiner letzten Tischreden setzt Luther diese Analogie ins Recht, die Bibel vergleicht er mit der größten Dichtung der klassischen römischen Literatur, der Aeneis: Vergil in seinen Bucolica und Georgica kann niemand verstehen, wenn er nicht fünf Jahre Hirte oder Bauer gewesen ist. Cicero in seinen Briefen (so lerne ich) kann niemand verstehen, wenn er nicht vierzig Jahre in einem hervorragenden Staatswesen tätig gewesen ist. Die heilige Schrift meine niemand genug geschmeckt zu haben, wenn er nicht hundert Jahre mit den Propheten die Kirche regiert hat. [. . .]. Das versuche nicht, diese göttliche Aeneis zu erforschen [. . .]. 38 Das Thema dieses knappen Textes ist „ Verstehen und Erfahrung “ 39 . Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen Verstehen aus Erfahrung. Und da Erfahrung unausschöpflich ist, ist auch das Verstehen von Gottes Wort oder das Verstehen eines Textes unausschöpflich. Deshalb soll weder der Gläubige der Bibel noch der Leser seinem Text jemals mit dem Anspruch begegnen, er habe die Sinnfülle vollständig ausgeschöpft, er habe den Text vollständig verstanden. Denn es bleibt die Erkenntnis - oder wie Hölderlin 37 Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. Tübingen 2003, S. 16. 38 Martin Luther: Die Briefe. 2. Aufl. Göttingen 1983, S. 340 f. - Der lateinische Originalwortlaut in: WA TR 5, S. 317 f., Nr. 5677. 39 Oswald Bayer: Vom Wunderwerk, Gottes Wort recht zu verstehen. Luthers Letzter Zettel, in: Kerygma und Dogma 37/ 4 (1991), S. 258 - 279, hier S. 262. 26 Kapitel 1 einmal in seinem zwischen 1802 und 1806 entstandenen hymnischen Fragment Sonst nämlich, Vater Zevs [= Die Titanen] dichtet - ein Text ist „ unendlicher Deutung voll “ . Letztlich geht es bei all diesen Fragen und Überlegungen um die Bedeutung des Worts, das sowohl in der Dichtung als auch in der Theologie Grundlage und Medium der Botschaft ist. Die kulturindustrielle Vermarktung aller Produkte, die etwas mit Luther zu tun haben könnten, läuft heutzutage auf Hochtouren. Nur so ist zu erklären, dass Luther als Erzählstoff inzwischen im Programm eines Musicals gelandet ist, Theater und Verlag werben mit der vollmundigen Ankündigung „ Martin Luther - ein monumentaler Bühnenstoff und großes, sinnliches Musiktheater “ . 40 Luther als kulturelles Emblem, als ein erinnerungsgeschichtliches Denkbild zu verstehen heißt, dass das Luther-Bild vielerlei vereinen muss, es muss politische Größe repräsentieren und politische Kleinheit kompensieren, es muss konfessionellen Ansprüchen und sozialen Selbstdarstellungen genügen, es muss familiale Muster transportieren und die konfessionelle Selbstvergewisserung durch Erinnerung in der Memorialkultur bedienen und es muss der Idealisierung dienen. Kurz, das kulturelle Bild Luthers dient als Projektionsfläche individueller wie gesellschaftlicher Wünsche, es schwankt zwischen Monumentalisierung, Sakralisierung, Trivialisierung und Verkitschung bis hin zur völligen Ablehnung. Die Luther- Bilder der jeweiligen Zeit sammeln diese Tendenzen oder bringen sie recht erst hervor. Die Literatur begleitet, ergänzt, korrigiert und generiert diese Prozesse. Erst Goethe setzt diesem allen sein minimalistisches Konzept des ‚ Bruder Martin ‘ entgegen. Der große Reformator wird wieder zum Bruder Mensch. Gretchens Frage an Faust, ‚ nun sag, wie hast du ’ s mit der Konfession? ‘ , scheint aus der Rückschau des 18. Jahrhunderts die zurückliegenden 200 Jahre zu resümieren. Nicht um die richtige Religion ging es den Protagonisten, sondern um die richtige Konfession. Der aufmerksame Leser und die aufmerksame Leserin wissen, dass dies Gretchens Frage an Faust ist, bevor sie zusammen ihre Liebesnacht verbringen. Aber nicht in diesem Wortlaut ist die Gretchenfrage in Goethes Faust überliefert. Sondern dort heißt es richtig, „ wie hast 40 http: / / sesslerverlag.at/ uploads/ media/ Luther_-_Das_Musical_02.pdf (Zugriff am 30. 10. 2015). Einleitung 27 du ’ s mit der Religion? “ (Vers 3415). Im Laufe der Entwicklung unterschiedlicher Luther-Bilder in der Kultur der Frühen Neuzeit und der Moderne verschiebt sich Gretchens ursprüngliche Frage nach der richtigen Religion immer mehr zur Frage nach der richtigen Konfession. Zwar spricht nur wenig dagegen, schon Goethes Text diese Bedeutung des Wortes Religion unterzuschieben, sind die klaren Differenzpunkte zu dieser Zeit ohnehin nur vage. Religion oder Konfession - es zielt letztlich auf die Frage katholisch oder protestantisch, altkirchlich oder lutherisch? Heutzutage ist der Umgang mit Luther dem Großen (so ein Titel von 1767) gelassener. Es geht zwar immer noch um Konfessionsidentität, aber Luther wird als kulturell-religiöse, als eben „ kraftvolle Symbolfigur “ gesehen, wie es in dem EKD-Grundlagentext Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017 (4. Aufl. Gütersloh 2015, S. 18) heißt. Als der historische Luther wieder einmal den Vorstellungen der Obrigkeit zuwiderlief und deren Erwartungen nicht erfüllte, soll er gesagt haben, sie sollten sich ihren Luther doch malen. 41 Ob diese Überlieferung einigermaßen belastbar und tatsächlich historisch verbürgt ist, bleibt dabei nebensächlich. Denn es macht ein Dilemma deutlich, mit dem alle Literaten, die sich ein Luther-Bild ‚ malen ‘ , konfrontiert sind. Je größer die historische Distanz zum Gegenstand Luther, desto mehr mischen sich eigene Interessen unter die Darstellung. Die Literatur bewirkt, dass die ursprünglich innerkonfessionelle Kritik Luthers an Glaubensinhalten und Glaubenspraktiken seiner Kirche hinausgereicht wird in ein allgemeines öffentliches Bewusstsein, das sich nicht nur aus den Gebildeten der humanistischen Kreise speist, sondern getragen wird vom Interesse und Willen der Literaten an der Sache Luthers zu Nutz und Frommen der Gläubigen. Besonders wirksam ist dabei die Tatsache, dass sich als einer der ersten ein Nichttheologe, seines Zeichens ein Schuhmacher und fleißiger Dichter, Luther und der Reformation zuwendet und dessen Anliegen öffentlich macht, Hans Sachs. 41 Aus dem Herder ‘ schen Hause: Aufzeichnungen von Johann Georg Müller (1780 - 82) von Jakob Baechtold. Ndr. Bremen 2012, S. 31 u 57. 28 Kapitel 1 Exkurs. Sechs Bemerkungen über die Deutung von literarischen und religiösen Texten „ Dichtung! Martin, Ihr seid ein Dichter [. . .] “ (John Osborne: Luther. Ein Stück in drei Akten. Frankfurt a. M. 1963, S. 78). I) Eine falsche Analogie ist es, wenn man ‚ Theologie und Literatur ‘ auf dieselbe Ebene stellt und antinomisch oder komplementär versteht. Eigentlich müsste es heißen ‚ Religion und Literatur ‘ oder ‚ Theologie und Literaturwissenschaft ‘ , aber nicht ‚ Religion und Literaturwissenschaft ‘ oder ‚ Theologie und Literatur ‘ . Das bedeutet, die wissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Texten begegnet der wissenschaftlichen Beschäftigung mit paganen, eben nicht religiösen Texten. Und diese Fragestellung sucht vordringlich nicht nach der Bibelrezeption in der Literatur, nach dem Gottesbild in der Dichtung oder der Rezeption des Christentums bei einzelnen Autoren. Berechtigt sind diese Fragen natürlich allemal und in ihren Ergebnissen auch durchaus interessant. Aber unsere erste Frage lautet: Was geschieht, wenn ich mit den Mitteln der theologischen Textdeutung einen nichtreligiösen Text lese, und die zweite Frage heißt: Was geschieht, wenn ich mit den Mitteln der Literaturwissenschaft einen religiösen Text lese? Kann ich die Bibel wie einen Roman oder ein Gedicht oder einen dialogischen Text interpretieren? Es geht also nicht darum - oder um jedwede Befürchtung, es könne am Ende doch so kommen - , dass die Theologie in Historie oder in Literaturwissenschaft aufgelöst werde. 1 II) Obwohl immer wieder behauptet, ist Literatur keine eigene, spezifische Erkenntnisweise, möglicherweise hat sie eine eigene Erkenntnisweise. Diejenigen, die diese Ansicht vertreten, sind die Beweise 1 Vgl. Ulrich H. J. Körtner: Theologie des Wortes Gottes. Positionen - Probleme - Perspektiven. Göttingen 2001, S. 328. schuldig geblieben, und selbst die Philosophie hielt es nicht für nötig, sich mit dieser Fragestellung weiter zu befassen. Fiktionalität, wenn wir so Literatur verstehen, ist keine eigene Erkenntnisform, sondern eine Erfahrungsweise und zwar die Erfahrungsweise einer wirklichen Erfahrung insofern, als die Fiktion uns lehrt, es gibt ein Denken jenseits mathematisch-naturwissenschaftlicher Gegebenheiten. Und eine mögliche Erfahrungsweise insofern, als Fiktion Erfahrung zu beschreiben vermag, die noch nicht stattgefunden hat, aber möglich ist. Das wirft die Frage auf: Gibt es eine biblische Erkenntnis in den biblischen Texten? Eine Glaubenserkenntnis als Glaubenserfahrung? III) Theologie und Literaturwissenschaft haben eines gemeinsam, beide Wissenschaften müssen Texte deuten. Das Deuten literarischer Texte ist kein Ausdeuten von historischen Fakten, kein Erbsenzählen biographischer Einzelheiten. Freilich, das mag alles auch zur Textdeutung dazu zählen, aber die Textdeutung einzig und allein darauf zu reduzieren hieße, Literatur als eine andere Form von Dokumenten verstehen. Wer heißt uns literarische Texte als historische Dokumente zu lesen? Wer heißt uns die Fiktionalität eines Textes zu ignorieren? Wer heißt uns dem Dichter den Willen zur freien Gestaltung abzusprechen? Wer heißt uns davon auszugehen, dass ein Text nur eine Bedeutung habe? IV) Die Literaturwissenschaft arbeitet wie die Theologie mit der Lehre von einem zweifachen Textsinn. In dieser Hinsicht ist das Selbstverständnis beider Wissenschaften der Hermeneutik verpflichtet, die alle antihermeneutischen Rempeleien und Affekte unbeschadet überstanden hat. Wie anders wäre sonst zu erklären, dass immer noch über Texte, biblische wie literarische, geredet wird? Die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn geht davon aus, dass jedem Text (profaner oder religiöser Natur) ein buchstäblicher Sinn (sensus litteralis) und ein übertragener Sinn (sensus spiritualis) eingeschrieben ist. Je nach philologischer oder theologischer Schule können durchaus mehrere Schriftsinne entwickelt werden. Für unseren Zusammenhang sind die beiden genannten wichtig. Der buchstäbliche Textsinn erschöpft sich im Begreifen der Signifikantenketten, also der Abfolge der Materialität der Zeichen und sichert den Text in textkritischer, philologischer Absicht. Der sensus spiritualis hingegen intendiert eine symbolische Bedeutungsebene des Textes, die sich nicht in der Materialität der Zeichen erschöpft. Von dieser Grund- 30 Exkurs unterscheidung lebt jegliche Textinterpretation. Rainer Maria Rilke hat dies 1893 anlässlich der Interpretation von Goethes Der Wanderer in die Worte gefasst: „ Aber ich möchte mich verleitet fühlen, diesem Gedichte noch eine andere symbolische Bedeutung zuzusprechen “ 2 . So kann beispielsweise die Prometheus-Figur in Goethes Prometheus- Gedicht im buchstäblichen Textsinn als Göttersohn, als mythologische Figur verstanden werden. Im übertragenen Textsinn kann Prometheus modellhaft als Künstler und Vertreter einer Genieästhetik begriffen werden. Die kräftige Bildsprache der Literatur, die Möglichkeit zur Allegorisierung in einem literarischen oder einem religiösen Text leistet ihr Übriges, mehr als nur eine Eindeutigkeit des Textsinns zu behaupten. Friedrich Schlegel schreibt in den Heften zur Philosophie: „ Die Frage, was der Verfasser will, läßt sich beendigen, die was das Werk sei, nicht. -“ (Nr. 1515). V) Man darf sich einer Frage des Philosophen Martin Heidegger erinnern, die er anlässlich seiner Lektüre von Hölderlins Gedicht Andenken aufwirft: „ Weshalb sollen die geschichtlichen Bedingungen historisch zugänglicher sein als das geschichtlich Bedingte? “ 3 Auch wenn man Heideggers Philosophie im weiteren Verlauf nicht mehr folgt, so bleibt in dieser rhetorischen Frage doch eine entscheidende Erkenntnis. Der Glaube an eine alleinige Wahrheit in der Geschichte entspricht dem Glauben an eine alleinige Wahrheit im Text. Die Theologie beansprucht im Wort Gottes diese Wahrheit, die Literaturwissenschaft weist diesen Anspruch im paganen Text zurück. Beide Wissenschaften begegnen sich dort wieder, wo es um die Rekonstruktion der Eindeutigkeit der Wahrheit oder des Worts Gottes geht und in der Erkenntnis, dass diese Eindeutigkeit, sobald Menschen sie zu erkennen beginnen, stets mehrdeutbar wird. Das wiederum belegt die Geschichte, die eine Geschichte unterschiedlichster Deutungen bleibt. In der Bedeutung eines Textes steckt bereits dessen Deutung - und dies nicht nur sprachlich. Und wenn ein Text vielerlei Bedeutung beansprucht, dann kann er durchaus auch vielerlei Deutungen hervorbringen. Oder anders: Wenn ein Text vielerlei Bedeutungen hervorbringt, dann kann er auch vielerlei Deutungen beanspruchen. Man muss den Text von seinem Autor 2 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hgg. v. Rilke-Archiv. 6 Bde. Frankfurt a. M. 1987, Bd. 5, S. 286. 3 Martin Heidegger: Hölderlins Hymne Andenken. Frankfurt a. M. 1982, S. 2 f. Deutung von literarischen und religiösen Texten 31 entkoppeln, will man die Vielfalt der Deutungen erkennen. Einen Text nur mit der Brille seines Autors zu lesen, dieser biographische Zugang zur Textlektüre ist legitim und mag reizend sein, zeitigt aber eben nur diese eine Deutung. Die Bedeutung eines Textes - und ich spreche nicht von der Bedeutung eines Wortes - ist der Effekt seiner Deutung. Wie könnte Gott zu uns reden, wenn wir nicht lesen könnten? Gottes Wort ist streng genommen Gottes Text. Nur die zehn Gebote werden von Gott selbst auf zwei steinerne Tafeln geschrieben (vgl. 5. Mos 5, 22) - wer aber konnte sie lesen? Das Wort bedarf der Auslegung, das Gottes Wort ebenso wie das Menschen Wort. Wiederholt sich im Streit um die richtige Textdeutung nicht je und je der reformatorische Abendmahlsstreit: Ist der Sinn des Autors resp. des Textes buchstäblich existent oder symbolisch zu begreifen? Ein Psalm kann beispielsweise ein Gedicht sein und ein Gedicht kann ein Gebet sein. Die literarische Form allein entscheidet nicht über seine Deutungsmöglichkeit. Auch die sprachliche Gestaltung eines Textes erschöpft nicht seine Deutbarkeit. Zur Bedeutung eines Psalms, als Gedicht oder als Gebet, muss die Deutungsarbeit des Lesers hinzukommen. Ohne seine Leser ist der Text nichts. 4 So wie Gott den Menschen braucht, um seine Verheißung zu erfüllen. Und er braucht nicht den einen Menschen, sondern er braucht alle Menschen in ihrer Vielfalt - mit allen nationalen, sozialen, familialen, sprachlichen, kulturellen, konfessionellen, ja religiösen Eigenheiten. VI) Die Kontroverse um Werktreue ist nicht nur eine literaturwissenschaftliche. Theologischerseits wird dieses Problem noch verschärft durch die sogenannten Urtexte, die zuerst einmal ein „ rechtes Dolmetschen “ (Luther) erfordern, - was jede Diskussion um Recht oder Unrecht einer Lehre von der Verbalinspiration aushebelt. Analog dazu kann man aber schlussfolgern, dass es literaturwissenschaftlicherseits eine Art Theorie der Literalinspiration gibt. Danach läge die Erwartung darin, dass wir Leser erfüllt sind (oder erfüllt zu sein vermögen) von der buchstäblichen Bedeutung eines Textes - ohne dessen Spiritualsinn, dessen Deutungsmöglichkeiten, zu würdigen. Die Leser eines Textes müssen erfüllt sein von der Wirklichkeit dessen Literalsinns, von seinen Deutbarkeiten, um die Möglichkeiten des Spiritualsinns erfahren zu können. 4 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren. Tübingen, Basel 2003. 32 Exkurs 2 Zwischen Bekenntnis und Verachtung - Das Luther-Bild in der Frühen Neuzeit u. a.: Lazarus Spengler Schützred und christenliche antwurt (1518); Eobanus Hessus Elegien (1521); Thomas Murner Von dem grossen Lutherischen Narren (1522); Hans Sachs Die Wittenbergisch Nachtigall (1523), Das Walt got (1523); Friedrich Spee Trvtz-Nachtigal (1649); Simon Lemnius Epigramme (1538/ 39), Monachopornomachia (1539); Luther Dysenteria Lutheri in merdipoetam Lemchen (1538); Martin Rinckart Der Eißlebische Christliche Ritter (1613) „ Und Frau Katharina träumte von einer Nachtigall, die bis an den Himmel stieg und nicht mehr auf die Erde zurückkam “ (Carl Hans Watzinger: Mensch aus Gottes Hand. Ein Luther-Roman. Leipzig 1938, S. 300) A ls der gelehrte, gläubige und doch kritische Augustinermönch Martin Luther am 31. 10. 1517 seine 95 Thesen wider den Ablass an seinen obersten Dienstherrn, den Erzbischof von Mainz Albrecht von Brandenburg (1490 - 1545), der in Personalunion auch als Erzbischof von Magdeburg für Wittenberg zuständig war, als handschriftliche Briefbeilage schickte, ahnten weder er noch die Leser seiner Thesen, dass auf dieses Jahr zukünftig eine Zeitenwende datiert werden müsse. Was als innerkirchlicher Disput begann, endete in einer kulturellen Umwälzung Europas, deren staatspolitische und kirchenpolitische Vereinnahmung von Beginn an diesen Prozess der Erneuerung begleitete und steuerte. 1 Eine Antwort des Erzbischofs blieb aus, und so brachte Luther die Thesen unter anderem seinem Freund Spalatin und dem Ortsbischof zur Kenntnis. 2 Ohne sein Wissen wurden sie wenig später gedruckt in Nürnberg, Leipzig und Basel. Deutsche Übersetzungen folgten. Unter den Humanisten wurden Luthers Thesen durchweg zustim- 1 Vgl. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt a. M., Leipzig 2009, S. 206 ff. 2 Vgl. Kaufmann: Geschichte der Reformation, S. 207. mend aufgenommen und so erfuhren sie eine schnelle Verbreitung. Ob der sogenannte eigenhändige Thesenanschlag Luthers an der Wittenberger Schlosskirche tatsächlich stattgefunden hat oder doch eher zu den Gründungsmythen des Protestantismus zu zählen ist, bleibt weiterhin umstritten. Immerhin wurde 2007 über eine eigenhändige Notiz von Luthers Privatsekretär Georg Rörer (1492 - 1557) öffentlich diskutiert, die etwa auf das Jahr 1540 zu datieren ist. Darin bestätigt er den Thesenanschlag Luthers. Die Notiz selbst war seit längerem in der Weimarer Ausgabe veröffentlicht, in ihrer Bedeutung aber verkannt. 3 Die heroisierenden Luther-Darstellungen sowohl in der Literatur und Publizistik als auch in der Kunstgeschichte beginnen bereits 1518, ein Jahr nach dem Thesenanschlag. Die Schutzrede für Luthers Lehre (der Originaltitel lautet: Schützred und christenliche antwurt [. . .] mit antzaigunge / warumb Doctor Martini Luthers leer nitt samm unchristenlich verworffen / [. . .] werden soll) des Lazarus Spengler (1479 - 1534) aus dem Jahr 1519 gilt als der erste volkssprachliche (also nicht in der Gelehrtensprache Latein verfasste) Text über Luther, der von einem Laien geschrieben und weit verbreitet war. 4 Zugleich ist die Schutzrede eine der ersten deutschsprachigen Reformationsflugschriften. 5 Luther wird darin als Held im Kampf gegen die Papstkirche gefeiert. Der Reformator gewinnt angesichts seiner publizistischen Leistungen und angesichts der Vielzahl seiner Feinde die Qualitäten eines Märtyrers. In sechs Punkten hält Spengler ein theologisch begründetes Plädoyer für den neuen Daniel, wie er Luther nennt, und seine Lehre. Der Wortlaut, die literarische Form einer Flugschrift mit expositorischem Reformationsinhalt, die fehlende Fiktionalisierung sowie mangelnde Allegorien und Metaphern rechtfertigen es nicht, die Schutzrede als das erste literarische Zeugnis Luthers in der deutschen Literatur zu bewerten. Gleichwohl ist sie die erste deutschsprachige Flugschrift zur Verteidigung Luthers. Auch das 1521 anonym unter dem Titel Karsthans veröffentlichte Gespräch zwischen fünf Personen gehört zu den wirkungsvollsten und am 3 Vgl. zum Stand der kontroversen Diskussion: Luthers Thesenanschlag - Faktum oder Fiktion. Hgg. v. Joachim Ott u. Martin Treu. Leipzig 2008. Dort S. 82 Abdruck der Rörer-Notiz. 4 Vgl. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. Tübingen 2012, S. 271. 5 Vgl. Kaufmann: Der Anfang der Reformation, S. 362. 34 Kapitel 2 meisten gelesenen Flugschriften der Reformation. 6 Noch im Erscheinungsjahr erlebte der Karsthans weitere zehn Auflagen, die in Straßburg, Augsburg und Basel gedruckt wurden. Und auch dieser Text ist - im Unterschied zu den vorangegangenen Reformationsdialogen - in deutscher Sprache geschrieben. Somit stellt er unter sprachlichem Aspekt ein Verbindungsglied dar zwischen den in Latein geschriebenen gelehrten Dialogen der Humanisten und dem volkstümlichen, volkssprachlichen Gespräch. Die sechs Elegien (1521) auf Luther, gedichtet von Eobanus Hessus (1488 - 1540), sind zwar eine Form der „ literarischen Verarbeitung “ 7 von Luthers Aufenthalt in Erfurt vom 6. bis zum 8. 4. 1521 auf dem Weg zum Wormser Reichstag, doch sie sind in der Gelehrtensprache der Humanisten in Latein geschrieben. 8 Der innerprotestantische Streit um die richtige Auslegung des Abendmahls ab Herbst 1524 und die Stellung Luthers zum Bauernkrieg ab 1525 führt zu einer entscheidenden Veränderung im Luther-Bild. Die Heroisierung hört nun auf und die Monumentalisierung durch seine Anhänger beginnt. 9 Dies ist eine Entwicklung, die auch durch den enormen Legitimationsdruck, unter den Luther und seine Anhänger geraten sind, beschleunigt wird. Am Ende ist es so, dass aus dem Papstkritiker und Reformator der Ketzer wird, und aus dem Ketzer der 6 Vgl. die Wiedergabe des Textes in: Die Reformation im zeitgenössischen Dialog. 12 Texte aus den Jahren 1520 bis 1525. Bearbeitet u. eingeleitet v. Werner Lenk. Berlin 1968, S. 67 - 90. 7 Kaufmann: Der Anfang der Reformation, S. 282. 8 Vgl. den Abdruck und die deutsche Übersetzung der ersten und der vierten Elegie in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lat. u. dt. Hgg. v. Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel u. Hermann Wiegand. Frankfurt a. M. 1997, S. 248 - 257. 9 Vgl. Kaufmann: Der Anfang der Reformation, S. 331. - Insofern haben die Ergebnisse der neueren Forschung (auch mit Blick auf die figürliche Darstellung Luthers in der Volkskunst) die Ansicht widerlegt, die ersten zweieinhalb Jahrhunderte der Luther-Rezeption seien von einem Programm der Entpersonalisierung geprägt gewesen - so der Volkskundler Martin Scharfe: Doktor Luther: Heiliger oder Held? Zur Kulturgeschichte der Luther- „ Verehrung “ . Eine Nachlese zum Luther-Jahr 1983, in: Zeitschrift für Volkskunde 80 (1984), S. 40 - 58, bes. S. 41. Personalisierung und Personenkult hätten bis dahin eine untergeordnete Rolle gespielt (vgl. ebd., S. 49); erst „ das grundsätzlich andere Lutherverständnis des 19. Jahrhunderts “ (S. 49) habe eine neue Personalisierungsidee unter dem Überschuss bürgerlicher Ideologiefestigung ausgebildet, um 1800 sei „ plötzlich “ (ebd., S. 56) ein Personenkult um Luther entstanden. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 35 Held. Die Auratisierung Luthers mit den Möglichkeiten zur politischen Funktionalisierung hat begonnen. Die große Erzählung, das Narrativ aus Held, Märtyrer und Denkmal wird nun gesponnen. Und davon berichtet die Literatur, sie prägt jene literarischen Embleme und Bilder, die den historischen Wirkungsprozess der lutherischen Theologie begleiten, steuern, ihn feiern oder ihm widersprechen. Dieser Prozess beginnt mit dem tatsächlich ersten literarischen Luther-Bild, es stammt von Hans Sachs (1494 - 1576) und ist festgehalten in seinem Meisterlied Das walt Got und in seinem Gedicht Die Wittenbergisch Nachtigall. Doch zuvor tritt ein Gegner Luthers in diesen Jahren auf. Der aus dem Elsaß stammende Jurist, Theologe, Franziskaner, Poet, Übersetzer und erklärter Gegner der Reformation Thomas Murner (1475 - 1537) legte 1522 eine der langatmigsten Satiren und Sottisen auf Martin Luther vor, Von dem grossen Lutherischen Narren. In ihrer Derbheit und dem Grad ihrer persönlichen Beleidigungen und Verunglimpfungen ist diese Satire für uns heute nur noch schwer zu verstehen. Selbst wenn man bedenkt, dass sich Murner und andere - übrigens auch der Gescholtene selbst - nicht zimperlich zeigten in der Wortwahl, da es zum Gestus dieser besonderen Textsorte der Gelehrtensatire gehört, bleibt für uns doch schwer nachvollziehbar, dass sich ein Mensch des Jahres 1522 nicht ebenso verletzt gefühlt haben sollte wie eine Person unserer Gegenwart. Es waren Worte der Gelehrtensatire und ihnen wurde begegnet in Worten der Gelehrtensatire. Und beide Weisen, der Angriff und der Gegenangriff, hatten einzig zum Ziel, den jeweils anderen zu demütigen, falsche Informationen in Umlauf zu bringen und - im Falle des Angriffs auf Luther - den Grad der Häresie von Papst und Kirche hervorzukehren. Insofern liest sich die Bemerkung Murners in seinen einleitenden Worten wie ein Bekenntnis, dass außer ihm „ noch vielen anderen mehr solche Erneuerungen im christlichen Glauben nicht gefallen haben, insofern sie unseres Erachtens wider Gott, die heilige göttliche Schrift, auch wider jegliches Recht, chronikalisches Wissen und die Erfahrung wären, habe ich vermeint, der Angelegenheit sowie der Erkenntnis der Wahrheit zu dienen, ihm mit christlicher Mäßigkeit, unter Bewahrung der Ehre und Würde seiner Person Widerstand zu leisten [. . .] “ 10 . 10 Thomas Murner: Von dem grossen Lutherischen Narren (1522). Hgg., übersetzt u. kommentiert v. Thomas Neukirchen. Heidelberg 2014, S. 13. 36 Kapitel 2 Bewahrung von Ehre und Würde der Person? Davon kann beileibe keine Rede sein, und man darf diese Worte Murners getrost schon als Bestandteil seiner satirisch-desavouierenden Absicht begreifen. Zumindest steht das Ende des Textes in deutlichem Kontrast zu dieser Absichtserklärung: Es muß mit Fug und Recht so gestorben werden, wie ein Mensch hier lebt auf Erden. Der Luther hatte keine andere Freude, als die friedsame Christenheit in eine solche Zwietracht zu bringen. Nun hat er den Lohn für diese bösen Dinge. Also, ins Scheißhaus mit dem Mann, der kein Sakrament haben will und ungläubig hier von dannen fährt. Ins Scheißhaus gehört ein solches Aas, das nie eine Bosheit ausgelassen hat. (S. 295) Neben dem theologischen Streit um die richtige Auslegung beispielsweise des Abendmahls oder der Sakramente belegt Murners Luther- Satire, dass schon sehr früh den kritischen Zeitgenossen die politische Bedeutung von Luthers Schriften deutlich vor Augen stand. Von ihnen (oder allgemeiner von Luthers Lehre) ging eine Gefahr aus, die möglicherweise zu einem Flächenbrand gesellschaftlicher Umwälzungen führen könnte. Luthers Lehre wird von Murner als ein Bundschuh bezeichnet - ein Symbol für den Aufstand des Volkes gegen die Obrigkeit, „ und niemand merkt die böse List, / daß Luthers Lehr ein Bundschuh ist “ (S. 35). Die jüngere Forschung sieht den Ausgangspunkt dieser unrühmlichen Streitschriften eindeutig bei Luther. Dieser habe als erster den Boden argumentativer Souveränität verlassen und das Feld der persönlichen Beleidigungen und sprachlichen Derbheiten betreten (vgl. S. 368). Es kann allerdings kein Zweifel daran bestehen, dass Murner zunehmend verärgert darüber war, Luther sich von den Grundsätzen der katholischen Kirche entfernen zu sehen. Jedenfalls sollte man zurückhaltend sein, wenn es um eine moralische Bewertung dieser Schriften geht. Sie mögen uns irritieren und verstören, aber verurteilen sollten wir sie nicht, denn sie sind Zeugnis einer literarischen, ästhetischen, religiösen und gesellschaftlichen Kontroverse, die unsere eigene Geschichte, die Geschichte unserer Moderne angeht. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 37 Es gehört zu den bekannten Strategien der Selbstlegitimation von Aggressoren, dem Opfer selbst eine Mitverantwortung an der erlittenen Aggression zuzuschreiben. So auch Murner. Hätte man ihn so gelassen, wie er ist, hätte er niemals eine solche Satire auf Luther und die Reformation geschrieben. Er hätte sich aber wehren müssen, da er als Narr verunglimpft worden war, deshalb greife er als Narr nun auch zur Feder: „ dan wa sie mich hetten lassen bleiben als ich bin / weren sie des vnd anders mehr von mir vertragen bliben “ (S. 14), so Murner im Wortlaut. Er beruft sich dabei auf einen Grundsatz der zeitgenössischen Narrenliteratur - das Vorbild von Sebastian Brants Narrenschiff von 1494 steht hier im Raum - , wonach ein Narr alles sagen dürfe, da er ja als Narr gilt und man gegebenenfalls seine Worte als Narrheit abtun kann. Auf diese Weise ist es dem Narren möglich auch unliebsame Wahrheiten auszusprechen. Im Narrenkleid, so Murner, dürfe er etwas tun, was ihm sonst von Herzen leidtun würde (vgl. S. 25). Auf diese Weise ist auch das Spruchband zu verstehen, das sich auf der ersten Abbildung des Textes findet. Diese zeigt den Mönch Murner mit Katzenkopf, der auf einem Narren hockt und ihm lauter kleine Narren aus dem Mund herauszieht. Darüber stehen auf dem geschwungenen Spruchband, der sogenannten Bildinscriptio, gleichsam als Motto für diese gesamte Satire Murners, folgende Worte: „ Interdum simulare stultitiam prudentia summa “ , zu Deutsch: „ Bisweilen ist es ein Zeichen höchster Weisheit, Narrheit vorzutäuschen “ (S. 10/ 11). Auch Erasmus von Rotterdam (1466 - 1536) hat diesen Spruch in seinem Buch Lob der Torheit (1511) zitiert, er war weit verbreitet und ist wohl von zeitloser Gültigkeit. Murners Satire darf aber auch als eine Reaktion auf die Bemerkungen Luthers zu Beginn seines Sendschreibens An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) verstanden werden, worin er schreibt, er wolle nun auch einmal ein Hofnarr werden und gelänge es ihm nicht, so brauche man ihm keine Narrenkappe mehr aufzusetzen. Luther zitiert die entscheidende theologische Referenzstelle aus dem ersten Korintherbrief: „ Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde “ (1. Kor 3, 18). Ein Jahr nach Murners Luther-Satire erscheint ein Langgedicht, das bis heute seinen festen Platz in der Literatur verteidigen konnte, von Hans Sachs Die Wittenbergisch Nachtigall (1523). Sachs ist ein begeisterter Befürworter des Reformationsgedankens Luthers. Mit seinem Gedicht will er zum einen Luther gegen öffentliche Angriffe in Schutz 38 Kapitel 2 nehmen, zum anderen will er auf diese Weise mit dazu beitragen, dass sich reformatorisches Gedankengut weiter verbreitet. Am 1. 1. 1567 bilanziert Hans Sachs in seiner Summa all meiner Gedicht sein bisheriges Werk. Er ist jetzt 73 Jahre alt und errechnet insgesamt 4.275 Meisterlieder, ungefähr 1.700 Spruchgedichte, 208 Dramen, davon 63 Tragödien, 65 Komödien und 80 Fastnachtsspiele, 7 Prosadialoge und 73 andere geistliche und weltliche Lieder. Das sind insgesamt 6.263 Dichtungen. Weiter hochgerechnet kommt man so auf etwa 200.000 Meisterliedverse, etwa 150.000 Spruchgedichtverse und etwa 100.000 Dramenverse - insgesamt also etwa 450.000 Verse. 11 Lessing erkannte die literaturgeschichtliche Bedeutung von Hans Sachs. Am 10. 1. 1779 schreibt er an Herder: „ Denn daß Hans Sachsens prosaische Aufsätze auch ein ganz sonderbares Monument in der Reformationsgeschichte sind, wird mir freilich keiner auf mein Wort glauben, der sie nicht gelesen hat “ (Lessing: Werke und Briefe, Bd. 12, S. 227). Das Reformationsjubiläum bietet die Gelegenheit, auch diesen Autor wieder neu kennenzulernen. Zur Vorgeschichte von Sachs ’ Wittenbergischer Nachtigall gehört, dass am 3. 1. 1521 Luther zusammen mit dem Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer sowie dem Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler, die beide Luthers Haltung unterstützen, vom Papst exkommuniziert wird. Hans Sachs ist mithin unmittelbarer Zeitzeuge dieser Ereignisse und - so darf man annehmen - bestens über die Hintergründe und Vorgänge unterrichtet. Nürnberg war seit 1313 Freie Reichsstadt und am Vorabend der Reformation eine der mächtigsten und reichsten Handelsstädte des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Auf dem Wormser Reichstag von 1521 war entschieden worden, dass Nürnberg ständiger Sitz des Reichsregiments und des Reichskammergerichts wird. Im Wormser Edikt, einem Erlass Kaiser Karl V., wurde am 8. 5. 1521 die Reichsacht über Martin Luther verhängt. Fortan war die Lektüre und Verbreitung seiner Schriften verboten, Luther durfte nicht mehr beherbergt werden, er konnte von jedermann verhaftet und an Rom ausgeliefert werden. Der Wortlaut des Edikts wurde in der Stadt zwar bekannt gemacht, allerdings von den Bürgern kaum beachtet. 1522 wurden sogar erklärte Lutheraner wie etwa Andreas Ossiander als Prediger nach Nürnberg berufen. 11 Alle Zahlenangaben und Schätzungen nach Kugler, in: Hans Sachs: Meisterlieder, Spruchgedichte, Fastnachtsspiele. Auswahl. Eingeleitet u. erläutert v. Hartmut Kugler. Stuttgart 2011, S. 7 f. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 39 Am 13. 1. 1523 lehnte es das Reichsregiment in Nürnberg ab, lutherische Glaubensanhänger, die ja in der offiziellen Lesart des Wormser Edikts als Ketzer galten, zu maßregeln. Neben anderem wurde die Einberufung eines öffentlichen Konzils gefordert. Der Kaiser willigte am 6. März ein - damit war das Wormser Edikt faktisch ausgehebelt und wirkungslos geworden. Unmittelbar danach gibt auch Hans Sachs seine abwartende, beobachtende Haltung gegenüber der politischen Entwicklung in Stadt und Land auf und veröffentlicht fünf Texte, die Partei nehmen für Luther und die Reformation. Man darf annehmen, dass Hans Sachs nicht nur über sehr gute Bibelkenntnisse verfügte, sondern dass ihm die aktuellen Schriften Luthers bestens vertraut waren. Aus dem Jahr 1523 stammen das Meistersanglied Das Walt got und das Spruchgedicht Die Wittenbergisch Nachtigall. Die vier Reformationsdialoge Disputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher, Ein gesprech von den Scheinwercken der Gaystlichen, Ein Dialogus [. . .] den Geytz [. . .] betreffend, Ain gesprech eins Evangelischen christen mit einem Lutherischen erschienen 1524. Überdauert hat und fest verwurzelt in der Geschichte der deutschen Literatur ist einzig sein Spruchgedicht Die Wittenbergisch Nachtigall. Das Walt got ist als Meisterlied einer strengen Form unterworfen. Jede der drei Strophen gliedert sich wiederum in drei Teile. Die Stollen in diesem Lied sind fünfzeilig, die beiden Stollen A und A, die dem gleichen Reimschema folgen, enden also mit der zehnten Zeile, dann beginnt der aus sieben Zeilen bestehende Abgesang (B). Dieses Meisterlied ist ein religiöses Tageslied, Sachs nennt es die ‚ morgenweis ‘ , die er 1518 erfunden hatte. Die Nacht symbolisiert die Sünden, das Tageslicht das Evangelium, die Sonne ist Christus. Es beginnt mit diesen Worten: Wacht auf wacht auf es taget Ein nachtigal die waget ir stim mit suessem hal ir thon durchclinget perg vnd thal. 12 Schon Walther von der Vogelweide hat im 12. Jahrhundert den Gesang der Nachtigall mit der Begegnung zweier Liebenden lyrisch miteinander verknüpft. Dieses Tier gehört also zu jenen Tierarten, die 12 Hans Sachs: Die Wittenbergisch Nachtigall. Spruchgedicht, vier Reformationsdialoge und das Meisterlied Das Walt got. Hgg. v. Gerald H. Seufert. Stuttgart 1974, S. 5. 40 Kapitel 2 emotional positiv besetzt sind und die durchweg gute menschliche Eigenschaften symbolisieren. Bei Sachs findet sich die Allegorie der Nachtigall bereits in diesem Meisterlied. In der Literaturgeschichte taucht sie in dieser Bedeutung erstmals Mitte des 14. Jahrhunderts auf im Buch der Natur (1349/ 50) des Konrad von Megenberg (1309 - 1374), der sich auf Plinius stützt. Oft wird auf Ovids Metamorphosen verwiesen, worin sich im sechsten Buch die Geschichte der Verwandlung von Philomela und Procne in Nachtigall und Schwalbe fände. Dies ist aber nicht richtig. Ovid spricht nur von einer allgemeinen Verwandlung in Vögel. Die Nachtigall wird indes in einem anderen Überlieferungszweig, der auf Sophokles zurückgeht, konkret benannt. Entscheidend ist, dass die Gelehrten des Mittelalters die Überlieferung aus der Plinius-Tradition kannten. 13 Bei dem italienischen Renaissancegelehrten Lorenzo Valla (ca. 1405 - 1457) findet man in seinem Buch De voluptate (gedruckt 1519) die zweigeteilte Vogelallegorie von Schwalbe als Redekunst und von Nachtigall als Dichtkunst. Die Schwalbe repräsentiert demnach die ‚ städtische Beredsamkeit ‘ , wie es bei Valla heißt, die Nachtigall hingegen die Beredsamkeit der Dichter. 14 Vallas Bücher waren in den europäischen, humanistischen Gelehrtenbibliotheken des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts vorhanden - nicht ausgeschlossen, aber auch nicht beweisbar ist, dass Hans Sachs diesem Werk irgendwo begegnete. Und die Vorstellung, die Nachtigall verkörpert sowohl den Künstler als auch den Liebenden, war ohnehin verbreitet. Bei Konrad von Megenberg erleidet die Nachtigall lieber den Tod, als von ihrem Gesang zu lassen: „ und welt ê den tôt, ê daz si von irm gesang lâz “ 15 , „ sie wählt lieber den Tod, als daß sie von ihrem Gesang abläßt “ 16 . Da ornithologisch gesehen die Nachtigallenmännchen während der Paarungszeit nachtaktiv sind und am liebsten in den frühen Morgenstunden singen, wird die Nachtigall insgesamt kulturgeschichtlich 13 Vgl. dazu Dietrich Schmidtke: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500). Berlin 1968, Tl. 1, bes. S. 352 - 355. 14 Vgl. Lorenzo Valla: Von der Lust oder Vom wahren Guten. Lat.-dt. Ausgabe. Hg. u. übersetzt v. Michael Schenkel. München 2004, S. 379. 15 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hgg. v. Franz Pfeiffer. [1861]. Reprint 1971, S. 220 f., Kap. 62: Von der Nahtigal, hier S. 221. 16 Konrad von Megenberg: Buch der Natur. Ins Neuhochdeutsche übertragen u. eingeleitet v. Gerhard E. Sollbach. Frankfurt a. M. 1990, S. 89. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 41 gewissermaßen zur sanglichen Begleiterin all jener, die die Nacht zum Studium der Literatur und zum wissenschaftlichen Arbeiten nutzen. Ihr Gesang verkündet den Morgen und den neuen Tag noch bevor der Sonnenaufgang sichtbar ist. Konrad von Megenberg schreibt: „ Pei der nahtigal verstên ich die rehten maister der geschrift, die tag und naht mit übrigem grôzem gelust lesent die geschrift und tihtent new lêr [. . .] “ 17 , „ unter der Nachtigall verstehe ich die wahren Schriftgelehrten, die Tag und Nacht mit übergroßer Begierde die Schrift lesen und mit solchem Eifer neue Unterweisungen ersinnen [. . .] “ 18 . Das nächtliche Studium der Heiligen Schrift und der antiken Autoren ist damit gemeint, das sogenannte Lukubrieren. Medial vorbildhaft in Szene gesetzt von Erasmus von Rotterdam, der 1516 seine Schrift Lucubrationes veröffentlichte, und Martin Luthers Lucubrationes in Psalmum XXI waren ein Jahr vor Hans Sachs ’ Wittenbergischer Nachtigall erschienen, nämlich 1522. Das ist gewiss ein reizvoller Gedanke, dass sich Hans Sachs auf diese humanistische Gelehrtentradition der deutschen und europäischen mittelalterlichen Literatur stützt. Einen Beweis indes gibt es dafür nicht. Vielmehr gestaltet Hans Sachs aus dieser Gemengelage von Motiven seine eigene Deutung. Er folgt nun nicht mehr den Regeln der lehrhaften Dichtung des Mittelalters, sondern für ihn wird die Nachtigall zur Allegorie des intelligenten Aufbruchs, wie er die ersten Jahre der Reformation erlebt. Für ihn ist Luther die Nachtigall, das erklärt er in seinem Poem Das Walt got in Vers 35: Jst doctor Martinus Von wittenwerg Her lutherus nun h œ rt was er verkunde (S. 7). Durch Luthers Wirken ( „ Ewangelisch ler “ , V. 79) seien wir Menschen zum richtigen Glauben erwacht. Die Allegorisierung von Luthers Lehren und publizistischer Arbeit durch die Nachtigall ist möglicherweise auch ein direkter Reflex auf jene Bemerkung von Luther selbst am Ende seines Büchleins An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), wo er davon spricht, dass er sehr hoch gesungen habe, dass er noch ein Liedlein singen und die Noten aufs höchste stimmen könne. Unverhohlen formuliert Luther diese Metapher als Drohung an den Papst. Er spricht zwar nicht selbst von sich als einer Nach- 17 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur, S. 221. 18 Konrad von Megenberg: Buch der Natur, S. 89 f. 42 Kapitel 2 tigall, doch die poetische Verbindung der Lied- und Gesangsmetapher mit der Nachtigall als der Meisterin des Gesangs durch Hans Sachs drängt sich auf, denn die Nachtigall ist es, deren Singen den neuen Tag kündet. Vielleicht hat sich Hans Sachs hiervon zu seiner Nachtigallenallegorie inspirieren lassen. In der Wittenbergisch Nachtigall wählt Sachs nun das Tier zur Titelfigur. 19 Das Gedicht gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil umfasst die Verse 1 bis 97, der zweite Teil die Verse 98 bis 646, und der dritte Teil die Verse 647 bis 700. Eingangs befindet sich ein Titelholzschnitt, die Nachtigall sitzt in einem Baum, der aufgehenden Sonne zugewandt, darunter, etwas erhöht, das Lamm Gottes mit Kreuz und Fahne. Der Baum wird umlagert von allerlei Tieren, Esel, Schafe, Schwein, Vögel, Wolf, Schlangen, Frösche, Rabe, und eine Katzenfratze sind zu erkennen. Rechts oben ein abnehmender Halbmond. Darunter die Bildsubscriptio, das ist ein Spruchband mit folgenden Worten: „ Ich sage euch, wo diese schweigen, so werden die Stein schreien. Luc. 19 “ . Gemeint ist das Evangelium nach Lukas, Kapitel 19, Vers 40. Jesus wird bei seinem Einzug in Jerusalem von den Pharisäern gebeten, seine Jünger zurechtzuweisen, die ihn als Messias ausrufen. Darauf antwortet Jesus (in heutiger Übersetzung): „ Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien “ . Im ersten Teil schildert Sachs in einer Allegorie die Situation von Kirche und Gläubigen. Schon die erste Zeile mit den Worten „ Wacht auf, es naht der helle Tag! “ ist ein Weckruf an alle Leser und - denkt man an die wenigen lesekundigen Zeitgenossen - die vielen Zuhörer, denen vorgelesen wurde. Das lyrische Ich, das in diesem Fall mit dem poetischen Ich des Hans Sachs gleichgestellt werden darf, benennt auch sofort den Grund, weshalb man schnell aufwachen soll: Es hört die Nachtigall singen, die den anbrechenden Tag verkündet. Sie singt so eindringlich, dass 19 Ich zitiere nach dieser Ausgabe: Die wittenbergische Nachtigall. Luther im Gedicht. Hgg. v. Johannes Block. Leipzig 2013. Der Herausgeber Block benutzt die Übersetzung dieser Ausgabe: Hans Sachs: Die wittenbergische Nachtigall, Die man jetzt höret überall. Ein allegorisches Gedicht. Sprachlich erneuert u. mit Einleitung u. Anmerkungen versehen v. Karl Siegen. Jena 1883, verzichtet aber auf die Verszählung, ansonsten ist seine Textwiedergabe wortgetreu, lediglich in Vers 620 [entspricht in der Ausgabe von Block S. 40] muss es richtig heißen: „ So haust des Antichrist Gesind ‘ ! “ statt „ So haust das Antichrist Gesind ‘ ! “ . Zwischen Bekenntnis und Verachtung 43 ihr Gesang durch Berg und Tal schallt. Verlässt man die Textebene der Allegorie und fragt nach der symbolischen Bedeutung, dann ist das Meisterlied Das Walt got ein hilfreicher Schlüssel zum Verständnis. Die Nachtigall ist die Stimme der Glaubenserneuerung, genauer die Stimme Luthers. Keiner kann mehr sagen, er habe sie nicht gehört, zu eindeutig ist die neue Lehre, sind die Positionen und Perspektiven der Reformation zu hören, eben, wie der Untertitel aussagt, Die man jetzt höret überall, zu breit wird bereits über Luther und die Reformation gesellschaftlich (und das bedeutet theologisch und politisch) debattiert. Nach diesen ersten vier einleitenden Versen wendet sich Sachs der Schilderung der Kirche zu. Der falsche Glanz des Mondes muss vor der Strahlkraft der Sonne weichen, er hatte die Schafe so geblendet, dass sie sich törichterweise abgewendet haben, vom rechten Weg, von der Wahrheit. Die Gläubigen folgten zu lange unbedacht der falschen Lehre der Kirche. Statt den Weg der Wahrheit zu wählen, entschieden sich die Menschen für den ‚ Pfad zur Wildnis ‘ . Sie hörten nicht die Nachtigall, sondern allein die Stimme des Löwen - eine allegorische Anspielung auf Papst Leo X., dessen lateinischer Name Leo zu Deutsch Löwe bedeutet. In Vers 113 klärt Sachs dieses Wortspiel auf. Dieser Papst führte die Gläubigen mit List in die Wüste, statt einer saftigen Weide bekam die Schafherde nur Disteln und Dornen zu fressen. Die Menschen wurden also mit unverdaulicher geistlicher Kost versorgt, die spröde und gefährlich ist. Doch noch arglistiger und hinterlistiger ist die Kirche, sie legte absichtsvoll Schlingen aus, in denen sich die Menschen arglos verfingen. Und als sie in der Falle festsaßen, fraß sie der Löwe. Die päpstliche Lehre ist also darauf ausgerichtet, die Menschen in ihrem Glauben zu vernichten. Zu dem Löwen, der nur in Einzahl auftritt, gesellte sich auch ein Rudel Wölfe, die ebenfalls die Schafherde schikanierten und fraßen. Die falschen Schlangen lagen versteckt im Gras und fallen nun ebenfalls über die Schafe her. Bis die gesamte Herde ausgesogen in Schlaf fällt und die lange, lange Nacht durchschläft. Die Zeit der Finsternis wird damit beschrieben, die nun, dank der aufgehenden Sonne und dank des Nachtigallgesangs, zu Ende ist. Bei Tag erkennen die Schafe ihren ‚ Irrweg ‘ und sind entsetzt angesichts der Wildnis und der bedrohlichen wilden Tiere. Der wilde Löwe ist erbost über den Gesang der Nachtigall, sie stört sein Tun und er versucht ihr nachzustellen. Der Vogel versteckt sich, und der Löwe bemüht die gesangliche Unterstützung durch Bock, Katze, Esel, 44 Kapitel 2 Schnecke und Schwein. Das sind natürlich böse und bösartige verballhornende Wortspiele mit den Namen von entschiedenen Luther- Gegnern: Mit Bock ist Hieronymus Emser gemeint, in dessen Familienwappen ein Bock zu sehen ist. Das Bild der Katze zielt auf Murner, mit Esel sind all jene Narren bezeichnet, die diesen folgen. Schnecke könnte auf Johann Eck gemünzt sein - Eck erwirkte beim Papst 1520 die Bannbulle gegen Luther - , wenn man nicht der Selbsterklärung von Sachs in Vers 491 folgen will, wonach die Schnecke Johann Cochläus ist, einer der schärfsten Gegner Luthers, wenn man also den Gelehrtennamen als Inscript des Tiernamens lesen will (in Vers 484 namentlich genannt). 1519 disputierte er öffentlich mit Luther in Leipzig u. a. über den päpstlichen Primat, die Lehre vom Fegefeuer, den Ablass, die Reue und die Absolution. Und schließlich beträfen die Schweine wiederum alle jene, die sich nur in deren Kot, also deren Schriften, zu wälzen bemühten. Doch die Nachtigall übertönt sie alle, sie bleibt Siegerin in diesem Sangeswettbewerb, der in der historischen Wirklichkeit längst die Bahnen eines Wettbewerbs um die besseren Argumente verlassen hatte. Luther war zum Gegenstand persönlicher Anfeindungen und Verleumdungen geworden. Die Frustration über die Unmöglichkeit, etwas gegen den Gesang der Nachtigall ausrichten zu können, steigert sich in einem allgemeinen Geschnatter, an dem auch Frösche und Gänse beteiligt sind, und wiederholt die Haltung, man möge keine Veränderungen, man sei bisher gut mit dem Mond und dem Mondlicht zurechtgekommen, was bedürfe es da ‚ Neues ‘ . Letztlich lehre die Nachtigall nur ‚ Aufruhr ‘ , man solle sie mit dem Scheiterhaufen bestrafen. ‚ Viele ‘ aus der Herde der Schafe hören den klaren Gesang der Nachtigall, sie kehren um, sie lassen sich dadurch bekehren und kehren als verirrte Schäflein zu ihrem rechten Hirten zurück. Und obwohl die Wölfe, die die geistliche Hierarchie der Kirche repräsentieren als Bischöfe und Ordensleute, sich noch drohend gebärden, verwehren können sie den Sonnenaufgang nicht. Der Lauf des Evangeliums und seines richtigen Verständnisses kann beginnen. Im zweiten Teil ab Vers 99 folgt nun die Auflösung der Allegorie. Zunächst schaltet sich wieder der Autor ein und spricht die Leser und Zuhörer direkt an: Daß ihr nun recht mich mögt verstehn, Wer diese Nachtigall, die frei Den hellen Tag verkündet, sei: Zwischen Bekenntnis und Verachtung 45 Zu Wittenberg in Mönchlein, wißt ’ s Der Doktor Martin Luther ist ’ s, Der uns erwecket aus der Nacht, Darein der Mondschein uns gebracht. (S. 24) Der Mondschein ist die ‚ Irrlehre ‘ , der die Menschen über vier Jahrhunderte lang gefolgt sind, der Löwe ist der Papst, sein ‚ geistliches Regiment ‘ ist die Wüste. Hans Sachs entschlüsselt alle Allegorien auf einfache und direkte Weise, so dass sie von allen Lesern und Zuhörern sofort zu verstehen sind und ihre Inhalte miteinander in Bezug zu setzen möglich wird. Die Gottesdienstpraktiken, schlicht der gottesdienstliche Alltag wird detailliert vorgeführt und als Menschenerfindung gebrandmarkt, die sich nicht auf Gottes Wort gründe. Die Fallen und Schlingen, von denen im ersten Teil die Rede war, seien die päpstlichen Dekretalen und Gesetze. Damit sind die offiziellen, Gesetzeskraft beanspruchenden Entscheidungen des Papstes gemeint. Der Zwang zur Beichte, die Verweigerung des Weins als Blut Christi im Abendmahl für die Gläubigen, der Fastenzwang, der Zölibat - all das kann „ selbst sich deuten jedermann “ (S. 27); in der Originalschreibweise lautet dieser Vers: „ Jch main das sey ye klar genung “ (V. 192). Sachs schließt mit dem Hinweis, nie sei den Gläubigen der Glaube ‚ erklärt ‘ worden, stets ginge es nur um den eigenen Vorteil der kirchlichen Repräsentanten. Und diese Unwissenheit in Glaubensfragen, das ist für Hans Sachs die eigentliche ‚ finstre Nacht ‘ . Der nächste Abschnitt darf mit Recht als der Höhepunkt der Wittenbergischen Nachtigall bezeichnet werden. Hans Sachs verspricht von Luther: „ Und daß ihr wißt, was er tut lehren, / Will ich ’ s in Kürze euch erklären “ (S. 31) 20 . Er erklärt die Rückkehr zum bezeugten Gotteswort, allein die Heilige Schrift sei Maßgabe und Maßstab unsres Handelns. Er führt die Gnadentheologie an, wonach die Menschen allein durch die Gnade Gottes selig werden können und nicht durch Werke. Die Menschen sollen den Geboten der Nächstenliebe und Barmherzigkeit folgen. Sachs mag sich in dieser Textpassage an Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) orientiert haben. Danach schildert Sachs die Reaktion des Papstes auf diese Lehre, er spricht die konkrete Lebenssituation Luthers an, der - um sich vor Angriffen zu schützen - erklärt, dass er sich unter den Schutz des 20 Stillschweigende Korrektur des Druckfehlers. 46 Kapitel 2 sächsischen Kurfürsten stellen muss, der Wormser Reichstag wird angeführt. Namentlich werden die prominentesten der aktuellen Gegner Luthers genannt, um diese Galerie der illustren Namen von Eck, Emser, Murner, Cochläus und Aleveld mit der Erkenntnis zu konfrontieren, dass selbst ein Bauer in der Lage gewesen wäre, die Rechtmäßigkeit von ‚ Luthers Lehr ‘ zu erkennen. Den Gelehrten an den Universitäten wird sogar vorgehalten, sie lehrten eine heidnische Wissenschaft. Sachs bilanziert die Lehre seines Gedichts und der historischen Veränderungen: Doch hilft dem Volk das alles nicht, Die Wahrheit ist, gottlob, am Licht Die Christen aber kehren drum Zurück zum Evangelium. (S. 39) Sachs nennt seine Schrift ein ‚ Trostwort ‘ : „ Jr Christen merckt die trostling wort “ (V. 647). Die letzten Verse richtet Sachs direkt an seine Zeitgenossen. Umkehren sollten sie und sich zur Reformation bekennen. Sich vom Papst ab- und Christus zuzuwenden bedeutet in der Lesart dieses Gedichts, sich der Reformation zu öffnen. Das ist nach den vorangegangenen über 600 Versen ausgemacht. Literaturgeschichtlich gesehen taucht die Nachtigall 100 Jahre später nochmals an prominenter Stelle auf, diesmal allerdings als Repräsentantin der Dichtung eines katholischen Poeten. Friedrich Spee (1591 - 1635) nennt seine 1649 postum erschienene Gedichtsammlung Trvtz-Nachtigal und erklärt gleich in Punkt eins seiner knappen Vorrede, was er darunter versteht: „ TrutzNachtigal wird das Büchlein genand weil es trutz allen Nachtigalen süß, vnd lieblich singet, vnd zwar auff recht Poëtisch “ 21 . Das Deutsche Wörterbuch (Grimmsches Wörterbuch) erklärt die besondere, dialektal kontaminierte Bedeutung der Präposition ‚ trutz ‘ . Demnach heißt es so viel wie ‚ ebenso wie ‘ , aber auch ‚ besser als ‘ und ‚ mehr als ‘ . 22 Als Beleg wird unter anderem Spees Gedichtsammlung angeführt. Folgt man dieser Erklärung, dann beansprucht der Jesuit und Dichter Friedrich Spee mit seinem Gedichtband nichts geringeres als sogar besser singen zu können als Nachtigallen singen, und das bedeutet auf der nichtbuchstäblichen Deutungsebene, dass seine deutschsprachigen Gedichte aus Sicht ihres Autors die Weihe der hohen Literatur 21 Friedrich Spee: Trvtz-Nachtigal. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift. Hgg. v. Theo G. M. van Oorschot. Stuttgart 1991, S. 5. 22 Vgl. DWB Bd. 22, Sp. 1088. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 47 erfahren und die Würde höchster künstlerischer Fertigkeit erhalten dürfen. Das ist vor dem Hintergrund der neulateinisch schreibenden Gelehrtenliteratur durchaus ein respektabler, selbstbewusster Anspruch. Seine Nachtigallen, also seine Gedichte, sollen einzig das Lob Gottes verkünden. Diese allegorische Gleichstellung von Dichter und Nachtigall können Hans Sachs wie auch Friedrich Spee aus der neulateinischen Dichtung, die sich an Vergil orientierte, oder der humanistischen Literatur Italiens oder aber auch aus dem Volkslied bekannt gewesen sein; wahrscheinlicher ist, dass sich Spee zumindest an den mittelalterlichen Christiaden orientiert. 23 Die literarische Funktion der Nachtigall jedenfalls ist unzweifelhaft. Sie ist die direkte Personifikation des Dichters und vermag in beispielhafter und einzigartiger Weise das Lob Gottes zu singen, die Nachtigall ist zur „ zentralen Metapher des Ästhetischen “ 24 , zur Allegorie poetischer Existenz auch in Fragen der Theologie geworden. In dem fränkischen Weihnachtslied Lieb Nachtigall, wach auf von 1670 aus dem Bamberger Gesangbuch ist diese Bedeutung der Nachtigall als Sängerin des Gotteslobs bis heute erhalten geblieben. Man darf davon ausgehen, dass Spee das Werk von Hans Sachs nicht gekannt hat. Sachs war im 16. Jahrhundert in Vergessenheit geraten. Im 17. und 18. Jahrhundert galt er lange Zeit als Dichter schlechter, nämlich unregelmäßiger, holpriger Verse. Erst Goethe rehabilitierte Hans Sachs und seine Knittelverse 1776 in seinem Gedicht Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung. In Richard Wagners Meistersingern (1868) schließlich erfährt der Dichter Hans Sachs seine romantische Idealisierung. Um die publizistische Situation in den Jahren zwischen 1520 und 1540 besser beurteilen zu können, ist es sinnvoll, sich auf zwei Texte einzulassen, die in strenger Observanz nicht nur die Diffamierung Luthers, sondern geradezu seine literarische Auslöschung zum Ziel hatten. Der neulateinisch schreibende Dichter Simon Lemnius (1511 - 1550) hatte im Jahr 1538 mit Epigrammen den Zorn des Reformators auf sich gezogen. Gelegentlich ist immer noch die Behauptung zu lesen, Luther sei so erbost gewesen, dass er den Tod des Simon Lemnius 23 Vgl. Alois M. Haas: Sermo Mysticus. Studien zur Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Fribourg 1979, S. 347 f. 24 Haas: Sermo Mysticus, S. 348. 48 Kapitel 2 gefordert habe. Das ist allerdings ein misreading, das auf Lessing zurückgeht bzw. das entsteht, wenn man die entsprechende Passage bei Lessing nicht exakt liest. „ Die verdammten Ausleger “ 25 , kann man mit Lessing über diesen Punkt urteilen. Wenn man die Ereignisse sachlich chronologisch zu ordnen wagt, dann ergibt sich folgendes Bild: Lemnius hat 1538 einen Band mit Epigrammen (erstes und zweites Buch) in Wittenberg drucken und verbreiten lassen. Darin findet sich nach heutigen Maßstäben geurteilt nichts, was Luther hätte direkt auf sich beziehen, also im weitesten Sinne persönlich nehmen müssen. 26 Allerdings ist dieser Band einem Potentaten gewidmet, der zu den erbittertsten Gegnern Luthers und des evangelischen Glaubens zählte. Das musste den Reformator provozieren, darüber konnte er nicht hinwegsehen. Lemnius belässt es aber nicht bei einer entsprechenden Dedikation, sondern er verteilt mehrere teils höchst unterwürfige, teils höchst schmeichlerische Huldigungsgedichte im Band. Der Adressat ist Albrecht von Brandenburg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz, Kardinal, Reichserzkanzler, Primas der geistlichen Fürsten in Deutschland. 27 Lemnius tituliert Albrecht in seinem fünften Epigramm als Hoffnung und Heil seines Volkes und ruft ihm zu: „ Heil dir, dem es aufgegeben ist, mit dem alten Glauben auch die alten Gesetze und alles, was den Vätern fromm und heilig war, zu bewahren! “ 28 Im Epigramm mit der Nummer 87 des zweiten Buches, das auch wieder Fürst Albrecht gewidmet ist, stilisiert Lemnius den Kurfürsten zum Antipoden Luthers, zum Repräsentanten der Gegenreformation: In den Kirchen wird noch der Gottesdienst in der Weise der Vorfahren abgehalten, und du duldest nicht, daß die graue Vorzeit für uns abstirbt. Du erfüllst die religiösen Bräuche der alten Deutschen mit neuem Leben. Dein Ruhm gründet sich fest auf dem alten Glauben. Du läßt auch die Vorfahren, die schlichteren Sinnes waren, nicht im Stich und hältst dein Volk fest im Glauben. In den altehrwürdigen Kirchen wird unter deinem 25 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1998, S. 661 [= Schriften. Zweiter Teil. Dritter Brief, 1753]. 26 Der ganze Vorgang ist in wünschenswerter Ausführlichkeit und Exaktheit bei Mundt Tl. 1 dokumentiert, vgl. Lothar Mundt: Lemnius und Luther. Studien und Texte zur Geschichte und Nachwirkung ihres Konflikts (1538/ 39). 2 Tle. Bern, Frankfurt a. M., New York 1983. 27 Mundt spricht von „ persönlicher Enttäuschung “ und „ realitätsblinde[m] Haß “ (Mundt, Tl. 1, S. 207), die Luther geleitet haben. 28 Mundt, Tl. 2, S. 7 [Übersetzung von Mundt]. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 49 Schutz die Ehre bewahrt. So wirst du zu Recht ein Verehrer der Ahnen heißen. 29 Es fällt nicht schwer, diese und ähnliche Formulierungen in dem Gedichtband auch noch nach fast 500 Jahren als Provokation für Luther zu begreifen. Natürlich bewegt sich Lemnius mit seinen Gedichten und den anbiedernden Widmungs- und Huldigungsepigrammen im Rahmen der Spielarten humanistischer Gelehrtenlyrik. Doch für die gebildeten Zeitgenossen, zumal für Luther, waren diese Kodierungsformen literarischen Sprechens leicht zu entschlüsseln. Luther ließ sich durch solche Verse zu einer Reaktion provozieren, bei der politische, konfessionelle und persönliche Gründe kaum mehr zu trennen sind. Allerdings gibt eine Bemerkung von Lemnius zu denken. Im vierten Epigramm des ersten Buches, das an seinen Freund, den Dichter Sabinus gerichtet ist, schreibt er, er habe ursprünglich zehn Bücher mit Gedichten veröffentlichen wollen, Sabinus habe ihm aber zu einer Beschränkung auf zwei oder drei Bücher geraten. 30 Angenommen, dies ist keine Koketterie, sondern Lemnius verfügte tatsächlich schon zu diesem Zeitpunkt der Niederschrift über drei Bücher mit Epigrammen, dann könnten mit dem dritten Buch jene Epigramme gemeint sein, die Luther, sein Leben und Wirken zum Gegenstand ausufernder Diffamierung haben. Lemnius hätte demnach zunächst nur die Bücher eins und zwei zusammen in einem Band veröffentlicht, danach dann das dritte Buch. Der Inhalt dieses dritten Buches wäre aber schon bekannt gewesen. Das sind Hypothesen, gewiss, aber ebenso schwer zu widerlegen wie sie zu beweisen sind. Am 8. 6. 1538 liegen die ersten Exemplare des Gedichtbandes mit dem ersten und zweiten Buch druckfrisch vor. Am Pfingstsonntag, den 9. 6. 1538 wird der Gedichtband vor der Kirchentür in Wittenberg verkauft. Nach zwei Stunden haben bereits etwa 100 Exemplare den Besitzer gewechselt. 31 Noch während der Verkauf läuft, werden beim Rektor der Universität Melanchthon Ratsvertreter der Stadt vorstellig, um sich über den Inhalt der Gedichte zu beschweren. Am 10. Juni früh morgens flieht Lemnius aus der Stadt. Angenommen diese Angaben sind historisch belastbar - denn die Forschung kann sich hierbei lediglich auf eine Verteidigungsschrift 29 Mundt, Tl. 2, S. 93 [Übersetzung von Mundt]. 30 Vgl. Mundt, Tl. 2, S. 5. 31 Zum Folgenden vgl. Mundt, Tl. 1, S. 25 ff. 50 Kapitel 2 des Lemnius stützen - , welche Provokation muss dies für die lutherisch gesinnten Kirchenbesucher und Luther selbst gewesen sein, wenn sie vor oder nach dem Kirchgang einen Gedichtband zum Kauf angeboten bekommen, der dem Vertreter des Katholizismus huldigt? Es fällt schwer anzunehmen, dass dem Verfasser Lemnius dies nicht bewusst gewesen ist. Jedenfalls lässt Lemnius einen zweiten Band, also das dritte Buch mit Epigrammen drucken. Darin befinden sich nun die Sottisen auf Luther. Zwischen beiden Daten, dem Erscheinungszeitpunkt des ersten Bandes und des zweiten, liegt eine Reaktion Luthers, die in ihrer Heftigkeit die persönliche Kränkung offenbart, die der Reformator durch Lemnius erfahren hat. Gegen Lemnius war ein Relegationsverfahren eröffnet worden und er wurde angeklagt. Während dieser juristischen Ahndung hält Luther am 16. 6. 1538 einen Gottesdienst und verliest darin eine Erklärung, die unmittelbar im Anschluss als Einblattdruck verbreitet wird. Darin bezeichnet er den Gedichtband als Schand- und Lügenbuch, weshalb dessen Verfasser „ nach allen rechten (wo der flüchtige bube bekomen were) billich den kopff verloren hette “ 32 . Luther ruft seine Anhänger dazu auf, „ solche lester Poeterey “ (ebd.) zu verbrennen. Man kann aus dieser Passage keineswegs ableiten, dass Luther die Todesstrafe für Lemnius fordert, sondern er weist lediglich darauf hin, dass Lemnius nach geltendem Recht mit dem Tode bestraft würde. Luther argumentiert also nach Kriterien der geltenden Rechtsordnung. Den Erzbischof Albrecht von Brandenburg nennt Luther einen „ scheissbischoff “ (ebd.), und es wird deutlich, dass die Zueignung der Epigramme an diesen Potentaten von ihm als Provokation empfunden worden war. Das dritte Buch der Epigramme wird zusammen mit einer Neuauflage von Buch eins und zwei veröffentlicht, vermutlich in der zweiten Septemberhälfte 1538 und mutmaßlich in Leipzig gedruckt. 33 Lemnius befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Flucht, er wird steckbrieflich gesucht - und man muss sich fragen, wie es möglich war, innerhalb von drei Monaten eine Neuauflage drucktechnisch einzurichten (denn der Wittenberger Satz der Erstauflage war ja vernichtet worden). Wie konnte Lemnius ein komplettes drittes Buch mit scheinbar neuen Epigrammen schreiben und publizieren? Auch das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Epi- 32 Abgedruckt bei Mundt, Tl. 2, S. 319 f. 33 Vgl. Mundt, Tl. 1, S. 38 ff. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 51 gramme des dritten Buches schon im Juni längst im Manuskript vorgelegen hatten und möglicherweise dessen Inhalt durchgesickert war. In diesem dritten Buch greift Lemnius Luther frontal an. Luther wird als Elbprophet bezeichnet, mit einem Hund verglichen, er könne die Wahrheit nicht ertragen, sei vom Kaiser und der ganzen Welt geächtet, sei ein Schurke; sich selbst sieht Lemnius als rechtschaffen (vgl. Nr. 7, 16, 23, 32 der Epigramme im dritten Buch). Dann steigert sich der Ton zusehends, wird diffamatorischer, unflätiger. In Nr. 32 wird Luther als Windbeutel bezichtigt, der unrechtmäßigerweise eine Nonne geheiratet habe, der Unzucht und verbotene Ehen predige, der unrein sei, der selbst Unzucht treibe, eine Nonne geschändet habe usw. In Nr. 42 unterstellt er Luther, dieser habe ihn zum Tode verurteilt. Stattdessen sei Luther selbst die Ursache allen Übels. Er wirft ihm geistliche Tyrannei vor, sei vom Kaiser geächtet, werde wegen Unzucht angeklagt, er solle nicht mehr sicher leben können, die Erde solle ihm zu klein werden. In Nr. 47 wirft er ihm Hurerei und unerlaubten Beischlaf vor, er töte jeden Unschuldigen, er sei ein Schandfleck, eine entlaufene Pest (Ironie des Schicksals ist, dass Lemnius später ausgerechnet an den Folgen einer Pesterkrankung sterben wird). Elbpapst wird Luther genannt (vgl. Nr. 51, 57). In Nr. 63 wirft er Luther Dysenterie vor, er sei selbst „ zum Scheißer geworden “ und mit seiner „ Scheiße reich gesegnet “ 34 . Wut und Pest flössen aus Kehle und Hintern, „ aber ich glaube, daß dir eher Bauch und Eingeweide platzen, als daß dir eine so gewaltige Pest durch das Arschloch geht “ (ebd.). Auf diese Anspielung auf Luthers Gesundheitszustand antwortet dieser empört. Er veröffentlicht Ende September 1538 seine Dysenteria Lutheri in merdipoetam Lemchen. Zu deutsch: Luthers Dysenterie [= Durchfallerkrankung] auf den Scheißpoeten Lemnius. Das ist Luthers heftige publizistische Reaktion auf dieses dritte Buch mit Epigrammen des Lemnius - ebenfalls in Form eines Epigramms. Und man erkennt unschwer, wie tief getroffen und verletzt Luther gewesen sein muss durch die unflätigen Gedichte des Lemnius. „ Mit deinem Bauch presst du die Scheiße, gern würdest du einen gewaltigen Haufen kacken, doch, Scheißpoet, - du machst gar nichts! “ 35 , dichtet er. 34 Mundt, Tl. 2, S. 151. 35 Mundt, Tl. 2, S. 338. 