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Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne

2017
978-3-7720-5606-2
A. Francke Verlag 
Hermann Gätje
Sikander Singh

Orpheus, Johann Ohneland, Hiob - zahlreiche Identitäten hat der deutsch-französisch-jüdische Schriftsteller Yvan Goll (1891 bis 1950) dichterisch adaptiert, um seine ambivalente Position zwischen den Nationen und Kulturen zu versinnbildlichen. In der expressionistischen Sammlung "Menschheitsdämmerung" ist er mit sieben Dichtungen vertreten. Aber nicht nur die Aufnahme in das Standardwerk des deutschen Expressionismus hat das Urteil der Literaturgeschichte über ihn bestimmt. Indem Goll zu Beginn des Ersten Weltkrieges in die Schweiz emigrierte, wo er sich dem Kreis von Pazifisten um Romain Rolland anschloss, und am Anfang des Zweiten Weltkrieges Frankreich verließ, um nach New York zu flüchten, ist die Zuordnung als Schriftsteller des Exils ebenfalls prägend für seine Nachwirkung geworden. Der Band fragt nach den Einflüssen und Wechselwirkungen der Moderne und ihrer Verlaufsformen auf sein Werk.

ISBN 978-3-7720-8606-9 Orpheus, Johann Ohneland, Hiob - zahlreiche Identitäten hat der deutsch-französisch-jüdische Schriftsteller Yvan Goll (1891 bis 1950) dichterisch adaptiert, um seine ambivalente Position zwischen den Nationen und Kulturen zu versinnbildlichen. In der expressionistischen Sammlung „Menschheitsdämmerung“ ist er mit sieben Dichtungen vertreten. Aber nicht nur die Aufnahme in das Standardwerk des deutschen Expressionismus hat das Urteil der Literaturgeschichte über ihn bestimmt. Indem Goll zu Beginn des Ersten Weltkrieges in die Schweiz emigrierte, wo er sich dem Kreis von Pazifisten um Romain Rolland anschloss, und am Anfang des Zweiten Weltkrieges Frankreich verließ, um nach New York zu flüchten, ist die Zuordnung als Schriftsteller des Exils ebenfalls prägend für seine Nachwirkung geworden. Der Band fragt nach den Einflüssen und Wechselwirkungen der Moderne und ihrer Verlaufsformen auf sein Werk. HERMANN GÄTJE, SIKANDER SINGH (HRSG.) Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne Gätje • Singh (Hrsg.) www.francke.de Konjunktionen-- Yvan Goll im Diskurs der Moderne Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 1 Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 1 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Konjunktionen- - Yvan Goll im Diskurs der Moderne Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-7720-8606-9 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft Gertrude Cepl-Kaufmann, Düsseldorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Johann Ohneland - Johann Ohnesprach? Yvan Golls translinguales Werk im Kontext mehrsprachiger Schreibverfahren der literarischen Moderne Dirk Weissmann, Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung Karina Schuller, Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 „Keine Politik, direkte Tat.“ Yvan Goll, Germaine Berton und der Anarchismus in der Moderne Sikander Singh, Saarbrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Expressionistische Alpen-Passion. Pazifistische Idealisierung der Schweiz bei Yvan Goll und anderen Eva Wiegmann, Luxembourg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll Jasmin Grande, Düsseldorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 „Leur Charlie et notre Charlot“. Zu Yvan Golls und Fernand Légers Chaplin-Rezeption Alexander Gaude, Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Père Ubu wird Bürger. Yvan Golls Methusalem (1922) im französisch-deutschen Kontext Hanna Klessinger, Freiburg im Breisgau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Der Neue Orpheus. Transmediale Konstruktionen des Orpheus-Mythos im Werk von Yvan Goll, Kurt Weill und Jean Cocteau Matthias Müller-Lentrodt, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6 Inhaltsverzeichnis „Jeder ist Orpheus“. Der Orpheus-Mythos und Unterweltvisionen in der Lyrik Yvan Golls Hermann Gätje, Saarbrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 „Ne touchez pas à mes arbres“. Naturmythos und Modernisierung in Yvan Golls Mélusine Manfred Schmeling, Saarbrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“. Yvan Golls letzte deutsche Gedichte und seine Begegnung mit Paul Celan Barbara Wiedemann, Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 „Der Mensch hat sich die Sterne erfunden“. Konstellationen des Verhängnisses in Yvan Golls Werk Nelia Dorscheid, Saarbrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Vorwort 7 Vorwort In der von Kurt Pinthus herausgegebenen Sammlung Menschheitsdämmerung ist Yvan Goll mit sieben Dichtungen vertreten, darunter sind auch die Vers- und Prosafassungen des Panamakanals . 1 Aber nicht nur die Aufnahme in das Standardwerk des deutschen Expressionismus hat das Urteil der Literaturgeschichtsschreibung über das Werk des deutsch-französischen Schriftstellers wesentlich bestimmt. Indem Goll zu Beginn des Ersten Weltkrieges in die Schweiz emigrierte, wo er sich dem Kreis von Pazifisten um Romain Rolland und Henri Guilbeaux anschloss, und am Anfang des Zweiten Weltkrieges die französische Hauptstadt verließ, um nach New York zu flüchten, ist die Zuordnung als Schriftsteller des Exils ebenfalls prägend für die Nachwirkung seiner Dichtungen geworden. Und weil Goll in Saint-Dié in den Vogesen geboren worden ist, weil er in Metz aufwuchs, in Straßburg studierte, weil sich in seinen lothringisch-elsässischen Jahren deutsche und französische Einflüsse mischen, aber auch weil er einer jüdischen Familie entstammte, sind Alterität, Fremd- und Heimatlosigkeit wiederkehrende Themen seiner Texte. Nicht zuletzt haben auch jene Dichtungen, die während der Zwischenkriegszeit entstanden sind, die Goll in Berlin und Paris im Spannungsfeld der deutschen und der französischen Avantgarde verbrachte, zu der „Ortlosigkeit“ seines Werkes in der Geschichte der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts beigetragen. Vor diesem Hintergrund fragen die Beiträge des vorliegenden Bandes nach den Einflüssen und Wechselwirkungen der Moderne und ihrer Verlaufsformen auf das Werk Yvan Golls. Neben Untersuchungen, die Fragen der Intertextualität wie der traditionellen Einflussforschung in den Blick nehmen, diskutieren sie die ästhetische Programmatik seiner Dichtungen im Kontext poetologischer Diskurse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da Yvan Goll (gemeinsam mit seiner Ehefrau Claire) vielfältige, künstlerisch produktive Kontakte zu Schriftstellern, bildenden Künstlern und Musikern pflegte, werden auch die persönlichen Beziehungen zwischen dem Schriftsteller und Künstlerkollegen in den Blick genommen und ihre Signifikanz für das Werk untersucht. Schließlich wird auch die Nachwirkung von Yvan Goll wird behandelt. Nach seinem Tode gelangte er vor allem durch die sogenannte „Celan-Goll-Affäre“ in den Blickpunkt wissenschaftlicher und öffentlicher Debatten; diese überlagern bis in die Gegenwart seinen wesentlichen Einfluss auf nachfolgende Lyrikerge- 1 Vgl. Andreas Kramer und Robert Vilain: Yvan Goll. A Bibliography of the Primary Works. Bern [u. a.] 2006 [Britische und Irische Studien zur deutschen Sprache und Kultur 26], S. 88 f. nerationen. So ist die postume Rezeption seiner Werke unter unterschiedlichen Aspekten von Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf seine Aktualität im Diskurs an der Schnittstelle zwischen deutscher und französischer Kultur. Die hier versammelten Aufsätze basieren auf den Ergebnissen einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes im März 2016 nach Saarbrücken eingeladen hat. Die Herausgeber danken dem Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes, das die Ausrichtung der Tagung durch ihr großzügiges Engagement finanziell unterstützt hat, den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und - nicht zuletzt - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor- Lux-Elsass für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes. Saarbrücken, im Frühjahr 2017 Hermann Gätje und Sikander Singh 8 Vorwort Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 9 Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft Gertrude Cepl-Kaufmann, Düsseldorf Zeitgenossen hat der im Düsseldorfer „Jungen Rheinland“ und darüber hinaus präsente Arthur Kaufmann seine Hommage an die Künstler seiner Generation genannt (Abb. 1). Der Bildtitel spricht für ein Generationengefühl, für das nicht das Besondere das Typische war, sondern die über das individuelle Schicksal hinausweisende Gemeinsamkeit. Gert Wollheim hatte es im Buch Eins des Aktivistenbundes trefflich auszudrücken vermocht: „Also, ich gebe jetzt ausdrücklich dem Wort ‚Ich‘ eine neue Bedeutung“. Am Ende des Prosagedichtes scheint das Ich zum Wir verwandelt, lebendig geworden als „unsere große klingende Gemeinschaft“. 1 Fragt man nach dem, was dieses Gefühl der Zeitgenossenschaft begründet hat, so ist es die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg. Das Erlebnis des Krieges zerbrach die Welt der Sicherheit. 