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Figur im Vollzug

2016
978-3-7720-5600-0
A. Francke Verlag 
Susanne Bernhardt

Die Vita Heinrich Seuses zählt aufgrund ihrer Komplexität und ihres literarischen und theologischen Anspruchs zu den herausragenden Textzeugnissen der spätmittelalterlichen mystischen Literatur. Die vorliegende Arbeit erschließt die Vita über die Figur des Dieners der ewigen Weisheit, die das narrative Zentrum bildet. Die narratologische Kategorie ,Figur' wird dazu erweitert und für den geistlichen Text und seinen Entwurf eines geistlichen Lebensmodells adaptiert. Mit diesem Ansatz kann die Textanalyse beschreiben, welche narrativen Verfahren die Figur konstituieren und in welchem Verhältnis die narrative Gestaltung und die theologischen Konzepte stehen.

Susanne Bernhardt Figur im Vollzug Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON BURKHARD HASEBRINK, SUSANNE KÖBELE UND URSULA PETERS 64 027916 Bibl. Germ. 64 - Bernhardt.qxp_027916 T_Bibl. Germ. 64 - Bernhardt 09.05.16 17: 16 Seite 1 027916 Bibl. Germ. 64 - Bernhardt.qxp_027916 T_Bibl. Germ. 64 - Bernhardt 09.05.16 17: 16 Seite 2 Susanne Bernhardt Figur im Vollzug Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses 027916 Bibl. Germ. 64 - Bernhardt.qxp_027916 T_Bibl. Germ. 64 - Bernhardt 09.05.16 17: 16 Seite 3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tu ̈ bingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschu ̈ tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fu ̈ r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8600-7 027916 Bibl. Germ. 64 - Bernhardt.qxp_027916 T_Bibl. Germ. 64 - Bernhardt 09.05.16 17: 16 Seite 4 Inhalt Vorwort................................................................................................... 9 1 Einleitung ......................................................................................... 11 1.1 Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption ............ 14 1.1.1 Viten als Exempel? ......................................................... 15 1.1.2 Status des Erzählens, Status der erzählten Welt............... 19 1.1.3 Exemplarisches Erzählen - Implizite Reflexionen bei Seuse .............................................................................. 22 1.2 Zwischen Welt und Text - Figur als Schnittstelle ..................... 24 1.3 Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution .... 28 1.3.1 Figurenidentität - Narrative Inszenierung als performativer Selbstentwurf ........................................... 30 1.3.2 Die einverleibte Praxis - Übung und Habitus.................. 40 1.4 Figur und Bild - Figur als Bild.................................................. 45 1.5 Aufbau der Analysekapitel ........................................................ 49 2 Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung........................ 51 2.1 Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg .......................................................................... 51 2.1.1 Spannungen des Strukturmodells .................................... 55 2.1.2 Der anfangende Mensch - Zuschreibung durch Benennung ..................................................................... 59 2.1.3 Fortschreiten und durpruch - Stufe oder Ereignis? ......... 61 2.1.4 Innen und Außen als Ordnungsmodell des anfangenden Menschen .................................................. 63 2.1.5 Mit mîden, lîden und üeben zum Durchbruch................. 70 2.2 Modellfiguren und Figurenmodelle .......................................... 73 2.2.1 Exkurs: Hiob im Mittelalter - Präfiguration Christi im geduldigen Leiden .......................................................... 77 2.2.2 Minneleiden und Entbehrung - Hiob im Bild und in der narrativen Entfaltung................................................ 80 2.2.3 Das Figurenmodell des frúmen riters .............................. 86 2.2.4 Visualisierung der Gelassenheit - Hiob und der frúme riter ................................................................................ 90 2.2.5 Hiob als Folie hinter dem Narrativ ................................. 93 2.2.6 Transgression Hiobs und Vollendung des Ritters............ 97 6 3 Narrative Genese der Figur ............................................................ 101 3.1 Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4)............................................................................... 102 3.1.1 Exkurs: Der Name in Schwesternbüchern und bei Adelheid Langmann...................................................... 104 3.1.2 Der Name im Bild - Seuses Vita ................................... 107 3.1.3 Performative Selbstsetzung in der Lektüre .................... 109 3.1.4 Von der Lektüre zur Produktion innerer Bilder ............ 116 3.1.5 Die Konstitution der Figur - Von den vorstriten zum ewigen Minnezeichen ................................................... 119 3.2 Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) ........................................................ 125 3.2.1 Das narrative Schema der Visionen............................... 125 3.2.2 Gesang, Tanz, Umarmung - Variationen des Gottesgenusses ............................................................. 129 3.2.3 Überformung des Alltags .............................................. 134 3.3 Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18)....................... 147 3.3.1 Neuausrichtung des Erzählens: Die Betrachtung des Leidens ......................................................................... 150 3.3.2 Die doppelte Zeitstruktur ............................................. 153 3.3.3 Gegen den Körper: Selbstdisziplinierung im 15. und 17. Kapitel.................................................................... 154 3.3.4 Mit dem Körper: Verfehlte Selbstkonstitution .............. 157 3.3.5 Mit dem Körper über den Körper - Visionen als Prolepsen...................................................................... 165 3.4 Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) ....................... 169 3.4.1 Die narrative Gestaltung - Vom Erzählen zum Dialog .. 169 3.4.2 Das 19. Kapitel - Gelassenheit als Übung im Nichts- Tun .............................................................................. 173 3.4.3 Vom Begriff zur Anleitung - Die Umsetzung der Gelassenheit im 20. Kapitel .......................................... 175 3.4.4 Auserwählt zu leiden - Die Zeichen der Christusnachfolge im 22. Kapitel.................................. 182 3.5 Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30)........................................................................... 185 3.5.1 Die modifizierte Erzählwelt - Räume, Figuren, Zeit ..... 185 3.5.2 Soziale Räume .............................................................. 192 3.5.3 Naturräume .................................................................. 197 3.5.4 Krankheit als Passion .................................................... 200 3.5.5 Transformation in der Krankheit - Die Verschmelzung der Narrative ....................................... 203 3.6 Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) .................................................................... 210 7 3.6.1 Vom Vollzug zum Wissen - Leiden und Erkenntnis...... 210 3.6.2 Der transitus in die Freude und die Transgression in die Offenbarung ........................................................... 217 4 Figur und Textaneignung ............................................................... 229 4.1 Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs ............ 229 4.1.1 Die Autorschaftsfrage - Forschungspositionen ............. 230 4.1.2 Rahmung und Auflösung .............................................. 234 4.1.3 Dynamiken der Wiederholung...................................... 236 4.1.4 Die erste Textgrenze - Unterbrechung und Neueinsatz 239 4.2 Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) ........... 244 4.2.1 Benennung als historische Referenz .............................. 244 4.2.2 Das Schreiben zum vollkommenen Leben ..................... 246 4.2.3 Wiederholung in der Differenz: Die Lehre vom eigenen Kreuz ............................................................... 250 4.3 Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45)........................................................................... 256 4.3.1 Vom nützlichen Leiden - Leidenstypologie und Begründungsgeschichte................................................. 257 4.3.2 Bilderbogen des Leidens ............................................... 263 4.3.3 Von der Schülerin zur Visionärin - Elsbeth als Vermittlerin.................................................................. 268 4.4 Transgressionen der Figur (Kap. 46-49) ................................. 271 4.4.1 Die zweite Textgrenze - Der Adlerflug zur Gottheit ..... 271 4.4.2 Das liehte eins g  ten underscheids - Weisung vor der Gottesschau .................................................................. 275 4.5 Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) .............................. 279 4.5.1 Vom Begriff über die Poesie zum Exempel ................... 279 4.5.2 Von der Erfahrung der Figur zu den Stimmen der Meister ......................................................................... 285 4.5.3 Performative Einheit im ‚Wo‘ ....................................... 291 4.6 Der vervielfältigte Textschluss (Kap. 53) ................................ 298 5 Zusammenfassung .......................................................................... 305 6 Bibliographie .................................................................................. 313 6.1 Textausgaben ......................................................................... 313 6.2 Forschungsliteratur ................................................................ 314 6.3 Wörterbücher und Nachschlagewerke .................................... 330 Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2013 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Die Arbeit ist in Freiburg/ Br. und in München entstanden, wohin sich vielfältiger Dank richtet. Mein größter Dank gilt Prof. Dr. Burkhard Hasebrink, der mein Interesse an der geistlichen Literatur weckte und der mein Dissertationsprojekt von den ersten Ideen bis zum Buch mit unentbehrlichem Rat und steter Unterstützung begleitete. Nach meinem Wechsel von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/ Br. an die LMU war er freundlicherweise bereit, weiterhin an der Betreuung mitzuwirken und das Zweitgutachten zu übernehmen. Auch den Mitgliedern seines Lehrstuhls fühle ich mich sehr verbunden, ehemaligen und aktuellen, die in fruchtbaren Diskussionen grundlegende Gedanken zu formen halfen. 2010 erhielt ich eine Promotionsstelle am Internationalen Doktorandenkolleg ‚Textualität in der Vormoderne‘ der LMU München. Dort danke ich insbesondere meinem Erstgutachter, Prof. Dr. Friedrich Vollhardt, dessen kritische Rückmeldungen meiner Arbeit entscheidende Impulse gaben. Prof. Dr. Susanne Köbele gilt mein herzlicher Dank für die konstruktiven Gespräche, die sie auch nach ihrem Wechsel an die Universität Zürich fortzuführen bereit war. Als sehr bereichernd für meine Forschungsarbeit habe ich den Austausch mit den Kollegiatinnen und Kollegiaten und den betreuenden Professorinnen und Professoren erlebt. Für die finanzielle Förderung meiner Promotionsstelle danke ich dem Elitenetzwerk Bayern, für die Gewährung eines Abschlussstipendiums dem Graduate Center LMU . Den Herausgebenden der Reihe ‚Bibliotheca Germanica‘, Prof. Dr. Hasebrink, Prof. Dr. Köbele und Prof. Dr. Ursula Peters, danke ich sehr herzlich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe. Der Fonte-Stiftung fühle ich mich nicht nur für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung zu Dank verpflichtet, sondern auch für das freundliche fachliche Interesse, das mir die Vorsitzende, Prof. Dr. Renate Kroll, entgegen brachte. Und nicht zuletzt bin ich Christiane Bernhardt, Silvana Burke, Nadine Krolla, Linus Möllenbrink und Kathrin Wurster dankbar, die den Text mit großem Fleiß nach Fehlern durchkämmten und auf der letzten Etappe wichtige Hinweise gaben. Jonas Wegerer danke ich für alles. Freiburg, April 2016 Susanne Bernhardt 1 Einleitung In einer Vision sieht der Diener der ewigen Weisheit, die Hauptfigur der Vita Heinrich Seuses, wie auf seiner Hand eine rote, die ganze Hand bedeckende Rose entspringt. Er fragt einen Engel, was die schöne Rose bedeute. Dieser legt ihm das Bild eindrucksvoll aus: ‚es betútet liden und aber liden, und och liden und aber und och liden.‘ (64,31f.) 1 Im Leiden, so wird im Bild der Rose und in der weiteren Auslegung angedeutet, liegt der Weg in die Angleichung an Christus. Die Szene, die Bild und Auslegung eng führt, ist für sich genommen bereits komplex ausgeformt. Doch die Vita bleibt nicht bei der Forderung nach Angleichung im Leiden stehen. Vielmehr entfaltet sie die Prophezeiung narrativ. Die maßlose Menge an Leiden, die in der viermaligen Wiederholung sprachlich dargestellt wird, findet ihre Entsprechung in einer Reihung immer neuer Leidensgeschichten, in die der Diener in den folgenden Kapiteln gerät. Das Leiden wird damit nicht allein im Bild der Rose dargestellt und in der Auslegung der Vision diskursiv eingeholt, sondern es wird in der Erzählstruktur selbst zum Austrag gebracht. Die Figur bietet die erzählerische Möglichkeit, das vermittelte Wissen narrativ zu entfalten. Während der Engel ein Deutungsschema bietet - Leiden als imitatio Christi -, kann in der Wiederholungsbewegung der Leidensgeschichten vorgeführt werden, wie sich die Figur in die Form des Leidens als vita passiva einübt. Der Diener ist einerseits Dialogpartner, dem Wissen diskursiv vermittelt wird, andererseits vollzieht er das Wissen und setzt es in die Praxis um. In der Vita Heinrich Seuses finden sich diese Konstellationen von Unterweisung und Einübung, von Lehre und Praxis, immer wieder. Der Text greift unterschiedliche Wissensbestände auf, die von der Figur probeweise eingeübt, evaluiert, verworfen oder bestätigt werden. Der Weg in die Einheit, in die unio, wird in der Vita zu einem Weg von Übung und Transgression. Die Figur bietet dabei die Möglichkeit, diesen Weg als Experimentierfeld zu gestalten und ein Modell zu entwerfen, aus dem die Rezipientinnen wiederum Deutungen für ihr eigenes, nach perfectio strebendes Leben ziehen können. Mit der Rede vom Diener der ewigen Weisheit als Figur geht eine gewisse Perspektive auf den Text einher. Es ist eine Perspektive, die nicht nach biographischer Authentizität von Erleben fragt, sondern nach den Erzählverfahren, 1 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (unveränderter Nachdruck Frankfurt/ Main 1961). Alle Zitate aus Seuses Textcorpus, dem Exemplar, folgen im Fließtext, soweit nicht anders vermerkt, Bihlmeyers Ausgabe. Auf die mittelhochdeutschen Zitate folgt Seiten- und Zeilenzahl in Klammern. Einleitung 12 die ein exemplarisch strukturiertes Leben als Modell entwickeln. Für die Erschließung der spätmittelalterlichen Vita über die erzähltheoretische Leitkategorie ‚Figur‘ können zwei Gründe besonders hervorgehoben werden. Zum einen bietet sich die Kategorie an, da die Figur des Dieners das narrative Zentrum des Textes ist. Die Figur führt einen religiösen Weg vor und bindet so narrative und religiöse Phänomene eng aneinander. Zum anderen ermöglicht es diese Herangehensweise, den Konstruktions- und Inszenierungscharakter des Textes hervorzuheben. Statt einer biographischen Verengung auf den Autor soll nach literarischen Verfahren gefragt werden, die die Figur als Modell geistlicher Vervollkommnung entwickeln. Gleichzeitig kann mit der Erprobung dieser Leitkategorie ein Beitrag zur historischen Figurenforschung geleistet werden. Nach einer Figur in einem geistlichen Text zu fragen, der eng eingebunden ist in kulturelle Praktiken von Lektüre und Nachvollzug, kann neue Perspektiven auf das Erzählphänomen ‚Figur‘ ermöglichen. Warum bietet es sich nun im Besonderen an, Heinrich Seuses sogenannte Vita mit Blick auf die Figur zu lesen? Zum einen ist sie ein Text von hoher Komplexität und verspricht eine vielschichtige Perspektive auf literarische Strategien der Figurenkonzeption. Zum anderen stellt sie die Frage nach der Rezeption ins Zentrum des Erkenntnisinteresses. Der Text reflektiert die eigene Herstellung ebenso wie die angemessenen Formen seiner Rezeption und verbleibt somit nicht auf der Ebene des Erzählens vom exemplarischen Leben der Figur. Gerade die Probleme, die die individuelle Umsetzung der exemplarischen Lehren aufwerfen, werden in der Erzählung, vor allem im zweiten Teil, ausgeführt. Dort wird eine zweite Figur eingeführt, die Dominikanerin und Beichttochter des Dieners der ewigen Weisheit, Elsbeth Stagel. Der zweite Teil wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung kaum in seiner Gesamtanlage betrachtet und wenn doch, so rief er eher Irritation als Verständnis hervor, da er die Erzählungen des ersten Teils etwas unmotiviert zu wiederholen scheint. Beispielhaft deutlich wird diese Irritation in einer Bemerkung von Anne-Marie Holenstein-Hasler, die dem zweiten Teil der Vita in ihrer Dissertation entsprechend wenig Beachtung schenkt: „So betrachtet, bildet der zweite Teil der Vita einen fast bedauerlichen Anhang, der die Geschlossenheit des Werkes in Frage stellt.“ 2 Während der erste Teil in seiner durchkomponierten Anlage beschrieben wurde, finden sich kaum Versuche, den zweiten Teil als Ganzes zu erschließen. Gerade zum Aufbau, zu den literarischen Verfahren, fehlt es an aktueller Forschung. Die Kategorie ‚Figur‘ verspricht insbesondere auch für diesen Teil neue Ansätze und Einsichten, da sie verklammern kann ohne zu glätten. Die Figur Elsbeths gibt einen Hinweis auf das primäre Zielpublikum, die Dominikanerinnen, wenngleich der Text natürlich Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt: Jeder, der ein guter seliger Mensch werden möchte, könne 2 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, Freiburg/ Ue. 1968 (Sonderdruck aus: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 62 (1968) 3-4), S. 185-332, hier S. 318. Einleitung 13 in diesem Buch Trost und Weisung finden. 3 Elsbeth Stagel wird als produktive Schreiberin dargestellt, die Figur greift die aufblühende Literaturherstellung in den Klöstern der weiblichen Ordensmitglieder auf. 4 In den Rezeptionszusammenhang der Viten- und Offenbarungsliteratur möchte ich auch Seuses Vita einordnen, aus textinternen wie überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten. Textintern greift die Vita zum einen die Textsorte auf und verwendet die Erzählung eines exemplarischen Lebens, um theologisch hoch anspruchsvolle Themen zu verarbeiten. So bleibt beispielsweise die gelâzenheit kein abstrakter Begriff, sondern wird über die Figur des Dieners in einer Lebenserzählung literarisch entfaltet. Und es taucht andererseits die genannte Elsbeth Stagel auf, selbst Dominikanerin, die im Text eine Identifikationsmöglichkeit für ihre Mitschwestern bietet. Außerdem spricht die Überlieferungsgeschichte dafür, die Vita in und als Auseinandersetzung mit dem weiblichen Zweig des Dominikanerordens zu lesen. 5 Die Verbreitung des Exemplars konzentrierte sich auf den deutschsprachigen Südwesten und wurde dort überwiegend - in 10 von 15 Fällen - für Dominikanerinnen abgeschrieben. 6 Die Vita soll als Produkt der 3 Prolog zum Exemplar (6,11ff.). Als Exemplar wird der Textverbund von Vita, Büchlein der ewigen Weisheit, Büchlein der Wahrheit und Briefbuch bezeichnet, den Seuse selbst zusammenstellte und mit einem Prolog versah. 4 Zur Entstehung dieser literarischen Tätigkeiten schreibt Johanna Thali, Gehorsam, Armut und Nachfolge im Leiden. Zu den Leitthemen des ‚Oetenbacher Schwesternbuchs‘, in: Bettelorden, Bruderschaften und Beginen in Zürich. Stadtkultur und Seelenheil im Mittelalter, hg. von Barbara Helbling, Magdalen Bless-Grabher und Ines Buhofer, Zürich 2002 (Beiträge zur Hagiographie 3), S. 199-213, hier S. 199: „Im 14. Jahrhundert begründen die Dominikanerinnen eine eigene Schreibtradition. In einer Reihe von Konventen der Deutschen Ordensprovinz (Teutonia) wurden Schwesternbücher und Offenbarungsschriften verfasst. Überliefert sind insgesamt neun Schwesternbücher aus süddeutsch-oberrheinischen Konventen [...]. Verschiedene Konvente haben neben diesen Schwesternbüchern auch selbständige Viten über einzelne Nonnen angelegt. Die Texte können nicht unabhängig voneinander entstanden sein, wie die Übereinstimmungen in Form und Inhalten zeigen. Möglicherweise haben die Seelsorger bei der Entstehung dieser Literaturgattung eine initiierende Rolle gespielt und die Frauen zum Schreiben angeregt.“ Oder, wenn man die Argumentation umdreht, die Frauen haben Seuse dazu angeregt - ob aktiv oder durch ihr Interesse an der Vitenliteratur - sein Modell der Gelassenheit in die Form einer Vita zu bringen. 5 Auch Werner Williams-Krapp, Henry Suso’s Vita between Mystagogy and Hagiography, in: Seeing and Knowing: Women and Learning in Medieval Europe 1200- 1500, hg. von Anneke Mulder-Bakker,Turnhout 2004 (Medieval Women: Texts and Contexts 11), S. 35-47, geht von einem weiblichen Primärpublikum aus: „Suso’s Vita clearly aimed at a female monastic readership, an audience that especially in the German-speaking southwest was immensely interested and involved in mystical spirituality“, S. 39. 6 Rüdiger Blumrich, Die Überlieferung der deutschen Schriften Heinrich Seuses. Ein Forschungsbericht, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.-4. Oktober 1994, hg. von Rüdiger Blumrich und Philipp Kaiser, Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), S. 189-201, hier S. 192. Einleitung 14 Schreibpraxis im Kontext der Frauenklöster aufgefasst werden. 7 Auch sie ist Teil einer Praxis, die durch Aufnahme von Modellen, Gattungen und Diskursen produktiv deren Umschreibung vornimmt. Seuse verwendet eine Gattung, die er für seine Zwecke einsetzt, modifiziert, erweitert, aktualisiert. Ich werde in dieser Arbeit keine Gattungsdiskussion führen, aber immer wieder auf Texte der Viten- und Offenbarungsliteratur zurückgreifen. Dabei setze ich ein prototypisches Verständnis von Gattung an. Dieses geht nicht von starren Gattungsgrenzen aus und ist rezeptionsorientiert modelliert. Eine Gattung wird nicht klassifikatorisch nach einzelnen Merkmalen systematisiert, sondern als mentale Repräsentation ganzheitlich wahrgenommen und verarbeitet. Inhaltliche, formale und textexterne Dispositionen können dabei übereinstimmen, müssen es aber nicht. 8 Die Vita soll, so das Ziel der vorliegenden Arbeit, über die Kategorie ‚Figur‘ erschlossen werden. Diese kann, da sie auf verschiedenen Ebenen angesiedelt ist, einen Schlüssel zum Verständnis des Textes bieten. Gerade das Verhältnis von narrativ-literarischer Gestaltung und religiösen Phänomenen soll dabei beschrieben werden. Die Figur kann als interpretatorische Größe zwischen Beschreibungsebene und Objektebene vermitteln, kann die literarischen Verfahren auf ihre Bedeutung für den Entwurf eines religiösen Lebensmodells hin befragen. 1.1 Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption Für einen Ansatz, der die Figur als Ausgangspunkt der Interpretation einer geistlichen Vita wählt, sind einige Vorüberlegungen notwendig, die gerade den spezifischen historischen Verwendungskontext des Textes reflektieren. Nicht nur die Figurenkonstitution selbst soll dabei in den Blick genommen werden, sondern auch der Redemodus und die Frage, wie über die Figur des Dieners die außerliterarische Wirklichkeit aufgenommen und literarisch verarbeitet wird. Die Figur, die als Teil der kulturellen Praktiken im Kloster begriffen wird, soll in einem Rahmen beschreibbar werden, der die kulturhistorische 7 Aus den genannten Gründen verwende ich im Folgenden, wenn ich mich auf die historische Rezeption der Vita beziehe, die weibliche Form ‚Rezipientin‘. Ansonsten verwende ich die Doppelform ‚Rezipientinnen und Rezipienten‘. 8 Vgl. Doris Tophinke, Zum Problem der Gattungsgrenze - Möglichkeiten einer prototypentheoretischen Lösung, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 161-182, die für eine ganzheitliche Verarbeitung von Gattungen plädiert, S. 165. Von der Rezipientin wird nicht jedes Merkmal der Gattung Vita einzeln abgeprüft, sondern es besteht von vorneherein ein Wissensbestand über diese Gattung. Die Konzeption der Gattung als ideales, mental repräsentiertes Modell erlaubt es auch, Modifikationen der einzelnen Realisierungen besser zu beschreiben, ohne den Text gleich außerhalb der Gattungsgrenze ansiedeln zu müssen. Damit lässt sich die Vita Seuses, die in den gleichen Rezeptionszusammenhängen überliefert ist wie andere Viten- und Offenbarungsliteratur, dem gleichen Diskursraum zuordnen, woraus sich Vergleichbarkeiten zwischen den Texten ergeben. Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption 15 Umgebung einbezieht. Referenzen auf die außerliterarische Wirklichkeit sollen dabei nicht als Wiedergabe authentischer Erfahrungen konzeptionalisiert werden, sondern als Formen narrativer Inszenierung, die wiederum der Strukturierung der Erfahrungen der Rezipientinnen dienen. Notwendig ist darum eine theoretische Annäherung, die die Figur als Erzählentwurf von ihrer historischen Verortung her begreift. 1.1.1 Viten als Exempel? Um die Figur als Erzählphänomen klarer konturieren zu können, soll der Erzählmodus des Textes geklärt werden. Die rezeptionspragmatische Leitfrage lautet dabei, an welchen Adressatenkreis sich der Text gerichtet hat und mit welcher kommunikativen Absicht. In Abgrenzung zur Dichotomie fiktional - faktual soll im Folgenden der Vorschlag für einen dritten Erzählmodus, dem des ‚exemplarischen Erzählens‘, gemacht werden, der aus der historischen Entstehungssituation entwickelt wird. Die Vita Seuses erzählt von einem vorbildlichen Leben und entwirft ein Modell, das dazu dient, die abstrakte Vorstellung einer Einheit mit Gott zu illustrieren. Der Erzählmodus der Vita ist exemplarisch, da von Vorbildern erzählt wird, aus deren Erfahrungen Handlungsanweisungen für die Gegenwart gezogen werden können. 9 Kann man die Vita auch als Exempel bezeichnen? Exempel sind, so Gerd Dicke, „allgemein eine in einem argumentativen oder narrativen Zusammenhang ‚von außen‘ beigezogene, durch ihn in Sinn und Funktion festgelegte und von ihm isolierbare, zumeist narrative (kurze) Texteinheit“. 10 In einem weiteren und nicht „im strikt terminologischen Sinne“ 11 wird Exempel dagegen auch funktional verstanden und ist dann „Funktionstyp (Beispielgeschichte), kein Genre.“ 12 Beiden Definitionen ist, so Dicke weiter, „die Vorstellung eines gleichförmigen, allgemeinen Laufs der Dinge, vergangener wie gegenwärtiger“ gemein. 13 Ein Exempel macht also Regeln sichtbar. Aus dieser erweiterten Perspektive könnte auch die Vita als Exempel gefasst werden. Um den Begriff des exemplarischen Erzählens näher zu bestimmen, wird in einem ersten Schritt der Erzählmodus vom Funktionstyp ‚Exemplum‘ 9 Jörn Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt/ Main 2012 (Zweiter Wiederabdruck der Ersterscheinung des Aufsatzes von 1982), S. 148-217, entwickelt das exemplarische Erzählen als einen Typus historischer Sinnbildung: „Das exemplarische Erzählen aktualisiert Erinnerungen als empirische Konkretisierung solcher Regeln und befähigt seine Adressaten dazu, konkrete Gegenwartserfahrungen unter eben diese Regeln zu bringen und sie dem Zugriff des Handelns zu erschließen“, S. 172f. 10 Gerd Dicke, Exempel, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, hg. von Klaus Weimar [u.a.], Berlin/ New York 1997, S. 534-537, hier S. 534. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd. Einleitung 16 innerhalb des Dominikanerordens abgegrenzt. Dabei wird anhand der geschichtswissenschaftlichen Studie von Markus Schürer die Tradition und die Funktionen von Exempelsammlungen im Dominikanerorden im 13. Jahrhundert als Folie kurz ausgeführt, um vor dieser Folie die Funktionen im 14. Jahrhundert zu beschreiben. Im Anschluss wird aus narratologisch-literaturwissenschaftlicher Perspektive das Verhältnis von Redemodus und Erzählstatus sowie von Redemodus und erzählter Welt zu erörtern sein, um in einem letzten Schritt die Textsignale herauszuarbeiten, die das exemplarische Erzählen in der Vita Seuses selbst thematisieren. Der Historiker Markus Schürer erarbeitet in seiner umfangreichen, institutionengeschichtlichen Studie den Zusammenhang von exemplarischer Rede und vita religiosa. Er beschreibt die Funktionen von Viten und Vitensammlungen in der Gründungsphase der Mendikantenorden im 13. Jahrhundert, die als Exempla in Form von Lebensbeschreibungen die Institution herausbilden, den Anfangspunkt einer Traditionslinie schaffen und die Orden so kommunikativ stabilisieren. 14 Er geht, in explizitem Rückgriff auf Jörn Rüsen, von einer Definition der Exempla als Funktionstyp aus: „Demnach ist das Exemplum im Kern der Verweis auf das mithilfe der Vergangenheitserfahrung ermittelte und verbürgte Überzeitlich-Regelhafte einer bestimmten Handlungs- oder Denkweise, das es ermöglicht, Gegenwartserfahrung als jeweils vergleichbare Vorgänge zu deuten und zu bewältigen“. 15 Für den Dominikanerorden in der Gründungsphase zieht Schürer unter anderem die Sammlungen der Vitae fratrum des Gerardus de Fracheto heran. Die Vitensammlungen des Dominikanerordens haben dabei zwei zentrale Funktionen. Zum einen haben s ie eine „verhaltensdidaktische Intention“ 16 und zielen auf die „Typisierung und Normierung des Verhaltens der Ordensmitglieder.“ 17 Neben den didaktischen Handlungsanweisungen für ein vollkommenes Zusammenleben der Gemeinschaft waren sie zum andern „zu großen Teilen auch Begründungsressourcen im Diskurs um die Legitimität und das Existenzrecht konkurrierender religiöser Lebensformen“ 18 . In Schürers Interesse als Historiker liegt die kommunikative Funktion der Exempla in der Geschichte der Institutionenbildung. Schürer definiert also auch Viten als Exempla, allerdings nicht als kurze, von außen herangezogene Texteinheit, sondern als den ganzen Text umfassend und somit nicht als Gattung, sondern funktional. Im Gegensatz zum 13. Jahrhundert, wo, so Schürer, vor allem institutionell relevante Themen über Viten kommuniziert wurden, 19 kreisen die Viten des 14. Jahrhunderts im 14 Markus Schürer, Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts, Berlin 2005 (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter 23). 15 Ebd., S. 91. 16 Ebd., S. 302. 17 Ebd., S. 301. 18 Ebd., S. 304. 19 Vgl. ebd., S. 300ff. Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption 17 Dominikanerorden eher um die Frage nach der Möglichkeit einer unio im diesseitigen Leben. 20 Zwar wird die Tradition des exemplarischen Erzählens über Lebensbeschreibungen fortgeführt, doch verschiebt sich der thematische und funktionale Fokus. 21 Thematisch zeigen sich eine Verschiebung nach innen, eine Interiorisierung und eine verstärkte Individualisierung. Nicht mehr allein die Legitimation der Institution stand zur Diskussion, sondern der Weg des einzelnen Ordensmitglieds zur vita perfecta. Damit gehen die Verschiebung der Sprache vom Lateinischen zur Volkssprache und eine stärkere lokale Bindung der Viten einher. Es ist nicht mehr der gesamte Orden, an den in den Viten und Vitensammlungen normative Leitlinien vermittelt werden, sondern ein kleinerer Kreis innerhalb einer Sprachgemeinschaft erhält Vorbilder im individualisierten Streben nach einer vollkommenen Lebensführung - wenngleich auch Funktionen wie Legitimation oder Begründungsgeschichten keineswegs abbrechen. Mit der thematischen Verschiebung lassen sich auch funktionale Veränderungen beobachten. Im 13. Jahrhundert „finden sich zahlreiche Exempla, die einzelne Elemente konformen Verhaltens - etwa die vollständig vollzogene Beichte - vorführen; andere wiederum falten ganze Rollenprogramme aus wie beispielsweise das des mustergültigen Predigers oder Theologen.“ 22 In den dominikanischen Viten des 14. Jahrhunderts dagegen werden Verhaltensanweisungen stärker vor dem Hintergrund einer Vereinigung mit Gott entworfen. Es sind weniger Exempla, die eine konkrete Verhaltensregel narrativ evident machen oder die ein Rollenvorbild schaffen. Die Lebensbeschreibungen gehen nicht mehr allein in der Vermittlungsfunktionen für regelkonformes Handlungs- und Orientierungswissen auf. Die paradoxen Versuche der Beschreibungen von unio-Erfahrungen erzeugen vielmehr Texte, die über die didaktische und Gemeinschaft stiftende Funktion hinausreichen. Es lässt sich beobachten, dass die Texte weniger Anweisung geben, sondern ihre Annäherungen an Gott im Text vorführen. Die spezifische Performativität dieser Texte besteht darin, die Rezipientinnen und Rezipienten nicht nur zu belehren, sondern ihnen über Textstrategien die Transgressionen und Paradoxa der göttlichen Vereinigung in der Lektüre nachvollziehbar zu machen. Ein Text wie die Vita Seuses zielt auf die Tätigkeit der Rezipientinnen und Rezipienten und zwar nicht allein als Einübung einer Regel, sondern eher als Versuch, mithilfe der Regeln über die Regeln hinaus zu gehen. Es wird nicht nur eine 20 Diese Verinnerlichung zeigt sich z.B. an einer ausgeprägten Marienverehrung, wie sie Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal, Tübingen/ Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 42), herausstellt: „Die dominikanische Mystik des 14. Jahrhunderts gründet in dieser Tradition einer persönlichen Gotteserfahrung, wenn Maria […] zum Leitbild für unio-Erfahrungen wird“, S. 4. 21 Zur Fortführung der Tradition vgl. Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen/ Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), insbesondere das Kapitel III.1: „Vitae fratrum“ und ‚vitae matrum‘: Ordensauftrag und Ordensliteratur? , S. 164-179. 22 Markus Schürer, Das Exemplum oder die erzählte Institution, S. 301. Einleitung 18 Einübung in eine Lebensform vorgeführt, sondern auch deren Überschreitung. Der Begriff des ‚Exemplums‘ im Sinne Schürers scheint für eine Beschreibung der Vita zu eng gefasst zu sein. Sie bietet weniger ein unmittelbares und einsinnig übertragbares Regelwerk, sondern zeigt auch die Grenzen und Transgressionspotenziale der Regeln. Der Text weist über sich selbst hinaus, indem er die Rezipientinnen und Rezipienten über Strategien der Lektürelenkung involviert und so auffordert, den Text im eigenen Leben fortzuschreiben. Gerade Seuses Text ist von hoher Komplexität und produziert Sinnüberschüsse, die nicht mehr einfach nach Funktionstypen eingeordnet werden können. Aus den genannten systematischen Gründen möchte ich die Vita Seuses nicht als Exemplum bezeichnen. 23 Es scheint sinnvoller zu sein, von exemplarisch strukturiertem Erzählen zu sprechen. Die Formulierung zielt auf den Erzählmodus und auf den Erzählprozess als literarisches Verfahren sowie auf die Rezeption. Diese Perspektive schließt an die Überlegungen von Gert Hübner an, der das exemplarische Erzählen als Ausgangspunkt für sein Konzept einer praxeologischen Narratologie heranzieht. Exemplarisches Erzählen ist für Hübner nicht einfach Affirmation oder Subversion von Diskursen, sondern wird als Aktualisierung von Handlungswissen beschrieben. Auf der Grundlage von praxeologischen Kulturtheorien entwickelt er eine historische Narratologie, bei der „das Konzept des praktischen Sinns eine Möglichkeit eröffnen [könnte], Relationen zwischen erzähltem Handeln und kulturellem Handlungswissen, also zwischen historischen Erzählpraktiken und historischen Wissensordnungen herzustellen.“ 24 Exemplarisches Erzählen führt Handlungswissen vor und die Funktion liegt in der „Einübung in den praktischen Sinn, aus dem das erzählte Handeln seine kulturelle Bedeutung bezieht.“ 25 In einem exemplarisch erzählten Text wird also Handlungswissen vermittelt, das in der Lektüre eingeübt werden kann. Der Text erhält seine Geltung nicht durch die Vermittlung von außerliterarischem Regelwissen, das durch die Narration bloß veranschaulicht würde. 26 Er entwickelt vielmehr einen innerliterarischen Geltungsanspruch, indem er Handlungswissen vorführt, über das die Rezipientinnen und Rezipienten sich in Deutungskompetenzen einüben können. 23 Neben den erwähnten systematischen Gründen spricht auch die Verwendungsweise in der Germanistik gegen eine Übernahme des Begriffs auf die Vitenliteratur, dient er doch vor allem der historischen Beschreibung von Exempelsammlungen ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert und für Predigtexempel. Vgl. Monika Studer, Exempla im Kontext. Studien zu deutschen Prosaexempla des Spätmittelalters und zu einer Handschrift der Strassburger Reuerinnen, Berlin/ Boston 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 6), S. 123ff. 24 Gert Hübner, Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen. Plädoyer für eine praxeologische Narratologie, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 53 (2012), S. 175- 206, hier S. 191. 25 Ebd., S. 206. 26 An dieser Stelle geht Hübner viel weiter als es der Exemplum-Begriff von Schürer erlauben würde, vgl. ebd., S. 183. Hübner geht davon aus, dass exemplarisches Erzählen nicht bloß Veranschaulichung von Handlungswissen ist, sondern der Vermittlung des Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption 19 Obwohl Hübner seine Überlegungen anhand des exemplarischen Erzählens im Eulenspiegel entwickelt, sind seine systematischen Überlegungen zu einer praxeologischen Narratologie für einen geistlichen Text wie die Vita Seuses aufschlussreich. Auch dort wird Handlungswissen anhand der Figur vorgeführt und Deutungskompetenzen zur Disposition gestellt. Ein entscheidender Unterschied ist die Zielrichtung der Texte. Während der Eulenspiegel innerweltliches Handlungswissen vorführt, also erfolgreiches Handeln in zwischenmenschlichen Beziehungen, stellt die Vita den Versuch dar, über diese immanenten Handlungen hinauszugehen, gewissermaßen den praktischen Sinn auf die theoria, die Gottesschau, hin zu überschreiten. Der Weg aber, den die Vita erzählerisch entfaltet, stellt verschiedene Optionen von Handlungswissen vor. Es wird also zu fragen sein, wie das Handlungswissen transgrediert wird, wie solche Transgressionen überhaupt darstellbar sind und welche Funktion die Figur in diesen Darstellungen einnimmt. 1.1.2 Status des Erzählens, Status der erzählten Welt Die Eigenschaften der Rede und die Eigenschaften der erzählten Welt weisen im exemplarischen Erzählen eine Reihe an Spezifika auf. Exemplarisches Erzählen, wie ich es für die Vitenliteratur des Dominikanerordens im 14. Jahrhundert beschreiben möchte, zielt auf die ‚Wahrheit‘ und zwar in einem emphatischen religiösen Sinne: „Während fiktionale Texte stillschweigendes Einverständnis über den fiktiven Status des Erzählten voraussetzen, präsentieren die Viten- und Offenbarungstexte die religiösen Erfahrungen als ‚Wahrheit‘ und bemühen sich erzählstrategisch um die Glaubwürdigkeit des Berichteten, und sie wurden vermutlich meist in diesem Sinne rezipiert.“ 27 Das Ziel der Texte ist es, Heilswissen zu vermitteln und die Rezipientinnen und Rezipienten erwarten diese Unterweisung. Die Trennung zwischen fiktiven und faktischen Sachverhalten ist damit von vorneherein obsolet, da jede Äußerung, die ein solcher Text fixiert, ‚wahr‘ sein muss. Aus dieser rezeptionspragmatischen Perspektive bedeutet ‚Wahrheit‘, dass der exemplarische Text Heilswissen vermittelt. Der Status des Textes ist nicht allein an textinterne Merkmale geknüpft, sondern entfaltet seinen Geltungsanspruch innerhalb bestimmter Rahmungen. 28 Für die Vita ist es im 14. und 15. Jahrhundert vor allem der praktischen Sinns dient und damit der Vermittlung von Deutungskompetenzen für erfolgreiches Handeln. Schürer scheint die Texte dagegen eher als Illustration von Regelwissen heranzuziehen. 27 Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, S. 17. 28 Eine textpragmatische Argumentation entwickelt für die Legende Peter Strohschneider, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Alexius‘, in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, hg. von Gert Melville und Hans Vorländer, Köln/ Weimar/ Wien 2002, S. 109-147. Der Status der Heiligenlegende, so Strohschneider, ist „allein über textbezogene Kriterien - etwa solche narratologischer Art - nicht hinlänglich zu bestimmen […], er [wird] vielmehr auch über (textübergreifende) Einleitung 20 institutionelle Rahmen der dominikanischen Frauenklöster. In der Lektüre im paraliturgischen Zusammenhang kann sie den Geltungsanspruch einlösen, der im Prolog zum Exemplar als wîsunge ze g  tlicher warheit (6,14f.) bezeichnet wird, als Unterweisung in die göttliche Wahrheit. In diesem Rezeptionszusammenhang wird sie als heilsvermittelnder Text verstanden, als Text, der wahr ist. Die Rahmung des Textes ist Voraussetzung für den Status des exemplarischen Erzählens, für die Exemplarizität als Eigenschaft der Rede. Während Exemplarizität auf der Ebene des Redemodus angesiedelt ist, gelten für die exemplarisch erzählte Textwelt ebenfalls spezifische Eigenschaften. Figuren, Gegenstände oder Sachverhalte werden zwar nicht einfach mimetisch abgebildet, weisen aber ein hohes Maß an Referentialisierung auf die außerliterarische Welt auf. Gerade die Figuren zeigen dabei eine interessante Doppelbödigkeit. Sie sind keineswegs rein textimmanent, sondern bieten oft eine deutliche Referenz auf die außerliterarische Welt. Viele Viten erzählen von Personen, deren Namen sich in anderen Quellen, etwa Totenroteln, finden lassen. 29 Exemplarisches Erzählen meint für die Kategorie Figur eine Transgression der textuellen auf die außerliterarische Welt. Denn nicht nur der Name wird zum Schnittpunkt zwischen Person und Figur, sondern auch der Lebensraum Kloster, der regulierte Alltag über die Liturgie sowie häufig eine Referenz auf die lokale Situiertheit des Textes verbindet Außenwelt und Textwelt. Die exemplarisch erzählte Vitenliteratur reflektiert die Handlungsvollzüge, in die sie selbst eingebunden ist. Der liturgisch rhythmisierte und durch die Ordensregeln strukturierte Alltag wird ebenso zum Gegenstand des Erzählens wie die konkreten Räume, in denen sich das Klosterleben vollzieht. Auch die Figur des Dieners in Seuses Vita wird deutlich lebensweltlich referentialisiert. Es wird berichtet, woher der Diener stammt, man erfährt Details über seine Familie und die Ereignisse werden immer wieder an reale Orte zurückgebunden. Doch wird diese biographische Konkretisierung in erzählerischen Inszenierungen durchgeführt, die der modernen Vorstellung einer Individualisierung entgegensteht. 30 Denn die Figuren weisen über sich selbst und ihre biographische Konkretisierung hinaus, stehen sie doch exemplarisch für einen Heilsweg, den sie mustergültig und zur Nachahmung auffordernd durchführen. Die Viten bedienen sich einer (auto-)biographischen Strategie, entheben diese aber pragmatische Kategorien definiert“, S. 120. Das bedeutet auch, dass der Status der Legende in anderen Kommunikationssituationen prekär werden kann. 29 Für das Kloster Katharinental zeigt dies beispielsweise Ruth Meyer, Das ‚St. Katharinentaler Schwesternbuch‘. Untersuchung. Edition. Kommentar, Tübingen 1995 (MTU 104), S. 28. 30 Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea NF 56), benutzt den Begriff der biographischen Konkretisierung im Zusammenhang mit der Figur Elsbeths Stagels, der Schülerin des Dieners im zweiten Teil der Vita, S. 139ff. Die Figur Elsbeth sei die biographische Konkretisierung der Lehrer-Schülerinnen-Konstellation und zeige die Bedeutung, die in der Vita „dem hagiographischen Schreiben im Prozeß der eigenen Begnadung zugewiesen wird“, S. 139. Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption 21 ihrer individuellen Gebundenheit. Durch die personale Bezeugung wird der Wahrheitsanspruch der Texte unterstrichen: Was erzählt wird, ist geschehen. Die lebensweltlich referentialisierten Figuren können ein Modell zur Nachahmung präsentieren und gleichzeitig bezeugen, dass das Muster sich im erzählten exemplarischen Leben tatsächlich vollzogen hat. Die Schnittstelle zwischen Text und Außenwelt, die die Figur besetzt, ist zugleich die Schnittstelle, an der die Rezipientinnen und Rezipienten ansetzen. Die Figur bietet durch die Bezüge zur außerliterarischen Welt ein Identifikationspotenzial, durch das sie zum Handlungsmodell mit Nachahmungswert werden kann. Die literarischen Inszenierungen des Heilswegs, den die Figuren exemplarisch erzählen, sind dabei durchaus vielfältig und spielen sich je nach Text auf ganz unterschiedlichen Ebenen ab. So wird etwa in Seuses Vita das mustergültige Leben innerhalb des tradierten Dreistufenwegs erzählt, vom anfangenden bis zum vollkommenen Menschen. Doch auch Formen der Wiederholung, zum Beispiel die formelhafte Struktur von Kurzviten in Schwesternbüchern, zeugt von der Verbindung von biographischer Konkretisierung und literarischen Mustern, die historische Konkretheit auf ein Allgemeines hin überschreiten. 31 Für die Vita können Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler anhand des Bildprogramms nachweisen, dass sich erst im Laufe der Rezeptionsgeschichte eine „biographisierende Lesart“ durchsetzt. 32 In dieser Lesart wird die Textfigur des Dieners in zunehmendem Maße mit dem Autor Heinrich Seuse gleichsetzt. Diese biographisierende Lesart vereindeutigt die im Text vorhandenen Bezüge auf die Lebenswelt. Die Biographie wird nun nicht mehr so sehr als exemplarisches Modell einer Lebensform verstanden, sondern an eine historische Autorperson zurückgebunden. Anhand von Figuren kann erzählt werden, wie die abstrakte Vorstellung einer Einheit mit Gott in einem konkret beschriebenen Leben umgesetzt wird. So können auch Schwierigkeiten, Grenzphänomene und Transgressionsversuche reflektiert werden, die bei dem Vorhaben, Transzendenz in die Immanenz einbrechen zu lassen, geradezu zwangsläufig vorkommen müssen. Der Vorteil des exemplarisch strukturierten Erzählens besteht dann darin, diese Schwierigkeiten nicht explizit zu machen, sondern implizit über das Figurenverhalten erläutern zu können und den Rezipientinnen und Rezipienten ein konkretes Handlungsmodell zur Verfügung stellen zu können. Die Figuren erzählen 31 Vgl. Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, S. 218: „Die einzelnen Viten gleichen sich weitgehend in Aufbau und Inhalt. Sie beginnen stets mit der (I) Namensnennung und Herkunftsbezeichnung […]; meistens aber beginnt die Darstellung des Lebens nach der Namensnennung mit einer (III) Aufzählung der herausragenden Tugenden, es folgen einzelne (IV) Gnadenerfahrungen während des Klosterlebens und schließlich die (V) Ereignisse rund um das begnadete Sterben und den Tod.“ 32 Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler, Die Geburt des Autors im späten Mittelalter. Vom ‚diener der ewigen wisheit‘ zum Autor Heinrich Seuse, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. ‚Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert‘, hg. von Peter Wiesinger unter Mitarbeit von Hans Derkits, Bern [u.a.] 2002 (Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte 57), S. 323-332, hier S. 331. Einleitung 22 unterschiedlich komplexe Sachverhalte aus. Während Seuse unter anderem theologische Begriffe narrativ entfaltet, wie zum Beispiel gelâzenheit oder m  zecheit und einen ganz eigenen Ansatz einer vita passiva entwickelt, 33 erweitern andere Viten liturgische Anlässe zu literarisch inszenierten Einheitserfahrungen. Die Figuren dienen dabei stets dazu, den eigentlich nicht beobachtbaren Zustand der Einigung mit Gott beobachtbar zu machen. Exemplarisches Erzählen ist also ein Erzählen, das den Rezipientinnen und Rezipienten Heilswissen, mithin die Wahrheit, vermittelt. 1.1.3 Exemplarisches Erzählen - Implizite Reflexionen bei Seuse Seuse selbst verwendet den Begriff ‚Exemplar‘ an prominenter Stelle (3,2). Er eröffnet damit den Prolog zu seinem Textverbund, den er als Exemplar bezeichnet, das vier g  tú b  chli umfasse (3,2). Explizit wird die Integrität des Textes als Anlass für die Zusammenstellung angeführt. Die Bücher, die bereits seit längerem zirkulierten, seien von mengerley unkunnenden schribern und schriberin ungantzlich abgeschriben [...], daz ieder man dur z  leite und dur von nam nach sinem sinne (4,3ff.). Aus diesem Grund habe der diener der ewigen wisheit die Texte nun zusammengestellt, um ein gereht exemplar zu hinterlassen, das die Bücher so überliefert, als sú ime dez ersten von gote in luhten (4,7f.). Nur die korrekte Überlieferung kann also die Vermittlung der göttlichen Wahrheit gewährleisten. Diese Einforderung einer zuverlässigen Abschrift stellt sich gegen die Vorstellung eines ‚unfesten Textes‘ und zeigt, so Klaus Grubmüller, wie „[e]in an den besten Schulen und Studien ausgebildeter […] Ordenslehrer wie Heinrich Seuse versucht, die Kontrolle über sein Werk zu behalten.“ 34 Der Titel Exemplar ist programmatisch und bezieht sich auf unterschiedliche Ebenen, worauf Jeffrey F. Hamburger hinweist: „Der Titel bezeichnet zugleich die Gesamtheit seiner Texte, deren Protagonisten und schließlich auch Christus, den Logos, in dem die Exemplare - die Urbilder - aller Dinge enthalten sind, die als Vorbilder nachgeahmt werden sollen.“ 35 Seuse bewegt sich zwischen dem Text selbst auf der einen und der Textintention auf der anderen Seite, nämlich dem Versuch, sich dem exemplar Christus, dem höchsten Vorbild, mithilfe des Textes anzugleichen. Exemplar wird zum 33 Vgl. Philipp Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ‚categoria non grata‘, Tübingen 2010 (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 56), S. 182ff. Zur vita passiva arbeitet aus theologischer Perspektive und stark auf der Ebene der Konzepte ebenfalls Peter Ulrich, Imitatio und configuratio. Die Philosophia spiritualis Heinrich Seuses als Theologie der Nachfolge des Christus passus, Regensburg 1995 (Eichstätter Studien 36). 34 Klaus Grubmüller, Verändern und Bewahren. Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450, hg. von Ursula Peters, Stuttgart/ Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 8-33, hier S. 30. 35 Jeffrey F. Hamburger, Heinrich Seuse, ‚Das Exemplar‘, in: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, Bd. 4/ 1, hg. von Ulrike Bodemann und Norbert H. Ott, München 2008, S. 156-192, hier S. 156. Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption 23 Begriff der historischen Selbstbeschreibung einer Kultur, die über Techniken der Nachahmung die höchste Perfektion im religiosen Leben, mithin die Einheit mit Gott, anstrebt. Im Prolog zum Exemplar wird zudem die Spur gelegt, in der die Rezeption der Intention nach abzulaufen hat. Der Paratext kommentiert den Status des Erzählens mit den Kategorien von bildgebender wise und glichnusgebender wise. Der Heilsweg vom anfangenden über den fortschreitenden zum vollkommenen Menschen wird nicht diskursiv im wort allein, sondern anhand von beispielhaften guten Werken erzählt - wobei die guten Werke, so versichert der Prolog, in der warheit geschehen seien. Damit umreißt der Prolog die beiden zentralen Merkmale des exemplarischen Erzählens: das Erzählen über mustergültige Vorbilder und den Wahrheitsanspruch. Noch bevor der Text selbst einsetzt, wird die Rezeption gesteuert und dem Text ein spezifischer Status zugeschrieben. Doch nicht nur im Paratext wird der Status des Erzählens reflektiert. Beide Teile der Vita setzen ein mit impliziten Kommentaren zur Exemplarizität ihres Gegenstandes, des erzählten vorbildlichen Lebens. Dem ersten Teil der Vita ist eine Vorgeschichte vorangestellt, die die Textentstehung selbst reflektiert. In einer komplexen, in der Forschung vielfach diskutierten Autorschaftsinszenierung wird beschrieben, wie der Diener seine Lebenserfahrungen mündlich an einen heiligen erlúhten menschen weitergibt, die - später wird von ihr in weiblicher Form geschrieben - die mündlichen Erzählungen verschriftlicht. 36 Interessant für die Frage nach dem Status des Erzählens ist wiederum die Verknüpfung von Wahrheitsanspruch und Orientierung am Vorbild. Denn die Gesprächspartnerin des Dieners verlangt, dass er ihr etwas erzähle, um daraus Kraft zu schöpfen. Was er erzählen soll, spezifiziert sie: Er soll vom Leiden aus eigenr empfindunge (7,7) sprechen, vom Leiden aus eigener Erfahrung. Das Erzählen wird als Wiedergabe authentischer Erlebnisse perspektiviert. Und es erfüllt seine Aufgabe: Die Schreiberin findet trost und wisung (7,12) in seinen Worten und möchte sie als beispielhafte Geschichte aufschreiben, damit sie och andren menschen helfe. Sie verschriftlicht das Erzählte heimlich, und als der Diener davon erfährt, verbrennt er einen Teil davon. Erst eine göttliche Intervention verhindert, dass er alle Niederschriften vernichtet. Was nun folgt, so der Prolog, ist das verschriftlichte, authentische Erleben des vorbildlichen Dieners, das von Gott zur Weitergabe autorisiert wurde. Exemplarisches Erzählen ist die enge Verknüpfung von musterhaftem Erzählen mit göttlichem 36 Aktuell diskutiert die Autorschaftsdebatte Bruno Quast, Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer und Christiane Witthöft, Berlin 2014 (Literatur - Theorie - Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 3), S. 157-171. Quast hebt hervor, dass weniger die viel diskutierte Frage der Autorschaftsfiktion interessant sei, sondern vielmehr die „systematische Verunklarung, […] die Inszenierung einer Unschärfe“, S. 170. Vgl. ebd., Anm. 22, mit Literaturangaben zur Forschungsgeschichte der Autors chaftsdebatte. Einleitung 24 Wahrheitsanspruch. Die Figur des Dieners wird entworfen als Träger authentischer Erfahrungen und als Modell, das sich, so der Prolog, bereits als tröstendes und belehrendes Beispiel bewährt hat. Eine ähnliche Konstellation findet sich zu Beginn des zweiten Teils. In einem Briefwechsel zwischen dem Diener und Elsbeth Stagel wird die Spannung aufgegriffen, ob Unterweisung in Worten, also über Begriffsreflexion, oder über Beispiele erfolgen soll, also diskursiv oder narrativ. Den geistlich ungeübten Menschen, so heißt es, seien nicht Worte zuträglich, sondern die g  ten heiligen bilde. Bilde wird hier unmittelbar mit ‚Vorbild‘ aufgelöst, es sind nämlich die vorbildlichen Gottesfreunde, deren Lebensmodellen man nachstreben soll. Doch bleibt der Dialog nicht bei den beliebigen Gottesfreunden stehen. Elsbeth verlangt nämlich nach geischlicher spise, nach geistlicher Nahrung, und diese speisende Lehre soll der Diener nicht fernab suchen, sondern er soll von seinen eigenen Erfahrungen sprechen. 37 Sein Leben wird erneut zum Modell einer Lehre, dem Authentizität zugeschrieben wird. Exemplarisches Erzählen ist nicht nur eine Kategorie, die von außen an den Text herangetragen wird. An denjenigen Textstellen, die die Entstehung der Vita reflektieren, wird auch der Status des Erzählens selbst zum Thema. Die Figur des Dieners wird so nicht nur zum Beispiel eines vorbildlich beschrittenen Heilsweges, sondern dem Erleben der Figur wird Authentizität zugeschrieben und das von höchster, von göttlicher Seite. 1.2 Zwischen Welt und Text - Figur als Schnittstelle Die Figur, so wurde gesagt, bildet eine Schnittstelle zwischen Text und außerliterarischer Welt. Diese Schnittstelle bietet den Ansatzpunkt, von dem ausgehend die Historisierung der Figurenkonzeption einerseits und das Verhältnis von Text und Kontext andererseits näher bestimmt werden können. Ich möchte dazu Erkenntnisse aus der kognitiven Narratologie heranziehen, die gewinnbringende Perspektiven auf die Wahrnehmung und Rezeption von Texten und Figuren entwickelt hat. Die kognitive Narratologie analysiert Erzähltexte nicht allein aufgrund von textinternen Merkmalen, sondern misst vor allem den Rezipientinnen und Rezipienten hohen theoretischen Stellenwert zu. Anstelle von Analysen, die sich allein auf Textmerkmale konzentrieren und die Tendenz zu einsinnigen Interpretationen haben, geht die kognitive Narratologie davon aus, dass Narrativität erst durch die Aktivität von Rezipientinnen und Rezipienten konstituiert wird. In ihrem theoretischen Modell zur natural narratology schlägt Monika Fludernik eine radikale Abkehr von einer plot-zentrierten Narratologie vor. Ein Erzähltext wird erst dann narrativ, wenn er in der Rezeption im Abgleich mit real world frames und literary frames als Erzähltext mit bestimmten Merkmalen interpretiert wird und zwar aufgrund der im Text verarbeiteten 37 Vgl. Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 99,6f. Zwischen Welt und Text - Figur als Schnittstelle 25 experientiality. 38 Erzähltexte dienen der Verarbeitung von Erfahrungen, die im Erzählen geordnet und strukturiert wird. Im Umkehrschluss werden Texte nicht nur über sprachliche Struktur rezipiert und verstanden, sondern mit den „auf Erfahrungswerten basierenden Schemata (frames)“ 39 abgeglichen. Die frames sind Wissensbestände, mit denen Bedeutung im Text erschlossen wird: „Der Leseprozeß wird als Konstruktion und Projektion eines Systems von Hypothesen und Schemata (frames) verstanden, über welches sich die potentielle Bedeutung textueller Signale erschließt.“ 40 Zentral für die kognitiven Ansätze ist die Aktivität der Rezipientinnen und Rezipienten sowie die Integration des Weltwissens in das Modell der Verarbeitungs - und Verstehensprozesse. In seiner Studie Höfische Kompromisse diskutiert Jan-Dirk Müller die „Verknüpfung (narrativ organisierter) ‚Echtwelterfahrungen (real world frames)‘ mit (narrativ organisierenden) ‚literarische[n] Konventionen (literary frames)‘.“ 41 Diese Verknüpfung kann, so Müller, ganz unterschiedlich eng sein 38 Monika Fludernik, Towards a ‚natural‘ narratology, London 1996. Vgl. auch Monika Fludernik, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, v.a. S. 122f. 39 Bruno Zerweck, Der cognitive turn in der Erzähltheorie: Kognitive und ‚Natürliche‘ Narratologie, in: Neue Ansätze in der Erzähltheorie, hg. von Ansgar und Vera Nünning, Trier 2002, S. 219-242, hier S. 226. 40 Bruno Zerweck, Der cognitive turn in der Erzähltheorie, S. 221. 41 Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 18. Müller bezieht sich auf die Terminologie von Bruno Zerweck, Der cognitive turn in der Erzähltheorie. Hier ist eine terminologische Anmerkung notwendig, um zwischen Skript-Theorie und frame-Theorie zu differenzieren: Müller zieht für seinen Ansatz die Skript-Theorie heran, die davon ausgeht, dass für spezifische Alltagsprobleme Abläufe gespeichert sind, die situativ abgerufen werden können. Eine kritische Diskussion der Skript-Theorie, die auf den KI-Forscher Roger C. Schank und den Sozialpsychologen Robert B. Abelson zurückgeht, bietet Dietrich Busse, Frame-Semantik. Ein Kompendium, Berlin/ Boston 2012, S. 337ff. Er bezieht sich in erster Linie auf deren zentrale Monographie: Roger C. Schank und Robert P. Abelson, Scripts, Plans, Goals and Understanding: An Inquiry into Human Knowledge Structures, Hillsdale/ New Jersey 1977. Busse verweist dabei einerseits auf die Verkürzungen in der (deutschen) Rezeption, nämlich die Verkürzung auf Gesprächsanalysen, während Schank/ Abelson eine allgemeine Theorie des Wissens formulieren. Busse kritisiert den Ansatz von Schank/ Abelson aber auch inhaltlich mit einem für eine historische Textanalyse ebenfalls relevanten Argument: „Mit ihrer Begrenzung der Untersuchungsobjekte auf ‚psychologische und physische Ereignisse‘ des Alltagslebens schließen sie sehr viel von solchem Wissen aus, das gerade für eine kulturwissenschaftliche Perspektive der Semantik (ein [sic! ] kulturelle Epistemologie) von Interesse wäre. So liegt denn auch das Hauptproblem ihres Ansatzes darin, dass sie mit dem Skript-Begriff zu sehr prozedurale Formen des Wissens (die auf Handlungssequenzen, Ereignisse, Geschehensabläufe begrenzt sind) in den Mittelpunkt stellen, was andere Formen von Wissenssystemen, wie sie etwa in nichthandlungsbezogenem kulturellem, theoretischem, ideologischem Wissen besteht, aus dem Erklärungsbereich ihres Modells tendenziell ausschließt“, S. 338. Interessant ist hingegen, dass Schank/ Abelson dem Verstehen eine zentrale Rolle einräumen und die Trennung von Weltwissen und Sprachwissen oder sprachlicher Bedeutung und Konzeptebene, wie sie in der Linguistik häufig gemacht wird, als unhaltbar kritisieren, vgl. S. 339. Modelle dagegen, die Wissen über frames organisiert darstellen, können, so Busse, Einleitung 26 und wird „in literarischen Fiktionen extrem ausgereizt.“ Darum schlägt er vor, die Echtwelterfahrung nur als ‚Hintergrund‘ anzunehmen, auf den sich die literarischen Texte „beziehen, von dem sich ihre riskanten Lösungen abheben, der diese freilich auch begrenzt.“ 42 Darüber hinaus seien die Versuchsreihen der kognitiven Psychologie für Literaturwissenschaftler nur beschränkt brauchbar aufgrund ihres Reduktionismus. 43 Dennoch sieht er großes Anregungspotential in den kognitionspsychologischen Experimenten, „indem diese darauf aufmerksam gemacht haben, daß auch komplexe literarische Texte - wie vermittelt und indirekt auch immer - auf eine konkrete Lebenswelt bezogen sind“. 44 Die Vita und Vitenliteratur im Allgemeinen ist dagegen weder vermittelt noch indirekt auf die Lebenswelt bezogen, sondern greift ganz unmittelbar Handlungsvollzüge der Klosterkultur auf. Die Entfernung zwischen Text und außerliterarischer Wirklichkeit ist, anders als es bei fiktionalen Texten möglich ist, minimiert durch die Bezugnahme auf alltägliche Handlungsvollzüge (Liturgie) und - in der volkssprachlichen Vitenliteratur des 14. Jahrhunderts - durch die lokale Situiertheit und historische Referentialisierung. Die real world frames fungieren in der Vita also nicht einfach nur als Hintergrund. Sie stehen vielmehr im Zentrum des Textes, werden als alltägliche Handlungsvollzüge aufgegriffen, literarisch verarbeitet und in der Rezeption mit den lebensweltlichen, textexternen frames im Verstehensprozess wieder abgeglichen. Es besteht ein komplexes Wechselverhältnis zwischen textexternen Wissensrahmen, die textintern aufgegriffen und verarbeitet werden; diese textinterne Verarbeitung wird in der Rezeption wieder mit textexternem Wissen abgeglichen. Die Figuren sind dabei das Medium, über das real world frames ebenso wie literary frames aktualisiert werden können, die aber gleichzeitig selbst wieder einen frame, einen Wissensrahmen, bilden. Diese frames sind kulturell und historisch gebunden und gehen eine enge Verknüpfung ein. So wird die Figur einerseits über Textsortenmerkmale und textuelle Traditionen konstituiert. Andererseits ist sie über ganz konkrete lebensweltliche Bezüge wie Liturgie, Askese und Alltagspraktiken zu entschlüsseln, die sich auch textextern in anderen Quellen niederschlagen und die real world frames bilden - wobei die real world frames auch wieder textuell überlieferte und fixierte Wissensbestände sein können. 45 Sie ist die Schnittstelle, die auf textexternes Wissen Bezug nimmt, indem sie es textintern, durch literarische Verfahren, aufbereitet. Die Figur wird zum Medium, das das oben beschriebene Wechselverhältnis weitreichender und besser unterschiedliche Wissensysteme integrieren und auch geschachtelte Wissenstrukturen beschreiben, vgl. S. 345. Eine Arbeitsdefinition für frame/ Wissensrahmen bietet er S. 563ff. 42 Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse, S. 19. 43 Vgl. ebd., S. 20. 44 Ebd., S. 20f. 45 Ein Begriff wie ‚Echtwelterfahrung‘ scheint gerade für die Klosterkultur irreführend, da auch die textexterne Welt Erfahrungen über Texte strukturieren kann, so z.B. die erwähnte Liturgie. Zwischen Welt und Text - Figur als Schnittstelle 27 von textexternen und textinternen frames ausagiert - und nicht nur als Medium, vielmehr wird sie damit selbst zur Trägerin und Akteurin eines Wissensrahmens. Die Figuren stellen die Möglichkeit dar, religiöse Erfahrungen im Erzählen vorzustrukturieren und zu schematisieren. Im Leseprozess werden die Schemata entschlüsselt, indem ihnen im Abgleich mit den ei genen Schemata Bedeutung beigemessen wird. Die Vorstrukturierung der personalen religiösen Erfahrung in der Rezeption ist also nicht ein einfacher Effekt, bei dem die Rezipientinnen und Rezipienten lesen und dann unmittelbar in Zustände emotionaler Teilhabe entrückt werden, wie es den sogenannten mystischen Texten gelegentlich unterstellt wird. Vielmehr ist es ein komplexer Abgleich zwischen den eigenen, erworbenen frames und den frames im Text. Besonders interessant ist die historische Gebundenheit der frames. Figuren werden mit bestimmten Wissensbeständen rezipiert; historisch und kulturell spezifische frames werden in der Textrezeption herangezogen, um Bedeutungen zu entschlüsseln und die Figuren mit real world frames, also auch mit Personenvorstellungen, abzugleichen. Frames sind der Ansatzpunkt, von dem aus eine diachrone Perspektive auf Figuren und ihre Rezeption entwickelt werden und damit das Desiderat einer historisch ausgerichteten Figurenforschung eingelöst werden kann. 46 In der narratologischen Figurenforschung kognitiver Prägung wird davon ausgegangen, dass die Rezipientinnen und Rezipienten Figuren auf ähnliche Weise wahrnehmen wie reale Personen: „Diese Modelle gleichen in vielem der Wahrnehmung realer Personen und sind wie diese abhängig von den kognitiven frames der Leserinnen“. Aktuelle Ansätze gehen davon aus, dass „Leser im Leseprozeß mentale Modelle literarischer Figuren konstruieren.“ 47 Für die historisch weit zurückliegende Entstehungszeit der Vita können Kategorien wie ‚implizite Persönlichkeitstheorien‘, die die Figurenverarbeitung kognitionspsychologisch beschreiben, jedoch kaum rekonstruiert werden. Welche Wissensbestände werden in einer Vitenfigur gespeichert und von welchen frames muss man ausgehen, wenn man an die historischen Rezipientinnen und Rezipienten denkt? Anstatt historisch ideale Rezipientinnen oder Rezipienten als mentale Konstrukte zu rekonstruieren, soll diese Frage in der vorliegenden Arbeit kultur- und literaturwissenschaftlich perspektiviert werden. Im Mittelpunkt steht die Verflochtenheit von textexternen kulturellen Mustern und textinternen literarischen Verfahren; anhand von textuellen Strategien soll gezeigt werden, wie Text und außertextuelle Wirklichkeit aufeinander bezogen sind. Wie wird beispielsweise die Frage nach der Habitualisierung in eine vollkommene klösterliche Lebenshaltung, nach den ‚Übungen‘, inszeniert? Welche literarischen Verfahren werden verwendet, um die Rezeption zu lenken? Wie wird historische Gebundenheit, zum Beispiel die Referenz auf historische Orte, Räume oder Namen, 46 Zur historischen Determiniertheit von frames vgl. Bruno Zerweck, Der cognitive turn in der Erzähltheorie, S. 238. 47 Ebd., S. 231. Einleitung 28 eingesetzt und wo wird sie auch wieder aufgelöst? Zentral wird auch die Frage sein, wie die Figur sich nicht über kognitive, sondern über kulturelle Muster konstituiert. Welche Traditionslinien werden in die Figur eingespeist und aufbereitet? Wie werden theologische Konzepte aufgegriffen und in der Figurdarstellung konkretisiert? Diese Fragen gehen davon aus, dass der Text Prozesse der Sinnbildung verhandelt und zwar anhand von literarischen Verfahren, die auch dazu dienen können, den Text zur Nachahmung offen zu halten - also selbst zum frame für die Rezipientinnen und Rezipienten zu werden. Die frame-Theorie bietet einen Ansatzpunkt, mit dem Text und Kontext, Figur und außerliterarische Welt, dynamisch aufeinander bezogen werden können und sich nicht statisch, als zwei voneinander abgegrenzte Entitäten, zueinander verhalten. Indem Text und Kontext nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern in Textproduktion und -rezeption in Beziehung treten, wird das Verhältnis von textinterner und textexterner Welt als Austauschprozess verstanden. 1.3 Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution In der Forschung erfuhr die Figur als zentrales organisierendes Prinzip von Texten, Filmen und Theaterstücken in den letzten Jahren vermehrt Interesse. In grundlegenden Arbeiten wurde systematisch an einer Figurentheorie gearbeitet, wobei neben strukturell-semiotischen Überlegungen immer mehr kognitivistische Modellierungen traten. 48 Eine grundlegende Monographie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist die Arbeit von Fotis Jannidis. Das Ziel seiner Untersuchung ist es, „ein erzähltheoretisches Konzept für das Phänomen ‚Figur‘ zu finden“. 49 Er entwirft ein umfassendes Modell, in das er auch den Modell-Leser integriert, der „der vom Autor intendierte Leser [ist], soweit er sich aufgrund des Textes rekonstruieren läßt“. 50 Dieser Modell-Leser bildet ein mentales Modell der Figur, das auf dem sogenannten Basistypus aufbaut. 51 48 Für die Filmwissenschaften grundlegend Jens Eder, Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg 2008. Er konstatiert, dass die Figurenforschung noch in den Kinderschuhen stecke, insbesondere was die Theoriebildung angehe. Seine Arbeit ist stark auf die filmimmanente Theoriebildung konzentriert. Eine Studie, die historische und anthropologische Interferenzen einbindet, liefert Ralf Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans, Tübingen 2000 (ZAA Studies 9). Das Verhältnis von literarischen Figuren und Wissen beleuchten aus unterschiedlichen historischen und fachlichen Perspektiven die Beiträge des Sammelbandes Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, hg. von Lilith Jappe, Olav Krämer und Fabian Lampart, Berlin/ Boston 2012 (linguae&litterae 8). 49 Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/ New York 2004 (Narratologia 3), S. 237. 50 Ebd. 51 Im angehängten Glossar beschreibt Jannidis den Basistypus folgendermaßen: „Minimale Struktur einer Figur mit den Merkmalen ‚Handlungsfähigkeit‘, ‚Kommunikationsfähigkeit‘, ‚transitorische und stabilere Figureninformationen oder Figureneigenschaften‘, ‚Differenz von Innen und Außen‘.“ Ebd., S. 251. Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 29 Im Verlauf der Lektüre werden dieser - vorgängigen - Grundstruktur „kontinuierlich Informationen zugeschrieben,“ 52 der Basistypus wird mit Figureninformationen angereichert. Das Wissen über die Figur wird innerhalb der narrativen Kommunikation vermittelt, die Jannidis als inferenzbasiert modelliert, „d.h. die Bedeutung des Gesagten bzw. Geschriebenen wird durch Inferenzen auf der Basis des kulturellen Wissens, des mentalen Modells der Textwelt, des sprachlichen Code-Wissens, der Kommunikationssituation und der in ihr gültigen Regeln sowie des Kooperationsprinzips bzw. der Konversationsmaximen ermittelt.“ 53 Jannidis arbeitet dann aber vor allem an einem systematischen Entwurf; wie sich die Inferenzen genauer modellieren ließen, diskutiert er nicht. Aus mediävistischer Perspektive kritisiert Markus Stock dieses Defizit, der gerade die Dimension einer „historischen Narratologie“, wie es ja ausdrücklich im Untertitel heißt, vermisst. 54 Für einen Text wie die Vita, der einem ganz spezifischen Verwendungskontext entstammt, ist statt eines systematischen Ansatzes, der sich zudem vor allem mit fiktionaler Literatur auseinandersetzt, ein kulturhistorisch rückgebundenes Modell notwendig. Die Frage nach der Faktur des Textes, nach dem ‚Wie‘ des Erzählens, wird verbunden mit der Frage nach den kulturellen Phänomenen, die im Text aufgegriffen, verhandelt und reflektiert werden. Wie schon bei den Überlegungen zum exemplarischen Erzählen soll auch für die Beschreibung der Figur im engeren Sinne die Klosterkultur, der die Vita entstammt, als figurenkonstitutive Folie einbezogen werden. Die Figur besetzt eine doppelte Position. Sie führt die kulturellen Praktiken religiöser Selbstvervollkommnung gleichzeitig vor und ist selbst Bestandteil dieser Praktiken. Auf der Handlungsebene wird der Umgang der Figur mit unterschiedlichen Praktiken - Lektüre, Meditation, Askese, Bildgebrauch und andere - gezeigt, in expliziten und impliziten Kommentaren erhalten die Rezipientinnen Anleitungen, wie sie die Figur in ihren eigenen Lektüre- und Meditationspraktiken lesen sollen. Die Figur bezieht sich auf die Praktiken und deutet sie aus. Narrative Phänomene sind darum auch immer religiöse Phänomene, dient doch die Figur der Darstellung theologisch-anthropologischer Modelle und Konzepte. So könnte man zwar Benennung, Aufbau und Identität der Figur beschreiben - was im Verlauf der Arbeit auch thematisiert werden wird -, doch trifft man damit die Kernfragen nicht, nämlich auf welche Art und Weise die Figur religiöses Wissen verkörpert, ausstellt und beobachtbar macht. Die Analyse literarischer Verfahren wird deshalb kombiniert mit der Frage danach, wie die narrativen Verfahren in den kulturhistorischen Kontext eingebunden sind. Diese Einbindung gibt Aufschluss darüber, wie bestimmte Erzählverfahren dazu verwendet werden, Inhalte umzusetzen und abzubilden. Deshalb ist es 52 Ebd., S. 197. 53 Ebd., S. 238. 54 Markus Stock, Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie, in: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, hg. von Harald Haferland und Matthias Meyer, Berlin/ New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 187-203, hier S. 192. Einleitung 30 notwendig, Beschreibungskategorien zu finden, die die historische Spezifik der Erzählstrategien sichtbar machen, über die die Figuren entworfen werden. Um Erzählen, Kontext und Rezeption zu verbinden, soll die Figur vor allem mithilfe von zwei Konzepten beschrieben werden: Zum einen über Ansätze der Performativitätsforschung, um zu beschreiben, wie der Text über die Figur des Dieners eine religiöse Identität entwirft, die sich in iterativen Akten konstituiert und gleichzeitig Möglichkeiten des affektiven Nachvollzugs bietet. Zum anderen über den Ansatz der Habitus-Forschung, der die Kernfrage der Übungskultur im Kloster aufnimmt. 1.3.1 Figurenidentität - Narrative Inszenierung als performativer Selbstentwurf Gerade für einen religiösen Text des Mittelalters stellt sich unmittelbar die Frage, was mit ‚Identität‘ gemeint ist. Der Begriff soll hier auf zwei unterschiedlichen Ebenen verwendet werden: auf einer historischen Objektebene und auf einer theoretisch-methodischen Beschreibungsebene. Auf der Objektebene zielt der Begriff auf Gott als Einheit, von der sich alles Leben, somit alle Identität ableitet. 55 Es ist dies eine religiöse Identität, nach der die Figur des Dieners als Einheitserfahrung strebt. Auf der Beschreibungsebene dagegen verwende ich Identität einerseits als Begriff, der die narrative Figureneinheit umfasst, andererseits soll das Konzept einer performativen Identität aufgegriffen werden, das Identität als unabgeschlossen und im permanenten, diskursiven Entwurf begriffen versteht. 56 Religiöse Identität ist somit in der historischen Selbstbeschreibung metaphysisch bestimmt. Auf der Ebene der kulturhistorischen Interpretation wird die religiöse Identität dagegen mit konstruktivistischen Parametern beschrieben, um die Literarizität des Identitätsentwurfs sowie die tendenzielle Unabgeschlossenheit beschreiben zu können. Ich möchte dabei einen Umweg über in der Mediävistik aufgegriffene sozialwissenschaftliche Konzepte machen, um mich der Beschreibung der religiösen Identität anzunähern. Gerade das Konzept der partizipativen Identität, wie es der Soziologe Alois Hahn beschreibt, wurde wiederholt fruchtbar gemacht. Hahn argumentiert systemtheoretisch und entwickelt die Konstitution der 55 Auf diesen Aspekt der Identität verweist Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/ New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8), S. 70f. 56 Das Konzept einer performativen Identität entwirft Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990 und dies., Bodies that matter, New York 1993. Für die mystische Literatur des Mittelalters wird der Ansatz der performativen Identitätskonstruktion für die religiöse Identität erstmals fruch tbar gemacht von Burkhard Hasebrink, Elsbeth von Oye: Offenbarungen (um 1340), in: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. von Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 3), S. 259-279. Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 31 Identität über gesellschaftliche Zugehörigkeit. 57 Das Individuum wird über die Zugehörigkeit zu Stand oder Familie definiert, adlige Selbstthematisierung etwa stellt „den Status, die Familie und den Stand ins Zentrum der Aufmerksamkeit.“ 58 Identität wird durch die Inklusion in eine Statusgruppe zugeschrieben, die gleichzeitig - in der mittelalterlichen, stratifikatorischen Gesellschaft - „die Exklusion aus allen anderen“ 59 ist. Dieses Identitätskonzept sozialer Zugehörigkeit birgt aber Probleme für die Vita, die ja keine adlige, sondern eine geistliche Selbstthematisierung darstellt. So werden zwar auch soziale Beziehungen geschildert, doch sie sind gerade nicht Teil der religiösen Identität. Im Gegenteil, es ist die Überwindung sozialer Bindungen, die im omnia relinquere, dem Lassen aller Dinge in der Nachfolge Christi, gefordert wird. Zwar sind Beziehungen für die Figur des Dieners insofern wichtig, als er als Seelsorger von Gott den Auftrag erhält, nach außen zu gehen und dort zu wirken. Zur Identität, verstanden als Einheit in Vollkommenheit, führen aber keineswegs die Bindungen, sondern deren Negierung im Innersten. Die Konstitution als partizipative Identität läuft so immer nur als Negativfolie mit. Hahn selbst erweitert sein Konzept der partizipativen Identität genau in diesem Sinne, wenn er die Identitätskonstitution im Kontext der Kloster- und Mönchskultur im Gegensatz zur adligen Identitätsthematisierung diskutiert. In seinem, gemeinsam mit Cornelia Bohn verfassten Aufsatz stellt er die adlige Selbstthematisierung einer spirituellen gegenüber, „in der sich, zumindest vom Anspruch her, ein Individuum aus seiner Familie löst (oder zu lösen scheint), um als Einzelner um sein Heil zu ringen.“ 60 Es scheinen, so Hahn/ Bohn, im Mittelalter zwei Ordnungen nebeneinander zu laufen, eine diesseits- und eine jenseitsbezogene, wobei die spirituelle Identität von Status und Familie abstrahiert. Die spirituelle Selbstthematisierung verorten sie in der Institution des Mönchtums, die „den - wie immer paradoxen - Versuch [darstellt], wie Christus selbst zu […] sein. Es handelt sich in diesem Sinne auch darum, eine Art von Selbstexklusion aus der Gesellschaft in der Gesellschaft zu vollziehen.“ 61 Der Mönch, der ins Kloster eintritt, gibt seine partizipative Identität auf, indem er sich aus der 57 Zum Konzept der partizipativen Identität vgl. Alois Hahn, Partizipative Identitäten, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt/ Main 2000, S. 13-79. Zur Verwendung des Konzepts aus mediävistischer Perspektive vgl. etwa Elke Koch, Trauer und Identität, v.a. S. 68-78 oder Marina Münkler, Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2011 (Historische Semantik 15), v.a. S. 23-36. Kritisch zur Applikation der modernen Identitätskonzepte vgl. Jan Mohr, Logisches Ich und epistemisches Ich. Noch einmal: Identitätskonzepte in Hartmanns Iwein, in: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg. von Anja Becker und Jan Mohr, Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 141-169. 58 Alois Hahn und Cornelia Bohn, Partizipative Identität, Selbstexklusion und Mönchtum, in: Das Eigene und das Ganze: Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville und Markus Schürer, Münster 2002 (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter 16), S. 3-25, hier S. 10. 59 Ebd., S.5. 60 Ebd., S. 10. 61 Ebd., S. 13. Einleitung 32 Standes- und Familienzugehörigkeit löst. An die Stelle der Inklusion, die immer auch Exklusion aus anderen Zugehörigkeitsoptionen bedeutet, soll beim Eintritt ins Kloster eine Exklusion aus allen irdischen Bindungen treten. Die Seele wird in theologischen Begründungen als unabhängig von äußerem Status oder Familie gesetzt. Doch, so Hahn/ Bohn, dieser totalen Selbstexklusion sind Grenzen gesetzt; in der Gesellschaft aus der Gesellschaft herauszutreten ist von Paradoxien geprägt, denn die Gesellschaft bringt sich in diesem Modell immer wieder ins Spiel. Diese „Paradoxie der Weltflucht“ 62 beschreiben sie als „Re- Inklusionen des Klosters“. Als wichtige Punkte, die die Welt ins Kloster tragen, nennen sie die „symbolische Sorge um die Welt: das Gebet, die Fürbitte, das exemplarische Leben“, die Herkunft der Mönche und das Kloster als Begräbnisort. 63 Das Fazit, das sie daraus ziehen, lautet folgendermaßen: „Aus Sicht der Soziologie ließe sich das auch so kommentieren: Bei aller Wertschätzung der theologisch begründeten Autonomie des Einzelnen und der Sorge um sein Seelenheil: sie bleibt doch eingebunden in die Identitätskonstruktionen einer stratifizierten Gesellschaft.“ 64 Doch radikalisieren Eckhart und in der Folge Seuse den Prozess, den Hahn/ Bohn hier als Selbstexklusion bezeichnen. Indem Eckhart die Selbstexklusion gerade nicht mehr im Kloster situiert, sondern ins Innerste verlagert, wird der Versuch gemacht, die Re-Inklusionen der Welt auszuschließen. In den Begriffen der Abgeschiedenheit und - vor allem bei Seuse - der Gelassenheit grenzt sich dieses Programm deutlich von einer bloß institutionalisierten Selbstexklusion als Negierung der Bindung an Stand und Familie ab und übersteigt sie. Burkhard Hasebrink zeichnet das Modell einer „Anthropologie der Abgeschiedenheit“ vor dem Hintergrund des urbanen Kontextes, in dem der Dominikanerorden situiert ist, nach. Er bezeichnet es als „Modell urbaner Identität“, das sich „nicht auf eine Topographie des entlegenen Ortes, auf einen anderen Raum abseits der sozialen Welt bezieht, sondern eine Abstraktion meint und gleichzeitig ratifiziert.“ 65 Abgeschiedenheit meint also nicht mehr den Rückzug aus der Gesellschaft in einen exklusiven Raum, sondern den Prozess des Überstiegs aller geschaffenen Dinge und die Gotteserkenntnis aus der Einheit. ‚Abgeschiedenheit‘ ist dabei der zentrale Leitbegriff: „Was die deutschen Predigten Eckharts so unverwechselbar macht, ist ihre Fokussierung auf die abegescheidenheit der Seele: Die Seele findet ihre Einheit mit dem Transzendenten im Durchbruch in ihren eigenen, innersten, 62 Burkhard Hasebrink, sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ‚Reden der underscheidunge‘ Meister Eckharts, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener, Berlin/ New York 2005 (Miscellanea mediaevalia 32), S. 122-136, hier S. 124. 63 Alois Hahn und Cornelia Bohn, Partizipative Identität, S. 23f. 64 Ebd., S. 25. 65 Burkhard Hasebrink, Die Anthropologie der Abgeschiedenheit. Urbane Ortlosigkeit bei Meister Eckhart, in: Meister Eckhart im Original, hg. von Freimut Löser und Dietmar Mieth, Stuttgart 2014 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 7), S. 139-154, hier S. 140. Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 33 göttlichen Grund.“ 66 Identität wird in dieser Perspektive nicht mehr über gesellschaftliche Zugehörigkeit, sondern als Rückkehr in die göttliche Einheit, also metaphysisch begründet. Diese Bewegung findet sich auch bei Seuse: „Schließlich betont Seuse, dass diese Erfahrung der Einheit keine Vernichtung der geschöpflichen Endlichkeit bedeutet. Diese wird vielmehr […] in Gott hinein transformiert.“ 67 Die radikal verinnerlichte religiöse Identität ist, im Gegensatz zur These von Hahn/ Bohn nicht mehr in die stratifikatorische Gesellschaft eingebunden, konstituiert sich gerade nicht vor der Negativfolie der Gesellschaft. Nicht nur das Aufgeben der äußeren Bindungen an die Gesellschaft, sondern das Aufgeben des Eigenwillens radikalisiert die Selbstexklusion zu einer Exklusion des Selbst. Ziel dieser vollkommenen Selbstaufgabe ist die Einheit mit Gott. In dieser Einheit wirkt Gott allein im Grunde der Seele: „Im Wesen der Seele gibt es nichts anderes als das reine Sein, das Gottes Erkennen ist. Gottes Einheit ist Identität,“ 68 wobei der letzte Satz ein Zitat aus Eckharts lateinischen Werken ist: Identitas est enim unitas. 69 Es bleibt allerdings zu betonen, dass die religiöse Identität, die ganz im Grund der Seele verortet wird, auf der Ebene textuell-literarischer Inszenierungen liegt. Hasebrink unterscheidet folglich auch zwischen den historischen Rezipientenkreisen und der Figur des impliziten Adressaten, der im Vollzug der Predigt entworfen wird und unterstreicht die Gültigkeit des gesellschaftlichen Inklusionsprinzips: „Sozialhistorisch haben wir wenig Anlass, an der Wirksamkeit sozialer Zuordnungen im Sinne einer Inklusionsidentität (A LOIS H AHN ) zu zweifeln. Die Suche nach den Rezipientenkreisen der Predigten Eckharts bleibt somit fast zwangsläufig sozialen Kategorien verhaftet. In der Figur des impliziten Adressaten wird aber performative Identität allein auf die Einheit im Sein und Wirken des ersten Grundes zurückgeführt.“ 70 Während Eckhart die Figur des impliziten Adressaten entwirft, um die Ortlosigkeit der Abgeschiedenheit gleichzeitig zu vermitteln und nachvollziehbar zu machen, wird die Gelassenheit als Aufgeben des Eigenwillens in der Vita anhand eines exemplarischen Lebens narrativ entfaltet. 66 Ders., mitewürker gotes. Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009 (Germanistische Symposien. Berichtsbände), S. 62-88, hier S. 64. 67 Silvia Bara-Bancel, ‚Gottheit‘ und ‚Gott‘, Einheit und Dreifaltigkeit. Heinrich Seuses Gottesverständnis, in: Das Gottesverständnis der Deutschen Mystik (Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse) und die Frage nach seiner Orthodoxie, hg. von Markus Enders, Berlin 2011 (Heinrich-Seuse-Jahrbuch 4), S. 79-111, hier S. 110. 68 Caroline Mösch, ‚Daz disiu geburt geschehe‘. Meister Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt und Johannes Taulers Predigten zum Weihnachtsfestkreis, Freiburg/ Ue. 2006 (Dokimion 31), S. 198. 69 Sermo XXIX ‚Deus unus est‘, in: Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die lateinischen Werke [LW], Bd. I-V, hg. von Ernst Benz [u.a.], Stuttgart 1956-2006, hier LW IV, S. 269,12-13. 70 Burkhard Hasebrink, Die Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 154. Einleitung 34 Bevor das Konzept der performativen Identität für die Vita näher erläutert wird, soll kurz die narrative Identität als erzähltheoretische Basis für die Figurenkonzeption skizziert werden. Die religiöse Identität als Einheit in Gott wird über eine narrative Identität, über eine Figurenidentität erzählt. Diese Dimension des Identitätsbegriffs liegt nun nicht mehr auf der Objektebene, sondern auf der beschreibenden Metaebene. Narrative Identität bedeutet in einer Minimaldefinition, dass Informationen aus dem Te xt immer an das gleiche Textkonstrukt gebunden werden. 71 Dieter Lamping schließt die narrative Identität daher eng an den Namen der Figur und an die Möglichkeit, mit dem Namen weitere Informationen zu kombinieren: „Der Begriff Identität ist dabei, ähnlich wie der des Individuums, bloß in einem technischen, gewissermaßen äußerlichen Sinn zu verstehen: nicht als Wesenseinheit (Persönlichkeitskern, Ich, Entelechie), sondern als Rekurrenz.“ 72 Abgehoben wird in einer solchen Perspektive auf den syntagmatischen Verlauf des Textes und die Art und Weise, auf die Informationen an die Einheit ‚Figur‘ gebunden werden. Identität ist eine „ sprachliche Konstruktion einer Einheit der erzählten Welt durch gleiche Bezeichnung oder durch Referenzformen, die die Identität mit einer bereits eingeführten Figur markieren.“ 73 Es ist aus dieser Perspektive die Faktur des Textes, der discours, zu beschreiben, der die Figur auf ganz spezifische Weise narrativ entwirft. Als narrative Identität wird eine Texteinheit aufgefasst, die mittels eines Namens oder einer Benennung identifizierbar wird und an die dann weitere Informationen angelagert werden. Dabei ist ausschlaggebend, auf welche Art und Weise die Informationen angebunden werden. Die Figur entsteht nicht nur durch Informationen, also durch inhaltliche Anlagerungen, sondern auch durch die literarischen Verfahren, mit denen die Informationen vermittelt werden und somit nach formalen Kriterien. Daran schließen Fragen nach Textverfahren wie Iterativität, Transgressionen oder Wiederholungsbeziehungen an, aber auch nach kulturell gebundenen Verfahren wie typologische Sinnstiftung oder nach der Narrativierung kulturhistorisch religiöser Modelle über die Figur. Über diese sprachliche Dimension hinaus wird, gerade bei Seuse, auch die Frage nach der medialen Inszenierung der Figur relevant. Narrative Identität wird darum in einem erweiterten Sinn nicht nur sprachlich gefasst, sondern macht auch Ausgriffe auf die Text-Bild- Beziehung. Die narrative Identität ist eine konstruktivistische Kategorie, insofern sie auf die Konstruktion des Textes und damit auf die sprachliche (und bildliche) Verfasstheit der Figur abhebt. 71 Auf die Erzeugung der Figur wird näher eingegangen in Kapitel 3.1 Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung. 72 Dieter Lamping, Der Name in der Erzählung. Zur Poetik des Personennamens, Bonn 1983, S. 24. 73 Fotis Jannidis, Figur und Person, S. 137ff. (Hervorhebungen im Original). Auch Jannidis verwendet Identität in einem dezidiert „bedeutungsarmen Sinne“, S. 137 und grenzt sich damit von philosophischen und psychologischen Konzepten einer ‚narrativen Identität“ ab. Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 35 Auf der Beschreibungsebene soll auch die religiöse Identität auf Grundlage von konstruktivistischen Kategorien entwickelt werden. 74 In dieser Perspektive wird also nicht die Frage nach der metaphysischen Einheitserfahrung als letztes Ziel einer religiösen Identität gestellt, sondern die Frage nach der Konstruktion dieser Identität im Text. Folglich ist diese Perspektive nicht von derjenigen der narrativen Identität zu trennen, da das Narrativ das Darstellungsmittel ist, um die religiöse Vervollkomnung im Text umzusetzen. Die Figur wird als Medium religiöser Vervollkommnung konstituiert, weshalb narrative und religiöse Phänomene immer aufeinander bezogen sind. Auf dieser nichtmetaphysischen Ebene wird Identität als Versuch beschrieben, in Akten der Diskursivierung ein religiöses Selbst herzustellen. Es ist eine literarische Konstruktion, die im Streben nach Einheit immer auch Differenz erzeugt. Die sprachliche Erzeugung der Figur, ihre narrative Konstitution, ist in ihrem Versuch, Transzendenz in der Immanenz zu herzustellen, auf paradoxe Formulierungen angewiesen, um das Transgressionspotenzial in der Differenz der Sprache zu fassen. Identität als Konstrukt eines Performanzkonzepts aufzufassen führt zu den Theorieentwürfen Judith Butlers. Ich möchte im Folgenden kurz auf das Konzept von Butler eingehen und auf die Schwerpunkte, die ich lege, um dann die literaturwissenschaftliche Herangehensweise zu plausibilisieren. In ihren Texten zur Konstruktion von ‚sex‘ und ‚gender‘ beschreibt Judith Butler Geschlechteridentität als etwas nicht vorgängig Gegebenes. Geschlecht wird vielmehr in diskursiven Akten hervorgebracht. Durch permanente Wiederholung erhalten die Diskurse ihre Wirksamkeit - Sprache ist Handlung, dem Körper wird in diesem Sprach-Handlungsvollzug zugeschrieben, welche (Geschlechter-)Identität sich in ihm materialisiert. Zentral ist dabei die Wiederholbarkeit. Performativität basiert in Butlers Konzept nicht auf einzelnen, intentionalen Sprachakten, sondern ist konzipiert als ständig wiederholte Praxis, durch die die Identität erzeugt wird. Die diskursive Praxis dieses Prozesses ist unabgeschlossen, Geschlecht wird in immer neuen Akten ständig neu hervorgebracht. Butler vertritt einen konstruktivistischen Ansatz, der sich einer Naturalisierung über biologische Festschreibungen entzieht. Sie bezieht sich dabei auf Jacques Derrida und dessen Konzept der Iterabilität der Zeichen. Zeichen sind wiederholbar und nicht auf einen bestimmten Kontext allein angewiesen. Es ist die „Pointe der Iterabilität, ein Anderswerden des Wiederholten einzuschließen.“ 75 Nach Krämer geht Butler noch einen Schritt weiter und wendet diese Pointe, indem sie im Anderswerden des Zeichens den Aspekt der Ausführung 74 Die Beschreibung der religiösen Identität als textuelle Konstruktion ist auch anschlussfähig an Überlegungen zur Künstlichkeit und zum theatralen Charakter mystischer Texte. Zentral dazu hat Niklaus Largier gearbeitet, der das Artifizielle und den Inszenierungscharakter der mystischen Texte beschreibt. Vgl. Niklaus Largier, Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2007, und ders., Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001. 75 Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main 2001, S. 253. Einleitung 36 mit dem der Aufführung verknüpft: „Ein Potential zur Transformation weisen Wiederholungsverfahren dann auf, wenn die Reproduktion zugleich als die Inszenierung des Reproduzierten zu begreifen ist. Wenn also das Wiederholen die Aufführung des Wiederholten ist.“ 76 Wiederholung als Aufführung schließt nicht nur die Identität des wiederholten Zeichens ein, sondern vor allem auch die Differenz. Butler misst diesem Verfahren ein emanzipatorisches Moment bei, über das die herrschenden Diskurse subversiv unterlaufen werden können. Indem die Lücke der Differenz als Moment der Selbstermächtigung aufgegriffen wird, kann die vom herrschenden Diskurs konstituierte Identität transformiert werden. Für einen performativen Identitätsentwurf, der die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz ausschalten möchte, bekommt dieses Moment allerdings ganz andere Bedeutung. Iterabilität, das Doppelgesicht des Zeichens zwischen Gleichheit und Differenz, erzeugt in den Texten, die um die Einheit mit Gott kreisen, Paradoxien, die sich in literarischen Verfahren der Verschiebung, der Transgression oder aber der endlosen Progression wiederspiegeln. Mir kommt es in Bezug auf Butlers Ansatz also insbesondere auf den spezifischen Konstruktionscharakter an, der sich in der Wiederholung und Umschreibung von Identitätskonzepten manifestiert und der von einer tendenziellen Unabgeschlossenheit gekennzeichnet ist. Vor allem aber kommt es mir auf die Vorstellung an, über literarische Inszenierungen eine religiöse Identität zwischen Einheit und Differenz zu entwerfen. Dass der gendertheoretische Ansatz, der mit postmodernen Ansätzen Vorstellungen einer natürlichen Identität zu dekonstruieren versucht, nicht ungebrochen auf einen mittelalterlichen Text appliziert werden kann, versteht sich von selbst. Er kann aber Aufschluss geben über die Herstellbarkeit von Identitäten, über die Inszenierung eines Selbst, das sich über kulturhistorisch gebundene Praktiken generiert. Anstatt der Diskursanalyse, auf die Butler sich bezieht, können über das Erzählphänomen ‚Figur‘ literaturwissenschaftliche Fragestellungen nach der narrativen und ästhetischen Gestaltung des Textes gestellt werden. ‚Figur‘ ist gewissermaßen dem performativen Akt selbst vorgeschaltet und bietet Anleitung für diejenigen Praktiken, über die Identität im Prozess der Rezeption erst entworfen werden soll. Die Konstruktion von Identität als performativer Akt wurde auch in der germanistischen Mediävistik aufgegriffen. Performative Phänomenen in der Folge von John Austins Sprechakttheorie interessieren, so Almut Suerbaum und Manuele Gragnolati, gerade durch den Aspekt der Identitätskonstruktion als Praxis: „an interest in practices showing that personal identity is constituted through continuously repeated performance rather than following on from essential substance.“ 77 Die Vorstellung, dass Identität nicht gegeben ist, sondern erst erzeugt wird, erhält für die Klosterkultur eine eigene Bedeutung. 76 Ebd. Butler entwickelt diese Argumentation, die nicht mehr so sehr ein Konzept theatralischer Geschlechterperformanz ist, sondern ein sprachphilosophisch-rhetorisches Modell, zentral in Judith Butler, Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York 1997. 77 Almut Suerbaum und Manuele Gragnolati, Medieval Culture ‚betwixt and between‘: An Introduction, in: Aspects of the Performative in Medieval Culture, hg. von dens., Berlin Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 37 Identität soll nicht nur innerhalb von immanenten Bezügen hergestellt werden, sondern als Annäherung an das Transzendente selbst. Texte wie die Vita Seuses führen dabei die Versuche vor, sich von allen irdischen Bindungen zu lösen und in dieser Aufgabe der irdischen Identität in die Einheit mit Gott einzugehen. Sie zeigen kulturelle Praktiken - Lektürepraktiken, Körperpraktiken, liturgische Vollzüge -, die dazu dienen, die religiöse Identität durch die ständige Wiederholung und Einübung herzustellen. Mit dem Klostereintritt, der in Seuses Vita literarische Darstellung findet, muss das anfangende religiöse Ich dabei die neue, religiöse Identität erst verstetigen. Es muss, wie Peter von Moos es ausdrückt, „durch kompromißlose Entwöhnung“ 78 die alte Lebensform überwinden und die neue internalisieren. Mit religiöser Identität ist die Annäherung an das Transzendente gemeint, die in den Versuchen besteht, die alte Identität, das alte Selbst, zugunsten einer Einheit mit Gott aufzugeben. Der Gestus der Wiederholung, der in der narrativen Struktur aufgreift, was an Handlungsvollzügen erzählt wird, ist dabei nicht spezifisch für die Vita. Sogenannte mystische Texte operieren häufig mit Formen der Iterativität, um die Konstruktion der religiösen Identität diskursiv herzustellen. Für die Offenbarungen Elsbeths von Oye hat das Burkhard Hasebrink herausgearbeitet. Er zeigt, dass die „performative Herstellung von religiöser Identität“ sich in Wiederholungsstrukturen vollzieht, „in der erst die diskursive Erzeugung dieser sich selbst entgrenzenden Identität wirksam werden kann.“ 79 Es wird allerdings zu fragen sein, wie die Wiederholungen und die iterativen Strukturen in unterschiedlichen Texten eingesetzt werden. Für den Text Elsbeths von Oye ist die unverbundene Aneinanderreihung von ‚Geschehenseinheiten‘ die charakteristische Faktur. 80 Für Seuse muss sich in der Textanalyse zeigen, wie Iterativität und übergeordnete Struktur sich zueinander verhalten, wie Iterativität eingesetzt wird und an welchen Stellen die Vita Transgressionen des Selbst inszeniert. In Seuses Vita wird die Annäherung an das Transzendente über das Leiden Christus zum zentralen Fluchtpunkt. In der imitatio Christi wird der Versuch 2010 (Trends in Medieval Philology 18), S. 1-12, hier S. 5f. Sie beziehen sich dabei explizit auf Judith Butler. Im Sammelband arbeiten unter dem Sektionstitel ‚Performing the Self: Constructions of Poetic Identity‘ mehrere Beiträge zur Frage, wie in literarischen Texten das Autor-Ich oder Text-Ich sich in Akten der Selbstreflexion konstituiert. 78 Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hg. von dems., Köln/ Weimar/ Wien 2004 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 23), S. 1-42, hier S. 6. 79 Burkhard Hasebrink, Elsbeth von Oye: Offenbarungen, S. 259. Vgl. auch Anm. 56 in diesem Kapitel. 80 Den Begriff der ‚Geschehenseinheiten‘ hat Peter Ochsenbein, Die Offenbarungen Elsbeths von Oye als Dokument leidensfixierter Mystik, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Engelberg 1984, hg. von Kurt Ruh, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 7), S. 423-442, hier S. 436, geprägt. Die Plausibilität des Begriffs erläutert Burkhard Hasebrink, Elsbeth von Oye: Offenbarungen, S. 260. Einleitung 38 umgesetzt, das eigene Selbst zu lassen und sich Gottes Willen so vollkommen zu übereignen wie Christus. Wiederholung soll also zu Einheit führen, die Herstellung der Identität in Christus soll es ermöglichen, in Gott einzugehen. Die imitatio Christi ist aber notwendigerweise immer von Differenz gekennzeichnet. Seuse betont diese Differenz im b  chli der warheit nachdrücklich: Es ist ze wissenne, daz Cristus, gottes sun, etwas gemein hatte mit allen menschen, und hatte etwas sunders vor andren menschen. (333,8ff.) Jede Form der imitatio Christi ist so notwendigerweise von Iterabilität, von der Differenz in der Gleichheit, gekennzeichnet. In einem zentralen Satz heißt es in der Vita konsequenterweise, der vollkommene Mensch strebe nicht danach, das Kreuz Christi zu tragen, sondern das eigene Kreuz. 81 Darin zeigt sich erneut die paradoxe Gleichzeitigkeit von Wiederholung und Erneuerung, von Einheit und Differenz. In dieser Formulierung ist der Nachfolge als Wiederholung immer die Differenz zum Urbild, zu Christus eingeschrieben. Der Versuch, diese Differenz zu minimieren und letztlich in Einheit umschlagen zu lassen, ist das in immer neuen Wendungen erzählte Anliegen der Vita. Da die Differenz zum Transzendenten aber niemals gänzlich überwunden werden kann, bleibt die Identität, fasst man sie als performativen Entwurf auf, ein stets unabgeschlossener Prozess. Als letzte Vorüberlegung zu den Dimensionen eines performativen Identitätsentwurfes soll die Frage des Nachvollzuges auf Rezeptionsseite umrissen werden. Diese Dimension greift die Diskussionen um eine literarische Performativität in einem engeren Sinne auf, wie sie in den letzten Jahren in der germanistischen Mediävistik intensiv diskutiert wurden. 82 Zwei Aspekte scheinen mir in Bezug auf die Rezeption der Vita Seuses besonders relevant. Es ist einerseits die Frage nach textuellen Strategien, die nicht allein einer diskursiven Vermittlung von Inhalten dienen, sondern die darauf abzielen, die Inhalte auch - etwa sinnlich über visuelle oder auditive Signale - nachvollziehbar zu machen. Ein zweiter Aspekt schließt eng daran an und fragt nach der außertextuellen Wirksamkeit. Es stellt sich die Frage, wie die intratextuellen Strategien daran arbeiten, die Wahrnehmung der Rezipientinnen zu formen und welche Muster der Text zur Verfügung stellt, um Erfahrungen zu strukturieren und zum Nachvollzug anzubieten. Für die Vita Seuses ist die Frage nach textueller Strategie und deren Wirksamkeit besonders fruchtbar, entwirft er doch im zweiten Teil seines Werkes selbst eine Rezeptionssituation. Dort wird anhand der Figur der Rezipientin Elsbeth Stagel reflektiert, wie Prozesse der Aneignung und Anwendung eines narrativen religiösen Identitätsentwurfs ablaufen können. 81 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 107, 11ff. Es handelt sich um das 35. Kapitel, in dem die richtige Umsetzung des in Texten vermittelten Heilswissens dargestellt wird. 82 Programmatisch dazu die Einleitung des Sammelbandes Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. von Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 3); vgl. auch Hans Rudolf Velten, Performativität - Ältere deutsche Literatur, in: Germanistik als Kulturwissenschaft, hg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten, Hamburg 2002, S. 217-242. Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 39 Die Frage, inwieweit Strategien sinnlicher Affizierung Texte besonders wirksam machen, wurde in den letzten Jahren vermehrt diskutiert. 83 In diesen Diskussionen wird entwickelt, wie gerade mittelalterliche Texte vielfach Strategien erproben, um den Effekt eines Miterlebens im Text zu erzielen. Etwa durch lyrische Einschübe, durch semantische Brüche oder durch insistierende Wiederholungsstrukturen scheinen die Texte eine Affizierung der Rezipientinnen und Rezipienten geradezu provozieren zu wollen. 84 Die Vita fordert eine solche Wirksamkeit selbst ein, indem sie immer wieder explizit macht, dass die darin entwickelten Verhaltensmuster auf das eigene Leben anzuwenden sind. Die Figur steht in einem dynamischen Verhältnis zu den Rezipientinnen, die sich die exemplarische Lebensbeschreibung produktiv aneignen sollen. Das Modell eines nach Vollkommenheit strebenden Lebens, wie es die Vita entwirft, soll im Leben der Rezipientinnen wiederholt werden und einen je individuellen Weg der Heiligung in Gang setzen. Die Rezeption der Vita erschöpft sich entsprechend nicht in einer einfachen Lektüre, sondern zielt, wie René Wetzel es formuliert, „ins Herz.“ 85 Der Text soll nicht nur gelesen werden, sondern das Gelesene soll in Betrachtungen weitergeführt werden und das Innere transformieren. Doch die Vita arbeitet nicht nur mit Strategien, die auf 83 Für die mystische Literatur vgl. etwa Niklaus Largier, Lob der Peitsche und ders., Kunst des Begehrens. Largier zeigt, wie Effekte der Textlektüre und deren Verarbeitung als Momente sinnlicher Erfahrung inszeniert werden, in mystischen Texten als Momente intensiven Gottesgenusses. Burkhard Hasebrink, Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler, in: Lyrische Narrationen - narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius, Berlin/ New York 2011 (Trends in Medieval Philology 16), S. 387-404, weist nach, wie diese These in verschiedenen mystischen Texten wiederum an ihre Grenzen gerät, wenn nämlich die sinnliche Erfahrung als kurze zeitliche Intensität eine negative Wertung erfährt und stattdessen eine zeitlose Transformation des Seins in Gott als Ziel gesetzt wird. 84 Zur Verbindung von Prosa und Lyrik unter performativer Perspektive vgl. Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius, Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik, in: Lyrische Narrationen - narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von dens., Berlin/ New York 2011 (Trends in Medieval Philology 16), S. 1- 39, hier v.a. S. 24ff. Für die Gelassenheits-Epigramme Johannes Schefflers entwickelt Bent Gebert die Dimension semantischer Sprünge als performatives Ereignis: Bent Gebert, Technik und Ereignis. ‚Gelassenheit‘ in Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 288-319. 85 René Wetzel, Dúr daz wort, in daz wort, an daz wort. Die Engelberger Lesepredigten zwischen lectio, meditatio, contemplatio und Mystagogik, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. von Eckart Conrad Lutz, Martina Backes und Stefan Matter, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 11), S. 403-419, hier S. 412: „Während Lesen offenbar als ein einfacher, schneller und unproblematischer Vorgang angesehen wird, erweist sich die Betrachtung als komplexer und nimmt mehr Zeit bzw. Vertiefung in Anspruch. Ist Lesen ein Vorgang der intellektuellen Verarbeitung, so ist die Meditation oder Kontemplation ein psychischer Prozess, der die Gefühle betrifft und ins Herz zielt.“ Einleitung 40 „immersive Lektürepraktiken“ abzielen, 86 also nicht nur mit Strategien der Evokation von Unmittelbarkeit. Sie ist gerade geprägt von einer ‚Unterscheidungsemphase‘, 87 die diejenigen Textteile diskursiv einholt, die auf Nachvollzug ausgerichtet sind. Für die Rezipientinnen wird der religiöse Identitätsentwurf einerseits nachvollziehbar, andererseits ist es kein ungebrochen affektives Miterleben. Der Text hält stets sichtbar, dass nicht das sinnliche Aufgehen im Text, sondern erst die Umstrukturierung der eigenen religiösen Identität das Ziel ist. In der Analyse soll darum das Verhältnis von Strategien, die auf Nachvollzug abzielen zu solchen, die immersive Praktiken gerade unterbrechen, untersucht werden. Identität wird auf der Beschreibungsebene als kulturelle Konstruktion aufgefasst, da mit Eintritt ins Kloster ein neues religiöses Selbst über die Einübung von Praktiken hergestellt werden soll. Die Übungen dienen somit dazu, die neue Lebensform einzuprägen, sie sind Teil eines Habitualisierungsprozesses. Das Konzept der Habitualisierung, der Einübung eines Habitus im Kontakt mit der Umwelt, ist ein zentraler Bestandteil der Frage nach religiöser Identität. Darum soll im Folgenden näher gefasst werden, inwieweit die Figur auch über den Begriff von Habitus und Habitualisierung näher beschrieben werden kann. 1.3.2 Die einverleibte Praxis - Übung und Habitus Ein zentrales Thema der Klosterkultur, der die Vita entstammt, ist das Einüben in eine Grundhaltung, die in die Einheit mit Gott führt. Dieses Streben nach einer „klösterliche[n] Vervollkommnung [wurde] als Prozess der Habitualisierung verstanden […], der in der Einübung einer grundlegenden Selbstentäußerung mit dem Ziel bestand, gänzlich vom Willen Gottes durchformt zu werden.“ 88 Verschiedene Praktiken zielen darauf ab, eine solche Selbstentäußerung zu vollziehen. Lektürepraktiken, die auf die lectio divina und deren Einteilung in lectio, oratio, meditatio und contemplatio zurückgehen, sollen die inneren Sinne transformieren und ganz auf Gott ausrichten. Asketische Praktiken integrieren den körperlichen Nachvollzug in der imitatio 86 Den Begriff der ‚immersiven Lektürepraktiken‘ entwickelt anhand von Mechthilds von Magdeburg Fließendem Licht der Gottheit Bálazs J. Nemes, Der involvierte Leser. Immersive Lektürepraktiken in der spätmittelalterlichen Mystikrezeption, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42 (2012), S. 38-62. 87 Diesen Begriff entwickelt Susanne Köbele, Emphasis, überswanc, underscheit. Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse), in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009 (Germanistische Symposien. Berichtsbände), S. 969-1002, hier S. 994. Unterscheidungsemphase hebt darauf ab, dass Seuse, im Gegensatz zu Eckharts „Einheitsemphase“, ebd., die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz durch vernunftgemäße, wahre Unterscheidungen zu transgredieren sucht: „underscheit wird von Seuse geradezu als universales Instrument religiöser Selbstvervollkommnung konzipiert“, ebd. 88 Burkhard Hasebrink, sich erbilden, S. 123. Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 41 Christi. Der Versuch, sich mittels Selbsttechniken zu entäußern, birgt allerdings die Gefahr, dass die veräußerlichten Übungen das Selbst gerade nicht überschreiten können, sondern es immer wieder neu ins Spiel bringen. Die Übungen streben Transzendenzerfahrung an und, so konstatiert Peter Fuchs, produzieren paradoxerweise Immanenz: „immer, wenn man Transzendenz will, erhält [man], was man nicht will: Immanenz.“ 89 Ein prominenter Kritiker dieser äußerlichen Übungen bereits im Mittelalter war Meister Eckhart. Für Eckharts Reden der underscheidunge hat Burkhard Hasebrink jedoch gezeigt, dass Eckhart zwar gegen diese äußeren Übungen argumentiert, 90 gleichwohl greift er hier noch auf eine „Semantik der Habitualisierung“ zurück, die sich allerdings in der Alleinstellung der Abgeschiedenheit verabsolutiert: „und hatte Eckhart auch äußerliche Werke der Gottsuche als Chiffren des Eigenwillens entlarvt, so bleibt er in den ‚Reden‘ doch der Methodik verbunden, die diese Praktiken begleitete.“ Eckhart überträgt „das auf Kunst, Wiederholung und Gewohnheit basierende Modell der Habitualisierung auf die Abgeschiedenheit selbst.“ 91 Obwohl Eckhart der Methodik der Habitualisierung verbunden bleibt, tauchen die klösterlichen Praktiken nur noch als Negativfolie auf. Seuse geht in der Vita dagegen einen ganz anderen Weg. Was Eckhart terminologisch ausführt, bindet Seuse an ein Narrativ. Er greift die äußeren Übungen dabei ganz konkret auf und medialisiert sie in der Figur des Dieners. Dieser führt die verschiedenen klösterlichen Praktiken einerseits vor und reflektiert sie andererseits in zentralen Kapiteln. In diesen Kapiteln kommt es schließlich auch zur Umdeutung. Übungen werden danach nicht mehr mit den klösterlichen Praktiken verbunden, sondern mit Gelassenheit. In paradoxer Weise wird aber auch die Gelassenheit mit Methoden der Einübung in Beziehung gesetzt. Die Habitualisierungsformen werden dabei in Erzählverfahren der Wiederholung und Unterbrechung erzählt, reflektiert und umgedeutet. Die Vita ist geprägt von narrativen Wiederholungen, die die Übungen im Erzählen abbilden. Anders als bei Eckhart wird nicht auf einer terminologisch 89 Vgl. Peter Fuchs, Die Weltflucht der Mönche. Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens, in: Niklas Luhmann und Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt/ Main 1989, S. 21-45, hier S. 24. Vgl. auch Burkhard Hasebrink, sich erbilden, der die problematische Konstellation mit der Formulierung „Paradoxie der Weltverneinung“, S. 124, prägnant fasst. 90 Vgl. auch Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München/ Zürich 1987 (MTU 91), bes. S. 166-199, der die „Neubestimmung des Sinnes von üebunge durch Eckhart“, S. 166, beschreibt. Eckhart verschiebt, so Langer, die Übungen von der Ebene der Askese auf die Ebene des inneren Werks der Selbstvernichtung; auch Langer argumentiert, dass Eckhart in früheren Texten vom „traditionellen scholastischen Ansatz der Tugend als habitus ausgeht“, S. 185. Mit dem Begriff der Abgeschiedenheit überschreite er diesen Ansatz, „indem er die Abgeschiedenheit, die er als höchste Tugend des Menschen einführt, in der Abgeschiedenheit Gottes gründet und damit als habitus beseitigt.“ Ebd. 91 Burkhard Hasebrink, sich erbilden, S. 132. Einleitung 42 instruktiven Ebene eine Umdeutung der Klosterpraktiken vorgenommen, sondern auf der Ebene der Wiederholung in Kapitelreihen, also in „Vollzugsformen von Habitualisierung“ 92 . Almut Suerbaum differenziert in ihren Überlegungen zum St. Trudperter Hohelied, einer volkssprachlichen Hoheliedparaphrase, zwischen „Lehre als Vermittlung lernbarer Inhalte, die normativen Charakter haben, und der Prozesshaftigkeit von Lehre, die sich im Nachvollzug äußert und perfektioniert.“ Nachvollzug wird dabei als „Habitualisierung bestimmter spiritueller Haltungen“ 93 charakterisiert. Die Figur des Dieners scheint dabei genau auf der Ebene des Nachvollzugs und der Habitualisierung angesiedelt zu sein; sie entfaltet das Wissen um Gelassenheit nicht normativ, sondern als Prozess, der in der Lektüre nachvollzogen werden kann. Im Mittelpunkt der habitualisierenden Praktiken steht der Körper des Dieners, der Körper der Figur. Um sich einer kulturhistorisch verankerten Figurentheorie anzunähern, sollen einige Überlegungen zum Habitus-Konzept Pierre Bourdieus herangezogen werden, da Bourdieu in seinem Konzept ein Lernen am Körper mit dem sozialen Raum verbindet. Darüber hinaus kann sein Ansatz Aufschluss geben über den Zusammenhang der Einverleibung sozialer Dispositionen, die nicht mehr reflexiv aufgerufen werden müssen. 94 Der Habitus als vermittelnde Größe zwischen Individuum und Gesellschaft wird im Laufe der Sozialisation erworben. Die Habitusformen beschreibt Bourdieu dabei als „Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, 95 Dispositionen, die als Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata das praktische Handeln organisieren. Die Dispositionen erwirbt der Mensch, „weil der Körper […] exponiert ist, weil er in der Welt ins Spiel, in Gefahr gebracht wird, dem Risiko der Empfindung, der Verletzung, des Leids, manchmal des Tods ausgesetzt, also gezwungen ist, die Welt ernst zu nehmen“ - die 92 Bent Gebert, Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo- German Colloquium, hg. von Elke Brüggen [u.a.], Berlin/ Boston 2012, S. 143-168, hier S. 155. Bent Gebert erarbeitet das Potenzial der Habitus -Theorie Bourdieus für den Tugenddiskurs in der höfischen Epik. Er zieht dabei auch die Linien, die von Bourdieus „Begriffsarbeit am Habitus [bis in] die mittelalterliche Theologie und Philosophie selbst“ reichen, S. 155f. Im Mittelalter ziele „Habitualisierung […] auf die Verflechtung körperlicher und mentaler Dispositionen durch körperliche und mentale Instruktion“, ebd. Diese Verflechtungen im Modus instruktiver Rede lässt sich ebenfalls in der Vita beobachten, wenngleich die Vita auf die Transgression des inszenierten Habitus abzielt und nicht auf die Herstellung bzw. Subversion des Habitus im Tugenddiskurs. 93 Beide Zitate aus Almut Suerbaum, Die Paradoxie mystischer Lehre im ‚St. Trudperter Hohelied‘ und im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin/ New York 2009, S. 26-40, hier S.33. 94 Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, übersetzt von Achim Russer unter Mitwirkung von Hélène Albagnac und Bernd Schwibs, 3. Auflage, Frankfurt/ Main 2013 (frz. Original 1997), S. 181. 95 Ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, übersetzt von Günter Seib, Frankfurt/ Main 1993 (frz. Original 1980), S. 98 (Hervorhebung im Original). Figurenkonzeption - Figurenidentität - Figurenkonstitution 43 Dispositionen sind „die leibgewordene Gestalt“ der sozialen Welt. 96 In der Auseinandersetzung mit der Welt erwirbt der Mensch kognitive Schemata, frames, die sein praktisches Handeln organisieren. Aber nicht nur der Körper nimmt einen zentralen Stellenwert ein, auch der Prozess des Lernens und des Einübens ist wesentlicher Teil des Konzepts: „Wir lernen durch den Körper.“ 97 Durch tägliche Praktiken werden dem Körper die Dispositionen eingeschrieben, ja „wie unauslöschliche Tätowierungen“ 98 eingebrannt, sodass sie zu vorreflexiven Handlungsschemata werden. Der Lernprozess, in dem die Dispositionen einverleibt werden, wird „oft durch Emotion und psychisches oder sogar körperliches Leid eingeübt.“ 99 Der Habitus, der im übenden Lernen in der Auseinandersetzung mit der Welt erworben wird, verbirgt seine eigene Geschichte, sobald der Körper ihn einverleibt hat; er wird „für seinen Träger unsichtbar - er wird gleichsam zu seiner zweiten Natur.“ 100 Das Konzept, nach dem der Habitus durch „die Einverleibung kollektiver soziohistorischer Handlungsspiele zu individualen Dispositionen“ 101 generiert wird und zwar als Lernprozess, konvergiert dabei mit der Übungskultur des Klosters. Im Kloster läuft der Alltag habituell organisiert ab, Handlungsoptionen sollen nicht reflektiert werden, sondern nach eingeübten Regeln vorreflexiv abrufbar sein. Während Bourdieu allerdings die Primärsozialisation im Blick hat und weniger zu den Transformationsmöglichkeiten des einmal erworbenen Habitus arbeitet, 102 ist gerade der Eintritt ins Kloster gewissermaßen als Sekundärsozialisation zu beschreiben. Tatsächlich wird der Eintritt in Vitentexten häufig mit einem kêr, einer radikalen Abwendung von der Welt beschrieben: „Die Begriffe ‚erster anvang‘ und ‚kêr‘ bezeichnen […] den Zeitpunkt bzw. den Akt der eigentlichen Bekehrung, durch den das Individuum seine Weltliebe aufgibt und durch die Entscheidung für Gott ein neuer Mensch wird.“ 103 Dazu gehört 96 Ders., Meditationen, S. 180. 97 Ebd., S. 181. Zu Körperinszenierungen im Mittelalter aus Perspektive des Habitus-Konzepts von Bourdieu vgl. für die germanistische Mediävistik auch Gerhard Wolf, Verborgene Kalküle. Pierre Bourdieus ‚Reflexive Anthropologie‘, Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), hg. von Ursula Peters, Stuttgart/ Weimar 2001, S. 215-244. 98 Pierre Bourdieu, Meditationen, S. 181. 99 Ebd. 100 Bent Gebert, Poetik der Tugend, S. 157. Vgl. auch Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 105. 101 Bent Gebert, Poetik der Tugend, S. 157. 102 Vgl. Alexander Lenger, Christian Schneickert und Florian Schumacher, Einleitung. Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus, in: Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, hg. von dens., Wiesbaden 2013, S. 11- 41, hier v.a. S. 24ff. 103 Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie, S. 60-68, hier S. 60. An dieser Stelle beschreibt Langer den kêr, wie er in Texten aus Frauenklöstern inszeniert wird. Ähnlich wie bei der Radikalisierung der Übungen, stellt er dann Meister Eckharts Neubewertung der Umkehr als Radikalisierung dar: „Der kêr besteht nicht in der Loslösung von der Welt, sondern in der Brechung des Eigenwillens. Dadurch, daß Eckhart Einleitung 44 nicht nur die Abwendung von äußeren Dingen, sondern auch der Versuch, den eigenen, weltlichen Habitus zu überformen, also sich derjenigen Dispositionen zu entledigen, die man im Laufe der Sozialisation erworben hat. So entwickelt Seuse über die Figur des Dieners einen Lernprozess, bei dem der Körper und das Lernen am Körper im Zentrum stehen. Der soziale Raum, das Kloster, verfügt über ein ganz eigenes Regelwerk, das der Diener einüben muss, das er seinem Körper einschreiben möchte. In Seuses Vita wird allerdings eine ‚Regel‘ über die sozial gebundenen Ordensregeln gestellt. Es ist die Forderung einer radikalen imitatio Christi, die das Leiden als den Weg zu Gott weist. 104 Dieses Postulat stellt stets den Fluchtpunkt der Übungen dar: Jeder Versuch einer Habitualisierung wird als Einübung in die richtige Leidenshaltung beschrieben und damit als Versuch, sich Christus nicht nur geistig, sondern auch in körperlicher Übung anzunähern. Angleichung vollzieht sich in Seuses Vita auf der Ebene des Körpers, dem Gleichheit mit Christus eingeprägt werden soll. Ähnlich wie Eckhart amalgamiert Seuse dabei die tradierten Formen des regulierten Lebens und der üebunge mit dem Begriff der Gelassenheit, wobei Gelassenheit zum verabsolutierten Ziel wird: Im 19. Kapitel der Vita wird der Diener zur h  hsten sch  le geführt, wo er in die Kunst, das Wissen um die Gelassenheit eingeweiht werden soll. Gelassenheit und Schule werden enggeführt, das Lernen und Üben eines Lassens des Selbst zur paradoxen Grundforderung. 105 Leiden ist nun keine selbstverfügbare körperliche Übung mehr, sondern ein Aufgeben des Eigenwillens. Aufgrund der paradoxen Grundstruktur wird im Laufe der Textanalyse zu überlegen sein, wie weit das Konzept des Habitus zur Beschreibung einer Einübung der Gelassenheit tragfähig ist und ab welchem Punkt weniger von einer Habitualisierung, sondern eher von einer Dehabitualisierung zu sprechen wäre. 106 Denn die Gelassenheit mit ihrer Forderung, alles zu lassen einschließlich des eigenen Selbst, steht der Habitualisierung, die ja eine Selbstkonstitution im Zusammenspiel mit den Regeln eines sozialen Feldes bedeutet, gegenüber. Letztlich stellt sich die Frage, wie die das Problem verinnerlicht und als Auseinandersetzung mit sich selbst und nicht mit den Dingen versteht, radikalisiert er es“, S. 157. 104 Vgl. vor allem Kapitel 13: weist du nit, daz ich daz tor bin, dur daz alle die waren gotesfrúnd m  ssent in dringen, die z  rechter selikeit son komen? Du m  st den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du warlich komen z  miner blossen gotheit. (34,9ff.). 105 Auch Seuse bedient sich einer ‚Semantik der Habitualisierung‘, um die Gelassenheit in das Modell klösterlicher Übungsformen zu integrieren. Inwieweit das tradierte Modell auch überschritten wird, soll die Textanalyse zeigen. 106 Der Begriff der ‚Dehabitualisierung‘ wird auch im Forschungsprogramm des DFG-Sonderforschungsbereichs 1015 ‚Muße. Konzepte, Räume, Figuren‘ der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg diskutiert. Für diesen Hinweis danke ich sehr herzlich Burkhard Hasebrink, einen der Autoren des Forschungsprogrammes, der den Begriff der ‚Dehabitualisierung‘ in Bezug auf Muße einführt. Auch für Muße ist, ähnlich wie für Gelassenheit, die Zielrichtung und die Intentionalität, welche übenden Praktiken innewohnen, problematisch, widerspricht doch die Regulierung der Offenheit und Unbestimmtheit von Muße. Figur und Bild - Figur als Bild 45 Verbindung aus Übungen und Gelassenheit, aus Habitualisierung und Selbstvernichtung literarisch inszeniert wird und wie die Grenzen dieser Verbindung erzählt und - gegebenenfalls - transgrediert werden. Die verabsolutierte Regel, die die Vita aufstellt, nämlich das eigene Selbst mit dem Leben Christi zu überschreiben, um in die Einheit mit Gott einzutreten, könnte dabei in der Unsichtbarkeit des Habitus bestehen. Sobald die Regel in den Körper eingeschrieben ist, wird sie zu einem vorreflexiven Handlungsschema, wirkt sie ohne Intention. Das Paradox im geistlichen Text allerdings ist, dass mit der Intentionslosigkeit, also der Vernichtung des Eigenwillens, auch der Habitus transgrediert wird. Die Vita, so die Arbeitsthese, beschreibt eine Gleichzeitigkeit, in der in dem Moment, in dem der Habitus vollendet eingeübt ist, der Habitus transgrediert wird und der Mensch sich jeglicher Dispositionen entledigt hat. 1.4 Figur und Bild - Figur als Bild Die Figuren werden in der handschriftlichen Überlieferung nun nicht nur sprachlich-literarisch gestaltet, sondern auch über ein komplexes, eng auf den Text bezogenes Bildprogramm. Die materiellen Bilder wiederum sind Teil einer theologischen Bildtheorie, die Seuse in der bekannten Formulierung daz man bild mit bilden us tribe (191,9) pointiert zusammenfasst. Wenn Bilder überwunden werden sollen, so stellt sich die Frage, was das für die Figur als Vorbild bedeutet und in welchen Erzählverfahren die spekulative Bildtheologie auf das Erzählphänomen Figur selbst zurückwirken könnte. Die materiellen Bilder werden vor allem in ihrem Bezug zum Text, hinsichtlich ihrer Position und auf ihre Frequenz hin betrachtet, um die Figurenkonstitution in ihrem Wechselverhältnis zwischen Text und Bild zu beschreiben. In der Forschung zur Vita stand lange Zeit die Diskussion um die Autorschaft so sehr im Zentrum, dass andere Gebiete wie etwa die Verbindung von Bildprogramm und Text kaum diskutiert wurden. Martin Kersting, der 1987 eine Monographie zum Verhältnis von Text und Bild verfasste, weist auf die Vernachlässigung des Bildprogramms aufgrund der Dominanz der Echtheitsfrage in der Forschung hin. 107 Dies sollte sich in den folgenden Jahren ändern; das Bildprogramm der Vita beziehungsweise das Verhältnis von Text und Bild wurde ein Schwerpunkt der Forschung zur Vita. Bereits 1984 haben Edmund Colledge und J.C. Marler das Bildprogramm der ältesten überlieferten Handschrift aus Straßburg detailliert beschrieben. 108 Diese Handschrift wird in der 107 Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses. Untersuchungen zu den illustrierten Handschriften des Exemplars, Mainz 1987 (Diss. masch.), S. 6: „Daß die Bilder kaum Eingang in die Forschungsliteratur gefunden haben, mag zu einem Teil daran liegen, daß der Blick auf den Gehalt des Werkes Seuses jahrzehntelang durch den Streit um die Echtheit der Vita versperrt war.“ 108 Edmund Colledge O.S.A. und J.C. Marler, ‚Mystical Pictures‘ in the Suso ‚Exemplar‘, Ms. Strasbourg 2929, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 54 (1984), S. 293-354. Einleitung 46 vorliegenden Arbeit als zentraler Textzeuge für die Überlegungen zu Bildprogramm und Figurenkonzeption herangezogen. Sie wurde unmittelbar nach dem Tod Seuses angefertigt und stammt aus dem Johanniterhaus zum Grünenwörth, ist „aber nicht notwendig dort entstanden“. 109 Aufgrund der Argumentation von Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler wird Handschrift A als primäre Referenz verwendet. Sie können aufzeigen, wie sich im Laufe der Überlieferungsgeschichte das Bildprogramm zunehmend auf den Autor Heinrich Seuse verengt und die absichtliche Verrätselung von Autorschaft und Figur ihre Ambivalenz verliert; in Handschrift A dagegen wird die Figur des Dieners als exemplarisches Modell entworfen und gerade nicht als Autor Heinrich Seuse. 110 Altrock und Ziegeler zeigen auf überlieferungsgeschichtlicher Basis die Verengung auf den Autor. Sie äußern sich ausführlich zur Konstruktion der historischen Person Seuses, die sie als Ergebnis rezeptionsgeschichtlicher Interessen sehen: Die Überlieferung erst bezog die verstreuten Spuren aufeinander, die in verschiedenen Tradierungswegen und in den verschiedenen Texten des deutschen ‚Exemplars‘ und des lateinischen ‚Horologiums‘ vorhanden waren und eine Reihe von Identifikation zuließen: Die Identifikation zweier Namen, des (einem b  ch gegebenen) Namens Seuse und des (einer literarischen Rolle zudiktierten) Namens Amandus mit einer nur in der Schriftlichkeit und in Andeutungen greifbaren Autorfigur und die Identifikation von Namen und Autorfigur mit den verschiedenen Rollen des dieners, des jungers, des discipulus, die die Texte - und die Bilder - präsentieren. Dies setzt sich bis in die Gegenwart fort, in der sehr häufig die in allen Bildern des ‚Exemplars‘ mit der diener bezeichnete Figur mit ‚Seuse‘ benannt wird. 111 Altrock und Ziegeler gehen davon aus, dass die biographische Gleichsetzung der Figur des Dieners mit Heinrich Seuse erst Produkt der Rezeptionsgeschichte ist, die sich vor allem auch am Wandel des Bildprogramms ablesen lässt. Diese Offenheit der Figurenkonzeption findet sich, so Altrock und Ziegeler, in der ältesten Handschrift A am deutlichsten wieder. Ihre Argumentation nehme ich auf und gehe davon aus, dass Seuse die Figur als geistliches 109 Jeffrey F. Hamburger, Heinrich Seuse, ‚Das Exemplar‘, datiert sie um 1365-70, vgl. S. 175. Die Handschrift ist heute als Ms. 2929 im Besitz der Bibliothèque nationale et universitaire in Straßburg. Im Folgenden wird sie unter der Sigle A nach Bihlmeyer angeführt. Sie ist als Digitalisat auf der Homepage der Bibliothèque nationale et universitaire einsehbar: http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ lamystique-rhenane (15.01.2016), Handschrift Ms. 2929. Auf die Bilder der Handschrift verweise ich im Folgenden durch entsprechenden Hinweis auf die Seite im Digitalisat. 