52 Kapitel 2 Die publizistische Auseinandersetzung zwischen Luther und Lemnius ist entfesselt. Lemnius reagiert 1539 mit einem heute in seiner Aggressivität und Obszönität kaum mehr begreiflichen Pamphlet auf Martin Luther. Er veröffentlicht seine Monachopornomachia, zu Deutsch: Mönchshurenkrieg. Luther hatte 1525 die ehemalige Nonne Katharina von Bora (1499 - 1552) geheiratet. Das empfanden die Altgläubigen als Skandal, das Mönchsgelübde war entweiht worden. In einer Vielzahl von gegenreformatorischen Schriften und diffamatorischen Pamphleten wurde dieser Vorgang publizistisch ausgeschlachtet. In dieser Tradition der Verunglimpfung der Person Luthers steht dieses Werk des Lemnius. Im Frühjahr 1539 lässt er es drucken. Gewidmet ist diese Schrift in absichtsvoller Ironie Luther selbst. In szenischer Figurenrede wird ausschließlich über Luthers Sexualität gesprochen. Diesen Text erotisch zu nennen, gliche einer unverdienten Aufwertung. Er ist vielmehr Zeugnis dafür, wie pornografisches Reden diffamatorisch funktionalisiert wird. Um nur ein einziges Textbeispiel zu zitieren, verweise ich auf den Chor der Babylonierinnen, der am Ende des Stücks sagt: Nochmals: leb wohl, Luther, mit den aufgerissenen Mösen und faulen Schwänzen. Leb wohl, Luther, mit dem Hurenkrieg! Diese Ergötzlichkeiten, Scherze, Späße, Nonnen, Mösen, Schwänke, geilen Aphroditen und Eroten bringen wir dir dar. So leb nun wohl, Luther! Laß es dir wohl ergehen, Luther, da du ein so bedeutender Mann bist! Leb wohl, Luther, mit der struppigen Filzmütze, die du zu ficken glaubst, wenn du Käthe fickst. Leb wohl. Luther! 36 Einen völlig anderen Ton schlägt Lemnius später in seinen Liebeselegien (Amorum Libri IIII) von 1542 an. Mit diesen Texten betritt er den Grenzbereich zwischen einer erotischen Beschreibung der lustvollen Frau, der großen Liebe und pornografischer Drastik. 37 Im zweiten Teil seiner Schriften von 1753 hat Lessing sieben Briefe der Verteidigung des Simon Lemnius gewidmet, ohne gleichwohl „ solch lüderliches Zeug “ 38 zu rechtfertigen. Ob dies nun von Lessing ernst gemeint war, also jenseits der rhetorischen Geste eines Zugeständnisses an seine Kritiker zu verstehen ist, sei dahingestellt. 36 Der gesamte Text ist in den neulateinischen Originalversen und deutscher Prosaübersetzung nachzulesen bei Mundt, Tl. 2, S. 257 - 315, hier S. 315. 37 Vgl. dazu Matthias Luserke-Jaqui: Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe. Darmstadt 2011, S. 63. 38 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 675. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 53 Der Theologe, Dichter und Komponist Martin Rinckart (1586 - 1649) aus Kursachsen, unter anderem Verfasser des Chorals Nun danket alle Gott, schrieb insgesamt sieben Luther-Dramen, von denen drei überliefert sind, da sie gedruckt vorliegen: Der Eißlebische Christliche Ritter (1613), worin Luther tatsächlich als ein Vorritter, als Ritter Martin und als weltlicher Rittersmann tituliert wird 39 , die Eißlebische Mansfeldische Jubel-Comoedia (1617) und der Müntzerische Bawren-Krieg (1625). Der Begriff der Komödie darf nicht täuschen, es geht dabei nicht um die konsequente Anwendung der aristotelischen Dramentheorie, wonach in der Komödie ungebührliches Verhalten getadelt, der Held verlacht und die Zuschauer erfreut werden. Zur Zeit Rinckarts, in der Literatur des Barock, bedeutet „ Comoedia “ meistenteils nur, dass das Drama ein gutes Ende hat. Die Luther-Dramen Rinckarts stehen zudem in einer Tradition von historischen Dramen, die dem Reformator und seiner Lehre huldigen. Nikodemus Frischlin (1547 - 1590) hatte 1580 diese Reihe der Luther-Dramen begründet. Die frühen Theaterstücke, die das Leben und Wirken von Luther zum Inhalt haben, können als „ protestantische Tendenzdramen “ 40 bezeichnet werden. Erst um 1600 gelangten die Verfasser von weiteren Luther-Dramen dazu, sich etwas distanzierter gegenüber der reinen Biographie und Ideographie Martin Luthers aufzustellen. Gleichwohl blieben die Dramen im Dienste der reformatorischen Verkündigung funktionalisiert. Um die wichtigsten Beispiele anzuführen: Zacharias Rivander Lutherus redivivus (1593), Georg Schwarz Der Calvinisch Post-Reuter (1592/ 93), Friedrich Dedekind Papista conversus (1596), Andreas Hartmann Curriculum vitae Luheri, (erster Teil 1600), Friedrich Dedekind Miles Christianus (1576, 1590, 1604), Heinrich Kielmann Tetzelocramia (1617), Henricus Hirtzwigius Lutherus (1617), Balthasar Voidius Echo Jubilaei Lutherani (1618). Martin Rinckarts Luther-Dramen sind sogenannte Schuldramen - durchaus im wörtlichen Sinn. Sie folgen einer ausgefeilten Deklamatorik und haben zum Ziel, die sprachlich-rhetorische Kompetenz der Schüler zu üben und zugleich Akteure wie Zuschauer moralischreligiös zu belehren. Ursprünglich in Latein verfasst, wurden sie nach und nach übersetzt oder gleich auf Deutsch geschrieben. Als kon- 39 Knapper Textauszug aus dem Epilog zum Stück in dem Buch Martin Luther im deutschen Gedicht. Eine Auswahl. Zusammengestellt v. Ruth Böhner. Berlin 1967, S. 35 f. 40 Siegmar Keil: Martin Rinckarts Lutherdramen. Eine Bestandsaufnahme, in: Lutherjahrbuch 79 (2008), S. 95 - 108, hier S. 99. 54 Kapitel 2 fessioneller Widerpart zum protestantischen Schuldrama kann das neulateinische Jesuitendrama gelten, das auf katholischer Seite das wichtigste literarische Mittel im Kampf gegen die Reformation darstellte. Mediengeschichtlich gesehen entwickelte sich das Schuldrama zum vierten wichtigen Medium der protestantischen Glaubensauffassung, neben dem illustrierten Flugblatt, dem Kirchenlied und der Predigt. Das Publikum dieser Schuldramen gilt als ästhetisch wenig ambitioniert, es liebte die polemische Zuspitzung ebenso wie die reichlichen Allegorien und die satte Bildsprache. Diese Art von Literatur kam bei den Zuschauern schlicht gut an. Der literaturwissenschaftlichen Forschung gelten Martin Rinckarts Luther-Dramen heute als unvollkommen, fremd, historisch verzeichnet „ in ihrer einseitigen theologischen Tendenz, ihrer poetisch gestelzten Sprache, ihrem Mangel an zwingenden dramatischen Entwicklungen und der groben Zeichnung von Personen und Situationen “ 41 . In der Tat ist dem wenig hinzuzufügen, diese Texte bleiben ein Zeugnis ihrer Zeit und konnten letztendlich nicht zu einer dauerhaften Gegenwärtigkeit von Luther in der deutschen Literatur beitragen. Bei all diesen hochliterarischen Zeugnissen darf nicht übersehen werden, dass es daneben im volkskundlichen Bereich zahlreiche Rezeptionszeugnisse gibt, die schon unmittelbar nach Luthers Tod volksliterarisch gehandelt wurden. Natürlich muss dabei berücksichtigt werden, dass die Alphabetisierung der Gesellschaft kaum ausgeprägt, die Kompetenz lesen und schreiben zu können nur einer kleinen Bildungselite vorbehalten war. Aber die teils rituelle Formen annehmende Beschäftigung mit Luther in einem bestätigenden oder einem antireformatorischen Sinne hat Zeugnisse hervorgebracht, die heutzutage als Luther-Sagen bezeichnet werden. Diese Zeugnisse sind in akribischer Kleinarbeit in den vergangenen 150 Jahren wissenschaftlich zwar gesammelt worden, harren aber immer noch einer vollständigen Aufarbeitung. 42 Die Luther-Sagen beinhalten alle damals gängigen Bestandteile von Legendenbildung oder Sagengestaltung. Die Kanonisierung Luthers als theologischer Heilsbringer, als Reformator und Prophet Deutschlands ( ‚ Propheta Germa- 41 Keil: Martin Rinckarts Lutherdramen, S. 108. 42 Vgl. dazu ausführlich Wolfgang Brückner, Heidemarie Gruppe: Luther als Gestalt der Sage, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hgg. v. Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 261 - 294. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 55 niae ‘ ), wie er in einigen Schriften genannt wird, beginnt schon zu Lebzeiten. Und die Literatur ist das wichtigste Medium, diesen Kanonisierungsprozess zu festigen, zu steuern und zu verbreitern. Luther wird in den protestantischen Textzeugnissen als Apostel, als Paulus, als Evangelist, als Engel der Offenbarung des Johannes, als David, Moses, Elia und bereits 1518 als Daniel 43 tituliert. Vor allem die Bildpublizistik zu Beginn der Reformation unterstützt maßgeblich die Verbreitung dieses Luther-Bilds. In den Jahren 1562 bis 1565 hält Johannes Mathesius (1504 - 1565) mehrere Predigten, die 1566 veröffentlicht werden, in denen er sich mit Luthers Leben und Lehre befasst. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wird dieser Predigtband immer wieder nachgedruckt. Darin will Mathesius den Beweis erbringen, dass Luther „ ein rechter christlicher Doktor und Ausleger der heiligen Schrift “ 44 gewesen ist. Mathesius greift auf eine Bezeichnung Luthers als dritter Elias und Prophet Gottes zurück, die schon in den Leichenreden zu Luthers Tod 1546 in der apologetischen Luther-Literatur kanonisiert worden waren und die bereits 1519/ 1520 in Schweizer Humanistenkreisen kursierten. 45 Mehr und mehr wird die Solidarisierung mit Luther und den Anliegen der Reformation entkoppelt von einer zunehmend durch Gelehrte gelenkten volkstümlichen Luther-Verehrung. Die orthodoxe Lutherverehrung erreicht im 16. Jahrhundert in der Stilisierung Luthers als Kirchenvater einen Höhepunkt. Prägnant erhalten geblieben ist diese Sakralisierung des Reformators in dem Kirchenlied mit dem Titel Ein newes Geistliches Lied / von [. . .] Martino Luthero / Deutsches Landes Propheten und Aposteln (1564) von Luthers Freund und Komponist Johann Walther (1496 - 1570). Die Monumentalisierung Luthers wird gerade von jenen betrieben, die den Reformator noch persönlich gekannt hatten, wie beispielsweise Cyriakus Spangenberg (1528 - 1604), für den Luther in Predigten der 1560er und 1570er Jahre nicht nur der treue Haushalter, geistliche Ritter und Prophet, sondern auch Elias, Apostel, Paulus, Evangelist, Johannes, Engel, Märtyrer, Jakob usf. ist. Erst um 1700 gelangt diese Entwick- 43 Vgl. Kaufmann: Der Anfang der Reformation, S. 270. 44 Zitiert nach Brückner: Volkserzählung und Reformation, S. 272. 45 Vgl. Detlef Metz: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter. Köln, Weimar, Wien 2013, S. 634, Anm. 1942. 56 Kapitel 2 lung durch die Kritik des Pietismus daran an ihr Ende, die Luther- Verehrung wird nun als Aberglauben gebrandmarkt. 46 Das katholische antireformatorische Luther-Bild hat sein Übriges getan, diese protestantische Entwicklung zu befeuern. Simon Lemnius mag als ein Höhepunkt der Luther-Verachtung gesehen werden. Die Entwicklung hatte aber schon 1525 eingesetzt. Luther als Objekt verleumderischer Kritik darzustellen, hat diese Seite der katholischen Gegenbewegung übernommen. Anlass der lateinischen und deutschen Spottverse ist Luthers Billigung der Entführung und seine Heirat der Nonne Katharina von Bora im Jahr 1525. Katharina selbst wird bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in Schriften als Prostituierte diffamiert. Die Monachopornomachia des Simon Lemnius von 1538 ist ein eindrückliches Beispiel für diesen publizistischliterarischen Exzess. Die Vernichtung von Luther-Puppen wird im 16. und 17. Jahrhundert als Reaktion auf das protestantische Papstverbrennen geradezu ritualisiert. Dass Luthers Klugheit vom Satan stamme, ist da nur eine gemäßigte Variante der diffamatorischen Sagenbildung. Luther sei mit dem Teufel im Bunde gewesen, schon bevor er geboren war, er habe die Taufe verweigert, er sei ein Zechpreller, ein Grobian, Saufbold und Hurenbock gewesen usw. 47 Während die Leichenpredigten auf Luthers Tod und das theologische Schrifttum sehr gut erschlossen und interpretiert sind, gilt das für die Luther-Dramen des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts nicht. In der Forschung sind diese bislang kaum zur Kenntnis genommen worden. 48 Dabei sind diese Dramen Teil einer Erinnerungskultur, sie betrauern die Abwesenheit Luthers und suchen die Selbstvergewisserung in der Erinnerung an sein Werk. Als Luther-Dramen werden solche Dramen verstanden, in denen Luther selbst auftritt und in denen in irgendeiner Form Bezug auf sein Leben genommen wird. Dies kann in dreierlei Gestalt geschehen. Erstens in der Form, dass der Lebenslauf Luthers oder ein Teil daraus dargestellt wird (Beispiel Hartmanns Erster Theil des Curriculi vitae Lutheri); zweitens in der Form, dass ein anderer Stoff behandelt wird, der beispielsweise durch Legenden oder in mündlicher Tradition überliefert vorgegeben ist (Beispiel Rinckarts Der Eislebische Christliche Ritter); und 46 Vgl. Brückner: Volkserzählung und Reformation, S. 274. 47 Vgl. Wolfgang Brückner, Heidemarie Gruppe: Luther als Gestalt der Sage, und Heidemarie Gruppe: Katalog der Luther- und Reformationssagen des 19. Jahrhunderts, in: Volkserzählung und Reformation, S. 295 - 324. 48 Vgl. Metz: Das protestantische Drama, S. 637 ff. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 57 drittens in der Form, dass ein vom Autor frei erfundener, fiktiver Stoff mit der Person Luthers verknüpft und mit seiner Biographie verbunden wird (Beispiel Dedekinds Papista conversus). 49 Die Literaturgeschichte kennt für den Zeitraum 1580 bis 1624 nur zwölf Luther- Dramen. Im Einzelnen sind dies in chronologischer Reihenfolge Nicodemus Frischlin Phasma (1580), Zacharias Rivander Lutherus redivivus (1593), Friedrich Dedekind Papista conversus (1596), Andreas Hartmann Erster Theil des Curriculi vitae Lutheri (1600), Johannes Bertesius Vinea (1606), Martin Rinckart Der Eislebische Christliche Ritter (1613), Heinrich Hirtzwig Lutherus (1617), Heinrich Kielmann Tetzelocramia (1617), Martin Rinckart Indulgentiarius Confusus (1618), Balthasar Voidius Echo Iubilaei Lutherani (1618), Martin Rinckart Der Müntzerische Bauernkrieg (1625) und Johannes Blocius Eusebia Magdeburgensis (1624). In diesen Texten wird die Person Luthers instrumentalisiert. Luther dient zur Auseinandersetzung im konfessionellen Streit. Dabei werden durchaus auch komplizierte theologische Sachverhalte zur Sprache gebracht. Allen Dramen gemeinsam ist die Vorstellung, dass Luther einen heilsgeschichtlichen Auftrag zu vollstrecken hatte. Zum „ Standardmaterial “ 50 dieser Luther-Dramen gehören dramatisch gut darstellbare, konfrontative Szenen aus Luthers Leben und Wirken wie beispielsweise das Augsburger Verhör oder der Wormser Reichstag. Die Vielfalt und Vielzahl der zur Darstellung gebrachten Aspekte aus Luthers Leben und Wirken verhindert die Uniformität eines literarischen Luther-Bildes. Natürlich stimmt dabei das in den Dramen geschilderte Luther-Bild mit dem gängigen zeitgenössischen Luther-Bild überein, es weist aber auch Neuerungen auf. Denn Literatur schöpft aus allen drei Bezugsformen auf Luther ihre Darstellungskraft. Anders steht es um die Frage nach der Spezifik der Literaturgattung Drama. Hier ist besonders der Aspekt interessant, inwieweit das ‚ Medium Drama ‘ die ‚ Botschaft Luther ‘ beeinflusst und welchem Zweck dies dient. In der klassischen aristotelischen und neo-aristotelischen Dramentheorie bedeutet die Tragödie stets Reinigung der Leidenschaften. Die Luther-Dramen werden dieser Norm in einem konfessionsdidaktischen Sinne gerecht, sie deuten also die Reinigung der Leidenschaften (Katharsis) theologisch um. Demnach ist Luther eine autoritative Instanz zur Sozialdisziplinierung menschlicher Affekte. Was 49 Vgl. Metz: Das protestantische Drama, S. 638 ff. 50 Metz: Das protestantische Drama, S. 707. 58 Kapitel 2 bei Lessing später in der Hamburgischen Dramaturgie (1768/ 69) als Umwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten umgedeutet wird, bezieht sich bei diesen Luther-Dramen auf die unhinterfragte Wirkungskraft des Reformators zur Affektmäßigung. In Abwandlung Lessings könnte man sagen, die Reinigung der Leidenschaften diene nun der Umwandlung in konfessionelle Fertigkeiten, womit sowohl der konfessionstheologische als auch der binnenprotestantische Wettbewerb um die ‚ richtige Konfession ‘ gewonnen wäre. Der Versuch, die aristotelische Katharsis theologisch, ja konfessionell umzudeuten, setzt sich bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts fort; es wäre eine Untersuchung wert, diesem Deutungsmuster kultureller und religiöser Identität nachzugehen. 51 Die literarische Form des Dramas erlaubt es ferner, die Figur Luther mit anderen Figuren interagieren zu lassen, so dass sich das Bild von Luther selbst in der Spiegelung anderer ausdrückt. Diese persuasive Wirkungsmöglichkeit übertrifft die Möglichkeiten von Predigt und Flugblatt oder anderen nicht-literarischen Ausdrucksformen. Andererseits bringen diese Dramen auch eine gewisse Sehnsucht nach einer Autorität und Führungsperson in Gestalt Luthers zum Ausdruck. Letztlich bekunden die Luther-Dramen das Bedürfnis der Zeitgenossen nach autoritativer Weisung durch die Theologie Luthers. Seine Autorität ist nach seinem Tod keine lebendige mehr, sondern eine historische, symbolische. Dies ist die entscheidende Änderung im Luther-Bild dieser Dramen. Man könnte dies etwas verkürzt so formulieren: Luthers Bedeutung verschiebt sich von der Person weg auf das Werk, statt von einer Autorität aus dem Leben kann man nun von einer Autorität aus dem Wirken sprechen. Dass damit bereits eine neue Form der Heiligenverehrung verknüpft ist, bestätigt die historische Analyse. Dieses religiöse Bedürfnis wird nun in der Folgezeit umgeleitet zu einem gesellschaftlichen und politischen Bedürfnis, Luther wird dann zum Gralshüter nationaler Identität. Nach Luthers Tod am 18. 2. 1546 beginnen relativ schnell die Verteilungskämpfe um das geistige Erbe und um die Deutungshoheit seiner Lehre. 52 Schon 1519 war erstmals die Bezeichnung Elias für Luther als ein biblischer Prophet aufgetaucht, in dessen Wirken sich 51 Vgl. als einschlägige Quelle das Rarissimum: [Anon.: ] Die Reinigung der Seelen / Vor oder nach dem Tode / Unpartheylich bezeuget und bewähret in zweyen kurtzen Tractätlein. So von Evangelischer als Römisch-catholischer Seiten. O. O. 1711. - Vgl. Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. 52 Vgl. Luther-Handbuch. Hgg. v. Albrecht Beutel. Tübingen 2005, S. 462 ff. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 59 die Verheißung des Propheten Maleachi erfüllt: „ Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt “ (3, 23). Auf der Grundlage dieser prophetischen, theologischen Genealogie festigen alle weiteren Titulierungen Luthers dessen kanonisches Ansehen. 53 Diese unangefochtene Rolle Luthers beruhte für die lutherischen Orthodoxen nicht auf der Bewunderung für seine Person, sondern auf der „ göttlichen Autorität seiner Lehre “ 54 . Im Gegenzug dazu grenzen sich die Pietisten ab, sie verweigern sich einer uneingeschränkten Verehrung Luthers, Einwände gegen seine Person werden erstmals von lutherischer Seite vorgetragen. Die kritiklose Bewunderung weicht einer differenzierten Kritik. Vor allem das Moment gelebter und erfahrener Frömmigkeit wird von Bedeutung. Das Luther-Bild wird zum Ende des 17. Jahrhunderts hin zunehmend differenzierter. 55 Doch bleibt dies eine rein theologische Diskussion, die Literatur nimmt darauf keinen Einfluss. Das 100-jährige Reformationsjubiläum wird keineswegs einheitlich begangen. Bis zum Beginn des Jahres 1617 besteht an einer öffentlichen Feier und reformatorischen Inszenierung des Thesendatums 31. Oktober sogar kaum öffentliches Interesse. 56 Erst eine Initiative der pfälzischen Reformierten unter Pfalzgraf Friedrich V., der zugleich den Vorsitz in der Protestantischen Union innehat, beginnt ein Bewusstsein für die allgemeine Bedeutung des Thesenanschlags zu schaffen. Am 23. 4. 1617 wird beschlossen, dass am 2. 11. 1617 in den Gottesdiensten feierlich Martin Luthers, anderer Reformatoren und der Reformation selbst zu gedenken sei. Dieser Beschluss wird im Sinne einer Empfehlung in den diversen evangelischen Reichsgebieten höchst unterschiedlich umgesetzt und beachtet, selbst in der Wahl des Termins und in der Frage der Dauer des Gedenkens gibt es 53 Vgl. immer noch ein Klassiker zu diesem Thema und trotz aller geistesgeschichtlichen Einseitigkeit lesenswert: Heinrich Bornkamm: Das Bild Luthers in der neueren deutschen Geistesgeschichte, in: Ders.: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Heidelberg 1955, S. 11 - 116. 54 Bornkamm: Das Bild Luthers in der neueren deutschen Geistesgeschichte, S. 12. 55 Vgl. Bernhard Lohse: Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Dritte, vollständig überarbeitete Aufl. München 1997, S. 183 ff. 56 Vgl. Hans-Jürgen Schönstädt: Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982), S. 5 - 57, hier S. 6 (mit umfangreichem Quellenmaterial). 60 Kapitel 2 weiterhin höchst divergierende Vorstellungen. Von einer einheitlichen Reformationsfeier, die unserem heutigen Verständnis des Reformationstages trotz des Verlustes als nationaler Feiertag zugrunde liegt, kann also keine Rede sein. Lediglich in der Frage des Beweggrundes und des Inhalts der Jubiläumsfeiern bieten die landesherrlichen Verordnungen ein vergleichsweise geschlossenes Bild. An Luthers Thesen solle erinnert werden, Gottes solle als Urheber für Durchführung und Schutz der Reformation gedacht und für die Erhaltung des erneuerten Glaubens und der erneuerten Kirche solle gebetet werden. 57 Dass dies zu keiner differenzierten Beurteilung der Reformation und der Reformatoren beitrug, gehört zur bedauernswürdigen Geschichte des Protestantismus. Im Gegenteil, durch ein theologisch ausgerichtetes Geschichtsdenken erscheint Luther als Werkzeug Gottes und verschmilzt mit dem Werk der Reformation. Dies ist eine Immunisierungsstrategie gegenüber jedem kritischen Einwand, die Möglichkeit eines dialogischen Ansatzes in der interkonfessionellen Auseinandersetzung wird mit einem dogmatischen Wahrheitsanspruch zurückgewiesen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entsteht im Rahmen einer europäischen Frömmigkeitsbewegung ein lutherischer Pietismus als Gegenbewegung zur Orthodoxie. Nun wird die Person Luthers entdeckt, während die lutherische Orthodoxie die reine Lehre und das, was sie dafür hält, verteidigt. Das 17. Jahrhundert insgesamt ist gezeichnet von dem Widerstreit zwischen Orthodoxie und Pietismus. Paul Gerhardt (1607 - 1676) ist unter den Literaten der Zeit eine Ausnahme, er verbindet in seinen Texten Orthodoxie und pietistische Erfahrungsfrömmigkeit. Als barocker Dichter, der vornehmlich durch seine zahlreichen Kirchenlieder bis heute bekannt ist, hat er die von Martin Opitz (1597 - 1639) herrührenden Normen in der deutschen Poetik konsequent beachtet und dadurch popularisiert. Aber auch er hat das Luther-Bild nicht nachhaltig geprägt. Erst in der Aufklärung wird sich das Luther-Bild grundlegend ändern. 57 Vgl. Schönstädt: Das Reformationsjubiläum 1617, S. 20 u. S. 57. Zwischen Bekenntnis und Verachtung 61 3 „ Bruder Martin “ - Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert u. a.: Christoph Friedrich von Derschau Lutheriade (1760); Johann Andreas Cramer Ode auf D. Martin Luther (1770); Goethe Brief des Pastors *** an den neuen Pastor zu *** (1773), Götz von Berlichingen (1773); Lessing Eine Parabel (1778), Axiomata (1778), Nathan der Weise (1779); Herder Mächtige Eiche (1774), Theophron (1781); August Hennings Doctor Martin Luther! (1792); Friedrich Christian Laukhard Ode auf Luther (1799); Novalis Die Christenheit oder Europa (1799) „ und was aus meinem Mund dringt, ist lautlos, als würde ein Schnee über die Bänke treiben und liegenbleiben “ (Christian Lehnert: Aus dem Bergwerk. Drei Sätze Martin Luthers, 3, in: Ders.: Windzüge. Gedichte. Berlin 2015, S. 106) E s ist schon bemerkenswert, dass sich in der gesamten deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts kein einziges Luther-Drama findet. Eine Datenbank wie die VD 18 (Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts) mit einem Bestand von über 75.000 Drucken und über 18 Millionen Seiten kennt keinen dramatischen Text, der Luther zum Inhalt hat. Nicht viel besser sieht es in der Luther-Lyrik aus. Noch 1770 schreibt der Rezensent von Cramers Luther-Ode in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Bd. 11, 1. St., S. 43): „ Es war zu verwundern, daß bisher noch keiner unsrer großen Dichter Luthern besungen hatte “ . Selbst ein so ansprechender Titel wie Poetische Gedancken Uber das grosse Luther-Fest In Schlesien / Welches von Ihro Röm. Kays. Maj. etc. Josepho I. Durch Vermittelung Ihro Königl. Majest. in Schweden etc. Caroli XII. Allergnädigst aufs Neue verstattet worden. Entworffen von einen [! ] Evangelischen S. (1707) 1 entpuppt sich 1 SLUB Dresden, Signatur Hist. Siles. 26.m, misc. 13. bei genauerer Lektüre als ein klassischer Vertreter sogenannter Kasuallyrik, also von Gedichten, die aus einem bestimmten Anlass oder zu einer bestimmten Gelegenheit geschrieben wurden. In diesem Fall geht es um die Altranstädter Konvention vom 1. 9. 1707. Das ist eine Vereinbarung zwischen Karl XII., König von Schweden, und Kaiser Josef I., wonach für Schlesien Religionsfreiheit gewährt wurde und den Protestanten ihre Kirchen zurückgegeben werden mussten. Entsprechend einfach und wenig kunstreich sind die formale Gestaltung und der sprachliche Ausdruck der Poetischen Gedancken. Über Schlesien schreibt der anonyme Verfasser unter Anspielung auf die Luther spezifische Tierallegorie: Du stehst nun wiederum beglückt auf holden Auen / Du heissest ja mit Recht nun die Getröstete / Du kanst dein Glück und Wohl in voller Anmuth schauen / Itzt folgt die Blühe erst an deiner Aloe. Das Grosse Luther-Fest / das bey dir angegangen / Ists gantz allein / das all dein Wohlseyn kann umfangen. [. . .] Sieh! wie LUTHERUS hier durch deinen Himmel fliehet Und dir den Friedens-Brieff / das reine Wort darbringt. Sieh! wie ER dich der Nacht der schnöden Greul entziehet Und als ein süsser Schwan in deinen Tempeln singt. Du bist der Obrigkeit der dicken Finsternissen Der Herrschaft böser Treu / des Löwens Macht entrissen. (Unpaginiert; sechste und achte Strophe). Die Theologie der Aufklärung, insbesondere die lutherische Orthodoxie des 18. Jahrhunderts hatte so etwas wie ein informelles literarisches Bilderverbot ausgesprochen. Luther galt als Autor der reinen Lehre, nahezu schon als Evangelist, dessen Leben und Werk nicht Gegenstand einer literarischen Darstellung sein konnte. Dieses Darstellungstabu ist bis in die frühe zweite Jahrhunderthälfte hinein zu beobachten und ändert sich erst mit dem jungen Goethe. Beispielhaft mag die Anhäufung heroisierender Attribute Luthers sein, die ein Text zur Reformationsfeier des Jahres 1767 offenbart. Christian Friedrich Lauriscus (Lebensdaten unbekannt) ist der Verfasser, er wirkte als Lehrer und wurde 1749 Rektor am Lyceum in Guben. Der Titel seiner vier Seiten umfassenden Schrift lautet Luther der Grosse wird mit wenigen vorgestellet [. . .]. Der Text ist eine Redeübung für die Schüler, die in dieser Form den kommunikativen und Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 63 erinnerungskulturellen Transfer zwischen theologischem Luther- Bild und gläubiger Luther-Verehrung sicherstellt: „ Unser seliger Glaubensvater “ , „ Luther, der unerschrockene Glaubensheld “ , „ Luther der Grosse “ , „ der göttlichgrosse Mann Luther “ , „ der grosse Luther “ , „ dieser grosse Lehrer “ , „ Luther als ein auserwehltes Rüstzeug Gottes “ , „ dieses göttliche Erbarmen machte nun unsern grossen Luther [. . .] noch immer größer “ - das sind die Attribute, die zur Monumentalisierung Luthers aufgefahren werden. Im Jahr 1797 wird in dritter Auflage ein Versepos veröffentlicht, das eine bezeichnende Druckgeschichte hinter sich hatte. Erstmals wurde es 1760 publiziert unter dem Titel Lutheriade, die zweite veränderte Auflage heißt Die Reformation und die dritte Auflage von 1797 kehrt wieder zum ursprünglichen Titel Lutheriade zurück. Autor ist Christoph Friedrich von Derschau (1714 - 1799). Im Vorbericht zur zweiten Auflage bemerkt Derschau, die Reformation als geschichtliches Ereignis sei von großer Erhabenheit und ausgebreitetem Nutzen, deren Folgen nicht nur die Religion beträfen, sondern Moral und Staatsverfassung insgesamt. Das Andenken an eine solche große Begebenheit zu erhalten sei „ Pflicht sowohl für Prosa als [auch] Dichtkunst “ ([Ch.F. v. Derschau]: Die Reformation. Halle 1781, Vorbericht, n. p.). Damit legitimiert Derschau seinen Versuch, in poetischen Gemälden gleichsam als Basiswissen das vortragen zu können, was Protestanten zu wissen unumgänglich sei. Mehr noch, auch Andersdenkende müssten sich von den Argumenten schlicht erschlagen zeigen. Lehrsätze, die Aufdeckung gegenseitiger Fehler und Irrtümer sowie die Schilderung historischer Begebenheiten gehörten „ zu den würdigsten Beschäftigungen der Musen “ (ebd., n. p.). Geschickt knotet er den konfessionellen Gedanken mit den allgemeinen dichtungstheoretischen und dichtungspraktischen Überlegungen zusammen, um so am Ende gar von einer „ Protestantischen Muse “ (ebd., n. p.) sprechen zu können. Das ist sicherlich singulär in der deutschen Literatur. Bei Derschaus Luther-Epos handelt sich um eine religiöse Lehrdichtung in Gestalt eines Versepos. Das große Vorbild für die deutschsprachige Literatur Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 - 1803) mit seinem Messias (1749/ 1773/ 1781) ist unübersehbar. Immerhin gelangt Derschau mit seinem Werk auf 64 Kapitel 3 den päpstlichen Index librorum prohibitorum (Index der verbotenen Bücher). 2 Das Luther-Bild der Literatur des 18. Jahrhunderts bewegt sich im Spannungsfeld von Desakralisierung und Neuentdeckung Luthers. Ob es sich dabei tatsächlich um einen „ epochalen Paradigmenwechsel “ 3 handelt, der sich im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts in der Luther-Rezeption vollzieht, mag theologiegeschichtlich eindeutiger sein als literaturgeschichtlich. Goethe und Lessing können dabei als Wendepunkte in der dramatischen und essayistischen Darstellung des literarischen Luther-Bildes gesehen werden. Anders sieht es in der Lyrik aus. Zwar wird der Reformator gelegentlich in Gedichten des 18. Jahrhunderts nebenbei besungen, aber eine regelrechte lyrische Herausstellung findet nicht statt. Die lyrischen Zeugnisse aus dieser Zeit sind also ausgesprochen rar. Die große Ausnahme bildet eine Ode des lutherischen Theologen, Lyrikers und Verfassers diverser Kirchenlieder Johann Andreas Cramer (1723 - 1788). 4 Sein Gedicht ist Luther gewidmet. Erst Hölderlin wird nach der Jahrhundertwende wieder auf diese große lyrische Form der Ode zurückgreifen, freilich auf eine ungleich kunstvollere Art und Weise als dies bei Cramer der Fall ist. Bei den meisten Zeitgenossen beliebt, bei der Nachwelt in Verruf geraten - so lässt sich die Rezeption von Cramers Luther-Ode charakterisieren. Sie unterliegt dem strengen Programm einer Moraldidaxe der Aufklärung, wonach Literatur generell die Aufgabe hat, zur moralischen Besserung des Menschen beizutragen. Das erklärt den dozierenden Stil und das erklärt die appellative Struktur des Textes. Das Selbstverständnis der Literatur der Aufklärung, besonders in der Zeit zwischen 1730 und 1770, besteht darin, den Verstand aufzuklären und das Herz zu bessern. Das ist die zeitgenössische Formel, die in allen Variationen immer wieder multipliziert wird. Dazu gehört, bürgerliche Identität in tugendhaftem Handeln zu finden, das Ausdruck zu sein hat von affektgedämpfter Selbstdisziplinierung. So 2 Vgl. Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin 1993, S. 15. 3 Albrecht Beutel: Martin Luther im Urteil der deutschen Aufklärung. Beobachtungen zu einem epochalen Paradigmenwechsel, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 112 (2015), S. 164 - 191. 4 Vgl. Matthias Luserke: [Artikel] Cramer, in: Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Gütersloh, München 1989, Bd. 2, S. 470 - 472. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 65 bekräftigt Lessing etwa 1767/ 69 in der Hamburgischen Dramaturgie noch den alten aristotelischen Grundsatz der Katharsis, dass eine Tragödie die Leidenschaften, besonders Jammer und Schaudern, zu evozieren und den Zuschauer und Leser davon zu befreien habe. Dort heißt es, diese Katharsis sei die Umwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, womit letztlich die sozialverträgliche Disziplinierung menschlicher Affekte zu Gunsten der Ausbildung bürgerlicher Verhaltensstandards gemeint ist. Cramer bedient mit seinem Gedicht den Zeitgeschmack und noch 1806 wird er dafür in einem weit verbreiteten Lexikon gelobt: „ Auf den treflichen Hochgesang zu Ehren Luthers, der lauter feuriges Vaterlandsgefühl und edlen Freiheitssinn athmet, kann unsere Sprache und Poesie stolz seyn. Gedankenfolge, Empfindung, Phantasie und Versbau, alles ist darin im glücklichsten Schwunge. “ So ist es nachzulesen im Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten von Karl Heinrich Jördens (1757 - 1835) aus dem Jahr 1806 (1. Bd., S. 334), das auf seine Weise die Literatur der Aufklärung bilanziert. Wenn der gute Geschmack in der Dichtung verdorben sei, so doziert Cramer im Nordischen Aufseher (110. Stück, 1762), dann ergieße sich dieses Übel „ aus der Gelehrsamkeit auch in die bürgerliche Gesellschaft “ (S. 604). Deshalb müsse die Dichtung dazu beitragen, dass sich ein guter Geschmack bilden und die bürgerliche Gesellschaft sich ausbilden könne. Lessing hatte sich schon 1759/ 60 in seinen Literaturbriefen kritisch zu Cramers Gedichten und seiner moralischen Wochenschrift Der Nordische Aufseher geäußert, vor allem im 48. bis 51. und im 102. bis 112. Stück. Im 51. Literaturbrief etwa schreibt er über Cramers poetisches Genie, es sei sehr einförmig, und wer eine oder zwei von Cramers Oden kenne, der kenne sie alle, es fehle seinen Gedichten bei aller reimenden Leichtigkeit eine erkennbare Struktur, Cramer entzünde lediglich ein kaltes Feuer. In dieser Lessing-Spur fortfahrend, fällt dann der Literaturhistoriker Franz Muncker (1855 - 1926) 1889 das endgültige Urteil. Für ihn sind Cramers Gedichte inhaltlich einförmig und arm, im Triumphton geschrieben; er stellt eine unpoetische Nüchternheit fest, Cramer sei ein „ oft ermüdend geschwätziger Versifikator “ 5 . Auch Johann Gottfried Herder rezensierte die Luther-Ode äußerst kritisch. Cramers Gedichte seien insgesamt „ viel zu rhetorisch, um poetisch zu seyn “ 6 , 5 Bremer Beiträger, hgg. v. F. Muncker. 2. Tl., S. 65. 6 Herder: Sämtliche Werke, Bd. IV, S. 230. 66 Kapitel 3 über die Luther-Ode schrieb er, „ eine gewiße kalte Deklamation, ein Fortschreiten auf trocknen Allgemeinörtern [. . .] eine Kette von grossen O ’ s! und Fragezeichen [. . .] eine Ringelode “ 7 . Mit Herder tritt ein neues Literaturverständnis auf den Plan, das dann 1770 im Erscheinungsjahr der Ode eine junge Generation von Autoren entzündet. Das Jahrzehnt des Sturm und Drang hat begonnen. Die Ode auf D. Martin Luther erschien erstmals 1770 in Kopenhagen. Zu Anfang schreibt Cramer: Du freyes Volk, das keinen Nationen, Zumal nicht Stolzen, weichet, das du darfst, Hochaufsehn, und herab von ihren Thronen, Viel Peiniger der Völker warfst, Thuiskons Volck, Tyrannenbändiger, Du Arm der Freyheit, du Erschütterer Der Weltbezwingerin, an deren Wagen Schon Gallien und Lybia, Iberien und Asia Zu Sklaven angekettet lagen. (S. 3). 8 Thuiskon ist eine germanische Gottheit und zugleich der Titel einer 1764 erschienenen Ode von Klopstock. Nach dieser Einleitung stellt Cramer die Frage: Wer will von deinen Sängern, kann Den Mann, ders that, den deutschen Mann In alten Bardenliedern singen? (S. 4), und liefert die Antwort gleich mit: „ Soll ich? Ich wills. “ (S. 5) Konfessionelle und politische Freiheit werden also von Beginn an zusammengeführt: O Luther! Luther! Hoher Nahme! größer, Als aller Helden Nahmen sind! [. . .] Denn er zerbrach des Aberglaubens Ketten. (S. 5 f.). Wegmarken aus Luthers Lebensgeschichte werden hervorgehoben, um in der Überzeugung zu enden, fromm ist, was Gott gefällt und den Völkern nützt. 7 Herder: Sämtliche Werke, Bd. V, S. 404 f. 8 Ich zitiere nach dieser Ausgabe: Johann Andreas Cramer: Luther und Melanchthon, zwey Oden. Neue Auflage. Frankfurt, Leipzig 1773. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 67 Heil dem, der Gott will dienen, des verwundert Europa sich und glaubts kaum! er ist da, Der Tag der Freyheit, den sich manch Jahrhundert Erseufzt hätt, aber ihn nicht sah! (S. 12). Die Reformation wird als politisches Großereignis verstanden und Luther wird als politischer Führer hervorgehoben: Das hast du, edler deutscher Mann, Das hat der Herr durch dich gethan Durch Wunder nicht, durch deine Lehren, Auch durch dein Leben! Nie hast du geheuchelt, Mit Glauben deine freye Brust gestählt, Hast keinem Fürsten je [z]um Schutz geschmeichelt Daß du ein Mensch warst, nie verheelt! (S. 15). Cramers Resümee lautet: Doch einen freyern edlern Mann, Als Luther war, der edle Mann, Hat keine Nation gezeuget. Sein Nahme sey dir heilig, ewig theuer. (S. 17). Das Erscheinungsjahr von Cramers Luther-Ode 1770 ist in literaturgeschichtlicher Hinsicht also ein entscheidendes Jahr, und nichts könnte den Gegensatz zwischen der traditionellen moraldidaktischen Dichtung der Aufklärung und der neuen Literatur des Sturm und Drang mehr verdeutlichen, als eben diese Luther-Ode. Wenn man bedenkt, welch unvergleichlicher Innovationsschub nur kurze Zeit später die deutsche Literatur mit Goethes Drama Götz von Berlichingen (1773) erfahren hat, dann kann man verstehen, dass Cramer kurz zuvor den Zeitgeschmack einer bestimmten konservativen Leserschaft traf, aber nicht den Entwicklungsstand der deutschen Literatur in den frühen 1770er Jahren repräsentierte. Am 4. 4. 1770 trifft Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832) in Straßburg ein. Er wohnt in unmittelbarer Nähe zum Münster, einen Mittagstisch erhält er mit anderen jungen Leuten zusammen bei den Schwestern Lauth. Dieser kleinen Gruppe von vorwiegend Studenten präsidiert der Aktuarius Johann Daniel Salzmann (1722 - 1812), er ist auch der geistige Mentor von Goethes engstem Freund und gleichrangigem Schriftstellerkollegen Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 - 1792), der sich am längsten von allen Sturm-und-Drang-Autoren in Straßburg aufhält. Der ältere Johann Gottfried Herder erreicht Straßburg am 4. 9. 1770, er muss sich dort einer Augenoperation unterziehen. Ende 68 Kapitel 3 September 1770 begegnen sich Herder und Goethe dann das erste Mal, das ist die Geburtsstunde des Sturm und Drang. 9 Im Frühjahr 1771 bricht Herder wieder in Richtung Bückeburg auf und im August desselben Jahres verlässt auch Goethe Straßburg. Bereits ein Jahr später, Ende 1772, schreibt Goethe zwei kleine Aufsätze, die er im darauffolgenden Jahr im Januar 1773 publiziert, einmal den Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. Der andere Aufsatz trägt den Titel Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen. Beide Texte sind zur gleichen Zeit entstanden und beide gelten als Zeugnis von Goethes Bemühen, Distanz zur pietistisch geprägten Theologie zu schaffen. Allerdings darf man die Position des Landgeistlichen im Brief des Pastors zu *** nicht vorbehaltlos mit der Schreibabsicht des Autors gleichsetzen. Biographisch gesehen stellt dieser Text zwar den Versuch Goethes dar, sich mit den Mitteln der Stilisierung im Rollenspiel von pietistischen Positionen zu distanzieren, denen er kurzzeitig nahegestanden hatte. Aber er weist dem Pfarrer die Rolle eines Lutheraners zu, die sich von seinen eigenen religiösen Vorstellungen dieser Zeit durchaus unterscheidet. Goethe inszeniert ein perfektes Rollenspiel. In seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit spricht er im zwölften Buch von 1814 über diesen Text und nennt es die „ Maske eines Landgeistlichen “ (Goethe: MA 16, S. 546), derer er sich bedient habe. Er fingiert eine Übersetzung aus dem Französischen, was insgesamt den Inszenierungscharakter unterstreicht - wie übrigens alle Texte Goethes aus dieser Zeit ein Rollenspiel darstellen. 10 Man kann also durchaus sagen, Goethe spricht durch die Figur des Pastors, er ist sie aber nicht. Er inszeniert theologische Fragen, die ihn selbst beschäftigen, die ihn vielleicht auch ärgern oder die ihm zumindest ungelöst erscheinen und lässt die Leser an dieser Inszenierung teilhaben. Anlass des fiktiven Briefes, den man auch als Variante eines Apostelbriefes lesen kann, ist der Tod des Pfarrerkollegen in der Nachbargemeinde. Dieser war ein Eiferer, voller Abneigung gegen Andersdenkende, die er als Ketzer und Heiden brandmarkte. Auf diese vakante Pfarrstelle wird nun ein junger Pfarrer berufen, der als friedfertig gilt. An diesen neuen Pastor zu *** wendet sich der alte 9 Vgl. Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren - Texte - Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010. 10 Vgl. Matthias Luserke: Der junge Goethe. Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe. Göttingen 1999. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 69 Pastor zu ***. Sein Grundsatz heißt Toleranz gegenüber Andersdenkenden, auch und gerade innerreformatorisch und innerkonfessionell gedacht. Diese Verpflichtung zur Toleranz hat ihn unempfindlich werden lassen gegenüber den Lehren, Dogmen und Systemen, die entwickelt wurden, um die Streitigkeiten zwischen Lutheranern, Reformierten und Schwärmern akademisch und publizistisch auszutragen. Der Pfarrer führt der Reihe nach die strittigen Punkte auf. Gott hat dem Menschen den Glauben geschenkt, das ist eine Glaubensgewissheit, insofern kann dem Menschen daraus kein Schuldvorwurf gemacht werden, dem falschen Glauben oder der falschen Konfession anzugehören. Vielmehr müsse diese Erkenntnis zur Toleranz gegenüber Andersgläubigen führen in Rückbesinnung auf die ewige Liebe Gottes (vgl. Goethe: MA 1.2, S. 424). In einem bestimmten Augenblick seines Lebens, der allein Gott vorbehalten ist, erfährt der Mensch den Geist Gottes - eben in je unterschiedlicher Weise und der Mensch muss dieser Verschiedenartigkeit gegenüber „ tolerant “ (ebd.) bleiben. Toleranz - das ist das Schlagwort, das der junge Goethe wiederholt dem Pfarrer in den Mund legt, es ist das Schlagwort der Aufklärung und Grundlage von individueller Wohlfahrt und Gemeinwohl. „ Unsre Kirche behauptet, daß Glauben und nicht Werke selig machen “ (ebd., S. 425), führt der Pfarrer weiter aus. Für die Erbsünde könne der Mensch nicht verantwortlich gemacht werden und für die tatsächlichen weiteren Sünden auch nicht, deshalb verlange Gott von den Menschen nichts als den Glauben, denn durch ihn werde uns „ das Verdienst Christi mitgeteilt “ (ebd.), wie etwa die Vergebung der Sünden und das ewige Leben. Der Pfarrer erwähnt die Lehre der „ Wiederbringung “ (ebd.), die unter den Protestanten höchst umstritten ist, die ihn persönlich aber tröstet, ohne dass er dies öffentlich ausstellt. Dieser Gedanke einer Wiederbringung aller Menschen am Ende der Zeiten wird auch Allversöhnung oder Apokatastasis genannt, wonach alle Menschen in das Reich Gottes aufgenommen werden. 11 Diese Überlegung steht im Gegensatz zur endzeitlichen Vorstellung, dass am Ende aller Zeiten in Gerettete und Sünder geschieden oder gar deren Vernichtung vorhergesagt wird. Die Wiederbringung aller fußt auf dem Gedanken von der Bedeutung der allumfassenden Liebe Gottes zu den Men- 11 Vgl. Thomas Tillmann: Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe. Berlin 2006, S. 108 f. 70 Kapitel 3 schen. Gott lässt in dieser liebevollen Hinwendung zum Menschen diesem seine Gnade zuteilwerden und wird ihn erretten. Diese komplexen dogmatischen und eschatologischen Zusammenhänge erledigt der Pfarrer in Goethes Text sehr pragmatisch, indem er betont, „ aber das weiß ich wohl, das ist keine Sache davon zu predigen “ (ebd.). Für ihn ist die Liebe Gottes der entscheidende Bezugspunkt, was ihn zu der durchaus provozierenden Kernaussage führt, „ denn da Gott Mensch geworden ist, [. . .] so muß man sich vor nichts mehr hüten, als ihn wieder zu Gott zu machen “ (Goethe: MA 1.2, S. 426). Die Menschwerdung Gottes begründet der Pfarrer damit, dass nur so die Menschen überhaupt in der Lage seien, Gott einigermaßen zu begreifen. Wenn man dies nun aufhöbe, ginge auch unser Verstehen von Gott verloren. Danach folgt eine kleine Philosophenschelte, genauer, die Kritik gilt jenen Philosophen der Aufklärung, die unentwegt von Vernunft reden und dabei ebenso unentwegt Vorurteile bedienen. Diese Haltung bemäntelten sie mit dem Begriff der Toleranz, der aber bei dieser Art von Philosophie seines Grundcharakters verlustig ginge, nämlich tolerant gegenüber anderen Meinungen und Haltungen zu sein. Damit ist der Pfarrer bei der theologischen Lehre vom freien Willen, inwiefern sich der Mensch tatsächlich frei für oder wider Gott entscheiden kann, und dem Problem der Gnadenwahl, inwiefern freier Wille und Gnade Gottes, derer der Mensch teilhaftig werden muss, um vor Gott gerechtfertigt zu werden (Rechtfertigungslehre), miteinander zu vereinbaren sind. Von da leitet der Pfarrer zum eigentlichen Kernthema seines Briefes über - was Goethe im zwölften Buch von Dichtung und Wahrheit (1814) das ‚ Hauptthema ‘ nennt - , der Intoleranz resp. der Toleranz. Der Pfarrer schreibt: „ denn das Haupt-Elend der Intoleranz offenbart sich doch am meisten in den Uneinigkeiten der Christen selbst “ (Goethe: MA 1.2, S. 427). Und das betrifft auch die Position der Lutheraner. Luther selbst hatte nicht eine ‚ neue ‘ Konfession hervorbringen, sondern lediglich die alte reformieren wollen. Dass aus diesem Ansatz innerprotestantische und innerkonfessionelle „ Uneinigkeiten “ und Streitigkeiten hervorgingen, „ das ist was trauriges “ (ebd.). Gleichwohl redet der Pfarrer einer erzwungenen Einigkeit keineswegs das Wort, vielmehr intendiert er eine „ Geschichte des Wortes Gottes “ (ebd., S. 428), die zuallererst aufweisen würde, welch verschiedene Wege das Wort Gottes zu den Menschen findet. Dann fällt jener Satz, der viel zitiert ist: „ Warum sollte ich leugnen, daß der Anfang der Reformation eine Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 71 Mönchszänkerei war, und daß es Luthers Intention im Anfang gar nicht war, das auszurichten[,] was er ausrichtete “ (Goethe: MA 1.2, S. 428). Goethe schildert diesen reformationsgeschichtlichen Sachverhalt völlig korrekt und rückt dabei die Priorisierung der unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse und theologischen Auslegungen über das eigentliche Wort Gottes zurecht. Es könne nicht angehen, dass differente reformatorische Bekenntnisse mehr bedeuteten als das Wort Gottes. Der Pfarrer spricht offen von der Knechtschaft: „ Luther arbeitete uns von der geistlichen Knechtschaft zu befreien, möchten doch alle seine Nachfolger so viel Abscheu vor der Hierarchie behalten haben, als der große Mann empfand “ (Goethe: MA 1.2, S. 428) und „ eine Hierarchie ist ganz und gar wider den Begriff einer echten Kirche “ (ebd., S. 429). Luther habe sich gegen Vorurteile gewandt, und diese Vorurteilskritik ist eine typische Sichtweise aus dem Zeitalter der Aufklärung, sie steht auf dem Banner der Aufklärung. Insofern vollstreckt die Aufklärung Luthers Werk. Ferner habe Luther dem menschlichen Herzen seine Freiheit wiedergegeben, er machte es dadurch liebesfähiger. Der Pastor wird dann aber auch zum konsequenten Verfechter von aufgeklärter Toleranz. Man solle bei aller Begeisterung für Luther die alte Kirche deswegen nicht denunzieren, im Gegenteil, „ laßt sie, leidet sie und segnet sie “ (ebd.). Zweifel hat der Pfarrer an der Sichtweise der orthodoxen Lutheraner, dass Luther „ Gottes Werk “ (ebd.) vollende. Mit Sorge beobachtet der Pfarrer den zunehmenden Reformationseifer. Nun kommt der Pfarrer auf die innerkonfessionellen Spannungen zu sprechen. „ Luther hatte die Schwärmerei zur Empfindung gemacht, Calvin machte die Empfindung zu Verstand. Diese Trennung war unvermeidlich, und daß sie politisch geworden ist, lag in den Umständen “ (ebd.). Die Streitigkeiten zwischen Calvinisten und Lutheranern in der Abendmahlsfrage, ob denn nun Brot und Wein im Moment der Wandlung tatsächlich Leib und Blut Christi seien oder ob dies nur symbolisch zu verstehen sei, bis hin zur differenten Beurteilung der Gnadenwahl - all dies sind für den Pfarrer menschliche Deutungsverschiedenheiten, die dem „ Geist Gottes “ (ebd., S. 429) in keiner Weise gerecht werden können. Deshalb bilanziert der Pfarrer - und man darf vermuten, dass dies auch das Bekenntnis des jungen Goethe ist: „ so hat jeder seine eigene Religion “ (Goethe: MA 1.2, S. 429). „ Tyrannischer Unsinn “ (ebd., S. 431) sei es zu verlangen, etwas zu empfinden, was man nicht empfinden könne. Deshalb rät der Pfarrer seinem jungen Amts- 72 Kapitel 3 kollegen, diese „ falschen Propheten “ (ebd., S. 432), welche lediglich die Streitigkeiten pflegten und die Spaltung vorantrieben, in der Gemeinde zu isolieren. Die Aufklärung habe gezeigt, dass mit den Mitteln der Vernunft weder ein Gottesbeweis noch kein Gottesbeweis und schon gar kein interkonfessioneller Streit zu begründen sei. Den Brief schließt der Pfarrer ab mit seinem persönlichen „ Glaubensbekenntnis “ (ebd., S. 432). Die Menschen- und Gottesliebe soll im Mittelpunkt theologischer Praxis stehen ( „ prediget Liebe, so werdet Ihr Liebe haben “ [ebd., S. 434]); Lehrkonflikte sollen gemieden und Friede im Sinne eines sozialen Miteinanders soll gehalten werden ( „ seid [. . .] indifferent “ [ebd., S. 434]); jedes Gemeindeglied solle zur eigenen Lektüre der Bibel ermutigt werden; die Kirchenlieder sollen emphatisch und empathisch sein, die Seele solle erhoben werden und „ in den Flug “ kommen, „ in dem der Geist des Dichters war “ (ebd., S. 433). Neben diesen durchaus ernstzunehmenden theologischen und konfessionellen Themen, die der Text benennt und teils aus der Sicht des Pfarrers diskutiert, ist das eigentliche „ Hauptthema “ des Briefes des Pastors zu ***, so schreibt Goethe in seiner Autobiographie, „ die Losung der damaligen Zeit, sie hieß Toleranz, und galt unter den besseren Köpfen und Geistern “ (Goethe: MA 16, S. 546). In Form von fiktiver Briefprosa entwickelt Goethe eine kleine Apologie der Toleranz in Glaubensfragen. Es ist schon beeindruckend, welche theologische Tiefe der gerade 24-jährige Goethe in diesem Text dabei erreicht. Im Januar 1773 erscheint der Brief des Pastors zu *** ohne Angabe von Ort, Verlag und Jahr im Selbstverlag von Goethes Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck (1741 - 1791). Christian Friedrich Daniel Schubart (1739 - 1791) rezensiert Goethes Text überschwänglich in seiner Teutschen Chronik am 21. 11. 1774. Der Inhalt dieser Schrift wiege schwerer und sei „ reicher an gemeinnützigen großen Gedanken, als ganz große Werke über die Pastoraltheologie “ (zitiert nach: Goethe: MA 1.2, S. 846). Einem orthodoxen Aufklärer wie Johann Jakob Bodmer (1698 - 1783) galt Goethe hingegen als „ Tollhäusler “ und „ Schwärmer “ (zitiert nach: Goethe: MA 1.2, S. 846). Das Licht, welches zu sehen erlaubt, ist das Symbol der Aufklärung. Diese ist es, die auch Goethes Plädoyer für religiöse Individualität im Sinne von Freiheit des Glaubens und Abschütteln des ‚ Joches des Buchstabens ‘ , wie es bei Lessing wenig später heißen wird, erkennen und gelten lässt. Darin kann man ein spezifisches Merkmal des Sturm Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 73 und Drang sehen, doch greift Goethe wohl eher auf Bemerkungen Luthers über das allgemeine Priestertum zurück. Dies zeigt, wie tief verwurzelt Goethe in der theologischen Tradition und den zeitgenössischen Vorstellungen der Aufklärung ist. Der Schweizer Pfarrer Johann Kaspar Lavater (1741 - 1801) schreibt ihm begeistert über die Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen (1773), schwärmerisch empfindsam lässt er ihn wissen, „ wie sehr ich insonderheit nach einem Christusideal von Ihrer Erfindung und Ihrer Hand - schmachte “ (zitiert nach: Goethe: MA 1.2, S. 850). Lavaters Wunsch wird Goethe nicht erfüllen können und wollen. Er beschäftigt sich weiter auch mit anderen theologischen und religiösen Fragen, unter anderem versucht er sich an einer Koran-Übersetzung und einem Mohammed-Drama, da ihm dieser - wie für Herder auch - als ein Typus des genialen Menschen gilt. In dem knappen und unvollendet gebliebenen kirchenkritischen Versepos Der ewige Jude aus der ersten Jahreshälfte 1774 versucht Goethe zwar noch zwischen Kirche und Christuslehre zu unterscheiden; er spricht von Ländern, „ wo man so viele Kreuze hat / Und man für lauter Kreuz und Christ / Ihn eben und sein Kreuz vergißt “ (Goethe: MA 1.1, S. 242). Damit werden die konfessionellen und innerreformatorischen Streitigkeiten aufs Korn genommen, um dann in dem Schlussvers zu enden: „ O Freund der Mensch ist nur ein Tor / Stellt er sich Gott als seines Gleichen vor “ (ebd., S. 246). Aber schon in einem um den 12. 5. 1775 geschriebenen Brief an Herder bezeichnet er „ die ganze Lehre Von Christo “ als „ ein Scheisding “ , das ihn als Menschen „ als eingeschräncktes bedürftiges Ding “ (Goethe: Briefe, Bd. 1, S. 182) rasend mache. Wiederum einige Jahre später wird Goethe über sich schreiben, er sei kein Unchrist und kein Widerchrist, aber er sei ein „ dezidirter Nichtkrist “ (Goethe: Briefe, Bd. 1, S. 402), so steht es in einem Brief an Lavater vom 29. 7. 1782. Auch wenn Goethe damit auf den Wortlaut in einer Publikation Lavaters anspielt, es bleibt ein im Zitat bemänteltes Bekenntnis. Ein weiterer Versuch Goethes sich Luther und dem evangelischen Glauben anzunähern, wird uns viele Jahre später bei seinen Überlegungen zu einer Reformationskantate wiederbegegnen - dann allerdings unvollständig und sehr konventionell. Das Luther-Bild ändert sich erst Anfang der 1770er Jahre mit einem radikalen Versuch, sich der Dominanz der Orthodoxie und den Erwartungen des Pietismus zu entziehen. Mit Goethes Drama 74 Kapitel 3 Götz von Berlichingen (1773) wird mit einem Male ein neuer, anderer Weg gesucht, sich der übermächtigen Gestalt Luthers zu nähern, ohne in Nationalpathos oder Heiligen- und Legendengeschichtsschreibung zu verfallen. Luther wird nun reduziert, minimalisiert, man hat beinahe den Eindruck, als näherte sich ihm der junge Autor Goethe völlig unbefangen. Doch der Eindruck täuscht. Goethe hatte sich zuvor an Luther, der Reformation und der lutherischen Orthodoxie genauso abgearbeitet wie an der Schwärmerei und dem Pietismus. Mit der Regieanweisung „ Bruder Martin kommt “ wird jene berühmte Szene in Goethes Götz von Berlichingen eröffnet, die in der Geschichte des Themas ‚ Martin Luther und die Literatur ‘ einen Perspektivenwechsel einleitet. Man kann sofort die auffällige Analogie zwischen der literarisch-dramatischen Figur des Bruder Martin und der realhistorischen Person Martin Luther erkennen. Der Klostername des Bruders ist Augustin - der historische Martin Luther war Augustinermönch. Der bürgerliche Name, der Taufname der Mönchsfigur im Drama lautet Martin, diesen Namen höre er am liebsten. Obwohl es gegen seine Ordensregel verstoße Wein zu trinken, lässt sich Bruder Martin von Götz von Berlichingen zu einem Gläschen überreden. Sein Heimatkloster ist in Erfurt, dort befand sich auch das Augustinerkloster, in dem Luther in den Jahren zwischen 1505 und 1512 als Mönch lebte. Bruder Martin charakterisiert sich als ruhelos und rastlos, so dass sein Abt ihn auf Wanderschaft schickt zum Bischof von Konstanz. Dass der junge Autor Goethe ausgerechnet Konstanz als Zielort von Bruder Martins Reise wählt, mag seine versteckte Anspielung darin haben, dass in Konstanz im Jahr 1415 der tschechische Kirchenkritiker und Reformer Jan Hus (um 1369 - 6. 7. 1415) festgenommen, zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen als Ketzer verbrannt wurde. In dessen Nähe versuchten Gegner Luthers die reformatorische Kritik zu rücken. Bruder Martin erklärt Götz, er sei in dessen Harnisch verliebt. Bruder Martin phantasiert damit eine Bewaffnung und Wehrhaftigkeit, die ihm als Mönch nicht zusteht. Bewaffnung zu phantasieren bedeutet, einen Gegner zu mutmaßen, und sei er noch so diffus, und die Bereitschaft zu zeigen, gegen ihn im Zweifelsfall auch Waffengewalt einzusetzen. Für Martin ist der Gegner die Papstkirche schlechthin. Seine Bewaffnung ist der Diskurs, das Sprechen und Schreiben und die Bereitschaft, mit der Gewalt des Worts zu kämpfen. Götz registriert das und weist ihn Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 75 darauf hin, dass eine solche Rüstung zu tragen beschwerlich sei. Was ist nicht beschwerlich, fragt Bruder Martin, „ mir kommt nichts beschwerlicher vor, als nicht Mensch sein zu dürfen. Armut, Keuschheit und Gehorsam “ (Goethe: MA 1.1, S. 555). Damit stellt der Mönch natürlich die Grundlagen seines klösterlichen Lebens radikal in Frage, nämlich das Armutsgelübde, das Keuschheitsgelübde und der bedingungslose Gehorsam gegenüber dem Orden. Bruder Martin spricht von der Bürde des Gewissens, unausstehlich, unerträglich sei die Lust, all das mache ihn mutlos. Hier wird Martin Luther von Goethe nicht als Übermensch, sondern im Gegenteil, eben ganz menschlich gezeichnet. Bruder Martin wägt die Mühseligkeiten des Ritterstandes gegen die Jämmerlichkeiten des geistlichen Standes ab. Eine missverstandene Begierde Gott nahe zu sein verdamme die besten Triebe im Menschen. Der Leser fragt sich, weshalb Bruder Martin eigentlich noch Mönch ist? Das Angebot von Götz, er könne einen Harnisch und ein Pferd bekommen und mit in die Fehde ziehen macht daher Sinn, doch Bruder Martin lehnt ab. Stattdessen fährt er in seiner Kritik am Klosterleben weiter fort. Er nennt das Kloster einen „ Käfig “ , in den er jedes Mal unglücklich zurückkehre, während Götz in Erinnerung seiner Taten schwelgen und sich auf die Rückkehr in seine Burg und den Empfang durch seine Frau freuen könne. Bei diesem Thema wird deutlich, dass Bruder Martin schwer unter dem Keuschheitsgelübde leidet. Er kenne keine Frauen, aber „ wohl dem, der ein tugendsam Weib hat! [. . .] die Frau die Krone der Schöpfung “ (Goethe: MA 1.1, S. 556). Die Szene wird überhastet beendet, da Götz die Nachricht erhält, dass sich Pferde näherten. Dann spricht Götz, der von Bruder Martin bis dahin immer noch nicht erkannt worden ist, die wegweisenden Worte, die als Interpretament für die gesamte Szene gelesen werden können: „ Seid mutig und geduldig. Gott wird euch Raum geben “ (Goethe: MA 1.1, S. 556). In diese Worte hat Goethe eine ganze Fülle biblischer Anknüpfungsmöglichkeiten gelegt. Im Einzelnen ergeben sich Sinnbezüge zu Ps 31, 9: „ du stellst meine Füße auf weiten Raum “ . Demnach ist Gottes Wort raumgebend, das Wort des Reformators raumgreifend. Luther erklärt diesen Vers mit den Worten: „ Wie die Not der enge Raum ist, der uns bedrückt und traurig macht, so ist die Hilfe Gottes der weite Raum, der uns frei und fröhlich macht “ . In Ps 27, 14 wird Gottes Trost durch Gottes Wort hervorgehoben. Der appellative Zuspruch durch das Wort ist hier offensichtlich, und wird von Götz auch in diesem Sinne gebraucht: „ Harre des Herrn! Sei getrost und unverzagt und 76 Kapitel 3 harre des Herrn “ . Diesen Psalmvers zitiert Goethe übrigens auch in einem Brief vom 31. 12. 1775 an Herder, der Wortlaut war ihm also durchaus bekannt. Die folgenden beiden Textstellen gehören unter dem Blick der Aussage des Götz von Berlichingen zusammen: Jh 8, 37, hier spricht Jesus zu den Juden, „ denn mein Wort findet bei euch keinen Raum “ , und Lk 2, 7, „ denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge “ , jener Vers aus der Weihnachtsgeschichte, der die Verlorenheit des ungeborenen Jesuskindes als Gleichnis aufnimmt für das nomadisierende Gotteswort, dem unter den Menschen kein Raum gegeben, kein Gehör geschenkt wird. Das lenkt die Aufmerksamkeit noch einmal auf die Tatsache, dass dem Wort Gottes durch die Menschen Raum gegeben werden muss. Wenn die Menschen dem Wort Gottes Raum verweigern, vermag es auch nicht zu wirken. In Jh 14, 2 spricht Jesus: „ In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen “ . Das ermöglicht die Perspektive auf die Vielfalt möglicher konfessioneller Ausdrucksformen zu eröffnen, zumindest ruft es in Erinnerung, dass die innerevangelischen Differenzen kaum in der Lage sind, Gottes Wort ernsthaft zu bedrohen. Goethe entwirft also mit diesen wenigen Worten, die er seiner Figur Götz von Berlichingen in den Mund legt und die an Bruder Martin resp. Martin Luther gerichtet sind, eine Poetik der Theologie, sie eröffnet dem Wort den Raum, den sie der Figur zuweist, das Wort entfaltet sich in dem Raum, den der Mensch findet. Später wird Götz von Berlichingen, als er auf seiner Burg in Jaxthausen angekommen ist und sich gerade seines Harnischs entledigt, nebenbei sagen, „ Bruder Martin du sagtest recht “ (Goethe: MA 1.1, S. 561). Das Wort des Mönchs, sein Lob der Häuslichkeit, Familie und Ehe wird sich in Götz von Berlichingen erfüllen. Das wirft die Frage auf, wann sich das Wort des großen weltlichen Mannes Götz von Berlichingen in Bruder Martin erfüllt. Die Geschichte gibt darauf die Antwort, es ist nicht nötig, dass der Autor dies expliziert. Der weltliche große Mann, Götz von Berlichingen, ist derjenige, der dem kleinen und armen Mönch Bruder Martin Mut zuspricht, ihm die Verheißung einer großen Tat aufzeigt und ihn in den Raum des göttlichen Worts wieder zurückführt, der Nomade Bruder Martin wird ankommen. Das mutlose und orientierungslose Nomadisieren des Bruder Martin hat nun ein Ende, Götz weist ihm den Raum des Bleibens zu. Aus dem Bruder Martin kann nun der Reformator Martin Luther werden. Das ist Goethes antizipatorischer Verweis auf die Reformation. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 77 Bruder Martin erkennt nun Götz an seiner eisernen, rechten Hand, „ diesen Mann, den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden “ (Goethe: MA 1.1, S. 556). Diese Worte könnten auch auf Bruder Martin selbst bezogen sein, somit würden sie eine Selbstcharakteristik darstellen. Bringt man nun die realhistorische politische Situation ins Spiel, dann befinden wir uns in dieser Szene im Jahr 1525. Denn am 24. 4. 1525 wurde Götz von Berlichingen, der sich aus realpolitischen Gründen einer Gruppierung anschließen musste, in den sogenannten Odenwälder Haufen der Bauern aufgenommen und zu deren Anführer gewählt. Martin Luther indes hadert mit dieser Revolte. Sein Verhältnis zum Bauernaufstand und dessen blutigen Verlauf ist bekannt. Schließlich bittet Bruder Martin Götz von Berlichingen seiner nicht zu vergessen, auch er wolle ihn im Gedächtnis behalten. Die Erinnerung an diese Begegnung und die Selbsterkenntnis in dem anderen machen diese Worte geradezu zu einem Programm der lutherischen Reformation. „ Wie mir ’ s so eng um ’ s Herz ward, da ich ihn sah. Er redete nichts, und mein Geist konnte doch den Seinigen unterscheiden. Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehn “ (ebd., S. 557). Derjenige, der sich im Laufe der Geschichte als ein großer Mann im Sinne eines bedeutenden, wirkungsmächtigen Menschen erweisen wird, ist Martin Luther. Was der Augenblick dem Bruder Martin zeigt, zeigt sich in der Perspektive des historischen Verlaufs als Selbstporträt. Vielleicht liegt darin das literarische Geheimnis und die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, weshalb Martin Luther zur scheinbaren Nebenfigur eines Dramas gemacht wird, eben um seine Größe und die Tragweite seiner Schriften recht zu erkennen. Von Bruder Martin heißt es dann auch nicht in der Regieanweisung am Ende dieser Szene „ Martin ab “ , wie es analog „ Götz ab “ heißt - das könnte man so erwarten, sondern vielmehr schreibt Goethe „ Martin geht “ (Goethe: MA 1.1, S. 557). Wo aber geht Martin hin? Aus einer literarischen Nebenfigur der Literaturgeschichte wird eine tragende Gestalt europäischer Kulturentwicklung. Hier wird ein kulturgeschichtlicher Horizont aufgerissen, der in seiner erinnerungsgeschichtlichen Weite im Umriss als Nebenfigur kaum zu erkennen war. Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen und die Frage stellen: Teilt sich die Psychographie des Martin Luther im Stück auf zwei Figuren auf, auf den Bruder Martin und Götz? Repräsentiert Götz dann in historischer Vorwegnahme der weltgeschichtlichen 78 Kapitel 3 Bedeutung Luthers das, was zunächst als das gegenspielerische Element zur Figur des Bruder Martin erscheint? Die Tatkraft, die Entschlossenheit, die Skepsis und schließlich die ablehnende Haltung gegenüber dem Bauernaufstand, die konservative politische Haltung, dem Kaiser treu und ergeben bleiben zu wollen, die sprachliche Klarheit und die sprachliche Derbheit - das berühmte Götz- Zitat, das in Schulausgaben über Generationen hinweg stets zur Tilgung durch einen „ Gedankenstrich der Scharfsinnigkeit des Lesers anheimzustellen “ (Goethe: MA 1.1, S. 967) geführt hatte, wie es Christoph Martin Wieland (1733 - 1813) in einer Rezension des Stücks 1774 formuliert hatte, also jene Worte, die Götz aus dem Burgfenster rufend dem Boten der gegnerischen Truppen im dritten Akt entgegenschleudert, dieses Zitat findet sich auch wörtlich in Luthers Tischreden 12 dokumentiert - all das kann auf einer Ebene jenseits der historischen Genauigkeit und des buchstäblichen Textverstehens gedeutet werden als ein Bündel von Hinweisen, dass sich die Ereignisse der Reformation und die Vielfalt von Luthers Persönlichkeit in Goethes Drama aufteilen auf die Vielfalt der dort vorgestellten Themen und Personen. Somit könnte das gesamte Stück Götz von Berlichingen als Allegorie auf die Reformation und Gegenreformation gelesen werden. Und noch eines können wir von Goethes Martin- Luther-Darstellung im Götz von Berlichingen lernen: Dass es völlig unliterarisch gedacht ist, von der Dichtung historische Exaktheit zu verlangen. Natürlich stehen in Goethes Gestaltung der Bruder-Martin-Figur alle geschichtlichen Daten Kopf. Natürlich hat der historische Martin Luther niemals den historischen Ritter Götz von Berlichingen getroffen. Doch all das wird völlig unbedeutend angesichts der dichterischen Herausforderung, die freie Einbildungskraft ins Spiel zu bringen, um aus der Gegenwart des Dichters den Geschichtsverlauf zu deuten oder auch nur anzudeuten. 13 12 „ Wenn man aber den Satan einmal als solchen erkannt hat, kann man seinen Stolz leicht zuschanden machen, indem man sagt: Leck mich im A. . ., oder: Sch. . . in die Hosen und häng ’ s an den Hals “ (Martin Luther: Tischreden, S. 67, Nr. 128). Im Original heißt die entsprechende Textstelle: „ Leck mich im arss, vel: Scheiss in die bruch und hengs an den halß “ (WA TR 2, Nr. 2059). 13 Vgl. Hartmut Laufhütte: Martin Luther in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Luther-Bilder im 20. Jahrhundert. Hgg. v. Ferdinand van Ingen u. Gerd Labroisse. Amsterdam 1984, S. 27 - 57 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Bd. 19, 1984), und Jörg Baur: Lutherische Gestalten - Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 79 Der Götz von Berlichingen ist der Mustertext eines Dramas der literaturgeschichtlichen Periode des Sturm und Drang, sein Autor Goethe einer der wichtigsten Sturm-und-Drang-Dichter. Das Selbstdenken der Aufklärung, die Verpflichtung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (Kant), wird bei den Autoren des Sturm und Drang zum Gebot des Selbständig-Handelns und der Selbstbestimmung. Beim jungen Goethe findet sich eine ganze Reihe von diesen Begriffen, ‚ selbst ‘ wird für einige Zeit das zentrale Präfix der jungen Literatur des Sturm und Drang: Selbständigkeit, Selbstretter, Selbstheit, Selbstgefühl, Selbstigkeit, Selbstdenken heißen dann die Substantive. Auch Goethes Wort vom ‚ Götterselbstgefühl ‘ (im Gedicht Der Wandrer, 1774) gehört in diese terminologische Reihe. Der Begriff des Selbsthelfers, wie ihn Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit (2. Teil, 10. Buch) als Charaktermerkmal des Götz von Berlichingen entwickelt hat, wurde von der Forschung übernommen. Es gibt also eine offensichtliche mentalitätsgeschichtliche Analogie zwischen der Aufbruchstimmung des Sturm und Drang und dem Reformationsbewusstsein. Die radikale Abkehr von den Schreibgewohnheiten und den Schreibgepflogenheiten der zeitgenössischen Literatur zeigt sich am Beispiel des Mannes mit der eisernen Hand. Goethe erprobt das Thema Individualität an einem geschichtlichen Stoff, an bekannten Einzelpersonen. Die große historische Gestalt vermag einen exemplarischen Charakter dramaturgisch zu exponieren. Ursprünglich orientierte er sich an biblischen Größen, wie etwa in dem Versuch Belsazar (1767) aus seiner Leipziger Studienzeit, von dem nur zwei Fragmente erhalten geblieben sind. Die anderen literarischen Versuche Isabel, Ruth und Selima wurden alle 1767 verbrannt. Die biblischen Dramen Bodmers und Klopstocks waren ihm dabei die literarischen Vorbilder. Jetzt sucht er in der allgemeinen Religions- und Weltgeschichte nach geeigneten Figuren. Mahomet, Caesar, Sokrates, Prometheus heißen die Repräsentanten von Einzigartigkeit und Individualität, deren literarische Entwicklung über die Planung und wenigen Fragmente nicht hinauskommt oder deren Stoff die Umwandlung in ein Gedicht erfährt. Weshalb Goethe der Gestalt Luthers ausweicht, bleibt spekulativ. heterodoxe Orthodoxien. Historisch-systematische Studien. Tübingen 2010, S. 3 - 17. 80 Kapitel 3 Die Ausnahme von dieser literarischen Zurückhaltung gegenüber großen historischen Figuren ist das Drama Götz von Berlichingen. Diesen Stoff arbeitet Goethe aus. Die erste Fassung schreibt er innerhalb von sechs Wochen im November und Dezember 1771 nieder. Anfang 1772 schickt er Herder das Manuskript. Dessen Kritik nimmt sich Goethe zu Herzen und arbeitet das Stück Anfang 1773 um. Nur ein kleiner Kreis von Freunden kannte diese erste Fassung. Im Juli 1773 erscheint das Stück dann anonym im Selbstverlag unter dem nun geänderten Titel und überarbeitet Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Der Freund Johann Heinrich Merck hatte Goethe bei der Drucklegung geholfen, sogar die Kosten für den Druck übernommen. Diese zweite Fassung ist diejenige, die in der literarischen Öffentlichkeit wie ein Fanal gewirkt hat. Für Johann Georg Hamann etwa ist klar, wie er in einem Brief an Herder vom 30. 5. 1774 schreibt, dass mit diesem Stück „ die Morgenröte einer neuen Dramaturgie “ (zitiert nach: Goethe: MA 1.1, S. 966) aufgehe. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737 - 1823) preist Goethe als den deutschen Shakespeare. Jakob Michael Reinhold Lenz, der kongeniale Freund Goethes, und Wieland entwickeln am Beispiel dieses Dramas grundsätzliche poetologische und ästhetische Fragen zur Literatur. Als besonderes Merkmal wird die szenische Offenheit des Stücks hervorgehoben, an über 50 einzelnen Schauplätzen spielt die Handlung. Diese Vielzahl der Szenen hat schon die Zeitgenossen irritiert, es gehört zu den Verdiensten Wielands, dass er den Autor Goethe und sein Lesedrama gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, er habe mit seiner Regellosigkeit gegen alle geltenden literarischen Konventionen verstoßen und daher müsse das Urteil über sein Stück schlecht ausfallen. Das Medium der Darstellung und der Figurierung dieses ästhetischen Programms ist der individuelle, ja individualistische Charakter. Der Klosterbruder Martin, eine dramaturgische Nebenfigur, spricht schon im Anfang jenes Merkmal an, das die Figur des Götz von Berlichingen auszeichnet, sein Bewusstsein von Tapferkeit und Stärke, seine Individualität. Damit ist das zentrale Thema des Stücks benannt. Als reichsunmittelbarer Ritter ist Götz von Berlichingen nur dem Kaiser untertan. Aus dieser Stellung resultiert sein ungeheures Selbstbewusstsein, sich für den Kaiser gegen die Reichsstände zur Wehr setzen zu können. Außer Gott und Kaiser lässt Berlichingen nur „ sich selbst “ (Goethe: MA 1.1, S. 565) gelten. Für Bruder Martin ist er der ‚ große Mann ‘ . Dieser charakterisiert jene Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 81 Herrschenden, die ihre Untertanen glücklich sehen wollen und damit natürlich auch sich selbst, als ‚ große Menschen ‘ (vgl. ebd., S. 462). Man kann den großen Mann bzw. den großen Menschen als Komplementärbegriff zu Goethes Wort vom großen Geist in der Literatur auffassen, als den er ja Wieland und Gerstenberg bezeichnet hatte. Das literarische Genie findet in der Figur des Götz seine weltliche Entsprechung - allerdings wieder als literarische Figur. Das handelnde ‚ weltliche ‘ Genie handelt als literarisches Genie, dargestellt, inszeniert und in dieser Inszenierung auf der Ebene des Textes wiederum beobachtet von einem Genie, seinem Autor. Die Anerkennung von Individualität durch Goethe und die anderen Autoren des Sturm und Drang gilt also der literarisierten Individualität. Das Individuum in der Geschichte, dargestellt am Götz von Berlichingen, ist ein Individuum der Literatur. Dieses große Narrativ durchkreuzt die historisch noch größere Person Martin Luther als eine literarisch zur Marginalie verkleinerte Figur. Das kann man als Ausdruck der Wertschätzung Goethes gegenüber Luther verstehen, dass dieser historischen Gestalt tatsächlich nicht mehr angemessen literarisch begegnet werden und sie würdig literarisch dargestellt werden kann als in einer Minimalisierung und Rückführung auf den ‚ Bruder Mensch ‘ . Vor diesem Hintergrund kann man konstatieren, dass sich mit Goethes Götz von Berlichingen das Luther-Bild in der Literatur erheblich gewandelt hat. Luther muss nun nicht mehr der Repräsentant von geistiger und geistlicher Größe sein und damit als Heldenfigur eines Dramas dienen, sondern er kann sogar als eine literarische Randfigur durch die Weltliteratur wandeln, ohne von seiner Wesensgröße etwas zu verlieren. Darin einen Zug der Bescheidung und Bescheidenheit zu erkennen, mag durchaus zutreffend sein. Im Rahmen dieses Buches kann es nicht um die bruchstückhafte Theologie Lessings im Zusammenhang mit der Theologie der Aufklärung gehen, die vielfach eingehend gewürdigt wurde. 14 Allein das Luther-Bild Lessings interessiert, und da sind es vor allem folgende 14 Vgl. Albrecht Beutel: Gotthold Ephraim Lessing und die Theologie der Aufklärung, in: Ders.: Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus. Tübingen 2013, S. 147 - 164. - Zur Aufklärungstheologie vgl. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Tübingen 1997, bes. S. 199 ff. 82 Kapitel 3 Textstellen, die entscheidende Hinweise geben. In seiner ersten Anti- Goeze-Schrift mit dem Titel Eine Parabel, die im März 1778 erscheint, bedient sich Lessing eines rhetorischen Kniffs, um die Distanz zwischen ihm und seinem orthodoxen Widersacher, dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717 - 1786), der ja auch schon 1774 ein Verbot von Goethes Epochenroman Die Leiden des jungen Werthers gefordert hatte, zu markieren. Emphatisch ruft er Luther als Zeugen an: O daß Er es könnte, Er, den ich am liebsten zu meinem Richter haben möchte! - Luther, du! - Großer, verkannter Mann! Und von niemanden mehr verkannt, als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg, schreiend aber gleichgültig daher schlendern! Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde! Wer - - . 15 Dieser Gestus der Hinwendung Lessings zu Luther wird in der klassischen Rhetorik als Apostrophe bezeichnet und beschreibt eine Redesituation, in der Goeze als Adressat der Schrift augenblicklich zu einem gleichsam paralysierten Zuhörer gemacht wird, der gezwungen wird mitzuerleben, wie sich Lessing direkt an Luther wendet, sich seiner Autorität versichert und sich symbolisch in seine Nachfolge stellt. Ein für Goeze sicherlich unerträglicher Gedanke, nahm er sich selbst doch als den Gralshüter der reinen lutherischen Lehre wahr. Lessing hatte der lutherischen Orthodoxie den Kampf angesagt. In seinen Axiomata (1778) überträgt Lessing das hermeneutische Verfahren einer Korrelation von Geist und Buchstaben auf die Korrelation von zeitgenössischer Orthodoxie und Neologie, die den orthodoxen Dogmen und Interpretationsverfahren kritisch gegenübersteht. In der klassischen Hermeneutik ist der Buchstaben eines Textes (sensus litteralis; Literalsinn) vom Geist eines Textes (sensus spiritualis; Spiritualsinn) unterschieden. Was ein Text wörtlich bedeutet, kann etwas anderes sein als das, was er auf einer symbolischen Beschreibungsebene meint. Lessing ordnet nun die Bibel dem Buchstaben zu und die Religion dem Geist. Und Lessing geht in der Analogiebildung noch einen Schritt weiter, er vergleicht den Geist der Bibel mit dem Wort Gottes. Buchstaben zu Geist 15 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 50. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 83 verhalten sich wie Bibel zu Religion und wie Buchstaben der Bibel zu Geist der Bibel als Wort Gottes - für die Orthodoxie eine erhebliche Provokation. 16 Damit ist die Autorität der Orthodoxie in Fragen der Lehrmeinung ausgehebelt, denn sie beansprucht die Wahrheit der Bibel als Wahrheit des Wort Gottes. Im Herbst 1779 entstand ein unvollendet gebliebener Textentwurf mit dem Titel Bibliolatrie, der erst 1784 aus Lessings Nachlass veröffentlicht wurde. Lessing wendet sich darin entschieden gegen das Verständnis der Verbalinspiration, wie es von der Orthodoxie vertreten wird. Weit entfernt von einer historisch-kritischen Methode, die nach den historischen, sozialen, kulturellen Kontexten der einzelnen Texte ebenso fragt wie nach deren philologischer Verlässlichkeit, vertritt die Verbalinspiration die Ansicht, Gott habe den Propheten, Evangelisten und Aposteln seine Worte direkt in die Feder diktiert, die demzufolge unhinterfragbare und zeitlose Gültigkeit besitzen. Lessing prägt für diese Geisteshaltung ein neues Wort, Bibliolatrie, in Analogie zu Idiolatrie. Was besagt das? Lessing rügt in scharfen Worten den ‚ Aberglauben ‘ , die ‚ Abgötterei ‘ und den ‚ knechtischen Respekt ‘ , den man der Bibel, insbesondere dem Neuen Testament gegenüber aufbringe. Die Bibel sei nicht Gott selbst, wie im Missverständnis von einer Schriftautorität vielerorts geglaubt würde. Allerdings habe auch Luther selbst die Bibel Gott genannt und insofern treffe auch ihn diese Kritik. 17 Lessing unterstreicht zwar, dass er eine ‚ weiche ‘ Version des Bibliolatriebegriffs favorisiert, aber der polemische Unterton ist in diesem Textentwurf nicht zu überhören. Jedenfalls stellt er klar, er wolle unter Bibliolatrie weiter nichts verstanden wissen „ als den Gebrauch, den die Christen von der Bibel und besonders von den Büchern des Neuen Testaments, zu verschiedenen Zeiten gemacht haben “ , um dann doch konkret die „ Schätzung und Verehrung “ , die für jene Bücher „ gefodert “ wurde, hervorzuheben. 18 Man kann in diesem Textfragment durchaus auch selbstappellative Züge erkennen. Lessing wähnte sich ja schon im Jahr 1753 in Gefahr, selbst der Luther-Idolatrie zu verfallen, wie er in Schriften. Zweiter Teil. 16 Vgl. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 63 f. 17 Die Textstelle, worauf sich Lessing bezieht, ist etwas anders gelagert. Luther erklärt in der Epistel Sanct Petri gepredigt und ausgelegt (1523; erste Bearbeitung) das Wort des Evangeliums als „ eyn gottlich krafft, ja Gott ist es selber “ (WA 12, S. 300). 18 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 10, S. 167 f. 84 Kapitel 3 Briefe, darin Zweiter Brief an Herrn P. schreibt. „ Lutherus steht bei mir in einer solchen Verehrung, daß es mir, alles wohl überlegt, recht lieb ist, einige kleine Mängel an ihm entdeckt zu haben, weil ich in der Tat der Gefahr sonst nahe war, ihn zu vergöttern “ 19 . Gerade diese Bemerkungen wurden von Seiten der Orthodoxie als „ offenbare Lästerungen “ 20 empfunden, so von Andreas Gottlieb Masch (1724 - 1807). Man muss sich bei all diesen teils mit äußerster Polemik von beiden Seiten geführten Auseinandersetzungen Lessings mit dem Pastor Goeze und seinen Kombattanten stets ein Zitat des Dichters vergegenwärtigen: „ Ich bin Liebhaber der Theologie, und nicht Theolog “ 21 . Lessings eigentliche Leistung liegt weniger auf dem Gebiet einer differenzierten theologischen Argumentation, dazu sind seine Ansichten zu eklektisch. Er schafft es aber am Ende seines Lebens in einer der größten Dichtungen des 18. Jahrhunderts, in seinem Drama Nathan der Weise (1779), den Blick wieder zu öffnen für die eigentliche Frage, die den Menschen einst und heute gestellt ist: Wie verhält es sich mit der Religion? Nathan der Weise kann als das leidenschaftliche Plädoyer für Toleranz unter den Religionen und für den endgültigen Verzicht auf Behauptungskämpfe der Konfessionen gelesen werden. Gretchens Frage aus Goethes Faust, „ wie hast du ’ s mit der Religion? “ , wird von Lessing im Nathan wieder in ihr Recht gesetzt. Die Literatur schafft hier einen utopischen Horizont, der die geschichtliche Wirklichkeit bei weitem übersteigt. In die Figur des Nathan mögen auch eigene Sehnsüchte Lessings nach einem friedfertigen Konfessions- und Religionsdialog eingeflossen sein, in diesem Sinne ließe sich die Figur Nathans auch als protestantische Projektionsfläche lesen. Nathan verkörpert jene Besonnenheit und Toleranz, die nur die literarische Fiktion gestattet, die aber an der historischen Wirklichkeit der Person Luthers zerschellt. Nathan wäre dann, emphatisch formuliert, der Wunsch-Luther Lessings jenseits aller Glaubenskämpfe. Lessing sieht den historischen Luther zwar kritisch, er ruft ihn zugleich aber auch zum Zeugen auf für seine eigene theologische Position. Die Kritik Lessings an Luther führt nicht zu einer Ablehnung 19 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 658. - Dass man diese Textstelle ihres aufgetragenen Pathos wegen auch als „ unglaubwürdig “ verstehen kann, darauf weist Michael Multhammer hin (Lessings ‚ Rettungen ‘ . Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin 2013, S. 22). Eine Lesart, der ich hier nicht folge. 20 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 1267. 21 Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 57 (Axiomata). Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 85 oder Abwertung der reformatorischen Leistung, sondern dazu, dass die menschlichen Seiten des Reformators als liebenswerte Charakterzüge ernstgenommen und nicht der Autorität einer Lehrmeinung untergeordnet werden. Und wenn Luther irrte, so Lessings Haltung, dann irrte er. Das ist eine ungemein weit in die Moderne, in die moderne theologische und literarische Rezeption Luthers vorausweisende Haltung. Das Luther-Bild Lessings ebnet den Weg für eine moderne, eine entkrampfte Befassung mit der Person und dem Werk Martin Luthers. Lessing betreibt eine Historisierung Luthers, anders ausgedrückt und mit Blick auf Goethes Götz von Berlichingen, der Bruder wird im Martin erkennbar. Lessing kritisiert sowohl Luthers Person, die sich in Temperamentsausbrüchen Gehör verschafft, als auch seine wenig ausgeprägte Bereitschaft zu theologischer Toleranz, das ist das Lessing ’ sche Thema schlechthin. Die hermeneutische Antithese von Buchstaben und Geist wird von Lessing und anderen auf diejenige von ‚ Buchstaben von Luthers Schriften ‘ und ‚ Geist von Luthers Geiste ‘ übertragen. 22 Theologiegeschichtlich gesehen wurde damit die Kleingeistigkeit lutherischer Orthodoxie überwunden. Der furchtlose Umgang mit der großen historischen Symbolfigur Luther zeigt sich wesentlich später auch in der Schrift Das Heilige Abendmahl (1812) von Matthias Claudius (1740 - 1815), worin es heißt, „ aber Luther war kein Heiliger “ 23 . Während Goethe die Figur des Bruder Martin einführte und damit half, das Luther-Bild der Orthodoxie im 18. Jahrhundert allmählich zu hinterfragen und zu revidieren, schrieb der ältere Pfarrer, Dichter und Freund Goethes Johann Gottfried Herder schon im Jahr 1774 dieses Gedicht: Mächtige Eiche! Deutsches Stamms! Gotteskraft! Wie oben im Wipfel braust der Sturm, Sie bäumt mit hundertklauigen Armen Dem Sturm entgegen und steht! Sturm braust fort! Es liegen da Der dürren, veralteten Aeste 22 Vgl. Beutel: Martin Luther im Urteil der deutschen Aufklärung, S. 174. 23 Matthias Claudius: Das Heilige Abendmahl [1812] [= Asmus omnia secum portans, Tl. 8], in: Ders.: Sämtliche Werke. Darmstadt 1996, S. 607 - 618, hier S. 617. 86 Kapitel 3 Zwey daniedergesaust. Sie steht! Ist Luther! [. . .]. 24 Dem ging das vielzitierte Wort aus der Schrift Über die neuere Deutsche Literatur (1767) voraus, worin Herder seine Bewunderung für Luther zum Ausdruck bringt: „ Er ists, der die Deutsche Sprache, einen schlafenden Riesen, aufgeweckt und losgebunden; [. . .] er hat durch seine Reformation eine ganze Nation zum Denken und Gefühl erhoben “ 25 . Im Jahr 1775 grenzt er sich allerdings auch sehr deutlich von Luther ab und man kann darin die Ambivalenz erkennen, mit der der junge Herder seinen Zugang zu Luther zu finden sucht. In den Briefen zweener Brüder Jesu in unserm Kanon (1775) schreibt er, „ die Sphäre des Geistes Gottes ist größer, als der Gesichtskreis Luthers “ 26 . Das ist eine bemerkenswerte Abgrenzung gegenüber dem Universalitätsanspruch der lutherischen Orthodoxie. Herder hat sich zeitlebens immer wieder mit Luther beschäftigt, als Theologe stand dies bei ihm ohnehin auf der Tagesordnung. Er wollte auch eine Luther-Biographie schreiben und kam über einige Notizen nicht hinaus. Der Arbeitstitel ist überliefert, Luther ein Lehrer der Deutschen Nation. 27 Das macht das grundsätzliche Dilemma für einen Literaten und Theologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts besonders deutlich, Herder kann keine dichterische, letztlich also fiktionale Biographie oder Darstellung von Luthers Leben und Wirken schreiben, sondern nur als wissenschaftlich interessierter Theologe zur Feder greifen. Dieses Dilemma wird dann erst im 19. Jahrhundert überwunden, wenn sich die Darlegung eines Luther-Bildes der epischen Aussageform bemächtigt und Erzählungen und Romane über Luther zu erscheinen beginnen. Für Herder bleibt das Unternehmen Luther-Biographie bruchstückhaft und spiegelt damit genau die Situation zwischen den 1770er Jahren und der Zeit um 1800 wider. Über Luther zu schreiben ist nur fragmentarisch möglich. Und Herders Eichbaum ist die Kontrastfigur zu Goethes Bruder Martin. Die Eichbaummetapher hat zwar literarische, nämlich Klopstock ’ sche Wurzeln. Das nationale Pathos, das sich darin ausdrückt, ist aber kaum camoufliert. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bleibt 24 Herder: Sämtliche Werke, Bd. XXIX, S. 53. 25 Herder: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 372. 26 Herder: Sämtliche Werke, Bd. VII, S. 500. 27 Vgl. Herder: Sämtliche Werke, Bd. XVIII, S. 556. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 87 dies im Luther-Bild noch wie in einer Zeitkapsel eingeschlossen und überdauert die Jahre bis zur endgültigen Entfaltung des nationalen und nationalistischen Luther-Bildes. Bei Herder selbst hingegen nimmt das Bild des nationalen Luther eine verblüffende Wendung, aus ihm wird der Schöpfer einer Nationalreligion. Insofern muss man mit dem Einwand, Herder bereite eine Nationalisierung des Luther- Bildes vor, behutsam umgehen. 28 Denn in seiner Adrastea (1802) präzisiert Herder das Bild des nationalen Luther unmissverständlich. Er spricht zwar von einer deutschen Kirche, die es nun zu vollenden gelte, und einer „ Nationalreligion “ , derer es bedürfe, er will dies aber „ im engsten Sinne des Worts, d. i. Gewissenhaftigkeit und Überzeugung “ 29 verstanden wissen. Jeder Nation stünde eine eigene Nationalreligion zu, zum Frieden der Welt. Dieser Individualisierungsprozess hält vor dem Einzelnen nicht an, „ so daß am Ende Jeder seine Religion, wie sein Herz, seine Ueberzeugung und Sprache besäße “ 30 . In seinen Briefen an Theophron (1781), die den fünften Teil der Briefe, das Studium der Theologie betreffend bilden, argumentiert Herder mit grundsätzlichen Freiheitsrechten der Menschen. Nahezu radikal lutherisch urteilt Herder über die Freiheit des menschlichen Geistes. „ Das Wort Gottes muß er [sc. der menschliche Geist] verstehn und auslegen können, wie ers für recht und wahr findet; gesetzt er lege auch falsch aus “ , denn „ Freiheit ist der Grundstein aller protestantischen Kirchen “ 31 . „ Nicht weil der Fürst es wollte, refomirte Luther “ 32 , argumentiert Herder, sondern weil das Recht auf Freiheit ein elementares Menschenrecht ist. Luther war von seinem Gewissen und seiner Überzeugung getrieben. Die Fürsten hätten sich teils aus Überzeugung, teils aus politischem Opportunismus der Reformation angeschlossen. Und Herder warnt seine Zeitgenossen und theologi- 28 Die ausschließliche Betonung von Herders geschichtsphilosophischem Selbstverständnis in diesem Zusammenhang überblendet diese doch wichtige Entwicklung. Ob in diesem Falle der Begriff des Patriotismus wirklich erkenntnisgewinnend, weil differenzierend ist, scheint mir nicht eindeutig. Die Bedeutung von Herders Begriff der Nationalreligion im oben beschriebenen Sinn fehlt in der Studie von Christian Senkel: Patriotismus und Protestantismus. Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 und 1813. Tübingen 2015. 29 Herder: Sämtliche Werke, Bd. XXIV, S. 48. 30 Herder: Sämtliche Werke, Bd. XXIV, S. 49. 31 Herder: Sämtliche Werke, Bd. XI, S. 202. 32 Herder: Sämtliche Werke, Bd. XI, S. 203. 88 Kapitel 3 schen Kollegen. „ Der Mensch, der im Lutherthum oder in einer protestantischen Kirche Gewißen und klare Ueberzeugung aufheben will, ist der ärgste Anti-Lutheraner “ 33 . Denn damit würde die Basis aller Reformation, die Freiheit des Gewissens nämlich, aufgehoben. Erst die Französische Revolution überwindet bei den Literaten den Widerstand der Orthodoxie und weckt die Bereitschaft, sich wieder affirmativ auf Luther einzulassen und ihn wieder als Gegenstand der Literatur zu entdecken. Das Tabu im Sinne eines Berührungsverbotes war gebrochen, man konnte sich nun gründlich mit Luther auseinandersetzen. Das Buch des aufgeklärten Publizisten August Hennings (1746 - 1826) Doctor Martin Luther! Deutsche gesunde Vernunft, von einem Freunde der Fürsten und des Volks; und einem Feinde der Betrüger der Einen und der Verräther des Andern (Wien 1792) trägt zwar einen verheißungsvollen Titel, es löst aber in keiner Weise sein Versprechen ein von Martin Luther zu handeln. „ Des guten Luthers Beyspiel “ (S. VII) dient dem Verfasser, der wie viele Intellektuelle seiner Zeit anfänglich mit der Französischen Revolution sympathisierte, dazu, die Reformation als große Revolution des 16. Jahrhunderts darzustellen und sie mit der politischen Bedeutung der Französischen Revolution in seiner Gegenwart zu vergleichen. Für die radikaleren Spätaufklärer hingegen, die ihm keineswegs die Wertschätzung versagen, wird Luther zu einer regelrechten historischen Integrationsfigur. 34 Man kann mit Recht von einer Verehrung des Reformators durch die Autoren der radikalen, politisierten Spätaufklärung sprechen. 35 Beispielhaft für diese Entwicklung ist die Ode auf Luther des Pfälzers und politischen Schriftstellers Friedrich Christian Laukhard (1757 - 1822) aus dessen Buch Zuchtspiegel für Theologen und Kirchenlehrer (Leipzig 1799). Da seine Ode zu den unbekannten Luther-Gedichten gehört, seien einige Verse daraus wiedergegeben: 33 Herder: Sämtliche Werke, Bd. XI, S. 203. 34 Vgl. Volker Mehnert: Protestantismus und radikale Spätaufklärung. Die Beurteilung Luthers und der Reformation durch aufgeklärte deutsche Schriftsteller zur Zeit der Französischen Revolution. Bremen 1982, S. 178. 35 Vgl. Mehnert: Protestantismus und radikale Spätaufklärung, S. 189. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 89 Brich aus! brich aus, du lang gehemmtes Feuer, Ströhm unaufhaltsam hin! [. . .] Ich halts nicht mehr, und will und muß ihn singen, Den großen, kühnen, deutschen Mann! Vernimm das Lied, in deinen weiten Kreisen, Mein freies Vaterland! Ich singe dir den Helden und den Weisen, Der deiner Ketten dich entband. Denn deine Fürsten waren Knechte Vom Stuhl zu Rom, und, ach Der Patriote seufzt ’ umsonst dem Knechte Der Freiheit und der Menschheit nach. [. . .] Da kam der Mann, mit Muth von Gott gestählet, Und warf den Gözen um! Er kam, von deutschem Biedersinn beseelet, Mit Trost ’ und Evangelium. Wie Feuerströhme floß von seinem Munde Der Wahrheit Kraft und Wort; Und mancher Edle trat zum hohen Bunde, Trieb mit ihm Wahn und Dummheit fort. Ihn schrekten nicht die hohen Erdengötter, Wer war voll Muths, wie er? So, wie die Eich ’ im grausen Donnerwetter, Wenn wilde Stürme rings umher Die schwächern Bäume hin zur Erde beugen, Stark, unerschüttert steht, Stund Er; - so hat die Wahrheit ihren Zeugen Vor allem Volk erhöht. Dich, heil ’ ge Freyheit! bracht ’ uns Luther wieder, Du kamst im Strahlenkleid Von jenen wonnevollen Höhen nieder, Mit süßer, holder Freundlichkeit. Triumph! Triumph! zerbrochen sind die Ketten, Die Pfaffen schmiedeten; Du sandtest ihn, von Sclaverey zu retten, Erweicht durch deiner Kinder Flehn. [. . .] Laukhard reklamiert den kantischen Appell zum Selbstdenken als Kennzeichen einer echten Aufklärung der Menschen, bei ihm heißt 90 Kapitel 3 es: „ Des Denkens Freyheit war dahin geschwunden / Die Musen waren weggeschreckt “ , doch nun habe man Mut sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das Gedicht schließt ab mit einer politisch gefärbten rhetorischen Frage und einem klaren Bekenntnis: Wer wagt es jetzt, uns fürder einzuschränken Wer will entgegen stehn, Wenn wir es wagen, selbst zu denken, Mit unsern Augen selbst zu sehn? Dank dir, Unsterblicher! und jeder danke, Den du so hoch beglückt! Dein Nam ’ sei unser süßester Gedanke, Wenn Andre Wahn und Fessel drückt. O wehe! wehe dem, der dich verkennet, Dich, der so viel gethan! - Wer deinen Namen nicht mit Ehrfurcht nennet, Der ist ein Sklav, kein freier deutscher Mann! 36 Luther ist der große deutsche Mann, der für ein freies Vaterland kämpfte. Ihm gilt es nachzueifern. Aus Sicht der jakobinisch gesinnten Spätaufklärer heißt dies, die Französische Revolution vollendet, was die Reformation begann. Anders ist die Sicht des Frühromantikers Novalis (1772 - 1801). Er erklärt in seinem Essay Die Christenheit oder Europa (entstanden 1799 und erst 1826 gedruckt), dass die ‚ echtkatholische ‘ die eigentlich ‚ echtchristliche ‘ Zeit gewesen sei, und die Reformation als eine große innere Spaltung ein „ merkwürdiges Zeichen der Schädlichkeit der Kultur “ 37 darstellt. Er vergleicht sie mit einem Zustand der Anarchie. Frevel sei es gewesen, die Kirche zu spalten. Der ‚ feuerfangende Kopf ‘ Luther „ behandelte das Christenthum überhaupt willkührlich, verkannte seinen Geist, und führte einen andern Buchstaben und eine andere Religion ein, nemlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel, und damit wurde leider eine andere höchst fremde irdische Wissenschaft in die Religionsangelegenheit gemischt - die Philologie - deren auszehrender Einfluß von da an unverkennbar wird “ 38 . 36 Friedrich Christian Laukhard: Ode auf Luther, in: Ders.: Zuchtspiegel für Theologen und Kirchenlehrer. Leipzig 1799, S. 269 - 272 [= Nr. 208]. 37 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe. Hgg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. München, Wien 1978, S. 732 - 750, hier S. 734. 38 Novalis: Die Christenheit oder Europa, S. 737. Das ‚ neue ‘ Luther-Bild im 18. Jahrhundert 91 Novalis stellt damit die Philologie gegen die Theologie; Philologie verhindere wahres religiöses Empfinden. Er ist überzeugt, dass ‚ der Buchstabe ‘ (also die Philologie, auch die theologische Philologie und vor allem die lutherische Philologie) den jedem Menschen eignenden ‚ religiösen Sinn ‘ vernichtet. Luthers ‚ demagogischen Künste ‘ hätten dazu beigetragen, dass von nun an die Christenheit ausgelöscht war. Eine zweite Reformation sieht Novalis in der „ Geschichte des modernen Unglaubens “ 39 in der Französischen Revolution am Werk. Entgegen der spätaufklärerischen Lesart, wonach die Reformation in der Französischen Revolution ihre Vollendung findet und Luther als der Vorläufer politischer Änderungen verstanden wird, vertritt Novalis einen anderen Standpunkt. Luther und der Protestantismus seien ursächlich dafür verantwortlich, dass sich die Französische Revolution als eine zweite Reformation ereignen konnte. Novalis ’ Text schwankt zwischen essayistisch-politischem Essay, konfessionsgebundenem Glaubensbekenntnis und Predigtton. Die Frage, ob „ Buchstaben Buchstaben Platz machen [sollen]? “ 40 , bringt nochmals seine Skepsis zum Ausdruck, mit der er Luthers theologischem Textverständnis, dass die Heilige Schrift sich selbst auslege und keiner helfenden Deutung bedürfe, begegnet. Der Essay endet mit der eher rhetorischen Frage: „ Soll der Protestantismus nicht endlich aufhören und einer neuen, dauerhafteren Kirche Platz machen? “ 41 Das war den Herausgebern der Zeitschrift Athenäum, denen Novalis seinen Essay zum Druck angeboten hatte, August Wilhelm Schlegel (1767 - 1845), seinem Bruder Friedrich Schlegel (1772 - 1829) und dem Freund und protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 - 1834) dann doch wohl zu unversöhnlich. Sie tendierten dazu, den Druck abzulehnen, wollten aber das Urteil Goethes erfragen. Der wurde zum Schiedsrichter berufen und plädierte auf Ablehnung. Der Text wurde erst nach Novalis ’ Tod gedruckt. 39 Novalis: Die Christenheit oder Europa, S. 742. 40 Novalis: Die Christenheit oder Europa, S. 743 f. 41 Novalis: Die Christenheit oder Europa, S. 750. 92 Kapitel 3 4 Zwischen Hymnik und Trivialisierung - Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert u. a.: Hölderlin Luther-Hymne (1802/ 06); Zacharias Werner Martin Luther oder die Weihe der Kraft (1807); Theodor Fontane Schach von Wuthenow (1883); August Klingemann Martin Luther (1808); Ideenwettbewerb um das beste Luther-Denkmal (1803); Jean Paul Wünsche für Luthers Denkmal (1805); Kleist Michael Kohlhaas (1810); Johann Peter Hebel Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (1811); Theodor Körner Luthers Monolog (1812); Goethe Reformationskantate (1816); Heinrich Schorch Luthers Entscheidung (1817); Friedrich Nietzsche Fröhliche Wissenschaft (1882) „ solange ich Atem hole, ist Zeit “ (Christian Lehnert: Aus dem Bergwerk. Drei Sätze Martin Luthers, 3, in: Ders.: Windzüge. Gedichte. Berlin 2015, S. 106) D as Luther-Bild zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewegt sich zunächst noch im Spannungsfeld von Hymnik und Trivialität, zwischen Friedrich Hölderlin (1770 - 1843) und Zacharias Werner (1768 - 1823). Auf Dauer gesehen wird sich die Trivialität durchsetzen. Auch was die Wahl der geeigneten Textform, also die Gattungsfrage betrifft, setzt sich die epische Darstellung sukzessive durch. Zwar hat das 19. Jahrhundert eine kleine Renaissance an Luther-Dramen gebracht 1 , doch sind dies mit 13 deutschsprachigen Dramen und einer italienischen Übersetzung nicht gerade beeindruckende Zahlen, vor allem, wenn bei der Zählung der Stücke ein Bewertungsfilter geltend gemacht wird, wonach es sich nur um ‚ bedeutende ‘ Luther-Dramen handle. Die Literaturwissenschaft muss hier mit Vorsicht und Umsicht agieren. Denn für den Zeitraum zwischen 1805 und dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden in absoluter Zahl 94 Luther-Dramen gezählt. 2 Was aber die Masse dieser 1 Vgl. Metz: Das protestantische Drama, S. 828. 2 Vgl. Karnick: ‚ Fructus germinis Lutheri ‘ , S. 179. Luther-Dramen ausmacht, sind die Luther-Festspiele, die allerorten im Umfeld der Jubiläumsfeiern produziert werden. Denn zu feiern gibt es viel: 1817 jährt sich die Reformation zum 300. Mal, 1830 kann die 300. Wiederkehr des Tages der Confessio Augustana (Augsburger Bekenntnis) begangen werden, 1846 steht der 300. Todestag Luthers an, 1855 gedenkt man dem 300. Jahr des Augsburger Religionsfriedens und 1883 wird der 400. Geburtstag Luthers groß inszeniert. Will man den Begriff des Luther-Dramas nicht stillschweigend aufweichen und nun auch Texte für Luther-Festspiele subsumieren, deren funktionale Intention von vornherein in der Weihe und Lobhudelei Luthers feststeht, dann bleiben in der Tat nur wenige einschlägige Texte übrig. Die politische Situation in Mitteleuropa, die Auflösung des Reichs 1806, die Besetzung Preußens durch napoleonische Truppen, die Napoleonischen Kriege und die ständig wechselnden politischen und militärischen Koalitionen sowie das erwachende Nationalbewusstsein dokumentieren einen Zustand, der durch eine zunehmende Sehnsucht vieler Intellektueller nach einer politisch-nationalen Identität gekennzeichnet ist, im schlimmsten Fall die Sehnsucht nach einem starken Deutschland. Das schlägt sich natürlich auch im literarischen Luther-Bild der Zeit nieder. Die Frage, mit denen sich die Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen müssen, lautet: Wie ist über eine solch übermächtige historische und kulturelle Figur wie Luther zu schreiben möglich, wo doch schon etliche Versuche vorliegen, von denen viele gescheitert und im Tagesgeschäft der Literatur wieder verschwunden sind? Ludwig Bechstein (1801 - 1860) benennt genau dieses Dilemma in seinem 1834 erschienenen, im besonderen Stil einer Kanzone geschriebenen Versepos Luther. Im Prolog fragt der Dichter: Warum nur wieder singen Was andre schon besungen? Hofft ’ st Sänger, du Gelingen Und Beifall wiederholten Huldigungen? 3 „ Die meisten Deutschen “ , so lautet das wissenschaftliche Urteil, „ die sich im 19. Jahrhundert zu Luthers sozialer Stellung literarisch oder publizistisch äußerten, verstanden ihn als ein Vertreter des ganzen 3 Ludwig Bechstein: Luther. Ein Gedicht [1834]. Neudruck. Bad Langensalza 2013, S. 44. 94 Kapitel 4 Volkes und reklamierten ihn zugleich für sich als einen ‚ Mann aus dem dritten Stande ‘“ 4 . Die Reformation wurde als Grundlage des eigenen Wohlstands und bürgerlicher Saturiertheit begriffen. Dies wird besonders im Umkreis der Publikationen zum Reformationsjubiläum 1817 deutlich. Dass diese Vereinnahmung nach der Reichsgründung 1871 in einen Prozess der Trivialisierung mündet, wurde exemplarisch an Luther-Erzählungen aufgezeigt. 5 Allerdings ist dagegen einzuwenden, dass diese Tendenzen zur Trivialisierung und ‚ Verkitschung ‘ Luthers schon wesentlich früher einsetzen, nämlich bereits am Anfang des Jahrhunderts. Bereits Zacharias Werners Luther-Drama eröffnet diesen literarischen Zugriff auf Luther, der zugleich aber von vielen Zeitgenossen höchst distanziert registriert wurde. Werner traf zwar den Geschmack des Publikums, nicht aber denjenigen der literarischen Elite. Dabei beginnt das 19. Jahrhundert furios - was das Luther-Bild betrifft. Zwischen 1802 und 1806 notiert Hölderlin Brocken zu einer Luther-Hymne, Zacharias Werner veröffentlicht 1807 sein Luther-Drama, das bereits 1806 uraufgeführt worden war, August Klingemann (1777 - 1831), Theaterdirektor und Verfasser eines der bedeutendsten Bücher der Frühromantik, nämlich der Nachtwachen des Bonaventura (1804), folgt 1806 auf dem Fuße mit einem eigenen Luther-Drama, das aber erst 1808 gedruckt wurde, und Heinrich von Kleist veröffentlicht 1810 seine Novelle Michael Kohlhaas. Das ist schon skurril, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu zeitgleich zwei in ihrer literarischen Qualität völlig verschiedene literarische Texte über Luther geschrieben werden. Zacharias Werner tritt 1807 mit seinem Luther-Drama hervor, und Friedrich Hölderlin schreibt beinahe zur gleichen Zeit eine Hymne auf Luther, die aber unvollständig bleibt und als Fragment erst 1916 in der Hölderlin- Ausgabe aus dem Nachlass veröffentlicht wird. Werners Drama bedient den Zeitgeschmack und zielt auf die Heroisierung und nationale Vereinnahmung Luthers ab, Hölderlins Luther-Hymne ist hermetisch, dunkel, schwer zu dekodieren. Man geht heute davon aus, dass das Fragment zwischen 1802 und 1806 entstanden ist. Bei einer Lektüre und Deutung des Textes ist dem Rechnung zu tragen, 4 Karnick: ‚ Fructus germinis Lutheri ‘ , S. 273. 5 Vgl. Walther Killy: Luther in der trivialen Erzählung, in: Luther in der Neuzeit. Hgg. v. Bernd Moeller. Gütersloh 1983, S. 284 - 298. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 95 dass es zwar in der literarischen Form und dem inhaltlichen sprachlichen Duktus einer Hymne geschrieben, gleichwohl aber Fragment geblieben ist. Ob die einzelnen Textteile in Hölderlins Luther-Gedicht tatsächlich einen zusammenhängenden, möglicherweise in sich geschlossenen Text bilden, bleibt umstritten. Auch muss offen bleiben, ob sich Hölderlin zu seinem Luther-Gedicht tatsächlich durch Zacharias Werners Luther-Drama anregen ließ. 6 Nicht auszuschließen ist, dass Hölderlin auf seine Art an einem Ideenwettbewerb teilnehmen wollte. Und unabhängig davon ist ihm ein beeindruckendes literarisches Denkmal Luthers geglückt. In der Hölderlin-Forschung spielt die Frage nach Hölderlins Luther- Kenntnissen nur eine marginale Rolle. Dabei wurde bereits der Nachweis erbracht, dass sich Hölderlin intensiv mit Luther beschäftigt hat. 7 Und umso befremdlicher ist es, dass das Luther-Gedicht in der philologischen Aneignung „ geradezu verschollen “ 8 geblieben ist. Unter philologisch-wissenschaftlichem Blickwinkel ist der Text der Luther-Hymne natürlich keineswegs gesichert. 9 Wir kennen von Hölderlins eigener Hand lediglich Notizen in Gedichtform, Satz- und Gedankenfetzen mit sichtbaren Lücken, die der Autor zu einem anderen Zeitpunkt zu füllen gedachte. Die Reihenfolge der einzelnen Seiten, über die Notate verstreut sind, in der Handschrift Hölderlins, dem sogenannten Homburger Folioheft, wird von der Forschung höchst unterschiedlich bewertet. Das bedeutet, dass je nach Hölderlin-Ausgabe ein anderer Lesetext konstituiert wird. Auf die daraus resultierenden Probleme für die Deutung des Textes gehe ich nicht weiter ein, sondern zitiere das Gedicht nach dem Textabdruck der Ausgabe Friedrich Hölderlin Gedichte. 10 Die Form der Hymne ist Hölderlins bevorzugte Textform, er greift dabei auf antike griechische Muster zurück. Pindars Oden bilden für 6 So Uffhausen in: Friedrich Hölderlin: „ Bevestigter Gesang “ . Die neu zu entdeckende hymnische Spätdichtung bis 1806 hgg. u. textkritisch begründet v. Dietrich Uffhausen. Stuttgart 1989, S. 256. 7 Vgl. Dietrich Uffhausen: Friedrich Hölderlins Luther-Gedicht. Ein neu zu entdeckendes Gedicht aus der Homburger Spätzeit 1804/ 1806, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 87 (1987), S. 174 - 227, hier S. 187, Anm. 4. 8 Uffhausen: Hölderlins Luther-Gedicht, S. 180. 9 Zur Kritik an der Textkonstitution der einzelnen Hölderlin-Ausgaben vgl. Uffhausen: Hölderlins Luther-Gedicht, S. 179 f. 10 Hgg. v. Gerhard Kurz. Stuttgart 2000. Die Zitatbelege folgen der dortigen Verszählung. 96 Kapitel 4 ihn den entscheidenden historischen und formalen Bezugspunkt. Die gattungstypologische Unterscheidung zwischen einer Ode und einer Hymne ist problematisch, da die Übergänge fließend sind und die Ode als eine besondere Form der Hymnik verstanden werden kann. Andererseits kann die Hymne als „ ein feierlicher Lobgesang auf die Gottheit und ihre Werke “ 11 definiert werden, wie dies schon im zeitgenössischen Schulbetrieb versucht wurde. Ein gehobener, geradezu begeistert-ekstatischer Sprachstil ist ein markantes Merkmal. Alle Versuche aber, eine geschlossene, einheitliche Definition von Hymne zu erreichen, müssen als gescheitert betrachtet werden. Entweder sind sie so allgemein, dass sie fast schon wieder banal sind, oder sie sind so spezifisch, dass sie nur für einen bestimmten Autor, eine bestimmte Autorengruppe oder einen bestimmten Moment der Literaturgeschichte Geltung beanspruchen können. Metrisch nahezu völlig frei gibt es keine Bindungen. Klopstocks Odenstil gilt als wichtige Entwicklungsstufe hin zu einer eigenen deutschsprachigen Hymnik. Allerdings bleibt die Bestimmung der Differenzmerkmale von Hymne und Ode nach wie vor defizitär. In der Literaturgeschichte gilt Hölderlin als der Hymnendichter schlechthin, das reicht von seinen Jugendhymnen bis zu den späten Hymnen in freien Rhythmen. 12 Hölderlins Luther-Hymne (s. den Abdruck des Gedichts im Anhang zu diesem Buch) macht wiederholt gedankliche Sprünge, deren Ordnung keiner logischen, poetischen oder erzählerischen Ordnung folgt. Auch die Entscheidung, wo sich der Punkt eines solchen Perspektiven- und Aussagewechsels findet, ist stark abhängig von der jeweiligen interpretativen Sicht. Der Leser wird gleich mit dem bruchstückhaften „ meinest du “ der ersten Zeile direkt angesprochen. Im Mittelpunkt der Hymne steht die Zeile „ Gott rein und mit Unterscheidung / Bewahren “ (V. 39). Wenn diese Worte als die Kernaussage des Textes verstanden werden und wenn sie zugleich in Bezug gesetzt werden zum Titel Luther, dann wird deutlich, dass Hölderlin in Luthers Reformationsverständnis die entscheidende historische Leistung sieht. Luther ist diejenige Gestalt, die Neuzeit 11 Alan Matthäus Stelzer: Theoretisch praktische Anleitung zur deutschen Dichtkunst für den öffentlichen und Privatunterricht. Straubing 1818, S. 172. 12 Zur Gattungsgeschichte und Begriffsbestimmung vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin 2000, Bd. 3, S. 105 - 107, Art. Hymne. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 97 und Antike zu vereinen, mehr noch, die er miteinander zu versöhnen vermag. Dieses Spannungsverhältnis von Moderne und Antike ist ein Grundthema in Hölderlins Lyrik. In die Hymne verwoben - im Sinne eines Quertextes - sind autobiographische Referenzen, die wie Gedankenblitze den großen historischen Bogen durchstoßen. Die große Geschichtsdimension wird vom Dichter Hölderlin in diesen Momenten regelrecht eingezoomt auf sein eigenes Leben. So etwa der Hinweis, dass er als Kind im Haus seiner Eltern im schwäbischen Lauffen am Neckar mit einem Diamanten in die Glasscheiben der Fenster Inschriften geritzt hat; oder der Hinweis, dass das Kloster „ etwas genützet “ (V. 19) hat, womit er auf seine Zeit als Schüler des Evangelisch-Theologischen Seminars, eines ehemaligen Klosters, in Denkendorf und Maulbronn verweist; oder der Hinweis am Ende des Gedichts darauf, dass er „ ledig “ (V. 82) geblieben ist. Auch die Nennung von „ Morea “ (V. 59) kann als Erinnerungswort gelesen werden. Hölderlin war während seiner Studienzeit in Tübingen und als Stipendiat im Evangelischen Stift mit Christian Ludwig Neuffer (1769 - 1839) und Rudolf Friedrich Heinrich Magenau (1767 - 1846) eng befreundet. Die drei bildeten 1790 einen Dichterbund, den Alderman-Bund (dem höchsten Rang in Klopstocks Gelehrtenrepublik von 1774 entsprechend). Sie lasen sich gegenseitig Gedichte vor und diskutierten darüber. Von Magenau ist ein Gedicht mit dem Titel An Morea überliefert. 13 Allerdings liest Sattler in seiner Ausgabe (Historisch-Kritische Hölderlin-Ausgabe, auch Frankfurter Ausgabe FHA) den Titel als An Morna. Möglicherweise erinnert also Hölderlin in seinem Luther-Text an diese geliebte und bedichtete Frau aus den Studientagen im Tübinger Evangelischen Stift. Gemeinhin wird in der Hölderlin-Forschung Morea indes als ältere Bezeichnung für die griechische Halbinsel Peloponnes gelesen. Zu Hilfe nimmt man dabei Namensnennungen in Hölderlins Roman Hyperion (1797/ 99) und in seinem Gedicht Der Rhein (1801 entstanden, 1808 gedruckt), worin „ die Küsten Moreas “ erwähnt werden - wie auch im Hyperion-Roman - und sich dies dann unzweideutig auf die griechische Halbinsel beziehen lässt. 14 13 Vgl. Walter Betzendörfer: Hölderlins Studienjahre im Tübinger Stift. Heilbronn 1922, S. 86 - 88. 14 David J. Constantine sieht darin lediglich einen selbstreferentiellen Werkverweis, wie Patmos sei Morea „ an echo within the world of his own work “ (The Significance of Locality in the Poetry of Friedrich Hölderlin. London 1979, S. 126). 98 Kapitel 4 In seinem Luther-Gedicht setzt Hölderlin vor Morea das Wort „ Patmos “ (V. 59). Er hat dieser Insel ein eigenes Gedicht mit dem gleichnamigen Titel gewidmet, die verschiedenen Fassungen sind nach 1802/ 03 entstanden. Die Insel Patmos liegt an der Schwelle zwischen Abendland und Morgenland, kennzeichnet also einen entscheidenden kulturellen Übergang, der als Thema für Hölderlins lyrisches Werk bedeutend ist. In religionsgeschichtlicher Hinsicht - und darauf bezieht sich ja Hölderlins Gedicht - ist die Insel insofern von Interesse, als der Evangelist Johannes sich dort aufhielt und seine Visionen empfing, die als Offenbarung des Johannes in den Bibelkanon eingegangen sind (ob es sich tatsächlich um den Evangelisten gehandelt hat, ist nicht eindeutig zu belegen, vgl. RGG 4 , Bd. VI, Sp. 1005, Art. Patmos). 15 Patmos kann nun schlicht als jener Ort in Hölderlins Gedicht gelesen werden, der für den Empfang religiöser Offenbarungen ebenso steht wie für die Verschriftlichung dieser spirituellen Kraft. Damit kehrt Hölderlin die Bedeutung des Worts hervor, auf der Autorebene, des Dichters Wort. Auf der Inhaltsebene eröffnet Hölderlin dadurch den Blick auf Luther und wirft indirekt die Frage auf, wo Luthers Ort ist, das Wort Gottes in das rechte Menschenwort zu überführen. Und dieser Patmos-Ort Luthers ist die Wartburg als dem Ort von Luthers Bibelübersetzung. Mag es Zufall sein, dass auch Zacharias Werner in seinem Luther-Drama Patmos als religionsgeschichtliche und dogmatische Referenz benennt. Aber dadurch wird noch einmal der literarische Gegensatz zwischen appellativem Trivialbild Werner ’ scher Provenienz und hymnischem Sinnverweis bei Hölderlin erkennbar. Bei Werner berichtet Staupitz davon, wie Luther mit der gewählten Einsamkeit als Junker Jörg zurechtkommt. Er wolle seine Verbannung verlassen, nur mit Mühe sei es gelungen „ Ihn zu besänftigen, und jetzo lebt er / Zufrieden dort auf seinem schönen Pathmos, / Den Studien obliegend und der Jagd, / Die ihn in müß ’ gen Stunden baß ergötzt “ (Werner: Weihe der Kraft, S. 336). Wie weit ist dieser Text von der dichten Hymnik Hölderlins entfernt, und doch sind beide Texte nahezu zeitgleich entstanden. Hölderlin hingegen zieht mit nur einem einzigen Wort (nämlich Patmos) die Analogien zwischen Patmos und Wartburg, zwischen 15 Zur Bedeutung der Johannes-Figur für Hölderlins Dichtung vgl. Robert Charlier: Heros und Messias. Hölderlins messianische Mythogenese und das jüdische Denken. Würzburg 1999, für den die Bedeutung von Patmos und Morea „ teilweise kryptisch bleibt “ (ebd., S. 182). Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 99 Johannes und Luther und zwischen dem Offenbarungswort des Johannes und dem übersetzten Wort Gottes Luthers. Luthers Patmos ist die Wartburg, Luther und die Reformation insgesamt bekommen damit einen kulturellen Stellenwert in der Neuzeit, der dem kulturellen Stellenwert des Johannes im „ Reich der Kunst “ (V. 4) des antiken Griechenlands entspricht. Die Frage bleibt erklärungsbedürftig, was dem Reich der Kunst in der Neuzeit tatsächlich entspricht, welche kulturgeschichtliche Auslegung also die Reformation durch Hölderlins Gedicht erfährt. Um sich einer Antwort zu nähern, muss man nun die Verse 60 bis 71 heranziehen. Der Satz und die einzelnen Satzteile werden durch eine Implikation, eine Wenn-dann-Klammer zusammengehalten: „ wenn die Glocke lautet [lies: läutet] “ (V. 64) bis „ dann kommt das Brautlied des Himmels “ (V. 71). Bevor geklärt werden kann, was das Brautlied des Himmels bedeutet, müssen nun die Verse 60 bis 64 betrachtet werden. Sie geben den entscheidenden Hinweis. „ Die Eule [. . .] / Spricht “ (V. 60 f.), heißt es dort. Die Eule wiederum ist nicht nur Symbol der Weisheit - am bekanntesten in der Gestalt der Eule der Minerva und der eulenäugigen Göttin Athene - , sondern auch das Symbol des von Adam Weishaupt 1776 gegründeten Illuminatenordens, eines Geheimbundes. Ob Hölderlin an dieser Stelle seines Gedichts tatsächlich einen freimaurerischen Querverweis in seinen Text eingefügt hat? In diesem Kontext würde dann auch der Name Morea eine weitere Bedeutungsebene entfalten, Morea ist nämlich auch der Illuminaten-Ordensname für die „ Badische[n] Lande “ 16 . Belegen lässt es sich nicht, widerlegen aber auch nicht. 17 Die Eule ist „ wohlbekannt den Schriften “ (V. 60) - welche Schriften aber sind gemeint? Die Literatur, die Wissenschaft all- 16 Vgl. Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776 - 1787/ 93. München 1991, S. 243. 17 Zur Frage der freimaurerischen Kontakte Hölderlins während seiner Zeit als Stiftler in Tübingen vgl. die quellenreiche Arbeit von Reinhard Breymayer: Freimaurer vor den Toren des Tübinger Stifts: Masonischer Einfluss auf Hölderlin? , in: Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Hgg. v. Sönke Lorenz u. Volker Schäfer. Ostfildern 2008, S. 355 - 395. - Vgl. auch Hans Graßl: Hölderlin und die Illuminaten. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe des Verschwörermotivs im Hyperion, in: Sprache und Bekenntnis. Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Berlin 1971, S. 137 - 160, bes. S. 149 f., der die Einheit von Illuminatentum und Jakobinismus behauptet, auch umfangreich belegt, und Hölderlin in diesen Horizont seiner vielfachen Kontakte und seiner zahlreichen Anspielungen wegen stellt, ohne ihn zum Freimaurer zu erklären. 100 Kapitel 4 gemein? Oder bestimmte Schriften? Die hier vorgeschlagene Lesart bezieht die im Gedicht angesprochene Erhaltung des Sinns auf die Schriften. „ Aber die erhalten den Sinn “ (V. 61), heißt es bei Hölderlin. Die Schriften bewahren - welche Schriften auch immer - Sinn, aber welchen Sinn? Der Leser ist durch die Dunkelheit des Gedichts gedrängt Fragen aufzuwerfen, ohne Antwort heischen zu können, und aus diesem Verfahren der Fragenketten entsteht letztlich die Situation des Nichtwissens, des Nicht-mehr-lesen-Könnens, unmittelbar daraus „ Entstehet Sprachverwirrung “ (V. 63). Hölderlin umspielt mit diesem Wort nicht die biblisch erzählte babylonische Sprachverwirrung, sondern er zielt tiefer, auf eine Sinnschicht im Text, welche die Übertragung der historischen, religiösen und mythologischen Anspielungen auf die erzählte Gegenwart des Gedichts erlaubt. Und diese erzählte Gegenwart ist eine doppelte, einmal betrifft sie die Reformation, zum anderen erzählt sie von der Biographie des Autors. Wenn die Weisheit spricht und Schriften den Sinn des gesprochenen Worts bewahren, dann bedeutet das für das Luther-Thema Folgendes: Die Übersetzung des Alten und Neuen Testaments durch Luther und seine reformatorischen Schriften sind Übersetzungen des Wort Gottes, sie bewahren also den Sinn dessen, wovon sie sprechen. Hölderlin präludiert Luthers ‚ sola scriptura ‘ , nur die Schrift allein gilt, nur das Wort Gottes zählt. Dass nicht nur Luthers Bibelübersetzung gemeint ist, sondern auch konkrete zeitgenössische theologische Differenzen aufgegriffen werden, belegen die Verse 39 bis 44, hier wird der Abendmahlstreit unter den Reformatoren benannt. Zugleich lässt sich in den Versen 20 bis 44 ein Kern des Gedichts erkennen, der die theologische Selbstreflexion Hölderlins aufgreift und festhält. Der Dichter appelliert „ Gott rein und mit Unterscheidung / Bewahren “ (V. 39 f.). Die Bibel ist Gottes Wort und enthält den Sinn und die entstandene Sprachverwirrung der Auslegungen - unter anderem über einen „ Fehler / Des Zeichens “ (V. 42 f.) sich konfessionell zu entzweien, statt „ das Sakrament / Heilig behalten “ (V. 22 f.) - kann nicht darüber hinwegsehen, dass am Ende „ das Brautlied des Himmels kommt “ (V. 71). Auch ein Lied, ein Brautlied, ist eine textuelle Metapher, es ist als Lied Teil jener Schriften. Der buchstäbliche Schriftsinn (Literalsinn) des Gedichts ist offensichtlich und betrifft das, wovon der Text auf seiner Oberfläche spricht, er meint das wörtliche Verstehen. Der allegorische oder symbolische Schriftsinn (Spiritualsinn) verweist in bildlicher Sprache Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 101 auf das, was nicht direkt gesagt, aber gemeint ist oder wovon der Textdeuter überzeugt ist, dass es gemeint sein könnte. Demnach wäre im Luther-Gedicht die „ Rippe “ (V. 72) nicht der Knochen, sondern verwiese auf die Schöpfungsgeschichte und meint die Frau. So eröffnet der Text eine Spannung zwischen „ Brautlied “ , „ Rippe “ und „ ledig “ . Was verheißungsvoll beginnt und eine Frau verspricht, bedeutet in der Wirklichkeit des Dichters, dass er doch ledig, alleine, einsam bleiben muss, die Verheißung sich also nicht erfüllt. Übertragen auf den Reformationsdiskurs im Gedicht heißt dies, die Hoffnung auf eine Einigung ( „ Brautlied “ ) der verschiedenen Konfessionen ( „ Unterscheidung “ ), die Hoffnung auf die Wiederherstellung ( „ Rippe “ ) einer einheitlichen Kirche erfüllt sich nicht. Das lyrische Ich bleibt „ ledig “ , die Reformation Stückwerk. Und so jung ( „ Kälblein “ ) sie ist und sich von der Vormacht der altkirchlichen Herrschaft losgerissen ( „ abgerissen “ ) hat, so leicht läuft sie Gefahr sich darin zu verheddern ( „ fanget aber sich “ ), die Reformation kann sich selbst zum Gefangenen ihrer Auslegungen machen. Dass am Ende des Gedichts doch vom lieblichen Rauschen der Küsse an der Wange des Mannes gesprochen wird, mag Ausdruck der Hoffnung sein, dass sich die Verheißung jenseits aller ungünstigen Zeitumstände doch noch erfüllen wird. Das Brautlied des Himmels könnte gesungen und die Reformation vollendet werden. Man kann sich an dieser Stelle die Worte aus Hölderlins Gedicht Die Meinige (ca. 1788 entstanden) zu Eigen machen: „ Sprechen will ich, wie dein Luther spricht “ . Übertragen auf die Luther-Hymne heißt dies, er, der Dichter, spricht, wie einst Luther gesprochen hat, in Klarheit und in der Überzeugung, dass allein das Wort Gottes unser Denken und Handeln bestimmen soll. Und auch er als Dichter tritt an mit dem reformatorischen Anspruch, die Literatur, insbesondere die Poesie, zu erneuern. Gefolgt ist ihm, Hölderlin, auf diesem Weg lange Zeit niemand. Und damit schließt sich der Bogen, das Ende fügt sich zum Anfang. Jenes „ meinest du [. . .] / Es solle so gehen, / Wie damals? “ der ersten Zeilen, als ein Reich der Kunst in der Antike gestiftet war und dort die Wissenschaften blühten, verknüpft in einer geschichtlichen Klammer die durchaus idealisierte Vergangenheit mit der defizitären Gegenwart. Denn die Situation ist anders in dieser Gegenwart ( „ jetzt “ , V. 9), aber er, Hölderlin, will dennoch nicht „ Bilder [. . .] stürmen “ (V. 21). Es bleibt die Hoffnung auf das Brautlied, die Hoffnung auf Wieder- 102 Kapitel 4 herstellung der Einheit, auf ein Reich der Kunst in der Neuzeit, das ein Reich der Religion werden wird. Der Dichter Zacharias Werner hat Luther und der Reformation in seinem 1807 veröffentlichten Drama Martin Luther oder Die Weihe der Kraft gehuldigt. Am 11. 6. 1806 erfolgte die Uraufführung in Berlin am Königlichen Nationaltheater, dessen Direktor der Schauspieler Iffland war, mit diesem in der Hauptrolle. Das Stück war ausgesprochen erfolgreich, übrigens das einzig erfolgreiche Theaterstück der Literatur der Romantik. Innerhalb von vier Wochen wurde es 14 Mal wiederholt. Bekannt geworden ist der Autor - und hat damit gewissermaßen die höheren Weihen der literaturgeschichtlichen Kanonisierung als Romantiker erfahren - durch seine Schicksalstragödie Der vierundzwanzigste Februar (1815). 18 Seine literarische Wirkung lässt sich bis Grillparzer und Richard Wagner verfolgen. Die Qualität seiner Dramen ist umstritten, oft wird ein Zuviel an Privatmythologie und Trivialität konstatiert. Diese Einwände lassen sich zumindest an seinem Luther-Drama und seinem Widerruf nachvollziehen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es problematisch, Luther auf die Bühne zu bringen. Das musste Zacharias Werner erfahren. In der Tatsache, dass man den ‚ heiligen ‘ Mann Luther schauspielerisch darstellte, sah man eine unangemessene Verweltlichung des Reformators. So wird von König Friedrich Wilhelm IV., der 1840 den Thron bestieg, berichtet, er habe einem Professor einen Orden verliehen, „ weil er Studenten, welche bei der Aufführung von Zacharias Werners berühmtem Drama ‚ Martin Luther, oder die Weihe der Kraft ‘ im Berliner Schauspielhause gelärmt und gepfiffen hatten, mit dem 18 Die literarische Reputation Werners bleibt bis heute umstritten. Das Luther- Drama wird auch ein „ Stück Pseudoromantik “ genannt (Gerhard Schulz: Geschichte der deutschen Literatur Bd. VII/ 2: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806 - 1830. München 1989, S. 606). Werners Stück als „ die bedeutendste Gestaltung des Lutherstoffs in der deutschen Literatur “ zu bezeichnen, zielt an der mangelnden Qualität des Textes vorbei (Ernst Osterkamp: Ein ganzer Kerl. Martin Luther in der Literatur der deutschen Klassik, in: Sinn und Form 62/ 1 [2010], S. 169 - 186, hier S. 185). Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 103 Bemerken freisprach: er müsse ihr Verhalten billigen, da Luthers Gestalt nicht auf die Bühne gehöre “ 19 . Neben den untadeligen historischen Bezügen, die das Stück selbstverständlich auch aufweist, ist das meiste aber der dichterischen Phantasie Werners entsprungen. Und ob ihm das Unternehmen geglückt ist, eine Liebesgeschichte in die Reformationsgeschichte einzuflechten und so gleichsam die welthistorische Bedeutung der Reformation in der binnenseelischen Kammer zweier divergenter Liebesgeschichten zu spiegeln, muss der Leser von heute selbst entscheiden. Offensichtlich traf Werner damit aber den Zeitgeschmack, auch wenn Zelter und Goethe nicht unbedingt davon begeistert waren. Zacharias Werner legt Wert auf die Feststellung, dass die Druckfassung den ursprünglichen Text wiedergibt, während in Berlin eine gekürzte Fassung zu sehen war. Dem Stück ist ein Prolog in fünfhebigen, gereimten Jamben vorgeschaltet, das ist das klassische Versmaß der deutschen Tragödie, dem zeitgenössischen Publikum bestens vertraut im Ohr durch Schillers klassische Dramen. Gott spricht darin zu Luther, er solle die beiden Schalen Zweifel und Erkennen füllen. Das Bild verliert sich im nachfolgenden Text etwas, aber eindeutig ist der Auftrag, den Gott Luther gibt. Er solle die Menschen trennen in jene, die dem Erkennen, also ihm, folgen und jene, die im Zweifel verharren, die vernichtet werden. Gott verspricht ihm drei Engel mit auf den Weg zu geben, den Engel Kunst, den Engel Glauben und den Engel Reinheit. Darin zeige sich das Mysterium der dreieinigen Liebe. Während die Reinheit im Text noch der Figur der Katharina von Bora zugewiesen werden kann und der Glauben durch die Figur des Martin Luther verkörpert wird, fällt es bei der Kunst schon schwerer, die entsprechende dramatische Figurierung zu erkennen. Denn im Text selbst spielt Kunst in den politischen, reformatorischen und affektbesetzten Verwirrungen keine Rolle. Deshalb liegt es nahe, dass der Autor mit dem Engel der Kunst auf sich selbst verweist, mythopoetisch knüpft seine Kunst an dies Gotteswort an, um ihm die höheren Weihen eines endgültigen theologischen Urteils zu verleihen. Nichts davon ist historisch oder theologisch verbürgt. Luther bekommt damit bereits die Rolle 19 Gustav Adolf Erdmann: Die Lutherfestspiele. Geschichtliche Entwicklung, Zweck und Bedeutung derselben für die Bühne. Litterarhistorisch-kritische Studien. Wittenberg 1888, S. 51. 104 Kapitel 4 des Propheten zugewiesen. Melanchthon wird später im Stück sagen, Luther schreibe, „ als ob ’ s Gott selbst dictirt “ (S. 87) 20 . Diese Lesart wird durch den weiteren Fortgang des Prologs bestärkt. Der Autor meldet sich gegen Ende selbst zu Wort, wenn er schreibt: „ Drum hab ‘ ich vielen treuen Fleiß verwendet, / Um Euch in Bildern sinnlich darzustellen, / Wie Luther ’ s Kraft von oben ward vollendet “ (S. 11). Die Tragödie gliedert sich in fünf Akte, der erste Akt zeigt eine Massenszene mit Bergleuten und referiert damit bereits auf Luthers familiäre Herkunft, der Vater war Bergmann. Werner schreibt eine historische Tragödie, denn das Stück spielt im Jahr 1518, als der Reichstag in Augsburg abgehalten wurde, allerdings war, als dort die Gespräche mit Luther im Oktober geführt wurden, der Kaiser bereits abgereist. Die Bergleute und der Schüler Hubert schildern Luthers Charakter, wie der Mensch mit sich ringt, ob er diesem großen historischen Auftrag gewachsen sei, bis er schließlich sein „ Ich will ’ s! “ (S. 28) in die Welt förmlich hinausschreit. Das alles wird von Werner sehr eindrücklich und reichlich theatralisch geschildert. In der zweiten Szene wird bereits Katharina von Bora vorgestellt, die sich als eine besonders hartnäckige Verfechterin des alten Glaubens erweist. Ihr Kloster wird in Folge der Reformation aufgelöst. Während sich die anderen Nonnen darüber freuen, nun endlich Beziehungen zu Männern eingehen zu können, besteht Katharina darauf, das Kloster nicht verlassen zu müssen. Für sie ist das Klostergelübde unauflösbar. Vergebens bemühen sich Äbtissin und der Kanzler des Kurfürsten, sie davon zu überzeugen, der Verweltlichung zuzustimmen, doch die Äbtissin kommentiert dies mit den Worten: „ Immer thut sie nur / Das, was sie will - doch will sie nur das Gute “ (S. 42). Auch Franz von Wildeneck, der Katharina heimlich liebt, vermag sie nicht umzustimmen. Göttlich sei sie, aber felsenhart - so lautet seine Charakterisierung. Franz ist ein fast schon militanter Anhänger Luthers. Dadurch führt er in diesen Liebesdiskurs nun das Reformationsthema ein, denn für Katharina ist Luther nichts anderes als ein „ Räuber “ (S. 57), ein Frevler, ein Wütender, ein Apostat und Häretiker, so ihre Worte, diesen Kirchenschänder wolle sie niemals sehen. Dieses Motiv des Inaugenscheinnehmens wird später wieder von Bedeutung, wenn Katharina förmlich darauf brennt, Luther selbst sehen zu wollen. Das reformatorische Gedankengut ist für 20 Zacharias Werner: Martin Luther, oder die Weihe der Kraft. Eine Tragödie [1807]. 