2 Ungeahntes Grauen hatten die neue Waffentechnik und ein über Jahre die Würde der Person verletzender Stellungskrieg in den Schützengräben bedeutet. Es ging nicht mehr um Heldentum, um den heroischen Kampf Mann gegen Mann, sondern um einen Krieg der Waffensysteme, im Extrem um einen Giftgaskrieg. Eine menschliche, menschheitliche und - eine künstlerische Herausforderung! Wie sollte man das nie Erwartete, nie Erlebte, nie Ausdenkbare überhaupt ins Bild verwandeln? Ludwig Meidners apokalyptische Stadtlandschaften und Ludwig Kirchners Großstadtbilder hatten zwar schon vor dem Krieg viel von dem zu bewältigen versucht, was sensible Zeitgenossen der ‚Moderne‘ als Erfahrung der Entfremdung, zumal in der Großstadt, zu verkraften und in eine künstlerische Sprache umzusetzen hatten, aber das war wenig gegenüber den Grauen des Krieges, die es nun künstlerisch zu meistern galt. Otto Dix hat in einem nicht weniger als fünfzig Blätter umfassenden Kriegszyklus seine inneren Bilder aus jahrelanger Fronterfahrung verarbeitet und Gert Wollheim schockte mit seinem das eigene Erleben als Kriegsversehrter nicht aussparenden großfor- 1 Gert Wollheim in: Das Buch Eins des Aktivistenbundes 1919. Düsseldorf 1920, ohne Seitenzählung. 2 Vgl. zum Topos „Welt der Sicherheit“ Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Stockholm 1944. Zweigs im Exil, kurz vor seinem Freitod entstandener Rückblick auf die Vorkriegszeit vermittelt eine Lebenswelt, die in vielerlei Hinsicht im Kontext von Leben und Werk Golls gelesen werden muss. 10 Gertrude Cepl-Kaufmann matigen Ölbild Der Verwundete , dessen Anblick in Düsseldorf, wohin Künstler aus ganz Deutschland zusammen gekommen waren, so provozierte, dass es zur Ikone der rheinischen Kunstszene avancierte. 3 Die Künstler und Intellektuellen kamen nicht von ungefähr in diese westeuropäische Kernregion. Hier war das prallste, aber auch ein besonders problemgesättigtes Leben angesagt. Im Folgenden wird deshalb ein vergleichender Blick auf und in die rheinische Szene als Zugang zur Einschätzung des Stellenwerts, den Yvan Goll in seiner Zeit hatte, genutzt, da in dieser politisch umstrittenen, 3 Gert Wollheims Mittelstück eines Triptychons wurde auch einhundert Jahre später, diesmal deutschlandweit, beachtet und 2014, in der Erinnerungskultur zum Ersten Weltkrieg, in vielen großen Ausstellungen gezeigt, von den „Avantgarden im Kampf “ in der Bundeskunsthalle in Bonn bis zur Erinnerungsschau im Historischen Museum Berlin. Zur zeitgenössischen Wirkung vgl. Erinnerungen der Johanna Ey. In: Annette Baumeister (Hg.): Treffpunkt „Neue Kunst“. Erinnerungen der Johanna Ey. Düsseldorf 1999. Abb. 1: Arthur Kaufmann: Zeitgenossen; v. l. n. r., untere Reihe: Gert Wollheim, Johanna Ey, Karl Schwesig, Adalbert Trillhase; hintere Reihe: Herbert Eulenberg, Theo Champion, Jankel Adler, Hilde Schewior, Ernst te Peerdt (auf der Staffelei), Arthur Kaufmann, Walter Ophey, Otto Dix, Frau Kaufmann, der Pädagoge H. H. Nicolin (Stadtmuseum Düsseldorf). Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 11 urbanen Kulturregion sich die Ereignisgeschichte ebenso wie die mentalen und geistigen Brüche dieser Ära wie in einem Fokus gebündelt vorfanden. 4 Es war eine fragwürdige, ebenso fragile wie utopisch vorwärts preschende Gemeinde, denn hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zum „Erbfeind“ Frankreich und betroffen von den Folgen des Versailler Vertrages, 5 der sich in jahrelanger Besetzungspolitik und mehr oder weniger subtiler Unterdrückung durch die Franzosen unmittelbar vor der Haustür bemerkbar machte, hatte man es mit einer seit Jahrhunderten politisch umkämpften Grenzregion zu tun, was nicht ausschloss, dass sich hier seit der Jahrhundertwende eine avancierte, grenzüberschreitend vernetzte Industriegesellschaft entwickelt hatte. 6 Mit der latenten Gefahr neuer Konflikte zeigte sich in dieser Umbruchzeit ein sensibles Gespür für die mentalen Einbrüche, die Krieg und Nachkriegszeit mit sich gebracht hatten. Aber, so lässt sich sehen, diese Grenzregion, in der sich vor dem Krieg mit großen Ausstellungen und Austauschprozessen in vielen Lebensbereichen schon ein europäisch dimensioniertes gesellschaftliches Ganzes gebildet hatte, konnte, wenn auch eingeschränkt, noch von einer solchen Fundierung leben. Yvan Goll geriet mit seiner Herkunftsregion Lothringen ebenfalls in eine Problemlage im Kontext deutsch-französischer Auseinandersetzungen. Auch er gerät zwischen die Fronten und Zeiten. Auch ihm wird nolens volens die Frage aufgezwungen, was ihn als Zeitgenossen ausmacht. Anders als Goll hatten die so firmierenden Zeitgenossen der rheinischen Szene, dieser dicht besiedelten Wirtschafts- und Handelsregion von besonderer Modernität, erkennbar in einer kulturellen Identität, in der sich Wirtschaftsbürgertum und 4 Im Kontext der Erinnerungskultur zum Ersten Weltkrieg hat der Landschaftsverband Rheinland in einem Großprojekt die Bandbreite der Ereignisse ausgestellt und in Diskursen reflektiert. Vgl. dazu Thomas Schleper (Hg.): Aggression und Avantgarde. Zum Vorabend des Ersten Weltkrieges. Essen 2014. Der Rückblick auf die Erinnerungskultur macht die Komplexität des Themas unter Einschluss der Erinnerungskultur deutlich, vgl. dazu Thomas Schleper (Hg.): Erinnerungen an die Zerstörung Europas. Rückblick auf den Großen Krieg in Ausstellungen und Medien. Essen 2016. 5 Wie gebräuchlich diese pejorative Benennung in höchsten politischen Kreisen war, dokumentiert die Rede Konrad Adenauers im Hansasaal des Kölner Rathauses vom Februar 1919 vor den Delegierten der Nationalversammlung. Abrufbar auf der Homepage des Konrad-Adenauer-Hauses: https: / / www.konrad-adenauer.de/ dokumente/ reden/ 1919-02- 01-rede-hansasaal (zuletzt aufgerufen am 11. Februar 2017). 6 2012 erinnerte das Museum Wallraf & Sammlung Corboud an die Kölner Sonderbund- Ausstellung des Jahres 1912, mit der die Moderne in Deutschland Einzug hielt. Das wissenschaftliche Kolloquium zu der Ausstellung erarbeitete die kulturelle Identität des Rheinlands als Kulturtransferland und europäische Wirtschaftsregion, vgl. dazu Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande / Georg Mölich (Hg.): Rheinisch! - Europäisch! - Modern! Netzwerke und Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg. Essen 2013. 12 Gertrude Cepl-Kaufmann Kulturschaffende durchaus verbunden wussten, kaum Teil an der Boheme. Hier gab es verführerische Märkte, auch für Kunst. 7 Die erhöhte Gefahr, statt der emanzipatorischen Freiheit eher die persönlichkeitsverletzenden Konsequenzen eines Industrie- und Metropolenzeitalters erleben zu müssen, war hier erheblich geringer. Doch Goll zog nichts in diese rheinischen Zentren, die für Intellektuelle aus ganz Deutschland bis Mitte der zwanziger Jahre so attraktiv zu sein schienen. Auf den Bilddokumenten inszenierter Selbstdarstellungen ist er nicht zu finden, auch nicht auf einer weiteren Ikone der künstlerischen Nachkriegsszene, Heinrich Hoerles gleichnamiges Ölbild (Abb. 2), auf dem die Zeitgenossen mit dem in dieser Zeit durchaus für einen rheinischen Sonderweg bereiten Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer sehr politisch eingefangen werden. Max Ernst malt das Ölbild Rendezvous des amis zur Zeit- und Gruppendiagnose (Abb. 3). Das dritte unserer exemplarischen Kollektivbilder geht über die Repräsentanz der Künstler- und Literatenszene hinaus und bezieht auch geistige Zeugen dieser Zeitgenossenschaft ein - zwischen Raffael und Dostojewski formiert sich ein Szenario, das durchaus Verbindung zum „Abendland“-Diskurs dieser Zeit zulässt. 8 Allenthalben finden wir solche Bemühungen um Bekenntnisse zur Gruppe und zu einem bewusst gestischen, intellektuellen, ästhetischen und gesellschaftspolitischen Zuschnitt der eigenen und kollektiven Existenz. So sehr Goll, wie sich im Weiteren zeigen wird, in die Szene des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gehörte, lässt sich diese ‚zeitgenössische‘ Nähe doch in evidenten Kontexten widerlegen. Dazu lassen sich, im Sinne Pierre Bourdieus, kulturelle Felder ausmachen. 7 Die Rolle des Kunsthandels und Kunsttransfers ist Forschungsthema im Kunsthistorischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Die Forschungen fanden Eingang in Ausstellung und Katalog: Antje Birthälmer / Gerhard Finckh (Hg.): Der Sturm. Zentrum der Avantgarde. Wuppertal 2012, hier besonders Bd. II. Die Thematik wurde vertieft in einem nachfolgenden Kolloquium, vgl. dazu Henriette Herwig / Andrea von Hülsen-Esch (Hg.): Der Sturm. Literatur, Musik, Graphik und die Vernetzungen in der Zeit des Expressionismus. Berlin 2015. 