110 Vgl. Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler, Die Geburt des Autors im späten Mittelalter, und dies., Vom ‚diener der ewigen wisheit‘ zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses ‚Exemplar‘, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450, hg. von Ursula Peters, Stuttgart/ Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 150-181. 111 Ebd., S. 155. Figur und Bild - Figur als Bild 47 Modell angelegt hat, dessen biographische Konkretisierung nicht einsinnig auf den Autor zurückzuführen ist. In der Vita wie auch im Exemplar finden sich an verschiedenen Stellen Reflexionen zur Aneignung und Anwendung der Bilder. Die Rezeption wird immer wieder zum Thema gemacht, wenn es darum geht, den bildhaften Status des Sprechens explizit zu machen und auf die Vorläufigkeit dieser Bildhaftigkeit zu verweisen. Zentral für die Rezeption der Bilder sind die Forschungsarbeiten von Jeffrey F. Hamburger. Hamburger geht nicht nur von den Bildinhalten aus, sondern nimmt rezeptionsgeschichtliche Aspekte in den Blick. So arbeitet er heraus, dass die Bilder ein zentrales Moment der Unterweisung sind. Das Bildprogramm ist nicht nur illustrativ, sondern maßgeblich beteiligt an einem Modell, das zu einem vollkommenen religiösen Leben anleiten soll. Immer wieder werden verschachtelte Formen der Nachahmung entwickelt. 112 Die Zeichnungen bieten eine zweite Reflexionsebene, „sie bilden […] einen Kommentar zu den Vorstellungen, die im Text entwickelt werden. Und dies schließt auch Ideen über die Funktion von Bildern - sowohl von vorgestellten als auch von konkreten - im Rahmen der imitatio Christi ein“. 113 Als Bild kann auch die Figur des Dieners selbst verstanden werden. Durch explizite Hinweise in den Prologen und in zentralen deutenden Kapiteln wird die Figur des Dieners zum Vorbild, zur figura, die von den Rezipientinnen ständig auf das eigene Leben zu beziehen ist. 114 Der Status der Texte wird von Seuse selbst als figurata locutio, als bildhaftes Sprechen bezeichnet. 115 Die Lektüre setze eine „aktualisierende Hermeneutik“ 116 voraus, in der der Text nicht einfach als Unterweisung oder Didaxe rezipiert wird, sondern in Akten der Auslegung immer das eigene Leben deuten soll. Die Bildtheorie Seuses bezieht sich auf den Status 112 Grundlegend zur Vita und ihrem Bildgebrauch sind folgende Aufsätze: Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning: Authorship, Authority, and Autobiography in Seuse’s Exemplar, in: Christ among the Medieval Dominicans: Representations of Christ in the Texts and Images of the Order of Preachers, hg. von Kent Emery Jr. und Joseph Wawrykow, Notre Dame/ Indiana 1998 (Notre Dame Conferences in Medieval Studies 7), S. 430-461, und ders., The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns: The Case of Heinrich Suso and the Dominicans, in: The Art Bulletin 71 (1989), S. 20-46. 113 Jeffrey F. Hamburger, Heinrich Seuse, ‚Das Exemplar‘, S. 157. 114 In diesem Sinn nähert sich die Figur des Dieners der typologischen Auslegungsform an, wie sie Erich Auerbach als figura im Mittelalter entwickelt: Erich Auerbach, Figura, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern/ München 1967, S. 55-92. Zuerst in: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 436-489. Der Aufsatz findet in jüngerer Zeit wieder vermehrt Aufmerksamkeit, da er in der Figurenforschung häufig als Referenz angeführt wird. Eine intensive Auseinandersetzung mit den historisch unterschiedlichen Semantiken von figura, ausgehend von Auerbachs Aufsatz, bietet der Sammelband Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter, hg. von Christian Kiening und Katharina Mertens Fleury, Würzburg 2013. 115 Niklaus Largier, Figurata locutio. Hermeneutik und Philosophie bei Eckhart von Hochheim und Heinrich Seuse, in: Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen, hg. von Klaus Jacobi, Berlin 1997 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. Neue Folge 7), S. 303-332. 116 Ebd. Einleitung 48 des Sprechens, führt die Möglichkeit der Aneignung von Bildern ebenso vor wie ihre Gefahren und Grenzen. Damit gerät das Erzählen von der Figur ins Zentrum der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit einer Teilhabe am Göttlichen in der Zeit. Das materielle Bildproramm ist Teil der Bildtheorie Seuses. Bilder und bildhaftes Sprechen werden als Vehikel verwendet, um sich der Bildlosigkeit der göttlichen Einheit anzunähern. Diese Bewegung zwischen Anwendung und Überwindung von Bildern stellt Thomas Lentes in einem umfassenden Aufsatz dar. Er zeigt, wie zentral die Bilder auf dem Weg in die Bildlosigkeit für Seuse sind und stellt deren Status heraus. Von Formen der Bildandacht und Visionen, die im Frömmigkeitsmodell der dominikanischen Klosterkultur verankert sind, bis hin zu theologischer Bildspekulation entfaltet Lentes den Facettenreichtum der Bilder innerhalb der Vita. 117 Diese Bandbreite der unterschiedlichen Aspekte von Bild und Bildverwendung soll auf das Erzählphänomen ‚Figur‘ bezogen werden. Bildern ist eine Vorläufigkeit eigen, da sie Abwesendes sichtbar machen können, gleichzeitig läuft dadurch das Entzogene, nicht Sichtbare als Differenz immer mit. Seuse markiert diesen Entzug aufgrund der Differenz sehr deutlich, etwa wenn er den diener der ewigen wisheit in einem Dialog mit seiner Schülerin sagen lässt: wie kann man bildlos gebilden unde wiselos bewisen, daz úber alle sinne und úber menschlich vernunft ist? Wan waz man glichnust dem git, so ist es noh tusentvalt ungelicher, denn es glich sie. (191,6ff.) Bildern oder bildhaftem Sprechen von Gott ist immer die Ungleichheit eingeschrieben, auch wenn sie der Unterweisung als erste Hinführung dienlich sind. Nach Seuses Bildtheorie sind die im Text beschriebenen Figuren ebenfalls als bilde aufzufassen, die gleichzeitig vorführen können, wie man sich der Transgression der Bilder annähert, wie die Transgression selbst aber entzogen bleibt. Diese Bewegungen, so soll die Untersuchung zeigen, finden sich in literarischen Erzählverfahren, die die Transgressionen vom Bild in die Bildlosigkeit selbst zwar nicht zeigen können, die aber in der Lage sind, Verschiebungen darzustellen, die die Bildlosigkeit als Entzogenes stets mitlaufen lassen. Die Figur ist das zentrale Strukturprinzip der Vita. Sie bietet einen interpretatorischen Schlüssel zum Text. Da die Vita kein fiktionaler Text ist, sondern die Konstitution der Figur maßgeblich durch den kulturellen Kontext bestimmt ist, wurde ein Figurenmodell skizziert, das diese Gebundenheit reflektiert. So greift die Figur, deren religiöser Werdegang im Kloster erzählt wird, die dort gelebte Übungskultur auf und führt den Weg der Selbstperfektionierung vor. Die klösterliche Übungskultur sieht einen Identitätsentwurf vor, der in immer neuen Akten versucht, die Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz zu transgredieren. Die Habitualisierungsprozesse ebenso wie ihre Problematisierung können durch die Figur medialisiert und für die 117 Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes. Bildlichkeit bei Heinrich Seuse - statt einer Einleitung, in: Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, hg. von David Ganz und Thomas Lentes unter redaktioneller Mitarbeit von Georg Henkel, Berlin 2004 (KultBild. Visualität und Religion in der Vormoderne 1), S. 13-73. Aufbau der Analysekapitel 49 Rezipientinnen nachvollziehbar gemacht werden. Die Kategorien der performativen Identität und der Habitualisierung dienen dazu, dieses Experimentierfeld der Figur im Rahmen ihrer kulturhistorischen Verortung zu entschlüsseln und die Formen der (literarischen) Inszenierung zu beschreiben. Das Figurenmodell kann Fragen der Textualität damit ebenso aufnehmen wie Überlegungen zur außertextuellen Wirksamkeit. Es ermöglicht die Beschreibung der Figur zwischen literarischem Selbstentwurf, Transgressionsversuchen im Erzählen und der Aneignung in der Lektüre. 1.5 Aufbau der Analysekapitel Aus den entwickelten Fragestellungen ergibt sich der Aufbau der Textanalyse, die sich in drei Untersuchungsteile gliedert. Im ersten Teil wird beschrieben, auf welche Weise anthropologische und theologische Modelle auf die Konstruktion der Figur zurückwirken. An zentralen Stellen werden frames - tradierte Wissensbestände, die entschlüsselt werden müssen - aufgerufen und bilden ein dichtes Verweisnetz, das die Figur mit zusätzlichen Bedeutungsebenen auflädt. In diesem ersten Teil steht die Makrostruktur des Textes im Untersuchungszentrum, die sich über den Text spannt und ihn dadurch von anderen Vitentexten aus der gleichen Entstehungszeit und aus den gleichen Überlieferungszusammenhängen unterscheidet. Die Komplexität, die Seuses Vita auszeichnet, entsteht unter anderem durch diese Durchformung des Textes, der unterschiedliche frames aufgreift, die an Schlüsselstellen auftauchen. Komplementär zu dieser Makroperspektive wird im zweiten Teil eine textnahe Beschreibung der Figur entwickelt, wie sie sukzessive in den Kapitelreihen erzählt wird. In erzählchronologischer Abfolge wird gezeigt, wie die Figur als narrative und religiöse Identität entworfen wird. An den Erzählverfahren des ersten Teils sollen die theoretisch entwickelten Fragen nach Formen der Habitualisierung und Einübung sowie deren Überschreitung diskutiert werden. Zentral für die Konstitution der Figur ist der Bezug zur Liturgie als Aufnahme und literarische Verarbeitung des kulturhistorischen Entstehungskontextes. Die Bezüge zur Liturgie sind nicht nur als Referenzen zu verstehen, sondern sie konstituieren die Figur überhaupt erst. An Schlüsselszenen kann gezeigt werden, wie aus dem Umgang des Dieners mit der Liturgie das Erzählen initiiert wird. Im Sinne einer dichten Beschreibung sollen so „the narrative surroundings“ aufgenommen werden, 118 um den Text nicht als Gegenpart zum Kontext zu beschreiben, sondern als dessen produktive Aufnahme und narrative Entfaltung. Im dritten Untersuchungsteil wird die Figurenkonstellation der Vita analysiert. Durch die Einführung von Elsbeth Stagel als Musterrezipientin im zweiten, von der Forschung bisher vernachlässigten Teil stellt der Text die Rezeptionssituation und die Aneignung des Gelesenen selbst aus. Aufschlussreich ist 118 Catherine Gallagher und Stephen Greenblatt, Practicing New Historicism, Chicago 2000, S. 25. Einleitung 50 dabei die Frage, wo und wie Elsbeth überhaupt auftaucht, wie anhand ihrer Figur die Rezeptionssituation gestaltet wird und wo Unterschiede zum ersten Teil liegen. Der zweite Teil wurde in der Forschung häufig dem geschlossen erzählten ersten Teil entgegengestellt und entsprechend qualitativ abgewertet. Es wird darum zu überlegen sein, ob sich die offenere Form der Textgestaltung und die ganz andere Konstitution der zweiten Hauptfigur erklären lässt und welche Funktion möglicherweise dahinter steht. Zudem stellt sich die Frage nach der Gestaltung der spekulativen Schlusskapitel. Auch für diese Kapitel ist zu überlegen, welchen Status die Figur hat und inwieweit narrative Verfahren geradezu auf einen Abschluss der religiösen Figurenidentität abzielen. 2 Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung Die Figur des Dieners kumuliert nicht nur Textinformationen, die die Rezipientinnen linear zu einer Einheit aggredieren. 1 Sie wird auch über Verknüpfungen mit theologischen, anthropologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Modellen konstituiert, die ihrerseits ineinander verschachtelt sind und die Figur in einen komplexen Wissensrahmen stellen. Die Figur wird mit außertextuellen frames verknüpft, die an zentralen Stellen aufgerufen werden. So wird einerseits die Figur in spezifischen kulturellen Rahmungen konstruiert und erzählt, andererseits erfahren die verwendeten, teils sehr abstrakten Modelle eine Konkretisation, da die Figur sie verkörpern, aktualisieren und dynamisieren kann. Die Modelle verbleiben nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern können in der Erzählung narrativ entfaltet werden. Im ersten Teil der Textanalyse werden drei zentrale außertextuelle Modelle analysiert, die mit der Figur verknüpft werden. Da sie auf unterschiedlichen Ebenen liegen, werden drei Beschreibungsbegriffe für sie eingeführt: Strukturmodell, Modellfigur und Figurenmodell. Die Modelle werden nicht von außen an den Text angelegt, sondern aus der historischen Selbstbeschreibung heraus entwickelt. Seuse zieht bekannte Modelle heran, die auch in anderen Kontexten auftauchen, in Predigten oder Traktaten. Sie gewinnen aber in der Vita eine ganz spezifische Qualität, da sie in der narrativen Entfaltung nicht explizit aufgerufen werden müssen, sondern auch implizit mitlaufen können und im Narrativ Umdeutung, Neuausrichtung oder Transformation erfahren können. 2.1 Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg Im Prolog des Exemplars, der der Vita vorangestellt ist, wird als zentrales, die Figur generierendes Modell der sogenannte Dreistufenweg expliziert. Dieses tradierte Modell eines geistigen Aufstiegswegs wird im Folgenden als Strukturmodell bezeichnet, da es das Narrativ in eine spezifische Form bringt. Es ordnet den Text in die Stufen des anfangenden, fortschreitenden und vollkommenen Menschen. 2 Der Dreistufenweg wiederum ist kombiniert mit weiteren 1 Für die Textanalyse verwende ich ausschließlich die weibliche Form ‚Rezipientin‘, vgl. Kapitel 1.1 Theoretische Vorüberlegungen zur Figurenkonzeption, Anm. 7. 2 Bruno Quast, Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion, diskutiert die Vita als Dekonstruktion eines Aufstiegwegs, da sie den Anfang immer wieder textuell inszeniere Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 52 Ordnungsmodellen. Dem anfangenden Menschen ist das anthropologische Modell vom inneren und vom äußeren Menschen zugeordnet: in weler ordenhafti ein reht anvahender mensch sol den ussern und den inren menschen richten nah gotes aller liepsten willen. Vom fortschreitenden Menschen erzählt das Exemplar (es sait) in einem ordnenden Dreischritt: mit miden und mit lidenn und  benne. Die Übungen, so kommentiert der Prolog, führen schließlich im durpruch von der vihlichkeit zur heilikeit. 3 Als Paratext hat der Prolog eine kommentierende und leserlenkende Funktion. 4 Er zeigt an, welche abstrakten Modelle ‚hinter‘ der Figur stehen und durch sie, die Figur, einen narrativen - und ikonographischen - Körper erhalten. Im Prolog wird also bereits ein Ordnungsmuster eingeführt, das das Lebensnarrativ systematisch gliedert. Die Figur wird schon vor dem Textbeginn in einen ordnungs- und sinnstiftenden Rahmen eingefügt, in dem sie ihre Grundstruktur erhält. Sie wird nicht erst durch die Informationsvergabe im Text konstituiert, sondern die Informationen werden den Rezipientinnen bereits im Prolog in einem Strukturmodell präsentiert. Gleichzeitig werden die drei Stufen, die die abstrakte Verräumlichung eines Heiligkeitskonzepts sind, im Lebensnarrativ des Dieners konkretisiert, und erhalten durch ihn Gestalt. 5 Figur und Struktur determinieren sich gegenseitig. Während die Figur in der Systematik des dreifachen Aufstiegswegs konstituiert wird, kann die abstrakte Struktur des dreifachen Aufstiegswegs über die Figur konkretisiert werden. Dieser strukturelle Rahmen überspannt den Gesamttext und verbindet die Teile der Vita zu einer kunstvollen, geschlossenen Gesamtkomposition - zumindest im ersten Teil, dem Leben des und so auch das Ende des Erzählens nur der Anfang sei, nämlich der Anfang des „in Gott Eingegangenseins“, S. 166. Quast nivelliert damit die unterschiedlichen Stufen, letztlich verbleibe „Seuse ein anfangender Mensch“, S. 165. Da die Vita allerdings eine deutliche Zäsur im 19. Kapitel aufweist, in dem das Konzept der Gelassenheit eingeführt wird, gehe ich von einer Umdeutung des geistlichen Weges aus, der nicht mehr auf klösterliche Praktiken ausgerichtet ist, sondern auf das Innerste des Menschen. Dennoch lese ich den Stufenweg auch nicht als konsequent durchgeführtes Muster, wie die folgenden Ausführungen, v.a. zum durpruch zeigen. 3 Der Begriff des Durchbruchs signalisiert bereits im Prolog die Grenzen des Stufenwegs. Die literarische Form des Aufstieges kann kontrolliert entwickeln, wie über Übungen eine Transformation des eigenwilligen Selbst angestrebt wird. Die letzte Stufe, die Vollkommenheit, ist aber nicht mehr technisch durch Übungen und Habitualisierung zu erreichen, sondern es bedarf des Durchbruchs, der gerade die Überwindung des intentionalen Handelns in den Übungen anzeigt. 4 Die Vita ist in den überwiegenden Fällen im Verbund des Exemplars überliefert: In 15 Handschriften und 2 frühen Drucken findet sie sich nach dem Prolog zum Exemplar. Aufgrund dieser Anlage der Texte als intendierte Gesamtüberlieferung wird hier ein enger Bezug zwischen dem Exemplar-Prolog als Paratext und der Vita angesetzt. 5 Markus Stock, Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie, kritisiert an Fotis Jannidis, Figur und Person, einen Mangel an historischer Konkretion und fordert für eine historische Narratologie, dass die „jeweiligen kulturellen Konzepte“ (hier zitiert Stock Jannidis, S. 239) „stärker in die narratologische Modellierung eingebracht werden“, S. 192. Durch den Prolog fordert die Vita dieses Desiderat geradezu ein, expliziert sie doch gleich mehrere historisch-kulturelle Modelle, die im Leben des Dieners konkretisiert werden. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 53 Dieners. Das Strukturmodell des Exemplar-Prologs ermöglicht von Anfang an eine vorstrukturierende Perspektive auf den Text. Die Vita wird gerahmt von zwei Passagen, die die kulturellen Modelle explizit machen. Denn der Prolog wird im letzten, dem 53. Kapitel wieder aufgenommen. Dort dankt die geistliche Tochter des Dieners der ewigen Weisheit und dem Diener, dass er sie unterwiesen hat. Dabei greift sie wörtlich auf den Prolog und auf das verschachtelte Modell aus Aufstiegsvorstellung und Handlungsanweisung zurück: gelopt sie dú ewig warheit, daz ich von úweren wisen und leblichen worten so schon bewiset bin daz ersten beginnes eins anvahenden menschen, und der ordenlicher mitel midens und lidens und  bens eins z  nemenden menschen, und mit g  tem underscheide in togenlicher wise der aller nehsten blossen warheit. (194,3) Wie schon im Prolog erscheint der Dreistufenweg in der für die Vita charakteristischen Kombination des fortschreitenden Menschen mit dem Dreischritt Meiden-Leiden-Üben und des vollkommenen Menschen mit der auf Distinktion beruhenden Einsicht in die Wahrheit, in Gott. Der Prolog und das Ende der Vita klammern die Erzählung ein, bilden den Strukturrahmen, in dem das Narrativ entfaltet wird. Das Ende der Vita zeigt einen gewissen Verschiebungswillen des Autors, denn die Evokation des Modells ist zwar wie eine Klammer, dennoch ist sie nicht das Ende des Textes. Die Worte der Tochter, die sich in ihrem emphatischen Gestus durchaus als Ende geeignet hätten, werden erneut narrativ eingeholt. Im letzten Abschnitt wird ein Brief präsentiert, in dem der Diener ihr nahelegt, sich nun aller Fragen zu entledigen, Friede in stiller r  w (194,19) zu finden und auf den Tod zu warten. Auch mit diesem Brief endet die geistliche ‚Karriere‘ der Tochter nicht, sondern erst mit ihrem Tod, der mit einer Vision einhergeht, in der der Diener sieht, wie adellich sin die blossen gotheit vergangen were. (194,27). Mit einer Apostrophe, die sich an die Leserinnen und an Gott wendet, schließt der Text, der nun in einer Zeichnung verlängert wird. Die sogenannte via mystica 6 nimmt dabei Bezug auf das im letzten Gespräch zwischen Tochter und Diener erörterte Wissen. Das Ende wird immer wieder verschoben, weiter erzählt, um schließlich in einem systematischen Bild endgültig abzuschließen. 7 Geht man davon aus, dass der Prolog erst nach der Entstehung der Texte verfasst wurde - das suggeriert der Prolog zumindest selbst -, um diese zusammenzufassen und einzuleiten, so sieht man die Sorgfalt, mit der eine Rahmung geschaffen wurde. Aus der Vita wurde ein markantes Zitat ausgewählt, das die 6 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 169 (folio 82 r ). 7 Christel Meier, Typen der Text-Bild-Lektüre. Paratextuelle Introduktion - Textgliederung - diskursive und repräsentierende Illustration - bildliche Kommentierung - diagrammatische Synthesen, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. von Eckart Conrad Lutz, Martina Backes und Stefan Matter, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 11), S. 157-181, diskutiert die paratextuelle Funktion von Bildern für Texte. Gerade für das Exemplar ist diese Funktionalisierung interessant, da es mit einem Bild öffnet, das sich vor allem auf die Vita bezieht, die wiederum mit einem Bild abgeschlossen wird. Das Narrativ wird also innerhalb einer Rahmung durch Bilder entwickelt. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 54 Struktur des Dreistufenwegs deutlich macht. Indem diese Grundstruktur, die der Vita selbst ja nur implizit eingeschrieben ist, am Anfang schon herausgestellt wird, bekommt die Lektüre eine deutlich strukturierte Rezeptionsrichtung. Das Modell eines Stufenwegs, das im Prolog expliziert, im Text über die Figur des Dieners im ersten Teil narrativ entworfen und im 53. Kapitel von der Tochter aufgegriffen wird, steht am Ende der Vita im Bild synthetisiert und systematisiert. Was im Verlauf der narrativen Entfaltung facettenreich durchgespielt wurde, wird hier nun als Schema zusammengefasst. In der bekannten Zeichnung der via mystica wird Abstieg und Aufstieg in Kombination mit dem äußeren und inneren Menschen, mit dem Leiden in der Nachfolge Christi sowie mit dem Leitbegriff der Gelassenheit kombiniert und systematisch dargestellt. Schematisch werden am Ende die Modelle zusammengefasst, die der Prolog des Exemplars ausführt. Am Anfang und am Ende werden tradierte Ordnungssysteme verwendet, über die die Figur und ihre Bedeutungen konstruiert werden kann. Nicht vorausgesetzt ist damit, dass die Rezipientinnen diesem Ablauf so schematisch folgten, wenngleich die Lektüreanweisungen im Prolog sehr explizit sind. Der Reiz der Vita ist vielmehr, dass man sie von beiden Seiten her lesen kann: Entweder als Entfaltung eines vorgegeben abstrakten Modells, dann geht man vom Prolog aus. Oder als religiöse Biographie, die immer stärker auf die Abstraktion eines Modells hin erzählt, um in den letzten Kapiteln bei spekulativen Ausführungen anzukommen, die die theologischen Modelle wieder explizit machen und die Figuren als Verkörperungen zurücknehmen. Im Prolog werden beide Leserichtungen markiert. Dort wird betont, dass das Strukturmodell im Text selbst in bildgebender wise, also in bildhafter Auslegung, erzählt wird und dass das Buch togenlich ze erkennen [git] (3,4), auf verborgene Weise lehrt. Der Prolog macht die Struktur stark, die in der Vita selbst nur implizit umgesetzt wird. Er leitet an zu einer spezifischen Lesehaltung. Aber erst in der Lektüre des Textes wird durch die konkreten Vollzüge der Figur nachvollziehbar, wie das abstrakte Strukturmodell umzusetzen ist - um am Ende wieder beim abstrakten Strukturmodell im letzten Kapitel anzukommen. Wenn hier von Strukturmodell die Rede ist, so ist damit nicht im strukturalistischen Sinn ein universalistisches Modell zur Textanalyse zu verstehen. Vielmehr ist es ein kulturelles Strukturmodell, das eine religiöse Semantik transportiert. Das Stufenmodell tradiert seit dem Platonismus Aufstiegs- und Abstiegsvorstellungen, hier natürlich in spezifisch christlicher Prägung. 8 Im Grundmodell des Erzählens in der Vita konvergieren somit Struktur und religiöse Kultur. Und innerhalb dieses Rahmens - dieses frames, im textuellen wie außerliterarischen Sinn - wird die Figur des Dieners erzählt. Die Figur verkörpert, und das unterscheidet sie ganz grundsätzlich von Figuren in fiktionalen 8 Einen Abriss über die historisch unterschiedlichen Akzentuierungen de r Aufstiegs- und Abstiegsmodelle seit dem Neuplatonismus gibt Walter Haug, Wendepunkte in der Geschichte der Mystik, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von dems., Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 357-377. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 55 Texten, bestimmte religiöse Leitmodelle, die nicht nur in der Vita verwendet werden, sondern auch in anderen Textsorten, etwa Predigten und Traktaten. Während sie dort aber als abstrakte Konzepte verwendet werden, kann die Vita die religiösen Modelle narrativ entfalten und damit beobachtbar und nachvollziehbar machen. Für die weibliche Vitenliteratur wurde von Béatrice Acklin Zimmermann der Begriff der ‚narrativen Theologie‘ fruchtbar gemacht. 9 Theologische Modelle und Konzepte, so ihre Grundthese, werden in der Textsorte Vita nicht diskursiv entwickelt, sondern narrativ entfaltet. Acklin Zimmermann zeigt, wie die Nonnenviten theologische Fragestellungen, etwa die der Eucharistie, innerhalb der Lebensbeschreibungen reflektieren und literarisch inszenieren. Bei Seuse ist die Narrativierung von theologischen Modellen aber auch die Grundstruktur des Textes. Mir geht es nicht nur um konkrete Phänomene wie Eucharistie oder Passionsfrömmigkeit. Vielmehr möchte ich davon ausgehen, dass die Vita basale Modelle wie den Dreistufenweg oder die Unterscheidung in inneren und äußeren Menschen aufgreift und im exemplarischen Leben des Dieners erzählbar macht. Narrative Theologie in der Vita Seuses wäre also das Erzählen von anthropologischen wie theologischen Modellen, die in erzählerischer Entfaltung Spannungen und Paradoxien erst beobachtbar machen. Damit steht nicht die „theologische Erschließung“ 10 der Vita im Fokus, sondern ihre narrative Erschließung. 2.1.1 Spannungen des Strukturmodells Die Vita - im Gegensatz zum Prolog als Paratext - stellt die ihr zugrunde liegende Anthropologie, die Kombination aus Aufstiegsweg und der Vorstellung vom inneren und äußeren Menschen, im ersten Teil nicht explizit aus. Sie erzählt sie, gemäß ihrer Gattung, über das Narrativ eines exemplarischen Lebens. Anders als beispielsweise in den ungefähr zeitgleich entstandenen Predigten Johannes Taulers, der sich explizit und häufig zu Anthropologie und zur Stufenlehre äußert, 11 wird diese in der Vita implizit und narrativ entfaltet. Das Aufstiegs- und Wegmodell, das in seiner christlichen Deutung bis auf Origines 9 Béatrice Acklin Zimmermann, Die Nonnenviten als Modell einer narrativen Theologie, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 563-580. Sie greift zurück auf Harald Weinrich, Narrative Theologie, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 9 (1973), S. 329-334, „der das Programmwort der ‚narrativen Theologie‘ aufgebracht hat.“ Acklin Zimmermann, Die Nonnenviten als Modell, S. 568, Anm. 17. 10 Ebd., S. 569: Da die Nonnenviten narrative Texte sind, sei „der Weg zur theologischen Erschließung der Schwesternbücher als ein narrativ geebneter gleichsam vorgegeben.“ 11 Dazu Louise Gnädinger, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, mit den Kapiteln ‚Innerer und äußerer Mensch: ein Mensch‘, S. 129ff. und ‚Die Drei-Wege-Lehre‘, S. 147ff. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 56 zurückgeht, 12 weist im Spätmittelalter einen hohen Allgemeinheitsgrad auf: „Die ‚Vita‘ schildert einen Weg. Es ist der traditionelle Dreistufenweg vom ‚beginnenden‘ über den ‚fortschreitenden‘ zum ‚vollendeten‘ Status des geistigen Menschen. ‚De triplici via‘ Bonaventuras [...] könnte der Vermittler sein, aber das Modell war so allgemein im Gebrauch, daß man nicht an eine spezielle Quelle denken muß.“ 13 Stufenmodelle in Kombination mit Zahlen erfreuen sich insgesamt großer Beliebtheit, so etwa bei David von Augsburg und seinen Sieben Staffeln des Gebets, 14 bei Marguerite Porete, die ihre Aufstiegsspekulationen im Mirourer des simples ames ebenfalls in sieben Stufen konzipiert, 15 aber auch der ansonsten jegliche Stufungen vermeidende Meister Eckhart verwendet, unter Rückgriff auf Augustinus, in seiner Predigt Vom edlen Menschen ein Stufenmodell. 16 Die Vorstellung vom zählbaren Aufstieg, der 12 So z.B. Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 1: Ursprünge. Aus dem Englischen übersetzt von Clemens Maaß, Freiburg/ Br./ Basel/ Wien 1994 (engl. Original 1991), S. 176: „Origines strukturiert den exegetisch-mystischen Aufstieg der Seele nach dem grundlegenden, dreifachen Muster der Pädagogik, das er aus der griechischen Philosophie übernahm und von dem er behauptete, es könne rechtens einzig aus der Schrift gelernt werden.“ 13 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 445f. Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes. Persuasive Strategien bei der Verwendung von Bibelzitaten im Dienste seiner pastoralen Aufgaben, in: Das ‚einig Ein‘. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik, hg. von Alois M. Haas und Heinrich Stirnimann, Freiburg/ Ue. 1980 (Dokimion 6), S. 281 - 367, arbeitet zum Verhältnis des Stufenwegs zu den biblischen Figuren. Da die biblischen Figuren in der Vita in der vorliegenden Arbeit als ‚Figurenmodelle‘ verstanden werden, soll der Aufsatz im entsprechenden Kapitel diskutiert werden. Festzuhalten bleibt, dass Michel davon ausgeht, dass „[d]ie beiden Teile der ‚ Vita‘ [...] als kongruentes Raster die ‚via triplex‘ [...] [haben], das im ersten Teil durch den ‚itinéraire s pirituel‘ Seuses gefüllt, im zweiten Teil durch die Weitergabe dieser Erfahrung bestimmt ist“, S. 308. 14 David von Augsburg, Die Sieben Staffeln des Gebetes. In der deutschen Originalfassung, hg. von Kurt Ruh, München 1965 (Würzburger kleine Prosadenkmäler des Mittelalters 1). 15 In ersten Kapitel werden die sieben ‚Seinsweisen‘ angesprochen, die abgelegt werden müssen, um zur perfekten Seinsweise zu gelangen: Et dit ainsy Amour pour vous: Ils sont sept estres de noble estre, desquieulx creature reçoit estre, se elle se dispouse a tous estres, ains qu’elle viengne a parfait estre; et vous dirons comment, ains que ce livre fine. Marguerite Porete, Le Mirouer des simples ames / Margaretae Porete, Specvlvm simplicivm animarvm, hg. von Romana Guarnieri und Paul Verdeyen SJ, Brepols 1986 (Corpvs Christianorvm. Continuatio Mediaeualis LXIX), S. 14. 16 Kurt Ruh bewertet den Stufenweg bei Eckhart nicht nur als „ungewöhnlich, ja einmalig im Rahmen der Eckhartschen Spiritualität“. Die Stufung stelle darüber hinaus „im Rahmen dieser Predigt ein fremdes Element [dar], da deren dritter Teil, für Eckhart der entscheidende, das Eine zum Gegenstand hat“, Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 320. Auch in der Vita der Gertrud von Ortenberg findet eine Auseinandersetzung mit dem Stufenweg statt, vgl. Martina Backes, Eine Stadt voll der Gnaden. Straßburg aus der Perspektive Gertuds von Ortenberg, in: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Strassburg, hg. von Jeffrey F. Hamburger, Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer, Berlin/ Boston 2012 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 4), S. 29-38, hier S. 36ff. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 57 letztlich die Zählung transzendieren muss und die letzten Staffeln im Durchbruch ‚überspringt‘, erweist sich als fruchtbares Strukturmodell. Beim Dreistufenweg ist konkreter an Bonaventuras De triplici via zu denken, aber auch an den Itinerarium mentis in Deum, der, wie Susanne Köbele zeigt, ebenfalls daran arbeitet, Stufenwege zu paradoxieren und kollabieren zu lassen. 17 In ihrem Aufsatz weist sie auch auf Gründe für das Aufkommen hierarchisch gestufter Stufenmodelle hin. Da das Streben nach Vollkommenheit, also nach transzendenter Erfüllung in der Immanenz, notwendigerweise von Widersprüchen geprägt sei - etwa durch die Forderung absoluter Intentionslosigkeit -, müssen Modelle entwickelt werden, die auf „das Doppelrisiko unendlicher Progression und Täuschungsanfälligkeit religiöser Vollkommenheitsansprüche“ 18 antworten. Eine mögliche Antwort seien dabei „Stufenmodelle [...], die den spirituellen Fortschritt immer entschiedener an eine systematisch ausdifferenzierte Hierarchie binden [...], so dass die einzelnen Schritte auf dem Weg zur Vollkommenheit präziser regulierbar und d.h. auch kontrollierbar werden.“ 19 Seuse wendet das Stufenmodell mit den Implikationen dieser Entparadoxierung auf die Gattung Vita an. Auch er schildert in der Vita die Spannung zwischen Übung und Intentionalität, die im 19. Kapitel überführt wird in die Forderung nach rechter gelassenheit. Mit diesem Konzept aber wendet sich Seuse dezidiert ab von einem Modell, das reguliert und kontrolliert einen Aufstieg beschreibt. Regulierung und Kontrolle stehen konträr zur Gelassenheit, die ja eine völlige Selbstaufgabe und damit ein Aufgeben jeglicher Regulierung und Intentionalität bedeutet. Innerhalb dieses Konzepts der Gelassenheit gerät die Narration darum immer wieder an ihre Grenzen, denn wie kann man das Lernen der Gelassenheit - im 19. Kapitel ist ausdrücklich von der sch  le die Rede, wo die kunst rechter gelassenheit erlernt werden muss - erzählen, wenn nicht in Wiederholungen? Lernen bedeutet schließlich Einüben und Einüben bringt das Risiko der Intentionalität mit sich. Das Strukturmodell und die Gelassenheit stehen in einem spannungsvollen Verhältnis. 20 In der Forschung wird die Vorgabe des Prologs zumeist inhaltlich auf die Vita appliziert, das heißt, die thematisch geordneten Kapitel werden 17 Vgl. dazu Susanne Köbele, Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum (1259), in: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. von Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 3), S. 156-178. 18 Ebd., S. 157. 19 Ebd. 20 Bruno Quast, Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion, stellt zur Diskussion, ob man nach dem Bekehrungserlebnis im 20. Kapitel „von einer radikalen Änderung reden kann“ und ob der Diener nicht weiterhin auf der Stufe des anfangenden Menschen verbleibe, S. 165. Seuse beantwortet diese Frage nicht eindeutig, sondern implizit. Für eine radikale Änderung spricht die Tatsache, dass die Belegstellen für den anfangenden Menschen nach dem 19. Kapitel abbrechen, sowie die starke Fokussierung auf die Gelassenheit. Denn obwohl der Diener ein Übender bleibt, ist die Einübung in die Gelassenheit in der oben genannten Weise ein paradoxes Unterfangen, das den Anfang religiöser Einübung hinter sich gelassen hat. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 58 systematisch den drei Stufen zugewiesen. 21 Hier soll dagegen in einem ersten Schritt nicht so sehr von der inhaltlichen Ebene der narrativ entfalteten Stufen ausgegangen werden. Die nähere Betrachtung von konkreten Textbelegstellen für die drei Stufen wird vielmehr zeigen, dass der Aufstieg weniger linear zu verstehen ist, als das Strukturmodell selbst suggeriert. Wenn der Prolog des Exemplars den Dreistufenweg als Struktur setzt, so soll diesem über die sprachliche Realisierung im Narrativ selbst nachgegangen werden. Schon Georg Misch wies darauf hin, dass der Prolog das Modell stärker macht, als es der Text umsetzt: „So stark ist hier das Stufenmäßige des Lebensweges und seine regelhafte Ordnung betont, daß man einen rationalen Aufbau des Ganzen erwartet.“ Seuse bediene sich dieser Form dann aber nicht streng formal, sondern „als Dichter“. 22 Auch Gisela Baldus grenzt die Reichweite des Strukturmodells ein: „Seuse kennt, so dürfen wir nun sagen, den Gedanken des dreigeteilten mystischen Weges; in seinem Werk findet er sich jedoch nicht in der typischen und streng aufgebauten Form, die in anderen mystischen Schriften [...] angewandt ist.“ 23 Im Prolog des Exemplars wird der Dreistufenweg ostentativ aufgerufen, wenn vom anvahenden lebene, vom z  nemenden menschen und vom durpruch die Rede ist. In der Vita selbst wird ebenfalls immer 21 So zum Beispiel bei Walter Blank, Heinrich Seuses ‚Vita‘. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion seines Schrifttums, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 285-311. Er führt den Dreistufenweg aus, dem er systematisch Kapitel zuordnet, vgl. Tabelle S. 289. Interessanterweise verweist er dabei aber nicht auf den Prolog des Exemplars, um dieses Modell für seine Einteilung zu plausibilisieren, sondern setzt es stillschweigend voraus. Stattdessen bezieht er sich in Anmerkung 10 auf Kapitel 36 der Vita, in der die via triplex als Allegorese einer Vision verwendet wird, die der Diener an die kranke Elsbeth Stagel sendet. Dort ist das Modell aber auf einer Metaebene verwendet, wird also erzählt und nicht als Grundmuster gebraucht, das das Narrativ strukturiert. Er betont vor allem den systematischen Aufbau der Vita, den er von der Makrostruktur bis zu den einzelnen Kapiteln nachzeichnet, S. 288ff. Blank sieht als das „übergeordnete Anlageprinzip [...] die zweimalige Wiederholung des dreigestuften Wegemodells vom anfangenden über den zunehmenden zum vollkommenen Menschen, wobei sich dieses spirituelle Aufstiegsmodell spiegelt in den beiden ‚Biographien‘ des ‚Dieners‘ und seiner geistlichen Tochter“, S. 293f. Da er die Systematik so massiv in den Vordergrund stellt, geht er entsprechend nicht auf Sprünge und Paradoxien im Aufstieg ein, die sich etwa im Ausdruck durpruch finden. Vgl. auch Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, S. 309. Nicht von ungefähr verwenden beide Aufsätze Tabellen, um die Struktur der Vita abzubilden. Dabei suggeriert die Tabelle die Möglichkeit, den Stufenweg bis zum Ende, bis Kapitel 32, linear nachzeichnen zu können. 22 Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 4,1, aus dem Nachlass hg. von Leo Delfoss, Frankfurt/ Main 1967, S. 216. 23 Gisela Baldus, Die Gestalt des ‚dieners‘ im Werke Heinrich Seuses, Diss. Univ. Köln 1966. URN: urn: nbn: de: hbz: 38-42351. URL: http: / / kups.ub.uni-koeln.de/ id/ eprint/ 4235 (15.01.2016), S. 67. In einem Kapitel zum anfangenden, zunehmenden und vollkommenen Menschen macht sie grundlegende Textbeobachtungen. Sie stellt Belegstellen für das Dreistufenmodell im gesamten Exemplar zusammen und beobachtet eine Reduktion der Stufen. Sie deutet auch, wie oben zitiert, die freie Verwendung des Modells bei Seuse an, führt ihre Beobachtungen aber nur kurz aus, S. 66f. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 59 wieder auf die drei Stufen referiert. Aber die Entfaltung ist weniger systematisch und bereits in der Umsetzung wird die Problematik des Stufenwegs als vermittelt gedachter Aufstiegsweg immer wieder verschoben. Die Figurenkonstitution innerhalb dieses Modells soll im Folgenden ausgehend von den Belegstellen für die verschiedenen Stufen des geistlichen Aufstiegs entwickelt werden. 2.1.2 Der anfangende Mensch - Zuschreibung durch Benennung Im ersten Teil der Vita, dem Leben des Dieners, taucht der anfangende Mensch oder der Anfang beinahe suggestiv häufig auf. Nach der Autorschaftsinszenierung setzt die Erzählung ein und diese öffnet mit dem geistlichen Anfang der Figur: Der erst anvang dez dieners beschah, do er waz in dem ahtzehendem jare. (8,4f.) Bereits in den Kapitelüberschriften und -anfängen wird geradezu darauf insistiert, dass der Diener am Anfang seines Weges steht: Von den vorstriten eins anvahenden menschen (8,20), In sinem anvang do geschah eins males (10,11), wie daz des ersten gewunni eines anvang (11,23f.), Von dem vorspil g  tliches trostes, mit dem got etlichú anvahendú menschen reizzet (17,13f.) und immer wieder ist die Rede davon, dass die ersten zwölf Kapitel zeitlich zusammenhängen, gemeinsam also den Anfang des Dieners erzählen. 24 Durch die suggestiv häufige Nennung wird der Figur bereits auf der Ebene der Belegstellen der Status als anfangender Mensch zugeschrieben. Mit dem 13. Kapitel wird das Grundthema der Vita eingeführt: die Notwendigkeit des Leidens als imitatio Christi. Die Stufe des anfangenden Menschen wird aber erst im 18. Kapitel explizit für beendet erklärt: [...] und ward ime von got gez  get, daz dú strenkheit und die wisen alle sament nit anders weri gewesen, denn ein g  ter anvang (53,2). Ebenso deutlich referiert das 19. Kapitel auf das Strukturmodell, wenn der Diener in einer Vision von einem Jüngling mitgeteilt bekommt, dass er nun die h  hste kunst lernen soll, um seinen heiligen anvang z  einem seligen end (53,16) zu bringen. Danach ist die erste Stufe des anfangenden Menschen abgeschlossen, zumindest taucht sie auf der Ebene der Belegstellen nicht mehr auf. Auch im zweiten Teil der Vita, der mit dem 33. Kapitel beginnt und in dem die geistliche Tochter Elsbeth Stagel als Schülerin des Dieners eingeführt wird, findet sich eine auffallende Häufung der Belegstellen für den anfangenden Menschen. Elsbeth erhält eine ganze Reihe an Briefen und Unterweisungen, die dazu dienen, ihren geistlichen Anfang darzustellen. Besonders ausführlich bedeutet ihr der Diener im 33. Kapitel, sie solle sich als anfangender Mensch 24 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, Paderborn 1993 (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 37), macht diese Einteilung der Vita stark: „Die Anfangszeit des geistlichen Lebens, die in den ersten zwölf Kapiteln der Vita geschilderte Grundlegung seiner (mystischen) Christusliebe, war eine freudevolle ‚Hoch-Zeit‘ ‚voll himmlischen Trostes‘. Mit dem 13. Kapitel setzt [...] der besondere Leidenscharakter seiner und aller ernsthaften Christusnachfolge ein“, S. 135. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 60 an die ihr zustehenden Übungen halten. Das Modell vom anfangenden Menschen wird dabei nicht einfach evoziert, sondern auch verknüpft mit heiligen Vorbildern sowie mit dem anthropologischen Strukturmodell vom inneren und äußeren Menschen. Der göttliche Anfang soll in der Nachfolge der Heiligen vollzogen werden, die ihrerseits in der Nachfolge Christi stehen. Diese konkretisierte Art der Vermittlung über Vorbilder sei die beste Möglichkeit, den anfangenden Menschen zu belehren und zu stimulieren. Anhand der Exempla der Heiligen könne Leiden und die adäquate innere wie äußere Haltung eingeübt werden, bis, wie bei den Heiligen selbst, die bild ab vielin (98,16). Solange man also ein anfangender Mensch ist, benötigt man Bilder, Vorbilder, um das Selbst in ein heiliges Selbst transformieren zu können. Während im ersten Teil anhand des Lebens des Dieners entwickelt wird, wie ein solcher Anfang aussehen kann, ist Elsbeth dazu angehalten, ihr Leben über Vorbilder, die heiligen bilden, zu strukturieren. Das Modell wird ihr hier explizit präsentiert und nicht, wie im ersten Teil, implizit-narrativ über eine Figur entwickelt. Der erste Teil, das exemplarische Leben des Dieners, ist zu verstehen als Vorbild, das dem anfangenden Menschen, hier Elsbeth Stagel, zur Orientierung und Nachahmung dienen kann. Die darauffolgenden Kapitel spiegeln darum das Narrativ des ersten Teils. In Briefen und Gesprächen teilt der Diener Elsbeth mit, wie er sich als spirituell anfangender Mensch gebildet hat, und, implizit, wie sie sich nun verhalten soll. 25 Entsprechend lauten die Kapitelüberschriften Von dem ersten begin eins anvahenden menschen (Kap. 34), Von den ersten bilden und lere eins anvahenden menschen, und wie sin  bunge son sin mit bescheidenheit (Kap. 35), Von kintlichem andaht eins jungen anvahenden menschen (Kap. 36). Der Status des anvahenden menschen wird im ersten und zweiten Teil, entsprechend der Erzähl- und Vermittlungssituation, unterschiedlich präsentiert. Im ersten Teil wird der anfangende Mensch in seinen Versuchen beschrieben, über Habitualisierung zur richtigen inneren wie äußeren Haltung zu finden. Das Stufenmodell wird explizit aufgerufen vor allem über die Kapitelüberschriften und gleichzeitig implizit entwickelt, indem der Diener vorführt, wie der Anfang eines nach Vervollkommnung strebenden Menschen innerhalb des streng regulierten Tagesablaufs eines Klosters über Praktiken und Techniken eingeübt werden muss. Ganz anders im zweiten Teil, in dem das Modell ausschließlich explizit verwendet wird. Elsbeth Stagel erhält hier eingangs eine ganze Reihe an Erläuterungen, wie sie ihren Anfang bilden solle und was ihr dazu nützlich sei. Das Modell läuft dort auf einer Metaebene, der Diener spricht über den Status als anfangender Mensch, während er im ersten Teil als anfangender Mensch dargestellt wird, ohne seinen Status zu reflektieren. Beiden Teilen gemeinsam ist das gehäufte Auftreten von Belegstellen, die die 25 Diese implizite Aufforderung zur Nachahmung bezeichnet Niklaus Largier, Figurata Locutio, als „aktualisierende Hermeneutik“, S. 312. Dass eine solche Auslegung auf das eigene Leben hin durchaus problematische Züge annehmen kann, zeigt sich im 35. Kapitel der Vita, in dem Elsbeth die Körperübungen ihres geistlichen Vaters übernimmt, von Largier ebenfalls diskutiert, S. 314. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 61 Figur in ihrem Anfang bezeichnen. Nicht nur die Erzählung, sondern auch die wiederholte, insistierende Zuschreibung gibt den Figuren ihre - religiöse - Kontur und positioniert sie im Strukturmodell. 2.1.3 Fortschreiten und durpruch - Stufe oder Ereignis? Der fortschreitende und der vollkommene Mensch werden deutlich weniger stark konturiert als der anfangende Mensch - und das gehört zum Programm der Vita. Wo das Modell explizit gemacht wird, tauchen die beiden Stufen auf, so im Prolog und am Ende. Im Narrativ aber wird intensiv nur der anfangende Mensch aufgerufen, Belegstellen für den z  nemenden oder gar den volkomenen menschen finden sich kaum. Die Erzählung vermeidet geradezu eine eindeutig lineare Abhandlung von einer Stufe zur nächsten, die den Verdacht einer technischen Produzierbarkeit der Einheit mit Gott erwecken würde. Entsprechend kann man in diesen Kapiteln nicht mehr allein nach den Belegstellen gehen. Stattdessen soll anhand der Kapitel 19 und 32 ausgeführt werden, wie sich die Stufen vom fortschreitenden und vollkommenen Mensch zueinander verhalten. Die beiden Kapitel offenbaren dem Diener jeweils eine neue Perspektive auf das Leiden, die ihm in Visionen zukommen. Beiden Kapiteln ist ein ganz spezifisches spekulatives Vokabular zu eigen, durch das das 32. auf das 19. Kapitel rückbezogen wird. 26 Nachdem am Ende des 18. Kapitels die anfangenden Übungen als mangelhaft bewertet und suspendiert wurden, füllt das 19. Kapitel die zweite Stufe, die den Diener vom heiligen avang z  eim seligen end (53,16) bringen soll, mit der Gelassenheit konzeptuell aus. Der Diener wird in die sch  le z  der kunst rechter gelassenheit gewiesen, so die Kapitelüberschrift, um in unablässigem Gotteslob zu stehen, auch wenn ihm noch so schweres Leiden zufällt. Das Vokabular ist deutlich unterschieden von der Sprache der vorhergehenden, konkret-erzählenden Kapitel. Es tauchen abstrakte Begriffe wie gelassenheit, entwordenheit oder m  ssekeit auf. Dieses spekulative Sprechen ist der Figur unverständlich; ihr Erkenntnisstand lässt den verstehenden Nachvollzug der Begriffe nicht zu. Markiert wird ihr Status durch die Frage, die sie am Ende des Kapitels stellt: owe, wenn so ich iemer ein reht gelassenr mensch werden? (54,32) Die Kombination des Stufenwegs mit dem Konzept der Gelassenheit führt notwendigerweise in paradoxe Konstellationen. Denn die Willensaufgabe in der Gelassenheit, der Verzicht auf jegliches intentionale Handeln, steht in einem spannungsvollen Verhältnis zur Vorstellung einer stufenweisen Annäherung an Gott in einem Stufenmodell. Die Frage, wann und wie der Diener ein gelassener Mensch werde, entfalten die folgenden Kapitel, die den Umgang des Dieners mit von außen kommendem, unverfügbarem Leiden darstellen. Sie führen das Einüben in die Gelassenheit als Aufgeben des Eigenwillens in immer neuen Wendungen vor. Im 32. Kapitel, 26 Detaillierter wird diese wichtige Verknüpfung diskutiert in Kapitel 3.6.2 Der transitus in die Freude und die Transgression in die Offenbarung. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 62 dem letzten Kapitel des ersten Teils, nimmt der Text einen zentralen Begriff des Prologs auf, den durpruch. 27 Der Diener möchte von der ewigen Wahrheit Einblick erhalten in die verborgnen togenheit (94,7), in das verborgene Geheimnis der Einheit, und zwar als verr man es den gew  rten mag (94,7), soweit man die Angleichung in Worte fassen kann. 28 Die personifizierte Wahrheit antwortet mit dem abstrakten Vokabular, das aus dem 19. Kapitel bekannt ist. Was der Diener im 19. Kapitel noch nicht verstehen konnte, führt die Wahrheit hier im 32. Kapitel aus. Jetzt, nach der Aufgabe des Eigenwillens, kann der Diener die abstrakten Formulierungen erst verstehen. Im Begriff des Durchbruchs wird genau diejenige Paradoxie gefasst, die mit dem Erreichen der letzten Stufe des Strukturmodells verbunden ist. Denn nicht mehr das intentionale, technische Wiederholen und Einüben, wie es der ständig aufgerufene anfangende Mensch vorgeführt hat, sondern das entsinken im selben und allen dingen (94,11), die Lösung von aller irdischen Bindung und damit von jeglicher Intentionalität, wird als Voraussetzung für den Durchbruch gesetzt. Der Diener, der im Text dieses Entsinken beobachtbar machte, indem sein Leiden im 30. Kapitel demjenigen Christi angeglichen wurde, muss nun nicht mehr fragen, wie man den Willen vollkommen aufgibt, wie man entwird, wie man sich selben entsinkt. Während der Diener im 19. Kapitel klagend zurückbleibt, und das Kapitel mit der offenen Frage nach der Möglichkeit der Gelassenheit endet, geht die Frage des Dieners hier in die Offenbarung der Wahrheit über. Der transformierte Diener, so stellt es der Text aus, hat keine Fragen mehr, da er nun zu denjenigen Menschen gehört, die gelassen zu leiden wissen. Die Vita führt vor, dass der Durchbruch nur aus dem Vollzug verstehbar wird, 27 Der Begriff des Durchbruchs wird auch von Eckhart verwendet. Alois M. Haas bezeichnet ihn sogar als „ein Lieblingswort Meister Eckharts“, Alois M. Haas, Mystik im Kontext, München 2004, S. 13. Vgl. auch Alois M. Haas, Durchbruch zur ewigen Weisheit, in: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, hg. von Andrés Quero-Sánchez und Georg Steer, Stuttgart 2008 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 2), S. 171-187 und Shizuteru Ueda, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloh 1965. 28 Interessanterweise wird Gott beziehungsweise Christus erst im 32. Kapitel als ewige Wahrheit bezeichnet. Theologisch verwundert dies nicht, sind doch „‚Weisheit‘ und ‚Wahrheit‘ als allgemeine Vollkommenheiten konvertibel“, Burkhard Hasebrink, mitewürker gotes, S. 77. Dies zeigt aber auf der Ebene der Bezeichnung Gottes an, dass die ewige Weisheit, die im dritten Kapitel als Minneherrin inszeniert wurde, mit der Transformation des Dieners ebenfalls eine neue Perspektivierung erhalten hat. Anstelle der alttestamentlichen Weisheit, die in der Exegesetradition als weibliche Figuration Christi behandelt wurde, tritt nun die Wahrheit aus dem Neuen Testament. Der Diener steht durch die Angleichung an Christus im 31. Kapitel selbst in der Wahrheit, weshalb der Bezeichnungswechsel konsequent ist. Zur ewigen Weisheit in der Exegesetradition vgl. Barbara Newman, God and the Goddesses. Vision, Poetry, and Belief in the Middle Ages, Philadelphia 2003, vor allem S. 191-206; zur Bezeichnung und Identifikation Christi mit der Wahrheit vgl. Christof Landmesser, Wahrheit/ Wahrhaftigkeit II, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35, hg. von Gerhard Müller [u.a.], Berlin/ New York 2003 (=TRE), S. 340-345, S. 342f. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 63 erst nach der Aufgabe des Eigenwillens kann der gelassene Mensch verstehen, was die Wahrheit hier gew  rten soll. Die letzte Stufe, so die Vita, ist keine vermittelbare Stufe, keine Stufe, die sich technisch herstellen ließe. Ein Durchbruch lässt sich nicht mehr stufenweise denken, sondern ist gerade die Aufhebung eines linearen Denkens; in ihm vollzieht sich das Ereignis, das nicht mehr auf der Ebene intentionalen Handelns liegt. Für das Strukturmodell ist es wichtig, dass die im Prolog so ostentativ aufgestellten Stufen weniger strikt aufeinander folgen als das Modell suggeriert. Der Text arbeitet das Konzept der Gelassenheit in ein tradiertes Strukturmodell ein und zeigt, wie die engen Grenzen eines linear gedachten Aufstiegsweges kollabieren, wenn dieser mit dem paradoxen Gefüge der Gelassenheit überblendet wird. Da die Stufen aber kollabieren, können sie nicht systematisch bis zur Vollkommenheit erzählt werden, sondern enden in der Offenbarung der Wahrheit. Die Figur entsteht innerhalb eines kulturell tradierten Strukturmodells. Das Modell setzt den Rahmen, in dem die Figur konstituiert wird, und wird gleichzeitig im Erzählen auf seine Leistungsfähigkeit befragt - und transgrediert. Mit dem Stufenweg und seiner Suspendierung im Durchbruch wird eine Entwicklung gezeichnet, die keine psychologische Entfaltung, sondern einen religiösen Aufstieg narrativiert. In anderen Textsorten, vor allem in Predigten, wird das Modell vom anfangenden, fortschreitenden und vollkommenen Menschen ebenfalls gerne verwendet. Transgression und Transformation wird auch dort gefordert, ohne jedoch die Durchbrüche erzählen zu können. Die Vita dagegen sucht Möglichkeiten, im Narrativ vorzuführen, was letztlich nicht erzählbar ist. Der Abbruch des Erzählens etwa ist eine solche Möglichkeit, die mit erzählerischen Mitteln nicht nur darstellt, sondern performativ vorführt, wie sich die Transformation in der Angleichung vollzieht. Der Wechsel von narrativer Entfaltung im Leiden bis zum 30. Kapitel, reflexivem Monolog im 31. Kapitel und Offenbarung im 32. Kapitel zeigt, dass die Vita über vielfältige Möglichkeiten verfügt, die Figur aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen und damit Transgression und Transformation in Abbrüchen, Perspektivwechseln und Verschiebungen zwar nicht versprachlichen, aber vorführen zu können. Die Figur ist die Verkörperung der Möglichkeiten, die das Stufenmodell bietet und nicht bietet. 2.1.4 Innen und Außen als Ordnungsmodell des anfangenden Menschen Die Struktur des Stufenwegs, die die Figurenkonstitution maßgeblich steuert, weist eine zusätzliche Verschachtelung mit weiteren Ordnungsmodellen auf. Im Prolog wird die Stufe des anfangenden Menschen kombiniert mit der anthropologischen Unterscheidung vom inneren und äußeren Menschen. Seuse verwendet diese Unterscheidung dabei in zwei unterschiedlichen Tradierungen, derjenigen, die auf Augustinus zurückgeht, und derjenigen, die mit dem Konzept der inneren und äußeren Sinne verbunden wird, wie sie etwa Origines entwirft. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 64 Mit der Verwendung der Vorstellung vom inneren und äußeren Menschen stellt sich Seuse in eine lange, bereits biblisch begründete Tradition. 29 Das anthropologische Modell vom äußeren und inneren Menschen stellt eine zentrale Unterscheidung in der christlichen Religion dar, die durch die paulinische Leib-Seele-Trennung, vor allem im Römerbrief und im zweiten Korintherbrief, ihre spezifische Prägung erhielt. 30 Augustinus dynamisiert das binäre Schema um das Innerste im Menschen. 31 Er entwickelt auf der Basis neuplatonischer Modelle und der Bibel eine Anthropologie und Aufstiegslehre, die eine bis heute andauernde Wirkkraft entfaltet. Seine Anthropologie ist maßgeblich geprägt durch die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen, von Seele und Körper. 32 Dem Körper als das Vergängliche und Wandelbare, mithin das Trügerische, steht die unwandelbare, unsterbliche Seele gegenüber. Diese Differenzierung in inneren und äußeren Mensch, in Leib und Seele, ist teilweise biblisch-paulinisch inspiriert, greift aber auch die neuplatonischen Vorstellungen der Seele auf, die durch den Körper gefangen ist und sich, diese Metapher wird auch bei Augustinus wichtig, darum nicht ihrer Flügel bedienen kann, um sich zu Gott - bei Platon zur Idee des Guten - emporzuschwingen: „Dabei weist Augustin diesem [dem Göttlichen, Anm. S.B.] jedoch einen 29 Zur Forschungssituation äußert sich Rüdiger Schnell, Wer sieht das Unsichtbare? Homo exterior und homo interior in monastischen und laikalen Erziehungsschriften, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. von Katharina Philipowski und Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 83-112, demzufolge im Mittelalter zwei Positionen vorherrschen: „Der einen Position zufolge sind Körper und Seele zwei ganz verschiedene Dinge und liegen ständig im Widerstreit. Für andere bilden Körper und Seele eine harmonische Einheit, insofern am Körper zu erkennen ist, was sich im Inneren abspielt“, S. 88. Er fragt nach den „diskursiven Bedingungen, die in den einen Texten eine Harmonie von Innen und Außen generieren, in den anderen Texten eine Diskrepanz zwischen den beiden Bereichen demonstrieren“, S. 90. 30 Röm 7,22: condelector enim legi Dei secundum interiorem hominem. video autem aliam legem in membris meis repugnantem legi mentis meae et captivantem me in lege peccati quae est in membris meis (‚Denn in meinem Innern freue ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden.‘); 2 Kor 4,16: propter quod non deficimus sed licet is qui foris est noster homo corrumpitur tamen is qui intus est renovatur de die in diem (‚Darum werden wir nicht müde; wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert.‘). 31 Die zentralen Punkte aus den Lehren des Augustinus, vor allem seine Anthropologie und die Beziehung des Menschen zu Gott, besaßen das gesamte Mittelalter hindurch unangefochten Gültigkeit, vgl. Gordon Leff, Augustin/ Augustinismus II, in: TRE 4 (1979), S. 699-718, hier S. 699. Die breite Überlieferung spiegelt die Beliebtheit der lateinischen Schriften des Augustinus. Zur Überlieferung im Mittelalter vgl. Rudolf Kilian Weigand, Wissen von Augustinus deutsch? Die Rezeption der Schriften des Kirchenlehrers in deutscher Literatur des Spätmittelalters. Ein kursorischer Überblick, in: Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, hg. von Norbert Fischer, Hamburg 2009, S. 177-194. 32 Vgl. Therese Fuhrer, Augustin, Darmstadt 2004, S. 94ff. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 65 gesonderten ‚Ort‘ zu: Der Aufstieg zu Gott ist die Einkehr in ein Inneres in der Seele, in den ‚inneren Menschen‘ (homo interior), in dem die Wahrheit ‚wohnt‘ (vera rel. 72).“ 33 Aus dem Platonismus übernimmt Augustinus die Vorstellung der Seele, die nur Spuren Gottes in sich trägt, nicht aber substanzhaft göttlich ist. Als notwendige Konsequenz aus der Trennung in Leib und Seele in Kombination mit der neuplatonischen Aufstiegsbewegung der Erkenntnis folgt die radikale Wendung nach innen. Die Frage nach der Erkenntnismöglichkeit Gottes beantwortet Augustinus in De vera religione mit dem bekannten Zitat: Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas. 34 Der breit rezipierte Augustinus bietet somit einen Diskurs, der sowohl die radikale Wendung nach innen über die doppelte Anthropologie ins Zentrum stellt, als auch mithilfe des Modells eines Aufstiegsweges über Möglichkeiten reflektiert, das Göttliche im Menschen präsent zu machen. Auch Eckhart und Tauler, beide Dominikaner wie Seuse, greifen das Modell in ihren Predigten auf. 35 Vor allem Tauler verwendet das Modell vom zweifachen Menschen, das auf das Dritte, das Innerste, hin transgrediert wird. Bei Tauler wird dieses Dritte begrifflich fassbar im gem  t. 36 Bei Eckhart dagegen taucht auf der Textoberfläche die Unterscheidung vom äußeren und inneren Menschen weniger auf, trägt aber dennoch seine Anthropologie. So wird die Aufforderung Noli foras ire, in te ipsum redi, die Aufforderung Augustinus, Wahrheit im Inneren zu suchen, von Eckhart nicht nur implizit aufgenommen, sondern er zitiert die berühmt gewordenen Worte im zweiten Prolog zum Opus expositionum des Opus tripartitum explizit. 37 Auch die Predigt Von dem 33 Ebd., S. 97. 34 Aurelius Augustinus: De vera religione, hg. von Klaus-Detlef Daur, in: Aurelii Augustini Opera IV,1, Turnhout 1962 (Corpus Christianorum, Series Latina 32), Kapitel 39,72. Die übliche deutsche Übersetzung korrigiert folgendermaßen Norbert Fischer, Meister Eckhart und Augustins ‚Confessiones‘, in: Meister Eckhart und Augustinus, hg. von Rudolf Kilian Weigand und Regina D. Schiewer, Stuttgart 2011 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 3), S. 195-219, hier S. 201: „Geh nicht nach draußen, kehr in dich selbst zurück, im inneren Menschen wohnt Wahrheit (nicht: die Wahrheit).“ 35 Norbert Fischer, ebd., weist in seinem Aufsatz zu Eckharts Augustinus-Rezeption darauf hin, dass Augustinus deutlich zurückhaltender bleibt, was die Frage nach der Gegenwärtigkeit Gottes im diesseitigen Inneren angeht, als Eckhart: „Zwar sprechen beide Autoren die Weisung aus, den Weg nach innen zu gehen; aber Gott bleibt laut den ‚Confessiones‘ dem menschlichen Geist innerlicher als ein Innerstes und höher als sein Höchstes (‚Confessiones‘, 3,11): tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo“, S. 203. 36 Vgl. Louise Gnädinger, Johannes Tauler: Lebenswelt und mystische Lehre, S. 136: „Ob Tauler das bis auf Plotin zurückreichende Schema vom dreifachen Menschen von Wilhelm von St. Thierry oder seinem verehrten Mitbruder Meister Eckhart übernommen hat [...], er verwendet es innovativ, indem er den Terminus gem  t zur Bezeichnung jenes allerinnersten Menschen im Menschen, zur Bezeichnung der stets möglichen Übergängigkeit des Menschen in Gott verwendet.“ Zum inneren und äußeren Modell bei Tauler vgl. ebd., insbesondere S. 129-136. 37 Anhand dieses Prologs arbeitet Andreas Speer, Zwischen Erfurt und Paris. Eckharts Projekt im Kontext. Mit einer Bibelauslegung zu Sap. 7,7-10 und Joh. 1,11-13, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener, Berlin [u.a.] 2005 (Miscel- Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 66 edelen menschen ist im Kontext der Anthropologie Eckharts relevant. Es ist die einzige Predigt, die dezidiert und explizit das Modell vom äußeren und inneren Menschen aufnimmt, um es letztlich radikal auf das Innerste im Menschen zu übersteigen: „In seiner Schrift Vom edlen Menschen gibt Eckhart weitere Hinweise zu seiner Anthropologie. Wie Augustinus unterscheidet er den äußeren vom inneren Menschen, wobei der innere Mensch ebenso wie der äußere zum Reich des Geschaffenen zähle. Darüber hinaus gebe es im Menschen aber noch etwas Ungeschaffenes, etwas, das nicht zur Natur des Menschen gehöre.“ 38 Die Predigt baut am Anfang eine Binarität auf, die dann auf das Dritte, auf das Edle im Menschen überschritten wird. In diesem Innersten, das losgelöst von äußeren Anhaftungen sich ganz Gott zugewandt hat, „tritt er in die Einheit der Natur Gottes - und er erreicht somit eben das ewige Leben, in dem der Sohn selbst lebt.“ 39 Es bleibt zu betonen, dass das dichotomische Modell, das den inneren Menschen dem äußeren gegenüber favorisiert, nicht spannungslos ist. Annette Volfing weist darauf hin, dass gerade im Zusammenhang mit dem zentralen Ereignis der Heilsgeschichte, der Menschwerdung Christi, der Körper in den Mittelpunkt rückt und darum nicht mehr ohne weiteres als belanglos abgetan werden kann. 40 Diese Spannung findet sich auch bei Seuse, der aber zwei unterschiedliche Modelle von Innen und Außen kombiniert. Auch er verwendet die eben ausgeführte Vorstellung, nach der äußerer und innerer Mensch überwunden werden müssen, um zum Innersten durchzubrechen. Auf der Stufe des anfangenden lanea mediaevalia 32), S. 3-33, hier S. 18, die Umrisse der Anthropologie Eckharts heraus: „Mit dieser Unterscheidung in die höheren und niederen Vermögen ist ein grundlegender und für Eckharts Anthropologie fundamentaler Dualismus zwischen dem inneren, d.h. dem neuen und himmlischen Menschen und der geistigen Welt einerseits und dem äußeren, d.h. dem alten und irdischen Menschen und der sinnlichen Welt andererseits verbunden [...]. Der Mensch nämlich ist seiner Natur nach ‚ain vernunftiges wesen‘. Das ist zugleich der Kern der Eckhart’schen Anthropologie. Ein solcher vernunftiger mensch - so heißt es in Predigt 15 ‚Homo quidam nobilis‘ - ist derjenige, der sich selbst mit der Vernunft begreift und ‚in im selber abgescheiden ist‘ von allem Stofflichen und allen Formen.“ 38 Johannes Brachtendorf, Meister Eckhart (1260-1328) und die neuplatonische Transformation Augustins, in: Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, hg. von Norbert Fischer, Hamburg 2009, S. 157- 175, hier S. 173. Brachtendorf arbeitet zur Aufnahme und Transformation der augustinischen Konzepte bei Meister Eckhart aus theologisch-philosphischer Perspektive. 39 In ihrem Aufsatz zur Anthropologie in der christlichen und islamischen Mystik gibt Fateme Rahmati, Das Menschenbild in christlicher und islamischer Mystik: Meister Eckhart und Ibn 'Arab ī , in: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, hg. von Andrés Quero- Sánchez und Georg Steer, Stuttgart 2008 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 2), S. 237-267, hier S. 249ff., einen kursorischen Überblick über den Inhalt der Predigt Vom edlen Menschen mit besonderem Fokus auf dem inneren und äußeren Menschen und der Überformung im Innersten des Menschen. 40 Vgl. Annette Volfing, Körper, Natur und Eucharistie bei Johannes Tauler: Zur Allegorese der Verdauung, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte, hg. von Barbara Fleith und René Wetzel, Berlin/ New York 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 373-394, besonders S. 374. Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 67 Menschen aber greift Seuse die Dichotomie von Innen und Außen auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung auf, wo der äußere Sinn eng auf den inneren bezogen ist. So heißt es entsprechend im Prolog auch, der anfangende Mensch müsse den ussern und den inren menschen entsprechend Gottes Willen ausrichten. Auf dieser Ebene, die einer anderen Tradition entstammt, sind der äußere Mensch und die äußeren Sinne keineswegs negativ konnotiert, sondern eröffnen die Möglichkeit, die inneren Sinne zu stimulieren und zu transformieren. 41 Diese Sinnlichkeit wird in den ersten Kapiteln der Vita narrativ entfaltet. Die inneren und äußeren Sinne des Dieners werden dort ununterbrochen in Kontemplations- und Gebetspraktiken involviert, die der Einübung in die Klosterexistenz dienen. Deren Zielrichtung ist letztlich die Überformung des Selbst durch das vollkommen regulierte Ordensleben. 42 Die Regel löst das Leben des Konventualen von Grund auf aus selbstbestimmten Entscheidungen und fordert umfassenden Gehorsam; das Leben soll im Rahmen der Klosterregel vollständig nach Gottes Willen ausgerichtet werden. Niklaus Largier hat die Tradition, in der die inneren und äußeren Sinne verortet sind, intensiv erforscht. Largier beschreibt von Origines ausgehend ein Modell der inneren und äußeren Sinne für eine bestimmte Tradition geistlicher Literatur, in der die Frage nach der Gegenwärtigkeit Gottes über eine Intensivierung der Sinne erörtert wird. Origines, als Bezugspunkt dieser Tradition, entwickelt die Vorstellung der fünf inneren Sinne, die parallel zu den äußeren Sinnen benannt sind. Sie sind aber nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern konstituieren, wenn sie stimuliert werden, einen eigenen Wahrnehmungsraum. 43 Largier betont, dass „Origines die inneren Sinne nicht im 41 Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, besonders S. 95-127, beschreibt, wie der Kirchenraum die Wahrnehmung aller Sinne anspricht, um sie „zu binden, sie einzunehmen für ein höheres Ziel“, S. 98. Der Kirchenraum wird zum Schau-, Duft- und Geschmacksraum, so wie zum akustischen und zu erfühlenden Raum. 42 Für die Dominikanerinnen führt dies Marie-Luise Ehrenschwendtner, Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 2004 (Contubernium 60), folgendermaßen aus, S. 151: „So war jede Dominikanerin, zumindest im von der Ordensverfassung vorgesehenen Idealfall, ständig mit Inhalten konfrontiert, die sie auf die letzte Zielsetzung ihrer Lebensweise, die vollständige Hinordnung auf Gott, zurückverwiesen und weltlichem Denken und Trachten entgegenwirken sollten. Gehorsame Einhaltung aller Vorschriften war folglich mitnichten Selbstzweck, sie sollte vielmehr diese Wendung zu Gott und die damit verbundene Aufgabe des Eigenwillens befördern.“ 43 Niklaus Largier, Inner Senses - Outer Senses: The Practice of Emotions in Medieval Mysticism, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten, Berlin 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 3-15, bezieht sich auf eine Tradition der cognitio Dei experimentalis: „The spiritual tradition I am referring to is centered primarily around the teaching that the experiential knowledge of God is not just metaphorically described in terms taken from our external sense-experience but rather, I would argue, that it is actually based on ‚five inner or spiritual senses‘. It is a teaching which is usually traced back to its origins in the exegetic practice and theory of Origen“, S. 4. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 68 Rahmen einer eigentlichen Theorie der Seele und der Sinneswahrnehmung einführt, sondern im Rahmen hermeneutischer Fragen. Es geht um die Schriftlektüre und um Exegese, oder, wenn man so will, um die Anwendung (applicatio) des Textes im Verhältnis zur Auslegung (explicatio).“ 44 Der Text der Heiligen Schrift soll ästhetische Anwendung finden, das heißt: „Überführung des Textes in sinnliche Erfahrung, die die Seele formt und die Welt neu Gestalt annehmen läßt.“ 45 Largier betont auch, dass die „‚inneren Sinne‘ nicht den ‚äußeren‘ gewissermaßen lokal gegenübergestellt würden. Sie sind vielmehr als ‚die Sinne schlechthin‘ zu sehen, die im Genuß der Sinnlichkeit und im Rekurs auf den figurativen Gehalt des Textes neu Gestalt annehmen.“ 46 Genau diese sinnliche Weiterführung der Bibelworte, die Erregung aller Sinne durch Meditation und Betrachtung aber ist es, was die ersten Kapitel der Vita auszeichnet. 47 Die Figur des Dieners führt vor, wie in Akten der Lektüre und der Betrachtung das Selbst und die Wahrnehmung der Welt neu konstituiert werden. Innen und Außen sind in diesen Aneignungsprozessen der Heiligen Schrift nicht als zwei getrennte Sphären inszeniert, die hierarchisch gestuft wären. Die äußere, körperliche Wahrnehmung wird überführt in innere Wahrnehmungsräume, in der Vita vor allem dargestellt durch die Vielzahl an Visionen in den ersten Kapiteln. In den Visionen wird in der Liturgie Gehörtes oder Gesehenes in eigene innere Bilder umgewandelt. 48 Würde man die Visionskapitel als Ausrichtung des inneren, die Körperaskese als Ausrichtung des äußeren Menschen lesen, so würde man das Wechselverhältnis von Innen und 44 Niklaus Largier, Die Kunst des Begehrens, S. 44f. 45 Ebd., S. 45. 46 Ebd., S. 47. Vgl. auch Burkhard Hasebrink, Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler, der sich kritisch mit den Thesen Largiers auseinandersetzt, die zwar ein „faszinierendes Bild von den Präsenzeffekten einer rhetorisch induzierten Sinnlichkeit in den Klöstern des Mittelalters“ böten, S. 388, allerdings dominiere „[i]n Largiers These von der Artifizialität der spirituell-sinnlichen Wahrnehmung des Göttlichen [...] der Konstruktcharakter“, S. 391. Die Animation und Artifizialität, wie Largier sie in den Mittelpunkt stellt, muss, so entwickelt Hasebrink anhand der Taulerpredigt V 41, als Verfehlung der Teilhabe am Göttlichen erkannt werden. Diese Erkenntnis vollzieht sich innerhalb der Gottverlassenheit, die die artifiziell induzierten Gegenwärtigkeit Gottes überschreite und als defizitär erkenne, S. 399ff. 47 Im Detail und nahe am Text werden die im ersten Teil der Vita entwickelten Techniken in den Kapiteln 3.2 Praktiken der Verinnerlichung - Stabilisierung der religiösen Identität und 3.3. Inszenierungsformen der Passion ausgeführt. 48 Vgl. dazu vor allem auch die Arbeiten von Jeffrey F. Hamburger, der die wichtige Verbindung zwischen äußeren und inneren Bildern herausstellt. Äußere Bilder dienten, so Hamburger, dazu, die inneren Bilder auszulösen und zu strukturieren, Jeffrey F. Hamburger, The Visual and the Visionary: The Image in Late Medieval Monastic Devotions, in: ders., The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 111-148, hier S. 131: „Such images, wether statues or manuscript miniatures, became increasingly common in monastic circles in the late thirteenth century. They were intended to function as instruments of visionary experience, in other words, to induce, channel, and focus the experience.“ Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 69 Außen unzulässig vereinfachen. Körper und Innenraum werden in diesen Kapiteln nicht so sehr in einer strengen Dichotomie gedacht, sondern sind eng aufeinander bezogen; sie bedingen sich gegenseitig. Die Visionen gehen zumeist aus einer spezifischen Körperhaltung hervor, während die Askeseübungen sich Imaginationstechniken bedienen. Dies zeigt sich etwa, wenn der Diener seine asketische Leidensnachfolge vor einer Darstellung der Geißelsäule beginnt und sich selbst in diese Ikonographie imaginiert (41,32-42,2). 49 Auf der Stufe des anfangenden Menschen verwendet Seuse also ein Modell, das die äußere sinnliche Wahrnehmung intensiviert, um die innere Wahrnehmung zu affizieren. Im Zentrum dieses Modells der inneren und äußeren Sinne stehen Imaginations- und Askesetechniken. Die Vita nimmt hier Bezug auf zirkulierende Modelle der zeitgenössischen Viten- und Offenbarungsliteratur, die ein intensives Interesse an der Herstellung von Gegenwärtigkeit über Lektüre- und Gebetspraktiken in Verbindung mit dem liturgischen Jahr bekunden. 50 Im 18. Kapitel führt Seuse das Modell der sinnlichen Intensivierung an eine Grenze. Nun greift er auf das augustinische Modell von Innen und Außen zurück, wenn es nämlich heißt, der Diener habe nur seinen äußeren Menschen geübt und seine Versuche seien lediglich ein guter Anfang gewesen. Der äußere Mensch wird mit den Übungen verbunden, die die inneren und äußeren Sinne umfassen. Die Transformation der sinnlichen Wahrnehmung aber reicht nicht aus, so die Logik des Textes, um vom äußeren zum inneren bis in den innersten Menschen durchzubrechen. 51 Die Figur des Dieners führt die Grenzen des 49 Zur Übergängigkeit von Innen und Außen arbeitet in diachronischer Sicht auch Thomas Lentes, ‚Andacht‘ und ‚Gebärde‘. Das religiöse Ausdrucksverhalten, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400-1600, hg. von Bernhard Jussen und Craig Koslofsky, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), S. 29-67, der ebenfalls betont, wie stark diese Kategorien aufeinander bezogen sind. 50 Die Aufnahme und Wiedererzählung geht in der Vita Seuses bis auf die Ebene einzelner Motive. Im fünften Kapitel etwa wird eine Vision erzählt, in der der Diener seinen Leib durchsichtig werden sieht, wodurch er seine Seele im Minnespiel mit der ewigen Weisheit betrachten kann. Genau diesselbe Vision findet sich in Vita 41 des St. Katharinentaler Schwesternbuchs, wenn Anne von Ramschwag [a]n dem heiligen tag ze winnehten ihre Seele mit Christus spielen sieht, Das ‚St. Katharinentaler Schwesternbuch‘, hg. von Ruth Meyer, S. 131, 80-94. Die Verbindung zwischen vorbildlicher Lebensführung im Kloster, das heißt einem Leben, das ganz auf Gebet ausgerichtet ist, und den Gnadenerfahrungen arbeitet Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, S. 219f., heraus: „Die Gnadenerfahrungen, die den Schwestern während ihrer Zeit im Kloster zuteil werden [...], beziehen sich auf die Lebensführung einer Ordensfrau und veranschaulichen exemplarisch den Sinn eines solchen dem Gebet gewidmeten Lebens. [...] Die Privatandacht bildet die Voraussetzung für die Gnadenerfahrung der Seele. Auch in anderen Viten verdeutlichen die Gnadenerlebnisse den Sinn des dem Gebet gewidmeten Lebens im Kloster. So etwa bestätigt Christus der Schwester Els von Sehssencham die Richtigkeit ihrer Entscheidung für das Ordensleben, indem er ihr versichert, daß sie ihm nirgends näher sei als im Kloster.“ 51 Vgl. Burkhard Hasebrink, Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler, der herausarbeitet, dass der Weg über die Transformation der Sinne auch bei Tauler nicht der Zielpunkt ist, sondern gerade die „Transgression der Simulation“, S. 399. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 70 anthropologischen Modells vom inneren und äußeren Menschen vor. Die Übungen ermöglichen zwar einen Genuss der Gegenwärtigkeit Gottes, allerdings nur als zeitlich begrenzte Intensivierung. Als dauerhafte Überformung des Innersten jedoch bleiben sie defizitär. Die Figur wird in der ersten Kapitelreihe, als anfangender Mensch, über die Verknüpfung mit dem kulturhistorisch-anthropologischen Modell konstituiert. Sie ermöglicht es, kursierende Vorstellungen von sinnlicher Gotteserfahrung aufzugreifen, diese im Erzählweg aber als unzureichend zu identifizieren. 2.1.5 Mit mîden, lîden und üeben zum Durchbruch Die folgende Stufe des Strukturmodells, der fortschreitende Mensch, wird im Prolog verknüpft mit der Formulierung des Durchbruchs: Der zunehmende Mensch solle mit miden und mit lidenn und  benne einen durpruch (3,10f.) durch die vichlichkeit des Menschen hin zur Heiligkeit vollziehen. Die Verbindung des Durchbruchs und der Übung markiert die paradoxe Spannung, in die der Text beim Versuch, das Aufgeben des Eigenwillens darzustellen, immer wieder gerät. Die Doppelformel mîden und lîden, die durch den Binnenreim eine nicht nur semantische, sondern vor allem auch klangliche Dimension erhält, verschränkt Entzug und Leiden, Entbehrung und Ertragen. 52 Anstelle der intensiven sinnlichen Gotteserfahrung steht nun die Erfahrung der Gottverlassenheit, die in der Formel vom mit miden und mit lidenn verkürzt wird. 53 Im geistlichen Bereich findet sich die Doppelformel häufig in Aufzählungen mit anderen Stichworten einer asketischen Lebensform. Gerade in späteren Sammelhandschriften finden sich häufig kurze Anleitungen zum Meiden und Leiden, gerne in Verbindung mit dem Gebot des Schweigens. 54 Johannes 52 Das mittelhochdeutsche mîden weist eine Polysemie auf und wird zum einen in der Doppelformel mit lîden in der Bedeutung von entbehren verwendet, taucht aber auch im Sinne von vermeiden auf, etwa als Vermeiden sündhaften Verhaltens. Vgl. auch die neuhochdeutschen Synonyme, die im mittelhochdeutschen Wörterbuch von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke angesetzt werden: „einem fern bleiben, etwas unterlassen, verlassen, entbehren ([…] die jetzt in dem worte liegende absichtlichkeit liegt früher weder in mîden, noch in vermîden)“. Mittelhochdeutsches Wörterbuch, mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke, Bd. 2, Leipzig 1863 (Nachdruck Stuttgart 1990), Sp. 165a (=BMZ). Dabei ist vor allem die Intentionslosigkeit interessant, die das mittelhochdeutsche mîden stärker an lîden im Sinne von passivem Erleiden rückbindet. 53 Nicht nur in der geistlichen Literatur taucht die Doppelformel auf, auch in weltlicher Dichtung findet sie sich, etwa in der von Tilo Brandis, Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke, München 1968 (MTU 25), unter der Nummer 259 verzeichneten Minnerede, die mit einer lyrischen Ausführung der Doppelformel einsetzt: O meiden meiden meiden / du bist ain pitter leiden, S. 98. 54 In der Universitätsbibliothek Heidelberg etwa befindet sich eine aszetisch-mystische Kompilation des späteren 15. Jahrhunderts, die unter anderem Teile des BdeW enthält. Auffällig ist außerdem die Strukturierung der meisten aufgenommenen Anleitungen durch Zahlen, so auch die folgende Anweisung: Wie sich der mensche sol vben an dryen Das Strukturmodell - Erzeugung des Narrativs im Dreistufenweg 71 Tauler verwendet die Kollokation, um im Verbund mit weiteren Askeseformeln die fünf Wunden Christi zu beschriften: Kinder, in disen minneklichen wunden súllen wir fúnf lectien leren, die uns ane alles mittel in leitent. Das sol sin: miden, liden, swigen, verachten und din selbes verl  igenen in worer gelossenheit. 55 Ertragen und Erleiden stehen in dieser Taulerpredigt in engem Zusammenhang mit der Selbstaufgabe in Gelassenheit und werden kombiniert mit dem Meditationsmodell der Passionsbetrachtung. 56 Auch Tauler verbindet unterschiedliche sinnstiftende Modelle und initiiert ein reguliertes Lernen, das nach Innen leiten soll. Am Beispiel der Predigt zeigt sich deutlich die unterschiedlichen Möglichkeiten der Textsorten. Während die Predigt zu einem bestimmten Verhalten auffordert, kann die Vita die Aufforderung narrativ umsetzen und so beobachtbar machen. Auch die zweite Stufe des Strukturmodells kombiniert Seuse mit einem kursierenden Modell der Lebensführung, das er an die Figur des Dieners knüpft. Die Figur wird nicht allein im Text erzeugt, sondern steht in einem Wechselverhältnis mit außerliterarischen frames, die durch die Verknüpfungen mit der Figur wirksam werden. Bereits im Prolog erscheint die Forderung nach Entbehrung, Erleiden und Übungen in einem spannungsvollen Verhältnis zum Durchbruch. Denn dieser kennzeichnet gerade etwas nicht Intentionales, etwas, das nicht durch Übungen herzustellen ist, sondern als Ereignis wirkt. Entsprechend geraten Übungen und Durchbruch auch im Verlauf des Narrativs immer wieder in dieses paradoxe Verhältnis. Das 19. Kapitel, das den strukturellen Umbruch vom anfangenden zum fortschreitenden Menschen markiert, vermittelt in einer Vision des Dieners ein Wissen, das in paradoxer Spannung Intentionslosigkeit an Prozesse der Habitualisierung koppelt. Der Diener soll, so lautet die Überschrift, in einer Schule die Kunst und das Wissen um die richtige Gelassenheit erlernen. Der Lernprozess wird gekoppelt mit Konzepten, die gerade nicht erlernbar sind, etwa mit entwerden, der Selbstaufgabe. Die paradoxe Spannung von Übung und Durchbruch wird in der Vita beobachtbar, indem der Diener in immer neuen Missverständnissen vorgeführt wird. Statt nun weiterhin auf das abstrakt-paradoxe Vokabular zu bestehen, entfalten die dem 19. und 20. folgenden Kapitel einen Weg des Leidens und der Entbehrung. Die Formel vom stucken an lyden an myden vnd an swigen. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 28, fol. 101 r . Als Digitalisat abrufbar unter http: / / digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg28 (15.01.2016). Wissenschaftliche Beschreibung der Handschrift in: Die Codices Palatini germanici in der Unversitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1-181), Kataloge der Universitätsbibliothek VI, Wiesbaden 2003, S. 78-86. 55 Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (Nachdr. Dublin/ Zürich 1968), S. 206,26ff. 56 Taulers ganz eigene Art, Bedeutungen zu generieren, vor allem die Bedeutung von gelossenheit, erarbeitet detailliert an den Belegstellen Imke Früh, Im Zeichen und im Kontext von gelossenheit. Semantisierungsstrategien in den Predigten Johannes Taulers, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 143-170. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 72 mîden, lîden, üeben wird im ersten Teil, in der Lebensbeschreibung des Dieners, aber nur implizit gezeigt; im Leidensweg des Dieners entfaltet sie sich narrativ. Die expliziten Belegstellen verbleiben als Strukturierungsangebot im Prolog des Exemplars oder an Textstellen, die die Möglichkeiten eines vollkommenen Lebens auf einer Metaebene anführen und finden sich neben dem Prolog erst wieder im zweiten Teil der Vita. Das 33. Kapitel, der Anfang der geistlichen Tochter des Dieners, Elsbeth Stagel, nimmt erstmals die programmatische Formulierung in leichter Abwandlung auf. So schreibt Elsbeth dem Diener, sie sei bereit, ein heiligmäßiges Leben zu führen, egal wie schmerzhaft es werde, ob es Meiden, Leiden, Sterben oder was auch immer sei, das sie zum Höchsten führe, sie wolle es vollbringen: min begird stat nút na kl  gen worten, si stat na heiligem lebene, und daz han ich m  t, reht und redlich ze ervolgene, wie we daz iemer mag get  n, es sie miden, es sie liden oder sterben oder waz daz ist, daz mich z  dem nehsten mag bringen; daz m  ss volhertet werden. (98,21ff.) Und sie greift ihre eigene Rede im 53. Kapitel wieder auf, wenn sie die Kombination des Stufenmodells mit den Strukturangeboten innerer - äußerer Mensch und mîden, lîden, üeben aufruft und zwar in der gleichen Weise, wie sie im Prolog verwendet wurde: gelopt sie dú ewig warheit, daz ich von úweren wisen und leblichen worten so schon bewiset bin daz ersten beginnes eins anvahenden menschen, und der ordenlicher mitel midens und lidens und  bens eins z  nemenden menschen, und mit g  tem underscheide in togenlicher wise der aller nehsten blossen warheit. (194,3) Der Gesamttext wird ebenso verklammert, wie auch der zweite Teil der Vita durch das Signum des fortschreitenden Menschen, das mîden, lîden und  ben, verklammert wird. Der programmatische Dreiklang wird eingesetzt, um den Weg zum Durchbruch, zur Gelassenheit, in einer prägnanten Formulierung zu synthetisieren: als mîden, lîden und  ben. Die Figuren werden vom Prolog an mit Modellen verknüpft, die im Text implizit entfaltet werden. Es ist nicht das Erzählen eines persönlichen unmittelbaren Erlebens, sondern das Erzählen in tradierten Vorstellungen geistlicher Lebensformen. Die Figur erhält ihre Kontur nicht nur durch Textinformationen, die ihr sukzessive zugeordnet werden, sondern eben auch als Aktualisierung kursierender, sinnstiftender Modelle. Das Strukturmodell in Kombination mit den anderen Ordnungssystemen zeigt, dass es der Vita nicht allein um die Darstellung biographischen Inhalts geht, sondern um die Darstellung eines religiösen Lebensmodells, das unterschiedliche Modelle aufnimmt, durchspielt und - gegebenenfalls - transformiert. Die Modelle konstituieren die Figur mit und geben gleichzeitig den narrativen Ablauf vor. Seuse kombiniert dabei die unterschiedlichen strukturierenden Elemente. Das Strukturmodell des Stufenwegs verwendet er als Grundgerüst des Narrativs. In dieses Grundgerüst eingepasst wird das anthropologische Modell vom äußeren und vom inneren Menschen auf der Stufe des anfangenden Menschen. Dieser muss sich in die unablässige Ausrichtung auf Gott einüben. Die Dichotomie von Innen und Außen wird suspendiert und durch das Konzept der Gelassenheit ersetzt. Das Modellfiguren und Figurenmodelle 73 abstrakte Konzept erhält in der Formel mîden - lîden - üeben eine Konkretisierung, die sich auf das Aufgeben des Eigenwillens im Leiden bezieht. Die Figur ist zusammengesetzt aus unterschiedlichen Modellen, die eine strukturierte Orientierung in der Lektüre bieten. Die christlich-anthropologischen, theologischen und frömmigkeitspraktischen Modelle bilden die Grundstruktur der Figur. 2.2 Modellfiguren und Figurenmodelle Das mit anthropologischen und frömmigkeitspraktischen Modellen verschachtelte Strukturmodell bietet einerseits eine orientierende Struktur, die den komplexen Text auf seine Grundlinien zurückführt, andererseits erhalten die abstrakten Modelle durch die Figur eine Verkörperung. Genauso verschachtelt und komplex stellt sich ein zweites Phänomen dar, das die Figurendarstellung maßgeblich steuert: Die Öffnung der Figur auf Modellfiguren und Figurenmodelle. Diese Begriffe werden hier eingeführt, um zwei narrative Strategien zu beschreiben, die die Figur des Dieners öffnen, indem sie mit Vorbildfiguren und Typisierungen verknüpft wird. Die beiden Strategien liegen auf unterschiedlichen Ebenen, vor allem in Bezug auf ihre theologisch-spirituelle Konzeption, werden aber im Verlauf des ersten Teils der Vita kombiniert, um auf einer visuell-bildhaften Ebene die Entfaltung komplexer und abstrakter Konzepte deutlich zu machen. Die Begriffe dienen dazu, die narrative Strategie aufzuzeigen, die die Vita zu einem geschlossenen Text verdichtet und die Figur in textübergreifenden Strukturen konstituiert. Als Modellfiguren sollen diejenigen Figuren bezeichnet werden, die ein Modell aus der Heilsgeschichte anbieten, das der Diener umzusetzen sucht. Sie können konkret beim Namen genannt werden, was zum Beispiel für die Vitaspatrum gilt. Die Vitensammlung der Wüstenväter, die im Dominikanerorden zentrale Bedeutung hatte, 57 wird sowohl in einzelnen Motiven aufgenommen als auch in der Grundstruktur des Gesamttextes. 58 So ruht der Diener etwa im vierten Kapitel auf den Vitaspatrum, verwendet das Buch als Kissen. Daraufhin wird in einer Vision die IHS-Gravur, die er sich in die Brust geritzt hat, in einem göttlichen Gnadenzeichen, einem golden leuchtenden Kreuz bestätigt. Der Text, der ganz materiell als Kopfstütze verwendet wird, greift in das Leben des Dieners ein, wird durch den Kontakt zur transformierenden 57 Zur Relevanz der Vitaspatrum für den Dominikanerorden allgemein arbeitet Alain Boureau, Vitae fratrum, Vitae patrum. L’ordre dominicain et le modèle des pères du désert au XIIIe siècle, in: Mélanges de l’École française de Rome. Moyen Âge 99 (1987), S. 79-100. 58 Vgl. Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, hg. von Johannes Janota [u.a.], Tübingen 1992, S. 407-421. Williams-Krapp liest die doppelte Anlage des Textes in Vita (Teil 1) und Unterweisung (Teil 2) vor dem Intertext der Antonius-Vita, die auch in zwei Teilen aufgebaut ist: „So erinnern z.B. Struktur und Ausrichtung der ‚Vita‘ stark an das Antonius-Leben. Auch das ist in zwei Großteile gegliedert, einen biographisch-erzählenden Teil [...] und einen lehrhaften Dialog“, S. 413. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 74 Kraft. Ganz deutlich wird der orientierende Modellcharakter der Altväter im zweiten Teil, in dem der Diener eine Spruchsammlung an seine geistliche Tochter Elsbeth Stagel schickt. Diese wendet die Sprüche auf ihr Leben an, versucht also, sich die Buchstaben ebenfalls anzueignen. Sie erhält daraufhin allerdings kein göttliches Gnadenzeichen, sondern eine Rüge des Dieners, der sie dazu anhält, die Texte nicht dem Buchstaben nach auf ihr Leben anzuwenden, sondern so, wie es ihr entspreche. Auch als Modellfigur, jedoch auf andere Art, wird Paulus verwendet. Im zweiten Kapitel wird implizit das conversio-Narrativ des Paulus aufgerufen und nachgebildet. 59 So heißt es im zweiten Kapitel über den raptus des Dieners: Und so er also stat trostlos und nieman bi im noh umb in waz, do ward sin sel verzuket in dem libe neiss uss dem libe (10,15f.). Die Formulierung der Seele, die verzückt war, ohne dass der Erlebende fassen kann, ob sich die Verzückung innerhalb oder außerhalb des Leibes vollzieht, nimmt wörtlich den 2 Korintherbrief 12,3 auf: et scio huiusmodi hominem sive in corpore sive extra corpus nescio [Hervorhebung S.B.]. Der Name Paulus fällt nicht, aber der Diener wird als sein Nachfolger im Zitat inszeniert. Die Figur wird mit dem Muster des vorbildhaften Lebens des Paulus verknüpft. Für die Vita Seuses ist entscheidend, dass die Modellfiguren nicht nur von einer außen stehenden Erzählerinstanz herangezogen werden, um den Diener zu nobilitieren oder Vergleiche herzustellen. 60 Der Diener der Vita wendet die biblischen Modellfiguren vielmehr in den kulturellen Praktiken der Lektüre und hermeneutischen Auslegung auf sein Leben an, bezieht die Modellfiguren der Bibel sinnstiftend auf sein eigenes Leben, das damit eine heilsgeschichtliche Dimension erhält. Der Kontakt zwischen Figur und Modellfiguren findet sich aber nicht nur auf der Objektebene, auf der die Figur in ihren Lektüre- und Kontemplationspraktiken die Bibelfiguren als Ausgangspunkt ihrer 59 Zur Gestaltung des raptus in der Nachfolge Pauli vgl. Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, S. 364f. Michel weist ausdrücklich darauf hin, dass „Seuse die Stelle, an der Paulus seinen raptus beschreibt (2 Cor 12,2-4), nicht als Vorformulierung der unio mystica verwendet, sondern gleichsam um sich mit Anlehnungen an dessen Ausdrucksweise bei seiner Initialvision [...] unter den Schutz des Apostels zu stellen“, S. 365. Vgl. auch Alois M. Haas, Visionen, in: ders., Die Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern [u.a.] 1995, S. 179-221: „Jedenfalls steht am Beginn seiner Bekehrung dann ein úbernaturliche(r) abzug (10,10) [...], darin sich eine dem Hl. Paulus (nach 2 Kor 12,3f.) nachgestaltete Entrückungserfahrung ereignet“, S. 211. 60 Die Funktion der Nobilitierung führt Christian Kiening, Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009 (Philologie der Kultur 1), S. 47, für die Eustachius-Legende aus: „Das Hiobsmuster aufzurufen ist Teil einer in Legenden häufig geübten Praxis, Heilige durch Anlehnung an biblische Figuren un d Aussagen zu nobilitieren.“ In der Eustachius-Legende des Jacobus de Voragine, auf die sich Kiening bezieht, spricht Gott zu Eustachius, er werde ein zweiter Hiob werden. Der entscheidende Unterschied zu Seuses Vita ist das Eingreifen von außen, von göttlicher Seite, das der Figur - und damit der Legende - Geltungsanspruch verschafft. Modellfiguren und Figurenmodelle 75 Betrachtungen nimmt. Letztere werden nicht nur innerhalb kultureller Praktiken verwendet, 61 sondern generieren das Narrativ teilweise überhaupt erst. Die Narrative der Modellfiguren werden dabei auf das Lebensnarrativ des Dieners appliziert, womit das Leben des Dieners immer auch in den Spuren der Vorbilder erzählt wird. Die Bezeichnung Figurenmodell dagegen stammt aus der Narratologie und bezeichnet dort „gestaltförmige Konfigurationen von Figureninformationen, z.B. der Melancholiker oder die Extrovertierte.“ 62 Das Wissen um Figurenmodelle stamme „aus der Lebenswelt, aus den zahlreichen nicht-fiktionalen Diskursen“, 63 aber auch aus der literarischen Traditionsbildung: „Vorbild für Figuren sind zumeist andere Figuren, teilweise aus typisierten Handlungsstrukturen.“ 64 Im Kontext dieser Arbeit möchte ich den Begriff des Figurenmodells konkreter fassen. In der Vita wird der Diener vor allem über zwei Figurenmodelle semantisiert: zum einen durch das Modell des Dieners, zum anderen durch das des Ritters. Beide Modelle entstehen aus einer meditativen Betrachtung des Dieners, also in einem konkreten, kulturell gebundenen Kontext, und werden, ähnlich wie die Modellfiguren, konstitutiv für das Narrativ. 65 Die Figurenmodelle rufen über die Diener- und Ritterschaft breite Kontexte auf, deren Grenzen der Text aber selbst wieder zieht. So wird das Modell der Dienerschaft im dritten Kapitel als Minnedienst an der ewigen Weisheit entworfen: Dar umb ist nit unbillich, der so hoh minnet, ob im etwen ein widerwertiges begegent. Nim her fúr alles daz ungelúk und verdrossenheit, daz die weltminner m  ssen erliden, es si in lieb ald leid (13,16ff.). Die Ritterschaft, die im 20. Kapitel konstitutiv wird, betont den Kontext der Gottesritterschaft in deutlicher Abgrenzung von der von der kechen riterschaft [von der] dú welt pfliget ze singen und ze sagen (56,5f.). In der Vita bleiben diese beiden narrativen Strategien, die die Figur mit anderen Figuren oder mit Figurenschemata in Verbindung setzen, nicht getrennt, sondern sind eng aufeinander bezogen. Zudem konvergieren sie immer wieder mit dem Strukturmodell des Dreistufenwegs, selbst die Ordnungsschemata, die den einzelnen Stufen zugeordnet sind, werden aufgegriffen. Figurenmodell und Modellfigur werden zu Visualisierungssignalen, die die Stufen beobachtbar machen. Nicht nur die expliziten Hinweise auf das Strukturmodell im Text, sondern vor allem die markante Platzierung der Modellfiguren und der Figurenmodelle stellen aus, wo das Narrativ unterbrochen und neu ausgerichtet wird. Diese Konfigurationen liegen wie ein Netz über der Vita und 61 So etwa Maria in dem Engelthaler Schwesternbuch, wie Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, erarbeitet. Maria taucht zwar als Figur auf, mit der umgegangen wird, sie wird in fortgesetzten Meditationen zu einer Mit-Figur, doch sie verbleibt innerhalb der kulturellen Ordnung von Lektüre, Vision und Bildpraktiken ohne Einfluss auf die Erzählstruktur. 62 Fotis Jannidis, Figur und Person, S. 214. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 215. 65 Ausführlich hat zur Frage der Dienerschaft Gisela Baldus, Die Gestalt des ‚dieners‘ im Werke Heinrich Seuses, gearbeitet, besonders S. 42ff. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 76 überführen so den klösterlichen Identitätsentwurf auf eine exemplarische Ebene. Nicht das Erleben einer als historisch verbürgten heiligen Person wird hier inszeniert, sondern ein Erleben, das in seiner starken Literarisierung das Exemplarische immer wieder ausstellt. Für die Figurenbiographie ist entsprechend nicht das Erleben in der Welt ausschlaggebend, sondern die Öffnung auf die Überzeitlichkeit. Der spannungsvolle Wechsel zwischen lebensweltlichhistorischer Schließung der Figur im Klosterleben und der überzeitlich-enträumlichten Öffnung auf die Heilsgeschichte bestimmt die Figurenkonstitution der Vita. Die Öffnung der Figur auf andere Figuren und Konfigurationen ist die Form, in der Angleichung und Nachfolge narrativ vollzogen wird. Zentral für den ersten Teil der Vita ist die Figur Hiobs, die als Modellfigur an entscheidenden Stellen innerhalb des Strukturmodells auftaucht. Die Figur des Dieners wird vor der Folie der Modellfigur Hiob entworfen und transformiert. Da sie durch den ganzen ersten Teil hindurch immer wieder aufgerufen wird, kann mithilfe der Modellfigur deutlich gemacht werden, wie durch Verknüpfungs- und Verweisleistungen die Komplexität des Textes und der Figurenkonstitution gesteigert wird und die Vita ihre exzeptionelle Geschlossenheit erhält. Die Modellfigur verstärkt die Struktur, macht Bezüge zwischen unterschiedlichen Konzepten konkret und generiert so einen Teil des Narrativs. Die Modellfigur Hiob ist eng verknüpft mit dem Figurenmodell des Ritters. In der Bezeichnung frúmer riter erhält dieses Figurenmodell eine Chiffre, die den Text durch ihre wiederholte Verwendung verdichtet und zugleich deutlich die für das Strukturmodell des Dreistufenwegs relevanten Scharnierkapitel kennzeichnet. Anhand dieser ergiebigen Konfiguration des ersten Teils möchte ich zeigen, wie die Figur des Dieners in ein Verweisnetz gestellt wird, das ihn auf biblische Vorbildfiguren ebenso öffnet wie auf das Figurenmodell des Ritters. Die ‚Einkleidung‘ des Dieners in dieses Figurenmodell, die im 20. Kapitel ganz wörtlich in einer Investitur zum Ritter vollzogen wird, wurde in der Forschung immer wieder bearbeitet. Sie wurde allerdings häufig verkürzt auf Fragen nach dem Verhältnis von weltlicher und geistlicher Ritterschaft, nach den Quellen des Hiob-Bezuges auf die militia Christi 66 oder nach den Bezügen auf das historisch-staufische Rittertum. 67 Die narrative Verschachtelung im Text dagegen, in der Figurenmodell, Modellfigur und Strukturmodell aufeinander bezogen sind, gerät dabei aus dem Blick. Hier soll darum - nach einem kurzen Exkurs zur Hiob-Tradition im Mittelalter - die Verbindung zwischen Hiob und dem frúmen riter beschrieben werden, die die Figur in komplexer Weise mit zusätzlichen Bedeutungsebenen auflädt. 66 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, leistet eine Zusammenstellung der wichtigsten Bezugsquellen mittelalterlicher Autoren hinsichtlich der geistlichen Ritterschaft und Hiob. Auch geht sie in ihrer literaturwissenschaftlichen Lektüre weit. Allerdings arbeitet sie nicht heraus, wie dicht das Netz des Verweiskomplexes ‚Ritter und Hiob‘ tatsächlich gesponnen wird. 67 Gisela Baldus, Die Gestalt des ‚dieners‘ im Werke Heinrich Seuses, fragt in ihrer Arbeit auch nach den unterschiedlichen Dienstformen, die in der Vita verwendet werden. Modellfiguren und Figurenmodelle 77 2.2.1 Exkurs: Hiob im Mittelalter - Präfiguration Christi im geduldigen Leiden Der biblische Hiob wird in der Rezeptionsgeschichte ambivalent gedeutet. So erscheint er einerseits als frommer Dulder, andererseits als Rebell. 68 Als Dulder erträgt er demütig die ihm zufallenden Leiden ohne sich gegen Gott zu wenden, obwohl er sich unschuldig weiß. Er bleibt in seinem Glauben beständig. Als Rebell fordert er einerseits von Gott, ihm die Gründe für die Leidensprüfungen zu erkennen zu geben; andererseits rebelliert er gegen seine Freunde, die seine Unschuld in Frage stellen. Im traditionellen Tun-Ergehen-Schema interpretieren sie das Leiden Hiobs als Strafe für ein Vergehen. Hiob dagegen beharrt auf seiner Unschuld und bringt damit die Weltdeutung der Freunde ins Wanken. Wichtig für die Rezeptionslinie, die ihn als Rebellen zeichnet, ist seine Anklage, in der er Antwort von Gott selbst fordert. 69 Die Anklage wird von Gott beantwortet, nicht jedoch mit der Erklärung seiner Leiden, sondern indem ihm der Schöpfer die Grenzen der Geschöpflichkeit aufzeigt, die die Allmacht und Gerechtigkeit Gottes nie durchdringen kann. Die Rezeptionsgeschichte spiegelt die Ambivalenz zwischen unerschütterlichem Glauben einerseits und Auflehnung gegen das unverständliche Leiden wider, die Hiob auch und gerade für existenzielle Fragen der Moderne interessant machte. 70 Im Mittelalter dagegen ist Hiob dieser Ambivalenz unverdächtig. Die brisante Herausforderung Gottes wird in der Auslegung marginalisiert, stattdessen setzt sich die Lesart Hiobs als Präfiguration Christi durch. Traditionsbildend für diese Lesart ist Gregor der Große mit den Moralia in Iob, die im sechsten Jahrhundert entstanden und das ganze Mittelalter hindurch wirkmächtig blieben. 71 Durch die exegetische Neuwertung steht nicht mehr die 68 Exemplarisch seien aus der Kunstgeschichte genannt: Paul Huber, Hiob - Dulder oder Rebell? Byzantinische Miniaturen zum Buch Hiob in Patmos, Rom, Venedig, Sinai, Jerusalem und Athos, Düsseldorf 1986; und aus der Theologie: Jürgen Ebach, Erinnerungen an Hiob. Dulder oder Rebell? In: ders., Vielfalt ohne Beliebigkeit. Theologische Reden 5, Bochum 2002, S. 171-191. Auch Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, macht diese Ambivalenz deutlich, liest den biblischen Hiob aber vor allem als Rebellen: „Zwar ist der biblische Hiob weniger ein Dulder denn ein Rebell; er ist ein Beispiel dafür, daß es darauf ankommt, Jahwe treu zu bleiben in nicht-berechnender Liebe, auch wenn das Leiden nicht einsichtig werden kann“, S. 307f., Anm. 44. 69 Zu den beiden gegensätzlichen Perspektiven vgl. auch Jürgen Ebach, Hiob/ Hiobbuch, in: TRE 15 (1986), S. 371: „Die Bandbreite der Hiobbilder in der Rezeptionsgeschichte reicht vom ‚frommen Dulder‘ bis zum ‚Rebellen‘ Hiob.“ 70 Im Angesicht der Shoa stellten viele jüdische Autorinnen und Autoren die Frage nach der Möglichkeit eines Gottesverhältnisses im Angesicht der Katastrophe anhand der Hiobfigur, so etwa Nelly Sachs oder Karl Wolfskehl, der einen ganzen Gedichtzyklus mit ‚Hiob oder die vier Spiegel‘ überschrieb. Vgl. Georg Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiobkonzeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung, Mainz 1995 (Theologie und Literatur 1). 71 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, spricht Gregor diese Wirkmacht zu, wenn er über die gregorianischen Schriften wie folgt urteilt, S. 147: „Dieses gregorianische Erbgut konnte ungleich manchen Väterlehren niemanden Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 78 Frage nach dem gerechten Gott im Mittelpunkt, sondern die Ankunft Christi, die sich durch Hiob bereits verkündigt. Das Leiden Hiobs wird in den sinnstiftenden Zusammenhang der Passionsgeschichte gestellt, während die rebellische Seite eingeklammert wird. In seiner Auslegung des Hiobbuches, für die er die hermeneutische Methode des dreifachen Schriftsinnes anwendet, 72 aktualisiert Gregor diesen nicht leicht zugänglichen Text des Alten Testaments, 73 indem er ihn als Teil der Heilsgeschichte liest, deren Fluchtpunkt stets Christus ist. Ich zitiere dazu eine längere Passage der aufschlussreichen theologischen Analyse von Katharina Greschat zu den Moralia in Iob: „Auf diesen wahren Morgenstern, auf Christus den Erlöser läuft die gesamte göttliche Heilsgeschichte zu, ihn verkündigen deshalb auch die Erwählten des Alten Testaments, sowohl mit ihrem Leben als auch mit ihren Worten. Es gibt keinen Gerechten, der nicht per figuram für Christus steht. Insofern die Gerechten Anteil am Gutsein Gottes haben, sind sie in dem, was sie sichtbar zum Ausdruck bringen, für andere Menschen von Nutzen. Hiob steht daher gleich zweifach für Christus, mit seinen Worten kündigt er die Inkarnation an und mit seinem Leiden verweist er auf die Passion.“ 74 Greschat fasst hier paraphrasierend den Prolog, die Praefatio, zusammen, in dem Gregor den Kern seines Kommentars und den theologischen Hintergrund entwickelt. Gregors Exegese führt Hiob und Christus in typologischer Perspektive zusammen und macht diese Verbindung zum Zentrum nicht nur der Praefatio, sondern seines gesamten Kommentars: „Obwohl Gregor über weite Strecken diese Typologie ausser Acht lässt, ist nicht zu verkennen, dass diese und die mit ihr verbundene Möglichkeit der Allegorese, die Auslegung Gregors wie ein roter Faden durchzieht. Sie bildet die Tiefenstruktur von Gregors Exegese und damit den heilsgeschichtlich relevanten Sinn.“ 75 Die Möglichkeit, die Ambivalenz Hiobs aufzuheben, liegt im Inkarnationsgeschehen selbst. Das unschuldige Leiden Christi, mit dem die beunruhigen oder gar verunsichern, und so wurde Gregor zu unerschütterlichen Autorität im ganzen Mittelalter. Man ging nie fehl, wenn man sich seiner Führung anvertraute.“ 72 Vgl. Eva Tobler, Gregors ‚Moralia in Iob‘. Zur Beziehung zwischen Primär- und Auslegungstext, in: Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik I, hg. von Paul Michel und Hans Weder, Zürich 2000, S. 161-172, hier S. 161: „Gregors methodisches Instrumentarium ist die mehrfache Exegese aufgrund drei verschiedener Schriftsinne: dem sensus litteralis, dem sensus allegoricus und dem sensus moralis.“ Tobler arbeitet in ihrem Aufsatz detailliert heraus, wann Gregor welchen Schriftsinn heranzieht. 73 Auf die Unzugänglichkeit des Textes verweist Gregor selbst, vgl. Paul Michel, Die Schrift ermutigt die Einfältigen und demütigt die Weisen. Gregor der Große, Widmungsbrief zu den ‚Moralia in Iob‘, in: Significatio. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik II, hg. von Regula Forster und Paul Michel, Zürich 2007, S. 49-66, hier S. 49: „Gregor erkennt die Heterogenität des Bibeltextes, insbesondere die Dunkelheit des Buches Hiob“. 74 Katharina Greschat, Die Moralia in Job Gregors des Grossen. Ein christologisch-ekklesiologischer Kommentar, Tübingen 2005 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 31), S. 71. 75 Eva Tobler, Gregors ‚Moralia in Iob‘. Zur Beziehung zwischen Primär- und Auslegungstext, S. 169. Modellfiguren und Figurenmodelle 79 Menschheit erlöst wurde, wird in der typologischen Denkform auf Hiob zurückprojiziert. Sein Leiden wird in einen Sinnkontext gestellt, das Leiden Hiobs wird sinnstiftend auf die Passion Christi bezogen. Die typologische Leserichtung ist nicht chronologisch: „Es ist nicht Hiob, der Christus ankündigt, sondern umgekehrt: Christus verkündigt sich in seinem Diener Hiob denen, die - nach Interpretation Gregors des Großen - das Alte Testament verstehen.“ 76 Aus dem unschuldig Geprüften wird so eine figura Christi, in Hiob ist „auch der leidende Christus präsent.“ 77 Die Auslegung Hiobs als Präfiguration Christi findet ihre Basis im Thema des unschuldigen Leidens. 78 Neben dem Ringen um Einblick in den göttlichen Plan ist es vor allem die geduldige Annahme des Leidens, die Hiob auszeichnet. Alles Unheil erträgt Hiob und er äußerte nichts Ungehöriges gegen 76 Ulf Wielandt, Hiob in der alt- und mittelhochdeutschen Literatur, Freiburg/ Br. 1970 (Diss. masch.), S. 91. Die Arbeit von Ulf Wielandt gibt einen Überblick über die ihm 1970 bekannten Quellen, in denen entweder aus dem Hiobbuch zitiert wird oder Hiob und seine Familie als Figuren verwendet werden. Ein methodisches Problem, das bei dieser Art von Studie entsteht, ist die Entkontextualisierung der Belegstellen, die beispielsweise bei den Zitaten der Seuse-Texte zu nur bedingt richtigen Aussagen führen. So verwundert sich Wielandt etwa darüber, dass „Seuse den von allem verlassenen Hiob hier zitiert“, S. 116 (gemeint ist Kapitel 24), obwohl er doch Trost bei Gott finde. Seuse - Wielandt spricht ungebrochen von Seuse statt vom diener - habe ein „persönliches Verhältnis zu dem Schicksal Hiobs“, ebd., doch der Unterschied läge in der Zugänglichkeit Gottes. Während Seuse Trost beim barmherzigen Gott fände, bliebe er für Hiob ein ewiges Rätsel. Wielandt übersieht dabei, dass Hiob bereits in Kapitel 20 eingeführt wurde - was in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit textnah diskutiert wird - und dadurch die Betrachtung des dieners keineswegs erstaunlich ist. Zudem ist zu betonen, dass die Beziehung zwischen Figur und biblischem Vorbild, wie auszuführen ist, auf intensiven Lektürepraktiken und der Anwendung der Heiligen Schrift im eigenen Leben beruht. In der Vita wird Hiob nicht als ambivalente Figur gezeigt, die um Einsicht in Gottes Geheimnisse ringt, sondern als großer Leider, der in der Inkarnation seine Vollendung findet. 77 Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, Berlin/ New York 2006 (Scrinium Friburgense 21), S. 91. Mertens Fleury arbeitet an dieser Stelle die typologischen Signale einer Miniatur heraus, die im Kontext der compassio ein affektives Mitleiden mit Hiob auf Christus hin transparent macht. In Anm. 208 finden sich einige weiterführende Titel zur ikonographischen Tradition Hiobs. Bei Seuse gewinnt die compassio allerdings eine Erweiterung. Sie wird nicht mehr nur als affektives Mitleiden formuliert, sondern auch als effektive imitatio der leidenden Vorbilder. Zur Unterscheidung von affectus-effectus bei Augustinus vgl. Rudolf Mohr, Erbauungsliteratur II, in: TRE 10 (1982), S. 43-50, hier v.a. S. 47f. 78 In dieser Perspektive wird etwa auch der Name Hiobs von Gregor dem Großen ausgelegt, wie Eva Tobler, Gregors ‚Moralia in Iob‘. Zur Beziehung zwischen Primär- und Auslegungstext, S. 166, ausführt: „Wenn der Name einer alttestamentlichen Figur dolens bedeutet, liegt es für christlich-mittelalterliches Denken, das ein typologisches Denken ist, nahe, in dieser Figur einen Typos, nämlich die Praefiguration Christi zu sehen. Der leidende, aufgrund von 1,21 (DOMINUS DEDIT DOMINUS ABSTULIT SIT NOMEN DOMINUM BENEDICTUM) völlig Gott ergebene Hiob war das Mittelalter ein Paradebeispiel einer Christuspraefiguration.“ Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 80 Gott (Hiob 1,22). Die vereindeutigende Lesart Hiobs als leidender Dulder ist in der Bibel selbst schon angelegt. So wird Hiob im Neuen Testament zum herausragenden Exemplum für geduldiges Leiden, das ihm durch den barmherzigen Gott vielfach vergolten wird. Die entsprechende Stelle findet sich im Jakobus-Brief (5,11), wo zur Ausdauer gemahnt wird, für die Hiob als Gewährsmann steht: Ecce beatificamus qui sustinuerunt sufferentiam Iob audistis et finem Domini vidistis quoniam misericors est Dominus et miserator. (Wer geduldig alles ertragen hat, den preisen wir glücklich. Ihr habt von der Ausdauer des Ijob gehört und das Ende gesehen, das der Herr herbeigeführt hat. Denn der Herr ist voll Erbarmen und Mitleid.) Das Neue Testament betont gerade nicht das Ringen um die Wahrheit des unschuldig Leidenden, sondern die geduldige Gottesliebe im Leiden. Und diese Lesart hat die Bibelkommentare des Mittelalters bestimmt, für die Hiob ein Emblem der patientia war. 79 Der unschuldig leidende Hiob bietet sich als Typus an, um auf den unschuldig am Kreuz sterbenden Christus als erfüllenden Antitypus zu verweisen. Diese Auslegung Hiobs, die sich auf das demütige Ertragen des Leidens konzentriert, findet auch bei Seuse ihre Anwendung, allerdings auf ganz spezifische Art und Weise. Es ist nicht ein einfacher Vergleich, der zwischen Diener und Hiob gezogen wird. Die Struktur der biblischen Erzählung wird vielmehr verwendet, um den Text überhaupt zu generieren und dann typologisch zu transgredieren. In diesem typologischen Spannungsfeld von Verheißung und Erfüllung wird das Lebensnarrativ des Dieners letztlich zur Vollendung geführt. 2.2.2 Minneleiden und Entbehrung - Hiob im Bild und in der narrativen Entfaltung Im Exemplar Seuses taucht Hiob bereits vor dem Anfang der Vita auf. Noch vor dem Textbeginn findet sich eine Zeichnung, die die gemahelschaft der Seele des Dieners mit der ewigen Weisheit zeigt. Alle bebilderten Handschriften öffnen mit dieser ganzseitigen Zeichnung auf der verso-Seite, der der Prolog des 79 So findet sich Hiob bereits seit Origines immer wieder in Figurenreihen, die alttestamentliche Figuren mit Tugenden verknüpfen. Und während beispielsweise Abel für Unschuld, Abraham für Gehorsam und Mose für Milde steht, ist Hiob die figurative Umsetzung der Geduld. Diese Reihen setzen sich fort bis ins Mittelalter, wo sie sich noch bei David von Augsburg finden, der sie didaktisch einsetzt: Alsô lerne von eine diemuot, von dem andern gedult, von dem dritten kiuschheit [...] Merke Abrahames gehorsam, Jobes gedult, Moyses senftmüete, David von Augsburg, Die vier fittige geistlicher betrachtung, in: Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, hg. von Franz Pfeiffer, Leipzig 1845, S. 352. Die prägende Wirksamkeit des geduldig leidenden Hiobs stellt auch Ulf Wielandt, Hiob in der alt- und mittelhochdeutschen Literatur, S. 31, fest: „Beide Stellen [gemeint ist neben Jacobus 5,11 auch Tobias 2,12, Anm. S.B.] haben das Bild von Hiob als dem geduldig Leidenden geprägt, wobei Jacobus 5,11 von größerem Einfluß auf die Kommentatoren des Mittelalters gewesen sein dürfte. Durch die Vermittlung dieser Bibelkommentatoren, besonders die Gregors des Großen, hat dieses Bild Hiobs Eingang in die Literatur des deutschen Mittelalters gefunden.“ Modellfiguren und Figurenmodelle 81 Exemplars auf der folgenden recto-Seite gegenüber steht. 80 Gerahmt werden die beiden zentralen Figuren von Halbfiguren, die die alttestamentlichen Könige David und Salomon, die heidnische Autorität Aristoteles und eben Hiob zeigen. Allen Figuren sind Spruchbänder beigegeben, die von Seuse teils collagierte Bibelverse zum Thema ‚Weisheit‘ beinhalten. 81 Die Zeichnungen wurden wohl von Seuse selbst konzeptualisiert, vielleicht sogar ausgeführt: „Nach allgemeiner Auffassung und in Übereinstimmung mit dem eigenen Bericht des ‚Exemplars‘ gehen die Illustrationen auf Ideen oder Entwürfe zurück, die von Seuse selbst stammen, womöglich auch von ihm gezeichnet wurden.“ 82 Der Diener wird schon im ersten Bild programmatisch auf biblische Figuren sowie auf die heidnische Autorität Aristoteles geöffnet. Die Zeichnung zeigt die Figur von vornherein nicht als geschlossenen ‚Charakter‘. Ihre Kontur gewinnt sie vielmehr aus ihren Bezügen zu anderen Figuren heilsgeschichtlicher Provenienz. 83 Die Figuren, die den Diener umgeben, sind als Modellfiguren im hier entwickelten Sinn zu verstehen. Durch die mediale Umsetzung im Bild werden die biblischen Figuren nicht nur über Textzitate aufgerufen, sondern sie werden als Figuren im Kontakt mit der Figur des Dieners abgebildet. Sie sind nicht Teil der horizontalen Figurenkonstellation, in der soziale Beziehungen beschrieben werden, etwa die Mitbrüder im Kloster oder die Beichtkinder des Dieners. Sie stehen vielmehr in vertikaler Beziehung zum Diener und rufen eine heilsgeschichtliche Dimension auf. Die biblischen Figuren im Bild formen die Figur des Dieners, der sich als Fortsetzung dieser Ahnenreihe heiliger Vorbilder konkretisiert. Sie sind die sinnliche Gestaltwerdung der Heiligen Schrift, die den Diener nicht nur als Buchstaben umgeben, sondern als Mit-Figuren. Im ersten Bild wird vor Augen geführt, dass diese 80 Vgl. dazu Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 19: „Die Anlage und Komposition des ersten Bildes weisen in den einzelnen Handschriften und Drucken nur geringe Abweichungen auf. Es steht immer vor dem Prolog auf einer verso-Seite: der Betrachter hatte in allen Fällen die Überschrift, die ersten Zeilen des Prologs sowie das Bild gleichzeitig vor Augen.“ 81 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 8 (folio 1 v ). Die Collagetechnik arbeitet Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 67f., heraus. 82 Dazu Jeffrey F. Hamburger, Heinrich Seuse, ‚Das Exemplar‘, S. 159. 83 Vgl. auch Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, S. 307ff. Im Kapitel mit der Überschrift: ‚Biblische Figuren als Modelle zur Deutung der eigenen Person‘ arbeitet Michel die wichtigsten Bezugspunkte zwischen Dreistufenmodell und biblischen Figuren heraus. Wichtig sind seine Anmerkungen zur Funktion der biblischen Figuren als Modelle: „Modelle sind im Gegensatz zum abstrakten ‚praeceptum ‘ (auch in seiner camouflierten Form, der Sentenz [...]) immer anschauliche ‚Förderungsgestalten‘ von ‚Handlungsdispositionen‘, ‚durch ihre Konkretheit ebensosehr der direkten Nachahmung entzogen wie der Nacheiferung empfohlen.‘“ S. 311. In seinen Ausführungen konzentriert sich Michel dabei auf das punktuelle Auftauchen der biblischen Figuren. Nicht im Fokus seiner Untersuchung steht die Spezifik der Vita, auch über die biblischen Figuren Verknüpfungen im Text herzustellen. Dies soll im Folgenden anhand der Figur Hiobs nachgezeichnet werden. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 82 Figuren mit dem Diener in Beziehung stehen und seine religiöse Identität in Bild und Text entwerfen, konstituieren und modifizieren. Anstatt die Bibel etwa in einem Kommentar auszulegen und sich der Weisheit so deutend anzunähern, zeigt das Bild die Weisheit als Teil einer Minnebeziehung. Die Bibel, die über Zitate auch wörtlich präsent ist, bleibt nicht ein eindimensionaler Text, sondern wird als Figurenaufführung gestaltet, in deren Mittelpunkt die Seele des Dieners steht. Hiob wird im ersten Bild folgendes Zitat zugeordnet: Sapiencia non inuenit in terra suauiter uiuentium. 84 Das lateinische Zitat stammt aus dem 28. Kapitel des Hiobbuches, dem sogenannten Lied auf die Weisheit. 85 Die Weisheit, so heißt es dort, wird nicht wie Edelmetalle und Edelsteine in der Erde gefunden. Und jene technischen Fertigkeiten, die zur Einsicht in die Tiefe von Meer und Erde führen, versagen bei der Suche nach der göttlichen Weisheit. Die Weisheit findet sich nicht in der Lebenden Land, lautet die Einheitsübersetzung. Im Lied auf die Weisheit sind der Weg zur Weisheit und ihr Ort nur Gott bekannt. Das lateinische Zitat wird in einer volkssprachlichen Paraphrase in der Beischrift zu Hiob folgendermaßen übersetzt: Wer sines libes mit zartheit wil pflegen, der endarf sich der ewigen wisheit minn nimmer angenemen. Der welt minne m  ss er lan, der die ewigen wisheit ze einem liep wil han. 86 Die sprachliche Gestaltung begünstigt die Memorierbarkeit der sentenzhaften Sätze, die durch die Assonanz (pflegen - angenemen) und durch den Reim (lan - han) verdichtet werden. Seuses Übertragung, so zeigt sich unmittelbar und wird von Martin Kersting im Detail nachgewiesen, ist allerdings eher Kommentar als Übertragung: „In der Übersetzung benutzt er [...] andere Gedanken der Bibel, die die Aussage des lateinischen Zitates verstärken.“ 87 Tatsächlich verstärken die Übertragungen aber die Aussage des lateinischen Zitats nicht nur, sondern sie perspektivieren das lateinische Zitat ganz anders. Im Lied auf die Weisheit ist die Weisheit der Souveränität Gottes untergeordnet, nur Gott weiß, wo ihr Ort ist. 88 In der Paraphrase aber wird ein Weg aufgezeigt, wie man mit der 84 Hi 28,13f. Die Abbreviaturen der Handschriften hat Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, vorgenommen, S. 21. 85 Hi 28 wird als ursprünglich selbständiges Lied diskutiert, vgl. Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament, Berlin/ New York 1995, S. 339. Interessanterweise wird dort die Weisheit gerade nicht als Person besungen, sondern im Vergleich mit dinghaften Gegenständen. Weisheit, so die Kernaussage des Liedes, kommt dabei „weder den Freunden noch Hiob, sondern allein Gott zu“, ebd. Markus Saur, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Darmstadt 2012, gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Bücher der Weisheitsliteratur. 86 Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 21. 87 Ebd., S. 69. 88 Markus Saur, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, schlägt vor, das Hiobbuch nicht nur als Auseinandersetzung um das Problem menschlichen Leidens zu lesen, „sondern als eine Entfaltung der Lehre von der Souveränität Gottes“, S. 105. In diesen Kontext ordnet er Hi 28 ein: „Während die Weisheit nirgendwo zu finden ist und keiner den Weg zu ihr kennt, erweist sich Gott als Souverän, denn er weiß um den Modellfiguren und Figurenmodelle 83 Weisheit in Beziehung treten kann. Wenn diese nämlich nicht von dieser Welt ist, so die Paraphrase, muss auch der Mensch, der sie erkennen will, auf alle weltliche Bindung verzichten. Der Körper ist das erste Hindernis, das der Einsicht im Weg steht; die Weltminne, also die affektive Bindung an irdische Güter im Allgemeinen, wird zum Ausschlusskriterium für eine Liebesbeziehung zur ewigen Weisheit. Während im alttestamentarischen Text gerade die Entzogenheit Gottes im Vordergrund steht, die jeglicher menschlichen Erkenntnis verborgen bleibt, formt die Auslegung Seuses in der Paraphrase indirekt einen Weg, diese Verborgenheit zu durchdringen. Indem Körper und weltliche Bindung aufgegeben werden, wird ein Zugang zur Weisheit denkbar. In dieser Vorstellung sich auflösender irdischer Bindungen scheint also bereits programmatisch das Konzept der Gelassenheit auf, wie es ab dem 19. Kapitel in der Vita narrativ entfaltet wird - ebenfalls mit Hiob als figurativer Konkretisation. Die volkssprachliche Paraphrase im Bild ist nun aber nicht einfach eine freie Übertragung Seuses, sondern auffällig verwoben mit dem Text der Vita. Die Konkretisation und Ausgestaltung erfolgt zunächst im dritten Kapitel der Vita. 89 Dieses Kapitel referiert bereits in der Überschrift Wie er kam in die geistlichen gemahelschaft der ewigen wisheit auf das erste Bild, das mit einer fast identischen Bildüberschrift versehen ist: Disú bild bewisent der ewigen wisheit mit der sele geischlich gemahelschaft. 90 Hier wird das Zitat, das durch die Zeichnung Hiobs eine Vekörperung erhielt, aufgenommen und narrativ ausgeführt. Erzählt wird der Anfang der Minnebeziehung zwischen Diener und ewiger Weisheit, der sich in einem komplexen, mehrstufigen Lektüreprozess vollzieht. 91 Da die ewige Weisheit - wie im lateinischen Bildzitat ausgeführt - entzogen und unsichtbar ist, hadert der Diener im Inneren mit der Forderung, trotz Unkenntnis seiner Geliebten für sie Entbehrung zu erleiden. Er führt genau an, was in der Sentenz des Bildes als Hindernis gesetzt wird: Die Minneherrin (minnerin) wäre einfach zu lieben, wenn sie ihren Dienern erlauben würde, sich nicht körperlichen Entbehrungen auszusetzen. Dabei greift er teilweise wörtlich auf, was die Sentenz des Bildes ablehnt: Disú herú minnerin weri g  t lieb ze haben, liessi si ire diener dez libes wol und zartlich pflegen. (13,9f.) Lib, zartheit und pflegen - mit dem gleichen Vokabular wird Weg und den Ort der Weisheit.“ Hi 28 führt vor Augen, dass der menschlichen Weisheit und Einsicht die Grenzen der Geschöpflichkeit gesetzt sind, „[w]er immer meint“, so Saur, S. 105f., „die Welt aufgrund eigener Weisheit deuten und die Vorgänge in der Welt mit Hilfe eigener Einsicht erklären zu können, dem hält Hi 28 entgegen, dass sich derartige Fähigkeiten dem Menschen grundsätzlich entziehen [...]. Dem Mensch bleibt nur die Furcht Gottes.“ Auf die Gottesfurcht verweist im ersten Bild des Exemplars übrigens das Zitat, das der Figur Davids beigegeben ist: Initium sapientie timor domini - Ein anvang der g  tlichen wisheit ist got flisschlich dienen in vorchtlicher beh  tkeit, vgl. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 20. 89 Vgl. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 69. 90 Ebd., S. 20. 91 Zum Aneignungsprozess vgl. ausführlich Kapitel 3.1.3 Performative Selbstsetzung in der Lektüre. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 84 in Bild und Text entwickelt, was sich als Barriere zwischen Mensch und ewige Weisheit schiebt. Aus der Aufforderung des Bildes, die Weltbindungen aufzugeben für die Liebesbindung an die ewige Weisheit, wird im Text eine innere Klage, die aufzeigt, mit welchen Schwierigkeiten diese Forderung verbunden ist. 92 Der Diener zitiert in seiner Klage die ewige Weisheit selbst, die von ihm leidende Entbehrung fordert: Nu sprichet si also: ‚g  tú mursel und starken win und langes schlaffen, wer dez wil pflegen, der endarf sich der wisheit minne niemer an genemen.‘ (13,11-13) Zitiert wird eine Kombination aus Spr 6,10 und 21,17 und dem Spruchband des ersten Bilds des Exemplars. 93 Der zweite Teil des Satzes ist in Bild und Vita identisch, der erste Teil wird in der Vita stärker konkretisiert und hält sich enger an die biblische Quelle. Was im Bild allgemeingültigabstrakt bleibt, setzt der Text der Vita exemplarisch um. Die existenziellen Fragen, die die Forderung nach Entbehrung in der Liebe zur ewigen Weisheit stellt, werden in der Vita aufgeworfen und ausgestellt. Während das Bild eine Sentenz formuliert - die Notwendigkeit des Verzichtes -, führt der Text performativ vor, mit welcher Problematik die Forderung verbunden ist. Das Leiden für einen entzogenen Gott - oder für die entzogene Minneherrin, die ewige Weisheit - wird eben gerade nicht nur abstrakt formuliert als Sentenz, sondern narrativ umgesetzt im Klagemonolog des Dieners, der keine allgemeinen Postulate setzt, sondern alles in Frage stellt und konsequenterweise mit einer Frage abbricht: Wa wurden ie keinem diener so hertú spil fúr geworfen? (13,13f.) Liebe wird mit Leiden und Entbehrung verbunden und diese Spannung verkörpert im ersten Bild Hiob. Hiobs lateinisches Zitat, das Seuse assoziiert mit einer Kompilation aus der biblischen Sprüchesammlung, taucht im Narrativ wieder auf. Und damit indirekt auch Hiob, der Teil der Weisheitsliteratur ist und ein Zeuge für den Zugang zur ewigen Weisheit. Das dritte Kapitel ebenso wie das erste Bild stellen die gemahelschaft zwischen der Seele des Dieners und 92 Ich gehe hier von der Abfolge im Textkörper aus: Die Rezipientinnen sehen erst das Bild, dann den Text. Produktionstechnisch war es wohl eher umgekehrt: Aus dem Text wurde das Bild abstrahiert. Insgesamt aber fordert die enge Verbindung von Text und Bild dazu heraus, die lineare Lektüre aufzubrechen und zwischen Bild und Text, die sich gegenseitig erhellen, zu wechseln. 93 Die Bibelstellen hat bereits Karl Bihlmeyer nachgewiesen, Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 13, Anm. zu Zeile 11-13. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, greift sie auf und führt sie etwas weiter aus, S. 69. Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, arbeitet als eine mögliche Strategie im Umgang mit Bibelzitaten ‚Assoziation, Kompilation, Kontamination von Bibelzitaten‘ heraus, so die Überschrift von Kapitel 2.3, S. 290. Michel führt dabei Zitate an, die nicht, wie an der hier besprochenen Textstelle, direkt mit lateinischen Bibelzitaten konfrontiert, sondern frei kompiliert sind. Auch bei der Paraphrase, wie sie im ersten Bild und in Kapitel drei vorliegt, zeige sich „Seuses assoziatives Vorgehen“, S. 290, das frei über die Zitate verfüge. Michel verweist auch darauf, dass wohl die meisten Zitate aus dem Gedächtnis der auswendig beherrschten Bibelstellen entstammen, S. 288. Er „entleiht treffende Formulierungen, die er ganz aus dem ursprünglichen Kontext ausbricht“, S. 296. Modellfiguren und Figurenmodelle 85 der ewigen Weisheit dar. Doch beiden ist zusätzlich Hiob zugeordnet, der eben nicht für eine Minne in der Tradition der Hoheliedexegese steht, sondern für Entbehrung, Verlassenheit und Erprobung. Minne als Leiden ist daher der Leitspruch, der dem Diener zur Hand gegeben wird. 94 Das Bild fungiert mit der Sentenz als Synthese der narrativen Entfaltung, als Synthese, deren gereimter Spruch die Memorierbarkeit und Eingängigkeit in den Vordergrund stellt. Der Text dagegen stellt die Anwendung aus, die Umsetzung der Sentenz im exemplarischen Leben des Dieners. Das dritte Kapitel entwickelt, wie im wiederholten Lektüreprozess der Weisheitsliteratur und deren meditativer Betrachtung ein inneres Bild entsteht. Denn am Kapitelende zeigt sich die ewige Weisheit vor den inneren Augen des Dieners und zwar in der Form, in der er sie in den usgeleiten bischaften der schrift (14,9) vorfindet: Das innere Bild ist die Aneignung der bildlichen Erzählungen, wie sie die Heilige Schrift anbietet; und dieses innere Bild referiert genau auf die erste Zeichnung. Der mediale Wechsel stellt zwei sich ergänzende Sinngefüge aus. Während das Bild, dem Prolog des Exemplars gegenüberliegend, programmatisch den Diener in seinen vertikalen Beziehungen öffnet, zeigt das dritte Kapitel, wie ein solches Bild überhaupt erst in kulturellen Praktiken hergestellt werden muss. Der Diener hat sich in Lektüre und Betrachtung ein inneres Bild angeeignet, das in der Anlage der Handschrift ausgelagert wird und an den Beginn gestellt ist. Dieses erste Bild, die materielle Zeichnung der inneren Bilder des dritten Kapitels, zeigt die biblischen Figuren, 94 Auf die Zusammengehörigkeit von Minne und Leiden verweist auch Stephanie Altrock, ‚...got wil, daz du nu riter siest.‘ Geistliche und weltliche Ritterschaft in Text und Bild der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, in: Höfische Literatur und Klerikerkultur: Wissen - Bildung - Gesellschaft. Xth Triennial Conference der Internationalen Gesellschaft für höfische Literatur (ICLS) vom 28. Juli bis 3. August 2001 in Tübingen, hg. von Ingrid Kasten und Andrea Sieber, Tübingen 2002 (Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS), S. 107-122, die ein Modell vorschlägt, in dem Minne und Aventiure in der Thematik des Leidens konvergieren. Sie geht von einer Diskursverschränkung der geistlichen Literatur mit „höfisch-romanhaften bzw. heldenepischen Literaturmodellen“ aus, S. 116. Obwohl gerade die Verschränkung von Minne und Ritterschaft unmittelbar einleuchtet, stellt eine zu starke Betonung der höfischen beziehungsweise heldenepischen Komponente die biblisch-liturgischen Bezüge zu sehr in den Hintergrund. Zwar wird der Diener bspw. im dritten Kapitel als Minnediener inszeniert, doch die Inszenierung läuft gänzlich vor der Folie einer intensiven Bibellektüre ab. Und er wird ab Kapitel 13 zwar eng verknüpft mit Vorstellungen einer Ritterschaft, aber diese Vorstellungen werden ebenfalls fast zur Gänze abgeleitet aus biblischen Texten. Auf die Verbindung von Liebe und Leid geht ebenfalls kurz ein Richard F. Fasching, Ein Text Heinrich Seuses? Untersuchungen zum Prolog des ‚Solothurner Legendars‘, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte, hg. von Barbara Fleith und René Wetzel, Berlin/ New York 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 327-372, hier S. 358, der die Verschmelzung unterschiedlicher Traditionen betont: „Seuse selbst tritt aufgrund einer Audition in der Rollenfigur des Dieners innerhalb der ‚Vita‘ in die Gottesbrautschaft mit der ewigen Weisheit ein (Vita 12,19-13,2), wobei in der Stilisierung der Liebesbindung an die Weisheit unter Einbeziehung der Themen minne und leid traditionelle Hoheliedexegese mit den Vorstellungen des höfischen Minnedienstes verschmilzt.“ Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 86 die dem Diener Wissen über die Weisheit offenbaren. Es zeigt auch, wie der Diener aus den Zitaten im Prozess der Aneignung selbst Teil der biblischen Offenbarung wird, in deren Zentrum seine Minnebeziehung zur Weisheit steht. Hiob verkörpert dabei den Aspekt der Entbehrung, die als Voraussetzung für die Hohe Minne gesetzt wird. Das Wissen um das Leiden in der Liebe findet in seiner Figur eine Verkörperung. Hiob im ersten Bild gibt den in der gesamten Weisheitsliteratur verstreuten Zitaten, auf die sich vor allem das dritte Kapitel bezieht, einen Figurenkörper, an den die Zitate angeheftet werden können. Indem sie in Hiob verkörpert werden, können die Zitate in eine Beziehung zum Diener und zur ewigen Weisheit treten. Das Bild ermöglicht es, die biblischen Zitate als Beziehungssystem darzustellen. 2.2.3 Das Figurenmodell des frúmen riters Während die Hiob-Erzählung im dritten Kapitel nur über biblische Zitate präsent gehalten und durch die Verweise auf das erste Bild anwesend gemacht wird, führt das 13. Kapitel das zentrale Thema der Vita ein: Leiden als Weg zu Gott und damit die Lebensform einer vita passiva, wie sie Seuse entwickelt. 95 Im Gegensatz zu den vorhergehenden Kapiteln fünf bis zwölf, die ausführlich Praktiken der Habitualisierung vorführen und vor allem auf Liturgie und Gebet fokussieren, entwickelt der Text nun Orientierungsmodelle, die den nach Vollkommenheit strebenden Menschen im Leiden anleiten sollen. In einer ausführlich dargestellten Passionsbetrachtung überformt der Diener im 13. Kapitel den Kreuzgang des Klosters im meditativen Gebet mit Vergegenwärtigungen aus der Leidensgeschichte Christi. Aus dem vorgefundenen Raum wird ein „Gedächtnisort der Passion im Vollsinn der liturgischen memoria passionis.“ 96 Die einzelnen Stationen der Passionsgeschichte werden vom Diener nachvollzogen. Der Nachvollzug hat dabei sowohl eine meditative als auch eine körperasketische Komponente, denn der Diener wechselt zwischen inneren Betrachtungen der Leidensstationen, Gebeten und Nachvollzug 95 Vgl. Philipp Stoellger, Passivität aus Passion, der in der Vita die Lebensform einer vita passiva entwickelt sieht, die „Ausdruck und Resonanz der Kreativität der christologisch bestimmten Passivität“ sei, S. 182. 96 Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, S. 27. Zu den Szenen der Passion, die im Allgemeinen zu den Kreuzwegen gezählt werden, vgl. Ulrich Köpf, Passionsfrömmigkeit, TRE 26 (1996), S. 722-764, hier vor allem S. 742. Aus dieser Form der Passionsbetrachtung entwickelten sich, so Köpf, im 15. Jahrhundert weitere Formen der individuellen Passionsmeditation. Köpf geht allerdings kaum auf die Relevanz der Verbindung von körperlichem und geistigem Nachvollzug ein. Er stellt ausschließlich den meditativen Vollzug in den Vordergrund, der körperliche Aspekt erscheint lediglich als „Formen einer in der Regel individuell und heimlich praktizierten Leidensnachfolge mit sorgsam ausgedachten Übungen und Kasteiungen bis hin zur blutigen Selbstverstümmelung [...]. In diesen Phänomenen zeigt sich die äußerste Konsequenz einer auf die Verdienstlichkeit des Leidens fixierten Passionsfrömmigkeit“, S. 738. Diesen Aspekt stellt die Vita in den Kapiteln 14 bis 18 durchaus zur Disposition. Nichtsdestotrotz spielt der Körper als Medium eine zentrale Rolle innerhalb der Praktiken zum Nachvollzug der Passion, ohne dabei lediglich auf den Aspekt der Verdienstlichkeit reduziert werden zu können. Modellfiguren und Figurenmodelle 87 in Körpergesten. Wiederholtes Niederknien, Herumgehen, um der Trägheit zu entgehen, Küssen des Bodens bis hin zur Geißelung unter dem Kreuz; die memoria passionis umfasst den gesamten Körper. 97 Die sorgfältige und aufwändige Inszenierung, die der Diener in seiner Übung entwirft, zielt auf eine Vergegenwärtigung der Passionsgeschichte nicht nur im intellektuellen Nachvollzug, sondern im Mitvollzug, der vor allem am Körper sichtbar wird. Die Bedeutung des Körpers als Leidensträger im 13. Kapitel arbeitet Niklaus Largier heraus: „Was die Schrift und das Bild des leidenden Christus am Kreuz verkünden, hat demnach seine eigentliche Bedeutung nicht als Glaubensinhalt, nicht als eine Form von Wissen, sondern als Praxis der Mimesis im Leiden, durch die der Mensch vergöttlicht werden soll. Die Auferstehung des Körpers und der Sieg über den Tod, die Lust, die in Gott schließlich erfahren wird, ist nur über die Angleichung im Leiden zu erreichen. So ist denn der Körper, nicht bloß der Intellekt der Ort, wo die Schrift und ihr verborgener Sinn Wirklichkeit wird.“ 98 Schmerz und Blut binde, so Largier, den Körper mimetisch an Christus. Die Räume der Vergegenwärtigung, die der Kreuzgang als Außenräume zur Verfügung stellt, werden im Inneren des Dieners zu Imaginationsräumen, die Ebenen von Imagination und Außenwelt korrespondieren miteinander. Wenn er die Kreuztragung innerlich betrachtet, so bewegt sich der Diener äußerlich im Raum, als nehme er am Gang Christi nach Golgatha teil. Er steht auf, um sich als Begleiter möglichst nahe bei Christus zu imaginieren. Die Beschreibung, wie er den leidenden Christus wahrnimmt, pendelt zwischen Präsenz und Differenz. Denn einerseits wird ihm Christus so gegenwärtig, als ob er ihm körperlich nahe sei. Andererseits betont der Text von Anfang an, dass die Gegenwärtigkeit ein (inneres) bild sei. Der ganze Satz lautet: Und daz bild waz im etwen als gegenwúrtig, reht als ob er liplich an siner siten giengi (36,4). Der Text zeigt, wie in der Kontemplation Nähe als Gegenwärtigkeit hergestellt werden kann, aber ebenso deutlich, wie die inneren Bilder stets durch Differenz zum Urbild gekennzeichnet sind. 99 Der Diener bleibt aber nicht dabei stehen, in der Passionsbetrachtung innere Bilder zu produzieren. Der Text geht über diese performative Dimension 97 Vgl. Marcus Beling, Der Körper als Pergament der Seele. Gedächtnis, Schrift und Körperlichkeit bei Mechthild von Magdeburg und Heinrich Seuse, in: Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, hg. von Clemens Wischermann und Stefan Haas, Stuttgart 2000 (Studien zur Geschichte des Alltags 17), S. 109-132, hier S. 123f. 98 Niklaus Largier, Lob der Peitsche, S. 49. 99 Auch die als-ob-Struktur des Satzes verweist auf die Differenzsituation bei der Bildproduktion. Rein auf die präsentische Seite hin deutet Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, die Szene: „Ganz im Sinne der ars memorativa werden die Orte des Klosters zu Erinnerungsorten der Passion. Dies freilich nicht im Sinne eines intellektuellen Gedenkens, sondern um Präsenz zu erzeugen: ‚Und daz bild waz im etwen als gegenwúrtig, reht als ob er liplich an siner [Christi] siten giengi.‘ Die Imaginationsübung im Raum zielt letztlich auf nichts anderes als die Überbildung des Betrachters“, S. 27. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 88 eines intensivierten Nachvollzugs hinaus, wenn der Diener seine Imaginationen selbst auslegt. Das Bild, in dem er Christus bei der Kreuztragung begleitet, bezieht der Diener selbst auf das Alte Testament. Er verbindet sein inneres Bild von Christus, dem er folgt, in typologischer Ausdeutung mit König Davids Vertreibung aus dem Königreich. Wie diesem die treusten Knechte zur Seite standen, so steht auch der Diener Christus zur Seite: Und daz bild waz im etwen als gegenwúrtig, reht als ob er liplich an siner siten giengi, und gedahte also, do der kúng David von sinem kúngrich was verstossen, wie do die frúmsten riter an siner siten umb in giengen (36,4ff.). Der Diener deutet seine Passionsbetrachtung selbst weiter aus, seine Nachfolge Christi stellt er in Relation zur Nachfolge der Getreuen Davids. Dabei bedient er sich 2 Sam 15: Dixeruntque servi regis ad eum omnia quaecumque praeceperit dominus noster rex libenter exsequimur servi tui [Hervorhebungen S.B.]. Wo in der modernen, neuhochdeutschen Einheitsübersetzung von ‚Dienern‘ oder ‚Knechten‘ die Rede ist, steht in der Vulgata servi regis beziehungsweise servi tui. Seuse übersetzt servi mit die frúmsten riter (36,7), angesichts der Tatsache, dass es sich um die Gefolgsleute Davids handelt, durchaus plausibel. Indem er die servi als Ritter bezeichnet, führt Seuse aber gleichzeitig das Figurenmodell ein. Entscheidend ist dabei, dass das Figurenmodell nicht von außen an die Figur des Dieners herangetragen wird. Es ist kein heterodiegetischer Erzähler, der den Diener mit einem Ritter vergleichen oder als Ritter bezeichnen würde. Das Figurenmodell wird vielmehr innerhalb eines paraliturgischen Vollzugs entwickelt und zwar von der Figur des Dieners selbst. Der Diener vollzieht die Passion nach und reflektiert die Passionsbilder, die er entwirft, indem er sie mithilfe der Heiligen Schrift weiter auslegt. Die Nachfolge Christi bezieht er auf die treue Gefolgschaft der Ritter Davids, die auch in der Fremde - mit Davids Vertreibung in ein fremdes Land - nicht endet. Diese Anmerkung ist relevant, da Ritterschaft in der Forschung häufig als ein von außen an die Vita herangetragenes Phänomen interpretiert wird. 100 Ohne die Einsicht schmälern zu wollen, dass das Figurenmodell des Ritters auf zeitgenössische Diskurse des Rittertums reagiert, ist der für den Heiligkeitsentwurf hier entscheidende Punkt vielmehr die Begründung des Figurenmodells in der Bibel und die Herstellung über die Praxis der Betrachtung. Denn in der Betrachtung kann sich die Figur des Dieners öffnen, indem sie sich als typologische Erfüllung der Ritter Davids setzt. Die innere Betrachtung des Bibelzitats führt zu einer Aneignung des offenbarten Wortes und erst diese Aneignung transformiert den Diener letztlich zum Ritter. Seuse versetzt die alttestamentliche Gefolgschaft Davids durch die aktualisierende Übersetzung mit riter in ein deutlich breiteres semantisches Spektrum. 100 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, insbesondere S. 261ff., liest das Rittertum vor dem Hintergrund biblischer und patristischer Quellen, und schließt Interferenzen mit weltlicher Literatur weitgehend aus. Stephanie Altrock, ‚...got wil, daz du nu riter siest.‘ Geistliche und weltliche Ritterschaft, macht dagegen die Verschränkung stark, durch die „geistliche Literatur-Konzepte mit höfisch-romanhaften bzw. heldenepischen Literaturmodellen verknüpft“ werden, S. 116. Modellfiguren und Figurenmodelle 89 Markant ist vor allem die Idee der ritterlichen Nachfolge in Leidenszeiten. Die Ritter Davids bieten sich an, analog zur Nachfolge Christi gelesen zu werden. Auch sie halten ihrem Herrn die Treue trotz der Entbehrungen und der Leiden. Und in ihrer Treue zum Herrn wiederum wird der charakteristische Diskurs des höfischen Ritters aufgegriffen. 101 Eng damit verbunden ist der Dienstgedanke, den die Figur ja bereits in ihrem Namen trägt; und bis zum 13. Kapitel steht der Diener in dem Minnedienst der ewigen Weisheit, die selbst eine Figuration Christi ist. 102 Das 13. Kapitel markiert einen funktionalen Wechsel im Verhältnis der Akteure. Denn eine Audition zu Beginn des Kapitels offenbart dem Diener, dass einzig die Nachfolge im Leiden zur blossen gotheit führe. Er wird aufgefordert, die Nachfolge im Leiden zu suchen, weshalb der Text eine neue Möglichkeit sucht, das Gottesverhältnis zu visualisieren. An die Stelle des Minneverhältnisses tritt hier zum ersten Mal das ritterliche Dienstverhältnis, indem sich der Diener gleichsetzt mit den Rittern Davids. So ändert sich das Dienstverhältnis, auch wenn die Akteure die gleichen bleiben. Aus dem Diener und seiner Minnedame, der ewigen Weisheit, werden der Ritter und sein König, Christus. Die Konstellation David - Diener - Christus findet sich dabei bereits im ersten Bild, auf dem David der Spruch Initium sapientie timor domini - Ein anvang der g  tlichen wisheit ist got flisschlich dienen in vorchtlicher beh  tkeit beigegeben ist. 103 Der kurze Merkspruch im ersten Bild zielt auf das Dienen ab; im 13. Kapitel wird eine andere Form des Dienens eingeführt, der Ritterdienst. David wird wie Hiob im ersten Bild eingeführt und in einem späteren, dem 13. Kapitel durch die Figur des Dieners selbst aufgegriffen. Der Text führt vor, wie David nicht nur assoziativ mit der Figur des Dieners verbunden ist, sondern wie der Diener diese Verbindung selbst herstellt, wie er über die Passionsbetrachtung die Öffnung auf eine typologische Auslegung vollzieht. Das Bild entwickelt in der komplexen Konstellation einen ganz eigenen Wahrnehmungsraum, dessen einzelne Teile immer wieder im Text auftauchen und Bild und Erzählen so in ein enges Bezugsverhältnis stellen. Durch die Kombination der Passionsbetrachtung mit der ritterlichen Gefolgschaft Davids tritt an die Stelle des Genusses der Minne nun der Schmerz des Ritterdienstes. Der Minnedienst war zwar bereits im dritten Kapitel mit 101 Zur geistlichen Ritterschaft vgl. v.a. Maria Bindschedler, Seuses Begriff der Ritterschaft, in: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag, hg. von Ephrem Filthaut OP, Köln 1966, S. 233-239. 102 Zu den unterschiedlichen Traditionen der Sapientia im Mittelalter vgl. Barbara Newman, God and the Goddesses, S. 190ff., die die enge Verbindung zwischen Jesus und Weisheit betont: „It is fair to say that Jesus would not so easily have been accepted as God’s eternal Son if Sophia had not first been portrayed as his immortal Daughter.“ Die ewige wisheit wird in der vorliegenden Textanalyse genauer beschrieben in Kapitel 3.1.4 Von der Lektüre zur Produktion innerer Bilder. 103 Vgl. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 20, der die David zugeordneten Zitate als Ps 110,10 und Sir 1,16 nachweist, wobei Seuse auch hier im lateinischen Zitat und in der mittelhochdeutschen Übersetzung unterschiedliche Stellen collagiert. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 90 Leiden und Entbehrung verbunden worden. Doch erst mit dem 13. Kapitel wird das Leiden wieder aufgegriffen. Ab jetzt wird der Diener konsequent an Schlüsselstellen als Ritter in der Nachfolge bezeichnet. Die folgenden Kapitel 14 bis 18 sind die narrative Ausgestaltung des Versuchs der Figur, genau diese Nachfolge im Leiden anzutreten. Rittertum und Leiden werden im 13. Kapitel zusammenführt und konstituieren das Figurenmodell. Mimetische Angleichung an das Leiden Christi in Konvergenz mit der Ritterschaft Davids verbinden Passionsfrömmigkeit mit einer typologischen Perspektive. Das hier zum ersten Mal auftauchende Figurenmodell durchzieht den Text von nun an wie einen roten Faden. 2.2.4 Visualisierung der Gelassenheit - Hiob und der frúme riter Die Verschachtelung von Figurenmodell, Modellfigur und Strukturmodell zeigt sich am deutlichsten an den Kapiteln 19 und 20. Die Ritt erschaft im Leiden, wie sie zum ersten Mal im 13. Kapitel ausgeführt wird, wird im 20. Kapitel in einer mehrstufigen Neuorientierung der Figur erneut aufgegriffen. Doch bereits zuvor wird der Diener als Ritter apostrophiert. Im 18. Kapitel erhält die Bezeichnung frúmer riter proleptische Funktion und verweist auf die im 19. Kapitel breit entfaltete Vorstellung einer militia Christi. 104 Im 18. Kapitel, in dem eine ganze Reihe von Visionen aneinandergereiht werden, wird der Diener eines Abends von seinem úberwundem lidene (48,15f.), seinem versehrendem Leiden übermannt. Aus der Klage heraus hört er, wie neiswas in sin sele spricht. 105 Es tröstet ihn mit den Worten: hab g  ten m  t, got der wil dich schier fr  wen und tr  sten; nút enwein, frume riter! (48,21f.) Die Kollokation des frúmen riter ist aus dem 13. Kapitel bekannt, adressiert hier den Diener aber direkt und von göttlicher Seite. Wieder wird das Figurenmodell aufgerufen, das verdeutlicht, in welcher ‚Rolle‘ der Diener sich befindet: in der des Nachfolgers im Leiden. Kontextualisiert wird die Kollokation außerdem 104 Ausführlich wird auf die proleptische Funktion der Visionen in Kapitel 3.3.5 Mit dem Körper über den Körper - Visionen als Prolepsen eingangen. 105 Immer wieder taucht in der Vita dieses nicht näher spezifizierte neiswas im Inneren des Dieners auf. Die Form ist eine „Zusammenrückung aus [ich] ne weiz waz“, Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Auflage, neu bearb. von Thomas Klein, Hans- Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schöbler, neubearb. von Heinz-Peter Prell, Tübingen 2007, S. 373 § S126. Diese unbestimmte Instanz in ihrer Körperlosigkeit erscheint in Visionen und Auditionen und zeigt eine Gleichzeitigkeit von Präsenz (die Stimme) und Entzug (das Transitorische der Stimme sowie ihre vom Text als neiswas beschriebene Unbestimmtheit) an. Vgl. auch Heinrich Stirnimann, Mystik und Metaphorik. Zu Seuses Dialog, in: Das ‚einig Ein‘. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik, hg. von Alois M. Haas und Heinrich Stirnimann, Freiburg/ Ue. 1980 (Dokimion 6), S. 209-280, hier S. 253, der die Formulierung des neiswas, das im Diener spricht, unter seine Kategorie der Selbstgespräche und als „Streitgespräch“ fasst, dessen Sache „das für jede echte mystische Erfahrung so grundlegende und unentbehrliche Ringen um eine dem Anspruch Gottes entsprechende Selbsterkenntnis des Menschen“ sei, S. 253. Modellfiguren und Figurenmodelle 91 über den Begriff der aventúre, der wenige Zeilen später fällt: do zwang in neiswas inrliches ze lachene uf ein g  tlich kúnftig aventúre, dú im kúrzeklich von got werden s  lte. (48,26f.) Zur Ritterschaft gehört die Aventiure und eine solche soll dem Diener bald zuteil werden. Damit wird die wichtigste Umbruchstelle, die Neukonzeptualisierung des Leidens als fr  md widerwertikeit, als Leiden von außen, wie es im nächsten, dem 19. Kapitel entwickelt wird, vorbereitet. Das Figurenmodell des Ritters markiert, das zeigt sich auch hier, Änderungen und Neukonzeptualisierung des religiösen Identitätsentwurfs. Es taucht nicht in der narrativ-performativen Entfaltung der Habitualisierungskapitel fünf bis zwölf oder vierzehn bis achtzehn auf, sondern in den reflektierenden Scharnierkapiteln, die auf dem Dreistufenweg eine neue geistige Ebene einführen. Das Figurenmodell des Ritters hat so auch Signalwirkung für die Struktur des Textes. Wo immer es auftaucht, werden dem Diener grundlegende Fragen in Visionen und Auditionen erörtert. Der Erkenntnisprozess, den der Diener im Text durchlaufen muss, wird durch das Figurenmodell strukturiert und in poetischer Verdichtung visualisiert. Eine grundlegende Umdeutung erfährt das Figurenmodell im 20. Kapitel, in dem es mit der Modellfigur Hiob in Verbindung gesetzt wird. Der Diener, dem in den beiden vorhergehenden Kapiteln der Abbruch der harten Körperaskese befohlen wurde, hängt nun einer vom Erzähler als unangemessen qualifizierten Bequemlichkeit nach. Das nicht näher definierte Zeitkontinuum - neiswi meng wuchen (55,16) -, in dem der Diener sich seinen angenehmen Gedanken hingibt, wird plötzlich unterbrochen: do geschach eins males (55,17). In einem für die Vita typischen Arrangement wird ein Erkenntnisprozess geschildert, in dem der Diener sich das abstrakte Konzept der Gelassenheit, wie es im 19. Kapitel eingeführt wurde, anhand einer komplexen Visualisierung durch Modellfigur und Figurenmodell aneignet. Der Diener befindet sich in sinem gewonlichen betst  l, also im Chorstuhl, wo er sich sitzend in die Betrachtung eines Bibelwortes versenkt. 106 René Wetzel weist in seiner Analyse der Engelberger Predigten auf die Unterscheidung zwischen Lesen und Betrachtung hin: „Während Lesen offenbar als ein einfacher, schneller und unproblematischer Vorgang angesehen wird, erweist sich die Betrachtung als komplexer und nimmt mehr Zeit beziehungsweise Vertiefung in Anspruch. Ist Lesen ein Vorgang der intellektuellen Verarbeitung, so ist die Meditation oder Kontemplation ein psychischer Prozess, der die Gefühle betrifft und ins Herz zielt.“ 107 Genau diesen Vorgang eines vertiefenden Prozesses stellt die Vita im 20. Kapitel narrativ dar. Nicht nur das intellektuelle Verstehen wird anvisiert, sondern eine Transformation und Neuausrichtung, die den ganzen Menschen umfasst. Der Diener sitzt und kontempliert über die Bedeutung des warhaften 106 Zum Sitzen als Körpertechnik bei Heinrich Seuse vgl. Susanne Bernhardt, Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 115-142, hier S. 126f. 107 René Wetzel, Dúr daz wort, in daz wort, an daz wort, S. 412. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 92 wortes, daz der lidend Job sprach: militia est etc., des menschen leben uf disem ertrich ist nit anders denn ein riterschaft. (55,19ff.) Hiob, der im ersten Bild und im dritten Kapitel für die Wechselbeziehung von hoher Minne und Leiden stand, taucht nun erstmals auf der Textoberfläche auf. Dass er hier auftaucht, hat Signalwirkung, ist er doch eine der zentralen Gestalten im eröffnenden Bild. Und er wird nun mit dem Figurenmodell des Ritters verbunden, indem er selbst die riterschaft anführt. Der Diener eignet sich in der Kontemplation die Worte Hiobs an, entwickelt also aus der Lektüre ein Modell. Die Meditation über das Bibelwort führt in eine ‚Sinnenlosigkeit‘, während der Betrachtung, so heißt es im Text, entsunken im aber sin sinne (55,21). Die Betrachtung führt also keine intellektuelle Textaneignung vor, sondern eine Aneignung auf der affektiven Ebene. 108 Der verarbeitende Intellekt, die sinne, wird überstiegen und an die Stelle des intellektuellen Verstehens tritt ein Bild. Aus der Ritterschaft, die mit Hiob verbunden ist, wird im Inneren des Dieners nämlich die Einkleidung zum Ritter. In einer als Vision dargestellten Fortschreibung der Kontemplation erscheint dem Diener ein Jüngling, der ihn mit Kleidung ausstattet, dú riter pflegent ze tragene. (55,23f.) Aus dem Diener wird so ein Ritter, der das Leiden Hiobs in der Welt, hier als militia bezeichnet, in einem Bild konzentriert. Das Figurenmodell des Ritters wird, wie schon im 13. Kapitel, auch hier aus einer Bibellektüre entwickelt. Nun aber wird es deutlich weiter ausgeführt und visualisiert. Es erhält in der als Vision dargestellten inneren Aneignung des Bibelwortes eine göttliche Bestätigung. Die Einkleidung als äußere Transformation und die Aufforderung: bis riter! (55,25), sei Ritter! als Aufforderung zur inneren Transformation zeigen an, dass vom Diener eine neue Lebensform gefordert wird. Diese neue Lebensform heißt für die Vita: neues Leiden, wie es im 13. Kapitel als Weg zu Gott bereits ausgeführt wurde. 109 Das 20. Kapitel zeigt, dass das Figurenmodell des Ritters kein losgelöstes Konzept ist, das sich höfischer oder monastischer Quellen bedient. Es ist vielmehr das Zitat aus dem Hiobbuch, das die Vision vom Ritter auslöst. Aus der Kontemplation heraus inszeniert der Text das Figurenmodell des Ritters, das 108 So heißt es in der Engelberger Predigt Ea 15: Won das ist betrachtunge, do des m  n  en hertz etwas ger  rt wirt von g  tlicher gnade. Zitiert nach René Wetzel, S. 412. Zitat aus der Engelberger Predigt Ea 15, fol. 130v. 109 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, arbeitet heraus, dass „die visuellen Vorstellungen dieser Investitur zum geistlichen Ritter in der Schwertleite ihr weltliches Vorbild“ haben, S. 294. Sie betont aber auch, dass die militia, die im Bild des Ritters visualisiert wird, vor allem im Kontext der Vätertradition zu verorten sei. Die Vita greife nämlich nicht etwa Ritterheilige oder Kreuzzugsdiskurse auf, sondern „ist in ihrer spirituellen Bedeutung [...] eindeutig mit der patristisch-monastischen Linie verknüpft.“ Ebd., S. 297. Sie arbeitet dazu umfangreich die Belegstellen heraus, die den Gedanken der militia Christi entwickeln. Diese Diskurslinie verwende den militia-Diskurs nicht im Kontext eines bewaffneten äußeren Kampfes, sondern entwickle daraus eine „Theologie des Leidens und der Askese, welche [...] als Charakteristikum der aus der Zeit der Kirchenväter übernommenen monastischen Militia-Auffassung“ herausgearbeitet wird, S. 288. Modellfiguren und Figurenmodelle 93 eine spezifische Haltung im Leiden verbildlicht. Das Figurenmodell wird durch die Verbindung mit Hiob aufgeladen, der im Mittelalter idealtypisch für die patientia steht, die Geduld im Leiden. Damit ist aber auch schon umrissen, wie die zukünftigen Leiden beschaffen sind: An die Stelle des selbstgewählten Leidens tritt das Hiob-Leiden, das unverfügbar und unverständlich von Gott geschickt wird. Kombiniert wird aber nicht nur die Modellfigur Hiob mit dem Figurenmodell des Ritters, sondern beide sind Teil des Stufenmodells. Sie dienen dazu, die zweite im Prolog genannte Stufe, den fortschreitenden Menschen, ins Bild zu setzen und semantisch zu codieren. Die hierarchische Ordnung des Ritterwesens eignet sich, den Stufenweg zu verbildlichen und entsprechend heißt es: Du bist unz her kneht gesin, und got wil, daz du nu riter siest. (55,25f.) Aus dem Knappen, der auf der ersten Stufe steht, wird ein Ritter. Die Verschachtelung wird als Erkenntnisprozess des Dieners dargestellt, denn die neue Ausrichtung der Ritter-Chiffre entsteht aus der Kontemplation. Die ‚Figureneigenschaften‘, die dem Diener über Modellfigur und Figurenmodell zugeschrieben werden, sind Teil der kulturellen Praktiken, die im Text verhandelt werden. Die Figur schreibt sich selbst in eine vita passiva ein, indem sie durch die Lektüre und die daraus folgenden Visionen die Lebensform des geduldigen Leiders entwickelt. Die Gelassenheit, die im 19. Kapitel in abstrakter Terminologie eingeführt wurde, wird im 20. Kapitel über Modellfigur und Figurenmodell erschlossen. Die Modellfigur Hiobs gibt dem Diener ein Vorbild im geduldigen Leiden, das im Figurenmodell des Ritters Anwendung findet. Das Konzept der Gelassenheit, das den Diener im 19. Kapitel ratlos zurück- und das Kapitel mit einer Frage beenden ließ, wird mit der Verbindung von Hiob und Ritter nicht nur ins Bild gesetzt, sondern auch an tradierte Vorstellungen und Modelle genküpft, verständlich und nachvollziehbar gemacht. 2.2.5 Hiob als Folie hinter dem Narrativ Im 20. Kapitel wurde die Ritterschaft des Dieners aus dem Hiobbuch entwickelt, Hiob und der Ritter werden eng gekoppelt. Das kommende Leiden, das dem Diener angekündigt wurde, muss er als Ritter bestehen, gleichzeitig läuft das Hiobnarrativ als Folie hinter dem Text mit. So wie Hiob Leiden um Leiden geschickt wurde, ist nun auch der Diener mit immer neuem Unglück konfrontiert. Dass der Figur Hiobs die Aufgabe zufällt, einen neuen Modus des Leidens zu etablieren, zeigt sich bereits auf der Ebene der Belegstellen für das Substantiv ‚Leiden‘. Während liden in den Kapiteln eins bis achtzehn lediglich neunzehn Mal auftaucht, davon in den Askesekapiteln nur ganze vier Mal, explodiert der Gebrauch ab Kapitel 20 geradezu. Weit mehr als 150 Belegstellen finden sich für die Wortfamilie und in vier Überschriften wird das Thema prominent genannt: Von inrlichem liden (21. Kapitel), Von menigvaltigem lidene (23. Kapitel), Von grossem lidenne, daz ime z  viel von siner liplichen sw  ster (24. Kapitel), Von swerem lidene, daz im einest z  viel von eim sinem gesellen (25. Kapitel). Diese geballte Referenz auf das Leiden greift die im Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 94 20. Kapitel eingeführte militia Hiobs auf. Das Menschenleben auf Erden ist eine Ritterschaft und diese besteht, wie in der Investitur mitgeteilt, aus immer schwerer werdendem Leiden. Wie Hiob, so stellt es die Vita implizit aus, fällt nun auch dem Diener ein Leiden nach dem anderen zu: Glaubenszweifel, Schwermütigkeit - eine Wortschöpfung Seuses 110 -, Furcht vor Unregelmäßigkeiten bei seiner Aufnahme ins Kloster, Bezichtigung des Diebstahls, Krankheit, die der Sünde verfallene Schwester, Bezichtigung der Brunnenvergiftung inklusive antijudaistischer Hetze, Konfrontation mit einem Mörder und schließlich ein dramatischer Sturz in den Rhein. Hiob wird nicht nur auf der Textoberfläche durch die Verwendung des Bibelzitats angeführt, sondern generiert das Narrativ nachgerade. So wie Hiob zahllose Leiden geschickt werden, muss auch der Diener immer neues Unglück ertragen. Der Text fokussiert vom 20. Kapitel an nur noch auf das zufallende Leiden. Paul Michel arbeitet in seinem Aufsatz zu Seuses Umgang mit Bibelzitaten heraus, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, „damit aus einem in einer erzählten Geschichte eingefangenen Handeln eines Menschen ein Modell wird.“ 111 Das Modell muss, so Michel, unter der Kapitelüberschrift ‚Funktionsweisen narrativer Muster (‚simplex moralitas‘)‘, die Situation der Rezipientinnen erklären können und es müssen Verhaltensanweisungen daraus ableitbar sein. Beides sieht er in der Hiob-Erzählung und ihrer Anwendung in der Vita erfüllt. Denn der „leidgeprüfte Fromme“ kann das aus der Geschichte Hiobs gewonnene Muster problemlos auf sich selbst beziehen: „‚Job war fromm und gerecht und mußte doch leiden - wenn somit Gerechtigkeit und Leid nicht unverträglich sind, so ist meine Situation nicht absonderlich‘. Stärker ist der Schluß a fortiori: ‚Wenn sogar der gerechte Job leiden mußte - um wieviel mehr dann ich…‘“ 112 Die Vita zeigt also an, wie Hiob zum Modell des Dieners wird - und der Diener wird entsprechend zum Modell für die Rezipientinnen. Wichtig ist der Hinweis Michels, dass die Nachfolge sowohl Grenzen als auch Möglichkeiten bereithält. So benötigt der Mensch einerseits Modelle, die orientierende Muster der Selbstdeutung zur Verfügung stellen. Auf der anderen Seite aber kann die Wiederholung nur erfolgen, indem die Muster erst abstrahiert werden und der Mensch sich in Differenz zum Vorbild stellt. Michel stellt diesen Prozess folgendermaßen dar: „Weil sich die Geschichte nie wiederholt, sind Muster und dadurch Geprägtes immer inkommensurabel und nur durch Abstraktion und Rekonkretisation kommensurabel zu machen. Weil wir ohne deutende Hilfe von Mustern nicht auskommen können, postulieren wir immer einen Bezug zwischen Vor- und Abbild.“ 113 Wie problematisch der Versuch ist, ein Muster zu abstrahieren und dann zu wiederholen, 110 Vgl. Alois M. Haas, Schwermütigkeit - Ein Wort der deutschen Mystik, in: ders., Kunst rechter Gelassenheit: Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern [u.a.] 1995, S. 93-124. 111 Paul Michel, Seuse als Diener des göttlichen Wortes, S. 310. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 310f. Modellfiguren und Figurenmodelle 95 führt die Vita selbst im zweiten Teil vor. Wenn Elsbeth Stagel die Altvätersprüche direkt als strenge Körperaskese umsetzen möchte, trägt sie der Differenz zwischen ihrem Leben und dem Leben des Dieners nicht Rechnung. Die Vita zeigt in den Kapiteln 21 bis 30, dass das Leiden des Dieners zwar in Differenz zu Hiob verläuft, dass er aber das abstrakte Muster des vorbildhaften Leiders abstrahiert und auf sein eigenes Leiden projiziert. Exemplarisch führt das 24. Kapitel die Bewegung von Leiden und Deutung vor. Das Kapitel fokussiert nicht nur auf das geduldige Leiden, sondern überführt das Leiden Hiobs in das Leiden Christi und deutet im zweiten Teil des Kapitels zusätzlich den Sinn des Leidens aus. Hiob wird hier erneut auf die Textoberfläche geholt und fungiert als Signal, vor welcher Folie die Leiden zu lesen sind. Das Kapitel erzählt, wie die leibliche Schwester des Dieners, die ebenfalls dem Orden angehört, in schlechte Gesellschaft gerät und ihr reguliertes Klosterleben aufgibt. Da er sich entschließt, sie zu retten, erfährt der Diener verschiedene Leiden. Zuerst wird er sozial ausgeschlossen, da er für die Schande seiner Schwester in Sippenhaftung genommen wird. Seine Mitbrüder und seine Freunde wenden sich ab von ihm, was in dramatischen Wendungen geschildert wird. So löst der Ausschluss bei ihm sogar eine physische Reaktion aus: ime waz, wie ellú sinú herlú ze berg giengin (71,5f.). In dieser konkreten Verlassenheit zieht der Diener nun das Muster des leidenden Hiob heran, um seine eigenen Situation zu deuten: Do gedahte er an den armen Job und sprach: ‚nu m  ss mich der erbarmherzig got tr  sten, sid ich von aller der welt gelassen bin.‘ (71,9ff.) Hiob wird so zum Deutungsmodell der eigenen Leiderfahrung; der Diener liest sein eigenes Leiden in typologischer Erfüllung der Leiden Hiobs. Während er den sozialen Ausschluss, die Verlassenheit von den Mitmenschen mit Hiob verbindet, wird die zweite Leidenserfahrung des Dieners mit dem Passionsnarrativ Christi assoziiert. Bei der Suche nach seiner Schwester fällt er bei eisigen Temperaturen in einen Bach, weshalb er mehrfach vor Schwäche in Ohnmacht fällt. Sein darauf folgendes körperliches Leiden wird vom Text als Nachbildung der Passion Christi inszeniert. Im Zentrum steht der Satz, den der Diener in seiner Verzweiflung über die Leiden spricht, die seine Schwester über ihn brachte: ‚owe, min got, wie hast du mich gelan! ‘ (71,24) Dieser Ausruf ist in Seuses Werken nicht nur an dieser Stelle zu finden. Es handelt sich um die Übertragung des Christus-Rufes am Kreuz, wie er zum Beispiel im BdeW verwendet wird: min got, min got, wie hast du mich gelazen. (272,23) 114 Als von der Welt und von Gott verlassen und ungetröstet wird er in der Erzählung zu einem Nachfolger Christi. Der Diener stellt sein Leiden so nicht nur in die Nachfolge Hiobs, sondern steigert die Deutung seiner Not als imitatio Christi. Der Text deutet das Leiden durch die Zuordnung zu den heilsgeschichtlichen Vorbildern. Die Einübung in die von außen 114 Der Ruf des sterbenden Christus, der Psalm 21 aufgreift, findet sich bei Mt 27,46 und bei Mk 15,34. Vgl. auch Susanne Bernhardt, Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses, S. 117f. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 96 zufallenden Leiden, so impliziert das 24. Kapitel, benötigt Muster, die das Leiden als Leiden in der Nachfolge erkennbar und sinnstiftend verfügbar machen. Auch wird hier weiter an der Konzeptualisierung von Gelassenheit gearbeitet. Die Verwendungsweise von Gelassenheit als Verlassenheit wird mit dem Christus-Ruf aufgerufen. Der Diener deutet sich nicht nur als der von den Menschen verlassene Nachfolger Hiobs, sondern auch als der von Gott verlassene Nachfolger Christi. Anhand der Narration wird in der Vita dieses Konzept implizit und vielschichtig entwickelt. Das Leiden der Verlassenheit wird durch die beiden Modellfiguren Hiob und Christus in sinnstiftende Muster übertragen. Die Gelassenheit als Verlassenheit, die der Diener von Gott und der Welt wahrnimmt, wird ganz anders nachvollziehbar als im abstrakten Kapitel 19. Statt diskursiver Erläuterung führt die Narration vor, wie der Diener der Verlassenheit in jedem Kapitel von Neuem ausgesetzt ist. Er übt sich ein in diese Gelassenheit, die ihn als Verlassenheit dem leidenden Christus immer ähnlicher macht. Doch die Vita bleibt nicht dabei stehen, Leiden über Modellfiguren in einen Sinnkontext zu stellen. Im Text wird auch diskutiert, was die Leiden bedeuten. In einem langen Figurenmonolog beklagt die Schwester ihre Verworfenheit und das Leiden, das sie dem Diener verursachte. Auch sie greift in einem indirekten Zitat Hiob auf, wenn sie den Tag ihrer Geburt beklagt: wel ein kleglicher tag der waz, der mich in dies ertrich ie brahte (72,1f.). 115 In der Deutung seines Leidens führt die Schwester - stets in einem dramatischen Klageduktus - die Möglichkeit der imitatio im wirkenden Handeln an. Denn auch wenn sie seiner nicht mehr würdig sei, so könne er doch durch sein Erbarmen einer verworfenen súnderin gegenüber sich Gott im Wirken angleichen. 116 Nicht nur der Nachfolgegedanke im Handeln, sondern auch die Leid-Lohn-Korrelation führt sie an. Die Korrelation wird in einem syntaktischen Parallelismus entworfen: Er solle bedenken, dass sein Ehrverlust in der Welt und seine körperliche Schwäche für ihn eine sunderlich ere und ewigen trost (72,22) bedeuten, während sie in zit und in ewikeit (72,24) ihre Sünden mit sich tragen muss. Ihr einziger Wunsch ist es, dass er ihr wieder zu Gott verhelfe. Das ihm unverschuldet zugefallene Leiden - soziale Exklusion und körperliche Not - werden sowohl als Möglichkeit der Angleichung an Christus gedeutet als auch in ihrer Wirksamkeit für das ewige Leben. Die Schwester macht sich paradoxerweise zum Katalysator des Seelenheils für den Diener. Ihr unvollkommenes Verhalten erst ermöglicht es dem Diener, sein eigenes Verhalten zu vervollkommnen. In einem emphatischen Klagemonolog - in dem 17 Zeilen umfassenden Monolog taucht allein acht Mal die Interjektion owe auf - vergibt ihr der Diener. Die im Text ausgeführte Klage über die Not der Schwester wird geradezu 115 Vgl. Hiob 3, 1-12. 116 Ach getrúwe widerbringer miner verlornen sele, swie ich úwer red und besch  wde nit wirdig sie, so nement doch in úwer getrúwes herz und gedenkent, daz ir got niene me trúwen mugent geleisten noch im glicher gew  rken, denn an einer verworfenen súnderin und einem úberladen herzen. (72,6ff.). Modellfiguren und Figurenmodelle 97 zu einer compassio mit ihr ausgestaltet. Formulierungen wie truken an daz tot herz dins ellenden br  der, durgiessen mit den bitren trehen miner ogen und die wiederholte Aufforderung an die Schwester, zu ihm zu kommen, führen performativ vor, wie der Diener vom Leiden mit sich selbst zum Leiden mit der Anderen gekommen ist. Am Ende des Kapitels erkennt er den Wert seines Leidens: So der getrúw br  der sah, daz sin liden als reht wol geraten was, dar an hat er lust und fr  d, und gedahte an gotes heinlichen ordnung, wie ellú ding dem g  ten koment ze g  te. (74,6ff.) Sein Leiden, so stellt es der Text dar, ist ihm zwar unverfügbar zugefallen, aber keinesfalls sinnlos. 117 Die Rezipientinnen können im Verlauf des Kapitels mitvollziehen, wie der Diener die Modellfigur Hiob auf das eigene Leben bezieht. Das Leiden des Dieners hat letztlich mit dem Leiden Hiobs konkret nichts zu tun. Was am Ende bleibt ist die Einsicht, dass die unbekannte göttliche Ordnung alles in einem sinnvollen Zusammenhang vorsieht. 118 Das 24. Kapitel führt explizit vor, was die Kapitel 23 bis 30 implizit entwickeln. Es erinnert ausdrücklich an die Vorbildfigur Hiobs und dessen geduldiges Leiden. Es führt aber auch schon vor, dass das geduldige Leiden Hiobs seine Erfüllung erst im christförmigen Leiden findet. Diese Bewegung wird im 30. Kapitel vollendet, das das 24. Kapitel immer wieder wörtlich aufnimmt. 2.2.6 Transgression Hiobs und Vollendung des Ritters Am Ende des ersten Teils der Vita steht ein mehrstufiger Kapitelkomplex, der den Weg der Figur abschließt. Das 30. Kapitel markiert einen Höhepunkt der Narration des Leidens, während Kapitel 31 und 32 das Leiden nicht mehr narrativ über erzählte Handlung entwickeln, sondern diskursiv-dialogisch reflektieren. 119 Ich setze den Schnitt zwischen reinem Narrativ und reflektierendem Abschluss im 30. Kapitel an, da im 29. Kapitel noch die erzählenden Episoden dominieren, denen Kurt Ruh einen „novellistischen Charakter“ 120 attestiert. Während diese ‚Novellen‘ die Habitualisierung des Dieners in das von außen 117 Darauf zielt auch das Hiob-Buch ab. Gottes Pläne werden dort als dem Menschen letztlich nicht zugänglich und als unhinterfragbar gesetzt. In der Vita dagegen wird das Leiden sinnstiftend aufgelöst. Das Leiden des Dieners ist die Voraussetzung für die Rettung der Schwester. 118 Und damit steht am Ende eine Einsicht, die wieder ganz ähnlich der Einsicht Hiobs ist, die diesem in der Theophanie in Hi 38-42 in der Gottesrede mitgeteilt wird, selbstredend mit dem gravierenden Unterschied, dass im AT die Theophanie eine Demonstration der göttlichen Souveränität gegenüber der beschränkten Schöpfung ist. Dort wird reagiert auf Hiobs Herausforderungen und auf seine Fragen nach dem Grund seines Leidens. Vgl. die Einführung von Markus Saur, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, S. 74-106. In der Vita dagegen klagt der Diener zwar immer über sein Leiden, er fordert aber Gott nie heraus, wie Hiob dies tut. Vgl. dazu auch Kapitel 2.2.1 Exkurs: Hiob im Mittelalter - Präfiguration Christi im geduldigen Leiden. 119 Vgl. dazu Kapitel 3.6 Transgression des Narrativs. 120 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 449. Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 98 kommende Leiden in Wiederholungsstrukturen performativ ausstellen, wird die so eingeübte Haltung dem Leiden gegenüber in den Kapiteln 30 bis 32 reflexiv eingeholt, um im 32. Kapitel in einem Offenbarungsmonolog der ewigen Weisheit zu gipfeln. Das 30. Kapitel beendet die Reihe der Leidenserzählungen, die im 20. Kapitel über die Hiob-Kontemplation und die Angleichung an dessen geduldige Leidenshaltung angekündigt wurden. Dieser Höhepunkt des Leidens des Dieners wird durch die Transgression der Modellfigur Hiob angezeigt. Das 30. Kapitel ist eine Wiederaufnahme und Steigerung des 24. Kapitels, die sich bis hin zur Ebene der Wortverwendung beobachten lässt. Dieses Kapitel ist mit Wie er von lidenne eins males kam uf den tod überschrieben und das Leiden des Dieners wird bis in einen todesähnlichen Zustand gesteigert. Der Bogen zum 24. Kapitel wird gleich zu Beginn geschlagen. Aufgegriffen wird der Christusruf am Kreuz aus der Vulgata Ps 21,2, den neiswaz in im singt: Deus, Deus meus, respice in me; den salmen sprach der ellend Cristus, do er an dem galgen des crúzes in sinen n  ten von dem himelschen vater und von menlich gelassen waz. (87,5ff.) Wie im 24. Kapitel wird auch hier die Verlassenheit von Gott und allen Menschen in der volkssprachlichen Kontextualisierung des Zitates wiedergegeben. Im Gegensatz zu Kapitel 24, in dem der Diener selbst die Klage über die Verlassenheit äußert, fungiert das Zitat hier als Vorausdeutung im Inneren des Dieners. Die Deutung des Leidens im Muster der Passion wird nicht mehr nur von außen an das Leiden herangetragen, sondern ist internalisiert. Auf das Vokabular des 24. Kapitels wird auch zurückgegriffen, wenn von kraftlosi (71,16f. und 87,19; vgl. 71,26 und 87,20) und amaht die Rede ist. Die Schwäche und Ohnmacht aber sind im 30. Kapitel deutlich gesteigert. Denn der Diener erwacht nicht mehr, sondern gelag also stille, daz sich kein ader an sinem lip r  rte. (87,21f.) Dreimal wird auf seinen todesähnlichen Zustand referiert, doch das Passionsnarrativ endet hier nicht. Denn der Diener erwacht wieder aus seinem Todesschlaf und das Erwachen wird geradezu als Auferstehung, als neues Leben nach dem Tod erzählt: Denn daz erstorben herz begond wider leblich werden [...] und [er] genas, daz er war wider lebende als ie von erst. (90,2ff.) Bis einschließlich Kapitel 30 wird die Reihe der Leiden erzählt, die dem Diener innerhalb des militia-Narrativs im Nachvollzug des geduldigen Leidens Hiobs zufallen. In dem Moment, in dem der Diener sich in der imitatio Christi im Leiden ganz dem Willen Gottes überlässt, erfüllt sich das typologische Schema. Wie Hiobs Leiden sich in typologischer Deutung in Christus erfüllt, so wird das Leiden des Dieners in Beziehung zur Passion Christi gesetzt. Er hat keine Entscheidungsgewalt mehr über das Leiden, denn anders als im 24. Kapitel, als sein Leiden ihn nie in die Todesnähe brachte, wird hier sein Sterben mit Christus inszeniert. Die Modellfigur Hiob und ihr geduldiges Leiden führt im Narrativ der Vita letztlich zum eigentlich angestrebten Modell: zu Christus, wie er im 13. Kapitel bereits als Weg und Durchbruch zur Gottheit gesetzt worden war. Das Leiden des Dieners wird in Modellfiguren und Figurenmodelle 99 Kapitel 30 auf den Höhepunkt geführt, von dem aus die Narration des Leidens abbricht. Indem sich das Leiden in Christus erfüllt hat, ist die Modellfigur Hiob transgrediert. Das folgende 31. Kapitel des ersten Teils ist narrativ abgesetzt von den vorhergehenden Kapiteln. In diesem Kapitel wird eine Synthese gezogen, in der das zuvor erzählte Erleben auf eine Erkenntnisebene überführt wird. Schon der erste Satz vollzieht diese Verschiebung: Do der lidende diener disen langwirigen kampf mit tiefer betrahtung hinderdahte und och gotes verborgnú wunder dar inne an sah, do kert er sich eins males z  got mit einem inneclichen súfzen (90,8f.). Während bislang auf der Objektebene von den Leiden des Dieners erzählt wurde, geht der Text jetzt auf die Metaebene und lässt die Figur über ihr Leiden reflektieren. Der Diener vertieft sich in seine eigenen Leiden, die in der Kollokation des lange andauernden Kampfs die Kapitel 21 bis 29 zusammenfassen. Die Kollokation ruft gleichzeitig wieder die Folie der Ritterschaft auf und nimmt so das 20. Kapitel auf, das das Leiden ebenfalls diskursiv erörtert hatte. Damit wird ein Bogen geschlagen zwischen den systematischreflektierenden Kapiteln 20 und 31, die thematisch über die Ritterschaft und den Kampf verwoben sind. In den dazwischen liegenden Kapiteln taucht das Figurenmodell des Ritters dagegen nicht auf. Die Reflexion über das Leiden, die Fähigkeit, das Erlebte nun zusammenfassend und retrospektiv zu betrachten, zeigt eine Distanznahme der Figur an, die nicht mehr unmittelbar im Leiden steht, sondern sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung machen kann. Anstelle der narrativen Schilderung tritt nun die Frage, zu welcher Erkenntnis das Leiden führt. In einer Offenbarung wird dem Diener der hohe adel des Leidens Christi gezeigt. 121 Im Leiden, so wird es dem Diener offenbart und so teilt er es allen mit, vollzieht sich die Angleichung: Leiden gleicht die Leidenden einander an. 122 Anstatt das Leiden weiterhin zu beklagen, wird es nun als Möglichkeit des vollkommenen Gotteslobs geradezu bejubelt. In dem Moment, in dem das Leiden radikal umgedeutet wird, taucht das Figurenmodell des Ritters wieder auf: Hier umbe wir, dez keiserlichen herren frumen riter, erzagen nit, wir dez wirdigen vorgengers edlen nahvolger, gehaben úns wol und liden nit ungern! (91,34-92,1) Die frúmen riter sollen nicht mehr nur das Leiden ertragen, sondern sie sollen es gerne ertragen. Diese fortgesetzte positive Umbesetzung wird im Konsekutivsatz deutlich. Christus hat als Mensch gelitten, darum, hier umbe, sollen auch die Nachfolger gerne leiden. Das Figurenmodell des frúmen riters visualisiert jetzt nicht mehr die militia Hiobs, es ist vollendet in der Nachfolge Christi. Nun ist es nicht mehr der Ritter Davids aus dem 13. Kapitel oder der Ritter, der dem Leiden Hiobs nachgebildet wird. Das Leiden, über 121 Ausführlich wird die Offenbarung in Kapitel 3.6 Transgression des Narrativs diskutiert. 122 Besonders deutlich formuliert es folgender Satz, in dem die Frage gestellt wird, ob man sich, hätte man die Wahl, für oder gegen das Leiden entscheiden solle: ob joch got gliche lon w  lti geben den lidenden und den nit lidenden nah disem lebene, gewerlich, wir s  ltin dennoch den lidenden teil uf nemen allein durch der glichheit willen, wan lieb glichet und húldet sich liebe, wa es kan ald mag. (92,4ff.). Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung 100 das der Diener in diesen Kapiteln klagte, wird als Ritter Christi willig angenommen. Als Deutungsmuster für das Leiden gilt allein die Nachfolge im Leiden Christi. Das 31. Kapitel steht durch das Figurenmodell so in einem Erfüllungsverhältnis zu den Kapiteln 13 und 20. Gleichzeitig, das bleibt noch zu betonen, arbeitet Seuse sorgfältig daran, die Angleichung im Leiden immer in Grenzen zu halten. Nicht Identität im Leiden, sondern nur Annäherung in der Angleichung ist möglich. Emphatisch ruft der Diener entsprechend aus: Eya, mit waz baltheit geturren aber wir úns des an nemen, daz wir dir mit únserm lidene glich súlen werden, edelr herr? Owe, liden und liden, wie bist du so gar unglich! (92,8ff.) Seuse zieht eine scharfe, theologisch begründete Grenze ein: Das schuldlose Leiden Christi kann der immer wieder schuldhaft werdende Mensch niemals einholen. Diese Differenz aber transportiert auch das Figurenmodell. Denn die leidenden Menschen bleiben als Ritter auf der hierarchisch tieferstehenden Stufe. Sie sollen dem höherstehenden Kaiser folgen, der sie durch ihre treue Nachfolge erhöht. Modellfigur und Figurenmodell führen durch den gesamten Text und treten an relevanten Stellen in Erscheinung. Vor allem die enge Verbindung mit dem Strukturmodell macht plausibel, dass der Autor ganz bewusst an den prominenten Stellen des Stufenwegs auf das Figurenmodell und die Modellfigur zurückgreift, um die Transformation des Dieners nicht nur über die abstrakte Struktur, sondern auch über die konkreteren Modelle zu visualisieren. Sie visualisieren die Bewegung vom Leiden in die Erfüllung, und zwar bereits ab dem ersten Bild. Es ist dies keine Bewegung, die sich einem flüchtigen Lesen erschließt, sondern sie verlangt mehrfaches Lesen, Blättern, Reflexion. Die textübergreifende Struktur bildet eine Wahrnehmungsebene, die neben der linearen Textabfolge läuft. Sie macht sichtbar, wie die großen Bögen des Textes verlaufen und setzt gleichzeitig deutliche Signale, die die Aufmerksamkeit der Rezipientinnen einfordern. So wird das prominente erste Bild im dritten Kapitel aufgenommen und spielt zum ersten Mal das Thema von Leiden und Entbehrung durch; das zentrale 13. Kapitel wird im 20. Kapitel aufgegriffen, in dem das richtige Leiden eingeführt wird; und beide werden in den letzten Kapiteln 30 und 31 eingelöst, wo Leiden schließlich zur Angleichung führt. Die Figur des Dieners wird über diese Strategien immer wieder mit Bedeutungen aufgeladen, die die Figur ihrer biographisierten Existenz entheben und auf eine heilsgeschichtliche Perspektive öffnen. Der Ritter der militia Christi und der geduldige Leider Hiob prägen durch ihr wiederholtes Erscheinen die Dynamik des Textes, denn sie zeigen an, wie und wo Veränderungen eintreten, wie sich die Wahrnehmung des Dieners verschiebt und wie seine Erkenntnis transformiert wird. Sie sind ein Leitfaden für die Rezipientinnen, die sich an der Wiederholungsstruktur orientieren und sinnstiftende Leistungen mit ihr verknüpfen können. 3 Narrative Genese der Figur In der Vita wird immer wieder verhandelt, ob man durch den Vollzug von Übungen zum status perfectionis gelangen kann. Mit welchen Übungen man zur Gelassenheit komme, fragt etwa der Diener im sechsten Kapitel den in einer Vision geschauten Meister Eckhart. Im 33. Kapitel dagegen ermahnt der Diener seine Schülerin, Elsbeth Stagel, sie solle sich erst eines übenden Lebens befleißigen, ehe sie sich in spekulative Höhen begebe. Während der erste Teil dieser Arbeit entwickelte, wie die Figur durch Modelle und Strukturen entworfen wird, die an Schlüsselstellen des Textes Veränderungen und Neuausrichtungen beobachtbar machen, soll im Folgenden die Figur in ihrem Streben nach Vollkommenheit im Zentrum stehen. Damit stehen nicht mehr die makrotextuellen Strukturen zur Diskussion, sondern es wird über mikrotextuelle Beobachtungen beschrieben, wie die Figur entlang der Kapitelabfolge generiert wird. Übungen benötigen Zeit, sie benötigen Ein-Übung, was die Wiederholung und die Wiederholbarkeit der Übungen voraussetzt. Was eingeübt werden kann, sind Techniken, die verschiedene Möglichkeiten explorieren im Versuch, das Selbst zu transzendieren. Die Vita Seuses, aber auch die anderen Viten, die unter dem Terminus ‚Gnadenvita‘ subsumiert werden können, stellen genau diese inhaltliche und narrative Doppelung aus. 1 Inhaltlich entfalten sie Techniken wie etwa diejenige der imaginativen Vergegenwärtigung oder Askesetechniken. Narrativ bilden sie die Einübung der Technik ab, indem sie in sich perpetuierenden Variationen die Anwendung der Techniken erzählen und somit den notwendigen Übungscharakter performativ ausstellen. Otto Langer, stellt die üebungen in den Nonnenviten als eines der zentralen Elemente ihres Strebens nach Vollkommenheit dar. 2 Während Langer Eckhart von einer einseitigen Übungskultur abgrenzt, kann man Seuse als Gegenpol fassen. Anstatt 1 Zur Terminologie, die zwischen ‚Gnadenleben‘, ‚Gnaden-Leben‘ und ‚Gnadenvita‘ differenziert vgl. Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quelle und Studien, München 1980 (MTU 72), S. 355f. Zur Kritik an Ringlers Gattungsdefinition vgl. Susanne Bürkle, Literatur im Kloster, S. 272ff. Sie kritisiert die Herleitung der Definition über die Legende, die Ringler ahistorisch und ohne Textgrundlage verwende; sie schlägt eine Differenzierung in Gnadenvita und Offenbarungstexte vor, da „der von Ringler skizzierte Typus ‚Gnadenleben‘ bzw. ‚Gnadenvita‘ als spezifisch volkssprachlicher Typus einer mystischen Vita [...] durchaus zurecht, positiv aufegriffen, jedoch nicht eingehender diskutiert oder modifiziert“ wurde, S. 294. Zu dieser Forschungsdiskussion vgl. auch den Forschungsbericht von Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, S. 85f. 2 Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie, S. 68ff. Narrative Genese der Figur 102 sich von vorneherein von den Übungen zu distanzieren, greift Seuse sie auf, führt ihre Möglichkeiten und Grenzen vor und transformiert sie in seinem Sinne. Der Versuch, über Übungen eine Transformation des Habitus zu vollziehen, wird in der Vita anhand der Figuren durch- und vorgeführt, aber auch problematisiert. Ihre narrative ebenso wie ihre religiöse Identität wird erzählt als eine sich über die wiederholenden Übungen konstituierende und immer wieder transgredierende Identität. Im Folgenden soll darum, den theoretischen Überlegungen in der Einleitung entsprechend, die Figur als performativer Identitätsentwurf beschrieben werden. Die Wiederholungsstrukturen der Übungen ebenso wie ihre Problematisierung spielen dabei eine zentrale Rolle, um die religiöse Identität des Dieners narrativ umzusetzen. Die Praktiken der Einübung sind an spezifische kulturelle Räume zurückgebunden. Ein zentraler Teil der Textanalyse wird die Beschreibung der Verbindung aus Wiederholungsstrukturen, spezifischer Räumlichkeit und kulturellen Praktiken sein, um den religiösen Identitätsentwurf aus der historischen Selbstbeschreibung heraus zu entwickeln. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Räume inszeniert werden und wo diese Inszenierungen überschritten und neu besetzt werden. Die Figur soll also zwischen literarischer Erzeugung und historischem Kontext beschrieben werden. Die Textanalyse besteht aus drei großen thematischen Bereichen. Im ersten Schritt wird entwickelt, wie die Figur als religiöse Identität im Text hergestellt wird. Der zweite Bereich geht als Leitperspektive von Räumen der Inszenierung aus, in denen die Figur ihre Identität verstetigt. Im dritten Schritt wird die Umbesetzung in Räume des Leidens im Zentrum stehen, die das Konzept der Gelassenheit topographisch wie topologisch visualisiert. Verbunden und abgeschlossen werden diese größeren Einheiten durch Kapitel, die die Umwertungen und Trangressionen beschreiben, die in der Vita durchgespielt und vorgeführt werden. 3.1 Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) Um im Text ein Signal zu setzen, dass auf eine Figur referiert wird, benötigt es wenig Informationsmenge. „Die Voraussetzungen dafür, daß überhaupt eine Personenvorstellung gebildet wird - und damit die Voraussetzungen für die Annahme einer Sinneinheit ‚Figur‘ -, sind äußerst gering und deshalb nicht schwer zu bestimmen. So genügt schon ein Eigenname oder gar ein Personalpronomen als Anreiz für die Bildung einer Personenvorstellung (und damit einer ‚Figur‘), obgleich die Informationsbasis äußerst spärlich ist.“ 3 Die Erstnennung der Figur ist von fundamentaler Bedeutung, ermöglicht sie doch alle 3 Herbert Grabes, Wie aus Sätzen Personen werden.... Über die Erforschung literarischer Figuren, in: Poetica 1978 (10), S. 405-428, hier S. 410. Das ‚Bezeichnen‘ der Figur mit einem Eigennamen, einem Appellativ oder einem Personalpronomen, wie es Grabes hier Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 103 weiteren Zeichenprozesse, durch die Figureninformationen an die Figurenbezeichnung gekoppelt werden können. Im Kommunikationsakt zwischen Text und Rezipierenden wird über diese erste Benennung die Figur erzeugt. Außerdem differenziert die Bezeichnung die Figur von allen anderen Figuren und gibt ihr eine ‚Identität‘, die Wiedererkennen und Informationsverarbeitung steuert. 4 Alle Ansätze, die sich mit der Figurenbenennung auseinandersetzen, gehen von fiktionalen Texten aus, also von der Prämisse, dass innerhalb der erzählten Welt eine Figur erzeugt wird. Welche deiktische Qualität und Referenz besitzt aber ein Name in der Viten- und Offenbarungsliteratur? 5 In einer Textsorte, deren Figuren nicht als die Grundlage der Figurenentstehung formuliert, wird von Fotis Jannidis differenziert, der dem Bezeichnen der Figur verschiedene Funktionen zuordnet. Bezeichnung oder Namen der Figur ermöglichen, so Jannidis, Unterscheidung, Identität, sind Referenzpunkt für Merkmalszuordnung und erzeugen die Figur erst, vgl. Fotis Jannidis, Figur und Person, S. 124ff. Diese Funktionen werden im Folgenden, wenngleich nicht systematisch, aufgegriffen, um die Spezifika der Figur zu beschreiben, aber auch, um Grenzen dieser Funktionen und ihrer Beschreibungsmöglichkeiten zu markieren. Auch Uri Margolin, Naming and Believing: Proper Names in Narrative Fiction, Narrative 10 (2002), S. 107-127, hier S. 108, betont die Wichtigkeit der Figurenbenennung für die Konstitution einer „mental representation“ der Figur bei den Rezipientinnen und Rezipienten: „I would argue that singular referring expressions occupy a special place in this context, since they designate or establish the individual entities that constitute the furniture of the storyworld.“ Er argumentiert aus der Richtung einer kognitiven Narratologie, die vor allem die Konstruktionsleistungen der Rezipientinnen und Rezipienten mitberücksichtigt. Gleichzeitig weist auch er auf die linguistische Unterscheidung der unterschiedlichen Möglichkeiten von Figurenbenennung hin: „Linguists distinguish three kinds of singular referring expressions: personal pronouns, definite descriptions, and proper names.“ Eigennamen weist er dabei eine Sonderposition zu, da sie nicht austauschbar seien im Sinne der ‚rigid designators‘, vgl. ebd. S. 109. Auch nach Ralf Schneider, Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, der, wie der Titel des Buches bereits expliziert, aus der kognitiven Figurenforschung kommt, „[erfolgt d]ie erste Evozierung des mentalen Modells von einer Figur [...] durch die Nennung des Namens, eines Pronomens oder einer anderen Bezeichnung der Figur“, S. 72, wobei sich Schneider dabei auf Herbert Grabes bezieht. 4 Zur Kategorie der über Benennung erzeugten Identität vgl. Dieter Lamping, Der Name in der Erzählung, S. 21-28, sowie, im Anschluss an Lamping, Fotis Jannidis, Figur und Person, S. 137-149. Für Lamping ist der Begriff der Rekurrenz ist dabei ausschlaggebend, da die Figurenidentität gerade durch das Wiedererkennen über die Benennung maßgeblich gesteuert wird. Ähnlich äußert sich Jannidis, S. 138: „Erst einmal geht es um den Normalfall des Erzählens, die stabile Identität. Unter dem Gesichtspunkt des Textaufbaus ist Identität in dieser einfachen Bedeutung ein Rekurrenzphänomen: Es wird erneut auf eine Figur referiert, also koreferiert, auf die im Text bereits referiert wurde.“ 5 Ich grenze die Viten- und Offenbarungsliteratur hier ein auf den von Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters, getroffene räumliche, zeitliche und institutionelle Rahmen: „Zeitlich und örtlich ist diese Art Literatur anhand des bisher überschaubaren Materials folgendermaßen abzugrenzen: Abgefaßt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (genauer: bis etwa 1360), berichtet sie von Personen, deren Leben zum Teil bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht [...]. Der Entstehungsraum dieser Viten und Offenbarungen sind fast ausschließlich Dominikanerinnenklöster Oberdeutschlands (einschließlich der heutigen Schweiz)“, S. 3. Narrative Genese der Figur 104 innerhalb der erzählten Welt verbleiben, sondern die auf die Erfüllung der Heilsgeschichte in der Immanenz verweisen sollen? Dazu kommt, dass in der Vita Seuses nicht einfach ein Eigenname als Figurenname steht, sondern in einer komplexen medialen Inszenierung die Figur sich selbst benennt. Narratologische Kategorien allein reichen somit nicht aus. Zusätzlich müssen die medialen Bedingungen der Klosterkultur sowie die Gattungsumgebung reflektiert werden, die die Figur überhaupt erst konstituieren. Um sich der Vita und ihrer Figurenbenennung zu nähern, soll vorerst ein Umweg über annähernd zeitgleich entstandene dominikanischen Gnadenviten und Schwesternbücher genommen werden, in denen die Benennung meist prominent und exponiert steht. So kann die Figurenbenennung bei Seuse klarer konturiert und eingeordnet werden. 3.1.1 Exkurs: Der Name in Schwesternbüchern und bei Adelheid Langmann In den Kurzviten, wie sie in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts überliefert werden, ist der Name - der Eigenname - zumeist die erste Information im Text. Häufig steht formelhaft am Anfang: Ein swester dú hiess..., gefolgt von den jeweiligen Namen. 6 Diese Namen verweisen nicht auf Figuren, die nur innerhalb der erzählten Welt der Viten existieren, sondern auf die vorhergehenden Generationen der Konventsbewohnerinnen. Aus St. Katharinenthal ist neben der Vitensammlung auch ein Totenrotel überliefert, das dieselben Namen in einem anderen Kontext aufweist. 7 Nicht nur in den Viten, sondern auch in dieser Urkunde zum Totengedenken wurden die in den Viten als begnadet inszenierten Frauen erinnert. Die Namen besitzen also einen Referenzwert, der auf die historische Lebenswelt verweist. Gleichzeitig dienen die Namen der Unterscheidung innerhalb der Vitensammlung. Im ersten Satz wird in den Kurzviten ein Minimum an narrativer Identität geschaffen, an das die Gnadenerlebnisse gekoppelt werden. Die stets nach ähnlichen Mustern ablaufenden Viten werden über die Namen differenziert, während die Gnadenerlebnisse selbst eher auf Ähnlichkeit abzielen. Die Erlebnisse sind ähnlich, wiederholen sich in ihrer Motivik, aber die Namen sind veränderbar - womit suggeriert wird, dass jeder Name aus dem Konvent in dieser Reihung auftauchen kann, also auch derjenige der aktuellen Leserin. Jede Schwester hat prinzipiell Zugang zu den Gnadenerlebnissen, wenn sie sich am Vorbild ihrer Vorgängerinnen orientiert. Die Namen haben deiktische 6 So die Formulierung im St. Katharinentaler Schwesternbuch. Dieser formelhafte Eingang findet sich in fast jeder Vita, bis auf einige anonyme Viten und drei Viten, bei denen es heißt: Ein s  ligú swester dú hiess swester, wo es also zu einer adjektivischen Erweiterung kommt, die die Heiligkeit der Schwester betont. Vgl. auch Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, die die Grundstruktur der Kurzviten für das Engelthaler Schwesternbuch nach dem immer gleichen Schema beschreibt, das mit der Namensnennung einsetzt: „Die einzelnen Viten gleichen sich weitgehend in Aufbau und Inhalt. Sie beginnen stets mit (I) der Namensnennung und Herkunftsbezeichnung“, S. 218. 7 Vgl. Ruth Meyer, Das ‚St. Katharinentaler Schwesternbuch‘, S. 28ff. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 105 Verweiskraft über den Text hinaus, verweisen identitätsstiftend auf die eigene Gemeinschaft. Doch nicht nur auf die Klostergemeinschaft, sondern auch auf die Heilsgeschichte, ist doch jeder Name der Name einer begnadeten Schwester, einer von Gott Auserwählten und eines in der Heilsgeschichte erfüllten Lebens. Doch finden sich innerhalb der Viten- und Offenbarungsliteratur nicht nur die in Formeln eingesetzten Eigennamen. Es lässt sich auch beobachten, dass das Proprium vermieden wird, wie in den Offenbarungen der Adelheid Langmann (1306-1375). 8 Die Offenbarungen sind, im Gegensatz zu den Viten, nicht retrospektiv konzipiert, sondern „dokumentieren einen Ausschnitt aus dem zugrundeliegenden ‚Geschehen‘“, wobei ‚Geschehen‘ hier nicht auf einen erlebnismystischen Erfahrungsgehalt rekurriert, sondern ein narratologischer Begriff ist. Denn erst nachträglich wird das ‚Geschehen‘ „zu einer ‚Geschichte‘ zusammengestellt und als ‚Erzählung‘ angeordnet.“ 9 Aber auch die Offenbarungen sind nicht aus der Perspektive eines Ich geschrieben, sondern erzählen von einer closterfrauwen. So lautet die Erstnennung und damit, narratologisch gesprochen, die Erzeugung der Textfigur. Die Figur wird in einen festen Kontext gestellt, nämlich den Klosterkontext. Im Folgenden wird sie nur mit di swester, ein mensch oder mit dem Personalpronomen si bezeichnet. Statt mit einem Eigennamen, einem Proprium, wird sie konsequent mit Appellativa benannt. 10 Selbst an Stellen, wo es für das Textverständnis einfacher wäre, einen Eigennamen zu nennen, wird konsequent darauf verzichtet, so etwa in einer Episode, in der ein Einsiedler Gott um Gnade bittet für einen rihter uf der purg zu dem Hohenstein, der hiez Eberhart der schütz. 11 Der Einsiedler erhält in 8 Zu den Offenbarungen der Adelheid Langmann hat Caroline Emmelius, Begnadung und Zweifel. Zur Interaktion von Innen- und Außenraum in den ‚Offenbarungen‘ der Adelheid Langmann, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo- German Colloquium Oxford 2005, hg. von Burkhard Hasebrink [u.a.], Tübingen 2008, S. 309-325, unter dem Aspekt „der Vermittlungsleistung der Offenbarungstexte zwischen persönlichem Innenraum und sozialem Außenraum“ gearbeitet, S. 314. Sie stellt dort auch kurz die Überlieferungssituation vor. 9 Ebd., S. 311. Emmelius bezieht sich bei der narratologischen Terminologie auf Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin/ New York 2008, S. 241-272. 10 Die in der Onomastik herrschende Diskussion um das Verhältnis zwischen Proprium und Appellativum soll hier nicht aufgerollt werden. Als Arbeitsdefinition wird der Eigenname, das Proprium, als die im Taufakt einem Individuum zugesprochene Benennung verstanden. Das Appellativum dagegen ist eine Gattungsbezeichnung, die beliebig vielen Individuen zugesprochen werden kann, vgl. Gerhard Koß, Namenforschung. Eine Einführung in die Onomastik, Tübingen 1996, S. 34. Auch im Zusammenhang narratologischer Figurenforschung werden die beiden Begriffe verwendet, um unterschiedliche Figurenbenennungen differenzieren zu können, vgl. etwa Fotis Jannidis, Figur und Person, S. 122. 11 Die Offenbarungen der Adelheid Langmann. Klosterfrau zu Engelthal, hg. von Philipp Strauch, Straßburg/ London 1878, S. 53,23. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass der Text durchaus mit Eigennamen operiert, wenn Figuren aus dem Umkreis der swester beschrieben werden, wie z.B. Mitschwestern: Elsbeth Ortlibin, S. 50,31, Cristina von Kurenburg, S. 47, 18ff. und Cristina Ebnerin, S. 23,6; auch Männer, die Fürbitte bei Narrative Genese der Figur 106 einer Audition die Anweisung, sich an den Engelthaler Konvent zu wenden: do ist ein frau innen - und nant di swester - [...] und von der frawen gepet sült ir bekert werden von euren sünden. 12 Die Schwester bleibt namenlos, obwohl sie dem Einsiedler genannt wird, sie bleibt weiter die frau und di swester. Erst nachträglich wurde den Offenbarungen der Eigenname Adelheid Langmann zugeschrieben. Ähnlich wie in der Vita Seuses wird die historische Vereindeutigung auf eine beglaubigte Person erst im Laufe der Rezeptions- und Überlieferungsgeschichte vorgenommen. Das sorgfältige Vermeiden des Eigennamens und die Fixierung auf das Personalpronomen si im Text wird in späteren Einträgen in die Handschrift unterlaufen. In den drei überlieferten Handschriften taucht Adelheid Langmann unterschiedlich stark als historische Person auf. Zu der Biographisierung innerhalb der Rezeptionsgeschichte vermerkt Caroline Emmelius: „Die Texte von B und M enthalten zwar keine konkreten chronologischen Fixierungen, in beiden Handschriften finden sich allerdings biographische Ergänzungen von jüngerer Hand: B enthält eine einleitende Notiz, in der Adelheids Herkunft und Geburtsjahr angegeben werden [...]. Im Anschluß an den [...] Schluß von M [...] ist Adelheids Todestag ergänzt [...]. Der Zusatz in B liefert eine historische Situierung der Person, die zeitliche Distanz signalisiert. Der Zusatz in M entwirft eine eindeutig retrospektive Perspektive [...]. Die Überlieferung des Textes in W, die die Zusätze von B und M in den Text selbst integriert, setzt also eine redaktionelle Tendenz fort.“ 13 Welchen Effekt hat aber die ursprüngliche Distanzierung von einer lebensweltlichen Person, wie sie in auffälligem Unterschied zu den Schwesternbüchern erfolgt? Die ausschließliche Verwendung von swester, frawe und dem Personalpronomen si ist auf unterschiedlichen Ebenen wirksam. Auf der Produzentenebene ist es naheliegend davon auszugehen, dass die Rücknahme der Person stärker den exemplarischen Charakter betonen möchte. Für die Rezipientinnen stellen sich die Offenbarungen durch die Distanz von einer historischen Schwester als stärker exemplarisch dar, als dies die Schwesternbücher tun. Nicht der historisch beglaubigte, besondere Fall als Vorbild steht dann im Zentrum, sondern die abstraktere swester im Allgemeinen. Appellativa besitzen im Gegensatz zu Propria die Eigenheit, dass „ein Appellativ kraft einer Intension in einem Benennungsakt beliebig vielen Individuen aufs Mal zugeordnet werden kann.“ 14 Jede Schwester kann sich so, kraft der appellativen Anrede, angesprochen fühlen. Adelheid suchen, werden genannt: Hermann der kromer, S. 44,8 und Marquart der Tokler, S. 45,8. 12 Die Offenbarungen der Adelheid Langmann, S. 54,6. 13 Caroline Emmelius, Begnadung und Zweifel, S. 315, Anm. 29. 14 Andreas Lötscher, Namenssemantik / The Semantics of Name / Sémantique des noms propres, in: Namenforschung / Name Studies / Les noms propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik / An international Handbook of Onomastics / Manuel international d’onomastique, Bd. 1, hg. von Ernst Eichler [u.a.], Berlin/ New York 1995, S. 448-458, hier S. 449. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 107 Und nicht zuletzt hat die Konzentration auf die formelhaft wiederholten Benennungen den Effekt, den Text zu verdichten, die Episoden in ihrer Reihung als Übertragung einer meditativen Lektürehaltung auf die Faktur des Textes zu übertragen. Die Formeln werden durchgehend aufgenommen, häufig stehen mehrere Episoden nacheinander, die nur in leichter Abwandlung den gleichen Auftakt haben, so etwa die Episoden in den Offenbarungen, die alle mit der Formel zu einer zeiten do disiu swester beginnen. Vor allem wenn das Personalpronomen eingesetzt wird, öffnet sich die Wiederholung auf die Rezipientin, so etwa in der folgenden Apostrophe Christi an einen guet mensch, der darum bittet, was mit Adelheit geschehen soll: ‚ja ez ist mein wille. ich wil si haben swo si ist, da si ein ist mit mir.‘ do sprach der mensch: ‚herre, wo ist si ein mit dir? ‘ do sprach unser herre: ‚da si niman ist.‘ 15 Und so setzt es auch der Text um: die Figur ist namenlos, nicht adressierbar, ein Niemand. Außerhalb des Textes gibt es keine Referenz auf eine historische Schwester, die Referenz geht auf im Bezug zu Gott. Die namenlos bleibende swester verbleibt im Text, in den unaufhörlich wiederholten Gnadenerlebnissen, die das si letztlich in niman überführen. 3.1.2 Der Name im Bild - Seuses Vita Eine Sonderrolle nimmt die Benennung und Referentialisierbarkeit in Seuses Vita ein. Hier gibt es weder einen Eigennamen noch einen rein generischen Appellativ. 16 Stattdessen wird die Figur über einen determinierenden Appellativ eingeführt, diener der ewigen wisheit, der im Laufe des Narrativs in der Verkürzung auf diener wie ein Eigenname verwendet wird. Über das Appellativum wird stets auf die gleiche Figur referiert. Diese textinterne Referenz ermöglicht es, sukzessive die Figureninformationen auf die immer gleiche Entität zu beziehen. Eine Besonderheit, die über die sprachliche Nennung eines Eigennamens hinausgeht, zeigt sich in den bebilderten Handschriften. Denn die Erstnennung des dieners findet nicht in der Vita selbst statt, sondern noch vor dem Prolog zu allen vier Büchern, noch vor dem Prolog zum Exemplar. Bevor der Text einsetzt, taucht die Figur im Bild auf. Das Bild zeigt den Diener mit der ewigen Weisheit, umrahmt von den Halbdarstellungen von Hiob, Aristoteles, David 15 Die Offenbarungen der Adelheid Langmann, S. 2,5-8. 16 Die Nennung des Namens der Súse in der Überschrift zum Prolog der Vita wird bei Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler, Vom ‚diener der ewigen wisheit‘ zum Autor Heinrich Seuse, S. 153f., ausführlich diskutiert. Sie problematisieren die Referentialisierbarkeit des Eigennamens, der oszilliert zwischen der Bezeichnung des ganzen Buches und der Figur. Altrock und Ziegeler diskutieren den Eigennamen im Kontext einer im Laufe der Rezeptionsgeschichte zunehmend verengten Perspektive, die die Figur immer stärker mit dem Autor Seuse identifiziert, was sich vor allem im Bildprogramm nachweisen lässt. Im Zentrum meiner Untersuchung steht nicht die Nennung des Eigennamens im Paratext, sondern die Frage, wie die Figur sich selbst benennt und zwar mit der Bezeichnung, die dann den ganzen Text hindurch verwendet wird. Narrative Genese der Figur 108 und Salomo. 17 Durch Beischriften werden die Figuren identifizierbar: Der lebensweltlich dargestellte Predigerbruder in Habit und mit Tonsur wird als diener der ewigen wisheit bezeichnet. Nicht allein sprachlich, über die Nennung des Namens, sondern als Zeichnung wird der Diener hier ‚vor Augen gestellt‘. Während im Text nur eine sukzessive Informationsvergabe möglich ist und die Imaginationskraft der Rezipientinnen die Figur erzeugen muss, wird hier, in medialer Dopplung, der Figur eine Kontur und ein Körper gegeben. Der Figurenname selbst wird durch die Figurenkonstellation eingeführt: Der Diener ist der ewigen Weisheit verbunden, die ihm gegenübersteht. Die Verbindung zwischen Figur und ewiger Weisheit wird im Bild dadurch hergestellt, dass die Figuren über die Mittelachse gespiegelt sind, sich anschauen und, in Handschrift A, über ihre Schriftrollen Kontakt haben. Die Verbindung wird aber nicht nur über die bildhafte Position der Figuren zueinander erschlossen, sondern auch über die Bildüberschrift: Disú bild bewisent der ewigen wisheit mit der sele geischlich gemahelschaft. Die Figur ist zwar mit lebensweltlichen Attributen versehen, erhält einen gezeichneten Körper, der auf die Welt außerhalb von Text und Bild verweist. Dieser Körper wird aber gleichzeitig zurückgenommen, da er die bildliche Umsetzung der Seele ist. Über den Paratext werden sie verbunden, da die Überschrift die Information gibt, dass die Figur als Seele und die ewige Weisheit geistlich vermählt sind. Diese Verbindung, die die Benennung der Figur bestimmt, wird im dritten Kapitel kunstvoll inszeniert als notwendige Verbindung, die aus der Bibellektüre vollzogen wird. Dem Diener wird über das Bild ein Umriss verliehen, der ihn lebensweltlich zu referentialisieren scheint. Das Bild aber stellt seine eigene Bildhaftigkeit aus, da es in der Bildüberschrift betont, dass es nicht der Diener ist, sondern seine Seele, die abgebildet ist; das Bild macht das Unsichtbare beobachtbar. Die Darstellung des Dieners wird so geöffnet zwischen lebensweltlich-textueller Referenz und ihrer geistlichen Übertragung. Im Gegensatz zu den Nonnenviten steht nicht Erinnerung an eine historische Figur im Vordergrund, sondern die Öffnung auf eine exemplarische Figur. Die Rezeptionsgeschichte zeigt, wie sehr die Rezipientinnen an einer Historisierung im Sinne einer Referentialisierung interessiert waren. Wie bei Adelheid Langmann wird auch der Diener in seiner Exemplarizität zunehmend auf die Person Heinrich Seuse hin gedeutet, was in der ältesten Handschrift A noch nicht der Fall ist. Die Figur entsteht in den bebilderten Handschriften im ersten Bild. Die Rezipientinnen erhalten nicht nur die Benennung diener der ewigen wisheit als Referenzpunkt für die Figur, sondern ein ganzes Figurenprogramm. Die Figur wird erzeugt und gleichzeitig in ein enges Netz an Zitaten und Bezügen gestellt. Noch bevor die Figur im Narrativ sprachlich benannt wird, wird sie im Bild sichtbar gemacht. 17 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-biblio-theque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 8 (folio 1 v ). Oben in Kapitel 2.2.2., Minneleiden und Entbehrung: Hiob im Bild und in der narrativen Entfaltung, wird die erste Zeichnung in ihrer Funktionsweise näher analysiert. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 109 3.1.3 Performative Selbstsetzung in der Lektüre Williburg von Húnikon, Adelheit von Spiegelberg, Richm  t von Wintertur, 18 Adelheit von Hiltegarthausen, Margaretha von Rosenstein, 19 Elyzabeth von Weyler, Elizabeth von Eslingen, Mechthild von Hundersingen, 20 Friedrich Sunder, Elsbeth von Oye, Adelheit von Freiburg. Diesen Katalog an Namen und Herkunftsbezeichnungen könnte man leicht verlängern. Viele Viten, die im Kontext der dominikanischen Schreibkultur des deutschsprachigen Südwestens im Spätmittelalter entstanden sind, setzen mit Name und Herkunftsort ein, legen also sofort ein Minimum an Referentialisierbarkeit fest. Gemeinsam ist ihnen, dass sie über die Namensnennung eine historische Beglaubigung einführen, die nicht hintergehbar zu sein scheint. Die Namen sind nicht frei gewählt, sondern wurden den Schwestern und Brüdern des Predigerordens im Akt der Taufe verliehen. Die Namen machen sie unterscheidbar und erheben den Geltungsanspruch, von einer historischen Person zu erzählen. Im Vordergrund steht die Referenz, der Bezug auf eine bestimmte Person, die teilweise auch über andere Dokumente nachvollziehbar ist. Gleichzeitig tritt die Bedeutung des Namens hinter die Funktion der Anrufung und Appellation zurück. 21 In der Vita dagegen ersetzt der Appellativ diener der ewigen wisheit den Eigennamen. Diese Bezeichnung steht im ersten Bild und im Prolog unvermittelt und ohne Erklärung. Erst im dritten Kapitel, das sich eng auf das erste Bild bezieht und dieses narrativ entfaltet, wird der Prozess der Namensfindung und Selbstbenennung innerhalb der Figurenkonstruktion erzählt. Niklaus Largier entwirft in seiner Monographie Die Kunst des Begehrens ein Bild der mittelalterlichen geistlichen Kultur und Literatur und ihrer Praktiken. Begehren wird aufgespannt zwischen Inszenierung und Intensivierung der Erfahrung. Das Entscheidende ist dabei, dass intensive Erfahrung nicht ein naturalisiertes, vorgängiges Phänomen ist, sondern über Texte und Artefakte initiiert wird und gerade auf dem Wechselspiel von Inszenierung und Transformation der Erfahrung beruht. Dem Umgang mit Texten kommt dabei eine besondere Rolle zu. Im Zentrum steht eine sinnliche Anwendung der Bibellektüre, wie Origenes sie in seiner Theorie der inneren Sinne entwirft. 22 Nicht die 18 Vita 1-3 aus dem St. Katharinenthaler Schwesternbuch. 19 Vita 1 und 4 aus dem Ulmer Schwesternbuch. 20 Vita 1-3 aus dem Weiler Schwesternbuch. 21 Eine Ausnahme stellt dabei die Vita Friedrich Sunders dar, die im Prolog über eine etymologische Herleitung des Namens auf den Charakter schließt. Dort wird der Name selbst zum Thema und die Bedeutung, nicht die Referenz, wird umspielt: So waz er nit allain n  ch dem namen genant Fridrich Sunder: den frid het er anvenglich von wircken dez hailigen gaistes jn jm, vnd z  jm selbs jm mittel gegen sinem nechsten jn vorgang des ebenbildes, vnd z  got sinem herren jn richait der tugent als z  m zil der volkumenhait gerichtet. ‚Das Gnaden-Leben des Friedrich Sunder, Klosterkaplan zu Engelthal‘, in: Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters, S. 391, 4ff. Obwohl aber die Bedeutung thematisiert wird, wird nicht gesagt, dass Friedrich Sunder seinen Namen frei gewählt habe. 22 Vgl. Kapitel 2.1.4 Innen und Außen als Ordnungsmodell des anfangenden Menschen. Narrative Genese der Figur 110 Exegese allein, sondern auch die Anwendung des Textes wird bei Origenes gefordert: „Nicht eine historische und dogmatische Deutung (explicatio) des biblischen Textes als Wissensform ist damit gefordert, sondern ästhetische Anwendung (applicatio), Überführung des Textes in sinnliche Erfahrung, die die Seele formt und die Welt neu Gestalt annehmen läßt.“ 23 Diese Überlegungen führen in den Kern des dritten Kapitels, das genau das hier beschriebene Verhältnis von Text und (ästhetischer) Anwendung als Transformationsprozess erzählt. Denn die Benennung in der Vita vollzieht sich als performative Selbstsetzung, eine Begrifflichkeit, die im Laufe des Kapitels entwickelt werden wird. Die Selbstsetzung findet im Rahmen medialer Praktiken statt. So entstammt die Eigenbezeichnung als diener der ewigen wisheit der Lektüre, nämlich der Lektüre, wie dú ewig wisheit in der heiligen scrift beschrieben wird. Das dritte Kapitel der Vita erzählt die intensive Beschäftigung mit der Weisheitsliteratur, die der diener nicht nur liest oder hört, sondern die ihn durch innere Betrachtung grundlegend transformiert. 24 In mehreren Lektüre- und Rezeptionsschritten führt das Kapitel vor, wie die Figur aus den gehörten Buchstaben einen sinnlichen Wahrnehmungsraum kreiert, in dem sie mit den Stimmen der Bibel in Dialog tritt. Die Buchstaben der Bibel verbleiben nicht auf einer intellektuell zu erfassenden Ebene, sondern erhalten in der Figur einen eigenen Resonanzraum. Das Gehörte wird zum Eigenen gemacht: „Der Buchstabe wird so zu einer Figur, einem Bild, das die Sinne verwandelt und dessen Bedeutung sich nur dort realisiert, wo die Sinne im Alltag neu Gestalt annehmen.“ 25 Zu Beginn des dritten Kapitels wird eine Lektüresituation beschrieben. 26 Dargestellt wird eine Tischlesung, die Teil des liturgischen Dienstes ist. Der Anspruch dieses liturgischen Dienstes ist eine Textaneignung, die nicht äußerlich bleiben darf: „Wenn die Aneignung einer Religion für den, der sie sich aneignet, in keiner Weise äußerlich sein soll [...], dann darf nicht schon in der Situation der Aneignung selbst diese Distanz virulent sein. Genau aus diesem 23 Niklaus Largier, Die Kunst des Begehrens, S. 45. 24 Während der Begriff ‚Weisheit‘ in seinem Facettenreichtum nicht zu definieren ist, kann der Kanon der alttestamentlichen Weisheitsliteratur selbst umrissen werden: „Zur Weisheitsliteratur im strengen Sinne werden die Bücher Proverbien, Kohelet, Hiob und Sirach gezählt. Die Zusammenschau dieser Bücher ist bereits in der Septuaginta nachzuweisen.“ Melanie Köhlmoos, Weisheit/ Weisheitsliteratur II, in: TRE 35(2003), S. 486- 497, hier S. 487. 25 Niklaus Largier, Die Kunst des Begehrens, S. 46. 26 Lektüre meint hier nicht nur die den Lesenden betreffende Lektüre. Ich folge dabei René Wetzel, Dúr daz wort, in daz wort, an daz wort und seinen Überlegungen zur Engelberger Predigtsammlung, wo er für den Lesevorgang von Lesepredigten einen visuellen und auditiven Lektürebegriff entwickelt: „Die Engelberger Lesepredigten sind Lektüre nicht nur für Leser, sondern auch für Vorleser und Hörer. Der Lesevorgang, den ich im Folgenden zu beschreiben versuche, ist damit nicht nur als ein visueller, sondern, in der vorlesenden Vermittlung, paradoxerweise immer auch als ein auditiver zu verstehen“, S. 405. Für die hier analysierte Textstelle ist das insoweit relevant, als der Diener über bei der Tischlesung Gehörtes kontempliert. Er ist genau der bei Wetzel anvisierte Hörer, der die Lektüre nicht visuell, sondern auditiv verarbeitet. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 111 Anspruch erfährt eine Rezeptionssituation wie die der Tischlesung ihre liturgische Konnotation; sie vollzieht ein Moment der Lebenspraxis, deren Verständnis durch sie gedeutet und vertieft werden soll.“ 27 Was gehört wird, bleibt nicht nur äußerliches Wissen, sondern soll innerlich angeeignet werden. Und genau diesen Anspruch vollzieht das dritte Kapitel. Vorgeführt wird eine Aneignung der Weisheitsbücher, die von der Schrift in die Minnebeziehung führt. 28 Die ewige Weisheit ist, so inszeniert es die Vita, den Weisheitsbüchern nicht einfach nur als textuelles Phänomen inhärent, sondern sie tritt dem Diener als Figur entgegen, als ein lútseligú minnerin (11,28f.), die mit allen so freundlich redet, daz si ellú herzen gen ir geneigen muge. (12,2f.) Die Heilige Schrift bleibt so nicht Buchstabe, sondern sie tritt den Menschen entgegen, tritt in Interaktion mit ihnen, spricht mit ihnen - und trotzdem bleibt klar, dass sich diese Interaktion im Rahmen der Weisheitsbücher vollzieht: Dis reizlich wise hate si gar dik [...], sunderlich an den b  chern, dú da heissent der wisheit b  cher. (12,7ff.) Aneignung der Schrift bedeutet, mit dem Gehörten in Interaktion zu treten, das Gehörte auf das eigene Leben zu beziehen. Und so tut es auch der Diener in der Tischlesung: Wenn man dú ze tisch laz, und er denne derley minnekosen horte dar ab lesen, so waz im vil wol ze m  te. (12,9f.) Aus seiner Lektüreerfahrung möchte er die ewige Weisheit ze liebe haben. Die Figur der ewigen Weisheit zeigt, dass narratologische Modelle, die Figuren als mentales Modell von Personenvorstellungen beschreiben, hier an ihre Grenzen geraten. So ist sie keine Figur, die mit einem mentalen Modell einer Personenvorstellung abgeglichen werden kann, da sie keine Person ist. Sie entsteht vielmehr als Lektürekonstrukt aus unterschiedlichen Weisheitsbüchern des Alten Testaments, die je unterschiedliche Aspekte fokussieren. 29 Gleichzeitig tritt sie mit der Figur des Dieners in Interaktion, erhält also durchaus Züge einer Person. Im Gegensatz zu Mitfiguren aus der sozialen Welt - dem Kloster, der Umgebung - verbleibt sie aber im Innenraum des Dieners, gehört also seiner Imagination an. Sie ist Teil der kulturellen, historisch gebundenen Praktiken zwischen Lektüre, Kontemplation und Aneignung. Sie ist weniger eine Figur, als eine Figuration, nämlich eine bildhafte Annäherung an Gottt. Barbara Newman bezeichnet die ewige Weisheit als „powerful, iridescent character“ und zählt eine Reihe wichtiger Ausprägungen auf: „street preacher, prophet, Temple priestess, daughter and counselor of God, creatrix of the world, all-pervading spirit, celestial bride of sages and philosopher- 27 Burkhard Hasebrink, Tischlesung und Bildungskultur im Nürnberger Katharinenkloster. Ein Beitrag zu ihrer Rekonstruktion, in: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9.-15. Jahrhunderts, hg. von Martin Kintzinger [u.a.], Köln [u.a.] 1996 (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 42), S. 187-216, hier S. 189. 28 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, zeigt anhand einer Konkordanz von Vita und Bibel, wie viel die Vita hier aus der Weisheitsliteratur aufnimmt, S. 203f. 29 Maurice Gilbert, Sagesse/ Ancien Testament, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, Bd. 14, Sp. 71-81, stellt die Belegstellen für das Vorkommen der „Personnification de la Sagesse dans l’A.T.“ zusammen, Sp. 78. Er weist auch darauf hin, dass die Bedeutung dieser personifizierten Weisheit umstritten ist. Narrative Genese der Figur 112 kings.“ 30 Diese lange Aufzählung unterschiedlicher Funktionen zeigt den Bilderreichtum, der bei der Beschreibung der ewigen Weisheit zur Verfügung steht. Sie ist eine Figuration, eine mögliche Erscheinungsform Gottes, die aber in ihrer Vielgestaltigkeit stets in ihrer Bildhaftigkeit und nicht als Gott selbst offengehalten wird. Newman weist darauf hin, dass die Akzeptanz des Dogmas von der göttlichen Sohnschaft Christi durch die lange Tradition der ewigen Weisheit begünstigt wurde; entsprechend eng wurde die ewige Weisheit mit Christus assoziiert. 31 Die ewige Weisheit ist also gleichzeitig personenähnlich und nicht personenähnlich. Sie tritt als kommunizierende Interaktionspartnerin auf, wird dem Diener zu Seite gestellt. Aber sie verbleibt in seinem Inneren, entsteht im kulturhistorischen Kontext der Tischlesung, ist also eng gebunden an spezifische kulturelle Praktiken. Darum soll im Folgenden die Interaktion der Figuren in ihrem Kontext einer klösterlichen Textaneignung gelesen werden. Auf den Wunsch des Dieners, sich das in der Tischlesung Gehörte ganz anzueignen, sich ganz der Minnebeziehung zur ewigen Weisheit hinzugeben, folgen zwei Tischlesungen, die immer näher zur ewigen Weisheit hinführen. Die Heilige Schrift tritt dem Diener in unterschiedlichen Figuren entgegen, die nach und nach seine religiöse Identität formen. 32 In der ersten Tischlesung tritt der Diener in Dialog mit Salomon: Es geschah, so er mornendes aber dar ze tische gesass, so r  fte si us der wise Salomon (12,18f.). Nicht der vorlesende Bruder, sondern Salomon selbst spricht zu ihm und berichtet in kunstvoller Sprache von der Ehrwürdigkeit der ewigen Weisheit. Der Diener wird direkt angesprochen, die Zitate aus der Bibel werden als Anrede an die Figur inszeniert. Auffällig an der direkten Rede ist der Sprung im Register. Während zuvor in einfacherem Satzbau von der Tischlesung erzählt wurde, ist die Lesung 30 Barbara Newman, God and the Goddesses, S. 190f. Sie nennt als wichtigste Bücher des Alten Testaments für die Konstruktion der Weisheit als Figuration Gottes vor allem Sprüche, Jesus Sirach und Weisheit Salomos mit ganz verschiedenen Traditionszusammenhängen und unterschiedlichen Senderintentionen. 31 „New Testament writers not only identified the divine Sophia with Jesus, as is well known. More important, they reflected on her creative activity and her relationship with God as scriptural guidelines to follow in developing their own christologies.“ Ebd., S. 192. 32 Auch Martin Andree, Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung), München 2006, beschreibt die Tischlesungen als „Wiederholungslektüren“, S. 359. Er verbindet das dritte Kapitel mit dem zweiten Kapitel, in dem ein raptus, der dem paulinischen Entrückungserlebnis nachgebildet ist, beschrieben wird. Andree postuliert, dass „Seuse sich nun [bemüht], das Erlebnis der Transzendenz über Textkonsum, also: Wiederholungslektüren herbeizuführen, denn die nächsten visionären Erlebnisse der Vita sind durchweg an Lektüren gekoppelt“, S. 359. Obwohl die Beobachtung der Wiederholung wichtig ist, ist das dritte Kapitel nicht einfach eine Fortführung des zweiten, denn die Visionen sind durchaus nicht gleich, wie Andree suggeriert. Die Entrückung im zweiten Kapitel wird als gnadenhafte Schau beschrieben, während das dritte Kapitel zeigt, wie die äußeren Worte der Tischlesung im eigenen Wahrnehmungsraum verinnerlicht werden bis zur Transformation. Damit würde ich aber sagen, dass im dritten Kapitel keine Visionen dargestellt werden in einem engeren Sinn, sondern, wie Andree im Titel führt, Medienwirkungen. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 113 selbst, das Sprechen über die ewige Weisheit, rhetorisch deutlich abgehoben. Die Anziehungskraft der ewigen Weisheit liegt auch in der Dignität der Sprache, in der Anziehungskraft der poetischen Sprache. Wer die ewige Weisheit als Geliebte wählt, dem gibt sie jugent und mugent, edli und richtum, ere und gef  r, grossen gewalt und einen ewigen namen. (12,22). In den Zitaten, die an den Diener gerichtet erscheinen, tritt die ewige Weisheit jedoch nicht nur als Geliebte auf, sondern auch in ihrer Machtfülle als Schöpferin von Himmel und Erde, eine Figuration Gottes, die sich vor allem aus dem Liber Proverbiorum speist. Für den Diener klingt die Macht der Weisheit folgendermaßen: Dur si ist daz ertrich geschafen, dur si ist der himel gevestnet und daz abgrúnd undergrúndet. (12,26-13,1) 33 Eingeblendet wird hier die Vorstellung der ewigen Weisheit als Schöpferin von Himmel und Erde, wie es bereits im ersten Bild des Exemplars zu finden ist. Dort wird auf diese Bibelstelle über die Figur der ewigen Weisheit referiert, die die Gestirne als Himmelsscheibe trägt. Das Bild ist in der Erzählung gedoppelt und wird dort erst narrativ entfaltet. Der Text kommentiert die ästhetische Formung der Sprache als sch  n rede (13,3) und diese schöne Rede berührt den Diener affektiv. 34 Nicht mehr die ratio, der Verstand, ist hier das Zentrum der Erkenntnis, des Denkens, sondern sein Herz: do [...] gedahte sin senendes herz also (13,3f.). Aus der schönen Rede resultiert das Begehren des Dieners nach der ewigen Weisheit: Wan m  hti mir dú ze teil werden, wie wer ich denn so recht wol beraten! (13,4f.) Trotz der sch  n rede und obwohl diese als göttlicher Gedanke in seinem Inneren fortgeführt wird, bleibt die religiöse Identität der Figur instabil: So er denne hin und her ges  chte, so vand er iemer etwaz, dem der gantze ker sines herzen widersprach (13,23f.). Die Weisheitsbücher beziehungsweise die ewige Weisheit als Minnerin locken ihn durch ihr minnekosen (12,10) und ihre sch  n rede (13,3) auf einer stimmlich-sinnlichen Ebene. Dabei ist es nicht nur die Schönheit irgendeiner Rede, sondern es ist die Heilige Schrift selbst, die in ihrer Offenbarung von der Figur so erfahren werden muss, dass sie nicht außerhalb verbleibt, sondern sein Inneres transformiert. Das in der Tischlesung Gehörte wird im Inneren des Dieners weitergeführt, wird in einem langen Prozess angeeignet, in dem der Diener seine Zweifel mit der ewigen Weisheit diskutiert. So hadert er in seinem Inneren mit ihrer Entzogenheit, habe er sie doch noch nie gesehen; auch die Entbehrungen, die man für die ewige Weisheit erdulden muss, beklagt er. Die ewige Weisheit tritt daraufhin in Dialog mit ihm, teilt ihm als g  tlicher gedank mit, dass Liebe und Leiden seit jeher zusammen gehören und dass es für eine so hohe Liebe nur recht und billig sei, Entbehrungen zu ertragen. 33 Vgl. Prv 3,19f.: Dominus sapientia fundavit terram stabilivit caelos prudentia / sapientia illius eruperunt abyssi et nubes rore concrescunt. 34 Der folgenden Abschnitt und weitere Teile sind freie Übersetzungen aus dem Horologium Sapientiae. Paul Michel, Stilwandel bei Heinrich Seuse, in: Verborum amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag, hg. von Harald Burger, Alois M. Haas und Peter von Matt, Berlin/ New York 1992, S. 297-341, zeigt, wie die beiden Texte zusammenhängen und stellt für die Übertragung der Vita eine Tendenz zur Verdichtung fest, S. 331. Narrative Genese der Figur 114 Erzählt wird eine Habitualisierung durch Lektürepraxis. Eine Szene wird auserzählt - die Lesung Salomos, die Klage der Figur und die Antwort der ewigen Weisheit in seinem Inneren -, um in einem Erzählerkommentar in eine Wiederholung überführt zu werden: Dis gelich beschah im vile. (13,21) Der Text führt vor, wie erst die Wiederholung und Betrachtung die Transformation der Figur bewirken. 35 Die auserzählte Szene wiederholt sich immer wieder, ohne dass die Wiederholung narrativ entfaltet werden muss, aber auch ohne dass die Minnebeziehung vollendet wird. Nach langem Hadern wird schließlich der gantze ker sines herzen (13,24) erzählt. 36 Geschildert wird erneut eine Tischlesung von der wisheit (13,26), allerdings in entscheidender Steigerung. Nun ist es nicht mehr Salomon, der von der Weisheit spricht, sondern die Weisheit selbst spricht über sich. Während Salomon die Macht der göttlichen Figuration geschildert hat, entnimmt die ewige Weisheit ihre Selbstbeschreibung vor allem dem Buch Sirach. Für dieses Buch des Alten Testaments vermerkt Barbara Newman: „The sage ben Sirach wrote Ecclesiasticus in part to stem the assimilation of Diaspora Jews, so he employed the erotic allure of Sophia to compete with the popular hellenistic cult of Isis. Wisdom in Ecclesiasticus, like a Jewish fertility goddess, makes her appeal through the lush imagery of spices, fruitful vines, life giving streams and aromatic trees.“ 37 Auch wenn die Vita sicherlich keine Fruchtbarkeitsgöttin inszenieren möchte, so liegt hier doch die Betonung auf der erotischen Anziehungskraft, die von der Liebe der ewigen Weisheit ausgeht. In Bildern, die die Körperlichkeit, das Sinnliche über den Geschmacks - und Geruchssinn betonen, zitiert die ewige Weisheit in der Vita sich selbst in Versatzteilen aus der Bibel, vor allem aus Sir 24: sam der sch  ne rosbom bl  get und als der hohe liban unverschniten smaket und als der unvermischet balsam rúchet, also bin ich ein bl  ndes, wolriechendes, unvermischtes lieb an urdruzz und ane biterkeit in grundloser minneklicher s  zzekeit. (13,27ff.) 38 Die Liebe der ewigen Weisheit erscheint hier nicht in der Fülle der Macht, sondern in unermesslicher Süße. 35 Das Verhältnis von Lektüre, die auf einer intellektuellen Ebene verbleibt, und der aneignenden Betrachtung problematisieren auch die Engelberger Predigten: „Während Lesen offenbar als ein einfacher, schneller und unproblematischer Vorgang angesehen wird, erweist sich die Betrachtung als komplexer und nimmt mehr Zeit bzw. Vertiefung in Anspruch. Ist Lesen ein Vorgang der intellektuellen Verarbeitung, so ist die Meditation oder Kontemplation ein psychischer Prozess, der die Gefühle betrifft und ins Herz zielt.“ René Wetzel, Dúr daz wort, in daz wort, an daz wort, S. 412. 36 Die Vita schildert verschiedene Formen der ker schon im ersten und zweiten Kapitel, vgl. Bruno Quast, Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion, der die mehrfachen Anfänge herausarbeitet. Ich fokussiere hier auf das dritte Kapitel, da es die Figurenbenennung ins Zentrum stellt. 37 Barbara Newman, God and the Goddesses, S. 191. 38 Vgl. Sir 24,17-21: quasi cedrus exalta sum in Libano et quasi cypressus in monte Sion / et quasi palma exalta sum in Cades et quasi plantatio rosae in Hiericho / [...] / et quasi libanus non incisus vaporavi habitationem meam et quasi balsamum non mixtum odor meus. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 115 Antithetisch steht ihre Süße dem bittern lon gegenüber, den andere Minnerinnen bereithalten. Sie evoziert durch die Schönheit der Sprache, des Klanges der rhetorisch durchformten Rede die Süßigkeit ihrer Liebe. Hier klingt die theoretische Diskussion um präsentisches Sprechen an, das seine „Einlösung im Klang“ 39 findet. Denn während das Sprechen der ewigen Weisheit die Süße der transzendenten Liebe evoziert, ist die Rede, und damit der Klang, der anderen Minnerinnen ein ganz im Irdischen verbleibender Wohllaut; wenn diese sprechen, so ist ire red ges  stú gift (14,1). Rede und Klang sind somit unterschieden in göttlich-transzendente und irdisch-immanente Süße. Die Rede der ewigen Weisheit, also die Lektüre während der Tischlesung, hat einen unmittelbaren Effekt auf den Diener, dessen herz ingruntlich bewegt ward. (13,26f.) Die Wiederholung im Umgang mit der Weisheitsliteratur führt zur Aneignung des Gehörten. Emphatisch ist entsprechend die Reaktion: wafen, wie ist dis so war! (14,2) denkt der Diener und vollzieht die Abkehr von allen anderen Minnerinnen hin zur ewigen Weisheit: gewerlich, es m  s reht sin, si m  s min liep sin, ich wil ir diener sin. (14,3f.) In dieser Abkehr liegt die Grundlegung seiner religiösen Identität, die sich in seiner Selbstbezeichnung spiegelt. Die Erkenntnis der Richtigkeit seiner Hinwendung zur ewigen Weisheit lässt sich bis in den Satzbau nachzeichnen. Eingangs steht beschwörend die gedoppelte Beteuerung der Richtigkeit. Die drei Teilsätze sind alle parallel aufgebaut, sodass es zu einer Verschränkung der Identität von si und ich als liep und diener kommt, bestätigt durch den ersten Parallelsatz, der diese Verbindung als reht bezeichnet. Die Bezeichnung der Figur ist somit keineswegs ein von außen, von einer zur Taufe legitimierten Instanz herangetragener Name, sondern ein Appellativ, den sich die Figur in der habitualisierenden Lektüre der Weisheitsbücher selbst gibt. Die Bezeichnung ist mehr als eine Referenz, die auf eine Person des Klosterlebens verweisen würde. Sie ist das Ergebnis eines Medialisierungsprozesses, an dessen Beginn die Tischlektüre steht und an dessen Ende die innere Transformation der Figur stattfindet. Der Prozess verläuft über Wiederholungen, Betrachtungen und Aneignung des Gehörten und Gelesenen, um aus den tradierten Bildern und Mustern eine eigene religiöse Identität zu konstituieren. Der diener wird zum Diener, weil er performativ sein Selbst setzt, indem er in ständiger Wiederholung seine Identität aus der Lektüre formt. Die Figur setzt sich über ihre performative Selbstbenennung in entscheidender Weise ab von den Gnadenviten und Schwesternbüchern der Zeit. Ihr ‚Name‘ referiert und bedeutet zugleich und ist zudem Teil der Identitätssetzung über Praktiken der Klosterkultur. Er schließt die Figur damit als Einheit ab, die Wiedererkennung im Text garantiert und an die Figureninformationen gefügt werden können. Und gleichzeitig ist die Figur geöffnet, denn sie führt vor, wie jede und jeder in einer aneignenden Lektüre der Schrift zu einem Diener der ewigen Weisheit werden kann. 39 Burkhard Hasebrink, Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler, S. 401. Narrative Genese der Figur 116 3.1.4 Von der Lektüre zur Produktion innerer Bilder Die Aneignung der Lektüre führt nicht nur zu der performativen Selbstsetzung, sondern auch zu einer Bildproduktion, die das Gehörte in ein inneres Bild überführt. Die unterschiedlichen Facetten, aus denen sich die ewige Weisheit bereits im Alten Testament zusammensetzt, werden in einen Bilderbogen überführt, in dem die ewige Weisheit kaleidoskopartig in immer neuen Bildern erscheint. Nach seiner vollkommenen Hinwendung an die ewige Weisheit, seinem ker, ist es der Wunsch des Dieners, die entzogene Minnedame wenigstens einmal zu sehen; er möchte wissen, wie sie aussieht: Ach wie ist das liep gestalt, daz so vil lustlicher dingen in im hat verborgen? Weder ist es got ald mensch, frow oder man, kunst ald list, oder waz mag es sin? (24,6f.) Programmatisch fragt der Diener selbst, wie man die Gestalt sehen kann, die in immer neue Bilder gleitet, ist sie doch bereits in den Weisheitsbüchern von uneindeutiger Vieldeutigkeit. Und dennoch zeigt sie sich ihm, allerdings nicht in einer Vision, wie man sie in den folgenden Kapiteln fünf bis zwölf der Vita findet. Denn es wird ausdrücklich auf ihre Medialität verwiesen, auf die Art und Weise, wie sich die Vision vermittelt. Was der Diener sieht, ist nicht ein Bild, das unvermittelt in ihm entsteht, sondern sind Bilder, die aus seinen Lektüreerfahrungen hervorgehen; in der ständigen Wiederholung von Bildern, die die ewige Weisheit umschreiben, sind diese zu seinen eigenen, inneren Bildern geworden. Was er sieht, sieht er aufgrund ihrer Präsenz in der Heiligen Schrift, die sich seinen inneren Augen in der Lektüre offenbart hat: Und als verr er si in den usgeleiten bischaften der schrift mit den inren ogen gesehen mohte, do zogte si sich ime (14,8ff.). Um die Bildpraxis und ihre Umsetzung zu beschreiben, verwendet der Text den Begriff der usgeleiten bischaften der schrift. Ihn kann man als poetologischen Schlüsselbegriff aller Texte auffassen, wird er doch immer wieder verwendet, um auf die Bildhaftigkeit, das Figurative der Rede hinzuweisen, die begrifflich nicht einzuholen ist. 40 Die usgeleiten bischaften, die figurata locutio oder bildhafte Rede, die die Schrift bereit hält, werden dem Diener hier aber gerade nicht mehr textuell präsentiert, sondern so, wie er sie mit den inren ogen gesehen mohte (14,9f.). Während in den drei Passagen zur Tischlesung die Bildbereiche je einzeln ausgeschöpft wurden, zeigt sich die ewige Weisheit vor den inneren Sinnen des Dieners nun in Überblendung, als Kaleidoskop, in antithetischen Wendungen, die in ihrer Fülle die figura der 40 Vgl. Niklaus Largier, Figurata locutio, S. 304. Er verweist dabei auf das BdW und das BdeW, in denen an prominenter Stelle, in den Prologen, darauf hingewiesen wird, dass die Dialoge beziehungsweise Visionen als usgeleitú bischaft zu lesen sind. An dieser Stelle sind die Gedanken zur Einbindung der Leserinnen und ihrer Lenkung wichtig: „Der Leser wird nicht nur in ein Gespräch mit vielfältigen Traditionsbeständen verstrickt, sondern bewußt auf eine Mehrdeutigkeit hingewiesen, die ‚die Dinge in der Schwebe zu lassen‘ sucht“, S. 305. Genau das passiert im dritten Kapitel unentwegt, wenn die ewige Weisheit aus ihren unterschiedlichen Quellen entsteht, um in ständigem Gleiten der Bilder, die in der Lektüre evoziert werden, zu einem unabschließbaren, sich ständig selbst übersteigenden inneren Bild wird. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 117 ewigen Weisheit in ihrer Bildhaftigkeit zeigen - und damit in Differenz zur reinen Gottheit, zur reinen Bildlosigkeit, wie sie ganz am Ende der Vita steht. Die Bilder werden weiterhin aus der Bibel gezogen. Die ewige Weisheit erscheint auf ihrem Wolkenthron, als göttliche Lichtspenderin, so wie sich die Weisheit in Sir 24,7 beschreibt: Ego in altis habitavi et thronus meus in columna nubis. Gekrönt ist sie mit der Ewigkeit, gekleidet mit Seligkeit. Nach dieser Beschreibung ihrer Macht und Fülle folgt eine Aufzählung antithetischer Gegenüberstellungen: Si waz verr und nahe, hoh und nider, si waz gegenwúrtig und doch verborgen; si liess mit ir umb gan, und moht si doch nieman begriffen. (13,13ff.) Die biblischen Bilder lassen eine Annäherung zu, aber kein Begreifen als begriffliches Einholen. Sie ist - wie der Loingprès bei Marguerite Porete 41 - nahe und gleichzeitig fern, als Bild nahe, als Sein nicht fassbar. Nach diesem reflexiven Einschub setzt der Bilderbogen mit einer Aneinanderreihung von Zitaten aus dem Weisheitsbuch und Sirach fort: Si reichete úber daz obrest des h  hsten himels und r  rte daz tiefst des abgrundes; 42 si zerspreite sich von ende ze ende gewalteklich und richte ellú ding us s  sseklich. 43 Sie wird von der jungfrowen zum jungherren und von der meisterin zur minnerin. Kein Bild bleibt stabil, in der Anwesenheit im Bild liegt bereits der Entzug. Die Bildkette endet mit einer direkten Ansprache durch die ewige Weisheit, einem Zitat, das dem Buch der Sprüche entnommen ist: Prebe, fili, cor tuum mihi! Gib mir din herz, kind mins! 44 Die Bilder, die in seinem Inneren ein Eigenleben entwickelt haben, die ihn umformten zum Diener der ewigen Weisheit, bleiben in ihrer paradoxen Vielfalt gleichzeitig gegenwärtig und entzogen. In ihrer unähnlichen Ähnlichkeit kann der Diener sie erreichen und begreift doch gleichzeitig nichts. In einer doppeldeutigen Wendung schließt diese Darstellung der inneren Bilder: dis ward ime do, und nit me moht im do werden. Offen bleibt, ob er nicht mehr erfassen kann, weil er bereits das Höchste gesehen hat, was möglich ist oder ob die mediale Inszenierung und Annäherung an das Göttliche in der Bildlichkeit seine Grenzen hat, die eine Teilhabe immer nur in diesen Grenzen zulässt. 41 Vgl. Marguerite Porete, Le mirouer des simples ames. Im Prolog des Mirouer des Simples Ames wird das Exempel einer Königstochter erzählt, die in Liebe zu Alexander dem Großen entbrennt, da sie von ihm hört. Um sich zu trösten, möchte sie ihn imaginieren: elle pensa que elle conforteroit sa masaise par ymaginacion d’aucune figure de son amy. (12,26f.) Zu diesem Zweck lässt sie ein Bild von ihm malen, das seine Ähnlichkeit repräsentiert und zwar möglichst ähnlich der presentacion, der Vorstellung, die sie von ihm hat. Auf dieses Exempel antwortet die Seele, die Ame, dass es ihr ebenso wie der Königstochter gehe, dass sie von einem mächtigen König gehört habe, der aber fern von ihr und sie fern von ihm sei. Um sie zu trösten und sich zu erinnern erhält sie das Buch, den Mirouer. Das Buch selbst wird also zur Möglichkeit medialer Vergegenwärtigung: mais si loing estoit de moy et moy de luy, que je ne savoie prandre confort de moy mesmes, et pour moy souvenir de lui il me donna ce livre qui represente en auscuns usages l’amour de lui mesmes. (1237ff.). 42 Vgl. Sir 24,8: gyrum caeli circuivi sola et in profundum abyssi penetravi. 43 Vgl. Sap 8,1: adtingit enim a fine usque ad finem fortiter et disponit omnia suaviter. 44 Vgl. Prv 23,26. Narrative Genese der Figur 118 Das Kapitel selbst aber schließt nicht mit dieser faszinierend-ästhetischen Schilderung der ewigen Weisheit, sondern es folgen drei kleine Erzählminiaturen. Nicht das Ereignis allein, sondern die Habitualisierung in diese nun transformierte Identität des Dieners interessiert den Text. Entsprechend wird nun in kurzen Episoden die eigentlich unsagbare Nähe beschrieben, die sich zwischen dem Diener und der ewigen Weisheit hergestellt hat. Die erste Miniatur, die diese Nähe darstellt, bedient sich einer neuplatonisch gefärbten Terminologie, die bereits auf die letzten Kapitel der Vita vorgreift. Die Liebe kommt demnach, so der Diener in einem Monolog, von dem usquellenden ursprung der blossen gotheit. (14,30) 45 Das Begehren nach der ewigen Weisheit wird beantwortet mit einer ähnlichen Terminologie: Und denne so trukte sich in sin sele neiswie der ursprunglich usfluss alles g  tes, in dem er bevand geischlich allez, daz sch  n, lieplich und begirlich waz; daz waz alles da in unsprechlicher wise. (14,34-15,2) Die Vereinigung der Seele mit Gott wird jenseits der Sprache angesiedelt, während gleichzeitig mit der spekulativen Terminologie das Verhältnis zwischen Ewiger Weisheit und dem Diener in eine andere Tradition als die der Weisheitsliteratur gestellt wird. Und auch die zweite Miniatur, die nach vollzogenem ker die gemahelschaft beschreibt, ändert radikal die Terminologie. Auslöser für die Betrachtung ist die sinnliche Erfahrung der Musik; wann immer der Diener Musik hört, wird sin herz und m  t geswintlich in gef  rt mit einem abgescheiden inblik in sin lieplichostes lieb, von dem alles liep flússet. (15,5f.) Während Gott zuvor als die bloße Gottheit, der grundlose Abgrund und der ursprüngliche Ausfluss allen Guten bezeichnet wird, liegt in der zweiten Betrachtung die gesamte Konzentration auf Gott als Liebe. Und so wird der Diener so sehr von der Liebe umfangen, dass der Text wieder abbricht mit dem Hinweis auf die Unsagbarkeit: Wie dik daz minneklich liep mit minneweinenden ogen, mit uszerspreitem grundlosen herzen sie umbvangen und in daz minnenrich herz lieplich gedruket, daz weri unsaglich. (15,7ff.) In der dritten Betrachtung wird die Seele mit einem Kind, die ewige Weisheit mit einer stillenden Mutter verglichen. Der Text macht deutlich, dass es sich um einen Vergleich handelt, nicht um eine in einer Vision inszenierte Körpersensation: Im geschach hie von dik reht, als so ein m  ter ir sugendez kindli hat under den armen uf ir schosse stende (15,10f.). Das Bild der stillenden, nährenden Mutter verweist ebenso auf die Maria lactans wie auf die Figurationen, in denen Christus als nährende Mutter auftritt. 46 Der Text greift hier ein Motiv auf, das sich gerade in den Schwesternbüchern der Zeit großer Beliebtheit erfreute, wenngleich die Bildlichkeit häufig nicht auf der Ebene des 45 Paul Michel, Stilwandel bei Heinrich Seuse, zeigt, wie die Parallelstelle im Horologium Sapientiae in der Vita auf „einige Kernbegriffe verdichtet“ wird. Zu ihnen gehört auch der usquellende ursprung, der zur Terminologie „neuplatonischer Emanationsmetaphysik (fontale principium, emanatio)“ gehört, S. 322. 46 Vgl. Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley 1982. Zur Ikonographie der Maria lactans vgl. auch Kapitel 3.3.5 Mit dem Körper über den Körper - Visionen als Prolepsen. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 119 Vergleichs bleibt, sondern Visionen erzählt werden, in denen die Schwestern selbst körperlich involviert werden. Über den Vergleich wird die Verschmelzung beschrieben. Denn so wie ein Kind sich der Mutter entgegenstreckt, so f  r sin herz dik in sinem libe gen der ewigen wisheit lustrichen gegenwúrtikeit in einer enpfintlichen durflossenheit. (15,9ff.) Die Reihung der Näheerfahrungen des Dieners wird nun nicht mit einer Unsagbarkeitsformel beschlossen, sondern mit der Stimme des Dieners während der Betrachtung. Es ist gewissermaßen eine abschließende, doppelte Besiegelung seines Bundes mit der ewigen Weisheit. In zwei Schritten werden die Gedanken des Dieners wiedergegeben. Zuerst entsagt er vollkommen allem Irdischen und wendet sich ganz der Weisheit zu als seines herzen keisrin. In dieser Betrachtung, so heißt es weiter, ward sin antlút so fr  lich, sinú ogen so g  tlich, sin herz ward jubilierende und alle sin inren sinne diz singende (15,20f.). Angedeutet wird hier der Zustand des jubilus, die innere Freude über die Gegenwärtigkeit Gottes. Die Entsagung des Weltlichen und die alleinige Liebe der Weisheit hat vorweggenommen, was nun mit einem Zitat aus der Weisheit Salomons biblisch begründet wird. Der Diener hat die biblischen Worte des alttestamentarischen Königs so sehr zu den seinen gemacht, dass sie ineinander überzugehen scheinen, denn seine inneren Sinne singen das Zitat: Super salutem etc., ob allem glúkd, ob aller schonheit, du mins herzen glúk und schonheit usw. (15,21ff.) Das Zitat Salomons wird umgeformt, wird zu einer direkten Anrede an die Weisheit. 47 Der Schluss des Kapitels zeigt erneut, wie mit Texten der Bibel, verfahren werden soll. Die Buchstaben und Zitate bleiben nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern werden von der Figur so sehr angeeignet, dass sie ihr nicht mehr äußerlich bleiben, sondern sie ganz umformen. 3.1.5 Die Konstitution der Figur - Von den vorstriten zum ewigen Minnezeichen Auf die Struktur des ganzen Textes hin gesehen vollzieht sich die Grundlegung der religiösen und narrativen Identität im Prolog und in den ersten vier Kapiteln. Vom ersten ker bis zur Einprägung eines Minnezeichens wird die Konstitution der religiösen Identität in verschiedenen Akten und Praktiken erzählt. Der Prolog, das erste sowie das zweite Kapitel bereiten den religiösen Selbstentwurf als Diener vor. Im dritten und vierten Kapitel formt die Figur ihr Inneres ebenso wie ihren Körper so um, dass sie ganz in der Selbstkonstruktion des dieners der ewigens wisheit aufgeht. Religiöse Identität zielt als Begriff in diesen beiden Kapiteln - anders als in den ersten beiden Kapiteln - nicht nur auf die Objektebene ab, auf das Streben nach Einheit mit Gott. Der Begriff der 47 Im entsprechenden Bibelvers beschreibt Salomon seine Liebe zur Weisheit, ohne diese als ‚Person‘ anzureden, Sap 7,10: Super salutem et speciem dilexi illam et proposui pro luce habere illam quoniam inextinguibile est lumen illius. (Ich liebte sie mehr als Gesundheit und Schönheit und zog ihren Besitz dem Lichte vor; denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt.). Narrative Genese der Figur 120 religiösen Identität ist im dritten und vierten Kapitel auch auf einer Beschreibungsebene angesiedelt, die die Figur als performativen Selbstentwurf versteht. 48 Das dritte Kapitel nimmt die im vorigen Kapiteln herausgearbeitete herausragende Stellung ein: Mit der Selbstbenennung als Diener wird sowohl die narrative als auch die religiöse Identität erst konstruiert. Gerahmt ist es von zwei vorbereitenden und dem die religiöse Identitätskonstruktion abschließenden vierten Kapitel, die im Folgenden auf ihre Rahmung des dritten Kapitels skizziert werden sollen. Den vier Kapiteln vorangestellt ist der Prolog, in dem die Hinwendung zu Gott in der auch aus anderen geistlichen Viten bekannten Formulierung vom kêr vollzogen wird. 49 Es wird topisch der erst anvang des dieners aufgerufen, der Diener als anfangender Mensch. Sein Anfang ist gekennzeichnet von seiner Schwierigkeit, sich ganz auf Gott zu richten: Sein Gemüt ist ungesamnet (8,6), er hat ein wildez herz (8,11), das sich nicht durch die Hinwendung an Dinge befrieden lässt und er lebt in einer unr  wigen wise (8,12). Von dieser ungerichteten Lebensweise befreit ihn Gott in einem Gnadenakt mit einem geswinden ker (8,14). Die religiöse Identität wird in einem Gnadenakt von Gott selbst begründet. Es ist ein plötzlicher, unverfügbarer innerer Wandel, wie die dreimalige Verwendung von geswinde ausdrückt, ein Hinweis auf die Heftigkeit und Endgültigkeit der Umformung. Das anschließende erste Kapitel inszeniert die Schwierigkeiten, mit denen ein einzig auf Gott gerichtetes Leben sich konfrontiert sieht. Der Text lässt verschiedene Stimmen ertönen, die der fient sines heiles (8,22) schickt. Vor allem seine Umwelt versucht, ihn immer wieder zu einem gemäßigten Leben zu überreden. Die Verlassenheit und das Unverständnis seiner Freunde ist ihm ein schmerzhaftes Leiden. Doch aus diesem Leiden, so der Text, erwächst ihm große Süße. Denn im zweiten Kapitel wird das Gottesbegehren erst vollkommen entfacht und das dritte Kapitel vorbereitet. Das Leiden wird hier momenthaft unterbrochen durch eine intensive Gotteserfahrung, die dem raptus des Paulus nachgebildet ist. 50 Das Kapitel ist eingebunden in den klösterlichen Kontext. Es ist der Tag der Heiligen Agnes, der Diener befindet sich allein im Chor. Aus der Trostlosigkeit, in der er sich befindet, wird seine Seele entrückt und in einen Einheitszustand versetzt, der durch einen Unsagbarkeitstopos eingeleitet wird: Da sah er und horte, daz allen zungen unsprechlich ist (10,17). In paradoxen Wendungen verliert sich das Selbst, das Entsinken in Gott wird durch einen Wechsel der Sprachebene dargestellt. Dem eigentlich Unaussprechlichen nähert sich der Text durch eine poetische Verdichtung, etwa durch Assonanzen, Binnenreime oder parallelsyntaktische Formulierungen. Die Figur selbst fasst das Gesehene zusammen, macht explizit, was poetisch 48 Vgl. Kapitel 1.3.1 Figurenidentität - narrative Inszenierung als performativer Selbstentwurf. 49 Für die Inszenierungsformen des kêr in Texten der Frauenklöster vgl. Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie, S. 60-68. 50 Vgl. Kapitel 2.2 Modellfiguren und Figurenmodelle und Kapitel 3.1.3 Performative Selbstsetzung in der Lektüre. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 121 vollzogen wurde: ‚ist dis nit himelrich, so enweis ich nit, waz himelrich ist‘ (10,26f.). Die Nachwirkungen dieser Gotteserfahrung leiten über auf das dritte Kapitel. Die Erfüllung durch die Gotteserfahrung - vol himelsches wunders (11,12) - richten die Seele nun ganz aus auf ein stetes Gottesbegehren. Nicht mehr das Leiden an den sozialen Beziehungen und der Wunsch nach mitfühlenden Leidensgenossen bestimmen die Figur, sondern das Gottesbegehren wird alleiniger Zielpunkt ihres Strebens. Der letzte Satz des zweiten Kapitels leitet auf das dritte über: Dieser himelscher smak bleib im dur na vil zites und gab im ein himelsch senung nah got. (11,17f.) Der Himmelsduft, der nach der unio in seiner Seele haften bleibt, erfüllt ihn mit der Sehnsucht nach Gott, mit dem Begehren nach der Einheit ohne Unterschiedenheit. Dieses Begehren wird im dritten Kapitel eingelöst und verstetigt. In einer aktiven Transformation des Selbst, in der Transformation zum Diener ausgelöst durch die kulturellen Praktiken von Lektüre und Versenkung, entwirft die Figur ihre religiöse Identität in der Minnebeziehung zur ewigen Weisheit. Das vierte Kapitel bildet den Abschluss des Figurenentwurfs als Diener. Wie im dritten Kapitel wird auch hier entfaltet, wie die religiöse Identität im Rahmen kultureller Praktiken erst entsteht. Anders als im dritten Kapitel steht aber nicht das Innere im Zentrum, sondern der Körper als Zeichenträger. Es wurde in der Forschung immer wieder diskutiert, vor allem aufgrund der vielschichtigen Beziehung zwischen Textualität und Materialität. Text, Körper und Pergament werden in hochkomplexer Weise verbunden und zeigen die Notwendigkeit, mediale und performative Dimensionen der Überlieferung in den Blick zu nehmen. 51 Von der erzählerischen Rahmung her ist das vierte Kapitel analog zu den vorhergehenden aufgebaut: Zu Beginn des Kapitels wird die Zeit und der liturgische Ort genannt, bevor das eigentliche Erzählen einsetzt. Es ist die gleiche Zeit, in der auch das dritte Kapitel verortet wird, eine Zeit, in der seine Seele von göttlicher Minne entzündet wird. Der Ort ist die Zelle, sein heinlichi (15,30), ein Rückzugsort. Noch stärker als in den vorhergehenden Kapiteln wird die Individualisierung der Gottesbegegnung über die Privatheit des Raumes inszeniert. Und so ist es der Wunsch des Dieners, seine Minnebeziehung durch ein Zeichen zu besiegeln. Er bittet Gott um ein ewiges Minnezeichen: ein ewiges minnezeichen [...] enzwischan mir und dir ze einem urkúnde, daz ich din und du mins herzen ewigú minne bist. (16,1ff.) Den Wunsch nach einem Zeichen auf dem Herzen setzt er ganz körperlich um, indem er sich das Monogramm IHS in die Brust, auf Höhe des Herzens, einritzt. Das Einritzen des Monogramms wird zur zeichenhaften Angleichung, denn es erscheinen nicht nur die Buchstaben, sondern das Blut rinnt ihm die 51 Aktuell etwa Freimut Löser, der den Aspekt einer prozesshaften Schreibmystik beschreibt, die den Schreibakt als Akt der Einswerdung von Gott und Mensch entwirft, Freimut Löser, ‚Schriftmystik‘. Schreibprozesse in Texten der deutschen Mystik, in: Finden - Gestalten - Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010, hg. von Eckart Conrad Lutz in Verbindung mit Susanne Köbele und Klaus Ridder, Berlin 2012 (Wolfram-Studien 22), S. 155-201. Narrative Genese der Figur 122 Brust herab. 52 Mit der Verletzung des Körpers macht der Diener sich durchlässig für die Liebe Christi: Während die Weltminner die Namen ihrer Liebsten auf ihre Gewänder schreiben, zeichnet der Diener seinen Geliebten in daz frisch bl  t (sins) herzensafes (16,35). Die Annäherung an die Ikonographie des Schmerzensmannes wird vom Text selbst suggeriert, geht doch der Diener mit seiner blutigen Brust aus der Zelle zum Kruzifix und betet dort. Er bittet Gott darum, das äußere Zeichen zu bestätigen, den Akt der Einschreibung zu vollbringen, indem er seinen Namen in den Grund des Herzens, als inneres Liebeszeichen, einpräge. Die äußere Beschriftung soll in einer inneren Angleichung vollendet werden. Diese Bitte wird ihm erfüllt. In einer zweiten kurzen Erzähleinheit wird erneut eine liturgische Rahmung geschaffen. Der Diener geht nach der Matutin in seine Zelle und setzt sich auf seinen Stuhl. An dieser Stelle wird zum ersten Mal der zentrale Intertext der Vitaspatrum aufgerufen, wenn der Diener nämlich der altveter b  ch als Kopfstütze und Kissen verwendet. In dieser von der Liturgie und dem Kanontext bestimmten Situation entsinkt sein Selbst, entsank er im selb (17,3). In seiner Entsunkenheit sieht er, wie Licht aus seiner Brust dringt und ein goldenes, mit Edelsteinen besetztes Kreuz erscheint auf seinem Herzen. Der Textverbund der Vitaspatrum, der zentral für den Dominikanerorden wie auch für Seuse selbst ist, führt in unterschiedlich langen Viten die vorbildliche Lebensführung der ersten Mönche vor. 53 In der Präsenz um dieses Wissen, um das Wissen, dass das asketisch-weltabgewandte, ganz auf Gott gerichtete Leben der Altväter die Christusnachfolge in vollendeter Weise erreicht, erfüllt sich das Minnezeichen im Zeichen des Kreuzes. Urban Küsters verbindet in seinem Aufsatz zu Narbenschriften in der religiösen Literatur die Einprägung des IHS mit dem juristischen Schriftverkehr, da das Christusmonogramm im Spätmittelalter „als beglaubigendes autographes Urkundenzeichen verwendet wird“. 54 Daraus leitet er ab, dass „das Monogramm rechtserhebliches Gedächtnis-, Kult- und Besitzzeichen ist: Die Person gibt sich dauerhaft in den Besitz Christi (ich bin din) und macht diese Zugehörigkeit und Auserwählung lesbar. Die äußere Körperschrift korrespondiert mit der inneren Herzensschrift, die Gott selbst anbringt und damit den 52 Zur Selbstbeschriftung im Mittelalter, ausgehend vom vierten Kapitel der Vita, vgl. Hildegard Elisabeth Keller, Kolophon im Herzen. Von beschrifteten Mönchen an den Rändern der Paläographie, in: Das Mittelalter 7 (2002), S. 157-182. 53 Die zentrale Bedeutung für Seuse arbeitet heraus Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses. Vgl. auch Niklaus Largier, locutio figurata, der die hermeneutische Beziehung zwischen Vitaspatrum und Seuses Vita herausarbeitet: Er beschreibt die Vita als Aktualisierung der Vitaspatrum, den Diener damit als Figur, die vorführt, wie das vorbildliche Leben der Wüstenväter im eigenen Leben umgesetzt werden kann. 54 Urban Küsters, Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel, Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 81-109, hier S. 106. Er weist auch auf die Herkunft des Monogramms hin: „Das ‚JHS‘ ist gebräuchliches Kürzel für Jesus Hominum Salvator und hat sich wohl aus dem griechischen ichthys-Zeichen entwickelt.“ Ebd. Die Konstruktion der Figur - Benennung und Erzeugung (Kap. 1-4) 123 Vertrag gegenzeichnet.