2. durchgängig vermehrte u. verbesserte Aufl. Wien 1818. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 105 sie zunächst aber mit einem Wahn zu vergleichen, der beendet gehöre. Diese Ablehnung des neuen Glaubens steigert sich bis zu ihrer flammenden Rede am Ende der letzten Zeilen dieses ersten Aktes, die dann jäh abbricht, als ihr Luther selbst plötzlich gegenübersteht. „ Im starken Affecte “ (S. 72) spricht sie: Verderben ihm, der frevelnd es gewagt, Das Göttliche, das nur dem Glauben strahlt, Mit rauhen Händen forschend zu betasten! Er wird herab es zieh ’ n zu dem Gemeinen, Entadeln wird er Euch, bis zum Vergessen Des alten Stammes, welchem Ihr entsproßt! Den Firniß wird er Euch vom schönen Bilde Der himmlischen Natur herunter wischen, Daß nur die ersten kahlen Linien Euch übrig bleiben, Euer Auge nimmer Am warmen Farbenschmelz sich laben kann. Ersterben wird Euch jedes Hochgefühl; Und eh ’ es dahin kommt - so - ew ’ ge Güte! Verzeih den Fluch! - so sterbe Luther selbst! (S. 72 f.) Luther tritt auf, starrt Katharina an, fragt sie „ Was willst du, Weib? “ (S. 73), Katharina ist entsetzt, bedeckt sich das Gesicht mit ihren Händen und spricht, bevor sie von der Bühne eilt, die kryptischen Worte „ Mein Urbild! “ (ebd.). Im zweiten Akt gelingen Werner gelegentlich auch starke Bilder, so etwa wenn Luther anlässlich des Besuches seiner Eltern ausruft: „ Ich selber bin jetzt ein lebend ’ ger Psalm / Denn in mir jauchzet Gottes Herrlichkeit! -“ (S. 88); das unmittelbar darauf folgende „ Wein her! “ macht dieses Bild aber sofort wieder zunichte. Diese sehr langatmige erste Szene gibt vor allem das Gespräch zwischen den Eltern und ihrem Sohn wieder und dient dem Autor dazu, Luthers historische Position gegenüber Kaiser und Papst zu erklären und das eine und andere Stichwort aus Luthers reformatorischer Theologie beim Leser und Zuschauer abzuladen, so etwa das allgemeine Priestertum oder Luthers besondere Gnadentheorie und Rechtfertigungslehre. Ein wenig dramatische Schärfe erhält das Stück dadurch, dass Luther nun die Bannbulle des Papstes zugestellt bekommt und er nach Worms zum Reichstag zu kommen geladen wird. Immer an Luthers Seite, mahnend und ergänzend, steht Philipp Melanchthon. 106 Kapitel 4 Die zweite Szene dieses zweiten Akts spielt nun die Liebesgeschichten der beiden Frauen Katharina von Bora und Therese in den Vordergrund. Therese stellt eine unübersehbare Veränderung an Katharina fest, seit sie Luther gesehen hat. Und Katharina antwortet mit dem Bekenntnis: „- ich liebe Luther - / Er ist das Urbild, das ich mir ersehnt ’“ (S. 126). Luther hat in ihrem Herzen den Platz des Heilands eingenommen, zu Luther betet sie sogar, wie sie gesteht. Wenn es Werners Absicht war, die Plötzlichkeit einer Liebe auf den ersten Blick dem Zuschauer im wörtlichen Sinn vor Augen zu führen, dann ist ihm das gründlich misslungen. Denn durch nichts ist dieser plötzliche Sinneswechsel Katharinas motiviert. Eben war sie noch die altgläubige hartherzige Nonne, die Luthers Tod wollte, nun ist sie das verliebte Mädchen, das von Luther nur noch als einem ‚ göttlich schönen Jüngling ‘ (vgl. S. 128) zu sprechen vermag. Damit ist auch einer der Tiefpunkte von Werners Stück erreicht, wo ihm der Text, die Figurierung und die Motivketten in den Kitsch entgleiten. Auch bei Therese, das ist jene Nonne, die bei Katharina geblieben ist, entwickelt sich eine Liebesgeschichte. Zu den Blindmotiven des Textes gehört, dass Luther von vermeintlichen Häschern gefangen genommen wird und Katharina nun in Todesangst um ihren Geliebten gerät. Als sie ihn schließlich findet, will sie mit ihm sterben - das ist von Werner in den Details sehr theatralisch wirkungsvoll dargestellt. Der dritte Akt spielt zu Worms 1521, der Reichstag ist einberufen und Kaiser Karl V. zelebriert ihn mit großem Pomp. Der ‚ freche Ketzer Luther ‘ (vgl. S. 141) wird vom Kardinal angeklagt, die Kirche gespalten zu haben. Wie die vergangenen knapp drei Jahre verbracht wurden, erklärt der Text nicht. Er operiert mit einer narrativen und dramatischen Unbedarftheit, für die die historische Exaktheit und die psychologische Motivierung der Figuren nebensächlich werden. Für den Kaiser ist Luther „ das kecke Pfäfflein “ (S. 149), dessen genauen Namen er nicht zu kennen vorgibt. Diese Szene ist ausladend, redundant und passt zum Geschmack eines Publikums, das Pomp und Getöse, wie es Klingemann später nennen wird, der Genauigkeit geschärfter Dialoge vorzieht. Insbesondere die Rolle des Hofnarren Bossu reichert zwar die Figurenmenge an, ist für den Gesamtverlauf des Dramas aber unerheblich. Das Ende der zweiten Szene ist an Theatralik nur schwer zu überbieten. Therese und Katharina treten in Pilgerkleidern - da sie sich ursprünglich auf einer Pilgerreise nach Jerusalem befinden - auf die Bühne und Katharina vernimmt noch die Worte Luthers, dass er Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 107 lieber sterben wolle als zu widerrufen. Katharina freut sich darüber, dass Luther durch seinen Tod siegen werde. Der Kurfürst und alle anderen auf der Bühne mit Ausnahme Katharinas und Thereses knien plötzlich vor Luther nieder und lassen sich von ihm segnen. Luther spricht: „ Kraft! Freyheit! Friede! “ (S. 178). Dann realisiert Katharina die Situation, sie schreit auf, ruft zu Luther ein „ Du lebst! “ (ebd.) und eilt von der Bühne. Das sind innerhalb weniger Augenblicke zahlreiche Wechsel in Motivation und Handlungsführung der Figuren, so dass es dem Leser schwerfällt, dem im Detail folgen zu wollen, das ist von Zacharias Werner zu dick aufgetragen. Völlig in den Kitsch rutscht die Szene dann im Schlussgebet Luthers ab: Allmächtiger! Mein schwer beladen Herz Drängt sich zu dir empor - zu dir! - Welch elend Ding ist es um diese Welt! Wie ist der Teufel so gewaltig und voll List! Er überwältigt mich - das Urtheil ist gefällt! - Ach Gott, ach Gott! - o du mein Gott! Du mein Gott! Verlaß mich nicht, steh ’ du mir bey! Du mußt es, du! - Ist ’ meine Sach doch nicht - was hab ’ ich hier zu thun? Ich wollt auch gute Tag ’ , ich möchte auch friedlich ruh ’ n! Dann erfolgt der plötzliche Wechsel vom jambischen ins trochäische Versmaß: Nicht verlass ’ ich mich auf Menschen - alles Fleisch vergeht wie Staub - Du allein, o Gott! Und dein Werk - wird es der Vernichtung Raub? Hörest du mich nicht, du mein Gott? Hörst mich nicht in meiner Noth? Bist du ganz von mir gewichen? - sieh, wie mir die Hölle droht! Ha, du willst dich nur verbergen! - Hast du mich umsonst erwählt? Fragen thu ’ ich dich, - doch weiß ich ’ s, daß mich deine Allmacht stählt. (S. 179 f.) Wenn Luther auch noch vom ‚ deutschen Volk ‘ spricht, für das er sich opfere, gab das den zeitgenössischen Zuschauern die Möglichkeit, die historische Reformation mit den aktuellen politischen Ereignissen zu verknüpfen. So wird es möglich, die historische Tragödie als theatralisches Palimpsest eines darunterliegenden, verdeckten Gegenwartsbezugs zu lesen. Die dritte Szene schließlich bietet noch mehr Personen auf, Pferde kommen auf die Bühne. Was ein Zeitgenosse als ‚ belustigende Unterhaltung ‘ (s. unten) durch das Stück betitelt, könnte sich auch an diesen szenischen Details festmachen. 108 Kapitel 4 Der vierte Akt eröffnet das opulente Panorama des Wormser Reichstags und stellt den Schluss von Luthers Verteidigungsrede vor. Luther greift noch einmal den Papst scharf an, nennt seine Macht eine Tyrannei für die Menschen, frech und schamlos sei er, attestiert ihm Habsucht, mit teuflischer List trachte er danach, dem „ armen Deutschland “ das „ höchste aller Güter, / Gewissensfreyheit “ (S. 192) zu rauben. Mit diesem Begriff der Gewissensfreiheit führt Zacharias Werner eine Argumentationsfigur ein, die dem zeitgenössischen Leser oder Zuschauer wenige Jahre zuvor durch ein Stück von Friedrich Schiller vertraut gemacht worden war, und der in dieser Verwendung die Verbindung herstellt zwischen der protestantischlutherischen Argumentationsfigur einer ‚ Freiheit des Gewissens ‘ und dem politischen Begriff der ‚ Gedankenfreiheit ‘ bei Schiller. Schillers klassische Dramen sind zu dieser Zeit auf den Spielplänen deutschsprachiger Bühnen präsent, ebenso sind seine Texte verfügbar. Nach Schillers Tod am 9. 5. 1805 steigert sich dieses Interesse noch. Zu Schillers klassischen Dramen zählen neben der Don Karlos-Fassung von 1805 die Wallenstein-Trilogie (1800), Maria Stuart (1801), Die Jungfrau von Orleans (1801), Die Braut von Messina (1803), Wilhelm Tell (1804) und das Dramolett Die Huldigung der Künste (1805), Werke also, die nach Abschluss seiner philosophisch-ästhetischen Reflexions- und Schreibphase entstanden sind. Schiller hat damit eine ästhetische Norm festgelegt, deren Namen als ‚ Weimarer Klassik ‘ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. 21 Der Don Karlos ist zwar in den Jahren zwischen 1782 und 1787 entstanden, 1787 erstmals gedruckt, am 29. 8. 1787 in Hamburg uraufgeführt, aber erst 1805 liegt die letzte Druckfassung vor. Übrigens schreibt Schiller fast durchgängig ‚ Karlos ‘ . Erst die Orthographie des 19. Jahrhunderts hat daraus ‚ Carlos ‘ gemacht. Zwar wurde der Erstdruck von 1787 interessiert aufgenommen und teils auch höchst unterschiedlich beurteilt, doch erhielt das Drama erst in der überarbeiteten Fassung von 1805 seinen rezeptionsgeschichtlichen Status als nahezu klassisch-kanonischer Text. Man darf davon ausgehen, dass Zacharias Werner diese Fassung bekannt war. Das protestantische Postulat der Freiheit des Gewissens ist unverzichtbare Voraussetzung für den jüngeren politischen Begriff der Gedankenfreiheit. Hier greifen reformatorisches Erbe und frühmo- 21 Vgl. ausführlich Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005, S. 135 ff. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 109 derne Argumentationsform ineinander. Zu denken ist also in diesem Zusammenhang an jene Textpassage aus dem Don Karlos, wo Marquis Posa diese berühmten Worte - an den spanischen König Philipp II. als dem Repräsentanten einer absolutistischen Monarchie gerichtet - spricht: Geben Sie Die unnatürliche Vergött ’ rung auf, Die uns vernichtet. Werden Sie uns Muster Des Ewigen und Wahren. [. . .] [. . .] Geben Sie Gedankenfreiheit. - (V. 3206 - 3216). Dieser Begriff der Gedankenfreiheit, den Herder in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Gedankenfreiheit (1793) ‚ unsre kleine Gabe ‘ nennt, 22 als dem wohl wichtigsten Begriff des Don Karlos, ist keine neue Wortschöpfung Schillers. Bereits 1776 war im Hannoverischen Magazin ein Aufsatz unter dem Titel Von der Freyheit zu denken erschienen, worin sich das Wort Gedankenfreyheit findet. Der Verfasser ist Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (1748 - 1828). Zudem ist es falsch, den Begriff der Gedankenfreiheit lediglich auf den Aspekt der Redefreiheit einzuschränken oder ihm gar eine politische Semantik absprechen zu wollen. Gedankenfreiheit bedeutet zuallererst Pressefreiheit und zielt im Kontext des Dramas auf ein politisches Verständnis. Schiller selbst bietet in seinen Briefen über Don Karlos den Hinweis, dass Gedankenfreiheit nur politisch zu verstehen sei, da Posa mit der Nennung dieses Begriffs direkt die politische Situation in Flandern anspricht und die bezeichnet er als „ alles [. . .] zu einer Revolution zubereitet “ 23 . Zacharias Werners Verwendung des Begriffs Gewissensfreiheit knüpft also an diesen im literarischen Diskurs und in der Öffentlichkeit präsenten politischen Begriff der Gedankenfreiheit Schillers an und ermöglicht damit den Rezipienten, in der historischen Übertragung auf Luther einen aktuellen Zeitbezug zur politischen Situation in den deutschsprachigen Ländern während der Napoleonischen Kriege herzustellen. Luther erklärt in Werners Drama, er kämpfe nicht für sich selbst, sondern für Gott und Deutschland (vgl. S. 193). Es wird also immer offensichtlicher, dass Werner die literarische Figur Luther als Vorläufer einer politischen, nationalen Einheit 22 Vgl. Herder: Sämtliche Werke, Bd. XXIX, S. 583. 23 Schiller: FA 3, S. 437. 110 Kapitel 4 Deutschlands verstanden wissen will. In einer anderen Textpassage dieser ersten Szene schreit Luther heftig auf, wie es in der Regieanweisung deklariert wird, und nimmt für sich die Prophetenrolle in Anspruch, Gott spreche durch ihn, und wenn es die Anwesenden des Reichstags fühlen könnten, dann „ trüge Deutschland nur fein sanftes Joch / Und keinen fremden Zwang! “ (S. 194). Dann werden in umständlicher Figurenrede die einzelnen Repräsentanten der versammelten Stände über Luther befragt. Am Ende wird Luther freies Geleit zugesagt. Die nachfolgende zweite Szene dieses vierten Aktes zeigt einen Wald bei Worms, Katharina von Bora und Therese treffen auf Luther. Katharina will das Gespräch auf das Thema Liebe hinlenken, Luther weicht dem immer wieder aus durch allgemeine Ratschläge und Kommentare, bis es aus ihr herausbricht: „ Ich hab ’ n Liebsten, lieber Herr! “ (S. 228). Ob die Elision an dieser Stelle glücklich gewählt ist, mag dahin gestellt bleiben, jedenfalls erweist sich Luther als ein wenig begriffsstutzig, bis die Reiter auftreten und Luther entführen - zu seiner eigenen Sicherheit, wie man aus der Historie weiß. Katharina aber bleibt zum zweiten Mal in dem Glauben zurück, Luther werde getötet. Der fünfte Akt spielt in Wittenberg. Katharina berichtet in einem langen Dialog der Äbtissin vom Tod Theresens, deren Leichnam aufgebahrt vor dem Altar liegt. Katharina entwickelt eine intensive Todessehnsucht. Da tritt in der zweiten Szene Luther „ in ritterlicher Jagdkleidung, mit Mantel und Speer “ (S. 251) auf - der Kontrast zur vorausgehenden Szene voller Inbrunst und Schmerz könnte kaum größer sein. Luther als Jäger muss beinahe schon wie eine Karikatur gewirkt haben. Auch der plötzliche Abfall in einen umgangssprachlichen Kommunikationsstil irritiert, so sagt er etwa zu seinem Knappen Theobald: „‘ Ne schöne Nacht! - Will ‘ mahl im Freyen schlafen “ (S. 252). Als Ritter Görg versteckt er sich auf der Wartburg, das ist die historische Folie, derer sich der Autor Zacharias Werner bedient. Am 4. 4. 1521 hatte Kurfürst Friedrich der Weise Luther zu seinem eigenen Schutz gefangen nehmen und auf die Wartburg bei Eisenach bringen lassen. Luther sollte für einige Zeit den antireformatorischen Angriffen, die durchaus Leib und Leben bedrohten, entzogen bleiben. Warum Werner nun aus dem historisch verbürgten Decknamen Ritter Jörg für Luther einen Ritter Görg macht, bleibt dunkel. Theobald ist in Therese verliebt, während Luther in seiner neuen Rolle als Ritter Görg Katharina als Frau wahrzunehmen beginnt. Er Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 111 sagt über sie: „ Und auch die Große war nicht zu verachten. / Der Mann, der sie bekommt - bedünkt es mich - / Er hat an ihr ‘ ne schöne Gottesgabe! -“ (S. 255). Als die Männer eingeschlafen sind, erscheinen Engel, nun entwickelt sich das historische Drama zu einem durch und durch kitschigen Mysterienspiel. Streng gereimt und unter Harfenklängen dialogisieren die Engel Elisabeth und Therese bis sie, von einer Wolke umhüllt, wieder entschweben. Sie haben den beiden ein Liebesversprechen in Aussicht gestellt, und Luther und Theobald brechen nach Wittenberg auf in der Annahme, das reformatorische Werk zu vollenden. Vor dem Hintergrund des Mysterienspiels aber vollziehen sie die Engelsverheißung und suchen ihr Liebesglück. Die dritte Szene zeigt wieder die Wittenberger Kirche, während Katharina betet, tritt Franz von Wildeneck mit Bilderstürmern auf und wird zunächst von Katharina aufgehalten, sein frevelhaftes Werk zu vollstrecken. Er stellt die entscheidende Frage „ Liebst du Martin Luther? “ (S. 269), und Katharina von Bora bekennt „ mit stiller Erhabenheit “ mit einem knappen Ja. Nun füllt sich die Bühne mit dem Kurfürsten und weiteren Adeligen, mit den Bilderstürmern und auch die aufständischen Bauern drängen herein. Da erscheint Luther und tritt „ mit schmetterndem Tone “ (S. 279) unter die Kämpfenden, die er mit gezücktem Schwert auseinander hält. Die Tragik dieser Szene wird noch weiter gesteigert, indem Franz wieder nach vorne kommt und Luther sucht, um ihn umzubringen. Theobald wird versehentlich getroffen und stirbt. Dann nimmt sich Luther ein Schwert und geht auf die versammelten Fürsten los: „ Fort, Ausgeburten meiner Phantasie, / Frey, wie ich Euch erschuf, zerstör ’ ich Euch! “ (S. 286), um schließlich zu erkennen, dass er ein Riese sein wollte und nichts anderes ist als ein Wurm. Der Erzbischof und der Kurfürst unterhalten sich zwischendurch über die Vorzüge der Katharina von Bora, während Luther Glaubenszweifel plagen ( „ Got liebt mich nicht! “ , S. 295) und von Katharina sanft an seinen Auftrag und seine Bestimmung erinnert wird. Die „ alte Kraft und neuer Lebensmuth “ (S. 299) kehren zurück, und am Ende begreift auch der in Liebesangelegenheiten etwas einfältige Luther, worum es in dieser Szene eigentlich gehen soll, und spricht die erlösenden Worte zu Katharina „ Ich liebe dich! “ (S. 300). Damit könnte das Stück zu Ende sein, doch die Freiheitsthematik bedarf noch einer Engführung. Deshalb lässt Werner die Fürsten und Luther sich die Hände reichen, es wird ein Schwur gesprochen und Luther schenkt den Fürsten Freiheit. Wie das moti- 112 Kapitel 4 viert und aus dem Stück heraus zu begründen ist, bleibt völlig unklar, und einer der letzten Verse des Stücks spricht Luther - im Hintergrund treten wieder die Bergleute des ersten Aktes hinzu: Jetzt unterlieg ’ ich nicht! - Halleluja, ich siege! Die feste Burg ist Gott! - Du Volk der Deutschen schwöre - [. . .] Kraft! - Freyheit! - Glauben! - Gott! - . (S. 307) Kurz darauf fällt der Vorhang. Werners Stück krankt unzweifelhaft an sehr langen, ermüdenden Dialogpassagen und an der gekünstelten, keineswegs kunstvollen Verschränkung des reformatorischen Themas mit dem Liebesmotiv, an der oft brachialen Verknotung von Weltgeschichte und Privatgeschichte. Dass die Liebesgeschichte eines großen Reformators darzustellen nicht per se unmöglich ist, wird im 20. Jahrhundert Jochen Klepper unter Beweis stellen, aber dies ist eben nur episch lösbar, nicht dramatisch, und gelingt nur ohne Zugeständnisse an den jeweils herrschenden Zeitgeschmack. Noch am 7. 11. 1817 berichtet die Bremer Zeitung (Nr. 311) von einer Teilaufführung in Berlin, die mutmaßlich anlässlich des Reformationsjubiläums stattfand. Am 31. Oktober sei Werners Luther-Drama über die Bühne gegangen: „ Bei der gestrigen Aufführung einiger Scenen aus Werners Weihe der Kraft im Opernhause [! ] entstand Unruhe. ‚ Von der Bühne mit dem Reformator, von der Bühne! ‘ erscholl es von mehreren Seiten, und die Stimmen wurden bald so laut, daß der Vorhang niedergelassen werden mußte. Die Polizei ergriff, von der Gensd ’ armerie unterstützt, einige zwanzig Studenten, die in Gewahrsam genommen wurden. “ Ähnliche Tumulte sind auch von der Uraufführung des Stücks bekannt. Zelter etwa berichtet Goethe im Brief vom 11. 6. 1806 davon, er komme soeben aus dem Theater von der Uraufführung des Werner ’ schen Stücks in Berlin. Die Urteile über die Weihe der Kraft würden „ wohl sehr verschieden ausfallen indem ein Teil des Publikums etwas Großes erwartet unterdessen ein anderer dagegen eingenommen ist, weil die Reformation dadurch zu einem Gegenstande belustigender Unterhaltung wird “ (Goethe: MA 20.1, S. 132). Es sei „ Alles drinne “ , was der Zuschauer von einem zeitgenössischen Stück erwarte; der Verfasser habe hohe Absichten und Ansprüche gehabt, Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 113 am Ende sei ihm das „ Bündel etwas schwer worden “ (ebd.). Das Stück sei eigentlich kein Schauspiel mehr, sondern „ die Parodie einer ernsthaften heiligen Kirchenangelegenheit, die sich begreiflich machen will indem sie sich profaniert “ (ebd.). Das Papsttum werde albern und dumm dargestellt, „ das Allegorische steht dem Historischen nicht gegenüber wie ein Spiegel dem Gegenstande, sondern neben einander und reproduziert oder wider käut sich selber “ (ebd.). Zwei Wochen später berichtet Zelter dann, dass das Stück zu regelrechten Spaltungen unter den Zuschauern geführt habe (vgl. ebd., S. 134). Goethe, der das Stück nicht kennt, stimmt Zelters Urteil zu, die Menschen würden durch solche Stücke letztlich ganz konfus, wenn aber am Ende die Kasse stimme, „ so ist übrigens alles in Ordnung “ (ebd., S. 134). Zelter berichtet Anfang Juli weiter, das Stück werde jede Woche dreimal gespielt, das Haus sei brechend voll. Wenn das Stück Mode mache, dann müsse man mit Nachahmern rechnen und könne bald „ Bibeln und Gesangbücher auf dem Theater umher flankieren “ (ebd., S. 135) sehen. Goethe kommentiert diesen erneuten Bericht etwas schmallippig und dankt für die Mitteilung von Zelters „ Gesinnungen über D. Luthers neue Erscheinung “ (ebd., S. 136). Zelter schreibt Anfang August, er habe eigentlich noch niemanden Gutes über das Stück reden hören. Die Polizei sei im Theater vor Ort, um Störungen zu verhindern. Am 23. Juli habe es einen Vorfall gegeben, der in Berlin für Furore sorgt. Königliche Offiziere hätten eine „ sehr lustige Schlittenfahrt “ (ebd., S. 138) veranstaltet, Luther saß mit einer ungeheuren Flöte ausstaffiert darin, ihm gegenüber Melanchthon. Auf dem Kutschbock saß Katharina von Bora und ließ die Peitsche knallen. Kurzum, unter langen Schleppen und Masken „ ging der Zug mehrere Stunden lang durch die Straßen zur Ergötzung des Schaulustigen Publikums “ (ebd.). Zelter liest dieses Ereignis symbolisch: Werners Stück habe ebenso wenig dramatisches Potenzial wie „ eine Schlittenfahrt im Sommer “ (ebd.). Zwar wurden die Offiziere auf Intervention Ifflands hin bestraft, das Stück aber wurde vom Spielplan genommen (vgl. Goethe: MA 20.3, S. 201 f.). Iffland begibt sich mit dieser Theaterproduktion auf eine durchaus erfolgreiche Gastspielreise durch Deutschland. Goethe prüft, ob auch das Weimarer Theater als Spielort dienen soll, er lässt sich das Stück vorlesen und urteilt schließlich am 7. 3. 1807: „ Es ist der Mühe werth dieses nicht verdienstlose, aber monstrose Werk gehörig zu würdigen “ (Goethe: WA IV/ 19, S. 279). 114 Kapitel 4 Wenige Jahre nach Erscheinen des Luther-Dramas vollzieht Werner seine radikale lebensgeschichtliche und konfessionelle Kehrtwendung, er konvertiert am Gründonnerstag, dem 19. 4. 1810 in Rom zum Katholizismus und lässt sich 1814 sogar zum Priester weihen. Seine literarischen Arbeiten widerruft er, die Weihe der Kraft versucht er in einer Palinodie (Widerruf) mit dem Titel Die Weihe der Unkraft von 1814 zu neutralisieren. Darin nennt er seine Konvertierung „ das unschätzbare Heil zum Glauben unserer Väter zurückzukehren “ (S. 31). Der Untertitel seines Widerrufs ist bezeichnend und muss daher zusammen mit dem Haupttitel gelesen werden: Die Weihe der Unkraft. Ein Ergänzungsblatt zur deutschen Haustafel. Martin Luther ist der geistige Vater dieses Textgenres ‚ Haustafel ‘ . Er hat den Begriff geprägt und eine solche Haustafel erstmals seinem Kleinen Katechismus von 1529 angehängt. Darin wird die mittelalterlich-ständische Gesellschaftsordnung von Kirche, Staat und Haus reflektiert und bestätigt. Wenn nun Zacharias Werner das Zeugnis seines öffentlichen Widerrufs ein Ergänzungsblatt zur deutschen Haustafel nennt, dann will er diesen 40-seitigen Text verstanden wissen als Korrektur zum protestantischen Glauben. Seite 25 schreibt er, er habe sich in der Weihe der Kraft mehr erlaubt als in seinen anderen Schriften, was unstatthaft und sträflich sei. Die dadurch „ verbreiteten religiösen und sittlichen Irrthümer “ widerrufe er hiermit öffentlich und sage sich feierlichst von ihnen los. Es mutet als Ironie der Literaturgeschichte an, wenn Werner zwei Seiten später in einer Fußnote ausdrücklich auf Spees Trvtz-Nachtigal hinweist und zur Lektüre beispielhaften Gotteslobes in der Poesie den Lesern und Leserinnen seiner Haustafel empfiehlt. Aber auch Werner kennt den allegorischen Wechsel von der Nachtigall des Hans Sachs zur Nachtigall des Friedrich Spee. Er erwähnt das Gerücht, es solle „ ganz neuerdings “ eine neue Auflage von Spees Gedichtsammlung erschienen sein. Dies kann entweder den in Köln 1812 erschienenen Nachdruck betreffen oder - was wahrscheinlich ist wegen des Bezugs zum romantischen Kontext - das Poetische Taschenbuch für das Jahr 1806, das von Friedrich Schlegel herausgegeben wurde und 16 Lieder aus der Trvtz-Nachtigal des Friedrich Spee enthält. Werners Text der Weihe der Unkraft selbst ist in holprigem Versmaß gehalten. Werner wählt einen Alexandriner im sechshebigen Jambenrhythmus. Versakzent und Wortakzent treffen sich nicht immer. Seine bisherige Dichtung - gemeint ist vor allem das Luther-Drama - sei ein „ eitel Götzenbild “ (Weihe der Unkraft, S. 5). Neben diesen Bezügen auf Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 115 die eigene Dichtung erweist sich Werner vor allem als ein Propagandeur der Deutschnationalen. Die Schlacht bei Leipzig vom Oktober 1813 wird namentlich genannt, der Freiheitskampf wird als Heiliger Krieg betitelt, der Glaube der Väter ist der wahre Glaube, und das ist der Katholizismus strenger Observanz. Aber wie in anderen Dichtungen Werners ist auch die Trivialität nicht weit. So appelliert er gegen Ende an alle Deutschen: „ Einst zog der Mann zu Felde, die Frau besorgt ‘ das Haus, / So muß es wieder werden, sonst wird nichts Kluges draus! “ (S. 18). Soldat und Priester seien ständehierarchisch gleichwertig, beide seien von Gott gesandt. Die Schlussverse stellen noch einmal den Bezug zum Luther-Drama her und sollen deshalb vollständig zitiert sein: Als ich Euch ’ mal geschrieben, worauf ich blick mit Spott: Die Weih ’ der Kraft, da schrieb ich: Glauben an Uns und Gott! Der Spruch fand Abgang, aber ging ’ s - ? - Wie man auch auf sich duns ’ , Umgekehrt wird ein Schuh draus: GLAUBEN AN GOTT und - uns! - ! (S. 22) Die Schuhmetaphorik wird sicherlich nicht willentlich auf den Poeten, Schuhmacher und Protestanten Hans Sachs angespielt haben, so viel Ironie ist Werner kaum zuzutrauen. Die Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung von 1814 empörte sich über solche Reimereien Werners. „ Überhaupt aber, welche abgeschmackte Zusammenstellungen! Wahrlich, wahrlich Gott fichts mit Lachen an “ (11. Jg., 1. Bd., Nr. 45, Sp. 357). Werner nutzt eine literarische Form, die wenigstens auf diese Weise dem Publikum wieder in Erinnerung gerufen wird, die Palinodie. In strengster Form widerruft sie das zuvor Gesagte. Vorbilder finden sich in der antiken Literatur und in der Literatur des Humanismus und des Barock. Werners Weihe der Unkraft reicht daran bei weitem nicht heran. Wenn er seine Palinodie selbst eine „ gerechte Diatribe gegen mich selbst “ (S. 23) nennt, dann meint er damit den moralistischen Ton und die lockere, teils erheiternde Form der Darbietung. Beides ist gleichermaßen unverträglich mit einem dichterischen Widerruf. Auch Goethe kommt aus einer anderen Perspektive zu einem ähnlichen Urteil über Werner. In seinem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 7. 3. 1808 erklärt er: „ Schiller hatte sich noch an das Edle gehalten; um ihn zu überbieten mußte man nach dem Heiligen greifen [. . .] “ . Dem Bühnenautor Werner gesteht er zwar zu, dass dieser ein Vertreter des Zeitgeschmacks sei (so etwa in seinem direkt an Werner gerichteten Brief vom 1. 10. 1809), an anderer Stelle räumt 116 Kapitel 4 er ihm sogar ein „ sehr schönes Talent “ (Goethe: Briefe, Bd. 3, S. 68) ein, doch für ihn selbst geben „ die Wernerschen Sachen den Beweis [. . ..], eine lüsterne Redouten- und Halb-Bordellwirtschaft, die nach und nach noch schlimmer werden wird “ (ebd., S. 66). Bezogen auf Werners Luther-Drama Die Weihe der Kraft urteilt Goethe, Werner sei eben ein „ Sohn der Zeit “ (ebd., S. 68). Iffland, der die Hauptrolle bei der Berliner Aufführung übernommen hatte, glänze in der Rolle des Luther als „ protestantischer Heiliger “ (ebd., S. 67). Theodor Fontane (1819 - 1898) wird in seiner Erzählung Schach von Wuthenow (1883 als Buch, zuvor in einer Zeitschrift erschienen) das zweite Kapitel mit dem Titel Die Weihe der Kraft überschreiben und darin Bezug nehmen auf Werners Theaterstück. Eine Berühmtheit habe den Salon der Frau von Carayon aufgesucht, eben Zacharias Werner. Herr von Alvensleben, ein Offizier jenes berühmt-berüchtigten Regiments Gendarmes in Berlin, berichtet: „ Ich habe das Stück gelesen. Er will Luther verherrlichen, und der Pferdefuß des Jesuitismus guckt überall unter dem schwarzen Doktormantel hervor “ (S. 14) 24 . Victoire, die Tochter des Hauses, bekennt, es widerstrebe ihr „ die Gestalt Luthers auf der Bühne zu sehen “ (ebd.). Von Alvensleben stimmt diesem Einwurf zu, er wolle den Gottesmann Luther, nach dem sich die Lutheraner benennen und auch interkonfessionell unterschieden und zu dem er stets „ in Ehrfurcht und Andacht aufgeschaut “ habe, „ nicht aus den Koulissen oder aus einer Hinterthür treten sehen “ (S. 15). Die Gesprächsrunde verurteilt Zacharias Werner als pfäffischen Autor mit „ mystisch-romantischen Tendenzen “ (ebd.). Dieses Urteil ist eindeutig. Doch bei aller Vorsicht, die einem solchen literarischen Bericht gegenüber geboten ist, kann man daran erkennen, wie Fontane aus der Rückschau von knapp acht Jahrzehnten über dieses Ereignis schreibt. Er nutzt das Geschehnis selbst, aber vor allem seine Wahrnehmung durch die adlig-militärische Schicht zur glasklaren Gesellschaftsanalyse. Von der Premiere des Stücks, mutmaßlich seiner Uraufführung berichtet das neunte Kapitel. Mutter und Tochter von Carayon sowie Rittmeister von Schach besuchen gemeinsam die Vorstellung. Auf die aus Gründen der Konversation und Billigkeit gebotene, unvermeidliche Frage, wie er denn das Stück gefunden habe, äußert sich Schach empört. Er liebe 24 Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 6. Berlin 1997. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 117 keine Komödien [! ], vom Theater erwarte er Vergnügen und Erholung, also Unterhaltung, und einen „ solchen Luther hat es Gott sei Dank nie gegeben, [. . .]. Jede Zeile widerstreitet dem Geist und Jahrhundert der Reformation; alles ist Jesuitismus oder Mysticismus, und treibt ein unerlaubtes und beinah kindisches Spiel mit Wahrheit und Geschichte “ (S. 83). Nicht nur die drei Besucher und das Publikum insgesamt sind in zwei Lager zerrissen, in Befürworter und Gegner des Stücks. Ganz Berlin sei zu diesem Zeitpunkt gespalten gewesen, auf der einen Seite habe ein mystisch-romantisches Lager den Werner ’ schen Luther bejubelt, auf der anderen Seite waren die freisinnig Gesinnten entschieden gegen das Stück. Deshalb beschließen die Offiziere des Regiments Gendarmes, die keineswegs an einer inhaltlichen Auseinandersetzung interessiert sind, eine „ Travestie “ und „ Maskerade “ (S. 85) des Luthers, denn es müsse etwas geschehen. Obwohl es ihnen lediglich darum geht, die scheinbar lächerlichen Szenen und Details des Dramas mit ihrem Spott zu überziehen, in der Annahme, es handle sich um einen gesellschafts- und konsensfähigen Streich, der ihnen Anerkennung eintrüge, rekurrieren sie doch auf ihre sozialelitäre Bedeutung. Schon immer habe dieses Regiment „ der Gesellschaft den Ton angegeben “ (S. 86), und des alten Luther zuliebe müsse nun gehandelt werden. Und der Plan sieht so aus: Unter den Linden werde als Schneeersatz Salz gestreut - man befindet sich mitten im Sommer - , über das die Pferdeschlitten gezogen würden. Zuerst kämen die Vorreiter zu Pferde, dann im ersten Schlitten ein paar derangiert gekleidete Nonnen, danach in der Mitte des Zuges der Hauptschlitten mit Luther und seinem Famulus, beide Flöte spielend, Katharina von Bora sitzt auf der Pritsche, nach Belieben mit oder ohne Peitsche. Alle Personen sind mit Theaterkostümen ausgestattet. Man ist sich darin einig, dass man nicht den historischen Luther verhöhnen wolle, sondern vielmehr ihn rächen. „ Wir sind Strafgericht, Instanz aller oberster Sittlichkeit “ (S. 89). Im elften Kapitel mit dem Titel Die Schlittenfahrt berichtet Fontane von jenem Skandalon, dessen Aufführung letztlich zur Absetzung des Luther-Dramas vom Spielplan in Berlin geführt hat. Unzüchtige Nonnen, eine johlende und trinkende Äbtissin, der mittlere Schlitten als Triumphwagen ausstaffiert und auf Rollen gezogen, so präsentiert sich dieser Umzug. Das Urteil von Mutter und Tochter von Carayon, die Augenzeugen dieses Spektakels werden, fällt eindeutig aus. Es sei ein ‚ widerliches Spiel ‘ gewesen, ‚ pietätlos ‘ , „ bar aller Schicklichkeit “ (S. 92), ‚ schal ‘ und ‚ ekel ‘ , darin sind sie sich einig. Wie 118 Kapitel 4 der Beteiligte von Nostitz in seinen Memoiren schreibt, soll das Spektakel „ eine Stunde lang “ 25 gedauert haben. Einige Tage später wurde auf königlichen Befehl hin der Vorfall untersucht, einige Offiziere wurden bestraft. In der Berliner Öffentlichkeit wurde noch eine Zeitlang über diesen Vorfall diskutiert, unter anderem erschien auch dieser Zweizeiler, der für Nachsicht gegenüber den Gendarmes plädierte: „ Kann Herr Luther Balken treten, / Mag er auch das Pflaster kneten “ 26 . Im Eingangsgespräch über Werners Stück hatte Freiherr von Bülow seinen Standpunkt erläutert, worin Fontanes eigene Sichtweise mitschwingen mag, er schaue sich den Theater-Luther nicht deshalb nicht an, weil die Theatralisierung ein religiöses Tabu verletzte, er spricht von „ Entheiligung “ (S. 17), sondern weil er grundsätzlich skeptisch sei gegenüber der welthistorischen Bedeutung Luthers. „ Der nationale wie der konfessionelle Standpunkt sind hinschwindende Dinge, vor allem aber ist es der preußische Standpunkt und sein alter ego der lutherische. Beide sind künstliche Größen “ (S. 16). Mit Luther geht von Bülow noch strenger ins Gericht. Habe schon Preußen für die Welt nichts Großartiges geleistet, so sei mit Luther die „ Sage “ verknüpft von der Freiheit des Menschen; stattdessen habe Luther „ Unduldsamkeit und Hexenprozesse, Nüchternheit und Langeweile “ (S. 17) in die Welt gebracht. Die Distanz, mit der Fontane dies alles erzählt, lässt unzweifelhaft seine tiefe Abneigung gegenüber dieser selbstgefälligen Soldateska erkennen, die zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Berliner und die preußische Gesellschaft insgesamt prägte und dominierte. Bemerkenswert ist, dass Fontane mit dieser Genauigkeit auf diese gesellschaftlich-theatergeschichtliche Episode, die fast 80 Jahre zurückliegt, eingeht. Das zeigt, der Autor Werner und sein Stück Luther waren dem bürgerlichen Bewusstsein der wilhelminischen Gesellschaft durchaus gegenwärtig. Davon zeugt nicht zuletzt auch die Tatsache, dass das Stück 1870 als Reclam-Heftchen gedruckt wurde, was die Popularität der Verarbeitung des historischen Stoffs ebenso unterstreicht wie die Kanonisierung des Autors als einen Autor wilhelminischer Bürgerlichkeit. 25 Aus Karls von Nostitz Leben und Briefwechsel. Auch ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen. Dresden, Leipzig 1848, S. 77. Die Schlittenfahrt wird auf den Seiten 74 - 78 beschrieben. 26 Aus Karls von Nostitz Leben und Briefwechsel, S. 78. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 119 Auch der Theaterdichter und Intendant am Braunschweiger Theater August Klingemann beteiligt sich an der Suche nach einem literarischen Luther-Denkmal. Die zeitliche Nähe zur Werners Stück hat schon die Zeitgenossen veranlasst darüber zu spekulieren, wer von wem beeinflusst worden sein könnte. Klingemann nimmt dazu später Stellung. In einer Rezension ausgerechnet von Werners Stück im Morgenblatt für gebildete Stände (Nr. 58 vom 9. 3. 1807) versichert er seine Unparteilichkeit in der Beurteilung und würdigt das Bemühen Werners, die „ Universalität der ursprünglichen romantischen Tragödie “ wiederzugeben. Die darin enthaltene Mystik sei notwendig, das Drama sei ein mystisch allegorisches Stück und werde dadurch erst rein tragisch. Im Kern gehe es um den Widerstreit zwischen Katholizismus und Protestantismus, und so müsse man im Stück Luther als die „ personificirte Idee des Protestantismus “ verstehen. Klingemanns eigenes Theaterstück wurde in August von Kotzebues Zeitschrift Der Freimüthige (Nr. 154 vom 2. 8. 1808) wenig vorteilhaft besprochen. Schon im Eingangssatz urteilt der Rezensent Kapf: „ Es ist selten der Fall, daß ein historisches Faktum sich in seiner ganzen Authentizität zu einem Schau- oder Trauerspiel eignet “ (S. 613). Dem Autor wird sein romantischer Zeitgeist zwar zugestanden, aber um ein erfolgreicher Trauerspieldichter zu sein, müsse er „ alle Bande dramatischer Konvenienz wegwerfen, und allen Aberglauben an beängstigende Einheiten abschwören “ (S. 614). Dem folge das Drama nicht. Es sei zwar historisch ‚ wahrer ‘ als das von Mystizismus umhüllte Werk Werners, es eigne sich aber nur als Lesedrama, für die Bühne sei es untauglich, eben nicht mehr als eine interessante Erscheinung in der Gegenwartsliteratur. Klingemanns Drama Martin Luther ist nicht als Einzeldruck erschienen, sondern zusammen mit dem Historiendrama Heinrich der Löwe 1808 im ersten Band von Klingemanns Theater. Ob es jemals öfter als zur Braunschweiger Uraufführung 1806 gespielt wurde, ist nicht bekannt. Klingemann stellt dem Druck einen der wichtigen poetologischen Aufsätze der literarischen Romantik in Deutschland voran. Der Titel: Ueber die romantische Tragödie. Eine Menge schlechter Schriftsteller hätten in den zurückliegenden Jahren den Buchmarkt regelrecht überschwemmt, schreibt er darin. Zu diesem Zeitpunkt ist das, was in der Literaturgeschichte als Frühromantik firmiert, bereits schon einige Jahre vergangen. Tiecks und Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), ihre Phantasien über die Kunst (1799) und Friedrich Schlegels Roman Lucinde (1799) 120 Kapitel 4 sind die wichtigsten Zeugnisse dieser literaturgeschichtlichen Periode. Zwar seien die Werke Goethes und Schillers der vollendete Maßstab für die tragische Poesie, doch seien sie eher als Lesedramen geeignet, denn theaterpraktisch ausgerichtet, schreibt Klingemann. Die romantische Tragödie, von der er spricht, entdecke die „ Phantasie “ als poetisch-gestaltende Kraft, „ die Mauern, womit Aristoteles das poetische Reich umzogen hatte, wurden eingerissen “ (Klingemann: Theater, S. VI). Der Mensch mit seinen Leidenschaften sei als Zentrum der Tragödie entdeckt worden. In der Beherrschung der Leidenschaften, ihrer Disziplinierung, zeige sich das Vermögen des Menschen zur Freiheit. Somit wird Freiheit ein weiterer wichtiger poetologischer Begriff, der sich bei Klingemann zügig politisch weitet. Darin liege die „ ächte tragische Reinigung der Leidenschaften “ (ebd., S. IX), von Aristoteles Katharsis genannt. Die Tragödie sei die erhabenste aller poetischen Gattungen, da sie - und nur sie - Freiheit als das höchste Gut dem Menschen zur Anschauung bringe. Da die Gegenwart arm an Themen und herausragenden Persönlichkeiten sei, greife die romantische Tragödie auf die Geschichte zurück. Es wundert nicht, dass Klingemann diesen Aufsatz mit dem Hinweis auf Schillers Tragödie Jungfrau von Orleans (1801), deren Untertitel in der Erstausgabe auch ‚ Eine romantische Tragödie ‘ hieß, als Musterstück abschließt. Nicht von ungefähr hat Klingemann 1802 auch einen der ersten zeitgenössischen Kommentare zur Jungfrau von Orleans veröffentlicht. Danach folgt im Druck das dramatische Gedicht Martin Luther. Mit dieser Gattungsbezeichnung stellt sich Klingemann überdeutlich in die Tradition des klassischen deutschen Dramas, beginnend bei Lessings Nathan der Weise (1779), der den fünfhebigen Jambus als gehobenes tragisches Metrum populär machte. Klingemann wählt allerdings die seltene Form eines sechsaktigen Dramas. Allein darin mag man sein Spielen mit Traditionen erkennen. Doch zunächst folgt eine Vorerinnerung. Darin reflektiert der Autor darüber, dass es in den protestantischen Ländern nach wie vor eher tabu sei, die Gestalt des Reformators auf die Bühne zu bringen. Dann erklärt Klingemann: „ Was den Charakter Luthers selbst betrifft, so können [. . .] keine religiöse Ansprüche an ihn gemacht werden. Der Nimbus eines Religionsstifters mangelt ihm gänzlich “ (S. 164). Klingemann verteidigt seine Metrik und die Elisionen des Vokals ‚ e ‘ , bis er schließlich auf einen heiklen Punkt zu sprechen kommt, seine „ Collision mit Herrn Werner “ (S. 165). Der Plagiatsvorwurf steht im Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 121 Raum. Er habe, so schreibt Klingemann, bereits mit dem vierten Akt seines Luther angefangen und auch schon Vorgespräche mit dem Magdeburger Theater wegen einer Aufführungsmöglichkeit geführt, als er aus der Zeitung von Zacharias Werner und seinem Luther- Drama erfuhr. In konjunktivischer Form erklärt er Werners Luther als „ Plagiat “ (S. 166) seines eigenen Stücks. Ob dies eine Schutzbehauptung darstellt oder doch eher der historischen Wirklichkeit entspricht, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Die Handlungsführung beider Stücke weist durchaus einige Parallelen auf. Luther wird jeweils als Erwachsener vorgestellt, der einen Disput mit seinen Eltern durchlaufen muss, und der Vater erweist sich dabei als Vertreter der Altgläubigen. Darüber hinaus nach mehr inhaltlichen, strukturellen oder gar sprachlichen Gemeinsamkeiten zu suchen, ist müßig. Fest steht indes, die Stücke von beiden Autoren werden jeweils 1806 uraufgeführt. Luther sei „ sein eignes Denkmal “ (S. 194), heißt es einmal im Text - eine frappierende Bemerkung, wenn man an die Denkmalsdiskussion der Zeit denkt (s. u.). Was Werner nicht ausspricht, vollzieht der literarische Konkurrent Klingemann auf offener Bühne: Sein Denkmal laßt bis in die Wolken gehen, Vergänglich darf das hohe Werk nicht seyn, So lang ’ der Erdball hält, muß es bestehen, Der Zeit Trotz bieten, mehr als Erz [! ] und Stein; Ihr schwanket noch, den sichern Platz zu finden? - In Euren Herzen muß es sich begründen! (S. 195) Dieses Denkmal aber darf weder aus Marmor noch aus Bronze sein. Klingemann erhebt den Anspruch, ein Denkmal, nämlich das in einer öffentlichen Ausschreibung gesuchte Denkmal für Martin Luther zu liefern. Anders als Werner will Klingemann sein Drama aber von Anfang an als einen historisch abgesicherten Text deklarieren. Er implementiert immer wieder Fußnotenverweise auf literarische Quellen, die der Leser bei Gelegenheit nachschlagen soll. Diese historischen Quellenbelege sollen sein Drama als einen quasi-wissenschaftlichen Text ausweisen, dessen Inhalt hohe Authentizität zukommt. Möglicherweise ergäbe aber auch eine genauere Überprüfung der angeführten historischen Quellen, dass sie nicht nur ungenau, sondern schlicht fiktiv sind. Der nationale Ton ist bei Klingemann gemildert. Die Bannbulle wird, wie bei Werner, bühnenwirksam verbrannt, die entsprechende Aufregung verleiht der Handlung eine länger anhaltende Dynamik. 122 Kapitel 4 Luther wird zum Ketzer erklärt - und an dieser Stelle im zweiten Akt von Klingemanns Stück zeigt sich der entscheidende Unterschied zu Werners Drama. Klingemann stellt Luther als Pazifisten dar, dem jegliche Gewalt fern liegt und der tief erschüttert ist, als er von den Gewaltakten erfährt, die in seinem Namen begangen werden. „ Ich künde Frieden, und ich hass ‘ den Krieg “ (S. 223) sagt er, auch wenn an dieser Stelle das Versmaß dem Inhalt entgegensteht. Und an anderer Stelle, als es während seines Verhörs auf dem Reichstag zu Worms zu Tumulten kommt und ein Gewaltausbruch zu befürchten ist: „ Das Schwert hass ‘ ich “ (S. 298). Ulrich von Hutten, der dann Vertreter nationaler Untertöne wird, und Franz von Sickingen, wie Götz von Berlichingen ein Vertreter der alten Ordnung, sind bei Klingemann neu und ausgedehnt in das Geschehen involviert, so dass phasenweise Klingemanns Drama im Titel hätte durchaus einem dieser Ritter gewidmet werden können. Sicherlich ist auch dies ein bühnenwirksames Zugeständnis an den Zeitgeschmack der Zuschauer. Ein einsichtiger und verständnisvoller Kaiser Karl V., der insgeheim mit Luther sympathisiert ( „ ich achte Luthern! “ [S. 306]), entspricht nicht dem historischen Vorbild, steigert aber unter dem Aspekt der Bühnenwirksamkeit die Spannung. Auf die Hetzrede des Kardinals und päpstlichen Legaten Aleander, wonach Luthers Ketzerei die politische Ordnung des Reichs bedrohe, reagiert der Kaiser lächelnd (vgl. S. 245). Neu ist bei Klingemann, dass Katharina von Bora durch Ulrich von Hutten aus dem Kloster entführt wird. Das erlaubt dem Autor sie auf andere Weise in die Handlung einzuführen, als dies bei Werner der Fall ist. Denn Ulrich von Hutten zeigt sich als Heiratsmakler. Katharina stellt schon beim ersten Kennenlernen fest, dass Luther ihr Mann ist, dies alles wird aber ohne jeglichen Kitsch und ohne Trivialität dargestellt. In ihre monologische Selbstpräsentation fügt Klingemann eine gekonnte Anspielung auf den Urtext aller literarischen Luther-Bilder, die Wittenbergisch Nachtigall von Hans Sachs ein: Belauschte still den Schlag der Nachtigall, Wenn ich um Mitternacht noch einsam wachte, Und streckte meine Hände sehnend aus, [. . .]. (S. 265) Nach ihrer zunehmend leidenschaftlicher werdenden Rede, worin sie aus ihrer Sehnsucht nach Luther keinen Hehl macht, hat sich Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 123 endlich auch Luther in sie verliebt. Katharina ist die Einzige, die Luther darin unterstützt, die Einladung zum Reichstag in Worms anzunehmen. Die Referenz auf Hans Sachs nimmt Klingemann in anderer Weise im fünften Akt wieder auf, wenn er den Kardinal Aleander Luther vorwerfen lässt, dieser habe sich bereits ein literarisches Denkmal setzen lassen durch einen gewissen Schuster aus Nürnberg. Luther nennt den Namen Hans Sachs, worauf der Kardinal antwortet: „ Er hat auf Euch / Ein Liedlein angefertigt, worin Ihr / Die Nachtigall von Wittenberg benamset “ (S. 318 f.). Klingemann fügt eine Anmerkung an und verweist in der Fußnote auf den Originaldruck der Wittenbergisch Nachtigall. Der Autor zeigt damit ein weiteres Mal seine Belesenheit, und es wird immer deutlicher, dass er in seinem Luther-Drama die Geschichte und Literatur zitiert, um mit ihr regelrecht zu spielen. Auch die unverzichtbare, weil dramaturgisch effektive Verwechslungsgeschichte, wonach Luther für tot gehalten wird, letztendlich aber gesund und lebend wieder auftaucht und Katharina die Einzige war, die nicht an seinen Tod geglaubt hatte, trägt wie bei Werner zur Dynamik des Geschehens bei. Ein Giftanschlag auf Luther auf dem Reichstag ist Theaterdonner und eigentlich überflüssig. Lediglich Luthers ruhige Reaktion wird dadurch hervorgekehrt. Ein auffälliger Unterschied ergibt sich in der Darstellung der Bedeutung der Jagd für Luther. Während Werner Luther mit Speer und in Jagdoutfit auftreten lässt, sagt Klingemanns Luther „ Ich lieb ‘ die Jagd nicht mehr, sie widersteht mir “ (S. 338). Es mag die These erlaubt sein, dass Klingemann nur deshalb diese zweite Szene im sechsten Akt einflicht, um auf die entsprechende Textpassage in Werners Stück und deren Trivialität anzuspielen. Klingemann zu unterstellen, dass er die Idee für eine solche Szene von Werner um der Theatralität des Sujets willen übernommen hat, ist wenig überzeugend. Die endreimenden Jamben am Ende einer Szene zur Bedeutungshervorhebung finden sich aber bei beiden Autoren. In der letzten Szene des Stücks lässt Klingemann seinen Luther einige mahnende Worte an die Nachwelt und damit an das Braunschweiger Publikum sprechen. Er wolle nicht, dass sich diejenigen, die sich zur reformatorischen Lehre bekennen, auch Lutheraner nennen (vgl. S. 357). Luthers Wort der ‚ sola scriptura ‘ , allein das Wort der Heiligen Schrift habe zu gelten, steht hinter dieser Textpassage. Nochmals betont Luther, dass er das Wort Gottes friedfertig verkündet wissen will, ohne Schwert und ohne Religionskrieg. Damit endet das Drama, 124 Kapitel 4 und es bleibt ein Denkmal, wie es im Prolog hieß, das „ mehr als Erz und Stein “ (S. 195) ist. In den Kritischen Beiblättern zu den Miszellen für die neueste Weltkunde (Nr. 66, 1806) wird Klingemanns Luther-Drama besprochen. „ Solide Prosa rinnt durch den Kanal der Jamben vom ersten Auftritt, bis zum letzten “ (o. S.). Klingemann liefere „ Hausmannskost “ (ebd.). Das Stück sei weniger poetisch als der Luther seines „ Nebenbuhler[s] “ (ebd.) Zacharias Werner. Aber es sei dem Werner ’ schen Stück dennoch vorzuziehen. Werner habe „ eine Karrikatur mit herrenhutischer Einfassung “ (ebd.) gegeben. Auch wenn man in Klingemanns Stück keiner Poesie begegne, so erfahre man doch historische Tatsachen, anders als bei Werner. Klingemann sei eben ein „ Nachahmer Schillers “ , seine Schauspiele seien „‚ revenants ‘ aus der Schillerschen Dichtungswelt “ (ebd.). Diese durchaus gemischte Beurteilung von Klingemanns Stück kann auch der heutige Leser noch unterzeichnen. Klingemann schreibt unübersehbar in der Nachfolge und das heißt im Stile der klassischen Dramen Schillers. Dieser Dichter ist sein Vorbild, an dem er sich orientiert. Aber so epigonal das in der einen Hinsicht sein mag, so klar überlegen ist das Stück dem Werner ’ schen Luther. Übrigens soll auch Iffland einen Luther unter der Feder gehabt haben, der aber nie ausgeführt, geschweige denn aufgeführt und gedruckt wurde. August Klingemann berichtet in seinem Buch Kunst und Natur (1832) davon, dass es zeitweise Spannungen zwischen ihnen beiden, den Theaterleuten und Autoren, des dramatischen Sujets wegen gegeben habe. Ob nun Klingemanns Luther von Werners Luther oder Werner von Klingemann abhängig ist - denn die Überschneidungen sind teilweise schon frappant - , es fehlt letztendlich der Beweis für ein Plagiat. Für mich ist eine andere Beobachtung entscheidend und möglicherweise erklärt sie diese theater- und literaturgeschichtliche Koinzidenz. War nun schon wiederholt von der Suche nach einem literarischen Luther-Denkmal, ja von einem regelrechten Ideenwettbewerb die Rede, so hat dies folgende Bewandtnis: 1803 wird im Kaiserlich Privilegierten Reichs-Anzeiger ein Ideenwettbewerb ausgeschrieben. Urheber ist die Vaterländisch-literarische Gesellschaft der Grafschaft Mansfeld. 27 Man will anlässlich des Refor- 27 Vgl. Dr. Martin Luthers Denkmal. Vier Schriften zum Wettbewerb der vaterländisch-literarischen Gesellschaft der Grafschaft Mansfeld um ein Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 125 mationsjubiläums im Jahre 1817 ein Denkmal für Luther schaffen und sucht dafür nach geeigneten Vorschlägen. Eine Geldsammlung, ungewöhnlich für diese Zeit, wird gestartet, und eine breite publizistische Diskussion beginnt. Alle Beiträger, die sich an dieser öffentlichen Debatte beteiligen - mit Ausnahme Jean Pauls - , sind sich darin einig, dass Luther ein Denkmal gebührt. Über die Art der Ausführung, ob Standbild oder ein symbolisches Denkmal wie beispielsweise ein nach ihm benanntes Bildungsinstitut, wird heftig debattiert. Die vaterländische literarische Gesellschaft in der Grafschaft Mansfeld hatte sich am 1. 1. 1801 konstituiert und sogleich beschlossen, Luther ein Denkmal zu setzen. Die Gesellschaft reklamiert die Idee des Wettbewerbs als ihr „ Eigenthum “ (Reichsanzeiger vom 31. 12. 1803, Sp. 4608) und will sich damit die Deutungshoheit darüber sichern, was ein würdiges Denkmal Luther zu Ehren sei. Den Ausschreibungstext erhält der vielgelesene Reichsanzeiger zur Veröffentlichung und ist mit dem Datum des 5. 12. 1803 unterzeichnet. Der Herausgeber des Reichsanzeigers ist der Volksaufklärer und Publizist Rudolph Zacharias Becker (1752 - 1822), vor allem bekannt geworden durch sein Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute (1788/ 98). Becker gab 1791 die Zeitung Anzeiger der Deutschen heraus, die ab 1793 Reichsanzeiger 28 hieß und ab 1807 Allgemeiner Anzeiger der Deutschen genannt wurde. Sie war eine der am weitesten verbreiteten moralisch-politischen Zeitungen und Becker ihr alleiniger Herausgeber. Becker kommentiert mit Datum vom 15. 12. 1803 den Spendenaufruf, er werde dieses „ patriotische Unternehmen “ (Sp. 4609) mit Vergnügen unterstützen und das Spendengeld einstweilen kommissarisch sammeln. Dies alles wird im Reichsanzeiger am 31. 12. 1803 veröffentlicht und ist zusammen mit dem Ausschreibungstext unter der Rubrik Nützliche Anstalten und Vorschläge erschienen: Wir machen also hierdurch allen Verehrern des großen Luthers in allen Gegenden der Erde bekannt, daß wir im Jahre 1817 am Reformations Jubiläo D. Luthern, mitten in der Grafschaft Mansfeld, auf einem der Luther-Denkmal aus den Jahren 1804/ 05. Hgg. v. Martin Steffens. Esens 2002, S. Vf. 28 Vollständiger Titel: Kaiserlich privilegirter Reichs-Anzeiger oder Allgemeines Intelligenz-Blatt zum Behuf der Justiz, der Polizey und der bürgerlichen Gewerbe im Teutschen Reiche, wie auch zur öffentlichen Unterhaltung der Leser über gemeinnützige Gegenstände aller Art. 126 Kapitel 4 erhabensten Orte, ein, seiner Größe und unsrer Nationaldankbarkeit würdiges Monument errichten werden, und ersuchen alle Verehrer dieses um die Menschheit so hoch verdienten Mannes, dieses Unternehmen durch freywillige Beyträge zu unterstützen. [. . .] Welcher Art wird diese Denkmahl seyn? - Noch können wir nicht darüber entscheiden. (Sp. 4608 f.) Dass damit nicht nur Geldspenden gemeint waren, sondern tatsächlich Ideen und Vorschläge zur Denkmalgestaltung gesucht wurden, geht aus dem weiteren Verlauf des Wettbewerbs hervor. Der Ausschreibungstext prägt den wohl einmaligen Begriff der ‚ Nationaldankbarkeit ‘ und macht damit unmissverständlich deutlich, dass diese Gesellschaft Luther als nationale Ikone zu vereinnahmen gedenkt. Nun ist die Frage, wie schnell und wie weit sich dieser Aufruf zu einem Ideenwettbewerb im deutschen Reichsgebiet verbreitete. Um den Angaben auf dem Titelblatt nach zu urteilen, war der Reichsanzeiger bei allen Postämtern und in allen Buchhandlungen jeden Monat zu bekommen. Genaue Zahlen über Auflagenhöhe und Verbreitungsgrad der Zeitung liegen nicht vor. Man darf aber davon ausgehen, dass alle maßgeblichen publizistischen Multiplikatoren erreicht wurden und so eine angemessene flächendeckende Versorgung der bürgerlichen Intelligenz mit Informationen gewährleistet war. Immerhin spricht ein anonymer Verfasser in einem Beitrag für die Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 1805 über die öffentliche Denkmalsdebatte von einer regelrechten Bewegung, die viele Menschen dazu bringe, sich mit Luther wieder näher zu befassen. 29 Der Spendenaufruf war ebenso erfolgreich wie die Ideensammlung. Die Abend-Zeitungs [! ] Intelligenzblatt für Literatur und Kunst vom 23. 2. 1805 teilt mit, dass bereits 7.218 Reichstaler gesammelt worden seien, das wären heute etwa 282.000 Euro. Bis 1816 erhöht sich dieser Betrag inklusive Zinsen auf 30.000 Taler, das vermeldet die National- Zeitung der Deutschen am 15. 12. 1819. Um diese Zahlen historisch einordnen zu können, seien zum Vergleich folgende Jahreslöhne herangezogen: In Preußen verdiente um 1800 ein Präsident etwa 3.000 Taler im Jahr, ein Kriegsrat 700 Taler, ein Kanzlist 280 Taler und ein Kopist 50 Taler. In Weimar betrug das Jahreseinkommen eines 29 Vgl. [Anon.: ] [Rezension der Schrift: D. Martin Luthers Denkmal], in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 100/ 1, (1805), S. 129 - 132. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 127 Gymnasialprofessors 600 Taler im Jahr, ein Bürgermeister bekam 500 Taler, ein Stadtschreiber 285 Taler und Schillers Diener Georg Gottfried Rudolph (1778 - 1840) verdiente etwa 40 Taler jährlich bei freier Kost und Logis. Die Einkünfte Goethes bilden eine Ausnahme, er bekam von seinem Verleger Cotta im Zeitraum zwischen 1806 und 1808 für seine zwölfbändige Werkausgabe 10.000 Taler Honorar. 30 Eine Vielzahl von Ideen und Vorschlägen wurde gedruckt. Die vier überzeugendsten Antworten auf die Ideenausschreibung wurden 1804 veröffentlicht. Diese Schrift mit dem Titel Martin Luthers Denkmal wird in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (2. Jg., Bd. 4, Nr. 291) im Dezember 1805 besprochen. „ Es ist [. . .] ganz Deutschland das Unternehmen bekannt worden, von welchem hier die Rede ist “ (Sp. 463). Luther selbst sei „ kühn der betäubenden Dunkelheit des Aberglaubens mit der Fackel der Wahrheit entgegen[getreten] “ (ebd.). Während andere Nationen Statuen errichteten aus Dankbarkeit ihren Regenten, Politikern oder Militärs gegenüber, so fehle in Deutschland ein solches Dankbarkeit bekundendes Denkmal Luthers. Der Rezensent fragt, „ wo aber prangt ein eigentlich so genanntes öffentliches Monument der Monumente dieses großen Mannes? “ (ebd.). Täglich kämen neue Beiträge zu diesem Ideenwettbewerb hinzu, eine breite Debatte darüber finde statt. Dann äußert der Rezensent zum Schluss noch diesen Wunsch: „ Herdern, diesen denkenden Schätzer Luthers, bey Ausführung dieses Plans, noch am Leben, und zu Rathe gezogen zu sehen! “ (Sp. 464). Auch in der Neuen Leipziger Literaturzeitung im 68. Stück vom 26. 5. 1806 wird die Schrift besprochen. Der Rezensent hat schon damals den Wunsch geäußert, da der Reichsanzeiger die meisten Beiträge liefere, „ wohl könnte einmal eine kritische Revision dieser Aufsätze gewünscht werden “ (Sp. 1088). Das Denkmal selbst bezeichnet er als Nationalangelegenheit. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen fördert das Projekt eines Luther-Denkmals frühzeitig und hatte es 1821, zum Zeitpunkt der Denkmalerrichtung, längst zu seiner eigenen Sache gemacht, nachdem zuvor infolge der napoleonischen Besetzung Preußens die Angelegenheit nur schleppend vorangegangen war. 31 Architektur- 30 Alle Angaben nach Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit. Berlin 2015, S. 494 ff. 31 Zur architekturgeschichtlichen Bedeutung dieses Ideenwettbewerbs und seiner Durchführung vgl. Klaus Jan Philipp: Um 1800. Architekturtheorie 128 Kapitel 4 geschichtlich bedeutet dieses Denkmal die Ablösung des architektonischen Denkmals durch ein naturalistisches Standbild, die bürgerliche Denkmalsinitiative wird durch eine monarchische Verfügung zur Denkmalsetzung abgelöst. 32 Die politischen Umstände sind nun günstig für ein nationales Denkmal, denn dies ist der Ideenwettbewerb von Anfang an, ein patriotisches Unternehmen. So wird er verstanden und so wird er auch benannt in den diversen Beiträgen, die kontinuierlich den Fortgang des Wettbewerbs und der Sammelaktion publizistisch begleiten (eine detaillierte wissenschaftliche Auswertung fehlt, aber im Internet sind zahlreiche zeitgenössische publizistische Quellen zugänglich). Die Suche nach einem starken Luther-Denkmal ist Ausdruck der Sehnsucht nach nationaler Einheit. Ob das Wittenberger Denkmal dann weniger ein einheitlich nationales als ein preußisch-protestantisches wurde, mag unterschiedlich beurteilt werden. 33 Besonders die Diskussion nach der Reichsgründung 1871 macht deutlich, dass letztlich der nationale Ton über den konfessionellen Unterton siegte. Ein Fackelumzug in Wittenberg anlässlich des Reformationsfestes von 1883 unterstreicht exemplarisch diese Vermengung von Religion und Politik im patriotischen Bemühen. Der Luther-Choral Ein feste Burg wurde ebenso abgesungen wie das preußische Heil dir im Siegerkranz und das Deutschland-Lied, die konfessionellen und die nationalen Memoria, also Bilder der Erinnerungskultur hatten sich erfolgreich gemischt. Der Prozess der zunehmenden Säkularisierung und Rekonfessionalisierung im 19. Jahrhundert ist Voraussetzung für das, was als Dekorierung des öffentlichen Raums heutigentags gelesen wird. Nicht nur die Kirche, die ganze Stadt Wittenberg wird zum Ort festlichen Gedenkens. 34 Lange zuvor, am Beginn des Jahrhunderts, haben Zacharias Werner und August Klingemann dieses Denkmal vorweg auf die Bühne gebracht. Die Literatur antizipiert mit ihrem Luther- Bild einen öffentlichen Prozess bildhafter Erinnerungskultur. Am Ende wurde das Luther-Denkmal nach den Plänen von Johann und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1810. Stuttgart, London 1997, bes. S. 161 - 173. 32 Vgl. Philipp: Um 1800, S. 173. 33 Vgl. Michael Fischer, Christian Senkel, Klaus Tanner (Hg.): Reichsgründung 1817. Ereignis - Beschreibung - Inszenierung. Münster 2010, S. 141. 34 Vgl. Silvio Reichelt: Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg. Genese, Entwicklung und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes. Göttingen 2013, S. 46 f. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 129 Gottfried Schadow (1764 - 1850) und Karl Friedrich Schinkel (1781 - 1841), von dem der Entwurf des Baldachins stammte, 1821 auf dem Marktplatz in Wittenberg aufgestellt. Damit begann im Übrigen der bürgerliche Denkmalkult in Mitteleuropa, erstmals wurde eine nichtadlige Person in einem Ganzkörperstandbild öffentlich geehrt. 35 Dass es sich um ein nationales Identifikationsangebot handelte, ähnlich wie die im 19. Jahrhundert sehr beliebten Luther-Eichen, steht außer Frage. 36 Auch in der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Zeitschrift Neue allgemeine deutsche Bibliothek erscheint im 101. Band im Jahr 1805 eine Rezension zur Ausschreibung eines Luther-Denkmals. Darauf bezieht sich Jean Paul (1763 - 1825) mutmaßlich in seinem Essay Wünsche für Luthers Denkmal von Musurus, der im August 1805 entstand und noch im gleichen Jahr als Zeitschriftenbeitrag erschien. Später hat er den Text in sein Buch Dr. Katzenbergers Badereise (1809) übernommen. In einer Fußnote gleich zu Beginn weist Jean Paul darauf hin, dass nach mehreren Jahren des Sammelns bereits 6.000 Taler zusammengekommen seien, um ein Luther-Denkmal aus Spenden zu finanzieren. Jean Paul, der seine Schrift in einem Brief vom 18. 3. 1806 „ meinen Luther und Anti-Mannsfeld [! ] “ 37 nennt, also eine gegen den Mansfelder Ideenwettbewerb gerichtete Publikation, gießt seinen Spott darüber aus, dass die gesamten Lutheraner Denkmal genug seien und letztlich wohl alle, denen eine Bedeutung zugesprochen werde, ein Denkmal erhalten könnten, auch Literaten. Die hohe Summe erfährt Kritik, denn jeder Kirchturm könne als Ehrensäule für Luther betrachtet werden. Es ist nicht verwunderlich, dass Jean Paul ein Schiller-Denkmal fordert. Möge Luther - dieser geistige Donnermonat - uns auch hierin reformieren und beleben, obwohl nur mit dem Regenbogen seines Denkmals, und die Deutschen den Griechen nacherziehen! - Ohne Denkmäler für Unsterblichkeit gibts kein Vaterland, aber freilich auch ohne dieses nicht jene. Soll der gemeinen Vergötterung oder Versteinerung der Fürsten und Reichen nicht die höhere Apotheose regierender und reicher Geister das Gleich- 35 Vgl. Wolfgang Brückner: Luther - Heiliger Mann oder falscher Prophet? Legende und Antilegende zwischen 1517 und 1630, in: Christine Strobel, Michael Neumann (Hg.).: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination - Renaissance. Regenburg 2006, S. 37 - 57, hier S. 39. 36 Reichelt: Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg, S. 94 ff. 37 Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 3. Abteilung, Bd. 5, S. 83. 130 Kapitel 4 gewicht halten? Soll nichts verewigt werden als ein Name, den wir vergessen oder nicht kennen? 38 Das ist ein klares Plädoyer für ein Denkmal, wenngleich Jean Paul auch über die Art und Weise wie Geld dafür gesammelt wird spottet. Die öffentlichkeitswirksame und die Nationalidentität stiftende Funktion eines Denkmals jedenfalls erkennt und befürwortet Jean Paul. Das Luther-Denkmal wird zum Selbstvergewisserungspunkt der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Klingemann und Werner mögen nun diese Debatte in der literarischen Öffentlichkeit sowie in deren allgemeinen bürgerlichen Öffentlichkeit mitverfolgt haben. Ihre Luther-Dramen sind dann der Versuch, ein literarisches Denkmal Luthers zu schaffen. Luther wird damit endgültig der bürgerlichen Öffentlichkeit einverleibt. Es ist ganz offensichtlich, Werner und Klingemann wenden sich dem Sujet Martin Luther als Bühnenstoff zu, da spätestens 1803 mit der Ausschreibung jenes Ideenwettbewerbs um das beste Luther-Denkmal in der Öffentlichkeit und in der literarisch und kulturell gebildeten Bürgerschicht über die Bedeutung Luthers neu debattiert wird. Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dessen amtliches Ende am 6. 8. 