8 Oswald Spenglers 1918 erschienene Kulturkritik Der Untergang des Abendlandes fand weite Verbreitung. Adolf Uzarski, Mitglied des „Jungen Rheinland“ setzte sich satirisch mit dieser Massenwirkung auseinander: Adolf Uzarski: Tun-kwang-Pipi. Erlebnisse und Abenteuer der Expedition nach Europa nebst einem Bericht des Herrn Gustav Hetzer im Anhang. Aufgefunden, übersetzt und illustriert von Adolf Uzarski. Potsdam 1924. Einen positiven Abendland-Impuls setzte die christliche Existenzphilosophie, besonders Peter Wust und katholische Theologen aus dem Umfeld der Liturgischen Bewegung. Der Romanist Hermann Platz gab ab 1925 die Zeitschrift Abendland heraus, hatte sich aber schon vor dem Ersten Weltkrieg gemeinsam mit Robert Schuman und Heinrich Brüning für eine Aussöhnung mit Frankreich und eine europäische Idee engagiert. Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 13 Abb. 2: Heinrich Hoerle: Zeitgenossen, v. l. n. r.: Willi Ostermann, Konrad Adenauer, Soubrette Trude Alex, der Boxer Hein Domgörgen, Heinrich Hoerle (Kölnisches Stadtmuseum). Abb. 3: Max Ernst: Rendezvous des amis (Museum Ludwig, Köln). 14 Gertrude Cepl-Kaufmann I. Yvan Goll im Kontext der Kunstszene der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Nicht nur die Künstler, auch die gesamte Gesellschaft suchte nach dem Ersten Weltkrieg danach, die verloren gegangene Identität zu kompensieren und sich in der Nachkriegsgesellschaft neu zu definieren. Umfragen waren flächendeckend und in allen Medien angesagt. Nie schien man so wenig von sich zu wissen, seiner sicher zu sein! Hier konnte eine Generationen-Gemeinschaft zur Sensibilisierung für ein neues Selbstverständnis und die Suche nach neuer Heimat helfen. Künstler hatten hier einen beträchtlichen Vorteil, konnten sie doch an eine lange Tradition der Künstlergemeinschaften anschließen. Dies gelang ihnen auch im Anschluss an die Vorkriegsszene, in der sich die Expressionismen in den urbanen Zentren und / oder den zuzuordnenden ländlichen Enklaven, z. B. mit den Malern der „Brücke“ an den Moritzburger Seen und dem Blauen Reiter in bayrischen Seeidyllen. Mit dem Ende des Krieges erst zog das Rheinland, das zwar seit der Sonderbund-Ausstellung von 1912 als Transferregion für die von Paris nach Berlin wandernde Moderne bekannt war, aber noch keine überregionalen Künstlergruppen ausbilden konnte, nach. Nun entwickelte sich auch hier im Geist des Spätexpressionismus ein eigenwilliges „Oh Mensch“- Pathos, das nicht nur die Texte dieser Zeit prägte, sondern auch den bekennerischen Gestus. Wir finden ihn sehr ausgeprägt in der „Kalltagemeinschaft“. 9 Die „Kölner Progressiven“ waren, dank ihrer Dada-Szene um Max Ernst, Hans Arp und Hoerle schon einen Schritt in Richtung Neue Sachlichkeit unterwegs. Mit dem Titel ihrer Zeitschrift A-Z erhoben sie eine Art nachdadaistischer Beschreibung der Welt im archaischen Abstraktionssystem, dem Alphabet zum Programm. In Düsseldorf formierte sich das „Junge Rheinland“ sehr viel politischer. 10 Der „Aktivistenbund 1919“ und die im „Geiste Gustav Landauers“ in Düsseldorf Eller angelegte Anarchisten-Siedlung „Freie Erde“ wirkten unmittelbar in die städtische Szene hinein, z. B. durch Theaterprojekte, für die sie sich mit dem international bekannten Reformtheater von Louise Dumont, an dem Landauer vor seinem Engagement in der Münchner Räterepublik als Dramaturg angestellt worden war, zusammentaten. 11 9 Vgl. dazu Gertrude Cepl-Kaufmann: Gustav Landauer im Friedrichshagener Jahrzehnt und die Rezeption seines Gemeinschaftsideals nach dem Ersten Weltkrieg. In: Hanna Delf / Gert Mattenklott (Hg.): Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Tübingen 1997 [Conditio Judaica 18], S. 235-278, hier auch zu weiteren Initiativen S. 251 f. 10 Ulrich Krempel (Hg.): Am Anfang: Das Junge Rheinland. Zur Kunst- und Zeitgeschichte einer Region. 1918-1945. Düsseldorf 1985. In einem Forschungs- und Ausstellungsprojekt zum einhundertsten Gedenken erarbeitet das Kunstmuseum Düsseldorf eine vertiefte Quellenbasis. 11 Die Inschrift „Diese Siedlung errichteten wir im Geiste Gustav Landauers“ befand sich auf einem Findling vor dem Eingang zur Siedlung. Vgl. dazu Ulrich Klan / Dieter Nelles: Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 15 Sowohl die lokal verorteten, die Köln-Düsseldorfer Kooperationen als auch die im Dada-Kontext europäisch vernetzten Intellektuellen bekannten sich zu einem dominierenden Moment, durch das sie sich zusammengehalten wussten. Franz Wilhelm Seiwert, in beiden Städten präsent, hatte diese rheinisch-topographische Selbstdeutung öffentlich gemacht: Man sei nicht „aus zufall“ hier „sitzen geblieben“, sondern glaube, hier eine kulturpolitische arbeit zu leisten, die wir an keiner anderen stelle der erde besser leisten können, dass zum anderen wir glauben, dass der geist dieser landschaft in unserer arbeit einen ausdruck sucht, und dass unsere arbeit für den geist der landschaft zeugnis ablegt. 12 Goll hatte eine solche Anbindung an einen „Geist der Landschaft“ und damit eine topographisch benennbare, heimat-suggerierende Gruppe nicht. Einen kulturpraktischen Zusammenhang könnte man darin sehen, dass er sich nicht, wie so viele seiner Generation, schreibend und malend mit seiner Zeit auseinandersetzte. Die Kulturgeschichte spricht von Doppelbegabungen, tatsächlich aber suchte diese kreative Generation mit veränderten Wahrnehmungseindrücken und Sehgewohnheiten künstlerisch umzugehen und fand Lösungen in beiden Kunstpraktiken. Begünstigt wurde der Paradigmenwechsel von der Literatur zur Kunst durch Zentren im Umfeld von Kunstakademien, die in besonderer Weise auch Schriftsteller an sich banden, bevorzugt auch Theaterautoren. Düsseldorf ist für diese transdisziplinär aktive Szene ein Beispiel. Poeten, in den Cafés oder „Rosenkränzchen“ der Vorkriegszeit sozialisiert, suchten nun Teilhabe am Künstlerstammtisch, Künstler der Kunstakademien zog es zur schreibenden Zunft. Im Rosenkränzchen entwickelte sich eine eigene Transferregion: man traf als Student der Kunstakademie auf den älteren Typ von Kulturkreativität, den mit dem Mythos der einsamen Dichterklause konnotierten Poeten, den es für einen Dämmerschoppen in die Düsseldorfer Altstadt und damit in die Nähe der Akademie gebracht hatte. Für beide, Künstler und Schriftsteller, begann ein fruchtbarer Austausch. 13 Dieses kulturhistorisch interessante Moment traf nur bedingt für Goll zu. Was dessen Tendenz, für seine Literatur kongeniale Illustratoren zu finden, angeht, „Es lebt noch eine Flamme“. Rheinische Anarcho-Syndikalisten / innen in der Weimarer Republik und im Faschismus. Grafenau-Döffingen 1986, S. 279 f. Vgl. auch Michael Matzigkeit (Hg.): „… die beste Sensation ist das Ewige …“. Gustav Landauer - Leben, Werk und Wirkung. Ausstellung zum 125. Geburtstag Gustav Landauers. Theatermuseum der Stadt Düsseldorf und Dumont-Lindemann Archiv. Düsseldorf 1995. 12 Franz Wilhelm Seiwert: Gemälde, Grafik, Schriften. Prag 1934, S. 23. 13 Jasmin Grande: Das Rosenkränzchen (1909-1911). In: http: / / www.rheinische-geschichte. lvr.de/ themen/ Das%20Rheinland%20im%2020.%20Jahrhundert/ Seiten/ DasRosenkraenzchen.aspx (zuletzt aufgerufen am 11. Februar 2017). 16 Gertrude Cepl-Kaufmann so ist dies eher als Bestätigung zu lesen, dass er dem damals sich dramatisch entwickelnden Paradigmenwechsel von der Deutungshoheit der Literatur zu der der Kunst widerstand. Er vertraute weiter der seit den Tagen des Sturm und Drang geltenden Tradition einer Deutungshoheit der Literatur! II. Elsässisch-lothringische Lebensläufe Mit einer weiteren Vergleichsebene lässt sich Golls Zeitgenossenschaft deutlicher erkennen: Die latente Existenz zwischen den Lagern, durch die er sich auszeichnet, ist nicht, wie es eine pauschalisierende Kulturgeschichtsschreibung schnell ausmachen möchte, monokausal auf die familiäre Herkunft und Sprache aus einer deutsch-französischen Mischtradition zurückzuführen. Es ging auch anders: Ein Vergleich mit René Schickele, der wie Goll zweisprachig im Elsass zwischen den Kulturen aufgewachsen war, macht diese Differenz deutlich. Schickele finden wir früh im expressionistischen Straßburger Kreis der Stürmer in Rosen , wo auch Hans Arp, in Sachen Zweisprachigkeit der hier exemplarisch zu nennende Dritte, früh geprägt wurde. Arp und Schickele waren beide durchaus rheinisch aktiv: Arp in der Dada-Szene Köln, Schickele im „Bund Rheinischer Dichter“ (Abb. 4). Doch zunächst sucht er politische Freunde in Berlin, wird schon 1913 mit Heinrich Mann im „Bund Neues Vaterland“ tätig, sammelt im Krieg mit den Weißen Blättern Gleichgesinnte und bündelt pazifistische Stimmen im Zürcher Europa-Projekt. Obwohl Goll 1919 gemeinsam mit Gustav Landauer Walt Whitmans Der Wundarzt. Briefe, Aufsätze und Gedichte aus dem Amerikanischen Sezessionskrieg übersetzt und von Schickele im Europa-Verlag herausgeben lässt, wird man ihn nicht allzu nahe an den mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges ebenfalls ‚zwangsentheimateten‘ Schickele herangerückt sehen dürfen. Dieser sah sich nicht minder auf der Suche. Sein Nomadentum führt ihn in den zwanziger Jahren von den Linksintellektuellen in Frankreich wieder zurück nach Deutschland, ins Badische. Von dort aus pflegte er seine deutsch-französischen Visionen im engeren Kreis der Aktiven im „Bund rheinischer Dichter“, der seinem Versöhnungsprogramm