“ 55 Innen und außen sind nun nicht mehr getrennt und das Minnezeichen erhält seine göttliche Bestätigung. Der Diener, der im dritten Kapitel aus der Lektüre der Weisheitsbücher seine religiöse Identität als Diener der ewigen Weisheit setzt, schreibt die Liebesbeziehung im vierten Kapitel fest, indem er das Monogramms uf sinem herzen unz an sinen tod (16,27) einritzt. Die Selbstbenennung als Diener ist eine relationale Benennung: Diener kann man nur in Beziehung zu einer Herrschaft sein. In der Vita schreibt die relationale Benennung als Diener die Minnebeziehung zur ewigen Weisheit fest. Im vierten Kapitel wird diese Beziehung nun auch mit einem Zeichen besiegelt, das dem Körper und dem Herzen eingeschrieben ist. Selbstbenennung und Körperbeschriftung vollziehen in unterschiedlichen Praktiken die Beziehung zu Gott und vollenden so den ker. Die religiöse Identität ist auf der Objektebene der Weg in die Angleichung an Christus über die vollkommene Übereignung in der Beglaubigung durch das Urkundenzeichen. Auf der Beschreibungsebene wird die religiöse Identität dagegen als Versuch gefasst, die Angleichung über verschiedene kulturelle Praktiken immer wieder zum Austrag zu bringen, in immer neuen Formen ein Selbst zu entwerfen. In der Straßburger Handschrift A erhält das Monogramm IHS, eine eigene graphische Wertigkeit. Ist die Körperschrift gemeint, so „wird dies eigens hervorgehoben und in großen roten Lettern im Text platziert.“ 56 Im vierten Kapitel aber, in dem die Einritzung der Körperschrift erzählt wird, wird das Monogramm nicht einfach als rubriziert hervorgehobenes Wort eingefügt, sondern bekommt den Status eines Bildes. Auf Blatt 7 r wird die göttliche Bestätigung der Einschreibung erzählt: An der Stelle des Monogramms beginnt auf der Brust des Dieners ein Kreuz zu leuchten. Das Monogramm wird in der Handschrift A in den Text eingefügt, allerdings findet es in der Vision des edelsteinbesetzten Kreuzes gar keine wörtliche Erwähnung. Es ist an dieser Stelle also kein hervorgehobenes Wort der Erzählung, sondern ein eingeschobenes Bild, das die Körperschrift ebenso wie deren visionäre Besiegelung abbildet. Das Bild vereinigt die Körperschrift mit der Vision, indem der Abkürzungsstrich über dem H in ein Kreuzzeichen übergeht. Gleichzeitig verlaufen rote Striche nach unten, über den Satzspiegel hinaus, deuten also ein Bluten und die Einschreibung der Körperschrift an. 57 Das Bild synthetisiert so beide Teile der Erzählung, das Einritzen der Schrift in den Körper und ihre göttliche Bestätigung. Die Illustration zeigt nicht einfach den beschrifteten Körper in metaphorischer Engführung von Haut und Pergament. 58 Sie versucht viel eher, die Transgression von einer rein körperlich verbleibenden Praxis zu einem unverfügbaren Zeichen nachzubilden. 55 Ebd. 56 Thomas Lentes, Der mediale Status, S. 44. 57 Ich greife hier Beobachtungen von Thomas Lentes, Der mediale Status, S. 44f., auf, wobei mein Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Text und Bild liegt und der gegenseitigen Aufnahme, nicht auf dem Status des Bildes. 58 In diese Richtung argumentiert sehr stark Thomas Lentes, Der mediale Status, v.a. S. 45. Narrative Genese der Figur 124 Der beschriftete Figurenkörper scheint an dieser Stelle den Text zu überschreiten, auch indem er den Textfluss unterbricht. Die Handschrift A bietet eine zweite mediale Ebene, auf der das Bild die sinnliche Dimension von Einschreibung, blutender Körperschrift und Leuchtkraft der Vision wiedergibt. Der Figurenkörper wird damit keineswegs zum biographisch-konkreten Körper, sondern verbleibt ein Körper im Pergament. Dennoch ist er nicht allein ein erzählter Körper, sondern erhält durch die Visualisierung der Praktiken im Bild eine eigene Evidenz. Die Körperschrift ist nicht nur Teil der Erzählung, sondern wird in der medialen Doppelung gegenwärtig gemacht. Diese Gegenwärtigkeit aber geht über die körperliche Vergegenwärtigung hinaus und ist ein Versuch, die Überschreitungen des Körpers in die göttliche Präsenz in der Vision zu vermitteln. Darum ist das Bild des Monogramms auch nicht dort platziert, wo die die körperliche Einritzung vollzogen wird, sondern dort, wo die Vision die Körperschrift besiegelt. Drittes und viertes Kapitel, die auf komplexe Weise Benennung und Bezeichnung des Dieners erzählen, sind zentral für die Konstitution der Figur. Der Appellativ diener der ewigen wisheit und das Monogramm IHS konstituieren sie auf unterschiedlichen Ebenen. Auf der Ebene der narrativen Figurenidentität bildet vor allem die Benennung den Kern der Figur. Auf der Ebene des Bildprogramms tauchen beide Bezeichnungen auf. Die Figur der Illustrationen wird stets als diener bezeichnet und durch das Monogramm identifizierbar. Der neue Name macht die Figur aber nicht nur auf einer formalen Ebene beschreib- und wiedererkennbar, sondern gibt ihr auch ihre religiöse Identität. Sie entwirft in diesen beiden Kapiteln über Praktiken der Lektüre und der Kontemplation sowie über die Körperbeschriftung ein religiöses Selbst, das in der Benennung und in der Besiegelung der Minnebeziehung gipfelt. Religiöse Identität ist, wieder auf der Beschreibungsebene, der Versuch, ein neues Selbst im Rahmen der kulturellen Praktiken des Klosters zu setzen. Im Verlauf der Vita werden genau diese Versuche weiter entfaltet. Immer wieder ist der Versuch zu beobachten, die religiöse Identität als Weg in die Gottheit zu festigen und zu verstetigen. Genau diese Versuche, die sich gerade in der narrativen Form niederschlagen, sollen im Folgenden näher beschrieben werden. Die ersten Kapitel erzählen die performative Selbstsetzung des Dieners in singulativen Ereignissen. Die Entrückung im Muster des Paulus, die Vermählung mit der Ewigen Weisheit und die Einschreibung des Christusmonogramms entwerfen die religiöse Identität in einzelnen narrativen Einheiten. Ganz anders präsentiert sich die narrative Gestaltung der Vita im weiteren Verlauf des Textes. Nicht mehr das einschneidende Ereignis des kêr und die Hinwendung zu Gott stehen im Zentrum des Erzählens, sondern die Versuche der Verstetigung dieser Lebenshaltung, mithin Versuche der Habitualisierung. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 125 3.2 Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 3.2.1 Das narrative Schema der Visionen Nachdem die religiöse Identität im mehrstufigen Prozess vor der Folie von Offenbarung, Lektüre und Körpertechnik konstituiert wurde, inszeniert der Text nun Versuche, das Gottesbegehren zu stabilisieren. In Räumen der Inszenierung, den Innenräumen des Klosters, entwirft die Figur ihre Beziehung zu Gott in unterschiedlichen medialen Zusammenhängen. Die Räume bieten die Möglichkeit, die religiöse Identität zu verstetigen, die Figur entsteht maßgeblich innerhalb von kulturell geformten Räumen. Einen zentralen Raum bildet die Zelle des Dieners. Die Herausdifferenzierung dieses Privatraums stellt Thomas Lentes in seinem Aufsatz zur vita perfecta umfassend dar; sein historischer Abriss der Entwicklung dieses Rückzugsraums beginnt im frühchristlichen Mönchtum, dem die „Zelle des einzelnen Mönches [...] der eigentliche Ort seiner religiösen Erfahrung war“. 59 Abgeschlossen wird diese Entwicklung mit den Klosterreformen des 15. Jahrhunderts, wo der Rückzug in die Zelle legitimiert wird als „Mittel für die Ausbildung des inneren Menschen und der Gottesbegegnung“, der aber keineswegs zu verwechseln sei mit „dem Selbstanspruch eines autonomen Subjektes oder gar den Rückzugsbedürfnissen von neuzeitlichen Privatpersonen.“ 60 Seuses Vita dient Lentes dabei als wichtiger Referenzpunkt, um die Entwicklung innerhalb des Dominikanerordens zu beschreiben. Die Dominikaner hatten einerseits ein funktionales Interesse an Rückzugsräumen, waren sie doch „wesentlich auf Studium und Predigt ausgerichtet, [weshalb] die Zellen ja auch außer mit einem Bett mit Stuhl und Lesebzw. Schreibpult ausgestattet“ waren. 61 Diese funktionale Bestimmung reiche aber nicht aus, denn die Zelle wurde „wieder wie im frühchristlichen Mönchtum zum vorrangigen Ort der Selbst- und Gottesbegegnung.“ 62 Entsprechend waren die Zellen nicht nur mit dem für das Studium notwendigen Mobiliar ausgestattet, sondern auch mit Bildern, die zur Betrachtung anregen sollten. Die Zelle war - wie bereits im alten Mönchtum - wieder zum Ort der Selbsterfahrung geworden, zum Ort, der „institutionell gedeckt dem einzelnen den Rückzug vor der Konventsöffentlichkeit überhaupt erlaubte und ihm die Möglichkeit gab, ja ihn zwang, sein eigenes Ich zu schulen und zu elaborieren.“ 63 Am Beispiel der Vita entwickelt Lentes, wie sich der Diener in Anlehnung an die Wüstenväter zurückzieht 59 Thomas Lentes, Vita perfecta zwischen vita communis und vita privata. Eine Skizze zur klösterlichen Einzelzelle, in: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und Peter von Moos, Köln [u.a.] 1998 (Norm und Struktur 10), S. 125-164, hier S. 129. 60 Ebd., S. 160. 61 Ebd., S. 145. 62 Ebd., S. 146. 63 Ebd., S. 149. Narrative Genese der Figur 126 und einen eigenen Ort der Gotteserfahrung entwickelt. Die Grenze zwischen Außenraum und Innenraum wird gezogen, „um dadurch einen neuen, inneren Erfahrungsraum zu erschließen.“ 64 Dabei beschränkt sich der Rückzugsraum in der Vita nicht auf die Zelle, selbst die öffentlichen Räume werden zu privaten Orten, an denen die Gotteserfahrung sich ereignen kann: „Privatzelle, Privatkapelle sowie seine heinlichi im Kapitelsaal. Noch die öffentlichen Räume wie der Kapitelsaal und die Kirche werden von Seuse mit privaten Orten ausgestattet.“ 65 Doch beschreibt die Vita nicht einfach nur Formen des Rückzugs und der Gotteserfahrung, sondern sie erzählt diese Formen in ganz spezifischen narrativen Abläufen. Kapelle und Zelle als Orte der Einübung werden in narrative Vollzüge eingebunden, in denen das Erzählen selbst die Verstetigung der Übungen nachvollzieht. Nach den intensiven Momenten der Gotteserfahrung in den ersten Kapiteln, die in ihrer Singularität exzeptionelle Stationen der religiösen Identitätsbildung entwarfen, folgen nun Visionen, die zwar auch auf medialen ‚Herstellungstechniken‘ beruhen, die aber immer auf Habitualisierung ausgerichtet sind. Was in der Forschung oft allgemein als Visionen bezeichnet wird, sind heterogene, ganz unterschiedlich gestaltete Momente der Gotteserfahrung. Nur im sechsten Kapitel werden Visionen auch als solche bezeichnet: Von etlichen visionen. Dabei handelt es sich aber nicht um Visionen als Gotteserfahrung, sondern um Jenseitsvisionen, in denen der Diener von Eckhart und Johannes F  terer Unterweisungen erhält und seine verstorbenen Eltern sieht. Die Visionen, wie sie im fünften Kapitel beschrieben werden, werden dagegen als gesiht bezeichnet. Diese gesihte werden als Fortführung der Liturgie inszeniert. Sie stellen den komplexen Wechsel von äußerer Wahrnehmung in der Liturgie zu einer inneren Aneignung des Gehörten dar, ähnlich, wie im dritten Kapitel die Worte der Tischlesung das Innere des Dieners transformierten. Im fünften Kapitel aber, diesen Hinweis gibt bereits die Überschrift, sind die Visionen weniger eine singuläre, transformierende Gotteserfahrung, sondern dienen dem anfangenden Menschen als Trost: Von dem vorspiel g  tlichen trostes, mit dem got etlichú anvahendú menschen reizzet. (17,13f.) Eine grundlegende Neubewertung der Visionen in der Vitenliteratur nimmt der Aufsatz von Felix Heinzer vor, der den Erfahrungsbegriff für die Vita Elisabeths von Schönau zurücknimmt und stattdessen die Visionen aus ihrem kulturellen Entstehungskontext heraus beschreibt - aus der „liturgischen Matrix“ heraus. 66 Dies lässt sich in veränderter Weise auch für die Vita 64 Ebd., S. 160. 65 Ebd, S. 150. Für den Kapitelsaal stellt Lentes die Spannung zwischen vita communis und vita privata besonders heraus: „Ja, noch der Kapitelsaal, der Versammlungsort der Predigerbrüder, wird bei Seuse lediglich zum Mnemotopos seiner Privatandacht.“ 66 Felix Heinzer, Imaginierte Passion - Vision im Spannungsfeld zwischen liturgischer Matrix und religiöser Erfahrung bei Elisabeth von Schönau, in: Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, hg. von Andreas Bihrer und Elisabeth Stein, München/ Leipzig 2004, S. 463-475. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 127 beobachten. Hier werden die Visionen aus der Liturgie heraus erzählt, wenngleich die Visionen nicht im kollektiven Vollzug der liturgischen Feier ihren Ort finden, sondern in der paraliturgischen Zeit nach der Matutin. In dieser Zeit, die der Privatandacht dient, wird, so inszenieren es viele Viten, spät nachts das in der Lesung Gehörte visionär weitergeführt. 67 Visionär soll darum kulturhistorisch gefasst werden: Das im Gottesdienst Gehörte wird in innere Auditionen oder Visionen überführt und zu einem affektiven Kontakt mit der biblischen Offenbarung im Inneren transformiert. Die religiösen Praktiken werden zunehmend verinnerlicht. 68 Im Wechsel zwischen Liturgie, Raum, körperlichen Vollzügen und inneren Betrachtungen wird der Anfang der religiösen Identität der Figur verstetigt. Und die Verstetigung findet ihre performative Umsetzung in der ganz spezifischen narrativen Gestaltung des fünften Kapitels. Das fünfte Kapitel setzt sich aus acht Erzählsequenzen zusammen, die in der Handschrift A durch ein ganzseitiges Bild nach der sechsten Sequenz voneinander abgegrenzt sind. 69 Das Bild markiert auch eine inhaltliche Grenze. Die ersten vier kurzen Einheiten beschreiben jeweils einen Marienbeziehungsweise Morgengruß des Dieners. Die darauffolgenden vier Sequenzen schildern Engelsvisionen. Differenzierend muss auch gesagt werden, dass die ersten vier Erzählsequenzen des fünften Kapitels weniger Visionen sind, sondern eher eine freie Umsetzung der Mariengrußdichtung, die aber gleichwohl aus der Liturgie in innere Betrachtungen überführt werden. 70 Der erste Gruß am Anfang des Kapitels entwickelt das Schema für die folgenden Sequenzen. Das Kapitel setzt mit der räumlichen und zeitlichen Verortung ein. Ausgang nimmt es von der Zeit nach der Matutin, nach der 67 Auf die Wichtigkeit dieser Zeit weist auch Arnold Angenendt, Die Liturgie bei Seuse, hin: „Zum Verständnis müssen wir mit einem eigentlich paraliturgischen Akt beginnen, mit der Zeit des Frühschlafs, den Stunden nach den Metten […]. Für Seuse gewann diese Gebetszeit eine primäre Bedeutung“ S. 882. Außerdem zieht er auch die Verbindung zu Texten aus Frauenklöstern und verweist auf Otto Langer, Vision und Traumvision in der spätmittelalterlichen dominikanischen Frauenmystik, in: Das Buch in Mittelalter und Renaissance, hg. von Rudolf Hiestand, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 19), S. 67-84, der ebenfalls feststellt, dass „Visionen insbesondere ‚nach mette‘ auftraten, einer Zeit zwischen Wachen und Schlafen, wenn die Schwestern nach der Matutin, statt ins Dormitorium zurückzukehren, im Chor zur Betrachtung blieben“, S. 74. 68 Darauf weist Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie, für die von ihm so genannten Nonnenviten hin. Die Art der Chorgebete lasse „Tendenzen einer Verpersönlichung und einer dadurch bedingten partiellen Auflösung des liturgischen Gebets durch subjektive Erfahrungen und Betrachtungen erkennen“, S. 115. Wichtig ist aber seine Wertung, dass die Zunahme der Privatandacht nicht einer „antiliturgischen Haltung“ (ebd.) entsprang, sondern die Andacht auch die gemeinschaftlichen liturgischen Feiern intensivieren sollte. 69 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 22 (Folio 8 v ). 70 Zur Mariengrußdichtung vgl. Peter Appelhans, Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Mariendichtung. Die rhythmischen mittelhochdeutschen Mariengrüße, Heidelberg 1970. Narrative Genese der Figur 128 mettin (17,15), von der auch die folgenden Visionen stets ausgehen. Die Zeit nach der Matutin, der ersten Gebetszeit des Stundengebets, die zwischen Mitternacht und frühem Morgen gefeiert wird, ist eine paraliturgische Zeit, die, wenn man nicht schläft, zur Privatandacht genutzt werden soll. Auf diesen Zeitpunkt referieren die meisten Textstellen, die in liturgisch induzierte Visionen übergehen. Der Raum ist der innere Klosterraum, sin kapell (17,15), wo sich der Diener in sinen st  l zur Ruhe setzt. In dieser Raum-Zeit-Konstellation wird der Körper des Dieners immer wieder in dezidiert meditativer Körperhaltung dargestellt. Die Vita referiert dabei auf Körpertechniken, die bereits in den Vitaspatrum häufig Anwendung finden, und die dazu dienen, die inneren Sinne vorzubereiten und empfänglich zu machen. 71 Immer wieder wird seine Haltung beschrieben: er saß dur eins r  welis willen in sinen st  l (17,16). Die Konstellation aus Raum, Zeit und Körper ist die Ausgangssituation für Meditationen, denen der Mariengruß oder die Visionen als innere, meditative Weiterverarbeitung der äußeren, gesehenen oder gehörten Bilder folgen. Den Anfang des Kapitels bildet ein an Maria gerichteter Morgengruß. Aus der meditativen Ruhe heraus wird der Diener vom Wächter geweckt und grüßt den Morgenstern, der als Symbol für Maria steht, für die liehtbringerin des ewigen tages (17,22f.). Dieser Morgengruß wird viermal in unterschiedlichen Variationen durchgespielt und bildet so performativ das auf Dauer gestellte Gebet des Dieners als ununterbrochenes Gotteslob ab. Als Grundschema ergibt sich folgender Aufbau für den Mariengruß: Nennung der Zeit (nach der mettin) - Nennung des Raums (kapell) - Körperhaltung: Ruhe - Wächter - Tagesanbruch - Morgengruß. Einmal vorgeführt kann das Grundschema gekürzt werden, sodass die folgenden Visionen auf den zeitlichen Rahmen nur noch durch die Formulierung zur selben zit oder durch Erwähnung des Wächters, der zum Tag bläst, Bezug nehmen. Für die folgenden Visionen, deren Akteure nicht mehr der Diener und Maria, sondern der Diener und Engel sind, gilt ein ähnliches Schema - Raum, Zeit und Liturgie werden auch dort skizziert, wenngleich verkürzt. Im Kapitel wird somit acht Mal in Varianten der gleiche Ablauf, die gleiche Praxis erzählt. Die Sequenzen sind nur locker aneinander gefügt durch Temporalkonstruktionen wie in der selben zit. Es gibt keine kausalen Verknüpfungen, sondern für jede Sequenz einen narrativen Neueinsatz. Dieser wird über die Formeln eins males und einest gekennzeichnet; Formeln, die weniger das Neue als vielmehr die Iterativität in den Vordergrund stellen. In der ständigen Wiederholung werden keine Ereignisse als Momente der Veränderung dargestellt, sondern der klösterliche Tagesablauf mit den streng regulierten, formal immer gleich ablaufenden Gebetszeiten. Die Figur des Dieners nimmt durch die narrative Verstetigung der Wiederholung den Kontext der klösterlichen Praktiken auf. 71 Vgl. die Studie von Franz Dodel, Das Sitzen der Wüstenväter. Eine Untersuchung anhand der Apophthegmata Patrum, Freiburg/ Ue. 1997 (Paradosis. Beiträge zur Geschichte der altchristlichen Literatur und Theologie 42). Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 129 Der Text bildet Wiederholung und Einübung ab, indem er die gleichen Übungen in Variationen immer wieder erzählt. Dieser wiederholenden Darstellung auf der Ebene des discours sind synthetisierende Kommentare der Erzählinstanz gegenübergestellt. Während die lockere Reihung kaum verbundener Erzählsequenzen die Einübung performativ umsetzt, begrenzen diese Kommentare die Reihung. Damit steht die Vita in einer Differenz zu vielen Gnadenviten, die aus einer langen Reihung von Gnadenerlebnissen bestehen: „Ohne erkennbaren Handlungsfaden, ohne Spannung und fast ohne jeden Höhepunkt, bei vorherrschender Passivität der einzigen Hauptperson vollzieht sich eine endlos scheinende Aneinanderreihung einzelner Begebenheiten, immer dem gleichen Schema folgend und immer in einem gleichbleibend monotonen Berichtsstil, oft bis hin zu wörtlichem Gleichklang einzelner Stellen oder sogar ganzer Passagen. [...] Der Leser wird zuletzt kaum etwas anderes im Gedächtnis behalten als eben das Grundthema ‚Gnadenerlebnisse an bestimmten Tagen‘.“ 72 Dieses Signum der Gnadenviten wird in Seuses Vita narrativ aufgehoben, indem die Kommentare der Erzählinstanz die unverbundene Reihung kurzer Sequenzen an die Makrostruktur zurückbinden. So heißt es am Ende der verschiedenen Spielarten des Morgengrußes zusammenfassend: Diz waz do sin teglicher morgengruoz. (18,18f.) Damit wird die Wiederholung der Sequenzen narrativ abgebrochen, inhaltlich aber auf Dauer gestellt. Die Vita erzeugt narrativ also eine Verstetigung bei gleichzeitigem Abbruch durch die Erzählerkommentare. Ebenso wird die Reihe der Visionen synthetisiert in einer resümierenden Raffung: Dis und derley himelsches trostes ward ime unzallich vil in den selben jaren, und aller meist z  den ziten, so er mit grossem liden waz umbgeben, und dú wurden im denne dest lichter ze lidene. (21,28-22,2) Der Text bildet eine Habitualisierung in der Iteration ab, ohne zirkulär zu werden. Die Wiederholung der iterativen Reihen wird vorgeführt, um dann im narrativen Abbruch durch den Kommentar verstetigt zu werden. Die Vita, der ja das Modell des progressiven Dreistufenwegs unterlegt ist, bringt so zwei unterschiedliche Momente zur Darstellung. Zum einen zeigt sie den Diener, der sich in die immer gleichen Gebetsabläufen einübt, sie wiederholt und seinen Habitus gemäß der klösterlichen Frömmigkeitspraktiken überformt. Zum anderen wird diese Wiederholung abgebrochen und durch den Hinweis auf die Dauerhaftigkeit verstetigt. 3.2.2 Gesang, Tanz, Umarmung - Variationen des Gottesgenusses In den Erzählsequenzen des fünften Kapitels wird die Liturgie über das Anzitieren liturgischer Gesänge eingebunden. Diese werden in den Visionen aufgegriffen, wenn der Diener etwa in seinem Inneren einen Teil des neunten Responsoriums der Matutin am Fest Mariä Geburt hört: ‚Stella Maria maris hodie processit ad ortum, der merstern Maria ist hút her fúr gezogen.‘ (17,29-18,1) oder 72 Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters, S. 334f., zur Gnadenvita Friedrich Sunders. Narrative Genese der Figur 130 wenn die himelschen jungling mit hoher stimme daz sch  n respons: Illuminare, illuminare Jerusalem etc. (18,23f.) anstimmen. 73 In ihrer Zelle, in der meditativen Zeit der Vergegenwärtigung, wird die Figur in einem Zustand der Intensivierung gezeigt. Der Diener wiederholt in seiner Zelle das Gehörte, führt in seinem Inneren die kollektiven Gesänge fort, die aber vom Himmel kommend, von den himelschen junglingen, mit einer anderen Würde ausgestattet erscheinen. Was in der Liturgie gemeinsam gesungen wurde, wird überführt in „sinnliche Erfahrung, die die Seele formt und die Welt neu Gestalt annehmen läßt.“ 74 Die Vita setzt dabei einen anderen Akzent als beispielsweise die Visionen Gertruds von Helfta oder Mechthilds von Hackeborn, wie Susanne Köbele sie beschreibt. Dort handelt es sich um Visionen, in denen Uniodarstellungen als „liturgische Mediatisierung“ beschrieben werden, also innerhalb des Vollzugs der Meßfeierlichkeiten. 75 Seuse dagegen zeigt den Diener nicht im kollektiven Vollzug der Liturgie, sondern im räumlich abgetrennten Vollzug seiner innewendekeit (17,26), in einem inneren Raum, in dem die liturgischen Gesänge erneut erklingen. Im ruhigen Sitzen in seiner Kapelle oder Zelle wird die Liturgie weitergeführt, wird wiederholt, was zuvor alle gesagt haben, um das Gesagte und Gehörte als eigenes Erleben immer wieder neu zu inszenieren. Es ist weniger die durch den gemeinsamen Vollzug der Feierlichkeiten ausgelöste Schau als ein freier Umgang mit den liturgischen Formen. Der freiere Umgang wird in der vorletzten Vision des fünften Kapitels deutlich, die ganz auf Gesang und Tanz basiert. Der Tag dieser Vision wird genannt, es ist das Engelfest, ire hohzit (21,6). Die Vision wird mit dem Bild eines Sängers oder Spielmannes eröffnet, mit einem jungling, der gebarete dem glich, als ob er were ein himelscher spilman von got z  im gesendet (21,8). Auch in dieser Vision singen die Engel ein Lied, beziehen es jedoch nicht aus der Liturgie, sondern aus dem geistlichen Lied. In dulci jubilo, ein lateinisch-deutsches Mischlied, wird dem Diener von den Engeln präsentiert als ein fr  liches gesengeli von dem kindlin Jesus, daz sprichet also: In dulci jubilo etc. (21,18) 76 Singen und Tanzen wird lebendig in Szene gesetzt: Beim Tanzen machen die Engel die aller h  hsten und die aller friesten sprúnge (21,22) und sie sungen 73 Nachweis des Responsoriums durch Karl Bihlmeyer in Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 17, Anm. zu Zeile 29: „Aus dem 9. Responsorium der Matutin am Fest Mariä Geburt (8. Sept.), nach dem Dominikanerofficium.“ Bei Illuminare, illuminare Jerusalem etc. handelt es sich um das „4. Responsorium der Matutin an Epiphanie nach dem Dominikanerbrevier (Js. 60,1)“, ebd., S. 18, Anm. zu Zeile 24. 74 Niklaus Largier, Kunst des Begehren, S. 45. 75 Vgl. Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen/ Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 112ff. 76 Vgl. Anne-Dore Harzer, In dulci iubilo. Fassungen und Rezeptionsgeschichte des Liedes vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Tübingen 2006 (Mainzer hymnologische Studien 17). Vgl. auch Gisela Kornrumpf, In dulci jubilo. Neue Aspekte der Überlieferungsgeschichte beider Fassungen des Weihnachtsliedes, in: Edition und Interpretation. Festschrift für Helmut Tervooren, Stuttgart 2000, S. 159-190. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 131 und tanzeten mit jubilierendem herzen (21,24f.). Das Lied wird als Wechselgesang vorgetragen: der vorsenger […] der sang vor und sú na, und er singt die repetitio wol drivalt: Ergo merito etc. (21,23ff.) Doch dieses bewegte Bild bleibt nicht unkommentiert. Nach der Beschreibung des Wechselgesangs tritt die Erzählinstanz auf und verschiebt den Rezeptionsmodus radikal. Sie bricht die Bildentfaltung der tanzenden Engel ab und korrigiert den Status der Darstellung: Dis tanzen waz nit geschafen in der wise, als man in diser welt tanzet; ez waz neiswi ein himelscher uswal und ein widerinwal in daz wild abgrúnd der g  tlichen togenheit (21,26). Sybille Krämer hat in ihren Reflexionen zur Medientheorie, die mediale Seite der Engel als Vermittler, als Boten zwischen Himmel und Erde analysiert. Dabei sind an dieser Stelle ihre Reflexionen zum Bildstatus der Engel aufschlussreich. Sie fasst die Engel als „Bildwerdung der Ferne“ mit allen problematischen Implikationen, die der Bildstatus mit sich bringt: „Denn das Bild ist immer anderes und ist mehr als ein Zeichen: Bilder bergen auch ein Stück Magie in Gestalt einer realen Wirkungsweise des Abgebildeten; sie sind zugleich unterschieden und ununterschieden von dem, was sie darstellen.“ 77 Ihre Ausführung verweist genau auf die Bruchstelle zwischen dem Bild der tanzenden Engel und dem Erzählerkommentar, der das Tanzen als uneigentliches, nicht-irdisches Tanzen zu verstehen gibt. Die Vision baut erst ein bewegtes Bild auf, mit Referenzen auf reale Gesangspraktiken, um dann dem Bild selbst den Boden zu entziehen. Der Status der Vision selbst wird problematisiert, die nur ein Bild für das nicht in Sprache zu fassende göttliche Geheimnis ist. Das Bild des Tanzes geht zurück auf eine Tradition, die Werner Beierwaltes für Proklos mit „Phänomen des intelligiblen Tanzes“ betitelte. 78 Das Figureninnere, die Seele der Figur, die mit den Engeln tanzt, wird visionär hineingenommen in die Kreisbewegung von Aus- und Rückfluss in den Ursprung. 79 Immer wieder nähert sich die Seele dem göttlichen Geheimnis an, um immer wieder neue Bilder zu produzieren. Die Metapher des Tanzes wird bildhaft ausgeführt, um am Ende durch einen knappen Erzählerkommentar wieder eingeholt zu werden. Die Differenz zwischen Bild und göttlicher Verborgenheit scheint in dem Bruch auf, der zwischen dem narrativ entfalteten 77 Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Eine kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/ Main 2008, S. 135. 78 Werner Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt/ Main 1979 (Philosophische Abhandlungen 24), S. 212ff. 79 Auf die Traditionslinie, aus der die Tanzmetapher entstammt, weist auch Theresia Heimerl hin, Frauenmystik - Männermystik? Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung von Gottes- und Menschenbild bei Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Marguerite Porete und Mechthild von Magdeburg, Münster 2002 (Mystik und Mediävistik 1), S. 172. Ähnlich Julia Zimmermann, Teufelsreigen - Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen, Frankfurt/ Main 2007 (Mikrokosmos 76), S. 136: Sie spricht von einer Abgrenzung des Engelstanzes vom weltlichen Tanz. Der Erzählerkommentar der Vita grenzt aber nicht nur ab, sondern er stellt die Visionen vielmehr in ein Differenzverhältnis, in dem das Bild den Ziel- und Fluchtpunkt, die g  tliche togenheit nie einholen kann. Narrative Genese der Figur 132 Tanz der Engel mit dem Diener und dem Erzählerkommentar inszeniert wird. Nicht das Bild, das Singen und Tanzen, sondern die togenheit stellt den eigentlichen Fluchtpunkt dar, vor dem die Vision entfaltet und die Liturgie fortgeführt wird. Die liturgische Musik ist das Medium, über das die Korrespondenz zwischen Diener und göttlicher Sphäre etabliert wird. Etabliert wird aber vor allem ein Wechselspiel zwischen Nähe und Ferne, zwischen Gottesminne und Gottesbegehren. In den kurzen Sequenzen entfalten die Visionen in Variationen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten das immer gleiche Thema, ohne es je auf Dauer stellen zu können. Es sind dies intensive Momente, die in immer neuen Konfigurationen und Bildbereichen das Gottbegehren des Dieners im Wechsel von Erfüllung und Aufschub darstellen. Neben Gesang und Tanz wird auch die Geste der Umarmung als Metapher der Gegenwärtigkeit durchgespielt. Sie inszeniert die Einheit als Momente der körperlichen Unmittelbarkeit in rhetorischer Finesse. Im zweiten Mariengruß handelt es sich um eine Vision, die Maria als Morgenstern, zum Thema hat. Das wechselseitige Umfangen zwischen Diener und Gott wird in einem Chiasmus aus Nähe und Aktivität zu einem sich sprachlich überkreuzenden Umarmen: so du mich ie minneklicher umbvahest und ie unmaterilicher kússest, so du in miner ewigen klarheit ie minneklicher und ie lieplicher wirst umbvangen. (18,5f.) Die parallel gestalteten Teilsätze machen aus dem aktiv umfangenden Liebenden den umfangenen Geliebten in der Ewigkeit. Das Gottbegehren des Dieners in der Zeit wird zum Kontrapunkt des Genusses der Gottesminne in der Ewigkeit. 80 In der fünften Vision wird die Nähe zwischen Diener und Engel fast bis zur Einswerdung eingeschmolzen: Der diener vert geswind uf und ummvahet den geminnten engel, und umbschlússet in und trukt in an sin sele, so er iemer minneklichest konde, daz reht kein mitel was enzwischen in zwein (19,4ff., Hervorhebung S.B.). Die Nähe zwischen Diener und Engel wird über den Boten auf Gott gespiegelt. Die Differenz zwischen Himmel und Erde, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, wird überbrückt durch den Mittler, der an beiden Sphären teil hat und dem Diener entsprechend die Gottesnähe versichern kann, die diesem verborgen bleibt. Er versichert sie nicht nur, sondern versichert sie mit den gleichen Worten, mit denen der Diener die Nähe des Engels halten wollte: got der hat dich also lieplich umbvangen in siner ewikeit, daz er dich niemer wil gelassen (20,8f., Hervorhebungen S.B.). Wieder wird die Bruchstelle sichtbar, die der Engel überbrückt. Der Diener umfängt die göttliche Sphäre aus seiner Blickrichtung, aus dem Blick von der Immanenz in die Transzendenz und benötigt darum einen Mittler. In der körperlich inszenierten Umarmung der Seele mit dem Engel findet die Gottesnähe hier einen vorläufigen, maximalen Ausdruck: reht kein mitel was enzwischen in zwein (20,2). 80 Verschiedene Semantiken und Inszenierungen des Gottesgenusses beschreibt Andrea Zech, Grenzüberschreitendes ‚Genießen Gottes‘ in der europäischen Frauenmystik im 13. Jahrhundert, in: Freiburger Universitätsblätter 188 (2010), S. 67-80. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 133 Ebenso benötigt die göttliche Sphäre, um in der Immanenz ihre Wirksamkeit entfalten zu können, einen Mittler, der Anwesenheit in Abwesenheit darstellbar macht. Und so erfüllt der Engel in der Blickrichtung von der Transzendenz in die Immanenz die ihm eigene Funktion als Bote, wenn er dem Diener die göttliche Botschaft von der Umarmung in der Ewigkeit mitteilt. Am Bekanntesten ist wohl die Vision des fünften Kapitels, die die Seele des Dieners im Minnespiel mit Gott inszeniert, zumal diese Vision mit einer Zeichnung medial gedoppelt wird. Der Diener fragt zu Beginn explizit nach der verborgenen wonung Gottes in seiner Seele und greift damit auf die Tradition vom Einwohnen Gottes in der Seele zurück, die bereits bei Paulus formuliert wird. 81 Die verborgene Heimstatt wird ihm offenbart, er sieht in seine eigene Brust, die luter als ein kristalle (20,17) ist und betrachtet seine Seele im minnespil mit der ewigen Weisheit. Der Text selbst verstärkt die Intensität der so inszenierten Minne, indem das Wort in beschwörender Dichte verwendet wird: ‚l  g, wie der minneklich got mit diner minnenden sele tribet sin minnespil.‘ Geswind sah er dar und sah, daz der lip ob sinem herzen ward als luter als ein kristalle, und sah enmiten in dem herzen ruweklich sizen die ewige wisheit in minneklicher gestalt, und bi dem sass des dieners sele in himelscher senung; dú waz minneklich uf sin siten geneiget und mit sinen armen umbvangen und an sin g  tlich herze gedruket, und lag also verzogen und versofet von minnen under des geminten gotes armen. (20,15ff., Hervorhebung S.B.) Im Gegensatz zum BdeW (234,13ff.), in dem das Minnespiel den Wechsel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit als schmerzhafte Momente der Gottverlassenheit beschreibt, liegt der Schwerpunkt der Vita ganz auf der Erfüllung in der Anwesenheit. Die Verdichtung der minne, die in immer neuen Wortformen aufgerufen wird, lässt die Vereinigung von Seele und Gott in der Sprache aufscheinen. Die Gottesminne, in die sich die Seele verliert, zeigt die Erfüllung an, die der Seele des Dieners zuteil wird - und wird im ästhetischen Erlebnis der Wortverdichtung sprachlich nachvollziehbar. 82 Verdoppelt wird 81 Zur Metapher vom Einwohnen im Herzen arbeitet Friedrich Ohly, Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1983, S. 128-155, ganz unterschiedliche poetische Konzeptualisierungen heraus und stellt diese zu Beginn in die biblische Tradition, S. 129. Haiko Wandhoff, In der Klause des Herzens. Allegorische Konzepte des inneren Menschen in mittelalterlichen Architekturbeschreibungen, in: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. von Katharina Philipowski und Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 145-163, führt die Überlegungen fort, geht aber über die Verwendung des Einwohnens als Metapher hinaus und betrachtet allegorische Erweiterungen. Er arbeitet im ersten Teil seines Aufsatzes die Tradition des Einwohnens im Herzen knapp auf. Paulus fordere dabei einen steten Glauben, der zur Einwohnung Gottes im Herzen führe: „Durch seinen Glauben solle demnach jeder Mensch in seinem Inneren ein ‚geistiges Bauwerk‘ aufrichten, das seinen Leib und seine Seele auf die Einwohnung Gottes vorbreitet“, S. 147. 82 Die Einwohnung Jesu im Herzen gehört auch zu dem oben erwähnten, zirkulierenden Bildvorrat. Denn auf ganz ähnliche Weise erzählt das St. Katharinentaler Schwesternbuch diese gnadenhafte Näheerfahrung in der Vita der Anne von Ramschwag. Diese 41. Vita in der Handschrift des 15. Jahrhunderts aus Nürnberg, die zurückgeht auf die im Narrative Genese der Figur 134 das minnespil durch eine Zeichnung, die die Seele des Dieners mit Christus zeigt. David Ganz weist auf die dezidiert rezipientenorientierte Darstellung hin: „Die Miniatur lässt diese Vision zu einer revelatio für den Leser der Handschrift werden: Der Diener sitzt frontal und zieht sein Skapulier zur Seite, sodass der Blick auf die Umarmung der eigenen Seele durch die Ewige Weisheit frei wird. Das ‚vorspil gòtlichen trostes‘, das die Überschrift des Kapitels ankündigt, gilt weniger dem Diener als dem Benutzer der Handschrift.“ 83 Auf unterschiedliche Weise beziehen Sprache und Bild so die Rezipientinnen ein und bieten immer wieder Möglichkeiten der Teilhabe, des Nachvollzugs. Im Rückzug in seine privaten Räume übt sich der Diener in Betrachtungen, die ihn über sich selbst hinaus führen in Momente intensiver Gotteserfahrung. In der Kombination aus Raum, Zeit und Körper wird eine Konstellation entworfen, in der die Figur selbst an der Herstellung dieser Intensitäten beteiligt wird, in der die technische Herstellbarkeit solcher zeitlich beschränkten Gotteserfahrungen Teil einer Übungskultur wird. Der Wiederholung, der iterativen Reihung liegt ein Gestus der Habitualisierung zugrunde. Der Diener kann fast technisch, über Körperhaltung und liturgische Matrix, Intensivierungen produzieren, die in der Überschrift als vorspil g  tlichen trostes bezeichnet werden und zwar ausdrücklich ein Trost für die anvahendú menschen. Die Reihung der Gebete und Visionen setzt einen Prozess der Einübung und Habitualisierung narrativ um und macht ihn für die Rezipientinnen nachvollziehbar. Die Übungen werden vervielfacht und die Intensivierung der Wahrnehmung immer wieder neu inszeniert, um den Prozess der Einübung im Erzählen abzubilden. Anhand der Figur des Dieners wird dieser Prozess der wiederholenden Einübung beobachtbar. 3.2.3 Überformung des Alltags Während im fünften Kapitel Transgressionsmomente geschildert werden, in denen der anfangende Mensch in seiner eben erst gesetzten religiösen Identität göttliche Bestätigung erhält, wird vom siebten bis zum zwölften Kapitel die 13. Jahrhundert entstandene Klosterchronik und das Schwesternbuch aus St. Katharinental bei Diessenhofen in der Schweiz, zeichnet sich durch ihre Länge aus. Während die anderen Schwesternviten nur aus wenigen, teilweise nur aus einem Gnadenerlebnis bestehen, wird diese Vita von der Kindheit bis zum Tod der Schwester aufgespannt. Dazwischen liegt eine Abfolge von Gnadenerlebnissen, zu denen auch eine Vision des Minnespiels gehört. Sie wird wie folgt geschildert: An einem heiligen tag ze winnehten in cristmess do sass si in ir st  l in dem kor vnd ward vff gezogen in ein g  tlich lieht, vnd was ir, wie sich ir lib von enander schluss, das si in sich selber sach. Vnd sah zwei sch  nú kindli in ir, die hatten enander minneklich vnd lieplich vmbvangen. Vnd in dirr gesiht ward ir zerkennen gegeben, das das ein kindlich  nser herr was vnd das ander ir sele, vnd wie si vnd got vereinet was. Das ‚St. Katharinentaler Schwesternbuch‘, hg. von Ruth Meyer, S. 131,80-85. 83 David Ganz, Medien der Offenbarung. Visionsdarstellung im Mittelalter, Berlin 2008, S. 318. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 135 Figur im Umgang mit regelmäßig wiederkehrenden Praktiken gezeigt. Auffällig ist die weitgehende Vernachlässigung dieser Kapitel durch die Forschung. Bis auf einige Interpretationen, auch aus anderen Disziplinen, die auf vereinzelte Textstellen zurückgreifen, gibt es keinen übergreifenden Versuch, die Kapitel in ihrem textuellen Zusammenhang und im Kontext eines klösterlichen Frömmigkeitsmodells geistlicher Übungen zu lesen. 84 In der Forschung liegt der Fokus für die Kapitel fünf bis achtzehn auf der Spannung zwischen Vision und Körperaskese. Während die Visionen auf eine 84 Hier seien einige einschlägige Titel genannt, die den Schwerpunkt auf Seuses Vita legen, die Kapitel sieben bis zwölf aber vernachlässigen. So beschreibt beispielsweise Arnold Angenendt, Die Liturgie bei Heinrich Seuse, in: Vita religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, hg. von Franz J. Felten und Nikolas Jaspert unter Mitarbeit von Stephanie Haarländer, Berlin 1999, S. 877 -897, nur an zwei Stellen den Umgang mit der Liturgie in diesen Kapitel, die, zumindest paraliturgisch gesehen, äußerst ergiebig sind. Auch verkürzt Angenendt teilweise die Perspektiven, die in der Vita entworfen werden. So „feiert Seuse zum Beispiel das Fest Mariä Lichtmeß visionär“, S. 887. Unterschlagen wird mit dieser Aussage, dass der Diener Mariä Lichtmess keineswegs nur als Vision feiert, sondern an der Prozession teilnimmt und erst aus der kollektiven Feier eine individuelle Bildbetrachtung ableitet, die immer im Kontext geistlicher Übungen verbleibt. Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, streift Bild und Bildbetrachtung, die in diesen Kapiteln entfaltet werden, am Rande: „Dieses hochkomplexe Modell [...] darf freilich nicht zu der Annahme verleiten, dass Seuse sich gänzlich der üblichen Bildpraktiken des späteren Mittelalters enthielt. Im Gegenteil berichtet er in der Vita mehrfach von einem Bildverständnis, das eher von der Präsenz des Dargestellten in ihrem Bild ausging“, S. 45. Auch Walter Blank, Heinrich Seuses ‚Vita‘. Literarische Gestaltung und pastorale Funktio n, der eine umfassende Analyse vor allem des ersten Teils vornimmt, erwähnt die Kapitel zwar in einer tabellarischen Darstellung, S. 289, geht aber nicht näher auf die Funktion ein. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, fasst in seinem Kapitel zu Seuses Vita den narrativen ersten Teil auf gut sechs Seiten zusammen, von denen die Kapitel sieben bis zwölf folgendermaßen beschrieben werden: „Diese [die gemahelschaft mit der ewigen Weisheit, Anm. S.B.] bringt [...] mancherlei Erhebungen in der meditativen Begehung des liturgischen Jahres (Kap. 7-12)“, S. 446. Hervorzuheben bleibt die Beschreibung von Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 4,1. Er widmet den Kapiteln sechs bis zwölf einen Abschnitt, in dem er sie in den Gesamttext einordnet, denn sie schildern „die Art und Weise seiner damaligen Lebensweise“, S. 273, also der Lebensweise nach der Grundlegung seines „neuen Leben[s] des Mönchs“, ebd. Aus theologischer Sicht geht Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, v.a. S. 133ff., kurz auf die Kapitel ein, aber auch er verortet sie nicht im historischen Kontext klösterlich-dominikanischer Frömmigkeitskultur, der für diese Kapitel grundlegend ist. Eine Ausnahme bildet Marcus Beling, Der Körper als Text: Die Versprachlichung religiöser Erfahrung bei Meister Eckhart und Heinrich Seuse, Diss. Univ. Münster 2006. URN: http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: hbz: 6-19569689571. URL: http: / / miami.uni-muenster.de/ Record / 48a274f1-de87-4a8f-9db1-11e3188c5f66 (15.01.2016). Beling bezieht die Kapitel stärker ein, allerdings bindet er alle Formen der Imagination aneinander, ohne auf ihre jeweilige Position im Gesamttext zu achten, so etwa die Übungen während der Mahlzeiten im siebten Kapitel und die Übungen im Kreuzgang im 13. Kapitel. Diese unterscheiden sich allerdings durch die grundlegende Neuausrichtung auf das Leiden im 13. Kapitel. Narrative Genese der Figur 136 innere Transgression als Gnadenerlebnis zielen, visiert die Askese die Transgression des Körpers an. Die Kapitel sieben bis zwölf aber, die zwischen dem Visionskapitel und den Kapiteln zur Körperaskese platziert sind, sind nicht auf Transgressionen ausgerichtet, sondern auf Habitualisierungsprozesse durch Frömmigkeitspraktiken und auf die Überformung des Alltags. Diese Kapitel loten also keine Extrempole aus, sondern entwerfen ein Frömmigkeitsmodell, das auf Übungen und Habitualisierung beruht. Die Figur des Dieners schafft sich in diesen Kapiteln einen eigenen Raum allgegenwärtigen Gotteslobs. Als Rahmen fungiert die Umdeutung eines jeden Aktes zu einer geistlichen Handlung. Innerhalb dieses Rahmens werden Imaginationstechniken erprobt, die als innere Inszenierungen neue Bilder hervorbringen. Die Techniken bestehen aus drei grundlegenden Vollzügen: Körpergeste, Gesang und Zähltechniken, die als „gezählte Frömmigkeit“ ein Signum spätmittelalterlicher Übungen sind. 85 Entsprechend beschreiben die folgenden Abschnitte dieser Arbeit die Umdeutung des Alltags und die drei oben genannten Techniken. In einem weiteren Schritt werden die verschiedenen Techniken an einigen Beispielen entwickelt, um das Verhältnis von Technik und Vergegenwärtigung in der Betrachtung zu bestimmen. Das siebte Kapitel beschreibt in mehreren gereihten Erzählsequenzen, in weler ordnung er ze tisch gie, wie die Überschrift vorweg nimmt. Erzählt wird nicht die kollektive Einnahme der Mahlzeiten im Kloster mit den liturgischen Praktiken von Tischlesung und Gebet, sondern die ganz individuelle Umgestaltung jeden Handgriffs in einen Akt der Vergegenwärtigung. 86 So bittet der Diener in der ersten Sequenz um die Gegenwart der ewigen Weisheit bei Tisch, in der zweiten wird das Trinken als Passionsbetrachtung gestaltet und in einer dritten Sequenz wird aus der Zerteilung eines Apfels die Betrachtung der Dreifaltigkeit auf der einen, des Christuskindes auf der anderen Seite. Alltägliche Handlungen, habitualisierte Handgriffe werden mit Bedeutung aufgeladen und dienen der ständigen Vergegenwärtigung Christi. Die Sakralisierung des Alltags durch Praktiken der geistlichen Umdeutung verbleibt dabei nicht in der Einmaligkeit von Einzelereignissen. Jede Mahlzeit ist von der geistlichen Umdeutung betroffen, was sich in einer zeitlich auf Iteration ausgerichteten Formel sprachlich realisiert. Denn in dem relativ kurzen Kapitel werden vier Abschnitte mit den Worten so er eingeleitet: so er ze tisch solte gan (24,11), so er úber tisch gesass (24,17), so er trinken wolte (24,25), so er underwilent ze geswintlichen uf die spise oder trank viel (25,26f.). Die Konjunktion, die mit ‚immer dann, wenn er‘ wiedergegeben werden kann, formuliert eine Verstetigung und Wiederholung. Immer dann, wenn der Diener zu Tisch geht, wenn er trinkt oder, bei Fehlverhalten, wenn er zu schnell isst oder trinkt, setzt er eine 85 Vgl. den Aufsatz von Arnold Angenendt [u.a.], Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1-71. Das dritte Kapitel (Gezählte Frömmigkeit im späten Mittelalter) und das vierte (Ausblick), die für die vorliegende Arbeit besonders relevant sind, verantwortet Thomas Lentes. 86 Zur Tischlesung in den dominikanischen Frauenklöstern vgl. Marie-Luise Ehrenschwendtner, Die Bildung der Dominikanerinnen, S. 176ff. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 137 Regel ein. Die jeweilige Vorschrift reguliert die leibliche Lust der Nahrungsaufnahme, indem jede Handlung in einen geistigen Akt überführt wird. Körperlich notwendige Handlungen werden in kleinen Inszenierungen sublimiert. Nicht die Nahrungsaufnahme, sondern die inneren Betrachtungen stehen im Mittelpunkt, die von der Nahrungsaufnahme ihren Ausgang nehmen. Aber nicht nur der alltägliche Ablauf, auch das ganze Jahr wird überformt. Die Überschriften der Kapitel acht bis zwölf sind viermal parallel gesetzt: Wie er begie daz ingend jor (8. Kapitel), Wie er begie die liehtmiss (10. Kapitel), Wie er begie die vastnaht (11. Kapitel), Wie er begie den meigen (12. Kapitel). Der Diener begeht darin das Neue Jahr, Lichtmeß, Fastnacht und den Maianfang. Die hinführenden Paratexte verweisen bereits auf die individuelle Ausgestaltung der Feiertage durch den Diener. Die Einmaligkeit der einzeln erzählten Feiertage wird auf narrativer Ebene gekoppelt an die Wiederholbarkeit der Ereignisse. Gerade in der Gestaltung des discours lässt sich diese Wiederholungsstruktur feststellen. Zwar werden die Kapitel, in denen Festtage zum Anlass für innere Betrachtungen genommen werden, als Einzelereignisse erzählt. Doch in den Erzählerkommentaren zu Kapitelbeginn und -ende zeigen sich Verstetigungen. So wird das achte Kapitel mit dem Satz beendet: Dis und dez gelich begond er do und gie niemer ungeweret dannen. (27,15) Aus der Einmaligkeit des Gebets zum Neuen Jahr wird auf weitere, ähnliche Ereignisse referiert und die Einmaligkeit in Wiederholbarkeit überführt. Das elfte Kapitel verwendet die auf Wiederholung abzielende so-Struktur: So denne dú vastnaht nahete [...], so vie er an in sinem herzen ein himelsch vastnaht zesamen tragen. (30,19ff.) Aus dem einleitenden, wiederholbaren Geschehen, das das habitualisierte Vorgehen des Dieners beschreibt, wird das besondere Ereignis abgeleitet. Während einer seiner geistlich vollzogenen Feiern zu Fastnacht erhält er ein geischlichú vastnaht von got (31,7f.). Im zwölften Kapitel zeigt das Adverb gewonlich (32,29), dass der Diener den Mai mit der immer gleich ablaufenden Feierlichkeit begeht. Die Kombination aus reihenden Kapitelüberschriften und verstetigenden Erzählerkommentaren formt aus den in der Erzählung einmalig erscheinenden Ereignissen ein sich wiederholendes Kontinuum. Iteration und Einmaligkeit gehen Hand in Hand. Die Reihung der Kapitel in ihrer auffallenden Parallelität impliziert eine Fortführung, die jeden Tag und jedes Ereignis integriert - auch die Tage und Ereignisse, die nicht in der Vita erzählt werden. Die umfassende geistliche Durchformung des Alltags zeigt sich aber nicht nur auf der Ebene des discours und der Zeitstruktur. Die Transformation jeder Handlung und jeden Zeitpunkts in einen geistlichen Akt wird ebenfalls in den inneren Umdeutungen der weltlichen in geistliche Feste deutlich. So wird aus der alemannischen Tradition des Kranzsingens, in dem der Geliebte nachts singend um die Gunst der Geliebten wirbt und im positiven Fall einen Kranz als Gabe erhält, ein geistliches Kranzsingen. 87 Werbend singt der Diener vor 87 Zum Brauch des Kranzsingens wurde in der frühen Volkskunde geforscht, einschlägige Literatur stammt zumeist aus dem 19. Jahrhundert, so der Nachweis, den auch Karl Narrative Genese der Figur 138 einem Marienbild und erbittet von ihr den Kranz ihres Kindes. Aus der weltlichen Fastnacht, die er pejorativ als der geburen vastnaht (31,1) bezeichnet, macht er ein himelsch vastnaht (30,21) beziehungsweise ein geischlichú vastnaht (31,7f.). Ohne direkt auf das weltliche Maibaumsetzen zu referieren, deutet der Diener auch diesen Brauch um, indem er einen geistlichen meyen (32,30) setzt, einen geistlichen Maizweig und das Kreuz zum wúnneklichen ast (33,1) eines Maibaums umdeutet. 88 Die Kapitel spielen sich weitestgehend in den Innenräumen des Klosters ab, in Räumen, die immer schon auf die Überformung durch innere Betrachtung ausgerichtet sind. Gerade aus den öffentlichen Räumen macht der Diener, das arbeitet Thomas Lentes heraus, private Räume der Gotteserfahrung. 89 Die Räume des Klosters, die durch Bildwerke die innere Betrachtung stimulieren sollen, dienen auch in dieser Kapitelreihe als Ausgangspunkt, in denen sich die Momente sinnlicher Vergegenwärtigungen abspielen. Über die Praktiken der Verinnerlichung wird die komplette Integration des Lebens in das beständige Gotteslob erzählt. Niklaus Largier stellt heraus, „dass die Anleitungen zum Gebet [...] aus einer Tradition monastischer Übungen hervor[gehen], in der das gesamte Leben der Mönche und Nonnen zum nie unterbrochenen Gebet werden soll, das den einzelnen und die Gemeinschaft formt.“ Die Anleitungen zu Gebet und Kontemplation dienten im Mittelalter weniger dazu, mystische Erfahrungen zu produzieren, sondern vielmehr „der von Kommunikationsgemeinschaften kontrollierten Ausbildung eines Habitus“. Die Anleitungen führten in Kulturtechniken ein, „die aus der monastischen Tradition des Gebets und der kontemplativen Lektüre hervorgehen.“ 90 In diesem Kontext ist auch Bihlmeyer erbringt: Elard Hugo Meyer, Badisches Volksleben im neunzehnten Jahrhundert, Straßburg 1900, S. 200ff. Das achte Kapitel wird in der Volksliedforschung als frühes Zeugnis für das Kranzsingen angeführt, vgl. etwa Arne Holtorf, Neujahrslied, in: Handbuch des Volksliedes, Bd. 1: Die Gattungen des Volksliedes, hg. von Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich und Wolfgang Suppan, München 1973 (Freiburger folkloristische Forschungen 1/ I), S. 363-389, v.a. S. 381f. 88 Seuse selbst spricht von einem geistlichen meyen (32,30), den der Diener feiert. Die Tradition des geistlichen Maifeierns wird aufgenommen z.B. von Stephan Fridolin, einem Nürnberger Franziskaner des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Petra Seegets, Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Stadt, Tübingen 1998 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 10), weist auf die Bezüge zwischen den beiden Texten hin. Interessant ist dabei, dass die Ordensgrenzen für die Zirkulation der Texte keineswegs strikt geschlossen waren, sondern Rezeption, Übernahme und Transformationen stattfanden. Stephan Fridolin erweitert den Geistlichen Maien zu einer umfangreichen Gartenallegorie, die mehrere Wochen der Betrachtungen umfasst. Parallel verwendet er die Umdeutung des weltlichen Maibaums in das Kreuz, sowie die Auslegung einzelner Blumen. 89 Thomas Lentes, Vita perfecta zwischen vita communis und vita privata, S. 149. Vgl. auch Kapitel 3.4.1 Das narrative Schema der Visionen. 90 Niklaus Largier, Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009 (Germanistische Symposien. Berichtsbände), S. 953-968, hier S. 953f. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 139 die Vita einzuordnen, natürlich mit dem gattungsmäßigen Unterschied, dass sie die Anleitung zum Gebet durch die Figur des Dieners narrativ entfaltet. Mithilfe des Dieners werden Praktiken der Einübung in Gebets- und Kontemplationstechniken im Vollzug erzählbar, die die Figur im erwähnten, nie unterbrochenen Gebet konstituieren und zwar konstituieren in dem transformierenden Habitus der religiösen Identität, die sie sich im dritten Kapitel, im Akt performativer Selbstsetzung, gab. Dabei basiert die Figurenidentität auf Wiederholungsstrukturen, die die religiöse Identität erneut als eine sich stets performativ entwerfende zeigt. Der linear erzählten Vita wird eine zeitlich zirkuläre Struktur unterlegt. Die zirkuläre Struktur konstituiert eine Figurenidentität, die nicht nur progressiv im Stufenweg entwickelt wird, sondern auf jeder Stufe einen Prozess der Habitualisierung sichtbar macht. Die Kapitel, die letztlich immer auf eine Vergegenwärtigung Gottes im Alltag abzielen, greifen auf Techniken der Vergegenwärtigung zurück, die den ganzen Körper umfassen. Der Umgang mit äußeren Bildwerken und deren Betrachtungen steht im Kontext liturgischer Techniken, von denen für die Vita als die wichtigsten die Körpergeste des Niederkniens, der Gesang und das Zählen profiliert werden können. So geht den Bildbetrachtungen fast immer das Niederknien als initiierender körperlicher Akt voraus. Ähnlich wie in den Visionen das Sitzen und zur Ruhe kommen die inneren Bilder erst möglich macht, werden die betrahtungen vom Knien begleitet: So er ze tisch solte gan, so knúwet er nider mit inrlicher betrahtung sines herzen (24,11f.), Er gie [...] vor daz bilde [...] und knúwete nider (26,12ff), und knúwet fúr si (die Skulptur der Muttergottes, Anm. S.B., 30,3f.), im zwölften Kapitel wird als Variante die venje angeführt, die Venie als Gebetspose, die den ganzen Körper umfasst: Under disem meyen nam er VI venjen (33,4). 91 Eingeleitet werden sie durch Zähltechniken, begleitet werden sie zumeist von Gesängen. Gerade die Körpergesten spielen in einem auf Übung ausgerichteten Frömmigkeitsmodell eine wichtige Rolle. 92 So macht das Knien als Körpergeste das Wechselverhältnis des äußeren und inneren Menschen b esonders deutlich. Das körperliche Niederknien muss mit der inneren Andacht konvergieren, das äußerliche Niederknien allein bezeugt noch nicht eine auf Gott gerichtete Haltung. Denn erst die innere Erkenntnis der Größe und Macht Gottes lässt den Menschen niederknien. In der Formulierung der 91 Die venia ist, deutlich stärker noch als das einfache Niederknien, eine Demutsgeste, die den ganzen Körper erfasst. Der Betende legt sich dabei der Länge nach auf den Boden, im Dominikanerorden legt sich der Betende auf seine rechte Körperseite. Es ist eine kraftraubende und anstrengende Praxis, die den gesamten Körper einbezieht. Vgl. Jean- Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 285ff. 92 Thomas Lentes, ‚Andacht ‘ und ‚Gebärde‘. Das religiöse Ausdrucksverhalten, arbeitet die Entwicklung der Anthropologie vom inneren und äußeren Menschen bis ins 16. Jahrhundert auf, wobei u.a. der Umgang mit Körpertechniken beschrieben wird, v.a. S. 54ff. Narrative Genese der Figur 140 ‚Knie des Herzens‘ wird die äußere Haltung auf die innere Disposition bezogen. 93 Diese Tradition wird bei den Dominikanern aufgenommen, insbesondere im Kontext des Marienkultes. Das gezählte Niederknien vor Marienbildern und -statuen wurde zur gängigen Praxis, die sich auch in Seuses Vita findet. 94 Der Text greift die gängigen Praktiken des Dominikanerordens auf und entwirft die religiöse Identität ganz in einer Tradition, in der der äußere und der innere Mensch in enger Beziehung gedacht werden. Die Betrachtungen werden aber nicht allein von den Körpergesten, sondern auch auffallend häufig von Gesang begleitet. 95 In den Kapiteln acht bis zwölf wird in jedem Kapitel erwähnt, dass gesungen wird. 96 Die Bandbreite geht vom inneren Gesang des Dieners über liturgischen Gemeinschaftsgesang bis zum himmlischen Gesang. Judith Theben macht den Gesang zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit über mystische Lyrik: „Denn neben dem liturgischen, lateinischen 93 Vgl. Émile Bertaud, Génuflexions et Métanies, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, Bd. 6, Sp. 213-226, hier Sp. 215.: „Dieu attend de l’homme ainsi prosterné dans la prière qu’il fléchisse non seulement les genoux de corps, mais aussi ceux du cœur et de l’âme.“ 94 Vgl. dazu ebd., Sp. 225: „[...] les frères saluent par des Ave les autels ou les images de la Vierge en y ajoutant des inclinations, des génuflexions, des prostrations, répétées des centaines de fois. Les frères prêcheurs continuaient une coutume déjà bien établie.“ Der Artikel nimmt dabei namentlich Bezug auf Seuse und seine Vita: „Le bienheureux Henri Suso † 1366 multiplie veniae et agenouillements au cours de ses pratiques en l’honneur de la Passion.“ Zu ergänzen ist hier neben der Passion die Maria-Jesus-Anbetung, die etwa im achten und zehnten Kapitel im Zentrum steht. 95 Zur Funktion der Musik in Seuses Vita vgl. Kerstin Bartels, Musik in deutschen Texten des Mittelalters, Frankfurt/ Main 1997 (Europäische Hochschulschriften Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur 1601), hier v.a. S. 73-79 und S. 99ff. Bartels konzentriert sich allerdings auf die Unterscheidung zwischen himmlischer und irdischer Musik und ordnet die Funktion der Musik kaum in die Klosterkultur ein. Musik sei bei Seuse vor allem als himmlischer Trost zu verstehen, S. 77: „Während das Musizieren der Engel im Himmel in erster Linie Freude ausdrückt, bewirkt ihr Gesang und Instrumentalspiel in irdischen Erscheinungen nun, daß Trauer, Krankheit und Schmerz leichter zu ertragen sind oder ganz vergehen.“ Diese Beobachtung ist sicher nicht falsch, schränkt die Funktion der Musik allerdings allzu sehr ein. In den Kapiteln sieben bis zwölf wird der Gesang weniger unter einem Trostaspekt verwendet, als vielmehr im Zusammenhang mit geistlichen Übungen. Schließlich ist es auch in diesen Kapiteln vor allem der Diener selbst, der singt. 96 Kapitel 8: und h  b an ze singen in stillem s  ssen ged  ne siner sele (26,12f.); So er da us gesang (26,16); Kapitel 9: so er mess sang (27,18); wenn ich dú lobrichú wort Sursum corda sang (27,25); Kapitel 10: und bat si still haben [...] unz daz er ir eins gesungi. Er h  b denn uf und sang mit geischlichem stillen ged  ne [...] die prose: Inviolata etc. (29,20ff.); und neig von grunde, so er daz sang: O beningna, o beningna (29,23); Dar na so er denn z  der schar aller minnenden herzen kom, dien h  b er an daz gesang: Adorna etc. (29,28f.); und f  rten si also mit lobe und gesange unz z  dem tempel (30,1f.); und begie sich denne mit im [...] mit singen und mit weinen und mit geischlichen  bungen (30,13); Kapitel 11: Also hort er ussrenthalb der stuben neiswen singen ein himelsches gesang [...] als ob ein zwelfjeriges sch  lerli da sungi alleine. (31,15ff.); ‚ach, waz ist daz da singet? ‘ (31,21); ‚du solt wússen, daz dise wolsingender knabe dir singet und daz er dich meinet mit sinem gesang.‘ (31,23ff.); ‚Ach himelscher jungling, heiss in me singen! ! Er sang aber, daz es in dem luft hoh erschal, und sang wol drú himelschú lieder us und us.‘ (31,25ff.). Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 141 Gesang der gemeinschaftlichen Gebets- und Gottesdienstzeiten, gehörte offenbar das Singen in der Volkssprache zur Lebenswelt der nach Gnadenerlebnissen strebenden Frauen. Die Schwesternbücher und Offenbarungsschriften berichten immer wieder davon, dass eine Nonne lateinische Hymnen, Antiphone und Sequenzen in deutscher Übersetzung zu singen beginnt.“ 97 Der Stellenwert des Gesangs wird zudem deutlich, wenn man bedenkt, dass „das Singen- und Lesenlernen zum festen Bestandteil der Novizinnenausbildung“ gehört. 98 Als Teil der Ausbildung wird der Gesang zu den Übungen gezählt, die zur inneren Betrachtung führen sollen: „Das Singen eines Liedes, sei es gemeinschaftlich oder privat, mit Stimme oder im Geiste, kann als üebunge des nach Vollkommenheit und der unio strebenden Menschen eingesetzt werden.“ 99 Seuse greift hier auf zu seiner Zeit zirkulierende Übungsformen zurück, in denen das Singen eingesetzt wird und bindet sie in das Lebensnarrativ des Dieners in der Vita ein. In den Kapiteln wird eine dritte Übungsform verwendet, die im Spätmittelalter eine ganz spezifische Ausgestaltung erhielt: das Zählen. Während auf der einen Seite das Zählen zur Quantifizierung der Heilssicherung eingesetzt wird, hat es auf der anderen Seite die Funktion, in den inneren Menschen zu führen, die geistige Sammlung zu fördern und in meditativer Versenkung die Heilsgeheimnisse zu explorieren. 100 Seuse setzt in der Vita die Praxis des Zählens zur Übung des inneren Menschen ein, also in der zweiten Funktion. In den Kapiteln sieben bis zwölf dient das Zählen dazu, eine „Umstrukturierung der Gefühle“ anzuleiten. 101 Indem die Ereignisse und Figuren der Heilsgeschichte in kleinste Details auseinandergelegt und mit Zahlen versehen werden, öffnet sich ein Bildraum, den man mnemotechnisch über die Zahlenangaben abschreiten kann. Dabei werden die Einzelschritte nicht nur der Heiligen Schrift entnommen, sondern detailliert ausgeschmückt mit dem Ziel der Verlebendigung und Dramatisierung. 102 Die fest aneinander gefügten Bilder 97 Judith Theben, Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen - Texte - Repertorien, Berlin/ New York 2010 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2), S. 1. Sie führt eine Reihe an Belegstellen aus den Schwesternbüchern an. 98 Ebd., Anm. 3. 99 Ebd., S. 3. 100 An der Form des Zählens als Quantifizierung übt Eckhart scharfe Kritik als „Kaufmannsmentalität“, vgl. Arnold Angenendt [u.a.], Gezählte Frömmigkeit, S. 58. 101 Vgl. ebd., S. 66. Thomas Lentes, der diesen Teil des Aufsatzes verfasst hat, konzentriert sich in seinen Ausführungen auf die Passionsbetrachtung, die folgende Funktion habe, ebd.: „Mittels der Zahlenangabe sollte im Inneren des Betrachters eine Realität inszeniert werden, die nicht nur seine Imagination beflügeln, sondern die Imitatio in seiner Lebensführung anregen sollte.“ In Seuses Vita wird das Zählen aber nicht nur im Zusammenhang mit Passionsbetrachtungen verwendet. In den Kapiteln sieben bis zwölf wird vielmehr gezeigt, wie jeder Bereich des Lebens mithilfe von Zählungen strukturiert werden kann. Zahlen werden nicht nur als Steigerung der compassio eingesetzt, sondern allgemeiner zur Überformung des Raumes in einen artifiziell abschreitbaren Zähl- und Imaginationsraum. 102 Vgl. ebd., S. 66: „Kein Detail sollte dem Betrachter verlorengehen, denn je kleinschrittiger er sich das biblische Geschehen vor Augen führte, um so lebendiger versprach es vor seinem inneren Auge zu werden.“ Narrative Genese der Figur 142 verhindern zudem ein Abschweifen, hat man doch die Zahl als Orientierung für den nächsten Schritt. Gleichzeitig ist das Zählen maßgeblich unter seinem Übungscharakter zu betrachten. Zählen ermöglicht einfaches Wiederholen und Memorieren, der semantische Wert eines Gebetes kann so in den Hintergrund treten. Es steht dann weniger der verstehende Nachvollzug im Vordergrund, als vielmehr die meditative Versenkung. 103 In der Vita sind die Zähltechniken nun nochmals differenziert. Zum einen dienen sie der Durchformung des Alltags, zum anderen sind es Praktiken, die wiederholbare Formen für die immer wiederkehrenden Feiertage zur Verfügung stellen; exemplarisch möchte ich anhand des siebten Kapitels die Verinnerlichung durch Zähltechniken darstellen. Das siebte Kapitel, in dem die Durch- und Überformung des Alltags mittels kultureller Techniken beschrieben wird, führt mittels zählender Technik vor, wie das Trinken seiner körperlichen Funktion des Durstlöschens enthoben und zu einem Akt der Vergegenwärtigung erhöht wird. So trinkt der Diener gewonlich - wieder eine Formel der Verstetigung - fúnf trunke und tet die uss den fúnf wunden sines geminten herren (24,26f.). Das zählende Trinken ermöglicht gleichzeitig ein geistiges Verkosten und eine strenge Regulierung der Nahrungsaufnahme. Das Getränk selbst oszilliert. Es ist nicht Wasser oder Wein, der symbolisch, in Erinnerung an die Wunden getrunken wird, also auf einer Repräsentationsebene verbleibt. Vielmehr trinkt der Diener aus den Wunden Christi, holt in seiner Betrachtung die Eucharistie gewissermaßen in sein Inneres. Das Trinken aus den Wunden wird zu einem Akt, der bei jeder Mahlzeit die Teilhabe am Opfer Christi wiederholt. Das Trinken wird auch über eine zweite Zählung reguliert. Denn da aus den Wunden sowohl Wasser als auch Blut flossen, doppelt er auch das Trinken: hier umbe tet er disen trunk zwifalt (24,28f.). Den ersten und den letzten Schluck nimmt er zu sich in einer doppelten Minnehaltung, einer irdischen: in der minne dez minnerichsten herzen, so dis ertrich geleisten mag (24,30f.) und einer überirdischen: in der inhizigosten minne des h  hsten geistes von Seraphin (24,31f.). Das Trinken übersteigt somit den Akt reiner memoria, erhält eine das Innere durchformende Dynamik der Minne. Nicht zufällig steht an der Stelle des Minnetranks das Verb niezen, das sowohl im Sinne von ‚zu sich nehmen‘ als auch von ‚genießen‘ verwendet werden kann. Das Zählen erst macht aus dem gewöhnlichen Getränk ein Getränk der Teilhabe und der Verinnerlichung, die ganz körperlich vollzogen werden kann. Zählen übt so den inneren Mensch nicht nur in einer geordneten, konzentrierten Haltung, sondern führt ihn im Alltag aus dem Alltag heraus. Gesten, Gesang und Zählen, diese Techniken sollen in innere Betrachtungen führen, das heißt, die geistige Sammlung des Menschen unterstützen. Die Bedeutung von Imagination und Vergegenwärtigung im Kontext der 103 Vgl. Thomas Lentes, ‚Andacht‘ und ‚Gebärde‘. Das religiöse Ausdrucksverhalten, der herausarbeitet, wie im Übergang zur Frühen Neuzeit zunehmend der verstehende Nachvollzug des Gelesenen und Gehörten in den Vordergrund rückt und die meditative Versenkung etwa mithilfe von Zahle n verdrängt, hier vor allem S. 33- 41. Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 143 Klosterkultur wurde in den letzten Jahren immer stärker betont. 104 Konzepte der Performativität und der Medialität, Überlegungen zu Techniken und deren literarische Verarbeitung stellen die Produktivität von Bildern in Prozessen der Aneignung und Transformation ins Zentrum ihrer Überlegungen. In den Kapiteln sieben bis zwölf wird beschrieben, wie die Betrachtungen in innere Bilder überführt werden und welche wahrnehmungsstrukturierende Funktion sie besitzen. Es werden nicht nur die inneren Bilder der Figur entwickelt, sondern die ganz unterschiedlichen Techniken vorgeführt, mit denen die Figur ihre Alltagswahrnehmung mit Szenen aus der Heilsgeschichte überschreibt und transformiert. 105 Im Folgenden sollen zwei Besipiele herausgearbeitet werden, die den Zusammenhang von Technik, Imagination und Bildproduktion besonders einschlägig entwickeln. Im siebten Kapitel wird jede Mahlzeit durch die Verbindung aus Körpertechnik und Betrachtung eingeleitet: So er ze tische solte gan, so knúwet er nider mit inrlicher betrahtung sines herzen fúr die ewige wisheit (24,11f.). In einem Gebet lädt der Diener die ewige Weisheit, die er als aller s  ssester Jesu Criste (24,14) anspricht, zum Gastmahl ein und erbittet seine zarten gegenwúrtikeit (24,16). Aus der Körpergeste und der inneren Betrachtung im Gebet heraus imaginiert er die Gegenwärtigkeit aktiv und inszeniert ein eigenes inneres Schauspiel. So wird nicht etwa, wie in den Visionen, den gesihte, beschrieben, dass Christus sich zu ihm setzt, sondern der Diener ordnet sein Bildarrangement bewusst und selbst: Er setzt den geminten gast der reinen sele eben fúr sich z  einem gemassen und sah in vil g  tlich an (24,17f.). Er platziert Christus in seinem Inneren und seine Seele in Beziehung zu ihm: etwen neigte er sich uf die siten sines herzen (24,19). Der Diener holt, so Johanna Thali, „im siebten Kapitel [...] Gott und Maria in seine eigene Gegenwart hinein, indem er sie in seiner Vorstellung an seinem klösterlichen Alltag partizipieren lässt.“ 106 Die Seele des Dieners wird in der Betrachtung eng geführt mit Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu. So wie Johannes beim letzten Abendmahl an 104 Gerade auf den Konstruktionscharakter, also auf die artifizielle Kultur des Klosters, zielen die Arbeiten von Niklaus Largier ab, etwa Die Kunst des Begehrens. Den Zusammenhang von Lesen mit Meditation und Kontemplation untersucht René Wetzel, Dúr daz wort, in daz wort, an daz wort. Barbara Newman, God and the Goddesses, entwickelt die Kategorie einer ‚imaginative theology‘, die sie folgendermaßen kennzeichnet: „Imaginative theology is the pursuit of serious religiou s and theological thought through the techniques of imaginative literature, especially vision, dialogue, and personification“, S. 292. 105 Jeffrey F. Hamburger, The Visual and the Visionary, beschreibt, wie sich die Sicht auf Visionen von Bernard von Clairvaux bis ins 13. und 14. Jahrhundert änderte. Wichtig scheint die zunehmende Loslösung vom Lektüreprozess, wenngleich die Visionen - und die imaginativen Betrachtungen - ihren Ausgang noch fast immer vom Gelesenen (oder bildlich Betrachteten) ihren Au sgang nehmen, S. 148: „The process of vision is detached from the process of reading, even if what is seen with the ‚inner eye‘ remains wedded to what has been read (or heard, if one includes the texts of the liturgy).“ 106 Johanna Thali, andacht und betrachtung. Zur Semantik zweier Leitvokabeln der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Narrative Genese der Figur 144 der Seite Jesu ruht, so ordnet auch der Diener seine Seele im inneren Bild an. 107 Es entsteht eine Figuration der Heilsgeschichte, die aus jeder beliebigen Mahlzeit eine Reinszenierung des letzten Abendmahls macht. 108 Der Text beschreibt dabei nicht nur das Ruhen an der Brust Christi, sondern auch das Trinken als Teil der Passionsbetrachtung. In der Verbindung aus Trinken und Passion spielt Johannes eine herausragende Rolle, denn „[a]nders als alle anderen durfte er die Weisheit Gottes nicht nur vermittelt über die Schrift erhalten, sondern konnte sie direkt aus der Brust Christi trinken bzw. dessen Leiden und Sterben am Kreuz bezeugen wie niemand sonst.“ 109 Bedenkt man den anvisierten Rezipientenkreis, verwundert die enge Assoziation der Seele mit Johannes nicht. Denn die Dominikanerinnen, die zum primären Zielpublikum gehören, hatten einen vitalen Johanneskult entwickelt, bietet Johannes doch aufgrund seiner Nähe zu Christus einen Identifikationsraum. 110 Die Vita Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 226-267, hier S. 247. 107 Vgl. ebd., S. 248. Hans-Jochen Schiewer, Die beiden Sankt Johannsen, ein dominikanischer Johannes-Libellus und das literarische Leben im Bodenseeraum um 1300, in: Oxford German Studies 22 (1993), S. 21-54, arbeitet heraus, dass die literarische Umsetzung des ruhenden Johannes in Predigten des Dominikanerordens bereits im 13. Jahrhundert nachweisbar sind, also in der Generation vor Eckhart und Heinrich Seuse. Er verweist auch auf die hölzernen Bildwerke der sogenannten ‚Christus-Johannes- Gruppe‘, von denen sich die bekannteste, das Werk des Meisters Heinrich aus Konstanz, in Katharinental bei Diessenhofen befand. Die Skulptur ist im St. Katharinentaler Schwesternbuch ebenfalls erwähnt und Teil einer Gnadenbeschreibung (Vita 41: Anne von Ramschwag, in: Das ‚St. Katharinentaler Schwesternbuch‘, hg. von Ruth Meyer, S. 130: Si bettet ze einem mal vor dem grossen bilde, da sant Johannes r  wet vff  nsers herren hertzen). Schiewer beschreibt das Verhältnis von Skulptur, Text und Praxis folgendermaßen, S. 48: „Die Visualisierung der Beziehung Christus-Johannes - hier interpretiert als Modell der Selbstinterpretation der jungfräulichen Religiosen - korrespondiert mit den vorgestellten Texten, hatte entscheidenden Einfluß auf die Frömmigkeitspraxis und regte visionäre Gottesbegegnungen der Schwestern an.“ 108 Arnold Angenendt, Die Liturgie bei Heinrich Seuse, deutet diese Passage des siebten Kapitels im Rahmen der imaginativen Gegenwärtigkeit in der Eucharistie. Angenendt liest die Stelle als Fortführung von Meß-Visionen, die „Seuse wiederum weiter imaginieren und in seinem Alltag fortsetzen“ kann, S. 892. Er betrachtet die Schilderung im Kontext von Visionen und Imaginationen, unterscheidet dabei aber nicht, über welche Techniken und Praktiken diese entstehen. Während die Visionen z.B. im fünften Kapitel nämlich als unverfügbare Bilder erzählt werden, sind die Imaginationen in Kapitel sieben bis zwölf Betrachtungen, die eben nicht unverfügbar sind, sondern aus dem bewussten Umgang mit (äußeren oder textuellen) Bildern hergestellt werden. 109 Gregor Wünsche, Imitatio Ioannis oder Elsbeths Apokalypse - Die ‚Offenbarungen‘ Elsbeths von Oye im Kontext der dominikanischen Johannesfrömmigkeit im 14. Jahrhundert, in: Schmerz in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Hans- Jochen Schiewer, Stefan Seeber und Markus Stock, Göttingen 2010 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit - Transatlantic Studies on Medieval and Early Modern Literature and Culture 4), S. 167-187, hier S. 170. 110 Vgl. Gregor Wünsche, Präsenz des Unerträglichen. Kulturelle Semantik des Schmerzes in den ‚Offenbarungen‘ Elsbeths von Oye, Diss. Univ. Freiburg/ Br. 2008. URL: https: / / www.freidok.uni-freiburg.de/ data/ 8782. URN: urn: nbn: de: bsz: 25-opus-87825 Praktiken der Verinnerlichung - Wiederholung und Verstetigung (Kap. 5-12) 145 nimmt an dieser Stelle den Johanneskult auf, der als Deutungsmodell im dominikanischen Kontext kursiert. Aus der Nahrungsaufnahme wird eine der zentralen Szenen der Heilsgeschichte und die Seele des Dieners nimmt aktiv daran teil. Doch die Meditationen und Betrachtungen beschränken sich nicht auf die Ebene imaginativer Vergegenwärtigung, sondern führen auch zu einer Einbindung und Transformation liturgischer Rituale. Das zehnte Kapitel beschreibt die Prozession zu Lichtmess, deren aktiver Teil der Diener wird. Das Kapitel entfaltet eine literarische Auseinandersetzung mit kollektiven kulturellen Praktiken, die die Grenzen zwischen äußerer Handlung und innerer Betrachtung zum Fließen bringt. Überschrieben ist es mit: Wie er begie die liehtmess, zeigt also, wie der Diener Purificatio Mariae oder liehtmess feiert. Für diesen Feiertag lässt sich seit dem neunten Jahrhundert eine Prozession nachweisen, zu der Skulpturen der Muttergottes mitgeführt wurden. 111 Erinnert wird die Darstellung Jesu im Tempel, die Praesentatio Jesu in Templo, 40 Tage nach seiner Geburt. Dort wollen Maria und Joseph gemäß der Reinigungsvorschriften für Frauen nach der Geburt ein Opfer bringen. Im Tempel treffen sie auf Simeon, der das Kind als Messias und als Licht gegen die Heiden preist (vgl. Lk 22-24). Obwohl liturgisch die Begegnung zwischen Jesus und Simeon im Zentrum steht, war der Tag im marianisch geprägten Spätmittelalter vor allem Maria geweiht. 112 Die Prozession, die sich herausbildete, wurde in zunehmendem Maße als Sacra Repraesentatio inszeniert, in der die Kleriker die Rollen der biblischen Figuren übernahmen und eine Muttergottesfigur in die Kirche führten, wo die biblische Szene nachgestellt wurde. 113 Seuses Vita wurde von kunsthistorischen Studien wiederholt als Zeugnis für die Prozession herangezogen. Denn das zehnte Kapitel stellt eine literarische Verarbeitung der „zweigeteilten Prozessionsordnung“ 114 dar und lässt überdies Rückschlüsse darauf zu, dass zu den Prozessionen Marienskulpturen (15.01.2016). Wünsche beschreibt die zentrale Rolle des Johanneskults für die Viten- und Offenbarungsliteratur in den dominikanischen Frauenklöstern. Er verweist auf die „herausragende Stellung des Evangelisten in der Frömmigkeitskultur der südwestdeutschen Frauenklöster“, S. 157 (mit weiterführenden Hinweisen zur Forschung). 111 Auf den Unterschied zwischen Andachtsbildern und den von ihm sogenannten ‚handelnden Bildwerken‘ verweist Johannes Tripps, Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin 1998, in der Einleitung, S. 11: „Dagegen (im Gegensatz zu Andachtsbildern, Anm. S.B.) erhalten die handelnden Bildwerke ihre Übernatürlichkeit und ihre Heiligkeit im Verein mit der Liturgie, aus der sie geboren sind, in der Absicht, die Heilsgeschichte zu verbildlichen und dadurch aktiv in der Gegenwart erfahrbar zu machen. Sie sind somit auch keine Andachtsbilder und fordern in keiner Weise zur stillen, allein in der meditativen Versenkung erlebten Compassio auf.“ Tripps reflektiert dabei nicht, dass auch Bildwerke, die kollektiv und öffentlich mitgeführt werden, eine individuelle Praxis erlauben. Genau dies wird im zehnten Kapitel beschrieben, wenn der Diener während der öffentlichen Prozession einen ganz individuellen Umgang mit dem Bildwerk praktiziert. 112 Vgl. Johannes Tripps, Das handelnde Bildwerk, S. 61. 113 Vgl. ebd. 114 Ebd, S. 59. Narrative Genese der Figur 146 mit einem abnehmbaren Jesuskind mitgeführt wurden. 115 Dabei ist in den kunsthistorischen Arbeiten eine Tendenz zu beobachten, den Text als Abbildung einer empirischen Wirklichkeit zu lesen. 116 Der Hinweis auf die abnehmbaren Jesuskinder und auf die Muttergottesskulpturen ist wertvoll, macht er doch die spezifische Bildpraxis sichtbar. Dennoch muss der Text in seiner spezifischen literarischen Umsetzung betrachtet werden, möchte man den Umgang mit Bildern, wie ihn die Vita darstellt, in Funktion und Wirkung adäquat beschreiben. Denn Seuse geht es ja nicht um die abbildende Darstellung kultureller Praktiken seiner Zeit, sondern darum, diese Praktiken innerhalb seines Deutungsmodells zu integrieren beziehungsweise später zu suspendieren. So wird im zehnten Kapitel ausführlich der individuelle Umgang des Dieners mit der Prozession und mit den mitgeführten Skulpturen geschildert. Er beginnt auch diesen Festtag mit einer betrachtung. Frühmorgens, noch bevor andere Menschen die Kirche betreten, geht der Diener vor den fronalter und wartet da in siner betrahtunge der kindbeterin (29,15f.), in einer Meditation über Maria als Wöchnerin. Wieder steht der Gesang im Mittelpunkt der Feierlichkeiten, sowohl individualisiert in seinem Inneren - Er h  b denn uf und sang mit geischlichem stillen ged  ne, daz der mund gie und es doch nieman horte (29,21f.) -, als auch im Kollektiv, als Teil der Liturgie. 117 Er geht mit dem Zug bis zur Kirche, z  dem tempel (30,2). Dass die Kirche als tempel bezeichnet wird, zeigt die theatrale Inszenierung der Prozession im Spätmittelalter. Dort kniet der Diener nieder und bittet Maria, die als Bildplastik mitgeführt wird, ihm das Kind zu zeigen. Wieder wird als Signal die Körpergeste des Niederkniens angeführt, gewissermaßen die Verkörperung des Gebets. Entsprechend geht dort die äußere Handlung in eine innere Teilhabe über. Denn geschildert wird nun, wie Maria ihm ihr Kind reicht. Nicht mehr die Holzskulptur, sondern das in seinem Inneren weitergeführte Bild löst eine affektive Reaktion aus. Doch verbleibt auch diese innere Schau im Rahmen kultureller Praktiken, ist also nicht als unverfügbare transzendente Vision markiert, sondern als Aneignung der äußeren Bilder in innerer Transformation. 115 Vgl. ebd. und Brigitte Zierhut-Bösch, Ikonografie der Mutterschaftsmystik. Interdependenzen zwischen Andachtsbild und Spiritualität im Kontext spätmittelalterlicher Frauenmystik, Freiburg/ Br. [u.a.] 2008, hier v.a. S. 158, die die Argumentation von Tripps aufnimmt, aber nicht über seine Ergebnisse hinausgeht. Ergänzend listet sie aber eine Reihe von Visionen in Schwesternbüchern und Gnadenviten auf, die ebenfalls die Bewegung von der Betrachtung der Bildplastiken zu innerlich produzierten Bildern beschreiben. Auch an dieser Stelle greift Seuse also imaginative Techniken der Bilderzeugung auf, die sich in den kursierenden Texten der Zeit großer Beliebtheit erfreuten, S. 142- 160. 116 Diese Tendenz wird auch in der ansonsten sehr erhellenden Studie von Johannes Tripps sichtbar, der einen längeren Auszug aus dem zehnten Kapitel zitiert und innerhalb des Zitats genau die Teile kürzt, die auf den Übergang der äußeren, empirischen Bilder auf die inneren Bilder verweisen. 117 Zitiert wird das Incipit der Antiphon zur Kerzenprozession an Lichtmess, vgl. den Nachweis durch Karl Bihlmeyer in Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 29, Anmerkung zu Zeile 29. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 147 Und so schließt das Kapitel mit einem Verweis auf den Übungscharakter, der immer mitschwingt. Denn der Diener betrachtet das Jesuskind nicht nur, sondern beschäftigt sich mit dem Kind mit singen und mit weinen und mit geischlichen  bungen (30,13f.). Der Umgang mit dem Kind, so markiert der Text, stellt selbst eine Übung dar. Das zehnte Kapitel führt vor, wie äußere Bilder zu inneren Bildern werden, die den Diener ganz affizieren. Der Umgang mit dem Bild löst dabei keine Vision oder ein gesiht aus, sondern zeigt den Diener, der die heilsgeschichtlich-liturgischen Bilder der Prozession in ein eigenes inneres Schauspiel transformiert, das ihm eine aktive Teilhabe erlaubt. Auch hier fällt die iterative Reihung auf, sowohl innerhalb der Kapitel, als auch in den Kapiteln, die durch die Überschriften einen Gestus der Wiederholung zeigen. Anders als in den Visionen im fünften Kapitel, die durch die Reihung der Gnadenerlebnisse darstellen, wie die religiöse Identität durch Gotteserfahrungen Bestätigung erhält, wird hier die umfassende Integration der Figur in die Klostertechniken und die Durchformung jeder Handlung als geistliche Handlung herausgestellt. Die Einübung des inneren Menschen in eine stets auf Gott gewandte Haltung wird dabei nicht von außen an die Figur herangetragen. Der Diener entwickelt vielmehr einen Umgang mit tradierten Techniken der Imagination und Vergegenwärtigung, die aus dem kollektiven Klosteralltag einen ganz individuellen, auf die eigene Innerlichkeit ausgerichteten Vollzug ermöglicht. Wieder kann man von der Figurenidentität als eine performativ sich selbst entwerfende sprechen, denn in der Wiederholung der Kapitel, in der Darstellung von Alltagshandlungen als habituelle Handlungen, übt sich der Diener ständig in die ganz in Gott überformte Existenz ein. Diese Überformung, das ist der Umkehrschluss, lässt sich durch die Wiederholung nachvollziehen. Die Rezipientinnen können in der Lektüre die Überformung der Figur nach- und mitvollziehen, in der Wiederholung immer ähnlicher Abläufe wird die Forderung nach ständiger Ausrichtung auf Gott nicht diskursiv erörtert, sondern performativ hergestellt. 3.3 Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) Im elften Kapitel hört der Diener das Jesuskind, das in einer Vision für ihn singt und ihm ein Körbchen mit Erdbeeren überreichen lässt, was die Liebe des Dieners zu dem himelschen gnadenrichen knaben (32,8) entflammen lässt. Der Jüngling, mit dem er sich über das Jesuskind unterhält, lässt ihn wissen, dass Leiden auf ihn wartet, da er erwählt sei, mehr Leiden als andere Menschen ertragen zu müssen. Mit dieser Prolepse wird bereits innerhalb derjenigen Kapitel, die auf Trost und auf imaginative Einübung ausgerichtet sind, vorweggenommen, dass nicht der Umgang mit der Freude und Erfüllung, sondern der Umgang mit dem Leiden die eigentliche Übung und Herausforderung darstellen wird. Diese Prolepse auf das Leiden wird im 13. Kapitel aufgenommen, das nicht nur inhaltlich sondern auch narrativ - auf der Ebene der Zeit - eine Zäsur markiert. Mit dem 13. Kapitel enden die Kapitel, die den Diener Narrative Genese der Figur 148 im Umgang mit den Techniken imaginativer Vergegenwärtigung zeigen. Stattdessen wird nun zunehmend das Leiden als Phänomen der Körpertechniken profiliert, das von der herren marter (34,6) ausgeht. 118 Askese ist begrifflich wenig klar definiert. 119 Die historische Abhängigkeit der Askesekonzepte betonen Werner Röcke und Julia Weitbrecht: „So finden sich im Wandel der Zeiten die unterschiedlichsten Antworten darauf, was Askese eigentlich ist und wozu sie dient.“ 120 Entsprechend stellt sich die Frage, was man in der Vita Seuses unter Askese fassen kann und was ihre Funktion für die Figur und für die Darstellung des Wegs in die religiöse Identität mit Gott ist. 121 In ihrer Einleitung fragen Röcke und Weitbrecht weiter nach dem Zusammenhang von Selbstdisziplinierung und Selbstkonstitution als zwei Seiten der Askese. 122 Askese wohne stets eine Spannung inne, die sich im Christentum verstärke. Es ist „die Spannung von Ertüchtigung und Entsagung, von Disziplinierung und Verneinung, welche die Transformation asketischer Semantiken und Konzepte im Wandel der Zeiten bestimmt.“ 123 Die 118 Diese Stelle wird in der berühmten Fußtuchszene im 20. Kapitel wiederaufgenommen und verweist einmal mehr auf die sorgfältige Komposition der Vita. Auch dort wird dem Diener ein Blick aus dem Fenster gewährt, der ihm einen Hund mit einem Fußtuch zeigt, das die Willensaufgabe im Leiden verbildlicht. Hier dagegen sieht er das Jesuskind, das ihn zwar grüßt, aber entschwindet, als er sich ihm nähert. 119 „Eine allgemein anerkannte Definition des Begriffs ‚Askese‘ existiert nicht. Askese bedeutet jedoch immer irgendeine Form selbstgewählter Enthaltsamkeit.“ Jan Bergman, Askese I: Begriff und Definition, in: TRE 4 (1979), S. 195-198 hier S. 196. Der Artikel in der TRE stellt dabei die Körper- und Enthaltsamkeitsaskese so massiv in den Vordergrund, dass die doppelte Auffassung, die beispielsweise im antiken Griechenland herrschte und stark die nicht körperlichen Übungen betonte, herausfällt. Über die Antike wird nivellierend ausgesagt: „Lebensbejahende Religionen mit einer positiven Weltauffassung und einer positiven Betrachtungsweise des Körpers und seiner Funktionen stellen sich im Prinzip fremd zur Askese. Hierher gehören [...] das klassische Griechenland und das alte Rom [...]“, S. 197. Differenziert und die Spannung von Körper und Geist reflektierend stellt dagegen die Askese in der Antike Christoph Rapp, Seelengymnastik: Geleitwort zum Kontext der Verzichtsaskese in der antiken Philosophie, in: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Julia Weitbrecht, Berlin/ New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 9-16, dar. Die Differenzierung und die Beobachtung, dass die asketischen Übungen in der Antike immer im Kontext der richtigen Lebensführung zu betrachten sind, werden auch für die asketische Spiritualität im christlichen Spätmittelalter bedeutsam. Denn Askese wird schließlich nicht zum Selbstzweck betrieben, sondern ist ein Element der Anleitungen zu einer Lebensführung, die zur Vollkommenheit führen soll. 120 Werner Röcke und Julia Weitbrecht, Einleitung, in: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von dens., Berlin/ New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 1-7, hier S. 1. 121 Zur Askese allgemein bei den Dominikanern vgl. auch Bernd Jaspert, Askese VI: Askese in den Bettelorden, in: TRE 4 (1979), S. 229-239, S. 231f.; spezifisch zu Askese und Mystik, S. 234, wo Heinrich Seuse herangezogen wird, wobei aufgrund eines verkürzten Text- und Literaturverständnisses weniger von seinen Texten, als vielmehr von Seuse selbst als asketischem Mystiker ausgegangen wird. 122 Werner Röcke und Julia Weitbrecht, Einleitung, in: Askese und Identität, S. 1. 123 Ebd., S. 2. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 149 Auslöschung der körperlichen Triebe und Affekte stellt in der Konzentration auf den Körper diesen paradoxerweise wieder in den Mittelpunkt. Zwischen den Polen der Selbstdisziplinierung und Selbstkonstitution entfaltet auch die Vita ganz unterschiedliche Perspektiven auf den Körper und auf Körpertechniken. Und diese Perspektiven werden im Text selbst deutlich markiert. Selbstdisziplinierung wird zum Zielpunkt des 15. Kapitels, wenn es heißt, der Diener wolle den Körper dem Geist unterwerfen: Er s  chte mengen list und gross b  ssen, wie er den lip macheti undertenig dem geiste. (39,6) Doch dieser Überwindung körperlichen Begehrens steht eine ganz andere Akzentuierung des Körpers im 16. Kapitel gegenüber. Dort nämlich wird der Körper aufgewertet als Möglichkeit, zum Zeichenträger der Nachfolge zu werden: Vor allen andren  bungen hat er einen begirlichen inval, etwaz zeichens an sinem libe ze tragene eines entpfintlichen mitlidens dez pinlichen lidens sines gekrúzgeten herren. (41,4f.) Bis auf die Ebene der Sprache wird der Körper des Dieners mit dem gekreuzigten Christus eng geführt. Dem entpfintlichen mitliden folgt das pinliche liden, auf phonologischer wie morphologischer Ebene konvergieren die Worte. In dieser Spannung, zwischen körperlicher Disziplinierung zur Auslöschung der körperlichen Triebe und körperlicher Disziplinierung als Möglichkeit der Nachfolge, stehen die sechs Askesekapitel, vor allem aber die Kapitel 15 bis 17. Die ‚alte Natur‘ 124 soll durch Selbstdisziplinierung ausgestrichen werden und von der ‚neuen Natur‘ in einem Akt der Selbstkonstitution überformt werden. 125 Was diese Spannung erzeugt, ist die Kombination zweier Modelle des Umgangs mit dem Körper. Zum einen greift Seuse auf die tradierten Askeseübungen und -forderungen zurück, die in Texten wie den Vitaspatrum oder bei Cassian zirkulierten und zentrale Referenzwerke für die Orden, gerade für die Dominikaner, darstellten. 126 Diese asketische Grundlagenliteratur beschreibt Übungen, die körperliches Begehren der Selbstkontrolle und -disziplinierung unterwerfen. Abgehandelt werden Themen wie Essen, Trinken, Sexualität, 124 Zur Überwindung der ‚alten Natur‘ vgl. Niklaus Largier, Das Theater der Askese: Gewalt, Affekt und Imagination, in: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Julia Weitbrecht, Berlin/ New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 207-222, hier v.a. S. 209f. 125 Textstellen, die in der Forschung teilweise zur Beschreibung der Askesepraktiken hinzugezogen werden wie bspw. das vierte Kapitel, in dem der Diener sich das Christusmonogramm in die Brust ritzt, zähle ich hier nicht zu den Askesekapitel. Obwohl man auch und gerade in diesem Kapitel den Versuch findet, den Körper als Zeichenträger zu inszenieren und zu erhöhen, steht es narrativ nicht in unmittelbarem Bezug zu den Askesekapiteln. Narrativ gesehen gehört das Kapitel zu den ersten Schritten der Selbstsetzung, in denen die Figurenidentität als religiöse Identität überhaupt erst konstituiert wird. Damit einher geht das Fehlen des Übungscharakters, also die Wiederholungsstruktur, die narrativ die Identität verstetigt. 126 Zur Bedeutung Cassians und der Vitaspatrum für Seuse ist grundlegend Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, S. 409f. Zur allgemeinen Bedeutung Cassians für das mittelalterliche Mönchtum und für die mystische Literatur siehe auch Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, S. 118-138. Narrative Genese der Figur 150 Kommunikation und Kleidung. Allerdings rufen sie keineswegs zu exzessiven Übungen auf, wie sie in der Vita ausgestaltet werden. So betont gerade Cassian immer wieder die Wichtigkeit des Maßhaltens. 127 Sein Modell scheint über die Mäßigung stets bemüht, Körperaffekte zu kontrollieren, ohne den Körper zu sehr in die Übungen selbst hineinzuholen. Denn das Paradox, das - ich greife vor - in Seuses Vita beschrieben wird, entsteht ja durch die Maßlosigkeit, die den Körper und sein Begehren nicht ruhig stellen, sondern massiv darauf zentrieren. Insofern scheint auch der Begriff der ‚Technologien des Selbst‘ 128 angemessener als der schwer zu greifende Begriff der Askese, denn die Vita beschreibt in einer Detailversessenheit, wie sich der Diener seines Körpers bedient. Er erfindet Techniken, um seinen Körper einerseits auszulöschen, andererseits als Zeichenträger zu ‚beschriften‘. Die Zentrierung auf den Körper entspringt dem zweiten Modell, das in der Vita verwendet wird. Es ist das im Spätmittelalter immer stärker werdende Modell einer Passionsfrömmigkeit, die den leidenden Körper Christi zum Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Übungen macht und dabei zunehmend nach körperlicher Angleichung strebt. Nicht das Ruhigstellen des Körpers, sondern seine Erregung im dramatischen Nachvollzug der Passion ist eines der wichtigen Themen der Viten- und Offenbarungstexte. Zwischen diesen Polen, der Selbstdisziplinierung und dem Versuch der Selbstkonstitution, bewegen sich die Kapitel 13 bis 18. 3.3.1 Neuausrichtung des Erzählens: Die Betrachtung des Leidens Got der hat in an der ersti vil zites verwennet mit himelschem troste, und waz dar inn so gar verliket: waz die gotheit an horte, daz waz im lustlich, so er aber únsers herren marter solte betrahten und sich dar in mit nachvolge solt geben, daz waz im swer und bitter. (34, 3ff.) Mit diesem, die vorhergehenden Kapitel synthetisierenden Satz beginnt das 13. Kapitel und der zweite Teil der Übungen des Dieners. 129 Hier taucht die Erzählinstanz mit einem Metakommentar auf: Systematisch stellt sie die 127 Vgl. Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, S. 417: „Sowohl in den ‚Collationes‘ als auch in ‚De institutis coenobiorum‘ macht er die Grenzen der individuellen Askese nachdrücklich von der Körperbeschaffenheit, dem Alter und dem Geschlecht abhängig.“ Es handelt sich bei der Interpretation der Vitaspatrum durch Cassian also um einen Appell zur Mäßigung. 128 Den Begriff der ‚Technologien des Selbst‘ verwendet Michel Foucault in seinem gleichnamigen Aufsatz, um die „Hermeneutik der Selbsttechniken in der heidnischen und frühchristlichen Praxis“ als eine „Geschichte realer Praktiken“ zu beschreiben, Michel Foucault, Technologien des Selbst, in: Technologien des Selbst, hg. von Luther H. Martin, Huck Gutman und Patrick H. Hutton, Frankfurt/ Main 1993, S 24-62, hier S. 25. Niklaus Largier, Das Theater der Askese, kritisiert die Beschreibung der Selbsttechniken als Hermeneutiken des Subjekts, wie Foucault sie darstellt, die Inneres über veräußerte Techniken explorierbar machen. Largier setzt der Hermeneutik eine „Phänomenologie rhetorischer Effekte“, S. 207, voraus, die die asketischen Techniken erst initiieren. 129 Zum 13. Kapitel vgl. auch Kapitel 2.2.3 Das Figurenmodell des frúmen riters. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 151 Kapitel sieben bis zwölf unter das Thema des himmlischen Trostes. In den syntaktisch parallel gebauten Sätzen wird nicht nur die erste Zeit des Trostes synthetisch zusammengefasst, sondern im zweiten Teilsatz auch das Defizit im verliken deutlich. 130 Der Diener wurde in der ersten Zeit verwöhnt, jetzt fehlt ihm die Fähigkeit zur compassio, die in imaginativer Betrachtung und affektiver Nachfolge vollzogen werden soll. Damit ist die narrative Klammer geöffnet, die diejenigen Kapitel rahmt, in denen der Diener versucht, das Defizit zu beheben. In einer Audition wird er aufgefordert, sich der leidenden Menschennatur Christi anzugleichen: weist du nit, daz ich daz tor bin, dur daz alle die waren gotesfrúnd m  ssent in dringen, die z  rehter selikeit son komen? Du m  st den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du warlich komen z  miner blossen gotheit. (34,9ff.) Dieser bekannte Satz der Vita gibt dem Diener eine Orientierung, wie das Leben auszurichten sei. Der Satz fungiert für die weitere Darstellung des Figurenlebens bis zum abschließenden 32. Kapitel als Anleitung. Der Diener versucht sofort und gehorsam, das Gehörte umzusetzen. Nachdem er sein Defizit erkannt hat, setzt er die Erkenntnis gegen seinen inneren Widerstand kognitiv um: Iedoch begond er es in sin gemerk nemen, wie wider es ime waz (34,13ff.). Für die narrative Struktur der folgenden Kapitel noch aufschlussreicher ist der zweite Teil des Satzes: und vie an ze lernene, daz er vor nit konde (34,14f.). Die Nachfolge im Leiden wird vom Diener als erlernbarer Prozess verstanden. Und genau diesen Prozess, der Versuch durch habitualisierende Techniken sich im Leiden dem Christuskörper anzugleichen, führt die Vita in den nächsten Kapiteln aus. Für das Lernen dieser neuen Richtung, das Einüben in die Betrachtung der Marter des Herrn, wird eine ganz grundlegende kulturelle Technik im 13. Kapitel vorgeführt, die Passionsbetrachtung im Kreuzgang. Das Kapitel wird zwar narrativ abgegrenzt und durch den Metakommentar als Neueinsatz markiert, die kulturellen Praktiken aber bleiben ähnlich. Wie in den Kapiteln sieben bis zwölf wird auch hier der Umgang mit Bildern eingeübt, die das Innere affizieren und transformieren sollen - in diesem Fall soll die religiöse Identität des Dieners durch die compassio mit dem leidenden Christus hindurch in die blosse gotheit geführt werden. Auch hier wird die imaginative Vergegenwärtigung wiederholbar durch die zählende Strukturierung, zusätzlich mnemotechnisch gefördert durch die Verbindung von Imagination und Raum. 131 Denn 130 Das verliken als einseitige Hingabe an die Minne unter Vernachlässigung der Pflichten erinnert an die verligen-Szene im Erec. Vgl. auch Bruno Quast, Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion, S. 162. 131 Die Wichtigkeit des Raumes arbeitet Otto Langer, Memoria passionis: spirituelle Praktiken und ihre Grenzen. Zu Heinrich Seuses Passionsmystik reiner Innerlichkeit, in: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, hg. von Wolfgang Braungart, Klaus Ridder und Friedmar Apel, Bielefeld 2004, S. 57-74, hier besonders S. 63, heraus. Der Raum ermögliche nicht nur eine klare Anordnung und Abfolge, sondern auch eine „hochaffektive Identifikation“ mit dem leidenden Christus, der im Raum „präsent gesetzt wird.“ Die Verbindung aus äußerem Raum und innerem Affekt stabilisiere dabei die memoria passionis. Narrative Genese der Figur 152 der Diener übt sich in die Betrachtung ein, indem er den Kreuzgang abschreitet und in einem cristf  rmig mitliden (34,17) alles nachvollzieht, was Christus gelitten hat. Die imaginative Vergegenwärtigung im Kreuzgang gleicht einer Choreographie, die sich aus der Körpergeste des Niederkniens, dem Küssen der Erde und entsprechenden Teilen aus der Liturgie und der Passionsgeschichte zusammensetzt. Den Kreuzgang verbindet er jeweils mit Betrachtungen aus der Passionsgeschichte, huldigt dann dem Leiden Marias, um schließlich äußere Bilder und innere Bilder sowie Imagination und Körpertechniken untrennbar zu verschmelzen. Christus wird ihm leiblich gegenwärtig und bleibt doch ein Bild: [er] trat sinem herren bald na, unz daz er an sin siten kom. Und daz bild waz im etwen als gegenwúrtig, reht als ob er liplich an siner siten gienigi (36,3ff.). 132 Seine Betrachtungen im Kreuzgang enden unter dem Kruzifix, wo er, kniend, die Entkleidung und Kreuzigung Jesu betrachtet. Hier werden nun Betrachtung und Körperaskese ineinander geschmolzen, denn der Diener belässt es nicht bei einer inneren Bildbetrachtung, sondern möchte dieses Bild mitvollziehen: so nam er aber ein disciplin und negelt sich mit herzklicher begierde z  sinem herren an sin krúzz (36,16ff.). Der Diener setzt im Kreuzgang die Passionsgeschichte am eigenen Körper um. Die Betrachtungen des leidenden Christus am Kruzifix gehen über in körperliche Übungen; imaginative Vergegenwärtigung und Körpertechnik ergänzen sich in dem Verlangen, sich dem Leiden Christi anzugleichen. 133 Thomas Lentes arbeitet dieses komplementäre Verhältnis folgendermaßen heraus: „In der Bildlogik Heinrich Seuses sind materielles Bild und göttliche Vision, das äußere Sehen des Menschen und sein inneres Auge, das Bild des gekreuzigten Christus und der Körper des übenden Menschen komplementär. [...] Ausgangspunkt ist dabei das äußere Bild des Gekreuzigten, an den sich der Mensch - angeregt durch die Vision und die Transformation seines inneren Auges - innerlich wie äußerlich letztlich noch körperlich anzugleichen hat.“ 134 Der Diener bleibt nicht bei der imaginativen Vergegenwärtigung, sondern verbindet den bildhaften Nachvollzug des Leidens mit einem Nachvollzug am Körper. Damit geht er über die imaginativen Techniken der vorhergehenden Kapitel hinaus. Der zentrale Einsatz des Körpers als Medium in der Nachfolge wird nun vor allem in den Kapiteln 15 bis 18 ebenso breit wie detailliert entfaltet. 132 Vgl. dazu Kapitel 2.2.3 Das Figurenmodell des frúmen riters. 133 Auf den Zusammenhang von Vergegenwärtigung und körperlicher Angleichung im 13. Kapitel verweist auch Otto Langer, Memoria passionis: spirituelle Praktiken und ihre Grenzen, S. 69. 134 Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, S. 20. Dieser Analyse der Bildlogik ist grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings grenzt sich die Vita von der körperlichen Angleichung in der Askese ab Kapitel 19 durchaus kritisch ab. Angleichung im Leiden heißt dann nicht unbedingt zeichenhafte Angleichung über Eingravierung der Wundmale in den eigenen Körper, sondern durch die innere Haltung eines gelassenen Annehmens des Leidens, wie es ab dem 19. Kapitel narrativ entfaltet wird. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 153 3.3.2 Die doppelte Zeitstruktur Gerade das Lernen, der Übungsprozess, der im 13. Kapitel begonnen wird, hat eine zeitliche Struktur. Üben erfordert Wiederholung und diese Wiederholung bildet die Vita auch hier ab. Ähnlich wie in den ersten Kapiteln zeigt sich die Tendenz zur Reihung, die die einzelnen Erzähleinheiten kaum miteinander verbindet. Vor allem im 16. Kapitel fällt auf, dass eine ganze Reihe von kurzen Sequenzen - insgesamt sechs - auf den einleitenden Text folgen. Sie beschreiben zum einen Einzelereignisse, die durch Tagesangaben als solche gekennzeichnet sind: sant Clemens tag, pfafenvasnaht, sant Benedictus tag. Durch die Reihung vermittelt der Text den Eindruck einer nie abgeschlossenen Serie von leicht variierten Körpertechniken. Dauer wird nicht hergestellt durch eine besonders lange Zeitangabe, sondern durch die monotone Gleichförmigkeit der sich ähnelnden Ereignisse. Der Text stellt performativ aus, was er erzählt, nämlich die unablässige Übung des Dieners im Umgang mit seinem Körper. Dieser Eindruck im 16. Kapitel wird verstärkt durch zwei Sequenzen, die nicht auf ein Einzelereignis referieren, sondern regelmäßig ausgeübte Praktiken erzählen. Regelmäßigkeit wird hergestellt durch die liturgische Zeitangabe so man meti hate gesungen (42,25) und durch das unspezifische Zeitkontinuum neiswi lang (43,12). Doch die Vita koppelt in diesen Kapiteln die Reihung mit einem zweiten Modus der Zeitdarstellung. Zeit wird zum einen, wie erwähnt, durch die Wiederholungen verstetigt, zum anderen aber über die Jahresangaben als Kontinuum mit einem Ende dargestellt. Übungen, die einmal beschrieben werden, können so auf 8, 15, 16 oder 30 Jahre ausgedehnt werden. 135 Diese auf Dauer referierende, die Dauer aber nicht performativ ausstellende Erzählweise wird auch in Formulierungen wie in dem sumer, so es heiss waz (39,16) oder Dú nehte in dem winter (40,1) umgesetzt. Kaum ein Kapitel referiert nicht auf genaue Zeitangaben, die es ermöglichen, gleichzeitig Ent- und Begrenzung zu erzählen. Auf der Ebene des discours wird eine Entgrenzungsstruktur fast vollständig vermieden. Auf der Ebene der histoire dagegen wird aufgrund der 135 Die langen Zeiträume fallen in der Vitenliteratur des Spätmittelalters immer wieder auf. Christine Wand-Wittkowski, Mystik und Distanz. Zu religiösen Erzählungen Rulman Merswins, in: Mediävistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 13 (2000), S. 117-134, hier S. 127, beschreibt die Zeitdarstellung die Vita der Schwestern Katharina und Margarete folgendermaßen: „Das Leben der Mystikerinnen wird am Schluß der Erzählung noch einmal Station für Station zusammengefaßt: sieben Jahre lang Leben in geistlichem Jubel und asketischen Übungen, weitere sieben Jahre lang in geistlichem Jubel und asketischen Übungen, weitere sieben Jahre von Gott auferlegte Versuchungen, drei Jahre lang qualvolle Angriffe des Teufels; nach diesen 17 Jahren Krönung und Entdeckung des Gnadengeschehens durch die Mitschwestern, weitere 23 Jahre ein Leben in Frieden und Fröhlichkeit bis zum Tod, also insgesamt 40 Jahre des Klosterlebens. Diese Gnadenbilanz erscheint als nüchterne Zusammenfassung in Zahlen.“ Gerade der Begriff der ‚Gnadenbilanz‘ erscheint dabei einleuchtend. Nicht ein einzelnes Ereignis wird in diesem Modus der Zeitraffung beschrieben, sondern die Bilanz des gesamten Zeitraums wird gezogen. Narrative Genese der Figur 154 langen Zeiträume, die genannt werden, die Grenzen- und Maßlosigkeit der Übungen ausgestellt. Damit wird die Zeitstruktur anders und vorsichtiger dargestellt als in den Kapiteln sieben bis zwölf. Während dort die Wiederholungsstruktur verstetigt wurden durch zusammenfassende Schlusskommentare, wird in den Kapiteln 14 bis 18 immer auf ein Ende, ein Abbrechen der Übungen erzählt - wenngleich der Abbruch manchmal erst nach vielen Jahren erfolgt. So erscheint dem Diener im 15. Kapitel nach 16 Jahre lang währender Askese in einr gesiht an dem pfingstage ein himelsches gesinde (40,27f.), das ihn auffordert, seine Übungen zu beenden. Auch im 16. Kapitel brechen Übungen immer wieder ab. Hier beendet nicht ein göttlicher Eingriff die Körpertechniken, sondern sozialer Druck. Werden nämlich die anderen Konventualen auf ihn aufmerksam, unterlässt der Diener die Geißelungen. So werden die Übungen gleichzeitig verstetigt und begrenzt. Der Diener strebt danach, die von ihm geforderte Nachfolge im Leiden zu vollziehen, durch beständiges Üben bis zur Maßlosigkeit seinen Habitus zu transformieren. Die Kapitel stehen in einer Spannung, die durch den narrativen Rahmen bei gleichzeitiger Entgrenzung erzeugt wird. Obwohl die Kapitel einen enorm langen Zeitraum von 22 Jahren umfassen, ist der narrative Raum begrenzt. Eine existenzielle Transformation, einen Durchbruch, setzt der Text hier weder inhaltlich noch narrativ in Szene. 3.3.3 Gegen den Körper: Selbstdisziplinierung im 15. und 17. Kapitel Er s  chte mengen list und gross b  ssen wie er den lip macheti undertenig dem geiste. (39,5f.) Unter diesem programmatischen Satz wird im 15. und 17. Kapitel ein Umgang mit dem Körper eingeübt, der Möglichkeiten der Kontrolle auslotet. Thema ist das Ruhigstellen des Körpers, die Disziplinierung jeglichen körperlichen Begehrens. Diese Form der Körperkontrolle nimmt implizit Bezug auf Übungen, die in den Vitaspatrum und bei Johannes Cassian entworfen werden. Die Möglichkeit, die Kontrolle über die körperlichen Begierden wie Schlaf, Essen oder sexuelle Lust zu erlangen, steht im Mittelpunkt dieser „Standardlektüre“ 136 und wird über die Figur des Dieners aktualisiert. In den Conlationes Patrum, in denen Cassian in 24 Dialogen mit unterschiedlichen Wüstenvätern ein spirituelles monastisches Modell ausführt, betont er wiederholt, dass das richtige Maß der Körperübungen von vordringlicher Wichtigkeit sei. So spricht sich Abt Moyses in der zweiten Unterredung zwar dafür aus, dass dem Erschlaffen des Körpers entgegen gewirkt werden muss und weder zuviel noch vor den festgesetzten Zeiten gegessen werden darf. Aber andererseits darf man der Abneigung gegen Essen und Schlaf, die sich aus den Askeseübungen entwickeln kann, auf keinen Fall nachgeben, sondern muss im Rahmen der 136 So Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, S. 410: „[...] sie gehörten zur Standardlektüre bei der monastischen Tischlesung: jedem Dominikaner waren sie innig vertraut. Auch für die zur Mystik neigenden Dominikanerinnen des Südwestens gehörten die VP zum Lektürekanon.“ Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 155 erlaubten Zeiten regelmäßig essen und schlafen. Diese gemäßigte Haltung entspringt einer ebenso einfachen wie einleuchtenden Rechnung: Sowohl ein unkontrollierter wie ein überkontrollierter Körper führen nicht zu innerer Ruhe, sondern zu innerer Erregung, wobei übersteigerte Askese sogar als gefährlicheres Übel dargestellt wird als die zu große Nachsicht. 137 Das „allgemeine Maß des Fastens“ richtet sich nach der „Fähigkeit der Kräfte, des Körpers oder des Alters.“ 138 Zur „Erlangung der keuschen Reinheit“ werden in der zwölften Unterredung mit dem Abt Chäremon die Übungen allein explizit als unzureichend bezeichnet. Nicht das Verdienst der Bemühungen um einen reinen Körper reicht aus, sondern erst durch die göttliche Gnade kann ein Zustand der Keuschheit erreicht werden. Der Diener vollzieht seine Übungen allerdings konträr zur Ausführung, wie sie sich bei Cassian finden. Statt einer Haltung, die den Körper gemäßigt kontrolliert und dem inneren Menschen die Konzentration und Sammlung im Gebet ermöglicht, führt er schmerzhafte Übungen durch, die von Maßlosigkeit gekennzeichnet sind. Was der Text vorführt, ist eine rein körperzentrierte Form der Askese, die sich durch eine Kreativität auszeichnet, die immer neue Werkzeuge erfindet, um das körperliche Begehren zu brechen. Der Diener trägt ein herin hemde und ein isnin keten (39,7), ein härin niderkleid (39,9), in das spitze Nägel eingenäht sind, die ihn quälen, als ob er in einem anbeshufen legi (39,22), wie auf einem Ameisenhaufen. Und er weitet seine Martern weiter aus, indem er nachts die Arme quälend fixiert und sich mit Nägeln gespickte Handschuhe anzieht. Die Maßlosigkeit dieser Übungen wird auch durch die Darstellung der Zeit umgesetzt. Denn der Text setzt die unablässige Einsetzung neuer Übungen um, indem er eine Iteration der Marter inszeniert. Bezeichnend für diese Struktur sind Formulierungen, die die Iteration umsetzen und gleichzeitig auf den Erfindungsreichtum des Dieners verweisen: do erdaht er noch eins (40,3), do erdaht er ein anders (40,12), Dar na endert er die  bunge (45,25). Kennzeichnend für die Kapitel ist ein parataktischer Stil, in dem Übung auf Übung folgt, die an wenigen Stellen kurz unterbrochen werden durch die Klage des Dieners. Das 17. Kapitel enthält sogar eine unverbundene 137 Sämmtliche Schriften des ehrwürdigen Johannes Cassianus, Bd. 1, übersetzt von Antonius Abt, Kempten 1879 (Bibliothek der Kirchenväter, Serie 1, Bd. 59), S. 347f.: „Wie wir also frühzeitig dafür sorgen müssen, daß wir nicht durch Verlangen nach leiblicher Lust in gefährliche Erschlaffung fallen und uns ja nicht herausnehmen, vor der festgesetzten Zeit uns Speise zu erlauben oder ihr Maaß zu überschreiten: so muß man doch die Erfrischung durch Speise und Schlaf zur erlaubten Zeit annehmen, selbst wenn man Abneigung dagegen hat. Denn beide Kämpfe entstehen durch das Treiben unseres Feindes, und größere Verheerung richtet die ungeordnete Enthaltsamkeit an als die zu nachsichtige Sättigung. Von dieser nemlich kann man mittelst einer heilsamen Zerknirschung zum Maaße der Strenge sich erheben, von jener nicht.“ Genau diese Anweisung zitiert der Diener im 35. Kapitel für Elsbeth Stagel: Gemeinlich ze sprechen so ist es vil bessrer bescheiden strenkheit f  ren denn unbescheiden [...] wan es geschiht dik, so man der natur ze vil unordenlich ab prichet, daz man ir och dur na ze vil m  ss unordenlich wider geben (108,11ff.). 138 Sämmtliche Schriften des ehrwürdigen Johannes Cassianus, S. 350. Narrative Genese der Figur 156 Aufzählung unterschiedlicher asketischer Übungen, die nur durch Zeitangaben simultan geschaltet werden. So wärmt sich der Diener während 25 Jahren im Winter nicht am Ofen auf. In den selben jaren (46,2) vermeidet er, um seinen Körper nicht zu verwöhnen, das Bad. Und vil zites (46,4 und 46,6 und 46,8) verzichtet er auf Fleisch, Fisch und Eier, übt sich in Armut und kratzt sich nicht. Neben der Maßlosigkeit, die aus dem Umfang und den immer wieder neu einsetzenden Übungen entsteht - und die die Vita explizit benennt: der lip waz  de von masslosi (45,21f.) -, zeigt die iterative Struktur des Erzählens, dass der Diener versucht, sich einzuüben in einen Zustand, in dem er seinen Körper gänzlich unter Kontrolle hat. Die Maßlosigkeit, mit der die traditionellen Übungen durch den Diener umgesetzt werden, steht in Kontrast zu anderen Viten, etwa der Vitensammlung des Oetenbacher Schwesternbuchs. 139 Diese Sammlung aus dem Dominikanerinnenkloster Oetenbach beschreibt ebenfalls die gewöhnlichen Übungen von Fasten und Mäßigung des Schlafs. Diese Übungen bleiben aber durchaus in einem sozialverträglichen Umfang. So muss Ita von Hohenfels sich gar nicht erst disziplinieren, um auf Genussmittel oder Schlaf zu verzichten. Ihr ist vielmehr die gab und gnad der übernatürlichen reinikeit ires leibs und der selen von Gott geschenkt. 140 Aufgrund dieser Gnadengabe verliert sie ihr Interesse an allen weltlichen Dingen, denn wer diese Reinheit erhalten hat, der wird von leiplicher noch fleischlicher bewegung nimmer bewegt an herz noch an leib. 141 Die Kontrolle des Körpers, so stellt das Oetenbacher Schwesternbuch dar, bedarf eines göttlichen Gnadenaktes. Weiter entfernt von einer solchen Darstellung könnten die exzessiven Übungen des Dieners kaum sein. Aber auch ohne die Gnadengabe, die aus den disziplinierenden Übungen einen Akt freiwilligen Verzichts machen, verbleiben die traditionellen Übungen des Fastens und Wachens in einem maßvollen Rahmen und richten sich nach akuten Bedürfnissen. Elsbeth von Beggenhofen etwa isst zwar laut ihrer Vita während 40 Jahren kein frisches Obst, als sie aber krank ist, unterbricht sie fünf Wochen lang den Verzicht, um ihre Gesundheit nicht über die Maßen zu gefährden. 142 Wie in Seuses Vita sind auch im Oetenbacher Schwesternbuch die klösterlich-traditionellen körperlichen Übungen deutlich abgesetzt von einer Körperaskese, die eine mimetischen Angleichung an die Passion Christi qua Körperoberfläche anstrebt. Die Körperübungen des Dieners, die im 18. Kapitel als nicht zielführend abgebrochen werden, sind aufgrund ihrer Maßlosigkeit 139 Vgl. Wolfram Schneider-Lastin, Literaturproduktion und Bibliothek in Oetenbach, in: Bettelorden, Bruderschaften und Beginen in Zürich. Stadtkultur und Seelenheil im Mittelalter, hg. von Barbara Helbling, Magdalen Bless-Grabher und Ines Buhofer, Zürich 2002 (Beiträge zur Hagiographie 3), S. 189-197. Das Dominikanerinnenkloster Oetenbach ist für die Seuse-Rezeption interessant, da dort einer der ältesten Textzeugen des BdeW entstanden ist sowie eine Handschrift des Exemplars, ebd., S. 194f. 140 Die Stiftung des Klosters Oetenbach und das Leben der seligen Schwestern daselbst. Aus der Nürnberger Handschrift, hg. von Heinrich Zeller-Werdmüller und Jakob Bächtold, in: Zürcher Taschenbuch 12 (1889), S. 213-276, hier S. 244. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 268. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 157 problematisch. Gerade die Maßlosigkeit ist es nämlich, die immer wieder den Eigenwillen ins Zentrum stellt. Nicht passives Erleiden, sondern aktives und über die Grenzen gehendes, selbst gesteuertes, selbst inszeniertes, selbst entworfenes Körperleiden verhindert die Transformation der religiösen Identität des Dieners. 143 3.3.4 Mit dem Körper: Verfehlte Selbstkonstitution Vor allen andren  bungen hat er einen begirlichen inval, etwaz zeichens an sinem libe ze tragene eines entpfintlichen mitlidens dez pinlichen lidens sines gekrúzgeten herren. (41,3ff.) ego enim stigmata Iesu in corpore meo porto. (Gal 6,17) In deutlicher Spannung zum disziplinierten Körper des 15. und 17. Kapitels steht das 16. Kapitel, das einen ganz anderen Diskurs eröffnet. Nicht mehr der Leib, den es zu kontrollieren gilt, sondern der Körper als Zeichenträger, als Medium steht dort im Zentrum der Praktiken. Die Vita Seuses wechselt von einer Diskurstradition, die auf Askesepraktiken der Vitaspatrum und Cassian zurückgeht, zu einer Tradition, die den Körper als Pergament betrachtet, auf dem gnadenhaftes Geschehen eingeschrieben wird und so den Körper zum Zeugnis der Nachfolge transformiert. 144 Das paulinische Zitat (Gal 6,17) zeigt, dass Passionsfrömmigkeit nicht nur eine Nachfolge im Sinne einer mimetischen imitatio Christi bedeutet, die den Körper als ‚Übungsinstrument‘ einsetzt. 145 Vielmehr wird der Körper im Kontext des Paulus-Zitats zum Zeichenträger, auf dem sich gnadenhaftes Geschehen als Stigmata in verschiedenen Ausprägungen zeigen. Die übende Angleichung wird zur „körperliche[n] Exegese“ des Paulus-Zitats. 146 143 Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, begründet die Maßlosigkeit mit dem literarischen Kontext Seuses, in dessen „unmittelbaren Wirkungsbereich [...] nämlich von Dominikanerinnen verfasste Werke [zirkulierten], die eine konsequente blutige Askese bejahten, etwa die Vita der Oetenbacher Schwester Ida von Hohenfels oder die Offenbarungen ihrer Mitschwester, Elsbeth von Oye“, S. 41. Das gilt mit Sicherheit für das Kapitel 16, das eine mimetische Körperaskese entwirft. Kapitel 15 und 17 dagegen thematisieren traditionelle Klosterpraktiken, die in den Schwesternviten eben nicht übermäßig blutig inszeniert werden. Der entscheidende Punkt scheint hier die Maßlosigkeit zu sein, die den Körper nicht gnadenhaft ruhig stellen kann, sondern aktiv immer und immer wieder ins Zentrum der Praktiken stellt. 144 Otto Langer, Memoria passionis: spirituelle Praktiken und ihre Grenzen, zieht Paulus’ sinnstiftende Auffassung des Leidens als „Horizont der Leidenstheologie Seuses“, S. 62, heran. Er verweist dabei auch auf Gal 6,17, allerdings ohne das implizite Zitat in Kapitel 16 heranzuziehen. Paulus bildet für ihn den Hintergrund der Vorstellung einer Leidens- und Lebensgemeinschaft mit Christus. Dass paulinische Zitate in der Vita Seuses körperlich ausgelegt werden, vermerkt er nicht. 145 Vgl. Thomas Lentes, ‚Andacht ‘ und ‚Gebärde ‘ . Das religiöse Ausdrucksverhalten, S. 54ff. 146 Vgl. Christine Ruhrberg, Der literarische Körper der Heiligen. Leben und Viten der Christina von Stommeln (1242-1312), Tübingen/ Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 35), S. 402. Narrative Genese der Figur 158 Christine Ruhrberg hat in ihrer Monographie zum Vitencorpus der Christina von Stommeln auf die Wichtigkeit des paulinischen Zitats im Kontext der Körperzeichen hingewiesen. Sie beschreibt die Funktion des Zitats für Texte, die zeitlich vor Seuse anzusiedeln sind: „Stigmatisierung“, so Ruhrberg, „war nie einfach nur das Nachleben von Christi Passion, sondern körperliche Exegese von Gal 6,17 [...]. Dieser Text findet auch in den ganz frühen Belegen für eine „Stigmen-Stimmung“ in der Theologie und Frömmigkeit vor dem ersten anerkannten Falle des Franz von Assisi schon Erwähnung. Stigmatisierung ist also weder eine kreative Idee einer der wichtigsten Heiligenfiguren überhaupt noch die logische Folge übermäßig affektiver Frömmigkeit. Sie läßt vielmehr wieder Wort zu Fleisch werden und ist damit die körperliche Formulierung einer ziemlich abstrakten christlichen Idee der Inkarnation.“ 147 Die körperliche Exegese sieht eine Transgression vor, die über den schmerzenden Körper eine Angleichung an Christus vollzieht. Als gezeichneter oder beschriebener Körper wurde der Körper Christi ab dem 13. Jahrhundert immer mehr ins Zentrum gerückt. So entwirft Caesarius von Heisterbach eine Allegorese, die „Passionsgeschehen und Schreibvorgang auf der Produktionsseite, Betrachtung des Leidens und Lesen einer Schrift auf der Rezeptionsseite analogisiert.“ 148 Die Wunden Christi werden zählbar, lesbar und rhythmisieren das meditative Gebet, das durch die Zahlen ein Ordnungsmuster erhält. Doch es bleibt nicht bei der meditativen Betrachtung der Wunden, wie das Zitat aus der Vita zeigt (41,3ff.). Vielmehr sollen die Wunden, auf den eigenen Körper übertragen, nicht nur erinnernder Verweis sein, sondern blutiger Beweis der mimetischen Angleichung des eigenen Körpers, der selbst zum Zeichenträger wird. Der Diener fand, was die Geißelung betrifft, dabei durchaus Rückhalt in den Statuten seines Ordens und beim Ordensgründer selbst. Denn in seiner dritten Gebetsweise hat sich Dominikus, wie es seine Vita beschreibt, „jede Nacht langen und blutigen Geißelungen unterzogen, wobei er eine Geißel mit drei Eisenketten benutzte.“ 149 Dieser Teil wurde offizialisiert: „Und um dem Beispiel seines Gründers zu folgen, der sich die Geißel gab, verankerte der Dominikanerorden später in seinen Statuten, daß sich die Fratres an allen Wochentagen außer Sonntag mit der Geißel zu züchtigen haben.“ 150 Dominikus wird durch die Praktiken der mimetischen Angleichung im Leiden somit ein Vorbild, das der Diener in seiner Vita aktualisiert. Wie Niklaus Largier in der Einleitung seiner Studie Lob der Peitsche herausarbeitet, gehören zur Geißelung konstitutiv der Raum, das Instrument, der Teilnehmende und dessen Sinne. Das Arrangement bestimmt die Bedeutung der Körperaskese mit und greift auf Topoi zurück, wie sie beispielsweise aus 147 Ebd. 148 Urban Küsters, Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters, S. 84. 149 Niklaus Largier, Lob der Peitsche, S. 37. 150 Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, S. 294. In der Vita des hl. Dominikus werde kein liturgisches Gebet beschrieben, sondern „das persönliche oder ‚geheime‘ Gebet des hl. Dominikus vor Altar und Kruzifix, worin er Christus ‚als wirklich und in Person anwesend‘ erblickte“, S. 294. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 159 der Dominikusvita bekannt sind. Das 16. Kapitel, das mit dem oben genannten impliziten Zitat des Galaterbriefs beginnt, spielt sich gänzlich in der Verborgenheit, in abgeschlossenen Räumen ab. Der Diener entwirft Räume, in denen er in immer neuen Inszenierungen seinen Körper zum Zeichenträger macht. Den Instrumenten der Einzeichnung kommt eine zentrale Bedeutung zu. Statt Werkzeugen, die im 15. und 17. Kapitel vor allem Schlafentzug und Abtötung körperlichen Begehrens anvisieren, stehen im 16. Kapitel Instrumente im Mittelpunkt, die die Zeichen der Nachfolge eingravieren sollen: das Nagelkreuz und die Geißel. Um sich zu zeichnen fertigt der Diener ein Holzkreuz, das nicht nur durch seine Form Zeichen ist, sondern zusätzlich zeichenhaft aufgeladen wird. 151 So ist es mit 30 eisernen Nägeln beschlagen und wird im letzten Jahr der Körpertechnik zusätzlich mit sieben Nadeln besetzt. Was die symbolträchtigen Zahlen bedeuten, legt der Text selbst aus. Die Nägel sind die Negativform der Wunden Christi: [er] schl  g dar in XXX isniner nagel in sunderlicher mainunge aller siner wunden und siner fúnf minnezeichen. (41,7ff.) Und die siebenfachen Nadeln bilden das Leid der Gottesmutter ab: Diser spizziger nadlen verwunden tr  g er ze lobe dem nahtringenden herzleide der reinen gotes m  ter, daz ir herz und sele z  der stunde sines jemerlichen todes so gar durwundete. (41,14ff.) 152 Diese Negativformen werden auf die Haut des Dieners übertragen, der somit zum Zeichenträger des Namens wird, den er in das Kreuz eingeritzt hat: den lieben namen IHS (41,27). Das Holzkreuz wird so zum vielfach aufgeladenen Stempel, der die Zeichen Christi dem Körper des Dieners eindrückt. Durch den Kontakt mit dem Kreuz, das seine Haut perforiert, soll der Körper des Dieners geöffnet und im gemeinsamen Schmerz mit der gelitnen menscheit (34,11f.) Christi überformt werden. Die Wunden werden durch die Zahl an einen mimetischen Nachvollzug angenähert, wobei gleichzeitig die Differenz, in der der Diener zum Körper Christi verbleibt, immer 151 Die Schilderung der Leidenszeichen durch das Holzkreuz findet sich - ebenso ausführlich - bei Elsbeth von Oye. Wolfram Schneider-Lastin, Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye. Textkritische Edition der Vita aus dem ‚Ötenbacher Schwesternbuch‘, in: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte, hg. von Barbara Fleith und René Wetzel, Berlin/ New York 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 395-467, stellt im Kommentar die Textstellen zusammen und verweist auch auf den Autographen, S. 454. 152 Die sieben Schmerzen Mariens sind als Modell imaginativer Betrachtungen bereits seit dem 12. Jahrhundert entwickelt worden: „Die lit. Auseinandersetzung mit den Schmerzen Ms. konzentrierte sich seit Beginn des 12. Jh.s im wesentlichen auf zwei Aspekte: auf die Vorstellung der klagenden [...] Schmerzensmutter unter dem Kreuz als Kulminationspunkt intensivster Leiderfahrung, oder auf den Nachvollzug der Leidensstationen, die M. in ihrem Leben als Mutter Christi auferlegt waren. Durch die Aufzählung und Vergegenwärtigung der einzelnen schmerzlichen Situationen entsteht ein Grundmodell menschlicher Leid- und Lebenserfahrung, das den Gläubigen Ms. Nähe sowie die Bedeutung als Mittlerin vor Augen führt.“ Elke Bayer und Wilhelm Breuer, Sieben Schmerzen Mariens, in: Marienlexikon, Bd. 6, hg. von Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk, St. Ottilien 1994, S. 157. Im Gegensatz zu den hier beschriebenen Betrachtungen aber möchte der Diener ja im Schmerz selbst das Leiden der Gottesmutter nachvollziehen. Narrative Genese der Figur 160 deutlich ist. 153 Der Körper ist ein Träger, auf dem ein komplexes System aus Zeichen und Verweisen eingeprägt wird, um vom Äußeren durch die Perforationen das Innere zu transformieren. Der detaillierten Schilderung des Werkzeugs folgt die Beschreibung der täglichen Praktiken, die der Diener mit dem Kreuz vollzieht. Auch sie sind Teil imaginativer Techniken, verbleiben also keineswegs nur auf der Ebene der schmerzhaften Einschreibung. Der Diener führt die disciplinen, bei denen er sich mit der Faust das Kreuz in den Rücken schlägt, nicht irgendwo durch. Die erste Übung vollzieht er unter der Geißelsäule: so er mit betrahtung komen waz z  der sul, da der sch  n herr als grúlich gegeislet ward (41,32-42,1). Die zweite erfolgt unter dem Kreuz, genauso wie Christus under daz krúz komen waz, und dar an genegelt ward (42,3f.). Die Passionsbetrachtung wird eingebunden in die exzessiven Körperübungen. Die Geißelsäule und das Kreuz sind nicht einfach äußerliche Bilder, sondern sollen durch die schmerzhaften Körperübungen die Leidensgemeinschaft mit Jesus Christus bis in die Physis herstellen. So verschmelzen Betrachtung und Körpertechnik, wenn es heißt, dass sich der Diener selbst an das Kreuz nagelt, an das Christus genagelt ist. Die Versuche, durch Körpertechniken den Körper in einen christusförmigen Körper zu transgredieren, entfaltet die Vita im weiteren Verlauf des 16. Kapitels in sechs kurzen Erzähleinheiten. Diese unmittelbar nacheinander geschalteten, kaum kohäsiv verbundenen Textteile bilden die sich iterativ vervielfachten Versuche ab, durch unablässiges Üben einen neuen Habitus des Leidens herzustellen. Dabei kreisen alle Einheiten in Variationen um die immer gleichen Elemente: Detaillierte Beschreibung des Werkzeugs, der Techniken, der Verwundung und des Bluts. In immer neuen Wendungen versucht der Diener, eine Ähnlichkeitsbeziehung zum leidenden Christus herzustellen. Die imaginative Vergegenwärtigung transportiert aber neben der Ähnlichkeit vor allem auch die Differenz mit dem Abbild mit sich. Wie sehr die Differenz in der imaginativen Vergegenwärtigung mitläuft, zeigt die kurze vierte Episode. Dort zieht er sich in seine Zelle zurück, um sich zu geißeln. Mit der gleichen beharrlichen Technikversessenheit wie schon das Nagelkreuz geschildert wurde, wird hier auch die Geißel beschrieben. Sie ist besetzt mit spizigen dornen (43,16), zusätzlich versehen mit einem Haken, der ihm das Fleisch aus dem Rücken reißt. Nach einigen heftigen Schlägen zerspringt die Geißel und unterbricht die Körpertechnik. Der Diener aber, der sich selbst ansieht, befindet eine ihn affektiv bewegende Ähnlichkeit mit Christus: Do er also bl  tende da st  nd und sich selber an sach, daz waz der jemerlichest anblik, daz er in dik gelichte in etlicher wise der gesch  wde, als do man den geminten Cristus freischlich geislete. (43,22ff.) Er selbst vergleicht sich mit Christus an der Geißelsäule, sein Selbstbild konvergiert mit dem Bild des geschundenen Christus, das 153 Allein dadurch, dass die Größe des Kreuzes ausführlich erläutert wird, wird diese Differenz gekennzeichnet. Das Kreuz ist ungefähr so lang wie die Spanne eines Mannes, also ungefähr 20 cm. Aufgrund der relativen Kleinheit wird auch deutlich, wie stark das Kreuz als Zeichen verstanden muss. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 161 sich in der spätmittelalterlichen Ikonographie großer Beliebtheit erfreute und eine wichtige Station in der Passionsbetrachtung darstellt. 154 Die Gleichheit wird über das herabrinnende Blut hergestellt, das er selbst zum Fließen brachte. Doch was folgt ist keine compassio mit Christus, sondern stellt heraus, wie selbstbezogen die Techniken des Dieners vollzogen werden. Die äußere Angleichung führt nicht zu einer inneren compassio, sondern zu Selbstmitleid: Er ward von erbermde úber sich selb als reht herzklich weinende (43,25f.). Dem spätmittelalterlichen Konzept, dass die innere Haltung am Körper ihren Ausdruck finde, setzt die Vita Seuses hier entgegen, dass eine Körperzeichnung, die auf Selbststigmatisation beruht, eine Transgression nicht ermöglicht. 155 Auffällig ist nun besonders am 16. Kapitel, dass zwar die Körpertechniken bis ins Detail der Instrumente und deren Anwendung beschrieben werden, was sich aber ereignet ist letztlich - nichts. Weder eine Vision noch ein Gnadenzeichen werden dem Diener zuteil, keinerlei Transgressionsbewegungen, die das Äußere des Körpers auf das Innere einer transzendenten Begegnung erhöhen würde, werden im Text beschrieben. 156 Die Kapitel entfalten die Übungen performativ, indem der Charakter der Verstetigung in der Iteration abgebildet wird. Zu einer Transformation der religiösen Identität aber kommt es dabei nicht. Der Versuch, ein christförmiges Selbst zu konstituieren, indem der Körper als Zeichenträger blutig gezeichnet wird, scheitert, da die über Jahrzehnte sich ziehenden Übungen ins Leere laufen. Sorgfältig vermeidet der Text jeden Hinweis auf eine göttliche Bestätigung der Körperaskese. Dies ist eine bemerkenswerte Eigenschaft der Vita Seuses. Ein Blick auf die Viten- und Offenbarungsliteratur, die zeitgleich oder davor entstand, zeigt nämlich, wie stark die Körpertechniken und Gnadenerlebnisse aufeinander bezogen sein können. Drei Texte sollen kurz vorgestellt werden, die auf radikale Weise eine Beschriftung des Körpers mit Wundzeichen inszenieren, wobei der 154 Vgl. Niklaus Largier, Lob der Peitsche, S. 17: „Für die mittelalterliche, religiöse Form der Geißelung bildet die Figur des an die Säule gebundenen Christus ein grundlegendes Paradigma.“ 155 Das Verhältnis von körperlichem Ausdruck und innerer Haltung beschreibt Thomas Lentes, ‚Andacht ‘ und ‚Gebärde ‘ . Das religiöse Ausdrucksverhalten, S. 53, etwa für Franz von Assisi und Katharina von Siena, denen beide die Stigmatisation gnadenhaft zuteil wird: „Am Körper entschied sich bei ihnen das Heil, und die innerer Gestimmtheit hatte am Körper ihren Ausdruck zu finden und sollte von ihm auch erregt werden.“ 156 Harald Haferland, Die Peinigung des Körpers und seine ‚Schrift ‘. Zur Dynamik von Heiligkeit in der deutschen Mystik, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), S. 166-200, weist darauf hin, dass die Askeseübungen gar nicht auf Heiligung ausgerichtet seien: „Er [ Seuse, Anm. S.B.] kämpft gegen den vollends vernarbten und verwüsteten Körper an [...], aber dass Seuse Heiligkeit erlangen wollen würde, darauf finden sich zunächst wenig Hinweise, und seine fortgesetzte Selbstbestrafung scheint sich ausschließlich darauf zu richten, wie er den lip macheti untertenig (sic! ) dem geiste“, S. 193. Damit lässt Haferland außer Acht, dass die Askesekapitel ja gerade unter der Spannung Körpervernichtung - Körperzeichnung stehen, die im 13. Kapitel, der Betrachtung der Leiden Christi als Tor zur Gottheit, initiiert worden sind. Der Versuch, den richtigen Weg in ein christf  rmiges mitliden zu finden, scheint auch ein Versuch zu sein, einen Prozess der Heiligung über den angeglichenen Körper in Gang zu setzen. Narrative Genese der Figur 162 verwundende Schreibakt übergeht in einen Akt gnadenhafter Transgression. 157 Neben den Oetenbacher Viten Elsbeths von Oye und Idas von Hohenstein soll auch kurz auf Christina von Stommeln eingegangen werden, denn in diesem vor der Vita Seuses entstandenen lateinischen Vitencorpus stehen Stigmatisationen besonders im Zentrum der Konstruktion eines religiösen Selbst. 158 In den Christina-Viten werden die Verwundungen der Frau als Angriffe von Dämonen inszeniert. Der Gewaltakt wird externalisiert, Körpertechniken spielen keine Rolle. Die Vita der Christina von Stommeln vermittelt dabei keineswegs eine Körpererfahrung, sondern der Körper wird von ihren Biographen zeichenhaft gedeutet und ist „Ausdruck einer religiösen Körpersprache, eines literarischen Einsatzes des Körpers als Medium“. 159 Nicht was die in der Vita beschriebene Frau spürt, also eine Innenperspektive, wird eingenommen, sondern der Körper verbleibt Zeichenträger. Die Zeichen - etwa drei Kreuze auf der linken Hand, wobei um zwei der Kreuze der Name Jesus Christus geschrieben steht - erscheinen dabei unverfügbar als göttliche Gnadenzeichen. Bei Christina von Stommeln zeichnet das dämonologisch verursachte Körperleiden den heiligen Körper. Doch die Spuren, die die Dämonen hinterlassen, öffnen den Körper für die Überschreibung mit göttlichen Gnadenzeichen. Die Wunden, die von den Dämonen gerissen werden, sind die Öffnungen, die, göttlich transformiert, den Ausgang für Christinas Seele bilden. 160 Die Möglichkeit, das immanente Selbst zu transgredieren wird von den Biographen ganz in den heiligen Frauenkörper gelegt. 161 Die dämonischen Schmerzen sind dabei ebenso unverfügbar wie die Gnadenzeichen. Christinas Körper wird wie ein Pergament in Szene gesetzt, auf dem sich, gleich einem Palimpsest, die Spuren eingravieren, die der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Satan hinterlässt. Sie verbleibt in vollkommener Passivität, die Heilsgeschichte wirkt ohne ihr Zutun auf ihrer Haut. 157 Zur Aufnahme und Transformation der Diskurse aus den Frauenklöstern in der Vita Seuses vgl. Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, S. 417f. 158 Zur Überlieferung, historischem Kontext und Textanalyse vgl. Christine Ruhrberg, Der literarische Körper der Heiligen. Die älteste Quelle zu Christina von Stommeln ist der Codex Juliacensis, wurde wohl um 1281 fertiggestellt, S. 11. 159 Ebd., S. 403. 160 Ebd., S. 397. Nachdem die Dämonen aus Christinas Brust ein Stück Fleisch gerissen haben, wird die Seele, als Braut bezeichnet, von Christus, dem Bräutigam geheilt. An den drei Stellen, an denen die Dämonen die Wunden gerissen hatten, erscheinen daraufhin drei Kreuze. Beide Zeichensprachen bestehen, so Ruhrberg, „in der Öffnung und Verletzung von Christinas Körper, und beides läßt die Seele als freies Wesen erkennen“, S. 398. 161 Die Art und Weise, in der die Gnadenzeichen erscheinen - Kreuze, um die der Name Jesus Christus geschrieben steht - taucht in der Vita Seuses in Kapitel vier auf. Doch dort, in der Einritzung des Namens auf seine Brust, wird der Schmerz nicht zum Transgressionsmoment. Die Schrift erscheint dort vielmehr als urkunde, als die der Diener sie verstanden wissen will. Sie ist das Zeugnis seiner Verbindung zur ewigen Weisheit und wird in der Vision, in der die Schrift als goldenes Kreuz erscheint, bestätigt (wobei diese Vision ausgelöst wird durch das Vitaspatrum, das als Kissen verwendet wird). Der Körper erscheint weniger als Übungsinstrument, sondern als Zeichenträger, der ein Minnezeichen trägt. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 163 Die körperlichen Leiden Elsbeths von Oye erscheinen zunächst in fundamentaler Differenz zu denjenigen Christinas. Eine Parallele zu den Körpertechniken des Dieners ist dagegen offensichtlich: Das körperliche Leiden wird nicht von Dämonen verursacht, sondern ist selbst zugefügt. Doch auch bei Elsbeth wird die religiöse Identität durch eine Transgressionsbewegung konstituiert. Denn der selbstzugefügte Schmerz wird zum Ausgangspunkt für göttliche Offenbarungen. In einem komplexen Wechselspiel wird eine Angleichung der göttlichen und der eigenen Natur im Schmerz immer wieder performativ hergestellt, ohne je auf Dauer gestellt werden zu können. Schmerz und Genuss gehen eine zirkuläre Struktur ein, die in ihrer ständigen Transgression die religiöse Identität wieder und wieder neu herstellen. 162 Die Körperzeichen bei Elsbeth gehen also, anders als bei Christina, nicht in gnadenhafte Körperzeichen über, aus den Stigmata werden keine Kreuzzeichen, um die zusätzlich der Namen Jesus Christus geschrieben steht. Das gnadenhafte Geschehen vollzieht sich hier in einer komplexeren Angleichung, in der über den körperlichen Schmerz die Transgression immer wieder neu hergestellt werden muss. Auch in der Vita Elsbeths von Oye, die später auf Grundlage ihrer Offenbarungen gefertigt wurde und die die zirkuläre Struktur in eine chronologische Abfolge zu übertragen versucht, bleibt aber die Verbindung von Schmerz und Transgression im Genuss bestehen, wenngleich entschärft. Obwohl kein Zweifel mehr besteht, dass die Vita Seuses Passagen teilweise wörtlich aus Elsbeths Offenbarungen übernimmt, transformiert Seuse diese im Kontext seiner Vita jedoch entscheidend, wie zu zeigen sein wird. 163 Im gleichen Kontext ist auch die Vita der Ita von Hohenfels zu sehen. Die Vita ist Teil des Oetenbacher Schwesternbuchs, dem in der Redaktion durch Johannes Meyer OP die Vita Elsbeths von Oye folgte. 164 Ita wird nicht nur im Kontext der traditionellen Praktiken des Fastens und Wachens dargestellt, sondern zeichnet ihren Körper aktiv als Leidenskörper. Explizit wird erwähnt, dass es ihr nicht ausreicht, zu 162 Dazu grundlegend Burkhard Hasebrink, Elsbeth von Oye: Offenbarungen, besonders S. 259ff. 163 So Wolfram Schneider-Lastin, Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye, S. 455, Anm. 22: „Die inhaltlichen und wörtlichen Gemeinsamkeiten sind so groß, daß ohne Zweifel eine direkte Verbindung zwischen Elsbeths Aufzeichnungen und Seuses ‚Vita ‛ bestehen muß.“ Gregor Wünsche, Präsenz im Schmerz, spricht sogar davon, dass „es zu einer Art Handbuchwissen geworden ist, dass es nicht Seuse war, der Elsbeth beeinflusst hat, sondern umgekehrt“, S. 281. Wünsche bezieht dabei Position gegen die Auffassung, die Leidenskapitel 15 bis 18 seien eine ‚Polemik‘ Seuses gegen die körperzentrierten Offenbarungen. Vielmehr seien sie „die Initiierung einer brauchbaren, genuin dominikanischen Passionsliteratur in der Volkssprache“, S. 287. 164 Vgl. Wolfram Schneider-Lastin, Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye. Beide Viten sind Teil „einer von Johannes Meyer OP um 1450 zusammengestellten und redigierten Ausgabe von Schwesternbüchern“, die im Laufe der Überlieferung in zwei Teile getrennt wurde, wobei der zweite Teil, die längeren Viten Elsbeths von Oye, Margarete Stühlingers und Adelheits von Freiburg, erst 1994 in Wrocław wiederentdeckt wurde. Die Vita Elsbeths von Oye ist eine Überarbeitung ihrer Offenbarungen und ist „das Werk eines zeitgenössischen anonymen Dominikaners“, S. 396. Narrative Genese der Figur 164 wachen und Venien und Disziplinen zu vollziehen. 165 Stattdessen beginnt sie, sich mit Messern bis in die Knochen zu schneiden, daß ir daz fleisch von dem leib hanget und das plut also fast von flos, daß man si spürt, wo hin si gieng (240). Ihre Selbstverstümmelung erhält eine Bühne, eine Öffentlichkeit, die gleichzeitig Zeuge wird von dem Wunder, das auf die Verwundung folgt. Denn die Verwundung heilt wundersamerweise stets am dritten Tag - dem Leiden folgt die „Auferstehung“. 166 Auch Itas Versuch, durch Angleichung im körperlichen Schmerz eine Annäherung an Gott zu inszenieren, erhält durch die gnadenhafte Heilung Bestätigung. Während in den oben exemplarisch angeführten Viten beziehungsweise Offenbarungen durch die zirkuläre narrative Struktur die religiöse Identität performativ hergestellt wird und als prekäre Identität immer wieder aufs Neue konstituiert werden muss, verhält sich die Vita Seuses grundlegend anders. Weder findet man eine zirkuläre Struktur, noch wird die religiöse Identität, verstanden als Identität, die über die Techniken hinaus in Transgressionsmomenten ereignishaft beschrieben werden kann, konstituiert. Narrativ begrenzt durch die doppelte Zeitstruktur von Wiederholung und Abbruch, die rein immanent verbleibt und keinerlei Transgression herstellt, transportiert die Vita ein ganz anderes Modell. Körperliche Askese, so vermittelt der Text nicht nur inhaltlich, sondern auch narrativ, führt nicht zur blossen gotheit, ist nicht der Weg durch das tor, als das Christus sich im 13. Kapitel bezeichnet. Die angestrebte Selbstkonstitution, die sich in anderen Viten auf dem Weg extremer Körperaskese findet, läuft in der Vita ins Leere. 167 Und auch auf der Wortebene zeigt sich eine ebenso auffällige wie einschlägige Tendenz. Während im 13. Kapitel von der göttlichen Stimme gefordert wird, durch die gelitne menscheit den Durchbruch zu nehmen, sich also im Leiden anzugleichen, finden sich für das Wort liden selbst in den Kapiteln 14 bis 18 lediglich vier Belegstellen. Betrachtet man dagegen die Kapitel 19 bis 32 explodiert die Semantik des Leidens dort förmlich. Entsprechend ist das Wort in diesen Kapiteln 165 Si nam sich sunderlicher strankheit an mit vil wachen und vil mer ze nacht was si peten und venien und disciplin nemen, und des benügt si nit (239f.). 166 Vgl. Johanna Thali, Gehorsam, Armut und Nachfolge, die als Leitthema des Schwesternbuchs die Passion Christi herausstellt. Zu Ita und ihren Selbstkasteiungen, S. 208. Eine interessante Parallele zur Vita Seuses zeigt sich auch im Umgang mit der sozialen Umwelt. Denn es wird keineswegs toleriert, dass Ita diese blutigen Übungen vollzieht. Ihre meisterschaft, also die Priorin, untersagt ihr vielmehr die Selbstzeichnung. Ebenso achtet der Diener sorgfältig darauf, dass seine Mitbrüder seine Körpertechniken nicht mitbekommen und bricht sie ab, wenn diese Verdacht schöpfen. 167 Den Umgang mit Askesepraktiken würde ich darum auch anders werten als Sandra Fenten, Mystik und Körperlichkeit. Eine komplementär-vergleichende Lektüre von Heinrich Seuses geistlichen Schriften, Würzburg 2007. Sie liest die Askesekapitel als „Vorbereitung für die geistliche Übung der Annahme innerer Gelassenheit“, S. 166, und sieht die Körperaskese damit in einer gewissen Kontinuität zur Gelassenheit. Ich würde die Gelassenheit dagegen als Gegenkonzept zur Körperaskese auffassen, da die Selbstbezüglichkeit der Praktiken im Kontrast steht zur Forderung, das Selbst zu lassen. Gerade die Tatsache, dass in den Askesekapiteln das Leiden als Weg zur imitatio gänzlich ausgeblendet wird, weist auf eine negative Akzentuierung der Technologien des Selbst hin. Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 165 mit 136 Belegstellen für liden, erliden und mitliden sowie den 38 Belegstellen für leid und herzleid auffällig gehäuft. 168 In den Askesekapiteln dagegen zeigt sich das Leiden nicht einmal sprachlich. 3.3.5 Mit dem Körper über den Körper - Visionen als Prolepsen Das 18. Kapitel ist in seiner Vielgestaltigkeit nicht einfach eine Fortführung und Erweiterung der Askesepraktiken. Ich möchte es vielmehr als Überleitungskapitel lesen. Denn obwohl in den folgenden Kapitel 19 bis 21 überdeutlich ein Bruch inszeniert wird, der gelassenheit und m  ssekeit ins Zentrum der religiösen Identitätsbildung stellt, gibt bereits das 18. Kapitel Hinweise auf einen neuen Modus des Leidens. In einer Reihe von Visionen, die aus dem asketischen Verzicht auf regelmäßiges Trinken hervorgehen, werden Verbindungen zu den folgenden Kapiteln gezogen. Auch in diesem Kapitel sind die Visionen keineswegs gnadenhafte Bestätigung der Körperübungen, sondern, in narratologischer Terminologie, Prolepsen. Das 18. Kapitel öffnet mit einer Aufzählung verschiedener Übungen, die den Trinkverzicht ausführen. Wieder wird iterativ gereiht, wie der Diener Übung um Übung entwickelt. Unterbrochen wird diese verstetigte Zeit, als der Diener in einer Klage sein Leiden beweint. Nachdem er in den Kapiteln, die seine Körpertechniken erzählen, kaum zu Wort kam, wird nun die Klage als Versprachlichung des Entzugs in dem Augenblick verwendet, in dem der Diener von seinen maßlosen Übungen weggeführt wird. Und seine Klage bleibt nicht ohne Antwort; in seiner inwendekeit spricht ein neiswas in sin sele. Die Stimme stellt ihm baldige Änderung in Aussicht: hab g  ten m  t, got der wil dich schier fr  wen und tr  sten; nút enwein, frume riter! (48,21) Der Diener reagiert freudig auf die g  tlich kúnftig aventúre (48,26), die ihm angekündigt wird. Zum ersten Mal wird der Diener an dieser Stelle mit dem Modell der Ritterschaft in Verbindung gebracht, die im 20. Kapitel mit der Gottesritterschaft Hiobs zum entscheidenden Figurenmodell ausgebaut wird. Die Bezeichnung als Ritter wird an dieser Stelle noch nicht weiter ausgeführt, ist aber nicht zufällig gewählt. Gisela Baldus weist darauf hin, dass im vierten Brief des Briefbüchleins das Ritterbild explizit mit dem anfangenden Menschen in Verbindung gebracht wird, der „in den ‚ring des geistlichen strites‘ (459,18f.) tritt.“ 169 Der Text spannt hier bereits den Bogen auf die künftige Transformation des Dieners zum Ritter. 170 Welcher Art diese aventúre sein wird, deutet eine zweite Vision an. Diese Vision ist durch einen Perspektivwechsel vom Diener zu einer zweiten Figur äußerst komplex aufgebaut. Es handelt sich um die Vision einer Lactatio, in welcher der von großem Durst geplagte Diener von der Gottesmutter gestillt 168 Vgl dazu ausführlicher Kapitel 3.6.2 Der transitus in die Freude und die Transgression in die Offenbarung. 169 Gisela Baldus, Die Gestalt des ‚dieners‘ im Werke Heinrich Seuses, S. 117. 170 Vgl. Kapitel 2.2.4 zum Figurenmodell: Visualisierung der Gelassenheit - Hiob und der frúme riter. Narrative Genese der Figur 166 wird. 171 Die Vision wird aber fortgeführt und auf eine zweite Figur übertragen. So erscheint Maria auch einer gar heiligen person (50,18), die nicht näher spezifiziert wird. 172 Dieser Figur wird die erste Vision, das Stillen des Durstes durch die Maria lactans, mit dem Auftrag ausgelegt, dieselbe Auslegung an den Diener weiterzugeben. Wie der Diener, so wird ihr mitgeteilt, wurde auch Johannes Chrysostomus von Maria gestillt, nachdem er vor einem Altar kniend eine Maria lactans betrachtet hat - in der Form eins húlzin bildes (50,24). Der betrachtende und gestillte Johannes wurde daraufhin zum begnadeten Prediger, dem Prediger mit dem guldin munde (50,23). Auch hier greift wieder die Bildlogik der Übergängigkeit von äußerem Bild, innerem Bild und sinnlicher Erfahrung im Trinken. Gleiche rednerische Begnadung wird dem Diener prophezeit, was die heilige Person selbst prüfen soll: und ze einem urkúnde der warheit so nem dez war, daz sin lere, dú von sinem munde get, vil begirlicher und lustlicher nu f  rbaz wirt ze h  renne denn vor. (50,28) 173 Der Diener wird in seiner Vision also nicht an die Stelle des gestillten Jesuskindes gesetzt, sondern an die Stelle eines charismatischen Predigers. Während bislang das Predigen, die zentrale Aufgabe der Dominikaner, kaum thematisiert wurde, taucht es in dieser Vision prominent auf und wird ab dem 23. Kapitel eingelöst. 174 So wie die Audition der künftigen Ritterschaft schon auf das 20. Kapitel verweist, deutet diese Vision auf das 23. Kapitel voraus. Auch die letzte und am deutlichsten proleptische Vision ist eine Koinzidenz, also eine Vision, in der einem heiligen gotesfrúnd (51,19) mitgeteilt wird, 171 Der Bildtyp der Maria lactans reicht bis an die Anfänge des Christentums zurück und zeigt die das Jesuskind stillende Muttergottes. Die Visionsdarstellung der Lactatio in der Vita geht vor allem auf die Lactatio des Augustinus und die Bernhards von Clairvaux zurück, welche in verschiedenen Variationen dargestellt wurden, vgl. hierzu Peter Morsbach, Lactans (Maria lactans), in: Marienlexikon, Bd. 3, hg. von Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk, St. Ottilien 1991, S. 701 und ders., Lactatio, in: ebd., S. 702. 172 Harald Haferland, Die Peinigung des Körpers und seine ‚Schrift ‛ , behauptet hier ohne nähere Belege, dass dies „in diesem Fall Elsbeth Stagel“ sei, S. 197, was letztlich nicht aus dem Text herausgelesen werden kann. 173 Und nicht nur Johannes Chrysostomus wird als Zeuge für die göttliche Begnadung durch Maria angeführt, sondern auch Vinzenz von Beauvais: Ein gliches vindet man och an dem ersten teil des b  ches, daz da haisset Speculum Vincentii. (51,4f.) Die Vita stellt hier ganz explizit aus, dass das, was erzählt wird, nicht einmaliges, authentisches Erleben ist, sondern eine Teilhabe an der Heilsgeschichte. Das Speculum des Vinzenz wird hier nicht von ungefähr aufgerufen. Der Dominikaner hat sein enzyklopädisches Hauptwerk zur Predigtvorbereitung verfasst und der Diener wird in diesem Kapitel indirekt zur Predigt berufen. Zum Speculum maius vgl. Volker Zapf, Vinzenz von Beauvais, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, Bd. 2: Das geistliche Schrifttum des Spätmittelalters. Mit einem einführenden Essay von Regina D. Schiewer und Werner Williams-Krapp, hg. von Wolfgang Achnitz, Berlin/ Boston 2011, Sp. 552-558. 174 Auf den Gegensatz zwischen der Eigensorge und der Seelsorge weist der Anfang des 22. Kapitels offen hin: Do er vil jaren siner inrkeit hate pflegen, do ward er von got getriben mit mengerley offenbarungen uf sines nehsten heil (63,9f.). Inszenierungsformen der Passion (Kap. 13-18) 167 was mit dem Diener geschehen wird. 175 Dieser ist, und damit wird wieder auf den Abbruch hingewiesen, krank geworden durch die maßlosen Übungen. Der Text positioniert sich auch in der Wortwahl: Er waz [...] vil krank worden von dem úberlaste der vordren  bungen (5,17f.). Die Übungen werden als zu große Last, als Übermaß bezeichnet, also negativ konnotiert. Aufgenommen wird in der Vision das 16. Kapitel und der Wunsch des Dieners, seinen Körper zum Zeichenträger zu machen und gleichzeitig die Differenz zum Christuskörper aufzuheben. Denn Christus, der der Gottesfreundin 176 erscheint, trägt eine Büchse mit Blut bei sich, mit der er in der Vision den Diener bestreicht: Des bl  tes nam er her us und streich es an des dieners herz, daz es zemal bl  tig wart, und streich im do an sin hend und f  sse und an sinú gelider ellú samet. (51,23ff.) Während der Diener in seinen Übungen sein eigenes Blut zum Fließen bringt, wird er nun mit dem Blut von Christus selbst gezeichnet. Damit das Verständnis der Vision gesichert ist, wird sie auf Nachfrage der Visionärin ausgelegt. Sie hakt nach, ob dem Diener nun die fünf Minnezeichen Christi eingezeichnet werden sollen. Geantwortet wird ihr: ja, ich wil sin herz und alle sin nature mit lidenne minneklichen zeichnen, und wil in denne arznen und gesunt machen, ich wil einen menschen us im machen nah allem minem herzen. (52,2ff.) Das Blut, das Medium der Angleichung schlechthin, wird den Diener nicht nur heilen, sondern es wird ihn transformieren in den christförmigen Menschen. Anstelle der aktiven Zeichnung des Körpers, wie sie der Diener vorgenommen hat, steht hier eine gnadenhafte Zeichnung durch Christus. Erst diese passiv empfangenen Wunden, so die Vision, können die ganze natur des Menschen durchdringen. Der Diener wird nicht nur zum Zeichenträger, sondern soll im Blut Christi ganz transformiert werden. In dieser Vision setzt Christus den Diener selbst in seine Nachfolge, indem er ihn auszeichnet. Die Vision bezieht sich gleichzeitig zurück auf das 16. Kapitel und entwirft ein Bild für die kommenden Kapitel. Denn die Leiden, die hier als blutige Zeichen visualisiert sind, werden im 19. und 20. Kapitel aus verschiedenen Perspektiven entwickelt, um im letzten Teil narrativ entfaltet zu werden. Die narrative Klammer, die im 13. Kapitel den Prozess des Lernens geöffnet hat, wird geschlossen durch eine Audition im 18. Kapitel. Nachdem in den dazwischen liegenden Kapiteln detailreich die Körperaskese ausgeführt wurde, schließt die Kapitelreihe wieder mit einem systematisierend-resümierenden Kommentar der Erzählerinstanz. Dieser fasst genau die Doppelbewegung 175 Harald Haferland, Die Peinigung des Körpers und seiner ‚Schrift‘, verweist auf die häufigen Koinzidenzen, die er definiert als „zwei zeitgleiche, räumlich getrennte Ereignisse [, die] zeichenhaft aufeinander bezogen“ sind, S. 180, so etwa gedoppelte Visionen, wie man sie hier vorfindet. In einer zweiten Vision wird dabei einer bezeugenden Figur die Heiligkeit der zentralen Figur mitgeteilt, eine Strategie, die deren Heiligkeit beglaubigt. Vor der Vision befindet sich eine Zeichnung, die den Diener mit Maria und dem Jesuskind zeigt, die ihm Wein reichen. Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ lamystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 49 (folio 22 r ). 176 Der gotesfrúnd wird als sie angeredet. Narrative Genese der Figur 168 zusammen, die aus Rückblick und Vorausdeutung besteht: Do der diener s  lich  big leben nach dem ussern menschen, als da vor enteil stat geschriben, hat gef  ret von sinem ahtzehenden jare unz uf sin vierzegst jar, und ellú sin natur verw  stet was, daz nút me dur hinder waz, denn sterben ald von derley  bunge lassen, do liess er dur von, und ward ime von got gez  get, daz dú strenkheit [...] nit anders weri gewesen, denn ein g  ter anvang und ein durprechen sines ungebrochen menschen, und meinde, er m  sti noch fúrbaz gedrungen werden in einer anderley wise, s  lti im iemer reht beschehen. (52,6ff.) Mit einer Referenz auf die Materialität des Textes - als da vor enteil stat geschriben - stellt sich die Erzählstimme auf eine Metaebene, synthetisiert die Struktur des Textes. Im ersten Teil des langen Satzes fasst sie die vorhergehenden Kapitel durch die Altersangabe 177 und den Verweis auf das verheerende Resultat der Übungen zusammen. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Askeseübungen lediglich ein g  ter anvang und ein durprechen sines ungebrochenen menschen (53,2f.) waren. Vom durpruch zur blossen gotheit (34,12), wie es im 13. Kapitel als Ziel formuliert wurde, kann dagegen keine Rede sein. Die narrative Klammer öffnet mit dem Verweis auf die Notwendigkeit zu lernen und schließt mit der Kritik an den defizitären Übungen des Dieners. Der Weg durch die gelitne menscheit, so impliziert es der Text, kann nicht der Weg durch die Körperaskese sein. Die drei Visionen offenbaren nicht nur dem Diener, dass sich eine Änderung abzeichnet. Der Text führt Vision für Vision immer mehr aus dem Kontext der Körpertechniken heraus. Sie können den Erkenntnisprozess des Dieners nachvollziehen, der diesem in den Offenbarungen zuteil wird. Um zu verdeutlichen, was das Kapitel implizit schon vollzieht - nämlich die Notwendigkeit einer neuen Form des Leidens - fasst die Erzählinstanz am Ende alles zusammen. Immer wieder weist die Vita an Schlüsselstellen so auf ihre eigene Gemachtheit hin, stellt ihre Konstruktion aus, um sie gleichzeitig für alle verständlich zu machen. Und mit den letzten Worten wird schließlich aufgenommen, was die Visionen schon umkreist haben. Der Diener muss zu einer anderley wise des Leidens gelangen, um seine religiöse Identität als Einheit in Gott zu erreichen. Wie diese neue Weise aussieht, verrät der Text noch nicht. Das 18. Kapitel baut so einen Spannungsbogen auf, der die Aufmerksamkeit auf die folgenden, zentralen Kapitel lenkt. 177 Der Abbruch der asketischen Körpertechniken im 40. Lebensjahr wird von Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, vor der Folie der Bibel gelesen: „Dieses Datum aber macht biographisch keinen Sinn. Es muß symbolisch verstanden werden. Biblisch ist die Zahl 40 eine Zeit der Buße, des Fastens und Betens sowie der Strafe. Das paßt nicht schlecht zum ‚Kreuzweg‘ des Dieners“, S. 447. Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 169 3.4 Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 3.4.1 Die narrative Gestaltung - Vom Erzählen zum Dialog Owe, wenn sol ich iemer ein reht gelassenr mensch werden? (54,31f.) Diese zentrale Frage nach einer religiösen Lebensform, die die Transgression des irdisch gebundenen Selbst anstrebt, wird in der Vita von der Figur selbst aufgeworfen. Sie fragt nach der Möglichkeit, das Konzept der Gelassenheit im eigenen Leben umzusetzen. Im 19. Kapitel wird - nach der Vorankündigung durch die Prolepsen im 18. Kapitel - die Gelassenheit als neues Konzept religiöser Identitätsbildung eingeführt. Es wird narrativ in auffälliger Differenz zu den vorhergehenden und nachfolgenden Kapiteln entfaltet. Während zuvor in iterativer Reihung vorgeführt wird, wie sich die exemplarische Figur des Dieners in Praktiken der dominikanischen Klosterkultur einzuüben sucht, steht in den Kapiteln 19 und 20 die Wissensvermittlung im Zentrum. Anstelle der Außenperspektive des Erzählers, der den sich übenden Diener beschreibt, wird Wissen in erster Linie in Dialogen und im Selbstgespräch vermittelt. Das Selbstgespräch wird zur zentralen narrativen Form, die die Vermittlung zwischen Diener und Gott darstellt. Heinrich Stirnimann definiert das Selbstgespräch folgendermaßen: „Dafür wählen wir den Terminus ‚Selbstgespräch‘ und meinen damit nicht einen Monolog, bei dem sich stets dasselbe selbstbewußte ‚Selbst‘ ausspricht, sondern eine Art interrogative Rede, bei der der Sprechende sein sich suchendes ‚Ich‘ anspricht. [...] In Vita 19 [...] wird gesagt: Er [der Diener] begond in im selben mit im selben einreden und sprach also.... Dies ist die exakteste Beschreibung von Seuses Selbstgespräch: in im selben - mit im selben - ein reden.“ 178 Stirnimann argumentiert hier textimmanent. Selbstgespräche seien Versuche der Figur, die Ereignisse zu reflektieren und sinnstiftend einzuordnen. Das Selbstgespräch bewertet er als „Grundlage aller echten Gotteserfahrung“. 179 Es hat zusätzlich eine rezeptionsästhetische 178 Heinrich Stirnimann, Mystik und Metaphorik, hier S. 227f. Grundsätzlich wäre die Frage zu stellen, ob alle Selbstgespräche die gleiche Funktion haben. Auf die Orientierung der dialogischen Darstellung auf die Rezipientinnen hin verweist auch Paul Michel, Quomodo amor excitet animam pigram. Ein Dialog im Fließenden Licht Mechthilds von Magdeburg, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Festschrift für Alois M. Haas zum 60. Geburtstag, hg. von Claudia Brinker [u.a.], Bern [u.a.] 1995, S. 47-70. In seiner Studie zum FL II, xxiii grenzt er den Dialog von einer ganzen Reihe anderer dialogischer Texte ab, unter anderem von den Offenbarungen der Margaretha Ebner. Als reizvolles Desiderat stellt er dagegen den Vergleich zum BdeW Seuses dar, S. 66. Auf die Relevanz des Dialogs in sogenannten mystischen Texten wies auch Gregor Wünsche, Präsenz des Unerträglichen, unter der Überschrift: Dialog und Differenz, S. 71ff., hin, der ebenfalls die Frage stellt, „ob dialogische Strukturen nicht prinzipiell dazu beitragen können, einen Text in Richtung seiner Rezipienten hin öffnen zu können“, S. 71, und rezeptionsästhetische Fragestellungen an die literarische Darstellung knüpft. Gisela Baldus, Die Gestalt des ‚dieners‘ im Werke Heinrich Seuses, arbeitet zum ersten Mal dezidiert zum Dialog bei Seuse, allerdings vor allem im Blick auf das BdW, das BdeW und das Horologium Sapientiae. 179 Heinrich Stirnimann, Mystik und Metaphorik, S. 253. Narrative Genese der Figur 170 Funktion: In den meist sehr affektiv gestalteten Selbstgespräche, die von Interjektionen wie eya, owe oder wafen durchzogen sind, weist der Text Signale auf, die das Leiden des Dieners lautlich nachvollziehbar machen. Der Begriff ‚Selbstgespräch‘ ist auch deshalb sinnvoll, da er auf den Text selbst zurückgreift, in dem die Selbstgespräche häufig als Sprechen mit dem Selbst bezeichnet werden. Begriffe wie ‚Monolog‘ oder ‚Soliloquium‘ bezeichnen zwar erzähltheoretisch, auf welcher Ebene des Erzählens das Sprechen liegt, Selbstgespräch dagegen verweist auf die historische Selbstbezeichnung in der Vita. Vergleicht man die beiden Kapitel mit den Askesekapiteln 14 bis 18, erhöht sich der Anteil der direkten Rede um ein Vielfaches. Die 15 Druckseiten Beschreibung der Körperaskese sind fast ausschließlich vom Erzähler wiedergegeben und kommentiert. Von 414 Zeilen sind nur circa 60 Zeilen direkt wiedergeben. In Kapitel 19 ist mehr als die Hälfte des Textes als Dialog oder Selbstgespräch gestaltet. 180 Auch in Kapitel 20 zeigt sich ein signifikanter Unterschied zu den vom Erzähler präsentierten Askesekapiteln. Die drei Visionen des Dieners werden über 127 Zeilen erzählt, davon 80 Zeilen in Form von Dialogen oder Selbstgesprächen; mithin stehen zwei Drittel des Gesamttextes in direkter Rede. Diese Differenzen zeigen schon auf formaler Ebene, dass die Vita hier auf einen ganz anderen Vermittlungsmodus abzielt. Die Kapitel der Körperaskese stellen über die Wiederholungsstruktur die Einübung von Praktiken dar, sie bilden Versuche der Habitualisierung mit dem Ziel der Überschreitung des Selbst ab. Es sind zugleich Berichte, in denen der Diener kaum eine eigene Stimme erhält, denn der Erzähler präsentiert das Geschehen, das aus einer Außenperspektive vermittelt wird. Kapitel 19 und 20 dagegen stellen den Dialog zwischen dem Diener und einem jungling in den Mittelpunkt, in dem die Wissensvermittlung durch Fragen und Missverstehen entscheidend gelenkt wird. 181 In der Vita handelt es sich aber nicht nur um einen Lehrdialog, der dem reinen Wissenstransfer dient, sondern es sind in narrative Szenen eingebundene Dialoge und Selbstgespräche. Diese Einbindung ermöglicht es, sowohl die Vermittlung von Wissen darzustellen, als auch die Umsetzung des Wissens durch den Belehrten. Neben den sprachlichen Reaktionen können beispielsweise körperliche Reaktionen, wie Weinen, Jammern oder aber Erzählerkommentare die Dialoge rahmen. Durch die Kombination aus Dialog 180 Nämlich 32 von 58 Zeilen. 181 Zu Lehrdialogen im Mittelalter allgemein vgl. Hannes Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen: Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention, Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 94). Die Form der Nachfrage firmiert in Kästners Fragentypologie unter „Wissenstransfer implizit oder explizit“, S. 157. Spezieller zur monastischen Literatur Bruno Reudenbach, Bild - Schrift -Ton. Bildfunktionen und Kommunikationsfunktionen im ‚Speculum virginum‘, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 25-45, hier S. 38: „Gerade Regeln- und Verhaltens-Anleitungen, bei denen ältere Autoritäten zu Wort kommen, bedienen sich in der monastischen Literatur des Stilmerkmals der unmittelbar verschriftlichten mündlichen Belehrung, etwa als Antwort auf eine Frage [...]. Außerdem sind im Mittelalter Dialoge generell eine bevorzugte Form der literarischen Vermittlung von Traditionswissen.“ Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 171 und narrativer Einbettung erhält die Vita so ihre spezifische Form der Belehrung. Die körperlichen Übungen des Dieners werden auf einer Metaebene in den Dialogen und Selbstgesprächen reflektiert, die zum einen die Defizienz der vorhergehenden Übungen deutlich machen, zum anderen das Wissen um den - laut Seuse - richtigen Weg zu religiöser Vollkommenheit entfalten. Der Diener ist nicht mehr die Figur, die Praktiken vorführt im Bestreben, durch die fortgesetzten Übungen das Selbst zu transgredieren; er ist nun Dialogpartner, durch dessen Fragen und vor allem durch dessen Missverstehen das neu eingeführte Wissen über die Gelassenheit auf mehreren Stufen diskutiert wird. Der Diener macht so die Kernprobleme des komplexen und abstrakten Konzeptes nachvollziehbar, zusammengefasst in der das 19. Kapitel abschließenden Frage, wann er denn ein gelassener Mensch sein werde. Wie sehr Seuse bedacht war, keinen exklusiven Dialog zwischen Gott und Seele darzustellen, sondern eine Beziehung zu den Rezipientinnen aufzubauen, betont auch Paul Michel. 182 In der Vita sei der Dialog von einem stärker unterweisenden und weniger von einem exklusiven Gestus geprägt. Fragen werden erläutert und Visionen ausgelegt; wie im Horologium kann man auch für die Vita konstatieren: „Das ganze Arrangement der Dialoge scheint bei Seuses [sic! ] also daraufhin angelegt, dem Leser zu signalisieren: Hier geht es nicht um die Erzählung dessen, was einem einzigen Begnadeten widerfahren ist, sondern du kannst diese Rolle jederzeit auch selbst spielen.“ 183 Der Dialog mit dem Jüngling im 19. Kapitel ebenso wie die Dialoge im 20. Kapitel und die Selbstgespräche sind literarische Mittel, mit denen die Erkenntnisse sprachlich inszeniert werden. Es sind an dieser Stelle weniger Ausführungen, die sich an Momente der Gotteserfahrung annähern, es handelt sich vielmehr um eine innere Belehrung und Neuorientierung. Das zeigt auch die sorgfältige Begriffsklärung, die in den Kapiteln immer wieder geleistet wird und die den Rezipientinnen am Beispiel vorführt, wie sich Terminologie und Lebensweise zu verhalten haben. Es ist die Einsicht in die lutrú warheit [...], die Cristus selber lerte (54,18) und keine unio-Spekulation, die der Text in Szene setzt. Die Vita weist hier zwar eine dialogische Struktur auf, die immer wieder als Kennzeichen der Mystik und ihrer literarischen Ausgestaltung angeführt wird. 184 Doch handelt es sich hier 182 Paul Michel, Quomodo amor excitet animam pigram, der Seuse in seinem Aufsatz zur Dialogizität bei Mechthild als Zeugen für „[z]eitgenössische Ansichten über dialogische Texte“ heranzieht, wobei „[w]ichtig ist, daß Seuse nicht eine Identität von literarischem Ich und dem Offenbarungsempfänger beansprucht und daß er die Rolle dieses Ich so allgemein hält, als Typus (im Sinne Max Webers), so daß sich alle Leserinnen/ Leser damit angesprochen fühlen oder identifizieren können“, S. 66. 183 Ebd., S. 67. 184 Diese Funktion des Dialogs diskutiert Walter Haug, Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur, in: Das Gespräch, hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 251-279. Auch Niklaus Largier, Anima mea liquefacta est. Der Dialog der Seele mit Gott bei Mechthild von Magdeburg und Heinrich Seuse, in: Internationale katholische Zeitschrift ‚Communio‘ Narrative Genese der Figur 172 nicht um einen Dialog als Versuch, mystische Erfahrung in Sprache zu übersetzen. Es ist vielmehr ein Unterweisungsdialog, der narrativ entfaltet wird. Die Leitsemantik des 19. und des 20. Kapitels ist, passend zum Lehrdialog, das Lernen. Die sch  le z  der kunst rechter gelassenheit, wie die Überschrift zum 19. Kapitel lautet, und der sich übende Ritter, der im 20. Kapitel als Figurenmodell eingeführt wird, stellen zwei Bildfelder dar, die gerade auf Habitualisierung abheben. Nicht etwa eine ereignishafte unio mystica wird dem Diener angekündigt, sondern ein ze nihtú werden und die Verlassenheit von Gott und der Welt. In unterschiedlichen Visionen wird dem Diener im Dialog immer wieder die Notwendigkeit des Lernens und Übens aufgezeigt - und es wird eine Semantik eingeführt, die die Gelassenheit in die spannungsvolle Konstellation zwischen Übung und entwerden setzt. Auch in diesen Kapiteln der Wissensvermittlung kommt der Liturgie zentraler Stellenwert zu. Die verschiedenen Visionen gehen stets von liturgischen Anlässen aus. Im inneren Versenken wird die Bibellektüre auf eine Ebene überführt, die nicht allein im Verstehen der Buchstaben liegt, sondern im Nachvollzug des Gelesenen und Gehörten im eigenen Leben. In Kapitel 19 und 20 sind die Visionen Belehrungen, die einen Erkenntnisprozess in Gang setzen. Die einzelnen Visionen greifen unterschiedlich stark auf die Liturgie zurück. Kapitel 19 zeigt die Figur in der typischen Haltung: Der Diener sitzt nach der Matutin in seinem Stuhl. 185 Aus dieser Haltung kommt er in eine verdahtekeit, er ist vertieft in seiner Kontemplation und es entsunken im die sinne (53,9). In der Kontemplation wird ihm in einer inren gesiht (53,10) die Vision eines Jünglings zuteil, der ihm Wissen über die Gelassenheit offenbart. Auch die Auditionen im 20. Kapitel finden na der mess und an únser frowen tag ze der liehtmess statt. Die Wissensvermittlung und die Auslegung der Schrift erfolgt dezidiert im liturgischen Rahmen. In immer neuen Anläufen werden innere Bilder herangezogen, ausgelegt und erläutert und so die Missverständnisse der Figur ausgeräumt. Gerade der Wechsel zwischen Bild, Nachfrage und Auslegung ist ein auffälliges Signum. Belehrt wird nicht durch bloße Vermittlung von Wissen, etwa über Frage und Antwort, sondern indem alle dazu 16 (1987), S. 227-237, sieht den Dialog als Ausdruck eines „existentiellen Moment[s] individueller Erfahrung“, wobei diese Erfahrung von der Didaxe nicht leicht zu trennen sei. Largier greift bei seiner Darstellung des Dialogs in der Vita einen Ausschnitt aus dem 30. Kapitel heraus, in dem sich zeigt, „wie der narrative Duktus der Autobiographie übergeht in ein Selbstgespräch der Seele, die sich Gott gegenüber öffnet und schließlich im folgenden Kapitel die Antwort findet im lebendigen Dialog mit Gott, der aus dem Zwiegespräch der Seele heraus die ganze Existenz transformiert“, S. 234. Die Dialoge im 19. und 20. Kapitel, die Largier nicht beschäftigen, sind aber vor allem Lehrdialoge zur terminologischen Klärung - wenngleich natürlich immer im Kontext der Lebensführung. Darauf verweist Largier selbst im Bezug auf das BdeW: „Die Lehre, die hier im Vordergrund steht bei der Begründung des dialogischen Verfahrens, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, wie stark Seuses literarische Praxis einem existentiellen Entwurf verbunden ist, der immer aus der Lebenssituation heraus denkt“, S. 235. 185 Zur Wichtigkeit des Sitzens als Kulturpraktik des Ruhigwerdens bei Seuse vgl. Susanne Bernhardt, Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses, S. 126f. Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 173 gehörenden Schritte des Lernens vollzogen werden. Dazu gehört für die Vita sowohl die narrative Einbindung in den Gesamttext, die kulturelle Einbindung in die liturgischen Praktiken und die rahmenden Erzählerkommentare als auch die Missverständnisse, die der Diener wiederholt formuliert und die in den Visionen wieder ausgeräumt werden. Diese Abfolge von narrativer Rahmung, Vision, Auslegung und innerer Transformation soll im Folgenden für das 19. Kapitel und dessen Vermittlung der paradoxen Konstellation von Lernen und Gelassenheit entwickelt werden, sowie im 20. Kapitel für die Darstellung der Investitur zum Ritter und die daraus abgeleiteten sorgfältigen Ausführungen von Qualität und Quantität des Leidens. 186 3.4.2 Das 19. Kapitel - Gelassenheit als Übung im Nichts-Tun Das 19. Kapitel ist nicht nur aufgrund der dialogischen Gestaltung von den vorhergehenden Kapiteln abgesetzt. Auffallend ist auch die Differenz der dort entwickelten Begriffssprache. Um die Leitvokabel gelâzenheit bildet sich ein Netz an abstrakter Terminologie, deren Unzugänglichkeit von der Figur selbst zum Thema gemacht wird. Eingeleitet wird auch das 19. Kapitel mit der bereits erwähnten narrativkulturellen Rahmung. Aus der liturgischen Praxis heraus wird die Vision eingeleitet als ein Erkennen in der inren gesiht (53,9f.). In dieser Vision tritt ihm ein Jüngling entgegen, der ihm verkündet, der Diener habe genug geübt und sei lange genug in der nidren sch  le (53,12) gewesen. Er werde ihn nun zu der h  hsten sch  le führen, damit er dort die h  hste kunst (53,14) lerne. Dieses höchste Wissen werde seinen heiligen Anfang zu einem seligen Ende bringen. Was es mit der Schule und dem Wissen auf sich hat, bleibt verborgen und so muss der Dieners nachfragen: waz ist dú h  hste sch  le und ir kunst, von der du mir hast geseit? (53,31f.) Doch die Ausführungen klären vorläufig wenig, da sie sich einer abstrakten Terminologie bedienen, die zu weiteren Nachfragen und Missverständnissen führt. Die hohe Schule und ihre Wissenschaft, so wird der Figur erklärt, sei nichts anderes als eine vollkommnú gelassenheit sin selbs (54,2f.). Der Begriff der Gelassenheit ist klärungsbedürftig und wird im Text mit dem nicht weniger klärungsbedürftigen Begriff der entwordenheit erläutert: Die Kunst der Gelassenheit bedeute, daz ein mensch stand in […] entwordenheit (54,3f.). In dieser Entwordenheit, in diesem Zustand des gelassenen Selbst, müsse der Mensch jederzeit verbleiben, wie auch immer sich Gott oder seine Mitmenschen zu ihm verhalten. Die abstrakte Terminologie führt zum Missverständnis: Dem Diener gefällt die Lehre, er möchte ihr gerne folgen, sie scheint ihm nicht allzu schwer. Das Missverstehen liegt auf der Ebene 186 Die Investitur wurde ausführlich von Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, v.a. S. 291ff., und Gisela Baldus, Die Gestalt des ‚dieners‘ im Werke Heinrich Seuses, v.a. S. 104ff., diskutiert, die auch Detailfragen nachgehen, wie etwa die allegorischen Deutungsmöglichkeiten der Rüstung. Mir geht es dagegen um die narrative Abfolge, in der das Bild nicht nur in der Vision präsentiert wird, sondern auch ausgelegt und im Dialog zwischen Diener und jungling diskutiert wird. Narrative Genese der Figur 174 des Verhältnisses zwischen Tätigkeit und Untätigkeit. Denn um die Kunst zu lernen möchte er buwen und vil unm  ssiges werk haben (54,11). Doch genau dieses tätige Werk verwehrt ihm sein Gesprächspartner: disú kunst will haben ein ledig m  ssekeit: so man ie minr hie t  t, so man in der warheit ie me hat getan (54,12ff.). Nach entwordenheit verwendet Seuse mit m  ssekeit einen zweiten schwierigen Begriff, um auszuführen, was unter Gelassenheit zu verstehen sei. 187 Die Formulierung vom weniger Tun im Hier, das ein größeres Tun in Gott sei, wird in einem Nachsatz weiter ausgeführt. Die Formulierung bedeute, dass man in der Tätigkeit das Selbst als Hindernis zwischen sich und Gott setze und ein unvermitteltes Gotteslob verhindere. Seuse umkreist mit entwordenheit und m  ssekeit, was unter gelassenheit sin selbs zu fassen ist, wobei vor allem das Selbst ins Zentrum rückt. Denn alle Begriffe zielen auf ein Konzept ab, in dem das Selbst in seiner Vermittlungsfunktion stillgestellt wird und das Nichtstun im Hier sich als vollkommene Tätigkeit in Gott erfüllt. Dabei geraten die Begriffe in eine paradoxe Spannung, die vor allem im Verhältnis von Lernen und Gelassenheit zu liegen scheint. Die Übungen als Habitualisierung, die mit der Semantik von sch  le, kunst, lernen, lisen eingeführt wird, steht in einem spannungsvollen Verhältnis zum Selbst, das untätig werden soll. Gelassenheit gerät so in die paradoxe Spannung zwischen Einübung und der Überschreitung der Übungen. Mit der paradoxen Formulierung der Gleichzeitigkeit von Tätigkeit und Untätigkeit bricht die Vision ab. Die Erzählsituation greift den Beginn des Kapitels auf, der Diener sitzt wieder in seinem Stuhl, er kommt, so heißt es, wieder zu sich und beginnt, über die Ausführungen zu nachzudenken. Die Vision bewirkt einen inneren Transformationsprozess. Denn der Diener erkennt, dass das Gehörte die lútru warheit selbst ist. Und er erkennt auch, dass seine Übungen bislang nur auf den äußeren Menschen und auf das Selbst zielten. Die Übungen führten nicht dazu, sich von den immanenten Bindungen zu lösen, sondern, im Gegenteil, blieben immer bezogen auf die Umwelt. Zentral für die folgende Entwicklung einer vita passiva ist die Formulierung, er sei noch ungelassen ze enpfahene fr  md widerwertikeit (54,22). Anstatt ganz auf Gott ausgerichtet zu sein, versteht der Diener, dass er abhängig ist vom Wohlwollen seiner Mitmenschen: Vor seinen Feinden erbleicht er, vor Leiden erschrickt und flieht er, bei Lob freut er sich und bei Tadel wird er traurig. Eine untätige Ausrichtung auf Gott, die in Freude und Leid gleich bleibt, hat er mit seinen Übungen nicht erreicht. Das Kapitel schließt mit der Frage, wann er ein 187 Auf die Ambivalenz, die dem Begriff müezecheit im Mittelalter anhaftet, verweist Burkhard Hasebrink, Zwischen Skandalisierung und Auratisierung. Über gemach und muoze in höfischer Epik, in: Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen, hg. von Burkhard Hasebrink und Peter Philipp Riedl, Berlin/ Boston 2014 (linguae&litterae 35), S. 107-130, mit Hinweis auf Seuse S. 129. Während müezecheit bei Hartmann von Aue „ethisch negativiert war“, wird sie bei Seuse positiv umgedeutet. Diese Umdeutung wird in der Vita selbst thematisiert, indem der Diener den Begriff erst missversteht und als das innere Untätigsein als äußeren Müßiggang deutet, vgl. die folgenden Ausführungen zum 20. Kapitel. Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 175 gelassener Mensch sein werde. Diese Frage wird im 20. Kapitel weiter ausgeführt. Dort fällt der abstrakte Begriff der Gelassenheit nicht mehr. Auf verschiedenen Ebenen wird aber entfaltet, wie die Gelassenheit im Umgang mit der fr  md widerwertikeit, mit dem unverschuldet zufallenden Leiden einzuüben ist. Anhand des Dialogs kann Seuse sein Konzept der Gelassenheit entwickeln und gleichzeitig absichern. In der Gesprächsform führt er vor, was Gelassenheit eben nicht bedeutet, nämlich eine Tätigkeit, sondern wie die innere Untätigkeit ein Absehen vom eigenen Selbst ist, das als Bewegung in die Einheit zu verstehen ist. Die Paradoxie des Konzeptes liegt auf der Ebene des Lernens und Übens. Denn Gelassenheit wird als Lernort, als Schule und gleichzeitig als Lerninhalt, als Kunst, formuliert. Gelassenheit scheint also ein Wissen zu sein, das es einzuüben gilt, ein Lernen des Nichtstuns. Die Übungen der hohen Schule werden in eine paradoxe Konstellation überführt. Das Üben und Erlernen von Gelassenheit, vom Lassen des eigenen Selbst, gerät in eine Spannung, da die Intentionalität der Übungen stillgestellt werden muss, um das Selbst als vermittelnde Instanz aus dem Gottesverhältnis herauszulösen und stattdessen ohne Vermittlung in Gott einzugehen. Die Unzugänglichkeit der Begriffe und das Risiko, diese falsch zu verstehen, greift das folgende 20. Kapitel auf, um davon ausgehend die Schule der Gelassenheit als Schule des Erleidens zu präzisieren. 3.4.3 Vom Begriff zur Anleitung - Die Umsetzung der Gelassenheit im 20. Kapitel Eingeleitet wird das 20. Kapitel mit dem Abbruch der Körperpraktiken, die der Diener freudig beendet und damit sogleich ein grundsätzliches Missverstehen produziert. Er möchte sich nun ausschließlich einer angenehmen Lebensweise widmen und hält alles Leiden für überwunden - ein Missverständnis der m  ssekeit, wie sie ihm im 19. Kapitel erläutert wurde. 188 Diese Fehldeutung macht die darauffolgende Vision umso plastischer, die nicht nur als Belehrung erscheint, sondern als Korrektur mit transformativer Wirkung. Denn durch die Einbettung in das Narrativ werden neben der Unterweisung auch die Reaktionen des Dieners - und das fortgesetzte Missverstehen - beobachtbar. Anders als in einem Lehrdialog werden also Ebenen sichtbar, die das Verstehen, Umsetzen und Vollziehen des visionär mitgeteilten Wissens zeigen. Nach neiswi meng wuchen (55,16), einer unbestimmten Zahl an Wochen nach dem Abbrechen der strapaziösen Körperaskese, wird das angenehme Leben unterbrochen durch eine Kontemplation über das Hiob-Wort militia est etc., des menschen leben uf disem ertrich ist nit anders denn ein riterschaft (55,19f.). Diese Unterbrechung wird durch die Zeitstruktur markiert: Die 188 Dass es sich um ein Missverstehen handelt, betont aus- und nachdrücklich auch der Erzähler: S  lich vermessen gedenke und derley invelle lúfen im als do umbe in sinen sinnen, owe, und wúste aber nút, waz got úber in hate gedaht! (55,13ff.). Narrative Genese der Figur 176 vielen Wochen als durative Zeitangabe werden abrupt beendet durch die Formulierung do geschach eins males (55,17). Von der betrachtung des Hiob- Wortes aus entsunken im die sinne und in dieser Wendung nach Innen wird die Vision von der Einkleidung zum Ritter erzählt. Das Bibelwort, über das der Diener kontempliert, wird in seinem Inneren weitergeführt. Die paraliturgische Bibellektüre wird in einem Akt göttlicher Bestätigung ausgeweitet und in ein Bild gefasst, das der Situation des Dieners adäquat ist. Die Worte der Bibel - das Leben, das eine riterschaft darstelle - werden im Leben des Dieners lebendig. Sie werden nicht nur literal gelesen und intellektuell verstanden, sondern bekleiden den Diener in dieser Vision in einem ganz wörtlichen Sinn: Von einem suber jungling erhält der Diener zwen kl  g ritersch  h und endrú kleider, dú riter pflegent ze tragene (55,23f.). Doch endet das Kapitel nicht mit dem Bild, das den Diener als übenden Ritter einkleidet, sondern hier erst beginnt der eigentliche Aneignungsprozess, in dem die Vision dem Diener immer weiter ausgelegt und erläutert wird. 189 In drei Schritten, die im Dialog zwischen Diener und Jüngling entfaltet werden, führt der Text vor, wie der Diener allmählich die neue Dimension des Leidens begreift. Die erste Reaktion auf seine Erhebung zum Ritter ist wieder ein Missverständnis. Denn die vermeintlich einfache Erhebung vom Knappen zum Ritter hätte er lieber selbst erkämpft. Daraufhin klärt ihn der Jüngling auf, dass ihm nicht nur genug Kämpfe zufallen werden, sondern auch, dass Gott die Fesseln, die band, schwerer machen werde. Auf diese Ankündigung folgt die zweite Unterweisung. Denn der Diener erschrickt und im Erschrecken liegt das Erkennen der künftigen Leiden. Die Erkenntnis drückt der Text in einer Klage des Dieners über die fortdauernden Prüfungen aus, derer doch genug sei. Die Antwort führt ihm dagegen den Umfang seines zukünftigen Leidens vor Augen: Du m  st ze grunde in allen dingen ges  chet werden, sol dir recht beschehen. (56,18f.) Das Kapitel wird eingeleitet mit dem Missverständnis, es komme nun ein angenehmes Leben. Dieses Missverständnis räumt der Text im Dialog aus, der die künftige Narration lenkt. In der mehrere Schritte umfassenden Auslegung des Hiob-Wortes erkennt der Diener, dass sein Leiden sein ganzes Leben umfassen muss. 189 Diesen Wechsel zwischen Vision und Auslegung führt Caroline Emmelius, Begnadung und Zweifel, als konstitutive Struktur für die Offenbarungen der Adelheid Langmann an: „Der Herr berichtet und erläutert ihr dann den Inhalt ihrer Vision. Aus dieser Interaktion entwickelt sich im Folgenden eine feste Struktur, die für die meisten der berichteten Visionen verbindlich wird: An die Visionen schließen sich Gespräche zwischen Adelheid und Gott an, der ihr das Gesehene auslegt und erläutert. Dieses Verfahren, sinnliche Erfahrung zu versprachlichen, indem sie zum Gegenstand eines Lehrdialogs wird, ist für die ‚Offenbarungen‘ der Adelheid spezifisch“, S. 321. Als Funktion dieser Struktur innerhalb der Konstruktion von Heiligkeit führt Emmelius die Neutralisierung der Zweifel an Adelheids Begnadung an. Die Funktion von Vision und Auslegung innerhalb der Vita Seuses ist dagegen viel stärker an die Figur des Dieners zurückgebunden, der meist sehr direkt formuliert, dass er das Gesehene nicht versteht oder aus den Visionen falsches Verhalten ableitet. Die Lehrdialoge bei Seuse scheinen darum eher ein Instrument der Klärung und Vereindeutigung, also stark an den Rezipientinnen orientiert. Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 177 Noch ist jedoch unklar, wie die Leiden beschaffen sein werden. Und wieder nutzt der Text die Möglichkeit des Dialogs, um diese Unklarheit in einer Frage des Dieners zu formulieren, die in der Antwort des Jünglings konkretisiert wird. Anstatt das Wissen statisch zu präsentieren, wird es dynamisiert, indem es über Fragen und Antworten ebenso erschlossen wird wie über die narrativen Zwischenstücke, die die Reaktionen des Dieners beschreiben. Die drängenden Fragen, die der Diener anspricht - exemplarisch für die Fragen der Rezipientinnen - sind Fragen nach Quantität und Qualität der Leiden. Die Quantität wird ihm metaphorisch mit dem Sternenhimmel erläutert: Könne er die Sterne zählen, so könne er auch seine künftigen Leiden zählen. Zur Qualität der Leiden, als Antwort auf die Bitte: ach herr, z  g du mir dú liden vorhin, daz ich sú wússe (56,26f.), führt der Jüngling ein Raster aus, das die zukünftigen Leiden näher bestimmt. Drei solcher Leiden beschreibt er ausführlicher, die dem Diener (und den Rezipientinnen) helfen sollen, Erfahrungen sinnstiftend zu deuten. Mit dem Raster der Leiden kann der Diener nun alles, was ihm widerfährt, abgleichen, um falsches von richtigem Leiden unterscheiden zu können. Die drei Leiden, die ihm erläutert werden, sind nicht nur Belehrung; sie sind stets antithetisch auf sein vergangenes Leben und Leiden bezogen und diskutieren auf der Metaebene des Dialogs, was bislang erzählt wurde. Über die Figur des Jünglings wird reflektiert, was die Narration bislang entwickelt hat. Gleichzeitig sind die beschriebenen Leidensformen auch eine Konkretisierung des 13. Kapitels. Der dort vorgegebene Weg in die gotheit über die leidende Menschheit Christi wird nicht mehr als Weg der körpermimetischen Angleichung dargestellt. Der Jüngling greift diesen Fehler des Dieners auf und korrigiert ihn mithilfe von Mustern, wie sie aus der Passion Christi bekannt sind. Markus Enders weist sehr dezidiert darauf hin, dass die drei Leiden die Christförmigkeit des Dieners anvisieren: „Alle drei Leidensformen sind von Gott gewollt und gegeben, weil sie den Diener christusförmiger machen und dem unbedingten Sohnesgehorsam Jesu nachgestalten sollen.“ 190 Interessant ist jedoch, dass die Vita an dieser Stelle die Angleichung an Christus nicht zum Thema macht, ja, die drei Leiden werden überhaupt nicht im Kontext der Passion genannt, sondern als Herausforderungen für den Diener, der in diesen drei Bereichen noch besonders unreif sei. Das Leiden als Angleichung an Christus dagegen taucht erst im 31. Kapitel wieder auf. Enders ist darum sicherlich auf der konzeptuellen Ebene Recht zu geben, die Leiden sind diejenigen, die der Diener in der Nachfolge Christi annehmen muss. Auf der Textebene aber vermeidet es die Vita geradezu, das Konzept der Angleichung anzuführen - da es immer die Gefahr der intentionalen Steuerung mit sich führt. Das erste Leiden greift die fr  md widerwertikeit des 19. Kapitels auf. Bereits dort wurde dem Diener mitgeteilt und so wird hier erneut insistiert, dass das selbstzugefügte Leiden der Körperaskese von den Grenzen der Furcht und des Erbarmens mit sich selbst beschränkt werde. Das Leitwort dieser ersten Konkretisierung des zukünftigen Leidens ist entsprechend das 190 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 142. Narrative Genese der Figur 178 Identitätspronomen selb. 191 Seuse spielt dabei mit den unterschiedlichen Verwendungsweisen, in denen selb auftreten kann. Das Selbst wird zum Mittelpunkt einer problematischen Eigenbezogenheit, was nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatisch ausgedrückt wird. Im ersten Satz führt der Jüngling die Konzentration des Dieners auf das selb aus: du schl  gde dich selben bis her mit dinen eignen handen [...] und hatest erbermde úber dich selb. (57,1f.) Aufgerufen werden die Kapitel, in denen der Diener sich in Praktiken der Körperaskese übt. Die aktive Mortifikation wird verdoppelt, indem nicht nur das Identitätspronomen das Reflexivpronomen dich verstärkt, sondern auch die Hände, die durch das Possessivpronomen eigentlich sprachlich ausreichend auf den Diener referieren, mit dem Adjektiv eignen verbunden wird. Alle Aktivität geht vom Diener selbst aus. Gleichzeitig aber hat die Aktivität im Leiden ihre Beschränkung ebenfalls im selb des Dieners. Denn da die Aktivität von ihm ausgeht, führt sie ihre Grenzen in ihm mit. Das Erbarmen mit sich liegt im selb und wird zum Selbst-Mitleid anstatt zur echten compassio Christi. Konsequenterweise wird dem Diener angekündigt, dass ihm das Selbst, das die Einheit mit Christus im Leiden verhindert, genommen werden muss: Ich wil dich nu dir selber nemen. (57,3) Der ständige Verweis auf das Selbst, das die Personalpronomina verstärkend auf die Figurenidentität verweisen lässt, setzt auf sprachlicher Ebene die Selbstbezogenheit um, die nun, im Erkenntnisprozess des Menschen, der gelassen sein möchte, aufgegeben werden muss. Denn dem Diener soll nicht nur die Verfügung über das selb genommen werden. Vielmehr sollen künftig andere über ihn verfügen, ohne dass ihm ein eigener aktiver Handlungsspielraum bleibe. Der Mitteilung des Selbstentzuges folgt unmittelbar die Ankündigung absoluter Passivität: Ich wil dich nu dir selber nemen, und wil dich ane alle wer den fr  mden ze handeln geben. (57,3f.) Damit wird an dieser Stelle auch auf der Wortebene Kapitel 19 aufgenommen. Der fr  md widerwertikeit, vor der sich der Diener fürchtet, korrespondieren die fr  mden, denen der Diener ausgesetzt wird. Die Kapitel referieren aufeinander und beleuchten in unterschiedlicher Perspektive immer wieder die gleiche Frage: Wie wird man ein gelassener Mensch. Die beiden anderen Leiden beschreibt der Jüngling in einer in der Vita wiederholt auftauchenden Kollokation. Es ist die Ankündigung absoluter Verlassenheit, eine Verwendungsweise von gelassenheit, die hier verbal verwendet wird: daz du baide, von got und von aller der welt solt gelassen werden. (57,20f.) Sowohl die sozialen Beziehungen als auch die Beziehung zu Gott sollen dem Diener entzogen werden. So wird er nicht nur unter der sozialen Isolation leiden, auch wird ihm kein Trost mehr zuteil werden. Die Verlassenheit von aller der welt wird als zweites Leiden ausgeführt und hängt eng mit 191 Das Identitätspronomen definiert Thordis Hennings, Einführung in das Mittelhochdeutsche, Berlin/ New York 2003, S. 172, folgendermaßen: „Bei dem Demonstrativum selp handelt es sich um ein Identitätspronomen. Im Unterschied zu jener weist es nicht auf das Entferntere, hin, sondern auf das Gemeinte zurück, übt also eine gegenüber jener konträre Funktion aus.“ Vgl. auch Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, S. 222, § M48, der die Verwendung als Adjektiv und Pronomen sowie die Flexion beschreibt. Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 179 dem Entzug der Anerkennung in seinen sozialen Beziehungen zusammen. Denn er habe eine liebs  chende natur, die nun keine Zuwendung mehr finden solle. Statt Treue und Freundschaft werde er Untreue und Leiden finden. Das dritte Leiden bezieht sich auf seine Beziehung zu Gott. Er habe bislang in g  tlicher s  ssekeit als ein visch in dem mer geswebt. (57,18ff.). Die Süße Gottes soll ihm entzogen werden und damit die Erfahrung der göttlichen Gnade, die Friedrich Ohly folgendermaßen beschreibt: „Seine [Gottes, Anm. S.B.] Süße ist keine Qualität des ruhenden Sichgenügens sondern eines Sich-erfahrbar- Haltens als eines Zugewandtseins zu Welt und Menschen, die zur Erfahrung seiner Süße aufgerufen und eingeladen sind [...]. Gottes Süße ist eine Qualität seines Erfahrenwerdens in der Erfahrung seiner Gnade.“ 192 Genau diese Erfahrung göttlicher Gnade, wie sie etwa in Kapitel fünf bis zwölf immer wieder thematisiert wurde, soll entzogen werden. Statt der intensiven Gnadenmomente wird dem Diener der Weg in die Gottverlassenheit gewiesen, in die alienatio, in der er in der völligen Entfremdung sich selbst und Gott verlieren muss. Der Jüngling fasst dem Diener das Gesagte zusammen: Daz ich dir es kúrze: alles, daz du an vahest dir ze lieb ald ze trost, daz m  ss alles hinder sich gan, waz dir leid und wider ist, daz sol alles fúr sich gan. (57,22ff.) Die Synthese, die der Jüngling aus dem Raster zieht, hat geradezu sentenzhaften Charakter. Komprimiert fasst er zusammen, was die Grundlinie des Leidens und damit des Wegs in das Leiden Christi ist. Das Raster der drei Leiden ist mehr als eine Vorankündigung. Das 20. Kapitel gibt dem Diener ein Programm an die Hand, das die abstrakte Terminologie des 19. Kapitel in konkrete Angaben überführt und Handlungsmuster und -anleitungen entwirft. Mit Hiob und der Ritterschaft werden dem Diener eine Vorbildfigur und ein Verhaltensmuster mit reichem Kontext zur Verfügung gestellt. 193 Die Auslegung der Ritterschaft konkretisiert das Bild weiter, sodass nicht nur das defizitäre Modell der Körperaskese suspendiert, sondern gleichzeitig ein neues Modell des Leidens entworfen wird. In programmatischen Formulierungen bringt der Dialogpartner des Dieners auf den Punkt, wie das Modell des Leidens sich gestaltet: Der Diener wird von nun an den fr  mden ze handeln geben und er wird von got und von aller welt [...] gelassen werden. Der Dialog erklärt sorgfältig, wie das richtige Leiden zu verstehen ist und worin es besteht. Auch der Lerneffekt, den der Unterweisungsprozess auslöst, kann anhand der Figur beobachtet werden. Die Reaktion auf die drei Leiden ist erneut Erschrecken, das in einer plastisch beschriebenen Szene dramatisch beschrieben wird. Die Worte des Jünglings erschrecken ihn so sehr, dass ellú sin natur erzitrete (57,25). In einem langen Satz wird inszeniert, wie der Diener auffährt, sich in einer Prostration auf den Boden wirft und mit schriendem herzen und mit húwlender stimme zu Gott betet. Die Satzteile sind parataktisch durch die Konjunktion und verbunden und bilden die raschen Bewegungen in der 192 Friedrich Ohly, Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik, Baden- Baden 1989 (Saecvla Spiritalia 21), S. 7. 193 Vgl. dazu Kapitel 2.2 Modellfigur und Figurenmodell. Narrative Genese der Figur 180 Erregung des Dieners ab. Die rhetorisch unmittelbar inszenierte Reaktion, die mit dem bewegten Vokabular und den rasch aufeinander folgenden und-Sätzen eine heftige Dramatik abbilden, wird unterbrochen durch ein neiswas in ime, das zu dem Diener spricht. An dieser Stelle antwortet die Rede des neiswas auf die Verzweiflung des Dieners und sichert ihm göttlichen Beistand zu: gehab dich wol! Ich wil selb mit dir sin und wil dir helfen, dis wunder alles gnedeklich úberwinden. (57,32) Die Stimme formuliert das Paradox der Verlassenheit. Während dem Diener unmittelbar zuvor mitgeteilt worden war, dass er nicht nur von den Menschen verlassen werde, sondern auch von Gott, tröstet ihn die göttliche Stimme nun mit der Versicherung, ihn nicht zu verlassen. Es ist diese Konstellation, die Markus Enders als „krönende[n] Schlussstein von Seuses Lehre der Gelassenheit“ 194 bezeichnet. In Bezug auf das BdeW führt Enders den prominenten Satz aus: ein gelazenheit ob aller gelazenheit ist gelazen sin in gelazenheit. Das theologische Konzept des Satzes erläutert er folgendermaßen: „Denn wer auch in der ungemein schmerz- und entsagungsvollen Erfahrung des eigenen Verlassenseins von Gott dennoch der für ihn unbegreiflichen Verfügung des göttlichen Willens übereignet und damit Gott selbst restlos hingegeben bleibt, hat die höchste, von jeder Selbstbezogenheit reine Stufe menschlicher Gottesliebe erreicht und ist darin dem Gottessohn in die Finsternis seines inneren Leidens an der Erfahrung seines eigenen Verlassenseins vom göttlichen Vater am Kreuz gefolgt.“ 195 Was Enders konzeptionell ausführt, breitet die Vita aber nicht explizit aus. Der Text sagt nicht direkt, dass der Diener nun dem Gottessohn folgen müsse, dass seine Verlassenheit ihn Christus angleichen werde. Der Dialog, die Erläuterungen und der Vollzug des Gehörten in der Aufgabe des Eigenwillens führt vielmehr vor, wie der Diener das Gehörte auf sein eigenes Leben bezieht. Zudem wird die Konstellation aus Gottverlassenheit und Gottvertrauen in der Auslegung der Hiob-Betrachtung ausgeführt, lässt sich also auch auf diese biblische Figur der typologischen Ankündigung lesen: Von den Menschen verlassen und von Gott bleibt Hiob standhaft in seinem Gottvertrauen. Natürlich sind die theologischen Konzepte ständig greifbar. Narrativ umgesetzt aber werden sie von der Figur. Es kommt der Vita nicht allein auf die Vermittlung der bekannten Konzepte an, sondern vor allem darauf, wie die Konzepte im Leben der Figur vollzogen werden, wie sie sich diese aneignet, darauf reagiert, sie missversteht und schließlich beginnt, sie im Vollzug zu verstehen. Obwohl sie theologisch auf die komplexe Aussage des BdeW bezogen werden kann, wie Enders dies tut, ist die Art der narrativen Darstellung doch eine ganz andere. Die göttliche Mitteilung, ihn auch in den Momenten der äußersten Verlassenheit nicht allein zu lassen, führt zu einer erneuten Unterbrechung. Mit dem göttlichen Wort nämlich bricht die Vision 194 Markus Enders, Die ‚höchste Schule‘ (des Leben): Seuses Lernen der ‚Kunst wahrer Gelassenheit‘ in seiner Konstanzer Zeit, in: Heinrich-Seuse-Jahrbuch, hg. von Markus Enders, Berlin 2009 (Heinrich-Seuse-Jahrbuch 2), S. 67-94, hier S. 93. 195 Ebd. Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 181 ab, die mit der Betrachtung des Hiob-Wortes begonnen hat. Und sie bricht ab mit der Umsetzung dessen, was zuvor gefordert worden war. Der Abbruch der Vision steht in auffälligem Gegensatz zu den ausführlich geschilderten Bildern, Dialogen und narrativen Zwischenstücken: Er st  nd uf und ergab sich in die hend gotes. (58,1f.) Die ganze Vision führt vor, wie der Diener sich das Hiob- Wort aneignet, indem es erst in ein ihm adäquates Bild überführt - die Investitur zum Ritter - und dann in dem langen Dialog ausführlich ausgelegt wird. Am Ende steht die transformierte Figur, die sich ganz der Gnade Gottes überlässt. Der Lernprozess wird als Vollzug dargestellt. Nicht allein die Vermittlung von Wissen, sondern auch dessen Aneignung wird erzählt. Der Erzählabbruch bildet diese Aneignung als Einsicht ab, dass Gelassenheit im Aufgeben des Eigenwillens und in der Übereignung des Selbst an Gott besteht. Die narrative Vita kann nicht nur darstellen, wie das Leiden beschaffen sein soll, sondern auch, wie es unmittelbar zur Anwendung kommt. Die Selbstaufgabe des Dieners ist der in mehreren Schritten performativ vorgeführte Vollzug dessen, was ihm im ersten Leiden von der fr  md widerwertikeit mitgeteilt wurde. Dieser Vollzug, die Anwendung des Gehörten, wird im 20. Kapitel weitergeführt, indem auf die Auslegung des Hiob-Wortes weitere kurze narrative Szenen folgen, die alle das künftige Leiden zum Thema haben. Die wichtigsten Szenen sind die Fußtuch-Szene, eine Rosenbusch-Vision und die Bemalung seiner Kapelle mit Zitaten der Altväter. Besonders prominent ist die Fußtuchepisode, die von Michael Stolz als conversio-Szene in der Tradition von Augustinus gelesen wird. 196 Sie folgt unmittelbar auf die Selbstaufgabe des Dieners und wiederholt die Einsicht in das anzunehmende Leiden. Der Diener wird von einem neiswas in seinem Inneren dazu aufgefordert, aus dem Fenster zu schauen. Der Lernprozess wird von dieser Stimme ganz explizit gemacht: l  g und lern! (58,5). Der Diener sieht einen Hund, der ein Fußtuch im Mund zerbeißt. Die Stimme legt ihm das Gesehene aus, um jegliches Missverständnis vorzubeugen: So wie das Fußtuch werde auch der Diener zum Objekt der Aggressionen seiner Mitbrüder. Im narrativen Aufbau des Kapitels ist die Fußtuchepisode eine Visualisierung des Leidensrasters, die anzeigt, dass der 196 Die Szene wird interpretiert als grundlegende Einsicht des Dieners, die die Wende in die Gelassenheit begründet. Michael Stolz, Altitudo contemplationis humanae. ‚Conversio‘ bei Francesco Petrarca und Heinrich Seuse, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, hg. von Nicola McLelland, Hans-Jochen Schiewer und Stefanie Schmitt, Tübingen 2008, S. 273-297, v.a. S. 286ff., liest die Episode als ‚Conversio‘, die nicht nur auf die Vitaspatrum rekurriere, sondern vor allem die tolle-lege-Szene aus den Confessiones des Augustinus aufgreife, die in der Aufforderung l  g und lern (58,5) implizit präsent gehalten werde, S. 289. Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, S. 414, liest sie vor der Folie der Vitaspatrum, wo sich eine „vom Gehalt her ähnliche Szene [...] im 7. Buch der VP [findet].“ Die Vitaspatrum als literarisches Modell für die Fußtuchepisode ziehen auch Louise Gnädinger, Das Altväterzitat im Predigtwerk Johannes Taulers, in: Unterwegs zur Einheit. Festschrift für Heinrich Stirnimann, hg. von Johannes Brantschen, Freiburg/ Ue. 1980, S. 253-267 sowie Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, heran. Narrative Genese der Figur 182 Diener beginnt, sich das ihm Mitgeteilte innerlich anzueignen. Das Wissen um Gelassenheit, das nach dem 19. Kapitel vorerst zum Missverständnis eines angenehmen Lebens führte, wird in einen Erkenntnisprozess überführt, der dem Diener immer mehr Bilder und Anknüpfungspunkte zur Verfügung stellt. In immer neuen Anläufen schafft das 20. Kapitel eine dichte Abfolge von visionären Bildern, die die Abstraktheit des 19. Kapitels illustrieren und von Anweisungen und hermeneutischen Auslegungen der Bilder; in einem letzten Schritt zeigt es die unmittelbare Umsetzung dessen, was dem Diener mitgeteilt wurde. Das Wissen bleibt so nicht auf einer intellektuellen Ebene, sondern wird im Vollzug, in der Umsetzung, dargestellt. Die Wendekapitel 19 und 20, in denen systematisch die Stufe des fortschreitenden Menschen eingeführt wird, sind kunstvoll gestaltet. Diese Kunstfertigkeit betont bereits Georg Misch, der sie als „großartigen Eingang“ bezeichnet. 197 Auffällig ist der Wechsel zwischen den Sprachregistern, der von einer anspruchsvollen Fachterminologie im 19. Kapitel über die lebendigen Dialoge bis zur poetischen Ausgestaltung der Rosenbuschvision reicht. Misch wertet allerdings die folgenden Kapitel 21 bis 30 massiv ab gegenüber der sorgfältigen Komposition und der ineinander übergehenden Bildbereiche der Visionen. 198 Er geht so weit, die Autorschaft Seuses für die seiner Meinung nach literarisch anspruchslosen Kapitel in Zweifel zu ziehen und verkennt so die literarische Technik, die Seuse anwendet, um das abstrakte Wissen anhand des erzählten Erlebens der Figur zu entfalten. Die Kapitel sind weder unverbunden noch unkonzipiert. Sie weisen - das wird zu zeigen sein - eine dramatische Steigerung auf, die letztlich zum in der Diskussion zum Strukturkapitel bereits analysierten Sterben mit Christus im 30. Kapitel führt. 3.4.4 Auserwählt zu leiden - Die Zeichen der Christusnachfolge im 22. Kapitel Bevor der Diener in den Kapiteln 23 bis 30 dem äußeren Leiden ausgesetzt ist, wird im 22. Kapitel sein Weg in die Heiligung von dritter Seite bestätigt und die Erzählung des Leidens selbst ein letztes Mal retardiert. Die inneren Leiden wurden in Kapitel 21 bereits erzählt. Darum erscheint das 22. Kapitel als narrative Überleitung von den inneren Leiden zu den Leiden, die nun von außen zufallen werden. Der Diener, der im 22. Kapitel die Abgeschiedenheit des Konvents verlässt und sich der Seelsorge im Umland widmen muss, wird in 197 Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 4,1, S. 285. 198 „Der umfassende, acht Druckseiten lange Eingang [...] ist nun aber auch das Bedeutendste an diesem ganzen Abschnitt. Es folgen eine längere Reihe von Stücken, die dazu bestimmt scheinen, zu zeigen, wie das grundsätzlich Dargelegte von Seuse im Verlauf seines Lebens bewährt worden ist, aber in diesen biographischen Kapiteln macht sich die Lust am Fabulieren in freierer Weise geltend, so daß das Interesse mehr an den erzählten Geschichten als an der Deutung des Geschehens haftet [...] Der Unterschied des geistigen Niveaus gegenüber dem Eingang ist zuweilen so groß, daß man auch hier wieder stellenweise an der Autorschaft Seuses irre wird.“ Ebd., S. 294. Unterweisung in die gelassenheit (Kap. 19-22) 183 sein Leiden nicht ohne zeichenhafte Versicherung entlassen, dass er auserwählt sei, Christus im Leiden nachzufolgen. Anna, eine gaischlichú tochter (63,14) des Dieners, die selbst dezidiert als userwelter[r] gotesfrúnd (63,13) bezeichnet wird, möchte ihn, noch bevor sie ihn kennt und von ihm seelsorgerisch betreut wird, gerne einmal sehen. In einer Vision wird ihr angekündigt, sie werde zu ihm kommen und ihn sehen - woraufhin sie befürchtet, ihn unter seinen Brüdern nicht zu erkennen. Die Vision aber teilt ihr Zeichen mit, die den Diener unter seinen Brüdern hervorheben, die ihn als Auserwählten kenntlich machen. Diesen Zeichen werden unmittelbar Bedeutungen zugeordnet: er hat einen gr  nen ring umb sin hobt, der ist umb und umb mit roten und wissen rosen vermischet under enander als ein r  sin schapel, und betútend die wissen rosen sin lúterkeit und die roten rosen sin gedultkekeit in menigvaltigem liden, daz er m  z erliden. (64,7) Es ist, wie die Stimme weiter ausführt, ein Ring, der in Analogie steht zum goldenen Heiligenschein. Während dieser auf die ewige Seligkeit verweise, zeige der Rosenkranz die menigvaltikeit des lidens, daz die lieben gotesfrúnde m  ssent tragen, die wil sú noch in der zit mit ritterlicher  bung got diendend sind (64,14ff.). Die ritterliche Übung greift auf das 20. Kapitel zurück, auf die Einkleidung des Dieners zum Ritter, die beiden Bilder, der Ritter und der Rosenkranz des Leidens, gehen ineinander über. Die vielen Bilder, die die Vita entwirft, um auf das Leiden in immer neuen Facetten hinzuweisen, fungieren erzähltheoretisch als Prolepsen. Der Diener selbst fragte im 20. Kapitel, wie viele Leiden ihm zufallen werden und erhielt als Antwort den Blick zum Sternenhimmel zu erheben. Leiden wie Sterne, wie Ritterkämpfe und wie Vielfalt der Rosen seines Kranzes, diese Bilder bereiten nicht nur den Diener vor, sondern sie entsprechen auch einer Dramaturgie des Textes. Denn nun möchte man wissen, wie die Leiden aussehen, die dem Diener in vielfältiger Weise vorhergesagt wurden. Das 22. Kapitel dient auf der narrativen Ebene also auch als letzte Retardation, bevor der Text preisgibt, welche Leiden auf dem Weg zu Gott zu ertragen sind. Auf der religiösen Ebene wird die Frage nach der Auserwähltheit von mehreren Seiten bestätigt. In dieser Vision und in dem dazu gehörenden Bild, wird eine Ikonographie entwickelt, die den Diener als Heiligen in der Zeit kennzeichnet. „Ferner ist der Rosenkranz [...] ein Hinweis auf die Aufzeichnung und Auserwählung des Protagonisten. [...] [D]er mit Rosen bekränzte Mönch [integriert sich] in eine Tradition mystischer Bild- und Seelenlehre, die sich - immer wieder und bei Seuse sehr produktiv - um die Rose rankt.“ 199 199 Hildegard Elisabeth Keller, Rosen-Metamorphosen. Vom unfesten Zeichen in spätmittelalterlichen Texten: Heinrich Seuses ‚Exemplar‘ und das Mirakel ‚Marien Rosenkranz‘, in: Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst, hg. von Urs-Beat Frei und Fredy Bühler, Bern 2003, S. 49-67, hier S. 53. Sie liest die Rose als Zeichen, das umcodiert wird. So sieht sie die Rose im achten Kapitel, in dem der Diener ein geistliches Kranzsingen dem weltlichen Kranzwerben gegenüberstellt, als Zeichen für die passio amoris, die ab dem 20. Kapitel in ein Zeichen für die passio crucis umcodiert wird, vgl. S. 57. Auch die Rose, so zeigt Keller, ist eine Struktur, mit deren Hilfe die postulierte Narrative Genese der Figur 184 Die Zeichen, die der Diener trägt, werden bereits in der Vision ausgedeutet, eröffnen aber einen noch viel weiteren Referenzrahmen. Die weiße Rose öffnet die Perspektive auf Maria, deren Reinheit mit dieser Blume verbunden wird. Maria als Begleiterin der Seele auf ihrem Weg durch die Passion Christi wird hier zitiert. Die rote Rose wird ikonographisch dagegen nicht nur mit dem Leiden des Dieners assoziiert, sondern versinnbildlicht im Allgemeinen das Martyrium Christi. Während dem Diener im 20. Kapitel die Angleichung an Christus gerade nicht expliziert wurde, wird im 22. Kapitel gleich doppelt und dreifach eine zeichenhafte Angleichung im Bild der Rose vorgenommen. Denn Anna sieht als Zeugin in einer Vision den erwählten Diener, der durch eine Rosenkrone und einen Heiligenschein ausgezeichnet ist. Und nachdem Anna seine Erwählung bezeugt hat, wird auch dem Diener selbst in einer zweiten Vision eine Stigmatisierung gezeigt: Auf seinen Händen erblüht eine Rose. Damit alle Rezipientinnen verstehen, was diese Vision bedeutet, wird sie ihm ausgelegt: es betútet liden und aber liden, und och liden und aber und och liden, daz dir got wil geben. (64,32f.) Diese rhetorische Hyperbolik nimmt die folgenden Kapitel vorweg, die eben genau dieses liden und liden und liden narrativ entfalten. Verdreifacht wird die Bestätigung der Erwählung des Dieners und die Unermesslichkeit seiner Leiden, indem beide Visionen auch noch als Bild präsentiert werden. 200 In Handschrift A befindet sich die zweiteilige Miniatur auf der Doppelfolioseite mit dem Anfang des Kapitels 23. 201 Sie stellt in der oberen Bildhälfte den Diener dar, der von seinen Mitbrüdern umgeben ist, die ihm alle sehr ähnlich sehen. Der Diener aber ist, wie im Text beschrieben, durch einen Rosenkranz gekennzeichnet. Darüber hinaus wird seine Figur durch das IHC-Monogramm hervorgehoben, ein Engel zeigt auf ihn und ebenso, am linken oberen Bildrand, die dextera Dei. In der unteren Bildhälfte ist Anna zu sehen, die durch die Beischrift ihres Namens klar dem Text zugeordnet wird. Sie kniet neben einem Engel und betrachtet die Vision in der oberen Bildhälfte. Jeffrey F. Hamburger weist bei diesem Bild darauf hin, wie stark die Zeichnung konvergiert mit Darstellungen weiblicher Heiliger, vor allem mit Mariendarstellungen. Die Figur des Dieners wird in einer Pose der Demut gezeigt, „[l]ike the Virgin Annunciate, Seuse is puzzled by the message from on high, which, the angel explains, ‚means suffering and more suffering, and some more suffering and still more suffering that God whishes to give you.‘ In body as in mind, Seuse represents himself as the ideal exemplar for his female Notwendigkeit des Leidens bildlich umgesetzt wird. Ihre Studie arbeitet sehr detailliert am Text, weshalb ich mich hier auf einige Linien beschränken kann. 200 Zu der Zeichnung, die die beiden gesihte visualisiert, vgl. Hildegard Elisabeth Keller, Rosen-Metamorphosen. Vom unfesten Zeichen in spätmittelalterlichen Texten, S. 58. Eine Beschreibung der Zeichnung findet sich bei Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 22f. 201 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 62 (folio 28 v ). Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 185 audience.“ 202 Hamburger interpretiert das Bild weiter hinsichtlich der Funktion Annas, die im unteren Bildteil dargestellt ist. Die Aufteilung des Bildes allein zeige die Herausgehobenheit des Dieners: „The image implies that whereas Seuse has immediate access to divine reality, for Anna, as for Seuse’s other female followers, it can only be experienced through the mediation of his example, understood as both his person and his text.“ 203 Man beginnt von den Leiden zu lesen und hat gleichzeitig die Miniatur der Auserwählung vor Augen, wobei die Auserwählung nicht nur durch den Rosenkranz der Vision angezeigt wird, sondern auch durch die Umarmung des Engels und die dextera Dei. Der so Ausgezeichnete, die Figur, die über die Rosensymbolik bereits ein Zeichen des Leidens trägt, löst in den folgenden Kapitel ein, was ihr über die Zeichen bereits zugeschrieben wurde. Sie wird Träger von liden und aber liden, und och liden. Dieses Bild ist auch unter einem weiteren Aspekt bemerkenswert: Es ist die letzte Zeichnung des ersten Teils. Nachdem in Vision und in Zeichnung das Leiden und die Auserwählung des Dieners offensiv ins Bild gesetzt wurde, fallen die Zeichnungen weg. Die Vita vollzieht auf der Ebene der medialen Umsetzung die Forderung, die am Ende der Vita steht, nämlich die Bilder mit Bildern austreiben. Schritt für Schritt werden die Bilder reduziert; zuerst fallen die materiellen Zeichnungen weg, um am Ende in der Auflösung der Figur als Vorbild zu gipfeln. Nicht nur der Inhalt und der Text-Bild-Bezug ist relevant, sondern auch, wo die Zeichnungen eingesetzt werden. Mit dem Beginn der fr  md widerwertikeit fallen die Zeichnungen weg. Es stehen nicht mehr die Andachtspraktiken im Vordergrund, die eine imaginative Auseinandersetzung mit dem Leiden Christi anvisieren, sondern das Leiden selbst formt von nun an das Erleben der Figur. 3.5 Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 3.5.1 Die modifizierte Erzählwelt - Räume, Figuren, Zeit Das 23. Kapitel, das zu Beginn der aneinandergereihten Leidenskapitel steht, endet mit einer kurzen Vision. Ein seliger gotesfrúnd (70,1) kommt zum Diener, der im vorhergehenden Kapitel verschiedenen Gefahren und Leiden ausgesetzt war. Die Gottesfreundin 204 berichtet dem Diener, wie sie Gott mit ihren inren ogen auf dem göttlichen Richterstuhl sitzen sah. Gott schickt dem Diener zwei Ordensobere, die seine Schriften als ketzerlichen unflat anklagen. Was sie sieht, wurde zuvor ausführlich erzählt, nämlich die Reise des Dieners zu einem Dominikanerkapitel in die Niederlande, wo Schriften von ihm zur Anklage 202 Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning, S. 436. 203 Ebd. 204 Das Geschlecht lässt sich nicht genauer bestimmen, da kein Personalpronomen verwendet wird. Da die meisten Visionen, die den Diener betreffen, in der Vita von Frauen berichtet werden, verwende ich hier analog das weibliche Personalpronomen. Narrative Genese der Figur 186 kamen. 205 In der Vision fragt die Gottesfreundin nun, warum Gott diese beiden b  s geiste aussandte, von denen der Diener biter liden erfahren musste. Sie erhält folgende Antwort: do han ich in mir userwelt, daz er in s  licher lidender wise na minem einbornen sun gebildet werde (70,10ff.). Mit dieser mehr als deutlichen Erklärung erhält nicht nur besagte Gottesfreundin eine Erläuterung, sondern auch alle Rezipientinnen eine Erinnerung daran, worum es in den Leidenskapiteln eigentlich geht: Um die Angleichung an Christus in der Nachbildung seiner Leiden. Was dem Diener im 20. Kapitel angekündigt wurde, nämlich die Erniedrigung in der Welt und die Verlassenheit von allem Menschen und von Gott, wird in dieser Vision ganz explizit als Weg in die Angleichung Christi gedeutet. Der Diener soll nach dem Gottessohn gebildet werden, womit das Leiden eine sinnstiftende, ja eine transgredierende Funktion erhält. Er wird durch das Leiden nach dem Bild Christi geformt, sein Selbst wird transformiert in die Modellfigur schlechthin. Eingeführt wird nun die für Seuse spezifische Lebensform einer vita passiva, die das Leiden ins Zentrum der Gotteserfahrung rückt. Die Ankündigung im 20. Kapitel führt nicht nur eine inhaltliche Änderung, sondern eine ganz andere erzählte Welt ein: Die Welt außerhalb des Klosters, die aufgrund des Seelsorgebefehls im 22. Kapitel eingeblendet wird. Die Figur wird nun nicht mehr nur innerhalb ihres abgegrenzten Raums im Kloster dargestellt, der Raum erweitert sich. Räume, die noch nicht beschritten wurden oder werden mussten, öffnen sich. Ganz maßgeblich beteiligt an der Konstruktion der religiösen Figurenidentität im Außenraum sind andere Figuren, die bis lang kaum präsent waren. Die Erzählwelt ändert sich grundlegend; der Schnitt und die Wende, die in den Kapiteln 19 bis 22 angekündigt wurden, führen zu gänzlich modifizierten Räumen und Figurenkonstellationen. Im Folgenden soll diese Neuausrichtung des Erzählens mit Fokus auf Raum, Figuren und Zeit näher beschrieben werden. Im zweiten Teil werden die Räume sehr konkret benannt. Sie werden durch Toponyme wie stat, convent oder jarmarkt an einen Sozialraum zurückgebunden oder sogar durch konkrete, außertextuell-faktuale Eigennamen kartographisch nachvollziehbar: Strasburg wird zum Reiseziel des Dieners ebenso wie die Niderlant, von denen er am Rin, am Rhein, entlang 205 Diese Episode hat in der Forschung eine lange Diskussion über die Datierung des BdeW und BdW ausgelöst. Ebenso wurde diskutiert, welches Provinzkapitel der Dominikaner in Frage käme. Vgl. Pius Künzle OP, Einführung, in: Heinrich Seuses Horologium Sapientiae. Erste kritische Ausgabe unter Benutzung der Vorarbeiten von Dominikus Planzer OP, hg. von Pius Künzle OP, Freiburg/ Ue. 1977 (Spicilegium Friburgense 23), S. 1-360, hier S. 29. Im Kontext der Vita möchte ich diese Episode vor allem im Zusammenhang mit der oben analysierten Vision der Gottesfreundin lesen, also auf textstruktureller Ebene. Der Text stellt dar, wie der Diener auch durch seinen Orden und ihm dort missgünstige Mitbrüder Leiden erfährt, die sich als Gottesprüfung herausstellen. Nimmt man die Rezipientinnen in den Blick, so zeigt diese Episode, dass auch Missgunst innerhalb des Ordens Teil der Leidensprüfungen sein können. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 187 zurückreist. 206 Es ist ein konkreter Raum, der über raumreferentielle Bezeichnungen hergestellt wird. Doch sind die Räume nicht nur als ‚Container‘ zu sehen, als stabile Größen, die unveränderlich, statisch bleiben. 207 Es sind auch Räume, die mit und von den Akteuren, die sie bevölkern, modifiziert werden. Die Räume erhalten dabei eine einzige Funktion: Sie sind die Schauplätze, auf denen das Leiden des Dieners, wie es ihm im 20. Kapitel angekündigt wurde, vollzogen wird. Das zeigt sich auch daran, dass die Räume keine eigene semantische Markierung besitzen. Anders als die herausragenden Räume der fiktionalen Literatur - etwa Isenstein im Nibelungenlied, der Brunnen im Iwein 208 -, die alle eingehend beschrieben werden und einen semantischen Eigenwert in ihrer aufgeladenen Funktion als Anderwelt oder ihrem Kontrastverhältnis zum Artushof besitzen, sind die Räume in der Vita kaum markiert. Sie sind soziale Räume (Stadt, Konvent) oder Naturräume (Wald, Fluss) und sie werden erst in jenem Moment gefährlich, in dem der Diener sie betritt. Erst die Bewegung der Figur im Raum lädt diesen mit Bedeutung auf, semantisiert ihn. Ebenso haben die Figuren, die auftauchen, nur eine einzige Funktion: Sie müssen dem Diener Schaden zufügen. Bis auf diejenigen Figuren, die als Retter auftauchen, erhalten die Akteure in Stadt, Jahrmarkt und Wald kaum Konturen. Die Konstellationen der Figuren sind aber immer auch Bedeutungskonstellationen: „Das Ensemble der Figuren in einem narrativen Text ist selten nur eine amorphe Masse, sondern ist unter Gesichtspunkten gegliedert, die auch 206 Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 50), weist in einer kurzen Ausführung daraufhin, dass Seuse von Wald und Weg in zweierlei Weise spricht. Einerseits übernehme er „aus dem Artusroman das Motiv des Weges im Wald mit etlichen seiner typischen Züge“ und beziehe ihn „metaphorisch auf den christlichen Lebenslauf“, S. 178. Dabei bezieht sich Trachsler auf den X. Brief des Großen Briefbuchs, in dem Seuse den Weg durch das anfangende Leben als Weg durch den wilden walt (434,12) bezeichnet. Andererseits verwende Seuse „den Wald nicht nur in bildhafter Rede“, S. 180. Damit bezieht sich Trachsler auf das 26. Kapitel der Vita, in dem der Diener einen Wald durchqueren muss. In der Vita sind die Räume tatsächlich so stark an reale Ortsnamen gebunden, dass eine metaphorische Lektüre - den Wald als Gefahrenquelle für den anfangenden Menschen - sich nicht anzubieten scheint. 207 So konzipiert Kathrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin/ New York 2009 (Narratologia 22), in ihrer narratologischen Arbeit den Raum. Sie greift dabei auf evolutionspsychologische Schemata der Raumwahrnehmung zurück, die sie auf Erzähltexte überträgt. 208 Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, hat in seiner grundlegenden, kulturanthropologisch orientierten Monographie ein eigenes Kapitel ‚Räume‘. Isenstein gehört dabei zu den fremden Räumen, die gefährlich werden, sobald die Grenzen zwischen den Räumen überschritten werden, vgl. S. 303ff. Zum Raum im Artusroman arbeitet Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/ New York 2007, die sich in ihrer Arbeit neben der Zeit explizit den erzählten Räumen widmet. Sie beschreibt den Brunnen im Iwein als kontrastierenden Fixpunkt zum mobilen Artushof, S. 50ff. Sie arbeitet für die Artusromane im Allgemeinen heraus, dass dem „beweglichen Zentrum Artus“, feste Orte entgegengesetzt werden, „Strebepfeiler für die Imagination“, S. 50. Narrative Genese der Figur 188 Schlußfolgerungen auf die relevante Kommunikationsabsicht des Textes erlauben. Handlungsbezogene Muster, z.B. Protagonist und Gegenspieler, oder bedeutungsbildende Muster, z.B. Parallel- und Kontrastfigur, sind die wesentlichen Elemente.“ 209 Die Figuren stehen in einer spezifischen Verbindung zum Diener: Sie sind diejenigen, die ihm die fr  md widerwertikeit zufügen, die ihn verlassen und ihn seiner Ehre berauben. Ihre Konstellation gliedert sich aus dem Text heraus, sie ist inhaltlich vorgegeben durch die Erläuterungen des Leidens im 20. Kapitel. Im Gegensatz zu eher formalen narratologischen Figurenentwürfen, kann man die Figurenkonstellation viel konkreter fassen, um die „relevante Kommunikationsabsicht des Textes“ zu beschreiben: Die anderen Figuren erfüllen, was im 20. Kapitel vorgegeben wurde. In einem Exempel, das der Diener im zweiten Teil Elsbeth Stagel weitergibt und das eine seiner Leidenserfahrungen beschreibt, klagt er über die Bosheit seiner Mitmenschen. Daraufhin wird ihm mitgeteilt, dass er, wolle er Nachfolger Christi sein, so wie dieser nicht nur seine ihm wohlgesonnenen Freunde um sich scharen dürfe, sondern auch seinen Judaz liden müsse (125,33). Judas wird umgedeutet, er ist nicht der Verräter Christi, sondern gotes mitewúrker (126,5). Denn durch die Leiden, die ihm, dem Diener, durch seine verleumderischen Mitmenschen zukämen, werde sein Bestes bewirkt - letztlich die Angleichung an Christus. Damit kommt allen Mitmenschen potenziell die Rolle des Judas zu, die durch Verrat die Erniedrigung in der Welt und die Erhöhung vor Gott erst bewirken. Die Kommunikationsabsicht des Textes, nämlich die Einübung des Dieners in die von außen kommenden Leiden, wird anhand dieser Gegenspieler dargestellt. Als narrative Struktur taucht das iterative Erzählen wieder auf, allerdings ebenfalls in modifzierter Form. Im immer ähnlichen Ablauf von ‚Ankunft - Gefahr und Leiden - Rettung im letzten Moment‘ bildet die Vita narrativ die Habitualisierung an die Leiden ab, die dem Diener als Prüfungen zufallen. Die Kapitel werden aneinandergereiht, wobei der Reihencharakter besonders im 23. Kapitel deutlich zutage tritt, das mehrere Episoden nacheinander schaltet. Formulierungen wie eins mal, es geschah an ainer andern stat oder ze einer zit reihen die Episoden, ohne sie zu verbinden. Die Form der iterativen Reihung ist bekannt, allerdings führt die Vita hier einen entscheidenden temporalen Unterschied ein. Im ersten Teil wurden Praktiken der Klosterkultur vorgeführt, die von der liturgischen Zeit reguliert werden. Die liturgische Zeit, wie sie in den Gebetszeiten und im liturgischen Jahr organisiert ist, weist eine Doppelstruktur von linearen und zyklischen Elementen auf. 210 Zum einen ist sie linear, da sie das Leben Christi erinnert und nachvollzieht. Gleichzeitig ist die liturgische Zeit aber auch von einem starken Wiederholungsgestus geprägt. Die Gebetszeiten wiederholen jeden Tag den kommemorativen Nachvollzug, das liturgische Jahr wiederholt sich jedes Jahr. Im ersten Teil der Vita wird im 209 Fotis Jannidis, Person und Figur, S. 107. 210 Zur Spannung zwischen zyklischer und linearer Zeitgestaltung in der Liturgie vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 3. Auflage, Darmstadt 2005, S. 422ff. Zu Zeit und Liturgie vgl. auch Éric Palazzo, Liturgie et société au Moyen Âge, Paris 2000, vor allem das Kapitel ‚La Liturgie et le temps‘, S. 98-123. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 189 Erzählen diese Doppelung von Reihung und Wiederholung dargestellt. Die Kapitel sind zwar aneinander gereiht und nur verbunden über die großen Themenkomplexe Vision, liturgisches Jahr und Körperaskese. Gleichzeitig wird die iterative Reihung mit Tempus-Markern kombiniert, die auf die Wiederholbarkeit der einzelnen Episoden abzielen, beispielsweise in Kapitel sieben, in dem die ersten drei Übungen, mit denen der Diener seine Mahlzeiten versieht, stets mit so eingeleitet werden, einem temporalen immer dann, wenn. Durch die Reihung in Kombination mit der Wiederholbarkeit stellt der erste Teil narrativ dar, wie die Figur das liturgisch strukturierte Klosterleben internalisiert. Der zweite Teil dagegen zeigt nach der usker, der Hinwendung des Dieners zu den Nächsten in der Seelsorge, keine zirkuläre Wiederholungsstruktur, sondern eine sich steigernde Linearität. Hier wird nicht die Überformung des Selbst in liturgischen Klosterpraktiken dargestellt, sondern die Entwerdung des Selbst in sich steigerndem Leiden und in der Gottverlassenheit. Aufgespannt sind die paradigmatisch organisierten Kapitel zwar zwischen einem Anfang und einem Ende, auf das sie zielstrebig zulaufen. Doch die letzten Kapitel sind, wie zu zeigen ist, keine abschließenden Kapitel, sondern transgredierende Kapitel. In ihnen wird nicht nur eine religiöse Transgression dargestellt, sondern das Erzählen selbst wird transgrediert. Der Fluchtpunkt der Kapitel ist weiterhin der innere Mensch, die Transformation des Innersten. In der Konfrontation mit den Mitmenschen und dem Außenraum werden die Versuche der Angleichung ganz anders erzählt. Der innere Mensch tritt im zweiten Teil nicht mehr zentral in Erscheinung, sondern wird verborgen hinter den äußeren Geschehnissen. Gnaden- und Visionsbeschreibungen treten kaum mehr auf, das Leiden und Ausgeliefertsein wird auch im Erzählen total. Die Habitualisierung, die Einübung des inneren Menschen in das ihm zufallende Leiden wird nicht explizit gemacht, etwa über Erzählerkommentare, sondern implizit über die narrative Entfaltung von Leiden und Gottergebenheit. Den Außenräumen kommt also auch die Funktion zu, den Innenraum des Menschen zu formen, zu transformieren. Der Schrecken, den der Raum bereithält, jener Schrecken der Gottverlassenheit, führt den Diener aus sich selbst heraus, wie es ihm bereits verkündet wurde, und, in paradoxer Wendung, zum ihm selbst zurück. Die fremden Außenräume bieten nun gerade keinen Raum mehr, den der Diener künstlich überformen könnte, wie etwa den Kreuzgang, seine Kapelle oder seine Zelle. Er ist nicht mehr Subjekt seiner Inszenierungen, sondern, so stellt es die Vita in der Vision der Gottesfreundin am Ende des 23. Kapitels selbst dar, muss sich in die Leiden fügen, die Gott ihm schickt. Der Weg durch die Räume des zweiten Teils wird ein Weg durch die Gottverlassenheit. Statt der Herstellung intensiver Gnadenmomente wird die Verstetigung des Leidens angestrebt und zwar eines Leidens, das nicht mehr auf körpermimetischer Nachahmung beruht, sondern auf einer alienatio, einer Entfremdung von allen Menschen und letztlich von Gott. 211 211 Die Dynamik, von den Momenten der Erfüllung in eine Zeit des Leidens an der Gottesferne einzutreten, stellt eine in vielen mystischen Texten ausgeführte Bewegung dar. Für Narrative Genese der Figur 190 Räumlich wird der Wechsel vom inszenierten Leiden zu der fr  md widerwertikeit umgesetzt, indem die selbst gewählte Isolation des Dieners durch einen Befehl Gottes aufgegeben wird. In den Kapiteln eins bis achtzehn ist der Raum, in dem sich die Figur bewegt, das Innere des Klosters. Aufgerufen werden immer wieder sein Chorstuhl und seine Zelle, aber auch seine Kapelle und der Kreuzgang, den der Diener mit seinen Passionsbetrachtungen zu einem Raum der Memoria und des Nachvollzugs überformt. All diese Räume dienen dem Ruhigwerden, dem Stillsitzen und der kontemplativen Betrachtung von Texten, die der Diener in innere Bilder überführt. Der Raum ist stets ein künstlich geschaffener, kulturell überformter Raum. Es ist der Klosterraum, der zum Zweck des unablässigen Gotteslobs im Gebet gebaut wurde. Doch der Diener darf als männliches Mitglied des Dominikanerordens nicht im Klosterraum verbleiben. Er ist zur Seelsorge verpflichtet, deren Stellenwert nicht unterschätzt werden darf. Dies betont Gert Melville, der die institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen auf diese Verpflichtung hin einordnet: „Mit einem ausgeklügelten Instrumentarium der Rechtssetzung, Kontrolle und Verwaltung wurden die bestmöglichen Bedingungen nicht nur erreicht, sondern auch erhalten, um das fundamentale Anliegen des Ordens zu verwirklichen: die Rettung des Seelenheils aller Menschen. Diesem diente die Predigt, ihr wiederum das Studium und diesem wiederum der alltägliche Betrieb. [...] Dem alles überwölbenden Leitgedanken der Seelsorge ordneten sich sogar religiöse Grundwerte einer auf sich selbst bezogenen Heilssuche unter, wie etwa jener der Armut“. 212 Seuse greift diese Verpflichtung zur Seelsorge auf. Die Vita beschreibt den Weg des Dieners nach außen, da er als männliches Mitglied des Ordens seiner Funktion als Seelsorger und Prediger nachkommen muss. Seuse entwirft ein Konzept, in dem der Kontakt mit der Umwelt weniger ein notwendiges Übel darstellt, sondern eher eine notwendige Voraussetzung ist, um sich vom Selbst zu lösen. Immer wieder wird betont, dass die Erniedrigung in der Konfrontation ebenso der Nachfolge und Überbildung in Christus dient, wie auch der Trost und die Rettung derer, denen der Diener in Predigt und Seelsorge helfen kann. So sind es nicht die Praktiken der Passionsfrömmmigkeit, die die Angleichung an Christus in raffinierter Weise inszenieren, sondern Mechthild von Magdeburg etwa arbeitet Burkhard Hasebrink, ‚Ich kann nicht ruhen ich brenne.‘ Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 91-107, heraus, wie die Klage als Ausdruck einer Gleichzeitigkeit von Einheit und Differenz fungiert, die anhand der Begriffe vr  medunge, Gottesferne und gebruchunge von Mechthild selbst terminologisch gefasst werden. Auf die Bewegung zwischen minnesturm und gotzvroemdunge weist Alois M. Haas, Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/ Ue. 1989 (Dokimion 4), S. 117 hin; bei Eckhart ist an die Formel ‚Gott um Gottes Willen lassen‘ zu denken, die völlige Preisgabe Gottes, die in die Einheit umschlägt. Vgl. dazu Burkhard Hasebrink, sich erbilden, v.a. die Überlegungen zu Predigt Q 12 und Q 52, S. 134ff. 212 Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensform, München 2012, S. 213. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 191 es sind die von außen kommenden Leiden, die den Menschen christf  rmig werden lassen. Und die von außen kommenden Leiden sind im Falle des Dieners Leiden im Raum außerhalb des Klosters. Der Diener ist äußerst aktiv was die Bewegung im Raum angeht. Mit Kapitel 22 beginnt die Orientierung nach außen. Er soll, so wird er in mengerley offenbarunge (63,10) gedrängt, sich nicht mehr nur um sein Inneres kümmern, sondern nach Außen gehen und seinen Dienst am Nächsten versehen. Es folgt eine lange Reihe an Räumen, die dezidiert mit Ortsangaben versehen werden. Was in den vorhergehenden Kapiteln die frequente Nennung der Klosterräume war, wird nun ersetzt durch die Bewegung im sozialen Außenraum. Der Diener bewegt sich auffällig viel, er zieht vom stetlin in die stat, vom dorf zum fr  mden convent. Auch in weiter entfernt liegende Regionen wandert er, so zweimal in die Niderland und einmal nach Strasburg ins Elsas. Die Bedrohung, die dem sozialen Außenraum für den Diener erwächst, liegt in den sozialen Akteuren, die diese Räume bevölkern. Dem Diener fallen immer mehr Leiden zu. Was ihm offenbart worden war, die vielfältigen, ungeheuren Leiden, kommt ihm in Räumen zu, die immer gefährlicher werden. Owe tod, owe tod, wie bist du mir so nahe! (79,26) Diese Klage des Dieners liest sich geradezu programmatisch für den zweiten Teil der Vita. Denn der Diener ist nicht einfach nur einem gefährlichen Raum und missgünstigen Mitmenschen ausgesetzt, sondern er gerät ohne Unterlass in Todesnot. In nur sechs Kapiteln wird neun Mal davon erzählt, wie er knapp dem Tod entrinnt; 213 allein im 23. Kapitel folgen vier aneinander gereihte Episoden, in denen der Diener in dreien fast zu Tode kommt. Dabei wird die Gefahr nicht nur angedeutet, sondern die Todesnähe wird immer als solche aufgerufen. In jedem Kapitel ist vom Tod oder vom Sterben die Rede, sodass sich eine Semantik der Todesarten durch diese Kapitel zieht. Die anderen Figuren, die ihm die soziale und in zunehmendem Maße auch die körperliche Integrität nehmen wollen, setzen ein Kopfgeld auf ihn aus, rotten sich im wütenden Mob zusammen und malen sich in blutigen Farben den Lynchmord an ihm aus. Doch auch die Natur und sein Körper selbst bringen den Diener an die Grenze des Todes. Diese drei Bereiche - soziale Beziehungen, Natur und Krankheit - stehen in einem Steigerungsverhältnis, das im vorhergehenden Kapitel zu Raum und Figurenkonstellation bereits angerissen wurde. Gerade die thematische Geschlossenheit und die Wiederholungsbeziehungen zwischen den Kapiteln wurden in den Forschungsarbeiten zur Vita bislang zu wenig berücksichtigt. Das ostentative Aufrufen von Sterben und Tod kennzeichnet gerade in seiner Konsequenz die Struktur der Kapitel 23 bis 30. 214 213 Ich zähle hier die Kapitel 24 und 29 nicht dazu, da diese nicht von den Leiden und Gefährdungen des Dieners erzählen, sondern stärker reflexiv darauf ausgerichtet sind, welche Funktion das Leiden für den Diener besitzt. 214 Christine Pleuser, Tradition und Ursprünglichkeit in der ‚Vita‘ Seuses, in: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366-1966, hg. von Ephrem M. Filthaut OP, Köln 1966, S. 135-160, spricht zwar kurz von „wohlberechneter Steigerung von den Leiden“, geht jedoch nicht näher auf die insistierende Evokation des Todes ein, S. 154. Narrative Genese der Figur 192 Hier soll darum anhand der Semantik der Todesarten gezeigt werden, dass das Leiden einer vita passiva nicht nur chronologisch entlang der Kapitel entwickelt wird, sondern dass zwischen den Kapiteln Äquivalenzrelationen bestehen, die die Todesarten einerseits thematisch und andererseits in Steigerung aufeinander beziehen. Die Todesgefahr steigert sich nicht nur von Kapitel zu Kapitel, sondern auch, indem thematische Verknüpfungen erstellt werden, durch die auseinanderliegende Kapitel in Steigerung aufeinander Bezug nehmen. 3.5.2 Soziale Räume Im 20. Kapitel wird dem Diener angekündigt, dass er seinen Mitmenschen wehr- und hilflos ausgeliefert werde: Ich [...] wil dich ane alle wer den fr  mden ze handeln geben. (57,4f.) Und so erzählen nun mehrere Episoden, wie der Diener der sozialen Ächtung, der Verleumdung und dem Verlust seiner Ehrbarkeit zum Opfer fällt. In Kapitel 23 wird in zwei Episoden, die unmittelbar aufeinander folgen, davon berichtet, wie dünn die Decke der Zivilisation ist, denn bereits der kleinste Verdacht genügt, um die dort geschilderten Stadtbewohner in Rage zu bringen. In geschickter Dramaturgie steigert sich die Gefahr für den Diener Schritt um Schritt. So kommt er auf einer Reise an einem Kruzifix vorbei, vermutlich einem Bildstock noch etwas außerhalb der Stadt und betet dort. Die Bewohner der nahen Stadt bringen diesem Bildstock Wachsbilder zum Opfer. Am nächsten Tag fehlt das Wachs und der Diener gerät in Verdacht der Dieb zu sein. Der Erzähler inszeniert äußerst geschickt, wie sich das Gerücht verbreitet und demonstriert damit, wie leicht die Menschen an das glauben, was sie hören wollen. So ist es ein ein kind von siben jaren (66,11f.), das ihn beim Beten sieht und am nächsten Tag, als der Diebstahl entdeckt wird, den Diener verleumdet. Dabei beschuldigt das Kind den Diener zwar, gleichzeitig ist die Begründung aber dürftig: Es sah ihn lediglich spät abends vor dem Bild knien und beten. Dennoch reicht die Aussage dem für den Bildstock verantwortlichen Stadtbewohner und ohne zu zögern streut er das Gerücht: Dis rede des kindes nam der burger in fúr ein warheit, und seit es fúrbas umb und umbe, daz der b  se lúmde also dur die stat wart gend úber den br  der. (66,21ff.) Der Erzähler verteilt die Positionen deutlich: Der unschuldig beschuldigte Diener einerseits und die leichtgläubigen Stadtbewohner andererseits. Bereits in dieser ersten Episode der fr  md widerwertikeit taucht nun eine Todesdrohung auf. Die erzürnten Stadtbewohner glauben dem Gerede und wollen den Diener beseitigen: Es ward meng b  sú urteil úber in gende, wie man in s  lti verderben und als ainen b  sen man schier ab der welt t  n. (66,24ff.) Die Drohungen werden als mere (66,26) bezeichnet, als mündliche Geschichte, als Gerücht. Auch in der zweiten Episode wird der Diener wieder Opfer eines solchen Gerüchts. Die Episode ist ganz ähnlich aufgebaut, auch sie schließt mit einem iterativen Es geschah an ainer andern stat (67,5) an die Reihung der Verleumdungen an. Und auch in dieser Stadt kommt der Diener zu einem Kruzifix, das Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 193 in einem Kloster steht. Das steinin bilde, so sagt man, habe genau die Größe Christi. 215 Diese magisch-mimetische Gleichsetzung wird im Blutwunder, das sich nun ereignet, aufgenommen. Die Plastik beginnt zu bluten, der Diener wird Zeuge und empfängt das Blut am Finger. Doch, das führt der Erzähler breit aus, der Diener bezieht nicht Stellung, ob es sich um einen göttlichen Gnadenakt handelt oder um einen menschlichen Betrugsversuch. 216 Trotz seiner Vorsicht tauchen prompt wieder mere auf: Disú mere erschullen verr in daz lande, und leit ieder man dur z  , daz er wolte, und ward fúr geben, er heti im selb in die vinger gestochen und heti daz bl  t uf daz crucifixus gestrichen. (67,20ff.) Und wieder wird darauf hingewiesen, wie die mündlichen Gerüchte als Wahrheit genommen werden und wie sich diese Leichtgläubigkeit zu meng freidig urteil (68,4), zu vielen Gefahr bringenden Urteilen führt. Das Vokabular und die Formulierungen sind fast identisch, weisen auf die Wiederholung der sozialen Ächtung auf der Grundlage von Gerüchten hin. Und es bleibt nicht bei den mündlichen Drohungen. Die kleine Episode steigert die Dramatik und Gefahr für den Diener, denn die Bürger der Stadt rotten sich zu einem Mob zusammen. Es wird also nicht nur der Ehrverlust des Dieners dargestellt, sondern, daraus folgend, gerät sein Leben in Gefahr. 217 Die Präsenz des Todes, so zeigen bereits diese beiden aufeinander folgenden Episoden, wird immer spürbarer. Aufgenommen wird die fatale Mischung aus Verleumdung und Hetze in Kapitel 25. Der Raum, wie oben skizziert, ist von vorneherein als gefährlich markiert. Im Dorf wird ein Jahrmarkt abgehalten, der von einem wilden 215 Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, interpretiert diese Szene im Zusammenhang mit der Wunderskepsis, die sich bei Seuse als „Relativierung des Bildkultes“, S. 47, fände. Er liest die Episode aufgrund der Bemerkung, das Kruzifix habe genau die Größe, die auch Christus hatte, als Erzählung, die „gänzlich in den Diskurs um das rechte Aussehen Christi und die rechte Weise seiner Nachfolge gestellt [ist.] Die wahre Leidensnachfolge - so die Erzähllogik - realisiert sich freilich nicht in der Verehrung und Angleichung an das äußere Bild, sondern durch die passive Annahme von Leiden“, S. 48. Lentes interpretiert die Episode als Abkehr des Dieners - den er konsequent Seuse nennt - von der „Verehrung des Leidens Christi im Zeichen des Kreuzes [zur] Leidensnachfolge im Alltag“, S. 48. 216 Blutwunder und Betrugsversuche in Konstanz werden auch in der Chronik des Heinrich von Diessenhofen verzeichnet, vgl. Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 67, Anm. zu Zeile 9ff., auch mit dem Hinweis, „Erzählungen von blutenden Kruzifixen sind übrigens im Mittelalter häufig.“ 217 Dies wird in der Forschung häufig übersehen. Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, weist darauf hin, dass der Diener sich im Leiden im Alltag üben müsse. Die Jagd auf ihn scheint mir aber doch ein eher außeralltägliches Vorkommnis zu sein. Dass es nur Ehrverlust sei, wird jedoch immer wieder genannt, ohne auf die lebensgefährliche Ausweitung einzugehen. Vgl. Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 144: „Das 23. Kapitel erzählt von der Verleumdung seines Rufes und der Vernichtung seiner Ehre.“ Nur knapp paraphrasiert Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, S. 303: „Der eigentliche Spannungsbogen setzt sich im 23. Kapitel fort im Bericht über die dreifache Verleumdung wegen Raubes wächserner Votivgaben, wegen Vortäuschung eines Blutwunders an einem Kruzifix und wegen falscher Lehre.“ Die Beispiele ließen sich fortführen. Narrative Genese der Figur 194 gesinde und g  tgewúnnern (74,24) bevölkert wird. Das Kapitel steht vom ersten Satz an unter einem Unstern: Dem Diener wird ein Laienbruder mitgegeben, mit dem der Diener bereits schlechte Erfahrungen gemacht hat. Und so bringt der gesell den Diener in eine äußerst prekäre Situation. Er setzt sich nämlich hinter dem Rücken des Dieners mit den oben genannten zwielichtigen Gestalten zusammen, um mit ihnen zu trinken. Der betrunkene Laienbruder wird nun seinerseits Opfer einer falschen Beschuldigung: Er sei ein gifttrager (75,5), ein Brunnenvergifter. Der schlechte Geselle wiederum beschuldigt den Diener. Er selbst sei nur ein tore und ein unwiser man (75,13), der Diener aber sei vom Orden geschickt worden, um Giftsäcklein in den Dorfbrunnen bis zum Elsass hin zu versenken. Wie in diesem Kontext fast zu erwarten ist, tönt auch ein antijudaistisches Argument mit: Der Diener habe neben den Giftsäckchen auch viele Gulden dabei, die er von den Juden erhalten habe, um das Verbrechen zu begehen. 218 Daraufhin bricht eine regelrechte Mordhatz los. Während sich in Kapitel 23 die Beschreibung der Verfolgung noch kurz und für den Diener relativ ungefährlich ausgenommen hatte, wird nun die Lebensgefahr und Todesnähe detailliert, dramatisch und blutrünstig geschildert. Das wild gesind (76,4), wie die Menge eindeutig semantisiert wird, bewaffnet sich - [e]ine kripfte einen spiess, der ander ein mordax - und mit wilden tobenden siten (76,8) jagen sie den Diener, nachdem sie die Morddrohung ausgestoßen haben: ‚hin bald úber den morder, daz er úns nit endrúnne! ‘ (76,6f.) Da sie den Diener nicht finden, nehmen sie den Gesellen mit, den der Dorfvogt festsetzt. Dem Diener gelingt es, seinen Mitreisenden frei zu kaufen. Doch dies war nur die erste Stufe des lebensgefährlichen Leidens. Der Erzähler nimmt in einer Prolepse, die über das Wissen des Dieners hinaus reicht, vorweg, dass die eigentliche Lebensgefahr noch aussteht: Er wande do, daz sin liden ein ende heti, do vil es erst ane; wan do er sich mit lidene und mit schaden von den gewaltigen hat erbrochen, do ward es im erst gende an sin leben. (76,30ff.) Nachdem er sich und seinen Gesellen vom Dorfvogt freigekauft hat, glaubt er sich in Sicherheit, doch nun fällt er unter daz gemein volg und b  ben (77,2f.). Diese halten fest an ihrer Meinung, er sei ein morder und gifttrager und wollen, nachdem sie ihn den ganzen Tag - tala, also tagelanc - verfolgt haben, seinen Tod: ‚Er endrúnnet úns tala, er m  ss ert  det werden! ‘ (77,6) Und sie malen sich die Todesarten, mit denen sie ihn ermorden wollen, in allen Einzelheiten aus: ‚wir súllen in ertrenken in dem Rine‘, [...] die andren r  ftan: 218 Zu den Brunnenvergiftungen, vgl. František Graus, Pest - Geissler - Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987 (Veröffentlichungen des Max-Planck- Instituts für Geschichte 86), S. 299-334. Er beschreibt die Brunnenvergiftungen als „Musterbeispiel für eine nichtklerikale ‚Begründung‘ für die Verfolgung von Sondergruppen“, S. 299. Er führt ausdrücklich an, dass gerade das Phänomen der vermeintlichen Brunnenvergiftungen - ein Versuch, das Massensterben während der Pestwellen zu erklären - „einen gewissen Einblick in die Entstehung von Gerüchten, in die Art ihrer Verbreitung und in ihre Zielsetzungen“ gewährt, ebd. Das zeige auch die Vita Seuses, die ja gerade die Entstehung der Gerüchte, die zur Verleumdung des Dieners führen, breit darstellt, vgl. S. 307. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 195 ‚neina, der unrein morder verunreint daz wasser alles, wir súllen in verbrennen! ‘ (77,9ff.) Der Höhepunkt ist erreicht, als ein ungehúre gebur mit einem Spiess sich nach vorn drängt und sich geradezu genüsslich die Todesszene des Dieners ausmalt: ‚h  rent mich, ir herren alle sament! Wir kunnen disem b  sen kezzer nit lasterlichers todes an get  n, denn daz ich disen langen spiess enmiten dur in rihe, als man t  t einer giftigen kroten, die man spisset. Also land mich disen gifttrager also nekent an disen spiess rihen und rúglingen uf haben und in disen starken vast stossen und versichern, daz er nit valle; lassen den toten c  rpel windt  rr werden, daz ellú dú welt, dú vúr in uf ald ab gat, des morders hab ein ansehen und ime na sinem lasterlichen tode fl  che.‘ (77,13ff.) In der kurzen wörtlichen Rede taucht gleich vier Mal Spieß, spießen oder stoßen auf. Der vermeintliche Giftträger wird als Giftkröte bezeichnet, die man aufspießen müsse. Und damit nicht genug der Grausamkeiten: Der Körper des Dieners, dessen Integrität der Bauer auflösen möchte, soll über den Tod hinaus geschändet werden, indem er an einem Pfahl aufgespießt ausgestellt werden soll. Diese Evokation des Todes leitet über zu einer Wiederaufnahme des 20. Kapitels. Denn es wird nicht nur die fr  md widerwertikeit erzählt, die ihm von dem aufgebrachten Mob zuzufallen droht. Es wird auch explizit erzählt, wie der Diener von got und von aller der [...] gelassen (57,20f.) wird. Der Diener wird nicht nur vom aufgebrachten Mob bedroht. Die ihm wohlgesonnenen Dorfbewohner, die vor Mitleid an ir herz [klopfeten] und ir hend ob dem hopt zesamen [schl  gen] (77,27f.), helfen ihm ebenfalls nicht, da sie vor dem fraidigen volg Angst haben. Als er kein Nachtquartier findet, ist der Tiefpunkt seines Leidens erreicht. In einer komplexen Bewegung führt der Text den Diener nun durch eine Sprache des Todes - in dem kurzen Absatz von 15 Zeilen werden sieben Mal die Worte Tod und töten verwendet -, die im Moment der höchsten Todesnähe umschlägt und zur gnadenhaften Errettung überleitet. Der Erzähler leitet die Szene der inneren Vorbereitung auf das Sterben mit einem Satz ein, der die Todesnot und Verlassenheit des Dieners als Ausgangspunkt für eine Klage nimmt, in der der Diener sich ganz in Gottes Willen begibt. Die Situation ist dramatisch zugespitzt, da alle nur noch auf den Mord am Diener warten: Do der ellend lider also in des todes n  ten was, und ime ellú menschlichú hilfe enpfiel und man núwan wartet, wenn sú in an grifen und in totin, do viel er nider bi einem zune von jamer und von vorten des todes und h  b sinú ellenden verswullen ogen z  dem himelschen vater (78,3ff.). Im darauffolgenden Gebet wird eine Bewegung vollzogen, die von der Klage über die Gottverlassenheit zur vollkommenen Selbstaufgabe im Angesicht des Todes reicht. Im ersten Teil des Gebets ruft der Diener drei Mal in Folge Gott um Hilfe an beziehungsweise klagt über dessen Abwesenheit. Alle drei Klagen sind mit variierenden Apostrophen eingeleitet: owe, vater; owe, miltes herz und owe vater, owe getrúwe milte vater. Jede Apostrophe ist gefolgt von einer Klage über die Verlassenheit und Hilflosigkeit. Die Verlassenheit, die in der dreimaligen Wiederholung geradezu beschworen wird, führt zum Narrative Genese der Figur 196 Höhepunkt der Klage. Denn das Gebet des Dieners endet mit einer Entlehnung aus dem 21. Psalm, wie bereits Karl Bihlmeyer vermerkt 219 und Anne- Marie Holenstein-Hasler aufgreift: „K. Bihlmeyer verweist auf Psalm 21,12 [...]. Hier nun taucht er in der Art eines Leitmotivs wieder auf und setzt die Leiden des Dieners zum Leiden des Herrn in Parallele.“ 220 Indem Seuse den Psalm wieder anführt, gibt er einen Rückverweis vom 25. Kapitel auf das 20. Kapitel, in dem das Leiden ja neu konzipiert wurde. Der Diener schließt seine Klage mit einer Anrufung Gottes in völliger Aufgabe seines Selbst: Ich bevil dir hút minen ellenden geist, und la dich erbarmen minen kleglichen tod, wan sú sind nahe bi mir, die mich wen t  den. (78,14f.) Der Psalm besingt das Leid im Angesicht von Gottverlassenheit und der Verfolgung von Feinden, ist aber auch durchzogen von Lobpreis (Ps 22,4) und Gottvertrauen (Ps 22, 5-6). 221 Derselben Struktur bedient sich auch Seuse, wenn der Diener einerseits sein Gefühl der Verlassenheit (78,7ff.) beklagt, während er andererseits um Gottes Hilfe bittet und ihn als den getrúwe[n] milte[n] vater apostrophiert. Die Szene ruft über die Anlehnung an den Duktus des Psalms das Sterben Christi auf. Im Moment der tiefsten Verlassenheit am Kreuz, überantwortet sich dieser Gott. Die Erzählung nähert den Diener in seiner Verlassenheit von den Menschen und von Gott an das Leiden Christi an; die Vita markiert diesen Prozess, indem sie die beiden Narrative im Zitat konvergieren lässt. 222 Aber der Diener stirbt natürlich nicht, da die Vita noch nicht zu Ende ist. Im letzten Moment, gewissermaßen mit dem 21. Psalm auf den Lippen und im Moment der Selbstaufgabe wird er wundersam errettet. Die Momente der tiefsten Verlassenheit - nicht nur in diesem Kapitel - schlagen immer wieder um in die Präsenz göttlicher Gnade in der Rettung. 219 Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 78, Anmerkung zu Zeile 15. 220 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, S. 305. Sie zieht den 21. Psalm auch für ihre Deutung der Fußtuchepisode heran, deren Bildlichkeit sie im Kontext des Psalmes verortet: „Tatsächlich ist die Deutung des mit dem Fußtuch spielenden Hundes durch die Bilder des 21. Psalmes vorgegeben, den die Tradition der Kirche auf Christus bezieht. Für die Todesnot des Gerechten, welcher dem Spott und der Verachtung preisgegeben ist, setzt der Psalm das Bild des geöffneten Löwenrachens und wütender Hunderudel“, S. 299. 221 Vgl. dazu Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger, Die Psalmen I. Psalm 1-50, Würzburg 1993, die in ihrem Psalmenkommentar den Psalm 22 (sie verwenden die moderne Zählung der Psalmen) als „ein Mischgebilde heterogener Gattungselem ente (Klage, Bitte, Lob, Dank und hynmische Lobwünsche mit Zukunftsansagen)“ bezeichnen, S. 144. 222 Auf diese Konvergenz verweist auch Philipp Stoellger, Passivität aus Passion, S. 194: „Denn die Passion ‚des Dieners‘ erscheint wie eine Prolongation der Passion Jesu. [...] Das ist insofern problematisch, als die Unterscheidung von Christus und Christ aufgehoben würde in der Kontinuität der Passion Jesu und seiner Imitatoren.“ Allerdings ist die Analogie zwischen dem Diener und Jesus hier so implizit über die Zitate gestaltet, dass eine Vereindeutigung der Leiden des Dieners als Passion Christi und damit die Aufhebung der Unterscheidung kaum als Gefahr erscheint. In Kapitel 31 wird das Verhältnis zwischen Christus und Nachfolger nochmals eindeutig und sorgf ältig begrenzt. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 197 Die Vita entwickelt die Todesgefahr und die Reaktion des Dieners nicht im luftleeren Raum. Es handelt sich vielmehr um die narrative Entfaltung des Rasters, das dem Diener im 20. Kapitel zur Hand gegeben wurde. Die drei Punkte, die ihm dort im Detail erläutert wurden, werden nun als Erfahrung der Figur auserzählt. Im Gegensatz zum 23. Kapitel, das wie eine Vorbereitung auf das 25. Kapitel wirkt, wird hier sowohl die Todesnot gesteigert, als auch die Reaktion des Dieners weiter ausgeführt. Die zunehmenden Leiden führen zu einer zunehmenden Annahme des göttlichen Willens. Die Abwesenheit Gottes, die der Diener beklagt, führt zu einem Umschlag in eine Präsenzerfahrung. Die Todesnot und die Todesklage schlagen um in die wundersame Rettung, die erst durch die Klage ausgelöst wird: Ein Priester rettet ihn, nachdem er die jemerlichú klag gehört hat. 3.5.3 Naturräume Aber nicht nur der soziale Raum und die soziale Ächtung werden als Bühne des Leidens vorgeführt. Die Natur selbst wird dem Diener auf seinen Reisen bedrohlich. Besonders die Flüsse, die er überqueren muss, werden wiederholt zu Todesfallen. Und auch die Gefahren, auf die der Diener in diesem Bereich trifft, sind durch eine Steigerungsbewegung gekennzeichnet. Im 24. Kapitel stürzt er zum ersten Mal in ein Gewässer. Auf der Suche nach seiner Schwester muss er über einen Bach springen; da es nachts geregnet hat, sind die Bäche angeschwollen und der Diener fällt von kraftlosi in den bach (71,16). Die Funktion dieses erzählerischen Geschehens besteht in der Kontrastierung von innerem und äußerem Leiden. Ansonsten aber wird der Sturz im Verlauf des Kapitels nicht weiter thematisiert. Aufgegriffen wird die Erzählung erst wieder im 27. Kapitel, das vielsagend mit von wassernot überschrieben ist. Dort wird die Gefahr des Wassers im Vergleich mit dem 24. Kapitel nun deutlich gesteigert. Auch innerhalb des Kapitels lässt sich eine Dramatisierung beobachten. Es besteht aus zwei Episoden und entwickelt das Thema kurz in der ersten Erzählung, um in der zweiten Erzählung ins Detail zu gehen. Die Art der Steigerung ähnelt der Steigerung der Kapitel zur sozialen Ächtung. Auf eine kürzere Episode folgt auch hier eine ausführliche, die mit einem Gebet und mit der wundersamen Rettung aus der tiefsten Verlassenheit endet. Die erste, sehr kurze Episode wird genau verortet: Der Diener befindet sich auf dem Heimweg von Strasburg nach Konstanz und reist am Rhein entlang. Dabei fällt er in einen schnell fließenden Teil des Rheins, in einen ungehúren giessen des Rines (81,7). Ausdrücklich werden Hilflosigkeit und Todesnot erwähnt, wobei die Todesnot mit der göttlichen Gnade eng verbunden wird. In zwei parallelsyntaktischen Teilsätzen werden Hilflosigkeit und Todesnot aufeinander bezogen. Do er in des todes not vast abwert ran unbehulfenlich, do f  gte der getrúw got, daz uf die selben stunde von geschiht ein junge núwe ritter von Prúscen dar kam. (81,9f.) Der junge Ritter des Deutschordens rettet den Diener und dessen Mitreisenden. Im Moment der tiefsten Hilflosigkeit und Narrative Genese der Figur 198 der unmittelbaren Todesnot greift erneut Gott ein. Diese Episode reflektiert das Geschehen dabei kaum. Bis auf den interpretatorischen Zusatz des Erzählers, dass es Gott war, der den Ritter schickte, wird nur von der Handlung berichtet. Die Episode funktioniert und entfaltet sich erst in der Reihung. Denn sie greift das 24. Kapitel auf und wird in der folgenden Episode in einer Variation wiederholt. Im Kontrast wird in dieser zweiten Episode das Geschehen dramatischer geschildert und auch der Bezug auf den sinnstiftenden Rahmen des 20. Kapitels ist deutlicher. Die Episode beginnt mit dem typischen Erzähleinsatz, der den Reihencharakter markiert: [e]ins males f  r er us. (81,14) Die beiden Episoden des 27. Kapitels werden nicht verbunden, sondern gereiht. Inhaltlich aber wiederholen sie das erzählte Geschehen bis zur Ebene lexikalischer Wiederaufnahme. Denn wie in der ersten Episode, wo ihn der junge Ritter aus dem tr  b stúrmig wasser (81,12) zieht, kommt der Diener auch hier neiswa z  einem tr  ben wasser (81,17). Die Dramatik ist aber von Beginn an zugespitzt. Wiederholt wird auf die Kälte hingewiesen, auf die Reise in dem kalten winde und frostigen weter (81,15f.). Dazu kommt Hunger und Müdigkeit, da der Diener den ganzen Tag nichts essen konnte und es nun schon spät ist. In dieser elenden Lage kommt er zu dem aufgewühlten Fluss, der nicht nur trüb ist, sondern auch tief und schnel, als es von dem regenweter waz worden (81, 17f.). Da das Muster bereits bekannt ist, erfolgt der Sturz in das Wasser erwartungsgemäß. Doch ist die Gefahr diesmal gesteigert, denn der Diener stürzt nicht einfach in das Wasser, sondern er schoss ab dem wagen (81,20) und der Wagen fällt auf ihn, sodass ihm niemand helfen kann. Er treibt mitsamt dem Wagen flussabwärts, bis ihn zur Hilfe geeilte Leute mit grossen erbeiten (81,27) herausziehen können. Die Rettung aus dem Wasser ist aber erst der Auftakt zu noch größerem Leiden. Denn im Unterschied zur ersten Episode ist nicht nur der Sturz in das Wasser fast todbringend, sondern es ist vor allem die nachfolgende Kälte, die ihn beinahe erfrieren lässt. In dieser immer weiter getriebenen Reihe der zufallenden Leiden betet der Diener zu Gott. Auch hier, wie in Kapitel 25, folgt auf die Apostrophe - wafen got - die Bitte, ihm in seiner Hilflosigkeit beizustehen. In seinem Gebet ruft der Diener seine Todesnot auf: M  ss ich nu hie also sterben? Daz ist ein kleglicher tod! (82,6) Wieder befindet er sich in einer Situation, die ihm nicht nur Leiden zufügt, sondern ihn zugleich an den Rand des Todes bringt. Und wieder wird aus dem Gebet heraus die Situation gewendet: Der Diener sieht in der Ferne einen kleinen Weiler, zu dem er sich retten kann. Doch die Schraube des Leidens wird noch einmal weiter gedreht. Denn die vermeintliche Rettung in der Siedlung scheitert an der Hartherzigkeit der Bewohner: Er gie umb und umb und bat herberg dur got. Des ward er von den húsern vertriben, daz sich nieman wolte úber sú erbarmen. (82,9ff.). Der Ablauf wiederholt sich strukturell identisch. Die Todesfurcht wird thematisiert: Do begond im der frost und erbeit umb daz herz ganz, daz er sins lebens begond fúrten. (82,11f.) Wieder betet der Diener in einer Klage zu Gott und wieder wird seine Klage erhört. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 199 Ein Bauer, der ihn zuerst abwies, ist von der klegliche[n] rede (82,16) so gerührt, dass er den Diener bei sich aufnimmt. Die Struktur ist deutlich. Wenn das Leiden am Größten ist und der Tod am Nächsten, folgt die Rettung. In der Klage über die tiefste Verlassenheit und in der größten Furcht vor dem Tod kippt das Gebet von der Klage in die Erfüllung. Es kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass die Episoden sich strukturell stark ähneln. Auch die thematisch unterschiedlichen Erzählungen laufen vergleichbar ab. In immer neuen Wendungen und Wiederholungen wird erzählt, wie der Diener in eine gefährliche Situation kommt, die ihn an den Rand des Todes führt. Gesteigert werden die Erzählungen, indem die längeren und als gefährlicher geschilderten Episoden mit einem ausführlicheren Ende versehen werden, in dem der Diener sich in Gebeten an Gott wendet. Aus den Klagegebeten erwächst dem Diener die Rettung. Geht man von der Rezeptionsseite aus, so wird das Leidensraster des 20. Kapitels in immer neuen Variationen vorgeführt. Der Text ist hier nicht so sehr auf affektiven Nachvollzug des Weinens, sondern auf die narrative Ausfaltung des Leidensrasters aus Kapitel 20 ausgerichtet. Darin würde ich der Einschätzung Philipp Stoellgers widersprechen, der für das 23. Kapitel eine besondere Dimension des Nachvollzugs auf Rezipientenseite sieht. Das Weinen des Dieners führt im Text zum Weinen einiger Frauen, die Mitleid mit ihm haben. Diese narrative Szene überträgt Stoellger auf die Rezipientinnen: „Liest man die Szene auf die Selbststilisierung Seuses hin, wirkt seine ostentative Mimesis Christi einigermaßen plump, wenn nicht gar anmaßend oder peinlich. Sie scheint ihre religiös plausible und vielleicht theologisch vertretbare Pointe nur im Blick auf die ‚Arbeit am Leser‘ zu finden: in einer passionierten Antwort auf die Szene des verfolgten Gerechten. Der spontane Affekt ist das Entsetzen über die angedrohten Greuel und die unwillkürliche Eingenommenheit für den Bedrohten.“ 223 Natürlich soll man Mitleid mit dem Diener haben, aber gleichzeitig sind die Kapitel in ihrer Kürze und Dramatik eher auf Spannung angelegt. Nicht von ungefähr findet sich in diesem zweiten Teil keine einzige Zeichnung, die gerade die Versenkung und Betrachtung fördern sollen. Stattdessen wird in diesen Kapiteln ein transformierendes Muster beobachtbar gemacht, das eigentlich nicht beobachtbar ist, nämlich die Aufgabe des Eigenwillens in den Willen Gottes. Dieses Muster aber sollen die Rezipientinnen nicht auf sich beziehen beziehungsweise nachvollziehen, indem sie, wie die Frauen im Text weinen, sondern indem sie das Muster aus dem Text filtern, verstehen und ihrem eigenen Alltag umsetzen. Das exemplarische Erleben des Dieners macht beobachtbar, was es heißt, von den Menschen und von Gott verlassen zu sein; über die Figur, die im 20. Kapitel eine Anleitung zur vita passiva bekommen hat, wird das Raster konkret umgesetzt. 223 Philipp Stoellger, Passivität aus Passion, S. 194. Narrative Genese der Figur 200 3.5.4 Krankheit als Passion Doch nicht nur die Gefahren, die dem Diener von seinen Mitmenschen zufallen oder die er durch Naturgewalten erleidet, werden in der Vita als zufallendes Leiden erzählt. Die imitatio Christi, die in der Klage über die Verlassenheit von Gott und den Menschen immer wieder vollzogen wird, vollendet sich letztlich in der körperlichen Krankheit. Krankheiten, die die Integrität des Körpers am stärksten bedrohen und ihn in vollkommene Passivität im Leiden versetzen, werden als Deutungsmuster gerade in den Offenbarungen und Viten von Frauen eingesetzt, um Schwäche und Selbstvernichtung als Zeichen der Erwählung beschreiben zu können. Krankheit markiert den Körper als schwach und hinfällig. Gleichzeitig grenzen sich diese Erzählungen von körperasketisch dominierten Texten ab. Durch ihre Unverfügbarkeit erhält die Krankheit eine doppelte Signatur als Leidensprüfung und als Gnadenzeichen der Erwähltheit. Da die Krankheiten, das betonen viele der Texte, als von Gott geschickt gedeutet werden, bieten sie eine ganz andere Möglichkeit der Angleichung an die Leiden Christi als die Körperaskese. Sie sind Gnadenzeichen, die den Kranken einerseits Angleichung an Christus ermöglichen. Andererseits werden Krankheiten auch als Möglichkeit der Einübung in die klösterlichen Tugenden von Geduld, Gehorsam und Gelassenheit gedeutet. Krankheiten wohnt damit sowohl ein Transgressionsmoment der Gnade inne, als auch ein Übungsmoment, das auf eine Transformation der Grundhaltung abzielt. In Texten, die immer wieder Strategien der Angleichung an das Leiden Christi suchen, bieten Krankheitserzählungen die Möglichkeit, das biographische Erzählen vom eigenen schwachen Körper konvergieren zu lassen mit dem heilsgeschichtlichen Narrativ des leidenden, schwachen Körpers der via dolorosa. Der Ort, an dem diese Konvergenz in die Gegenwart der Texte hineinragt, ist die Liturgie. Präzise am Text arbeitet Urban Federer diese Konstellation für Margaretha Ebner heraus, deren Offenbarungen deutliche Parallelen zu Seuses Vita aufweisen. 224 Für Margaretha Ebner ist die Krankheit Auslöser und Zielpunkt ihrer kêr: „Die ersten drei Jahre der Krankheit Margarethas werden in den Offenbarungen als eine eigentliche Bekehrung dargestellt, die aufgrund ihrer Stilisierung nicht so sehr die Beschreibung erfahrener Schmerzen anstrebt, sondern vielmehr das Ziel dieser conversio (oder mhd.: kêr) vor Augen hat: die Vereinigung mit Gott in der imitatio Christi.“ 225 Margaretha entwickelt ihre Krankheitsgeschichte entlang der liturgischen Feiern; so bricht die Krankheit an der Fastnacht aus, weshalb der „Anfang ihrer kêr [...] als Vorbereitung für ihre christusgleiche Passion in der Fastenzeit angesehen werden“ kann. 226 Immer 224 Vgl. Urban Federer, Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner, Berlin/ New York 2011 (Scrinium Friburgense 25). Zur Krankheit Margarethas, wie sie in ihren Offenbarungen dargestellt wird, vgl. S. 240-265. 225 Ebd., S. 244. 226 Ebd., S. 245. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 201 wieder werden Liturgie und Körperphänomene Margarethas enggeführt. Sie erlebt, so stellt es der Text dar, am eigenen Körper die Passionsgeschichte. Und entsprechend wird die Krankheit positiv umgewertet, ihr Leiden wird an das Leiden Christi rückgebunden. Margaretha gleicht ihre Krankheitsgeschichte bis hin zur Auferstehung an das Passionsnarrativ an. Nach langer Krankheit spürt sie „während des ‚Glorias‘ der Ostermesse [...] eine grosse Gnade: eine Kraft, die sie von der Krankheit heilt. Eine Gnadenerfahrung, von der Margaretha sagt, sie habe sie vom Auferstandenen selbst erhalten, wird von ihr so interpretiert, dass ihre körperliche Gesundung und die österliche Heilsgewissheit bewusst miteinander verbunden werden.“ 227 Die Funktion der Krankheit liegt in der Möglichkeit einer imitatio Christi, die nicht an Askese und Disziplinierung gebunden ist und die nicht Gefahr läuft, durch Selbstbezogenheit im Leiden wieder Immanenz mitzuproduzieren. Für die Offenbarungen „übernimmt die Krankheit die Funktion, den Durchbruch zu Gott über die Angleichung an das Leiden Christi vorzubereiten.“ 228 Wie bindet nun Seuse diese Form der imitatio in sein Narrativ ein? Auch bei diesem Themenkomplex versteht es der Text, zwei Ereignisse, zwei verschiedene Krankheiten kunstvoll miteinander korrespondieren zu lassen, sodass die Wiederholung nicht einfach eine Doppelung ist, sondern eine Steigerung ins tiefste Leiden hinein - und daraus in die höchste Freude. Die erste Krankheit, die dem Diener zufällt, ist in ihrer narrativen Einbindung nicht mit Margarethas Gebrauch des Leidens im liturgischen Kontext, das ihre gnadenhafte Vervollkommnung erst konstituiert, vergleichbar. Die Krankheit in Seuses Vita ist im 23. Kapitel nur ein Leiden unter vielen: Zunächst werden Diebstahl am Opferstock, vermeintlicher Betrug eines Blutwunders und Verurteilung seiner Schriften in kurzen Episoden aneinander gereiht. Doch das reicht Gott noch nicht, wie der Text explizit ausführt: An disem sweren gedrang gn  get got nit, er machet den hufen noh merer. (68,25f.) Die darauffolgende Krankheit ist also eingebunden in den hufen, in die Unzahl an Leiden, welche Gott dem Diener sendet. Ausdrücklich wird genannt, dass die Krankheit dem Diener durch Gotteswillen zufällt: Er sante im uf der wirdervart [auf der Heimfahrt vom Dominikanerkapitel in Niderland, S.B.] siechtagen an, und gewan einen starken riten; dar z  erh  b sich ein sorklich geswer inwendig nah bi dem herzen. (68,27ff.) Im Gegensatz zu Margaretha Ebner, die ihre Offenbarungen so konzipiert, dass „ihre Krankheitsgeschichte von der liturgisch gefeierten Passion Christi her zu verstehen“ ist, wird die Krankheit des Dieners vor der Folie der Todesarten entwickelt. 229 Denn auch die Krankheit ist in die typische Semantik des Todes der Vita eingebunden. Der Diener wird aufgrund der inneren und äußeren Bedrängnis so schwach, dass er von n  ten unz uf den tod [kom], daz im nieman daz leben gehiess. (69,2) Es folgt eine Klage, die in proleptischer Beziehung zum 29. Kapitel steht. Dort wird der Diener über sein 227 Ebd., S. 251. 228 Ebd., S. 248. 229 Ebd., S. 246. Narrative Genese der Figur 202 Leiden klagen und fragen, wann dieses endlich genug sei. Während er im 29. Kapitel Einsicht in seine Leiden durch Gott fordert, bricht sein Klagegebet im 23. Kapitel einfach ab. Seine Klage über die Unmenge an Leiden, die auch hier mit rehnung (69,6) bezeichnet werden, endet mit der Frage: Wenn wilt du an mir h  ren, milte vater, ald wenne dunket es dich gn  g? (69,10f.) Wo im 29. Kapitel aus der Klage ein Reflexions- und Erkenntnisprozess erwächst, ist der Übungsprozess im 23. Kapitel noch nicht vollendet, die Angleichung an Christus kann hier noch nicht vollzogen werden. Doch einen entscheidenden Schritt macht der Diener nach dem Abbruch seiner Klage. Er verbindet nämlich sein Leiden mit dem Leiden Christi; ähnlich wie Margaretha, aber in freier Verwendung und ohne konkrete liturgische Einbindung, legt er die Folie der Heilsgeschichte auf seine eigene Geschichte. Er beginnt, sich in das Leiden Christi zu versenken, wenn es heißt: Und nam in sinen m  t die totlichen angst, die Cristus leid uf dem berge. (69,12f.) Seine Todesangst deutet er mit der Todesangst Christi. Diese innere Betrachtung wird in eine Vision übergeleitet, in der eine Schar Engel einen himelschen reyen (69,17f.) anstimmen. Die Betrachtung der Krankheit als Teil der Leidensnachfolge Christi, also die Anwendung und Umsetzung heilsgeschichtlicher Deutung im eigenen Leben, führt, so inszeniert es der Text der Vita, zu einer gnadenhaften Vision und schließlich zu seiner Heilung. Die Todesfurcht des Dieners, der ellendklich in einem Sessel sitzt, da er vor Schmerzen nicht mehr liegen kann, wird kontrastiert mit einer Vision, in der ein gr  ssú schar dez himelschen ingesindes (69,16) einen süßen Gesang anstimmt. Dieser süße Gesang taucht wiederholt auf und ist die Verkündigung der Gnade Gottes im himmlischen Gesang. 230 Während die Engel fr  lich singen, sitzt der Diener trurklich da, in besoftkeit sines trurigen herzen (69,23). Diese Dichotomie zwischen fröhlich und traurig bestimmt die ganze Vision. Auf die Frage nämlich, warum er nicht in den Himmelsgesang einstimme, also das Gotteslob, das ganz Hinwendung zu Gott meint, klagt der Diener über den nahenden Tod, weshalb fröhlicher Gesang für ihn zu Ende sei: Gesang ich ie fr  lich, daz ist nu ein ende, wan ich warten nu der stunde mins todes. (69,25f.) Fröhlich antwortet dagegen der Jüngling aus der Himmelsschar, der ihn wiederum auffordert, fröhlich zu sein. Diese suggestive Wiederholung von fr  lich, in den wenigen Zeilen immerhin vier Mal, überwindet auf lexikalischer Ebene geradezu die Traurigkeit des Dieners. Der Aufforderung, fröhlich zu sein, folgt die Ankündigung der Heilung des Dieners. Dass dem Diener die Heilung in der Vision von himmlischer Seite angekündigt wird, markiert sie als Gnadenakt Gottes. 230 Kerstin Bartels, Musik in deutschen Texten des Mittelalters, weist darauf hin, dass „Mystiker und Mystikerinnen diese himmlisch-irdische Musik der Erscheinungen […] vornehmlich [...] mit süß“ bezeichnen, S. 79f. Sie deutet auch an, dass sich die Gnade Gottes in der Süße des Gesangs sinnlich wahrnehmen lässt: „So weist süßer Gesang in der Musik der Engel nicht nur auf den angenehmen Klang hin, sondern auch auf die Gnade Gottes“, S. 286. Sie arbeitet allerdings nicht den Zusammenhang zwischen den sinnlichen Bereichen Geschmack und Gehör heraus, die hier in einer Synästhesie die Gnade Gottes doppelt aufrufen. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 203 Indem der Diener sein eigenes Leiden in der Kontemplation zusammengeführt hat mit der Passion Christi, wird ihm, so legt es die Abfolge des Textes nahe, die gnadenhafte Vision zuteil. Die Angleichung seines eigenen Leidens an das Leiden Christi wird im Text durch die Vision fast kausal mit der Heilung verknüpft. Unmittelbar auf die Vision folgt die Rettung: geswinde in der selben stunde zerbrach daz geswer [...] und genas uf der stat. (69,31) Die Krankheit, die ihm von Gott geschickt wurde, wird als Akt der Gnade auch wieder von ihm genommen. Seuse greift hier auf ein zirkulierendes Modell zurück, das gerade das Leiden an körperlichen Krankheiten eng mit der Passion Christi verbindet. Auch Margaretha Ebners Offenbarungen, die früher entstanden sind als die Vita Seuses, 231 verwenden das Modell. Es soll hier aber nicht ein Abhängigkeitsverhältnis postuliert werden; die sinnstiftende Deutung von körperlicher Krankheit als Möglichkeit der imitatio Christi ist ein gängiges Modell der sogenannten Passionsmystik. Es handelt sich nicht einfach um Übernahmen, die normalerweise im Sinne der Einflussnahme eher in die umgekehrte Richtung aufgestellt wurden: von den gelehrten Theologen zu den ungelehrten Frauen. Vielmehr kennt Seuse die zirkulierenden Modelle und eignet sie sich an, um seine theologischen Konzepte mithilfe der verbreiteten Deutungsmuster darstellen zu können. 232 3.5.5 Transformation in der Krankheit - Die Verschmelzung der Narrative Während in der ersten kurzen Krankheitserzählung im 23. Kapitel der Diener die Passion in seiner Betrachtung selbst heranzieht, um sein Leiden heilsgeschichtlich zu deuten, gilt für die zweite Krankheit im 30. Kapitel in viel höherem Maße die Konvergenz vom Leiden Christi und dem Leiden des Dieners auf der Ebene der Narration. Das 30. Kapitel kann als typologische Erfüllung der Leiden Hiobs gelten, die im 20. Kapitel angekündigt wurden. Aus struktureller Perspektive werden die einzelnen Teile durch Modellfiguren oder typologische Beziehungen miteinander verbunden. Diese Verbindungen 231 Zur Entstehungsgeschichte der Offenbarungen vgl. Urban Federer, Mystische Erfahrung im literarischen Dialog, S. 240ff. Margaretha schloss die Offenbarungen wohl 1348 ab und starb 1351. Für die Vita Seuses ist die genaue Entstehungszeit nicht zu ermitteln. Das Exemplar, der Werkverbund, in dem die Vita fast ausschließlich überliefert ist, wurde 1362/ 63 zusammengestellt, wobei dieses Datum aus dem Todesdatum, 1362, des im Text genannten Provinzials der Teutonia, Bartholomäus von Bolsenheim, geschlossen wird. Diese Datierung lässt schließen, dass die Vita nach den Offenbarungen entstanden ist. 232 Eine ähnliche, allerdings gegenläufige Dynamik beschreibt Burkhard Hasebrink, Elsbeth von Oye: Offenbarungen, für die Dominikanerin Elsbeth von Oye. Sie übernimmt Konzepte und Modelle von Eckhart, eignet sie sich aber in einer Weise an, dass nicht von einer einseitigen Abhängigkeit die Rede sein kann; die Aneignung „erweist sich als Kennzeichen einer Textualität, die heterogene Elemente des religiösen Diskurses aufgreift und zu einem ganz eigenen, in sich spannungsreichen und dynamischen Modell religiöser Selbstdeutung kontaminiert“, S. 262. Narrative Genese der Figur 204 verknüpfen den Text auf einer makrostrukturellen Ebene. 233 Aber das Kapitel kann auch als Kulminationspunkt der Leidenskapitel gelesen werden, die nach und nach die Angleichung im Leiden und Sterben mit Christus entfalten. Aus dieser Perspektive stellt das Kapitel die Wiederaufnahme, Steigerung und Kulmination des thematischen Bereichs der Krankheit vor der Folie der Liturgie dar. Wie werden Krankheit, Sterben und Tod in diesem Kapitel erzählt? Wo liegen die Unterschiede zur ersten Krankheitserzählung im 23. Kapitel? Bereits die Überschrift gibt wieder einen Hinweis: Wie er von lidenne eins mals kam uf den tod. (87,2) Prominent wird der Tod noch vor dem Beginn der Erzählung erwähnt, Krankheit und Tod stehen nun bereits in der Überschrift. Das ganze Kapitel führt vor, wie der Diener das Leiden und Sterben Christi nicht mehr nur als Folie verwendet, um seine eigene Krankheit zu deuten, sondern wie sein Leiden in das Leiden Christi übergeht. Diese Konvergenz des Leidens wird sowohl in einem Selbstgespräch des Dieners reflektiert, als auch narrativ umgesetzt in einer Rahmenerzählung. Anders als in der Krankheitsgeschichte des 23. Kapitels ist die Reihenfolge von Deutung und Krankheit umgekehrt. Während der Diener in der ersten Episode unter den unerträglichen Schmerzen und der Todesangst leidet, die er in einem Akt sinnstiftender Betrachtung mit dem Leiden Christi parallel setzt, wird im 30. Kapitel zuerst die Passion Christi aufgerufen und erst darauf folgt die Krankheit. Die Krankheit fällt dem Diener nicht nur zu, sondern wird ihm zuvor angekündigt. Dabei wird ihm aber nicht einfach eine Krankheit angekündigt; vielmehr wird explizit der Kulminationspunkt christlichen Leidens an der Gottesferne aufgerufen: Der Psalmruf Christi am Kreuz. Dieser wird während des Schlafes im Inneren des Dieners von dem nicht näher definierten neiswaz wiederholt, das den salmen von unsers herren marter: Deus, Deus meus, respice in me (87,5f.) anstimmt. An dieser Stelle schon verschmilzt die Erzählung von der Passion Christi mit der Erzählung vom Leiden des Dieners. Denn der Psalm, den der Text anzitiert, wird weiter ausgeführt und in die Passionsgeschichte eingeordnet: den salmen sprach der ellend Cristus, do er an dem galgen des crúzes in sinen n  ten von dem himelschen vater und von menlich gelassen waz. (87,6ff.) Die Verlassenheit von Gott und der Welt, die die zentralen Leiden ausmachen, die dem Diener im 20. Kapitel angekündigt wurden und die in der Reihe der zufallenden Leiden immer und immer wieder durchgespielt wurden, finden hier ihren Ursprung und Zielpunkt. Es ist das Leiden Christi, das im 20. Kapitel gar nicht explizit aufgerufen wurde, das nun aber das Leiden des Dieners überblendet. Und es ist gleichzeitig ein Leiden, das durch die Stimme des neiswaz mit einer höheren Geltung versehen ist und das von vornherein in einem Geltungsrahmen gnadenhafter Mitteilung steht. Die Liturgie wird in der Vita Seuses freier verwendet als etwa bei Margaretha Ebner. Während sie ihre Krankheit vor der Folie der Liturgie deutet, also entlang des liturgischen Jahres, sind die liturgischen Referenzen in der Vita 233 Kapitel 2.2 Modellfiguren und Figurenmodelle beschreibt diese strukturelle Perspektive. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 205 vollkommen ins Innere verlagert. Der 21. Psalm wurde an den Fastensonntagen zur Prim gesungen, taucht also immer wieder im liturgischen Vollzug auf. 234 Sterben und Tod Christi werden durch das Psalmzitat als Deutungsrahmen aufgerufen, bleiben aber nicht äußerlich als Teil der Liturgie, sondern erklingen im Inneren des Dieners. Die Liturgie wird hier nicht mehr kollektiv während der Gebetszeit vollzogen, sondern ist ganz internalisiert. Es wird kein Gnadenakt beschrieben, der während der Liturgie stattfindet, wobei die Liturgie als vermittelnder Vollzug zu denken wäre. 235 Das im Inneren gesprochene Wort ist nicht mehr nur das Wort, das in der Messe gefeiert wird, sondern bestätigt die Authentizität des im Folgenden geschilderten Leidens. Dass es sich bei jenem Leiden, das dem Diener angekündigt wird, um ein christförmiges Leiden handelt, stellt der Text durch die viermalige Wiederholung des krúzes dar. Das Kreuz im Text führt eine Bewegung vor vom heilsgeschichtlichen Ort des Todes Christi zum individuell zu vollziehenden Leiden, das der Diener als sein eigenes Kreuz durchleiden muss. So ist das Kreuz als erstes der Ort, an dem Christus den 21. Psalm betet. Während er an dem galgen des crúzes (87,7) leidet, spricht er diejenigen Worte, die der Diener im 30. Kapitel hört. Beim Erwachen erschrickt der Diener über diese Ankündigung und wendet sich nun seinerseits an daz krúz mit bitterlichen trehen (87,10) und spricht ein Gebet. Darin bittet er um Beistand, solle er nun ein núwes krúzgen mit dir [mit Christus, S.B.] erliden (87,11). Und die Ankündigung des Leidens durch den Psalm wird eingelöst, wenn es heißt: Do daz krúz kam, als im vor waz gesin, do begonden ungehúrú liden. (87,13f.) Die Leiden des Dieners werden im 30. Kapitel aber nicht mehr als Prüfungsleiden eingeführt. Es sind Leiden, die entbilden und in Christus gebilden. 236 Die Bewegung vom Leiden Christi am Kreuz, aufgerufen im Psalm, über die Anbetung des Kreuzes als 234 Vgl. William R. Bonniwell, A History of the Dominican Liturgy 1215-1945, New York 1945, S. 137. 235 Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit, etwa weist auf den engen Zusammenhang von Liturgie und unio in den Texten Mechthilds von Hackeborn und Gertruds von Helfta hin: „Beide Helftaer Texte weisen ein einheitliches Darstellungsprinzip auf, nämlich die Unio innerhalb der Meßfeier zu situieren und sie damit eng an den liturgischen Rahmen zu binden. Die Unio-Darstellung setzt in der Mehrzahl der Fälle ein mit der präzisen Angabe des Festtages im Kirchenjahr und verweilt bei einem bestimmten Punkt im liturgischen Ablauf.“ Im Gegensatz zur unio-Darstellung, wie sie in diesen Texten zur Darstellung kommt, liegt der Schwerpunkt bei Seuse gerade nicht auf ekstatischen unio-Erfahrungen, die zwar als zeitliche und räumliche Entgrenzungserfahrungen beschrieben werden, aber doch beschränkt bleiben auf die punktuellen Intensitäten des Gottesgenusses. Seuse dagegen will eine Verstetigung im Leiden darstellen, also den Gegenpart zum blitzhaften raptus der Gottesschau. Darum ist in der Vita auch die Darstellung nicht oder anders problematisch. Gezeigt wird keine unio, die, wie Köbele schreibt, zurückgebunden werden muss „in einen approbierten Rahmen [...], der durch einen hohen Grad von Öffentlichkeit und Kollektivität definiert ist“, S. 112. Gezeigt wird der Weg in die Gottheit durch das Leiden und nicht als Teil medialer Praktiken. 236 Vollständig lautet die Frage nach der Entbildung, Bildung und Überbildung, wie sie sich im Spruchkapitel 49 findet folgendermaßen: Ein gelassener mensch m  ss entbildet werden von der creatur, gebildet werden mit Cristo, und úberbildet in der gotheit. (168,9f.) Narrative Genese der Figur 206 das Symbol des Leidens schlechthin bis hin zur Bezeichnung des eigenen Leidens als Kreuz vollzieht eine Individualisierung des Leidens und die vollkommene Umsetzung der Passion Christi im eigenen Leben. Das Leiden des Dieners ist nun nicht mehr Prüfungsleiden oder zufallendes Leiden, sondern es ist transformiert in das núwe krúzgen, in das krúz, das das Narrativ des Dieners mit dem Passionsnarrativ konvergieren lässt. Nach der Exposition, die mit der Wiederholung des Kreuzes das Thema vorgegeben hat, beginnt das erzählerische Geschehen mit einem für die Vita typischen punktuellen Einsatz: eins abendes. Der Diener befindet sich außerhalb seines Konvents, ist also wohl, wie in den vorhergehenden Kapiteln, auf seelsorgerischer Reise. Er erleidet aufgrund des krúzes, das ihm geschickt wurde, einen Schwächeanfall, glaubt sterben zu müssen - daz er iez m  sti aller ding vergan (87,20f.) - und wird bewusstlos. Beschrieben wird die Ohnmacht als totenähnlicher Zustand und zwar nicht nur einmal, sondern in wiederholter Weise. Der Erzähler kommentiert die Ohnmacht folgendermaßen: Er gelag also stille, daz sich kein ader an sinem lip r  rte. (87,21f.) In diesem Zustand findet ihn sein Pfleger, der als Augenzeuge für den vermeintlichen Tod eine entscheidende Rolle für die Kommunizierbarkeit des Sterbens einnimmt. Der Pfleger hält den Diener für tot, er kann dessen Herzschlag nicht mehr fühlen, der sich als wenig r  rte als in einem toten menschen (87,26). Er bricht in eine Klage über den Tod des Dieners aus, nach der er erneut prüft, ob der Diener vielleicht noch lebe. Doch für den Augenzeugen stellt sich die Situation eindeutig dar: Do waz kein bewegde da; daz antlút war ime erbleichet, sin mund erswarzet und ellú leblichi waz da hin als eines toten menschen, den man uf die bare hat geleit. (88,6ff.) Immer wieder wird der äußerliche Tod des Dieners beschrieben, der in drastischer Weise geschildert ist. Zweimal wird er dezidiert mit einem Toten verglichen, wiederholt wird auf seine Regungslosigkeit hingewiesen. Der Erzählrahmen, die Beschreibung des toten Dieners, wird am Ende des Kapitels wieder aufgenommen. Dazwischen geschoben ist ein inneres Gebet des Dieners in Form einer commendatio animae. 237 Es ist dem Erzählrahmen chronologisch vorgeordnet, im discours aber nachgestellt. Zeitlich steht das Gebet vor dem Erzählrahmen, in dem der Pfleger seinen vermeintlichen Tod entdeckt, was der Text selbst deutlich formuliert: wol geschah daz, e daz er beg  ndi also vast swachen und von im selber komen. (88,12f.) Markus Enders fasst den Inhalt des Gebets zusammen und weist darauf hin, dass das „Abschiedsgebet zur ewigen Weisheit [...] in vielen Punkten einen Heinrich Stirnimann, Mystik und Metaphorik, verweist darauf, dass mit diesem Spruch eine Zentrierung auf das exemplarische Leben Christi in den Mittelpunkt gestellt wird, S. 248: „Im Zentrum steht das gebildet...mit Cristo, - ein Syntagma, das bei Eckhart fehlt! Mit dem mittleren Stichus wird der ganze Spruch auf das geschichtlich vorgelebte, exemplarische, spiegelliche Leben Jesu zentriert.“ 237 Zur commendatio animae vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 668f. Während in diesem Gebet die Kirche die Seele auffordert, die Welt zu verlassen und in die Ewigkeit einzukehren, wendet sich der Diener in seinem Inneren direkt an Gott. Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 207 exemplarischen, den Abschiedsworten Jesu im Johannesevangelium nachgebildeten Charakter [hat]: Sein Anruf aller Heiligen, Engel und Marias um Fürbitte für ein gutes Ende, seine aus Lk 23,46 modifiziert aufgenommene und an Maria gerichtete ‚Übereignungsformel‘: ‚Ach, Frau, meine Mutter, in manus tuas commendo spiritum meum [...]‘; 238 sein Gotteslob für sein bewußt erlebtes Ende, sein Vergeben gegenüber allen Widersachern, die ihm Leid zugefügt haben; seine letzte Bitte - entsprechend dem ‚Testament‘ Jesu in Joh 17,9ff. - gilt seinen ‚lieben geistlichen Kindern‘.“ 239 Enders sieht diese Übereinstimmung, er liest das ganze Kapitel aber fast metaphorisch. Den Tod des Dieners setzt er stets uneigentlich in Anführungszeichen, da er laut Enders nur ein Zeichen für „die Erfahrung einer gänzlichen Beziehungslosigkeit zu Gott, einer vollkommenen Gottesferne“, die „zugleich die Erfahrung des ‚Todes‘ der eigenen Seele“ sei. 240 Enders geht in der Lektüre dabei kaum auf die körperliche Manifestation der Todesähnlichkeit ein, für die in der Vita ja ausdrücklich Augenzeugen benannt werden. Der Tod des Dieners ist darum nicht nur als „Tod der Seele“ zu lesen, die am Leiden an der Gottesferne zugrunde geht. Es ist auch die körperliche imitatio, die sich in Leiden, Tod und - das sei vorweggenommen - Auferstehung im 32. Kapitel vollzieht. Entsprechend ist auch das Gebet des Dieners nicht einfach nur den Worten Jesu nachgebildet, sondern stellt das körperliche Sterben des Dieners, der am tiefsten Punkt seines Leidens zu Gott betet, in die Nachfolge der Passion. Die vielen Parallelen des Gebets zu den Abschiedsworten Jesu zeigt deutlich, wie der Text das Sterben des Dieners in die Spuren des Sterbens Jesu lenkt. Sein Narrativ geht über in das biblische Passionsnarrativ, das eigene Erleben der Figur vollzieht sich im überlieferten heilsgeschichtlichen Muster. Insbesondere am Ende zeigt der Text, wie der Diener die Angleichung konkret macht, indem er spezifische Handlungen Jesu benennt, zu seinen eigenen macht und zweimal direkte Parallelen zu Handlungen Jesu zieht. So vergibt er allen, die ihm je Leid zufügten und zwar so, als du [Jesus, S.B.] vergebe an dem crúce den, die dich toten (89,16f.). Außerdem befiehlt er Christus seine liebú geistlichú kind (89,21), genauso wie dieser seine Jünger Gott befohlen hatte: als du an dinem jungsten hinscheidene din lieben junger dinem himelschen vater mit trúwen beviel, in der selben minne sien sú dir bevoln, daz du in och ein g  t heilig ende verlihest. (89,23ff.) Die Figur öffnet sich mit diesen Bitten ganz auf Christus und auf die Heilsgeschichte. In ihnen wird Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Nähe und absolute Differenz formuliert, die der Text sorgfältig bewusst hält. Überdeutlich wird auf die Vermittlungsinstanz Christi hingewiesen, wenn der Diener zwischen den beiden Bitten sein eigenes letztes Abendmahl aufruft, das er trotz schweren Leidens zu sich nahm. Der g  tliche [...] 238 Diese Übereignungsformel ist Teil der commendatio animae: „Im Moment des Sterbens, bei der letzten Anempfehlung der Seele an Gott, der ‚Commendatio animae‘, erscholl Jesu eigener Sterberuf: ‚Pater, in manus tuas commendo spiritum meum‘“, Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 669. 239 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 148. 240 Ebd., S. 147. Narrative Genese der Figur 208 fronlicham (89,17), die Hostie, soll der beh  ter und [...] beleiter sin hin z  dinem g  tlichen antlút. (89,17f.) Zwar übernimmt der Diener zitathaft im Gebet die Worte Christi, doch die Differenz bleibt stets offensichtlich. Das Sterbegebet, das in all den vorangehenden Kapiteln und den vielfältigen Todesarten vorbereitet wurde, kulminiert im letzten Satz. Dieser ist abgesetzt von den vorhergehenden Sätzen, die alle Apostrophen an die Vermittler zwischen diesseitiger und jenseitiger Sphäre sind: die Heiligen, Maria, die Engel, Christus. Hier nun dreht sich die Perspektive, denn der Diener spricht niemanden mehr an, sondern vollzieht in einem performativen Sprechakt seine eigene Transformation: Nu nim ich einen lidigen abker von allen creaturen, und ker mich hin z  der blossen gotheit in den ersten ursprung der ewigen selikeit. (89,26f.) Wie aber ist die Abkehr darstellbar? Die Vita stellt die Transformation des Dieners, seine Loslösung von allem Irdischen und seine Einkehr in die Gottheit in einem doppelten Abbruch dar: Das Gebet bricht an dieser Stelle und mit diesem Satz, der einen Kulminationspunkt darstellt, ab und das Erzählen im ersten Teil insgesamt endet hier. Nach dem Gebet folgt nur noch ein knapper Erzählerkommentar, in dem darauf verwiesen wird, dass der Diener nun die swachheit erleidet, von der geseit ist (89,30.). Der Erzähler ordnet das Gebet also am Anfang und am Ende sorgfältig in den chronologischen Ablauf ein; die Chronologie aber bricht er auf. Durch die Umstellung wird das Gebet und vor allem dessen letzter Satz zum Kulminationspunkt des Sterbens, letztlich zum Kulminationspunkt aller vorangegangener Kapitel. In seiner Todesangst wendet sich der Diener den Vermittlern und zum Schluss ganz Gott zu. Der letzte Satz sagt aus, was der Diener tut, ist also ein performativer Satz. Das Tun jedoch, nämlich die Rückkehr in die reine Gottheit, kann der Text nicht zeigen und bricht ab. Die Transformation im Sterben des Dieners vollzieht sich im Abbruch des Erzählens, nicht im Erzählen seines körperlichen, todesähnlichen Zustands. Gleichwohl ist das Kapitel noch nicht ganz beendet. Denn dem erzählten Tod am Anfang schließt sich die Auferstehung im letzten Satz an. Als der Diener und alle anderen Menschen denken, er sei tot, wird in einem knappen und das Kapitel schließenden Satz seine Genesung geschildert: Do er und endrú menschen wanden, er s  lte vergangen sin, dar an neiswen do kom er wider z  im selb, daz erstorben herz begond wider leblich werden und dú krenkú gelider wider z  in selber komen, und genas, daz er ward wider lebende als ie von erst. (90,1ff.) Das Sterben des Dieners wird von Szenen gerahmt, in denen Zeugen auftreten, die seinen Tod ebenso wie die gnadenhafte Auferstehung kommunizierbar machen. An seinem Körper werden Zeichen sichtbar, die seine imitatio manifest werden lassen, nämlich die Zeichen des Todes. Diese Zeichen, die ihm bereits mit dem Psalmwort angekündigt wurden, sind so aber nicht nur Zeichen einer inneren Transformation, sondern erlauben es auch dem sozialen Außenraum, die Evidenz der Heiligung wahrzunehmen. Die Personen des Außenraums sind Zeugen für das Wunder, das dem Diener widerfährt, das Wunder, das nicht kommunizierbar im Inneren des Dieners wirkt, aber nach Räume des Leidens - Das langsame Sterben im Außenraum (Kap. 23-30) 209 außen sichtbar den Diener transformiert. Das Sterben mit Christus ist so nicht nur ein privater Akt, sondern bezieht auch die Umgebung mit ein. Doch der Zielpunkt des Kapitels ist nicht die Heilung als Auferstehung, sondern das Sterben mit Christus, aus dem man das paulinische Wort weiterführen könnte, das im letzten Teil der Vita zitiert wird: ich leb, nit me ich, Cristus lebt in mir (182,31; 186,21). Die vorangegangenen Kapitel haben das Thema Tod und Sterben in sich steigernder Form entfaltet und sind nun konsequent auf ihren Höhepunkt zugesteuert: Die Hingabe des Dieners an Gott im Sterben, das im vermeintlichen Tod ganz im Deutungsmuster der Passion vollzogen wurde. Es wird das 13. Kapitel aufgegriffen und eingelöst, das dem Diener das Leiden Christi als Weg gewiesen hatte: Du m  st den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du warlich komen z  miner blossen gotheit. (34,11f.) Der 21. Psalm hat das Deutungsmuster am Anfang des Kapitels und damit den Sinnhorizont der Krankheit vorgegeben. Anders als Margaretha Ebner vollzieht der Diener Krankheit, Sterben und Auferstehung nicht oder nicht primär vor der Folie des liturgischen Jahres. Der Psalm am Anfang verweist zwar auf die Liturgie der Fastenzeit und wird im 32. Kapitel weiter ausgeführt. Die Vita Seuses geht aber einen Schritt weiter. Es ist nicht der Nachvollzug der Passion, geleitet von den liturgischen Tagen, sondern es ist die Internalisierung der Passion, der Nachvollzug des Sterbens Christi im Inneren des Dieners, das die Vita darstellt. Theologisch wird in dem Kapitel die „‚mystische Vollendung‘ des Dieners durch den vollkommenen ‚Tod‘ seines Eigenwillens“ geschildert. 241 Narrativ wird die mors mystica als Höhepunkt des Erzählens vom Leiden dargestellt, mit dem das Erzählen zugleich abbricht. Durch passives Erleiden der Krankheit und durch das Sterben mit Christus wurde die Intentionalität, die der Erzeugung von Leiden inne wohnen kann und daher eine völlige Hingabe an Gott verhindert, immer weiter minimiert - um im Tod letztlich einen Durchbruch durch die Intentionalität zur Darstellung zu bringen. Die Transformation des Dieners, die Abkehr von den creaturen und die völlige Hinwendung zu Gott, so führt der Text vor, liegt nicht mehr im Bereich des Erzählens, das sich nun vollendet hat. Die letzten beiden Kapitel des ersten Teils, Kapitel 31 und 32, sind entsprechend keine narrativen Kapitel. Sie stellen keine Zustandsveränderung mehr dar, sondern sind Reflexion und Offenbarung. 242 Die Figur hat ihre religiöse Identität vollendet, sie hat ihre eigene Identität überschrieben mit den Worten Christi. Sie muss und 241 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 146. 242 Als narrativ im weiteren Sinne bezeichnet Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, diejenigen Texte, die „eine Zustandsveränderung darstellen und somit eine Geschichte erzählen“, S. 286. Dabei werden die Ereignisse als besondere Form der ansonsten unübersichtlich vielzähligen Zustandsereignisse herausgegriffen, die durch Kategorien ausgezeichnet sind, zu denen Relevanz, Irreversibilität und Non-Iterativität gehören. In der Vita wird im 30. Kapitel das - religiös betrachtet - entscheidende Ereignis erzählt, nämlich das Sterben mit Christus. Danach werden keine Zustandsveränderungen mehr erzählt, sondern das Ereignis wird aus verschiedenen Perspektiven weitergeführt, der Text ist nicht mehr narrativ nach der Definition von Wolf Schmid. Religiös gesprochen geht die narrative Darstellung über in die Offenbarungsrede. Narrative Genese der Figur 210 sie kann darum nicht mehr im Handlungsrahmen erzählt werden, das Erzählen in iterativen Strukturen ist zu einem Endpunkt gekommen. 3.6 Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 3.6.1 Vom Vollzug zum Wissen - Leiden und Erkenntnis Mit dem Abbruch der iterativen Struktur und dem darin ausgestellten wiederholten Leiden setzt ein neuer Modus ein. Statt den Diener als hilflosen Körper im Raum zu zeigen, wird seine Stimme inszeniert, die das erlittene Leiden nun auf einer Metaebene reflektiert. Denn zu einem Grundproblem, das die Vita immer wieder ausstellt, gehört das Verhältnis von Wissensvermittlung und der daraus folgenden Umsetzung von Wissen. So wurde dem Diener im 19. Kapitel Wissen über gelâzenheit und m  zecheit vermittelt, das zu dem Missverständnis führte, er dürfe nun ein bequemes, müßiges Leben beginnen. Möglichkeiten der richtigen Annäherung an die Gelassenheit und die Aufgabe des Eigenwillens wurden im 20. Kapitel in einem Raster des Leidens konkretisiert, das dem Diener sinnstiftende Muster zur Verfügung stellte, um zukünftiges Leiden deuten zu können. Die folgenden Kapitel 23 bis 30 entfalteten dieses Raster narrativ und implizit, sie reflektierten das Leiden als Weg in die Gelassenheit nicht, sondern stellen die Figur des Dieners in Handlungsvollzügen dar, in denen das unverfügbar zufallende Leiden ihn immer näher an den Tod führt. Das Leiden des Dieners wird als Habitualisierung und als Vollzug des Wissens erzählt. In der iterativen und sich steigernden Kapitelreihe lief das Leiden dabei auf einen Kulminationspunkt zu, das Sterben mit Christus. Was Kapitel 20 also im Raster des Leidens als Deutungsmuster diskursiv vermittelt, vollziehen die folgenden Kapiteln im Narrativ - die iterativ gereihten, das Leiden immer wieder erzählenden Kapitel stellen performativ aus, wie der Diener das Wissen um die Notwendigkeit des Leidens nicht intellektuell wahrnimmt, sondern mit seiner gesamten Existenz vollzieht. Im 31. Kapitel bricht das Erzählen des Leidens ab, das erlittene Unglück wird auf seinen Erkenntniswert hin geprüft. Im ersten Satz zeigt der Text bereits, dass eine andere Ebene der textuellen Darstellung zur Disposition steht, wenn es heißt, dass der Diener disen langwirigen kampf mit tiefer betrahtung hinderdahte (90,8f.). Die vorausgehenden Kapitel werden vom Diener als langer Kampf synthetisiert und zum Ausgangspunkt einer Betrachtung genommen. Das Kapitel wechselt schon im ersten Satz von der narrativen Darstellung der Leiden zur Frage nach der Bedeutung der Leiden. Die Figur macht nicht nur den Prozess der Leidenserfahrungen darstellbar, sie bietet auch die Möglichkeit, im Text Fragen aufzuwerfen und über das Leiden im Dialog zu reflektieren. Und entsprechend stellt der Diener aus der Betrachtung heraus die Frage nach der Bedeutung des Leidens. Er bittet um die Einsicht, die das harte Leiden erträglicher machen würde: ach zarter herr, disú vor genantú liden dú Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 211 sint uswendig an ze sehene als die scharpfen dorne, die dur fleisch und bein tringent; dar umbe, zarter herr, so lass usser den scharpfen dornen dero liden etwas s  sser fruht us dringen einer g  ter lere, daz wir erbetseligú menschen dest gedultklicher liden und unser liden in gotes lob dest baz kunnin uf tragen. (90,11ff.) Der Diener redet hier aber nicht nur von sich, sondern er bezieht alle erbetseligú menschen mit ein. Damit öffnet sich sein Gebet für alle, die das Leiden bislang narrativ mitvollzogen haben. Der Diener formuliert stellvertretend für die Leserinnen den Wunsch, Einsicht in den Lohn des Leidens, in die süße Frucht der Lehre zu erhalten. Dabei gerät der Text in eine paradoxe Spannung, denn die Lehre wird erst nach der Darstellung des Leidensprozesses erbeten. Warum erläutert der Text die Lehre nicht etwa im 20. Kapitel und gibt der Figur somit bereits vor der Umsetzung in das immer wieder erzählte Leiden die Aussicht auf den Gewinn an die Hand? Es scheint eben gerade das paradoxe Verhältnis von Wissen und Umsetzung, das die Reihenfolge bedingt. Die Einsicht in das Leiden ist erst verständlich, nachdem die Einübung in das Leiden vollzogen ist. Der Diener muss das Leiden erst am eigenen Körper erfahren, bevor er sinnstiftend deuten kann. Im unverfügbaren Leiden muss der Eigenwillen und das Selbst aufgegeben werden, um den Gotteswillen zu erkennen. In zwei Schritten wird auf die Bitte des Dieners nach Einsicht in die Lehre geantwortet. In einem transformierenden raptus wird dem Diener die Bedeutung des Leidens gezeigt. In einem zweiten Schritt vermittelt der Diener die Lehre in einem langen Gebet an seine Mitmenschen. Nachdem der Diener, so heißt es im Text, seine Bitte um die g  te [...] lere immer wieder vorgebracht hat, wird ihm diese Einsicht schließlich gewährt. Die Vita greift das Vokabular des zweiten Kapitels auf, in dem der Diener mit sunderlich gedrenge von swerem liden (10,14f.) kämpft. Aus diesem Leiden wird er mit einem raptus, einer als ekstatisch beschrieben Einheitserfahrung herausgerissen, die dem raptus des Paulus nachgebildet ist. 243 Wie im zweiten Kapitel wird auch im 31. Kapitel die Vision mit dem Verb verzuken beschrieben, das in der Vita ansonsten für die Visionen des Dieners nicht verwendet wird. 244 In einer Formulierung, die gleichzeitig Verinnerlichung und 243 Zur Gestaltung des raptus in der Nachfolge Pauli, vgl. Kapitel 2.2 Modellfiguren und Figurenmodelle. 244 Das Verb verzuken wird nur in den beiden oben genannten Kapiteln für den Diener verwendet. Ansonsten gibt es lediglich drei weitere Belegstellen, die interessanterweise alle Anna zugeordnet sind, einer Dominikanerin, die immer wieder Visionen hat, in denen sie den Diener sieht. In ihrem Fall ist das verzuken immer zurückgebunden an ir andaht (63,15; 102,6; 115,14), ihre Entrückung erscheint auch nicht in der selben Weise, wie diejenige des Dieners, sondern ist immer beschrieben als narrative Szene, in der sie den Diener sieht. Indem verzuken mit andaht verbunden wird, ist es deutlich in den Kontext der Gebetspraktiken zurückgebunden. Der Aufsatz von Johanna Thali, andacht und betrachtung, bestätigt die Verwendungsweise von Andacht: „Die als andacht bezeichnete ‚Hingabe an Gott‘ wird nicht allein mit Bezug auf die innere Haltung beim Singen und Beten verwendet, sondern auch bei Körpergebärden […] Die Andacht involviert also nicht allein den Geist, sondern auch den Körper“, S. 243. Die Visionen der Narrative Genese der Figur 212 Transgression ausdrückt, wird der Diener sich selbst enthoben: do geschah eins males, daz er neiswi ward verzuket in sich und úber sich selb. (90,18f.) Im zweiten Kapitel wird die Einheitserfahrung, die explizit als allen zungen unsprechlich (10,17) bezeichnet wird, deutlich als zeitlich beschränkte Erfahrung der göttlichen Süße beschrieben. Während das zweite Kapitel eine begrenzte Ekstase beschreibt, zeigt das 31. Kapitel, wie innerhalb der Entgrenzungserfahrung die Erkenntnis des Dieners grundlegend gewandelt wird. Die Verzückung ist keine Selbstvergessenheit in der Herrlichkeit Gottes, kein Stillwerden im Ursprung. Es ist eine grundlegende Einsicht des Dieners in das Leiden, eine Transformation seiner Haltung zum Leiden. Das zweite Kapitel, das dem anfangenden Diener erste Einsicht in das göttliche Wesen gewährte, wird im 30. Kapitel aufgenommen und eingelöst. Nicht mehr nur als Trost, sondern als verstetigte Einsicht in die Möglichkeit der Angleichung wird der Diener hier verzukt. Was dem Diener in der entsunkenheit der sinne (90,19) offenbart wird, spricht eine Stimme s  zeklich zu ihm; die Süße ist, wie im zweiten Kapitel, Leitsemantik der göttlichen Mitteilung. 245 Die Stimme teilt ihm mit: ich wil dir hút erz  gen den hohen adel mins lidens, und wie ein lidender mensch sol sin liden in lobricher wise dem minneklichen gote wider uf tragen. (90,20ff.) Doch der Text führt die Einsicht des Dieners in das vollkommene Leiden Christi nicht aus; was dem Diener offenbart wird, steht nicht in der Vita. Denn diese Erkenntnis ist nicht mehr erzähl- und erklärbar, sie wird stattdessen als Entgrenzungserfahrung beschrieben, die von den s  zzen ingesprochnen worten ausgelöst wird. Die Seele des Dieners zerfließt ihm im Leib, sein Herz ist von grundloser v  lli (90,24) und die Arme seiner Seele breiten sich bis ans Ende des Himmels und der Erde aus. Diese Entgrenzung in der göttlichen Mitteilung transformiert die Erkenntnis des Dieners vollkommen. Er erkennt nun Wert und Notwendigkeit des Leidens. Der Text inszeniert diese Transformation in einem emphatischen Gebet, das die Überformung selbst zum Thema hat. Bislang habe er Gott in seinen gedihten mit all dem gelobt, das an der Schöpfung lustlich ald minneklich (90,28) ist. Mit der gewährten Einsicht erkennt er nun, was das wahre Gotteslob ist: Eya, aber nu so m  ss ich fr  lich uf brechen mit einem núwen reyen und selzenen lobe, daz ich nieme erkande, denne daz es mir nu bekant ist worden in dem lidene. (90,29f.) In der Offenbarung des Anna haben zudem eher belehrenden Charakter oder bestätigen die Erwähltheit des Dieners. Die beiden Entrückungen des Dieners dagegen bewirken jedes Mal eine existenzielle Transformation. 245 Friedrich Ohly, Süße Nägel der Passion, führt Seuse als Beispiel für die Mystik an, die durch die Semantik der Süße die Erfahrung Gottes geschmacklich konkretisiert, S. 68f. Allerdings differenziert er die Verwendung von Süße nicht, sondern listet lediglich Belegstellen sowohl aus dem Exemplar als auch aus dem Horologium Sapientiae auf. Interessant am 31. Kapitel ist aber gerade, dass der Diener dort nicht in die Süße der Gottheit versinkt, sondern dass die Süße auf Erkenntnis abzielt. Es sind die s  zzen [...] worte, es wird s  zeklich gesprochen, und erst die Süße der göttlichen Mitteilung löst die transformierende Erkenntnis aus. Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 213 göttlichen Wortes hat er den Wert des Leidens als Gotteslob erkannt; was er an Leiden ertragen hat, kann er nun sinnstiftend deuten. Dieses offenbarte Wissen teilt er in der folgenden Apostrophe mit. Denn obwohl die visionäre Einsicht im Text als nicht kommunizierbarer raptus dargestellt ist, kann der Diener als Vermittler auftreten. So formuliert er in einem langen Gebet seine Einsicht über Möglichkeiten und Grenzen der Angleichung im Leiden. In einer Apostrophe an ellú mit mir lidendú menschen (91,23) wendet sich der Diener an das exklusive Publikum derer, die sich im richtigen Nachvollzug des Leidens einüben wollen. Damit öffnet er das Narrativ hier für die Rezipientinnen, die sich jetzt direkt angesprochen fühlen können. In einer Reihe von Imperativen fordert er sie auf, Christus im Leiden zu folgen - es ist das Gebet, in dem er das Figurenmodell des Ritters aufgreift und dazu auffordert, als frume riter nicht zu verzagen, sondern das Leiden gerne anzunehmen. 246 Nachdem der Text hier ein Aufmerksamkeitssignal gesetzt hat - das Figurenmodell des Ritters - führt der Diener aus, warum das Leiden in der Nachfolge erstrebenswert sei: Wan weri nit anders nuzzes noch g  tes an lidene, wan allein, daz wir dem sch  nen, klaren spiegel Cristus so vil dest glicher werden, es weri wol angeleit. (92,1f.) Das langsame, schmerzvolle Sterben des Dieners erhält seine sinnstiftende Rahmung, es ist die Möglichkeit der Angleichung, die paradoxerweise aber erst nach dem Vollzug dieser Angleichung auf einer reflektierenden Metaebene formuliert werden kann. Erst der gestorbene und auferstandene Diener, so formuliert es der Text, kann das offenbarte Wissen wirklich verstehen; erst der Vollzug des vollkommenen Untergehens und die Lösung von jeglicher Intentionalität ermöglichen die Angleichung über die gelitnen menscheit. Diese Möglichkeit der Angleichung wird noch expliziter ausgeführt: [A]llein durch der glichheit willen, wan lieb glichet und húldet sich liebe (92,6f.), so der Diener, soll der Mensch den Weg des Leidens wählen. Dahinter steckt der Lehrsatz, nach dem Gleiches nur durch Gleiches erkannt wird. 247 Im Leiden liegt das Potenzial, in Christus überbildet zu werden. Hier 246 Vgl. Kapitel 2.2.6 Transgression Hiobs und Vollendung des Ritters. 247 Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, arbeitet die Gotteserkenntnis in der Angleichung anhand einer Textstelle des BdeW heraus. Im 13. Kapitel, dessen Überschrift lautet: Von unmessiger edli zitliches lidennes (248,2), fragt der Diener, welches Leiden genau das gute und nützliche sei. Die ewige Weisheit erläutert es ihm und kommt schließlich, ähnlich wie im 31. Kapitel der Vita zu dem Schluss: Liden machet mir den menschen minneklich, wan der lidende mensch ist mir anlich. (250,25f.) Michel leitet die dahinterstehende Argumentation aus Brief XII des Großen Briefbuchs ab und verweist auch auf die oben zitierte Stelle aus der Vita: „Christus muß notwendigerweise lieben, was ihm ähnlich ist. Herre...du minnest din glich, daz ist dir natúrlich (DW 441,29; vgl 92,7: lieb glichet und húldet sich ze liebe, wa es kan ald mag). Diese Naturgesetzlichkeit wird auf ein wort in der schrift zurückgeführt, gemeint ist wohl Eccli 13,19 omne animal diligit simile sibi [...] Hier wird also der Grundsatz [...] der Argumentation mit einem Bibelzitat abgestützt und so ein möglicherweise in Zweifel ziehender Diskurs begrenzt“, S. 337. Vgl. auch Dietmar Mieth, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969 (Studien zur katholischen Moraltheologie 15), der auf S. 127ff. und Narrative Genese der Figur 214 wird das Wissen ausgestellt, das die Möglichkeiten des Leidens als Heiligungskonzept explizit formuliert: Es ist die Möglichkeit der Angleichung an Christus, die der Text hier offenlegt. Die emphatisch vorgetragene Aufforderung, das Leiden um der Gleichheit willen zu tragen - immer im kollektiven wir -, steht nun aber nicht unkommentiert, sondern wird sorgfältig gerahmt. Bevor und nachdem der Diener so emphatisch aufgefordert hatte, dem keiserlichen herren im Leiden gleich zu werden, wird zweimal ausdrücklich auf die Differenz verwiesen, die zwischen Christus und den Menschen liegt. Die Apostrophe an die lidendú menschen beginnt nämlich nicht mit der Gleichheit, sondern mit der unhintergehbaren Differenz zwischen den leidenden Menschen und Christus. Mit der traditionellen Körpermetapher wird die Differenz sofort markiert: wir ermú gelider súllen úns tr  sten und fr  wen únsers wirdigen hoptes. (91,23f.) 248 In gleicher Weise führt im BdW die Wahrheit, also die Figuration Christi als Dialogpartner, die Differenz zwischen Christus und den Menschen ein. Der Jünger, im BdW der Dialogpartner, fragt im fünften Kapitel, wie die vermittelnde Funktion Christi aussehe, mit der der Mensch widerinkomen und sin selkeit erlangen kann. 249 Dazu führt die Wahrheit drei Punkte aus, von denen der dritte fast wörtlich die Körpermetapher aus der Vita verwendet: Dirre mensch Christus hatte daz och fúr ellú menschen, daz er ist ein h  bt der kristenheit, nach glicher wise ze redenne dez menschen h  ptes gegen sinen libe. 250 Im Vergleich wird evident, wie unterschiedlich beide Texte funktionieren. Das klar strukturierte BdW vermittelt Wissen, indem es Punkt für Punkt erläutert, wo die Differenzen zwischen Gott und Mensch liegen. Die Zielsetzung scheint vor allem eine Sicherung der angefeindeten Lehre Eckharts zu sein: „Eckhart wußte natürlich, daß Christus kein normaler Mensch war, nur meinte er, man würde den Sinn der Inkarnation nicht verstehen, solange man auf die Gesichtspunkte der Differenz zwischen dem Erstgeborenen und den adoptierten Menschen beharrte. Seuse brachte gerade den Gesichtspunkt der Differenz zum Ausdruck, den Eckhart ausklammern wollte - und legte somit den Grundgedanken der Verteidigungsstrategie offen.“ 251 Die Vita, die weniger der Verteidigung, als vielmehr der Unterweisung diente, lässt den Diener selbst die Differenz formulieren. Die Differenz dient hier nicht nur der theologischen S. 178ff. aus theologischer Perspektive kurz den erkenntnistheoretischen Lehrsatz skizziert, nach dem Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden kann und zwar so, wie Eckhart ihn verwendet. 248 Die ersten Verwendungen der Haupt-Leib-Metaphorik erarbeitet Ruben Zimmermann, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis: Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfeldes in Urchristentum und antiker Umwelt, Tübingen 2001 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II, 122), S. 375ff. 249 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Das b  chli der warheit, kritisch hg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993, S. 16,6. 250 Ebd., S. 18,43ff. 251 Loris Sturlese, Einleitung, in: Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Das b  chli der warheit, kritisch hg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993, S. IX- LXXVII, hier S. XLII. Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 215 Absicherung, sondern auch der Gruppenbildung. Denn durch die Körpermetapher wird die Gemeinschaft der Leidenden zusammengefasst, die Christus folgen. Und Christus ist nicht nur durch die Würde des Erstgeborenen als Haupt ausgewiesen, sondern auch, weil er der Mittler zwischen Mensch und Gott ist. So wendet sich der Diener an Christus, der in doppelter Differenz zu den Menschen als Haupt und als gnädiger Mittler erscheint: Ach, wirdiges hopt unser aller lider, bis úns gnedig, und wa úns gebristet rehter gedultekeit in keiner widerwertikeit von menschlicher krankheit, daz volbring du gen dinem lieben himelschen vater! (91,27ff.) Bevor die Gleichheit zur Sprache kommt, wird in mehrfacher Weise die Differenz in geradezu demonstrativer Weise entwickelt. Nachdem zur Angleichung im Leiden aufgefordert wurde - zur Nachfolge des klaren spiegel Cristus -, nimmt der Text diese Möglichkeit sofort wieder zurück. Es wird eine Differenz eingezogen, die eine Angleichung als Unmöglichkeit ausstellt. Das Gebet wechselt die Anrede, der Diener wendet sich an Christus selbst. Kennzeichnend sind die Interjektionen eya und owe sowie die Apostrophe herr, herr. Sie markieren den Bruch in der Gleichheit und verleihen dem Gebet einen klagenden Gestus. Überdeutlich wird die Differenz wieder eingezogen: Eya, mit waz baltheit geturren aber wir úns dez an nemen, daz wir dir mit únserm lidene glich súlen werden, edelr herr? Owe, liden und liden, wie bist du so gar unglich! Herr, herr, du bist allein der lider, der lidene mit schulden ursach nie gegab. (92,8ff.) Der Text vollzieht eine Bewegung von únserm liden zum kategorial geschiedenen liden und liden zu Christus, der allein der lider ist, zeigt also über die Zuordnung auf der Wortebene bereits die grundlegende Differenz. Das menschliche Leiden und das Leiden Christi sind zwei Größen, die nicht vergleichbar sind. Doch das Gebet bricht nicht mit der Differenzsetzung ab, sondern geht über in einen bilderreichen letzten Bogen. Betont wird nun die Schuldhaftigkeit aller Menschen in ihrem - theologisch gesprochen - „stets unvollkommen bleibenden Leiden“. 252 Die Vermittlung, die die gebresthaftigú menschen (92,22) benötigen, wird in einem weit ausgeführten Bild entwickelt. Es ist das Bild eines Kreises aller leidenden Menschen, die sich um Christus scharen. Explizit spricht der Diener wieder das exklusive Publikum der wahren Leidenden an: so sezzen wir úns, ich meine ellú dú lidenden menschen. (92,15) Das Bild des Kreises wird mit dem Bild des Gnadenbrunnens kombiniert, über das die Differenz wieder in die Möglichkeit einer Angleichung überführt wird. Christus, der im Zentrum des Kreises sitzt, wird als usklinglender gnadenricher brunne (92,19) bezeichnet, um den sich die Menschen scharen, die weit für die Quelle geöffnet sind: [wir] zerspreiten únser turstigen adren wit uf ginende von grosser begirde gen dir. (92,18f.) Hier findet die Ikonographie des Gnadenbrunnen - der ikonographische Terminus wird im historischen Text selbst verwendet - literarische Ausgestaltung, die, so Susanne Wegmann in ihrer kunsthistorischen Arbeit, „erst im späten Mittelalter aufzutreten“ scheint. 252 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 149. Narrative Genese der Figur 216 „Dieses Bildthema bringt [...] das Passionsgeschehen in Verbindung mit der Erlösungshoffnung.“ 253 Wegmann arbeitet zum Fegefeuer in der Ikonographie, macht aber gerade für die Seelen am Gnadenbrunnen eine Ausnahme: „Nicht immer sind die Seelen am Gnadenbrunnen zwangsläufig identisch mit den im Fegefeuer verweilenden Seelen.“ 254 Klar ist aber die Bildsprache der Reinigung der Seelen durch Christi Blut. In der Vita wird das Bild der Fons Pietatis selbst wieder mit einem Bild ausgeführt. So wie die verdorrte Erde den Regen besonders stark aufnimmt, so nehmen auch die Menschen Christus nach dem Maß ihrer Schuldhaftigkeit stärker in sich auf. Das Bild von der Reinigung der Sünden formuliert die Vita schließlich selbst: dur din lidenden hintrieffenden wunden geweschen und aller ding unschuldig werden aller missetat. (92,24f.) Reingewaschen und unschuldig werden, das sei alles, was die Christus zugewandten, leidenden Menschen wollen, so die Vita. Entscheidend ist nun der letzte Satz, der die Wechselseitigkeit und gleichzeitig die Differenz in der Angleichung formuliert. Die um Christus als Lebens- und Gnadenbrunnen gescharten Menschen, die von Sünde und Schuld reingewaschen sind, werden in einem Austauschverhältnis stehen: Sie stehen in ewigem Lob Gottes und empfangen ihrerseits Gottes Gnade. Die Gnade aber besteht in der Angleichung, denn in Gottes gewaltiger vermúgentheit wirt ellú unglichheit abgeleit (92,28). Mit diesem großen Bilderbogen, der den Gnadenbrunnen lebhaft entfaltet, endet das Gebet des Dieners. Die Angleichung an Christus, das betont das Gebet des Dieners überdeutlich, ist rückgebunden an die Gnade. Das 31. Kapitel fasst zusammen, was in den Kapiteln zuvor narrativ entwickelt wurde und stellt es in einen theologischen Bezugsrahmen: die Frage nach Grenze und Möglichkeit der Angleichung. Die Figur des Dieners tritt als Vermittler, als Stimme auf und nicht mehr als Figur im Vollzug, die das Leiden in immer neuen Akten der Opferung mit Christus erleiden musste. Die Vita nutzt hier einmal mehr die Möglichkeiten, die ihr die Figur bietet. Denn der Diener kann darstellbar machen, wo Grenzen und Möglichkeiten der Angleichung sind, wie das erzählte Leiden theologisch zu verstehen ist. Darüber hinaus aber bietet die Figur die Möglichkeit, dieses Wissen nicht nur diskursiv herzustellen, sondern in der Apostrophe als emphatische Anrede zu gestalten. Apostrophe, emphatische Rede, klagende Interjektionen und bildhafte Darstellungen vermitteln nicht nur Wissen, sondern machen es auch affektiv nachvollziehbar. Indem die Freude über die Angleichung übergeht in die Klage über die 253 Susanne Wegmann, Auf dem Weg zum Himmel. Das Fegefeuer in der deutschen Kunst des Mittelalters, Köln 2003, S. 149. Sie verweist dort weiter auf Friedrich Ohly, Gesetz und Evangelium. Zur Typologie bei Luther und Lucas Cranach. Zum Blutstrahl der Gnade in der Kunst, Münster 1985 (Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Neue Folge 1), der das Bild des Gnadenbrunnens herleite aus zwei ikonographischen Themen: „dem Auffangen der Blutstrahlen, die vom Gekreuzigten ausgehen, in einem Kelch [...] und dem Motiv des Lebensbrunnens, in dem im späten Mittelalter das Blut Christi aufgefangen wird.“ 254 Ebd. Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 217 Differenz diskutiert der Text nicht nur die theologische Reichweite einer imitatio, sondern führt performativ vor, wie Identität immer wieder in Differenz umschlägt. 3.6.2 Der transitus in die Freude und die Transgression in die Offenbarung Nachdem im 31. Kapitel die Stimme des Dieners ausführlich erklang, kommt es im 32. Kapitel immer mehr zu einer Rücknahme der Figur. Taucht am Anfang der Kapitels der Diener noch auf, tritt er im zweiten Teil ganz hinter einen langen göttlichen Offenbarungsmonolog zurück. Das 32. Kapitel nimmt in vielschichtiger Weise die vorhergehenden Kapitel auf. Es wird ein liturgischer Bogen gespannt zum 30. Kapitel, vom 31. Kapitel wird auf das 32. Kapitel durch die Semantik der Freude übergeleitet und auf der Wortebene werden im letzten Teil des 32. Kapitels Bezüge hergestellt zum 19. Kapitel, aber auch zum BdW. So wird gleich zu Beginn das 19. Kapitel mit dem zentralen Begriff der gelazenheit aufgegriffen. In einer Offenbarung wendet sich Gott an ellú lidendú gelassnú menschen (93,9), wobei nicht mehr das abstrakte Substantiv, sondern das Adjektiv die konkreten Träger, die Gelassenen, bezeichnet. Die Frage, mit der der Diener das 19. Kapitel beschließt - owe, wenn sol ich iemer ein reht gelassenr mensch werden? (54,32) - ist damit im 32. Kapitel eingelöst. Nach den langen Kapiteln des Leidens und der ständigen Todesnot gehört er nun zu den gelassenen Menschen. Das letzte Kapitel greift viele Fäden auf und übersteigt sie - inhaltlich wie narrativ. Ich möchte anhand von drei Textstrategien zeigen, wie die Vita die Transformation und den Durchbruch zum Abschluss bringt, und wie das Narrativ sich darin auflöst. Als erstes soll kurz die Dimension der Liturgie betrachtet werden, um dann, zweitens, die Bewegung der oben genannten Semantik der Freude im Text nachzuzeichnen. Als letztes schließlich wird exemplarisch gezeigt, wie die göttliche Offenbarungsrede Kollokationen, die im Laufe des Textes auftauchten, wieder aufnimmt und einlöst. Liturgisch greift das 32. Kapitel, das letzte Kapitel des ersten Teils, mit der Erwähnung des fr  lichen ostertag (93,4) das 30. Kapitel auf, das mit Ps 21 die Liturgie der vorösterlichen Fastenzeit zum Ausgangspunkt nahm. Der Bezug zwischen Sterben, Tod und Auferstehung wird explizit formuliert, denn in einer Betrachtung an eben jenem Ostertag spricht Gott zum Diener: Sú sind mit mir erstorben, sú son och mit mir fr  lich erstan. (93,12) Die biblische Referenzstelle ist Röm 6,8. Gemeint sind ellú lidendú gelassnú menschen, zu denen der Diener ebenfalls gehört, da die Apostrophe sich an ein úch wendet, ein ‚euch‘, das auch den Diener umfasst. Im 30. Kapitel war die Angleichung des Dieners an Christus durch eine Überblendung der Narrative erzeugt worden, der Diener wird im Narrativ an das Sterben Christi herangeführt. Die Vita arbeitet nun an der Auslotung der Möglichkeiten einer imitatio, die nicht im Nachvollzug des Leidens stehen bleibt, sondern die als Durchbruch in die Gottheit gedacht wird. Tod und Auferstehung bedeuten Kulmination und Transgression des Narrativs. Während das Leiden Teil der Erzählung war, kann die Auferstehung, die im Verlauf des Kapitels als durpruch bezeichnet Narrative Genese der Figur 218 wird, nicht mehr als Erleben der Figur dargestellt werden. Stattdessen rückt in zunehmendem Maße die göttliche Mitteilung ins Zentrum, die offenbarende Rede löst die Narration ab und letzlich auf. Das fr  lich erstan aus der Vita findet sich fast wörtlich auch bei Margaretha Ebner: ich heti mit im geliten, ich sölt nu mit im frölich erstan. 255 Auch Margaretha verbindet die Auferstehung mit der Osterfreude, auch sie bezieht sich auf eine göttliche Mitteilung. Doch formuliert der erste Teilsatz einen entscheidenden Unterschied. Sie hat mit Christus gelitten, ist aber nicht mit ihm gestorben. Bei Margaretha bildet das österliche Gnadenerlebnis weder Höhenoch Endpunkt ihrer Offenbarungen. Es steht in einer langen Kette von Krankheitserfahrungen, die, da sie aus der Perspektive der ersten Person erzählt sind, auch viel weniger auf Abgeschlossenheit hin geschrieben sein können. Ihre Auferstehung wird nicht als Durchbruch und Transgression beschrieben, sondern als gnadenhafte Heilung einer schweren Krankheit. Sie deutet ihre Krankheit zwar auch vor der Folie der Passion Christi und ihre Heilung als Auferstehung. Sterben und Aufersteheung werden aber nicht mit der transformierenden Dynamik verbunden, die das Selbst vernichten würde und neu, in Christus, auferstehen ließe. Sie vollzieht am eigenen Körper, „was die Liturgie im Zeichen vergegenwärtigt“, 256 aber ihre Offenbarungen zielen nicht darauf ab, diesen Vollzug bis zur Transgression zu führen; bis zum Durchbruch kommt es nicht. Krankheit und Heilung vor der liturgischen Folie sind Teil der Gnadenhandlungen an Margaretha, sind in ihrem transformativen Potenzial allerdings nicht mit der Vita vergleichbar, in der die Auferstehung den Höhe- und Schlusspunkt der religiösen Identitätsbildung ausmacht. Der Ostertag ist in der Vita nicht nur Auferstehung als gnadenhafte Heilung. Er markiert den Durchbruch der gelassenen Menschen. In der Vita ist die Auferstehung im 32. Kapitel die Vollendung von allem zuvor Erzählten und die Transgression des Erzählens selbst. Das dominierende Wortfeld des 32. Kapitels ist das der Freude. Wie ein roter Faden durchzieht sie das Kapitel und nimmt das 31. Kapitel auf. Denn dieses schließt mit dem Wechsel von der Betrachtung in die Freude. Nachdem der Diener solange in seiner Betrachtung versunken war, bis sich ihm alles in der innigosten inwendikeit siner sele [...] geoffenbaret hate (92,30f.), steht er auf und zwar steht er fr  lich auf. Damit führt das Ende des 31. Kapitels die Leitsemantik der Freude ein. Das 32. Kapitel ist von dieser Semantik durchwirkt, die Wortfamilie zur fr  de wird voll ausgeschöpft: Neben dem Substantiv taucht das Verb fr  wen ebenso auf wie die Adjektivformen fr  lich und fro. 257 255 Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, hg. von Philip Strauch, Freiburg/ Br./ Tübingen 1882 (Nachdruck Amsterdam 1966), S. 56,17-19. Das Zitat wird auch von Urban Federer, Mystische Erfahrung im literarischen Dialog, S. 251, herangezogen und in einen größeren Kontext gestellt. 256 Felix Heinzer, Imaginierte Passion - Vision im Spannungsfeld zwischen liturgischer Matrix und religiöser Erfahrung, S. 470. 257 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, weist hin auf die „festliche Gestimmtheit im letzten Kapitel des ersten Teils der Vita. Ausdrücke der Freude Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 219 Die Freude steht in auffälligem Kontrast zum Vokabular der Klage und der Trauer, das die Leidenskapitel 23 bis 30 dominiert. Neben den 136 Belegstellen für liden, erliden und mitliden sowie den 38 Belegstellen für leid und herzleid spricht der Diener dort vil kleglich (62,12) oder lässt eine klegliche rede (82,15f.) hören. 258 Tränen und Seufzen begleiten unentwegt sein Leiden und sein Klagen durchzieht die Kapitel. 259 Die Kapitel erzählen nicht nur vom Leiden, sondern halten es auch gegenwärtig, indem es unablässig aufgerufen wird. Der transitus, der an Ostern gefeiert wird, vom Tod zum Leben, findet und des inneren Friedens wie ‚fr  lich‘, ‚ergezzunge‘, ‚frid‘, ‚fr  d‘, ‚frid und fr  d‘ [....] bestimmen den Wortschatz“, S. 309. Über die Belegstellensammlung geht sie allerdings hinsichtlich der Semantik der Freude nicht hinaus. 258 Leiden ist ein Leitbegriff bei Seuse, aber auch bei Johannes Tauler und bei Eckhart. Das zeigen zwei Studien, die sich allein mit diesem Begriff beschäftigen: Mathilde Allweyer, Der Begriff von ‚leit‘ und ‚liden‘ bei Meister Eckhart und Heinrich Seuse, Freiburg/ Br. 1951 (Diss. masch.) und Christine Pleuser, Die Benennungen und der Begriff des Leides bei J. Tauler, Berlin 1967 (Philologische Studien und Quellen 38). Mathilde Allweyers Arbeit ist dabei schon aus ihrer historischen Position bemerkenswert, hat sie sie doch nur sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges verfasst. Bemerkenswert ist vor allem, wie konsequent sie den zeitgeschichtlichen Kontext ausblenden kann und aus dem Leiden ein rein christliches Phänomen macht. In ihrer Einleitung diskutiert sie das Leiden kurz als anthropologisches Phänomen an, um es dann ganz in den Kontext des Christentums einzuordnen: „Deshalb steht der leidende Mensch von vornherein in einem bestimmten Verhältnis - so oder so - zur Transzendez, zum Göttlichen“, S. 9. Ihre Studie hebt zwar die Dominanz des Leidensthemas heraus, arbeitet aber wenig an der Faktur des Textes, das heißt sie arbeitet jede Textstelle zum Leiden heraus, ohne ihre Position im Gesamttext zu reflektieren. Darum verwundert es nicht, dass sie die Vita folgendermaßen beschreibt: „Leiden auf der einen Seite und himmlischer Trost auf der andern (Visionen, Verzückungen, bräutliche Gemeinschaft mit der Ewigen Weisheit) sind die zwei Pole, zwischen denen die Vita sich bewegt“, S. 216. Diese vereinfachende Dichtomie aber greift zu kurz, um die Vita, die auf das Konzept der Gelassenheit abzielt, adäquat zu erfassen. Aktuell hebt auch Philipp Stoellger, Exponiertes Pathos. Pathos als Horizont von Ethos und Logos in der Mystik - und die Probleme seiner Exposition, in: ‚pathos.‘ Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007, S. 143- 160, die Wichtigkeit des Begriffes Leid bei Seuse, Tauler und Eckhart hervor, wobei er weniger die wortgeschichtliche Perspektive betont als das theologische Konzept. 259 Belegstellen für trehen: [Er] lies mengen erholten sufzen mit niderwalenden trehen (62,18f.); owe, heissen trehen, brechent us von einem vollen herzen (73,11); durgiessen mit den bitren trehen miner ogen (73,16); Daz horte der ellend diener mit mengem bitern schreken und mit erholten súfzen, daz im von angst die grossen trehen úber daz antlút ab runnen. (77,23ff.); und erbarmet sich selb als úbel, daz im dik die heissen trehen dú wangen ab waletan (84,7ff.); Er r  ft z  im an daz krúz mit bitterlichen trehen (87,9); mit nidergiessenden trehen und jemerlicher klag (87,27). Belegstellen für súfzen: mit einem inneklichen súfzen (66,27); an dinem jungsten súfzen (79,31); inneklichen súfzen (80,32); inneklichem súfzen (84,11); inneclichen súfzen (90,10). Belegstellen für klagen: klaget [...] sin liden (63,4); [ich] wil min klag und min weinen ab lassen (73,21f.); Disú jemerlichú klag (78,16); daz klag ich (85,19); jemerlicher klag (87,27); mit erbermklicher klag und mit weinenden ogen (88,3f.). Für den Zusammenhang von ‚Herz‘ und Leiden vgl. Uta Joeressen, Die Terminologie der Innerlichkeit in den deutschen Werken Heinrich Seuses, Frankfurt/ Main [u.a.] 1983 (Europäische Hochschulschriften Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur 704), S. 71ff. Narrative Genese der Figur 220 dagegen seinen Ausdruck in der Osterfreude, überwindet also die Trauer und Trostlosigkeit. 260 Freude, ein theologischer Grundbegriff, ist nicht zu verstehen als punktuelle Freude über ein Geschehen. Es ist ein Begriff, der sich aus vielen biblischen Bezügen speist, wobei „der Christ (noch weit stärker als der atl. Fromme) durch die Freude gekennzeichnet [ist]; denn Christus bringt die messianische Verheißung und Erwartung zur Erfüllung. Schon die Menschwerdung selbst erfüllt daher alle Wissenden mit höchster Freude.“ 261 Das Handbuch der theologischen Grundbegriffe definiert die Freude als eine alles transformierende Kraft, die auch den Blick auf das Leiden umwandelt: „Durch die Drangsale des jetzigen Lebens wird dieses zwar als vorläufig gekennzeichnet, die Freude des Christen aber wird dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, weil im Anschluß an Christus auch die Leiden der Zeit verwandelt werden. Denn der Christ muß beschrieben werden als einer, der Macht hat, außer der Sünde alles, was er im Anschluß an Christus und in der Verähnlichung mit Christus tun kann oder auch noch so ereignishaft erleiden muß, zu verwandeln, es aus dem Zusammenhang mit der Sünde herauszunehmen und in einen positiven Zusammenhang mit Christus zu bringen.“ 262 Diesen Perspektivwechsel, in dem das Leiden in der Freude verwandelt wird, vollzieht auch die Vita. Im großen Offenbarungsmonolog, der das 32. Kapitel abschließt, wird genau dieser Wechsel formuliert. Zuvor jedoch wird vorgeführt, wie die Figur des Dieners selbst ganz in die Freude eingeht. Schon der Zeitpunkt, an dem das Kapitel einsetzt, wird explizit mit der Freude verbunden, es ist der fr  liche ostertag. Mit ihm wird wieder die liturgische Folie aufgerufen, doch nicht im Kontext der gemeinsam vollzogenen Messe. Vielmehr ist der Diener allein und gesass also na gewonheit an sinem r  wlin (93,5). Dem Diener wird in seiner entsunkenheit eine göttliche Offenbarung gemacht, es luht im in von got also: fr  went úch wol gem  teklich, ellú lidendú gelassnú menschen, wan ire gedultekeit sol herlich gelopt werden, und als sú hie sind vil menschen ze erbarmen worden, also wirt sich eweklich menger mensch fr  went in got ire wirdigen lobes und ewiger eren. Sú sind mit mir erstorben, sú son och mit mir fr  lich erstan. (93,8ff.) In der kurzen Offenbarung wird geradezu auf die Freude insistiert, die den Diener erfüllen soll. Paul Michel weist die biblische Referenzstellen der göttlichen Mitteilung nach: „Seuse erfährt dies [wie Gott die Menschen für ihr Leiden entschädigt, S.B.] in einer 260 Mit dem Kontrast greift Seuse die Gestaltung der Evangelien selbst auf: Es „betonen alle Evangelisten die Osterfreude (Mt 28,8; Lk 24,41; Joh 20,20), die in ihrem Kontrast zur Betrübnis und Angst des Leidens Jesu (Mt 26,37f.; Lk 22,44; vgl. Hebr 5,7; Lk 23,27f) die einschneidende Bedeutung der österlichen Wende stark hervorhebt.“ Andries Bernhardus du Toir, Freude I, in: TRE 11 (1983), S. 584ff., hier S. 584. Zur Freude im Lukasevangelium vgl. Anke Inselmann, Die Freude im Lukasevangelium, Tübingen 2012 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II, 322). 261 Hermann Volk, Freude, in: Handbuch der theologischen Grundbegriffe, hg. von Heinrich Fries, München 1970, S. 42. 262 Ebd., S. 43. Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 221 Vision, die mit den Worten fr  went úch wol gem  teklich beginnt [...] - möglicherweise eine Anspielung auf den Satz der Bergpredigt gaudete et exsultate (Mt 5,12) [...] Wer sich in der compassio mit Christi Leiden vereint, dem werden in der Konsequenz auch dessen Segnungen zuteil.“ 263 Michel zeigt in einer synoptischen Gegenüberstellung zudem, dass das Zitat Sú sind mit mir erstorben, sú son och mit mir fr  lich erstan auf die Bibelstelle Röm 6,8 referiert: Si autem mortui sumus cum Christo, credimus quia simul etiam vivemus cum Christo. Diese Bibelstelle ist darüber hinaus zentraler Bestandteil des Wortgottesdienstes in der Liturgie der Osternacht: Was der Diener dort gehört hat, hört er nun nochmals, ausgestattet mit der Dignität der direkten Verkündigung durch Gott. Die Liturgie ‚hallt‘ gewissermaßen nach, bleibt nicht äußerlich, sondern überformt denjenigen, der sie gehört hat. Der Verkündigung der freudigen Botschaft folgen drei Gnadengaben, die den gelassenen Menschen zukommen: Wunschesgewalt, göttlicher Friede und die Vereinigung der Seele mit Gott. Mit der dritten Gabe des gelassenen Menschen bricht die erste Offenbarung ab, die dem Diener die Osterfreude verkündet hat. Die Einheitsverkündigung der Seele mit Gott bleibt dabei nicht ohne Wirkung, ja, sie transformiert den Diener vollkommen, denn „[i]n der Freude offenbart Gott sich selbst.“ 264 Die Selbstoffenbarung Gottes in der freudigen Mitteilung wird über die sprachliche Bewegung auf den Diener übertragen. Wieder fällt die Häufung der Belegstellen auf, die eine Semantik der Freude zeigt: Diser fr  lichen mere waz der diener fro, und do er z  im selber kom, do sprang er uf und ward inneklich lachende, daz es in der kapell, da er inne waz, lute erhal, und sprach fr  lich in im selben. (93,26ff.) Anke Inselmann resümiert in ihrer Arbeit: „Die Freude wird im Lukasevangelium nicht als affektives Hindernis auf der Suche nach Erkenntnis verstanden, sondern als inneres Erleben, das den Lernprozess und das theologische Verstehen begleitet. Dies vermittelt auch das Lukasevangelium seinen Leserinnen und Lesern: Deshalb wird Freude sowohl als innere Einstellung wie auch als Ausdruck des Glaubens in diesem Evangelium nicht nur gewünscht, sondern ausdrücklich gefordert.“ 265 Die Doppelung aus innerer Einstellung und Ausdruck stellt auch die Vita aus, die evangelische Forderung wird in der Figur des Dieners verkörpert. Denn die frohe Nachricht - die fr  liche mere - löst beim Diener einen Erkenntnisprozess aus; das Lachen - er ward inneklich lachende - zeigt eine Reaktion des Verstehens, die sich als inneres Erleben präsentiert. Das Lachen ist Ausdruck der Freude über die Erkenntnis, die ihm in der göttlichen Mitteilung offenbart wurde. Das Lachen des transformierten, gelassenen Dieners ist nicht mehr als laetitia saecularis zu verstehen, sondern als „gaudium spirituale bzw. [als] hilaritas, [die] Heiterkeit der Erlösten“. 266 Er ist der gelassene, der 263 Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, S. 339. 264 Lothar Steiger, Freude II, in: TRE 11 (1983), S. 586-590, hier S. 588. 265 Anke Inselmann, Die Freude im Lukasevangelium, S. 426. 266 Stefan Seeber, Poetik des Lachens: Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Roman um 1200, Berlin 2010 (MTU 140), verweist auf diese sich ausschließenden Formen der Narrative Genese der Figur 222 gestorbene und auferstandene Mensch, weshalb seine Freude nicht mehr eine irdische Freude ist, sondern Teilhabe an der göttlichen Freude bedeutet. Die figura etymologica fröhlich-froh-fröhlich überträgt das innere Verstehen in die Sprache. Die fr  lichen meren machen den Diener fro, der sich aus diesem Zustand heraus selbst wiederum fr  lich mitteilt. Die Semantik der Freude ist das Gegenteil des Leidens an der Verlassenheit durch Gott, wie sie in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder entfaltet wurde. Aus der Fülle der Erkenntnis löscht der Diener das erfahrene Leiden geradezu aus: Weiss got, ich versprich mich selb wol, daz mich des dunket, daz ich nie liden gewunni uf ertrich; ich enweiss nit, waz liden ist, ich weiss wol, waz wúnne und fr  d ist. (93,29ff.) Die Vollkommenheit der Freude führt der Text im Abbruch der Rede vor. Auch hier beendet der Diener seinen Monolog mit einer Frage: wunsches gewalt ist mir geben [...], waz wil ich me? (94,3f.) Die Frage ist mehr als nur eine rhetorische Beteuerung. Sie zeigt, dass der Eigenwille, der sich im Begehren zeigt, seine Erfüllung gefunden hat, dass es nichts mehr gibt, was der Diener noch begehren könnte. Wenn das Begehren oder das Wollen aber Zeichen einer Differenz ist, weil Begehren immer das Andere voraussetzt, das vom Eigenen getrennt ist, dann zeigt das Aufgeben des Begehrens, dass der Diener sich nun nicht mehr in einer Differenz zu Gott wahrnimmt, nicht mehr als Selbst gegenüber dem ganz Anderen. Sein Begehren hat sich erfüllt in einer imitatio, die weit über den Nachvollzug der Passion allein hinausgeht. Denn nicht das Leiden ist der Endpunkt der Vita, sondern die Auferstehung, der transitus in das Leben, in die Freude und in die vollkommene Aufgabe des Eigenwillens. Den Abschluss des Kapitels bildet ein Monolog der ewigen Wahrheit, der die Semantik der Freude weiterführt. In einer nun ganz anders gestalteten, abstrakten Sprache gewährt sie dem Diener Einsicht in die Einheit. Dabei nimmt auch die Wahrheit zentral die Freude auf, die hier in Offenbarungsrede präsentiert, was das Handbuch der theologischen Grundbegriffe definiert hat: die Freude als das Leiden verwandelnde Kraft. Sie erklärt dem Diener, wie vollkommen die Freude den gelassenen Menschen erfasst und wie sich dadurch seine Wahrnehmung des Leidens wandelt. Denn die Wahrnehmung des Leidens bedeutet nicht, dass diese Menschen äußerlich unberührbar wirken, im Gegenteil, sie sind sogar noch empfänglicher für Leiden: Wan nah dem ussern ze redene so hein sú empfinden wol und we als ander lúte, und tringet in etwen naher denn andren von ire entgrobten zartheit. (94,22ff.) Doch ist ihr Innerstes so in Gott vergangen, dass das äußere Empfinden dort keinen Platz mehr findet, sie dort nicht mehr berühren kann: es enhat aber da inne nit stat Freude hinsichtlich der Haltung der Kirche zum Lachen: „Dass das Lachen eine natürliche Anlage, ein proprium des Menschen ist, nimmt die Kirche dabei zur Kenntnis. Sie verschließt sich dieser grundlegenden, auf Aristoteles zurückgehenden Einsicht nicht, sie will dieses proprium nur nicht aktualisiert wissen, da als Lohn für die Lachenthaltung auf Erden - wieder gemäß dem Evangelium nach Lukas (6,21) - ein himmlisches Lachen winkt. Der Verzicht auf die laetitia saecularis eröffnet die Möglichkeit des gaudium spirituale bzw. der hilaritas, der Heiterkeit der Erlösten. Diese Haltung der Kirche bleibt im Großen und Ganzen bis zum Spätmittelalter konstant“, S. 1. Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 223 ze belibene. (94,24f.) Die gelassenen Menschen sind vollkommen transformiert und zwar durch ire selbs entgangenheit, indem sie ihr Selbst aufgegeben haben. 267 Und diese Transformation, das vollkommene Aufgeben des im Irdischen verhafteten Selbst, führt dazu, daz ire fr  d ganz und stet wirt in allen dingen (94,27f.). Ihre innerste stat ist ganz von Freude erfüllt. Nicht mehr der kurze Augenblick himmlischer Freude wie im zweiten Kapitel kommt den gelassenen Menschen zu, sondern die Wahrnehmung aller Dinge aus der Einheit mit Gott. Die gelassenen Menschen können gar nicht anders als mit Freude erfüllt zu sein, denn in dem g  tlichen wesene, da sich ire herzen hand vergangen [...] enhat leid kein stat noh betr  bde, sunder frid und fr  d (94,28f.). Ganz in Gott eingangen, existiert nur noch Freude. Anders also als im zweiten Kapitel ist die Transformation in die himmlische Freude vollkommen, nicht momenthaft, sondern ganz und stet. Der lange Offenbarungsmonolog endet mit einem Resümee, das nicht nur den Monolog zusammenfasst, sondern den ganzen ersten Teil der Vita. Innerer Friede und Freude sind der Lohn in der Zeit, den die gelassenen Menschen für ihr Leiden erhalten, Freude wird zum Bestandteil des himelrichs, in dem die gelassenen Menschen stehen: Disú menschen sind neiswi reht als in dem himelrich; waz in geschiht ald nút geschiht, daz kumt in alles z  dem besten. Und alsus wirt dem menschen, der wol liden kan, sins lidens in der zit ein teil gelonet, wan er gewinnet frid und fr  d in allen dingen, und na dem tod folget im daz ewig leben. Amen. (95,28ff.) Die Freude durchzieht das ganze Kapitel, von der konkreten Freude der Figur bis zur Verkündigung der Wahrheit. Durch die ständige Nennung vollzieht das Kapitel bereits auf der Wortebene eine Transgressionsbewegung: vom klagenden Leiden in die lachende Freude. Im langen Monolog der Wahrheit, der das 32. Kapitel beschließt, lässt sich noch eine weitere Strategie beobachten, um das Narrativ zu vollenden. So tritt hier das Erzählen vollständig zurück, stattdessen wird in einem langen Monolog das Erzählte in theoretischen Begriffen gefasst. Die Transgression der Figur wird bereits im Wechsel der Bezeichnung ihres göttlichen Dialogpartners angezeigt. War es ab dem dritten Kapitel die Beziehung zur ewigen Weisheit, so ist es jetzt die ewige Wahrheit, die sich ihm offenbart. 268 Die Wahrheit, die auch im BdW als Gottesfiguration und Dialogpartner auftritt, ist nicht mehr 267 Kurt Ruh verzeichnet entgangenheit als eine Wortschöpfung Seuses, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 473. 268 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, verweist auf die beiden unterschiedlichen Figurationen Christi als Dialogpartner: „Im BdW wird Christus mit dem Begriff der Wahrheit identifiziert, weil die von ihm mitgeteilten Inhalte primär theoretisch-spekulativer Natur sind; dagegen belehrt Christus im BdeW den Jünger als Weisheit, da sich seine Weisungen primär auf die (lebens-)praktische Seite einer mystischen Existenz beziehen“, S. 30, Anm. 25. In der Vita vollzieht sich innerhalb eines Textes der Wechsel von der ewigen Weisheit zur Wahrheit, was zeigt, wie eng die beiden Seiten der Gottesfiguration zusammenhängen. Letztlich hängt es, so vermittelt der Verlauf der Vita, vom Status des Menschen, vom Grad seiner religiösen Reife ab, ob ihm das Wissen der Wahrheit vermittelbar ist. Narrative Genese der Figur 224 Minneherrin, der man dient und für die man leidet. Die Wahrheit offenbart, was mengem blinden menschen so gar unkund ist (94,8) und sie führt nun theoretisch und in deutlich abstrakterer Sprache aus, was zuvor narrativ anhand des Figurenerlebens entwickelt worden ist. Dabei greift sie auf diejenige Terminologie zurück, die bereits im 19. Kapitel verwendet wurde. Dort wurde dem Diener mitgeteilt, dass er in die höchste Schule geführt werde, wo er die h  hsten kunst (53,15) lernen solle. 269 Diese Kunst, das Wissen soll ihn in g  tlichen friden [...] sezzen und [sinen] heiligen anvang z  eim seligen end bringen (53,15f.). Das 32. Kapitel führt vor, dass der Diener nun die Kunst beherrscht und sich das Wissen im Vollzug angeeignet hat. Über die Auferstehungserzählung und die Freude zeigt der Text den Diener im göttlichen Frieden und weist auf sein seliges Ende. Das Ende der Figur vollzieht der Text mit dem Verstummen des Dieners. Denn wie schon im 31. Kapitel das Erzählen beendet war und in ein erkenntnisstrukturierendes Gebet übergegangen ist, so steht auch im 32. Kapitel nicht das Erzählen, sondern die Offenbarung von göttlichem Wissen im Zentrum. Der Diener, der im 31. Kapitel die vermittelnde Stimme war, geht nun ganz in der göttlichen Mitteilung auf. Das religiöse Phänomen, die Überformung des Dieners in Christus und damit der Selbstentzug, die Willensaufgabe, sind auch als narratives Phänomen dargestellt. Die entwordenheit des Selbst wird zur entwordenheit der Figur. Ich möchte im Folgenden den Monolog nicht auf seinen theologischen Inhalt hin lesen. 270 Stattdessen möchte ich anhand von zwei prägnanten Wiederholungen zeigen, wie im 32. Kapitel zu Ende geführt wird, was zuvor als Frage offen blieb. Anhand der Wiederaufnahme der Begriffe durpruch und m  ssekeit soll exemplarisch gezeigt werden, wie der Text eine Bewegung vom Missverstehen zur Erkenntnis vorführt, die im 32. Kapitel vollendet wird. Die Wahrheit setzt bei ihrem großen abschließenen Monolog unmittelbar mit der Erläuterung des Durchbruchs ein: l  g, dien menschen, dien reht beschiht in dem durpruch, den ein mensch vor an hin m  ss nemen mit einem entsinkene im selben und allen dingen, dero doch nit vil ist, dero sin und m  t sind als gar vergangen in got, daz sú neiswi umb sich selber nút wissen, denn sich und ellú ding ze nemene in ire ersten ursprunge. (94,9ff.) Der komplexe verschachtelte Satz erläutert, wie der Durchbruch begründet ist. Die Wahrheit greift mit der Nennung des Durchbruchs auf ein sehr viel früheres Kapitel zurück, nämlich auf das 13. Kapitel. Dort lautet der zentrale Satz: Du m  st den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du werlich komen z  miner blossen gotheit. (34,11f.) Dieser Aufforderung, sich auch im Leiden zu üben, folgt der Diener, allerdings begibt er sich zunächst auf den von der Vita als unzureichend markierten Leidensweg körperasketischer Praktiken. Der erste Versuch, im Leiden die Immanenz zu durchbrechen und zu transgredieren, 269 Zum Begriff kunst in diesem Kontext vgl. Susanne Bernhardt, Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses, S. 136. 270 Eine ausführliche Lektüre aus theologischer Sicht ist nachzulesen bei Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 150-156, v.a. 152ff. Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 225 scheitert an der Intentionalität und der momenthaften Intensität körperlicher Schmerzerfahrungen, die die Immanenz immer wieder produzieren. Im zweiten großen Erzählbogen, in den Kapiteln 23 bis 30, wird das Leiden entsprechend neu konzipiert. Nicht das selbstzugefügte Leiden, sondern die fr  md widerwertikeit, die man zu ertragen lernen muss, werden anhand der Figur des Dieners als richtige Annäherung an das christusförmige Leiden vorgeführt. Im 32. Kapitel formuliert die Wahrheit in einer neuen Sprache, was die vorhergehenden Kapitel vorbereitet haben. Die Überformung im Leiden und das Untergehen des Selbst wird mit einer höheren Geltung versehen: Die warheit stattet die Transformation des Dieners mit einem neuem Glanz aus, mit einer höheren Dignität, die sich in einer komplexeren und abstrakteren, theologischen Sprache vermittelt. Der Durchbruch des 13. Kapitels, der zuerst zu dem Missverständnis einer gesteigerten Askese führte, wird dem Diener von neuem erläutert. Und die Wahrheit erläutert den Durchbruch nicht nur, sondern führt auch auf performative Weise die Denkbewegung vor. Im Entsinken des eigenen Selbst und aller Dinge - mit einem entsinkene im selben - vollzieht sich der Durchbruch. Das Entsinken weist dabei die paradoxe Struktur von passivem Sinken und aktivem Loslassen auf. Im zweiten Teil des Satzes treten das Selbst und alle Dinge wieder auf, aber nun, da sin und m  t in Gott eingegangen sind, nimmt das Selbst die Dinge aus Gott heraus wahr, nicht mehr aus dem eigenen Selbst. Eingeschoben zwischen der Formulierung vom Entsinken und der vom Vergehen in Gott ist ein beschränkender Einwand. So gibt es nicht viele Menschen, denen dieser Durchbruch zukommt. Erst die Einschränkung öffnet den Blick dafür, in welchem Maße hier die Rede von Auserwähltheit und Heiligkeit ist. Während die Forderung nach dem Durchbruch im Leiden zu dem Irrweg der Passionsfrömmigkeit des 13. Kapitels führte, kann nun, da der Diener im Sterben und Auferstehen mit Christus den Durchbruch vollzogen hat, dieser Durchbruch im Text neu formuliert werden. Jetzt erst kann dem Diener abstraktes Wissen über religiöse Phänomene mitgeteilt werden, ohne dass er Gefahr liefe, die Mitteilung misszuverstehen. Auf der Ebene religiösen Sprechens ist die Mitteilung über den Durchbruch die Aufwertung dessen, was bereits erzählt wurde. Die Wahrheit verleiht dem Erleben des Dieners die Dignität religiöser Vervollkommnung. Den Rezipientinnen wird vorgeführt, dass die schwer verständlichen komplexen Worte erst dann unmissverständlich werden, wenn sie vollzogen sind - ein paradoxes Verhältnis von Praxis und Theorie, von Anwendung und Wissen. Erst wer durch das Leiden der Gottesferne gegangen ist, versteht was gelassenheit, m  ssekeit und entwordenheit eigentlich bedeuten. Dieses spannungsvolle Verhältnis ist eine Überleitung zum zweiten Teil der Vita, der genau mit einem solchen Missverständnis einsetzt. Elsbeth Stagel liest in Texten, die eine Terminologie verwenden, wie sie im 32. Kapitel verwendet wird; sie liest von sinnen, die mit sch  nen worten bedaht waren und dem menschen lust in tr  gen. (97,13f.) Die schönen Worte zu lesen, ohne sie anzuwenden und umzusetzen, ist der grundlegende Fehler, vor dem die Vita immer wieder, explizit und implizit, warnt. Narrative Genese der Figur 226 Die Spannung von Verstehen und Umsetzen lässt sich exemplarisch über die Verwendung von m  ssekeit zeigen, die das 19. Kapitel aufgreift. Dort führte gerade die ledig m  ssigkeit zum zentralen Missverständnis. Der Diener wird in die Kunst der gelassenheit unterwiesen, die, so lautet der letzte Satz der Erläuterung, darin bestehe, dass der Mensch alle zit stand glich in einem usgene des sinen [...] und allein gotes lob und ere sie ansehende, als sich der lieb Cristus bewiste gen sinem himelschen vatter (54,5ff.). Die abstrakten Ausführungen provozieren ein erstes Missverständnis. Dem Diener gefällt die Lebenskunst gut und er möchte tätig werden und möchte buwen und vil unm  ssiges werkes haben (54,11). Tätig möchte er sich in die Gelassenheit einüben, doch wird er sogleich von dem jungling unterbrochen, der ihm mitteilt: disú kunst wil haben ein ledig m  ssekeit: so man ie minr hie t  t, so man in der warheit ie me hat getan. (54,12f.) Doch die Korrektur führt zu einem neuen Missverständnis. So möchte der Diener, damit beginnt das 20. Kapitel, nun ein angenehmes Leben führen, ein m  ssig und fries leben (55,8), ohne die Entbehrungen der Körperaskese. Dass er fehlgeht, merkt der Erzähler sofort an: Es seien vermessen gedenke (55,13), die dem Diener im Kopf umhergingen. Die Vita lässt den Diener im 19. und 20. Kapitel von einem terminologischen Missverständnis ins nächste laufen. Der Text zeigt die Folgen, wenn der anfangende Mensch, der der Diener im Strukturmodell ja noch ist, sich zu früh mit den sch  nen worten (97,14) beschäftigt. Beide Begriffe, m  ssig und usgene des sinen, tauchen auch im 32. Kapitel auf, doch an dieser Stelle lösen sie keine Missverständnisse mehr aus. Der Diener hat bereits vollzogen, was die Wahrheit ihm mitteilt und kann darum die praktische Bedeutungsdimension der sch  nen worte mitvollziehen. Die Worte bleiben ihm nicht äußerlich, sondern sie entfalten, was er innerlich vollzogen hat. Die Belegstelle für m  ssig folgt im 32. Kapitel unmittelbar auf den Satz, der den Durchbruch ausführt: Und dar umbe hein sú als grossen lust und wolgevallen in einem ieklichen dinge, daz got t  t, als ob sin got lidig und m  ssig stande und es inen na ire sinne hab geben us ze wúrken. (94,14ff.) Die gelassenen Menschen sind so sehr in das Wirken Gottes eingegangen, dass sie an jedem Ding, das Gott wirkt, ein solches Wohlgefallen haben, als ob sie dieses Ding selbst wirken würden, Gott dagegen vom Wirken dieses Dinges frei und untätig sei. Die m  ssekeit wird hier auf die Seite Gottes verlagert, während im 19. Kapitel der Diener angewiesen wurde, sich die Kunst der ledig m  ssekeit anzueignen. Nun ist es Gott selbst, der aus der Perspektive des gelassenen Menschen als m  ssig wahrgenommen wird. Theologisch formuliert heißt das: „Der mit Gott ‚mystisch‘, d.h. erfahrungshaft, geeinte Mensch [...] ist zur puren, ungegenständigen, widerstandlosen Vollzugsform des göttlichen Willens und Wirkens geworden.“ 271 Aus dieser Interpretation scheint die Spannung, die gerade das Wort m  ssig mit sich führt, ausgeblendet. Wenn Gott dem Menschen nun untätig erscheint, da er selbst in die göttliche Vollzugsform eingegangen ist, dreht sich ja das Verhältnis um, das im 19. Kapitel noch ganz 271 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 156. Transgression des Narrativs - Reflexion und Offenbarung (Kap. 31 und 32) 227 eindeutig auf der Seite des innerlich unbewegten Menschen lag. Jetzt erscheint Gott untätig, müßig und der Mensch wirkt aus Gott heraus. Im Gegensatz zum 19. Kapitel, in dem die Ausführungen der komplexen Terminologie immer wieder durch das Missverstehen des Dieners unterbrochen wurden, bleibt die Figur hier stumm. Der Diener, der zu den gelassenen Menschen zählt, ist in den Vollzug der Offenbarung hineingenommen. Nachdem er mit Christus gestorben ist, kann er in der Offenbarung performativ ‚entsinken‘ und in der Gottesrede überformt werden. Im 32. Kapitel vollendet sich das Narrativ des Dieners, indem es den Durchbruch als Auferstehung und Transformation in die göttliche Freude darstellt. Die Figur des Dieners, deren religiöse Identität über weite Strecken der Vita in narrativen Wiederholungsstrukturen entworfen wird, wird zunehmend zurückgenommen, bis am Ende nur noch die Offenbarungsrede der Wahrheit erklingt. Das religiöse Phänomen der Selbstvernichtung, der Aufgabe des Eigenwillens, wird im narrativen Phänomen der Überschreitung und des Abbruchs der Wiederholungen nachvollziehbar. Durch die unterschiedlichen Strategien der Transgression führt der Text auf ganz mehreren Ebenen vor, wie der Diener seine religiöse Identität vollendet und in die himmlische Freude eingeht. Die Figur des Dieners wird im ersten Teil innerhalb des Stufenwegs auf den Durchbruch hin erzählt. Obwohl der Text im Strukturmodell linear und zielgerichtet erscheint, zeigt er auch ein großes Interesse an Wiederholungsstrukturen. Zu Beginn wird über die Erzählung der conversio die religiöse Identität gesetzt in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung auf Gott - ohne jedoch in die Einheit mit Gott einzugehen. 272 Die Ausrichtung auf die ewige wisheit im dritten Kapitel besiegelt die Beziehung zu Gott und sucht in den folgenden Kapiteln Verstetigung in verschiedenen Übungen. Die Habitualisierungsbewegung in die religiöse Identität, die in Wiederholungen ähnlicher Abläufe vorgeführt wird, erfährt immer wieder Unterbrechungen und Neuausrichtungen - auf das Leiden, auf die Gelassenheit -, um sich schließlich im 32. Kapitel und im Durchbruch zu vollenden. Ein Signum der Vita ist der Wechsel zwischen Wiederholungsstrukturen, die performativ die Einübung in eine Haltung vollkommener Gottesbezüglichkeit entfalten, und Revelationskapiteln, in denen dem Diener mitgeteilt wird, welche Defizite die vorhergehenden Übungen bergen und wie er seine Übungen stattdessen ausrichten soll. Die Vita ist intratextuell von Wiederholungsstrukturen gekennzeichnet, die die Figur überhaupt erst hervorbringen. 272 Auf die Radikalisierung in der Grundlegung der Identität weist hin Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne, S. 5f.: „Die allgemeine Vorstellung, daß die Weichen zum Guten oder Bösen mehr oder weniger endgültig in der Kindheit und Jugend gestellt wurden, erfuhr durch die christlich-antike und später monastische Dynamik der conversio oder ‚Ganzumkehr‘ eine spezifische Radikalisierung. Den Neubekehrten mußten bestehende Sitten und Bildungsideale, den Mönchen das weltliche Vorleben durch kompromißlose Entwöhnung ausgetrieben werden, um die neue ‚außeralltägliche‘ Lebensform durch Umgewöhnung dauerhaft zu institutionalisieren.“ Narrative Genese der Figur 228 Die Vita entwickelt diese Übungen stufenweise. Eine zirkuläre Bewegung vermeidet Seuse, ‚poetologisch‘ wird sie bereits durch den im Prolog aufgezeigten Stufenweg abgewiesen. Gleichzeitig weist die Vita aber iterative Strukturen auf, eine „hohe repetitive Energie“, 273 die als konstitutiv für die Herstellung der stets prekär bleibenden religiösen Identität betrachtet werden kann. Denn innerhalb der thematisch geordneten Kapitel finden sich Wiederholungsstrukturen, die auf die Herstellung der Identität abzielen. In der Vita gehen also Linearität und Zirkularität Hand in Hand, die Figur entsteht zwischen Habitualisierungsbewegungen und deren Transgression. 273 Susanne Köbele, Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum (1259), S. 158. 4 Figur und Textaneignung 4.1 Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs Nach der Offenbarung der ewigen Wahrheit, die das Narrativ transgrediert und die Figur überformt, folgt der zweite Teil der Vita, der, wie in der Forschung immer wieder festgestellt, den ersten Teil spiegelt. Das Leben der Elsbeth Stagel spiegle den Weg des ersten Teils und führe vor, wie die Lebenslehre des Dieners von der Musterrezipientin umgesetzt werde. Die Figurenkonstellation ist aber nicht nur didaktische Form, sondern führt auch ein Modell von Rezeption und Nachahmung vor. Das Konzept von Nachfolge und Imitation wird im zweiten Teil weitergeführt und im Vermittlungverhältnis zwischen Diener und Elsbeth Stagel erneut sichtbar gemacht. Jeffrey F. Hamburger hat dieses Verhältnis als konstitutiv für die Vita beschrieben, da erst durch die Darstellung der Vermittlungssituation auch die Struktur von Modell und Aktualisierung gedacht werden kann, die sich letztendlich bis auf die Rezipientinnen außerhalb des Textes erstreckt. 1 Diese werden durch komplexe Strategien eingebunden und so Teil der Textpraxis. Anders als in narratologischen Theorien, in denen Figurentypologien verwendet werden, etwa Protagonist und Antagonist, steht hier die Konstellation Prediger und Beichttochter. Diese Konstellation taucht gerade in der dominikanischen Vitenschreibung häufig auf. Die literarische Inszenierung einer engen Bindung zwischen Prediger und Beichttochter leitet sich zwar aus dem kulturhistorischen Kontext ab, ist aber selbst Produkt einer vor allem literarischen Sinnzuschreibung. Die Figurenkonstellation produziert Sinn also nicht durch eine figurentypologische Beziehung, sondern vor allem durch ihre kulturgeschichtliche Einbindung als literarische Konfiguration. 2 1 Vgl. Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning. 2 Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum, arbeitet grundlegend die Dimension der literarischen Inszenierung mystischer Texte heraus. Die Verbindung zwischen Elsbeth und dem Diener beschreibt sie als Teil einer Darstellungsstrategie, über die dem hagiographischen Schreiben Bedeutung „im Prozeß der eigenen Begnadung zugewiesen wird“, S. 139. Zur Verbindung von Beichtvater und -tochter in der dominikanischen Vitenliteratur arbeitet Susanne Bürkle, Literatur im Kloster, S. 193ff. In Bezug auf Seuses Vita unterstreicht sie vor allem den Aspekt der heimlichen Niederschrift der Vita durch Elsbeth, was nicht die faktische Textenstehungsgeschichte abbilde, sondern die Inszenierung einer gottinspirierten Autorschaft sei, für die sich Frauen besonders eignen, S. 245. Auch Bürkle betont also die Literarizität und Inszenierung der Verbindung zwischen Prediger und Schwester. Figur und Textaneignung 230 Was den zweiten Teil vom ersten unterscheidet, ist die geringere Geschlossenheit des Textes. 3 Auffällig ist dabei die Heterogenität der Textsorten. Neben von einer Erzählinstanz präsentierten Teilen, etwa die Einführung Elsbeth Stagels im 33. Kapitel, treten vor allem Briefe, aber auch Spruchsammlungen (Kapitel 35 und 49) und die begrifflichen Unterscheidungen in den Kapiteln 44 bis 48. Auch Bilder kommen wieder zum Einsatz, die in diesem Teil systematischer kommentierende Funktion haben. Sie beziehen sich weniger direkt auf Geschehnisse im Text, sondern bieten systematisierende Zusammenfassungen, so zum Beispiel die Darstellung des gequälten Menschen, in dem Bezüge zur gesamten Vita hergestellt werden oder die Darstellung der Investitur, die sich vor allem auf Kapitel 20 bezieht. 4 Diese scheinbar unkomponierte Anlage wurde immer wieder bemängelt, so von Anne-Marie Holenstein-Hasler, die die Inkonsequenz des Textes bedauert: „So betrachtet, bildet der zweite Teil der Vita einen fast bedauerlichen Anhang, der die Geschlossenheit des Werkes in Frage stellt.“ 5 Aus diesem qualitativen Urteil, das bei Holenstein-Hasler von einer im Verhältnis zu den sonstigen Textanalysen sehr kurzen Interpretation gestützt wird, leiten sich verschiedene Fragen ab. Zum einen, ob die lockerere Fügung des Textes und die geringere Geschlossenheit tatsächlich einen Mangel darstellen oder ob die weniger geschlossene Anlage nicht bewusst gewählt ist, um die Suggestion eines teleologischen Weges aufzubrechen. Zumal grundsätzlich die Frage gestellt werden muss, ob nicht auch der zweite Teil durchaus systematisch gestaltet ist. Zum anderen, mit Blick auf die Figur Elsbeth Stagels, stellt sich die Frage, wie deren Bildung über die Nachahmung des Dieners vollzogen wird, wo Elsbeth also im Text auftritt und wie ihre religiöse Identitätsbildung beschrieben wird. Inwieweit wird der Weg des Dieners tatsächlich im Weg Elsbeths gespiegelt, inwieweit tritt sie ebenso zentral auf wie der Diener im ersten Teil? 4.1.1 Die Autorschaftsfrage - Forschungspositionen In der Forschung wurde die Konstellation zwischen Diener und Elsbeth lange Zeit primär unter dem Gesichtspunkt der Autorschaft diskutiert. Nachdem Julius Schwietering die Autorschaft für die Vita eindeutig Seuse zugeschrieben hatte, konzentrierte sich die Debatte darauf, wem welche Anteile zukommen, 3 Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, spricht davon, dass „[d]ie einzelnen Erfahrungen [...] hier, weil ihr Stellenwert aus dem ersten Teil bekannt ist, freier verfügbar [sind] und werden so lockerer gereiht“, S. 308. Zwar sind die Kapitel tatsächlich weniger stark einer teleologischen Wegstruktur unterworfen, gleichzeitig sind sie aber keineswegs ungeordnet. Auch im zweiten Teil findet sich eine Systematik, die in den Textanalysen weiter herausgearbeitet wird. 4 Die Zeichnungen sind als Digitalisate einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ labibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 119 (folio 57 r ) und Ansicht 139 (folio 67 r ). 5 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, S. 318. Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs 231 die Frage also, ob die Mitautorschaft Elsbeth Stagels plausibel sei. 6 Kurt Ruh hat in seiner großen Mystikgeschichte überlieferungsgeschichtlich argumentiert und die Autorschaft Elsbeths in den Hintergrund gerückt: „Seuse ist der Autor der ‚Vita‘. Man darf auch sagen: alleiniger Autor, denn der Anteil der Elsbeth Stagel, wie immer man ihn beurteilt, gehört zur Entstehungsgeschichte. Die ‚Exemplar‘-Fassung, nach dem Tode der Staglin entstanden, muß als revidierte Form ursprünglicher Aufzeichnungen gelten. Was Seuse der Tösser Klosterfrau zu verdanken hat, bleibt freilich im Ungewissen. Vor bald 40 Jahren habe ich Seuses Bericht in der Einleitung der ‚Vita‘ (B 7,6-8,3) eine Fiktion genannt. Sie ist es, was schon seine romanhafte Diktion verrät [...]. Doch bleibt dies ein untergeordnetes Problem, dem man keine weitere Aufmerksamkeit schenken sollte.“ 7 Ruh, der die Relevanz der Debatte selbst in Frage stellt, sieht die Rolle der Figur Elsbeths entsprechend textfunktional. Sie dient der Spiegelung des Dienerlebens, aber noch verbindlicher und klarer, da ihr Leben nicht als ein exemplarisches dargestellt ist. 8 Auch Walter Blank wendet sich von der Frage nach den historischen Anteilen der Autorschaft ab und plädiert für einen verstärkten Fokus auf die Autorintentionen, nämlich auf die Seelsorge: „Deutlich steht die Überarbeitung also unter seelsorglicher Zielsetzung, was wir uns angesichts seiner ‚Autobiographie‘, der sog. ‚Vita‘ vor Augen halten müssen, da sich die Diskussion viel zu lange damit beschäftigt hat, den Verfasseranteil Seuses vom Anteil seiner geistlichen Tochter Elsbeth Stagel zu trennen. Damit sind übergeordnete Aspekte, die für Seuse offenbar das entscheidende Gewicht hatten, zu Unrecht in den Hintergrund getreten. Daher möchte ich hier von der literarischen Formung der Schriften durch Seuse selbst ausgehen, um seine pastoralen Intentionen besser greifen zu können.“ 9 Ursula Peters arbeitet die Forschungsgeschichte zu diesem Themenkomplex weiter auf. Die Forschung ging, so Peters, lange von dem „eindrucksvolle[n] Bild eines engen und vertrauten Zusammenwirkens von Seuse und der 6 Julius Schwietering, Zur Autorschaft von Seuses Vita, in: ders., Mystik und höfische Dichtung im Hochmittelalter, Tübingen 1960, S. 107-122. Schwietering nimmt im ersten Teil seines Aufsatzes kritisch Bezug auf die Forschungsdiskussion, die die Vita als posthum enstanden einstufte. In einem zweiten Teil zeigt er die literarischen Bezüge auf, in denen er die Vita sieht. Damit distanziert er den Text von dem bis dahin einseitigen Bezug auf die Legende. Diese Einseitigkeit, so argumentiert Schwietering, habe dazu geführt, dass man die Vita einem Dritten zuschrieb: „Man folgerte so, weil [...] Stilisierung durch die Legende den Autor allzu weit der Stufe des Heiligen nähere, was mit mönchischer Selbstaussage unvereinbar sei“, S. 114. 7 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 445. 8 Ebd., S. 450: „Wenn auch das Stagel-Manuskript, wie oben dargetan, eine Fiktion sein dürfte, so beschränkt dies keineswegs das Interesse am Weg des Beichtkindes zur Vollkommenheit ein. Elsbeth beginnt wie Seuse im anfangenden und gelangt zum fortschreitenden und vollkommenen Leben, aber dies geschieht auf einer anderen Ebene der Lehre. Diese ist als Unterweisung eines geistlichen Vaters eindringlicher und verbindlicher als das Seuse-Leben, das nur als ‚Exempel‘ lehren kann: sie hat eine exakte Richtung und ein bestimmtes Ziel.“ 9 Walter Blank, Heinrich Seuses ‚Vita‘. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion, S. 286. Figur und Textaneignung 232 Tösser Dominikanerin Elsbeth Stagel“ aus; „[d]as hat dazu geführt, daß in der Forschung zur ‚Vita‘ Seuses bei der Frage ihrer Echtheit diese Aussagen über die Rolle Elsbeth Stagels für die Verschriftlichung von Seuses Lebenserinnerungen von besonderer Bedeutung gewesen sind. Inzwischen ist jedoch der ideologische Anspruch des ganzen Themas ‚geistliche Tochter‘ für die Lehre der ‚Vita‘ erkannt worden.“ 10 Peters zeichnet eine Linie nach, die mit Walther Muschg beginnt, der „auf die Verherrlichung Elsbeth Stagels [...] aufmerksam geworden“ war, und über Christine Pleusners Aufsatz in dem Sammelband zu Seuses 600. Todestag bis zu Anne-Marie Holenstein-Hasler reicht, die in ihrer 1968 erschienenen Dissertation zur Vita arbeitete. Christine Pleusner hebe dabei heraus, dass die Entstehungsgeschichte „den gerade in der Vitenliteratur zentralen Gedanken der christlichen Demut [...] aktualisiere.“ 11 Statt selbst seine subjektiven Erlebnisse zu schildern, verlagert Seuse den Schreibakt auf eine andere Hauptautorin. Holenstein-Hasler gehe noch einen Schritt weiter und sehe „in den beiden Protagonisten Heinrich Seuse und Elsbeth Stagel aussagekräftige Rollenfiguren eines geistliche Programms für Nonnen.“ 12 Peters selbst schließt ihren Forschungsüberblick mit einer Bemerkung über die Neubewertung der literarischen Tätigkeiten Elsbeths, denn diese „informieren dann weniger über den faktischen Entstehungsprozeß der ‚Vita‘ als über die Bedeutung, die nach der Darstellung der ‚Vita‘ dem hagiographischen Schreiben im Prozeß der eigenen Begnadung zugewiesen hat. Elsbeth Stagels Autorinnenrolle als Kompilatorin von Seuses Werken scheint demnach in erster Linie zur Didaxe der ‚Vita‘ und zur biographischen Konkretisierung zu gehören.“ 13 Gegen die Reduktion der Rolle Elsbeths als rein didaktisches Mittel wendet sich wiederum Jeffrey F. Hamburger. Er weist Elsbeth im Kontext der Textpraxis eine entscheidende Rolle zu. Dabei geht er von einer stark rezeptionsorientierten Perspektive aus und fragt nicht mehr nach dem eventuell gemeinsamen Produktionsprozess, sondern nach der Intention, die hinter der Figurenkonstellation steckt. Gleichzeitig betont er, dass die Frage nach dem Autorschaftsentwurf in der historischen Rezeptionssituation, und damit die Frage nach der Authentizität, wohl gar nicht gestellt worden wäre: „To Seuse and his audience, however, this debate would have been largely irrelevant, if not meaningless. In keeping with the conventions of hagiographic legend, Seuse presents his life in the form of an exemplary account, that serves his readers as a model for their own experience.“ 14 Hamburger weist entsprechend auch Elsbeth Stagel eine Rolle zu, die weit über eine rein erbauliche oder didaktische Funktion hinausgeht: „The nature and extend of Stagel’s contribution may never be determined. But in attributing co-authorship to his spiritual companion, Seuse did more than seek to temper the apparent subjectivity of the life, 10 Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum, S. 137f. 11 Ebd., S. 138. 12 Ebd., S. 139. 13 Ebd. 14 Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning, S. 435. Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs 233 although that is one consequence of his use of the third person narration. Nor did he construct a fictional female collaborator solely for the sake of edifying his female audience. Regardless of Stagel’s contribution, the role he assigns her is perfectly plausible [...]. It is, moreover, indispensable. In addition to the ideal spiritual daughter, Stagel represents the exemplary imitator and interpreter of Seuse’s text.” 15 Hamburger siedelt die Rolle der Ko-Autorschaft nicht nur auf der Ebene der Textproduktion an, sondern vor allem textimmanent, hinsichtlich des modellhaften Umgangs Elsbeths mit Texten, deren Produktion und Distribution in der Vita so Teil des Erzählens selbst werden. In der Germanistik hat sich aktuell eine Position etabliert, die die Frage nach der historischen Realität des Geschilderten noch stärker rezeptionsorientiert fasst und gleichzeitig die literaturwissenschaftliche Frage nach der Faktur des Textes stärker in den Vordergrund rückt. So hat Johanna Thali in ihrer Arbeit zum Engelthaler Dominikanerinnenkloster ihr Erkenntnisinteresse vor allem als literaturwissenschaftliches formuliert: „Das Interesse gilt hier nicht den (vergangenen, also nicht mehr faßbaren) mystischen Erfahrungen, sondern den Texten als literarisch konzipierten Werken. Die Frage nach der Authentizität der religiösen Erlebnisse kann im vorliegenden - literaturwissenschaftlichen - Interessenzusammenhang offen bleiben.“ 16 Besonders stark akzentuiert sie die Rezeptionsseite: „Die Texte wurden mit konkreten Wirkungsabsichten auf ein Zielpublikum verfaßt, und sie wurden wiederum mit bestimmten Interessen rezipiert - die literaturhistorische Beschäftigung mit diesen Fragen und deren Ergebnisse haben unabhängig von der Echtheit der geschilderten Erfahrungen ihre Berechtigung und Gültigkeit.“ 17 Im Zentrum stehen Fragen nach der literarischen Faktur einerseits und dem historischen Verwendungskontext andererseits, also Fragen der Textpraxis aus kulturhistorischer Perspektive. An diese Position möchte ich im Folgenden anknüpfen und Aufbau und Struktur des zweiten Teils in den Blick nehmen. Vor allem soll die Frage in den Fokus rücken, wie die Figur, die im ersten Teil in einer geschlossenen Struktur, dem Dreistufenweg, entwickelt wurde, im zweiten Teil in viel offeneren, heterogeneren Konstellationen erzählt wird. Dabei geraten Fragen nach der Praxis der Figur in den Vordergrund, die über die Schreibpraxis einerseits und über das Imitationsmodell andererseits hinausgehen. Jeffrey F. Hamburger hat das Imitiationsmodell aus kunsthistorischer Perspektive mit einem Schwerpunkt auf den Zeichnungen beschrieben. Ich möchte stattdessen herausarbeiten, wie die Figur Elsbeths im Verlauf des Textes auftaucht, an welchen Stellen man Figureninformationen erhält und wie es sich mit denjenigen Kapiteln verhält, in denen sie gerade nicht erscheint. Der Aufbau wird im Zentrum der Überlegungen stehen, um zu zeigen, wie die Öffnung des Textes vollzogen wird und wie an die Stelle des einheitlich dargestellten Erlebens des ersten Teils die Aneignung von Texten tritt. Diese Aneignung wird nicht 15 Ebd. 16 Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, S. 16. 17 Ebd., S. 17. Figur und Textaneignung 234 dargestellt, sondern vollzieht sich unsichtbar für die Rezipientinnen. Die lockerere Reihung der Kapitel im zweiten Teil, so die Ausgangsthese, ist programmatisch für den Übergang vom exemplarischen Erzählen zur individuellen Umsetzung des Erzählten. Von der narrativen Genese der Figur, wie sie im ersten Teil enwickelt wird, geht der Text nun über zur Entnarrativierung der Figur, das heißt zur Auflösung des geschlossenen Lebensnarrativs in seine einzelnen Bestandteile. 4.1.2 Rahmung und Auflösung Beinahe alle Kapitel des zweiten Teils sind gerahmt durch eine Rezeptionssituation, in der die Tochter mündlich oder schriftlich an den Erfahrungen und am Wissen des Dieners partizipiert. Die Figuren in der Vita führen ständig vor, wie Texte entstehen und angeeignet werden; sie sind selbst Teil einer Praxis des Schreibens, Lesens und Umsetzens des Gelesenen. Die Erfahrungen des Dieners werden als Binnenerzählungen präsentiert, die am Anfang, manchmal auch am Ende durch die Rahmenerzählung umschlossen sind. Die Rezeptionssituation rahmt somit das Erzählen und löst gleichzeitig den linear-systematischen Erzählverlauf des ersten Teils auf. Statt der exemplarischen Dienerfigur, deren Erleben im Text nachvollzogen werden soll, tauchen nun einzelne Textstücke auf, die die Tochter sukzessive erhält. Damit aber wird ein ganz anderes Rezeptionsverhalten nahegelegt, als es im ersten Teil plausibel erscheint. Statt dem langen, kunstvoll komponierten Textverlauf zu folgen, werden der Tochter hier viel kürzere Elemente präsentiert, in die sie sich vertiefen soll. Dabei sind nicht alle Kapitel gerahmt. Vor allem in den Kapiteln 41 bis 44 taucht die Rezeptionssituation gar nicht auf und so auch Elsbeth Stagel nicht. Warum die Rahmenhandlung an diesen Stellen nicht benötigt wird und welche Funktion die Reihung der Kapitel ohne Elsbeth Stagel haben könnte, wird zu klären sein. Um auf textinterner Ebene an die Autorschaftsdiskussion um den Anteil Elsbeths anzuknüpfen, scheint eine Einschränkung ihrer Rolle wichtig und aufschlussreich. Denn tatsächlich wird sie im zweiten Teil nur ein einziges Mal wirklich als Schreiberin inszeniert. Im Prolog zur Vita und in Kapitel 33 wird sie zwar pauschal als Schreiberin genannt, aber nur in der Rahmenerzählung zum 36. Kapitel schreibt sie tatsächlich das Gehörte selbst auf. Gerahmt ist dieses Kapitel von der Erzählung der kranken Tochter, die den Diener bittet, sie über g  tliche dinge zu unterrichten. Die folgenden Binnenerzählungen bestehen aus einer iterativen Reihung kurzer Beschreibungen, die von den Praktiken des anfangenden Dieners erzählen. Sie beziehen sich auf die Kapitel sieben bis zwölf des ersten Teils, den Übungen, die dem liturgischen Jahr folgen. Das Kapitel endet mit der Beschreibung der Niederschrift; Elsbeth schreibt das Gehörte heimlich auf und verbirgt es. Einzig in dieser Rahmenerzählung taucht Elsbeth explizit als Schreiberin auf. In den anderen Kapiteln wird ihr das Erfahrungswissen des Dieners in Briefen präsentiert. Bezeichnend ist dabei die thematische Beschränkung: Nur bei der Niederschrift derjenigen Übungen, die der erste Teil zwar als nicht ausreichend, aber auch nicht als irreführend Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs 235 darstellt, kommt Elsbeth als Schreiberin zum Einsatz. Anders als es der Prolog der Vita suggeriert, lässt Seuse die Figur der Tochter keineswegs alles aufschreiben, sondern nur dieses einzige Kapitel, das nicht zu Missverständnissen führen kann. Alle Kapitel, in denen das richtige Leiden aus verschiedenen Perspektiven entwickelt wird, sind dagegen Briefe des Dieners. Der dauernde Wechsel zwischen Rahmen- und Binnenerzählung führt dazu, dass das im ersten Teil durch das Stufenmodell stark strukturierte Narrativ aufgelöst wird. Nicht mehr die stufenhafte Entwicklung beziehungsweise der Durchbruch des Dieners über den Stufenweg hinaus wird systematisch erzählt, sondern die Auflösung dieser Komposition in ihre einzelnen Elemente. Die Erzählelemente werden der Tochter in unterschiedlichen Situationen übermittelt, während einer Krankheit, in Zeiten des Leidens oder am Anfang, als sie um Unterweisung bittet. Zur Darstellung kommt eine Rezeptionssituation, in der kurze Textstücke übermittelt werden, aber keine geschlossene Erzählung. Im zweiten Teil der Vita steht nicht mehr im Zentrum, was erzählt wird, sondern wie es weitergegeben wird. Denn tatsächlich schließen fast alle Erzählelemente an das Erzählte des ersten Teils an, was Anne-Marie Holenstein- Hasler zu der Frage veranlasste: „Wir stehen vor dem Problem, weshalb die erzählenden Teile nicht in den ersten Teil der Vita eingebaut wurden, ist doch ihr ergänzender Charakter teilweise so stark, daß wir sie bereits früher in die Untersuchung einbezogen haben.“ 18 Die Vita wiederholt in groben Zügen im zweiten Teil, was im ersten schon angelegt ist. Nach einem Einleitungsteil, der das 33. und das 34. Kapitel umfasst und die Figurenkonstellation als Beichtvater und geistliche Tochter etabliert, folgt der Irrweg der Körperaskese, den die Tochter zu Anfang beschreitet. Nachdem dieser suspendiert wurde, folgt im 36. Kapitel eine Reihung von Visionen und liturgischen Feierlichkeiten, die der Diener der kranken Tochter in Briefen zukommen lässt. Auch im zweiten Teil nimmt die Schilderung ganz unterschiedlichen Leidens den größten Raum ein. Die Kapitel 37 und 38 berichten vom Leiden des Dieners, nehmen also den ersten Teil und das langsame Sterben des Dieners (Kapitel 3.5) wieder auf. Das 39. Kapitel nimmt Kapitel 22 auf, in dem das innere Leiden zum Thema wird und das 40. Kapitel gibt der Tochter eine Typologie des Leidens an die Hand, das analog zum Raster des Leidens steht, wie es der Diener im 20. Kapitel zur Orientierung mitgeteilt bekam. Der erste und der zweite Teil, das wird aus dieser kurzen inhaltlichen Paraphrase bereits sichtbar, sind eng aufeinander bezogen. Was im ersten Teil anhand der Figur des Dieners entwickelt wurde, muss die Tochter nun auf ihr Leben beziehen. Der grundlegende Unterschied ist die Präsentationsform. Nicht mehr ein exemplarisches Leben wird geschildert, sondern eine Zerlegung des Narrativs in kleine Elemente, die die Aneignung und Umsetzung erleichtern. Der Text fragmentiert im zweiten Teil, was im ersten geschlossen erzählt wurde. Es steht nicht mehr das Figurenerleben des Dieners im Zentrum, sondern die Aneignungssituation. 18 Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Seuses, S. 318. Figur und Textaneignung 236 Damit aber wird nicht nur eine musterhafte Rezeptionssituation dargestellt, in der sich die Rezipientinnen wiederfinden können und sollen. Es handelt sich auch um die Auflösung des Erzählens im Bild. Denn die Figur selbst ist ein bilde in der Vieldeutigkeit dieses Begriffes. So steht im Prolog die vielzitierte ‚Poetologie‘ der Vita, nach der in bildgebender wise (3,3) erzählt werden soll, da das Erzählen in Exempla und Bildern gerade den anfangenden Menschen zugänglicher sei. Im 33. Kapitel erklärt der Diener Elsbeth Stagel, sie solle sich als anfangender Mensch nicht an den sch  nen worten (98,5) orientieren, sondern an g  ten heiligen bilden (98,12), welche sie in den Lebensbeschreibungen von Gottesfreunden finden könne. Gleichzeitig aber sind diese Vorbilder auch vorbildhaft in ihrer Überwindung der Bilder, denn Elsbeth kann bei ihnen nachlesen, wenn ald wie in dú bild ab vielin (98,16). Die Aneignung der g  ten heiligen bilden soll, das ist bereits hier formuliert, in der Überwindung der Bilder erfolgen. Liest man den ersten Teil der Vita als Vorbild, das der Diener darstellt, so ist der zweite Teil auch die Auflösung dieses Bildes in seiner Geschlossenheit. Das Erzählen der Rezeptionssituation hat dann nicht nur didaktische Funktion, sondern überführt ein religiöses Konzept ins Erzählen. Wenn nämlich die Transgression irdischer Bindung, die im Text als gelassenheit bezeichnet wird, bedeutet, dass alle Bilder abfallen müssen, so muss auch das Bild und Vorbild des Dieners aufgelöst werden. Nicht die Exemplarizität, sondern die Individualisierung der Figur, des Figurenerlebens wird hier ins Zentrum gestellt. Doch obwohl im zweiten Teil die Geschlossenheit der Struktur aufgelöst wird, bleibt die Gesamtanlage des Textes durchformt. Auch die Erzählung von der geistlichen Tochter bleibt bestimmt durch narrative Verklammerungen und Kohärenzsignale. Wiederholungsstrukturen und Äquivalenzrelationen, die Bezüge zwischen dem ersten und dem zweiten Teil herstellen, formen einen komplexen Text. 4.1.3 Dynamiken der Wiederholung Die Wiederaufnahme des ersten Teils ist nicht einfach eine Wiederholung, die auch dort hätte untergebracht werden können. Vielmehr entsteht eine Dynamik zwischen den beiden Teilen; die Geschlossenheit des ersten Teils erhält in der Fragmentierung des zweiten erst ihre volle Bedeutung. Die Figur, wie sie im ersten Teil als Vorbild entworfen wird, wird im zweiten Teil wieder relativiert. Der geschlossene Figurenentwurf wird in einzelne Briefe, Unterweisungsgespräche und systematisierende Bilder überführt. Dadurch wird die narrative Genese der Figur des Dieners mit der Suggestionskraft einer in sich geschlossenen Entwicklung bis zum Durchbruch wieder aufgelöst. Indem vorgeführt wird, wie das Narrativ zerlegt und nochmals erzählt wird, zeigt der Text, dass nicht das gestufte Nacheinander einer Entwicklung zur religiösen Vervollkommnung führt, sondern erst die Individualisierung des Erzählten, die Aneignung im eigenen Leben und damit aber auch die Auflösung der vom Text so einheitlich präsentierten Figur. Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs 237 Die Dynamik von Verknüpfung und Wiederholung möchte ich exemplarisch anhand der ersten Zeichnung im zweiten Teil dargestellen. 19 Die Zeichnung befindet sich im 38. Kapitel, das in einem Brief an die Tochter eine lange Reihe von Leiden beschreibt, die dem Diener zufallen. In der Forschung wird die Zeichnung immer wieder herangezogen, um den Leidensweg des Dieners zu illustrieren. Dabei wird aber nicht auf ihre Position in der Gesamtanlage der Vita eingegangen, denn tatsächlich begleitet und kommentiert das Bild nicht den Leidensweg des Dieners, sondern die Rezeption dieses Leidenswegs, wie er an Elsbeth vermittelt wird. Die Zeichnung, die die Rezipientinnen gewissermaßen mit Elsbeth Stagel erhalten, ist gerade nicht der Leidensweg, der iterativ von immer wieder neu zufallendem Leiden erzählt. Es ist vielmehr eine Synthese, die das erzählte Nacheinander in einem äußerst komplexen Bild vereinigt. Der Lesevorgang des iterativ gereihten Leidens wird hier unterbrochen durch ein Bild, das selbst eine lange und intensive Betrachtung verlangt. Anstelle der Wiederholung steht hier das Leiden als Grundzustand, in dem sich der Untergang des gelassenen Menschen vollzieht. Die Zeichnung steht am Ende des Kapitels, zeigt aber nicht die dort geschilderte Leidensgeschichte vom Gerücht um ein uneheliches Kind und den daraufhin folgenden Rufmord. Sie zeigt stattdessen eine nicht näher benannte Figur - die den Diener sonst kennzeichnenden Stigmata fehlen ebenso wie das in die Brust eingeritzte IHS -, die von einer Fülle an Martern umgeben ist. Das Bild wird in Handschrift A auf der vorhergehenden Folioseite (folio 56 v ) mit folgender Beischrift versehen: Diz nagende erbermklich bilde z  get den strengen undergang etlicher userwelter gotes frúnden. Explizit handelt es sich nicht um den Diener, sondern um einen Gottesfreund. Die Figur bebildert hier kein konkretes Geschehen, sondern wird zu einer systematischen Figur des Leidens geöffnet. Sie steht mit gesenktem Kopf und erhobenen, betenden Händen in einer passiven, ergebenen Haltung. Links neben ihr befindet sich ein mit Nägeln gespicktes Marterkreuz. Das Kreuz stellt einen Bezug zu den körperasketischen Kapitel 14 bis 18 her, wobei sich die Figur aber vom Kreuz abwendet. Unter dem Kreuz zerren Hund, Löwe und Strauß am Habit der Figur, wobei die Tiere von Hi 30,29 begleitet werden. Das Zitat ist auf Latein und in deutscher Übertragung eingefügt: frater eram leonum et socius strucionum / Min br  der waren mir grimm l  wen und min gesellen ungehúr strussen. 20 Mit Hiob wird nicht nur das erste Bild wieder aufgenommen, sondern auch Kapitel 20, in dem das Hiobzitat in der geistlichen Ritterschaft weitergeführt wurde. Die quälenden Mitbrüder, auf die sich das Zitat bezieht, befinden sich gegenüber 19 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 119 (folio 57 r ). 20 Vgl. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, der grundlegende motivgeschichtliche Bezüge herstellt ebenso wie Bezüge zu Seuses anderen Werken. Allerdings ordnet Kersting das Bild wenig in die Gesamtanlage der Vita ein, reflektiert also nicht, dass es sich um ein Bild handelt, das inmitten einer Unterweisung in Briefen auftaucht. Er geht damit nicht auf die gewandelte Erzählsituation im zweiten Teil ein, weshalb er keine Überlegungen zu einer möglicherweise geänderten Funktion der Bilder macht. Figur und Textaneignung 238 und reichen der Figur den mit Galle getränkten Schwamm mit dem beigegebenen Kommentar: Ein beser lieger und ein falscher trieger von billich liden soll, wan er hat es verschuldet wol. Mit essich und gallen, wellen wir in trencken mit schallen. 21 Die Mitmenschen, die die Figur als Lügner und Betrüger verspotten, greifen die spottende Menge auf, die unterm Kreuz versammelt war. 22 Das 20. Kapitel wird auch durch den Hund mit dem Fußtuch aufgegriffen, der unter der Figur situiert ist. Er wird ebenfalls begleitet von einem Spruch: Ein f  st  ch sol man hin werfen den hunden vf den mist, wan es erelos und unsuber ist; dz f  st  ch sol sich nit weren, es sol sich von billich lan menlich zerzerren. Weder Hund noch Fußtuch waren nach dem 20. Kapitel noch einmal aufgetaucht. Rechts oben befindet sich eine geschlossene Himmelstür. Sie referiert auf die Gottesferne im ersten Teil, in dem dem Diener die Verlassenheit von Gott als das größte Leiden in Kapitel 20 angekündigt wurde und sich in den folgenden Kapiteln erfüllte. Erst im letzten Bild, der via mystica, ist diese Tür geöffnet. Das Bild ist überschrieben mit folgendem Spruch: Liplichú  bung dú t  t we, aber eines gelassenen menschen voller undergang tusentstund me. Die Körperübung, repräsentiert durch das Kreuz, von dem sich die Figur abwendet, wird dem leidvollen Untergang untergeordnet, den der gelassene - so wurde in Kapitel 23 bis 30 der von Gott verlassene Mensch beschrieben - Mensch vollziehen muss. Die Argumentation des 20. Kapitels wird wieder aufgenommen, in der dem Diener mitgeteilt worden war, er müsse nun ganz im Leiden untergehen. Das Bild, dessen komplexe Komposition damit bei Weitem nicht ausgeschöpft ist, synthetisiert den ersten Teil der Vita in einem Ensemble aus Text und Bild. Die Elemente, die im ersten Teil in einem geschlossenen Narrativ entwickelt wurden, werden herausgelöst und bilden hier einen neuen Rezeptionsraum im Bild. Während in den anderen Kapiteln des zweiten Teils das Leiden des Dieners in einzelne Teile zerlegt wird, die in Briefen an Elsbeth gesandt werden, ist das Bild die Synthese des Erzählten, die Zusammenfassung vieler kleiner Erzählelemente, wie sie im Text aufgerufen werden. Der Effekt aber ist in beiden Fällen ein ähnlicher. Das Leiden des Dieners, das im ersten Teil so konsequent auf das 30. Kapitel und das Sterben mit Christus zusteuerte, wird auch im Bild in seiner Teleologie aufgebrochen. Die Gleichzeitigkeit des Leidens, das von der Gottesferne gekrönt wird, zeigt, dass dem Leiden keine 21 Die Darbietung von Essig und Galle, die sich in dieser Kombination nur im Matthäus- Evangelium findet, wurde etwa von Ludolf von Sachsen in seiner Vita Christi als Heilmittel gegen die süße Frucht des verbotenen Baums gedeutet. Vgl. Walter Baier, Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen. Ein quellenkritischer Beitrag zu Leben und Werk Ludolfs und zur Geschichte der Passionstheologie, Salzburg 1977 (Analecta Carthusiana 44), S. 523ff. Baier paraphrasiert dort die Textstellen, die sich bei Ludolf zum Stichwort ‚Arzt - Erlösung als Heilung‘ finden: „Da Adam die süße Frucht des verbotenen Baumes verkostet und so als Übertreter die Ursache unseres ganzen Verderbens geliefert hatte, war es angebracht, das Heilmittel für unser Heil im Gegenteil zu suchen: Mit der Mischung aus Essig und Galle verkostete Jesus die ganze Fülle des bitteren Leidens“, S. 523. 22 Vgl. Mt 27,39ff. Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs 239 intentionale Entwicklung unterliegt, sondern dass es ein Zustand dauerhaften, unentwegten Leidens ist, das man mit demütigem Gottvertrauen zu empfangen hat, was die Figur in ihrer Haltung ausdrückt. Auffällig ist die stärkere Systematisierung der Zeichnungen im zweiten Teil. Während im ersten Teil immer ein direkter Bezug zum Text besteht, greifen die Zeichnungen im zweiten Teil auf das gesamte Textcorpus zurück, synthetisieren und systematisieren das Erzählte in immer komplexer werdenden Darstellungen. 23 Mit der Forderung, die Bilder mit dem geistlichen Fortschreiten abzuwerfen, lässt sich eine Verdichtung und Systematisierung der Bilder beobachten. Vom konkreten Geschehen zum abstrakten Muster werden sie immer vielschichtiger. Diese Komplexitätssteigerung führt die Gemachtheit der Bilder vor Augen. Anders als in den Zeichnungen des ersten Teils, wird nicht mehr nur der Diener gezeigt. Stattdessen gehen die Zeichnungen auf eine abstraktere Ebene, auf der sie durchaus auch in Spannung zum Erzählkontext treten, in dem sie situiert sind. Es ist die Reflexion des ersten Teils im Bild, das die Linearität des Erzählens aufbricht und das Strukturmodell einer aufsteigenden Entwicklung in Frage stellt. Der Text zerlegt das Figurenerleben des Dieners in kleine Bestandteile, löst die Figur auf und führt von der exemplarischen Figur zur individuellen Umsetzung des Erzählten. Diese Individualisierung mit ihren Risiken und Problematiken vollzieht die Figur Elsbeths. 4.1.4 Die erste Textgrenze - Unterbrechung und Neueinsatz Bevor Elsbeth auftaucht, zieht der Text eine Grenze zwischen der Offenbarungsrede des 32. Kapitels und dem neuen Teil. Die Abgrenzung vollzieht sich als mediales Phänomen, wird doch erst durch die Verbindung aus Textualität und der Gestaltung der Handschrift die Komplexität der Grenze sichtbar. In der Handschrift A gehen beide Teile ineinander über, stehen auf der gleichen Folioseite (folio 42 r ). Voneinander abgegrenzt werden sie aber durch vier Techniken des Layouts: Überschrift, Initiale, Rankenschmuck und Unterstreichung. Die auffälligste Unterbrechung des Textes ist sicherlich die Initiale, die einen Pelikan mit seinen Jungen darstellt. 24 Es ist die Initiale C, die den Anfang eines lateinischen Zitats bildet: Confide filia. Das Zitat ist mit einer rubrizierten Unterstreichung vom folgenden Text abgesetzt, wobei die Unterstreichung die ebenfalls rubrizierte Initiale verlängert. Die Bildinitiale und das Zitat sind ineinander verwoben, nicht nur deshalb, weil die Initiale den Anfangsbuchstaben bildet, sondern auch, weil die Rubrizierung diese Verwebung zusätzlich markiert. Weder Pelikan noch Zitat sind an dieser Stelle 23 Nichtsdestotrotz tauchen auch Bilder mit direktem Bezug zum Erzählkontext auf, so die Zeichnung vom herzentrut, vom Seraph und von der ewigen Weisheit als Schutzmantelmadonna. Die Zeichnungen sind als Digitalisate einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 129 (folio 62 r ), Ansicht 136 (folio 65 v ) und Ansicht 142 (68 v ). 24 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 89 (folio 42 r ). Figur und Textaneignung 240 kommentiert. Verstärkt wird die Textgrenze durch einen einfachen Rankenschmuck, der die Initiale umgibt und sich am linken Blattrand nach unten verlängert. Er signalisiert eine Besonderheit im Text, unterbricht den Fließtext und setzt die Teile zusätzlich voneinander ab. Dass nun ein ganz anderer Teil beginnt wird nicht nur durch die Unterbrechung im Layout sichtbar gemacht, sondern auch ganz explizit in der Überschrift: Hie vahet an daz ander teil diss ersten b  ches von dez dieners geischlichen tohter (96,2). In der Handschrift A steht diese Überschrift dreizeilig und rubriziert als Block. Karl Bihlmeyer unterstreicht die Unterbrechung im Text in seiner kritischen Edition, indem er die Überschriften auseinanderzieht und mit einer zusätzlichen Nummerierung versieht - Zweiter Teil und XXXIII. Kapitel -, die noch durch Absatz und Schriftgröße als Neueinsatz des Erzählens verstärkt werden. Er betont dadurch die Zweiteiligkeit des Werkes. Was verloren geht, ist die enge Verknüpfung zwischen dem Layout und den folgenden Kapiteln und die daraus resultierende mediale Verschränkung. Denn die unkommentierte Initiale mit den Pelikanen und das erratische Motto: Confide filia wird in den folgenden Kapiteln aufgenommen und in ein komplexes Verhältnis von programmatischem Motto im Paratext und narrativer Einlösung im Text gestellt. Da bei Bihlmeyer die Initiale fehlt, die mit dem lateinischen Zitat unauflösbar verbunden ist, entzieht die kritische Edition dem Text-Bild-Ensemble die mediale Dimension von Abgrenzung und Verknüpfung. Nachdem Elsbeth Stagel dem Diener ihren Wunsch nach heiligem lebene (98,22) mitgeteilt hat und ihre Bereitschaft dafür wie ein junges sch  lerli von Grund auf zu lernen, äußert sie nur eine einzige Bitte. Auf die Frage, wie diese Bitte aussähe, antwortet sie mit eben der Allegorie vom Pelikan, die in der Initiale zum Zitat Confide filia auftaucht. So wie der Pelikan sich selbst beiße, um seine Jungen mit seinem Blut zu tränken, so wünsche auch sie, dass der Diener ihr, seinem turstigen kinde (99,5), die gute Lehre mit geischlicher spise (99,6) vermittle. 25 Die Allegorie des Pelikans steht bereits in der Physiologus- Tradition. Das Selbstopfer des Vogels „gab das Sinnbild ab für Christi Kreuzigung.“ 26 Die Allegorese liefert Elsbeth gleich mit. Sie wünscht nämlich eine Unterweisung auf Basis der Erfahrungen des Dieners - die Erfahrungen sind die gute Lehre, die als geistliche Speise dienen soll -, für die ihre Seele aufgrund deren Unmittelbarkeit umso empfänglicher sei. 27 Die Kette vom Pelikan 25 Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning, hier S. 446f., zeigt, wie die Initialen der Vita deren Programm aufnehmen und abbilden. Der Pelikan steht dabei für das Bedürfnis des anfangenden Menschen nach geistlicher Nahrung. In der nächsten Initiale dagegen ist ein Adler und seine Jungen abgebildet, die für den fortschreitenden Menschen stehen, der sich und seine Jungen selbst ernähren kann. Hamburger geht dabei nicht darauf ein, dass die Initialen im Text aufgenommen werden und selbst Teil des geistlichen Anfangs Elsbeths sowie der Figurenkonstellation zwischen Beichtvater und Tochter werden. 26 Hildegard Elisabeth Keller, Rosen-Metamorphosen. Vom unfesten Zeichen in spätmittelalterlichen Texten, S. 65, Anm. 27. 27 Das vollständige Zitat lautet: herr, ich han geh  ret sagen, daz der pellicanus s  licher natur sie, daz er sin sich selben bisset und sinú jungú kind in dem neste von veterlicher minne Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs 241 als Sinnbild für die Kreuzigung Christi wird weitergeführt zum Diener und dessen Leiden, die Elsbeth sich regelrecht einverleiben möchte. Die Vermittlung Christi durch seinen Opfertod wird verlängert auf den Diener hin, der im ersten Teil den geistlichen Tod gestorben war und hier als vermittelnde Instanz für den anfangenden Menschen fungiert. 28 Die Trinkmetaphorik nimmt der Diener in seinem Antwortbrief auf, in dem er die Lehre Meister Eckharts vor falscher Anwendung schützen möchte. Denn der Diener verweist auf die Kompilationen Elsbeths, die am Anfang des 33. Kapitels beschrieben werden. Ihre Abschriften beziehen sich auf spekulative Begriffe wie von der blossen gotheit, von aller nihtkeit oder von aller bilden bildelosekeit (97,11ff.). Die Lehre, die die Begriffe transportieren, sei grundsätzlich gut, - Disú lere waz g  t in ire (97,18f.) -, würde für die anfangenden Menschen aber Gefahren bergen, da deren Unterscheidungsvermögen noch mangelhaft sei. Im Antwortbrief des Dieners auf die Pelikanallegorie der Tochter nun zeigt sich, dass die g  te lere von Meister Eckhart selbst stammt: Sie habe ihre Exzerpte usgelesen uss der s  ssen lere dez heiligen maister Eghards (99,11f.). Entsprechend ist der Diener verwundert, dass die Tochter na so edelm tranke dez hohen meisters nun nach des klainen dieners grobem trank (99,14f.) verlangt. Mit dieser Stilisierung wird gleichzeitig die qualitative Differenz aufgerufen, als auch - selbstbewusst - die Notwendigkeit von grobem trank postuliert. Denn schließlich ist der edle Trank Eckharts für den anfangenden Menschen zu subtil. Um dorthin zu gelangen, braucht es die erzählte Erfahrung von g  ten heiligen bilden (98,12), von heiligen Vorbildern. Die Vita steht damit nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu den Schriften Eckharts, sondern ist gewissermaßen die Voraussetzung für deren richtige Rezeption. Die Verwendung der Trinkmetaphorik wird noch weiter ausgebaut. Im folgenden 34. Kapitel wird aufgegriffen, womit das 33. Kapitel geschlossen hatte, es wird erzählt [v]on dem ersten begin eins anvahenden menschen (99,21). Elsbeth beschließt, wie der Diener ihr geraten hat, eine umfassende Beichte abzulegen. Sie schreibt sie auf und schickt sie dem Diener als bihter, der an gotes stat da sizzet (99,28). Der Diener übernimmt die Vermittlungsfunktion, zumal er von der tiefen Andacht der Tochter herzklich bewegt war. Und so wie die Tochter ihm schreibt, sie falle vor seine Füße, so fällt der Diener in seinem daran anschließenden Gebet vor Gott nieder, um das Begehren der Tochter in daz g  tlich herz zu tragen. Der Diener wird somit Schritt für Schritt als Vermittler, als Medium zwischen der Tochter und Gott etabliert. Nicht nur mit sinem eigen bl  t spiset. Ach herr, und da mein ich, daz ir ze glicher wise also mir, úwerm turstigen kinde, t  gent und mit geischlicher spise úwer g  ter lere f  rent, und nit ze verr s  chent, denn daz ir úch selb nahe grifent; wan so es úh ie neher ist gewesen in usgewúrkter wise, so es ie enpfenklicher ist miner begirigen sele. (99,2ff.). 28 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, geht nur flüchtig auf diese Textstelle ein. Die Allegorese Elsbeths sei eine Aufforderung an den Diener zur „unbedingten, schonungslosen Wahrhaftigkeit in der Weitergabe seiner eigenen geistlichen Erfahrungen und Erkenntnisse“, S. 159. Enders übergeht dabei die allegorische Tradition und verkürzt damit die komplexe Inszenierung der Vermittlung um wesentliche Aspekte. Figur und Textaneignung 242 seine Erfahrungen soll er ihr erzählen, sondern auch den Kontakt zu Gott herstellen. 29 Der Diener beschließt das Gebet folgendermaßen: Eya, miltú miltekeit, ker dinú miltú ogen z  ir, sprich ein einiges w  rtli z  ir, sprich also: Confide filia, fides tua te salvam fecit, din g  t glob hat dich behalten. (100,29-101,1) Das lateinische Zitat, das Teil der bildlichen Textgrenze war und in enger Verbindung zur Pelikan-Allegorie in der Initiale steht, findet hier seine narrative Kontextualisierung. Es stammt aus Mt 9,22, der Heilung der blutflüssigen Frau. Diese berührt von hinten das Gewand Jesu, worauf er sich umdreht und die oben zitierten Worte spricht. Daraufhin ist die Frau geheilt. So wie Jesus die blutflüssige Frau nicht abwies, so möchte der Diener auch Elsbeth Stagel nicht abweisen. 30 Damit setzt er sich auch über das Zitat in die Nachfolge Jesu. Die Analogisierung wird weiter ausgeführt, denn so wie die kranke Frau durch ihr Gottvertrauen geheilt wurde, wird auch Elsbeths Begehren nach geistiger Speisung erfüllt. In einem weiteren Brief teilt ihr der Diener mit: daz du begert hast von gote dur den diener, daz ist beschehen (101,4f.). Er führt eine Vision aus, die ihn zeigt, wie er mit den engelischen junglingen himelisch kúrzwil (101,13f.) hat. Interessanterweise wird vom Diener in der 3. Person gesprochen, während Elsbeth Stagel in der 2. Person direkt adressiert ist, obwohl er selbst den Brief schreibt. So ergibt sich eine Mischung aus Nähe und Distanz, in der sich die Briefrezipientin angesprochen fühlen kann, ohne dass die Figur des Dieners von sich selbst als Analogie Christi sprechen müsste. In dieser Vision, in der sich der Diener eingereiht inmitten der Engel sieht, taucht nun Elsbeth Stagel auf, und nähert sich dem Diener: do waz im vor in der selben gesihte, wie du kemist in gende fúr in stan, da er sass under dem engelschlichen gesinde, und mit grossem ernst knúwetast du nider fúr in und neigtast din antlút eben uf sin herz, und knúwetast also mit dinem geneigten antlút uf sinem herzen ein g  t wil. (101,15ff.) Die Körperhaltung eröffnet eine ganze Assoziationskette. Textextern ist es ein Bezug auf die Johannesminne, die im späten Mittelalter in den Skulpturen 29 Die Rolle des Dieners als Vermittler zwischen Elsbeth beziehungsweise zwischen den Rezipientinnen und Christus arbeitet auch Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self- Fashioning, heraus: „At the same time, it [die Vita, Anm. S.B.] interposes his person (and, by extension, the mediation of the mendicants) between his female readers and the ultimate object to which they aspire, Christ himself“, S. 448. Diese Vermittlungsrolle zieht sich durch die ersten Kapitel des zweiten Teils und determiniert die Figurenkonstellation noch grundlegender, als Hamburger dies beschreibt. Letztlich werden hier die Unmittelbarkeitserfahrungen, die dem Diener zugeschrieben werden, in Vermittlungsleistungen überführt, die wiederum in eigene Erfahrungen transponiert werden müssen. Statt der visionären Unmittelbarkeit steht eine hermeneutische Anwendung, eine ars applicandi, die erst die Textproduktion und -rezeption abschließen kann, zumal im Kontext geistlicher Literatur. Auf die Dimension der Anwendung im Kontext der Schwesternbücher weist bereits Otto Langer, Traum und Traumvision in der spätmittelalterlichen dominikanischen Fraunemystik, hin: „Daß die Anwendung ein integrales Element des hermeneutischen Vorgangs ist wie Verstehen und Auslegen, daß also zur subtilitas intelligendi und explicandi [...] die subtilitas applicandi gehören, ist in der neueren Hermeneutikdiskussion nicht kontrovers“, S. 67. 30 Vgl. dazu Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes, S. 293. Zerlegte Textstrukturen und Auflösung des Narrativs 243 der Jesus-Johannes-Gruppen gerade im süddeutschen Raum verbreitet war. Johannes wird traditionell mit dem Jünger identifiziert, von dem es im Johannes-Evangelium heißt, er sei der, „den Jesus liebte.“ 31 Diese Wendung wird während des letzten Abendmahls gebraucht, als Johannes an der Brust Jesu ruht. In dieser Pose, so die Auslegung in mystischer Literatur, schaut Johannes die göttlichen Geheimnisse und wird zur Identifikations- und Mittlerfigur. Für den Johanneskult ist, so Gregor Wünsche, „eine zentrale Metapher [...] die des Trinkens [...]. Johannes ist deswegen ein so herausragender theologischer Autor, da er die göttliche Weisheit direkt aus der Brust des Herren ‚trinkt‘.“ 32 Textintern greift Seuse auf den ersten Teil zurück, wo im fünften Kapitel die Seele des Dieners in einer Vision an der Brust der ewigen Weisheit ruht, begleitet von einer Zeichnung, die dieses minnespil darstellt. 33 Der Diener wird hier nun als Mittler an die Stelle der ewigen Weisheit gesetzt, er ist derjenige, an dessen Brust Elsbeth in der Vision ruht. Beide Figuren werden in einem Vermittlungsmodell gezeigt, in dem das eigentlich unvermittelbare Göttliche geschaut wird. Gleichzeitig inszeniert der Text die Vermittlungsposition nicht als Selbstermächtigung des Dieners, sondern als Wahl der Tochter. Denn der Diener ist verwundert über ihre Kühnheit, gestattet es ihr aber: Also nam der br  der wunder ab diner getúrstekeit und doch st  nd es dir als heilklich ane, daz er es dir g  tlich gestatet. (101,20ff.) Der Text spielt an dieser Stelle mit der Bedeutung des Wortes getúrstekeit. Tatsächlich wird es vor allem im Sinne von Kühnheit verwendet. 34 Das Verb gedürsten existiert jedoch ebenfalls als Verstärkung von Durst haben. 35 Getúrstekeit könnte also gewissermaßen eine Neubildung zu gedürsten sein und die Bitte Elsbeths aufnehmen, ihr, dem túrstigen kinde (99,6) geistliche Nahrung zu geben. Ihr Durst nach geistlicher Nahrung und die Kühnheit, mit der sie ihren Durst an der Brust des Dieners löscht, spielen beide in die Vision hinein. Die beiden Kapitel führen aus, was die Textgrenze programmatisch festschreibt. Das Trinken der geistlichen spise, das Elsbeth in der Allegorie des Pelikans ausführt und das aufgenommen wird in der Vision, in der sie 31 Diese Wendung findet sich wiederholt in Joh 13,23, Joh 19,26, Joh 21,7 und Joh 21,20. 32 Gregor Wünsche, Präsenz des Unerträglichen, S. 131, unter Verweis auf Jeffrey F. Hamburger, Siegel der Ebenbildlichkeit, voll von Weisheit. Der Evangelist Johannes und die Bildsprache der Vergöttlichung im Graduale von St. Katharinenthal, in: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften, hg. von Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann, Tübingen 2002, S. 131-175. 33 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 22 (folio 8 v ). Auch Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Seuses, verweist auf diese Referenzen: „Die Reihe der Analogien erreicht hier eine beträchtliche Länge, erkennen wir doch das Ruhen des Logos am Herzen des Vaters, das Ruhen des Lieblingsjüngers an der Brust des Herrn und das Ruhen der Seele des Dieners am Herzen der Ewigen Weisheit als mögliche Bezüge“, S. 322. Sie geht dann allerdings nicht weiter auf das Nachahmungsmodell des Dieners ein. 34 BMZ, Bd. 1, Sp. 16b. 35 Ebd., Sp. 323a. Figur und Textaneignung 244 tatsächlich an der Brust des Dieners trinkt, wird so zur Leitsemantik dieser beiden einleitenden Kapitel. In der eindrucksvollen und komplex entfalteten Bildlichkeit wird die Beziehung der Figuren als religiöse, ja als mystische Beziehung inszeniert. Wie der Diener im dritten Kapitel seine religiöse Identität als Diener der ewigen Weisheit selbst performativ setzte, wird Elsbeth erst in der Abfolge von Allegorie, Beichte, vermittelndem Gebet des Dieners und bestätigender Vision zur geistlichen Tochter des Dieners. Die Textgrenze aus Initiale und Zitat setzt den zweiten Teil nicht nur vom ersten ab, sondern etabliert eine Spannung. Denn die Pelikan-Initiale steht im Gegensatz zum Anfang des ersten Teils, wo in der Eingangsinitiale der Diener, kenntlich gemacht durch das IHS-Monogramm, dargestellt ist. 36 Zu sehen ist dort die Figur selbst, deren exemplarisches Leben in der Nachfolge Christi in den folgenden Kapiteln 1 bis 32 erzählt wird. Der zweite Teil, der mit Kapitel 33 beginnt, geht nun vom Leben zur Lehre, und zwar zur Lehre als geistliches Trinken, so wie es die Pelikan-Initiale zeigt. Entsprechend ist nicht mehr das Leben im Zentrum des Erzählens, sondern das Trinken, das Aufnehmen und Aneignen dessen, was im ersten Teil erzählt wurde. Und es ist nicht nur eine Lehre, sondern es ist die Übereignung des mystischen Geheimnisses, das Elsbeth Stagel in der Vision gnadenhaft erhält. Bereits die Initialen als Signale einer Textgrenze führen eine programmatische Unterscheidung mit sich und signalisieren so die Ausrichtung der beiden Teile. 4.2 Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) 4.2.1 Benennung als historische Referenz Im ersten Teil war eine Strategie der Namensgebung zu beobachten, die den Diener einer biographischen Konkretisierung enthob und stattdessen seinen religiösen Selbstentwurf in Akten der Lektüre und der Körperzeichnung verdichtete. 37 Der Eigennamen Súse taucht nur in der Überschrift des Prologs der Vita auf, ist dort bezogen auf das ganze Buch und steht in einem spannungsvollen Verhältnis zum Text. 38 Sein Ziel, seine begird, wird ebenfalls im Prolog 36 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 11 (folio 3 r ). 37 Vgl. Kapitel 3.1.3 Performative Selbstsetzung in der Lektüre. 38 So auch Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler, Vom ‚diener der ewigen wisheit‘ zum Autor Heinrich Seuse, S. 153: „Die Präsentation des Autors ist nun ausgesprochen irritierend, verrätselnd. Dies beginnt bereits mit dem Namen. ‚Seuse nannte seine Selbstdarstellung der Súse‘, heißt es bei Kurt Ruh. Dies ist so eindeutig nicht. Die Überschrift der ‚Vita‘ lautet in den Handschriften des ‚Exemplars‘: Hie vahet an daz erste tail dizz b  ches, daz da haisset der Súse (7,1). Der Satz ist grammatisch nicht eindeutig.“ Aus dieser Uneindeutigkeit, die weiter ausgeführt wird, folgern die beiden Autoren, S. 155: „Damit ist deutlich, dass erst für die handschriftliche Überlieferung jenes ‚seit dem 12. Jahrhundert‘ bestehende ‚Interesse an der Verknüpfung eines Textes mit einem (Autor-) Namen‘ nachzuweisen ist. [...] Dies setzt sich bis in die Gegenwart fort, in der sehr häufig Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) 245 prominent erwähnt, nämlich daz er wurde und hiesse ein diener der ewigen wisheit (7,4). Im ersten Abschnitt präsentniert das Kapitel einige grundlegende Informationen, mit denen die Figur konstruiert wird; vor allem aber wird das Streben Elsbeth nach einem Minneverhältnis zur ewigen Weisheit eingeführt, das die ganze Existenz umfasst. Wie aber wird Elsbeth als Figur im Text konstituiert? Welche Informationen erhalten die Rezipientinnen über diese Figur, die in der Forschung zur Vita eine so zentrale Position einnimmt? Im Prolog zur Vita wurde zu Beginn des Textes die doppelte Autorschaft inszeniert. Eine namenlose Schwester schreibt dort heimlich auf, was der Diener ihr erzählt. Im 33. Kapitel erhält man nun biographische Angaben, die diese Schwester, die gemeinhin mit Elsbeth Stagel identifiziert wird, näher bestimmen. 39 Mit genauen Referenzen auf die Zeit - in den selben ziten des dieners (96,5) - und auf den Ort - in einem beschlossen kloster ze T  zze (96,6f.) - wird sie chronotopisch situiert und über den Eigennamen, Elsbet Staglin, referentialisiert. Die Nennung des Eigennamens unterscheidet den Prozess der Figurenkonstitution vom ersten Teil. Hier steht anstelle des Dieners, dessen Eigenname camoufliert im Paratext erscheint, eine über ihren Namen genau referentialisierte Dominikanerin. Für die Rezipientinnen ergibt sich ein ganz anderer Identifikationsraum, schließt doch der zweite Teil mit der Nennung einer konkreten Schwester an die ebenso konkreten Schwesternbücher und Gnadenviten der Dominikanerinnenklöster an. Diese beginnen in den meisten Fällen stereotyp mit der Nennung des Namens der begnadeten Schwester. Seuse greift diese Formel der Figureneinführung auf, die das Muster es waz eine swester, dú hiess... variiert zu: Es was [...] ein geischlichú tohter bredier ordens [...] dú hiess... (96,5ff.) Die zusätzlichen Figureninformationen ze den selben ziten und in einem beschlossen kloster ze T  zze sind notwendig, da der Kontext, anders als in einem Schwesternbuch nicht bereits durch einen entsprechenden Prolog oder eine Klostergründungsgeschichte gegeben ist. Aufgerufen wird mit der Formel die Gattung der Viten- und Offenbarungsliteratur, die die historischen Bewohnerinnen - seltener die Bewohner - eines Klosters als begnadete Frauen vorbildhaft ausgestaltet. Indem Seuse die Gattung über die Figureneinführung aufgreift, wird Elsbeth unmittelbar in diesem Kontext rezipierbar. Zudem wird Elsbeth in ihrer Funktion als Schreiberin im Kontext dominikanischer Schreibpraxis im Frauenkloster verortet. So wird sie im 33. Kapitel angeführt als Schreiberin des Schwesternbuches, ein vil g  t b  ch (97,2f.). Ihre Rolle bei der Fertigung des Schwesternbuches hat Klaus Grubmüller kritisch analysiert und herausgestellt, dass die Rolle Elsbeths als Schreiberin tatsächlich nur über die Vita und die von der Vita abhängige Vorrede des Johannes Meyer die in allen Bildern des ‚Exemplars‘ mit der diener bezeichnete Figur mit ‚Seuse‘ benannt wird.“ 39 Vgl. Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum, S. 136, die vor allem die Autorschaftsinszenierung analysiert. Figur und Textaneignung 246 im 15. Jahrhundert konstruiert wird. 40 Gleichzeitig aber ist Elsbeth auch historisch greifbar, nämlich über eine Gebetsempfehlung in einer frühen Überlieferung des BdeW im Codex 141 der Engelberger Stiftbibliothek, auf die Richard F. Fasching näher eingeht. 41 Anders als die Bezeichnung diener, die nicht nur benennt, sondern auch ein Dienstverhältnis bedeutet, referiert der Eigenname Elsbet Staglin auf eine biographisch konkretisierte Person, auch wenn ihre Rolle als Schreiberin der Vita und des Schwesternbuchs literarisiert ist. Das hat Konsequenzen für die Rezeption. Wie im Kapitel zur Textgrenze schon gezeigt, stellt der zweite Teil die Individualisierung, die Umsetzung des ersten Teils im Leben Elsbeths dar. Elsbeth wird als historisches Individuum gezeichnet, damit der Text eine Individualisierung, im Sinne einer Applikation des Erzählten im eigenen Leben, reflektieren kann. Abgeschlossen wird ihre Einführung mit einer Bemerkung zu ihrer geistlichen Haltung: sie hate einen vil heiligen wandel von ussnan und ein engelschliches gemut von innen. (96,7ff.) Darüber hinaus ist ihr ker, der sich beim Diener über mehrere Kapitel hin zieht, bereits vollzogen, sie ist ganz Gott zugewandt. Auf engem Raum und ähnlich wie bei der Einführung des Dieners, erhalten die Rezipientinnen so die notwendigen Informationen, um Elsbeth als narrative Identität identifizieren zu können. Sowie der Diener zuerst eingeführt und dann sein begird nach der ewigen Weisheit genannt wurde, so wird auch bei Elsbeth nach einführenden Informationen ihr Streben, ihr fliz und ihre begirde herausgestellt (96,11ff.). Anders aber als der Diener begehrt sie kein Minneverhältnis zur ewigen Weisheit, sondern sie verlangt nach geischlicher lere, mit der si m  hte gewiset werden z  einem seligen volkomen lebene (96,11f.). Während im ersten Teil nur vom Leben erzählt wird, verbindet der zweite Teil das Leben mit der geistlichen Vollkommenheitslehre. Elsbeth möchte über die Lehre ihr Leben vervollkommnen; statt Erfahrungen, die als unmittelbares Figurenerleben inszeniert werden, tritt im zweiten Teil die Vermittlung der Erfahrungen als Lehre ins Zentrum, die selbst wieder in die Unmittelbarkeit führen soll, nämlich in das selige[n] volkomen lebene. 4.2.2 Das Schreiben zum vollkommenen Leben Aus ihrem Streben nach vollkommenem Leben resultiert ihre Schreibtätigkeit überhaupt erst. Elsbeth Rolle ist weder nur in ihrer didaktischen Funktion noch allein als vorbildlich Imitatorin des Dieners zu fassen. Ihre Schreibpraxis ist der Versuch, die eigene religiöse Identität über das Schreiben herzustellen. 42 40 Vgl. Klaus Grubmüller, Die Viten der Schwestern von Töss und Elsbeth Stagel (Überlieferung und literarische Einheit), in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 98 (1969), S. 171-204, hier v.a. S. 195ff. 41 Vgl. Richard F. Fasching, Ein Text Heinrich Seuses? Untersuchungen zum Prolog des ‚Solothurner Legendars‘, v.a. S. 336ff., der auch die Forschungsliteratur dazu aufführt. 42 Ähnlich grenzt auch Agnieszka Madej-Anderson, ‚Glicheit‘. Medien und Modelle der Ähnlichkeit bei Heinrich Seuse, in: Similitudo. Konzepte der Ähnlichkeit in Mittelalter Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) 247 Entsprechend ist das 33. Kapitel durchzogen vom Schreiben und von der Lehre. Für vier unterschiedliche Textsorten wird Elsbeth als Schreiberin eingesetzt und in allen vieren wird die Funktion genannt, die für das volkomen lebene relevant ist. 43 In der ersten Erwähnung wird ihre Kompilationstätigkeit beschrieben: Sie screib an, wa ir út lustliches werden mohte, daz si und endrú menschen gefúrdren mohte z  g  tlichen tugenden. Si tet als dú gewirbigú binlú, dú daz s  ss hong uss den menigvaltigen bl  men in tragent. (96,13ff.) Über die Zusammenstellung kurzer Texte möchte Elsbeth ein Kompendium fertigen, das zu den göttlichen Tugenden führt. Die Bienen-Metapher ist dabei die Metapher ihrer Kompilationstätigkeit. Elsbeth trägt abstrakte Begriffe wie von der blossen gotheit, von aller dingen nihtkeit, von sin selbs in daz niht gelassenheit (97,11ff.) zusammen, die sie dem Diener schickt, damit er sie darin unterweise. Am Ende des Kapitels greift der Diener die Begriffe noch einmal auf, von denen er schreibt, Elsbeth habe sie usgelesen uss der s  ssen lere dez heiligen maister Eghards (99,11f.). 44 Nach der Bienen-Metapher werden ihre genauer explizierten Schreibtätigkeiten erwähnt, nämlich die Erstellung des Schwesternbuches und der Vita des Dieners. Die Bienen-Metapher kann man ebenfalls auf das Schwesternbuch und die Vita beziehen, da sie auch diese zusammenstellt und aufschreibt. Elsbeth schreibt von Vorbildern, deren Leben es zu imitieren gilt. Beide Bücher werden ausdrücklich ihrem Ziel zugeordnet, nach geischlicher lere zu suchen, die sie zu einem vollkommenen Leben führen möge. Das Schwesternbuch dient diesem Ziel, indem es von den vergangnen heiligen sw  stran [...] und waz grosses wunders got mit in wurkte (97,4ff.) berichtet, wobei diese Lebensbeschreibung der begnadeten Schwestern vil reizlich ist ze andaht g  therzigen menschen (97,5). Während die Schwesternleben und Früher Neuzeit, hg. von Martin Gaier, Jeanette Kohl und Alberto Saviello, München 2012, S. 101-127, Elsbeths Schreibpraktiken von den als unmittelbar geschilderten Erfahrungen des Dieners im ersten Teil ab, S. 123: „Sie folgt ihrem Lehrer, indem sie das Buch seines Lebens schreibt und im Schreiben, in der schriftlichen Auseinandersetzung mit dem Exempel, ihre (Selbst-)Erfahrung findet.“ In dieser etwas reduktiven Perspektive wird nicht nur Elsbeths Schreiben auf die Niederschrift der Vita beschränkt, es wird auch nicht aufgenommen, dass im zweiten Teil die Rezeptionssituation erzählt wird und Elsbeth selbst im Verlauf der Kapitel nur ein einziges Mal auftaucht. 43 Auf die Rolle Elsbeths als Schreiberin, Ko-Autorin und Autorin verweist Hans-Jochen Schiewer, Möglichkeiten und Grenzen schreibender Ordensfrauen, in: Bettelorden, Bruderschaften und Beginen in Zürich. Stadtkultur und Seelenheil im Mittelalter, hg. von Barbara Helbling, Magdalen Bless-Grabher und Ines Buhofer, Zürich 2002 (Beiträge zur Hagiographie 3), S. 179-187. Auf S. 184 ist das Autorbild Elsbeths reproduziert, das sich in der Nürnberger Handschrift Cod. Cent. V, 10 a , 2.3 ra befindet: „Es unterscheidet sich ikonographisch nicht von der Präsentation männlicher Autoren“, S. 186. 44 Vgl. Hans-Jochen Schiewer, ‚Uslesen‘: Das Weiterwirken mystischen Gedankenguts im Kontext dominikanischer Frauengemeinschaften, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang: Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 581-603, hier S. 595f. Figur und Textaneignung 248 zur Andacht anleiten sollen, 45 steht bei ihrer Niederschrift der Vita die wise sines durpruches (97,8), der Durchbruch des Dieners zum vollkommenen Leben, im Mittelpunkt. Neben der Kompilation, dem Verfassen des Schwesternbuchs und der Niederschrift der Vita tritt Elsbeth auch als Briefschreiberin auf. Innerhalb eines Briefwechsels zwischen Diener und Elsbeth werden die unterschiedlichen Textsorten bewertet, die Elsbeth verwendet. Der Diener warnt sie vor dem schedlichen iergang, der in der spekulativen Sprache liegt, wenn man diese nur uss wunder, aus Neugierde kennen möchte, um von dem geist wol reden zu können (98,3). Statt der hohen Fragen, die ihr als ungeübter Schwester noch nicht angemessen sind, soll sie sich an heiligen Vorbildern orientieren: es ist núzzer ze wússene von dem ersten begin, wie man súl an vahen, und von  bigen lebene und g  ten heiligen bilden, wie diser und der gotesfrúnd, die och einen g  tlichen anvang haten, wie sich die des ersten mit Cristus leben und lidene  pten, waz sú eblich erliddin und wie sú sich von innen und von ussnan hielten, ob sú got dur s  ssekeit ald dur hertikeit zugi, und wenn ald wie in dú bild ab vielin. (98,10ff.) Nicht die schönen Worte soll sich die Tochter aneignen, sondern die Vorbilder imitieren, die sich in der Nachfolge Christi üben. Und die Tochter, ganz willige Schülerin, lässt sich ohne Widerspruch darauf ein, allerdings mit einer Bitte, die wiederum die Entstehungsgeschichte der Vita bedingt. Denn sie möchte nicht durch irgendwelche Lebensbeschreibungen unterwiesen werden, sondern durch die Erfahrungen des Dieners. Was Elsbeth möchte, ist sein leben und lere (97,7), die untrennbar zusammenhängen. Indem sie sein Leben aufschreibt, nimmt sie seine Lehre auf. Seuse bietet hier, wie im 19. Kapitel, das Modell der Schule, des allmählichen Übens und Lernens bis zur Meisterschaft an. Die Unterweisung in die abstrakte Terminologie, die zu schwierig ist, wird zurückgestellt und stattdessen werden vorbildhafte Leben als Lehre ins Zentrum gerückt. Elsbeth selbst formuliert das Üben als Lernprozess, der beim Niedrigsten ansetzt, um zum Höchsten zu kommen. Sie vergleicht ihren Weg mit dem eines Schülers: Vahent dez ersten an bi dem nidresten und wisent hin durch, als man ein junges sch  lerli dez ersten leret, daz z  der kintheit h  ret, und es aber und aber fúrbaz wiset, unz es selber wirt ein meister der kúnsten. (98,28ff.) Statt des Durchbruchs oder der Gelassenheit steht, immer in paradoxer Spannung zur Ereignishaftigkeit dieser spekulativen Terminologie, das Üben, das Lernen, das aus dem Schülerlein einen Meister formen soll. Vermittelt werden kann ihr nicht die Meisterschaft selbst, sondern der Anfang, der, wie der Diener schreibt, darin besteht sich mit Cristus leben und lidene zu üben. 45 Die gleiche Formulierung findet sich im Kontext der Vitensammlung wiederholt, worauf Johanna Thali, andacht und betrachtung, S. 240ff. hinweist. Die exakt gleiche Formulierung findet sich, so Thali, in der Vorrede des Johannes Meyer zur Vitensammlung des Klosters St. Katharinental, S. 243: „Auch die Vitensammlung […] wird in der später beigefügten Vorrede des Johannes Meyer in dem Sinn als ‚Andachtsbuch‘ bezeichnet, als dass es die Andacht stimulieren soll: das do ze andacht reislichen ist ze hoeren.“ Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) 249 Das Schreiben dient dem religiösen Identitätsentwurf Elsbeths: Sowohl die Kompilation der spekulativen Begriffe, als auch die Niederschrift der unterschiedlichen Viten. Nimmt man die Bienen-Metapher ernst, geht sie über eine rein technische Beschreibung möglicher Schreibpraktiken hinaus und zielt auf die Gleichzeitigkeit von Aneignung und Verarbeitung ab. Im geistlichen Kontext wird die Bienenmetapher häufig zur „Verbildlichung des Schreibprozesses“ eingesetzt. Sie „verweist [...] auf die Sammeltätigkeit des Autors, aber zugleich auf den Prozess der kauenden Verarbeitung (ruminatio).“ 46 Elsbeth schöpft aus vielen Quellen ihren Nektar, der dann, in der Neuzusammenstellung über das Schreiben zum s  ss hong wird. Sie verwandelt also die Blumen, denen sie den Nektar entnimmt, in etwas Neues, in Honig. Damit aber verwandelt sie das Alte, das Vorhandene in etwas Neues, was ihr nützlich ist, was sie zu vollkommenem Leben führen soll. So ist ihrer Schreibtätigkeit nicht nur ein technisches Moment eingeschrieben, sondern auch ein Moment der Aneignung. Indem sie schreibt, eignet sie sich die Quellen an. Die Schreibpraxis ist Teil der Vervollkommnung, Teil ihres Strebens nach einem seligen volkomen lebene. Elsbeth, die als unermüdliche Schreiberin erscheint, entwirft im Schreiben einen Zugang zu Gott, nämlich im süßen Honig, der ihr den Weg in die Einheit weisen soll. Sie führt im 33. Kapitel vor, welche Möglichkeiten dem Schreiben innewohnen als Mitvollzug dessen, was man schreibt. Gleichzeitig kann anhand ihres ungeordneten Vorgehens, mit dem sie aufschreibt, was ihr lustliches ist, gezeigt werden, welche Gefahren im Schreiben liegen können. Wie im ersten Teil geht die Vita auch hier sorgfältig vor, grenzt die angemessene von der zu hohen Lehre ab. Die Schreibpraxis ist die grundlegende Form, mit der Elsbeth ausgestattet wird, um schreibend an den Erfahrungen des Dieners teilhaben zu können. In ihrem Schreiben und im Rezipieren der Briefe wiederholt sie in der Verschriftung und Lektüre die Erfahrungen des Dieners. 47 Wie diese Wiederholung gestaltet werden soll, beschreibt die Vita detailliert, indem sie die Rezeptionssituation der schriftlichen Unterweisung selbst ausstellt und auch hierbei wieder die Risiken einer fehlgeleiteten Aneignung beobachtbar macht. 46 Vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen , S. 237: „Die Bienenmetapher, die im Mittelalter häufig zur Verbildlichung des Schreibprozesses eingesetzt wird, verweist stärker auf die Sammeltätigkeit des Autors, aber zugleich auf den Prozeß der kauenden Verarbeitung (ruminatio) des Werkstoffes für den Neuaufbau von Honigzellen oder -waben, dem verbreiteten Bild für Bücher und Bibliotheken. Wenn Bernhard von Clairvaux als doctor mellifluus bezeichnet wird, als honigfließender Lehrer, so verweist diese Metapher auf die Honigbiene, die den sorgfältig gesammelten Blütenstaub zu Honig verwandelt und als Nahrung für die heranwachsende Brut verwendet.“ 47 Ich verwende den Begriff ‚Verschriftung‘, wobei ich mich an die Argumentation von Wulf Oesterreicher, Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit, in: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. von Ursula Schaefer, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267-292, orientiere. Die Vita ist zwar keine Verschriftung des Diener-Lebens, aber die Rolle Elsbeths als Schreiberin inszeniert eine Verschriftungssituation, in der sie protokolliert, was er erzählt. Figur und Textaneignung 250 4.2.3 Wiederholung in der Differenz: Die Lehre vom eigenen Kreuz Die Lehre, die die Tochter vom Diener erbeten hat, wird im 35. Kapitel zum Experimentierfeld. Der Umgang mit der Körperaskese, der in den Askesekapiteln 14 bis 18 unkommentiert gezeigt wurde, wird bei Elsbeth zur Lehre weiterentwickelt. Das 35. Kapitel öffnet mit einer Aneinanderreihung von drei unverbundenen Erzähleinheiten, die Elsbeths Unterweisung dienen, wie die Überschrift schon deutlich macht: Von den ersten bilden und lere eins anvahenden menschen (103,2). Es werden drei Praktiken ausgeführt, die der Diener als anfangender Mensch eingesetzt hat. Hier erhält Elsbeth nun, worum sie gebeten hat: geischlichú spise als Lehre, die aus dem Leben des Dieners gezogen ist. Während die iterative Reihung kurzer, unverbundener Erzählungen im ersten Teil die Habitualisierung des Dieners performativ vorführte, sind die Reihungen hier kurze Anleitungen, die Elsbeth in bestimmte Verhaltensformen instruieren. Als erstes erhält die Tochter ein inneres Bild, das der Selbstkontrolle vor schädlichen, äußeren Einflüssen dienen soll. Es ist das Bild der drei Kreise, in die der Diener seine Umgebung einteilt und die zur Außenwelt hin immer gefährlicher werden. Während er sich in seiner Zelle, der Kapelle und dem Chor aufhält, befindet er sich in g  ter sicherheit (103,8). Der zweite Kreis umfasst das Kloster ohne die Pforte und alles, was außerhalb der Pforte im dritten Kreis liegt, erscheint ihm wie einem wilden Tier die Umgebung seines Baues erscheint, wenn sich Jagdhunde dort befinden. So wie das Tier benötigt der Diener g  ter listen mit sin selbes h  te (103,13). Die Metapher der drei Kreise leitet dazu an, stets in introspektiver Haltung das Innere zu beobachten, um es mit g  ter listen vor dem weltlichen Einfluss zu schützen. Die zweite kurze Erzählung führt eine Form der äußeren Bildpraxis vor. So wird erzählt, der Diener habe sich in seiner Jugend ein Bild auf Pergament malen lassen, das die ewige wisheit, dú himel und erd in ir gewalt hat (103,17), zeige. Es ist das Bild, das dem Text des Exemplars vorangestellt ist und dessen Entstehung im dritten Kapitel narrativ entfaltet wird. 48 Während im ersten Teil geschildert wurde, wie der Diener das Bild der ewigen Weisheit im Inneren über Lektürepraktiken entfaltet, wird im zweiten Teil ausgeführt, wie das Bild von ihm rezipiert wurde, er betrachtet es nämlich lieplich mit herzklicher begirde (103,22). Die kurze Erzählung des 35. Kapitels zeigt die Rezeptionssituation des Dieners, die wiederum von den Rezipientinnen selbst wiederholt werden kann, indem sie das erste Bild mit ebenso herzklicher begirde betrachten. Auf diese beiden einleitenden Bildpraktiken folgt die bekannte Sammlung von Sprüchen, die auf die Verba seniorum zurückgehen, die wiederum einen Teil der Vitaspatrum ausmachen. 49 Sie können, so führt ein kurzer Vorspann 48 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 8 (folio 1 v ). 49 Die Vitaspatrum setzen sich aus unterschiedlichen Gattungen zusammen, wobei die Zusammensetzung stark variiert. Die wichtigsten Gattungen sind Einzelviten, Schilderungen eremitischen Lebens und die Verba seniorum, die Spruchsammlungen. Vgl. Ulla Williams und Werner J. Hofmann, ‚Vitaspatrum‘, in: VL, Bd. 10, Sp. 449-466. Vgl. auch Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) 251 aus, ebenfalls auf eine materielle Grundlage zurückgeführt werden. 50 Denn es handelt sich um diejenigen Sprüche und Bilder der Altväter, die der Diener im 20. Kapitel in seiner Kapelle anbringen lässt: do frumt er von einem maler, daz er im entwarf die heiligen alten veter und ire sprúch und etlich ander andehtig materien, die einen lidenden menschen reizent zu gedultekeit in widerwertikeit. (60,12ff.) Die Altväter werden im 35. Kapitel nun als Vorbilder genannt, die ihm dienten und andren anvahenden menschen (103,26) ebenfalls von Nutzen sein können. Die Sprüche umfassen unterschiedliche Aspekte asketischer Übungen und reichen von Schweigetechniken, Warnungen vor der Welt und Rat zum Rückzug in die Zelle bis hin zu Übungen, die auf harte körperliche Disziplinierung hinweisen. Diese Übungen tauchen allerdings nur vereinzelt auf. Ausdrücklich wird lediglich Antonius und Macharius ein entsprechender Hinweis in den Mund gelegt. So sagt Antonius: Liplichú kestung und herzenandaht und von den lúten fliehen gebirt kúnschkeit. (105,1f.) Und Macharius teilt mit: Ich t  n minem libe vil hertekeit an, wan ich von ime vil anvehtung han. (106,1f.) Das geringe Auftreten von Hinweisen auf körperliche Disziplinierung zeigt, dass die Vitaspatrum keineswegs zu einer radikalen körperlichen Abtötung anleiten. Die Sammlung im 35. Kapitel endet mit einem spekulativen Spruch des Cassian: Ellú vollkommenheit endet da, wenn dú sele mit allen iren kreften ist ingenomen in daz einig ein, daz got ist. (106,34f.) Darauf setzt der Rezeptionsrahmen ein. Der Diener schickt Elsbeth [d]isú bild und lere der alten veter (107,1), woraufhin die einzige Stelle in der Vita beschrieben wird, an der Elsbeth wirklich als Rezipientin auftaucht, als Figur, die die Sprüche der Vitaspatrum liest und anwendet. Dabei wird im Text sofort Zweifel an der Richtigkeit ihrer Lektüre gesät. Denn Elsbeth unterstellt dem Diener, daz er meinde da mite, daz si nah der alten veter strenger wise iren lip oh mit grosser kestgung s  lti  ben (107,3f.). Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass sie selbst seine Intention nur interpretiert, er ihr aber keine genauen Anleitungen gab. Die Abtötungspraktiken leitet Elsbeth aus dem ab, was sie vom Diener Ulla Williams, Die ‚Alemannischen Vitaspatrum‘. Untersuchungen und Edition, Tübingen 1996 (Texte und Textgeschichte 45). Williams ediert die alemannische Prosaübersetzung der Vitaspatrum, über deren Verbreitung sie schreibt: „Daß es zu den beiden Übersetzungen gerade in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts im alemannischen Raum kam, überrascht insofern nicht, als die hier besonders florierende Begeisterung für mystische Spiritualität zu einer Wiederentdeckung der ‚Vitaspatrum‘ geführt hatte. [...] In Seuses vor 1362 abgeschlossenen ‚Vita‘ etwa geht der Diener von einer allgemeinen Kenntnis der ‚Vitaspatrum‘ bei den Schwestern von Töss aus, was als Hinweis dienen könnte, daß ihnen das Werk schon in einer volkssprachlichen Fassung zugänglich war“, S. 16*. 50 Zum Verhältnis der Vitaspatrum zur Vita Seuses vgl. grundlegend Werner Williams- Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses. Zur Spruchsammlung vgl. Ulla Williams, Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba und Dicta im Schrifttum der deutschen Mystik, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.-4. Oktober 1994, hg. von Rüdiger Blumrich und Philipp Kaiser, Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), S. 173-188. Figur und Textaneignung 252 selbst erfahren hat. Damit vermischt sie die Vitaspatrum mit der Anwendung des Dieners. Beschrieben wird die Wiederholung der körperlichen Disziplinierung des Dieners, wie er sie in den Kapiteln 14 bis 18 vorgeführt hat. Sie peinigt sich, so heißt es, mit herinen hemdern und mit seiln und grúlichen banden, mit scharpfen isninen nageln (107,5f.), also mit genau den gleichen Marterinstrumenten wie der Diener. Diese Fehlanwendung, die im ersten Teil zum Abbruch durch göttliches Eingreifen führte, wird nun in eine Lehre der richtigen Anwendung überführt. Denn der Diener, dem ihre körperasketischen Übungen bekannt werden, verbietet Elsbeth dieselben, da sie nicht der Lehre entsprechen, um die Elsbeth im 33. Kapitel gebeten hat: wilt du din geischliches leben nah miner lere rihten, als du es an mich hast gevordret, so lasse s  lich úbrig strenkheit. (107,8f.) Anders als im ersten Teil, in dem das Leiden anhand der Übungen des Dieners gezeigt wurde, macht nun die Fehllektüre der Tochter sichtbar, was der Grund für die Defizienz der Körperübungen ist. Der zentrale Satz des Kapitels ist gleichzeitig das erste Argument, das der Diener gegen die mimetische Nachfolge in körperlicher Disziplinierung anführt: Der lieb Cristus sprach nút: ‚nement min krúz uf úch‘, er sprach: ‚ieder mensch neme sin krúz uf sich! ‘ (107,11f.) Die Wiederholung in der Nachfolge muss stets eine Wiederholung in der Differenz sein, weshalb sie weder der alten veter strenkheit noh die herten  bunge (107,13f.) des Dieners nachahmen, sondern ihren eigenen Kampf suchen soll, ihre eigene vaht. Das Gebot des Dieners, statt harter Askese nur die Untugend abzutöten, trifft auf den Widerstand Elsbeths. Sie möchte wissen, warum er so strenge Übungen vollzog, ihr und allen anderen Menschen aber davon abrate. Durch die Figurenkonstellation hat die Vita die Möglichkeit, Fragen zu stellen und auf der Figurenebene aushandeln zu lassen, wie körperasketische Texte auszulegen sind. Was im ersten Teil ganz auf der Objektebene des Erzählens bleibt - die Mortifikationstechniken und ihr Abbruch - wird nun durch den Diener auf einer Metaebene kommentiert. Wo die Grenzen der Körperaskese liegen wird somit zweimal beobachtbar gemacht: im ersten Teil am Körper der Figur, im zweiten Teil als Lehre. Der Diener führt die Tochter in einem langen Lehrmonolog weg von der Angleichung in der Nachahmung des strengen Lebens und hin zu einem Leiden, das ihr und ihresgleichen angemessen sei. Nachdem Christus selbst als oberste Referenz für das richtige Leiden angeführt wurde, verweist der Diener die Tochter auf die heiligen scrift, mit der hier die Lehre der Vitaspatrum gemeint ist. 51 Er betont, dass in den Vitaspatrum durchaus unterschiedliche Formen beschrieben werden, wie man zum Ziel eines vollkommenen Lebens gelangen kann: Es stat och an der altvater b  ch gescriben, daz ire etlich in selber s  lich strenkheit nit an taten, die doch baide uf ainem zil enden wolten. (107,28f.) Wie aber kann man erkennen, ob man ein strenges Leben voll harter Übungen zu führen hat oder nicht? Die Erkenntnis liege in einer ständigen 51 Do wiste er si uf die heiligen scrift und sprach also: ‚man vindet gescriben, daz hie vor under den alten vetern ire etlich ein [...] strenges leben f  rten‘ (107,20f.). Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) 253 Introspektion, einem unablässigen Beobachten des Selbst, um den Willen Gottes zu erkennen: l  ge allein ieder mensch z  im selb und merk, waz got von im well, und sie dem gn  g und lasse ellú endrú ding beliben. (108,9ff.) Und in dieser Selbstbeobachtung soll man lieber etwas bescheidener bei den Übungen sein, als sie zu übertreiben, denn zu sehr disziplinierte Körper verlangten später ihren Tribut. Der Diener greift direkt auf die Sprüche zurück, welche Antonius zugeschrieben sind: Die gr  st tugent ist: mass kunnen haben in allen dingen. (106,28f.) Statt auf körperliche Strenge zielen die Vitaspatrum also vor allem auf die Beschränkung des Selbst ab. Schweigen, Rückzug aus der Welt und Maßhalten sind die dominierenden Themen. Die körperliche Strenge, die in den Vitaspatrum durchaus auch beschrieben wird, gilt nur für diejenigen Menschen, die sich selber ze zart habent und ire widerspenstigen natur uf ire ewigen schaden zu m  twilleklich bruchent (108,19f.). Elsbeth wird davon abgegrenzt: daz h  ret aber dir und dinen glichen nit z  . (108,21) Stattdessen wird erneut auf die Unterschiedlichkeit der Leiden hingewiesen, die Gott für seine Freunde bereithalte, die mengerley crúzze. Dieses crúz solle auch Elsbeth geduldig empfangen, wenn es über sie komme. Damit bricht der Lehrmonolog ab, der sich unmittelbar darauf erfüllt. Denn kaum hat der Diener Elsbeth aufgefordert, ihr Kreuz geduldig zu leiden, kommt es schon: got [greif] die geischlich tohter an mit langwirigem siechtagen, daz sie wart an dem libe ein sieche dúrftig unz an ir tod. (109,1f.) Die Krankheit als zufallendes Leiden ersetzt, was dem Diener im ersten Teil die Außenwelt war. Gleichzeitig erfüllen sich die Vitaspatrum in Elsbeths Leben. Denn ein besonders langer Spruch, der zudem fast am Ende steht, also an einer prominenten Randposition, wird Sancta Syncletices zugeordnet, der einzigen Frau, die im 35. Kapitel unter den vielen Sprüchen der männlichen Wüstenväter zu finden ist. Die Vita der heiligen Synkletike ist aus dem vierten Jahrhundert überliefert, die frühe Überlieferung wurde Athanasius zugeschrieben. 52 Synkletike wurde in der Westkirche vor allem in den Verba seniorum überliefert. Ihr werden bis zu 18 Sprüche zugeschrieben, die Synkletike als Sprecherin inszenieren, als Lehrerin, die zu ihren Schülerinnen und Schülern spricht. 53 In den Verba seniorum wird Synkletike besonders stark mit einer asketischen Mäßigung in Verbindung gebracht: „Synkletike fügt das Maßhalten in der asketischen Praxis hinzu; übertriebene Askese lehnt sie ab: Sie kommt vom Teufel, und Maßlosigkeit ist immer von Übel. Zur maßvollen Askese gehört das Ertragen der Widrigkeiten des Alltags, wobei sie besonders körperliche Leiden benennt: ‚In Krankheiten tapfer aushalten und Dankhymnen zu Gott empor senden.‘“ 54 Genau dieser letzte Verweis auf die Krankheiten aber ist im Zusammenhang mit der Vita Seuses nun von Interesse. Denn in den Sprüchen, die der Diener an Elsbeth schickt, verkündigt Synkletike folgenden Lehrspruch: Wirst 52 Zur Überlieferung vgl. Karl Suso Frank, ‚Die selige Synkletike wurde gefragt.‘ Vita der Amma Synkletike, Beuron 2008, S. 10f. Frank hat die Vita der Synkletike ins Deutsche übersetzt und mit einem Vorwort und Anmerkungen versehen. 53 Ebd., S. 86. 54 Ebd., S. 93. Figur und Textaneignung 254 du siech, fr  w dich, wan got hat an dich gedaht; wirst du krank, daz gib nút dinem vastene, wan die nút vastend, die werdent och siech; wirst du ge  bet mit dez libes anvehtunge, fr  w dich, daz ein andre Paulus mag uss dir werden. (106,21ff.) 55 In diesem Spruch wird Krankheit explizit abgekoppelt von körperlichen Askeseübungen, damit aber auch von jedem Verdacht der Selbstbezogenheit freigesprochen. Anders als in Askeseübungen, die dem Diener im ersten Teil ja untersagt wurden, weil das Selbst immer im Zentrum steht, wird die Krankheit in einen Gnadenerweis von Gott umgewandelt. Das Leiden an körperlichen Gebrechen ist aber nicht nur abgekoppelt von der Askese, es ist darüber hinaus ein Zeichen Gottes, das die vollkommene Transformation der religiösen Identität verheißt. Auch bei Seuse, nämlich im BdW, wird Paulus als Zeuge für diese Transformation angeführt, als Zeuge für das gelassene Selbst. Dort heißt es im fünften Kapitel: Und dis gelazen Sich wirt ein kristf  rmig Ich, von dem dú schrift seit von Paulo, der da sprichet: »Ich leb, nit me ich, Christus lebt in mir«. 56 Elsbeth wendet sich also keineswegs ab von den Vitaspatrum, im Gegenteil, die Vitaspatrum vollenden sich in ihr. Das Leiden wird deutlich nach Geschlecht differenziert und zwar nicht allein durch die Auslegung des Dieners, sondern auch, indem den Sprüchen der Wüstenväter ein einziger Spruch beigegeben ist, der einer Frau zugeschrieben wird. Die Krankheit als weibliches Phänomen göttlicher Gnadenerweise erhält so eine Deutungsfolie, die auf autoritativer Tradierung aufruht. Krankheit wird mithilfe des hier angebotenen Traditionskontextes zu einem Zeichen der Erwählung, das viel weiter geht, als die anderen Sprüche, nämlich bis zur Transformation paulinischer Herkunft. Doch das Textwissen allein, das über Elsbeth umgesetzt wird, reicht noch nicht aus, um die Krankheit als Gnadenerweis, als Elsbeths crúz kenntlich zu machen. Im letzten Abschnitt schreibt der Diener an Elsbeth, nachdem er von ihrer Krankheit erfahren hat, wie er mit Gott aufgrund ihrer Krankheit hadert. Denn durch ihre Erkrankung fehlt ihm ihre Unterstützung bei der Fertigung seiner b  chlú. Also betet er zu Gott für ihre Gesundheit, wird aber, zu seinem Unmut, nicht erhört. In einer Vision sieht er eine Schar Engel, die ihn nach dem Grund seiner Traurigkeit fragen, woraufhin er ihnen vom unerhörten Gebet um die Gesundheit Elsbeths erzählt. Die Engel verkünden ihm daraufhin, 55 Der Spruch Seuses geht wahrscheinlich auf das 99. Kapitel der Vita der Synkletike, zurück, das in den Verba seniorum als achter Spruch der Synkletike übernommen wurde. In der Übersetzung von Frank lautet er vollständig: „Wir wollen nicht traurig sein, wenn wir wegen der Schwäche und Krankheit des Leibes beim Beten nicht stehen oder die Psalmen nicht singen können. All das hilft uns zur Reinigung von den Begierden. Denn das Fasten und das Schlafen auf dem Boden sind uns wegen der schändlichen Lüste vorgeschrieben. Wenn nun Krankheit sie abgestumpft hat, dann ist die Anstrengung überflüssig. Warum sage ich überflüssig? Weil selbst tödliche Gefahr durch die Krankheit überwunden werden kann wie durch die bessere und stärkere Arznei. Das ist die große Askese: In Krankheiten stark bleiben und Danksagungen und Hymnen zum Allmächtigen emporsenden. [...] Beherrscht die Krankheit den ganzen Körper? Gut, aber die Gesundheit des ‚inneren Menschen‘ (vgl. Röm 7,22) wird erstarken.“ Ebd., S. 68f. 56 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Das b  chli der warheit, S. 22,91ff. Die Lehre - Vermittlung und Aneignung (Kap. 33-36) 255 was es mit der Krankheit auf sich hat und der Diener übermittelt diese Botschaft an Elsbeth: Do meinden sú, er s  lte ab lassen und s  lti nit also t  n, wan got heti den siechtagen úber dich verhenget dur daz aller beste, und daz s  lte din krúz sin in diser zit, da mit du s  ltist erwerben gross gnad hie und manigvaltigen lon in dem himelrich. Dar umbe bis gedultig, tohter minú, und nim es uf allein als ein frúntlich gabe von dem minneklichen gote. (109,21ff.) Der Diener bestätigt, was in Synkletikes Spruch bereits geschrieben steht. Er aktualisiert in seiner Vision die Tradition, die für Elsbeth zur Deutungsfolie ihrer Krankheit wird. Im komplexen Zusammenspiel aus Lektüre, Anwendung, Lehre und Bestätigung vollzieht sich so Elsbeth Leiden, das ganz anders als das crúz des Dieners beschrieben wird. Die Sprüche der Altväter werden in der Vita Seuses in einem narrativen Rahmen präsentiert, der Risiken und Möglichkeiten dieses grundlegenden Textes dominikanischer Unterweisungsliteratur darstellt. Die Risiken der Fehllektüre werden von den Möglichkeiten, die sich in der richtigen Anwendung und Lektüre bieten, überboten. Letztlich gelingt es Elsbeth mithilfe göttlicher Gnade, die Tradition, die ihr Synkletike in ihrem Spruch vermittelt, im eigenen Leben umzusetzen. Ihre Figur wird geöffnet auf die Heilsgeschichte, indem sie gleichzeitig durch die Vision des Dieners Bestätigung findet. War es in den ersten Kapiteln die ausufernde Schreibpraxis, mit der Elsbeth teilhaben wollte am vollkommenen Leben, so ist es hier die Lektürepraxis und die daraus gefolgerte Lehre zur richtigen Umsetzung. Außerdem ist die Figur der Tochter nun in eine angemessene Rezeptionshaltung unterwiesen. Sie hat den Kernsatz richtiger Lektüre erhalten, ieder mensch neme sin krúz uf sich! , der sich in ihrem Leben bereits erfüllt. In den folgenden Kapiteln der Vita wird darum auch gar nicht mehr erwähnt, wie die Tochter die Briefe oder mündlichen Belehrungen rezipiert und aufnimmt. Nachdem sie am Anfang also sehr präsent war, verschwindet ihre Figur nun mehr und mehr hinter den Exempelerzählungen und Unterweisungen - ein Umstand, der vor allem für die Kapitel 41 bis 44 genauer zu betrachten sein wird. Mit dem 36. Kapitel schließt derjenige Teil, dessen Kapitel in der Überschrift den anvahenden menschen tragen. In der Rahmenhandlung ist das Kapitel eng auf das 35. Kapitel bezogen, in dem Elsbeth die Sprüche der Altväter erhält und durch die Krankheit das crúz an ihr vollzogen wird. Zu Beginn des 36. Kapitel bittet die Tochter, der Diener möge ihr in ihrer Krankheit, etwas mitteilen von g  tlichen dingen, dú nit grossen ernst in tr  gin und doch einem g  tlichen gem  t lustlich werin ze h  ren (110,1f.). In ihrem geschwächten Zustand möchte die siechú geischlichú tohter Trost statt ernster Belehrung. Der Diener erzählt ihr daraufhin von sinem kintlichem andaht (110,3) und gibt ihr eine ganze Reihe an kurzen Erzählungen, wie er mit religiösen Praktiken sein Leben ganz auf Gott und dessen Vemittlerfiguren, vor allem Maria, ausrichtet. Damit greift das 36. Kapitel auf den ersten Teil zurück, wo in den Kapiteln sieben bis zwölf Ähnliches, teils Gleiches erzählt wird. Was dort als Praktiken der individuellen Verinnerlichung erzählt wurde, sind nun Exempla, die die Figur und Textaneignung 256 Tochter in ihrer Krankheit trösten sollen. Während diese Übungen im ersten Teil zur systematischen Figurenentwicklung im Strukturmodell des Dreistufenmodells gehörten, sollen sie nun die Figur der Tochter zu eigenen religiösen Erfahrungen anleiten. Der Textstatus der Übungen hat sich grundlegend gewandelt. Statt auf der Objektebene zu erzählen, sind die Erzählungen der Andachtsübungen nun auf einer Metaebene angesiedelt, auf der über sie gesprochen wird in der Vermittlung vom Diener zur Tochter. Und ähnlich verfährt der Text auch in den folgenden Kapiteln, mit dem Unterschied, dass die geschilderten Erfahrungen sich nicht mehr nur auf die Figur des Dieners konzentrieren. 4.3 Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) Während die Kapitel 33 bis 36 die Lehre für den anfangenden Menschen reflektieren und aufbereiten, wechselt mit dem 37. Kapitel die Perspektive. Ähnlich wie im 13. Kapitel, als die Trostzeit des Dieners für beendet erklärt wurde, schließt nun auch für die Tochter eine Zeit des Leidens an. Allerdings eine Zeit des erzählten Leidens, denn von ihrem Leiden ist nicht die Rede. Die Kapitel 37 bis 45 nehmen auf, was als das langsame Sterben des Dieners bezeichnet wurde und in Kapitel 23 bis 30 zur narrativen Entfaltung kam. Auch hier wird von den unterschiedlichsten Formen des Leidens erzählt, wobei die Leiden nicht mehr nur auf die Figur des Dieners beschränkt bleiben. Stattdessen multipliziert sich das Leiden, indem von ganz unterschiedlichen Figuren erzählt wird, mit deren Leiden der Diener als Seelsorger konfrontiert war. Der Leitsatz des 35. Kapitels - ieder mensch neme sin krúz uf sich! - wird erzählerisch in der Vervielfältigung des Leidens umgesetzt. Dabei gibt der Text Elsbeth unterschiedliche Perspektiven auf das Leiden, die von Exempelerzählungen über Belehrungen bis zu systematisch angelegten Bildern reichen. Die Kapitel 37 bis 40 sind durch eine übergreifende Rezeptionssituation gerahmt. So erbittet Elsbeth im 37. Kapitel in einem Brief etwas, da von ir lidendes herz erlupfet wurdi (114,11f.). Was das sein könnte, führt sie selbst aus: ein armer mensch nimet im selb ein tr  stli dar ab, so er etlichú noh ermrú menschen vor im siht, denn er sie, und ein lidender mensch gewinnet ein g  t m  tli, so er h  ret, daz ander sin nahgebur in noh gr  sren n  ten sind gewesen und in got dar us hat geholfen. (114,12ff.) Die Tochter bittet um Erzählungen vom Leiden anderer Menschen und zwar ausdrücklich von vielen. Der Diener antwortet ihr mit einem Brief, in dem Erzählungen aneinander gereiht sind, in denen der Diener als Seelsorger auftaucht und, wie die Überschrift sagt, lidendú menschen troste (14,7f.). Diese kurzen Erzählungen des 37. Kapitels werden im 38. Kapitel fortgeführt, die Kapitel sind eng miteinander verknüpft. So fasst das 38. Kapitel im ersten Satz das vorher Geschilderte zusammen und setzt folgendermaßen ein: In s  licher wise kom er mengem lidendem menschen ze hilfe. Aber daz tugentlich g  t werk m  ste er vil sur erarnen mit marterlichem Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) 257 lidene (117,24ff.) Im 38. Kapitel wird vom marterlichen liden des Dieners selbst erzählt, das, ähnlich wie im ersten Teil, zur Willensaufgabe führt. 57 Im 39. Kapitel ist der Brief abgeschlossen. Dieses Kapitel setzt ein mit der Reaktion der Tochter auf die Lektüre der vorhergehenden Kapitel: Under dannen, do dú geischlich tohter daz vorder kleglich liden las und sich von erbermde wol erweinete. (130,27f.) Die Lektüre der zuvor geschilderten Leiden und die Reaktion des Weinens zeigt, dass der Text hier der Grundform einer affektiven compassio zugeordnet werden kann, wie sie Katharina Mertens Fleury beschreibt: „Affektive compassio vollzieht sich im Inneren, ist eine erinnernde Betrachtung und Versenkung in Christi Leiden und findet ihren äußeren Ausdruck in Klagen und Tränen. Grundlage für diese Form der Leidenspartizipation und Leidensangleichung ist die Erfahrung eigenen Leidens, das zur Erkenntnis des Leidens anderer, des Nächsten und Christi, erst fähig macht. [...] So bedeutet in gewisser Weise sogar das menschliche Erlernen von Mitleid mit dem Nächsten noch eine imitatio Christi und einen Zugang zu Gott.“ 58 Anstatt Elsbeths eigenes Leiden vorzuführen, zeigt der Text ihr Mitleiden, ihre compassio mit dem Leiden der Anderen und damit ein Lektüremodell, in dem sie die Leiden partizipativ in der Lektüre des Textes mitvollzieht. Da sie durch ihre Krankheit die Grunderfahrung schweren Leidens vollzogen hat, muss sie die Leiden nicht mehr selbst erleben, sondern gleicht sich in der nachvollziehenden Lektüre an. Abgeschlossen wird die Leidenspartizipation im Erzählen im 39. Kapitel. Dort entfaltet der Diener Elsbeth das innere Leiden und nimmt so das 21. Kapitel auf. Die Kapitel 37 bis 39 zeigen, wie die Tochter durch die Lektüre die richtige Haltung im Leiden einübt, die als compassio ganz anders ausgestaltet wird als im ersten Teil. Was fehlt ist die Frage nach dem Nutzen des Leidens, wie es im ersten Teil im 31. Kapitel sorgfältig entwickelt wurde. 4.3.1 Vom nützlichen Leiden - Leidenstypologie und Begründungsgeschichte Im 40. Kapitel taucht die Frage nach dem Nutzen des Leidens auf. Nachdem Elsbeth gelernt hat, richtig am Leiden zu partizipieren, auch am gelesenen oder gehörten Leiden, erhält sie eine Ausführung, die die verschiedenen Leiden in ein Raster einteilt. Nach gelungener Praxis kommt die Theorie. Erneut stellt der Text aus, dass Umsetzung und Verstehen in einem komplexen Verhältnis stehen. Im 40. Kapitel erscheint Elsbeth vorläufig zum letzten Mal und stellt die Frage: ich wústi gern, welú liden under allen liden dem menschen dú aller 57 Für eine ausführlichere Analyse des 38. Kapitels vgl. Susanne Bernhardt, Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses, S. 120-132. 58 Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200, S. 46. Sie spricht dort von zwei Grundformen der compassio, der verschiedene Konzepte zugeordnet werden können, „einer praktisch-ethischen und einer sich ab dem 12. Jahrhundert breiter entfaltenden affektiven Form“, S. 46. Figur und Textaneignung 258 núzest und gote aller loblichest sein? (132,20ff.) In einem Dialog legt der Diener daraufhin einen 8-Punkte-Katalog vor, der mengerley liden (132,23) beinhaltet, die zur Seligkeit führen können. Die Leidenstypologie umfasst das unverschuldete Leiden, wie man es im Alten Testament findet, das Gott als Prüfung schickt - natürlich auch eine Anspielung auf das dominante Hiob- Narrativ im ersten Teil. Es folgt das verschuldete Leiden, das direkt bestraft wird oder das verschuldete Leiden, das nicht mit der Leidensursache korreliert. Daneben kann Leiden als vorgezogenes Fegefeuer geschickt werden, mit dem das eigentliche Fegefeuer schon in der Welt abgegolten wird, als Märtyrerminne, aber auch als trostloses Leiden der Weltminner, die in der Hölle bezahlen müssen. Um Menschen zur kêr zu bewegen, schickt Gott ebenfalls Unglück. Außerdem gibt es Leiden, das eigentlich gar keines ist, wie Seuse mit dem Exempel der Frau, die über den Verlust einer Nadel laut klagt, ausführt. Den Höhepunkt der Typologie bildet natürlich dasjenige Leiden, das dem Leiden Christi nachgebildet ist: Aber daz edelst und daz best liden, daz ist ein cristf  rmig liden, ich mein daz liden, daz der himelsch vater sinem einbornen sun und noh sinen fründen git. (134,5ff.) Und wieder greift der zweite Teil der Vita auf, was im ersten Teil bereits erzählt wurde. Im 29. Kapitel hadert der Diener mit Gott, er hat eine kintlichú rehnung (85,24f.) mit ihm und beklagt sich über die Wut seiner Mitmenschen, die sich ungerechtfertigt gegen ihn richte. In einer Einleuchtung - und luht im von got also (85,24) - wird ihm mitgeteilt, dass es Teil der imitatio Christi sei, die Wut geduldig zu ertragen und darüber hinaus auch noch die Wut der anderen zu besänftigen. Als Lehre wird ihm der Weg Christi an die Hand gegeben: Sih, dis ist der alte volkomen weg, den der liebe Cristus lert sin junger, do er sprach: l  gent, ich send ú als dú scheflú under die wolfe. (86,1ff.) Dieses Zitat aus Lk 10,3, das auf eine Lehre zurückgreift, die Christus selbst an seine Jünger weitergab, wird nun auch im 40. Kapitel aufgegriffen. Das geduldige Empfangen des Leidens, das einem unschuldig von den Mitmenschen zufällt, wird zum zentralen Punkt des christförmigen Leidens: Mer als Cristus sich gedulteklich erzogte und sich hielt in sinem lidene als ein senftes lembli under den wolfen, also git er etlichen sinen liepsten frúnden och underwilent gross liden, dar umbe daz wir unlidigú menschen bi den seligen menschen lernen gedultig sin. (134,9ff.) Was dem Diener im 29. Kapitel als Offenbarung mitgeteilt wurde, kann er im 40. Kapitel als Lehre an Elsbeth weitergeben. Die Figurenerfahrung des ersten Teils wird umgewandelt in Lehre. Anders als im ersten Teil, in dem der Diener im 20. Kapitel ein Raster erhält, mit dem er seine eigenen Leidenserfahrungen deuten kann, werden im zweiten Teil der Vita nicht die Erfahrungen Elsbeths erzählt, sondern diejenigen der Menschen, die der Diener als Seelsorger betreute. Die Leidenstypologie, die Elsbeth erhält, wird nicht in Form ihrer eigenen Erfahrung, sondern im Erzählen von ganz unterschiedlichen Leidensformen übermittelt. Die Kapitel 41 bis 44 entfalten narrativ, was in der Typologie im 40. Kapitel als Aufzählung systematisch vorgelegt wurde. Sie entwerfen einen Bilderbogen des Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) 259 Leidens, der das Konzentrat des 40. Kapitels wieder aufsprengt. In vielen kleinen Exempeln werden die unterschiedlichen Leiden ausgeführt, denen der Diener als Seelsorger begegnete. So wird eine Klosterschwester, die nicht von der Weltminne lassen möchte, mit einem Buckel bestraft, nach dem Leidenskatalog ein verschuldetes Leiden. Im 42. Kapitel wird von etlichen lidenden menschen erzählt, die mit unschuldigem Leiden geprüft und mit ewiger Seligkeit belohnt werden. In diesem Kapitel taucht auch die Mutter des Dieners auf, die als Vorbild des Leidens mit Christus lebt und stirbt. Das entscheidende Kapitel aber ist das 43. Kapitel, das das christförmige Leiden als Lehre begründet und in faszinierende Doppelungseffekte überführt. Es führt vor, wie der Diener die Lehre empfängt, wie sie in mehreren Schritten erst begründet, dann ausgeführt und den Rezipientinnen zugänglich gemacht wird. Die Lehre vom christförmigen Leiden, das der Tochter als Lehre vom edelsten Leiden im 40. Kapitel mitgeteilt wird, erhält seine volle Geltung erst in der Begründungserzählung des 43. Kapitels. Denn dort wird die Belehrungssituation genau gespiegelt. Nun fragt nicht mehr Elsbeth nach dem Wissen um das nützliche Leiden, sondern der Diener bittet Gott darum, daz er in lerti liden (144,25). Der Diener bittet hier nicht um Vermittlung einer Lehre, sondern um Erfahrung des Leidens selbst. Dieser Bitte wird stattgegeben in dem vielschichtigen glichnús des gekrúzgeten Cristus in eines Serafins bilde (144,26f.). Christus als gekreuzigter Seraph tauchte erstmals in der Franziskus-Legende auf und wurde zur prägenden Darstellungsform des Ordensgründers. 59 Das 43. Kapitel und vor allem das daran angeschlossene Bild „rekurrier[en] unverkennbar auf die Ikonographie der Stigmatisierung des Franz von Assisi auf dem Berg La Verna, auf das Bild eines Ereignisses also, das bereits durch die Zeitgenossen zum entscheidenden Wendepunkt, zu einem neuen Paradigma des Konzepts der Christusnachfolge und der Gottebenbildlichkeit des Menschen erklärt wurde“. 60 Dieser Wendepunkt beinhaltet eine Bewegung von Innen nach Außen, denn „die Diskussion über die Gottebenbildlichkeit des Menschen [verlagert sich] nun von der vorher bestimmenden inneren oder seelischen Qualität des Menschen auf seine äußere körperliche Gestalt“. 61 Welche Bedeutung dem gekreuzigten Seraph innerhalb der franziskanischen 59 Chiara Frugoni, Franz von Assisi. Die Lebensgeschichte eines Menschen, Zürich/ Düsseldorf 1997, arbeitet vor allem die bildliche Darstellung der Stigmatisation heraus, wie sie Franziskus nach der Legende von einem gekreuzigten Seraphen auf dem Monte Alverna erfuhr. Zur Überlieferung und institutionellen Einbindung der überlieferten Viten des Franziskus arbeitet aus institutionengeschichtlicher Perspektive grundlegend und aktuell Achim Wesjohann, Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutioneller Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und Augustiner-Eremiten, Berlin 2012 (Vita Regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter 49), zu Franziskus S. 39-310, zur Stigmatisierung im Speziellen S. 234ff. 60 Agnieszka Madej-Anderson, ‚Glicheit‘. Medien und Modelle der Ähnlichkeit, S. 103. Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliothequenumerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 136 (folio 65 v ). 61 Ebd., S. 104. Figur und Textaneignung 260 Literatur zukommt, arbeitet Susanne Köbele in ihrem Aufsatz zu Bonaventuras Itinerarium mentis heraus. Sie stellt die Frage, warum „der Seraph crucifixus und nicht der gekreuzigte Christus selbst“ erscheint. „Als Antwort drängt sich auf: Der Seraph kann den gekreuzigten Christus zugleich verhüllen und enthüllen, Christus in seiner Funktion als Mittler fällt hier zusammen mit dem Engel in seiner Funktion als Bote, und dieser Engel ist verblüffend sterblich, unerwartet verletzt. So wie der Engel als Geistwesen einen (verwundeten) Körper hat, trägt umgekehrt der Visionär als Zeichen seines geistigen, unkörperlichen Leidens Körperzeichen.“ 62 Der Seraph wird im Text detailliert beschrieben: Er hat sechs Flügel, von denen je zwei Kopf und Füße bedecken, während er mit zweien fliegt. Die sechs Flügel sind beschriftet, was der Text genau ausführt: An den zwein nidresten vetchen st  nd geschriben: enpfah liden willeklich; an den mitlesten st  nd also: trag liden gedulteklich; an den obresten st  nd: lern liden cristf  rmklich. (145,2ff.) Die Vision trägt ihre Anweisung als Schrift mit sich. Statt einer mündlichen Mitteilung erhält der Diener das schriftliche Zeugnis einer Lehre. Susanne Köbele vergleicht die Verwendung des geflügelten Seraphs bei Bonaventura mit dem bei Seuse. Sie weist dabei auf die narrative Einbettung der Seraphvision hin: „Denn der Diener teilt die Vision umgehend einer Freundin mit, die die Vision mit ihrer Auslegung biographisch konkretisiert: Dis minneklich gesiht seit er einem heiligen frúnde, der ein vil heiliger mensch waz. Do sprach sih in wider: ‚wússint fúr war, daz úch aber núwú liden sint berait von got, daz ir erliden m  ssent.‘ (145,5-7). Der Diener fügt sich drein [...] und die von der frommen Freundin angekündigten Leiden (Demütigungen durch Mitmenschen) treten prompt ein.“ 63 Es ist aber mehr als nur die Bestätigung der Vision. Es ist auch die Möglichkeit, dem Diener zu zeigen, wie er sein Leiden jetzt, mit dem Seraph als Leitbild, sinnstiftend deuten kann. Und es ist die Möglichkeit, sich in Geduld zu üben, wie es ihm seine Freundin rät: Dar umb sezzent úch uf gedultekeit, als úch in dem Serapfin gez  get ist. (145,10f.) Die Seraphvision wird nicht nur narrativ eingebettet, sondern narrativ entfaltet. Wo die Vision mit den kurzen Handlungsanleitungen, die auf die Flügel geschrieben sind, eine schematische Darstellung bieten, wie man richtig leiden soll, überführt das weitere Kapitel die schematische Darstellung in die erzählte Anwendung. Die Handlungsanweisung, das Leiden zu empfangen, geduldig zu ertragen und zu lernen, christförmig zu leiden, wird im Erzählen der Figurenerfahrungen plastisch und damit für die Rezipientinnen zugänglich. Doch das 43. Kapitel endet nicht mit der Aufzählung des Leidens. Das Kapitel schließt, wie es begann: mit einer Vision. Dem Diener erscheint ein Chorherr, dessen Erbe er verwaltete und unter den Gemeinden verteilte. Dafür erhielt er viel Anfeindung, viel biter liden (148,10). Nun erscheint dem Diener während dieser Leidenszeit der verstorbene Chorherr in einer Vision. Er trägt ein grünes Gewand, das mit roten Rosen besteckt ist. Der Chorherr bestätigt, 62 Susanne Köbele, Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum (1259), S. 167. 63 Ebd., S. 168. Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) 261 dass die Leiden von Gott geschickt sind, dass es Leiden sind, die der Diener geduldig ertragen soll: und [...] bat den diener, daz er gedulteklich liddi daz gross unrecht [...], wan got w  lti in dez alles wol ergezzen. (148,23ff.) Auf die Wichtigkeit des geduldigen Leidens wird geradezu insistiert. Denn auf die Frage, was das schöne Gewand zu bedeuten habe, antwortet der Chorherr: die roten rosen in dem gr  nen velde, daz ist úwer gedultiges liden, mit dem hend ir mich gekleidet. (148,26f.) Das geduldige Leiden des Dieners führt nicht nur ihn selbst zu Gott, sondern, so inszeniert es der Text, wird zur Heilsvermittlung für andere. Indem der Diener das Leiden auf sich nimmt, das das Erbe des Chorherren mit sich bringt, trägt jener das Kleid, das mit den roten Rosen auf das unschuldig vergossene Blut des Martyriums - hier das des Dieners - verweist, durch das der Chorherr in unmittelbare Nähe zu Gott gestellt wird. Doch die Vermittlung spiegelt auch wieder auf den Diener zurück. Für das Leiden, das der Diener zum Heil des Chorherren empfängt und geduldig erträgt, soll er von Gott entlohnt werden: und got wil úch hier umb mit im selben eweklich kleiden. (148,27f.) 64 Das geduldige Leiden wird als Lernprozess gestaltet. Indem ihm immer mehr und immer neues Unglück widerfährt, lernt der Diener, geduldig zu leiden. Die geduldige Haltung im Leiden aber wurde ausdrücklich mit dem Leiden Christi verbunden. Lernen und geduldig leiden sind die Leitbegriffe, die auf Einübung abzielen. Und so erzählt auch das 43. Kapitel die Reihe des Leidens aus: Immer wieder übt sich der Diener im geduldigen Leiden, bis er in der Vision des Chorherren eine Bestätigung seiner Haltung erhält. Der gekreuzigte Seraph, der Christus enthüllt und verhüllt, trägt zwei Handlungsanweisungen: trag liden gedulteklich und lern liden cristf  rmklich. Es sind aber keine stufenhaften Anweisungen, die vom geduldig ertragenen Leiden zum christförmigen Leiden führen, sondern ineinander verschränkte Anweisungen. Geduldiges Leiden bedeutet immer schon das Lernen des christförmigen Leidens. Damit gerät die Lehre vom Leiden in eine paradoxe Spannung, denn erst im Vollzug des geduldigen Leidens kann die Lehre verstanden werden. Darum fragt der Diener zu Beginn des Kapitels auch nicht, wie er lernen könnte, christförmig zu leiden, sondern wie er das Leiden ganz allgemein lernen könne. Und darum bedarf auch die Antwort an Elsbeth, dass das nützlichste Leiden das christförmige Leiden sei, einer so komplizierten, nachgereichten Begründungsgeschichte, die erst im Vollzug entfaltet, welcher Lernprozess hinter dem christförmigen Leiden verborgen liegt. Doch das Kapitel ist hier immer noch nicht abgeschlossen. Denn es kommt nun zu einer Dopplung des Erzählten im Bild. Auf das Kapitel folgt die Zeichnung, die den Seraph und den Diener darstellt. In der Handschrift A füllt die Zeichnung eine recto-Seite. Auf der vorhergehenden verso-Seite steht die rubrizierte Überschrift Diz nagend bild lert den menschen wie er nuzzberlich 64 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, interpretiert die Einkleidung folgendermaßen, S. 175: „Gott wird ihn mit sich selbst in Ewigkeit ‚kleiden‘, ihm jene unmittelbare Nähe und Anwesenheit bei sich selbst schenken.“ Figur und Textaneignung 262 sol liden. Hier greift der Paratext die Frage Elsbeths nach der Lehre vom nützlichen Leiden auf und verbindet so den Metatext, der ein Raster der unterschiedlichen Leidensformen zusammenträgt, mit dem Objekttext, der diese Leiden wieder ins Erzählen überführt. Gleichzeitig verweist der Paratext auch auf die Frage des Dieners zu Beginn des Kapitels, der das Leiden gelehrt bekommen möchte. Indem die Bildbeischrift aber den menschen allgemein anspricht, involviert sie auch die Rezipientinnen. Es ist weder der Diener noch Elsbeth, die ein Bild erhalten, wie man nuzzberlich leiden soll, sondern alle, die das nachfolgende Bild betrachten. Dem Diener im Bild ist ein Schriftband beigegeben, in dem er bittet: Ach herr, ler mich, daz ich kunne liden nach dinem aller liebsten willen. 65 So wie Jesus sich in seinem Leiden und Tod ganz in Gottes Willen begab, so möchte auch der Diener ganz nach dem göttlichen Willen leiden, er möchte christförmig leiden. Auch hier taucht wieder die paradoxe Spannung zwischen Lernen und Leiden auf. Erst im Vollzug des Leidens kann der Sprung in die Angleichung vollzogen werden, in das christförmige Leiden. Der Diener im Bild, der um die Lehre des richtigen Leidens bittet, ist aber schon an Christus angeglichen. Er trägt nicht nur Rosenkranz und IHS als Zeichen seiner Annäherung an Christus, sondern auch Stigmata. Paradoxerweise ist also derjenige, der richtig leiden möchte, derjenige, der das richtige Leiden schon vollzogen hat. Agnieszka Madej-Anderson beschreibt das Bild ausführlich und interpretiert es im Rahmen der Frage nach der similitudo. Sie arbeitet heraus, dass die Ähnlichkeit zwischen Seraph und Diener auch durch „das Zusammenspiel zwischen dem intensiven Rot der opak aufgetragenen Tinte und dem glänzenden Silber, das sich an drei Stellen der Komposition wiederholt“, entsteht. Dieses Zusammenspiel hat rezeptionsleitende Wirkung, denn „[a]uf diese Weise werden hervorgehoben: das Haupt Christi, umfangen mit einem silbernen Nimbus, der wiederum mit rotem Hintergrund unterlegt ist; der Kopf des ‚Dieners‘, gerahmt mit dem rot-silbernen Rosenkranz, und schließlich die Brust oder das Herz des ‚Dieners‘, die das argyographierte Christusmonogramm ziert.“ 66 Zwischen Christus und dem Diener wird so eine Ähnlichkeitsbeziehung hergestellt, die, anders als in der Franziskus-Ikonographie, nicht die körperliche Stigmatisierung durch Gott herausstellt, sondern auf einem Schriftverhältnis beruht; nicht die gnadenhafte Vollendung in der körperlichen Angleichung, sondern die Lehre dieser Angleichung stünde dann im Zentrum der Seraph-Vision. Text und Bild verschieben die Frage nach dem nützlichen Leiden immer wieder, von der Belehrung im 40. Kapitel zu den Exempeln der unterschiedlichen Leidensformen bis zur Offenbarung in der Vision, die auch wieder narrativ entfaltet werden muss, um schließlich in der Zeichnung des gekreuzigten 65 Bildinschrift transkribiert bei Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 26. 66 Agnieszka Madej-Anderson, ‚Glicheit‘. Medien und Modelle der Ähnlichkeit, beschreibt die Zeichnung der Seraph-Vision sehr ausführlich und mit Augenmerk auf die Materialität des Bildes, S. 106-112. Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) 263 Seraphs ein vorläufiges Ende zu finden. So stellt der Text die Schwierigkeit aus, immer wieder von Neuem die Lehre vom Leiden in das Leiden selbst zu überführen. Es ist die „Spannung von Offenbarungsevidenz und Auslegungsbedürftigkeit der Vision“. 67 Die Spannung zieht sich durch die ganze Kapitelreihe, vom 40. bis zum 43. Kapitel. Immer wieder kommt es zu Transgressionen, die von der Lehre zur Erzählung gehen und von dort zur Offenbarung. Das richtige und nützliche Leiden steht in der Spannung zwischen Lehre und Anwendung und zwischen Anwendung und Bestätigung. Elsbeth erhält auf ihre Frage, was das nützlichste Leiden sei, eine sich immer wieder verschiebende Antwort. Die direkte Antwort auf ihre Frage im 40. Kapitel lautet, es sei das christförmige Leiden, das als geduldiges Annehmen des Leidens definiert wird. Doch dabei bleibt es nicht. Im 43. Kapitel erhält die Lehre vom christförmigen Leiden ihre Begründungserzählung. Der Diener nämlich hat das Wissen um das nützlichste Leiden nicht als menschliche Lehre erhalten, sondern an Gott selbst geschaut und zwar in der Doppelung zwischen Bild und Schrift oder zwischen dem Körper des Seraphen und seinen beschrifteten Flügeln. Die Begründungsvision wiederum weist eine ‚Auslegungsbedürftigkeit‘ auf, der Seuse nachkommt, indem er die Vision durch die Freundin des Dieners erklären lässt. Diese Auslegung bestätigt sich in den Leidenserfahrungen des Dieners und auch im Erzählen, denn von der Offenbarung und ihrer Auslegung wechselt der Text wieder auf die Ebene des Erzählens. Mit der abschließenden Vision des Chorherren, die das Leiden des Dieners als von Gott geschickt bestätigt und ihm seine Verherrlichung in der Ewigkeit ankündigt, ist die Begründung, dass das christförmige Leiden das nützlichste sei, abgeschlossen. Der Diener hat über die mehrfache Wiederholung und Steigerung des Leidens eine Bewegung vorgeführt, die in der Assimilierung an Christus gipfelt. Im Bild wird nun die Lehre vom Leiden den Rezipientinnen angeboten. Der Paratext spricht ausdrücklich alle an, die nützliches Leiden erlernen wollen. Damit schließt sich der Bogen von Elsbeths Wissensfrage zur Antwort im Bild. 4.3.2 Bilderbogen des Leidens Nach ihrer Frage im 40. Kapitel, was das nützlichste Leiden sei, ist Elsbeth Stagel hinter die Ausführungen zum Leiden zurückgetreten. 68 Während die unterschiedlichen Aspekte des Leidens entfaltet werden, bleibt Elsbeth unsichtbar. Die Umsetzung dessen, was gelehrt wird, nämlich das zufallende krúz auf sich zu nehmen, vollzieht sich als Individualisierungsphänomen, das im 67 Susanne Köbele, Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum (1259), S. 173. 68 Vgl. Christine Pleuser, Tradition und Ursprünglichkeit in der ‚Vita‘ Seuses. Pleuser arbeitet in ihrem Aufsatz bereits einige wichtige literaturwissenschaftliche Aspekte zur Komposition der Vita heraus; im Kapitel ‚Die Kompositionsidee der Vita‘ verweist sie darauf, wie eng die beiden Teile zusammenhängen und dass „Elsbets Vita der Schlüssel zu Seuses Vita“ sei, S. 150. Sie beobachtet auch das Phänomen der Rücknahme Elsbeths: „Bis zum 45. Kapitel tritt Elsbet in den Hintergrund, den Vordergrund bilden Seuses Trosterzählungen, die thematisch Seuses Werdegang wiederholen“, S. 158. Figur und Textaneignung 264 Inneren der Tochter stattfindet. Indem sie hinter das Erzählen tritt, ist ihr Leben nicht die exemplarische Vorführung des Leidens, sondern dessen individuelle Umsetzung, wie sie sich im Leben aller Rezipientinnen fortsetzen soll. An dieser Stelle der Vita verdichten sich die Bilder. Die Kapitel 41 bis 45 schließen mit einem wahren Bilderbogen. Denn nicht nur das Bild der Seraph- Vision taucht auf, auch im 42., 44. und 45. Kapitel finden sich Zeichnungen. Martin Kersting untersucht diese Fülle an Zeichnungen in seiner Arbeit zu Text-Bild-Relation ebenfalls und stellt fest, dass „[n]ur sechs folgende Blätter (von einundachtzig) in A [...] fast die Hälfte des Bildmaterials der vita [beinhalten]. Diese Fülle an graphischen Aussagen erklärt sich aus der Funktion des vorliegenden Teils der Biographie. Er schließt die narrativen Passagen ab und leitet in die eigentliche Auslegung über. Bilder und Gleichnisse müssen sich gemäß Seuses didaktischem Konzept noch einmal verdichten, damit seine Schüler imstande sind, ohne bildliche Mittel den underscheid zu erkennen.“ 69 Kersting liest allerdings den zweiten Teil als Fortführung des ersten, sodass er zu dem Schluss kommt, dass „[d]er Diener der ewigen Weisheit [...] aufgrund seiner gewonnenen Gelassenheit die Abenteuer der Bestätigung [erlebt], die er in der ersten Phase seines Weges gesucht und doch nicht gefunden hat“. 70 Tatsächlich aber werden im zweiten Teil ja nicht einfach die Figurenerfahrungen des Dieners fortgeführt, sondern sie werden weitergegeben als Lehre, als geischlichú spise an die Tochter. Und so entfalten die Kapitel 41 bis 44 einen Bilderbogen des Leidens, das sich noch immer auf die Frage der Tochter bezieht, was das nützlichste Leiden sei. Ich möchte anhand einer Zeichnung kurz skizzieren, wie der zweite Teil über die Gestaltung der Bilder nicht nur das christförmige Leiden ausführt, sondern auch den ersten Teil wieder aufnimmt und dabei ganz neu ausrichtet. Die erzählerische Vermittlung des zufallenden Leidens verschiebt sich von der Darstellung des Leidens, wie es der Diener erfährt, zu den vermittelten Leiden, wie Elsbeth sie rezipiert. Im 44. Kapitel wird eine Begegnung zwischen dem Diener und einem weltlichen Turnierritter erzählt. Das Kapitel greift das 40. Kapitel auf, die Typologie des Leidens, in dem der Diener der Tochter mitteilt, sie solle nicht ungern leiden: Dis alles solt du an sehen, tohter minú, und solt nit ungern liden, wan swannen liden her kumt, so mag es dem menschen núzz werden, ob er es reht alles sament kan von got uf nemen und es wider in got tragen und mit im úberwinden. (134,15ff.) Das 44. Kapitel führt nun vor, wie der Diener genau diese Forderung, das Leiden gerne anzunehmen, lernen muss. Über die Begegnung mit dem Turnierritter wird die Leid-Lohn-Korrelation diskutiert. Diese gestaltet sich für den geistlichen Ritter in einer ganz anderen Dimension, da das Leiden mit dem ewigen pris (151,4) entlohnt wird. 71 Damit wird einerseits 69 Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 107. 70 Ebd. 71 Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200, verwendet die Verbindung von Leid und Lohn als Leitfaden ihrer Arbeit. Die Relation findet sich, so Mertens Fleury, in den Paulusbriefen, Rm 8,17f. und „lässt sich schon im frühen Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) 265 die Frage nach dem Nutzen aufgegriffen, die die Tochter gestellt hat und andererseits wird gezeigt, wie der Diener das Leiden anzunehmen lernt. Möchte er zu Beginn Gott wohlgefallen, aber ane liden und ane erbeit (149,6), erkennt er im Laufe des Gesprächs mit dem Turnierritter, dass es angemessen sei, daz man umb den ewigen pris noh vil me erbeten erlide (151,4f.), also viel mehr Mühsal als der Turnierritter ertragen muss. Im ersten Teil wurde die geistliche Ritterschaft im 20. Kapitel über das Hiob-Wort zum Figurenmodell des Ritters entwickelt. Der Diener sollte mithilfe dieser Visualisierung des geduldigen Leidens die richtige Leidenshaltung lernen und einüben. Der Nutzen des Leidens aber wurde dem Diener erst im 30. Kapitel offenbart, als Weg in die Angleichung. Die Erkenntnis der Notwendigkeit zu üben und Leiden zu ertragen, fällt im 44. Kapitel dagegen mit der Erkenntnis über den Nutzen, den ewigen Lohn zusammen. In Text und Bild werden Leiden und Lohn eng verknüpft. Auch dieses Kapitel wird mit einer Zeichnung abgeschlossen, genauer mit einer Doppelzeichnung. 72 In der oberen Bildhälfte wird der Diener von Engeln getröstet, von einem wird er umfangen. Am rechten unteren Bildrand, unterhalb der Leiter, die in das stilisierte Himmelreich führt, wird das Bild ausgelegt: Mit himelscher s  zikait, g  tlicher und engelischer zartheit ergezzet got sin diener aller widerwertikeit. 73 Das Leiden des Dieners wird ihm mit himmlischer Süße vergolten. Im unteren Bildteil dagegen sieht man den Diener, der von Engeln die Ritterkleidung erhält. Die Zeichnung ist überschrieben mit einem verweisungsreichen Spruch: Ritterlichú klaid und ere son sú eweklich niessen die sich dur got lidens und midens nit land verdriessen. 74 Sie bildet die Leid- Lohn-Korrelation durch die übereinander angeordneten Teile ab. Denn der Kern der unteren Zeichnung ist die Übergabe eines Ringes, den der Diener aus dem Himmelreich gereicht bekommt - und den er gleichzeitig und paradoxerweise schon trägt. Wer bereit ist, die Mühsal der Ritterschaft auf sich zu nehmen, so scheint es das Bild zu suggerieren, trägt die himmlische Belohnung bereits auf Erden. 75 Mönchtum belegen“, S. 15. Sie grenzt auch die Begrifflichkeit der Leid-Lohn-Korrelation ein, die „zwar aus heutiger theologischer Sicht nicht unproblematisch [ist], jedoch der Rekonstruktion mittelalterlicher Denkformen [dient]“, S. 15, Anm. 35. Die entsprechende Stelle des Römerbriefes liest sie folgendermaßen, mit dem hier interessanten Schwerpunkt auf dem ewigen Lohn, S. 15: „Hier wird somit in konzentrierter Form die paulinische Position deutlich. Sie charakterisiert das Leiden der getauften Christen [...] als Erbe und stellt es so in einen ‚genetischen‘ Zusammenhang. Aus dieser Bibelstelle lassen sich zwei Kategorien ableiten: die Partizipation an Christi Passion (participatio) und die Angleichung an sein Leiden (compassio). Beides zieht die Überwindung der Sünde und des Leidens nach sich, bereitet auf die Teilhabe an der gnadenhaften Erlösung von Schuld vor. Mit-Leiden öffnet somit die Aussicht auf ewigen Lohn.“ 72 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 139 (folio 67 r ). 73 Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 28. 74 Ebd. 75 Jeffrey F. Hamburger, Heinrich Seuse, ‚Das Exemplar‘, geht dagegen davon aus, dass die Doppelzeichnung „Vorstellungen zusammenführt, die zum Teil (allerdings nur ungenau) von Kapitel 36 und (genauer) von Kapitel 20 (untere Bildhälfte) abgeleitet Figur und Textaneignung 266 Wer das Leiden und Meiden - ein Verweis auch auf den Stufenweg - auf sich nimmt, der wird in Ewigkeit entlohnt. Und den Vorgeschmack auf die Entlohnung erhält der Diener im oberen Teil, wo ihn die Engel auf die Süße des Himmelreichs vorbereiten. Beide Bildteile beziehen sich sowohl auf das Kapitel 44 als auch auf Kapitel des ersten Teils. Die Trostvision wiederholt das fünfte Kapitel, in dem ebenfalls die Umarmung des Engels auftaucht; die Investitur ist das zentrale Moment des 20. Kapitels. Aber die Relation von Leiden als geistlicher Ritter, wie es im 44. Kapitel in Abgrenzung zum weltlichen Ritter dezidiert entwickelt wird und von Lohn, der als ewiger Preis, als Ring der ewigen Weisheit, in Analogie zum Turnierritter gezeigt wird, führen das Bild eng an das Kapitel heran. Im 44. Kapitel und der Zeichnung wird synthetisiert, was im ersten Teil auseinandergelegt wurde. Dort wurden der Habitualisierungsprozess und die Erkenntnis über den Nutzen des Leidens getrennt, um die notwendige Intentionslosigkeit vorzuführen. Der Diener leidet, ohne um den Nutzen zu wissen, nur um Gottes Willen. Im zweiten Teil dagegen wird die Relation von Leiden und Lohn wieder enger verknüpft. Während die Investitur zum Ritter im ersten Teil zentrales Moment der religiösen perfectio des Dieners war, ist sie nun ein Element unter vielen, die den Katalog des nützlichen Leidens entfalten. 76 Sie ist herausgelöst aus der Geschlossenheit des Stufenwegs und wird innerhalb des erzählten Rezeptionsrahmens aufgegriffen. Investitur und himmlischer Trost sind nicht mehr Erzählung unmittelbarer Erfahrungen, sondern ein Bild, das an Elsbeth gerichtet ist. Die exemplarischen Leiden des ersten Teils haben im zweiten Teil appellativen Charakter. Sie führen nicht mehr eine Figur und ihren religiösen Weg vor, sondern sie dienen auf einer Metaebene zur Anleitung Elsbeths. Indem die narrative Geschlossenheit aufgelöst wird und in die vielen einzelnen, immer wieder mit dem ersten Teil verknüpften Zeichnungen und Erzählungen überführt wird, zeigt der Text nicht mehr die exemplarische Einheit eines Lebens, sondern die individuelle Anwendung einer Lehre. Es sind.“ S 161. Eine abgeschabte Notiz, die die Reihenfolge der Bilder umstellen möchte - dú obren bild horend her ab - interpretiert Hamburger als „falsche Erwartung eines Lesers [...], daß die Bilder in irgendeiner Weise den Text und seine Abfolge wiederspiegeln sollten. Doch sind sie eher als unabhängige bildhafte Ergänzung oder Kommentar aufzufassen.“ Ebd. Wenn ich ihn richtig verstehe, sieht er das Bild nur auf lockere Art mit dem 44. Kapitel verknüpft, womit seine Interpretation meiner Lesart entgegensteht, nach der im Bild die Leid-Lohn-Korrelation ebenso dargestellt ist wie das Empfangen des Ringes als ewigen pris. Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, dagegen verweist in seiner Bildbeschreibung auch auf die Ringübergabe, S. 28. 76 Mari Heinonen, Henry Suso and the Divine Knighthood, in: Holiness and Masculinity in the Middle Ages, hg. von P.H. Cullum and Katherine J. Lewis, Cardiff 2004, S. 79- 92, ordnet in ihrer Argumentation das Modell des Ritters einem rein maskulinen Weg der Heiligung zu. An dieser Stelle der Vita aber wird es zur Unterweisung einer Frau verwendet. Es ist das komplexe Verhältnis von Modell, Abstraktion des Musters in der Betrachtung und Applikation des Musters auf die eigene Disposition durch die das Muster männlicher Heiligung auch zum Vorbild für Frauen werden kann. Auch eine Frau kann somit zum miles werden, aber ihre Waffen sollen andere sein. Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) 267 handelt sich nicht einfach um die Fortführung des im ersten Teil Erzählten, wie es etwa Martin Kersting ausführt: Seuse habe im ersten Teil von der Investitur erzählt, ohne dass der Diener eine ritterliche Ausbildung besäße. Daraus schließt Kersting: „Diese Konstellation zwingt Seuse, das Thema noch einmal aufzunehmen und eine Konzeption der geistlichen Ritterschaft zu formulieren.“ 77 Tatsächlich aber nimmt Seuse das Thema nicht einfach auf und führt es fort, sondern er entwirft im 44. Kapitel einen Metatext, einen synthetisierenden Kommentar, der auf Anwendung zielt und letztlich eine Appellstruktur auch für die textexternen Rezipientinnen schafft. Die Tendenz zur Synthese weisen alle Bilder des zweiten Teils auf, die viel stärker eine Lehre vermitteln und nicht das Erzählte kommentierend begleiten. Das Bild der Qualen des äußeren und inneren Untergangs, das Bild vom Herzentrut, die Seraph- Vision und die Doppelzeichnung von Investitur und ewigem Lohn verdichten, was bislang erzählt wurde. Den Höhepunkt der Synthetisierung weist das letzte Bild auf, die via mystica, die den Gesamttext zusammenfasst. 78 Die Bilder des zweiten Teiles funktionieren also ebenfalls auf einer Metaebene. Hier wird nicht die Erfahrung einer exemplarischen Figur entfaltet, sondern eine Lehre über diese Erfahrung wird im Bild entwickelt. Und diese Erfahrungslehre ist die geischlichú spise, um die Elsbeth gebeten hat. Das Leiden wird ab dem 37. Kapitel in ganz unterschiedlichen Perspektiven vervielfältigt. Im Raster, in den Erzählungen und in den Bildern herrscht eine Allgegenwart des Leidens, das durch die Assimilierung im christförmigen Leiden und die Verheißung des Lohns in der Ewigkeit sinnstiftend eingebunden wird. Die Figur Elsbeths wird dabei nicht vordergründig zur Leiderin, sondern tritt ab dem 41. Kapitel hinter die Vermittlung zurück. Die Bilder- und Exempelflut aber überformt auch sie. So wie das Narrativ des Dieners im ersten Teil in das Leidensnarrativ Christi überführt wurde, überformen die unterschiedlichen Exempel die geistliche Tochter. Während im ersten Teil das langsame Sterben und die Transformation an der exemplarischen Dienerfigur einmal vorgeführt wurde, kann nun gezeigt werden, wie die stetige Beschäftigung mit Text und Bild ebenfalls überformende Wirkung hat. Denn nach dem Bilderbogen des Leidens taucht Elsbeth im 45. Kapitel wieder auf. Dass sie eine innere Transformation ‚hinter‘ und durch den Text vollzogen hat, zeigt sich bereits an der adjektivischen Zuschreibung: Sie ist nicht mehr die geischlichú tohter, sondern die heilige tohter. 79 Aus diesem neuen Status heraus begründet sich ihre veränderte Rolle von der Rezipientin zur Vermittlerin. 77 Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 128. 78 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 169 (folio 82 r ). 79 Diese Beobachtung macht auch Christine Pleuser, Tradition und Ursprünglichkeit in der ‚Vita‘ Seuses: „Seuse, der sehr zu differenzieren pflegt, [nennt] Elsbet bis zum 45. Kapitel ‚geischlichú tohter‘, aber ab dem 45. Kapitel ‚heiligú tohter‘“, S. 159. Figur und Textaneignung 268 4.3.3 Von der Schülerin zur Visionärin - Elsbeth als Vermittlerin Nach ihrem Verschwinden hinter Text und Bild wird im 45. Kapitel durch Elsbeths Auftauchen ein Raum geschaffen, in dem sich der Abschluss der religiösen Identitätssetzung vollzieht. Auch hier gibt es eine auffällige Verbindung zum ersten Teil. Während das 44. Kapitel das Figurenmodell des Ritters aktualisiert, greift das 45. Kapitel das vierte Kapitel auf, in dem der Diener sich das Christusmonogramm in die Brust graviert. In einer Vision erscheint Elsbeth die Muttergottes, die ihr mitteilt, dass der Diener dafür, dass er den s  ssen namen Jesus in die Welt trug und danach strebte, dass er den selben namen Jesus in allen kalten herzen mit núwer minne wider enzúnde (153,17f.) ewigen Lohn erhalten werde. Auf der Ebene der Thematik und des Vokabulars bezieht sich das Kapitel auf die Einschreibung des IHS-Monogramms im ersten Teil, in dem die Gravur Element der komplexen Konstruktion der religiösen Identität des Dieners war. 80 Ausgelöst wird der Wunsch, das Monogramm zu tragen, durch das Feuer der Minne, das das Herz des Dieners entzündet: In den selben ziten ward neiswaz unmeziges fúres in sin sel gesendet, daz sin herz in g  tlicher minne gar inbrúnstig machete. (15,27f.) Im kurzen 45. Kapitel wird der Name Jesus zuerst in der Vision eingeführt, in der Elsbeth von der Muttergottes über die Leuchtkraft des Namens unterrichtet wird. Es ist das erste Mal, dass Elsbeth als Visionärin dargestellt wird. Durch ihre Transformation ‚hinter‘ dem Text und den Bildern, die sich während der Kapitel 40 bis 44 vollzogen hat, ist sie nun nicht mehr nur Schülerin des Dieners, sondern sie wird selbst zur Vermittlerin zwischen Maria und den Menschen. In der Vision sieht Elsbeth Maria mit einer Kerze, auf der der Name Jesus geschrieben steht, wobei die Vision von der Muttergottes selbst ausgelegt wird: l  ge, disú brúnnendú kerz betútet den namen Jesus, wan er warlich erlúhtet ellú herzen, dú sinen namen andehtklich enpfahent und in erent und in begirlich bi in tragent. (153,23ff.) Während der Diener sich den Namen einritzte, um ihn als Urkunde zu tragen, zeigt die Vision Elsbeth eine Andachtsform, mit der man sich den Namen Jesu nicht mehr körperlich einschreiben muss. Es scheint vor allem auf die Haltung anzukommen, mit der man den Namen annimmt und mit sich führt, nämlich andehtklich und begirlich. Durch die göttliche Mitteilung wird im Herzen der Tochter selbst die Liebe zum Namen Jesus entzündet. Die Andacht, die der Diener zu dem Monogramm auf seiner Brust hat, löst auch in ihr ein sunder minne zu dem minneklichen namen Jesus (154,5f.) aus. Sie will Anteil haben an seinem Minnezeichen und näht sich den selben namen Jesus mit roter siden uf ein kleines t  chli in diser gestalt: IHS, den si ir selben wolte heinlich tragen. (154,7f.) Sie setzt die Praktiken des Dieners auf ihre eigene Weise um, oder, wie Jeffrey F. Hamburger es ausdrückt: „Seuse’s example mediates between Stagel and Christ; she reproduces his practice, without reenacting it.“ 81 Elsbeth setzt sich nicht einfach selbst als Modell ein, sondern auch hier spielen Vision, Auslegung und 80 Vgl. Kapitel 3.1.5 Die Konstitution der Figur mit Angaben zur Forschungsliteratur. 81 Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning, S. 443. Die Multiplikation des Leidens - Lektüre und compassio (Kap. 37-45) 269 Umsetzung eng ineinander. Indem Elsbeth die Vision von Maria erhält, wird gleichzeitig der Identifikationsraum verschoben. So wie Christus der mediator für den Diener war, so ist Maria die mediatrix für Elsbeth. 82 Die Vision, die das Kapitel eröffnet, ist mehrfach relevant. Sie markiert Elsbeths Wandlung, die nun selbst zur Vermittlerin werden kann. Sie begründet vor allem diese neue Funktion, die keine Selbstermächtigung ist, sondern von Maria selbst angeleitet wurde. Darüber hinaus teilt Maria mit, dass die körperliche Einschreibung, wie der Diener sie vornahm, nicht notwendig sei, um das Herz zu erleuchten. Es reicht, den Namen andächtig zu empfangen und bei sich zu tragen. Die Heimlichkeit, mit der Elsbeth den Namen tragen möchte, und die gläubige Öffentlichkeit stehen in enger Beziehung. Elsbeth belässt es nicht dabei, sich ein eigenes Tuch zu nähen, sondern sie fertigt unzählig viele Tüchlein an, die der Diener auf seine Brust legt und sie mit einem g  tlichen segen sinen geischlichen kindern hin und her sante (155,3f.). Elsbeth wird damit zur Distributorin des IHS. Die Heimlichkeit der Gottesbegegnung im Inneren lässt sich medial vervielfältigen und weitergeben. Bei den Empfängerinnen und Empfängern wird das Zeichen wieder zu einem Zeichen der Heimlichkeit, das mit andaht ins Innere geführt werden muss. Heimlichkeit ist nicht das Gegenteil der Öffentlichkeit, sondern ihr komplementär. Die als exemplarische Erfahrung im ersten Teil inszenierte Einschreibung des IHS-Monogramms in den Körper des Dieners wird ausgeweitet auf alle Menschen, die den Namen Jesu empfangen wollen. Jeffrey F. Hamburger arbeitet heraus, wie sich die Kette aus Vorbild und Imitation unendlich vervielfältigt, bis sie aus dem Text hinaus ragt: „Stagel, moreover, imitates Seuse by making herself a model for others, thereby initiating an unending sequence of response. As if in a chain, Seuse’s exemplum ends with an invitation to the reader that they continue this process of imitation enacted through images.“ 83 Hamburger sieht das 45. Kapitel im Kontext mit den Körperaskesekapiteln des ersten Teils, in denen der Diener sich exzessiven Übungen hingab. Elsbeth dagegen verwende medialisierte Formen, die diese blutigen Übungen in neue Formen überführe: „By contrast, in Part II of the Life, Seuse deliberately distances himself from the extreme asceticism in which he indulged as novice. The imitatio Christi is recast in ritualized, institutionalized forms, governed by texts and enacted through images. Instead of drawing blood, she embroiders in silk; rather than mortify her flesh, Stagel emulates her adviser’s asceticism 82 Katharina Mertens Fleury, Maria Mediatrix - mittellos mittel aller súnder, in: Das Mittelalter 15 (2010), S. 33-47, weist auf die Wichtigkeit der Maria Mediatrix im BdeW hin, in dem sich eine ganze Reihe an Kapiteln mit der Rolle Mariens innerhalb der Passionsbetrachtung auseinandersetzt. Dort entwickelt Seuse ein Modell der compassio, bei dem „äußere Leidensangleichung mit innerem Gleichmut, einer Haltung der Gelassenheit, einherzugehen“ hat, S. 46, die Angleichung sei maßvoll reguliert. Dabei arbeitet Mertens Fleury die Verkettungen heraus, bei denen die Vermittlungsinstanz von Maria auf den Diener übertragen wird. Diese Übertragung von Vermittlungsinstanzen zeigt ganz ähnlich die Vita, wenn auf komplexe Weise Vermittlungsleistungen gedoppelt und medial vervielfältigt werden. 83 Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning, S. 443. Figur und Textaneignung 270 by adorning her body in his image.” 84 Elsbeth als vorbildliche textinterne Rezipientin ahmt den Diener nach und wird im Text selbst somit ein Modell für die weiteren Rezipientinnen. Während Hamburgers Überlegungen zu der Weitergabe von Bildern und Texten und zu den vielfältigen Formen der imitatio grundlegend und aufschlussreich sind, würde ich den Kontext allerdings anders akzentuieren. Die Körperinschrift des Dieners steht nicht im Zusammenhang der maßlosen Askeseübungen, sondern im Kontext des Minnezeichens, das die Nachfolge besiegelt und durch die komplexe Verbindung von Körperinschrift einerseits und medialer Weitergabe durch die gesegneten ‚Kontaktreliquien‘ andererseits allen Menschen zugänglich gemacht wird. 85 Diese Zugänglichkeit stellt dabei vor allem die Zeichnung dar, in der nicht nur der Diener auftaucht, sondern auch Elsbeth selbst und mit ihr alle Menschen, die den Namen Jesu, das IHS andehtklich empfangen wollen. 86 Nachdem sie vier Kapitel lang hinter dem multiplizierten Leiden zurücktrat, kann sie nun wieder auftreten und zwar wie der Diener, als Vorbild. Das 45. Kapitel schließt mit dem synthetisierenden Satz: Mit s  lichen strengen  bungen und mit g  tlichen bilden Jesu Cristi und siner lieben frúnden waz der anvang dieser heiligen tohter gebildet. (155,8ff.) Die strengen Übungen beziehen sich auf die vorhergehenden Kapitel, beziehen sich also auf die ihr übermittelten Exempel und Bilder. Der Text zeigt, wie auch im leidenden Mitvollzug eine Transformation möglich ist. Nachdem Elsbeth durch ihre eigenen Krankheits- und Leidenserfahrungen die Voraussetzung für die compassio vollzogen hat, lernt sie die richtige Haltung im Leiden nicht wie der Diener in der Außenwelt, sondern im Mit- Leiden. 87 Sie ist durch die compassio zur heiligen person geworden, ein Status, der sich an ihrer Rolle als Visionärin und Mittlerin manifestiert. Elsbeth ist in der Bilderflut ‚entsunken‘ und taucht erst im 45. Kapitel überformt wieder auf. Die Vita vollzieht performativ, was sie lehrt: mithilfe von Bildern die Bilder überwinden. Die Transgression der Vorbilder, die 84 Ebd. 85 In der älteren Forschung stellte vor allem die ‚Indiskretion‘ und ‚Selbstheiligung‘ ein großes interpretatorisches Problem dar. So schreibt Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses, S. 137: „Problematischer erscheint mir, daß Seuse hier zu seinen Lebzeiten an seinem Körper eine Form der Verehrung gestattet und beschreibt, die nur den Reliquien verstorbener Heiliger zukommt.“ Es zeigt sich bei diesen Irritationen, dass die Visionen, die sowohl im vierten als auch im 45. Kapitel die Annahme des Monogramms begleiten, gänzlich ausgeblendet werden. Im vierten Kapitel zeigt die Vision, dass der Wunsch des Dieners nach einer Minnebeziehung bestätigt wird, dass sein Name Diener der ewigen wisheit mit dem Namen Jesu, IHS, enggeführt wird bis zur Verschmelzung im Herzen. Im 45. Kapitel teilt die Muttergottes Elsbeth mit, dass die Annahme des Namens Jesu die Menschen in Glauben entzünde, der Name selbst, der ja die Identität des Angesprochenen transportiert, transformiert diejenigen, die ihn in ihr Herz nehmen. Damit ist aber keine Selbstheiligung Seuses - bzw. des Dieners - oder seiner Nachfolgerinnen dargestellt, sondern ein Vermittlungsprozess des Glaubens, der im Namen Jesu und dessen Inkorporation seinen Ausdruck erhält. 86 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 142 (folio 68 v ). 87 Vgl. Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200, S. 46. Transgressionen der Figur (Kap. 46-49) 271 Transgression des Exemplarischen in der individuellen Aneignung führt vor, dass sich die religiöse Selbstvervollkommnung nicht in einer mimetischen Abbildung erfüllt, sondern erst in der Umsetzung des exemplarisch Erzählten im individuellen Lebensweg - eine Umsetzung, die nicht sichtbar gemacht wird, da sie sich im unzugänglichen Inneren der Figur Elsbeths vollzieht. 4.4 Transgressionen der Figur (Kap. 46-49) 4.4.1 Die zweite Textgrenze - Der Adlerflug zur Gottheit Der abschließende Satz des 45. Kapitels, der Anfang der Tochter sei nun durch die strengen Übungen vollendet, wird im 46. Kapitel aufgenommen und leitet über zum letzten Teil der Vita. Elsbeth ist durch die g  te ler des Dieners soweit unterwiesen, dass sie über die Bilder hinausgehen kann. Expliziert wird ihre Bereitschaft durch den Vergleich mit einem Stück Wachs, das in der Nähe des Feuers weich wurde und das der forme des insigels enpfenklich ist worden (155,17f.). 88 In einem ersten Schritt, in den Kapiteln 46 bis 49, wird die Tochter in theologische Unterscheidungen unterwiesen, um dann im zweiten Schritt, in den Kapiteln 50 bis 52 in zunehmend komplexe theologisch-spekulative Zusammenhänge eingeführt zu werden. Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich nicht auf die Konzeptebene gehen und nach theologischen Inhalten fragen, sondern weiterhin die Faktur des Textes zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen. Die Tochter und der Diener, die als Produzenten des Textes, als Sprecherin und Sprecher fungieren, bilden die zentrale Perspektive. Es stellt sich die Frage, wie und ob an dieser Stelle, nach dem 45. Kapitel, ein Bruch liegt, der einen narrativ-konkreten Teil von einem theoretisch-begrifflichen Teil trennt. Häufig wird in der Forschung vom Abbruch des narrativen Teils gesprochen. 89 Die Kapitel 33 bis 45 werden als erzählender Teil angesetzt, während die letzten Kapitel den theoretischen Teil bilden. Ausgehend von der Rezeptionssituation zwischen Diener und Tochter möchte ich den Fokus an dieser Stelle verschieben. Geht man nämlich von der Vermittlungssituation aus, stellen auch die vorhergehenden 88 Gregor Wünsche, Präsenz des Unerträglichen, hier S. 89-99, stellt die Tradition der Prägemetaphorik ausführlich dar und entwickelt drei Traditionslinien: „eine ontologische, eine erkenntnistheoretische und eine kontemplative“, die ergänzt werden durch eine passionsmystische Verwendung. Kurz erwähnt Wünsche, dass die Siegelmetapher bei Seuse auftaucht und „mit einem eigenen, in der Predigtliteratur gut belegten Akzent versehen wird. Sowohl bei Seuse als auch bei einigen anderen Predigern taucht das Bild des Siegelns im Zusammenhang mit rechter Andacht auf“, S. 94. 89 So zum Beispiel Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning, über das 45. Kapitel, S. 442: „The passage is of exceptional importance in that it marks the transition between the narrative portion of the Life and the subsequent section, an account of a philosophical dialogue between Seuse and Stagel on the nature of mystical experience.“ Auch Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, setzt hier den „Abschluß des erzählenden Teils der Vita“ an, S. 176. Figur und Textaneignung 272 Kapitel, vor allem Kapitel 35 bis 44 nur vereinzelt narratives Geschehen dar. Nur in Kapitel 33 bis 35 und im 45. Kapitel wird länger von der Rahmenhandlung erzählt, in der die Konstellation zwischen Diener und seiner Beichttochter entwickelt wird. Ansonsten bildet die dialogische Situation den Schwerpunkt, in der der Diener Wissen an die Tochter vermittelt. Das narrative Geschehen in diesen Kapiteln ist - bis auf den Rezeptionsrahmen - immer intradiegetisch vermittelt, das heißt es wird innerhalb der Vermittlungssituation vom Diener weitergegeben. Das narrative Geschehen wird durch ihn als Erzähler oder ihn Briefen vermittelt, mit Gérard Genette gesprochen, ist er ein intradiegetischhomodiegetischer Erzähler. 90 Bis auf die genannten Ausnahmen in Kapitel 33 bis 35 und 45 sind so alle Kapitel Lehrgespräche oder Lehrbriefe. Der äußere Erzählrahmen ist folglich die Rezeptionssituation, innerhalb derer die die intradiegetischen Erzählungen vermittelt werden. Diese narrative Konstellation bricht aber nicht ab, sondern wird im 46. Kapitel bis zum Ende weitergeführt. Der Wechsel liegt vielmehr auf der inhaltlichen Ebene, denn statt Erfahrungswissen aus dem Alltagsleben des dominikanischen Seelsorgers wird nun diskursives Wissen verhandelt. Diese Differenzierung ist deshalb notwendig, weil auch im letzten Teil die Vermittlung von Wissen über narrative Textteile weitergeht. In den spekulativen Kapiteln 50 und 51 tauchen weiterhin kurze Exempla aus dem Leben des Dieners und begriffliche Unterscheidungen auf. Wichtiger scheint zu sein, dass die Vermittlungssituation insgesamt immer stärker zurückgeht und ersetzt wird erst durch die zunehmende Verdichtung von Intertexten, dann durch eine Steigerung abstrakter Begrifflichkeit. Die Figur, so die These, taucht immer weniger auf, um schließlich ganz in den Intertexten und spekulativen Begriffen aufzugehen. Die Vita führt vor, wie die Figur als Erzählphänomen zurücktritt und setzt so performativ das ‚Entsinken‘ Elsbeths in der Kontemplation um. Doch obwohl die Dialogsituation zwischen dem Diener und Elsbeth bestehen bleibt, ist das 46. Kapitel nicht einfach eine Weiterführung. Der inhaltliche Bruch wird sogar besonders stark inszeniert, sowohl auf Textebene als auch auf der Ebene des Buchschmuckes. Die Grenze im Text nimmt die Grenze auf, die zwischen dem 32. und dem 33. Kapitel gezogen wird. War dort die Pelikaninitiale in das C des lateinischen Mottos Confide filia gezeichnet, wird hier ein Adler in das Zitat Sicut aquila provocans ad volandum pullos suos etc. eingefügt. 91 Das lateinische Zitat, das den Auftakt bildet, stammt aus dem 5. Buch 90 Zur Einteilung in die unterschiedlichen narrativen Ebenen vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, 2. Auflage, München 1998, S. 162ff. 91 Der Textbeginn ist in Handschrift A (Ms. 2929) falsch gebunden, nämlich eingefügt ins BdeW. In der Handschrift folgt auf das 45. Kapitel, das in der modernen Foliierung Folio 68 ist, das 49. Kapitel, die Spruchsammlung. Allerdings nicht mit dem Kapitelbeginn, sodass von einer falschen Bindung auszugehen ist, zumal die Unterweisungskapitel 46 bis 48 inmitten des Prologs des BdeW eingefügt sind. Bereits im 19. Jahrhundert wurde auf dem Vorsatzblatt die fehlerhafte Bindung vermerkt. Zur Beschreibung der Lagenformel siehe Jeffrey F. Hamburger, Heinrich Seuse, ‚Das Exemplar‘, S. 176. Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 174 (folio 84 v ). Transgressionen der Figur (Kap. 46-49) 273 Mose. Die siebenzeilige Initiale ist oben ausgestattet mit einem „Adler mit ausgespannten Flügeln, der nach der Sonne zum oberen Rand fliegt, unten ein kleinerer Adler.“ 92 Die Konstellation aus großem und kleinem Adler nimmt das biblische Zitat auf. In diesem Lied besingt Moses, wie Gott Jakob beschützte und zwar so, wie der Adler, der sein Nest beschützt und über seinen Jungen schwebt, der seine Schwingen ausbreitet, ein Junges ergreift und es flügelschlagend davonträgt (5 Mose 32,11). Biblisches Motto und Initiale sind, wie im 33. Kapitel, miteinander verwoben. Und wie dort wird das Motto im Text aufgenommen, es wird auch im letzten Teil, ausgehend von der Initiale, ein Faden durch mehrere Kapitel gesponnen. Jeffrey F. Hamburger arbeitet heraus, dass die Initialen jeweils ein Identifikationssignal anbieten, das mit dem Status vom anfangenden und fortschreitenden Menschen verbunden ist: „now, in place of the pelican’s brood, starving for spiritual knowledge, the reader can identify with a bird of prey capable of feeding its offspring. The change represents the transformation of the beginner (Seuse’s ‚anvahender mensch‘) into an adept - an initiation that also brings with it newfound spiritual responsibilities.” 93 Die Initiale ist aber nicht nur ein Signal auf der Bildebene, sondern das Bild wird im Text aufgenommen und zum Zeichen aufgeladen, das von der Aufforderung bis zur Einlösung durchgeführt wird. Denn der Diener fordert die Tochter im 46. Kapitel auf, sich aus dem nest biltlichs trostes eins anvahenden menschen (156,2f.) zu erheben und stattdessen in der Kontemplation das vollkommene Leben zu schauen: T  als ein junger zitiger adler, da mit daz du die wolgewahsen vetchen, ich meine diner sele obresten krefte, erswingest in die h  hi dez sch  wlichen adels eins seligen volkomen lebens. (156,3ff.) Dezidiert erwähnt er das Stufenmodell, indem er den anfangenden Menschen und das vollkommene Leben anspricht. Der Adler, der sich in die Höhe schwingt, um im Abstand zur Welt Gott zu schauen, ist traditionellerweise das Bild, das mit dem Evangelisten Johannes verbunden wird. Auch Albertus Magnus und Thomas von Aquin beziehen sich hinsichtlich ihres Kontemplationsverständnisses auf Johannes, wie Martina Wehrli-Johns herausstellt: „In Übereinstimmung mit der älteren Johannestradition, die sich auf Augustin berufen konnte […] sehen Albert und Thomas im Evangelisten Johannes das große Vorbild kontemplativ-aktiven Lebens.“ 94 Albertus lege dabei die Eigenschaften des Adlers aus, um sein Kontemplationsverständnis auszuführen: „Die wesentlichen Punkte bei Albert sind folgende: Mit dem scharfen Blick des Adlers wendet sich Johannes dem Licht des Wortes zu […]. Der Höhenflug des Adlers bedeutet, dass Johannes die göttlichen Dinge durch das göttliche Licht selber beschreibt und nicht durch die geschaffene Welt, in der Gott nur wie in einem 92 Jeffrey F. Hamburger, Heinrich Seuse, ‚Das Exemplar‘, S. 177. 93 Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning S. 446. 94 Martina Wehrli-Johns, Das Selbstverständnis des Predigerordens im Graduale von St. Katharinental. Ein Beitrag zur Deutung der Christus-Johannes-Gruppe, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Festschrift für Alois M. Haas zum 60. Geburtstag, hg. von Claudia Brinker [u.a.], Bern [u.a.] 1995, S. 241- 271, hier S. 246. Figur und Textaneignung 274 Spiegel erkannt werden kann.“ 95 Diese hier noch implizite Aufforderung, es dem Adler gleichzutun, ruft für die Rezipientinnen eine vertraute Folie auf, war doch Johannes Evangelista eine der beliebtesten Identifikationsfiguren für die Dominikanerinnen überhaupt. 96 Im alttestamentlichen Eingangszitat ist der Adler eine Metapher für Gott, der seine Jungen, die Gläubigen, auf seinen Schwingen ins Himmelreich trägt. 97 Gott selbst ist die Kraft, die den Zugang zum Himmelreich erst gnadenhaft ermöglicht. Johannes ist gewissermaßen die Einlösung, der junge Adler, der sich zu Gott oder auf Gottes Schwingen emporhebt. 98 Denn er taucht nicht nur implizit auf, sondern wird im 51. Kapitel selbst ausdrücklich genannt. Dort wird die Forderung des Dieners, Elsbeth solle ihre obersten Seelenkräfte nun erheben, eingelöst. Sie fragt, wie Gott gleichzeitig ainvaltig und drivaltig sein kann (178,17). Der Diener führt mit impliziten Zitaten aus dem Itinerarium Bonaventuras und gekennzeichneten Zitaten aus Augustinus, Dionysius und Thomas von Aquin aus, wie die drei Personen in 95 Ebd. 96 Die Forschung zur Johannesverehrung im weiblichen Zweig des Dominikanerordens hat zu einer ganzen Reihe aufschlussreicher Arbeiten geführt. Nicht auf den Orden beschränkt sind die Arbeiten von Annette Volfing: John the Evangelist and Medieval German Writing. Imitating the Inimitable, Oxford 2001, und dies., The Authorship of John the Evangelist as Presented in Medieval German Sermons and Meisterlieder, in: Oxford German Studies 23 (1994), S. 1-44. Judith Theben, Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts, verweist auf den Adler als Motiv mystischer Lyrik, wobei sie als Zentrum dieser Gattung die dominikanischen Frauenklöstern des deutschsprachigen Südwestens sieht, S. 10. Sie zitiert auch die beiden Textstellen in Seuses Vita, die sie in Verbindung bringt mit dem mystischen Lied: Awsz des vatters ewigkeit sein wir her geflossen, das folgendermaßen beginnt: Wo sich der adeler in ewigkeit gesweimet, jn seiner hohen majestat, also genau das Bild des in Gott schwebenden Adlers wiedergibt, S. 330f. Kurz geht Daria Barow-Vassilevitch, Ich schwimme in der gotheit als ein adeler in dem lufft! Heiligkeitsmuster in der Vitenliteratur des 13. und 14. Jahrhunderts, Göppingen 2005 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 727), auf den Zwei-Johannsen-Streit im Orden ein, S. 33ff., der um die Frage nach der Relevanz des Evangelisten und des Täufers geführt wurde. Für die weiblichen Ordenszugehörigen bot der Evangelist, so Barow-Vassilewitch, größeres Identifikationspotenzial, da er mit dem Lieblingsjünger Jesu identifiziert wurde. Gregor Wünsche, Präsenz des Unerträglichen, arbeitet zur Bedeutung des Evangelisten für die Offenbarungen der Elsbeth von Oye und zeigt die textkonstitutive Bedeutung, die Johannes dabei zukommt, v.a. S. 157ff., unter Verweis auf weitere Forschungsliteratur zur Stellung des Evangelisten in der „Frömmigkeitskultur der südwestdeutschen Frauenklöster“, S. 157. 97 Vgl. Daria Barow-Vassilevitch, Ich schwimme in der gotheit, die die Tradition der alttestamentlichen Metapher kurz streift: „So wie der Adler seine Jungen hütet und sie auf seinen Flügeln trägt, trägt auch Gott sein auserwähltes Volk (in der christlichen Interpretation die Gläubigen oder auch die Seelen) zum Himmelreich“, S. 37, Anm. 92. 98 Auch in der dominikanischen Ikonographie zeigt sich die Beliebtheit des Evangelisten. Martina Wehrli-Johns, Das Selbstverständnis des Predigerordens, arbeitet dies anhand des Graduales von St. Katharinental und der Christus-Johannes-Gruppe des Meisters von Konstanz heraus, S. 260ff. Transgressionen der Figur (Kap. 46-49) 275 der Gottheit zu verstehen sind. 99 Auf seine spekulativen Ausführungen reagiert die Tochter mit dem Ausruf wafen, ich swimm in der gotheit als ein adler in dem lufte! (180,5f.) Sie erkenne das göttliche Wesen, nämlich das Wort, das aus dem Vater fließe und das die drei göttlichen Personen hervorbringe. Und als Garant für die Wahrheit dieser Unterscheidung zwischen Einheit des Seins und Unterschiedenheit der göttliche Personen (vgl. 180,26-181,1) wird Johannes herangezogen: Und ze einem g  ten urkúnd dez selben underscheides do sprach der hohgeflogen adler sant Johans: ‚daz wort waz in dem beginne bi gote.‘ (181,1ff.) 100 Indem Elsbeth und Johannes innerhalb weniger Zeilen beide mit dem Adler in Verbindung gebracht werden, wird die Figur der Dominikanerin geöffnet für das Identifikationspotenzial des Evangelisten. Sie erscheint als seine Nachfolgerin, die seine Gotteserfahrung zu ihrer eigenen macht. Die Grenze im Text setzt durch die Initiale und das vorerst unvermittelt stehende Bibelzitat ein deutliches Aufmerksamkeitssignal, das in der Engführung Elsbeths mit dem Evangelisten eingelöst wird. Im ersten Teil wurde die Initiale mit dem Pelikan im Text ausgeführt als Lehre der Erfahrungen des Dieners, an denen die Tochter partizipieren wollte und, wie sich im Verlauf der Kapitel zeigte, die sie in ihrem eigenen Leben nachvollzog. Die Initiale des Adlers steht programmatisch für die Gotteserkenntnis in der Nachfolge Johannes und auch diese Nachfolge tritt die Tochter an. 4.4.2 Das liehte eins g  ten underscheids - Weisung vor der Gottesschau Bevor sich ihre obersten Seelenkräfte zu Gott schwingen können, benötigt Elsbeht allerdings noch das liehte eins g  ten underscheides (156,13), das der Diener Elsbeth in Kapitel 46 bis 49 mitgibt. Die Kapitel, welche Elsbeth die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Vernunft und zwischen wahrer und falscher Gelassenheit lehren, fungieren als Zwischenstück. Zwar ist die Tochter bereit für den Adlerflug durch ihre vordren  bungen, wie der Diener ihr brieflich versichert, doch benötigt sie noch die Unterscheidungsfähigkeit, um sich im Höhenflug nicht zu verirren. Die Kapitel 46 und 49 stehen als eigener Teil, dessen Ziel deutlich formuliert wird: Und daz dir der hoh vernúnftiger weg dest bekanter sie, so will ich dir vor lúhten mit dem liehte eins g  ten underscheides, wenn du den underscheid wol begrifest, daz du mit nihtú 99 Kurt Ruh, Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskaner-Mystik und - Scholastik, Berlin 1956 (Bibliotheca Germanica 7), kommentiert die Übernahme von Bonaventura als quellengeschichtliche Einflussnahme: „Fest steht hingegen die Benutzung des ‚Itinerariums‘ durch Seuse […]. Es handelt sich um Kap. 51. Die Verwendung ist frei, ja fast sorglos zu nennen; die Konturen sind unscharf, auch scheint es dem Autor etwelche Schwierigkeiten bereitet zu haben, den Gedankengang in deutscher Sprache nachzuformen“, S. 65. 