1806 besiegelt ist, gilt Luther nun als eine historische Präfiguration politischer Willensbildung und politischer Faktizität. Das kulturelle Emblem Luther wird zu einem integralen Moment identitätsstiftender Nationenbildung. Werner und Klingemann liefern dieses politisch gewollte Denkmal Luther als literarischen Text. Sie reagieren damit auf eine offensichtliche politische und gesellschaftliche Stimmung, was in der Luft liegt, greifen sie auf. Bestätigt wird eine solche Einordnung auch dadurch, dass selbst ein pietistisch gesinnter Zeitgenosse wie Johannes Daniel Falk (1768 - 1826) die „ patriotischen Bemühungen “ 39 von beiden, von Werner und Klingemann, durchaus erkannt hat. Luther sei eben eine ‚ kolossale Figur ‘ , an der sich die Gesellschaft aufzurichten vermag. 40 Der Autor ist übrigens jener Falk, von dem 1830 eine Liedersammlung mit dem Titel Martin Luther und die Reformation in Volksliedern erscheinen wird. 38 Jean Paul: Wünsche für Luthers Denkmal von Musurus, in: Ders.: Werke. 6. Bd. München 1963, S. 310 - 331, hier S. 329. 39 Johannes Falk ’ s auserlesene Werke. (Alt und neu.) In drei Teilen. 3. Tl. Narrenbüchlein. Leipzig 1819, S. 300. 40 Vgl. Johannes Falk ’ s auserlesene Werke, S. 297. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 131 Von ihm stammt auch der ursprüngliche Text des Weihnachtslieds O du fröhliche (1816). Johann Gottfried Herder hatte in seinem Luther-Gedicht, das er 1774 im Wandsbecker Boten von Matthias Claudius veröffentlichte, noch ganz im Sprach- und Interpunktionspathos des Sturm und Drang gedichtet: „ Mächtige Eiche! / Deutsches Stamms! Gotteskraft! “ (s. o.). Nun im 19. Jahrhundert ist die deutsche Eiche Luther zum Standbild erstarrt. Demgegenüber schafft die Literatur ein bewegtes, lebendiges Denkmal, und das knapp zwei Jahrzehnte zuvor. Die Literatur entwirft und entwickelt ihre ganz eigene Erinnerungskultur, die sich nicht nur an den Bedürfnissen des Marktes, also den Lesegewohnheiten und Lesererwartungen wie im Falle Werner und Klingemann orientiert, sondern die durchaus auch zukunftsweisend, anspruchsvoll sein kann wie im Falle Hölderlin und Kleist. In Heinrich von Kleists (1777 - 1811) Novelle Michael Kohlhaas (1810) sei, so schreibt Gerhard Hauptmann, „ der schwächste Luther “ 41 zu finden. Das ist mit Sicherheit eines der krassen literarischen Fehlurteile des 19. Jahrhunderts. Schon im Jahr 1805 hat Kleist mit der Arbeit am Kohlhaas begonnen; ein Teil wurde 1808 in einer Zeitschrift veröffentlicht und 1810 folgte die Buchausgabe mit dem vollständigen Text. Auszuschließen ist nicht, dass auch Kleist von dem Ideenwettbewerb um das beste Luther-Denkmal gehört oder sogar den Ausschreibungstext selbst gelesen hatte. Vielleicht hat Kleist aber auch lediglich die Frage nach den preußischen Tugenden interessiert, die er unter der Allianz von Protestantismus und Preußentum in einem Text figurieren wollte. Immerhin war am 9. 10. 1806 die Kriegserklärung Preußens an Frankreich erfolgt, am 14. 10. 1806 begegneten sich die beiden Heere in der sogenannten Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt, und am 27. 10. 1806 zog Napoleon als Sieger in Berlin ein. Die militärische Niederlage Preußens hatte Gebietsverluste und hohe Reparationszahlungen zur Folge. Und Kleists Wort „ in Staub mit allen Feinden Brandenburgs “ , der Schlussvers aus seinem Drama Prinz Friedrich von Homburg (1809/ 10), markiert deutlich seine Fixierung auf Wiederherstellung nationaler und das 41 Zitiert nach: Peter Sprengel: Hauptmann und Luther, oder: Die unvollendete Nation, in: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Hgg. v. Christiane Caemmerer u. a. Amsterdam 2000, S. 419 - 441, hier S. 421. 132 Kapitel 4 heißt bei Kleist preußischer Identität. 42 Wer daran zweifelt, dem sei Kleists Aufsatzversuch Über die Aufklärung des Weibes zur Lektüre empfohlen, den er am 16. 9. 1800 für Wilhelmine von Zenge (1780 - 1852) aufsetzte. Darin schreibt er: „ Wer steht uns dafür, daß nicht in kurzem ein zweiter Luther unter uns aufsteht, und umwirft, was jener baute. Aber in uns flammt eine Vorschrift - und die muß göttlich sein, weil sie ewig und allgemein ist; sie heißt: erfülle deine Pflicht; und dieser Satz enthält die Lehren aller Religionen “ 43 . Entscheidend ist - und das macht diesen Text für unseren Zusammenhang so bedeutsam, wobei zu betonen ist, dass dies hier nur exemplarisch und keineswegs erschöpfend behandelt werden kann - die Tatsache, dass Kleists Luther in der Traditionslinie des minimalisierten Luther-Bildes nicht als ein historischer Koloss auftritt, der unverrückbar den Textmittelpunkt darstellt, sondern vielmehr die erste Hälfte der Novelle gleichsam unter der Oberfläche organisiert. Luther ist präsent, ohne namentlich in Erscheinung zu treten. Er ist also nicht erst mit der Einführung als handelnde Figur und als Antipode des Michael Kohlhaas im Text gegenwärtig. Kleist ist nicht an einer wahrheitsgemäßen historischen Abbildung Luthers interessiert - so sind auch die beiden Briefe Luthers im Text freie Erfindungen des Autors. Wenn man die Kohlhaas-Novelle mit Luther liest, ergeben sich andere Leseverknüpfungen und damit andere Deutungsschwerpunkte. 44 Michael Kohlhaas erfährt eine Situation, die er als Unrecht empfindet. Dem, was er subjektiv für Unrecht hält und was teils auch objektiv Unrecht ist, versucht er selbstgesetztes Recht entgegenzustellen und sich Recht zu verschaffen. Hier kollidiert sein Rechtsgefühl bereits das erste Mal mit einer fundamentalen Glaubenseinsicht, denn es ist allein Gott, der dem Menschen Recht verschafft. Seinem Knecht Herse, den er bei den beiden Pferden zurückgelassen hat und der nach Misshandlungen durch den Junker Wenzel von Tronka fliehen musste, will er Gerechtigkeit widerfahren lassen. Als Beglaubigung dieses Schwurs will er das Abendmahl darauf neh- 42 Vgl. Wolfgang Thorwart: Heinrich von Kleists Kritik der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Würzburg 2004, S. 249 ff. 43 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hgg. v. Helmut Sembdner. München 1984. 2 Bde., hier Bd. 2, S. 317. 44 Einen ähnlichen Ansatz mit einem anderen Ergebnis verfolgt Senkel, er liest Kleists Luther als Dekonstruktion nationaler Luther-Topik, vgl. Senkel: Patriotismus und Protestantismus, S. 154 ff. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 133 men. Da er lutherisch gesinnt ist bedeutet dies, das neben der Taufe zweite protestantische Sakrament zur Geltung zu bringen. Diesem Schwur ist er verpflichtet, er legt ihn als pseudomilitärischen Eid ab, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass dies theologisch gesehen einen ungeheuren Frevel darstellt. Denn das Abendmahl setzt die Bitte um Vergebung der Sünden voraus und den Willen zur Vergebung seiner Feinde. In der Summe maßt sich Michael Kohlhaas eine Rolle an, die aus christlich-protestantischem Verständnis allein Gott zusteht. Kohlhaas legt seiner Frau den „ inneren Zusammenhang der Geschichte “ (S. 20) dar, seine Entschlossenheit, Öffentlichkeit zu schaffen und Gerechtigkeit zu fordern und dass es Gottes Wille wäre, diese politische Unordnung aufzuhalten. Kohlhaas gebraucht den Begriff ‚ Werk Gottes ‘ , das wirft die theologische Frage auf, inwieweit der Mensch fähig und berechtigt ist, ein Werk Gottes auszuführen, zu vollenden oder umgekehrt, etwas überhaupt als ein Werk Gottes zu erkennen. Kohlhaas reicht Klage ein, verkauft Haus und Hof, um die Kosten für seinen Prozess aufbringen zu können. Luthers Zwei-Reiche-Lehre wird nun subtil uminterpretiert. Kohlhaas sieht das äußere, weltliche Reich, die Gesellschaft in einer „ ungeheuren Unordnung “ (S. 24), während sein Inneres nun in Ordnung geraten ist. Die Aussage, der Herr sei gerecht, bezieht sich zwar kontextuell auf den Landesherrn, an den sich Kohlhaas nach dem Willen seiner Frau wenden soll, eröffnet zugleich aber auch eine theologische Ambivalenz. Denn man kann darin ein verstecktes Zitat aus Psalm 11, 7 oder 145, 17 erkennen, und wenn sich Kohlhaas darauf beruft, dass Gott gerecht ist und er, Kohlhaas, Gottes Werk ausführt, dann muss in der Logik dieses Gedankens auch Kohlhaasens eigenes Handeln gerecht sein. So rechtfertigt er sich gegenüber sich selbst und gegenüber seiner Familie und gegenüber der Gesellschaft. Er nimmt eine religiöse Semantik für sich in Anspruch, die unterstreicht, dass es in seinem Fall um viel mehr geht als um eben diesen Einzelfall. Das ist eine zutiefst lutherische, ja geradezu reformatorische Grundhaltung, davon überzeugt zu sein, dass das eigene Tun und Lassen Gottes Gnade und Schutz erfährt. Luther ist also im Text präsent, ohne als Figur gegenwärtig zu sein. Als seine Frau auf dem Sterbebett liegt und ein lutherischer Geistlicher die Sterbebegleitung übernimmt, zeigt sie mit dem Finger auf einen Vers in der Bibel und bedeutet damit ihrem Mann nichtsprachlich, woran er sein Handeln ausrichten solle. Ihr Finger weist 134 Kapitel 4 auf die Textstelle Matthäus 5, 44. Hier findet sich das Jesuswort: „ Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen “ . Dazu ist Kohlhaas aber schon nicht mehr in der Lage. Stattdessen erklärt er dem Junker die Fehde, er fordert ihn auf, die beiden Rappen innerhalb von drei Tagen zurückzugeben und eigenhändig die abgemagerten Tiere wieder dick zu füttern. Kohlhaas beruft sich dabei auf seine durch Geburt gerechtfertigte Macht, was rechtshistorisch eine Verletzung bestehender Rechtsnormen bedeutet. Kohlhaas ist sich des Dilemmas, in das er sich begibt, nicht bewusst. Um Rechtsordnung wiederherzustellen - worauf er sich in seinem Auftrag Gottes Werk auszuführen beruft - , muss er diese Rechtsnormen verletzen. Denn mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 war formal die private Fehde im Reich verboten. Kohlhaas versammelt sieben seiner Knechte um sich, um das „ Geschäft der Rache “ (S. 31) auszuführen. Er nimmt damit für sich eine Handlungsmaxime in Anspruch, die nach biblischem Verständnis allein Gott zusteht. Das neutestamentliche Gottesverständnis hat keinen Platz für einen Rachegott, schon gar nicht legitimiert es einen Akt der Selbstvergeltung. Paulus schreibt im Brief an die Römer 12, 19 und bezieht sich dabei auf die alttestamentliche Stelle 5. Mose 32, 35: „ Rächt euch nicht selbst [. . .], sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‚ Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr ‘“ . Die Selbsträchung ist - lutherisch gedacht - völlig ausgeschlossen, es gibt kein individuelles Widerstandsrecht. 45 In der Kleist-Forschung wird wiederholt auf Luthers Schrift Ein treu Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522) verwiesen. Darin rät Luther einerseits kategorisch davon ab, körperliche Gewalt anzuwenden ( „ Darumb darffistu nit begeren eyner leyplichen auffruhr “ [WA 8, S. 683]); andererseits erlaubt er einen schmalen Grat der Selbstwehr ( „ den feynd magstu hart genug straffen odder schlahen, aber mit dem strick mustu senffte unnd mit fürchtenn umbgehen, [. . .], die vorstockte tyrannen, magstu woll hartt antasten [. . .], denn sie wollen nit horen “ [ebd., S. 687]). Die Inanspruchnahme dieses Textes bleibt also problematisch, da Luthers Haltung ambivalent ist 45 Vgl. Claudia Brors: Anspruch und Abbruch. Untersuchungen zu Heinrich von Kleists Ästhetik des Rätselhaften. Würzburg 2002, S. 170 ff. - Zu einer anderen, weil dezidiert positivistisch-rechtshistorischen Argumentation als der oben vorgetragenen gelangt Joachim Rückert: „ . . . der Welt in der Pflicht verfallen . . . “ . Kleists Kohlhaas als moral- und rechtsphilosophische Stellungnahme, in: Kleist-Jahrbuch 1988, S. 375 - 403. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 135 und sich im Übrigen die Schrift des Problems der drohenden Übergriffe auf Priester und Klöster annimmt und vor diesem konkreten historischen Hintergrund der konfessionellen Gewalt argumentiert. Die sieben ihm treu ergebenen Knechte werden wenig später von Kohlhaas mit der christlichen Anrede Brüder betitelt (vgl. S. 36), er bewaffnet sie und gibt ihnen Pferde und eröffnet seinen Rachefeldzug. Die Siebenzahl verweist wiederum auf einen religiösen Kontext. Die Zahlensymbolik kann sich ebenso auf den siebten Wochentag, an dem Gott die Schöpfung vollendet hat (und in Analogie Kohlhaas seine Rache zu vollenden beginnt) beziehen wie auch auf die Offenbarung des Johannes, worin die Siebenzahl des Öfteren auftaucht; markant etwa in der Bedeutung, wonach sieben hohe engelgleiche Wesen vor dem Thron Gottes erscheinen und ihm dienen (vgl. Offb 1, 4). Auch dieses Bild imaginiert den Rächer Kohlhaas auf dem Thron Gottes, er kehrt damit die christlich gerichtete Menschwerdung Gottes um in die Gottwerdung eines Menschen. Der Erzähler Kleist vergleicht denn auch den Überfall des Kohlhaas auf das Schloss und seine Bewohner, der mit unbeschreiblich roher Gewalt durchgeführt wird, mit dem Engel des Gerichts, der vom Himmel herabfährt. Das spielt auf die sieben Gerichtsengel an, die die letzten sieben Plagen bereithalten und die den Zorn Gottes vollenden werden (vgl. Offb 15, 1 - 2). Dann verfasst Kohlhaas sein ‚ Kohlhaasisches Mandat ‘ , worin er die Öffentlichkeit auffordert, seinen gerechten Krieg zu unterstützen. Nun erscheint der Selbsträcher in der Rolle Luthers, der Sendschreiben verfasst und in die Öffentlichkeit stellt; eine zweite Mandatsschrift folgt. Die auf einem Einblattdruck mitgeteilte Drohung, er werde die Stadt Wittenberg in Schutt und Asche legen, wird öffentlichkeitswirksam an den Türpfeiler einer Kirche angeschlagen (vgl. S. 36). Der reformatorische Bezug zu Luthers Thesenanschlag ist offensichtlich. Wiederum in einem anderen Sendschreiben, das er anlässlich des Versuchs, Leipzig niederzubrennen, ausstreut, nennt sich Kohlhaas selbst Statthalter des Erzengels Michael, der zu den Menschen gekommen sei, alle, die ihm nicht folgten und die Partei für seinen Feind ergriffen, mit Feuer und Schwert zu bestrafen. Nach Offb 12, 7 - 9 kämpft Michael mit seinen Engeln gegen den Drachen, das ist der Teufel, und verbannt ihn aus dem Himmel. Kohlhaas will eine bessere Ordnung der Dinge errichten und nennt seinen Aufenthaltsort den Sitz einer provisorischen Weltregierung. Die Ordnung der Dinge ist theologisch gesehen Gottes Weltordnung, Gottes Schöpfung, die neu 136 Kapitel 4 zu gestalten sich Kohlhaas anheischig macht. Den Anspruch auf eine Weltregierung zu formulieren hebt die Allmachtsphantasie des Kohlhaas hervor, es bedeutet, den ultimativen Zugriff auf die Herrschaft des einen über alle anderen zu bekommen. Das ist Tyrannei. Sein Herrschaftsbegehren camoufliert Kohlhaas also mit biblischem Anspruch. Gott ist nun außer Kraft gesetzt. In dieser Situation wird Luther als handelnde Figur eingeführt. Überall im Kurfürstentum lässt dieser ein Plakat anschlagen, das sich mit einer Botschaft direkt an Kohlhaas wendet. Er appelliert nicht einmal an ihn, seine Selbstrache aufzugeben und sich der weltlichen wie der göttlichen Ordnung zu stellen, sondern er droht mit diesseitiger und jenseitiger Verdammnis. Vom Text her bleibt unklar, weshalb sich Luther eigentlich in diese Sache einmischt, wer ihn konkret beauftragt hat oder ob er aus freien Stücken handelt. Kleist geht es an diesem Punkt auch gar nicht um historische Genauigkeit, das zeigt schon der Wortlaut der Botschaft. Kontrastiert man aber den Kleist ’ schen Luther mit dem historischen Luther, der unter dem Datum des 8. 12. 1534 einen Brief an Hans Kohlhase, der ihn um Rat gefragt hatte, geschrieben hat, dann wird diese Diskrepanz deutlich: Nu ist Selbsrichter sein und Selbsrichten gewißlich unrecht, [. . .] könnt Ihr das Recht nicht erlangen, so ist kein ander Rat da, denn Unrecht leiden. [. . .] Demnach, so Ihr meines Rats begehret (wie Ihr schreibet), so rate ich, nehmet Friede an, wo er Euch werden kann, und leidet lieber an Gut und Ehre Schaden, [. . .]. [. . .] und lasset Euch Euern Schaden von Gott zugefüget sein und verbeißet ’ s umb seinetwillen, [. . .]. (WA BW 7, S. 124 f.) 46 Bei Kleist sucht Kohlhaas Martin Luther zu Hause auf. Der Selbsträcher, in dessen Handeln man durchaus Überblendungen mit den radikalen Ansichten eines Thomas Müntzer erkennen kann, begegnet Luther voller Ehrfurcht und Ehrerbietung. Sein Anspruch ist kein geringer, er möchte Luther und dessen Meinung widerlegen, dass er ein ungerechter Mann sei. Luther lässt sich darauf nicht ein, für ihn ist Kohlhaas ein gottverdammter, rasender, unbegreiflicher und entsetzlicher Mensch. Die Reihung der Prädikationen wirkt wie eine 46 Zum historischen Kohlhase und dessen rechtsgeschichtlicher Situation vgl. Malte Dießelhorst, Arne Duncker: Hans Kohlhase. Die Geschichte einer Fehde in Sachsen und Brandenburg zur Zeit der Reformation. Frankfurt a. M. 1999. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 137 Schutzwand gegen den Statthalter des Erzengels Michael. Kohlhaas bittet Luther um die Austeilung des Abendmahls, wozu Luther zunächst auch bereit ist. Doch als Kohlhaas auch seinem Erzfeind, dem Junker vergeben soll, weigert er sich, und Luther bricht das Gespräch ab, da so eine Versöhnung mit Gott nicht möglich sei. Am Ende kommt Luther Kohlhaas entgegen und verspricht, mit dem Kurfürsten über seinen Fall sprechen zu wollen. Tatsächlich setzt Luther tags darauf ein Sendschreiben an den Kurfürsten von Sachsen auf, worin er auf die öffentliche Bedeutung dieses Falles hinweist. „ Die öffentliche Meinung, bemerkte er, sei auf eine höchst gefährliche Weise, auf dieses Mannes Seite, [. . .] “ (S. 49). Was Kleist hier öffentliche Meinung nennt, wird in der Forschung als ein Zusammenspiel informeller Meinungsformen beschrieben. Dazu zählen die öffentliche Meinung der Geselligkeit, wie sie in Wirtshäusern und an Stammtischen zu hören ist, die öffentliche Meinung der Straße und des Markplatzes, frühneuzeitlich meist als ‚ gemeine Gassenred ‘ bezeichnet und die private öffentliche Meinung, wie sie in der Familie oder im Arbeitsumfeld geäußert wird. 47 Luther kann zwar beim Kurfürsten eine Amnestie erwirken, doch wird diese seitens des Kurfürsten von Sachsen und der Repräsentanten des Staates nicht eingehalten. Luther wird unter juristischen Argumenten und verfahrenstechnischen Erklärungen aus dem weiteren Verlauf des Prozesses Kohlhaas gegen Junker von Tronka herausgenommen. So wie Luther in die Erzählung eingetreten war, so verschwindet er wieder aus ihr. Erst die erzählerische Episode mit dem Kurfürsten von Sachsen, der, auf der Jagd befindlich, zufällig Kohlhaas begegnet, bringt der Erzählung die unerwartete Wendung. Kohlhaas ist im Besitz einer Kapsel, die eine Prophezeiung enthält. Eine Zigeunerin hatte dem Kurfürsten von Brandenburg vorhergesagt, dass seiner Dynastie Gefahr drohe. Sie schreibt den Namen des letzten Regenten dieses Hauses auf, bevor das Geschlecht erlischt, dazu die Jahreszahl, wann sich dies ereignen wird, und den Namen dessen, der sich die Herrschaft gewaltsam aneignen wird. Diesen Zettel versiegelt sie in einer Kapsel und übergibt diese dem Kohlhaas. Wie genau dieser zu der Kapsel gelangt, da sich eine dichte Menschenmenge zwischen ihm und der Zigeunerin befindet, bleibt unklar. Jedenfalls sucht der 47 Beschreibungskategorien nach Robert W. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland 1400 - 1800. Hgg. v. Lyndal Roper. Göttingen 2002, S. 272. 138 Kapitel 4 Kurfürst von Brandenburg von nun an den Kapselträger, den er nicht als den überall gesuchten Kohlhaas identifiziert hat. Er bietet ihm sogar Freiheit und Leben an, doch Kohlhaas lehnt ab, und selbst seine Intervention beim Kaiser in Wien, den Kohlhaas nicht hinzurichten, bleibt erfolglos. Die Zigeunerin, die eine eigenartige Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau aufweist und auch wie sie Elisabeth heißt, besucht ihn im Gefängnis kurz bevor er hingerichtet werden soll. 48 Auch ein Theologe namens Jakob Freising taucht als Abgesandter Martin Luthers auf und überbringt ihm einen Brief, dessen Inhalt nicht bekannt ist, da der Brief, wie der Erzähler berichtet, verloren gegangen ist. Kohlhaas empfängt von Freising „ die Wohltat der heiligen Kommunion “ (S. 100). Das ist ein offensichtlicher Widerspruch zu der Tatsache, dass Kohlhaas lutherisch gesinnt ist und er insofern keine heilige Kommunion im Sinne eines katholischen Sakraments und katholischen Begriffsgebrauchs mehr empfangen kann, sondern allenfalls das Abendmahl. Das Wort ‚ Abendmahl ‘ ist durch Luther eingeführt und markiert eine klare sprachliche Abgrenzung, es ist eine ‚ echte konfessionelle Heteronymik ‘ . 49 Außerdem steht dies in eklatantem Widerspruch zu Luthers Weigerung ihm das Abendmahl auszuteilen, solange er nicht zur uneingeschränkten Sündenvergebung und Feindesliebe bereit ist. Positiv gewendet kann man es aber als ein Plädoyer für differente Auffassungen über die Voraussetzungsnotwendigkeiten und Inhalte des Abendmahls in protestantischer Hinsicht auffassen. Freising ist dann nicht nur derjenige, der frei Gottes Lob singt, sondern auch der Freisinnige. Er begleitet Kohlhaas zur Hinrichtungsstätte, es ist Montag nach Palmarum. Dessen letzte Handlung besteht in einer Mystifikation, er öffnet die Kapsel, liest den Zettel, steckt ihn in den Mund und verschlingt ihn. Danach wird er enthauptet. Seine beiden Söhne, die der Hinrichtung beiwohnen, werden zum Kurfürsten gerufen und direkt zu Rittern geschlagen. Auch das Rechtssystem und das absolutistische 48 Diethelm Brüggemann sieht allein in dieser Erzählsequenz eine „ ganze Theologie der Paradiesesversuchung versteckt “ (Kleist. Die Magie. Würzburg 2004, S. 150). 49 Vgl. zur Sprachgeschichte Jürgen Macha: Frühneuzeitliche Sprachpraxis und der Einfluss der Konfessionen, in: Konfession und Sprache in der Frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Hgg. v. Jürgen Macha, Anna-Maria Balbach, Sarah Horstkamp. Münster 2012, S. 99 - 112, bes. S. 103. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 139 Herrschaftssystem haben am Ende die Nachkommen des Selbsträchers verschlungen. Kohlhaas wird zur tragischen Figur einer missverstandenen Reformation. Wenn man bereit ist, Kleists Erzählung als eine Reformationsallegorie zu lesen, dann zeigt der Text, dass protestantische Grundhaltungen zu reklamieren in Starrsinnigkeit münden und in der Selbstvernichtung enden kann, er zeigt, anders gesagt, welchen Gefahren das Werk der Reformation ausgesetzt sein kann. An diesem Punkt wird Kleist wieder zutiefst politisch, da dann seine Erzählung als eine unmittelbare literarische Reaktion auf die politische Krise um 1806 zu lesen ist. Michael Kohlhaas ist ein Statement zur Lage des Protestantismus im Prozess der nationalen Identitätsfindung. Es geht nicht mehr um Luther, sondern um Luthertum, nicht mehr um Protestantismus, sondern um Protest. Kleist beschreibt eine Degenerationssymptomatik des Protestantismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Darin liegt der literatur- und kulturgeschichtliche Wert seiner Erzählung. Ein Jahr nach der Buchveröffentlichung von Kleists Michael Kohlhass ist es Johann Peter Hebel (1760 - 1826), der in seinem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes von 1811 Luther zweimal erwähnt. Das ist insofern bemerkenswert, als Hebel diese Luther-Referenz als Autoritätsverweis nutzt und zugleich den gelehrten Gottesmann in die Rezeptionsmasse seiner gefälligen Kalendergeschichten multipliziert. Luther ist nun keine Angelegenheit der sogenannten Höhenkammliteratur und der kanonisierten Dichter mehr, sondern Luther soll durch dieses Verfahren den Menschen menschlich nahegebracht werden. Luther ist in der Literatur endgültig angekommen. Die Geschichte Die Erde und die Sonne, worin die Frage debattiert wird, ob die Sonne wie die Erde bewohnbar sei, ob dort Engel statt Menschen wohnten und es einen ewigen Sabbat und Feiertag gäbe, schließt mit der Bemerkung ab: „ Doktor Luther hat einmal so etwas verlauten lassen, und der gelehrige Leser begreift ’ s ein wenig, aber doch nicht recht “ 50 . Dieses angebliche Wort Luthers konnte bis heute aber nicht verifiziert werden, und so bleibt es wohl eine poetische Erfindung Hebels. Das zweite Luther-Zitat findet sich in der Geschichte Nützliche Lehren. Dort heißt es im Abschnitt fünf unter 50 Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Kritische Gesamtausgabe. Hgg. v. Winfried Theiss. Stuttgart 2010, S. 20. 140 Kapitel 4 der Überschrift Ein Narr fragt viel, worauf kein Weiser antwortet, dass es auf einfältige Fragen nicht immer eine Antwort gebe und ein einfältiger Frager nicht unbedingt eine Antwort erwarten könne. Manchmal könne der Weise aber auch eine Antwort geben, wolle dies aber nicht. „ Gar oft erkennt man ohne Mühe den einfältigsten Menschen am Fragen und den Verständigen am Schweigen. ‚ Keine Antwort ist auch eine Antwort ‘ . Von dem Doktor Luther verlangte einst jemand zu wissen, was wohl Gott vor Erschaffung der Welt die lange, lange Ewigkeit hindurch getan habe. Dem erwiderte der fromme und witzige Mann: In einem Birkenwald sei der liebe Gott gesessen und habe zur Bestrafung für solche Leute, die unnütze Fragen tun, Ruten geschnitten “ (S. 80). Luthers Antwort soll im Original gelautet haben, Gott habe „ den müßigen fürwitzigen Flattergeistern die Hölle gebauet “ (S. 318). Die Funktion dieser Kalendergeschichten ist in ihrem volks- und bauernaufklärerischen Unterhaltungswert zu sehen, auf unterhaltsame Weise soll die alphabetisierte Mittelschicht und sollen Teile der Unterschicht aufgeklärt werden. Diese enge Zweckbindung bestimmt die poetische Diktion der Texte, die sich eben nicht an die Gebildeten richten. Immerhin wurden in der ersten Auflage auf Anhieb 50.000 Stück des Kalenders verkauft. Der Rückgriff auf Luther in dieser Kalendergeschichte dient der Versicherung einer kulturell-historischen Instanz, deren Autorität anerkannt und deren Integrität über jeden Zweifel erhaben ist. In der allgemeinen Lesart bedeutet dies dann mit Blick auf die Geschichte: Wenn dies schon Luther so gesagt hat, dann muss etwas Wahres an dieser Hebel ’ schen Geschichte sein. Hebel entreißt dadurch Luther dem nationalen Vereinnahmungsgebaren anderer Literaten. Dass man als Dichter am Anfang des 19. Jahrhunderts der Wirkungsmacht Luthers nur noch episch oder lyrisch gewachsen sein kann, ohne in den Kitsch oder die Trivialisierung abzurutschen, zeigen auch die folgenden beiden Beispiele literarischer Luther-Bilder. Theodor Körner (1791 - 1813) etwa nähert sich Luther in seinem dramatischen Fragment Luthers Monolog, eh ’ er in die Reichsversammlung geht. In fünfhebigen Jamben, teils gereimt (nur das Gebet ist gereimt, im Stile eines Kirchenlieds), teils in Blankversen verfasst, greift der Monolog wiederum auf die bewährte Form des dramatischen Gedichts zurück. Während die Glocken läuten, sinniert Körners Luther über seinen bevorstehenden Auftritt auf der Bühne des Wormser Reichstags am 17. 4. 1521. Der Text wird von den beiden Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 141 Unwiderruflichkeitsappellen zusammengehalten, der Unwiderruflichkeit des Worts und der Unwiderruflichkeit der Lehre. Denn „ unwiderruflich steht das neue Wort! “ (S. 49) 51 , Luther ist sich seiner Sendung bewusst, er weiß, dass er die Welt „ verklären “ soll, die Dunkelheit mit dem Glauben vertreiben, denn „ unwiderruflich ist die neue Lehre “ (S. 51). In der Semantik dieses Adjektivs unwiderruflich steckt unausgesprochen natürlich jene Szene, für die Luther berühmt wurde und die in den meisten Luther-Darstellungen nicht fehlt. Auf die Aufforderung hin, er solle widerrufen, was er geschrieben habe, soll Luther geantwortet haben: „ Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen “ . Bezeugt ist dies nicht. Wenn man den gedruckten Berichten folgt, hat Luther auf die Frage hin, ob er widerrufen werde, geantwortet: „ Derhalben ich nichts mag noch will widerruffenn, Weil wider das gewissenn zu handeln beschwerlich, unheilsam und ferlich ist. Gott helff mir, Amen “ (WA 7, S. 877). In einem anderen, nur wenige Blätter umfassenden Druck, wird diese Schlussszene des Verhörs so wiedergegeben: „ Ich kann nicht anderst, hie stehe ich, Gott helff mir, Amen “ (ebd.). Und wiederum nach einem anderen Druck lauten die Worte: „ Got kumm mir z ů hülff. Amen. Da bin ich “ (ebd.). In den nahezu tagesaktuellen Drucken zum Reichstag erscheint die Redewendung in dieser meistverbreiteten Variante also nicht, sie gehört nach heutiger Annahme nicht zu den originalen Luther-Worten. Aber Worte, die dem Reformator in den Mund gelegt werden, bringen in diesem Sinne zum Ausdruck, was den Zeitgenossen ihre reformierte Glaubenshaltung bedeutet. In den Plural gewendet, macht dies die kollektive Konfessionsauffassung sichtbar: „ Hier stehen wir, wir können nicht anders, Gott helfe uns “ . Das zweite Textbeispiel eines Fragment gebliebenen Luther-Gedenkens stammt von Goethe. Er plante mit dem Berliner Komponisten Carl Friedrich Zelter (1758 - 1832), den er 1802 kennengelernt hatte, für das 300. Jahr des Reformationsjubiläums 1817 eine Reformationskantate. Der Text sollte aus seiner Feder stammen, und Zelter sollte die Musik dazu komponieren. Über einige vage Überlegungen gingen diese Pläne aber nicht hinaus. Erst Zelters Schüler Felix Mendelssohn-Bartholdy komponierte 1829/ 30 anlässlich der Drei- 51 Ich zitiere nach der leicht zugänglichen Textwiedergabe in: Johannes Block (Hg.): Die wittenbergische Nachtigall. Luther im Gedicht. Leipzig 2013, S. 49 - 51. 142 Kapitel 4 hundertjahrfeier der Augsburger Konfession 1830 eine Reformationssymphonie in d-moll. Am 14. 11. 1816 notiert Goethe einen Entwurf, er ist in Eile und will das Konzept schnell wieder an Zelter zurückschicken. Der solle es dann kommentieren und modifizieren. Es solle sich alles „ geschwind gestalten “ (Goethe: WA IV/ 27, S. 232). Ihm schwebe ein Oratorium ähnlich dem händelschen Messias vor. In einer Beilage zum Brief schreibt er: Da der Hauptbegriff des Lutherthums sehr würdig begründet ist, so giebt es schönen Anlaß sowohl zu dichterischer als musikalischer Behandlung. Dieser Grund nun beruht auf dem entschiedenen Gegensatz von Gesetz und Evangelium, sodann auf der Vermittelung solcher Extreme. Setzt man nun auf einen höheren Standpunct zu gelangen, anstatt jener zwey Worte die Ausdrücke Nothwendigkeit und Freyheit, mit ihren Synonymen, mit ihrer Entfernung und Annäherung; so siehst du deutlich, daß in diesem Kreise alles enthalten ist, was den Menschen interessieren kann. Und so erblickt denn Luther in dem alten und neuen Testament das Symbol des großen sich immer wiederholenden Weltwesens. Dort das Gesetz, das nach Liebe strebt, hier die Liebe, die gegen das Gesetz zurückstrebt und es erfüllt, aber nicht aus eigener Macht und Gewalt, sondern durch den Glauben; und zwar durch den ausschließlichen Glauben, an den allverkündigten und alles bewirkenden Messias. Aus diesem Wenigen überzeugt man sich, wie das Lutherthum mit dem Papstthum nie vereinigt werden kann, der reinen Vernunft aber nicht widerstrebt, sobald diese sich entschließt, die Bibel als Weltspiegel zu betrachten; welches ihr eigentlich nicht schwer fallen sollte. Diese Conceptionen in einem singbaren Gedichte auszusprechen, würde ich mit dem Donner auf Sinai, mit dem: Du sollst! beginnen; mit Christi Auferstehung aber, und dem: Du wirst! schließen. (Goethe: WA IV/ 27, S. 233 f.) Danach skizziert Goethe eine Reihenfolge der einzelnen Szenen und Abläufe. Der erste Teil des Oratoriums soll dem Alten Testament gewidmet sein. Er beginnt mit der mosaischen Gesetzgebung auf dem Berg Sinai, stellt das nomadisierende und kriegerische Hirtenleben der Israeliten dar, berichtet von der Einweihung des salomonischen Tempels, führt die topographische Zersplitterung eines zentral gedachten Gottesdienstes auf, rückt die Zerstörung Jerusalems und die babylonische Gefangenschaft in den Fokus und endet schließlich bei den Ankündigungen und Verheißungen des kommenden Messias. Der zweite Teil ist am Neuen Testament ausgerichtet. Er beginnt mit der Darstellung von Johannes dem Täufer und Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 143 seiner Verkündigung, dass der Gottessohn nahe sei. Daran schließt sich die Anerkennung und das Zeugnis der Gottessohnschaft durch die Heiligen Drei Könige an. In der dritten Szene tritt erstmals Jesus auf, er wird als Lehrer vorgestellt, der zahlreiche Menschen in seinen Bann zu schlagen vermag und schließlich in Jerusalem einzieht. Die vierte Szene rückt die Leidensgeschichte in den Mittelpunkt, die Menschen zerstreuen sich, wenn Gefahr droht, und die Jünger schlafen ein, während Jesus im Garten Gethsemane betet, bis Jesus schließlich sein Leiden im Schnellgericht und in der Kreuzigung erfährt. Dieser zweite Teil schließt mit der fünften Szene, einer Darstellung der Auferstehung. Sowohl die erste Szene mit Johannes dem Täufer in der Wüste als auch die Schlussszene mit der Auferstehung Jesu stellt sich Goethe in einen Sonnenaufgang getaucht vor. Er betont gegenüber Zelter, dass es nicht um die korrekte Darstellung historischer Fakten und Geschehnisse gehe, auch solle auf die wörtliche Wiedergabe von Luther-Worten verzichtet werden, vielmehr seien biblische Sprüche, bekannte evangelische Lieder und Neugetextetes in singbarer Form zu kombinieren. Jedermann kenne die biblischen Details und wird sich deshalb gerne „ auf Flügeln der Dichtkunst “ (ebd., S. 236) aus der Region des historischen Wissens in die Sphäre der poetischen Freiheit versetzen lassen. Allerdings delegiert er an den Musiker die Aufgabe, sich selbst in den Schriften Luthers nach brauchbarem Textmaterial umzusehen. Er rät ihm vor allem die Psalmen-Vorrede, die er ganz unschätzbar nennt, sowie die diversen Vorreden und Einleitungen zu den übrigen biblischen Büchern zu studieren. Sie enthielten den „ Sinn der ganzen Lehre “ (ebd., S. 236). Ganz nebenbei erlaubt dieser Hinweis Goethes auch die Vermutung, dass ihm die genannten Textstellen aus Luthers Werk bekannt gewesen sind. Interessant ist nun jenes Spannungsgefüge, das Goethe zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des geplanten Oratoriums erzeugt. Das Verhältnis zwischen erstem und zweitem Teil, zwischen alttestamentlicher Betrachtung und neutestamentlicher Darstellung sei wie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, wie von Notwendigkeit und Freiheit. Der erste Teil stehe unter dem Du sollst! , während der zweite Teil mit der Auferstehungsverheißung des Du wirst! ende. Natürlich schließt Goethes Wortwahl eine der zentralen Achsen der Lutherischen Theologie ebenso mit ein wie sie - in lutherischprotestantischer Tradition - den Bezug zur paulinischen Theologie 144 Kapitel 4 herstellt. Gesetz und Evangelium sind die beiden zentralen Schlüsselwörter des christlichen Selbstverständnisses. Daneben lässt sich aber noch ein anderer Bezug ausmachen. Goethe rät seinem Briefpartner Zelter ausdrücklich, die theologischen Vokabeln durch das Begriffspaar Notwendigkeit und Freiheit zu ersetzen. Notwendigkeit verträte demnach das Gesetz und Freiheit das Evangelium. Damit eröffnet er die Perspektive auf das zentrale Begriffspaar der Kant ’ schen Philosophie. Mehr noch, dadurch, dass Goethe Zelter auch darlegt, welches Ergebnis diese Anstrengung des Begriffs zeitigt, nähert er sich in einer frappanten Weise der Schiller ’ schen Philosophie. Goethe kommentiert diesen reflexiven Akt mit den Worten: „ [. . .] so siehst du deutlich, daß in diesem Kreise alles enthalten ist, was den Menschen interessiren kann “ (Goethe: WA IV/ 27, S. 234). Diese grundsätzliche anthropologische Öffnung ist Schillers Einfluss geschuldet - elf Jahre nach dessen Tod ein bemerkenswerter Einfluss. Schiller hatte in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), kurz die Ästhetischen Briefe genannt, ausführlich über dieses grundlegende Begriffspaar und seine anthropologischen Folgerungen reflektiert. Freiheit meint in dieser Hinsicht die Vernunftfreiheit und Notwendigkeit die Naturnotwendigkeit. In dieser grundsätzlichen Gegensätzlichkeit spiegeln sich wiederum die antagonistischen Vorstellungen von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, von Kunst und Natur, von Pflicht und Neigung, von Ideal und Wirklichkeit usf. wider. 52 Im Grunde genommen sollte also Goethes und Zelters Reformationsoratorium eine Art Menschheitsgesang werden. Goethe wünscht sich, dass das Reformationsfest so begangen würde, dass „ jeder wohldenkende Katholik “ (Goethe: WA IV/ 27, S. 237) mitfeiern könnte, schließlich sei Luthers Verfahren kein Geheimnis. Das war schon in dem Augenblick, als er ausgesprochen wurde, ein frommer Wunsch. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Text aus dem Nachlass Goethes mit dem heutigen Kunsttitel Zum Reformationsfest, den Bernhard Suphan 1895 erstmals veröffentlichte und der in der Wahrnehmung der Fachleute meist in den Hintergrund rückt. Es handelt sich um eine Art Konzept für einen ausformulierten Aufsatz, den Goethe seinem Schreiber John im November 1816 diktierte. 53 Mit 52 Vgl. dazu Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller, bes. S. 262. 53 Vgl. Bernhard Suphan: Goethe und das Jubelfest der Reformation 1817, in: Goethe-Jahrbuch 16 (1895), S. 3 - 12. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 145 Hinweis darauf, dass bereits am 18. 10. 1817 der Sieg der preußischrussisch-österreichischen Alliierten über Napoleon in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 gefeiert würde, scheint Goethe das emotionale Budget der Deutschen zu einer weiteren Feier vierzehn Tage später aus Anlass der Reformation aufgebraucht. Das Reformationsfest solle deshalb auf den 18. Oktober verlegt werden, schlägt er vor. Das ist aber nicht der einzige Vorschlag, den Goethe unterbreitet. Er möchte außerdem kein reines Reformationsfest, sondern ein „ höheres Fest “ (Goethe: MA 11.2, S. 220) für alle Deutschen, bei dem die Konfessionsfrage keine Rolle mehr spielt. Das solle ein Fest noch mehr als ein „ Nationalfest “ (ebd., S. 221) sein, sogar von einem „ großen Weltfeste “ (ebd.) spricht Goethe. Das ist nicht eben unbescheiden und der Gedanke zur Ausführung der Idee wirkt nicht eben durchdacht, man solle ein Feuer entzünden und sich im Kreis darum herum aufstellen. Es darf bezweifelt werden, ob dies wirklich Ausdruck von geradezu klassischem Pathos ist, wie dies ein Kommentator enthusiastisch erklärt. Ein Schlüsselsatz ist Goethes Bemerkung, „ niemand fragt, von welcher Konfession “ (ebd.). Das ist - gemessen an Gretchens Frage aus dem Faust - eine enorme Präzisierung. Nicht mehr die Religion ist nun entscheidend, sondern die Konfession ist das binnendeutsche Differenzkriterium, wonach sich die Nation in Gläubige und Andersgläubige teilt. Goethe möchte aber außer Christen auch Juden, Muslime und Heiden bei seinem Menschheitsfest mit einbezogen wissen, denn es solle „ ein Fest der reinsten Humanität “ (ebd.) werden. Mit seiner Kantate zur Reformation wollte Goethe eine Menschheitsdichtung liefern, das Reformationsfest wollte er zum Weltfest erweitern, die Pläne allerdings blieben unausgeführt. Am 10. 12. 1816 ist überraschenderweise in einem Brief an Zelter doch schon von einer Weiterentwicklung der „ großen Cantate “ (Goethe: WA IV/ 27, S. 259) die Rede. Die Beilage zum Brief enthält eine ausführliche Skizze der dramaturgischen, musikalischen und textlichen Abläufe. Als musikalischer und oratorischer Bezugspunkt dient nun nicht mehr der Messias, sondern Händels Oratorium Das Alexanderfest (1736). Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass Goethe nur unwesentliche Präzisierungen vorgenommen hat. Der Grundriss, wie er ihn im Novemberbrief ausgeführt hatte, bleibt erhalten. Besonders der erste Teil hält sich genau an den ersten Entwurf. Im zweiten Teil finden sich einige wenige Ergänzungen. Dreh- und Angelpunkt bleibt Christus, dessen Rolle als Sprechrolle 146 Kapitel 4 gedacht wird. Goethe vermerkt aber ausdrücklich, dass er „ lehrend “ (Goethe: WA IV/ 27, S. 263) auftreten solle: Gesteigerte Lehre. Andrang und Beyfall des Volks, immer im irdischen Sinne. Christus steigert seine Lehre in ’ s Geistige. Das Volk mißversteht ihn immer mehr. (Ebd., S. 263). Und obwohl Christus tröstend, stärkend und ermahnend erscheinen soll, durchleidet er doch „ einsames Seelenleiden “ und „ höchste Qual “ (ebd., S. 263). Das Oratorium solle damit schließen, dass alles Irdische abfalle und sich das Geistige „ bis zur Himmelfahrt und zur Unsterblichkeit “ (ebd.) steigere. Mehr als ein dramaturgisches Skizzenheft ist daraus nicht geworden. Über das Jahr 1816 schrieb Goethe in den Tag- und Jahres-Heften, die „ beabsichtigte große Cantate zum Lutherfest “ sei wegen „ Mangel an Zeit und Aufmunterung “ (Goethe: WA I/ 36, S. 107) bald nach dem Entwurf und den Schemata endgültig liegengeblieben und schließlich verloren gegangen. Goethe stand den katholisierenden Tendenzen mancher Romantiker, die bis zur Konversion gingen, ebenso distanziert gegenüber, wie ihm jegliches nähere Verständnis für Luther und das Luthertum fehlte. Ob das in der Folge dazu beigetragen hat, dass auch jene bürgerlichen Bildungsschichten, die sich am kanonisierten Klassiker Goethe orientierten, tatsächlich Luther fernstanden, ist keineswegs eindeutig. 54 Hatte sich der ‚ junge Goethe ‘ noch mit religiösen und konfessionellen Fragen beschäftigt, so sind sie dem ‚ alten Goethe ‘ weit in die Ferne gerückt. Man muss nicht Goethes Wort von dem ‚ Scheisding ‘ der Religion bemühen, um seine persönliche religiöse Entwicklung zu rechtfertigen. Unterm Blick der Entwicklung des Luther-Bildes in der Literatur taucht der ‚ Bruder Martin ‘ der 1770er Jahre nicht mehr auf. Luther ist nun in die Opernwelt, im Falle Werners, Klingemanns und Schorchs vielleicht sogar in die Operettenwelt aufgerückt, das zeigt einmal mehr die Hilflosigkeit, mit der Goethe einen Zugang zu Luther zu finden versucht. Am 18. 10. 1817 ziehen Studenten auf die Wartburg. Sie wollen die 300. Wiederkehr der Reformation und den vierten Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht vom Oktober 1813 feiern. Ins Feuer geworfen wird dabei unter anderem Werners Luther- Drama. 54 So etwa Lohse: Martin Luther, S. 194. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 147 Der Erfurter Professor Heinrich Schorch (1777 - 1822) wollte auch an den Jubiläumsdichtungen teilhaben und veröffentlicht in Weimar sein Drama Luthers Entscheidung (1817). Der Autor wählt für sein vieraktiges und im klassischen fünfhebigen Jambus geschriebenes Stück als Gattungstyp wie schon Klingemann vor ihm das dramatische Gedicht, auch er Lessings Beispiel des Nathan folgend (auf dessen Ringparabel er im Prolog sogar verweist). Das Stück ist in Blankversen geschrieben, nur an wenigen Stellen gereimt, dann bleiben die Reime aber unmotiviert. Schon der Titel ist im Grunde genommen falsch gewählt. Denn Luther wird keineswegs in einer Entscheidungssituation gezeigt, weder ein tragischer noch ein im Entferntesten dramaturgischer Knoten ließe sich daraus schürzen. Vielmehr wird die mehr oder weniger lockere Folge von unterschiedlichen Szenen abgespielt, die durch Luther als Hauptfigur und seinen Gegenspieler Albano, dem päpstlichen Abgesandten, sowie Melanchthon zusammengehalten werden. In einem Vorwort zum Stück erklärt der Verfasser, die großen und entscheidenden „ Heldenthaten “ (S. III) Luthers seien die förmliche Aufkündigung des Gehorsams gegenüber dem Papst und der Papstkirche, sein öffentlich vollzogenes Abweichen von den Lehren der Kirche und der Bruch mit dem Zölibat durch sein eigenes Beispiel. Schorch nimmt für sich „ Dichterfreiheit “ (S. IV) in Anspruch, um die bekannten Sachverhalte in freier Kombination miteinander zu verbinden. Einwänden, Luther sei kein angemessener Gegenstand für die Bühne, begegnet er mit dem pauschalen Hinweis, die tragische Muse habe das Recht, jeden Helden zum Gegenstand zu wählen. Der letzte Absatz dieses Vorworts enthält dann den Hinweis, dass das Stück „ wegen Local- Hinderungen nicht dargestellt werden [konnte] “ (S. VI). Der Prolog legt die Absichten des Verfassers offen, er wolle Luther im Kreise der Freunde, den Haustugenden huldigend, in enger Häuslichkeit zeigen. Dieser Vorgabe bleibt das Stück treu. Es spielt im Jahr 1523. Albano soll Luther, wenn er ihn nicht zum Widerruf bewegen kann, so wenigstens vergiften, was allerdings dilettantisch ins Werk gesetzt wird. Die Liebesgeschichte zwischen Luther und Katharina von Bora bleibt vordergründig und blass, die Bora ist eine Figur ohne Fleisch und Blut. Im Unterschied zu Werners Luther, der im Jagdhabit und mit Schwert auftritt, ist für Schorchs Luther die Bibel sein Schwert und sein Schlachtfeld der Katheder. Schorch lässt auch den trivialen Kalauer von Wein, Weib und Gesang nicht aus (vgl. S. 35) - jenes Luther untergeschobene Wort, das aber erstmals 1775 in 148 Kapitel 4 einem Gedicht von Johann Heinrich Voss (1751 - 1826) auftaucht. 55 An einer Stelle wird der Text latent antisemitisch, indem Luthers möglicher Mörder unbesehen ein Jude sein soll (vgl. S. 48 f.). Und was Wolfgang, Luthers Schreiber, über sich sagt, könnte der Autor für seine Titelfigur in Anspruch nehmen, der möglicherweise die Befindlichkeit seiner Zeitgenossen damit sehr gut trifft. Auch wenn die Worte auf Ulrich von Hutten gemünzt sind, können sie doch unverändert für Luther gelten: „ Ich trage Herzenssehnsucht nach dem Helden; / Wenn ich ihn sehe, stärkt es mir das Herz “ (S. 53). Was Luther über Ulrich von Hutten sagt, er sei ein edler deutscher Kämpfer, mag auch für ihn selbst in Anspruch genommen werden. Das macht aber deutlich, dass das Stück phasenweise zwei Hauptfiguren aufbaut und dann in ein Stück über Ulrich von Hutten umzukippen droht. Luther soll in diesem Stück also als Held gezeichnet werden, indem der binnenkirchliche Konflikt und die Liebesgeschichte nebeneinander gestellt werden und Luther alle Herausforderungen bravourös pariert. Dass er durch die Frau des Wittenberger Stadtschreibers Reichenbach, die ihm den Haushalt macht, vergiftet werden soll und dann heldenhaft durch Katharina von Bora gerettet wird, gehört zu jenen blassen Handlungsmotiven, die möglicherweise für einen kurzen dramatischen Effekt sorgen, die aber wenig mit einer psychologischen Konturierung oder wenigstens einer einfachen Charakterzeichnung der Hauptfigur zu tun haben. Was Schorch Ulrich von Hutten, der das ganze Stück über unentwegt über seinen nahen Tod lamentiert, in den Mund legt, will der Verfasser mutmaßlich für sein Stück in Anspruch nehmen, nämlich dass ein Gedicht Wahrheit anschaulich macht, „ verherrlichet hinauf durch Phantasie “ (S. 67), wodurch sich „ Dichterkunst “ (ebd.) über das gemeine Tun erhebt. Da bleibt es bei einem solchen Stück nicht aus, dass der Choral Ein feste Burg ist unser Gott angestimmt werden muss. Er habe an „ alles Edle “ gedacht, „ als / Dieß Lied mir aus dem vollen Herzen quoll “ (S. 68), 55 Vgl. Christoph Gutknecht: Lauter spitze Zungen. Geflügelte Worte und ihre Geschichte. München 2001, S. 97 f. - Vgl. auch den Kommentar in Luther: WA 35, wonach es sich um ein älteres „ geflügeltes Studentenwort welschen Ursprungs “ (S. 580) handeln soll. Schon der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen hat in einer Rede 1837 davon gesprochen, dass dieses Sprüchlein „ tatsächlich nicht von Luther “ ist (vgl. Fr.H. v. d. Hagen: Beweis, daß Luther nie existiert hat. Bratenvorlesung beim Luther-Schiller Festmahle am 10. November 1837 in Berlin. Neudruck Marburg 1910, S. 13). Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 149 erklärt Luther. Eine der letzten Szenen gibt den Zuschauern und Lesern eine Botschaft zum Leseverständnis mit. Luther sagt: „ Wo / Der Rückblick fehlt, da ist die Zukunft fast / Verloren “ (S. 98). Und Schorch appelliert an das, was man ein historisches Bewusstsein nennen könnte, das im zeitgenössischen Luther- und Reformationsverständnis nicht vorhanden ist und erst eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts werden wird. Und so schließt denn das Drama mit Luthers Worten gegen alle Borniertheiten eines konfessionellen Chauvinismus: „ Der Geist ist frei und ohne Zwang der Glaube, / Dieß haltet fest, auf daß Euch ’ s Niemand raube! “ (S. 102). Mit seinem Drama Luthers Entscheidung erleidet Schorch grandios Schiffbruch. Es ist in der inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung epigonal und dramaturgisch inkonsequent. Die bemühte sprachliche und metrische Nähe zu Schiller und dessen Wallenstein-Prolog ist offensichtlich. Man muss Schorch, wie Klingemann auch, zu den vielen Schiller-Epigonen des 19. Jahrhunderts rechnen. Nicht diese Tatsache ist erwähnenswert, sondern allein die Begründung, mit der Schorchs Stück sofort vom Spielplan genommen wird. August von Kotzebue wundert sich in seinem Literarischen Wochenblatt (Nr. 6, 1818), dass man vor Jahren Werners und Klingemanns Luther- Dramen „ auf allen Bühnen aufgeführt hat, ohne daß Jemanden eingefallen wäre, es anstößig zu finden “ (ebd., S. 41) und keinerlei Einwände dagegen vorgetragen wurden. Nun sollte Schorchs Luther- Drama am Reformationstag 1817 in Weimar zur Aufführung gelangen und plötzlich habe man religiöse Bedenken. „ Woher denn jetzt auf Einmal dieß Glockengeläute? ist die Ehrfurcht für den Reformator erst durch die Jubelfeyer geweckt worden? “ (ebd.). Die Bremer Zeitung vom 7. 11. 1817 berichtet etwas genauer von dem Vorgang. Schorchs Stück sei in Weimar aufgeführt worden. Nach Einwänden aus dem Publikum, man dürfe Luther nicht dramatisch darstellen, wurde von der Theaterintendanz ein weltliches und in Folge auch ein kirchliches Gutachten angefordert. Die Kirchenvertreter empfahlen, Schorchs Stück nicht vor, während oder kurz nach den Jubelfeiern zum Reformationstag aufführen zu lassen, damit es „ nicht den Anschein gewinne, als sei die theatralische Darstellung gleichsam die Fortsetzung, oder der Schluß der kirchlichen Jubelfeier “ (ebd., [o. S.]). Dem journalistischen Berichterstatter scheint der Wortlaut des Gutachtens vorgelegen zu haben, da er ihn als wörtliches Zitat ausweist. Interessant dabei ist, dass das Oberkonsistorium davon spricht, Schorchs Stück möge nicht „ erscheinen “ . Das kann bedeuten, 150 Kapitel 4 dass es nicht auf der Bühne erscheinen, also gespielt werden soll. Es kann aber auch heißen, dass es gar nicht veröffentlicht werden möge. Das Gutachten des Juristen und seit 1815 Oberkonsistorialdirektor Heinrich Karl Friedrich Peuzer (1779 - 1849) fällt gegenteilig aus, er halte es für nicht unzulässig, geradezu für zweckmäßig, Schorchs Stück weiter aufzuführen. Die Theaterintendanz folgte aber dem ablehnenden Gutachten, das Stück wurde nicht mehr gespielt. Luthers Entscheidung wird heute als ein Beispiel der Luther-Idolatrie gelesen, das die Tendenzen der Lutherverehrung in dieser Zeit dokumentiert, Luther sei nur repräsentative Gestalt einer nationalen Einheit. 56 Im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar liegt ein Schriftstück von Schorchs Hand, das die Überschrift trägt Über Martin Luther auf der Bühne. Es ist bislang unveröffentlicht und erlaubt einen Einblick in die Seelenlage des Mannes, der hoffte, einen bedeutenden Beitrag zum Reformationsjubiläum 1817 geleistet zu haben, und dann erleben musste, wie sein Stück als Druckwerk im Dunkel der Vergessenheit verschwand. Anlass war der öffentliche Einspruch eines Unbekannten im Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung vom Montag, 3. 11. 1817, Nr. 258, Sp. 2057 - 2059. Unter der Überschrift Schickt es sich, Luther auf die Bühne zu bringen? wurde von einem anonymen Verfasser vehement dagegen opponiert, eine Geistesgröße wie Luther theatralisch darzustellen und sie gar dem Lachen des Publikums preiszugeben, was einen verheerenden Einfluss auf die Moralität der Zuschauer habe. Das Theater habe eine Sittenschule zu sein, Luther sei ein nationales Heiligtum. Ein solcher Glaubensheld darf von den Bekennern seines Glaubens nie auf das Theater gebracht werden [. . .]. Sein Werk hat eine höhere Weihe, sein Leben läßt sich nicht spielen, seine Thaten haben keine Spitze, sein Tod ist keine Theatercatastrophe. [. . .] Hütet Euch, das Unaussprechliche nachäffen, das Ewige versinnlichen zu wollen. [. . .] Es wäre schrecklich, wenn bei der Aufführung eines Theater-Luthers Jemand zum Lachen gereizt würde. Tief würde dieß in die Moralität des Volkes einschneiden. (Ebd., Sp. 2059) Schorch notiert in seinem dreiseitigen Manuskript die wichtigsten Vorwürfe und Einwände, um dann bitter zu resümieren: „ Es ist fast zu bezweifeln, ob es dem Verf. mit ihnen Ernst war. War er überzeugt, 56 Vgl. Schulz: Geschichte der deutschen Literatur Bd. VII/ 2, S. 138 f. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 151 daß seine Gründe siegen könnten, so wäre er nicht zu Fürsten und Volk geflüchtet. Denn dieß ist [. . .] nicht in bester Ordnung. “ 57 Heinrich Heine (1797 - 1856) geht da einen völlig anderen Weg. In seiner essayistischen Darstellung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) schreibt er über „ unsern großen Meister Martin Luther “ 58 nach einer kritischen Reflexion über die frühprotestantischen Bemühungen zur Sozialdisziplinierung der Menschen: „ Ruhm dem Luther! Ewiger Ruhm dem teuren Manne, dem wir die Rettung unserer edelsten Güter verdanken, und von dessen Wohltaten wir noch heute leben! “ (S. 539). Heine lässt die deutsche Literatur recht eigentlich erst mit Luther beginnen, mit seinen Kirchenliedern habe er einen neuen Ton in die Literatur eingebracht. Was bei Heine mit seinem emphatischen Ausruf ‚ Ruhm dem Luther! ‘ ausschließlich der Person Luther und der Reformation gilt, wird im Laufe des 19. Jahrhunderts umgewandelt in die politische Emphase ‚ Ruhm der eigenen Nation! ‘ . Die Luther-Verehrung der Jungdeutschen wird als insgesamt oberflächlich und diffus gewertet. 59 Ludwig Börne (1786 - 1837), der vom Judentum zum Christentum konvertierte und sich 1818 evangelisch taufen ließ, gilt als der schärfste Luther-Kritiker seiner Zeit, er hat als erster jene These formuliert, wonach Luther schuld daran sei, dass Deutschland politisch rückständig geblieben wäre und wenig Bereitschaft zu Revolutionen entwickelt hätte. 60 Auf diese Bewertung werden sich später Autoren wie Nietzsche, Ball oder Thomas Mann beziehen. Die Jubiläen, die Befreiungskriege und die Reichsgründung 1871 haben ihr Übriges getan, das Luther-Bild von einem kulturellen Emblem zu 57 Signatur GSA 6/ 5558, Blatt 3 (Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller- Archiv). Dr. Grit Dommes (Berlin) danke ich für die Transkription. 58 Heine: Sämtliche Schriften. Hgg. v. Klaus Briegleb. Bd. 5, S. 531. 59 Vgl. Norbert Mecklenburg: Durch politische Brille und Butzenscheibe. Literarische Lutherbilder in der Heine-Zeit, in: Literatur und Politik in der Heine- Zeit. Hgg. v. Hartmut Kircher u. Maria K ł a ń ska. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 1 - 15. - Etwas anders akzentuiert Helmut Kind: Das Zeitalter der Reformation im historischen Roman der Jungdeutschen. Göttingen 1969, bes. S. 110 - 118. Vgl. auch Heinz-Hermann Brandhorst: Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation. Studien zum Luther- und Reformationsverständnis im deutschen Vormärz (1815 - 1848) unter besonderer Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs. Göttingen 1981. 60 Vgl. Mecklenburg: Durch politische Brille und Butzenscheibe, S. 6. 152 Kapitel 4 einem ausschließlich nationalen Emblem zu wandeln. 61 Das zeigt sich bei dem Schweizer Protestanten Conrad Ferdinand Meyer (1825 - 1898). Er hat zwei Luther-Gedichte veröffentlicht, die als beispielhaft für das erwachende Bewusstsein nationaler Identität nach der Reichsgründung 1871 gelten und zugleich auch als Beispiel für erschreckend triviale Reimerei dienen können. Einmal schreibt Meyer einen Gedichtzyklus Huttens letzte Tage, darunter unter der Nummer 32 das Gedicht Luther. Dieser Vers mag exemplarisch sein für Meyers - in diesem Fall fünfhebigen - Jambus, mit dem er in vollendeter Meisterschaft jegliche Trivialität zu garnieren vermag: „ Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch / Und fest umklammert er sein Bibelbuch “ 62 . Vor dem geistigen Auge können jene Denkmäler und Bilder imaginiert werden, die eben diese Pose ausstellen. Luther als entschlossener deutscher Nationalheld. Im Lutherlied, das Meyer 1883 für die Deutsche Rundschau schrieb, klingt es ähnlich: „ Herr Kaiser Karl, du warst zu fein, / Den Luther fandest du gemein -“ 63 . Meyer bekennt in einem Brief, er habe „ Lust [. . .], ein paar Verse zur Säkularfeier Martin Luthers, meines großen Lieblings, zu dichten “ 64 . Entsprechend euphorisch war die Aufnahme des Lutherlieds: „ Das Gedicht macht einen monumentalen Eindruck und wird Gemeingut des deutschen Volkes werden “ 65 , wurde Meyer bescheinigt. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) ab 1881 sehr deutliche Worte der Luther-Ablehnung gefunden hat, die dann im Zuge der Nietzsche-Rezeption bei den Literaten um 1900 maßgeblich ihr Luther-Bild prägten. Da Nietzsche auch auf Thomas Mann, Gottfried Benn und viele andere deutsche Autorinnen und Autoren einen sehr großen Einfluss hatte, ist es geboten, knapp auf das Luther-Bild einzugehen, das uns in Nietzsches Schriften begegnet. In der Morgenröte-Sammlung von 1881 61 Vgl. Michael Fischer: Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Münster 2014, bes. S. 64 ff. Mit einem Anhang Gedichte als Rezeptionszeugnisse von 1533 bis 1918, S. 259 ff. 62 Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage. Eine Dichtung. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 8. 2. Aufl. Bern 1997, S. 67. 63 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort v. Sjaak Onderdelinden. Stuttgart 1997, S. 234. 64 Zitiert nach: August Langmesser: Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben, seine Werke und sein Nachlaß. Berlin 1905, S. 132. 65 Langmesser: Conrad Ferdinand Meyer, S. 132. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 153 widmet er Martin Luther einen längeren Aphorismus. In Nummer 88 mit dem Titel Luther der große Wohltäter - was natürlich provokant ironisch gemeint ist - schreibt Nietzsche, dass Luthers eigentliche Leistung in dem Misstrauen liege, das er gegenüber einer vita contemplativa geweckt habe. Luther sei im Kloster gleich einem Bergmann in sich selbst hinabgestiegen und habe in seine Seele dunkle Gänge gebohrt. Damit habe er ein Zeitgefühl getroffen, was seinen Erfolg erkläre. Im 97. Aphorismus seiner Fröhlichen Wissenschaft (1882) attestiert Nietzsche Luther eine „ Geschwätzigkeit des Zornes “ . In Aphorismus Nr. 358 wird er deutlicher. Unter dem Titel Bauernaufstand des Geistes liest man Folgendes: Man übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnisvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor Allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abgieng. [. . .] er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. [. . .] Die Verflachung des europäischen Geistes [. . .] that mit der Lutherischen Reformation einen tüchtigen Schritt vorwärts. Die Kirche sei ein Herrschaftsgebilde, das die Macht der oberen Ränge gegenüber den unteren sichere. Hugo Ball wird ein knappes halbes Jahrhundert später an diesen Befund anknüpfen und Luther und der Reformation vorwerfen, dass sie im Grunde nur eine politische Aktion darstellten. In Jenseits von Gut und Böse (1886), Nr. 46, heißt es, Luther sei ein „ Barbar des Geistes “ 66 und vertrete einen bärbeißigen und treuherzigen Untertanenglauben (noch schärfer klingt es bei Nietzsche 1889 im 61. Aphorismus des Antichrist). In der Genealogie der Moral (1887; dritte Abhandlung, Nr. 22) nennt er Luther den unbescheidensten Bauern, den Deutschland jemals gehabt habe, und einen Rüpel. 67 Gleichwohl feiert Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse im 247. Aphorismus Luthers Bibelübersetzung als ein „ Meisterstück der deutschen Prosa “ 68 . Gegen diese Bibelübersetzung gehalten, sei fast alles Übrige nur Literatur. Im Fall Wagner Nr. 2 aus Ecce homo (1889) ruft er aus, die Katholiken hätten allen Grund dazu, Luther- Feste zu feiern und Luther-Spiele zu dichten - aus Dankbarkeit, weil 66 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. KSA 5, S. 66. 67 Vgl. Nietzsche: KSA 5, S. 394. 68 Nietzsche: KSA 5, S. 191. 154 Kapitel 4 Luther in dem Augenblick das Christentum wiederhergestellt habe, als es historisch gesehen unterlag. 69 Dass Nietzsche ein Jahr zuvor ein Gesetz wider das Christentum verfasst hat, worin die Teilnahme an einem Gottesdienst als ein „ Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit “ 70 beschrieben und eine harte Bestrafung der Protestanten, die härter als die Bestrafung der Katholiken sein soll, gefordert wird, schmälert Nietzsches Begeisterung für Luthers Bibelübersetzung keineswegs. Lange Zeit hat Nietzsches Sicht auf Luther und die Reformation die Wahrnehmung der Literaten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gelenkt. Die Wirkungen und Lesespuren finden sich noch in den 1920er Jahren bei Hugo Ball, bei Gottfried Benn und sogar noch in den 1950er Jahren bei Thomas Mann. Das Luther-Bild in der Literatur hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts endgültig geteilt in die Literatur jener, die Luther naiv identifikatorisch verehren und jene, die ihn ablehnen, in der Spur Nietzsches geradezu hasserfüllt ablehnen. Von Seiten der Theologie wird Luther ein besonderes Denkmal gesetzt. Anlässlich seines 400. Geburtstages beginnt 1883 die sogenannte Weimarer Ausgabe aller seiner Schriften zu erscheinen. Im Jahr 2009 ist die Edition abgeschlossen, die Ausgabe umfasst 127 Bände. 69 Vgl. Nietzsche: KSA 6, S. 359. 70 Nietzsche: KSA 6, S. 254. Das Luther-Bild im 19. Jahrhundert 155 5 Das Luther-Bild in der Moderne u. a.: August Strindberg Die Nachtigall von Wittenberg (1903); Ricarda Huch Luthers Glaube (1916); Johannes R. Becher Luther (1939); Thomas Mann Luthers Hochzeit (1954/ 55, postum 1996); Jochen Klepper Katharina von Bora (1935/ 42); John Osborne Luther (1961); Dieter Forte Luther & Münzer (1971); Thorsten Becker Das Ewige Haus (2009); Rolf Hochhuth 9 Nonnen fliehen (2014) „ Sic mundus plenus sprach “ (Martin Luther: Predigt vom 8. 9. 1538; WA 46, S. 493, 30) „ Die ganze Welt ist voller Sprache “ (Christian Lehnert: Aus dem Bergwerk. Drei Sätze Martin Luthers, 3, in: Ders.: Windzüge. Gedichte. Berlin 2015, S. 104) D er schwedische Autor August Strindberg (1849 - 1912) schrieb 1903 ein Luther-Drama. 1 Zur Uraufführung in Deutschland kam es aber erst in der Spielzeit des Kriegswinters 1914/ 15 im Dezember 1914 am Berliner Künstlertheater. Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte am 15. 12. 1914 (Nr. 1664) folgende Besprechung: „ Über den künstlerischen Wert dieser ebenso gestaltenreichen wie gestaltungsarmen Historie kann es wohl nur eine Ansicht geben. [. . .] Zwölf Jahre blieb Strindbergs Wittenbergische Nachtigall unbeachtet. Wenn sich das Deutsche Künstlertheater jetzt des Werkes annahm und einen vollen Erfolg damit erzielte, muß man die Zeitstimmung gebührend in Anschlag bringen. In den Tagen eines hochgestimmten Nationalgefühls erwachen die Heroen der Vergangenheit zu neuem Leben “ . Das Stück wird 47-mal wiederholt. 1920 erscheint die erste deutsche Buchausgabe. Dem in der deutschen Übersetzung von 1920 beigefügten Briefwechsel zwischen Strindberg und seinem Übersetzer Emil Schering ist zu entnehmen, dass der Autor sein Stück explizit für Deutschland 1 August Strindberg: Luther (Die Nachtigall von Wittenberg). Verdeutscht v. Emil Schering. München 1920. geschrieben hat (Brief vom 5. 9. 1903). Er sei davon überzeugt, einen echten, historischen Luther auf die Bühne gebracht zu haben (Brief vom 15. 11. 1903). Er habe „ Luther zum Deutschen gemacht [. . .]. Und dadurch vermied ich die Theologie, die gefährlich und langweilig ist “ (Brief vom 22. 11. 1903), sein Luther sei objektiv, das Drama sein Liebling, mit Luther habe er sich selbst und seinen Beruf wiedergefunden. Strindberg verweist darauf, dass er keine Szene gestrichen und kein Wort geändert haben möchte. „ Luther ist so intim, so kühn, so neunaturalistisch, daß er als ‚ Moderne Kunst ‘ gelten kann “ (Brief vom 6. 12. 