für beide Seiten des Rheins in besonderer Weise entgegenkommt, bevor er im südfranzösischen Sanary landet und letztlich beschließt, seine deutsche Vatersprache endgültig aufzugeben. War Arps Dadaismus ein fast surrealistisch, an Max Ernst anklingendes und mit ihm gemeinsam z. B. auch in Köln betriebenes ästhetisches Programm, suchte Schickele nach politischen Lösungen, denen er seine Literatur zuwies, ja, vielleicht unterordnete - von Hans im Schnakenloch bis zur Trilogie Das Erbe am Rhein . Was fällt im Vergleich zu Yvan Goll auf ? Ein solcher Hang zur Einbindung in konkrete, programmatisch agierende Formationen, auch wenn sie, wie bei Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 17 Arp und Schickele wechseln konnten, fehlte Goll, nicht aber die Bereitschaft und Motivation, Verbündete für eine Art geistige Heimat zu suchen. Eine solche ortlose Geistesverwandtschaft konnte Goll tatsächlich auch mit einem Gleichgesinnten im Rheinland gewinnen. Er schloss Freundschaft mit Walter Rheiner, dem heute fast gänzlich vergessenen, an seiner Kokainsucht zugrunde gegangenen Kölner Autor. Dieser war frankophil, westeuropäisch, rheinisch, dennoch ortlos, kein Jude und verloren zwischen den Kulturen. Siedelte sich Walter Rheiner auf bemerkenswert kosmischen Landkarten an, wie sie eines seiner bekanntesten Gedichte, „Des Himmels Kontinente“ zeichnet, 14 unternahm Yvan Goll ein schier auf Scheitern angelegtes Besichtigungsprogramm in der Ruine Europa! Nicht: der kranke Mann am Bosporus, von dem damals viel die Rede war, sondern ein Sinnbild für ein noch zu etablierendes Denkbild vom Kranken Mann / Intellektuellen an / in Europa. Die heterogene Sammlung von Freunden, die sich ergab, erfüllte in dieser Zeit keine medienpräsente, prägende Funktion für das kulturelle Leben der Nachkriegszeit. Waren für Arp und Schickele die Kreise, zu denen sie Verbindung suchten, öffentlich bekannte, identifikatorisch wirkende Kulturmuster, für die Entwicklung eines Nachkriegs-Weltbildes ebenso produktiv Impulse erzeugende wie für eine avancierte Ästhetik, erscheinen die Partnerschaften, die Goll findet, eher dem Bedürfnis nach einer Sammlung Übriggebliebener zu folgen. 14 Walther Rheiner: Des Himmels Kontinente. In: Zeit-Echo, Bd. 2, Nr. 4 ( Januar 1916), S. 57. Abb. 4: Der „Bund Rheinischer Dichter“. 18 Gertrude Cepl-Kaufmann Entsprechend privatistisch werden sie bis heute gedeutet, auch Golls unstetes Leben - ein, um es mit einem poetischen Bild zu charakterisieren, das Günter Grass in vielen seiner Texte verwendet hat, Dazwischen liegen wir drinnen. III. Zenitismus als Generierungspraxis und Lebensstil Goll verband sich mit Persönlichkeiten, die wie er in diese Zeit hineingeworfen waren und mit denen er dieses Entfremdungserleben teilen und analysieren konnte, ja, seine Freunde repräsentierten in gewisser Weise Einstellungen, die in toto doch wieder eine Gruppe abgaben: die der skeptischen Intellektuellen Europas. Im Zenitismus der serbischen Avantgarde hatte er, gegen die Deutungshoheit des Westens, auch gegen dessen Verfallserscheinungen, einen gewissen antieuropäischen Zug erhalten, wenn man auch deren Kunstströmungen, vor allem den Surrealismus, als Antipoden geradezu brauchte. Sie verstanden sich in diesem Sinne als durchaus politisch und als der andere Teil Europas. Es läge nahe, sie, einschließlich Goll, als Gruppe der Geistigen zu klassifizieren und als Nachfahren aus dem mit Heinrich Manns epochalem Manifest Geist und Tat von 1910 begründeten Sammelbecken politisch motivierter Literaten zu sehen und sie bis in den Aktivismus und die Weimarer Demokratie weiter zu verfolgen. 15 Doch der kämpferische Glaube an die Republik, den Heinrich Mann und Alfred Döblin bis zum Zusammenbruch der Demokratie vertreten haben, war nicht Golls Bekenntnis. Er war retrospektiv europäisch unterwegs. Die Brückenschläge z. B. zur Avantgarde in der Sowjetunion, zu einem der großen Theatermodernen, Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, und dem futuristischen Dichter Wladimir Majakowski, waren nur ein Baustein für ein kaum fixierbares Format, das mit dieser europäischen Aktivität entstand. Unter welcher epochalen Benennung konnte sich diese vagierende, weder mit einem Treffort noch einem erklärten gemeinsamen Ziel zu verbindende Nicht-Gemeinde zu erkennen geben? Die Verknüpfung mit einer alternativen Tradition zeigt: hier waren die ‚Zeitgenossen‘, denen die Welt so zerbrochen war, dass sie sich in einer Negation fassen lässt. Christa Wolf hat sie, Karoline von Günderode und Heinrich von Kleist fiktiv vereinend, schlüssig definiert: Kein Ort nirgends . Die Chance einer solchen Freiheit sahen sie in der Einlassung auf ein Prinzip der Moderne, das sich mit dem Avantgarde-Begriff verband und sich als Suche nach einer Art Vorreiterschaft in der Selbstdeutung auswirkte. Man wurde wer als Schöpfer neuer Ismen! Dies trifft auf bemerkenswerte Weise auf Yvan Goll zu. 15 Heinrich Manns programmatischer, weitverbreiteter Appell Geist und Tat erschien in: Heinrich Mann. Geist und Tat. Franzosen 1780-1939. Berlin 1931. Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 19 Helmuth Kiesel hat in seiner Analyse Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung die Fülle der Ismen, 16 quantitativ weit über die von Hans Arp und El Lissitzky 1925 als Kunstismen zusammengetragenen Strömungen der Moderne hinausgehend, 17 im Anschluss an die Manifeste-Sammlungen von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders genannt. 18 Oft wurden die unter dem Diktat des Spontaneismus stehende Klassifizierung, wie Kiesel ausführt, durchaus mit der schnellen Ablösung erst legitimiert. Die Tradition des Naturalismuskritikers Hermann Bahr, der schon in der ersten Erfolgsphase des Bühnennaturalismus dessen „Überwindung“ diagnostiziert hatte, lieferte dazu den zum Klassiker des Diskurses avancierten Begriff. 19 Das für die Naturwissenschaften prägende Evolutionsdenken des 19. Jahrhunderts wurde hier in die Klassifizierung der Kulturzeiten weitergeschrieben. Golls Definition des Zenitismus verrät damit mehr über den Zwang zur Dauerinnovation und liest sich so eher als eigene poetische Metapher denn als ästhetisches Programm. Im Essay Das Wort an sich gesteht der Autor eine solche selbstreferentielle Attitude: „Zenitismus könnte man nennen die Bändigung und Zusammenballung aller Ismen, und man müsste das Beste nehmen aus allen, die da heißen Futurismus, Kubismus, Kreationismus, Ultraismus, Dadaismus“. 20 IV. Zur Genealogie von Golls Modern-Ismen Zeichnet sich Yvan Goll durch den Verzicht auf die Einbindung in eine der Nachkriegszentren und die mangelnde Bereitschaft zu einer expliziten Zuordnung in einer bekenntnisfreudigen Zeit aus, hinderte dies den Schriftsteller nicht, besonders verwegen mit solchen Zuordnungskategorien zu operieren. Dieses geradezu provokative, gegenläufige Verfahren zeigt sich über die Zenitismus- Adaption hinaus auch in Golls Umgang mit etablierten Kulturmustern. Ob Mut dazugehörte, beim Versuch der Selbstpositionierung in einer der Modern-Ismen der Zeit auf den in den ersten Jahren des Jahrhunderts aufbrechenden Kubismus zurückzugreifen? Er hat diesen Schritt nicht gescheut. 16 Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, S. 32 f. 17 Hans Arp / El Lissitzky: Die Kunstismen / Les Ismes de l’Art / The Ismes d’Art. Erlenbach- Zürich [u. a.] 1925. 18 Wolfgang Asholt (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Stuttgart und Weimar 2005; Walter Fähnders (Hg.): Avantgarde und Moderne 1890-1933. Aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Stuttgart 2010 [Lehrbuch Germanistik 2]. 19 Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus. Dresden 1891. 20 Zitiert nach: Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne (Anm. 16), S. 33. 