100 Daria Barow-Vassilevitch, Ich schwimme in der gotheit, weist auch auf die Relevanz des Evangelisten für die Dreieinigkeitslehre hin, S. 37: „Im Kontext der evangelischen Dreieinigkeitslehre, als deren Autor Johannes galt, erscheint das Zitat ein impliziter Vergleich Elsbeths mit dem Evangelisten.“ Allerdings führt sie gerade das Zitat der Vita, das Johannes als urkúnd benennt, nicht an. Figur und Textaneignung 276 maht verierren, wie hoh du iemer mit den sinnen flúgest. (156,12ff.) Elsbeth taucht auch in diesem Teil kaum auf; nur ein einziges Mal, am Ende des 46. Kapitels, bittet sie um weitere Unterweisung. In Kapitel 47 bis 49 ist lediglich die belehrende Stimme des Dieners zu hören, wobei Elsbeth als anwesend gekennzeichnet bleibt. Denn nach jedem Kapitel spricht der Diener sie an. Am Ende des 47. Kapitels warnt er davor, dass das Verhaften in der floierenden vernúnftkeit der Punkt ist, an dem viele Menschen hängen bleiben. Sie, Elsbeth, aber sei unterwiesen, sodass sie sich nicht mehr verirren könne: Aber dir sol von mir mit underscheid geweget sin, daz du nit kanst verierren. (160,12f.) Und ebenso spricht er sie nach dem 48. Kapitel an, bevor er die Sprüche des 49. Kapitels einführt: Von disem g  ten underscheide maht du nu fúrbaz merken die nagenden vernúnftig sprúche und lere, die den menschen entwisent von siner grobheit und in wisent z  siner h  hsten selikeit. (163,9ff.) Die Redesituation bleibt bestehen, Elsbeth ist präsent in den kurzen Anreden. Wie in den Kapitel 41 bis 44 aber bleibt Elsbeth als Figur weitgehend unsichtbar. Und wieder wird sie durch die Belehrung entscheidend transformiert. Es ist der Text, der Elsbeht so umformt, dass sie für die kontemplative Schau Gottes geöffnet wird. War in der Einleitung zum 46. Kapitel lediglich von ihrem äußeren Menschen die Rede, der nun ausreichend geformt sei, so zielt die Spruchsammlung im 49. Kapitel explizit auf ihren inneren Menschen, lautet doch deren Überschrift: Ein vernúnftiges inleiten dez ussren menschen z  siner inrekeit. (163,13f.) Die Spruchsammlung bildet das Gegenstück zum 35. Kapitel, den asketischen Sprüchen der Altväter und der einen -mutter und gehört zu den meist exzerpierten Kapiteln der Vita überhaupt. Ulla Williams hat die Bedeutung von Spruchsammlungen innerhalb des mystischen Schrifttums herausgestellt. Dem 35. Kapitel mit der Zusammenstellung der Altvätersprüche stellt sie das 49. Kapitel komplementär gegenüber: „In dieser Spruchsammlung wird der gelassene mensch angesprochen, der durch bereits erworbene Selbsterkenntnis und Unterscheidungsfähigkeit in die Lage gesetzt worden ist, sich ohne (Vor-)Bilder nach der Lehre zu richten. Die Sprüche sind im Ganzen abstrakter formuliert als die Altvätersprüche am Anfang der Unterweisung und enthalten kurzgefaßte Kerngedanken des Vollkommenheitsstrebens in der Terminologie der Mystik.“ 101 Wichtig sind ihre Hinweise zur didaktischen Funktion. Seuse mache „vom Spruch als einer vielfach einsetzbaren didaktischen Vermittlungsmöglichkeit in seinen Texten vor allem dort Gebrauch [...], wo er eine jeweils neue Stufe der Unterweisung einleitet und bestimmte Lehrinhalte intensiv einüben will.“ 102 Interessant ist auch, dass er die Einübung direkt von Elsbeth vollziehen lässt, sodass sich didaktische Form und Vollendung in der Rezeption wechselseitig erhellen. Damit setzt die Figur Elsbeths eine Unterweisungsmethode um, die von den Verba seniorum, den Sprüchen der Wüstenvätern selbst, beschrieben ist. Denn „[i]n der antiken wie frühchristlichen, als ‚gelebte Weisheit‘ verstandenen Philosophie war das 101 Ulla Williams, Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba und Dicta, S. 176. 102 Ebd., S. 177. Transgressionen der Figur (Kap. 46-49) 277 unaufhörliche Memorieren von Lebensregeln, verbunden mit der Meditation, die wichtigste geistige Übung, um den erstrebten Zustand der Wachsamkeit, die Grundhaltung des Philosophen, zu erreichen.“ 103 Gerade in ihrer Kleinform, in der einprägsamen Kürze, liege überdies der Erfolg der Spruchsammlungen in der mystischen Literatur allgemein: „[I]ndem man Kerngedanken aus mystischen Schriften herauszog und in Anthologien zusammenstellte oder aber als Leitsätze zur Reflexion und Meditation in größere Textgebilde integrierte“, wurde die Tradition der Spruchsammlungen weitergeführt, die für die „ständige, intensive Übung eines nach Vollkommenheit strebenden Menschen“ eine grundlegende Komponente darstellt. 104 Wieder erhält Elsbeth eine Übungsanweisung, die sie in ihrem Leben anwenden muss, um sich ihrer grobheit zu entledigen und um zur Vollkommenheit zu gelangen. Während der erste Teil dieser Spruchsammlung auf die natur und den inneren und äußeren Menschen abhebt, häufen sich im letzten Teil Sprüche, die den gelassenen Menschen anleiten und beschreiben. 105 Geht man davon aus, dass es nicht einfach nur eine Art der thematischen Anordnung war - denn gänzlich sortiert sind die Sprüche nicht - so fällt auf, dass das Kapitel gegen Ende einen sprachlichen Sog entwickelt. Von den letzten 33 Sprüchen beginnen elf mit ein gelassener mensch; 106 es taucht ein Spruch zur Stufung der Gelassenheit auf: So vil der mensch minr und me gelassen ist, so vil wirt er minr und me betr  bet von den hinziehenden dingen. (169,22f.). Die graduelle Gelassenheit wird in einem halbgelassen menschen (169,24) aufgegriffen, während drei Sprüche später mit dem reflexiven Verb der Durchbruch von der beweglichkeit und [...] sinnelichkeit formuliert wird: der sich selb da lasset und entwirdet, in der stillheit beginnet úbernatúrliches leben. (170,1f.) Auch die bloss gelassenheit (170,5) und ein gelassenr widerker (170,14) tauchen auf, sodass von den genannten 33 Sprüchen des letzten Abschnitts fast die Hälfte, nämlich 15, die Gelassenheit und den gelassenen Menschen aufgreifen. 107 Die Spruchsammlung steht nicht isoliert, auch wenn sie ein eigenes, klar begrenztes Kapitel bildet und dadurch gerade für die Praxis des Exzerpierens 103 Ebd., S. 178, unter Verweis auf Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991, hier besonders S. 52-57. 104 Ulla Williams, Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba und Dicta, S. 188. 105 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, ordnet die Aussagen jeweils den fünf Stufen des mystischen Weges zu. Er macht damit aber eine Systematik auf, die dem Fortgang des Kapitels nicht entspricht. Diese Lesart hat bereits Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, kritisiert, der zu Recht darauf hinweist, dass dies eine Interpretation ist, „die den Text überspielt“, S. 453, Anm. 68. 106 Gezählt ab dem ersten Spruch, der mit ein gelassener mensch beginnt (168,3) und mit dem die Verdichtung zur Gelassenheit zunimmt. Zur Verwendung von Gelassenheit im 49. Kapitel vgl. auch Susanne Bernhardt, Die implizite Pragmatik der Gelassenheit in der Vita Heinrich Seuses, S. 139f. 107 Ohne ins Detail zu gehen verweist auch Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, auf die Verdichtung der Sprüche zur Gelassenheit im letzten Teil des 49. Kapitels: „Dies sind wenige Sentenzen über die Gelassenheit aus einer reichen Fülle, namentlich im Schlußteil der Sammlung“, S. 452. Figur und Textaneignung 278 attraktiv war. Sie ist Teil der Rezeptionssituation, in der Elsbeth Stagel durch diese Sprüche zu einem vollkommenen Leben angeleitet werden soll. Die Konzentration auf den gelassenen Menschen am Ende setzt das Ziel des Kapitels, das Hineinführen des äußeren Menschen in sein Inneres, sprachlich um. Zunehmend werden darum Sprüche formuliert, die keine Handlungsanweisungen sind, wie man ein gelassener Mensch werden soll, sondern affirmative Aussagen, die den gelassenen Menschen selbst beschreiben. Die Sprüche sind immer weniger vom Menschen her gedacht, der die Gelassenheit anstrebt, sondern vom Resultat, von denjenigen, die ihr Selbst bereits gelassen haben. Je weiter das Spruchkapitel also fortschreitet, desto stärker steht der eigentliche Zielpunkt, der gelassene Mensch im Zentrum. Die Sprüche, die immer anspruchsvoller werden, bilden die paradoxen Spannungen ab, die mit der Forderung nach Gelassenheit verbunden sind. Das Kapitel führt von den Imperativen, die sich auf den äußeren Menschen beziehen, zu den Sprüchen, die den gelassenen Menschen umkreisen und bilden so eine Bewegung von der grobheit zur selikeit ab. Diese Bewegung, so inszeniert es die Vita, transformiert auch Elsbeth. Ohne dass ihre Rezeption der Sprüche beobachtbar wäre, nimmt sie die Sprüche und deren Rezeptionsziel auf und vollzieht eine geistliche Entwicklung, die sie wegführt von der bildlichen Betrachtungsweise des ersten Teils. Im 50. Kapitel taucht Elsbeth wieder auf, allerdings gänzlich überformt. Das Kapitel öffnet mit einer Referenz auf das vorhergehende Kapitel, um im zweiten Teilsatz die transformierte Erkenntnisfähigkeit der Tochter anzuführen: Nah dem vernúnftigen inlaitene des ussren menschen in den inren erh  ben sich in der tohter geist hoh sinne. (170,25f.) Durch die Lektüre der Sprüche, so suggeriert es der Text, wurde der äußere Mensch in den inneren geführt. Vollzog sich im ersten Teil ihre Transformation, indem sie von Bildern und Vorbildern regelrecht überflutet wurde, so überformen sie nun die Sprüche und ihre Sogkraft der Gelassenheit. Wie sich dieses inlaitene gestaltet, wie Elsbeth bei ihrer Rezeption vorgeht, wird nicht beobachtbar gemacht. Stattdessen entwirft die Vita eine Individualisierung der Anwendung. Anders als im ersten Teil, in dem die inneren Transformationen des Dieners in Visionen als Erkenntnisstufen, die durch Offenbarungen angeleitet werden, sichtbar gemacht wurden, bleibt im zweiten Teil Anwendung und Umwandlung unsichtbar. Es ist die Darstellung einer Individualisierung. Denn was im ersten Teil für die Rezipientinnen sichtbar gemacht wurde, bleibt nun im Inneren verborgen, ist für die Außenwelt nicht wahrzunehmen. Erkenntnis und Transformation vollziehen sich, so stellt es die Vita dar, als Interiorisierungsprozess. Das Ergebnis ihrer Lektüre und Aneignung führt Elsbeth wieder an den Anfang ihres Weges zurück. Nachdem Elsbeth durch die sorgfältigen Begriffsklärungen des Dieners sowie den meditativen Sprüchen in die Gelassenheit eingegangen ist, wird sie in der Überschrift des 50. Kapitels als wolge  ptú tohter bezeichnet, sie wird „nun ‚wohlerfahrene‘ genannt [...] und ist nunmehr in der Lage, nach den hohen sinnen, den übersinnlichen Erkenntnissen, zu Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 279 fragen.“ 108 Damit schließt sich der Bogen zum 33. Kapitel, in dem Elsbeth um die hohen sinnen gebeten hatte und auf die bilde verwiesen worden war. Nun, nachdem die Wahrheit der Gelassenheitssprüche sie überformt hat und die Bilder suspendiert wurden - etliche Sprüche verweisen auf die Notwendigkeit, Bilder zu überwinden - fragt sie erneut nach den selben hohen sinnen (170,27) und jetzt erhält sie die Erlaubnis ihre Fragen zu stellen: ja, wan du ordenlich dur dú rehten mitel bist gezogen, so ist nu wol erlobet diner geistenrichen vernúnftekeit, von hohen dingen ze fragen. (170,27-171,2) 4.5 Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) Interessanterweise verwendet Seuse am Anfang des 46. Kapitels kurz nacheinander zweimal eine Wegmetapher. Zum einen beschreibt er Elsbeths bisherigen Entwurf vor der Folie des Lebens Christi. Elsbeth sei ausreichend lange Zeit dur daz spiegelich leben Cristi, der der sicherst weg ist (155,18f.) gezogen worden, hat sich also lange genug in der Leidensnachfolge geübt. Zum anderen wird aber auch der Adlerflug der Erkenntnis als Weg beschrieben, als hoh vernúnftiger weg (156,13). Der Weg ist eine Metapher der Annäherung, nicht aber des Durchbruchs. Auch der Adlerflug impliziert zwar eine Nähe der Erkenntnis zu Gott, aber die Vorstellung einer völligen Transformation im Durchbruch wird in dieser Metapher nicht konzeptualisiert. Wenn der Flug der Erkenntnis als Progression, als Weg gedacht ist, müssen sich folglich in den letzten Kapiteln Steigerungsbewegungen feststellen lassen, die die Figur der Tochter immer näher an die Gottheit heranführen. Entsprechend sollen die Kapitel 50 bis 52 auch auf diesen Aspekt hin betrachtet werden. Dabei möchte ich weiterhin weniger auf die theologischen Konzepte eingehen. Ich möchte stattdessen die Spezifika der einzelnen Kapitel herausstellen, die sich aufgrund ihrer narrativen und sprachlichen Gestaltung ganz grundlegend unterscheiden. Es ändern sich vor allem der Redeanteil der Figuren sowie deren Art zu sprechen. Im 50. Kapitel wird der Tochter erlaubt, Fragen zu den hohen dingen zu stellen. Ihre Frage, die eigentlich aus mehreren Fragen besteht, wird im Laufe der nächsten drei Kapitel beantwortet. Sie fragt danach, was Gott sei, wo Gott sei und wie Gott sei; die letzte Frage wird ergänzt durch die Frage nach den göttlichen Personen: Ich mein, wie er sie einvaltig und doch drivaltig? (171,4f.) 4.5.1 Vom Begriff über die Poesie zum Exempel Die erste Frage nach dem Waz Gottes wird im 50. Kapitel beantwortet, wobei der Diener seine Ausführungen mit einer Erkenntnisgrenze beginnt. Die erste Frage sei nicht zu beantworten, und alle meister, die sich daran versuchten, sind gescheitert, da Gott úber alle sinne und vernunft ist (171,9f.). Dennoch haben viele versucht, sich dieser Frage anzunähern, so auch Aristoteles, 108 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 454. Figur und Textaneignung 280 „dessen teleologischer Gottesbeweis zitiert wird“. 109 Was der Mensch mit emzigem s  chene an Gotteserkenntnis gewinnen kann, führt der Diener in einer Reihe allgemeiner Aussagen zu Gott an, etwa dass er ein substanzlich wesen ist, daz er ist ewig, ane vor und ane na, einvaltig, unwandelber, ein unliplicher, weslicher geist (171,18ff.). Daraufhin äußert sich die Tochter emphatisch und möchte mehr davon hören. Nachdem er die Grenze der Erkenntnis klar gesteckt hat, nähert sich der Diener der Frage nun von einer anderen Seite. Noch einmal greift er die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auf, um dann einen Weg zu weisen, wie man Gott doch erkennen könne: l  g, daz g  tlich wesen, von dem geseit ist, daz ist ein s  lichú vernúnftigú substancie, die daz t  demlich oge nit gesehen mag in im selb; wan siht in aber wol in siner getat, als man einen g  ten meister spúrt an sinem werke, wan als Paulus seit: ‚die creaturen sind ein spiegel, in dem got widerlúhtet.‘ Und dis bekennen heisset ein speculieren. (172,1ff.) Aus der Perspektive des irdischen Menschen, mit dem sterblichen Auge, ist das göttliche Sein nicht zu erkennen; in der Schöpfung aber spiegelt es sich wider. Jeffrey F. Hamburger arbeitet die Bedeutung von Röm 1,20 heraus, der Paulus-Stelle, die der Diener zitiert. Die Stelle stehe 1 Kor 13,12 und der dort verwendeten Spiegelmetapher - videmus nunc per speculum in enigmate - komplementär gegenüber. Seuse entwerfe eine Bewegung von Röm 1,20 zu 1 Kor 13,12, also von einer Spekulation, die Gott in der Schöpfung feiert - „celebration of the beauty of Creation“ - zu einer Gottesschau - „to the vision of God, experienced by the ‚eye of the intellect.‘“ 110 Diese Bewegung vom Sehen in der Schöpfung zum Sehen Gottes stehe in der augustinischen Tradition. Beiden gemeinsam sei auch die Einschränkung der Reichweite der Naturbetrachtung: „In sum, Suso’s rereading of nature is far more positive, although for him, as for Augustine, it represents but a stepping stone.“ 111 Spekulation, das äußert der Diener ganz explizit im Verlauf des Kapitels, ist nur ein reizlicher vorlof, ze komen in ein weslich ingenomenheit (174,17f.). Besonders aufschlussreich sind Hamburgers Überlegungen zum Spekulieren als Möglichkeit einer imitatio Christi, wie Seuse sie entwirft. Spekulation wird demnach als Prozess des Sehens und Wahrnehmens entworfen, „the process by which perception of the natural leads to perception of the supernatural.“ 112 Trotzdem sei Seuse weit von jeglicher Form des Pantheismus entfernt. Stattdessen werde die Spekulation inkarnatorisch konzipiert: „as the link 109 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 454. 110 Jeffrey F. Hamburger, Speculations on Speculation. Vision and Perception in the Theory and Practice of Mystical Devotion, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider- Lastin, Tübingen 2000, S. 353-408, hier S. 360ff. 111 Ebd., S. 364. 112 Ebd. Zum Verhältnis von äußeren und inneren Sinnen hat intensiv Niklaus Largier gearbeitet, wobei er sich vor allem auf die Inszenierungen künstlicher Welten konzentriert, also auf die Frage, wie über Texte und Kultgegenstände die äußeren Sinne so stimuliert werden, dass sie die inneren Sinne affizieren. Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 281 between the natural and the supernatural, speculation is rooted in the doctrine of the Incarnation.“ 113 Da mit der Inkarnation Gott Teil der sichtbaren Welt geworden sei, können die körperliche Vision und die unkörperliche, geistige Schau miteinander verbunden werden. Zusammenfassend schreibt Hamburger: „In keeping with the conjunction of human and divine natures in Christ, Suso suggests a form of imitatio Christi rooted in seeing, not suffering: man can draw near to God through the admiration of God’s majesty in the mirror of his Creation, a process rooted in empirical experience that, if properly channeled, can lead him upward towards eternity. Empirical observation is not alien to speculation; it forms its foundation. Outer and inner vision form part of a continuum leading on towards contemplation.“ 114 Dem Leiden, das so vielfältig entwickelt worden war, wird nun die Möglichkeit einer Angleichung an Christus über die Schöpfung zur Seite gestellt. Und so hält der Diener inne, um in der Schöpfung Gott zu betrachten: Nu lass úns ein wili alhie beliben, und lass úns speculieren den hohen wirdigen meister in siner getat! (171,7f.) Wieder fällt die direkte Ansprache auf, es ist ein Dialog, in dem der Diener Elsbeth ausdrücklich auffordert, mitzuvollziehen, was er ihr vorführt - und mit den Imperativen wird auch ein Rezeptionsangebot an alle Rezipientinnen gemacht. Der Naturpreis setzt sich auffällig von dem zuvor Ausgesagten über das ‚Was‘ Gottes ab. Während die Einleitung des 50. Kapitels die abstrakten Gottesbegriffe anführt und die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit absteckt, geht im Naturpreis das Dargestellte im ästhetischen Modus der Darstellung auf. Die Schönheit der Schöpfung wird auch für die Rezipientinnen greifbar in der Schönheit der Sprache, deren poetische Ausgestaltung Jeffrey F. Hamburger als Signal zum Innehalten beschreibt: „the passage’s expansive poetry arrests the reader and demands her attention.“ 115 Im ersten Abschnitt, B 172,7-23, fällt eine Häufung von Adjektiven auf, die die Ästhetik der Schöpfung hervorheben. Viermal wird sch  n verwendet, einmal s  ss und zweimal minneklich. Die Mehrzahl der Sätze setzen mit wie ein und nehmen immer wieder die Aufforderung zu Beginn auf. Dort weist der Diener die Tochter an zu schauen, verbunden mit einem deiktischen Gestus: L  g úber dich und umb dich [...], wie wit, wie hoh der sch  n himel ist [...], wie adelich [...] gezieret [...] und wie er gepriset ist [...] (172,8ff.) In der wiederholten Aufforderung wahrzunehmen, wie schön die Gegenstände der Betrachtung sind, liegt eine Anleitung zum Schauen, zum richtigen Wahrnehmen der Schöpfung. Die syntaktische Verbindung der Schöpfungswunder durch die mit wie eingeleiteten Sätze wird am Ende in die Schönheit Gottes überführt. Der Diener wendet sich in einer Apostrophe an Gott, dessen sichtbare Schönheit in der Schöpfung dem Wunder der göttlichen Schönheit gegenübergestellt wird: Ach zarter got, bist du in diner creatur als minneklich, owe, wie bist du 113 Jeffrey F. Hamburger, Speculations on Speculation, S. 364. 114 Ebd., S. 365. 115 Ebd., S. 353. Figur und Textaneignung 282 denn in dir selb so gar sch  n und minneklich. (172,21f.) Die Entfaltung der Schöpfungsschönheit wird in der creatur zusammengefasst, in der Gott sichtbar wird. Zwischen Schöpfung und Gott liegt eine Grenze, die die Interjektion owe zum Ausdruck bringt, die als Klangeffekt nicht nur unter die „emotionsgeladene[n] Anrede- und Ausrufungsformen“ fällt, 116 sondern darüber hinaus die Differenz markiert zwischen kreatürlicher und göttlicher Schönheit. Diese Differenz aber scheint selbst nicht mehr sprachlich fassbar zu sein, sondern wird als klingender Ausruf inszeniert. Obwohl die Differenz zwischen der Erkenntnis in der Schöpfung und Erkenntnis in Gott durch den zweigliedrigen Satz markiert ist, wird durch die parallele Syntax der wie-Sätze eine Annäherung mitformuliert. 117 Eine zweite Strategie der Konvergenz von Dargestelltem und Darstellung ist aus dem ersten Teil bekannt. Es ist die Evokation einer Semantik der Freude, die die angesprochene Tochter in diese Freude hinein nimmt und überformt. Denn die Schönheit der Natur im Frühling erfreut nicht nur die Tiere nach dem Winterschlaf, sondern man sieht, wie in der menscheit jung und alt werdent von wunnebernder fr  d fr  lich gebarent! (172,2) Die Freude an der Schöpfung wird auf die Tochter übertragen, die nun als fro tohter (173,5) angesprochen wird. Im Spekulieren, in der Betrachtung der Schönheit habe sie Gott gefunden. Das Spekulieren wird mit der Erklärung beendet, dass das speculieren zum jubilieren führe. Wer sich im Betrachten der schönen Natur ganz dem Gotteslob hingebe - sich in ane und umbvah in mit den endlosen armen diner sele und dines gem  tes, und sag im dank und lob (173,7) -, der wird in ein Jubilieren geführt, in den jubilus, der eine unsagbare Freude sei: wan jubilieren ist ein fr  de, daz dú zung nit gesagen kan, und es doch herz und sel krefteklich durgússet. (173,11f.) Die Freude an der Natur, wie sie im 116 Richard F. Fasching, Ein Text Heinrich Seuses? Untersuchungen zum Prolog des ‚Solothurner Legendars‘, weist auf die unzähligen Belegstellen für owe hin: „Seuse verwendet dieses rhetorische Ausdrucksmittel zur Gestaltung des Hörereinbezugs an unzähligen Stellen; [...] und owe gar mehr als dreihundertfünfzigmal“, S. 355. 117 In der Diskussion zum Beitrag von Burkhard Hasebrink, Spiegel und Spiegelung im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 157-172, Diskussion S. 172-174, wird die Verwendung der Spiegelmetaphorik in der Vita von derjenigen in Mechthilds von Magdeburg Fließendem Licht scharf getrennt: „Die Verwendung der Spiegelmetapher bei der Literarisierung der Liebesbeziehung von Braut und Bräutigam [...] liegt weit ab von solchen in theoretischer Absicht unternommenen Konzeptionalisierungen, wie sie in den Beiträgen von Werner Beierwaltes und Jeffrey F. Hamburger zur Sprache kommen“, S. 172. Doch gerade das 50. Kapitel der Vita bietet weniger eine theoretische Konzeptionalisierung im Sinne einer begrifflichen Erörterung, sondern den Versuch, über die Schönheit der Sprache die Betrachtung der Schönheit der Schöpfung in einem ästhetischen Kurzschluss zu verbinden. Auch wenn die Spiegelmetapher selbst sicherlich ganz unterschiedlich verwendet wird, scheinen mir auf der Ebene sprachlich-poetischer Strategien Ähnlichkeiten zu Mechthild zu bestehen, wenn „das Dargestellte dazu tendiert, in dem sprachlich-poetischen Modus seiner Darstellung selbst aufzugehen“, S. 172. Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 283 Lobpreis geschildert wird, wandelt sich im enpfenklichen menschen zu einer überirdischen Freude, die sich aus dem Wissen um die Gegenwart Gottes in der Welt speist. 118 Doch im Vergleich zum ersten Teil der Vita, in dem die Freude als Osterfreude den gelassenen Menschen verwandelt in den mit Gott auferstandenen, wird der jubilus im 50. Kapitel anders gefasst. Denn das Kapitel endet nicht mit dem Naturpreis, der von den Erklärungen, was speculieren sei, gerahmt wird. Es beginnt ein zweiter Abschnitt, der noch einmal genauso lang ist. Und er setzt ein mit einem neuerlichen Wechsel des Registers. War es am Anfang des Kapitels das philosophisch-theologische Vokabular, das durch den poetischen Naturpreis abgelöst wurde, so wird nun die Freude an der Schöpfung durch zwei narrative Exempel gerahmt und eingegrenzt. Statt mit dem jubilus abzubrechen, folgen Beschreibungen von Erfahrungen des Dieners. Dieser erzählt von seinem Anfang, einer Zeit, zu der ihm zweimal täglich die Gnade des jubilus zuteil wurde. Das Exempel fokussiert auf ein besonderes Ereignis. Eines Tages macht er eine göttliche Kommunikationserfahrung, die über jede Kommunikation hinausgeht: Das göttlichväterliche Herz berührt sein Herz und in dieser Berührung spricht die ewigen Weisheit minneklich und formlosklich in sin herz (174,5). Ausdrücklich wird diese Näheerfahrung mit dem Jubilieren verbunden, denn der Prediger sprach fr  lich in dem geischlichen jubilieren (174,6). Es folgt eine Anrede an das liepliche [...] liep, in der die vollführte Transgression von der Geschaffenheit in die ungeschaffene Gottheit zum Ausgang des Lobpreises wird. Doch das Exempel ist nicht einfach nur die Individualisierung des jubilus, der aus der Spekulation erwächst. Durch das Exempel wird beobachtbar gemacht, wo die Grenzen des jubilus liegen. 119 Denn die Tochter möchte wissen, ob die große Gnade, in der der Mensch in jubilierender wise in got verzuket wird (174,15) das Höchste sei oder nicht. Und auf diese Frage antwortet der Diener mit einer entscheidenden Einschränkung: nein, es ist allein ein reizlicher vorlof, ze komen in ein weslich ingenomenheit. (174,17f.) Die Freude und der jubilus, die dem Gläubigen aus der Betrachtung gnadenhalber zukommen, werden als transitorisches Moment der Erfüllung gekennzeichnet, nicht aber als Transformation, als Überformung des Seins. Denn darauf zielt die nächste Frage der Tochter ab, was nun weslich und was unweslich sei. Der wesliche mensch ist derjenige, der mit g  ter steter  bung die tugent erstriten hat (174,20), sodass sie ihm lustlich und beliplich sind worden, dass sie ihm wesenhaft geworden ist. Der wesliche mensch hat diejenigen Transgressionen des Selbst vollzogen, die der Diener am Ende des ersten Teils vorgeführt hat, derjenige Mensch, der im Innersten dauerhaft in die Freude eingegangen ist. Wer dagegen den langen Kampf noch nicht bestanden hat, strebt alle Zeit nach den Momenten der Intensität und bezahlt deren Entzug mit ungeordnet trurikeit (174,27). 118 Vgl. dazu Kapitel 3.6.2 Der transitus in die Freude und die Transgression in die Offenbarung. Dort wird auch auf die Freude als theologischer Grundbegriff Bezug genommen. 119 Zu den Grenzen des jubilus bei Tauler und in den Schwesternbüchern, vgl. Burkhard Hasebrink, Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler. Figur und Textaneignung 284 Und um ein Beispiel dafür zu geben, wie der ungefestigte Mensch sich verhält, führt der Diener ein zweites Exempel an: Als einmal sein Herz vol g  tlicher jubilierender fr  den (174,30) war, da wird er gerufen, um einer Frau die Beichte abzunehmen. Da er aber den Moment des Gottesgenusses nicht unterbrechen möchte, schickt er den Pförtner, den portarius, unwillig davon, obwohl die Frau ausdrücklich nach ihm verlangt; nach der Abweisung geht sie davon und erweinet sich da vil wol (175,6). Was dann passiert ist vorhersehbar: Gott entzieht im geswinde die fr  lichen gnade (175,7) und auf seine Frage, was das bedeute, wird ihm der Gnadenentzug erklärt: l  g, als du die armen frowen mit einem geladen herzen hast von dir getriben ungetr  stet, also han ich minen g  tlichen trost von dir gezuket. (175,9f.) Der reuige Diener sucht die Frau, findet sie schließlich mit Hilfe des Pförtners und nimmt ihr die Beichte ab. Und umgehend wird dem Diener wieder die göttliche Gnade zuteil, wird er mit dem g  tlichen trost erfüllt. Der Hinweis auf den göttlichen Trost referiert auf das fünfte Kapitel, in dem in iterativer Reihung Momente intensiver Gotteserfahrungen erzählt werden. Auf die Reihe der Leidenskapitel und auf das 32. Kapitel dagegen bezieht sich der Schluss des 50. Kapitels. Als die Tochter auf die Erzählung des Entzugs entgegnet: der mensch m  hti wol erliden, dem er gebi s  lich jubilierende fr  de (175,19f.), weist der Diener auf die großen Leiden hin, mit denen er die Freude verdienen musste, also auf die Kapitel 23 bis 29. Als es Gott zit duhte, do kom dú selb jubilierend gnade her wider und ward im neiswi in beliplicher wise (175,22f.). Erst nachdem er in Christus überformt ist, ist der jubilus nicht mehr nur transitorische Intensität, sondern verstetigte Freude. Es ist eine Freude, die in ihm bleibt, egal wo er ist und mit wem er zusammen ist. Der Diener stellt Elsbeth zwei Konzepte der Gotteserfahrung vor, die im ersten Teil der Vita ausführlich entwickelt wurden. Es ist einerseits der Versuch, über Bilder und imaginative Techniken Momente höchster Intensität zu erzeugen, in denen das Innere in Gott gezogen wird. Hier werden diese dort nicht erklärten Beispiele nun auf das speculieren bezogen. Diese Intensitäten aber führen immer nur transitorisch zur Einheit. Verstetigung der Einheit, so führt es die Vita vor, liegt in der konsequenten Nachfolge im Leiden, die als Sterben des Dieners mit Christus erzählt wurde. Nur wer diesen Tod mitvollzieht, ist in die weslich ingenomenheit übergetreten. Wer dagegen nach den transitorischen Intensitäten strebt, genießt zwar den vorlof, nicht aber die einikeit. Der zweite Teil der Vita fasst hier zusammen, was im ersten Teil in langen Kapitelreihen entfaltet wurde. Der Anfang des Dieners wird noch einmal ausdrücklich auf seine Begrenztheit im jubilus gedeutet; das 50. Kapitel dient damit nicht nur zur Klärung der Fragen Elsbeths, sondern ist auch ein Kommentar zum ersten Teil. Der Wechsel aus Annäherung an abstrakte Gottesbegriffe, hymnischem Naturpreis, narrativen Exempeln und dem Dialog zwischen Tochter und Diener geht über eine theoretische Annäherung hinaus. Wirksam wird das performative Potenzial des Textes im Wechsel zwischen poetischer Sprache und der Ausstellung von Risiken im Exempel. Indem die Frage waz ist got? in immer neuen Annäherungen umkreist wird, wird die Unmöglichkeit einer Antwort Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 285 vorgeführt. Begriffe, Hymnus und Exempel sind alles Versuche, sich sprachlich dem Nichtsprachlichen anzunähern. Was deutlich wird, ist die Formenvielfalt, die Seuse hier einsetzt, um die jubilierende fr  de, die aus der Gotteserkenntnis erwächst, zu umschreiben und ihre Grenzen und Möglichkeiten darzustellen. Dieses Kapitel nähert sich der Frage nach Gott aus der Perspektive der Schöpfung an. In den folgenden Kapiteln wird die Möglichkeit der Gotteserkenntnis immer weitergehend ausgelotet. 4.5.2 Von der Erfahrung der Figur zu den Stimmen der Meister Im Gegensatz zur Möglichkeit, Gott in der Natur der Schöpfung zu erke nnen, beschreibt das 51. Kapitel Grenzen und Möglichkeiten, die im ‚Höhenflug des Adlers‘ liegen. Wie im Kapitel zur Grenze im Text schon ausgeführt, tritt hier prominent der Evangelist Johannes auf. Der Höhenflug des Adlers bedeutet, „dass Johannes die göttlichen Dinge durch das göttliche Licht selber beschreibt und nicht durch die geschaffene Welt, in der Gott nur wie in einem Spiegel erkannt werden kann.“ 120 Statt dem speculieren als spiegel in dem got widerlúhtet, wird nun die Möglichkeit einer unmittelbaren Gottesschau erörtert. In der Geschichte der abendländischen Mystik Kurt Ruhs nimmt die Darstellung der Kapitel 51 und 52 der Vita einen auffallend großen Teil ein. Insbesondere die quellenkritische Frage beschäftigt Ruh, der ausführlich den Anteil aus Bonaventuras Itinerarium im 51. Kapitel sowie die dazu gehörige Forschungssituation diskutiert. 121 Für das 52. Kapitel arbeitet er zu den „wichtigsten Stellen, die die mystische Erfahrung betreffen“. 122 Bevor er die Lektüre durchführt, weist er darauf hin, dass „es Abhängigkeiten zu klären“ gilt, da das 52. Kapitel „eine ganze Reihe wörtlicher Übereinstimmungen“ mit dem Gedicht und der Glosse Von dem überschalle sowie dem sogenannten Liber positionum aufweist. 123 Ruh geht davon aus, dass die Vita vor den anderen Texten entstand, die er so in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Seuses Schrift setzt. Judith Theben greift dieses Verhältnis auf, schlägt aber eine neue Reihenfolge des Austausches zwischen Vita, dem Lied Von dem überschalle und dessen Kommentar vor. Sie dreht die Argumentation Ruhs um, der ohne Begründung davon ausging, dass Lied und Kommentar nach der Vita entstanden. Theben dagegen nimmt aufgrund der Art, wie sich die Paralellstellen verhalten, an, dass die Vita aus dem Überschallkommentar sowie aus dem Liber 120 Martina Wehrli-Johns, Das Selbstverständnis des Predigerordens, S. 246. 121 Die Bedeutung Bonaventuras, den Seuse im 51. Kapitel ausgiebig zitiert, zeigt Kurt Ruh bereits in seiner Monographie Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskaner-Mystik und -Scholastik, S. 65f. 122 Ders., Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 461. 123 Ebd., S. 460. Zum Austauschverhältnis der unterschiedlichen Texte arbeitet er in Kurt Ruh, Seuse, Vita c. 52 und das Gedicht und die Glosse ‚Vom Überschall‘, in: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366-1966, hg. von Ephrem M. Filthaut OP, Köln 1966, S. 191-212. Figur und Textaneignung 286 Positionum zitiert. 124 Sie verweist auch auf die Zitate Bonaventuras im 51. Kapitel und fasst zusammen: „Offenbar ist dieses Verfahren der Kompilation von Textexzerpten aus bekannten Texten anerkannter Autoritäten Seuse für die spekulativen Kapitel seiner ‚Vita‘ wichtig.“ 125 Der wachsende Anteil an ‚Fremdstimmen‘, an Zitaten der Autoritäten, gekennzeichnet oder nicht, ist in der Tat auffällig. Ich möchte darum einige Überlegungen ausführen, wie sich die Zunahme der Zitate zur Figurenrede verhält. Im Zentrum stehen weiterhin die Figuren, ihr Auftreten sowie die sprachliche Gestaltung des Kapitels. 126 Das 51. Kapitel behandelt die beiden noch offenen Fragen der Tochter nach dem ‚Wo‘ und dem ‚Wie‘ Gottes. In zwei Teilen beantwortet der Diener diese Fragen, die er nicht mehr über seine Erfahrungen ausführt, sondern mithilfe autoritativen Wissens. Anstelle des Erfahrungswissens, wie es noch im vorangehenden 50. Kapitel in den beiden Schlussexempeln herangezogen wurde, wird nun auf das Wissen der meister zurückgegriffen. Im 51. Kapitel dominiert so nicht nur Bonaventura, sondern das ganze Kapitel ist eine Verwebung von Zitaten, worauf die ständig wiederkehrende Inquit-Formel es sprichet… verweist. Auf die Frage der Tochter, was das ‚Wo‘ Gottes sei, antwortet er ihr mit einem ausführlichen Zitat, das folgendermaßen beginnt: Die maister sprechent, got der enhab enkein wa, er sie al in al. [...] Die selben maister sprechent och in der kunst Loyca, wan kom etwen in ein kuntsami eins dinges von sines namen wegen. Es sprichet ein lerer, daz der nam wesen der erst nam sie gotes. (176,5ff.) Das ‚Wo‘ Gottes wird zunächst als Allgegenwart bestimmt - als al in al -, wobei das Argument lediglich durch den ‚Traditionsverweis‘ eingeführt wird, „der Hinweis auf die sententia communis der ‚Meister‘ genügt zur Legitimation des Gedankens.“ 127 Ebenso allgemein wird der erste Gottesname angeführt, der als Sein bestimmt wird. Die darauf folgende Ausführung zum wesen [...] in siner luter einvaltekeit (176,9f.) ist das erste Zitat aus dem Itinerarium. Zur Sprache kommt „das primum cognitum, das Ersterkannte, das göttliche Sein, dessen Erkenntnis in unserer Vernunft beschlossen ist und ohne das wir nichts zu erkennen vermögen.“ 128 Das unmarkierte Zitat - der Name Bonaventura fällt kein einziges Mal - schließt mit einem weiteren Zitat, das ebenfalls ohne konkrete Zuweisung genannt wird: Hie umbe so sprichet ein wiser meister, daz sich daz oge únser bekentnús [...] 124 Judith Theben, Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts, S. 156ff. 125 Ebd., S. 169. 126 Aus theologischer Perspektive hat sowohl für das 51. als auch für das 52. Kapitel Markus Enders in einer ausführlichen Lektüre die theologischen Argumentationslinien nachvollzogen, Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, hier v.a. S. 209-235. Enders blendet die Verwebung der Zitate, also die quellenkritische Perspektive zugunsten einer kohärenten theologischen Lektüre weitgehend aus, begnügt sich beispielsweise für die Frage nach dem Anteil Bonaventuras mit einer knappen Fußnote. Dadurch erzeugt er den Eindruck einer sehr eigenständigen theologischen Abhandlung Seuses, womit die Spezifik der Kapitel - die Stimmen der Meister und die Rücknahme der Figuren Elsbeth und Diener - in den Hintergrund tritt. 127 Ebd., S. 209. 128 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 455. Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 287 halte z  dem wesene [...] als einer fledermus ogen gen dem klaren liehte der sunnen. (177,14ff.) 129 Innerhalb eines kurzen Abschnitts wurde bereits viermal das Sprechen der Meister aufgerufen. Während die Tochter vor der Ausführung zum göttlichen Sein durch das Bonaventurazitat dazu aufgerufen wurde, mit den inneren Ohren der Seele zu lauschen - nu t  dú inren oren uf diner sele und los eben (176,6) -, soll sie nun die inneren Augen öffnen: Nu t  dine inren ogen uf und sih an, ob du maht, daz wesen in siner einvaltigen luterkeit genomen, so sihst du geswinde, daz es von nieman ist und nit hat vor noh nah, und daz es weder innan noh von ussnan kein verwandelkeit hat, denn daz es einvaltig wesen ist. (177,21ff.) Das göttliche Sein wird „‚in seiner einfaltigen Lauterkeit‘ positiv bestimmt“, und zwar erneut mit einer - unmarkierten - Entsprechung aus dem Itinerarium. 130 Das Zitat wird aber nicht einfach in den Raum gestellt, sondern Elsbeth ist aufgefordert es in ihr Inneres aufzunehmen, sie soll durch ihre inneren Sinne vernunftmäßig zur Erkenntnis geleitet werden. Die Antwort auf die erste Frage nach dem ‚Wo‘ schließt mit der Stimme eines Meisters: Dar umb sprichet ein meister: got ist als ein cirkellicher ring, des ringes mitle punct allenthalb ist und sin umbswank niene. (178,12f.) 131 Nach der abschließenden, paradoxen Ringmetapher, die die Allgegenwart Gottes beschreibt und auflöst, scheint zwischen den vielen autoritativen Stimmen wieder Elsbeth auf. Sie sei nun darin unterwiesen, soweit es ihr möglich sei, dass Gott ist und wo Gott ist. Nun stellt sie erneut ihre letzte Frage: Nu wisti ich gern, wan er als gar ainvaltig ist, wie er da mit mug drivaltig wesen. (178,16f.) Der Diener entfaltet ihr daraufhin „ein das ‚Wie‘ Gottes erläuterndes Summarium christlicher Trinitätstheologie“. 132 Auch hier dominieren die Zitate und Übernahmen. Bonaventura wird erneut herangezogen, um den Grundsatz zu formulieren, dass „jegliches Wesen um so vielfältiger in seinem wirkenden Vermögen sei, je einfacher es an sich selber ist“. 133 Der Argumentationsgang von der sich selbst verströmenden und überströmenden Güte, von dem infliessenden und úberfliessenden g  te, daz got ist in im selb (178,21f.), 134 wird mit einem Meisterzitat abgeschlossen: Und sprechent die meister, daz an dem usflusse der creatur uss dem ersten ursprung sie ein cirkeliches widerb  gen des endes uf den begin. (179,7ff.) 129 Es handelt sich um die „aristotelische Fledermausmetapher“, ebd., S. 456. 130 Ebd., S. 457. 131 „Der ‚Meister‘, die den Satz zitieren, sind“, so Kurt Ruh, „viele. Seuse brauchte keinen nachzuschlagen, da ihn auch das ‚Itinerarium‘ zitiert“, ebd., S. 457, Anm. 75. Die Kreismetapher, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgends ist, wird im 53. Kapitel aufgegriffen (191,13f.). 132 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 224. 133 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 457. Vgl. auch Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 213: „Je einfacher etwas in sich selbst ist, desto einheitlicher und ungeteilter und damit desto stärker, desto kraftvoller vermag es - nach außen - zu wirken.“ 134 Die Formulierungen des höchsten Guts, das sich verströmt, geht ebenfalls auf das Itinerarium Bonaventuras zurück, ein Zitat, das bereits Bihlmeyer verzeichnet: „Itin. 6,2 (p. 463): summum igitur bonum summe est diffusivum sui“, S. 178, Kommentar zu Zeile 21-24. Figur und Textaneignung 288 Wieder taucht Elsbeth auf, die vorführt, wohin die Unterweisung in die Erkenntnislehre abzielt: wafen, ich swimm in der gotheit als ein adler in dem lufte! (180,5f.) Sie bleibt nicht unberührt, sondern zeigt, dass sie der Aufforderung des Dieners, ihre inneren Ohren und Augen zu öffnen nachgekommen ist. Elsbeth ist im Betrachten der Wahrheit des Gesagten transformiert worden; ihr Erkenntnisprozess, den sie vom Zeitpunkt ihrer Fragen bis zu ihrer Interjektion vollzogen hat, wird nicht gezeigt. Die Stimmen der Meister führen Elsbeths innere Sinne in die Gotteserkenntnis, mit ihrem emphatischen Ausdruck vollzieht der Text ihre Angleichung an Johannes, der für den Adlerflug der Erkenntnis steht. Und dieser taucht selbst am Ende eines langen Bogens aus Zitaten auf, die die Wahrheit der Gleichzeitigkeit von Dreifaltigkeit und Einfaltigkeit bestätigen. Nachdem von Augustinus über Dionysius bis Thomas die großen Autoritäten sich zu dieser Gleichzeitigkeit äußerten, spricht als letzte Stimme der hohgeflogen adler sant Johans (181,2f.). Der Adlerflug der Tochter bestätigt sich in dem des Johannes. Der Unterschied zum 50. Kapitel ist deutlich. Während dort zwar anfangs auf Aristoteles und Paulus referiert wurde, dann aber die Erfahrungen des Dieners im Zentrum der Vermittlung standen, taucht der Diener als Erfahrungsträger gar nicht mehr auf. Figur und Erfahrung tritt zurück. Was bleibt ist die Stimme, die als eigene Stimme, also als Stimme des Dieners oder als Stimme Elsbeths, aber zunehmend hinter die vielen Stimmen der Meister zurückgeht. Funktional gesehen sichert Seuse hier seine Lehre über die Aufnahme von Meisterzitaten ab. Gleichzeitig entsteht eine dichte Verwebung der Zitate, sodass die Stimme des Dieners überdeckt zu werden scheint und er selbst zurücktritt hinter die Stimmen der Meister. Als theologisches Phänomen ist das Anführen der Meisterzitate eine Einordnung in die jeweiligen Traditionen, wodurch sich immer auch eine Legitimierung ergibt. Als narratives Phänomen ist es das zunehmende Aufgehen der Figur in den Stimmen der Erkenntnislehre, den Stimmen des vernünftigen Zugangs zur Gottesschau - und zwar beider Figuren, sowohl der des Dieners als auch der Elsbeths. Beide Figuren tauchen als Erzählphänomen immer weniger auf. Das narrative Phänomen ist gleichzeitig gekoppelt an ein religiöses Phänomen, nämlich die Forderung, mit dem Fortschreiten der Unterweisung auch die Bilder zu lassen. 135 Für die Rezipientinnen wird nicht nur ein inhaltliches Wissen erschlossen, sondern über die Narration wird vollzogen, was immer gefordert wird: Das entwerden, die entbildung der Figuren wird vorgeführt, die in der Kontemplation der Weisheit der Meister sich selbst verlieren und, dem Adler Johannes gleich, schauend Gott finden. Doch das Kapitel schließt nicht mit der Überbildung im Zitat, mit einer erneuten Transgression, sondern mit einer Vorsichtmaßnahme. Die dialogische Figurenkonstellation dient einmal mehr dazu, Risiken beobachtbar zu machen. 135 Diese Forderung taucht nicht erst im 53. Kapitel auf. Auch im 33. Kapitel erklärt der Diener Elsbeth explizit, sie solle sich Heilige zum Vorbild nehmen, die sich erst nach dem leidenden Vorbild Christi richteten, um schließlich alle Bilder zu transgredieren. Elsbeth solle also an den Vorbildern lernen, wie in dú bild ab vielin (98,16). Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 289 Und so fragt die Tochter am Ende nach den Freigeistern, die alles verneinten, was der Diener an Aussagen über Gott zusammengestellt habe. Diese Menschen würden stattdessen danach streben, entg  tet und entgeistet zu werden und Gott als schedliches mitel, als zu überwindendes Hindernis zwischen ihnen und der Wahrheit abzulegen. Diese Position, die auch im BdW im Dialog zwischen dem junger und dem namenlosen Wilden diskutiert wird, wendet die Vollkommenheitslehre ins Häretische. Aufgegriffen wird dabei die sogenannte Häresie des ‚Freien Geistes‘, die in der älteren Forschung sektenartige Gruppierungen zugeschrieben wurde. Seit längerem bereits gilt diese Position, die eine Sekte in institutionalisierter Form annimmt, als nicht haltbar. Martina Wehrli-Johns geht davon aus, dass es sich vielmehr um ein „theoretisches Konstrukt der Inquisition handelt“. Dieses Instrument ließ sich „im politischen und gesellschaftlichen Diskurs zur Diffamierung der Gegner“ einsetzen. Unter anderem über das Konzilsdekret Ad nostrum wurde überhaupt erst eine Gruppe der Häretiker vom ‚Freien Geist‘ geschaffen, indem „hier erstmals explizit als Häretiker angesprochen wird, wer sich ‚auf der Stufe der Vollkommenheit und im Geist der Freiheit‘ wähnt.“ 136 Dass die spekulativen Gedankengänge durchaus zu Missverständnissen führen konnten, legt ja bereits das 33. Kapitel nahe, in dem die Tochter davor gewarnt wird, ungeübt mit der schwierigen Materie umzugehen. In der Vita wird im 51. Kapitel diese Gefahr genauer ausgeführt, indem die häretische Position, die sich aus dem Missverstehen der begrifflichen Spekulation ergibt, aufgegriffen wird. Der Diener wehrt diese Aussage selbstredend ab, sie sei falsch na gemeiner hellung (181,31). Stattdessen setzt er Elsbeth auseinander, wie der Mensch auf die richtige Art entgeistet werden soll. Wenn der anfangende Mensch nämlich erkannt hat, dass die Seele unsterblich ist, trennt er sich vom sterblichen Leib und richtet alle inneren Betrachtungen auf den úberweslichen geiste (182,20). 137 Aus dieser Betrachtung vollzieht sich das Entsinken des geschöpflichen Geistes, der im Anblick des úberweslichen geistes seine eigene 136 Martina Wehrli-Johns, Mystik und Inquisition. Die Dominikaner und die sogenannte Häresie des Freien Geistes, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 223-252, hier S. 224. Ihre Überlegungen zur Häresie vom ‚Freien Geist‘ differenziert sie weiter in Martina Wehrli-Johns, Die kanonistischen Kommentare zu den Beginendekreten von Vienne 1311 und ihre Auswirkung auf die Verfolgung der Beginen und Begarden im 14. Jahrhundert, in: Mystik, Recht und Freiheit. Religiöse Erfahrung und kirchliche Institutionen im Spätmittelalter, hg. von Dietmar Mieth und Britta Müller-Schauenburg, Stuttgart 2012, S. 38-50. Der Sammelband, in dem der Aufsatz erschien, setzt sich intensiv mit den institutionellen und rechtlichen Voraussetzungen auseinander, die letztlich zu dem Ketzerprozess gegen Marguerite Porete und dem Inquisitionsprozess gegen Meister Eckhart führten. 137 Die strikte Trennung zwischen Leib und Seele führt auch eine Glosse an, die die beiden Dekrete Cum de quibusdam mulieribus und Ad nostrum erläutert, die Anfang des 14. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der Häresie vom ‚Freien Geist‘ entstanden und in mehreren Überarbeitungsschritten letztendlich zum Beginenverbot führten. Als Irrtum Figur und Textaneignung 290 Unzulänglichkeit erkennt. Die Bewegung führt von der Betrachtung der Unzulänglichkeit des Selbst zum Aufgeben des Selbst und gipfelt im Pauluszitat, Gal 2,20, das auch im BdW verwendet wird: und in der ingenomenheit kunt der geist neiswi in sin selbes vergessenheit und verlornheit, als Paulus sprach: ‚ich leb nút me ich,‘ und Cristus sprach: ‚selig sint die armen des geistes.‘ Alsus blibet der geist nah siner wesentheit, und wirt entgeistet nah besizlicher eigenschaft dez sinsheit. (182,25ff.) Elsbeth kann am Ende ihres Weges den Unterschied zwischen dem richtigen und falschen Entsinken des Selbst verstehen, hat ihr doch der Diener das ‚Licht der Unterscheidung‘ bereits gewiesen. Wäre Elsbeth aber zu Beginn des 33. Kapitels nicht vom Diener gelehrt worden, hätte sie also weiterhin ihre eigenen, unangeleiteten Studien betrieben, wäre sie Gefahr gelaufen, wie das ‚namenlose Wilde‘ des BdW aus der Vollkommenheitslehre häretische Schlüsse zu ziehen. Seuse führt in seinen Texten zwei dialogische Versuchsanordnungen vor, die dazu dienen, einerseits die Positionen Eckharts vor häretischer Vereinnahmung zu schützen, 138 andererseits die Vollkommenheitslehre in Nachfolge Eckharts nicht nur zu vermitteln, sondern über die Figuren und Dialoge auch performativ zu erschließen und ihre Umsetzung sichtbar zu machen. Wie das 50. Kapitel durch die zwei Exempel begrenzt wird, werden die spekulativen Ausführungen des 51. Kapitels durch die Unterscheidung von wahrem und falschem entgeisten gerahmt. Immer wieder ist der Text bemüht, Transgressionsbewegungen vorzuführen, um sie dann in den Rezeptionsrahmen zurückzubinden und dort ihre Grenzen zu diskutieren. Gleichzeitig aber wird in den Dekreten ein falsches Freiheitsverständnis angeführt, nämlich dass sich „diejenigen, ‚die sich in dem vorgenannten Grad der Vollkommenheit und dem Geist der Freiheit befinden, nicht menschlichem Gehorsam unterworfen und keine Gebote der Freiheit gebunden‘ seien“, Martina Wehrli-Johns, Die kanonistischen Kommentare, S. 42. Der Glossator Johannes Andreae kommentiert die häretisch verstandene Paulus- Stelle 2 Kor 3,17 (‚wo der Geist Gottes, dort ist die Freiheit‘, vgl. Wehrli-Johns, S. 42) und führt aus, dass der Körper stets der kirchlichen und weltlichen Herrschaft unterworfen bleibe, da „libertas [...] ein Freisein von der Knechtschaft der Sünde, nicht jedoch ein Freisein von der Herrschaft der Prälaten der Kirche oder weltlicher Fürsten“ bedeute, ebd. Freiheit ist also nur die Freiheit der Seele - und die Argumentation bei Seuse scheint davon nicht allzu weit entfernt, auch wenn er das rechtliche Problem des Gehorsams hier nicht einblendet. Vor allem aber im BdW ist der Begriff der friheit prominent und in Abgrenzung zur Häresie des ‚Freien Geistes‘ zu setzen, vgl. Loris Sturlese, Einleitung, in: Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Daz b  chli der warheit, S. LIII-LXI. 138 Ebd. weist Loris Sturlese ausdrücklich darauf hin, dass das BdW, vor allem aber das siebte Kapitel eine Verteidigung der Thesen Eckharts sind: „Wie bereits oben gezeigt wurde, handelt es sich um vier echte Thesen Eckharts, die Seuse aus der Bulle ‚In agro dominico‘ entnahm. Indem er sich mit der häretischen Interpretation der Thesen Eckharts auseinandersetzte, die das Wilde vortrug, erkannte er deren Möglichkeit an und trug implizit den pastoralen Sorgen der Verurteilung Rechnung. Entschieden bestritt er jedoch gleichzeitig jeden Legitimitätsanspruch einer solchen Deutung von Eckharts Lehre und beharrte auf der Verteidigung ihres orthodoxen Charakters und ihres hohen spekulativen und ethischen Werts“, S. LVf. Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 291 nimmt die Präsenz der Figuren, wie oben anhand des Zitatengewebes gezeigt, deutlich ab. Über Gott zu sprechen erfordert nicht mehr die Erfahrungen des Dieners, sondern die Weisheit der Meister. 4.5.3 Performative Einheit im ‚Wo‘ Während das 50. Kapitel die Gotteserkenntnis über das Betrachten der Schöpfung entfaltet und das 51. Kapitel eine Erkenntnislehre vor der Folie der Meister entwickelt, führt das 52. Kapitel die Bewegung in die Einheit vor. In einem großen Bogen entwickelt der Diener hier Annäherungen an die göttliche Einheit, in die der Geist entsinken soll. Durch Wiederholungen und eine topologische Struktur sowie ein sich immer wieder verdichtendes terminologisches Vokabular lassen sich sprachliche Vollzüge feststellen, die die Bewegung nicht nur diskursiv erläutern, sondern auch performativ ausstellen und nachvollziehbar machen. Ihren Anfang nimmt die Bewegung mit der Frage der Tochter: ich wústi nút als gern uss der schrift, als den úberswenken sin, wa und wie eins wolge  pten menschen bescheidenheit in der tiefsten abgrúndkeit uf sin h  hstes zil enden s  lte, also daz geleptú enpfindung mit der scrift meinunge ein geliches ustragen gewunne. (184,4ff.) In Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift möchte sie wissen, wo und wie die „Einsicht eines (im geistlichen Leben) wohlerfahrenen Menschen im tiefsten (göttlichen) Abgrund als seinem höchsten Ziel enden wird“. 139 Ausgangspunkt des 52. Kapitels ist die Frage nach der Vollendung menschlicher Erkenntnis in Gott. Sie greift damit ihre Fragen nach dem Wo und Wie der Gottheit auf. Davon ausgehend entwickelt der Diener eine Topologie der Vereinigung. Er greift den räumlichen, den topologischen Aspekt heraus, die Frage nach dem ‚Wo‘, dem Ort, an dem der tiefste Abgrund zum höchsten Ziel wird. Das ‚Wo‘, das bereits mit der Eingangsfrage auftaucht, wird zum strukturierenden Moment des ganzen 52. Kapitels. Der Diener beginnt, wie die Tochter erbeten hat, mit einer Erläuterung, die von der Schrift ausgeht. Ausgangspunkt für den gesamten Gedankengang ist Joh 12,26: Ein s  licher edelr mensch, der nimet war mit einvaltiger m  ssekeit dez sinnenrichen wortes, daz der ewig sun sprach an dem ewangelio: ‚wa ich bin, da sol och min diener sin.‘ (184,11ff.) Bemerkenswert ist dieses Zitat aus zweierlei Hinsicht. Zum einen greift es die Selbstbezeichnung des Dieners auf, der im dritten Kapitel als diener der ewigen wisheit seine religiöse Identität begründete. Hier nun steht eine Vollendung dieser Dienerschaft, denn der edle Mensch, also derjenige, der bereits im höchsten Ziel eingegangen ist, wird von Christus selbst als Diener bezeichnet - die religiöse Identität des Dieners der ewigen Weisheit vollendet sich als Diener Christi. Zum anderen aber ist es das ‚Wo‘, der Ort, an dem diese Vollendung stattfindet. Christus selbst wird in diesem Zitat zum Ort, wo der Diener anwesend werden muss. Diesen Vollzug, die Anwesenheit in Christus, führt der Diener aus, indem er 139 Übersetzung zitiert nach Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 460. Figur und Textaneignung 292 das 13. Kapitel aufgreift, wo ihm das Leiden Christi als Weg in die reine Gottheit aufgezeigt wurde. Konsequent wird dieser Weg über die Topologie des ‚Wo‘ entwickelt: Wer nu daz wa, daz der sun nam nah der menschheit in sterbender wise an sinem crúze, wer daz streng wa in nahvolg nút hat geschúhet, daz ist wol múglich nah siner gehaiss, daz der daz lustlich wa siner súnlichen blossen gotheit werde in vernúnftiger fr  denbernder wise niessende in zit und in ewikait. (184,13ff.) Das ‚Wo‘ des Leidens und Sterbens mit Christus schlägt um in das ‚Wo‘ des Gottesgenusses in der Gottessohnschaft. Die knapp geschilderte Bewegung vom Leiden in den Genuss erläutert der Diener nun ausführlich, eingeleitet mit der emphatischen Frage: Eya, wa ist nu daz wa der blossen g  tlichen sunheit? (184,20) Das ‚Wo‘ der göttlichen Sohnschaft wird mit einer auffälligen Verdichtung abstrakter Bezeichnungen ausgeführt, die sprachlich wegführen von der Konkretheit - des wa, daz der sun nam nah der menschheit - hin zur Abstraktheit - dem wa siner súnlichen blossen gotheit. Es tauchen auf ainikeit, nihtekeit, stilheit, driheit, selbsheit, istekeit, wiselosekeit, wurklichkeit usw. Statt narrativer Konkretheit führt die abstrakte Sprache die jeglicher Konkretisation enthobene Gottheit vor, umkreist das ‚Wo‘ mit immer neuen Bezeichnungen. In diese Abstraktion nimmt die Gottheit auch den Geist auf, denn in der vinstren wiselosekeit verget ellú menigvaltekeit, und der geist verlúret sin selbstheit; er vergat na sin selbs wurklichkeit (184,25ff.). Indem der Geist aber das Selbst verliert, also in die Abstraktion übergeht, wenn man auf der Sprachebene bleibt, ist das höchste Ziel erreicht: Und dis ist daz h  hste zil und daz endlos wa, in dem da endet aller geisten geistekeit, hier inne alle zit sich verlorn han ist ewigú selikeit. (185,2ff.) Durch die Wiederholung des ‚Wo‘ vollzieht der Text eine Bewegung vom ‚Wo‘ der leidenden Menschheit zum zunehmenden abstrakten ‚Wo‘ der göttlichen Sohnschaft. Nach dem höchsten Ziel des endlosen ‚Wo‘ wird neu eingesetzt, indem „Seuse nun wiederum ein trinitätstheologisches ‚Summarium‘ [einfügt], um die immanenten Strukturen des Prinzips als jenen Bereich noch besser kenntlich zu machen, in den hinein sich der menschliche Geist in der mystischen Einung ‚verliert‘.“ 140 Mit Augustinus wird entfaltet, dass „‚Einheit der Natur‘ und ‚Dreiheit der Personen‘ nicht als getrennte oder abtrennbare Bestimmungen des Prinzips mißverstanden werden [dürfen], vielmehr ‚erstreckt‘ sich die Einheit der Natur auf alle drei Personen und liegt umgekehrt die Wesensidentität der drei Personen in der Einheit der (göttlichen) Natur begründet.“ 141 Diese Gleichzeitigkeit von Einheit und Dreiheit, von drei Personen und Wesensidentität, wird erneut durch eine Strategie der Verdichtung nicht nur erklärt, sondern auch performativ aufgerufen. Was Enders als theologisches Konzept extrahiert, findet im Text selbst seine sprachliche Entsprechung. Denn in dem relativ kurzen Abschnitt wird so häufig das Wort einikeit und driheit aufgerufen, dass aus der Kollision der beiden Wörter selbst ein Effekt der 140 Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 226. 141 Ebd. Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 293 Gleichzeitigkeit resultiert. Elf Belegstellen für einikeit und neun Belegstellen für driheit, zumeist in den selben Sätzen und parallelsyntaktisch aufeinander bezogen, entfalten nicht nur auf der Ebene diskursiver Erläuterungen eine Evidenz, sondern auch auf der Ebene der klanglichen Wiederholung, also auf einer performativen Ebene. Einheit und Dreiheit, die unentwegt miteinander in Berührung kommen, rufen eine Gleichzeitigkeit trotz Differenz hervor. Dieser Engführung aber, dem Versuch einer Versprachlichung der Trinität, sind „wegen der Einfaltigkeit der Erstursache“ 142 sprachliche Grenzen gesetzt: Wie aber dú driheit ein sie, und dú driheit in der einikeit der natur ein sie, und doch dú driheit usser einikeit sie, daz mag man nit gew  rten von dez tiefen grundes einvaltekeit. (185,22ff.) 143 Genau auf die Einfaltigkeit aber referiert das unmittelbar folgende alhie her. An diesen Ort, das alhie, schwingt sich der „Geist, dem als erste Erkenntnis das Wissen um Gott als Prinzipium eignet“. 144 Der Ort wird aber noch genauer umschrieben, der Geist schwingt sich nämlich alhie her in dis úbervernúnftig wa (185,26). Vom Selbstverlust im endlos wa, was der erste Abschnitt entwickelt hat, bewegt sich der Geist in das úbervernúnftig wa, in die nicht mehr zu versprachlichende Einheit. Aus dem tiefen Grund findet ein Wechsel in das ‚Wo‘ jenseits der menschlichen Erkenntnis statt. In diesem Bereich, der über der Vernunft liegt, wechselt wieder die Sprache, denn statt der Verdichtung von Abstrakta dominieren nun Metaphern, die die Bewegung des Geistes in Höhe und Tiefe ausloten: Alhie her in dis úbervernúnftig wa erswinget sich der geist geistende, und etwen von endloser h  hi so wirt er fliegende, denn von grundloser tiefi so wirt er swimmende von den hohen wundern der gotheit. (185,26ff.) Hier taucht auch der bei Seuse selten verwendete Begriff gebrúchlichkeit auf, der Genuss Gottes. Im Gottesgenuss, der die Topologie der Höhe und Tiefe ganz auslotet, herrscht eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Bewegung und Ruhe. Denn trotz der Bewegung steht der Geist hier in unverwandtem Blick auf die göttlichen Wunder: ansterende dú g  tlichú wunder. (186,1f.) 145 142 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 461. 143 Friedrich Vollhardt, Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes. Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2009 (Germanistische Symposien. Berichtsbände), S. 89-123, verweist darauf, dass Seuse die Abgrund- Metapher als den dreieinigen Gott kennzeichne, wie er „in seinem die Lehre Eckharts rechtfertigenden Buch der Wahrheit ausdrücklich festhält.“ Eckhart und Seuse, der die grunt- oder abgrunt-Metapher bereits nicht mehr in ihrer paradoxen Sprengkraft verwendet, wurden eventuell von Jakob Böhme rezipiert, der aber „einen anderen, deutlich nachreformatorischen Abgrund: den des Gewissens und der Sündhaftigkeit, der Angst vor der Realität des Bösen [...] und einer Begierde, im Glauben wiedergeboren zu werden durch die Vereinigung mit Christus“ einführt, S. 119. 144 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 461. 145 Kurt Ruh interpretiert diese Stelle als zwei Phasen. Während mit der Bewegung das „Einschwingen unseres Geistes in die göttliche Allgegenwärtigkeit“ gemeint sei, wird die „Schau der trinitarischen Wunder [als] ein unverwandtes Ruhen“ verstanden, S. 461. Figur und Textaneignung 294 Die Bibelstelle Joh 12,26, von der die Erläuterungen zum ‚Wo‘ der Vereinigung ausgingen, wird erneut aufgegriffen: Daz selb vernúnftig wa, da von geseit ist, da ein bewerter diener sol dem ewigen sune mitwonend sin, mag man nemmen die istigen namlosen nihtekeit. (187,9f.) Ausgegangen wird nicht mehr von dem úbervernúnftig wa, sondern vom vernúnftig wa. Während ersteres über die Metaphern und die Paradoxie von Bewegung und Ruhe Annäherungsformen an den Geist in der Einheit entwirft, geht letzteres ‚Wo‘ nun wieder vom menschlichen Geist aus, der für die Einheit keinen Ausdruck finden kann: Und dú einikeit heisset dar umb ein niht, wan der geist enkan einkein zitlich wise finden, waz es sie. (187,12ff.) Aus der Perspektive der zeitlich-irdischen Existenz kann der Geist nicht wahrnehmen, was die Einheit ausmacht. Doch wenn er in dieser Einheit, diser verklerten, glanzenrichen dúnsterheit (187,17f.), der „Dionysischen Gotteserfahrung in der Dunkelheit (in caligine)“, 146 wohnhaft wird, verliert er alles, was ihn von Gott trennt. In einem breit entfalteten Gang des Selbstverlustes und der Überformung in der Einheit führt der Diener den Geist immer weiter aus sich selbst heraus, wozu Seuse Teile aus Bernhards De diligendo Deo zitiert. 147 Wieder fällt die Verdichtung eines dominierend abstrakten Vokabulars auf: verlornheit sin selbsheit; in diser entsunkenheit so verget der geist; vergangenheit nah ire selbes ingenomenheit; verlornheit, da si entsezzet wirt des irsheit in dez sinsheit na ir eigen unwússentheit - alles Begriffe, die auf den Zustand des sich selbst nicht mehr wahrnehmenden Geistes abzielen, sind es doch Abstrakta, die keinen Prozess oder Vorgang anzeigen, sondern ein Resultat. Im Zentrum der Ausführung steht die Überformung des Geistes in des nihtes blossheit: Es wirt der geist mit des g  tlichen liehtrichen wesens kraft geruket úber sine natúrlich vermugentheit in diss nihtes blossheit (188,8f.). In dieser Erkenntnis wird der Geist losgelöst, sie entsezet den geist (188,13f.). Die Doppelbewegung aus Selbstverlust und Eingang in die Einheit, die als Nichts wahrgenommen und versprachlicht ist, wird im letzten Satz syntaktisch abgebildet: Und daz geschah im do, do sich der geist an im selber hat gekeret von sin selbs und aller dingen gewordenlichkeit in die blossen ungewordenheit der nihtekeit. (188,17ff.) Die Bestimmung Gottes als Nichts geht auf Dionysius Areopagita zurück, der auch die negative, apophatische Theologie ins Zentrum seiner Lehre von der Gotteserkenntnis stellte. 148 Und aus der dionysischen Der Text aber evoziert eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Bewegung und Ruhe, da explizit ein Konzessivsatz mit dennoh gebildet wird. Obwohl der Geist in Bewegung ist, bleibt er hie, an dem Ort des Gottesgenusses, auch unbewegt in der Ruhe der Gottesschau. Zum Genuss in der Frauenmystik arbeitet Andrea Zech, Grenzüberschreitendes ‚Genießen Gottes‘ in der europäischen Frauenmystik im 13. Jahrhundert, in: Freiburger Universitätsblätter 188 (2010), S. 67-80. 146 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, S. 460. 147 Seuse führt Sant Bernhart (187,19) explizit an. Nachgewiesen sind die Zitate bereits durch Karl Bihlmeyer in Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 187, Anm. zu Zeile 17ff. 148 Die Benennung Gottes als ewiges Nicht findet sich auch im BdW, S. 6,16ff. Loris Sturlese, Einleitung, hat die Spannung zwischen einer negativen und positiven Theologie herausgearbeitet und als eine „historische und theoretische Verbindungslinie zwischen Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 295 Bestimmung des göttlichen Nichts heraus springt der Text wieder auf die Ebene der negativen Theologie, des apophatischen Sprechens. Denn das Nichts ist ein úberg  tliche[s] wa, und dieses lässt sich nicht mehr mit einer Begriffssprache fassen, sondern wird mit Metaphern umschrieben: In disem wilden gebirge des úberg  tlichen wa ist ein enpfintlichú vorspilendú allen reinen geisten abgrúntlichkeit, und da kunt si 149 in die togenlichen ungenantheit und in daz wild enpfr  mdekeit. (188,20ff.) Die Metapher von Gott als Gebirge findet sich dabei ebenso bei Dionysius wie die Beschreibung Gottes als Geheimnis. 150 Und noch einmal wechselt der Text von der Metaphorik des unnennbaren wa hin zum Geist, dessen Sterben als Voraussetzung für den Eingang in das göttliche Dunkel als letzte Steigerung des Selbstverlustes ausgeführt wird. Denn die Gotteserkenntnis erfolgt nicht von sin selbsheit, also aus eigenem Vermögen, sondern die göttliche Einheit zieht den Geist zu sich - aufgegriffen wird wieder das Wohnen des Geistes in Gott als einer Wohnstatt, die wiederum über die Sprache hinausgeht: daz ist an sin rehten úbernatúrlichen wonenden stat, da er wonet úber sich selb in dem, daz in gezogen hat. (189,9ff.) In dieser Wohnstatt in der Einheit vollzieht sich die mors mystica: Da stirbet der geist al lebende in den wundern der gotheit. (189,10f.) 151 Mit einer Lichtmetapher wird die Blendung des Geistes beschrieben, der durch die Einstrahlung in die Finsternis der Gottheit entsinkt. Mit dem entgeisten steuert das 52. Kapitel auf den Abschluss der Topologie des ‚Wo‘ zu. Die Lichtmetapher und das darauffolgende Entsinken bilden den Höhepunkt der Seligkeit und den ersten Höhepunkt dieses Kapitels: Von dem inblike entsinket der geist im selben und aller siner selbsheit, er entsinket och der wúrklichkeit siner kreften und wirt entwúrket und entgeistet. Und daz lit an dem inschlag, da er uss sin selbsheit in daz fr  md sinsheit vergangen und verlorn ist, na stillheit der verklerten glanzenrichen dúnsterheit in der blossen einvaltigen einikeit. Und in disem entwistem wa lit dú h  hstú selikeit. (189,19ff.) Die Bewegung des Lichtes, die von der göttlichen Einheit ausgehend den Geist negiert - er entsinkt Dionysius und Eckhart“ gedeutet, S. XXXIV. Zur negativen Theologie bei Dionysius sowie zu seiner Lehre der Gotteserkenntnis vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, S. 42-53. 149 Seuse wechselt zwischen dem männlichen Pronomen für geist und dem weiblichen Pronomen für sele. 150 Die Metapher vom Gebirge weist auch Karl Bihlmeyer nach, Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, S. 188, Anm. zu Zeile 20: „Das Gleichnis vom Gebirge nach II Mos 19,3 bei Dionysius, De myst.theol. 1,3“. Mose wird bei Dionysius als Beispiel „des alttestamentlichen Prototyps mystischer Gotteserkenntnis“ angeführt, Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, S. 61, wobei die Textstelle bei Dionysius auffallende Parallelen zur Vita aufweist. 151 Diese Textstelle zitiert Alois Haas, Mort mystique, in: ders., Geistliches Mittelalter, Freiburg/ Ue. 1984, S. 477-500, hier S. 492f. Seuse habe den Tod unter den verschiedensten Aspekten behandelt, vor allem unter dem sehr konkreten Aspekt der Vorbereitung auf das Sterben. Aber auch der mystische Tod taucht auf: „Seuse cependant connaît aussi la mort proprement mystique, la transformation passive de l’âme“, S. 493. Figur und Textaneignung 296 und wird der Wirksamkeit seiner Kräfte und seines Geistes beraubt -, wird verbunden mit der komplementären Bewegung des Geistes als inschlag, als Entrückung in das andere Sein. Das ganz andere, göttliche Sein wird wieder dionysisch umschrieben mit der Metapher der glanzvollen Finsternis, die die Einheit als unfassbar bezeichnet. 152 Die von der Sprache nicht mehr fassbare Einheit ist das letzte ‚Wo‘, dem sich die Vita wiederum nur als Negation, als weiseloses ‚Wo‘, annähert. So umkreist das 52. Kapitel das ‚Wo‘ der Einheit, das vom Ort der gemeinsamen Wohnstatt von Seele und Christus bis in die unbestimmbare Tiefe und Dunkelheit apophatischer Theologie führt. Hinter der terminologischen Komplexität und dem rhetorischen Glanz der Durchführungen ist die Figur des Dieners immer mehr verschwunden. Während sie in den vorherigen Kapiteln durch die regelmäßigen Fragen und Einwürfe der Tochter zurückgebunden wurde an die Rezeptions- und Unterweisungssituation, vergisst man in den immer neuen Bewegungen hin zum nicht mehr fassbaren ‚Wo‘, wer eigentlich spricht. Die Vita führt dadurch nicht nur die mystische Vereinigung in Theorie und Unterweisung aus, sondern zeigt zugleich, wie die Figur aus ihrer Konkretheit in die Abstraktion der Sprache eingeht. Während das 50. und das 51. Kapitel Exempel und Unterscheidungen aufnehmen, also auch weiterhin die praktische Seite der Vervollkommnung präsent bleibt, wendet sich das 52. Kapitel ausschließlich der göttlichen Seite zu, im fast völligen Verschwinden des Erzählens und des Dialogs. Am Ende tauchen beiden Figuren noch einmal auf, um im höchsten Überflug - so lautet die Überschrift des 52. Kapitels: Von dem aller h  hsten úberflug eins gelepten vernúnftigen gem  tes - die Überformung in der Wahrheit des Wortes narrativ abzubilden. Elsbeth, die nur zu Anfang des Kapitels mit der Ausgangsfrage nach dem ‚Wo‘ der Vereinigung in Erscheinung trat, gerät aufgrund der von der Sprache nicht fassbaren Einheit in Sprachnot. Eya, eya, wunder! (190,3) ist ihre Reaktion auf das weiselose ‚Wo‘, den Ort der Vereinigung. Das göttliche Wunder als über der Sprache stehendes Geheimnis wird den letzten Teil vollenden. Denn noch ist Elsbeths Eingangsfrage nicht vollständig beantwortet, da sie nicht nur nach dem ‚Wo‘ des tiefsten Abgrundes als höchstes Ziel gefragt hat, sondern auch danach, wie man dorthin gelangen könne. Um diese Frage zu beantworten spricht nicht mehr der Diener, sondern er lässt stattdessen Dionysius selbst reden: dar z  lan ich entwúrten den liehten Dionysius. (190,3f.) Es spricht nun im Text Dionsyisus selbst, der „im Bewußtsein des Mittelalters [...] der gefeierte Vertreter der via negativa“ ist. 153 Schritt für Schritt wird der Aufstieg beschrieben, das Kennzeichen der negativen Theologie. Denn wer in die verborgen togenheit (190,5f.) kommen 152 Die Metapher des ‚überlichthaften Dunkel‘ bei Dionysius grenzt Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, gegen die vereinfachende Annahme einer Paradoxie ab, S. 65: „Das ‚überlichthafte Dunkel‘ kann von da aus weiter bestimmt werden. Es ist natürlich nicht falsch, es als ‚paradox‘ zu bezeichnen, nur führt der rhetorische Terminus technicus keineswegs zur Sache, sondern deckt sie eher zu. Entscheidend ist, daß das ‚Überlicht‘ der apophatischen Theologie mit der Dunkelheit der Henosis zusammenfällt.“ 153 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1, S. 53. Das ‚Entsinken‘ der Figuren (Kap. 50-52) 297 will, muss alles fallen lassen, um in die einvaltigen einikeit einzudringen. Nachdem aus der Perspektive des Menschen beschrieben wurde, was man alles fallen lassen muss - äußere und innere Sinne, die Tätigkeit der Vernunft als Reflexion des Denkens 154 -, wendet sich der Blick zum göttlichen Dunkel: mit einem blossen abzuge des grundlosen, einvaltigen, reinen gem  tes, hin in den úberweslichen widerglast der g  tlichen vinstri. (190,11f.) In einer Flut an úber- Bildungen wird Gott als das über allem stehende Sein formuliert. In der úberweslichen drivaltekeit der úberg  teten gotheit, in dem togenlichen, úberunbekanten, úberglestigen, aller h  hesten gibel (190,14f.), am höchsten ‚Wo‘ vollendet sich der gelassene Geist im göttlichen Wunder: da h  rt man mit stillsprechendem swigene wunder, wunder (190,16). Das wiederholte Wunder vollzieht sich in der úberliehten dunklen vinsterheit, daz da ein úberoffenbar liehtriche schin ist, in dem da al widerlúhtet, und daz die ungesihtigen vernunft úberfúllet mit den unbekanten, ungesihtigen, úberglestigen liehten. (190,17ff., alle Hervorhebungen S.B.) Die Wunder der über der Sprache stehenden Gottheit gewinnen durch die ständige Wiederholung Evidenz, da die hyperbolischen úber-Bildungen das Denken immer wieder an seine Grenzen führen, sodass die Transgression der Erkenntnis ihre sprachliche Entsprechung findet. Das Kapitel endet nicht, wie die vorhergehenden Kapitel, mit einem Dialog zwischen Diener und Elsbeth, sondern in einer Rede des Dionysius an seine beiden Schüler, in der die Sprache selbst an ihre Grenzen geführt wird. Die úber-Bildungen, die die Gottheit umkreisen, lassen sich verbinden mit einem prominenten Spruch des 49. Kapitels: Ein gelassener mensch m  ss entbildet werden von der creatur, gebildet werden mit Cristo, und úberbildet in der gotheit. (168,9f.) Die Überbildung konvergiert mit den úber-Bildungen, das menschliche gem  t, das in die göttliche Dunkelheit eindringt, wird auch sprachlich an die Gottheit angeglichen. In der Lektüre wird so für die Rezipientinnen selbst die Bewegung weg von den Figuren und hinein in die Gottheit auf der Ebene sprachlicher Ästhetik nachvollziehbar. 155 Dionysius selbst formuliert den Aufstieg der Seele, die alles fallen lässt, um in die göttliche Dunkelheit einzugehen. In diesem letzten Abschnitt des 52. Kapitels wird ausgeführt, was Niklaus Largier als philosophia spiritualis beschreibt: „Philosophie wird zur philosophia spiritualis, wo die Vernunft am Endpunkt ihres naturhaften Erkennens - der mit der wahren Gelassenheit eins ist - ihre Begrenztheit und Endlichkeit wahrnimmt. Damit verstummt sie, 154 Zu den Stufen vgl. Markus Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, S. 233. 155 Vgl. Susanne Köbele, ‚Ausdruck‘ im Mittelalter? Zur Geschichte eines übersehenen Begriffs. Mit Überlegungen zu einer ‚emphatischen Ästhetik‘ der Mystik, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin/ New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 61-90, hier S. 86f.: „Der von mir vorgeschlagene Begriff ‚emphatische Ästhetik‘ erfasst eine spezifische sprachliche Intensität, in der religiöse und ästhetische Funktion von Texten aufs engste verschränkt sind.“ Köbele verweist darauf, dass Seuse „auf Eckharts Einheitsemphase mit Unterscheidungsemphase reagiert“, S. 87. Eine solche Unterscheidung wird auch sichtbar, wenn Seuse die Vita nicht in der ‚Text-Ästhetik‘ enden lässt, sondern mit einer Synthese im 53. Kapitel. Figur und Textaneignung 298 denn mit Ps.-Dionysius Areopagita faßt Seuse den Endpunkt des Aufstiegs als Dunkelheit und als Ort des Verstummens, wo alle Positivität der Vernunft erlischt.“ 156 In der Vita lässt sich die dionysische Theologie explizit an dieser Stelle festmachen: Die Figuren verstummen in der lichtreichen Finsternis, die in der Sprache ausgeführt wird. 4.6 Der vervielfältigte Textschluss (Kap. 53) Doch die Vita endet nicht mit der Überformung der Figuren durch die Rede der dionysischen, negativen Theologie. Sie endet nicht mit der Entgrenzung der Sprache und dem Verstummen der Figuren in der göttlichen Dunkelheit. Im Gegenteil, sie endet mit der Bitte um Komplexitätsreduktion. Im 53. Kapitel werden Phänomene sichtbar, die den Text abschließen und die Transgressionsbewegung wieder in die Vermittlung zurückbinden. Zwei Formen des Abschlusses sind besonders hervorzuheben: Zum einen die angesprochene Komplexitätsreduktion, die sich in einem Raster und in der Wiederaufnahme des Strukturmodells aus dem Prolog zum Exemplar realisiert. Zum anderen schließt der Text nicht nur mit diesen schematisierenden Darstellungen, sondern auch mit einer biographischen Klammer, die den Rezipientinnen ein Erfüllungsversprechen macht. Nachdem das 52. Kapitel fulminant geendet hat, bittet Elsbeth den Diener darum, die komplexen Ausführungen zusammenzufassen. Sie bestätigt, dass der Diener kenntnisreich von der togenheit der blossen gotheit, von des geistes usgeflossenheit und wideringeflossenheit (190,26f.) geredet hat, sie bittet nun aber darum, dass er ihr die togen sinne mit bildgebender glichnus und bildlicher rede besser begreiflich mache. Die Ausführungen des Dieners zum Status der bildlichen Rede gehören sicherlich zu den prominentesten Textstellen der Vita und zu den zentralen Aussagen ihrer Bildtheorie. Thomas Lentes stellt hier eine positive Aufwertung der Bilder heraus: „Die bloße Gottheit entzieht sich aller Beschreibung; um sich ihr aber überhaupt annähern zu können, bedarf es der immer schon bildhaften Rede.“ 157 Der Diener weist darum zuerst auf die Darstellungsproblematik hin, die sich ergibt, wenn man sich der Bildlosigkeit Gottes mit Bildern nähert; die „Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit“ 158 findet sich dabei in den Formulierungen vom bildlos gebilden und wiselos bewisen. Seinen Hinweis auf die Unzulänglichkeit bildlicher Rede beschließt der Diener aber damit, der Bitte der Tochter nachzukommen - und zwar, weil er das Bild selbst als Vehikel für die Bildlosigkeit konzipiert: Aber doch, daz man bild mit bilden us tribe, so wil ich dir hie biltlich z  gen mit glichnusgebender rede, als verr es denn múglich ist, von den selben bildlosen sinnen, wie es in der warheit ze nemen ist, und lang red mit kurzen worten beschliessen. (191,9ff.) In dem zentralen und bekannten 156 Niklaus Largier, Figurata locutio, S. 315. 157 Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, S. 57. 158 Ebd., S. 58. Der vervielfältigte Textschluss (Kap. 53) 299 Satz betont Seuse „weniger die Defizienz des Bildes als vielmehr dessen Leistungsfähigkeit auf dem Weg zur Bildlosigkeit: Bei diesem Wort handelt es sich ja keineswegs um einen Imperativ, wie die übliche, aus dem Zusammenhang reißende Zitierweise nahe legt, sondern um einen Begründungszusammenhang, der die Leistungskraft bildhafter Rede und bildlicher Darstellung begründet. Damit überhaupt Bilder mit Bildern ausgetrieben können, redet der Diener in bildhafter Rede von den bildlosen Sinnen.“ 159 Nachdem der Diener Elsbeth die hohen sinne der vorhergehenden Kapitel zusammengefasst hat, beschreibt er, wie sich die Rückkehr des Geistes vollzieht. Ausdrücklich sagt er, die Tochter solle nun wahrnehmen, wie der widerfluss dez geistes nah biltlicher wise [...] geschaffen ist, die Rückkehr des Geistes wird also auch in Bildern erzählt. Diese Rückkehr unterteilt der Diener in drei Punkte, die er als bilde, entsprechend der Darstellungsweise in biltlicher wise bezeichnet. Im ersten Bild soll die Tochter die ker von der Welt hin zu Gott betrachten, in der man sich mit Gebet und Übungen ganz Gott hingeben soll, bis der Körper dem Geist untersteht. Hier werden die Kapitel eins bis achtzehn der Vita aufgenommen. Daz ander bild ist das geduldige Erleiden aller Widerwärtigkeiten, die einem von Gott oder vom Menschen zufallen mögen, referiert wird auf die Kapitel 23 bis 29. Und schließlich ist das drit bilde selbst ein Prozess der inbildunge, denn dort soll der Mensch daz liden dez gekrúzgeten Cristus [...] in sich bilden (192,22f.) und durch ihn fúrbas hin in tringen (192,25). Auf das 30. Kapitel und das Sterben des Dieners wird über die Gelassenheit Bezug genommen, denn der Geist soll nun ruhig werden und zwar mit einer kreftigen gelassenheit, als der mensch im selber tod sie (192,27f.). Diese stillheit sins gem  tes referiert wiederum auf das 32. Kapitel. Das Raster aus ker und Übung, Habitualisierung ins Leiden und Nachfolge Christi bis ins Sterben nimmt auf, was im ersten Teil narrativ umfangreich ausgeführt wurde. Es ist ein Raster zur Komplexitätsreduktion von allem, was bislang entwickelt wurde. Der erste Teil der Vita, die so geschlossene narrative Genese der Figur, kann mit dem Raster abgeglichen werden, das der Diener im letzten Kapitel entfaltet. Nachdem die Rezipientinnen den gesamten Text gelesen, die langen Habitualisierungsprozesse in der iterativen Reihung als Einübungsprozesse mitvollzogen haben, erhalten sie im letzten Kapitel eine Zusammenfassung. Damit kondensiert die Vita, die in der Verkörperung der Figur ebenso plastisch wie lebhaft eine spirituelle Identitätskonstruktion beschreibt, am Ende das ihr zugrunde liegende Raster. In verkürzter Form erhält die Tochter noch einmal das ganze Narrativ, allerdings nicht in erzählter Form, sondern als Synthese in drei Bildern. Die Vita, das wird dadurch deutlich, ist in bildgebender wise und in glichnusgebender rede gefasst, denn sie entspricht genau dem auf drei Bilder verkürzten widerfluss des geistes. Das Raster, das die Umsetzung der Bitte nach bildhafter Ausführung ist, kongruiert mit dem gesamten Narrativ, dem so selbst der Status als bildliches Gleichnis zukommt. Die Figur des Dieners ist 159 Ebd., S. 59. Figur und Textaneignung 300 wiederum ein Bild, eine Verkörperung, das in vorbildlicher Weise die bildhafte Rückkehr des Geistes vorführt. So wird ganz am Ende der Vita der Prolog wieder aufgenommen, in dem es bereits hieß, die Vita erzähle úberal mit bildgebender wise (3,3) und mit glichnusgebender wise von mengerley hailigen werken (3,8f.). Am Ende der Vita erhält die Rezipientin so den Appell, das Gelesene erneut zu rezipieren und als Bild zu lesen, als Vorbild, das es im eigenen Leben umzusetzen gilt. 160 Wenn nun aber die Figur selbst nach bildgebender wise gelesen werden muss, dann dient auch sie dazu, durch das Bild über die Bilder zu gehen - bild mit bilden us tribe[n]. Und genau diese Transgressionsbewegung hat die Figur immer wieder vorgeführt. Im ersten Teil der Vita verliert die Figur erst im Passionsnarrativ, abschließend in der Offenbarungsrede immer mehr an Sichtbarkeit, die konkrete Figur wird immer stärker aufgelöst. Im zweiten Teil schreitet die Textdynamik von der Erzählung der biographisierten Figur Elsbeths in den ersten Kapiteln und über den Dialog, in dem nur noch die Stimme zu hören ist, bis in die letzten Kapitel, in denen am Ende auch noch die Stimmen der beiden Figuren überschrieben werden von der Stimme der anderen. Die Figuren als Bilder, als Vorbilder, werden im Narrativ selbst aufgelöst. Was im letzten Kapitel als Diktum gesetzt wird, hat das Narrativ in der Darstellung der Figuren bereits vollzogen. Der Metakommentar führt die Vita auf ihren Status als bildhafte Rede zurück und greift den Prolog des Exemplars auf. Und auch in der letzten Figurenrede der Tochter wird eine Klammer geschlossen, die im Prolog geöffnet wurde. Es ist die Klammer des Strukturmodells, die das Narrativ einfasst: gelopt sie dú ewig warheit, daz ich von úweren wisen und leblichen worten so schon bewiset bin dez ersten beginnes eins anvahenden menschen, und der ordenlicher mitel midens und lidens und  bens eins z  nemenden menschen, und mit g  tem underscheide in togenlicher wise der aller nehsten blossen warheit. (194,3ff.) Nachdem Elsbeth die Erzählung von der Habitualisierung einer religiöse Identität nachvollzogen hat, kann sie aus der Erzählung Ordnungssysteme und Strukturmodelle extrahieren und das Leben des Dieners als abstraktes Raster fassen. Im letzten Kapitel bietet die Vita Hinweise, wie die Figur 160 Ähnlich argumentiert Agnieszka Madej-Anderson, ‚Glicheit‘. Medien und Modelle der Ähnlichkeit, S. 118. Allerdings geht sie davon aus, dass der Prolog gerade einen besonderen Authentizitätsanspruch entwerfe, denn die glichnusgebende rede wird ausdrücklich verbunden mit einem wahren Erzählen: von mengerley hailigen werken, dú in der warheit also geschahen. (3,9f.) An dieser Stelle möchte sie die gleichnishafte Rede darum „mit ‚zu Nachahmung/ Verähnlichung anleitend oder animierend‘ [...] übertragen.“ Im 53. Kapitel, wenn der Diener gleichnishaft erzählen will, um bilde mit bilden auszutreiben, geht sie wieder davon aus, dass es sich um figurata locutio handelt. Den Authentizitätsanspruch würde ich allerdings weniger darauf beziehen, dass sich etwas ‚wirklich‘ ereignet hat, sondern dass alles, wovon erzählt wird, Werke sind, die in der Wahrheit, also letztlich in Gott, geschahen. Der Authentizitätsanspruch bezieht sich vor allem darauf, dass nicht fiktional erzählt wird, sondern dass alles Werke sind, die zur Wahrheit hinführen. Dann müsste man die Unterscheidung in einerseits rezeptionsanleitende, andererseits bildhafte Rede gar nicht treffen, sondern glichnusgebende rede wäre immer beides: Rede, die in Bildern von der Wahrheit erzählt, um zu dieser Wahrheit hin zu führen. Der vervielfältigte Textschluss (Kap. 53) 301 einerseits bildtheoretisch-theologisch als figura, andererseits innerhalb des Stufenmodells als vorbildliches Narrativ des Aufstiegs lesbar ist. Auf die bildtheoretischen Ausführungen folgt aber nicht, wie man meinen könnte, das letzte Bild von der sogenannten via mystica, auf das das Raster des Dieners bezogen werden kann. Das Ende der Vita wird weiter verschoben und schließt mit einer biographischen Klammer, in der Elsbeth noch einmal im Mittelpunkt steht. Der zweite Teil der Vita erzählt von der ker Elsbeths im 33. Kapitel bis zu ihrem selig ende im 53. Kapitel und die biographischen Klammern verbinden die Kapitel, die die Erfahrungen der Tochter selbst fast gänzlich aussparen. Der Text wechselt vom Dialog wieder zur Erzählung, die von einer Erzählinstanz vermittelt wird. Nachdem Elsbeth der erste Teil der Vita als Raster in drei Bildern zusammengefasst wurde, wird im letzten Abschnitt ihr Lebensende als Bestätigung der Unterweisung entworfen. Denn die Erzählinstanz resümiert, dass der Tochter nun na ganzzer kristanlicher warheit (194,11) die Wege gelehrt seien, die zur Seligkeit führen und dass sie diese Lehre verstanden habe: si [hat] daz wol ergrifen, als man es denn in der zit mag haben. (194,12f.) Bestätigt wird der Tochter ihr Status als vollkommener Mensch vom Diener selbst, der ihr einen letzten Brief schreibt. Denn der Diener fordert sie auf, das Fragen zu lassen und zu hören, was Gott in ihr spreche. Nicht mehr die Unterweisung bringe sie nun näher zu Gott, sondern Gott selbst teile sich ihr mit. Die Figur der Tochter wird inszeniert als Erfüllung der Lehre. Anders als im ersten Teil, in dem diese Erfüllung expliziert wurde durch die Auferstehung des Dieners am Ostertag, verbleibt die Erfüllung der Tochter unsichtbar. Während der Diener innerhalb eines Erfüllungsnarrativs entworfen wird, in dem seine religiöse Identität ihr Ende in der Transgression findet, wird die Geschlossenheit eines solchen teleologischen Narrativs im zweiten Teil der Vita gerade vermieden. Die individuelle Umsetzung der Lehre von der Angleichung, so führt es die Tochter vor, vollzieht sich im Inneren, nicht sichtbar für die Außenwelt. Die Beobachtbarkeit, die im ersten Teil ausgestellt wurde, indem das Innere des Dieners ständig in Visionen sichtbar gemacht wurde, wird im 53. Kapitel als glichnus markiert, als Bild, das beobachtbar macht, was nicht beobachtbar ist. Die Nützlichkeit solcher Beobachtbarkeitsinszenierungen wird nicht in Frage gestellt, im Gegenteil, sind sie ja Bestandteil des Weges zur Bildlosigkeit. Die Tochter aber dient dazu, die gegenläufige Bewegung, die Invisibilität der Angleichung darzustellen, wie sie sich letztlich auch unsichtbar im Inneren der Rezipientinnen vollziehen soll. 161 Sichtbar wird die Angleichung erst wieder nach ihrem Tod. In einer exklusiven Begegnung zeigt sie 161 Gerade die Unsichtbarkeit des Gnadenvollzugs fordert die Viten- und Offenbarungsliteratur immer wieder dazu heraus, Beglaubigungssstrategien einzuführen. Für Adelheid Langmann arbeitet dies Caroline Emmelius, Begnadung und Zweifel, heraus. Auch Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen, weist darauf hin, dass die Texte im Gegensatz zu fiktionalen Texten einen deutlich höheren Aufwand an Beglaubigung betreiben müssen: „Während fiktionale Texte ein stillschweigendes Einverständnis zwischen Autor und Publikum über den fiktive Status des Erzählten voraussetzen, präsentieren die Viten- Figur und Textaneignung 302 sich dem Diener in einer Vision, gekleidet in schnewisser wat wol gezieret mit liehtricher klarheit vol himelscher fr  de (194,25f.) und lässt ihn sehen, wie vollkommen sie in die blosse gotheit vergangen ist (194,27). Dass die Tochter tatsächlich bis zum Höchsten kam, beglaubigt die Vision, die zeigt, dass ihr irdisches Leben ein Leben in Vollkommenheit war. Beglaubigt wird ihre Erfüllung wieder durch die Semantik der Freude, denn sie ist voll himelscher fr  de (194,25). Ihre religiöse Identität wurde nicht narrativ entfaltet, wie die des Dieners. Der Text aber beglaubigt am Ende durch die Vision die Heiligung Elsbeths, deren Heiligungsprozess immer unsichtbar blieb. Und nun wird die Tochter selbst zu einem der bilde, zu einem Vorbild, über das der Weg in die Seligkeit führen kann. Die Vita endet mit einem kurzen Gebet, in dem der Diener sich an ein úns, ein wir wendet. Die Erzählinstanz wechselt in ihrer Ansprache die Ebene, ist nun nicht mehr nur auf der homodiegetischen Ebene, also innerhalb der erzählten Welt, präsent, sondern tritt in einer Art Metalepse hervor und wendet sich an die Rezipientinnen: Gott helf úns, daz wir diser heiligen tohter und aller siner lieben frúnden geniessen, daz wir eweklich sin g  tliches antlút werden niessende! Amen. (195,2ff) Während das mit dem Genitiv verbundene geniessen laut Wörterbucheintrag darauf hinweist, dass man von dem Genitivobjekt einen Nutzen erwarten kann, dass man „etwas davon haben kann“, firmiert niessen ohne Vorsilbe unter den Verwendungsweisen „gebrauchen, benutzen, genuss einer sache haben, sie besitzen.“ 162 Das Spiel mit den Bedeutungen im Gebet ließe sich dann auflösen als Bitte um Vermittlung. Mit Gottes Hilfe soll man sich das Vorbild der vollkommenen Tochter nehmen, von dem man den Nutzen erwarten kann, dass man durch das Bild hindurch zum ewigen Gottesgenuss gelangt. Die Tochter vollendet ihr Leben nicht nur für sich selbst, sondern wird am Ende selbst ein Vorbild für die Rezipientinnen. Damit schließt sich der Kreis noch einmal zum Anfang ihrer religiösen Identitätskonstruktion. Im 33. Kapitel waren ihr vom Diener die g  ten heiligen bilden (98,12) der Gottesfreunde empfohlen worden, nach denen sie ihr Leben ausrichten solle. Nachdem sie diesem Ratschlag gefolgt ist bis ihr die bild ab vielin (98,16), wird sie selbst zum heiligen (Vor)Bild, das den Weg in die Bildlosigkeit weisen kann. Wo Elsbeth zum heiligen Bild wird, werden die Rezipientinnen gewissermaßen zu Elsbeth. Sie sollen sich, so wie die Tochter im 33. Kapitel, nun den Weg derselben zum Vorbild nehmen, um so selbst wieder zum heiligen Vorbild zu werden. Und noch einmal wird das Ende der Vita verschoben, denn an das Gebet schließt das letzte Bild an, das in einem Schema, also in bildgebender wise, zeigt, wie der Weg in den Gottesgenuss als Abstieg und Aufstieg im Bild konzipiert ist. 163 Die Bildüberschrift lautet: Disú nagendú bild bezeichnent der und Offenbarungstexte die religiöse Erfahrung als ‚Wahrheit‘ und bemühen sich erzählstrategisch um die Glaubwürdigkeit des Berichteten, und sie wurden vermutlich meist in diesem Sinne rezipiert“, S. 16f. 162 BMZ, Bd. 2, S. 390f. 163 Die Zeichnung ist als Digitalisat einsehbar unter http: / / www.bnu.fr/ collections/ la-bibliotheque-numerique/ la-mystique-rhenane (15.01.2016), Ms. 2929, Ansicht 169 (folio 82 r ). Der vervielfältigte Textschluss (Kap. 53) 303 blossen gotheit iewesentheit in perseonlicher driheit vnd aller creaturen us vnd wider in geflossenheit vnd zeogent den ersten begin eins anuahenden menschen vnd sinen ordenlichen durpruch dez zvonemens vnd den allerheohsten vberswank vberweslicher volkomenheit. 164 In der Überschrift werden die verschiedenen Raster und Strukturmodelle zusammengeführt und synthetisiert: „Mit dieser Bildüberschrift wird der Inhalt des Bildes kurz charakterisiert und nochmals eine Kurzfassung des Inhaltes von Kap. 53 der Vita gegeben, das seinerseits die Kurzfassung der vorhergehenden Kapitel 50-52 darstellt. Zudem wird der Ausfluss und Rückfluss mit dem mystischen Dreischritt vom anfangenden, zunehmenden und vollkommenen Menschen parallelisiert.“ 165 Die Parallelisierung der beiden Modelle bedeutet aber auch, dass alles, was vorher erzählt wurde und nicht nur Kapitel 50 bis 52 mit dem Schema im letzten Bild lesbar wird. Das Lebensnarrativ und die spekulativen Kapitel werden eben gerade zusammengeführt im letzten Bild und aufeinander bezogen. Auf dem abschließenden Bild kann Lentes zeigen, wie die gezeichneten Figuren nach und nach aufgelöst und in die Bildlosigkeit übersetzt werden: „Der Weg der Seele in die bildlose Gottheit wird mithin auch von der Darstellungsform als ein Weg zunehmender Bildlosigkeit nachgezeichnet. Von den ganzfigurigen Personendarstellungen der menschlichen Geschaffenheit über die Figuren von ker, Leiden und Gelassenheit über die halbfigurigen Darstellungen des entsinnlichten Geistes und der Figur der Seele bei der ùbervart wird versucht, das körperlichbildhafte immer weiter zu reduzieren, bis schließlich keinerlei figürliche Darstellung mehr erfolgt.“ 166 Auch im Text wird die Bewegung vollzogen, die Lentes für das Bild feststellt. Innerhalb des ersten Teils der Vita findet eine Rücknahme der Figur vor allem im 32. Kapitel statt, wenn die Figurenrede übergeht in die Offenbarungsrede der warheit. Im zweiten Teil lässt sich feststellen, dass die Geschlossenheit, die der erste Teil aufweist, wieder zurückgenommen wird, dass die Figur des Dieners als Bild, als Vorbild aus ihrem Narrativ gelöst wird und in einzelne Rezeptionsaspekte aufgelöst wird. Vor allem in den letzten Kapiteln aber findet eine Überformung Elsbeths und letztlich auch des Dieners statt, die, je mehr sie sich der bildlosen Wahrheit annähern, als Figuren zurückgehen, bis schließlich nicht mehr die Figuren, sondern die Stimme des Dionysius erklingt, die das Sprechen über die Gottheit in den úber-Bildungen implodieren lässt. Diese Auflösung der Figuren wird im letzten Kapitel und im Bild wieder zurückgenommen, die aufzeigen, dass alles Sprechen über Gott immer in der Unähnlichkeit verbleibt. Die mehrfache Rückbindung der Transgression in Schemata, Raster und in die biographisierende Erfüllungserzählung verschiebt die Möglichkeiten einer Rückkehr des Geistes in die Bildlosigkeit immer wieder und stellt die Differenz zwischen Bild und Bildlosigkeit aus, ohne die Sehr umfassend bespricht Thomas Lentes, Der mediale Status, das letzte Bild, inklusive einer genauen Beschreibung des Aufbaus und der Inschriften, S. 49-64. 164 Zitiert nach Thomas Lentes, Der mediale Status des Bildes, S. 52. 165 Ebd. 166 Ebd., S. 63. Figur und Textaneignung 304 Rückkehr aus der Differenz in die Ähnlichkeit, die similitudo, zu negieren. Im letzten Kapitel wird das Wissen, das in der Vita so vielgestaltig entfaltet wurde, in mehreren Schritten synthetisiert und kondensiert. Die Rezipientinnen erhalten so am Schluss noch einmal verschiedene Raster, mit denen sie ihre Lektüre abgleichen können und die ihnen, wie Elsbeth Stagel es erbat, aufgrund der bildlichen rede leichter zugänglich bleiben. Nicht Transgressionsmomente, wie die über sich hinaus weisende Sprache der spekulativen Kapitel, beenden die Vita. Sie wird vielmehr in mehreren Schritten abgeschlossen, einerseits indem Bögen zu den ersten Kapiteln geschlagen werden, andererseits auch durch das Bemühen um Verknappung und Komplexitätsreduktion. Die Figur, die es als Bild auszutreiben gilt, kommt so immer wieder ins Spiel. 5 Zusammenfassung Die Kategorie ‚Figur‘ hat sich für die Erschließung der Vita in vielerlei Hinsicht als äußerst fruchtbar erwiesen. Anstelle einer biographisierenden Deutung, die den Diener der ewigen Weisheit als Medium der Erfahrungen Seuses versteht, konnte die Faktur des Textes in den Vordergrund treten. Die Leitfrage der Textanalyse war entsprechend, wie Erzählen und religiöse Konzepte verbunden sind. Figuren werden als Träger verstanden, die religiöse Konzepte und Modelle narrativ umsetzen, etwa indem Übungen in Wiederholungsstrukturen textuell vollzogen werden. Figuren bieten gleichzeitig die Möglichkeit, die verkörperten Konzepte und Modelle zu befragen und umzudeuten. Über die Figuren als narrative Zentren konnten auch der erste und der zweite Teil der Vita neu in Beziehung gesetzt und erschlossen werden. Der zweite Teil ist, so ein Ergebnis, keine einfache Fortführung oder Spiegelung des ersten Teils. Vielmehr wird mit der Figur Elsbeths die Frage nach Geschlossenheit und Auflösung des Narrativs als Voraussetzung gelingender Rezeption gestellt. Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassen und zentrale Erkenntnisse herausstellen. Der erste Teil der Textanalyse (Figur im Rahmen - Phänomene der Verschachtelung) zeigt, wie die Figur des Dieners in einem Netz an Bezügen entwickelt wird. Die Bezüge sind tradierte Wissensbestände, die in der Einleitung erläuterten frames, die an zentralen Stellen aufgerufen werden und in Wiederholungsbeziehungen den ganzen Text formen. Die Figur des Dieners wird nicht nur im chronologisch-linearen Erzählverlauf konstituiert, sondern maßgeblich auch auf einer textübergreifenden Ebene. Die frames laden die Figur mit Wissensbeständen auf, die teils im Text erklärt, meistens aber nur aufgerufen werden und auf kursierendes Wissen zurückgreifen. Sie bilden sich aus ganz unterschiedlichen anthropologischen, literarischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Beständen, werden von Seuse eingesetzt und entsprechend seinem eigenen Entwurf einer Lebensform der vita passiva transformiert. Vor allem zwei frames wurden als aufschlussreich für die Figurengestaltung aufgrund ihrer engen Verschachtelung herausgearbeitet. Zum einen das Strukturmodell des Stufenwegs, der den Aufstieg vom anfangenden über den fortschreitenden bis zum vollkommenen Menschen im Bild des Weges fasst. Zum anderen die Modellfiguren und Figurenmodelle, von denen Hiob und ‚Ritter‘ besonders relevante Bezugspunkte sind. Während das Strukturmodell des Stufenwegs die ganze Anlage des Textes vorstrukturiert und bereits im Prolog des Exemplars aufgerufen wird, lädt die zweite Form der frames die Figur des Dieners mit typologischen Bezügen auf und stellt sie so in einen größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Zusammenfassung 306 Seuse verwendet das allgemein bekannte Strukturmodell des Stufenwegs in ganz eigener Ausformung. Er verbindet den Aufstieg mit seinem Konzept der Gelassenheit und erzeugt so die paradoxe Konstellation einer sich steigernden Vernichtung des Eigenwillens. Die Gelassenheit als Willensaufgabe, und damit die Aufhebung jeglicher Intentionalität, steht in Spannung zur Vorstellung einer stufenweisen Annäherung zu Gott. Entsprechend wird zwar eine Steigerung der Hingabe des Eigenwillens an Gott erzählt, die Transgression jedoch, das Aufgeben des Eigenwillens in Gott, lässt den Stufenweg kollabieren. Dieses religiöse Phänomen, die Überformung des Eigenwillens in Gott, setzt der Text auch narrativ um. Während die Steigerungsbewegung der Selbstaufgabe in kleinen Erzähleinheiten dargestellt wird, bricht das Erzählen vor dem Durchbruch in die Einheit ab. Statt erzählender Kapitel stehen in den letzten Kapiteln des ersten Teils Gebete, Dialoge und Offenbarungsrede im Mittelpunkt und zeigen an, dass mit der Transgression des Selbst auch das Erzählen im Stufenweg überschritten wurde. Die Kombination von Aufstieg und Gelassenheit, vom Versuch der Steigerung und dem Anspruch der Selbstaufgabe, stellt eine originelle Transformation des tradierten Stufenwegs dar, eine Transformation, die die Paradoxien, die sich zwischen Willensaufgabe und Selbstvervollkommnung einlagern, erst zu entfalten vermag. Eng verschachtelt mit dem Stufenweg sind die Modellfigur Hiob und das Figurenmodell des Ritters. In denjenigen Kapiteln, in denen der Stufenweg reflektiert wird, tauchen in unterschiedlicher Konstellation beide Bezüge auf. Im Verlauf des Textes verwendet Seuse Hiob und ‚Ritter‘, um sein Konzept der Gelassenheit in konkreten Bildern zu fassen und seinen Entwurf der Lebensform einer vita passiva erzählerisch umzusetzen. Hiob und ‚Ritter‘ bilden einen Wissensrahmen, den Seuse aufgreift, um den Weg in die Gelassenheit als Weg der richtigen Leidenshaltung in der Nachfolge Christi zu visualisieren. Die Vorstellung einer vita passiva, der geduldigen Hingabe an Gott, wird nicht normativ gesetzt, sondern als Lebensform in der Nachfolge Hiobs und nach dem Vorbild des geistlichen Ritters narrativ entwickelt. Die Figur des Dieners, deren Lebensweg innerhalb dieses Bezugssystems erzählt wird, wird in eine typologische Rahmung gestellt; ihr exemplarisches Leben erhält eine heilsgeschichtlich relevante Ausrichtung. Entscheidend ist dabei nicht nur das Konzept eines sich typologisch erfüllenden Lebens, als welches das exemplarische Leben des Dieners dargestellt wird. Entscheidendes Ergebnis ist auch die literarische Durchformung der Vita durch das dichte paradigmatische Netz an Verweisen. Indem die Modellfigur und das Figurenmodell in zentralen Kapiteln auftauchen, um das relevante Wissen zur vita passiva zu konkretisieren, werden sie zu Textsignalen, die die lineare Lektüre unterbrechen und die als Relevanzmarkierung dienen. Den Rezipientinnen wird eine zweite Lektüreebene angeboten, die das chronologische Lesen übersteigt. Die Wiederholungsstruktur zeigt ihnen an, welche Textstellen besonders relevant sind, da mit Modellfigur und Figurenmodell stets eine Reflexion des Wegs in die Selbstvervollkommnung einhergeht. Zusammenfassung 307 Auch im Verhältnis von Vorbild und Nachfolge zeigt sich eine interessante Verbindung von religiösem Konzept und narrativer Umsetzung. Die Modellfiguren als Vorbilder bleiben der Figur nicht äußerlich. Hiob, ebenso wie Christus, überformen das Erzählen selbst. Die Forderung einer imitatio Christi, die in typologischer Spannung im Vorbild Hiob angelegt ist, bildet die Vita im Erzählen vom unschuldig zufallenden Leiden im Leben des Dieners ab. Die beiden Lebensnarrative werden auf formaler Ebene überblendet. Diese Überblendung erreicht ihren Höhepunkt, wenn nicht mehr das Leben Hiobs die Folie ist, sondern in typologischer Erfüllung das Leben und Sterben Christi als Folie über das Leben des Dieners gelegt wird. Die religiöse Vorstellung einer imitatio als Nachfolge wird in narrative Formen überführt. Das Leben des Dieners wird erzählt im Muster der heiligen Vorgänger. In der Textanalyse beschränke ich mich auf die Wiederholungsbeziehungen und Verschachtelungsphänomene im ersten Teil, da die Konstitution der Figur des Dieners dort im Vordergrund steht. Als Ausblick möchte ich hier kurz skizzieren, inwieweit das exemplarische Leben des Dieners im zweiten Teil selbst zum frame für die Rezipientin Elsbeth Stagel wird. Seuses Vita geht, in Bezug auf die Aneignung der Vorbilder, noch einen Schritt weiter. Was im ersten Teil exemplarisch entwickelt wurde - ein Leben in Nachfolge Hiobs und Christi - wird im zweiten Teil aufgenommen und auf einer Metaebene reflektiert. Es wird die Frage aufgeworfen, wie man das eigene Leben in den Spuren der heiligen Vorgänger führen kann, eine Frage, die die Brisanz der Individualisierung formuliert. Denn es ist gerade nicht die Verschmelzung des eigenen Lebens mit dem Leben der Vorgänger, um mit diesen identisch zu werden. Die Vita postuliert im zweiten Teil vielmehr die Akzeptanz der Differenz, um aus der Differenz heraus die Angleichung an Christus zu finden. Zusammengefasst wird dieser Gedanke im Satz: Der lieb Cristus sprach nút: ‚nement min krúz uf úch‘, er sprach: ‚ieder mensch neme sin krúz uf sich! ‘ (107,11). Damit entwirft die Vita einerseits ein Modell der Nachfolge, das sich von einseitig körperasketischen Übungen abgrenzt. Sie differenziert aber andererseits auch die Vorstellungen einer imitatio, die sich in Angleichungsmechanismen erschöpft. Nicht das gleiche körperliche Leiden wie der Diener solle Elsbeth anstreben, sondern dasjenige, welches Gott für sie bestimmt, solle sie akzeptieren. Jeder Mensch muss dabei erkennen, welches Leiden ihm zugedacht ist, um in der eigenen individuellen vita passiva das Kreuz Christi zu tragen. Damit wird die imitatio Christi von einem äußeren körperlichen Nachvollzug zu einem inneren Prozess der Selbstformung, in dem jedes Leiden, selbstverständlich auch körperlicher Art wie etwa Krankheiten, stets neu gedeutet und angenommen werden muss. Was im ersten Teil als exemplarisches Leben in den Spuren der Vorgänger erzählt wurde, wird im zweiten Teil deutlich differenziert und problematisiert. Der frame, den der erste Teil anbietet, wird als dynamisches Wissen reflektiert. Er soll nicht in das eigene Leben kopiert werden, sondern als abstraktes Muster dienen, das man gemäß den individuellen Anforderungen zu füllen hat. Angleichung muss den Weg durch die Differenz gehen, um die Differenz in der Gelassenheit des Selbst zur Einheit hin zu überschreiten. Zusammenfassung 308 Während der erste Textanalyseteil die textübergreifenden Wiederholungsbeziehungen auf der Makroebene untersucht, arbeitet der zweite Analyseschritt die Konstitution der Figur auf syntagmatischer Ebene heraus (Narrative Genese der Figur). Entlang der Kapitelchronologie wird die Figur des Dieners als performativer Selbstentwurf beschrieben. Performativer Selbstentwurf bedeutet dabei, dass die religiöse Identität von der Figur immer wieder neu konstruiert werden muss. Dazu führt der Text unterschiedliche Selbsttechniken vor, die zeigen, dass die religiöse Identität nicht bereits gesetzt ist, sondern hergestellt wird. Diese Konstruktionsleistungen wie auch die Überschreitung der Vorstellung von Herstellbarkeit sind dabei in den narrativen Strukturen abgebildet. Der Aufbau der Vita ist, allein aufgrund des Stufenwegs, progressiv. Die Herstellung der religiösen Identität erfolgt nicht in zirkulären Mustern, sondern ist gerichtet von der Grundlegung im kêr zum Abschluss im Durchbruch. Dieser rein progressive Aufstieg, so ließ sich zeigen, ist allerdings gekoppelt mit iterativen Strukturen innerhalb der Aufstiegsstufen selbst. Der Diener entwirft sein neues Selbst in Wiederholungsreihen. Immer wieder werden gleiche Formen von Übungen in unterschiedlichen Ausprägungen erzählt, um die Habitualisierungsversuche in der narrativen Struktur abzubilden. Die iterativen Reihen erzählen unterschiedlichen Übungen der Klosterkultur. Das neue Selbst soll in der wiederholenden Form verstetigt werden und das alte irdisch gebundene Selbst transgredieren. Die Kapitel erzählen aber nicht nur, sondern führen in der Wiederholung die Habitualisierungsbewegung der Übungen auch vor. Die Übungen, die der Ausbildung eines neuen Habitus dienen sollen, werden in die narrative Form überführt. Die Vita, so ein Ergebnis der Textanalyse, wechselt dabei zwischen iterativen Kapitelreihen und Kapiteln, die diese Reihen unterbrechen und auf einer Metaebene reflektieren. Diejenigen Kapitel, die diese Habitualisierungskapitel unterbrechen, reflektieren die Selbsttechniken und befragen sie auf Nutzen und Grenzen im Prozess der Selbstvervollkommnung. Zentral ist dabei das 19. Kapitel, in dem in der hohen Schule, in der die Kunst der richtigen Gelassenheit gelernt werden soll, Selbstaufgabe und Übung auf paradoxe Weise miteinander verbunden werden. Die vita passiva wird damit zur Lebensform der Gelassenheit als Hingabe an Gottes Willen und Aufgabe des Eigenwillens. Seuse grenzt mit den Übungen der Passivität die Gelassenheit von Übungen der Körperaskese streng ab. Die vita passiva ist gerade kein Versuch, den Körper als Medium der Angleichung in einem Akt des self-fashioning aktiv zu gestalten. Vielmehr wird der Körper in der Vita zum Medium eines Erleidens, das das eigene Wirken still stellt und sich ganz Gottes Wirken hingibt. Auch das Konzept der Selbstaufgabe im Erleiden Gottes wird allerdings in iterativen Reihen dargestellt. In immer neuen Wiederholungen wird von den Leiden erzählt, die dem Diener zufallen, die er sich also nicht mehr selbst zufügt. Die Iterationen blenden dabei jeglichen Hinweis auf die Verbindung von Leiden und einer Vergegenwärtigung Gottes aus. Wiederholung ist hier nicht, wie etwa bei Elsbeths von Oye Offenbarungen, die Möglichkeit, um zwischen Genuss und Entzug, zwischen Schmerz, Klage und Offenbarung zu wechseln. Zusammenfassung 309 Vielmehr wird in den sich steigernden Wiederholungen konsequent auf das tiefste Leiden hin erzählt. Die Selbstaufgabe in diesem Tiefpunkt, und damit einhergehend die Übereignung des Eigenwillens an Gott, wird in der Vita als Sterben des Dieners in einer deutlichen Aufnahme des Sterbens Christi dargestellt. An diesem tiefsten Punkt bricht das Erzählen ab und wird ersetzt durch Dialoge und Offenbarungsrede. Nicht das Erzählen, sondern das Abbrechen des Erzählens, die Transgression des Darstellens, setzt den Durchbruch vom tiefsten Schmerz in die höchste Freude um. Es ist ein unverfügbares Geschehen, das die Figur nicht im Üben herstellen kann. Die religiöse Identität als Einheit mit Gott - und damit nicht mehr auf der Beschreibungsebene einer konstruktivistischen Identität, sondern auf der metaphysischen Ebene - kann nicht aktiv hergestellt werden, sondern wird vom Text als vollkommene Vernichtung im Tod dargestellt. Konsequenterweise ist damit auch das Erzählen des Lebens des alten Selbst beendet. Es folgt die Auferstehung der Figur am Ostertag als gelassener Mensch. Die Überblendung von Diener und Christus wird fortgeführt, wobei diese nun nicht mehr im Leiden vollzogen wird, sondern in der höchsten Freude. Während in den Kapiteln 23 bis 30 eine auffällige Häufung der Wortfamilie um lîden verwendet wurde, dominiert vor allem im 32. Kapitel die Verwendung von vröude, vro und vr œ lich. Die Semantik der Freude zeigt den vollzogenen Durchbruch in die Gelassenheit an; Leiden und Freude sind im Durchbruch aufeinander bezogen. Die Versuche, eine religiöse Identität performativ herzustellen, enden in der Vernichtung des Selbst, in der Gott erst wirksam wird. Im letzten Kapitel wird diese Wirksamkeit in der Offenbarungsrede, die den ersten Teil beschließt, in der literarischen Gestaltung umgesetzt. Das in Gott überformte Selbst wird in diese Rede aufgenommen, entsinkt im göttlichen Sprechen und bildet die Einheit mit dem Göttlichen im Verstummen des Erzählens vom eigenen Selbst. In der Textanalyse wurde gezeigt, wie der Diener als Figur durch spezifische Verfahren entsteht. Diese Verfahren bilden die religiösen Konzepte und Modelle, die sie transportieren, nicht einfach ab, sondern führen sie vor. Dabei dient die Figur dazu, die religiösen Erfahrungen der Rezipientinnen vorzustrukturieren und die Risiken und Grenzen auf dem Weg in die Selbstvervollkommnung zu reflektieren. Die biographischen und historischen Bezüge sind Teil eines Erzählverfahrens, das auf Authentizität abzielt, aber nicht als autobiographische Echtheit, sondern als Sprechen von der Wahrheit, als Sprechen über und als Sprechen in Gelassenheit. Der erste Teil erzählt das exemplarische Leben des Dieners in einer sehr geschlossenen Form. Die durch den Stufenweg bedingte literarische Ausformung gipfelt im Erzählabbruch in der Einheit. Diese suggestive Erzählform, die zwar den Durchbruch als unverfügbares Ereignis darstellt, dennoch aber konsequent darauf hin steuert, wird im zweiten Teil aufgelöst. Der heterogene, auf den ersten Blick nicht einfach zu durchschauende Teil wurde in der Forschung nur unter bestimmten Aspekten wie Autorschaft oder Medialität untersucht, kaum aber in seiner literarischen Anlage und Komposition. Indem in Zusammenfassung 310 der Textanalyse (Figur und Textaneignung) danach gefragt wurde, wie die Figuren in diesem Teil agieren, wo sie auftauchen und welche Funktion mit ihrem Auftauchen verbunden ist, konnte gezeigt werden, dass die Heterogenität Teil des geistlichen Programms und keineswegs zufällig ist. In diesem Teil erscheint Elsbeth Stagel als zweite Hauptfigur und Musterrezipientin und erhält die Lebenslehre des Dieners. Der zweite Teil führt die Aneignung und individuelle Umsetzung des exemplarisch erzählten Lebens vor, wie es der erste Teil entwickelt. Hier wird nun allerdings nicht Elsbeths Leben erzählt, sondern es wird gezeigt, wie die Aneignung von exemplarischen Erzählungen ihr Inneres überformt. Ausgehend von der Darstellung Elsbeths lässt sich der zweite Teil in drei Kapiteleinheiten unterteilen, die durch Kapitel 33 und Kapitel 53 zusätzlich gerahmt sind. In der ersten Einheit wird sie in das richtige Leiden unterwiesen, im zweiten Teil schärft der Diener ihr Unterscheidungsvermögen - was ist richtige und was ist falsche Gelassenheit - und im dritten Teil wird ihr Streben nach Gottesschau eingelöst. Mit dieser Unterteilung stelle ich vor allem die unterschiedlichen Kommentierungen in den Vordergrund, die Elsbeths geistlichen Status benennen und die jeweils das Resultat eines Transformationsprozesses durch den und im Text sind. Elsbeth selbst taucht in diesen Kapiteln wenig auf und rückt im Verlauf immer weiter in den Hintergrund. Um herauszuarbeiten, wie die Figur Elsbeths dargestellt wird und welche Funktion ihr zukommt, wurde der Aufbau des zweiten Teils sowie die Textstellen, in denen Elsbeth auftritt, untersucht. Zentrales Analyseergebnis für die Kapitel 34 bis 45, die das Leiden als Weg zu Gott in unterschiedlichen Medien und Perspektiven umkreisen, ist die Deutung der Heterogenität als programmatisches Vorgehen des Textes. Elsbeth erhält in diesem Teil eine Vielzahl an Briefen, Spruchsammlungen, Exempeln und Bildern, die aus unterschiedlichen Perspektiven das Leiden als Weg durch Christus zu Gott umkreisen. In den ersten Kapiteln taucht Elsbeth dabei in der Rahmenerzählung auf, von Kapitel 41 bis 44 tritt sie aber gar nicht mehr auf. Erst im 45. Kapitel erscheint sie wieder und wird nun nicht mehr als geistliche Tochter, sondern als heilige Tochter bezeichnet, die selbst die Rolle der Heilsvermittlerin übernehmen kann. Die Rezeption wird also nicht sichtbar vorgeführt. Elsbeth taucht, so führt es der Text vor, in die Lektüre ein und wird von den zahlreichen Exempeln und Bildern überformt. Gezeigt wird im zweiten Teil kein exemplarisches Leben, sondern ein Aneignungsprozess. Durch die Vielfalt der Themen und Perspektiven wird in diesem Teil eine Bilderflut erzeugt, in der Elsbeth überformt wird, ohne dass ihre Transformation selbst gezeigt wird. Kennzeichen des Prozesses ist die fehlende Sichtbarkeit. Wo im ersten Teil ständig Bezug genommen wird auf das Innere des Dieners, indem Visionen, Selbstgespräche und Reflexionen auftauchen, bleibt das Innere Elsbeths unsichtbar. Individuelle Aneignung, die Suche nach dem eigenen Kreuz, dem eigenen Leiden, vollzieht sich, so führt es der Text hier vor, nicht öffentlich, sondern im Verborgenen. Zusammenfassung 311 Die innere Überformung als unsichtbarer Prozess prägt auch die Schlusskapitel. So schließt die zweite Kapiteleinheit, in der die Tochter im Unterscheidungsvermögen geschult wird, mit einer Spruchsammlung. Die Sprüche formulieren dabei mit einer solchen Suggestionskraft Sentenzen zur Gelassenheit, dass sich, so stellt es der Text dar, in der Rezeption erneut eine unsichtbare Transformation Elsbeths abspielt. Abzulesen ist die Überformung wieder an einem Erzählerkommentar zu ihrem Status. Denn das Aneignen der Gelassenheitssprüche hat Elsbeth ganz auf den inneren Menschen ausgerichtet. Sie ist nun vorbereitet, Gott in der Kontemplation zu schauen. Der Text hat selbst formuliert, dass der Weg Elsbeths bislang ein Weg der Bilder war. Was folgt, ist der Weg in die Bildlosigkeit Gottes. Anders als das Leben des Dieners im ersten Teil, der in der Selbstüberschreitung im Leiden kulminiert und abbricht, wird hier ausgeführt, was nach der Überformung im Leiden folgen kann, nämlich eine spekulative und begriffliche Gotteserkenntnis. In die vita passiva wird so die vita contemplativa integriert. Die beiden Lebensformen stehen sich im zweiten Teil nicht gegenüber, sondern erst aus dem Gottleiden heraus ist die Gottesschau vollkommen möglich, so entwickelt es die Vita. Die hohen sinne und die sch  nen worte, die vor der Umformung Elsbeths im Leiden als gefahrenvoller Irrweg abgelehnt wurden, sind jetzt zugänglich. Im dritten Teil wird sie entsprechend als wohlgeübte Tochter bezeichnet. Sie tritt in diesem Teil noch mehr zurück und ist kaum noch zu vernehmen. Im 52. Kapitel vollzieht der Text dabei eine kühne sprachliche Ausweitung. Ausgehend von Elsbeths Frage nach dem ‚Wo‘ Gottes entwickelt der Diener eine Topographie der Gottheit, die in einer Beschreibung von Gott als über allem Sein wirkend mündet. In diesem Kapitel tauchen sowohl der Diener als auch Elsbeth immer mehr ein in die rhetorisch glänzenden Ausführungen, werden als Dialogpartner somit unhörbar. Das Kapitel führt die Gotteserkenntnis als performatives Entsinken, als úberbilden, in der Sprache vor. Das Entsinken in diese Sprache gipfelt in dem abschließenden Zitieren von Ps.-Dionysius, der die Sprache selbst an ihre Grenzen bringt. Entscheidend für Seuses Umgang mit Bildern und Bildlosigkeit ist die Rahmung des zweiten Teils. Denn der Text bricht nicht mit sprachlichen Transgressionsversuchen ab, sondern bindet alle Erkenntnis in mehreren Stufen systematisch wie biographisch zurück. So wird im letzten Kapitel die Bildtheorie der Vita sorgfältig ausgeführt, wobei vor allem die Grenzen der Bilder im Vermittlungsprozess der Gottesschau betont werden. Doch nicht nur diese systematische Rückbindung der Bildtheorie in ein Differenzmodell reflektiert die Möglichkeiten und Grenzen der Einheit mit Gott. Während die Figuren im 52. Kapitel in die göttliche Sprache aufgehen und so sehr zurückgenommen wurden, dass sie aus der Wahrnehmung der Leserinnen weitestgehend verschwinden, wird Elsbeth im letzten Kapitel wieder mit biographischen Eckpunkten verbunden. Die Suggestion, die Figuren seien in die Bildlosigkeit eingegangen, als Bilder also aufgehoben, wird vermieden. So verkündet der Diener am Ende des Kapitels ihren seligen Tod, womit sich der Rahmen vom 33. Kapitel, dem kêr und Anfang Elsbeths, bis zu ihrem Ende schließt. Anstelle Zusammenfassung 312 einer Überschreitung der Figuren zeigt das letzte Kapitel eine Schließung. Erzählt wird nicht die Auflösung als Einheit in Gott, sondern die dauernde Verschiebung, die durch die mediale Differenz immer wieder zum Tragen kommt. Die abschließende Verschiebung der Transgression stellt sich im letzten Bild dar, wenn der Weg in die Bildlosigkeit selbst wieder als schematisches Bild dargestellt wird. Die Figuren, die Habitualisierung und Überschreitung narrativ darstellbar machen, zeigen so nicht den Verbleib in der Einheit. Der Text bindet stattdessen die Erzählung der Bildlosigkeit in neue Bilder, Raster und Schemata ein. Die Figuren, so ergab die Textanalyse, werden als Bilder eingesetzt, als Vorbilder, die auf dem Weg in die Bildlosigkeit überschritten werden müssen. Der Text zeigt Elsbeths Weg, auf dem sie erst zum Vorbild und zur Vermittlerin wird, um dann als Figur im Sprechen vom Göttlichen aufzugehen. Doch der Text gipfelt nicht mit der Überschreitung der Figur, sondern mit der Rückbindung in Erklärungen, Raster und Schemata und führt so vor, dass die Figur immer in der Differenzlogik der Bilder bleibt. Die Figuren, die die Überschreitung und das paradoxe Verhältnis von Bild und Bildlosigkeit ausloten, kommen so nicht zum Stillstand in der Gottheit, sondern verbleiben Figuren im Vollzug. Die Analyse der Figur in der Vita Seuses zeigt, wie literarisch-sprachliche Darstellung und religiöse Phänomene sich bedingen. Die Vita ist einer der theologisch und konzeptionell anspruchsvollsten Texte aus dem Kontext der dominikanischen Vitenliteratur des 14. Jahrhunderts, doch könnte es aufschlussreich sein, die Verbindung von religiöser und narrativer Identitätskonstruktion auch an anderen Texte ähnlicher Herkunft zu erproben. So verhandelt beispielsweise auch die Vita der Gertrud von Ortenberg, eine Religiose des 14. Jahrhunderts, das Strukturmodell eines Stufenwegs zu Gott. Wie aber artikuliert sich für eine Frau, die erst in der Witwenschaft ein Ordensgelübde ablegt, der Aufstieg zu Gott? Welchen Paradoxien unterliegt eine wohlhabende Frau auf dem Weg in die geistliche Armut? Interessant wäre auch, ob man Effekte, die in der Forschung häufig das Urteil ‚Monotonie‘ und ‚Eintönigkeit‘ nach sich zogen, etwa lange Aneinanderreihungen ähnlicher Begebenheiten, dadurch besser erschließen könnte, indem man sie als Darstellung von Habitualisierungsversuchen liest. An die unterschiedlichen Schwesternbücher der Dominikanerinnen könnte man so die Frage stellen, was es bedeutet, dass die Übungen auf viele verschiedene Schwestern verteilt werden und sich nicht an einer zentralen Figur artikulieren. Welchen Effekt hat diese Vervielfältigung von Übungen und Überschreitungen? Die Kategorie ‚Figur‘ könnte dann auch dazu dienen, geistliche Viten und Vitensammlungen weniger nach ästhetischen Qualitätsmerkmalen zu befragen und zu beurteilen, sondern nach ihrer kulturhistorischen Position und Funktion. Die Beschreibung von Figuren als religiösnarrative Identitätsentwürfe bietet die Möglichkeit, sich den Texten mit einer literaturwissenschaftlichen Kategorie kulturhistorischer Ausrichtung anzunähern und sie in ihren je spezifischen Eigenheiten ernst zu nehmen. 6 Bibliographie 6.1 Textausgaben Aurelius Augustinus: De vera religione, hg. von Klaus-Detlef Daur, in: Aurelii Augustini Opera IV,1, Turnhout 1962 (Corpus Christianorum, Series Latina 32). Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, hg. von Robert Weber, 4., verbesserte Auflage, Stuttgart 1984. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg/ Br. 1980. 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Bibliotheca Germanica Handbücher, Texte und Monographien aus dem Gebiete der germanischen Philologie herausgegeben von Burkhard Hasebrink, Susanne Köbele und Ursula Peters Aktuelle Bände: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / www.narr-shop.de/ reihen/ b/ bibliothecagermanica.html 35 Christine Ruhrberg Der literarische Körper der Heiligen Leben und Viten der Christina von Stommeln (1242-1312) 1995, X, 488 Seiten €[D] 60,- ISBN 978-3-7720-2026-1 36 Michael Stolz ‹Tum› - Studien Zur dichterischen Gestaltung im Marienpreis Heinrichs von Mügeln 1996, XII, 522 Seiten €[D] 60,- ISBN 978-3-7720-2027-8 37 Joachim Theisen Arigos Decameron Übersetzungsstrategie und poetologisches Konzept 1996, IV, 670 Seiten €[D] 99,- ISBN 978-3-7720-2028-5 38 Susanne Bürkle Literatur im Kloster Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts 1998, VIII, 368 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-7720-2029-2 39 Henrike Lähnemann Der ‹Renner› des Johannes Vorster Untersuchungen und Edition des cpg 471 1998, X, 532 Seiten €[D] 93,- ISBN 978-3-7720-2030-8 40 Albrecht Hausmann Reinmar der Alte als Autor Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität 1999, X, 371 Seiten €[D] 89,- ISBN 978-3-7720-2031-5 41 Gert Hübner Lobblumen Studien zur Genese und Funktion der «Geblümten Rede» 2000, X, 504 Seiten €[D] 89,- ISBN 978-3-7720-2032-2 42 Johanna Thali Beten - Schreiben - Lesen Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal 2003, X, 385 Seiten €[D] 72,- ISBN 978-3-7720-2033-9 43 Susanne Köbele Frauenlobs Lieder Parameter einer literarhistorischen Standortbestimmung 2003, VIII, 286 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-2034-6 44 Gert Hübner Erzählform im höfischen Roman Studien zur Fokalisierung im «Eneas», im «Iwein» und im «Tristan» 2003, X, 458 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-2035-3 45 André Schnyder Das geistliche Tagelied des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Textsammlung, Kommentar und Umrisse einer Gattungsgeschichte 2004, XIV, 832 Seiten €[D] 124,- ISBN 978-3-7720-2036-0 46 Jörg Seelhorst Autoreferentialität und Transformation Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse 2003, 410 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-2037-7 47 Michael Stolz Artes-liberales-Zyklen Formationen des Wissens im Mittelalter (2 Bände) 2003, XX, 992 Seiten €[D] 248,- ISBN 978-3-7720-2038-4 48 Bruno Quast Vom Kult zur Kunst Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit 2003, 237 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8019-7 49 Sandra Linden Kundschafter der Kommunikation Modelle höfischer Kommunikation im ‹Frauendienst› Ulrichs von Lichtenstein 2004, X, 451 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8045-6 50 Andreas Kraß Geschriebene Kleider Höfisches Identität als literarisches Spiel 2006, X, 421 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8129-3 51 Annette Gerok-Reiter Individualität Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik 2006, X, 350 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8169-9 52 Henrike Manuwald Medialer Dialog Die «Große Bilderhandschrift» des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte 2008, X, 638 Seiten €[D] 148,- ISBN 978-3-7720-8260-3 53 Justin Vollmann Das Ideal des irrenden Lesers Ein Wegweiser durch die ‹Krone› Heinrichs von dem Türlin 2008, X, 272 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8311-2 54 Bernd Bastert Helden als Heilige Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum 2010, X, 492 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8356-3 55 Balázs J. Nemes Von der Schrift zum Buch - vom Ich zum Autor Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des ‹Fließenden Lichts der Gottheit› Mechthilds von Magdeburg 2010, X, 555 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8362-4 56 Tanja Mattern Literatur der Zisterzienserinnen Edition und Untersuchung einer Wienhäuser Legendenhandschrift 2011, X, 446 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8375-4 57 Rachel Raumann Fictio und historia in den Artusromanen Hartmanns von Aue und im «Prosa-Lancelot» 2010, X, 330 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8376-1 58 Christiane Krusenbaum-Verheugen Figuren der Referenz Untersuchungen zu Überlieferung und Komposition der ‹Gottesfreundliteratur› in der Straßburger Johanniterkomturei zum ‹Grünen Wörth› 2013, X, 685 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8476-8 59 Stefan Matter Reden von der Minne Untersuchungen zu Spielformen literarischer Bildung zwischen verbaler und visueller Vergegenwärtigung anhand von Minnereden und Minnebildern des deutschsprachigen Spätmittelalters 2013, XII, 569 Seiten, 48 Farbtafeln €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8477-5 60 Astrid Lembke Dämonische Allianzen Jüdische Mahrtenehenerzählungen der europäischen Vormoderne 2013, 400 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8498-0 61 Coralie Rippl Erzählen als Argumentationsspiel Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition 2014, XII, 390 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8528-4 62 Anna Kathrin Bleuler Essen - Trinken - Liebe Kultursemiotische Untersuchung zur Poetik des Alimentären in Wolframs ‹Parzival› 2016, X, 351 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8541-3 63 Hans Rudolf Velten Scurrilitas Die Komik des Körpers in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit 2016, ca. 456 Seiten €[D] ca. 88,- ISBN 978-3-7720-8541-3 64 Susanne Bernhardt Figur im Vollzug Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der ‹Vita› Heinrich Seuses 2016, 330 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8543-7 Die Vita Heinrich Seuses zählt aufgrund ihrer Komplexität und ihres literarischen und theologischen Anspruchs zu den herausragenden Textzeugnissen der spätmittelalterlichen mystischen Literatur. Die vorliegende Arbeit erschließt die Vita über die Figur des Dieners der ewigen Weisheit, die das narrative Zentrum bildet. Die narratologische Kategorie ‚Figur‘ wird dazu erweitert und für den geistlichen Text und seinen Entwurf eines geistlichen Lebensmodells adaptiert. Mit diesem Ansatz kann die Textanalyse beschreiben, welche narrativen Verfahren die Figur konstituieren und in welchem Verhältnis die narrative Gestaltung und die theologischen Konzepte stehen.