1903). Dieses Selbstbewusstsein des Autors mag erstaunen, er bilanziert am Neujahrsabend 1904 sogar, er lese oft in seinem Luther, das Stück sei ohne Fehler. Eröffnet wird das Stück mit einer Kinderszene (irritierend ist die Übersetzung, statt Elternhaus oder Kinderstube liest man Kinderheim). Der Knabe Martin Luther wehrt sich gegen das Lernen und die Schulaufgaben, er reklamiert einen „ freien Willen “ für sich. Der Autor legt also von Beginn an programmatische Luther-Worte dem Knaben und Jüngling in den Mund. Das führt dramaturgisch dazu, dass die einzelne Figur wie eine Sprechblase wirkt. Die zweite Szene spielt in der kurfürstlichen Bibliothek in Wittenberg. Luther ist inzwischen promoviert. Ein ebenfalls promovierter Johannes Faust tritt auf - Strindberg benötigt ihn, um eine als typisch Deutsch angesehene Seelenlage zu figurieren - und zeigt ihm eine vollständige Ausgabe der Bibel. Luther ist beeindruckt, da er bislang nur die kirchlich zensierten Auszüge aus biblischen Texten kennt. Das Buch berge, so führt Faust aus, viele Geheimnisse, es sei ein „ Zauberbuch “ (S. 34). Luther schlägt es auf und liest im Buch Samuel und kommentiert, es bedürfe heutigentags wiederum eines Samuel, des treuen Propheten, der von Gott gerufen ist. Johannes Faust legt Luther die Hand auf die Schulter - die Geste erinnert an einen symbolischen Ritterschlag - und erklärt Luther für den neuen Samuel, den Wittenberger Propheten. Auch Luthers Beichtvater Johann von Staupitz (1465 - 1524) kommt im fünften Bild in einer Klosterszene auf diese Prophetenmetapher zurück. Er erklärt Luther, dass man Großes von ihm erwarte wie einst von Samuel. Und auch von Staupitz bestätigt, Luther sei der moderne Samuel, die Metapher ist Wirklichkeit geworden, die Sprache wird Tat. Faust, Cranach und Ulrich von Hutten lesen die 95 Thesen an der Türe der Wittenberger Schlosskirche und jubeln, dass eine neue Zeit beginne. „ Jetzt ging die Sonne auf über das deutsche Land “ (S. 59), Das Luther-Bild in der Moderne 157 sagt Strindberg-Faust. Im siebten Bild wird von den Vertretern der Papstkirche das neue Luthertum mit der Syphilis verglichen, beides breite sich gleich rasend aus. Und in der vorletzten, neunten Szene knüpft Strindberg an die Eingangsszene an. Die beiden Brüder Martin und Jakob begegnen sich wieder im Elternhaus. Luther ist nun vom Papst gebannt. Sein Vater ereifert sich darüber und wünscht seinem Sohn den Galgen, ja die Hölle. Luther will sich mit ihm aussöhnen - sicherlich eine der schwächsten Szenen im Stück, da des Vaters Gesinnungswandel völlig unmotiviert bleibt. Die Symbolkraft dieser Sequenz liegt darin, dass die Aussöhnung mit dem leiblichen Vater die Aussöhnung mit dem göttlichen Vater widerspiegelt. In der letzten Szene begegnen sich wieder Faust und Luther. Faust berichtet davon, wie das Werk der Reformation die Kirche und die Menschen verändere. Überall würden Luthers Schriften gelesen. Faust: „ Im großen gesehen, kann man also sagen: daß die Sache gesiegt hat, und daß ganz Deutschland frei ist “ (S. 87). Luther weiß dies alles nicht. Faust erklärt ihm, dass man „ das vieldeutige Wort Freiheit mißverstehen “ (ebd.) werde. Der Strindberg ’ sche Luther ist unwissend, auch naiv, eher ein Stolperer als ein aufrecht Schreitender. Es ist Nacht, die die allgemeine Dunkelheit in den Köpfen der Menschen symbolisiert. Luther ist Gefangener auf der Wartburg, Faust sucht ihn in seinem Arbeitszimmer auf. Und am Ende verkündet Faust Luther, er sei frei. Faust habe nur geholfen, das Kind Reformation zur Welt zu bringen. Luther öffnet die Tore und geht in den Sonnenaufgang hinein. Der Tag beginnt in Thüringen und - wie Faust ergänzt - in ganz Deutschland. Faust als Geburtshelfer der Reformation ist sicherlich ein reizvoller Gedanke, aber von Strindberg doch sehr klischeehaft ausgeführt. Wenn man bedenkt, dass dies der Autor von Fräulein Julie (1888) und der Gespenstersonate (1908) ist, dann bleibt Strindberg mit seinem Luther-Stück weit hinter seinen schriftstellerischen Möglichkeiten zurück. Aber dass sich die beiden Repräsentanten der deutschen Psychohistorie der Frühen Neuzeit, Faust und Luther, szenisch begegnen und Faust die Geburtshilfe der Reformation für sich in Anspruch nimmt, bleibt in der Literatur singulär. 2 Rezeptionsgeschichtlich gesehen gibt es ein bemerkenswertes Comeback von Strindbergs Luther-Drama, es soll in den 1980er Jahren, 2 Vgl. noch Wilhelm Herbst: Luther und Faust. Ein Kampf um Wittenberg. Ein dramatisches Spiel in drei Akten, mit einem Vorspiel. Berlin 1950. 158 Kapitel 5 wenn man dem Bekenntnis des Entertainers Harald Schmidt glauben will, in Augsburg zur Aufführung gekommen sein. 3 Hugo Ball (1886 - 1927) hat in Berlin die Uraufführung von Strindbergs Luther-Stück im Deutschen Künstlertheater am 5. 12. 1914 gesehen und eine Aufführungskritik des Dramas geschrieben. Diese erschien in der Zeitschrift Zeit im Bild am 27. 12. 1914 und fällt vernichtend aus - allerdings auch sehr unsachlich. Die Bewertung der Regiearbeit, „ es war eine amusische Aufführung. Von Quellenstudium nicht getrübt “ 4 , gehört zu den wenigen nicht polemischen Bemerkungen. Die Beschäftigung Balls mit der Reformation mag durch Strindbergs Stück geweckt worden sein. Er wird sich jedenfalls weiterhin mit Luther befassen. Als ein Höhepunkt dieser Auseinandersetzung kann seine Schrift Die Folgen der Reformation von 1924 angesehen werden, was hier allerdings nur angedeutet werden kann. Es fehlt eine theologische Expertise zu Ball und seinem Werk, eine Untersuchung von Balls Luther-Bild und seiner Darstellung der Reformation wäre dringend geboten und kann hier nur angemahnt werden. In der Flucht aus der Zeit (1927) schreibt Ball unter dem Datum vom 5. 6. 1919: „ Was ist doch der letzte Grund von Luthers Revolte gewesen? Er stellte das religiöse Individuum so hoch, daß er seinethalben sogar einen doppelten Rechtsbruch auf sich nahm. Heute würde er beide, das kanonische und das weltliche Recht, auf seiner Seite gehabt haben können “ (S. 236) 5 . An anderer Stelle ist die Reformation für ihn „ jene schreckliche Spaltung, die durch das ganze deutsche Geistesleben sich hinzieht “ (S. 211). Die Reformation insgesamt sei „ eine politische Gehorsamsverweigerung “ (S. 135) gewesen. Luther habe anfangs die Kultur zugunsten der Moral verworfen, doch führe eine willkürliche Moral stets in kulturelle Kategorien, so der Eintrag vom 21. 11. 1916. Dass sich hier Nietzsches Skeptizismus Gehör verschafft, ist offensichtlich. Balls Luther-Bild, das meist diffus mit seiner Wahrnehmung der Reformation als politisch defizitärer Entwicklungsstand der deutschen Kultur vermischt, ist durchaus repräsentativ für viele Literaten am Beginn des 20. Jahrhunderts. 3 Vgl. Focus Nr. 9 (1996). 4 Hugo Ball: Luther im Deutschen Künstlertheater, in: Hugo Ball Almanach 21/ 22 (1997/ 1998), S. 71 - 73, hier S. 72. 5 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit (1927). Zürich 1992. Das Luther-Bild in der Moderne 159 Von dieser Haltung hebt sich deutlich eine Autorin ab, die Luther ein ganzes Buch widmet, Ricarda Huch (1864 - 1947). Diese Schriftstellerin hat sich sogar mehrfach in ihren Büchern mit Luther beschäftigt. Heutzutage muss auch Ricarda Huch zu den vergessenen Autorinnen der Literaturgeschichte gezählt werden. Ihr Gedicht Martin, steh auf! erschien erstmals in der Anthologie Was Luther uns heute noch ist (1917): Wenn Gott zu Luther spricht: Martin, steh auf! Dann wird er vor aus schwerem Grab[e] treten Und neu beginnen seinen Heldenlauf. Wird für sein Volk und alle Menschen beten, Und wie Gewitterblitz die Nacht enthüllt, Mit heller Stimme, die die Herzen trifft, Auslegen klar die heiligdunkle Schrift. Gewaltger Träumer, wär die Zeit erfüllt! Du kehrst zurück, zu retten und zu richten. Bang harrt Natur und Mensch; aufrollend schwillt Der Vorhang vor den himmlischen Gesichten. 6 Huchs Buch Luthers Glaube. Briefe an einen Freund erschien 1916. Bereits im ersten Jahr sollen 10.000 Exemplare verkauft worden sein. 7 Rezensionen von namhaften Theologen wie Martin Rade (1857 - 1940), Eduard Thurneysen (1888 - 1974) und Ernst Troeltsch (1865 - 1923) kritisierten zwar die Unwissenschaftlichkeit des Buchs, Huchs Darstellungsabsicht fand aber Anerkennung. 8 In einem Brief vom Juni 1915 an Marie Baum konstatiert Huch verwundert eine solche Ähnlichkeit zwischen ihr und Luther, „ daß er mir ein Wegweiser sein kann. Natürlich will ich mich nicht ihm gleichstellen; wenn meine Kraft gleich 1 ist, so ist die seine gleich 20 oder 100, aber die Anlage ist dieselbe und damit die Weltanschauung u. a. Denke dir doch, daß in meinem kleinen ‚ Natur und Geist ‘ [= Natur und Geist als die Wurzeln des Lebens und der Kunst (1914)] eigentlich seine ganze Lehre enthalten 6 Ricarda Huch: Gesammelte Werke, Bd. 5. Köln 1971, S. 354 f. 7 Vgl. Hartmut Ruddies: Luthers Glaube. Briefe an einen Freund. Versuch einer Lektüre, in: Denk- und Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Über Ricarda Huch. Hgg. v. Gesa Dane u. Barbara Hahn. Göttingen 2012, S. 81 - 87, hier S. 82. 8 Vgl. Heike Fielmann: Ricarda Huch (1864 - 1947), in: Frauen-Profile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert. Hgg. v. Inge Mager. Gütersloh 2005, S. 73 - 98, hier S. 92 ff. 160 Kapitel 5 ist, nur, daß er andere Ausdrücke gebraucht, [. . .] “ . 9 Daraus lässt sich Huchs Absicht ableiten, die sie mit ihrem Luther-Buch verbindet, sie will Luther in die heutige Sprach- und Denkform des 20. Jahrhunderts übersetzen. Man hat diesen Versuch eine „‚ Luthertranslation ‘“ 10 genannt. Ob sie damit aber schon Rudolf Bultmanns (1884 - 1976) Programm einer Entmythologisierung biblischer Texte vorwegnimmt, darf bezweifelt werden. Denn Huch selbst verfällt in einen Sprachduktus, der zwischen expressionistischer Mystifikation und neuromantischer Schwärmerei changiert. Schon auf den ersten Seiten überrascht sie mit der Feststellung, dass „ der Kampf gegen die Moral oder Werkheiligkeit “ den „ Ausgangspunkt und Mittelpunkt von Luthers Lehre “ (S. 6) bilde. Ihr Buch fingiert 24 fiktive Briefe an einen Unbekannten. Huch erweitert mit diesem Text das Genre des Briefromans um einen theologischen Briefroman. Es ist eine sehr eigenwillige und individuelle Auslegung Luthers und des Luthertums, eine, die das Medium des Genres nutzt, um die eignen Mystifikationen durch den Rückgriff auf die Historie zu legitimieren. Sie meint, Luther habe „ das Recht der freien Forschung “ (S. 261) verkündet. Sie versteht ihr Buch als „ Wegweiser zum Worte von Gott “ (S. 270). Huch schrieb ferner eine Deutsche Geschichte, deren zweiter Band Das Zeitalter der Glaubensspaltung hieß und 1937 erschien. 11 Aus diesem Band wurde 1983 zur Feier von Luthers 500. Geburtstag unter dem Kunsttitel Luther das Luther-Kapitel nachgedruckt. Huch betritt mit diesem Buch den schmalen Grat zwischen erzählender Geschichtsschreibung und historisierendem Roman. Beispielhaft mag diese Textstelle sein: „ Die Verantwortung für das Schicksal eines Volkes zu tragen ist schwer und drückte so auf Luther, daß er zusammengebrochen wäre, wenn nicht seine Seele immer sich aus dem Paradiese hätte weiden können, zu dem er den Zugang hatte. “ 12 Ihr emphatischer auktorialer Stil wirkt heute antiquiert: „ Wir fühlen das Sausen der Zeit, das Gespanntsein der Gemüter auf Neues, Wunderbares, das sich jeden Augenblick begeben kann, wie es große Revolutionen mit sich bringen “ (S. 73). Im Kapitel Anfechtungen bietet 9 Zitiert nach: Fielmann: Ricarda Huch, S. 80. 10 Fielmann: Ricarda Huch, S. 81. 11 Vollständiger Titel: Deutsche Geschichte, Bd. 1 Römisches Reich Deutscher Nation (1934), Bd. 2 Das Zeitalter der Glaubensspaltung (1937), Bd. 3 Untergang des Römischen Reiches Deutscher Nation (1949). 12 Ricarda Huch: Luther. Mit einem Nachwort v. Bernd Balzer. Köln 1983, S. 69. Das Luther-Bild in der Moderne 161 sie eine engagierte Psychographie Luthers. Sie benennt die ‚ Angstzustände ‘ , seine ‚ schwarzen Gedanken ‘ . Dabei bemüht sie eine Gewittermetaphorik, mit der das Buch bereits beginnt und die sich leitmotivisch erhält. Luther hört Stimmen, und die Erzählerin Huch spielt diesen vielstimmigen Chor in einer Mischung aus erzählerischem Kommentar, fiktiver Rollenrede und innerem Monolog geschickt aus. Luther bekommt dabei fast schon christologische Züge, wenn es um seine Leiden an der Welt und seine Glaubenszweifel geht. „ Ach, ich leide mehr als alle “ (S. 167), sagt Huchs Luther. Die Erzählerin beschließt das Kapitel über Luthers „ Hölleneinsamkeit des leeren Raumes “ mit den Worten „ ein Tränenstrom beendete wohl den Anfall “ (S. 171). Huchs Geschichtsbild ist selbst historisch, wenn sie erklärt, dass Luther den Untergang des mittelalterlichen Reiches hatte aufhalten wollen und ihn stattdessen wider seinen Willen gefördert hat, bis er selbst unter seinen Trümmern zusammenbrach. 13 Allerdings gelingt ihr an einer Stelle ihres Buchs ein treffender Vergleich: „ Luther war zugleich Saul und David, das wunderbare Kind, das dem düsteren Gebieter die tröstende Harfe spielt, und der schwermütige Tyrann, der den Speer nach dem Knaben schleudert “ (S. 129). Heute wird Huchs Luther-Bild als ‚ antihistorisch ‘ gewertet. 14 Ihre Glaubenshaltung sei regressiv, unmodern und übermodern, kulturkritisch und neuromantisch, antirationalistisch und antimaterialistisch. 15 In seiner Begeisterung für den Ersten Weltkrieg geht Gerhard Hauptmann (1862 - 1946) sogar so weit, alles, was der Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes und dem Krieg dient, als Luther zu bezeichnen, die Soldaten, die Kanonen und die Maschinengewehre, alle „ sind ‚ Luther ‘“ 16 . Am Ende des Ersten Weltkriegs spricht Hauptmann in einem nicht veröffentlichten Entwurf zu einer Luther-Rede von „ dem deutschen Herakles, Luther “ 17 . Für Hauptmann war Luther nur eine politische und nationale Identifikationsfigur, ein Person gewordenes historisches Programm, das genau dies besagte, nationale 13 Vgl. Huch: Luther, S. 190. - Vgl. auch Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, S. 75 f. 14 Vgl. Ruddies: Luthers Glaube, S. 86. 15 Vgl. Fielmann: Ricarda Huch, S. 91 - 94. 16 Zitiert nach: Sprengel: Hauptmann und Luther, S. 425. 17 Zitiert nach: Sprengel: Hauptmann und Luther, S. 429. 162 Kapitel 5 Identität um jeden Preis. Ein Gedicht vom 10. 10. 1937, erstmals veröffentlicht im Jahr 2000, verdeutlicht dies: Und doch war Luther ungeheuer dem deutschen Volke ewig teuer. - Dem Deutschtum ein Schoepfer Ein Pfaffenköpfer - Der Gewaltigste Renaissanzer ein Michel Angelo, ohne Panzer. 18 Dieser Ton hat nichts gemein mit der expressionistischen Ausdruckskraft, die Reinhard Johannes Sorge (1892 - 1916) in seinem Drama Martin Luther. Der ohne Reichtum von 1914 als dritter Teil des Sieg des Christos (erstmals postum 1924 erschienen) wählt. 19 Insgesamt sind es acht Bilder, in denen er Luther als abtrünnigen Mönch und als den Unseligen usf. bezeichnet. Nach einem orgiastischen Gelage tritt am Ende der Erzengel Michael auf und im originären expressionistischen O-Mensch-Pathos ruft er den ‚ vereinigten Heerscharen ‘ zu: O Mensch, [. . .] Bitt für dein Volk, das sich dem Abfall bot! [. . .] leide alle Leiden mit, Die Christus litt in Luthers grausiger Tat! (S. 294) Mit einem Ave Maria endet das katholisierende Stück. Die aus dem Nachlass des Stefan George-Schülers Friedrich Gundolf (1880 - 1931) herausgegebenen Reimereien Luther und Lutherei aus dem Jahr 1921 sind nur deshalb erwähnenswert, weil sie die lyrische Versuchung eines Literaturprofessors durch den historischen Gegenstand seines Fachs, Luther, dokumentieren. Ob sie wirklich nur eine Selbstparodie darstellen, wie vermutet wird, oder doch eher einer Bierlaune entsprungen sind, sei dahingestellt. 20 Sie sind jedenfalls weit von dem weihevollen Ton eines Rudolf Borchardt (1877 - 1945) entfernt, der in seinem Luther-Gedicht (1935/ 36) den Reformator 18 Zitiert nach: Sprengel: Hauptmann und Luther, S. 441. 19 Wiederabdruck in: Reinhard Johannes Sorge: Werke in drei Bänden. Eingeleitet u. hgg. v. Hans Gerd Rötzer. Nürnberg 1962. Bd. 3, S. 234 - 295 u. S. 369. 20 Vgl. Friedrich Gundolf: Die deutsche Literärgeschicht Reimweis kurz fasslich hergericht. Hgg. u. mit einem Nachwort versehen v. Ernst Osterkamp. Heidelberg 2002, S. 100. Das Luther-Bild in der Moderne 163 „ Wager des Ganzen am Volk und Entzwei-Zerreißer “ 21 nennt und ihm in daktylischem Versmaß elegisch huldigt. Die Gedichtchen Gundolfs machen dagegen deutlich, dass sich auch die Bildungselite der Weimarer Republik mit Luther befasst, jenseits der bildungsgeschichtlichen Kanonisierung und ohne Sprachpathos. Keineswegs im hohen George-Ton heißt es da im Luther: „ In Luther klafft zuerst der Spalt / Von Seelenheil und Weltgestalt “ 22 , und in der Lutherei reimt Gundolf: Das Gottwort herrlich gedolmetscht, Der Widersacher derb befletscht, Das Gottwort fleissig ausgelegt . . Die Bibelfrommen reingefegt. 23 Das Luther-Bild in der nationalsozialistischen Literatur ist tendenziös und muss hier im Einzelnen nicht behandelt werden. 24 Dasselbe gilt von der Luther-Rezeption in der DDR-Literatur. 25 In Vorbereitung des Luther-Jubiläums 1983 verfasste die Autorin Helga Schütz (geb. 1937) ein Skript für einen Luther-Film, der Text wurde unter dem Titel Martin Luther - Eine Erzählung für den Film 1983 veröffentlicht. Im Hinblick auf das Jubiläum hat die SED 15 Thesen zu Martin Luther veröffentlicht, die den wissenschaftlichen und publizistischen Umgang mit dem Reformator im Sinne der Geschichtstheorie des historischen Materialismus festlegten. Man kann dies als Versuch werten, von der bis dahin gültigen Verurteilung Luthers als ‚ Fürstenknecht ‘ (Thomas Müntzer) zu einem vereinnahmenden Geschichtsbild - durchaus im Sinne eines klassischen Erbes wie im Fall der Literatur - zu gelangen, wonach Luther ein wichtiger Wegbereiter bei der Herausbildung einer sozialistischen Gesellschaft ist. Luthers Haltung gegenüber dem Bauernaufstand wird als bedauer- 21 Rudolf Borchardt: Luther, in: Ders.: Gedichte II. Übertragungen II. Stuttgart 1985, S. 46 - 48, hier S. 46. 22 Gundolf: Die deutsche Literärgeschicht, S. 5. 23 Gundolf: Die deutsche Literärgeschicht, S. 7. 24 Zu den nationalsozialistischen Luther-Festspielen vgl. Reichelt: Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg, S. 215 ff. - George B. von der Lippe: The Figure of Martin Luther in Twentieth-Century German Literature. The Metamorphosis of a National Symbol. Lewiston, New York 1996, S. 27 - 53. 25 Vgl. von der Lippe: The Figure of Martin Luther in Twentieth-Century German Literature, S. 119 - 127. - Zur Luther-Rezeption in der ehemaligen DDR vgl. Martin Roy: Luther in der DDR. Zum Wandel des Lutherbildes in der DDR- Geschichtsschreibung. Bochum 2000. 164 Kapitel 5 liche Anpassung an die fürstlichen Sieger gewertet und die Reformation stellt eine frühbürgerliche Revolution dar. 26 Johannes R. Becher (1891 - 1958) schrieb sein Luther-Gedicht 1939 im Moskauer Exil. 27 Es wurde im selben Jahr erstmals veröffentlicht und 1955 nachgedruckt, zu einer Zeit also, als Gedichte von DDR-Lyrikern in der Fortsetzung Brecht ’ scher Diktion eine klare politische Botschaft enthielten. Bechers Luther bedient sich der Form einer Ballade, sie erzählt, teils in holprigem Silbenmaß, was der Verhinderung oder wenigstens Unterbrechung einer identifikatorischen Lektüre dienen soll, eine Geschichte. Es ist die Geschichte von Martin Luther, dem Verräter. Bechers Sicht ist sehr geradlinig. Luther kommuniziert die Botschaft, vor Gott seien alle Menschen gleich. Auf dem Reichstag zu Worms kann er nur bestehen, weil er von den Bauern die Kraft zugesprochen bekommt. Sein Bekenntnis gilt einem Gott der Armen und der Schwachen. Doch dann, im sechsten Gedicht, der Umschwung, Luther drückt die Augen zu, „ schaute weg “ (S. 84). Darin kulminiert die Luther-Kritik Bechers. Nun wird er ein „ verfluchter Fürstenknecht “ (S. 85) genannt. Thomas Müntzer kommt als Gegenfigur ins Spiel. Becher lässt Luther zur Gewalt aufrufen, mit Schwert und Feuer sollten sich die Fürsten gegen die Bauern wehren, sie schinden, niederstechen, verbrennen und ermorden - allein das sei gottgefällig. Das sind die Vokabeln, die Becher wählt. Sein antireformatorischer Impetus ist unverkennbar. Am Ende ist die Bauernfahne - als Symbol der Revolution - zwar verbrannt, der Aufstand also gescheitert. Doch „ einer “ (S. 88) nimmt die Fahne, trägt sie in die nächste Stadt, bewahrt sie auf, lässt sie in seinem Herzen weiterbrennen und schwört, zukünftig nur sich selbst zu vertrauen und auf die eigenen revolutionären Kräfte zu setzen. Dieser anonyme ‚ Eine ‘ sucht sich Arbeit und findet bei einem Schmied einen Arbeitsplatz. Der Schlussvers lautet: „ Dort fand auch seine Fahne Unterkunft “ (S. 88). Dieser letzte, nur vier Zeilen umfassende zwölfte Gedichtteil eröffnet vielerlei Deutungsmöglichkeiten. Am wahrscheinlichsten ist, dass Becher auf die kommunistische Symbolik von Hammer und Sichel anspielt. Die Bauern hat er bereits ausführlich mit Versen 26 Vgl. Hartmut Lehmann: Protestantisches Christentum im Prozeß der Säkularisierung. Göttingen 2001, S. 102 - 158. 27 Vgl. Martin Luther im deutschen Gedicht, S. 78 - 88. - Ferner Thomas A. Brady Jr.: Luther und der deutsche Marxismus, in: Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme. Hgg. v. Heinz Schilling u. a. Berlin, München, Boston 2014, S. 196 - 203. Das Luther-Bild in der Moderne 165 bedacht, der Hammer steht in Gestalt des Schmieds nun für die Arbeiterklasse. Zugleich kann die Berufsbezeichnung auch die Lesart des Verseschmieds eröffnen (mit einem Seitenhieb auf den Schuhmacherpoeten Hans Sachs), bei dem nun die zukünftigen Revolutionäre in die Lehre gehen. Denn die Fahne bleibt erhalten, der Wille zur Revolution lebt weiter. Als Gottfried Benn (1886 - 1956) eine Ansichtskarte von seiner Geliebten, der Schauspielerin Tilly Wedekind (1886 - 1970) mit dem Motiv von Luthers Geburtshaus erhielt, antwortete er ihr am 17. 11. 1935 und bemerkte über Luther: „ Er ist der Zerstörer der mittelalterlichen Kultur u. einer der schlimmsten Deutschenverderber aller Jahrhunderte “ 28 . Wenige Tage später, am 21. 11. 1935, äußerte er sich ähnlich in einem Brief an F. W. Oelze (1891 - 1978): „ Luther, Wohl einer der grössten Vernichter des besseren Deutschtums, Zerstörer der grossen mittelalterlichen Kultur, dreckiger Niedersachse: Gewissensbisse anstelle von Formproblemen, moralisches statt konstruktives Denken, tiefstehender Freiheitsbegriff ( ‚ Selbstverantwortung ‘ - so ein Blech für diese Schuld-Sühne-bastarde! ) - aber Sie haben Recht: er machte Geschichte. “ 29 Das mag auch ein Reflex von Benns Parteinahme für die braunen Machthaber gewesen sein, jedenfalls wurde seine Sicht auf Luther nach dem Krieg moderater. Am 26. 5. 1950 schickte er, der selbst aus einem protestantischen Pfarrhaus stammte, in einem Brief an Thilo Koch sein spontan auf eine Radiosendung vom 26. 5. 1950 hin niedergeschriebenes Gedicht mit dem Titel Was meinte Luther mit dem Apfelbaum? Darin finden sich die Zeilen: Was meinte Luther mit dem Apfelbaum? Mir ist es gleich - [. . .] ich bin in Gott, der ausserhalb der Welt noch manchen Trumpf in seinem Skatblatt hält - . 30 Vom Revolutionspathos eines Johannes R. Becher trotz gescheiterter politischer Reformation ist Thomas Mann (1875 - 1955) ebenso weit entfernt wie vom Irrationalismus Gottfried Benns. Am Ende seines Lebens trug sich Thomas Mann mit einem Werkplan, der Luthers 28 Gottfried Benn: Briefe Bd. 4: Briefe an Tilly Wedekind 1930 - 1955. Stuttgart 1986, S. 127 [= Nr. 218]. 29 Gottfried Benn: Briefe Bd. 1: Briefe an F. W. Oelze 1932 - 1945. Wiesbaden, München 1977, S. 88 [= Nr. 52]. 30 Gottfried Benn: Sämtliche Werke Bd. II: Gedichte 2. Stuttgart 1986, S. 142. 166 Kapitel 5 Hochzeit zum Inhalt haben sollte und der auch diesen Arbeitstitel trägt. Viel mehr war über diesen Plan nicht bekannt. Erst die vollständige Edition und umsichtige Kommentierung 1996 ließ einen Blick auf Manns Notizen und demzufolge eine verlässliche Bewertung zu. 31 Weshalb wählte Mann aber ausgerechnet dieses Thema? Eine verlässliche Auskunft dazu gibt es nicht, es bleibt zu vermuten, dass die ambivalente Faszination, die Luther auf Mann ausübt, der eine Grund ist. Der andere Grund mag darin liegen, dass Mann Richard Wagners (1813 - 1883) nicht geschriebenes Drama Luthers Hochzeit adaptieren wollte; und schließlich spielten sehr enge autobiographische Motive eine Rolle, die von der psychosexuellen Ähnlichkeit bis hin zur Selbsteinschätzung und Manns Selbstanspruch als deutsche Geistesgröße reichen. Eine äußerst genaue und vollständige Übersicht der Beschäftigung Thomas Manns mit Luther, die auch die wechselnden Konjunkturen der Auseinandersetzung untersucht, bietet Hamacher. 32 Das reicht von dem Essay Heinrich Heine, der ‚ Gute ‘ (1893), über Briefzeugnisse, Tagebucheintragungen, Deutschland und die Deutschen (1945), dem Doktor Faustus (1947), Die drei Gewaltigen (1949) bis hin zu Luthers Hochzeit (1954/ 55). Unter diese Dokumente der Beschäftigung mit Luther fallen auch so verstörende Worte im Tagebuch vom 19. 10. 1937 im Anschluss an ein Nietzsche- Zitat über Luther: „ Nein Hitler ist kein Zufall, kein illegitimes Unglück, keine Entgleisung. Von ihm fällt ‚ Licht ‘ auf Luther zurück, und man muß diesen weitgehend in ihm wiedererkennen. Er ist ein echtes deutsches Phänomen “ 33 . Luther wird von Mann zwar heftig kritisiert, aber doch nicht völlig abgelehnt, es bleibt ein ambivalentes Verhältnis. Thomas Mann orientiert sich aber nahezu ausschließlich an dem negativen Luther-Bild Friedrich Nietzsches. 31 Vgl. Bernd Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan Luthers Hochzeit. Edition, Vorgeschichte und Kontexte. Frankfurt a. M. 1996. - Alle bis dahin gemachten Äußerungen über dieses Fragment können seit Hamachers Edition getrost ad acta gelegt werden. So etwa die Überzeugung, dass dieses Drama allen anderen literarischen Luther-Darstellungen überlegen gewesen wäre, weil Thomas Manns literarischer Rang über allem stehe und nur Beckmesser noch nach Abhängigkeiten fragten (vgl. Aland: Martin Luther in der modernen Literatur, 1973, S. 396 f.). 32 Vgl. Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 23 - 180. 33 Thomas Mann: Tagebücher 1937 - 1939. Hgg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1980, S. 119. Das Luther-Bild in der Moderne 167 In seiner Rede Deutschland und die Deutschen (1945), die Thomas Mann während seines Exils und während der Arbeit am Doktor Faustus (1947) zuerst im Sommer 1945 vor amerikanischem Publikum gehalten hat, kommt der Autor auf Luther als einen der großen und wirkungsmächtigen Deutschen zu sprechen. Sein Luther-Bild bleibt skeptisch bis ablehnend, im Detail folgt er wieder Nietzsches Pauschalkritik. Die längere Luther-Passage leitet er ein mit den Worten, Luther sei eine „ riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens “ 34 , die er nicht liebe. Er sei ein ungeheuer großer Mann, ein konservativer Revolutionär. Mann bescheinigt Luther Größe, er habe die deutsche Sprache „ erst recht geschaffen “ 35 . Er sei ein Freiheitsheld gewesen, habe aber nichts von Freiheit verstanden, womit Mann die politische Freiheit meint. Er attestiert ihm eine „ antipolitische Devotheit “ 36 und kommt zu dem Ergebnis, die Reformation insgesamt sei eine ‚ nationalistische Freiheitsbewegung ‘ gewesen. Diese doch sehr affektiv besetzte Ablehnung und negative Schilderung Luthers hebt die Ambivalenz hervor, mit der Thomas Mann versucht, seinem Gegenstand gerecht zu werden, und was ihm nicht gelingen will. 37 Martin Luther gehört neben Goethe und Bismarck zu jenen drei deutschen „ Monumental-Gestalten “ 38 , die Thomas Mann in seinem Essay Die drei Gewaltigen (1949) für die deutsche Geistesgeschichte reklamiert. Darin geht er mit Luther hart ins Gericht, er sei widerborstig, ein Orthodoxer, der nur eine Gegenkirche und ein Gegendogma gründen wollte, der eine neue priesterliche Scholastik errichten und neue Verketzerungen schaffen wollte, ein stiernackiger Gottesbarbar, kurz „ antieuropäisch “ . Und im selben Satz findet sich das Lob, „ seine Bibelübersetzung, eine literarische Tat ersten Ranges “ 39 , mit der er dem politisch und religiös zerrissenen Land eine literarische Einheit gegeben habe. Thomas Mann wurde für sein einseitiges Luther-Bild gleich nach Erscheinen des Essays, den er am 25. 5. 1949 auch im Stockholmer Rundfunk vorgetragen hatte, barsch 34 Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen, in: Ders.: Essays, Bd. 5. Hgg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 1996, S. 260 - 281, hier S. 266. 35 Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 267. 36 Mann: Deutschland und die Deutschen, S. 269. 37 Über die skandalisierte Aufnahme von Manns Rede informiert Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 56 ff. 38 Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 19.1, S. 650. 39 Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 19.1, S. 652. 168 Kapitel 5 kritisiert. Der Gescholtene blieb uneinsichtig und wies die Kritik zurück. Ihm war „ offenbar nicht bewusst, dass sein Luther-Bild aus den Vorurteilen der Lübecker Kindertage und aus Nietzsches Luther- Kritik zusammengesetzt war “ 40 . 1951 rezensiert Thomas Mann einen Band mit Briefen Richard Wagners, worin dieser von Überlegungen zu einem Musikdrama Luthers Hochzeit berichtet. Mann tituliert diese Pläne als „ etwas mächtig Deutsches, protestantisch Revolutionäres, volkhaft Kühnes und Biederes “ 41 . Möglicherweise hatte Mann hieraus jenen Impuls bezogen, der ihn dann zu einer intensiveren Beschäftigung mit Luther veranlasste - oder wollte er sich nur an Wagners Stelle setzen, der seinen Plan nie ausgeführt hatte, und jetzt ein Wortdrama schreiben? Ab März 1953 tritt Mann in die unmittelbare Vorbereitungsphase für die Arbeiten an einem Luther-Drama ein. Er liest die drei einschlägigen Monographien von Julius Köstlin Martin Luther (2 Bde. 1875), Roland Bainton Hier stehe ich (1952) und Karl August Meißinger Der katholische Luther (1952). Hinzu kommen Exzerpte aus der Luther-Auswahlausgabe (1955) von Karl Gerhard Steck und aus der zweibändigen Textsammlung Martin Luthers Briefe (1909), herausgegeben von Reinhard Buchwald. Aus diesen drei Werken exzerpiert Mann umfänglich. Das bedeutet, der größte Teil seines hinterlassenen, 47 Seiten umfassenden Manuskripts sind Fremdzitate und inhaltliche Wiedergaben des gelesenen Textmaterials, unterbrochen von nur sehr wenigen, äußerst knappen eigenen Kommentaren Thomas Manns. 42 Hier einige Beispiele: Den Bauernkrieg kommentiert Mann nach Köstlins Darstellung „ als Produkt seiner [sc. Luthers] Lehre im Wirklichen; das Grauen vor dem Wirklichen “ 43 . Über die Verheiratung mit Katharina von Bora schreibt er: „ Dazu das sexuelle Problem, die Beunruhigung durch die Frage, ob er soll oder nicht soll, genährt von manchen Aufforderungen, es zu tun und inneren Zweifeln und Widerständen. [. . .]. Es ist ein Akt religiösen Aufruhrs, der ja gut, notwendig, evangelisch ist im Gegensatz zum politischen. Aber dann wieder kommt ihm die Idee ungeistig und seiner erwähl- 40 Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 19.2 [Kommentar], S. 744. 41 Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 88. 42 Hamacher unterscheidet zwischen Kommentar und „ Eigengut “ Thomas Manns. Dem folgen wir hier nicht. 43 Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 202 (im Original kursiv). Das Luther-Bild in der Moderne 169 ten Person unwürdig vor. “ 44 Mann resümiert: „ Ein Heiliger ist das nicht, sondern ein Dämon. Aber die Mischung des Dämon und Gewalt, seiner Wut und volkstümlich schlauen Roheit [! ] mit dem Lyrischen, Poetischen, Kindlichen, dem ‚ Vom Himmel hoch da komm ich her ‘ , dem Lieben, Biederen, Treuherzigen, worin er Trost, Stillung, Ruhe vor sich selbst findet “ 45 . Porträtiert sich hier Thomas Mann am Ende selbst? Wenige Seiten später, beim Exzerpt von Baintons Luther-Buch, liest man eine ähnliche Beurteilung Luthers: „ Widerspruch zwischen seinem Anrennen gegen den Cölibat, seine Ermahnungen an Priester, zu heiraten, seine Verherrlichung des gottgewollten und schweren, prüfungsvollen, aber fruchtbaren Ehestandes - und seiner eigenen Abneigung, zu heiraten “ 46 . Mehr Material ist nicht vorhanden, Thomas Mann stirbt am 12. 8. 1955. Die für die Thomas-Mann-Exegeten entscheidende Frage lautet, kann diesen Exzerptnotizen eine poetologische Bedeutung, also kann ihnen die Weihe poetischer Gestaltbarkeit zugesprochen werden? Vor diesem Hintergrund bleibt es unverständlich, wie man Thomas Manns kommentierte Exzerpte bereits als großartigen Entwurf eines Luther-Dramas fehlinterpretieren kann. Man muss schon sehr viel Phantasie und Wohlwollen aufbringen, um in diesen dürren Bemerkungen Manns Ansätze für „ die schönste, heiterste und gerechteste Luther-Dichtung unserer Literatur “ 47 erkennen zu wollen. Auch Jochen Klepper (1903 - 1942) hat ein literarisches Fragment hinterlassen, das Fragment zu einem Luther-Roman mit dem Titel Die Flucht der Katharina von Bora. Das Besondere an diesem Fragment ist - etwa im Unterschied zu Thomas Manns Luther-Fragment - , dass es als ein in sich geschlossener poetischer Text gelesen werden kann. Bis heute fehlt aber eine Untersuchung, die den Konstruktionsplan des Erzählfragments und seine Entstehungsgeschichte verlässlich rekonstruiert. Dies ist umso verwunderlicher, als der Roman oder das Romanfragment mehrere Taschenbuchauflagen bis in die 1980er Jahre hinein erlebt hat. Den biographischen Hintergrund kennt man, die Tagebucheintragungen Kleppers zum Roman könnten vollständig ausgewertet werden. Allerdings mag die editorische 44 Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 202 f. 45 Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 225 f. 46 Hamacher: Thomas Manns letzter Werkplan, S. 233. 47 Hartung: Luther-Bilder in der deutschen Literatur, S. 23. 170 Kapitel 5 Situation ein wenig verwirrend sein. Erstmals wurden die Tagebuchaufzeichnungen Kleppers unter dem Titel Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 - 1942 48 veröffentlicht. Diese Textauswahl ist mit einem Geleitwort versehen von Reinhold Schneider (1903 - 1958). Auf dieser Ausgabe beruht die titelidentische Teilauswahl Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 bis 1942 49 . Reinhold Schneider ist zunächst der Einzige, der nicht von einem Katharina von Bora-Roman spricht, sondern diesen Plan Kleppers einen Luther-Roman nennt, er erkennt, worum es darin eigentlich gehen sollte. In seinem Geleitwort von 1956 schreibt er: Das Thema des Luther-Romans aber wäre ein Leben aus dem Wort, wie es der Dichter erstrebte, gewesen. Was bleibt der Phantasie? Und ist es von Luther her denkbar, daß sein Leben als Roman dargestellt wird? Kann man, wenn man Tag für Tag, Stunde für Stunde Luthers Augen auf sich fühlt, [. . .] die Geschichte seines Geistes, seines Herzens in einer Form erzählen, deren Bestimmung es nun einmal ist und bleibt, Unterhaltung Suchenden Freude zu machen? Vernichtet nicht der ungeheure Ernst des Themas, der Lutherischen Existenz, das künstlerische Wachstum? Ist hier noch das Klima der Kunst, des Romans, des Spiels, der Vortäuschung? 50 Klepper habe gefühlt, dass dies sein letztes Thema sein werde, nach dessen Abschluss er kein Buch mehr schreiben könne. 51 Das ist Spekulation, gewiss. Aber Spekulation auf hohem Niveau, denn Schneider, selbst Autor und Lyriker, erkennt das Kernproblem, dem sich Klepper und alle anderen Autoren, die sich mit dem Giganten Luther beschäftigten, ausgesetzt sehen: Wie ist es möglich, eine solche große historische Gestalt literarisch in den Griff zu bekommen, ohne sie zu überhöhen, ohne sie lächerlich zu machen oder ohne sie zu deformieren? Schon im Sommer 1932 trägt Klepper in sein Tagebuch ein, er halte den sozialen Roman für überholt, für „ abgewirtschaftet “ 52 . Alle seine Themen und Probleme seien in die Politik überführt. Die „ depravierte Kirche [ist] der Romanstoff der kommenden Zeit. Aber ich werde 48 Hgg. v. Hildegard Klepper. Auswahl, Anmerkungen u. Nachwort v. Benno Mascher. Stuttgart 1956. 49 Hgg. v. Hildegard Klepper. Auswahl, Anmerkungen u. Nachwort v. Benno Mascher. Gekürzt v. Günter Wirth u. Ingo Zimmermann. 2. Aufl. Gießen 2002. 50 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (1956), S. 11. 51 Vgl. Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (1956), S. 12. 52 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (1956), S. 20. Das Luther-Bild in der Moderne 171 niemals bewußt reformatorisch schreiben “ 53 . Am 9. 8. 1935 taucht dann die erste konkrete Überlegung zum Roman in den Tagebüchern auf: „ Heut sprachen wir zum ersten Mal von Katharina von Bora, als könnte das das nächste Buch (ein noch kaum vorstellbarer Gedanke) sein. [. . .] Auch kenne ich die Fabel ihres Lebens noch nicht. Aber das erste Pfarrhaus zieht mich natü[r]lich mehr und mehr an. Und bei der Flucht in die Historie wird es wohl doch noch bleiben müssen . . . “ 54 . Klepper erkennt, dass zu diesem Zeitpunkt aufgrund der allgemeinen politischen Entwicklung in Deutschland die Wahl des Stoffes einer Flucht aus der Gegenwart gleicht. Denn Probleme der Gegenwart in die Geschichte zu verlagern ist Kleppers Sache nicht, er schreibt historisierend, fernab der Gegenwart. Mehr als zwei Jahre später heißt es am 16. 3. 1938, an Katharina von Bora sei überhaupt nicht mehr zu denken. 55 Fünf Tage später ist die Rede von einem Romanprojekt mit dem Titel Das Ewige Haus, so sollte der Katharina von Bora-Roman ursprünglich lauten. Bemerkenswert ist die Eintragung vom 25. 3. 1938 - und fast gleichlautend ein Jahr später am 13. 3. 1939 - , aus ihr geht hervor, dass Klepper in der Figur der Katharina von Bora seine eigene Frau porträtiert. Am 13. 3. 1939 berichtet das Tagebuch, ein endgültiger Arbeitsplan für das Ewige Haus sei entworfen. Klepper will von nun an acht Stunden täglich an diesem Romanprojekt arbeiten. Die politische Situation, die drohende Kriegsgefahr und dann der Kriegsausbruch im September 1939 machen diese Pläne zunichte, die Arbeit ist für lange Zeit fast gänzlich unterbrochen. Im Dezember 1940 wird Klepper zum Militärdienst eingezogen, im Oktober 1941 aber wegen seiner nichtarischen Ehe als wehrunwürdig entlassen. Am 22. 10. 1941 findet sich im Tagebuch dann nochmals ein Versuch, an die Projektidee und das Material anzuknüpfen, mit der Bemerkung, „ nur durch Luthers Predigten vermag ich mich allmählich an das Ewige Haus heranzutasten “ 56 . Aber erst am 16. 2. 1942 nimmt er die Arbeit am Roman wieder auf, ordnet seine Materialmappen und beschäftigt sich mit Quellentexten. Am 17. 5. 1942 folgt die resignierte Feststellung, fünf Jahre Arbeit am Roman seien verloren, am 20. Juni die fast trotzige Behauptung, die Arbeit am Roman 53 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (1956), S. 20. Diese Textstelle ist nicht in der Ausgabe von 2002 enthalten. 54 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (2002), S. 180. 55 Vgl. Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (1956), S. 566, fehlt in Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (2002). 56 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (2002), S. 557. 172 Kapitel 5 sei „ keine Flucht in meiner heutigen Situation “ 57 , aber gleich danach folgt die Einsicht: „ Die Menschen des Buches um Luther und Katharina leben noch nicht. Es liegt ein Trost darin - im Hinblick auf meinen geistig zermürbten Zustand - , daß, auch bei strenger Selbstprüfung, diese Quellenarbeit noch sein muß “ 58 . Selbstzweifel finden sich in der Eintragung vom 7. Dezember: „ Wie konnte ich je glauben, Katharina von Bora, in der sich alles das verdichtet hat, zu schreiben, solange dieses, Hannis Schicksal noch in den erregtesten, aufgewühltesten Ereignissen abläuft? [. . .] Dieses Buch, das wie eine Entscheidung auf Tod und Leben geworden ist “ 59 . Am 11. 12. 1942 wählen Klepper, seine Frau Hanni und die Stieftochter Renate den Freitod. Der Roman, der nicht vollendet werden konnte, wird 1951 unter dem Titel Die Flucht der Katharina von Bora von Karl Pagel aus dem Nachlass herausgegeben. Die erste Auflage hat zudem noch diesen Vortitel: Das Ewige Haus. Die Geschichte der Katharina von Bora und ihres Besitzes. 1954 war bereits das 12. Tausend gedruckt. 60 Weitere Auflagen und Ausgaben folgten in den 1950er und 1960er Jahren und 1978. 1983 erschien der Roman als Taschenbuch im 15. Tausend. 1986, 1991 und 2000 kamen weitere Auflagen dazu. All das zeigt, dass Kleppers Roman gelesen wurde und wird, von unterschiedlichen Generationen. Er hat zwar noch keinen Platz in der Literaturwissenschaft, wohl aber in der deutschen Literaturgeschichte gefunden. Das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass der Roman als Fragment bezeichnet wird. In der wissenschaftlichen Wahrnehmung, wenn man von Spezialstudien zum Luther-Roman absieht, dominiert Kleppers sehr erfolgreicher historischer Roman Der Vater (1937) über den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. In der Literatur fand Klepper einen Nachfolger. Thorsten Becker (geb. 1958) hat 2009 den Versuch unternommen, den Fragment gebliebenen Luther-Roman Kleppers fertig zu schreiben unter dem Titel Das ewige Haus. Ob dies möglich ist, ob dies gelungen ist, ob dies statthaft ist, angesichts von Kleppers Freitod auch den Titel des Romanprojekts zu übernehmen, dies einer fiktiven Figur Gisbert Gutsche in den Mund zu legen, dessen Biograph und Herausgeber der Erzähler ist - darüber muss jeder Leser selbst entscheiden. 57 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (2002), S. 619. 58 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (2002), S. 619. 59 Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (2002), S. 646. 60 Vgl. Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel (1956), S. 1155. Das Luther-Bild in der Moderne 173 Was ist also der Grund, weshalb Kleppers Luther-Roman heute kaum bekannt ist und kaum mehr gelesen wird? Es mag daran liegen, dass der Autor einen Sprachduktus wählt, der schon zur Zeit der Entstehung des Romans äußerst manieriert wirkte und sich diese Art des historischen und historisierenden Romans erschöpft hat. Gleichwohl vermeidet Klepper gekonnt die Gefahr der sprachlichen Verkitschung und Trivialisierung. Um dies zu verdeutlichen, sei auf ein Zitat zurückgegriffen, das Walther Killy als Beleg für die Trivialisierung von Luther-Erzählungen im 19. Jahrhundert angeführt hat. In dem Roman Katharina von Bora - Luthers Ehegemahl (1879) von Armin Stein sagt Katharina von Bora zu ihrem Mann: „ Herzliebster Herr Doctor! . . . wie habet Ihr uns schon wieder erschrecket und mit Sorge erfüllet. Warum thuet Ihr doch also? “ , worauf Luther antwortet: „ Was ist es, daß du mich verklagest, Katharina? Meinest du, es sei etwas Schlechtes, das ich vorhabe? “ 61 Diese Art von Luther-Darstellung verfällt wieder in jenen Reflex der Legenden- und Heiligenbildung, die man literaturgeschichtlich aus der ersten Phase der literarischen Luther-Bilder des 16. Jahrhunderts kennt. Allerdings nun ausstaffiert mit der Biedermeierlichkeit und Betulichkeit wilhelminischer Gesellschaftsvorstellungen und - dies zeigt sich besonders an den Feiern anlässlich von Luthers 400. Geburtstag 1883 - mit der politischen Maßgabe nationaler Identitätsbildung. Luther wurde zum Vorläufer Bismarcks. Dieser Gefahr unterliegt Klepper 50 Jahre später nicht, ihn schützt sein schriftstellerisches Selbstverständnis, wonach er zwar historisch darstellt, nicht aber die kritische Distanz zum historischen Gegenstand verliert. Im Übrigen gibt es nur sehr wenige Romane und Erzählungen, die explizit Katharina von Bora zur Hauptfigur wählen, im 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert bis in unsere Tage hinein ist es nicht mehr als ein knappes Dutzend. Klepper entscheidet sich in seinem Luther-Roman also für eine historische Gestalt, die nur gelegentlich Gegenstand literarischer Darstellungen geworden ist. 62 Alfred Döblin (1878 - 1957), der große Klassiker der Moderne, bricht für den historischen Roman eine Lanze. Sein Essay Der historische 61 Zitiert nach: Killy: Luther in der trivialen Erzählung, S. 294 f. 62 Dass Klepper dabei auch seinem Selbstverständnis als christlicher Autor verpflichtet ist, hat sehr minutiös Oswald Bayer aufgezeigt, vgl. Oswald Bayer: Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie. Tübingen 1999, bes. S. 41 - 64. 174 Kapitel 5 Roman und wir, erschienen 1936 in einer Moskauer Exilzeitschrift, liest sich geradezu wie eine poetologische Anweisung für Jochen Kleppers Luther-Roman. Vermutlich haben beide Schriftsteller einander nicht gekannt, und wahrscheinlich war Klepper auch diese Schrift Döblins unbekannt. Bei den zeitgenössischen Lesern sind historische Romane sehr beliebt, Autoren wie Gustav Regler mit Die Saat (1936), Hermann Kesten mit Ferdinand und Isabella (1936) und Döblin selbst mit seinem Roman Wallenstein (1920) und der ab 1937 erscheinenden Amazonas-Trilogie haben diese Romangattung zuverlässig beliefert. Weiter verfassten historische Romane in den 1930er Jahren Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Reinhold Schneider, Werner Bergengruen, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Otto Flake und andere. 63 Und in diese Reihe der sehr erfolgreichen historischen Romane gehört natürlich Klepper selbst mit Der Vater (1937). Ob dieser Roman tatsächlich einer „ der bedeutendsten historischen Romane der antifaschistischen Literatur “ 64 ist, sei dahingestellt. Die literaturwissenschaftlichen Urteile über den Luther-Roman sowie über Kleppers Verhalten gegenüber der NS-Literaturpolitik sind nicht einheitlich. Klepper hat mehrmals versucht, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden und auch seinen Ausschluss wieder rückgängig zu machen. Diese Tatsache ist im Zusammenhang mit seinem Bemühen zu sehen, weiterhin als Schriftsteller veröffentlichen zu wollen. Am 14. 12. 1933 stellt er den Antrag zur Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller. Bis zum Jahresende 1932 hatte Klepper dem am 11. 3. 1933 aufgelösten Schutzverband Deutscher Schriftsteller angehört, einer berufsständischen Organisation, deren Vorsitz in den 1920er Jahren unter anderem Alfred Döblin hatte. Dieser Schutzverband Deutscher Schriftsteller wurde durch politische Vorgabe in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller überführt. Die zwangsweise Mitgliedschaft diente der Gleichschaltung und Überwachung aller Intellektuellen. Am 11. 5. 1933 findet das statt, was als nationalsozialistische Bücherverbrennung in die Geschichte eingegangen ist. Der Reichsverband Deutscher Schriftsteller wiederum wird am 1. 10. 1935 aufgelöst und geht zwangsweise in die Reichsschrifttumskammer (RSK) über. 63 Wer eine heutige Variante eines historischen Romans sucht, sei auf Karin Jäckel: Die Frau des Reformators. Das Leben der Katharina von Bora (Reinbek b. Hamburg 2006), verwiesen. 64 Hugo Aust: Der historische Roman. Stuttgart, Weimar 1994, S. 136. Das Luther-Bild in der Moderne 175 Klepper stellt den Aufnahmeantrag und muss dazu einen politischrassistischen Fragebogen ausfüllen. 65 Am 25. 3. 1937 erhält er die Mitteilung, dass er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wird, da er nicht geeignet sei, „ durch schriftstellerische Veröffentlichungen auf die geistige und kulturelle Entwicklung der Nation Einfluss zu nehmen “ , so der Originalwortlaut der Begründung. 66 Am 2. 9. 1937 bekommt Klepper eine Sondergenehmigung, um veröffentlichen zu können, er muss aber alle Manuskripte zuvor zur Prüfung der Reichsschrifttumskammer vorlegen. Die Konkurrenz unterschiedlicher Dienststellen verschärft die enorme existenzielle Unsicherheit, in der Klepper diese Zeit überdauern muss: Einberufung im September 1940 zur Polizeireserve, im Januar 1941 Einberufung zur SA, zugleich ist Klepper aber seit dem 3. 12. 1940 als Soldat in Fürstenwalde stationiert. Bis zu seiner Entlassung aus dem Wehrdienst am 9. 10. 1941 bleibt er Soldat. Die Sorge um seine jüdische Frau, der Gedanke, er könne sie durch ein patriotisches Engagement schützen, lassen ihn zwischen Zermürbung und Hoffnung schwanken. Insgesamt kennzeichnet Kleppers Haltung eine „ fast tragisch zu nennende Vaterlandsliebe “ 67 , er ist gerne Soldat, in seinem Werk und in seinem Leben sucht er die Synthese aus Christentum und Preußentum. Er ist aber kein Kämpfer, er leistet keinen direkten politischen Widerstand. Er versucht seine Frau zu schützen, er ist seiner Haltung nach ein national gesinnter Protestant, der das NS-Regime als schwere geistliche Prüfung betrachtet. „ Der ‚ Fall Klepper ‘ ist ein Symbol des gewaltlosen und des leidenden Widerstands “ 68 , aber auch ein Beispiel „ tragischer Verblendung “ 69 . Noch 1941 schreibt Klepper in einem Beitrag für die preußisch-protestantische Zeitschrift Eckart: „ Damals glaubten wir noch, daß der Krieg etwas sei, das unser menschliches Herz hart machen müsse. Später haben wir gewußt, daß der Vormarsch eines Heeres zu einer Pilgerfahrt des Herzens werden kann “ 70 . Vor diesem 65 Vgl. Ernst G. Riemschneider: Der Fall Klepper. Eine Dokumentation. Stuttgart 1975, S. 22. 66 Faksimile des Originals bei Riemschneider: Der Fall Klepper, S. 30. 67 Riemschneider: Der Fall Klepper, S. 115. 68 Riemschneider: Der Fall Klepper, S. 5. 69 Rolf Stöver: Protestantische Kultur zwischen Kaiserreich und Stalingrad. Porträt der Zeitschrift Eckart 1906 - 1943. München 1982, S. 184. 70 Zitiert nach: Stöver: Protestantische Kultur zwischen Kaiserreich und Stalingrad, S. 196. Irritierend und unangenehm zu lesen ist auch der Auszug aus 176 Kapitel 5 Hintergrund wird deutlich, dass der Autor Klepper eingespannt ist in die Erwartungen des Literaturbetriebs (er gilt ja nun als Verfasser eines bedeutenden historischen Romans), in die Restriktionen der NS-Literaturpolitik und in die Glaubensbedingungen, die er für sich als Christ formuliert. 1940 erscheint Kleppers 29 Seiten umfassender Traktat Der christliche Roman. Darin lehnt er jeglichen Gegenwartsbezug in einem christlichen Roman ab. Was genau dies sei, bleibt undeutlich, erkennbar aber ist Kleppers Bemühen, sich gegen die Notwendigkeit zu immunisieren, Stellung zu politischen Themen beziehen zu müssen. Kein Stoff, kein Gestaltungsmittel und keine Darstellungsform sind dem Christen als Epiker verwehrt. Was macht dann einen Roman zu einem christlichen Roman? Kleppers Antwort: „ Zum christlichen wird ein Roman dieser Art dadurch, daß er von der Sonderung von Gott, von der Sünde, handelt und nicht von allgemeiner Dämonie, Melancholie und Tragik “ 71 . Der christliche Dichter müsse die Welt so beschreiben, wie sie sei, zugleich müsse er seine Dichtung zur „ Botschaft von der Guten Botschaft, dem Evangelium “ 72 machen. Gegenstand sind die großen Taten Gottes, die der Dichter in der Historie findet. Der christliche Epiker muss sich dem „ historischen Roman “ zuwenden, denn „ was ist ’ s anderes als Kunde zu geben von der Führung menschlichen Lebens durch Gott? ! “ 73 Deshalb ist die Abgeschlossenheit des Handlungs- und Entwicklungsablaufs des historischen Sujets gegenüber dem zeitgenössischen zu bevorzugen. Am Ende dieses Essays wird deutlich, dass Klepper zwar vom christlichen Roman und dem christlichen Epiker spricht, im Grunde aber doch den evangelischen Epiker und den evangelischen Roman meint. Er zitiert Luthers Wort aus der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der deutschen Schriften (1539): „ Denn auch alles ander schreiben in und zu der schrifft, wie Johannes zu Christo, weisen sol “ (WA 50, S. 657), und erklärt: „ Das ist dem christlichen Schriftsteller der Sinn seiner Arbeit, das Ziel seines Dienstes “ . 74 Am Ende spricht Klepper tatsächdem Text Teestube, worin die deutschen Soldaten als gewissenhaft, vorbildlich und nett beschrieben werden (vgl. ebd., S. 197). Man kann dies heutzutage nur als bewusste Verdrängung Kleppers von weltpolitischen und nationalen Themen verstehen. 71 Jochen Klepper: Der christliche Roman. Berlin 1940, S. 9. 72 Klepper: Der christliche Roman, S. 13. 73 Klepper: Der christliche Roman, S. 19. 74 Klepper: Der christliche Roman, S. 25. Das Luther-Bild in der Moderne 177 lich vom ‚ evangelischen Dichter ‘ . 75 Und wie eine Selbstbeschwörung klingt es, wenn er hervorhebt, dass der christliche Epiker auch dann an der Erlösung teilhat, „ wenn sein Werk selbst unter das Gericht Gottes fällt “ . 76 Übertragen auf den Autor kann man daraus ein Selbsterlösungsargument ableiten. Sollte ihm, Klepper, sein Werk also misslingen, so hat dies keinen Einfluss auf die Gnadenzusage Gottes. Sollte es ihm aber gelingen, so wertet ihn sein Werk gegenüber Gott nicht auf, da für ihn als überzeugten Protestanten die Gerechtigkeit Gottes nicht durch Werke, sondern allein aus Gnade (sola gratia) zu erfahren ist. Dann stellt sich allerdings die Frage, weshalb Klepper überhaupt des literarästhetischen Konstrukts eines christlichen Romans und eines christlichen Epikers bedarf? Die Antwort bleibt der Text schuldig. Für den heutigen Betrachter drängt sich zudem der Eindruck auf, Klepper vermeide als Künstler unter allen Umständen eine Berührung mit seiner Gegenwart. Mit seinem Schlüsselsatz „ Der historische Roman ist erstens ein Roman und zweitens keine Historie “ 77 entfacht Alfred Döblin in seinem Aufsatz Der historische Roman und wir eine lebhafte Diskussion. Klepper unterliegt nicht jener „ politischen Kastration “ , von der Döblin spricht, die es den Autoren nicht mehr ermöglichte, große „ historische Stoffmassen zu mobilisieren “ . 78 Der historische Roman solle über die historische Wirklichkeit aufklären, damit er die Mechanismen von Macht und Unterdrückung in der Gegenwart entlarven könne. Döblin schließt seinen Essay mit den Worten: „ Der unermüdliche Kampf aller Menschen, besonders der Armen und der Unterdrückten, um Freiheit, Frieden, echte Gesellschaft und um Einklang mit der Natur, gibt genug Beispiele für Tapferkeit, Kraft und Heroismus “ 79 . Kleppers Luther-Roman ist ein historischer Roman, der die Möglichkeiten der inneren Emigration und der literarischen Widerständigkeit gegen das NS-Regime nutzt und die politische Freiheit in der Glaubensfreiheit erfüllt sieht. Er thematisiert unter den Bedingungen des Nationalsozialismus das Problem der Führung, dessen christliche Bedeutung und gesellschaftliche Aufarbeitung Klepper ein Anliegen ist. 75 Vgl. Klepper: Der christliche Roman, S. 28. 76 Klepper: Der christliche Roman, S. 29. 77 Alfred Döblin: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Olten 1989, S. 299. 78 Döblin: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 314. 79 Döblin: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 316. 178 Kapitel 5 Wie viel Text hätte Klepper noch gebraucht, um den Fragment gebliebenen Roman abzuschließen? Das lässt sich nur schwer abschätzen. Die Teile indes, die erhalten sind, können durchaus als ein in sich geschlossenes Ganzes gelesen werden. Dieser Auffassung will ich bei der weiteren Lektüre folgen und insofern konsequent von einem Roman und nicht mehr von einem Romanfragment sprechen. Unstrittig ist es, dass der Roman über Katharina von Bora in den Kontext des Themas Luther und die Literatur gehört. In der Reihe der hier vorgestellten Texte mag es allenfalls überraschen, dass dieser Roman Erwähnung findet, solange man allein der Fokussierung auf den Titel folgt. Denn vom Titel her gesehen handelt der Roman ganz offensichtlich nicht von Martin Luther. Allenfalls als Randfigur mag der Reformator darin erscheinen, eben als Ehemann der Katharina von Bora. Die Frage, was Die Flucht der Katharina von Bora mit Luther zu tun hat, beantwortet sich erst vom Ende des Textes her. Und noch zwei weitere Gründe rechtfertigen die Textauswahl. Einmal gehört der Autor selbst zu den wenigen, gekonnt im Stil der großen Erzählprosa des späten 19. Jahrhunderts schreibenden Autoren, es ist fast ein Fontane-Ton, den er weiterentwickelt. Das mag unter streng wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht besonders bemerkenswert sein, dann gälten Text und Autor als Epigonen einer großen, verflossenen Erzählkunst. Auf der anderen Seite haben aber auch Autoren wie Thomas Mann beispielsweise diesen Ton gepflegt und - trotz aller Stilirritationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts - in die Moderne hinübergerettet. Die einen spricht das an, die anderen halten das für antiquiert. Jochen Klepper nun findet in den frühen 1930er Jahren zu diesem seinem Ton und seiner Erzählkunst. Und so mag es erlaubt sein zu dieser Bewertung zu gelangen: Klepper schreibt den im 19. Jahrhundert so schmerzlich vermissten großen Luther-Roman, ohne nationales Pathos, ohne konfessionelle Borniertheit, aufrecht und authentisch in der Erzähltradition eines Theodor Fontane. Dem Roman ist ein Motto vorangestellt - „ Fürchte dich nicht, glaube nur! “ (S. 31) 80 - , das lediglich mit dem allgemeinen Hinweis auf die Bibel belegt ist. Dadurch beansprucht dieses Wort aus der Sicht des Autors Allgemeingültigkeit. Tatsächlich findet sich dieser Glaubens- 80 Ich zitiere nach folgender Taschenbuchausgabe: Jochen Klepper: Die Flucht der Katharina von Bora. Aus dem Nachlass hgg. u. eingeleitet v. Karl Pagel. 2. Aufl. Gütersloh 1983. Das Luther-Bild in der Moderne 179 zuspruch in drei Evangelien als Jesus-Worte wieder (vgl. Mt 9, 22, Mk 5, 36, Lk 8, 50). Auf der Inhaltsebene gleicht er dem Handlungs- und Lebensmotto der Katharina von Bora, wie sie uns Klepper vorstellt, die furchtlos und unerschrocken handelt, sich auf vielerlei Gefahren und Unwägbarkeiten einlässt, dabei allein ihrem Glauben vertrauend. Auf der Ebene des zeithistorischen Kontextes, besonders mit Blick auf die eigene Lebenssituation des Autors und den erschwerten Arbeitsbedingungen sowie der politischen Repressionen bedeutet das Motto auch ein Zuruf an die eigene Person. Klepper wagt dieses schwierige Unterfangen, den Roman in diesen Zeiten zu schreiben, er stellt darin ein Schicksal dar, das dem seinen und ganz besonders dem Schicksal seiner Frau gleicht. Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas haben die Wundergeschichte von der Auferstehung eines toten Mädchens und die dahingehörenden Jesus-Worte überliefert. Familienmitglieder des Synagogenvorstehers kommen mit der Nachricht, seine Tochter sei gestorben. Daraufhin wendet sich Jesus ihm zu und spricht die Worte: „ Fürchte dich nicht, glaube nur! “ Die Hoffnung auf eine Auferstehung drückt die Hoffnung auf eine Veränderung aus, nicht nur im theologischen Sinne, sondern auch und besonders in der realen historischen Situation. Auch wenn für Klepper seine Gegenwart nach 1933 den Tod als Schriftsteller, das Verstummen, die politische Repression bis hin zur Auslöschung seiner selbst und seiner Familie bedeutet, so beharrt er doch auf dem Glauben an eine in der Zukunft liegende Veränderung und Verbesserung. Die erzählte Zeit ist eine Aprilnacht, genauer die Osternacht im April, also die Nacht vor dem Ostersonntag, dem Auferstehungssonntag. Im Roman selbst wird die Zeit an der Stelle genannt, wo die Nonnen mit ihren drei Begleitern „ an diesem Ostermorgen des Jahres 1523 “ (S. 116) in die Stadt Torgau einziehen und nun in Sicherheit sind. Liest man Kleppers Romananfang in die Spur historischer Daten ein, dann handelt es sich - nach dem damals gültigen julianischen Kalender - um die Nacht vom 4. auf den 5. 4. 1523, als Katharina von Bora aus dem Kloster floh. Die Datierung 6. auf 7. 4. 1523, die gelegentlich zu lesen ist, beruht auf einer Rückrechnung nach dem gregorianischen Kalender, der allerdings erst ab dem Jahr 1583 Gültigkeit besitzt, und ist so gesehen historisch nicht korrekt. Klepper beschreibt den nächtlichen Sternenhimmel. „ Das edle Kreuz des Schwanes trat glänzend aus der Finsternis der Osternacht “ (S. 31). Das Sternbild des Schwans, auch Kreuz des Nordens genannt, ver- 180 Kapitel 5 bindet den Beginn des Romans augenblicklich auf der symbolischen Bedeutungsebene mit dem reformatorischen Symbol Martin Luthers. Die symbolische Bedeutung des Schwans wird geschichtlich mit einer Legende erklärt. Der tschechische Kirchenkritiker Jan Hus (1369 - 1415) war auf dem Konstanzer Konzil 1415 wegen Ketzerei zum Tode verurteilt und am 6. 7. 1415 öffentlich verbrannt worden. Bevor er starb, soll er gerufen haben: „ Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan auferstehen “ . Die reformatorische Bewegung hat dies schon früh auf Martin Luther umgedeutet. Die Ikonographie ‚ Luther und der Schwan ‘ war schon bald nach Luthers Tod weit verbreitet. Allerdings hat Luther selbst an der Entstehung dieses bildlichen Symbols seinen Anteil. Erstmals taucht der Hinweis auf Hus als dem Vorläufer Luthers von ihm selbst ins Spiel gebracht in einem Brief auf. Am 14. 2. 1520 teilt er seinem Briefpartner Spalatin mit: „ Ego imprudens hucusque omnia Iohannis Huss et docui et tenui. Docuit eadem imprudentia et Iohannes Staupitz. Breviter: sumus omnes Hussitae ignorantes. Denique Paulus et Augustinus ad verbum sunt Hussitae “ (WA BR 2, S. 42), zu Deutsch: „ Bis jetzt habe ich alles von Jan Hus gelehrt und verwendet, ohne es zu kennen. Johann von Staupitz tat unwissentlich das Gleiche. Kurz, wir alle sind Hussiten, ohne es zu wissen, auch Paulus und Augustinus sind es aufs Wort “ 81 . Die philologische Erklärung des Namens Hus, was tschechisch Gans bedeutet, war auch Luther schon bekannt. In der Verklärung etlicher Artikel in dem Sermon von dem heiligen Sakrament (1520) liest man: „ [. . .] drumb das Johannes Huß heyße auff bemisch Joannes Ganß “ (WA 6, 81). In der Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528) dient Luther die Bemerkung „ Luther ist ein ander Hus “ (WA 26, S. 273) zur Erklärung der buchstäblichen und der übertragenen Bedeutung eines Wortes. „ Luther ist Hus, Luther ist ein ander Hus, Luther ist ein rechter Hus, Luther ist ein newer Hus “ (WA 26, S. 274), variiert er dieses Beispiel und beruft sich dabei auf Horaz ’ Ars Poetica. In der Glosse auf das vermeinte kaiserliche Edikt (1531) schreibt er schließlich: „ Sanct Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem gefegnis jnn Behemerland schreib, Sie werden jtzt eine gans braten (denn Hus heisst eine gans), Aber uber hundert jaren werden sie einen schwanen singen hören, Den sollen Sie leiden. “ (WA 81 Zitiert nach: Siegfried Hoyer: Luther, Hus und ‚ die Böhmen ‘ , in: Luther mit dem Schwan - Tod und Verklärung eines großen Mannes. Ausstellungskatalog. Berlin 1996, S. 13 - 20, hier S. 13. Das Luther-Bild in der Moderne 181 30/ 3, S. 387) Luther kannte die Vorgänge um Hus ’ Anklage wegen Ketzerei, Verurteilung und Tod, die Konzilsakten waren bereits 1500 gedruckt worden und Handschriften kursierten in den Klöstern mit Abschriften und Auszügen aus den Schriften von Hus. Aber erst nach Luthers Tod wurde das Bonmot von der Gans als der Metapher des reformatorischen Vorläufers aus Böhmen und dem Schwan als der Metapher des eigentlichen Nachfolgers und Reformators gedruckt. Luther musste es also zuvor mündlich kennengelernt haben. Übrigens wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Volksliedvers überliefert, der auf diesen historischen und metaphorischen Sachverhalt anspielt: Heut in des argen Feuers Glut, Heut in des argen Feuers Glut, Ein arme Gans ihr braten tut, Nach hundert Jahren kommt ein Schwan, Den sollt ihr ungebraten lan. 82 Das in Kleppers Roman beschriebene Sternbild des Schwans war - historisch gesehen - in der Osternacht 1523 möglicherweise gar nicht zu beobachten, da es nur im Sommer erkannt werden kann. Entscheidend ist aber, dass Klepper mit diesem sternkundlichen Hinweis seinem Text eine symbolische Bedeutung einschreibt, die sich in der Spannung zwischen dem ‚ Kreuz des Nordens ‘ als Sternbild des Schwans bzw. als Luthers Verheißung und der Finsternis auf der Erde eröffnet. Mit Luthers Zeichen am Firmament und ihrem unerschütterlichen Glauben fühlt sich die Flüchtige Katharina von Bora sicher. Und die Finsternis auf Erden wird durch den Osterglauben vertrieben. Diese Spannung basiert für Bora allerdings auf einem Wortbruch, sie muss nämlich ihr Ordensgelübde brechen. Somit ist zugleich auch die Spannung zwischen der Bedeutung von Gottes Wort und der vermeintlichen Unantastbarkeit des Menschenworts gegeben - und damit eines der zentralen theologischen Themen Luthers aufgegriffen. Klepper liest von Beginn an in die Spur einer theologisch-konfessionellen Darstellung die biographische Linie der Katharina von Bora ein. Denn ihre Flucht hat nicht nur eine konfessionelle Dimension, dass sie sich vom altkirchlichen Glauben 82 Zitiert nach: Friedrich Goethe: So wurde der Schwan zum Luther-Emblem, in: Luther mit dem Schwan - Tod und Verklärung eines großen Mannes, S. 62 - 65, hier S. 62. - Vgl. auch Liebl, Kopitzki (Hg.): Die Gans ist noch nicht gebraten. Ein Lesebuch zum Konstanzer Konzil. Meßkirch 2014. 182 Kapitel 5 abkehrt und dass sie ihr Ordensgelübde bricht. Vielmehr muss sich Bora auch vor einer weltlichen Strafverfolgung fürchten. Strafhistorisch gesehen stand die Todesstrafe auf die Entführung von Nonnen aus Klöstern. Beispielsweise war in den 1520er Jahren in Dresden ein Exempel an einem Bürger statuiert worden, der eine Nonne aus einem Kloster entführt hatte. Er wurde mit dem Schwert hingerichtet, sein Leichnam an Pfahl und Galgen öffentlich geschändet. 