20 Gertrude Cepl-Kaufmann Zum Verständnis, was eine solche bewusste Entscheidung bedeutete, hilft wieder einmal der Vergleich: Suchten Ernst, Arp, Schickele, die Dadaisten in der Nachkriegszeit nach einer Synthese-Lösung als Antwort auf künstlerische Fragen, implizit aber auch als Therapie für die damalige Gesellschaft, eine Alternative, die Kunst und Leben in gleicher Weise umfassen musste, war Goll auf Seiten der Analytiker, der rücksichtslos aufs Ganze gehenden Analysten einer zerbrochenen, in Trümmern daliegenden Welt. Später erst kommt er in der Ausdifferenzierung des Blicks auf eigene Synthese-Konzepte, die die Erfahrungen seiner gesammelten Analysen bündeln. Im Roman Die Eurokokke , der sich das Paris dieser Zeit vornimmt, und Sodom und Berlin , dem Roman, der schon im Titel eine klare Matrix vermittelt, werden die Beobachtungen in eine eigene Narration überführt. Diese beiden Deutungsmuster werden als Zeitdiagnose topographisch festgemacht. Doch während ein Arp oder Schickele Heilslandschaften suchten - sei es in der naturmythischen Abstraktion wie Arp oder der rheinisch dimensionierten Versöhnungsidee folgend wie Schickele -, blieb der analytische Zugriff, den wir bei Goll sehen, das Leidenselement, das Motor seines umtriebigen Lebensstils wurde. Der Gewinn war nicht unbeträchtlich: Anders als in der Kunst erkannte er komplexe Bilder in diesen Trümmern, reduzierte sie nicht auf Material und Artefakt, also die hohen Motivationsfaktoren, die in den Kubisten-Kreisen des Jahrhundertbeginns primär die Suche nach einer zeitadäquaten Ästhetik geleitet hatte. Golls Dekomposition war von Ideen getragen, die Abstraktionen mit retrospektiv angelegten geopolitischen Denkbildern zu verbinden, also eine Verortung des Abstrakten im Raum vorzunehmen! Die so literarisch entstehenden Räume verloren ihre Authentizität zugunsten der Inszenierung. Aus der Stadt-Landschaft wurde eine Kulisse, in der sich die Stadt-Landschaft zugleich entzauberte. Das Figurenensemble seiner Romane: z. B. die geopolitischen Typisierungen im Roman Der Mitropäer , gebunden an die Trias um die schöne Russin Sonja, sind Muster, die literarisch den z. B. zuweilen im biederen Erzählstil des 19. Jahrhunderts erstehenden Rheinlandschaften eines Schickele durchaus avancierter begegnen! Diese genuine Entzauberungsästhetik war der literarische Zugewinn zum Ende der zwanziger Jahre. Wir finden Goll in einer bemerkenswerten Art von negativer Freiheit. Wo liegt die Quelle für diese kontradiktorische Ästhetik und das ihr zugrundeliegende Lebensprogramm? Auch hier könnte sich der Blick auf bemerkenswerte, zeittypische Verschiebungen zwischen Ereignis- und Empfindungszeit lohnen: Für den Verlust angeklagt wurde, auch von Goll, der Krieg, der Sündenfall, die riesige, verlorene Menschheits-Schlacht. Der Schrecken war aber nicht die alleinige Ursache. Vor allem nicht im Fall Goll. Goll hatte den Krieg nicht mitgemacht, sich dem unmittelbaren Kriegsgeschehen durch seine Flucht Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 21 ins Schweizer Exil entzogen. Auch dies hat, vergleicht man die Fülle der künstlerischen und literarischen Ansätze, mit denen das Kriegerleben verarbeitet wurde, Folgen: Es ist nicht das Trauma eines Verschütteten, eines Giftgasgeschädigten, eines Schützengrabenerlebnisses - einschließlich der im und mit dem Tod empfundenen Kameradschaft, die viele mitbrachten. Golls Schmerz ist ungleich größer: es ist der Verlust einer Welt, die ihm eine intellektuelle Heimat geboten hatte. Das Trauma war eines ante festum! Dies gilt es, beim Versuch einer Positionierung zu erkennen. Interessant dürfte für diesen Zustand und unser Erkenntnisinteresse sein, dass Goll schon vorweg von dieser Krankheit befallen war und seine geistige Heimat auf dem Monte Verità suchte. Der bot seit den achtzehnhundertneunziger Jahren das Deutungsmuster Heilbad, Sinnbild für eine ortlose Boheme und für ein krankes Europa - wenn man ihre geistigen Eliten betrachtet, gekommen, nicht um Natur als positiv zu erleben, sondern das Leiden daran zu kultivieren und zu inszenieren. Die Geschichte des Monte nach dem Ersten Weltkrieg zeigt, wie die Zivilisationskrankheiten dieser europäischen Boheme von der kriegsbedingten Leidensrealität eingeholt wurden. Yvan Goll bestätigt mit seiner Vita eine parallel zur Ereignisdatierung des frühen 20. Jahrhunderts, in die die Zeit 1914 bis 1916 wie ein alles verschlingender Moloch eingeschrieben ist - zu diagnostizierende Daseinsform, die sich aber nicht an die Urkatastrophe bindet. Mit dessen Vita, dem Hang zum Vagieren zwischen Kulturmustern wie Epochen und Ismen, können und müssen wir eine eigene Wahrnehmungsgeschichte schreiben, die zwar nicht ohne Krieg auskommt, aber ihn nicht mehr zum - um Heraklit zu zitieren - „Vater aller Dinge“ macht. Goll war ein Kriegsverletzter ohne Krieg. Er vertritt damit eine eigene Gruppe! Wesentlicher nämlich als die altersmäßige Nähe wirkte sich ein Generationserlebnis aus, das zunächst zur Gemeinschaftsutopie der damaligen Künstler und Intellektuellen geführt hatte, sich aber zunehmend bis in den Expressionismus hinein als Quelle des Leidens à la Monte erweisen sollte. Der Monismus! Dazu empfiehlt sich ein Blick auf die Deutungshoheit auf dem Feld der Kultur, die mit Golls bemerkenswerter Asymmetrie der Chronologie Erkenntnis verspricht. V. Golls große Ismen. Ein Profil Bereits oben hatte der Blick auf das herausragende Element der künstlerischen Zeitenwende - analytischer und synthetischer Kubismus zur Ausdifferenzierung des Moderne-Feldes, auf dem wir Goll verorten wollen, beigetragen. Hier eine Messlatte anzulegen, könnte unserem Bemühen weiter entgegenkommen. Hier rekurriere ich auf die Forschungsperspektive, die das Institut „Moderne 22 Gertrude Cepl-Kaufmann im Rheinland“ seit langem vertritt: Der Ausgang der Moderne war nicht der mit der Festschreibung der „klassischen“ Moderne durchgesetzte Begriff der Kunsthistoriker, die den Expressionismus schlichtweg mit Moderne gleichsetzen und mit dieser „klassischen Moderne“ die Parallelwährung Kunst auf dem heutigen Weltmarkt erfolgreich fundieren. Im Gegenteil: Zeitgenössisch wird man im literarischen Diskurs Expressionismus und Moderne kaum verbunden vorfinden, wohl aber eng an die Reformbewegungen der neunziger und frühen Jahre des 20. Jahrhunderts. Hier hatte die Kunst gegenüber allen anderen kulturpraktischen Sparten aber noch nicht zu ihrer Moderne gefunden. Literatur und angewandte Künste bestimmten den Diskurs gleichrangig mit. Die Tatsache, dass Goll hinter den Diskursen zurücklag und sich tatsächlich erst sehr spät, nach dem Ersten Weltkrieg, näher mit dem Kubismus beschäftigt hat, einer Zeit, in der diese Kunstrichtung schon längst über das Rheinland nach Berlin (Sonderbund 1912, Herwarth Waldens Deutscher Herbstsalon 1913) gelangt war, motiviert, nach Zusammenhängen Ausschau zu halten, die gerade nicht in der festgelegten Datierung aufgehen. 1919 war Goll nach Paris gezogen. Er sah sich aufgefordert, den Kubismus nach Deutschland zu vermitteln, interpretierte ihn über zehn Jahre nach der Entstehung aber nicht als Antwort auf produktionsästhetische Probleme. Im Aufsatz: Über Kubismus von 1920 fordert er, Kunst müsse versuchen, „das technische Verstehen und Fühlen des modernen Menschen und die unerhört gesteigerte Geschwindigkeit des Lebens“ ins Kunstwerk zu vermitteln. 21 Er wendete also die Auseinandersetzung um die kubistische Ästhetik auf die Aufgabe, auf die Gegenwart literarisch handelnd einzuwirken, und bringt mit dem Rekurs auf das „technische“ Zeitalter von heute den Paradigmenwechsel auf den Punkt. Das bedeutete auch für Goll das Ende einer Ära, genauer, den Verlust des Verlustes, denn tatsächlich finden wir seinen Ausgangspunkt: In der Tradition dieser Reformmoderne erkennen wir den Einstieg Golls in seine Rolle als Schriftsteller. Das Zauberwort: Monismus! 22 Golls Expressionismus spiegelt in der Auseinandersetzung mit dem Kubismus zugleich den Monismus der 1890er Jahre. 23 Trauma ist der Verlust der Einheit von Geist und Materie, den die Monisten als letzten Versuch der Re-Etablierung 21 Yvan Goll: Über Kubismus. In. Das Kunstblatt 4 / 7 ( Juli 1920), S. 215-222, hier S. 219 f. 22 Als „Zauberwort“ hatte der Monismus den Begriff „Weltanschauung“ gehandelt und meinte damit nicht ein politisches Bekenntnis sondern, in romantischer Tradition, die sinnliche Teilhabe an der Immanenz des Daseins. 23 Vgl. dazu Gertrude Cepl-Kaufmann / Rolf Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterbund. München 1994, in einer aktualisierten Neuauflage München 2015; Gertrude Cepl-Kaufmann / Rolf Kauffeldt: „Natureinsamkeit bei brausender Weltstadt“. Der Friedrichshagener Dichterbund und die Neue Gemeinschaft in Berlin. In: Kai Buchholz [u. a.] (Hg.): Die Lebens- Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 23 eines kosmischen und zugleich globalen Universalismus noch durchzusetzen versuchten und der spätestens mit Friedrich Nietzsches Essay Die Geburt der Tragödie und dem dort vermittelten Ur-Ereignis der Geburt des principium individuationis als existentielle Krise erfahrbar wurde. Carl Einstein hat es im kubistischen Roman Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, der in Teilen schon 1907, also zeitgleich mit der Entstehung des Kubismus, in der Zeitschrift Die Opale abgedruckt worden war, grotesk inszeniert. Diese Souveränität fehlte Goll. Ein Blick in Golls frühe Lyrik zeigt die Spuren des Monismus. 1919 hatte Kurt Pinthus Golls Gedicht Wald in seine epochale Lyriksammlung Menschheitsdämmerung aufgenommen. 24 Er positionierte es unmittelbar im Anschluss an einen aggressiven Rundumschlag Johannes R. Bechers auf Gott, die Welt und die Natur. Goll verbirgt stattdessen seine Trauer über den Verlust, die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit in drei lyrischen Einheiten: ein Triptychon. Die Polyperspektivik signalisiert: hinter den zugeschlagenen Tafeln erscheint als Erinnerungsbild das verlorene Paradies, mögen in diesem Altar, dem Andachts- und Denkbild auch nur die verhüllenden Türen sichtbar sein. Das Liebes- und Klagelied erinnert an die alttestamentarischen Beschwörungen und deren mystische Farbgebung in der Lyrik Else Lasker-Schülers. Die Lasker hatte, als sich die „Neue Gemeinschaft“, die aktivste, unmittelbar an Ernst Haeckels Welträthsel -Diskurs anschließende Monistengemeinde aufzulösen begann, in einem Brief an Julius Hart eine Rückschau formuliert, die sich in avancierter Jugendstilästhetik zu deren „Maifeiern“, der „schönen Kahnfahrt ins Elysium“ bekennt. 25 War die Lasker unmittelbar in der Berliner Szene um die „Neue Gemeinschaft“ vom Monismus befallen, erlebte Goll die mit der Auflösung einhergehende, schon auf die Gebrochenheit verweisende expressionistische Trauerarbeit, die die Lasker leistet. Sie gewinnt mit der Eis-Metaphorik der Gärten Georg Trakls poetischen Raum und steht auch für die kosmischen Fluchtutopien eines Walter Rheiner, Golls vergessenem Freund, Pate: Wald ( III ) In deinen tiefen Tieren aber, Aus feuchten Augen gleichen Geistes dunkelnd, Warst du mir ebenbürtig Wald! reform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Darmstadt 2001, Bd. I, S. 515-520. 24 Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Hg. von Kurt Pinthus. Berlin 1920, S. 110 f. 25 Cepl-Kaufmann / Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen (Anm. 23), S. 327. 24 Gertrude Cepl-Kaufmann O, dein Geschöpf zu sein, Nichts als ein Ton der Erde, Der Schmetterling ein bunter Tropfen Sonne, Und schlanke Füchse Mit starkem Blut aus nahen Büschen fühlen: Hingabe sein und brüderlicher Friede! In deinen tiefen Tieren warst du mir geheiligt. Und ich ergab mich dir, Ging groß in Trieb und Düften auf. 26 Golls Werk könnte, ebenso wie das der Lasker, zu einer Ausdifferenzierung des Epochenprofils im frühen 20. Jahrhundert motivieren. Mit der Herkunft könnten wir von einer Richtung sprechen, die als „Monistischer Expressionismus“ zu verstehen wäre. Neue, kulturwissenschaftlich fundierte Perspektiven würden sich auftun! Hans-Georg Kemper hatte mit seiner Analyse Vom Expressionismus zum Dadaismus gegen die übliche Epochenkonstruktion die Quellen genannt, 27 die das geistige Profil der Vorkriegszeit geprägt hatten und das sich bis in die Nachkriegszeit weiterentwickeln würde. Diese Kulturgeschichtsschreibung der longue durée, wie sie analog zur Geschichtsschreibung in Frankreich verstanden werden kann, hatte es bis dahin nicht gegeben. 28 Kemper zeigte, dass die Erkenntniskritik und -skepsis des späten Jahrhunderts eine wesentliche Voraussetzung für die Geisteshaltung, aber auch das ästhetische Programm des abstrakten Expressionismus ausmachte. Damit schrieb Vietta nicht nur gegen die traditionelle narrative Literaturgeschichtsschreibung an, sondern auch gegen die von Wolfgang Rothes immensem Lebenswerk gespeiste stoff- und motivgeschichtliche Epochenkonstruktion. Um Goll im Feld des Expressionismus zu verorten, müssten die monistischen Strömungen dieser Zeit in einem dritten Strang hinzugenommen werden. 26 Menschheitsdämmerung (Anm. 24), S. 110 f. 27 Hans-Georg Kemper: Vom Expressionismus zum Dadaismus. Eine Einführung in die dadaistische Literatur. Kronberg / Taunus 1974. 28 Hier insbesondere: Marc Bloch / Fernand Braudel / Lucien Febvre: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu systematischen Aneignung historischer Prozesse. Hg. von Claudia Honegger. Frankfurt / M. 1977; Jacques Le Goff/ Roger Chartier / Jacques Revel (Hg.): La nouvelle histoire. Les encyclopédies du savoir moderne. Paris 1978 und als deutsche Ausgabe der gekürzten französischen Neuauflage von 1988: Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft. Frankfurt / M. 1994; Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der „Annales“. Berlin 1991, aktualisiert und erweitert in ders.: Die Geschichte der „Annales“. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung. Berlin 2004. Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 25 Fragen wir nach dem, was der Expressionismus für Goll bedeutete, so lässt sich zunächst ein Ausschluss vornehmen, was die bereits oben skizzierte Selbstverortung unter den auf dem Markt befindlichen Ismen angeht. Darüber hinaus gilt im Blick auf die mit Vietta erstmals sprachästhetische bewertete Einstellung. Goll hat nicht mitgewirkt an der Etablierung der sprachexperimentellen Tradition, die von Arno Holz zu August Stramm und Waldens Wortkunst führt und von da zum Dadaismus. Ein Vergleich mit der Dada-Ikone, Hugo Balls Karawane mit Golls in die Menschheitsdämmerung aufgenommener Karawane der Sehnsucht macht uns mit einem solchen, 29 vom Monismus weiterentwickelten „Schrei“, um es in einer der Strukturierungsparameter des Herausgebers für das zum Kriegsende um sich greifende ‚Oh-Mensch-Pathos‘ zu benennen, bekannt. Gegen die Lautmalerei und die Sprachmagie, die das Besondere schon in Balls Gedichteingang mit der Lautmetaphorik des „Jolifanti“ vermittelt, liest sich Golls lyrisches Ich wie ein zurückgebliebener Gefühlskult und schwere Gedankenlyrik, trotz einer gewissen schöpferischen Sprachspielerei und des expressionistischen Parataxestils. Golls verlorener Traum orientiert sich, auch noch im Verlust, an einem monistisch inspirierten kosmischen Weltbild, wie es um die Jahrhundertwende flächendeckend Erfolge feierte. Aber Wir wandern, wir wandern immer in Sehnsucht! Irgendwo springt ein Mensch aus dem Fenster, einen Stern zu haschen und stirbt dafür, Irgendeiner sucht im Panoptikum Seinen wächsernen Traum und liebt ihn - Aber ein Feuerland brennt uns allen im lechzenden Herzen, Ach, und flössen Nil und Niagara Über uns hin, wir schrien nur durstiger auf! 30 Schon mit der Titelmatrix wird der fundamentale Unterschied zu den Zürcher Dadaisten, denen Goll ja in dieser Zeit im buchstäblichen Sinne nahe war, deutlich! Trotz seiner im Gedichtband Films von 1914 und der Auseinandersetzung mit Viking Eggelings Symphonische Diagonale wird aus einem solchen Text kein Experiment. Goll bleibt Teil eines Epochenstils, zu dem er nicht mehr gehören wollte: des Messianischen Expressionismus. Der wiederum schreibt den in den utopiebereiten Zirkeln der Jahrhundertwende grassierenden Monismus weiter. Was kam auf dem Weg vom Monismus zum Expressionismus hinzu? 29 Yvan Goll: Karawane der Sehnsucht. In: Menschheitsdämmerung (Anm. 24), S. 187. 30 Ebd. 26 Gertrude Cepl-Kaufmann Mit Thomas Anz’ Arbeiten zur Literatur der Existenz gewinnen wir einen Zugang zu dem, 31 was den deutschen literarischen Expressionismus prägt und womit der deutsch-französische Autor notwendigerweise zwischen die Lager geraten musste: Apokalypse und Utopie bestimmen als duales Prinzip die Epoche des Expressionismus. Es ist hilfreich, Autoren der Zeit zu befragen und sie, auch gegen ihr behauptetes Selbstverständnis, mit einer gewissen Rigorosität nach ihrer Leidenschaft für eine der beiden Welteinstellungen und Kunstprogramme zu verorten. Goll fehlt es nicht an Pathos, wie ein Blick in eine der symptomatischen Dichtungen des Autors zeigt. Auch darin lassen sich, gerade auch mit den spirituellen Konnotationen, monistische Parameter wiedererkennen. VI. Golls Panama-Projekt 1912 hatte Goll mit seinem Panamaprojekt begonnen. 32 Im Vergleich mit den parataktischen Groteskgedichten zeigen sich mit der emphatischen Hymne auf Schöpfertum, Tat und Werk als Heiligung des Lebens und der Menschheit Elemente eines Moderne-Programms der Lebensreform, das hier hinübergerettet wird in den Expressionismus! Ein Vergleich mit Georg Kaisers Drama Die Bürger von Calais liegt nahe: Ging es dort um den eben erst als Werk der Gemeinschaft vollendeten Hafen von Calais, den zu erhalten die privatistischen Interessen aller hintanstellen sollte, ist es der exotische moderne Geniestreich, der bei Goll analog dazu eine spirituelle Gemeinschaft zu schaffen vermag: Alle Menschen im Hafen, auf den Docks, in den Bars Alle reden sich voll Liebe an. […] Ach, die Augen aller trinken Bruderschaft Aus der Weltliebe unendlich tiefer Schale: Denn hier liegt verschwistert alle Erdenkraft, Hier im Kanale. 33 Wie Kaiser mit den ‚Gas‘-Dramen zwar nicht den Tenor wechselt, wohl aber die Utopie aufgibt, finden wir in Golls Prosagedichtfassung von 1918 eine mit Kapitalismuskritik versetzte Rückkehr. Die Reduktion der Emphase bedeutet nicht die Aufgabe der Idee, sondern den Wechsel von einer Menschheitssymphonie, einem Credo - zum Requiem: 31 Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977. 32 Yvan Goll: Der Panama-Kanal. In: Menschheitsdämmerung (Anm. 24), S. 292 f. 33 Ebd. Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 27 Die Handelsschiffe Mit schwerem Korn und Öl ließen die Armut am Ufer stehn. Am nächsten Tag war wieder Elend und Haß. Neue Chefs schrieen zu neuer Arbeit an. Neue Sklaven verdammten ihr tiefes Schicksal. Am anderen Tag rang die Menschheit mit der alten Erde Wieder. 