83 Diese Rechtspraxis vor Augen flieht Katharina von Bora mit ihren Glaubensgenossinnen. So dominant Katharina von Bora als Figur im Roman bleibt, so sehr ist Luther als Bezugspunkt und gedankliche Konzeptualisierung vorhanden, denn natürlich weiß der Leser, dass Katharina von Bora die zukünftige Frau des Reformators ist. Die „ Wittenberger Frohe Botschaft “ (S. 127) wird aber erst am Ende des Romans explizit erwähnt. 1508/ 09 kam Katharina ins Zisterzienserinnenkloster Marienthron in Nimbschen bei Grimma. Margarethe von Haubitz, die Äbtissin des Klosters, war eine Tante Katharinas. Die Zehnjährige genoss eine privilegierte Schulbildung, neben dem Beten lernte sie zu lesen und zu schreiben, sie übte das Singen und bekam Lateinunterricht, sie lernte Sticken und musste leichte Gartenarbeit ausführen. Im Kloster lebten 43 Nonnen, „ alle entstammten sie dem Adel aus dem kurfürstlichen und herzoglichen Sachsen “ (S. 63). 1536 wurde das Kloster aufgelöst. Ihr einjähriges Noviziat begann Katharina von Bora 1514. Am 18. 10. 1515 legte sie ihr Ordensgelübde ab. Wie und wann sie mit den reformatorischen Schriften Luthers in Berührung kam, ist nicht bekannt. Der Ratsmann von Torgau Leonhard Koppe organisierte die Flucht. Die zwölf flüchtigen Nonnen wurden in leeren Heringsfässern auf einem Versorgungswagen versteckt - bei Klepper kauern die Nonnen zwischen den Fässern (vgl. S. 85). So blieb die Flucht zunächst unbemerkt, und Koppe konnte sich auf den langen Rückweg machen, von Torgau nach dem Kloster Nimbschen sind es immerhin mehr als 50 Kilometer. Drei der Nonnen fanden sofort Zuflucht bei ihren Angehörigen, deshalb ist bis heute die Rede von neun flüchtigen Nonnen. Diese wurden von Luther und seinen Freunden zunächst versteckt gehalten, um dann weitervermittelt 83 Vgl. Brückner, Gruppe: Luther als Gestalt der Sage, S. 286. Das Luther-Bild in der Moderne 183 zu werden. Am 13. 6. 1525 heirateten Luther und Katharina von Bora, Johannes Bugenhagen traute das Brautpaar. Klepper schildert gleichsam in einem Einleitungsteil, wie sich auch der Dienstknabe Andreas auf die Flucht vorbereitet. Die Funktion dieser Einleitung liegt in der Spiegelung der Fluchtgeschichte, die nun auch als biblische Geschichte gelesen werden kann, und in der Antizipation der eigentlichen Fluchtgeschichte der Nonnen. Der Erzähler spielt ganz offensichtlich auf ein Gleichnis Jesu an, das Gleichnis von den zehn klugen und den zehn törichten Jungfrauen. Die Nonnen sind Jungfrauen und werden nach kirchlichem Verständnis als Himmelsbräute bezeichnet. Klepper nennt „ heimlich hergebrachte Schriften “ (S. 37), die den jungen Andreas das Verständnis für das Wort Gottes gelehrt hätten - damit können nur die reformatorischen Schriften Luthers gemeint sein. „ Der Ruf des Gotteswortes war vernommen “ (S. 37). Luthers Wort wird als Vollstreckung von Gottes Wort verstanden. Was die Nonnen auf der narrativen Ebene als biblischen Text für die Osternacht lesen (nämlich dieses biblische Gleichnis), das erleben sie in ihrer konkreten Lebenswirklichkeit, das Wort Gottes wird auf diese Weise lebendig. Das ist ein erzähltechnischer Trick, den Klepper hier gekonnt anwendet. Spannung wird dadurch erzeugt, dass Klepper den Verrat des Fluchtplanes nahelegt, was sich im weiteren Verlauf aber als Blindmotiv herausstellt. „ Das Evangelium vom Bräutigam und der Braut, dem Freund des Bräutigams und den hochzeitlichen Jungfrauen “ ist das „ heimliche Zeichen “ (S. 43) der Nonnen, mit dem sie sich untereinander zu erkennen geben. Diese sprachliche Kodierung bezieht sich auf das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen, das Jesus nach dem Evangelium des Matthäus (Mt 25, 1 - 13) erzählt, wobei sich die fliehenden Nonnen in dieser Allegorie als die klugen Jungfrauen wähnen: Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen. Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: 184 Kapitel 5 Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein; geht aber zum Kaufmann und kauft für euch selbst. Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde. Die Flüchtigen müssen eine hohe Mauer überwinden. Klepper folgt der allgemeinen Überlieferung, wonach nur neun Nonnen aus dem Kloster flohen. Er wertet die Neunte dadurch auf, dass er zunächst nur von acht fliehenden Nonnen berichtet, die neunte ist die heimlich mitgeflohene und erst spät von Koppe entdeckte Katharina von Bora. Ihr Name fällt am Ende des Einleitungsteils (vgl. S. 39), Leonhard Koppe ahnt nichts von ihrer Fluchtabsicht. Doch auch die anderen Nonnen wussten nichts von Katharinas Flucht, sie gibt sich ihnen zu erkennen kurz bevor sie den inneren Bereich des Klosters verlassen. Auch in dieser Situation wird das Sternbild des Schwans beschworen, er sei ein „ des Wittenberger Gottesboten seit langem prophezeites Zeichen “ (S. 43). Der Schritt aus der Isolation des Klosters hinaus in die Welt wird vom Erzähler als ein Schritt vom Tod zum Leben, von der „ Erwartung zur Erfüllung “ , von der Hochzeitsvorbereitung zur Hochzeit selbst interpretiert (vgl. S. 44). Katharina von Bora wird zu den klugen Jungfrauen gehören. An dieser Stelle wird die Allegorie des biblischen Gleichnisses für Katharina als vorausschauender lebensgeschichtlicher Entwurf geöffnet, auch sie wird wirkliche Braut werden - und nicht nur geistliche bleiben - und heiraten. Sie erlebt die Flucht als Aufbruch in eine verheißungsvolle Zukunft. Katharina betet einige Psalmverse, aber in der neuen Übersetzung Luthers, der nun als „ Prophet und Evangelist von Wittenberg “ (S. 44) bezeichnet wird. Drei Männer warten jenseits der Klostermauern auf die Nonnen: Leonhard Koppe, Ratsherr von Torgau, Leonhard Koppe der Jüngere, ein Neffe des älteren Koppe, und Wolfgang Dommitzsch. Die Nonnen sind: 1.) Magdalena von Staupitz, 2.) und 3.) die beiden Schwestern Margarete und Veronika von Zeschau, die die Flucht vorbereiteten, 4.) Elsa von Canitz, 5.) Ave Gosse, 6.) Lonatha von Golis, 7.) und 8.) Margarete und Ave von Schönfeld, und 9.) Katharina von Bora, verwandt mit der Äbtissin des Klosters. Nun sitzen zwölf Personen im Wagen, und Koppe nimmt dies zum Anlass einer allegorischen Das Luther-Bild in der Moderne 185 Deutung, von den zwölf Jüngern Jesu sei einer ein Verräter gewesen. Elf Personen im Wagen wären ihm deshalb lieber. Die Allegorie wird zum Aberglauben, aus dem die große Angst spricht entdeckt und bestraft zu werden. In den Augen der Äbtissin, die noch in der Nacht die Flucht entdeckt, ist Luther „ der Ketzer von Wittenberg “ (S. 60), der nicht nur Gotteswort eigenmächtig übersetzt, sondern dies auch noch in der Sprache des Volkes vollbringt. Die Flüchtigen sind nun die Abtrünnigen, die ihr Ordensgelübde verletzt haben. Das unter den beiden Herrschern, den Brüdern Kurfürst Ernst (1441 - 1486) und Herzog Albrecht III. (1443 - 1500) in der sogenannten Leipziger Teilung von 1485 aufgeteilte Sachsen wird zum Sinnbild des in kleine und kleinste Reichsgebiete zerstückelten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der Beginn der Reformation wird von Klepper mit der politischen Neuorientierung Deutschlands verknüpft - für Klepper steht dies außer Zweifel, dass die Reformation von Beginn an auch ein politisches Ereignis ist. „ Brach eine Zeit an, in der man um des Gotteswortes willen zwischen vieler deutscher Länder Grenzen wie ein Flüchtling oder Räuber dahinziehen sollte? Nahm es in Sachsen nur den Anfang? Sollte vielleicht gar bald ganz Deutschland wie ein zerschlissenes fürstliches Staatskleid sein, das hier zu reißen begann? “ (S. 72) Katharina erzählt dem älteren Koppe, der den Wagen lenkt, Luthers Schriften seien im Kloster unter den Schwestern kursiert, sie habe sofort erkannt, dass in diesen Worten das Heil beschlossen sei (vgl. S. 87). Katharina wird als eine aufmerksame und neugierige Person beschrieben, die sich für die Arbeit der Bauern interessiert, die sich aufzulehnen beginnen gegen die Zwangsdienste - das „ Wittenberger Evangelium “ (S. 106) habe die Bauern aufsässig gemacht, sie verweigerten nun den Frondienst, heißt es an einer Stelle - , und die schließlich erkennt, dass sie im Kloster vom wirklichen Leben abgeschnitten war. Die Frage „ wo war die Welt “ (S. 98) wird für sie zur Leitfrage. Über Martin Luther heißt es, er sei wie ein Erzengel von der Wartburg herniedergefahren, man habe auf die Wiederkunft des neuen Propheten gewartet, von der neu erworbenen evangelischen Freiheit ist die Rede, Gottes Wort sei wie ein fressendes Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt, in die Welt gefallen (vgl. S. 78 f.). Klepper übernimmt hier im Wortlaut die Feuermetapher aus Psalm 50, 3 und im Wortlaut die Hammermetapher aus Jeremia 23, 29. Das beleuchtet das zugrundeliegende narrative Verfahren: Klepper bemächtigt sich der biblischen Sprache, er implementiert Bibelverse 186 Kapitel 5 in seinen Erzähltext außerhalb der Figurenrede und erreicht damit zweierlei: Einmal einen weihevollen Ton, der die nahezu heilsgeschichtliche Bedeutung der Flucht der Katharina von Bora herausstreicht, denn wäre sie nicht geflohen, hätte Luther sie nicht geheiratet und wie wäre dann die Reformation verlaufen? Zum anderen trennt dieses Verfahren Kleppers Text scharf von einer in den historisierenden Kitsch abgleitenden Darstellung. Diese Funktion der Bibelverse wird zusätzlich verstärkt durch den Rekurs auf altertümliche Wörter, die Klepper regelmäßig in den Text einstreut; sie weisen den Roman insgesamt fast schon als eine historische Quelle aus, aus der berichtet wird - und betont den Wahrheitscharakter der Erzählung. Beispiele für diese historisierende Sprache sind: „ geweilte Zeit “ (S. 57), „ Rosselenker “ (S. 82), „ Gefahr und Beschwer “ (S. 88), „ Verwandte und Gefreundte “ (S. 89), „ Schulmaidlein “ (S. 96), „ Gebresten “ (S. 101), „ Bangnis “ (S. 111), „ benedeien “ (S. 112) usf. An diesen Stellen öffnen sich Gefahrenmomente, wo aus dem historischen Roman ein historisierender Trivialroman werden kann. Klepper umgeht diese Gefahr aber meisterhaft, indem er nur punktuell auf diesen historischen Wortschatz zurückgreift. Kurz bevor der Wagen mit den Nonnen die Stadt Torgau erreicht, betont der Erzähler, dass Katharina von Bora nun frei sei von jeglichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit ihrer Flucht. „ Das Neue hatte sich ihrer bemächtigt “ (S. 104). Es ist von einem großen Wandel die Rede, der sich in immer neuen Zeichen zeige. Von einer neuen Zeit, die nun angebrochen sei, wird gesprochen. Dann zitiert Katharina aus einer Schrift Luthers: „‚ Ein Gelübde ‘ , sagte Katharina von Bora und wurde zum Munde Lutherischer Lehre, ‚ wenn es auch schon in allen Stücken göttlich und recht, ist, so es unmöglich ward, kein Gelübde mehr - und bindet auch nicht gegen Gott. ‘“ (S. 107) Hier wird fast wörtlich jene Textstelle zitiert, die Luthers Haltung gegenüber den Gelübden der Mönche und Nonnen zusammenfasst. Das Zitat findet sich im Original in der lateinischen Schrift De votis monasticis Martini Lutheri iudicium (1521): „ Votum, etiam si per omnia pium et rectum fuerit, tamen si impossibile factum fuerit, desinit esse votum nec amplius etiam apud deum potest ligare “ (WA 8, S. 630, Z. 4 - 6). 84 Zu Deutsch: „ Wenn auch ein Gelübde in allem fromm und recht gewesen ist, so hört es doch, wenn es unmöglich geworden ist, auf, ein Gelübde zu sein und kann nicht 84 Vgl. Luther Walch-Ausgabe Bd. 19 [1889], Sp. 1596. Das Luther-Bild in der Moderne 187 mehr bei Gott binden “ 85 . Leonhard Koppe kennt diese Schrift Luthers über die Klostergelübde, er weist darauf hin, dass sie vor zwei Jahren, also 1521, erschienen und dass sie in lateinischer Sprache verfasst sei. Er lobt die gute Übersetzungsarbeit der Nonne, sie habe Wortlaut und Inhalt des Textes verstanden. Katharina von Bora gehört nun zu jenen, die das Büchlein innerlich befreit hat. Als die Flüchtigen bereits vor den Toren der Stadt Torgau sind und die Glocken des Osterläutens hören, es muss dann ca. fünf oder sechs Uhr morgens sein, müssen sie die Fahrt unterbrechen, denn ein Lamm steht mitten auf dem Weg. Man mag geneigt sein Klepper vorzuwerfen, an dieser Stelle eine etwas zu dick aufgetragene Symbolsprache mit all ihren metaphorischen und sprachlichen Einschlüssen gebraucht zu haben. Denn das Lamm wird in einer übertragenen Bedeutung sofort verknüpft mit dem Osterlamm. Dadurch, dass Klepper aber genau an dieser Stelle die Metaphorik und Symbolik nur als Deutungsangebot formuliert, vermeidet er, dass diese Textpassage ins Kitschige und Triviale abrutscht. Das erzählerische Arrangement bietet ein „ beseligendes Bild “ und weniger „ Wirklichkeit “ dem „ frommen Auge “ , das zudem die unsichtbare Siegesfahne des Osterlamms sieht. (S. 108) Mit anderen Worten, wer diese Symbolik sehen will, der kann sie sehen, für alle anderen ist es ein Lamm in einer Schafherde. Eigentliche und uneigentliche Redeweise begegnen sich hier und erlauben leserspezifische Deutungen. Als die rettende Stadt erreicht ist, stimmt Koppe einen Gesang an, in den die Nonnen gleich einfallen, sie singen das von Luther hoch geschätzte Osterlied Christ ist erstanden. Die zweite Strophe dieses Lieds „ Wär er nicht erstanden, / so wär die Welt vergangen “ lässt sich mühelos wieder auf Luther beziehen. Durch sein entschiedenes reformatorisches Wirken ist es den Nonnen überhaupt erst möglich gewesen, dem Kloster und den Fesseln des altkirchlichen Glaubens zu entfliehen. Gabriel Zwilling (um 1487 - 1558) war Luthers Klosterbruder bei den Augustinermönchen und schloss sich schon früh Luthers reformatorischem Bemühen an. Die Zeitgenossen halten ihn für einen „ zweiten Propheten [. . .], der das Evangelium ebenso unverfälscht 85 Übersetzung nach Martin Luther: Freiheit und Lebensgestaltung. Ausgewählte Texte. Hgg. u. teilweise neu übersetzt v. Karl-Heinz zur Mühlen. Göttingen 1983, S. 157. 188 Kapitel 5 und ebenso rein verkündigt “ 86 wie Luther. Auch bei Klepper wird Zwilling als wortgewaltiger Verkünder der neuen Botschaft bezeichnet (vgl. S. 119). Zwilling hält in der Kirche Sankt Marien in Torgau nach der Ankunft der Nonnen den Auferstehungsgottesdienst, seine Worte gleichen einer theologischen Ansprache, deren Inhalt die Frauen längst kennen. „ Denn mit des Wittenbergers Worten ward den neun nun offenbar, was bis dahin ihr Herz nur in geheimen Ängsten bedrängte “ (S. 119). Klepper nimmt die Beschreibung der Architektur des Kirchenbaus zum Anlass, auf einer symbolischen Ebene über die Grundlage des neuen, nämlich reformatorischen Glaubens zu reflektieren. „ Allein das Wort Gottes “ (S. 120) sei dessen Basis. Klepper nimmt damit Luthers berühmtes Wort ‚ sola scriptura ‘ , allein die Schrift, die sich aus sich selbst erklärt, auf und hebt dessen Grundlegungscharakter in Entgegensetzung zum gängigen altkirchlichen Verständnis vom vierfachen Schriftsinn hervor. Ein mittelalterlicher Lehrsatz verdeutlicht dieses überkommene Textverständnis, danach berichtet der buchstäbliche, wörtliche Textsinn vom Geschehen, der allegorische Textsinn lehrt, was man zu glauben hat, der moralische Textsinn unterrichtet, was zu tun oder zu lassen ist, und der anagogische Textsinn weist die Richtung, wohin man in seinem Glauben streben soll. An dieser Stelle des Romans wird deutlich, weshalb der ursprüngliche Titel des Romans Das Ewige Haus heißen sollte - gemeint ist damit jenes ewige, unsichtbare Haus des Glaubens, das im lutherischen Verständnis allein auf Gottes Wort gegründet ist. Dieses ewige Haus wird sichtbar „ in Wittenberg auf das Wort Gottes gegründet “ , und als dies Katharina von Bora in der Predigt vernimmt, hebt sie „ den Kopf, rasch und freudigen Ausdrucks “ (S. 122). Die Frauen wenden sich an Luther selbst, als sie weder bei ihren Herkunftsfamilien noch bei Freunden unterkommen können, sie schreiben „ an den hochgelehrten Doktor Martinus Luther zu Wittenberg “ (S. 130) einen Klagebrief über ihr Elend und ihre Situation, sie erwarten von ihm neben Rat auch Trost und Hilfe. Nicht nur die Altgläubigen in Torgau, sondern auch die verwickelte landespolitische Situation machen den weiteren Aufenthalt der Frauen unberechenbar. Der Adel des Landes war zwar schon von der neuen Lehre 86 Brief von Sebastian Helmann an Johann Heß vom 8. 10. 1521, in: Die Reformation in Augenzeugenberichten. Hgg. v. Helmar Junghans. 2. Aufl. Düsseldorf 1967, S. 203. Das Luther-Bild in der Moderne 189 infiziert, aber noch nicht bereit, ihr konsequent zu folgen. Leonhard Koppe hält eine trostspendende und ermunternde Ansprache an die Frauen und schließt mit den Worten: „ Doktor Martinus trägt Euch auf betendem Herzen. Mag alles ungewiß sein - dieses eine ist gewiß. Und Wittenberg ist Euer aller nächstes Ziel! “ (S. 135). Katharina von Bora stellt nun die entscheidende Frage, da Luther ja bislang nur von acht geflohenen Nonnen weiß, ob auch sie sich ihm nahen dürfe. Bevor die Frauen sich noch in ihren Kutten zur Ruhe begeben, beten sie gemeinsam Verse aus dem ersten Korintherbrief (Kap. 15, 51 - 55 und 57), die Klepper nahezu wörtlich aus der Luther-Bibel in der Textredaktion von 1912 übernimmt. Diese Implementierung von Bibelzitaten am Ende des Romans unterstreicht nochmals die Engführung von lebensgeschichtlichen Motiven zur Flucht der Nonnen und dessen fast schon als Sendungsauftrag zu bezeichnenden religiöser Durchdringung. Zumindest kann man von einem Sendungsbewusstsein der Neun sprechen, das sich im lesenden und betenden Rückgriff auf Bibeltexte seiner Unanfechtbarkeit versichert. Die letzten Worte des Romans lenken den Blick auf den Reformator und heben dessen Menschsein hervor. In diesem Sinne warnt Klepper davor, Luther zu idealisieren und in die Fehler der Luther-Verehrung der vergangenen Jahrhunderte zurückzufallen, denn: „ Doktor Martinus ist ein Mensch. [. . .] Ja, ein Mensch “ (S. 139). Auf dieser Grundlage und mit dieser Einsicht kann die Übernahme reformatorischen Wissens in die eigene Lebenspraxis stattfinden. Für die ehemalige Nonne hat die Zeit der Reformation begonnen. Im Jahr 1961 erscheint ein englisches Drama mit dem Titel Luther. Der Verfasser ist der Dramatiker und Drehbuchautor John Osborne (1929 - 1994). Sein erfolgreichstes Theaterstück ist Look Back in Anger (dt. Blick zurück im Zorn) von 1956, das mit Richard Burton in der Hauptrolle auch verfilmt wurde. Eine Gruppe junger englischer Autoren bezeichnete sich als Angry Young Men nach diesem Stück von Osborne. Sie thematisierten die gesellschaftliche Entfremdung und die sozialen Konflikte der 1950er und 1960er Jahre im Nachkriegsengland. Osborne nennt sein Luther-Drama von 1961 im Untertitel schlicht Ein Stück in drei Akten. 1963 wird es ins Deutsche übersetzt und erscheint abseits von allen Jubiläums- und Gedenkdaten. Die Personenzahl des Stücks ist überschaubar, nicht ausufernd, wie in den Luther-Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts. 17 sprechende Figuren, einige stumme. 190 Kapitel 5 Luther wird nur mit seinem Vornamen genannt. Als Dramatiker steht Osborne in der Nachfolge einer Theorie des Epischen Theaters nach Bertolt Brecht (1898 - 1956), wie er es unter anderem im Kleinen Organon für das Theater (1949) schriftlich festgehalten hat. Demnach darf das Theater auf gar keinen Fall zur Identifikation der Zuschauer mit dem Dargestellten oder mit handelnden Figuren einladen. Im Gegenteil, diese mögliche Identifikation muss immer wieder aufs Neue gebrochen und unterbrochen werden. Das ist das Moment der Verfremdung. Inwieweit auch expressionistische oder gar symbolistische Anleihen im Text zu finden sind, soll hier nicht interessieren. 87 Osborne zieht dieses Register schon in der ersten Regieanweisung. Die Figur des Ritters erscheint zu Beginn eines jeden Aktes. „ Er hält ein Banner in der Hand, ruft dem Publikum mit knappen Worten Zeit und Ort der folgenden Szene zu und zieht sich dann zurück “ (S. 6). 88 Der Ritter erhält damit eine Erzählerfunktion. Zeit und Ort und die zwölf Einzelszenen in drei Akten werden in einem Überblick zusammengestellt. Insgesamt werden 21 Jahre von Luthers Tätigkeit erfasst. Ein Zwischenvorhang zeigt Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel von 1513. Gleich in der ersten Szene erscheint Bruder Martin, wie er 1506 in der Eremitenkirche in Erfurt in den Augustinerorden aufgenommen wird. Der Prior bekräftigt das Gelübde. Wenn Martin erst einmal in den Orden aufgenommen sei, dürfe er das „ Joch des Gehorsams “ (S. 7) nicht mehr abwerfen. Osborne setzt damit bereits in der Eingangssequenz ein deutliches Merkmal der Biographie und der theologischen Tätigkeit Luthers. Dort, wo es sein Glauben und Gewissen von ihm verlangen, kann er nicht anders als sich gegebenenfalls auch gegen den Zwang des Gehorsams gegenüber Papst und Kirche zu stellen. Ein Motiv der Autoritätskritik wird in diese Worte gelegt. Prekär wird die Szene dadurch, dass der Zuschauer weiß, das Gehorsamsgelübde gegenüber Gott und der Kirche wird der frisch gebackene Mönch nicht halten können. Daneben wird ein zweites wichtiges Lebensmotiv von Luther genannt. Im abschließenden Gebet bittet der Prior Gott um die „ Gnade “ , dass Bruder Martin sein bleiben dürfe und das ewige Leben zu gewärtigen habe. „ Denn 87 Vgl. dazu Luc Gilleman: John Osborne. Vituperative Artist. A Reading of His Life and Work. New York, London 2002, bes. S. 88. - Die englische Erstrezeption und Kritiken deutscher Aufführungen sind auszugsweise bei Aland nachzulesen (Luther in der modernen Literatur 1973, S. 121 ff.). 88 John Osborne: Luther. Ein Stück in drei Akten. [1961]. Frankfurt a. M. 1963. Das Luther-Bild in der Moderne 191 nicht der da anfängt, sondern der da aushält, wird errettet werden “ (S. 8). Damit wird in dieses Gebet bereits Luthers späteres Verständnis der Gnade Gottes als alleiniger theologischer Rechtfertigungsgrund eingelesen. Die Rechtfertigung allein durch Werke, wie sie Grundlage des Ablasswesens der Kirche in dieser Zeit ist, zeichnet sich hier schon als Konflikthorizont ab. All dies ist aber in der Rezeption beim Zuschauen oder Lesen des Stücks nur deshalb wahrzunehmen, weil der Autor Osborne gerade damit spielt, mit dem Vor-Verständnis der Rezipienten. Osborne setzt also einen einigermaßen belesenen Zuschauer oder Leser voraus. Entgegen der zu erwartenden Verfremdungsmechanik verwendet Osborne eine durchaus altertümelnde, theologisch sehr verdichtete Sprache. Bei der Initiation in den Orden ist auch Martins Vater Hans (auch bei ihm gibt Osborne nur den Vornamen an) zugegen. Er sei, so liest man in der Regieanweisung, „ im Begriff, ein kleiner primitiver Kapitalist zu werden “ (S. 8). Dies muss also vor allem durch den Habitus des Vaters theatralisch umgesetzt werden, womit deutlich wird, dass Osborne, sofern er von einer Aufführung seines Stücks ausgeht, auf die überdurchschnittliche Kreativität von Regisseur und Schauspieler setzt. Auch diese Einheit in der Erfassung einer Rolle entspricht dem Selbstverständnis des Epischen Theaters. Autor, Regisseur und Schauspieler erarbeiten in einem kontinuierlichen Diskussions- und Gestaltungsprozess die Grundlage dafür, dass es am Ende gelingt, Schauspieler und Rolle deutlich voneinander zu trennen. Die Entstehung des Kapitalismus aus dem Geiste der protestantischen Arbeitsethik ist dann ein Thema, das Dieter Forte in seinem Stück wieder aufgreifen wird. Bei Osborne wird lediglich die Frage aufgeworfen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Entstehung des Protestantismus und der Entstehung des Kapitalismus gibt. Lucas wäre der mögliche Schwiegervater von Martin geworden. Auch er ist bei der Ordination anwesend und im Gegensatz zum eigenen Vater Hans ist er sehr ergriffen von der Szenerie und dem Vorgang. In Hans spiegelt sich die Enttäuschung darüber, dass sein Sohn nun der Welt entzogen ist, „ er hätte ein Mann von Geltung werden können “ (S. 10). Der ‚ Kapitalist in Ausbildung ‘ verband mit seinem Sohn die Utopie vom sozialen Aufstieg. Er grübelt darüber, was die Gründe sein mögen, die Martin dazu veranlassten, in den Mönchsorden einzutreten. Bevor Hans fragt, warum Martin dies getan habe, findet sich in der Regieanweisung eine bemerkenswerte 192 Kapitel 5 Anmerkung: „ Er hat inzwischen aufgehört, eine ‚ Rolle ‘ zu spielen “ (S. 10). Der Vater deckt damit den Beginn der reformatorischen Bewegung auf, es ist die Frage der Fragen nach dem reformatorischen Urgrund: Weshalb tut Luther das, was er tut? Der Vater im Stück nimmt diese Frage vorweg und überblendet sie auf die Weltabgewandtheit des Sohnes. Damit erweist sich dieser Moment der dramatischen Entwicklung als eine Spiegelung des tatsächlichen historischen Verlaufs. Nicht die Frage, weshalb Luther Mönch wurde, ist im eigentlichen Sinne historisch relevant, sondern vielmehr die Frage, weshalb er aus dem Orden ausgetreten ist? Der Schauspieler als Rollenrepräsentant tritt aus seiner Rolle als Vater von Martin Luther heraus und stellt nun als Repräsentant gleichsam der Leser und Beobachter jene Frage, welche die Grundlage jeder literarischen und nicht-literarischen Auseinandersetzung mit Luther ist: Weshalb hat Luther so gehandelt, wie er gehandelt hat? Nach dem Abgang von Hans und Lucas wendet sich das Stück wieder der Binnenperspektive katholischen Glaubens zu. Während einer Mahlzeit im Refektorium bedient Martin die Mönche, ein Vorleser stellt die Frage, was die Instrumente guter Werke seien, und listet den Katalog aller Antworten auf. Während Martin Luther also dient, werden die guten Werke des Glaubens abgehandelt. Damit wird sinnbildlich in diese dramatische Sequenz das gegossen, was die Eingangsszene als Horizont abgeschritten hatte, die Spannung nämlich zwischen Gnade, Glauben und guten Werken, im Dienen und im Gehorsam. In der anschließenden Gemeinschaftsbeichte, die voller Dringlichkeit und wie ein Gebet beinahe flüsternd durchgeführt werden soll, bekennt Bruder Martin: „ Ich bin allein, ich bin allein und wider mich selbst “ (S. 13). Dieses Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühl mit der Erkenntnis, gegen sich selbst zu handeln, ist die Grundlage für Martins weiteres Wirken. Die Frage, wie er gerechtfertigt werden könne im und durch den Glauben, drängt sich ihm auf. Die Hybris, er könne „ unzerstörbar “ (S. 14) sein, bildet eine Zwischenstation dieser Beichte, die immer mehr die Form eines inneren Monologs annimmt, lediglich unterbrochen durch die parallele Beichte eines Mitbruders. Martin bekennt, dass er gegen das Gebot der Demut verstoßen habe - die Hybris ist eingeholt und entschärft. Der Mitbruder erdet Martin, indem er diese Beichte mit den Worten abschließt: „ Möge sich Bruder Martin aller Stufen der Demut erinnern; und möge er fortfahren, die Latrinen zu säubern “ (S. 15). Doch nun wendet sich Martins Schuld- Das Luther-Bild in der Moderne 193 gefühl als Autoaggression gegen ihn selbst. Er bekommt einen Tobsuchtsanfall - dies und das Nachfolgende ereignet sich nur als stumme Szene, durch die der Text der ausführlichen Regieanweisung zu lesen ist - , er kann kaum von seinen Mitbrüdern gebändigt werden und er vermag nur diese Worte zu schreien: „ Nicht! Ich! Ich bin nicht! “ (S. 16). Für den Zuschauer bleibt noch rätselhaft, was in Bruder Martin vorgeht, weshalb er sich gegen etwas wehrt und wogegen er sich eigentlich wehrt. Allerdings liegt aufgrund des allgemeinen kulturellen Vorwissens der Zuschauer, mit dem Osborne ganz offensichtlich spielt und kalkuliert, die Vermutung nahe, dass Bruder Martin einen Auftrag oder im theologischen Sinne eine Berufung erfahren hat, die Berufung die Kirche zu reformieren. Damit würde sich Osbornes Stück in die Reihe jener Luther-Darstellungen stellen, die in dem Reformator den Propheten sehen, der eine göttliche Berufung erfahren hat und so handeln muss und nicht anders handeln kann. Die Szene schließt ab mit der Regiebemerkung, die Andacht gehe weiter, als ob nichts geschehen wäre. Als erste Reaktion auf den ungeheuren Selbstanspruch Luthers erfolgt ein völliges Ignorieren durch seine Mitwelt. Die nächste Szene zeigt als Bühnenrequisit ein zaunpfahlgroßes Schlachtermesser an der Decke hängend. Martin Luther tritt auf und klagt, er habe den Leib eines Kindes verloren. Diese Klage wiederholt er immer wieder, gekoppelt mit dem Bekenntnis, er habe Angst. Der verlorene Leib eines Kindes entspricht im biologischen Sinne einer Fehlgeburt oder einer Abtreibung. Da dies hier aber keine Erklärung der Worte Martin Luthers sein kann, muss eine symbolische Deutung angesprochen werden. Für Bruder Martin ist der verlorene Leib eines Kindes das Symbol dafür, dass er etwas ausgedacht und entwickelt hat, die Entwicklung aber nicht abgeschlossen ist, sondern unterbrochen wurde. Hier zeichnet sich die Entstehungsgeschichte erster reformatorischer Gedanken ab. Deutlich wird dies im Dialog zwischen Bruder Martin und Bruder Wienand, der Martin vorhält Sünden zu bekennen, die er gar nicht begangen habe, und mit seiner Melancholie andere zu ängstigen. Bruder Wienand bilanziert, dies alles „ nur wegen der Auslegung eines einzigen Wortes “ (S. 19). Und Luther antwortet: „ Das einzelne Wort, das ist es, was mir zu schaffen macht “ (ebd.). Die Frage nach der rechten Auslegung der Heiligen Schrift ist also der Kernpunkt dieser Szene. Im Kloster lernt Martin das Zweifeln. Das steigert sich bei ihm so weit, dass er von Gottes Hass auf ihn spricht. Geradezu gottes- 194 Kapitel 5 lästerlich und ketzerisch mögen in den Ohren der Mitbrüder und der Kirche Martins Worte klingen, Gott sei „ unersättlich, wie er mich so verschlingt, ein Vielfraß. Er verschlingt mich und speit mich dann in Klumpen wieder aus “ (S. 21). Selbst das gemeinsam gesprochene Glaubensbekenntnis kann Bruder Martin nicht von seiner Selbstanklage und Selbsterniedrigung wegbringen. Er steigert vielmehr noch weiter diesen Prozess. Irgendwo habe der Teufel im Leib eines Kindes vorgesehen, was Martin jetzt leide. Alpträume und Angst umlauerten ihn. Am Ende der Szene gesellt sich Martin zunächst in eine Prozession ein, tritt dann wieder alleine auf die Bühne und trägt ein nacktes Kind in den Armen. Der Ritter, der offensichtlich die gesamte Szene über an der Bühnenseite gestanden hat, verkündet, dass das Lobpreisen nun ende und die Lästerung beginne. Ist das nackte Kind eine Allegorie auf die beginnende Reformation? Die Selbstentfremdung, die Martin im Kloster erfährt, scheint sich nun in einem Ergebnis gefestigt zu haben, es geht letztlich um die Deutungshoheit über Gottes Wort. Die nächste Szene zeigt Martin, seinen Vater und Lucas miteinander im Gespräch. Die Vorfälle haben sich zu ihnen herumgesprochen, ein Mitbruder versucht Martins Verhalten zu erklären. Die Stimmung zwischen Vater und Sohn ist angespannt. Der Vater bedrängt Martin zu erklären, weshalb er bei seiner ersten Messe an einer Stelle des Gottesdienstes steckengeblieben ist. Martin streitet mit seinem Vater, der ihm wieder Vorwürfe macht wegen des verhinderten sozialen Aufstiegs. Dann lenkt er das Gespräch auf den Wein, und schnell sind beide bei der neuen Auslegung des Abendmahls. Der Vater berichtet Martin, was die Leute sagen: „ Brot bist du und Brot wirst du bleiben, / Und Wein bist du und Wein wirst du bleiben “ (S. 32). Der Vater legt damit dem Volk jenes Abendmahlsverständnis in den Mund, das dann später zum Hauptstreitpunkt zwischen dem katholischen Abendmahlsverständnis der Transsubstantiation und den binnenreformatorischen Abweichungen von Luthers Abendmahlsverständnis werden wird. Lucas und der Mitbruder lassen nun den Vater und Martin allein, nochmals kommt das Gespräch auf den Punkt zurück, weshalb Martin beim Zelebrieren der Messe ins Stocken geraten ist. Der Vater ahnt, dass es einen tieferen Grund geben könnte. Und tatsächlich bekennt Martin, er habe während des Abendmahls plötzlich Stimmen gehört, sie hätten nach seinem Leben gegriffen. Der Vater entgegnet, dass er das nicht verstehe, ein Mensch bringe sich an einem Ort wie diesem im Kloster schlicht selbst um. Martin Das Luther-Bild in der Moderne 195 muss erkennen, dass er von seinem Vater nicht verstanden wird, er spricht jene Worte, die im übertragenen Sinn der gesamten gegenreformatorischen Kritik und Gehässigkeit gelten: „ Ihr versteht mich nicht, weil Ihr mich nicht verstehen wollt “ (S. 33). Die Verweigerung eines rechten Verstehens ist die Grundvoraussetzung für die Ablehnung, die Polemik, die Ironie und den Spott, die Luther und seinem reformatorischen Gedankengut widerfahren werden. Der Wille zum rechten Verstehen ist Ausdruck des Kampfes um die Deutungshoheit - wer interpretiert das Wort richtig? Der Vater beendet das Gespräch mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass Martins Vision tatsächlich eine göttliche Vision war und nicht etwa Einbildung oder gar Teufelszauber. Der Vater verlässt ihn, Martin trinkt ein Glas Wein (es bleibt unklar, ob dies Abendmahlswein ist oder nicht), starrt in das Glas und spricht die Worte größten Selbstzweifels, „ wenn es aber nun nicht wahr ist? “ (S. 37). Im zweiten Akt tritt der Dominikanermönch Johann Tetzel (ca. 1460 - 1519) auf, der historisch die Reizfigur Luthers gewesen ist, er gab den Ausschlag für Luthers Thesenanschlag. Tetzel handelte mit Ablässen, um die Kircheneinnahmen zu mehren und den Bau der Peterskirche in Rom finanzieren zu können. Ironie, Spott und Hohn schwingen mit, wenn Osborne Tetzel sagen lässt, die Ablässe seien die „ kostbarsten und edelsten Gaben Gottes “ (S. 40). In dieser Zuspitzung wird Luthers Position deutlich erkennbar, der die Gnade als edelste Gottesgabe begreift. Hier prallen kapitalistische und theologische Argumentation aufeinander. Sogar Sünden, die noch nicht begangen wurden, könnten durch den Kauf von Ablasspapieren vergeben werden, so die Werbung Tetzels. Schließlich gipfelt dieses Ablasssystem in der Behauptung, dass auch für Tote Ablässe gekauft werden könnten. Osborne verzichtet auch nicht auf den historisch verbürgten Ausspruch Tetzels: „ Sobald der Groschen im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt! “ (S. 42). Seit 1562 ist im Übrigen der Ablasshandel in der katholischen Kirche verboten. Den Ablass selbst gibt es nach wie vor im katholischen Kirchenrecht als theologische Bußpraxis (vgl. Codex Iuris Canonici Can. 992 - 997). Der Höhepunkt dieses Auftritts Tetzels ist mit seinem Ende erreicht, Gott habe abgedankt, er regiere nicht länger mehr, „ er hat alle Macht an den Papst abgetreten “ (S. 42). In der zweiten Szene bezeichnet sich Luther selbst als Allegorienmacher, dies sei er, seit er ins Kloster eingetreten ist. Johann von 196 Kapitel 5 Staupitz, Beichtvater und Freund Luthers, und Luther selbst unterhalten sich im Garten des Eremitenklosters zu Wittenberg im Jahr 1517. Geduldig, aber hartnäckig, hält der Freund Luther vor, dass er zu ichbezogen sei, sich selbst zu viel Aufmerksamkeit schenke. Luther benennt sein apokalyptisches Lebensgefühl, er ist überzeugt, im Zeitalter des Jüngsten Gerichts zu leben. Die Worte, die Osborne dann Luther in den Mund legt, führen die allegorische und die buchstäbliche Textebene auf sehr direkte Weise zusammen. Bekannt sind Luthers Leibschmerzen, seine Neigung zur Obstipation, die nun in das Bildliche gewendet wird. „ Ich bin wie ein reifer Stuhl im drückenden After der Welt, und jeden Augenblick können wir einander gehen lassen “ (S. 45). Auch von Staupitz kritisiert den Ablasshandel Tetzels und behauptet damit eine binnenkritische Position der Kirche, die in der Kirche verwurzelt bleibt, während schon die Referenz auf das Datum 1517 auf den Thesenanschlag und den Prozess der Auslagerung kirchenkritischer, nämlich protestantischer Positionen Luthers hindeutet. Gegen Ende der Szene trägt von Staupitz eine bemerkenswerte hermeneutische Erkenntnis vor, nachdem Luther versichert hatte, er sei sich seiner Worte nie sicher, bis er sie tatsächlich laut gehört habe: „ Das ist wahrscheinlich der Sinn der Worte. Das Wort bin ich, und ich bin das Wort “ (S. 50). Unabhängig davon, ob der Autor Osborne dies tatsächlich beabsichtigt hatte oder nicht, spielt seine Figur von Staupitz auf den Beginn des Johannesevangeliums an. Dort findet sich eines der eindrucksvollsten Textzeugnisse über die Bedeutung des Wortes: „ Im Anfang war das Wort “ . Die Parallele zur alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte des Beginnens als Wortschöpfung unterstreicht die Bedeutung der Arbeit am Wort, en archä än ho logos - in den Anfang förmlich eingegraben, nicht am Anfang, war das Wort, sondern im Anfang. 89 Folgt man der Logik von von Staupitz, dann ist der Sinn des Wortes Ich, das Wort ist Ich und Ich ist ein Wort, also ist der Sinn des Wortes Ich und der Sinn des Ichs ist das Wort. Das könnte wiederum auf die Sendung Luthers hindeuten: Der Sinn der historischen Existenz Luthers läge in der Bedeutung seines Worts. Luther ist der Wortmensch, der durch Worte Taten schafft. Aus der Logik dieser Szene heraus entwickelt sich die dritte Szene, die nun den 31. 10. 1517 und Luthers Predigt zum Inhalt hat, und es überrascht nicht, dass sie mit dem Wort Luthers „ Mein Text “ (S. 51) 89 Vgl. Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literaturwissenschaft, S. 28 f. Das Luther-Bild in der Moderne 197 beginnt. Er predigt über Vers 17 des ersten Kapitels des Römerbriefs: „ Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heißt: Der aus Glauben Gerechte wird leben “ . Luther entwickelt in bruchstückhaften Gedanken seine Rechtfertigungslehre, die in dem Satz gipfelt, dass der Mensch nicht aus Werken gerecht werde, sondern allein durch Glauben und durch die Gnade Gottes. Danach erfolgt der Thesenanschlag und Osborne springt in die nächste Szene, die genau ein Jahr später spielt. Diese vierte Szene zeigt die Gegenseite, der päpstliche Legat und Kardinal Cajetan (1469 - 1534) und Tetzel unterhalten sich anlässlich des Reichstags zu Augsburg über Luther. Dann tritt dieser auf und es beginnt ein Gespräch zwischen Cajetan und ihm. Cajetan hält ihm vor, ganz Deutschland aufrührerisch gemacht zu haben mit seinen Thesen wider den Ablasshandel. Im Auftrag von Papst Leo X. legt er Luther drei Bedingungen vor, unter denen der Papst zur Milde bereit wäre. Erstens soll Luther Fehler eingestehen und seine Irrtümer und Predigten widerrufen. Zweitens muss er versprechen, seine Ansichten zukünftig nicht mehr zu verbreiten. Und drittens muss er maßvoller sein und sich von allem enthalten, was die Kirche in ein schlechtes Licht rücken oder sie in Unruhe versetzen könnte (vgl. S. 58 f.). Die Bitte Luthers ihm doch zu erklären, worin er sich geirrt habe, bleibt ungehört. Der historische Luther hatte bei diesem zweitägigen Verhör den Tod des kirchenkritischen Jan Hus vor Augen - und Tetzel versucht die Urteilsfähigkeit des Legaten in diese Richtung zu lenken, wenn er Luther einen Ketzer und Kirchenspalter nennt. Osbornes Cajetan erhöht nun den Druck auf Luther und betont die Unausweichlichkeit, er müsse widerrufen. Doch Luther hält dem entgegen, dass die Welt „ nach Reformation dürstet “ (S. 62). Luther sei aber kein Revolutionär, sondern ein gemeiner Rebell, entgegnet der Kardinal. Als Luther gegangen ist, sagt Cajetan zu Tetzel, dass Luther voller Selbsthass sei. Man könne am Brandpfahl seines Scheiterhaufens die Inschrift anbringen, „ er konnte nur andere lieben “ (S. 64). Diese christologische Übersteigerung des Ketzers durch die Parallele zum Kreuzigungstod Christi, durch den Hinweis auf die Inschrift und durch die Thematisierung der allumfassenden Menschenliebe dient dem Autor dazu, die Hybris des Menschen Luther aus päpstlicher Sicht kenntlich zu machen und zu übertreiben. In der fünften Szene dieses Akts tritt Papst Leo X. selbst auf, er ist auf der Jagd und erhält gerade einen Brief von Luther. Jetzt, da die ganze 198 Kapitel 5 Welt in Flammen aufgegangen sei, möge der Papst ihm doch sagen, was er tun solle, widerrufen könne er aber nichts. Als Antwort diktiert der Papst einen Brief an Cajetan, der in der Bemerkung gipfelt: „ Wir haben eine Wildsau in unserem Weingarten, und sie muß erjagt und erlegt werden “ (S. 67). Der biblische Weinberg des Herrn wird nun zur Manege einer Parforcejagd auf Martin Luther. Die sechste und letzte Szene spielt zwei Jahre später. Luther hat die päpstliche Bannandrohungsbulle vom 15. 6. 1520 (Exsurge Domine) als Antwort auf den Thesenanschlag erhalten und verbrennt sie. Im Schlussgebet nennt er sich ein Kind, er sei „ der verlorene Leib eines Kindes. Ich bin totgeboren “ (S. 69), die Sache der Reformation sei nicht seine Angelegenheit, sondern diejenige Gottes. Luther fühlt sich leblos, tot, er bittet deshalb um Leben. Ist die Reformation eine Totgeburt? Am 3. 1. 1521 wird Luther exkommuniziert. Ein Blick in den Wortlaut dieser Bulle macht deutlich, welche Dimension diese Konfrontation zwischen Reformgeist und altgläubigem Beharrungsvermögen angenommen hatte: Erhebe dich, Herr, und richte deine Sache! [. . .] Obendrein, weil die genannten Irrtümer und viele andere in den Büchlein oder Schriften eines gewissen Martin Luther enthalten sind, verdammen, verwerfen und verstoßen wir zugleich die genannten Bücher und alle Schriften und Predigten, ob sie in lateinischer oder deutscher Sprache geschrieben sind, in denen die genannten Irrtümer oder einer von ihnen enthalten sind, und wir begehren, daß sie für verdammt, verworfen und verstoßen gehalten werden. Darum befehlen wir kraft heiligen Gehorsams und bei den angekündigten Strafen, unter die jeder, der zuwiderhandelt, von selbst fällt, allen und jedem Christgläubigen [. . .], daß er sich auf keine Weise unterstehen soll, derartige Schriften, Büchlein, Predigten, Zettel oder in ihnen enthaltene Kapitel, in denen sich die obengenannten Irrtümer oder Artikel befinden, zu lesen, zu behaupten, zu predigen, zu loben, zu drucken, zu veröffentlichen oder zu verteidigen durch sich selbst, einen anderen oder andere, direkt oder indirekt, unausgesprochen oder ausdrücklich, öffentlich oder verborgen, noch in den eigenen Häusern oder in denen anderer, an öffentlichen oder privaten Orten zurückzuhalten. Sie sollen alle sogleich nach ihrer Veröffentlichung, wo immer sie sich befinden, durch die zuständigen Bischöfe und andere obenerwähnten Personen gesucht, öffentlich und feierlich in Gegenwart der Geistlichkeit und des Volkes bei allen und jeder angedrohten Strafe verbrannt werden. [. . .] Wir gebieten diesem Martinus von jetzt an, daß er inzwischen von jeder Predigt und dem Predigtamt überhaupt abstehe. [. . .] Wir befehlen streng, daß innerhalb von sechzig Tagen, indem wir zwanzig für den ersten, Das Luther-Bild in der Moderne 199 zwanzig für den zweiten und die übrigen zwanzig Tage für den dritten und allerletzten Termin festsetzen, die unmittelbar auf den Anschlag dieser Bulle an den unten genannten Orten folgen, Martinus selbst, seine Verbündeten, Anhänger und die ihn bei sich aufnehmen von den genannten Irrtümern, deren Predigt, Veröffentlichung, Behauptung und auch Verteidigung durch Herausgabe von Büchern oder Schriften über sie oder einen von ihnen ganz abstehen und die Bücher oder Schriften alle oder einzeln, die die genannten Irrtümer oder einen von ihnen auf irgendeine Weise enthalten, verbrennen oder verbrennen lassen; auch daß Martinus selbst diese Irrtümer und Behauptungen ganz widerrufe und über diesen Widerruf mittels einer amtlichen, rechtsgültigen und von den Händen zweier Prälaten gesiegelten Urkunde, die er uns innerhalb weiterer sechzig Tage übermitteln soll, oder durch sich selbst (wenn er zu uns kommen wollte, was uns am meisten gefiele) mit vollkommenstem Geleit, das wir ihm von jetzt an zugestehen, uns Anzeige erstatten soll, so daß wir sicher sind, daß über seinen wahren Gehorsam nicht der geringste Zweifel bestehen bleibt. Wenn, was ferne sei, der genannte Martinus, seine Verbündeten, Gönner, Anhänger und die ihn bei sich aufnehmen anders handeln [. . .], verdammen wir sie als hartnäckige Ketzer durch den Wortlaut dieser Bulle und begehren und gebieten, daß sie für solche von allen obengenannten Christgläubigen beiderlei Geschlechts gehalten werden [. . .]. 90 Der Reichstag zu Worms am 18. 4. 1521 wird im dritten Akt dargestellt. Osborne gibt auch hier sehr durchdachte, detaillierte Regieanweisungen und legt großen Wert auf die Symbolsprache des Bühnenbilds: „ Ein gutes Stück vor dem Vorhang ist eine kleine Rednerbühne mit Messinggeländer, ausreichend für eine Person. Wenn möglich, sollte dieser Teil der Vorbühne ein wenig in den Zuschauerraum hineinragen. Auf jeden Fall geht es darum, ein Maximum an physischer Erweiterung der Handlung zu erreichen im Sinne einer körperlichen Teilnahme am Theater, als ob jeder Zuschauer das Kinn auf das Podest eines Boxrings gestützt hielte “ (S. 69 f.). Diese bühnenbildnerische Symbolsprache bildet gleichsam einen Subdiskurs zum Text, sie illustriert diesen keineswegs bloß. Der historische Johannes Eck (1486 - 1543) hatte das theologische Verhör eröffnet, bei Osborne wird es ein Streitgespräch zwischen ihm und Luther. Dieser fordert, man solle ihm seine Irrtümer im Lichte des Evangeliums aufdecken. Luther spricht am Ende der ersten Szene, da ihm nicht aus der Bibel argumentierend ein Irrtum 90 Die Reformation in Augenzeugenberichten, S. 88 - 91. 200 Kapitel 5 bewiesen worden sei, die historisch-geflügelten Worte: „ Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen “ (S. 73). Die zweite Szene vollzieht einen Zeitsprung von vier Jahren. Der Ritter, der sonst lediglich die Aufgabe hatte, den Zuschauern zu Beginn eines jeden Aktes Zeit und Ort der folgenden Szenen zuzurufen, wird nun selbst Teil des Dramas und zur handelnden Figur. Er greift in das Geschehen ein und berichtet im Angesicht des Leichnams eines Bauern von dem Bauernaufstand in Schwaben, davon, was sich seit dem Wormser Reichstag ereignet hat und welche Wirkung Luthers Schriften auf die Zeitgenossen haben. Er ärgert sich, dass er Luther nicht begreifen kann, er versteht dessen politische Haltung nicht. Als Ritter ist er einer der letzten seines Standes - möglicherweise eine Anspielung auf Ulrich von Hutten (1488 - 1523) oder Götz von Berlichingen (1480 - 1562); er weiß jedenfalls, dass seine Zeit als Ritter vorbei ist. Er kommt auf das Gewinnstreben zu sprechen, das eine „ Erfindung der doppelten Buchführung in den Klöstern “ (S. 76) sei. Der Gewinn gehöre immer der Kirche, der Verlust sei stets Sache der anderen, also von Rittern und Bauern. Während der Ritter den Leichnam auf einen Karren lädt, betritt Luther mit einem Buch in der Hand die Bühne. Der Ritter betrachtet sich das Buch und fragt den Mönch, ob er wieder ein neues geschrieben habe. Es werde sich bestimmt so gut verkaufen wie Luthers andere Bücher. Der Zusammenhang zwischen Gewinnstreben durch Bücher schreiben und Bücher verkaufen auf der einen Seite und der politischen Realsituation des gescheiterten Bauernaufstands auf der anderen Seite ist offensichtlich. Osborne speist an dieser Stelle in die Darstellung der Person Luthers und in die Schilderung der Wirkung seiner Lehre die realhistorische Lage ein. Eine persönliche Verantwortung für die Toten lehnt Luther ab, er verweist auf Gott und bezeichnet ihn als den eigentlichen Schlächter, man solle ihn für die Toten verantwortlich machen. Dann spielt der Ritter auf den Reichstag zu Worms an und wirft Luther vor: „ Ihr hättet Freiheit und Ordnung bringen können, zu ein und derselben Zeit “ (S. 77). Der Konflikt zwischen den beiden spitzt sich zu und offenbart das Kernproblem der missverstandenen historischen Rezeption Luthers. Was Luther theologisch und eschatologisch deutet, wird von dem Ritter als Vertreter jener Gruppe von Luther-Anhängern, die ‚ Freiheit ‘ nicht als Gewissensfreiheit, sondern als politische Befreiung und die ‚ Ordnung ‘ nicht als gottgegebene Sozialordnung, sondern als politische Ordnung begreifen, umgedeutet. Der Ritter wirft Luther Das Luther-Bild in der Moderne 201 vor: „ Ihr tötet den Geist, und Ihr tötet ihn mit dem Buchstaben “ (S. 78). Ein kurzer Ringkampf, dann kann Luther auf die Kanzel fliehen und schmettert dem Ritter entgegen: „ Die Welt wurde durch das Wort bezwungen, die Kirche wird durch das Wort erhalten -“ (S. 78), worauf ihm der Ritter, der immer schwächer wird, entgegenhält: „ Wort? Was für ein Wort? Vielleicht ist kein einziges davon mehr als bloße Dichtung, habt Ihr daran schon einmal gedacht, Martin? Dichtung! Martin, Ihr seid ein Dichter, keiner zweifelt mehr daran, Ihr seid ein Dichter “ (S. 78). Hier wird ein klassisches Argument gegen die Dichtung ins Feld geführt, Dichtung sei Lüge, da sie Nichtwirkliches schildere, hatte schon Platon behauptet, und dieser Topos von der Dichtung als Lüge und dem Dichter als Lügner schimmert an dieser Textstelle durch, wird vom Ritter aber anders gewendet. Denn er setzt die Dichtung als ein Drittes zwischen Wahrheit und Unwahrheit ein. Auf Luther bezogen bedeutet dies, dass Luthers Worte weder wahr noch unwahr sind, sondern sie sind Literatur, sie sind fiktional. Und wenn man sie demzufolge wörtlich, buchstäblich versteht, dann wird daraus ein politisches Handlungsprogramm, das schiefgehen muss, da die Fiktionalität niemals die Realität abbildet. Darin liegt - aus der Sicht des Ritters - das tragische Missverständnis in der Wirkungsgeschichte Luthers, dass seine Worte als Handlungsanweisungen verstanden und nicht als Dichtung gelesen werden. Aus der historischen Distanz betrachtet gleicht dieses Argument natürlich einer grotesken Umdeutung Luthers. Ihn, den Reformator, als Dichter zu titulieren heißt, dass das, was er zu sagen hat, seine Worte, nichts anderes sind als fiktionale Statements. Die Reformation wäre so gesehen ein bloßes Missverständnis. Diese Einschätzung geht aber völlig an der Tatsache vorbei, dass auch Dichtung - wenn Luthers Worte denn Dichtung wären - ungefiltert auf die historische Wirklichkeit einwirken kann. Anders ausgedrückt, Luther als Dichter zu bezeichnen macht die Reformation nicht ungeschehen. Möglicherweise spielt Osborne aber auch lediglich auf Hans Sachs ’ Wittenbergisch Nachtigall an, wonach die Nachtigall bekanntlich die Allegorie für Dichtung und Ästhetik schlechthin ist, die aber das Lob Gottes singt bis zur Selbstaufgabe, die Selbstaufgabe Luthers demnach bevorstünde. Und schließlich ergibt sich wiederum eine andere Deutung, wenn wir in dieser Textstelle einen Reflex Osbornes auf Luthers Genesis-Vorlesung erkennen wollen, was möglich, aber eher unwahrscheinlich ist (vgl. WA 44, S. 572). Danach würde dann die Prädikation Luthers als Dichter auf 202 Kapitel 5 dessen Erklärung des Paulusbriefes an die Epheser (2, 10) anspielen, wonach Gott ein Dichter und wir Menschen seine Gedichte sind. Und wenn Luther in dieser Perspektive als ein Dichter tituliert wird, dann nähme der Reformator die Position Gottes, des Schöpfers, ein - das gliche einem versteckten Vorwurf menschlicher Hybris. Aus dieser konfliktträchtigen Situation zwischen Luther und dem Ritter, die in Luthers Selbstanklage und ihrem homiletischen Sprachduktus ihren Höhepunkt findet, führt nun Katharina von Bora heraus. Sie ergreift stumm Luthers Hand. Der Ritter zerbricht das Bundschuhbanner, das Zeichen der aufständischen Bauern, und stellt somit symbolsprachlich das Ende dieser politischen Auseinandersetzung fest. Luther hat Gott um Hilfe angerufen und Katharina von Bora tritt auf. Das kann als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass die Nonne zur Hilfe Luthers von Gott gesandt wird. Nichts im Text, weder die Figurenrede noch die Regieanweisungen verwehren eine solche Deutung. Die dritte Szene dieses Akts ist zugleich die letzte des Stücks. Luther, Katharina von Bora und von Staupitz sind zusammengetroffen und unterhalten sich. Luther ist nun ein Mann mittleren Alters, der den Zenit seiner Laufbahn überschritten hat. Jedes Mal, wenn er nur rülpse, bleibe die Welt stehen und lausche, meint von Staupitz über die Wirkung Luthers. Er kommt auf den Bauernaufstand zu sprechen und hält Luther vor, dass er die Fürsten ermuntert habe den Aufstand niederzuschlagen, obwohl die Sache der Bauern eine gerechte Sache gewesen sei. Dem widerspricht Luther, die Bauern seien ein Pöbelhaufen gewesen und die Sache eines Pöbelhaufens sei wider Christus. „ Kein Mensch kann für einen anderen sterben oder für einen anderen glauben oder Rede stehen. Sowie die Menschen das versuchen, werden sie zu einem Pöbelhaufen. [. . .] Die staatlichen Mächte sind von Gott eingesetzt. “ (S. 85) Die Welt könne nicht mit einem Rosenkranz regiert werden. Er fühle sich als ein wandernder Planet und nicht als ein Fixstern, zu dem man ihn machen wolle. Von Staupitz hält dem entgegen, dass die Welt sich durch Luthers Wirken verändert habe, Luther habe ein politisches Gebilde namens Deutschland geschaffen und ihm eine Sprache gegeben, „ so habt Ihr den Leib Europas gemacht “ (S. 85). Und er bitte Luther inständig nicht zu glauben, dass nur er im Recht sei. Er will von ihm wissen, ob er in Worms denn seiner Sache wirklich sicher gewesen sei, und die Antwort zeigt ungeschminkt den Menschen Luther, sie lautet schlicht Das Luther-Bild in der Moderne 203 nein (vgl. S. 86). Das Stück endet mit einem Christuszitat aus dem Johannesevangelium Kapitel 16, Vers 16, das Luther auf sich selbst bezogen verstanden wissen möchte. Er hält seinen Sohn Hänschen auf dem Arm und spricht: „ Noch eine kurze Zeit, und ihr werdet mich nicht sehen. Und wieder eine kurze Zeit, und ihr werdet mich sehen. Das hat Christus gesagt, mein Sohn. Ich hoffe, daß es wieder so sein wird. Ich hoffe es. Hoffen wir ’ s eben, was meinst du? Hm? Hoffen wir ’ s “ (S. 87 f.). Zuletzt bleibt die Hoffnung, dass die Reformation ihr eigentliches Ziel, den christlichen Glauben zu reformieren, erreichen wird. Osbornes Luther wurde am 26. 6. 1961 in England uraufgeführt. Eine deutsche Aufführung folgte, zuletzt am 11. 5. 1996 auf der Landesbühne Sachsen-Anhalt in Eisleben. Das Publikum war gespalten und irritiert. Bemängelt wurde die historische Ungenauigkeit von Osbornes Stück und seine Sprunghaftigkeit, andere rügten die teils derbe Sprache. Was aber erwarten all diese Urteile von der Literatur? Die gespaltene Rezeption des Stücks wurde darauf zurückgeführt, dass es „ kein englisches Luthertum “ gibt, „ man hatte zu Luther und seiner Reformation keine Beziehung - und das seit den Tagen der Reformation “ 91 . Der historische Hintergrund für eine solche Beurteilung sind die Spannungen zwischen dem englischen König und Luther. Heinrich VIII. hatte 1521 das Buch Assertio Septem Sacramentorum adversus Martinum Lutherum [Verteidigung der sieben Sakramente gegen Martin Luther] veröffentlicht, wofür er von Papst Leo X. den erblichen Titel Defensor fidei (Verteidiger des Glaubens) verliehen bekam. Luther reagierte 1522 mit einer Antwort auf König Heinrichs Buch, die scharf und polemisch ausfiel. Luther ließ sich in der Folge dazu bewegen, an den englischen König am 1. 9. 1525 ein unterwürfiges Schreiben zu richten. Ende 1526 wurde dieser Brief zusammen mit der Antwort des Königs in London publiziert und bereits Anfang 1527 ins Deutsche übersetzt. Luther wird gleich zu Beginn in dieser Schrift Des Königs zu England Antwort auf einen Sendbrief Martin Luthers als ein Erzketzer und Katharina von Bora als eine Hure bezeichnet. 92 Der Rest des Inhalts darf als die wütende Reaktion eines beleidigten Herrschers mit autokratischer Attitüde, dem Luther 91 Aland: Martin Luther in der modernen Literatur (1973), S. 118. 92 Vgl. Flugschriften gegen die Reformation [1525 - 1530]. Bd. 1. Hgg. v. Adolf Laube. Berlin 2000, S. 371 - 397. 204 Kapitel 5 etwas grob entgegen getreten war, verstanden werden. 93 Diese Angriffe auf Luther, die unter dem Namen des Königs veröffentlicht wurden und Luther zur ebenso heftigen Gegendarstellung veranlassten, trugen sicherlich nicht zu einer rascheren Verbreitung von Luthers Lehre bei. Allerdings gilt dies nur bis zur endgültigen Institutionalisierung der anglikanischen Kirche im Jahr 1559. Nur wenige Schriften von Luther waren bis dahin überhaupt bekannt. Erst in den 1570er Jahren ändert sich dies, nun kann man von einer regelrechten „ Luther-Welle “ 94 sprechen, ausgelöst durch den Druck der Katholiken auf der einen und der Puritaner auf der anderen Seite. Das Projekt der Reformation musste weitergetrieben werden, in dessen Folge der Martyrologe John Foxe (1517 - 1587) eine Propagandamaßnahme für die Reformation vor allem mit seinem Buch Acts and Monuments (1563) einleitete. Mitte des 17. Jahrhunderts waren Luthers Schriften schließlich durch einschlägige Übersetzungen in England endgültig eingebürgert. 95 Nun hat sich Osborne aber sehr eng an eine Luther-Darstellung gehalten, die bis heute wegen ihres psychoanalytischen Zugangs äußerst umstritten ist. Es handelt sich um das Buch Young Man Luther von Erik H. Erikson (1902 - 1994). Diese Quelle dient dem Stück als Referenzpunkt. Das Buch war erstmals 1958 erschienen, deutsch unter dem Titel Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie (1964 u. ö.). Ob sich diese Parallelen bei einer sehr gründlichen und unvoreingenommenen Analyse auch tatsächlich bestätigen ließen und wie sie dann zu deuten wären - das ist eine Frage für weitere Forschungen und kann hier nur benannt werden. Den Autor Osborne interessiert nicht das historische Detail, sondern ausschließlich die psychische Dynamik, die sich in einer solchen historischen Person wie Martin Luther manifestiert. Wer wollte richten und urteilen, dass dies kein legitimer literarischer Zugang wäre? All das ist aber nur von Bedeutung, wenn man nun Osbornes Stück mit Blick auf seine historische Genauigkeit und seine historische Aussagekraft liest. Aber dies kann nicht mehr der Blick eines Lesers der Gegenwart sein. Das Historiendrama ist ebenso obsolet geworden wie der historische Roman. Grenzüberschreitungen zwi- 93 Vgl. Erwin Doernberg: Henry VIII and Luther. An Account of Their Personal Relations. London 1961, S. 3 - 45. 94 Geoffrey R. Elton: Luther in England, in: Luther in der Neuzeit. Hgg. v. Bernd Moeller. Gütersloh 1983, S. 121 - 134, hier S. 126. 95 Vgl. Elton: Luther in England, S. 130. Das Luther-Bild in der Moderne 205 schen Geschichte bzw. Geschichtswissenschaft und Literatur, wie sie noch Ricarda Huch versucht hatte, sind singulär geblieben. Literatur der Moderne, besonders die Literatur der Gegenwart, will kein Geschichtslehrbuch sein. Dieser Problemlage stellt sich auch Dieter Fortes (geb. 1935) Theaterstück Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung (1971). Dieses Stück, dessen Uraufführung 1970 erfolgte, gehört sicherlich zu den umstrittensten Luther-Texten nach 1945. Im Geist der politischen Revolte von 1968 geschrieben, versteht es sich als ein ideologiekritischer Text, der den Zusammenhang zwischen der Entstehung des Kapitalismus und des Protestantismus aufzuzeigen bemüht ist. Als heutiger Leser wäre es völlig verfehlt, von diesem Stück eine historisch exakte Analyse der Verflechtungen von Religion, Politik und Kapitalmarkt zu erwarten. Um ihm einigermaßen gerecht werden zu können, muss man es als eine Form der literarischen Gestaltung eines neomarxistischen Luther-Bildes gelten lassen. In einer Art Nachwort mit dem Titel Zur Methode erklärt Forte, er habe Zitate Luthers aus den Briefen und seinen Schriften zusammengetragen und sie seinem Text implementiert. Sein Stück halte sich an Tatsachen. Und wenn wir Leser dann einen Widerspruch erkennen würden zwischen der ersten großen deutschen Revolution, nämlich der Reformation, und unserem bruchstückhaften Wissen über deren geschichtliche Wirklichkeit, dann sollte uns dies misstrauisch machen gegenüber jenen, die dieses Wissen und dies Luther-Bild erzeugten und tradierten. Damit muss man Fortes ‚ Methode ‘ kritisch gegen sich selbst wenden, denn zum einen suggeriert sie, so etwas wie eine historische Objektivität erzeugen zu können, und zum anderen geht sie davon aus, dass Zitatmontagen das Mittel der Wahl sind, diese Objektivität hervorzubringen. Natürlich sind Zitatmontagen ein legitimes literarisches Gestaltungsmittel, längst erfolgreich erprobt in der Literatur der Klassischen Moderne, am eindrucksvollsten sicherlich im Dadaismus. Doch sind Montagen und Collagen Mittel der Wirklichkeitskonstruktion und nicht der Abbildung von Wirklichkeit, schon gar nicht einer historischen Wirklichkeit. Wenn dies also Dieter Fortes Anspruch in seinem Stück ist, dann wird dieser verfehlt. Abgesehen davon, dass die These vom Bauern-, Arbeiter- und Bürgerbündnis in der Frühen Neuzeit, das im Text beharrlich beschworen wird, nur die marxistische Geschichtsschrei- 206 Kapitel 5 bung überzeugen konnte. Forte reproduziert ideologisch diese Geschichtsauffassung. Außerdem wäre zu fragen, ob Zitate dadurch historisch wahr werden, dass man sie nicht nur aus ihrem sachlichen Kontext reißt, sondern sie anderen Figuren in den Mund legt? Das berühmte Wort von Ulrich von Hutten in einem Brief vom 25. 10. 1518 an Willibald Pirckheimer (1470 - 1530) „ o seculum, o litterae [. . .] “ ( „ O Jahrhundert, o Wissenschaft! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch nicht in der Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich [. . .] Barbarei, nimm einen Strick und mach dich auf Verbannung gefaßt “ ) 96 , spricht nicht der Ritter von Hutten in Fortes Stück, sondern der Repräsentant absolutistischer Macht Friedrich III. von Sachsen (1463 - 1525, auch Friedrich der Weise genannt). Dieser hat einen florierenden Reliquienhandel, aus dessen Erlös er mit der Kredithilfe des Augsburger Kaufmanns und monopolistischen Kreditgebers Jakob Fugger (1459 - 1525) Politik gegen Papst und Kaiser betreiben kann, solange das seinen Machtinteressen dient. Über Luther urteilt Friedrich III.: „ Der Mann ist eingeführt, und eine gute Marke soll man nicht wechseln “ (S. 46) 97 . Dies dient als Erklärung dafür, weshalb Friedrich III. letztlich die Reformation unterstützt. Luther folgt in Allem den sehr detaillierten Handlungsanweisungen seines Landesherrn. Luthers Auftritt in Worms vor dem Reichstag und seine Weigerung, kirchenkritische Positionen zu widerrufen, sind ebenso politisch gewollt und funktionalisiert wie die Verschleppung auf die Wartburg. Und die Politik wiederum, die Landespolitik ebenso wie die Reichspolitik mit Kaiser Maximilian und nach dessen Tod mit Karl sowie die päpstliche Kirchenpolitik Leos X., sind vom europäischen Monopolkapitalismus der Firma Fugger abhängig. Denn die Grundlage für alle Entscheidungen in politischen wie in kirchlichen Angelegenheiten ist die Kreditbereitschaft Fuggers. Luther erscheint letztlich im Text als dumpfbackig, narzisstisch, manipulierbar und geldgierig. Über die sprachliche Gestaltung des Stücks mag man unterschiedlich urteilen. Die meisten Figurenreden sind plakativ, sie wiederholen in einer hölzernen Litanei die Grundbotschaft, wonach das Kapital böse, die Politik korrupt und Religion Macht stabilisierend ist. Luther 96 Zitiert nach: Pirckheimer-Jahrbuch (1988), S. 11. 