34 VII. Der Deutsche Goll Golls Expressionismus-Konzept in der Nachfolge von Monismus und Lebensreform und in einer messianischen Selbstdeutung, wie sie im Panamaprojekt erkennbar wird, lässt zu, dessen deutsche Identität als evidentes Muster für diese Zeit zu sehen. In keinem europäischen Land gab es eine dem Messianischen Expressionismus vergleichbare Strömung, trotz der Moderne, die sich erst recht mit den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte. Ob dies an der ebenfalls einmaligen Strömung der aus dem Geiste des Pietismus gespeisten Genieästhetik lag, möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen. Aus dieser ekstatischen Höhenlage wurden alle Autoren mit den Enttäuschungen, die nach dem Ersten Weltkrieg zunächst noch einmal einen zweiten, noch pathetischeren Expressionismus-Schub gebracht hatten, aber mit dem Niedergang aller revolutionären Hoffnungen und spätestens mit Lenins Tod und der Mannheimer Ausstellung Neue Sachlichkeit 1924 zu Ende war, herauskatapultiert. Hier erlebte Goll einen doppelten Verlust! Er verlor zwei Heimaten! Besser: er fand keine der angebotenen beiden möglichen Heimaten: In Deutschland wäre dies der von Helmuth Lethen 35 bis zu Sabina Becker 36 fixierte steinerne Stil der Neuen Sachlichkeit gewesen, der die Welt in den urbanen Zentren so unnachahmlich von Christian Schad bis George Grosz kalt oder als Karikatur ins Visier nahm. In Frankreich war es der Surrealismus. Doch weder im einen noch im anderen geht Goll auf. Und doch hat er von beiden seinen Teil. VIII. Neue Sachlichkeit versus Surrealismus Die beiden epochalen, divergenten Strömungen lassen sich erkennen, wenn wir die Kulturentwicklung in Deutschland und Frankreich miteinander in Verbindung sehen. Und entsprechend unserer These lässt sich schnell einsehen, dass es für Goll mit dem Wechsel nach Paris im Jahre 1920 nicht so einfach wurde. Man war nicht ungestraft ein Vertreter des deutschen messianischen Expressio- 34 Ebd. 35 Helmuth Lethen: Neue Sachlichkeit 1924-1932. Studien zur Literatur des „Weißen Sozialismus“. Stuttgart 1970. 36 Sabina Becker: Neue Sachlichkeit. 2 Bde. Köln 2000. 28 Gertrude Cepl-Kaufmann nismus, eines Monistischen Expressionismus! Das Ende: Goll wurde und war: ein Neusachlicher ohne Sachlichkeit und ein Surrealist ohne Sur , z. B. deren Ästhetik der écriture automatique. Die Auseinandersetzung mit Breton, die er sich in dieser Zeit lieferte, kam nicht von ungefähr! Goll sperrte sich gegen die avancierte Ästhetik der Suprawirklichkeit, forderte neue Wege der Umsetzung von Wirklichkeitseindrücken. Heimatlos auch hier, im Diskurs der Diskurse! Vom Monismus sprach in dieser Zeit niemand mehr, das Abendland war überzogen vom Theorem des eigenen Untergangs, neue Ismen nicht in Sicht. Als literarische Lösung wählte Goll die Identifikation mit dem Aggressor, eine Anverwandlung von Rollenbildern, die eben jenes Abendland in seinem Verluststatus festhalten: als Johann ohne Land, als Orpheus und Flaneur: der Nicht-Habende / Nicht-Handelnde, der der Sänger des Verlustes und der „Lumpensammler“ mit dem „Habitus des Flaneurs, der auf dem Asphalt botanisieren geht“ - um es mit Walter Benjamin zu sagen. 37 Die kollektive Erinnerung scheint auf den Straßen der Welt aufgehoben. Eine Straße „führt hinab, wenn nicht zu den Müttern so doch in die Vergangenheit, die umso tiefer sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist.“ Die Bewegung auf der Straße wird zu einem zwanghaften Vorwärts- und zugleich Zurückschauen. „Die Figur des Flaneurs rückt wie von einem Uhrwerk getrieben über die steinerne Straße mit dem doppelten Boden dahin.“ 38 Für Goll verbindet sich das Asphalt-Wandern mit dem Motiv des Wüstenwanderers, bis in die Johann ohne Land -Dichtung: Vor hundert oder tausend Jahren Höhlt schon in diesem Sand mein Schritt Die Spuren die vergänglich waren, Wie die der Sonnen im Zenith. 39 Das Moderne, das Urbane, Jüdisch-Archaische verdichten sich in einem poetischen Europadiskurs! Damit findet Goll seinen Weg abseits vom Gros der literarischen Entwicklung in Deutschland. Und so trifft auf ihn eine Definition, die ableitbar ist von einem sozusagen Betroffenen, aber nicht primär zum Opfer gewordenen Zeitzeugen: Charlie Chaplin. Im Blick auf Golls Kinodichtung Die Chapliniade von 1920 lässt sich auch für Goll die Zeitdiagnose bestätigen, die 37 Walter Benjamin: Frühe Entwürfe: In: ders.: Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt / M. 1982, Bd. II, S. 1053. 38 Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / M. 1974, Bd. I / 2, S. 537. 39 Yvan Goll: Jean sans Terre führt die Karawane. In: ders.: 100 Gedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Barbara Glauert-Hesse. Göttingen 2003, S. 114. Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft 29 Peter Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft zu Chaplin ausführt: der Zeitgenosse ist der Chaplin der Modernen Zeiten , der betroffene Zeitzeuge, der sich mitten in den Betrieb und die Systeme seiner Zeit begibt, die „nicht affirmative Form der Bejahung“, die „geistesgegenwärtig“ bezeugen kann, „was ihr begegnet ist“. 40 Distanz, Nähe und der unbedingte Wille, die Dinge der Zeit zu durchschauen, verbinden sich. So wird Goll nach Jahren des Herumstromerns und Lumpensammelns der kongeniale Chronist, Zeitgenosse und Kartograph der geistigen Ortlosigkeit. In allen erleben wir Goll als Retter seiner selbst, als Mythendeuter von Einstellungen, die der Abgesang auf das abendländische Europa ihm anbietet oder die ihm gerade begegnen. 40 Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt / M. 1983, S. 788. Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 31 Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? Yvan Golls translinguales Werk im Kontext mehrsprachiger Schreibverfahren der literarischen Moderne Dirk Weissmann, Paris Aber die Sprache ist an die Erde gebunden (Yvan Goll) 1 I. Yvan Goll als transligualer Schriftsteller Selbstredend wäre es zu kurz gegriffen, das Werk Yvan Golls unter dem alleinigen Blickwinkel seiner Mehrsprachigkeit zu betrachten. Zu einer angemessenen Würdigung dieses eminenten Vertreters der literarischen Moderne gehört zweifellos mehr als seine bloße Einordnung in die Traditionslinie translingualer Schriftsteller. 2 Gleichzeitig zählt Yvan Golls literarische Vielsprachigkeit zweifelsohne zu den grundlegenden „Konjunktionen“, die den Dichter mit dem „Diskurs der Moderne“ verbinden, um den Titel des vorliegenden Sammelbandes zu zitieren. Denn die literarische Moderne hat im Laufe ihrer Geschichte immer wieder „ihre Affinität zum Projekt der Sprachenmischung, zum polyglotten Text, zur Polyphonie der Stimmen im Werk“ erwiesen. 3 Dank der Zugehörigkeit Yvan Golls zur Gruppe der vielzüngigen Dichter ist auch der Autor dieser Zeilen vor rund zwanzig Jahren erstmals mit dessen Werk in Berührung gekommen, wenn ich mir hier diese persönliche Bemerkung am Rande erlauben darf. Es war während meines Studiums in der vielsprachigen Schweiz, genauer gesagt bei meiner ersten Lektüre von Leonard Forsters wegweisender Studie The Poet’s Tongues , dass ich dem Namen Yvan Goll zum ersten Mal begegnet bin. 4 Das nachhaltige Interesse, das ich anschließend für das Werk 1 Der Mann, der zwischen den Stühlen sitzt (Interview mit Yvan Goll). In: Literarische Welt, Jg. 5 (1929), Nr. 5, S. 7. 2 Den Begriff ‚translingual‘ übernehme ich von Stephen Kellman, der in seiner Studie The Translingual Imagination (Lincoln und London 2000) u. a. eine Liste von über 200 mehrsprachigen Schriftstellern aufgestellt hat. 3 Manfred Schmeling / Monika Schmitz-Emans: Einleitung. In: dies. (Hg.): Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert. Würzburg 2000, S. 19. 4 In ihrer deutschen Fassung: Leonard Forster: Dichten in fremden Sprachen. Vielsprachigkeit in der Literatur. München 1972. Originalfassung: The poet’s tongues: multilingualism in literature. London und New York 1970. 32 Dirk Weissmann Paul Celans entwickeln sollte, hat aus begreiflichen Gründen zu einer längerfristigen Verdrängung Golls geführt, bevor ich den Dichter dann im Zusammenhang mit jüngeren Forschungsprojekten zu translingualen Schriftstellern neu für mich entdecken konnte. 5 Im Rahmen dieser breiter angelegten Forschungen zur Mehrsprachigkeit in der Literatur habe ich unter anderem nachzuweisen versucht, dass es - namentlich im deutschsprachigen Raum - eine enge Verbindung zwischen der Geburt der literarischen Moderne und dem Einsatz mehrsprachiger Schreibverfahren gibt. 6 Literarische Mehrsprachigkeit erscheint unter diesem Blickwinkel nicht mehr als singuläres Charakteristikum einiger marginaler Einzelfälle, sondern wird als sprachlich-ästhetische Matrix der Erneuerung der deutschen Dichtung nach 1890 erkennbar. Dank des verstärkten Interesses der internationalen Forschung für das Thema ‚Literatur und Mehrsprachigkeit‘ während der letzten Jahre hat sich unser Kenntnisstand in diesem Bereich heute erheblich erweitert. 