97 Dieter Forte: Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung. Berlin 1971. - Vgl. Mark Häberlein: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367 - 1650). Stuttgart 2006, S. 172 f. Das Luther-Bild in der Moderne 207 wird - wie übrigens alle anderen Akteure des Stücks auch - zu einer Marionette des Monopolkapitalisten Fugger. Der Papst ist erklärter Agnostiker, er glaubt an nichts und kennt das Christentum nur vom Hörensagen. Aus der Sicht dieses Papstes ist Luther „ der Narr, den man braucht, um das Spiel zu spielen “ (S. 58). Und dieses Spiel heißt Macht erlangen und behalten um jeden Preis, was zu dem ironischen Paradoxon führt, dass Luther eigentlich heiliggesprochen werden müsse, da er helfe, die katholische Kirche zu konsolidieren. Luthers Haltung in der Frage der Legitimität des Bauernaufstandes, der aus Fortes Sicht ein kollektiver Volksaufstand ist, in dem sich Kräfte von Bauern, Arbeitern und Bürgern bündeln, wird sehr ausführlich beschrieben. Luther beharrt darauf, dass die weltliche Ordnung als eine von Gott eingesetzte Ordnung nicht in Frage gestellt werden dürfe. Freiheit bedeute für den Einzelnen nicht politische Freiheit, sondern Freiheit vom Aberglauben. Das gipfelt am Ende eines langen Luther-Monologs in der zugespitzten Formel: „ Ein freier Wille ist einer, der nichts Eigenes will, dadurch bleibt er dann auch frei “ (S. 84). Luthers Antipode Münzer, der vergleichsweise blass bleibt in der literarischen Figurierung, vertritt die Gegenposition und scheitert am Ende. Luthers Anspruch, er sei der Prophet Germaniens, quittiert sein engster Freund Melanchthon mit den Worten, er sei besoffen (vgl. S. 106). Die Revolutionsepisode am Ende des Stücks bedient die gängigen Stereotype. Die Bauern sind dumm und lassen sich von den Herrschenden über den Tisch ziehen, die Revolution selbst gebiert administrative Monster, die lieber verwalten als in den Krieg zu ziehen, und ihre wenigen Anführer verlieren den Kontakt zu denen, die mit ihrem Blut die Revolution bezahlen. Lediglich das Bonmot des Papstes am Ende des Stücks, dass man erst in 500 Jahren merken werde, keine Partei habe Recht gehabt, entbehrt vor dem Hintergrund der 500-Jahrfeier des Thesenanschlags nicht einer gewissen Komik. Das Drama verzichtet auf eine Akt- und Szeneneinteilung. Nur Tisch und Podest rechts und links und in der Mitte eine Rampe sind gliederndes szenisches Element. Das Stück versteht sich als historisches Stück und so kann man mit dem Autor Forte fragen Warum historische Stücke? In diesem Beitrag von 1984 schreibt er, ein historisches Stück heute „ besteht aus Sprache der Zeit, Sprache der Zeit in Übersetzungen der Zeit, Sprache der Zeit in heutiger Übersetzung, 208 Kapitel 5 heutiger Sprache. “ 98 Ein historisches Stück sei - unter Anspielung auf ein Zitat Robert Musils - „ eine aus der Vergangenheit entwickelte Gegenwart “ (S. 101). Schauplatz seines Stücks sei nicht Wittenberg, Schauplatz sei die Bühne an dem Abend, an dem gespielt werde (vgl. ebd.). Damit aber ist die Aussagekraft des Stücks auf die Ereignishaftigkeit des Theaterabends beschränkt - und wird somit unwillentlich zum Beitrag ästhetischen Genießens jener bürgerlichen Schicht, deren falsches Luther-Bild zu entlarven das Stück angetreten ist. Insgesamt aber ist Fortes Drama ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um ein Luther-Bild, da es mit den dramaturgischen, sprachlichen und inhaltlichen Mitteln bis an den Rand des darstellbar Möglichen geht, um die Destruktion eines tradierten Bild-Rahmens vorzuführen. Der Schauspieler und Schriftsteller Thorsten Becker (geb. 1958), bis dahin bekannt unter anderem durch seine Bücher Die Bürgschaft (1985), Tagebuch der arabischen Reise (1991) und Fritz (2006), hatte einen nachgerade genialen Einfall: Jochen Kleppers Fragment gebliebenen Luther-Roman zu Ende zu schreiben! 2009 erschien dieser Konzept- Roman unter dem Titel Das Ewige Haus. Den Titel übernimmt Becker also von Klepper und schafft damit sofort die thematische und inhaltliche Nähe zu dessen Luther-Roman. Zeitlich knüpft Becker an das Jahr von Kleppers Tod an, sein Roman spielt also in den letzten drei Kriegsjahren. Jochen Klepper heißt aber nun Gisbert Gutsche. Der Ich-Erzähler Baron von Wolzogen ist mit der Redaktion und Herausgabe der hinterlassenen Papiere Gutsches beauftragt. Er ist ehemaliger Jagdflieger und Überläufer zu den Sowjets, unmittelbar nach Gutsches Freitod findet er in Berlin-Zehlendorf Gutsches hinterlassene Romankapitel und nimmt sie an sich. Die Herausgabe der Papiere ist aus sowjetischer Sicht ein Projekt, das weiter zur Destabilisierung von Nazideutschland dienen soll. Seine Aufgabe sei es, „ die lutheranisch Gesinnten im Reich für den aktiven Widerstand gegen das Hitlerregime zu mobilisieren “ (S. 344) 99 . Der Erzähler nennt dieses Projekt die „ Gutsche-Redaktion “ (S. 326) und die politische Vorgabe ist eindeutig. Von Wolzogen soll den Tod Gutsches als 98 Dieter Forte: Warum historische Stücke? , in: „ Es ist schon ein eigenartiges Schreiben . . . “ . Materialien zum Werk von Dieter Forte. Hgg. v. Jürgen Hosemann. Frankfurt a. M. 2007, S. 99 - 107. 99 Thorsten Becker: Das Ewige Haus. Reinbek b. Hamburg 2009. Das Luther-Bild in der Moderne 209 Verzweiflungstat darstellen und ihn so als „ Märtyrer “ (S. 1) des Nationalsozialismus überhöhen. In der sprachlichen und stilistischen Gestaltung verlangt man von ihm Übertreibung und Pathos. Damit wird bereits eine erste narrative Analogie des Romans zwischen der fiktionalen Figur Gutsches und der literarischen Person Luther benannt, es geht um die Frage, inwieweit Luther als Märtyrer der Kirchengeschichte verstanden werden soll. Im Roman erkennt dies von Wolzogen, dass schon Gutsche selbst angetreten sei Luther nicht zu verteidigen, sondern ihn vielmehr zu verherrlichen (vgl. S. 203). Denn während Luther am Papst zweifeln kann, verbietet sich für Gutsche der Zweifel an Luther. Die zweite Analogie besteht darin, dass Gutsches Tod zum Symbol wird für die deutschen Protestanten im Widerstand gegen das Hitler-Regime - ebenso wie Luther zum Symbol des reformatorischen Widerstands wurde. Zunächst zur konzeptuellen Gestaltung. Zwei Ebenen der Erzählhandlung werden bespielt. Einmal wird Gisbert Gutsche alias Jochen Klepper als Verfasser hinterlassener Papiere vorgestellt, die der Erzähler Baron Wolfgang von Wolzogen findet, an sich nimmt und deren Herausgabe vorbereitet. Das ist die Ebene des Ich-Erzählers, der die Romankapitel Gutsches kommentiert oder der die zeitgenössischen Umstände beschreibt, unter denen die Redaktion des nachgelassenen Romans stattfinden muss. Zusammen mit Iris, der älteren Stieftochter Gutsches, die rechtzeitig Nazideutschland verlassen und nach Schweden emigrieren konnte, wird von Wolzogen nach Alma Ata geschickt, um dort in der Abgeschiedenheit seinem Projektauftrag nachkommen zu können. Am 31. 10. 1943 beginnt der Ich-Erzähler seine Aufzeichnungen. Wolfgang von Wolzogen war im zivilen Beruf Schauspieler und hat unter anderem in einem Theaterstück Gutsches die Hauptrolle des Königs Friedrich Wilhelm I. von Preußen gespielt. Das Stück heißt Katte. Katte wiederum ist aber auf der Autorebene ein Theaterstück von Thorsten Becker, der sichtlich die Darlegung und die Verwirrungen dieser literarischen Querverbindungen genießt. 100 Demgegenüber versucht Becker einen quasidokumentarischen Ton dadurch zu erreichen, dass er Tagebucheintragungen Gutsches mit Datumsangabe zitiert, dies 100 2006 erschien Beckers Roman Fritz, der Fragmente aus dem Versdrama Katte, eine preußische Tragödie enthält, das ebenfalls 2006 aufgeführt wurde (Teildruck Kurt Tucholsky Literaturmuseum Schloss Rheinsberg). 210 Kapitel 5 weitgehend wörtlich, nur Namen und gelegentlich der Satzbau werden geringfügig geändert. In dem ausschweifenden Einleitungskapitel werden zahlreiche Leinen ausgeworfen, die später nicht mehr aufgenommen werden wie zum Beispiel die Reflexionen über die Bedeutung von Tragödie und Komödie für den von Gutsche proklamierten christlichen Roman, die Bedeutung des Theaterlebens für von Wolzogen oder die Beauftragung durch Göring, mit dem Flugzeug Papiere nach London zu bringen. All das spielt im weiteren Verlauf des Romans keine Rolle mehr. Danach folgt das erste Stück Rollenprosa, Katharina von Bora liegt in ihrem Zimmer im Kloster auf dem Bett und grübelt. Die Zweifel an ihrem Glauben sind groß. Der erzählerische Wechsel in den inneren Monolog überrascht, da sich der Autor bislang als auktorialer Erzähler zu erkennen gab. Martin Luther wird in indirekter Form eingeführt, der Roman ist nun bei seinem eigentlichen Thema angekommen. Katharina wird als schnippisch, kindlich und entzückend geschildert, Attribute, die sich hart an der Grenze zur Trivialität bewegen. Am Ende des Kapitels fasst Katharina den Entschluss: „ Ich will diesen Martin Luther sehen! [. . .] Und koste es mich das Heil meiner Seele “ (S. 65), eine nachgerade ketzerische Äußerung der Nonne. Die Flucht wird vorbereitet, und dann passiert dem Autor Becker eine historische Ungenauigkeit (vgl. S. 67). Die Flucht aus dem Kloster erfolgte nicht in der Nacht von Karfreitag auf Ostersamstag, sondern in der Auferstehungsnacht, also in der Nacht auf Ostersonntag. Eine dritte Analogie besteht darin, dass die Ehe zwischen Katharina von Bora und dem Autor Gutsche als Spiegel seiner eigenen Ehe mit Eva dient, ob zu jedem Zeitpunkt wissentlich, bleibt dahingestellt. Jedenfalls hebt von Wolzogen hervor, dass Gutsches Frau Eva die handschriftlichen Vorlagen ihres Mannes abtippen sollte und sich dabei einer immer größer werdenden Freiheit eigener Bearbeitung der Texte bediente. Im Roman analysiert Melanchthon sehr genau die Entwicklung, die Luther nimmt. Ist ‚ Luther ‘ ursprünglich ein Name, der für eine bestimmte theologische Auffassung steht, so entwickelt er sich nun zu einem Begriff, Luther wird zum kulturellen Emblem (vgl. S. 147). Nun fügt der Erzähler ein Kapitel ein, das Gutsches Frau Eva selbstständig geschrieben und so in den Roman eingeschleust haben soll. Ein sprachlicher oder stilistischer Unterschied zu den eigentlichen Gutsche-Kapiteln ist nicht zu erkennen. Damit wird deutlich, dass dieser erzählerische Trick Becker dazu dient, eine neue Dis- Das Luther-Bild in der Moderne 211 kursmöglichkeit zu eröffnen, in der sich die Realisierung der dritten Analogie vollzieht, Eva Gutsche und Katharina von Bora verschmelzen. Nach einer langen Gesprächsepisode zwischen Katharina Melanchthon und Katharina Luther fallen diese bemerkenswerte Worte von Wolzogens: „ Gisbert [sc. Gutsche] stattet seinen Heroen mit fragwürdigen Zügen aus, um der Gefahr seiner Verkitschung entgegenzuwirken “ (S. 203). Autor wie Erzähler erkennen also die Gefahr, in die der Roman geraten ist. Deshalb konstruiert Becker nun eine vierte narrative Analogie, mit welcher der Roman spielt. Es ist eine autopoetologische Analogie, hier entwickelt also der Autor seine eigenen Vorstellungen von Aufgabe und Funktion der Literatur. Dies kann zum einen im Hinblick auf den gegenwärtigen Literaturbetrieb gelesen werden, zum anderen bietet der Autor aber auch einen hermeneutischen Schlüssel zum Verstehen seines eigenen Textes. Immerhin versteckt er seine Ansicht hinter der Meinung eines im Text von Johannes R. Becher zitierten, anonymen Kritikers der deutschen Literatur. Die Germanistik sei „ die Wissenschaft vom Nichtwissenswerten “ (S. 245). Eine Anspielung auf Karl Jaspers (1883 - 1969) Rede Vom lebendigen Geist der Universität (1946) ist denkbar, denn Jaspers führt darin aus, dass sich die spezialisierte Forschung auch in der Philologie verspotten lassen musste als „ Wissenschaft vom Nichtwissenswerten “ 101 . Dieses Zitat weist aber zurück auf den ungarischen Essayisten Ludwig Hatvany (1880 - 1961) und seine Veröffentlichung Die Wissenschaft des Nicht Wissenswerten von 1908. Hatvany wird im Roman zwar nicht genannt, Becker legt aber mit seinem Hinweis und den knappen Ausführungen zur Literatursoziologie eine eindeutige Spur. Allerdings ist es wiederum ein sachlicher Fehler, wenn Becker das Wort von der ‚ transzendentalen Obdachlosigkeit ‘ Hatvany zuschreibt und in den Mund legt, es stammt von Georg Lukács (1885 - 1971) aus dessen Theorie des Romans (1916). Vor dem Hintergrund dieser bruchstückhaften Reihung poetologischer Reflexionen aus der Geschichte der marxistischen Literaturtheorie deutet Becker nun Gutsches alias Kleppers Titel Das Ewige Haus als Ausdruck von dessen Bedürfnis nach metaphysischer Geschlossenheit, nach einem Halt im Haltlosen, „ ein unzerstörbares, unangreifbares Luftschloß sollte dieser Roman werden “ (S. 247) - 101 Vgl. Vom neuen Geist der Universität. Dokumente, Reden und Vorträge 1945/ 46. Hgg. v. K. H. Bauer. Berlin, Heidelberg 1947, S. 121. 212 Kapitel 5 und musste dabei mit der historischen Wirklichkeit unweigerlich kollidieren. Für den Autor bedeute dies, so Becker weiter, dass weder Lyrik noch Dramatik als Darstellungsform des Luther-Stoffes in Frage kommen, denn Gutsche konnte nur in der geschlossenen, künstlichen und selbstgeschaffenen Welt des Romans sich geborgen, sich aufgehoben und glücklich fühlen. Becker formuliert dies letztlich doch sehr apodiktisch. Weshalb der Roman diese Geschlossenheit erzeuge und weshalb sie der Autor brauche, um einen solchen Stoff wie Luther gestalten zu können, bleibt für den Leser letztlich unklar. Becker wäre nicht Becker, wenn er diese reflexive Schwäche nicht auch sofort erkennen und benennen würde. Er spricht von kühnen Behauptungen, die er aufstelle, die aber durch die Tagebücher Gutsches Nahrung bekämen. Das Kunsterlebnis im Schreiben und in der Geschlossenheit der Kunst-Welt wird für Gutsche zu einem quasireligiösen Erlebnis, das mit seinem protestantischen Christentum konkurriert. Aus dieser psychologischen und künstlerischen Situation heraus habe es für Gisbert Gutsche gar keine andere Möglichkeit gegeben, als Luther zum „ Romanhelden “ (S. 247), und zwar nur zu einem Romanhelden, werden lassen zu müssen. Der exterritoriale Raum des Luther-Romans wird für Gutsche - und in der historischen Entsprechung ohne Änderung auch für Jochen Klepper - sein eigentlicher Lebensraum als Mensch und Autor. Diese Strategien der Selbstimmunisierung zeitigen am Ende den Roman Beckers oder das Romanfragment Gutsches. Der Autor Becker treibt sein Spiel mit Leser und Figuren gleichermaßen. Er doziert über den Zusammenhang der Entwicklung der Gattung Roman mit dem Protestantismus, eine gewagte, weil spekulative Überlegung. Das verbindende Gelenk zwischen Roman und Protestantismus sei die Innerlichkeit. Der Autor beruft sich auf die Literatursoziologie und beschwört die Möglichkeiten, die der Roman der modernen Seele böte, er erzeuge einen schönen Schein, der eine Welttotalität suggeriere, die es in der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren Fragmentarisierungen längst nicht mehr gebe. Die Seele bekomme auf diese Weise Trost und Asyl geschenkt. Dann startet Becker einen Angriff auf all jene, die sich mit der Deutung von Texten befassen. Geschickt legt er diese Worte aber von Wolzogen in den Mund, die Figur reflektiert die zu erwartende Deutung des Mastertextes Das Ewige Haus. Figur, Erzähler und Autor verschmelzen zu einem Konglomerat philologischer Abwehrhaltung: „ Diejenigen, die sich in literaturkritischer oder philologischer Das Luther-Bild in der Moderne 213 Absicht über das Werk eines Dichters hermachen, geraten leicht in den Verdacht der Impotenz, die sie durch die Konsumption des Fruchtbaren vergeblich wettzumachen suchen “ (S. 248). Ist Beckers Roman das Fruchtbare? Sind die Textdeuter reine Konsumenten, unfähig selbst einen solchen Text hervorzubringen? Beckers Polemik ist in diesem Roman deplatziert. Dahinter kann man unschwer den polemischen Versuch erkennen, seinen Text gegen jedweden Deutungszugriff abzuschirmen. Das wäre eine postmoderne erzählerische Variante von Luthers ‚ sola scriptura ‘ . Nur heißt es jetzt: Allein der Roman oder Der Roman allein. Ästhetisch gewendet ist das der Versuch, eine postmoderne Kunstautonomie zu etablieren. Historisch und philosophisch gesehen ist es Ausdruck eines naiven Textverständnisses. Denn indem Becker das bekennt, hebt er bereits die Differenz zwischen Text und Deutung auf. ‚ Sola scriptura ‘ als Denkfigur mag in der Theologie funktionieren (wobei Zweifel daran durchaus auch formuliert wurden), in der Philologie resp. der Hermeneutik jedenfalls nicht. Wenn uns etwas Luthers reformatorische Schriften gelehrt haben, dann dies, dass es kein Zurück hinter den Status schriftstellerischer Unschuld gibt. Ist der Text erst einmal publiziert, führt er ein Eigenleben, das auch Missdeutungen, Reduktionen, Erweiterungen, kreative oder einfältige Funktionalisierungen hervortreibt. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Erkenntnis des Horaz: „ nescit vox missa reverti “ (Ars poetica, V. 390; dt. etwa: ‚ Geäußert Wort bleibt ewig fort ‘ ). Thorsten Beckers Roman schließt mit einer episch breiten Schilderung von Luthers Hochzeit inmitten des Bauernaufstandes ab. Dass Luther am Ende den Schädel Thomas Münzers als Hochzeitsgeschenk ausgehändigt bekommt und er phantasiert, wie er ihn aufsägen lassen, mit einem Scharnier versehen lassen und mit roter Tinte auffüllen lassen werde, ist ein Gag und führt plakativ - wie in Fortes Stück die abgehackte Hand eines Aufständischen, die Fugger auf seine kaufmännischen Bücher gelegt wird - die symbolische Aussageebene mit der buchstäblichen Beschreibungsebene des Textes zusammen: Luthers Werk ist blutgetränkt. Der Roman verläuft sich an diesem Punkt, die ‚ Gutsche-Redaktion ‘ des von Wolzogen wird nicht weiter fortgeführt, die narrative und erklärende Klammer zwischen dem Text des Luther-Romans und der Erzählung der ‚ Gutsche-Redaktion ‘ fehlt. Darin liegt die konzeptuelle Schwäche des Buchs. Manche Exkurse wie beispielsweise über die romantische Liebe oder über die freie Ehegattenwahl sind langatmig und stehen 214 Kapitel 5 als essayistische Passagen quer zum Erzählverlauf, der traditionell einer narrativen Ordnung der beiden Erzählebenen von Herausgeber von Wolzogen und Luther-Thema folgt. Stärker aber ist die sprachliche Gestaltung des Romans zu gewichten. Ohne Zweifel ist Thorsten Becker ein wortgewaltiger Autor, dessen Literatursprache zu lesen über weite Strecken wirkliches Vergnügen bereitet. Umso offensichtlicher treten die Schwächen zu Tage, die Marotten, die schlicht maniriert wirken. Was soll man von einem Roman halten, dessen Autor dem Leser unablässig Zweifel an seiner sprachlichen Klarheit aufzwingt? Das sprachliche Changieren Beckers zwischen historischem Roman mit historisierendem Gewand, dem irritierenden Unvermögen, Redensarten- und Sprachschnitzer zu erkennen, auf der einen und der durchaus epischen Gestaltungskraft auf der anderen Seite erzeugen einen Widerspruch, der sich im Laufe des Romans nicht löst. Ist es Beckers Absicht oder sind es Flüchtigkeiten, Nachlässigkeiten? Soll damit ein besonderer, individueller Becker- Stil hervorgebracht werden, der sich an den sprachlichen Mustern des Romans Mensch Luther (1928) eines Walter von Molo (1880 - 1958) orientiert? Um nur einige Bespiele anzuführen, Becker schreibt: vor einigem statt vor kurzem, machte ich mich vorstellig statt wurde ich vorstellig, hinter dem Licht herumführen statt hinters Licht führen, auf den Trichter verfallen statt auf den Trichter kommen, Luther verzog statt Luther verzog sich, zurück auf die Schnur bringen statt zurück in die Spur bringen oder statt über die Schnur hauen, lange vor Aufgang statt lange vor Sonnenaufgang, versteifter Hals statt steifer Hals, in staunenden Augenschein nehmen statt staunend in Augenschein nehmen, eines Autoren statt eines Autors, standen sich besser statt stellten sich besser, verzog sie etwas mit ihrer Antwort statt verzögerte sie ihre Antwort, beide Fliegen mit der einen Klappe zu erschlagen statt beide Fliegen mit einer Klappe zu schlagen usf. Der Leser muss selbst entscheiden, ob er dies als bewusste Sprachirritation begreifen oder als stilistischen Mangel beurteilen will. Beckers Roman führt uns wieder zu der grundsätzlichen Frage zurück, wie kann man einen historischen Roman schreiben, ohne sprachlich historisierend zu werden? Wir können nicht so tun, als ob wir wüssten, wie Luther und seine Zeitgenossen gesprochen haben. Wir kennen nur ihre Literatursprache. Wenn Becker beispielsweise von der historischen Sprachform Oberkeit statt von der Obrigkeit spricht oder von Evangelion statt von Evangelium oder von Paulus zun Römern statt von Paulus zu den Römern, dann wirkt das Das Luther-Bild in der Moderne 215 niedlich, bestenfalls historisierend, solange dies auf der Ebene der Figurenrede bleibt. Sobald sich aber der Erzähler selbst dieser Sprachregelung bedient, wie es im Roman der Fall ist, wirkt es unangemessen. Jochen Klepper hatte dieses Problem bravourös umgangen, indem er erst gar nicht versuchte, eine Sprachform literarisch zu imitieren, über die wir nichts wissen. Ob mit Beckers Roman zugleich auch eine Aussage darüber getroffen werden kann, in welcher Form, in welchem Beschreibungsmodus heutzutage ein modernes Luther-Bild vorgetragen werden kann, ist zweifelhaft. Sich Luther nur noch als Romanhelden vorzustellen hieße, die weitergehende Entwicklung der Literatur zu ignorieren. Schon Rolf Hochhuth (geb. 1931) greift mit seinem Stück 9 Nonnen fliehen von 2014 wieder auf eine dramatische Darstellungsmöglichkeit nach langer Zeit zurück. 102 Allerdings entwertet er den Dramentext durch Kommentare zu Geschichte und Gegenwart, die als Regieanweisungen ausgewiesen sind und störend beckmesserisch wirken. Die zur Schau gestellte Abneigung gegenüber der bürgerlichen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die propagierte neo-marxistische Entmythologisierungabsicht, die Ansicht, die Historiker seien von allen Berufstätigen die „ Verlogensten: Wenn sie schon nicht lügen - lassen sie weg “ (S. 22), das Urteil: „ Vergessen wir doch nicht: Der Absolutismus des Christentums verhexte mindestens tausendzweihundert Jahre lang Europa “ (S. 28) - all das trägt nicht gerade dazu bei, einen spielbaren Dramentext zu erkennen. Der Ansatz, die Flucht der Nonnen sei „ die erste weibliche Revolution, mindestens in Deutschland! “ (S. 23), bleibt unausgeführt. Die Sprache changiert zwischen Gegenwart und Altertümelei. Sein Luther ergeht sich in Selbstmitleid: „ Die verdammte Theologie hat mich blindblöd für alles andere gemacht “ (S. 78). Wie kann man also unter den Bedingungen der Gegenwart über Luther schreiben, wie kann man überkommene Luther-Bilder bewahren oder verändern oder ein neues Luther-Bild entwickeln? Entscheidend dabei ist dieser historische Aspekt: Der Mensch Luther ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch den Pietismus gegen das informelle ‚ Beschreibungsverbot ‘ des orthodoxen Luthertums entdeckt worden. Die Literatur reagiert darauf mit zwei Entwicklungen, einmal beginnt sie das Luther-Bild zu trivialisieren (dies 102 Vgl. Rolf Hochhuth: 9 Nonnen fliehen. Komödie in drei Akten. Mit Essays v. Uta Ranke-Heinemann u. Antje Vollmer. Reinbek b. Hamburg 2014. 216 Kapitel 5 wird bis in unsere Gegenwart hinein fortgesetzt) und festigt damit eine massenorientierte Rezipierbarkeit, da sie jedem Leser eine Identifikationsmöglichkeit bietet. Zum anderen reagiert die Literatur radikal und minimalisiert den Heros Luther auf ein eben noch vertretbares Mindestmaß. Der historische Koloss wird zum ‚ Bruder Martin ‘ in Goethes Drama Götz von Berlichingen oder zum ‚ Rand- Luther ‘ in Kleists Novelle Michael Kohlhaas. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt sich das Luther-Bild als Fragment, einerseits in der sehr hermetischen Form von Hölderlins Hymnik, andererseits in dem dramatischen Fragment eines Theodor Körner mit Luthers Monolog. Die Suche nach dem richtigen Denkmal bürgerlicher Luther-Verehrung, wie sie in der Ausschreibung des Ideenwettbewerbs von 1803 zum Ausdruck gekommen war, beschleunigt diesen Prozess in der Literatur, sie erschafft das gesuchte Denkmal in der Trivialisierung eines Werner, in der Heroisierung eines Klingemann oder in der enthobenen Hymnik eines Hölderlin. Anders ausgedrückt, die Literatur entdeckt einen Luther, der von der Verkitschung gereinigt ist und versucht dieses Bild dauerhaft zu bewahren. Das Wort Luther mit all seinen Bedeutungseinschließungen entwickelt sich vom Begriff zum kulturellen Emblem im Herder ’ schen Sinne als ein kulturelles Denkbild, das der Selbstreflexion und der Selbstverständigung der Protestanten ebenso dient wie der Konstituierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Literatur und Theologie haben am Beispiel des Luther-Bildes gezeigt, dass sie einander brauchen, zur wechselseitigen Veränderung und zur Verbesserung von Wahrnehmungen und Gewohnheiten und zur Offenheit für die zukünftige Gestaltung des kulturellen Emblems Luther. Das Luther-Bild in der Moderne 217 Anhang Friedrich Hölderlin: Luther (1802/ 06) meinest du zum Dämon Es solle gehen, Wie damals? Nämlich sie wollten stiften Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber 5 Das Vaterländische von ihnen Versäumet und erbärmlich ging Das Griechenland, das schönste, zu Grunde. Wohl hat es andere Bewandtnis jetzt. 10 Es sollten nämlich die Frommen und alle Tage wäre Das Fest. Also darf nicht Ein ehrlich Meister 15 und wie mit Diamanten In die Fenster machte, des Müßiggangs wegen Mit meinen Fingern, hindert so hat mir Das Kloster etwas genützet, 20 Denn gute Dinge sind drei. Nicht will ich Die Bilder dir stürmen. und das Sakrament Heilig behalten, das hält unsere Seele Zusammen, die uns gönnet Gott. Die 25 Geheimnisfreundin Die gesellige, die auch waltet in Gärten in Italia Pomeranzen pflanzt Weithin, Gott woll An unser End Hier sind wir in der Einsamkeit Und drunten gehet der Bruder, ein Esel auch dem 30 braunen Schleier nach, allbejahend Von wegen des Spotts Wenn aber der Tag Schicksale macht, denn aus Zorn der Natur- Göttin, wie ein Ritter gesagt von Rom, in derlei 35 Palästen, gehet itzt viel Irrsal, Und Julius Geist um derweil, welcher Kalender Gemachet, und dort drüben, in Westphalen, Mein ehrlich Meister Gott rein und mit Unterscheidung 40 Bewahren, das ist uns vertrauet, Damit nicht, weil an diesem Viel hängt, über der Büßung über einem Fehler Des Zeichens Gottes Gericht entstehet. 45 Ach! kennet ihr den nicht mehr Den Meister des Forsts, und den Jüngling in der Wüste, der von Honig traun Und Heuschrecken sich nährt. Still Geists ists. Oben wohl. Auf Monte, wohl auch seitwärts, 50 Irr ich herabgekommen Über Tyrol, Lombarda, Loretto, wo des Pilgrims Heimat auf dem Gotthard, gezäunt, nachlässig, unter Gletschern Karg wohnt jener, wo der Vogel Mit Eiderdünnen, eine Perle des Meers Und der Adler den Accent rufet, vor Gott, wo das Feuer 55 läuft der Menschen wegen Des Wächters Horn tönt aber über den Garden Der Kranich hält die Gestalt aufrecht Die Majestätische, keusche, drüben In Patmos, Morea, in der Pestluft. 60 Türkisch. und die Eule, wohlbekannt den Schriften Hölderlin: Luther 219 Spricht, heischern Fraun gleich in zerstörten Städten. Aber Die erhalten den Sinn. Oft aber wie ein Brand Entstehet Sprachverwirrung. Aber wie ein Schiff, Das lieget im Hafen, des Abends, wenn die Glocke lautet 65 Des Kirchturms, und es nachhallt unten Im Eingeweid des Tempels und der Mönch Und Schäfer Abschied nehmet, vom Spaziergang Und Apollon, ebenfalls Aus Roma, derlei Palästen, sagt 70 Ade! unreinlich bitter, darum! Dann kommt das Brautlied des Himmels. Vollendruhe. Goldrot. Und die Rippe tönet Des sandigen Erdballs in Gottes Werk Ausdrücklicher Bauart, grüner Nacht 75 Und Geist, der Säulenordnung, wirklich Ganzem Verhältnis, samt der Mitt, Und glänzenden Auf falbem Laube ruhet Die Traube, des Weines Hoffnung, also ruhet auf der Wange 80 Der Schatten von dem goldenen Schmuck, der hängt Am Ohre der Jungfrau. Und ledig soll ich bleiben Leicht fanget aber sich In der Kette, die 85 Es abgerissen, das Kälblein. Fleißig Es liebet aber der Sämann Zu sehen eine, Des Tages schlafend über 90 Dem Strickstrumpf. Nicht will wohllauten Der deutsche Mund aber lieblich Am stechenden Bart rauschen 95 Die Küsse. [Aus: Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hgg. v. Gerhard Kurz. Stuttgart 2000, S. 399 - 402.] 220 Anhang Hans Sachs: Ein Epitaphium oder Klagred ’ ob der Leiche Doctor Martini Lutheri (1546) Als man zählt ’ fünfzehnhundert Jahr ’ Und sechsundvierzig, grad ’ als war Im Hornung der siebzehnte Tag, Schwermuth mir auf dem Herzen lag, Und wußt ’ doch selbst nicht, was mir wâs, Betrübt in mich gekehret saß; Ich legt ’ mich in Gedanken tief Und gleich in Unmuth groß entschlief. Mich däucht ’ , ich wär ’ in einem Tempel, Erbaut nach sächsischem Exempel, Mit Räucherwerk durchduftet gar, Erhellt mit Kerzen hell und klar; In der Mitte stand bedecket gar Mit schwarzem Tuche eine Bahr ’ . Ob dieser Bahre hing ein Schild, Darinnen war der Rose Bild, Durch ihre Mitte ging ein Kreuz. Ich dacht ’ mir: »Ach Gott, was bedeut ’ t ’ s? « Erseufzte darob traurig gleich Und dacht ’ : »Wie, wenn die Todtenleich ’ Doctor Martinus Luther wär ’ ? « Indem trat aus dem Chor daher Ein Weib in schneeweißem Gewand, Theologia hoch genannt, Die stand hin zu der Todtenbahr ’ , Sie rang die Hände, rauft ’ das Haar, Hervor die Thräne kläglich brach, Mit Seufzen fing sie an und sprach: »Ach, daß es müss ’ erbarmen Gott! Liegst du denn hier jetzt und bist todt, Du treuer und vielkühner Held, Von Gott, dem Herren, selbst erwählt, Hans Sachs: Ein Epitaphium 221 Für mich so ritterlich zu kämpfen, Mit Gottes Wort meine Feind ’ zu dämpfen, Mit Disputieren, Schreiben, Predigen, Womit du mich denn thät ’ st erledigen Aus großer Trübsal und Bedrängniß, Dem babylonischen Gefängniß, Darin ich lag so lange Zeit Fast bis in die Vergessenheit Durch meine Feind ’ in Herzeleid, Von denen mir mein schneeweiß Kleid Geschwärzet ward, beschmutzt, besudelt, Zerrissen und scheußlich zerhudelt, Die mich noch hin und wieder zogen, Zerkrüppelten, zerkrümmten, bogen? Ich ward geradebrecht, gezwickt, gezwackt, Verwund ’ t, gemartert und geplackt Durch ihre gottlose Menschenlehr ’ , Daß man mich kaum konnt ’ kennen mehr. Nicht galt bei ihnen schließlich ich, Bis ich erledigt bin durch dich, Du theurer Held von Gottes Gnaden, Da du mich waschen thät ’ st und baden, Daß rein mein Kleid ich wieder trug Von ihrem Unflath, ihrem Lug. Auch thät ’ st du heilen mich und salben, Daß ich gesund steh ’ , allenthalben Ganz hell und rein, wie im Anfange; Darmit hast du gemüht dich lange, Mit schwerer Arbeit hart geplagt, Dein Leben oft darob gewagt, Weil Papst, Bischöf ’ und auch Gefürstete Gar sehr nach deinem Blute dürstete, Und sie dir tückisch nachgestellt. Auch bist du als ein Gottesheld Geblieben wahrhaft, treu, beständig. Du wardst nicht durch Gefahr abwendig Von Gott, dem Herrn, und auch von mir. Wer wird mein Schützer nun hinfür, Weil du genommen hast dein End ’ ? Wie werd ’ ich werden so elend, 222 Anhang Verlassen in der Feinde Mitt ’ ! « Ich sprach zu ihr: »O fürcht ’ dich nit, Du Heilige; sei wohlgemuth, Gott hat dich selbst in seiner Hut, Der dir in Ueberfluß gegeben Viel wackre Männer, so noch leben; Die werden dich handhaben fein, Mitsammt der christlichen Gemein ’ , Der du bist worden klar bekannt Schier durch das ganze deutsche Land. Die werden nimmer dich verlassen, Dich rein erhalten allermaßen Ohn ’ Menschenlehr ’ , wie du jetzt bist, Dawider hilft nicht Gewalt noch List; Es sollen dich die Pforten der Höllen Nicht überwältigen noch fällen. Darum so laß dein Trauern sein, Daß Doctor Martinus allein Als Ueberwinder und ein Sieger, Ein recht apostolischer Krieger, Der seinen Kampf hier hat vollbracht Und brochen deiner Feinde Macht, Jetzund aus aller Angst und Noth Durch den barmherz ’ gen Herrn und Gott Gefordert ist zur ew ’ gen Ruh ’ .« Da helf ’ uns Christus allen zu, Daß ew ’ ge Freud ’ uns auferwachs ’ Nach dem Elend, das wünscht Hans Sachs. [Aus: Hans Sachs ’ ausgewählte poetische Werke. Sprachlich erneuert, mit Einleitung u. Anmerkungen versehen v. Karl Pannier. Bd. 1. Leipzig o. J. (1879), S. 135 - 137] Hans Sachs: Ein Epitaphium 223 Zeittafel 10. 11. 1483 Martin Luther wird in Eisleben geboren 17. 7. 1505 Eintritt in das Augustiner-Eremiten-Kloster Erfurt April 1507 Priesterweihe November 1510 - April 1511 Reise nach Rom 1512 Promotion zum Dr. theol. Ernennung zum Professor an der Wittenbergischen Universität 31. 10. 1517 Luther schickt seine 95 Thesen an den Erzbischof von Mainz 15. 6. 1520 Exsurge Domine (Bannandrohungsbulle) 10. 12. 1520 Luther verbrennt die Bannandrohungsbulle öffentlich 3. 1. 1521 Luther wird exkommuniziert. Decet Romanum Pontificem (Bannbulle) 16. - 25. 4. 1521 Luther in Worms 8. 5. 1521 Wormser Edikt, veröffentlicht am 26.5. Über Martin Luther wird die kaiserliche Reichsacht verhängt Mai 1521 - März 1522 Aufenthalt auf der Wartburg (Übersetzung des Neuen Testaments) 1524 - 1526 Bauernkrieg 13. 6. 1525 Luther heiratet Katharina von Bora (1499 - 1552) 18. 2. 1546 Tod Luthers 25. 9. 1555 Augsburger Religionsfrieden Bibliographie Quellen WA= Martin Luther: Weimarer Ausgabe, mit Band- und Seitenzahl. WA TR = Luther: Weimarer Ausgabe Tischreden. WA BR = Luther: Weimarer Ausgabe Briefe. Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen. Hgg. v. Ernst Kähler. Stuttgart 1995. Luther, Martin: Die Briefe. (= Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Hgg. v. Kurt Aland, Bd. 10). 2. Aufl. Göttingen 1983. Luther, Martin: Freiheit und Lebensgestaltung. Ausgewählte Texte. Hgg. u. teilweise neu übersetzt v. Karl-Heinz zur Mühlen. Göttingen 1983. Luther, Martin: Tischreden. Hgg. v. Kurt Aland. Stuttgart 2013. Luthers Vorreden zur Bibel. Hgg. v. Heinrich Bornkamm. Göttingen 1989. [Anon.: ] Die Reinigung der Seelen / Vor oder nach dem Tode / Unpartheylich bezeuget und bewähret in zweyen kurtzen Tractätlein. So von Evangelischer als Römisch-catholischer Seiten. O. O. 1711. Aus dem Herder ’ schen Hause: Aufzeichnungen von Johann Georg Müller (1780 - 82) von Jakob Baechtold. Ndr. Bremen 2012. Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit (1927). Zürich 1992. Ball, Hugo: Luther im Deutschen Künstlertheater, in: Hugo Ball Almanach 21/ 22 (1997/ 1998), S. 71 - 73. Bechstein, Ludwig: Luther. Ein Gedicht [1834]. Neudruck. Bad Langensalza 2013. Becker, Thorsten: Das Ewige Haus. Reinbek b. Hamburg 2009. Benn, Gottfried: Briefe Bd. 1: Briefe an F. W. Oelze 1932 - 1945. Wiesbaden, München 1977. Benn, Gottfried: Briefe Bd. 4: Briefe an Tilly Wedekind 1930 - 1955. Stuttgart 1986. Benn, Gottfried: Sämtliche Werke Bd. II: Gedichte 2. Stuttgart 1986. Block, Johannes (Hg.): Die wittenbergische Nachtigall. Luther im Gedicht. Leipzig 2013. Borchardt, Rudolf: Luther, in: Ders.: Gedichte II. Übertragungen II. Stuttgart 1985, S. 46 - 48. Claudius, Matthias: Das Heilige Abendmahl [1812] [= Asmus omnia secum portans, Tl. 8], in: Ders.: Sämtliche Werke. Darmstadt 1996, S. 607 - 618. Cramer, Johann Andreas: Luther und Melanchthon, zwey Oden. Neue Auflage. Frankfurt, Leipzig 1773. Die Reformation im zeitgenössischen Dialog. 12 Texte aus den Jahren 1520 bis 1525. Bearbeitet u. eingeleitet v. Werner Lenk. Berlin 1968. Die Reformation in Augenzeugenberichten. Hgg. v. Helmar Junghans. 2. Aufl. Düsseldorf 1967. Döblin, Alfred: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. Olten 1989. Dr. Martin Luthers Denkmal. Vier Schriften zum Wettbewerb der vaterländisch-literarischen Gesellschaft der Grafschaft Mansfeld um ein Luther- Denkmal aus den Jahren 1804/ 05. Hgg. v. Martin Steffens. Esens 2002. Flugschriften gegen die Reformation (1525 - 1530). Bd. 1. Hgg. v. Adolf Laube. Berlin 2000. Fontane, Theodor: Schach von Wuthenow. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 6. Berlin 1997. Forte, Dieter: Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung. Berlin 1971. Forte, Dieter: Warum historische Stücke? , in: „ Es ist schon ein eigenartiges Schreiben . . . “ . Materialien zum Werk von Dieter Forte. Hgg. v. Jürgen Hosemann. Frankfurt a. M. 2007. Friedrich, G.: Luther. Ein historisches Gedicht in vier Aufzügen. Frankfurt a. M. 1855. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hgg. v. Karl Richter u. a. München, Wien 1985 ff. Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Hgg. v. Karl Robert Mandelkow. München 1988. Gundolf, Friedrich: Die deutsche Literärgeschicht Reimweis kurz fasslich hergericht. Hgg. u. mit einem Nachwort versehen v. Ernst Osterkamp. Heidelberg 2002. Hagen, Fr. H. v. d.: Beweis, daß Luther nie existiert hat. Bratenvorlesung beim Luther-Schiller Festmahle am 10. November 1837 in Berlin. Neudruck Marburg 1910. Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hgg. v. Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1983. Hebel, Johann Peter: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Kritische Gesamtausgabe. Hgg. v. Winfried Theiss. Stuttgart 2010. [Hennings, August: ] Doctor Martin Luther! Deutsche gesunde Vernunft, von einem Freunde der Fürsten und des Volks; und einem Feinde der Betrüger der Einen und der Verräther des Andern. Wien 1792. 2. verm. Aufl. Ebd. 1793. Herbst, Wilhelm: Luther und Faust. Ein Kampf um Wittenberg. Ein dramatisches Spiel in drei Akten, mit einem Vorspiel. Berlin 1950. Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hgg. v. Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877 - 1913. 226 Bibliographie Hochhuth, Rolf: 9 Nonnen fliehen. Komödie in drei Akten. Mit Essays v. Uta Ranke-Heinemann u. Antje Vollmer. Reinbek b. Hamburg 2014. Hölderlin, Friedrich: „ Bevestigter Gesang “ . Die neu zu entdeckende hymnische Spätdichtung bis 1806 hgg. u. textkritisch begründet v. Dietrich Uffhausen. Stuttgart 1989. Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Hgg. v. Gerhard Kurz. Stuttgart 2000. Huch, Ricarda: Gesammelte Werke, Bd. 5. Köln 1971. Huch, Ricarda: Luther. Mit einem Nachwort v. Bernd Balzer. Köln 1983. Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lat. u. dt. Hgg. v. Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel u. Hermann Wiegand. Frankfurt a. M. 1997. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 3. Abteilung, Bd. 5. Hgg. v. Eduard Berend. Weimar 1961. Jean Paul: Wünsche für Luthers Denkmal von Musurus, in: Ders.: Werke. 6. Bd. München 1963, S. 310 - 331. Johannes Falk ’ s auserlesene Werke. (Alt und neu.) In drei Teilen. 3. Tl. Narrenbüchlein. Leipzig 1819. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Hgg. v. Helmut Sembdner. 2 Bde. München 1984. Klepper, Jochen: Der christliche Roman. Berlin 1940. Klepper, Jochen: Die Flucht der Katharina von Bora. Aus dem Nachlass hgg. u. eingeleitet v. Karl Pagel. 2. Aufl. Gütersloh 1983. Klepper, Jochen: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 - 1942. Hgg. v. Hildegard Klepper. Auswahl, Anmerkungen u. Nachwort v. Benno Mascher. Stuttgart 1956. Klepper, Jochen: Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 bis 1942. Hgg. v. Hildegard Klepper. Auswahl, Anmerkungen u. Nachwort v. Benno Mascher. Gekürzt v. Günter Wirth u. Ingo Zimmermann. 2. Aufl. Gießen 2002. Klingemann, August: Theater. Bd. 1. Tübingen 1808. Laukhard, Friedrich Christian: Zuchtspiegel für Theologen und Kirchenlehrer. Paris [= Leipzig] 1799. Lauriscus, Christian Friedrich: Luther der Grosse wird mit wenigen vorgestellet [. . .]. Guben 1767. Lehnert, Christian: Windzüge. Gedichte. Berlin 2015. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hgg. v. Wilfried Barner u. a. Frankfurt a. M. 1985 - 2003. Mann, Thomas: Deutschland und die Deutschen, in: Ders.: Essays, Bd. 5. Hgg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 1996, S. 260 - 281. Mann, Thomas: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hgg v. Heinrich Detering u. a. Bd. 19.1 u. 19.2. Frankfurt a. M. 2009. Mann, Thomas: Tagebücher 1937 - 1939. Hgg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1980. Martin Luther im deutschen Gedicht. Eine Auswahl. Zusammengestellt v. Ruth Böhner. Berlin 1967. Quellen 227 Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort v. Sjaak Onderdelinden. Stuttgart 1997. Müller, Johann Baptist: Luther und die Deutschen. Texte zur Geschichte und Wirkung. Stuttgart 1996. Murner, Thomas: Von dem grossen Lutherischen Narren (1522). Hgg., übersetzt u. kommentiert v. Thomas Neukirchen. Heidelberg 2014. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hgg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Aufl. München 1988. Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe. Hgg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. München, Wien 1978. Opitz, Detlef: Klio, ein Wirbel um L. Roman. Göttingen 1996. Osborne, John: Luther. Ein Stück in drei Akten. [1961]. Frankfurt a. M. 1963. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd. 5. Frankfurt a. M. 1987. Sachs, Hans: Die Wittenbergisch Nachtigall. Spruchgedicht, vier Reformationsdialoge und das Meisterlied Das Walt got. Hgg. v. Gerald H. Seufert. Stuttgart 1974. Sachs, Hans: Meisterlieder, Spruchgedichte, Fastnachtsspiele. Auswahl. Eingeleitet u. erläutert v. Hartmut Kugler. Stuttgart 2011. Schorch, Heinrich: Luthers Entscheidung. Dramatisches Gedicht in vier Acten. Weimar 1817. Sorge, Reinhard Johannes: Werke in drei Bänden. Eingeleitet u. hgg. v. Gerd Rötzer. Nürnberg 1962. Spee, Friedrich: Trvtz-Nachtigal. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift. Hgg. v. Theo G. M. van Oorschot. Stuttgart 1991. Strindberg, August: Luther (Die Nachtigall von Wittenberg). Verdeutscht v. Emil Schering. München 1920. Werner, Zacharias: Die Weihe der Unkraft. Ein Ergänzungsblatt zur deutschen Haustafel. Frankfurt a. M. 1814. Werner, Zacharias: Martin Luther, oder die Weihe der Kraft. Eine Tragödie [1807]. 2. durchgängig vermehrte u. verbesserte Aufl. Wien 1818 (= Theater Bd. 3). Weiterführende Literatur Aland, Kurt: Martin Luther in der modernen Literatur. Ein Beitrag zur Begegnung des Schriftstellers mit der Historie, in: Karl Lehmann (Hg.): Luthers Sendung für Katholiken und Protestanten. München, Zürich 1982, S. 116 - 146. Aland, Kurt: Martin Luther in der modernen Literatur. Ein kritischer Dokumentarbericht. Witten, Berlin 1973. Araki, Emiko Dorothea: Jochen Klepper - Aufbruch zum ewigen Haus. Eine Motivstudie zu seinen Tagebüchern. Frankfurt a. M. 1993. 228 Bibliographie Aust, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart, Weimar 1994. Bacon, Thomas I.: Martin Luther and the Drama. Amsterdam 1976. Baur, Jörg: Lutherische Gestalten - heterodoxe Orthodoxien. Historischsystematische Studien. Tübingen 2010. Baur, Jörg: Martin Luther im Urteil Goethes, in: Goethe-Jahrbuch 113 (1996), S. 11 - 22. Bayer, Oswald: Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie. Tübingen 1999. Bayer, Oswald: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. Tübingen 2003. Bayer, Oswald: Vom Wunderwerk, Gottes Wort recht zu verstehen. Luthers Letzter Zettel, in: Kerygma und Dogma 37/ 4 (1991), S. 258 - 279. Berns, Jörg Jochen: Maximilian und Luther. Ihre Rolle im Entstehungsprozeß einer deutschen National-Literatur, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Hgg. v. Klaus Garber. Tübingen 1989, S. 640 - 668. Besch, Werner: Deutscher Bibelwortschatz in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2008. Besch, Werner: Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung. Berlin 2014. Betzendörfer, Walter: Hölderlins Studienjahre im Tübinger Stift. Heilbronn 1922. Beutel, Albrecht: Das Lutherbild Friedrich Nietzsches, in: Lutherjahrbuch 72 (2005), S. 119 - 146. Beutel, Albrecht: Gotthold Ephraim Lessing und die Theologie der Aufklärung, in: Ders.: Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus. Tübingen 2013, S. 147 - 164. Beutel, Albrecht: Luther und Kohlhase. Eine Fallstudie zur cura conscientiae des Reformators, in: Luther 73/ 3 (2002), S. 119 - 140. Beutel, Albrecht: Martin Luther im Urteil der deutschen Aufklärung. Beobachtungen zu einem epochalen Paradigmenwechsel, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 112 (2015), S. 164 - 191. Bornkamm, Heinrich: Luther als Schriftsteller. Heidelberg 1965. Bornkamm, Heinrich: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Heidelberg 1955. Brandhorst, Heinz-Hermann: Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation. Studien zum Luther- und Reformationsverständnis im deutschen Vormärz (1815 - 1848) unter besonderer Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs. Göttingen 1981. Brors, Claudia: Anspruch und Abbruch. Untersuchungen zu Heinrich von Kleists Ästhetik des Rätselhaften. Würzburg 2002. Brückner, Wolfgang, Heidemarie Gruppe: Luther als Gestalt der Sage, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hgg. v. Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 261 - 294. Weiterführende Literatur 229 Brückner, Wolfgang: Luther - Heiliger Mann oder falscher Prophet? Legende und Antilegende zwischen 1517 und 1630, in: Christine Strobel, Michael Neumann (Hg.).: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination - Renaissance. Regensburg 2006, S. 37 - 57. Burger, Heinz Otto: Luther als Ereignis der Literaturgeschichte, in: Luther- Jahrbuch 24 (1957), S. 86 - 101. Burkhardt, Johannes: Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur, in: Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Hgg. v. Dieter Düding, Peter Friedemann, Paul Münch. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 212 - 236. Charlier, Robert: Heros und Messias. Hölderlins messianische Mythogenese und das jüdische Denken. Würzburg 1999. Constantine, David J.: The Significance of Locality in the Poetry of Friedrich Hölderlin. London 1979. Debus, Friedhelm: Über Martin Luthers Bedeutung in sprachlicher und literarischer Perspektive, in: Sprachwissenschaft 39/ 4 (2014), S. 425 - 443. Dießelhorst, Malte, Arne Duncker: Hans Kohlhase. Die Geschichte einer Fehde in Sachsen und Brandenburg zur Zeit der Reformation. Frankfurt a. M. 1999. Doernberg, Erwin: Henry VIII and Luther. An Account of Their Personal Relations. London 1961. Elton, Geoffrey R.: Luther in England, in: Luther in der Neuzeit. Hgg. v. Bernd Moeller. Gütersloh 1983, S. 121 - 134. Erdmann, Gustav Adolf: Die Lutherfestspiele. Geschichtliche Entwicklung, Zweck und Bedeutung derselben für die Bühne. Litterarhistorisch-kritische Studien. Wittenberg 1888. Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Hgg. v. Christian Danz u. Rochus Leonhardt. Berlin 2008. Fielmann, Heike: Ricarda Huch (1864 - 1947), in: Frauen-Profile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert. Hgg. v. Inge Mager. Gütersloh 2005, S. 73 - 98. Fischer, Michael: Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral ‚ Ein feste Burg ist unser Gott ’ zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Münster 2014. Fischer, Michael, Christian Senkel, Klaus Tanner (Hg.): Reichsgründung 1817. Ereignis - Beschreibung - Inszenierung. Münster 2010. Flachmann, Holger: Martin Luther und das Buch. Eine historische Studie zur Bedeutung des Buches im Handeln und Denken des Reformators. Tübingen 1996. Gilleman, Luc: John Osborne. Vituperative Artist. A Reading of His Life and Work. New York, London 2002. 230 Bibliographie Goethe, Friedrich: So wurde der Schwan zum Luther-Emblem, in: Luther mit dem Schwan - Tod und Verklärung eines großen Mannes. Ausstellungskatalog. Berlin 1996, S. 62 - 65. Graßl, Hans: Hölderlin und die Illuminaten. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe des Verschwörermotivs im Hyperion, in: Sprache und Bekenntnis. Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Berlin 1971, S. 137 - 160. Grünberg, Wolfgang: „ Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten “ - Die Schriftsteller Victor Klemperer und Jochen Klepper in ihren Tagebüchern aus der Kriegszeit, in: 5. Josef-Carlebach-Konferenz. Hgg. v. Miriam Gillis-Carlebach. Hamburg 2001, S. 109 - 127. Gruppe, Heidemarie: Katalog der Luther- und Reformationssagen des 19. Jahrhunderts, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hgg. v. Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 295 - 324. Haas, Alois M.: Sermo Mysticus. Studien zur Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Fribourg 1979. Häberlein, Mark: Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367 - 1650). Stuttgart 2006. Hahn, Gerhard (Hg.): Martin Luther. Die deutschen geistlichen Lieder. Tübingen 1967. Hahn, Gerhard: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München, Zürich 1981. Hamacher, Bernd: Thomas Manns letzter Werkplan ‚ Luthers Hochzeit ‘ . Edition, Vorgeschichte und Kontexte. Frankfurt a. M. 1996. Hartung, Günter: Luther-Bilder in der deutschen Literatur, in: Ders.: Literatur und Welt. Vorträge. Leipzig 2002, S. 11 - 32. Hecht, Wolfgang: „ . . . ein Genie sehr bedeutender Art “ . Goethes Lutherbild und seine Wandlungen, in: Impulse 7 (1984), S. 95 - 116. Hermann, Rudolf: Goethes und Zelters Plan einer Reformations-Kantate, in: Zschr. f. Systematische Theologie 18 (1941), S. 213 - 223. Holsing, Henrike: Luther - Gottesmann und Nationalheld. Sein Image in der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts. Diss. Köln 2004 [http: / / kups.ub.uni-koeln.de/ 2132; Zugriff am 3. 6. 2015; nur online abrufbar]. Hoyer, Siegfried: Luther, Hus und ‚ die Böhmen ‘ , in: Luther mit dem Schwan - Tod und Verklärung eines großen Mannes. Ausstellungskatalog. Berlin 1996, S. 13 - 20. Jaumann, Herbert: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin 2004. Junghans, Helmar: Der junge Luther und die Humanisten. Göttingen 1985. Karnick, Manfred: ‚ Fructus germinis Lutheri ‘ oder Ehe und Unordnung. Über Themen der literarischen Lutherrezeption, in: Luther in der Neuzeit. Hgg. v. Bernd Moeller. Gütersloh 1983, S. 265 - 283. Weiterführende Literatur 231 Karnick, Manfred: Luther als Bühnenfigur. Historische Wertung und Dramaturgie, in: text + kritik Martin Luther. München 1983, S. 178 - 204. Kaufmann, Thomas: Der Anfang der Reformation. Tübingen 2012. Kaufmann, Thomas: Geschichte der Reformation. Frankfurt a. M., Leipzig 2009. Keil, Siegmar: Martin Rinckarts Lutherdramen. Eine Bestandsaufnahme, in: Luther-Jahrbuch 79 (2008), S. 95 - 108. Killy, Walther: Luther in der trivialen Erzählung, in: Luther in der Neuzeit. Hgg. v. Bernd Moeller. Gütersloh 1983, S. 284 - 298. Kolb, Robert: Die Umgestaltung und theologische Bedeutung des Lutherbildes im späten 16. Jahrhundert, in: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hgg. v. Hans-Christoph Rublack. Gütersloh 1992, S. 202 - 231. Langmesser, August: Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben, seine Werke und sein Nachlaß. Berlin 1905. Laufhütte, Hartmut: Martin Luther in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Luther-Bilder im 20. Jahrhundert. Hgg. v. Ferdinand van Ingen u. Gerd Labroisse. Amsterdam 1984, S. 27 - 57. Lehmann, Hartmut: Martin Luther als deutscher Nationalheld im 19. Jahrhundert, in: Luther. Zschr. der Luthergesellschaft 55/ 1 (1984), S. 53 - 65. Lehmann, Hartmut: Protestantisches Christentum im Prozeß der Säkularisierung. Göttingen 2001. Lenk, Werner: Martin Luther und die deutsche Literatur, in: Weimarer Beiträge 29/ 11 (1983), S. 1870 - 1887. Liebl, Kopitzki (Hg.): Die Gans ist noch nicht gebraten. Ein Lesebuch zum Konstanzer Konzil. Meßkirch 2014. Lippe, George B. von der: The Figure of Martin Luther in Twentieth-Century German Literature. The Metamorphosis of a National Symbol. Lewiston, New York 1996. Lohse, Bernhard: Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Dritte, vollständig überarbeitete Aufl. München 1997. Luserke, Matthias: [Artikel] Cramer, in: Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Gütersloh, München 1989, Bd. 2, S. 470 - 472. Luserke, Matthias: Der junge Goethe. Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe. Göttingen 1999. Luserke, Matthias: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995. Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren - Texte - Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010. Luserke-Jaqui, Matthias: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005. Luserke-Jaqui, Matthias: Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe. Darmstadt 2011. Luserke-Jaqui, Matthias: Luther in der Literatur, in: Luther-Handbuch. Hgg. v. Albrecht Beutel. 3. erweiterte Aufl. Tübingen 2016 [i. Dr.]. 232 Bibliographie Luserke-Jaqui, Matthias: Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren. Tübingen, Basel 2003. Luther mit dem Schwan - Tod und Verklärung eines großen Mannes. Ausstellungskatalog. Berlin 1996. Luther-Handbuch. Hgg. v. Albrecht Beutel. Tübingen 2005. Luthers Thesenanschlag - Faktum oder Fiktion. Hgg. v. Joachim Ott u. Martin Treu. Leipzig 2008. Macha, Jürgen: Frühneuzeitliche Sprachpraxis und der Einfluss der Konfessionen, in: Konfession und Sprache in der Frühen Neuzeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Hgg. v. Jürgen Macha, Anna-Maria Balbach, Sarah Horstkamp. Münster 2012, S. 99 - 112. Martin, Dieter: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin 1993. Mecklenburg, Norbert: Durch politische Brille und Butzenscheibe. Literarische Lutherbilder in der Heine-Zeit, in: Literatur und Politik in der Heine- Zeit. Hgg. v. Hartmut Kircher u. Maria K ł a ń ska. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 1 - 15. Mehlhausen, Joachim: Jochen Klepper. Eine Gedenkrede und Anmerkungen zum Forschungsstand, in: Ders.: Vestigia Verbi. Aufsätze zur Geschichte der evangelischen Theologie. Berlin 1999, S. 438 - 457. Mehnert, Volker: Protestantismus und radikale Spätaufklärung. Die Beurteilung Luthers und der Reformation durch aufgeklärte deutsche Schriftsteller zur Zeit der Französischen Revolution. Bremen 1982. Metz, Detlef: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter. Köln, Weimar, Wien 2013. Mostert, Walter: Luther III. Wirkungsgeschichte, in: ThRE Bd. 21, S. 567 - 594. Müller, Gotthold: Der junge Goethe über Martin Luther und die Reformation, in: Lutherjahrbuch 56 (1989), S. 130 - 145. Mundt, Lothar: Lemnius und Luther. Studien und Texte zur Geschichte und Nachwirkung ihres Konflikts (1538/ 39). 2 Tle. Bern, Frankfurt a. M., New York 1983. Preisendörfer, Bruno: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit. Berlin 2015. Reichelt, Silvio: Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg. Genese, Entwicklung und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes. Göttingen 2013. Reiper, Tanja: Die Darstellung Luthers in Literatur und Schauspiel, in: Hardy Eidam, Gerhard Seib (Hg.): „ Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch und fest umklammert er sein Bibelbuch . . . “ . Zum Lutherkult im 19. Jahrhundert. Berlin 1996, S. 154 - 157. Riemschneider, Ernst G.: Der Fall Klepper. Eine Dokumentation. Stuttgart 1975. Weiterführende Literatur 233 Rohls, Jan: Protestantische Theologie und die Theologie der Aufklärung, in: Ders.: Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus. Tübingen 2013, S. 147 - 164. Roy, Martin: Luther in der DDR. Zum Wandel des Lutherbildes in der DDR- Geschichtsschreibung. Bochum 2000. Ruddies, Hartmut: Luthers Glaube. Briefe an einen Freund. Versuch einer Lektüre, in: Denk- und Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Über Ricarda Huch. Hgg. v. Gesa Dane u. Barbara Hahn. Göttingen 2012, S. 81 - 87. Scharfe, Martin: Doktor Luther: Heiliger oder Held? Zur Kulturgeschichte der Luther- „ Verehrung “ . Eine Nachlese zum Luther-Jahr 1983, in: Zeitschrift für Volkskunde 80 (1984), S. 40 - 58. Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500). Berlin 1968. Schneider, Hans: Martin Luthers Reise nach Rom - neu datiert und neu gedeutet, in: Studien zur Wissenschafts- und Religionsgeschichte. Hgg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin, New York 2011, S. 1 - 157. Schönstädt, Hans-Jürgen: Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982), S. 5 - 57. Schüttler, Hermann: Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776 - 1787/ 93. München 1991. Schwarz, Reinhard: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion. Tübingen 2015. Scribner, Bob: Luther-Legenden des 16. Jahrhunderts, in: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung. Hgg. v. Günter Vogler u. a. Berlin 1983, S. 377 - 390. Scribner, Robert W.: Religion und Kultur in Deutschland 1400 - 1800. Hgg. v. Lyndal Roper. Göttingen 2002. Senkel, Christian: Patriotismus und Protestantismus. Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 und 1813. Tübingen 2015. Sprengel, Peter: Hauptmann und Luther, oder: Die unvollendete Nation, in: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Hgg. v. Christiane Caemmerer u. a. (= Chloe Bd. 33). Amsterdam 2000, S. 419 - 441. Stöver, Rolf: Protestantische Kultur zwischen Kaiserreich und Stalingrad. Porträt der Zeitschrift Eckart 1906 - 1943. München 1982. Suphan, Bernhard: Goethe und das Jubelfest der Reformation 1817, in: Goethe-Jahrbuch 16 (1895), S. 3 - 12. Thorwart, Wolfgang: Heinrich von Kleists Kritik der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Würzburg 2004. Tillmann, Thomas: Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe. Berlin 2006. Uffhausen, Dietrich: Friedrich Hölderlins Luther-Gedicht. Ein neu zu entdeckendes Gedicht aus der Homburger Spätzeit 1804/ 1806, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 87 (1987), S. 174 - 227. 234 Bibliographie Watanabe, Morimichi: Martin Luther ’ s Relations with Italian Humanists. With Special Reference to Ioannes Baptista Mantuanus, in: Lutherjahrbuch 54 (1987), S. 23 - 47. Wolf, Herbert: Germanistische Luther-Bibliographie. Martin Luthers deutsches Sprachschaffen im Spiegel des internationalen Schrifttums der Jahre 1880 - 1980. Heidelberg 1985. Zeeden, Ernst Walter: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit. 2 Bde. Freiburg i. Br. 1950/ 52. Weiterführende Literatur 235 Register Albrecht III., Herzog 186 Aristoteles 23, 25, 54, 58, 59, 66, 121 Ball, Hugo 152, 154, 155, 159 Baum, Marie 160 Becher, Johannes R. 156, 165, 166, 212 Bechstein, Ludwig 94 Becker, Rudolph Zacharias 126 Becker, Thorsten 156, 173, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216 Benn, Gottfried 153, 155, 166 Bergengruen, Werner 175 Berlichingen, Götz von 78, 79, 80, 81, 123, 201 Bertesius, Johannes 58 Bismarck, Otto von 168, 174 Blocius, Johannes 58 Block, Johannes 43 Bodmer, Johann Jakob 73, 80 Bora, Katharina von 53, 57, 104, 114, 118, 123, 148, 156, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 179, 180, 182, 183, 185, 187, 203, 204, 211, 212 Borchardt, Rudolf 163 Börne, Ludwig 152 Brandenburg, Albrecht von 33, 49, 51 Brant, Sebastian 38 Brecht, Bertolt 165, 191 Bugenhagen, Johannes 184 Caesar 80 Cajetan, Kardinal 198, 199 Calvin, Johannes 72 Canitz, Elsa von 185 Cicero 16, 26 Claudius, Matthias 86, 132 Cochläus, Johannes 15, 45, 47 Cotta, Johann Friedrich 128 Cramer, Johann Andreas 62, 65, 66, 67, 68 Dedekind, Friedrich 54, 58 Derschau, Christoph Friedrich von 62, 64 Döblin, Alfred 174, 175, 178 Dommitzsch, Wolfgang 185 Dürer, Albrecht 191 Eck, Johann 45, 47, 200 Emser, Hieronymus 45, 47 Erasmus von Rotterdam 38, 42 Ernst, Kurfürst 186 Esschen, Johannes van den 23 Falk, Johannes Daniel 131 Feuchtwanger, Lion 175 Flake, Otto 175 Fontane, Theodor 93, 117, 118, 119, 179 Forte, Dieter 156, 192, 206, 207, 208, 209, 214 Foxe, John 205 Freyermut, Hans Heinrich 20 Friedrich III. (Friedrich der Weise) von Sachsen 207 Friedrich V., Pfalzgraf 60 Friedrich Wilhelm I., König 173 Friedrich Wilhelm III., König 128 Friedrich Wilhelm IV., König 103 Friedrich, Kurfürst 111 Frischlin, Nikodemus 54, 58 Fugger, Jakob 207 George, Stefan 163, 164 Gerhardt, Paul 61 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 81, 82 Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von 110 Goethe, Johann Wolfgang 27, 28, 31, 48, 62, 63, 65, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 92, 93, 104, 113, 114, 116, 117, 121, 128, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 168, 217 Goeze, Johann Melchior 83, 85 Golis, Lonatha von 185 Gosse, Ave 185 Graf, Alfred 19 Grillparzer, Franz 103 Gundolf, Friedrich 163, 164 Gutenberg, Johannes 15 Hagen, Friedrich Heinrich von der 149 Hamann, Johann Georg 9, 81 Händel, Georg Friedrich 143, 146 Hartmann, Andreas 54, 57, 58 Haubitz, Margarethe von 183 Hauptmann, Gerhard 132, 162 Hausmann, Nikolaus 24 Hebel, Johann Peter 93, 140, 141 Heidegger, Martin 31 Heine, Heinrich 152, 167 Heinrich VIII., König 204 Hennings, August 62, 89 Herder, Johann Gottfried 10, 39, 62, 66, 67, 68, 69, 74, 77, 81, 86, 87, 88, 110, 128, 132, 217, 218 Hessus, Eobanus 33, 35 Hirtzwig, Heinrich 54, 58 Hochhuth, Rolf 156, 216 Hölderlin, Friedrich 26, 31, 65, 93, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 132, 217, 218 Horaz 25, 181, 214 Huch, Ricarda 156, 160, 161, 162, 206 Hus, Jan 75, 181, 182, 198 Hutten, Ulrich von 17, 123, 201, 207 Iffland, August Wilhelm 103, 114, 117, 125 Jacobi, Friedrich Heinrich 116 Jasper, Karl 212 Jean Paul 93, 126, 130, 131 John, Johann August 145 Jonas, Justus 16 Jördens, Karl Heinrich 66 Josef I., Kaiser 63 Kant, Immanuel 80, 90, 145 Karl V., Kaiser 39, 207 Karl XII., König 63 Kesten, Hermann 175 Kielmann, Heinrich 54, 58 Kleist, Heinrich von 93, 95, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 140, 217 Klepper, Hanni 173 Klepper, Jochen 113, 156, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 209, 210, 212, 213, 216 Klingemann, August 93, 95, 107, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 129, 131, 132, 147, 148, 150, 217 Klopstock, Friedrich Gottlieb 64, 67, 80, 87, 97, 98 Kohlhase, Hans 137 Koppe, Leonhard 183, 185, 186, 188, 190 Koppe der Jüngere, Leonhard 185 Körner, Theodor 93, 141, 217 Kotzebue, August von 120, 150 Lang, Johannes 14 Laukhard, Friedrich Christian 62, 89, 90 Lauriscus, Christian Friedrich 63 Lauth 68 Lavater, Johann Kaspar 74 Lehnert, Christian 62, 93, 156 Register 237 Leibniz, Gottfried Wilhelm 13 Lemnius, Simon 33, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 57 Lenz, Jakob Michael Reinhold 68, 81 Leo X., Papst 44, 204, 207 Lessing, Gotthold Ephraim 10, 13, 39, 49, 53, 59, 62, 65, 66, 73, 82, 83, 84, 85, 86, 121, 148 Lienhard, Friedrich 19 Lukács, Georg 212 Luther, Martin 9, 10, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 42, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 71, 72, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 108, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 178, 179, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 213, 214, 215, 216, 217 Magenau, Rudolf Friedrich Heinrich 98 Mann, Heinrich 175 Mann, Klaus 175 Mann, Thomas 19, 153, 155, 156, 166, 167, 168, 169, 170, 175, 179 Mantuanus, Baptista 14, 15 Masch, Andreas Gottfried 85 Mathesius, Johannes 56 Maximilian, Kaiser 207 Megenberg, Konrad von 41, 42 Melanchthon, Philipp 10, 50, 114 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 142 Merck, Johann Heinrich 73, 81 Meyer, Conrad Ferdinand 153 Molo, Walther von 215 Müntzer, Thomas 137, 164, 165, 206, 208, 214 Murner, Thomas 33, 36, 37, 38, 45, 47 Musil, Robert 209 Napoleon 132, 146 Neuffer, Christian Ludwig 98 Nicolai, Friedrich 130 Nietzsche, Friedrich 93, 152, 153, 154, 155, 159, 167, 168, 169 Nostitz, Karl von 119 Novalis 62, 91, 92 Opitz, Detlef 9 Opitz, Martin 61 Osborne, John 29, 156, 190, 191, 192, 194, 196, 197, 198, 200, 201, 202, 204, 205 Ossiander, Andreas 39 Ovid 41 Paulus 14, 25, 56, 135, 203, 215 Peuzer, Heinrich Karl Friedrich 151 Pindar 96 Pirckheimer, Willibald 39, 207 Platon 202 Plinius 41 Regler, Gustav 175 Rilke, Rainer Maria 31 Rinckart, Martin 33, 54, 55, 57, 58 Rivander, Zacharias 54, 58 Rörer, Georg 34 238 Register Rudolph, Georg Gottfried 128 Sabinus 50 Sachs, Hans 20, 28, 33, 36, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 115, 116, 123, 124, 166, 202, 221 Salzmann, Johann Daniel 68 Schadow, Johann Gottfried 129, 130 Schiller, Friedrich 104, 109, 110, 116, 121, 125, 128, 130, 145, 150 Schinkel, Karl Friedrich 130 Schlegel, August Wilhelm 92 Schlegel, Friedrich 31, 92, 115, 120 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 92 Schneider, Reinhold 171, 175 Schönfeld, Ave von 185 Schönfeld, Margarethe von 185 Schorch, Heinrich 93, 147, 148, 149, 150, 151 Schubart, Christian Friedrich Daniel 73 Schütz, Helga 164 Schwarz, Georg 54 Shakespeare 81 Sickingen, Franz von 123 Sokrates 80 Sophokles 41 Sorge, Reinhard Johannes 163 Spalatin, Georg 33, 181 Spangenberg, Cyriakus 56 Spee, Friedrich 33, 47, 48, 115 Spengler, Lazarus 33, 34, 39 Staupitz, Johann von 157, 181 Staupitz, Magdalena von 185 Stein, Armin 174 Strindberg, August 19, 156, 157, 158, 159 Tetzel, Johann 196 Thüringen, Elisabeth von 14 Tieck, Ludwig 120 Valla, Lorenzo 41 Vergil 26, 48 Voes, Hendrik 23 Vogelweide, Walther von der 40 Voidius, Balthasar 54, 58 Voss, Johann Heinrich 149 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 120 Wagner, Richard 48, 103, 167, 169 Walther, Johann 56 Watzinger, Carl Hans 33 Wedekind, Tilly 166 Weishaupt, Adam 100 Werfel, Franz 175 Werner, Zacharias 20, 93, 95, 96, 99, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 129, 131, 132, 147, 148, 150, 217 Wieland, Christoph Martin 79, 81, 82 Wimpfeling, Jakob 14 Wolzogen, Hans von 19 Zelter, Carl Friedrich 104, 113, 114, 142, 143, 144, 145, 146 Zenge, Wilhelmine von 133 Zeschau, Margarete von 185 Zeschau, Veronika von 185 Zwilling, Gabriel 188, 189 Zwingli, Huldrych 10 Register 239 „Ein Nachtigall die waget“ Luserke-Jaqui „Ein Nachtigall die waget“ Matthias Luserke-Jaqui Das Buch verfolgt den Wandel des Luther-Bildes in der Literatur. Matthias Luserke-Jaqui schaut mit dem Blick des Literaturwissenschaftlers auf die Entstehung und Tradierung des Luther-Bildes in der Geschichte. Dieses kulturelle Bild von Luther dient als Projektionsfläche individueller wie gesellschaftlicher Wünsche, es schwankt zwischen Monumentalisierung, Sakralisierung, Trivialisierung und Verkitschung bis hin zur völligen Ablehnung. Die Luther-Bilder der jeweiligen Zeit sammeln diese Tendenzen oder bringen sie recht erst hervor. Dabei wird die Rolle der Literatur untersucht, welchen Einfluss sie vorwegnehmend auf die Ausbildung neuer Luther-Bilder nimmt oder inwiefern sie bestehende Luther-Bilder verharrend bewahrt. Der historische Bogen spannt sich von der Wittenbergischen Nachtigall des Hans Sachs, über Texte von Goethe, Hölderlin, Kleist, Werner, Klingemann bis hin zu Jochen Klepper und Thorsten Becker. ISBN 978-3-7720-8590-1 Luther und die Literatur