7 Folglich erscheint es lohnenswert und aufschlussreich, Yvan Golls Schreiben zwischen den Sprachen dahingehend zu befragen, inwiefern es sich in diesen modernistischen Tropismus der literarischen Mehrsprachigkeit eingliedert. Im Folgenden möchte ich also darlegen, inwieweit Golls zweibzw. dreisprachiges Werk Parallelen mit den plurilingualen Schreibstrategien vieler Zeitgenossen aufzeigt. Dabei möchte ich aufzeigen, dass in seinem Schaffen neben einem gestalterischen Mehrwert auf ästhetischer Ebene auch die Konfliktpotentiale literarischer Mehrsprachigkeit in besonders ausgeprägter Weise in Erscheinung treten. Anders als viele Zeitgenossen wird Goll nicht die literarische Vision eines „glücklichen Babel“ entwickeln, 8 sondern vor dem Hintergrund des politisch instabilen Raums seiner Heimat sprachliche Vielfalt immer wieder mit dem Topos der Zerrissenheit in Verbindung bringen. In diesem Sinne werde ich u. a. die These vertreten, dass Yvan Golls Werk trotz bzw. gerade wegen seines literarischen Aquilinguismus - d. h. seiner perfekten, symmetrischen 5 Ich spiele hier natürlich auf die berühmte, von Golls Witwe lancierte Plagiatsaffäre an, die zu einem gewissen Celan-Goll-Antagonismus in der Forschung geführt hat. Siehe hierzu die einschlägige Dokumentation Barbara Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ‚Infamie‘. Frankfurt / M. 2000. 6 Siehe Dirk Weissmann: Die Erneuerung der deutschen Literatur von ihren sprachlichen Rändern her: Translinguales Schreiben um 1900. In: Germanistik in der Schweiz. Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik 10 (2013), S. 319-328. 7 Für einen ersten Überblick siehe u. a. Esther Kilchmann: Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zur Einführung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3 (2012), Heft 2, S. 11-17. 8 In Anlehnung an Roland Barthes: Le plaisir du texte. Paris 1973, S. 10 („Babel heureuse“). Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 33 Gleichsprachigkeit - die Macht territorialisierender und ethnolinguistischer Grenzziehungen veranschaulicht. 9 Vorausgeschickt werden soll an dieser Stelle noch die Bemerkung, dass ich im Rahmen des vorliegenden Beitrags keine detaillierten Textanalysen oder Textvergleiche vorlegen kann, sondern mich auf Basis bereits vorliegender Forschungsergebnisse auf eine Art literatursystemisches distant reading beschränken muss. Zudem werde ich mich im Folgenden auf Golls lyrisches Schaffen konzentrieren, auch wenn sich meine Bemerkungen sicherlich in weiten Teilen auf sein erzählerisches und dramatisches Werk übertragen ließen. 10 II. Literarische Mehrsprachigkeit und literarische Moderne in Deutschland Zur Verortung Golls im Kontext translingualen Schreibens in der Moderne möchte ich zunächst auf die Zeit vor der Geburt des lothringischen Dichters zurückgreifen, nämlich auf die Epoche um 1880. In diesen Jahren kommt es in etwa zeitgleich mit dem „Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung“ 11 zu einem ersten Durchbruch plurilingualer Schreibverfahren in der deutschsprachigen Literatur. Neben den heterolingualen Elementen in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen und der Bedeutung sprachlicher Polyphonie im Naturalismus fällt hier vor allem eine Art literarisches Dreigestirn ins Auge. 12 Es handelt sich um eine Gruppe bestehend aus drei Schriftstellern derselben Generation, die alle zu den großen Erneuerern der Literatur ihrer Zeit gehören und dabei dezidiert auf mehrsprachige Schreibverfahren zurückgegriffen haben. Gemeint sind: Frank Wedekind, Stefan George und Rainer Maria Rilke. Ohne hier ein detailliertes Porträt dieser drei ‚Leitsterne‘ der literarischen Moderne in Deutschland vorlegen zu können, möchte ich die Rolle von Mehrsprachigkeit in ihren Werken kurz skizzieren. Bei Frank Wedekind (1864 bis 1918) wäre im vorliegenden Zusammenhang neben seiner auf Französisch geschriebenen Tanzpantomime Les Puces zuvorderst die dreibzw. eigentlich viersprachige Urfassung seiner Lulu -Tragödie 9 In meinen Ausführungen werde ich den Terminus ‚Mehrsprachigkeit‘ anfänglich als Sammelbegriff benutzen - im Sinne von Autoren bzw. Werken, die auf mehr als eine Sprache zurückgreifen - und ihn dann etappenweise ausdifferenzieren. 10 Vgl. hierzu u. a. Manfred Schmeling: „In jeder Sprache neu“: Zweisprachigkeit und Kulturtransfer bei Iwan Goll. In: Johann Strutz / Peter V. Zima (Hg.): Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Tübingen 1996, S. 157-174. 11 Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1988. 12 Zum Begriff ‚heterolingual‘ siehe u. a. Rainier Grutman: Des langues qui résonnent. L’hétérolinguisme au XIX e siècle québécois. Montréal 1997 sowie Myriam Suchet: L’Imaginaire hétérolingue. Ce que nous apprennent les textes à la croisée des langues. Paris 2014. 34 Dirk Weissmann zu nennen, die er zwischen 1892 und 1894 in Paris und London verfasst hat. Auch wenn dieses Herzstück des modernen Theaterkanons vor allem in seinen späteren, monolingualen und (selbst)zensierten Fassungen berühmt geworden ist, steht die Sprachenvielfalt und die Sprachdifferenz der auf Deutsch, Französisch, Englisch sowie in Schweizer Dialekt verfassten Urfassung in direktem Zusammenhang mit einigen der grundlegenden ästhetischen Innovationen des Dramas - unter anderem auf der Ebene der Figurengestaltung. 13 Der rund vier Jahre jüngere Stefan George (1868 bis 1933), mit dem ich diesen Überblick fortsetzen möchte, gehört zweifelsohne zu den beeindruckendsten Sprachgenies der Weltliteratur. Sein lyrisches Frühwerk umfasst eine ganze Reihe von „Gedichten in anderen Sprachen“, wie er sie selbst bezeichnet hat, darunter Texte auf Französisch, Englisch oder in von ihm eigens erfunden Idiomen wie der sogenannten lingua romana . Viele seiner bis 1900 erschienenen deutschen Gedichte sind produktionsästhetisch betrachtet Selbstübersetzungen bzw. Adaptationen anderssprachiger Erstfassungen. Dieser kosmopolitische und vielsprachige George steht in starkem Kontrast zum vaterländischen Dichter des späteren „Kreises“, der die Rezeptionsgeschichte entscheidend prägen sollte. 14 Im Fall des nochmals um einige Jahre jüngeren Rilke (1875 bis 1926) ragt vor allem dessen umfangreiches französisches Spätwerk der Jahre 1923 bis 1926 heraus. Neben dieser über vierhundert Gedichte in französischer Sprache umfassenden lyrischen Produktion aus den letzten Lebensjahren hat Rilke jedoch bereits ab dem Ende der 1890er Jahre mit dem Schreiben in anderen Sprachen - auf Französisch, Russisch und Italienisch - experimentiert. 15 Punktuelle Versuche auf Französisch durchziehen sein gesamtes Schaffen. Auch in seiner Prosa lassen sich Spuren anderer Sprachen in Form heterolingualer Elemente finden. 16 13 Vergleiche hierzu Dirk Weissmann: Mehrsprachigkeit in Frank Wedekinds Büchse der Pandora: ein (fast) vergessenes Charakteristikum der Lulu-Urfassung. In: Germanisch- Romanische Monatsschrift 3 (2011), S. 283-299. 14 Vergleiche hierzu Dirk Weissmann: Le paradoxe Stefan George, poète cosmopolite plurilingue et prophète de la renaissance nationale allemande. In: Britta Benert (Hg.): Paradoxes du plurilinguisme littéraire 1900. Réflexions théoriques et études de cas. Bruxelles 2015, S. 79-94. 15 Siehe hierzu den Herausgeberkommentar in Rainer Maria Rilke: Gedichte in französischer Sprache. Hg. von Manfred Engel / Dorothea Lauterbach. In: ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Supplementband. Frankfurt / M. 2003; vgl. Eugenia Kelbert: Reborn as René: The Interplay of Self and Language in a Selection of Rilke’s Late French and German Poems. In: The Yearbook of Comparative Literature 56 (2010), S. 201-224. 16 Siehe v. a. Dorothea Lauterbach: Poetologische Signale. Zur Funktion des Französischen in Rilkes Roman. In: Schmeling / Schmitz-Emans (Hg.): Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert (Anm. 3), S. 173-187. Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 35 Besonders interessant sind aber im vorliegenden Zusammenhang Rilkes sogenannte „Doppelgedichte“, bei denen er das simultane Gedichte-Schreiben in zwei Sprachen, Deutsch und Französisch, erprobt hat, was wir ja ganz ähnlich bei Yvan Goll wiederfinden. Im Rahmen dieses Beitrags muss es hier bei dieser kurzen Skizzierung der mehrsprachigen Dimension in den Werken Wedekinds, Georges und Rilkes bleiben. Trotz der jeweils eigenen, singulären Umsetzung von Mehrsprachigkeit bei diesen drei Autoren fällt der enge Zusammenhang von literarischer Innovation und sprachlicher Vielfalt ins Auge. Als herausragende Erneuerer der deutschen Dichtung haben sie allesamt auf mehrsprachige Schreibverfahren zurückgegriffen, bei denen sich die verschiedenen Sprachen gegenseitig betrachten, betasten und befruchten, um es bildlich auszudrücken. Konkrete formal-sprachliche Mittel sind hierbei z. B. Prozesse der Selbstübersetzung und der translingualen Bearbeitung von Texten. Darüber hinaus fällt auf, dass die Suche nach einer neuen literarischen Ästhetik bei allen dreien mit Phänomenen des Nomadentums und der Ortlosigkeit verbunden ist. Bei Rilke ist diese Ortlosigkeit bis an sein Lebensende zu beobachten, bei George und Wedekind endet sie nach dem Frühwerk. In jedem Fall aber stellt die kosmopolitisch-mehrsprachige Dimension bei allen Autoren die Matrix ihres späteren Schaffens dar. III. Erweiterung der Perspektive auf den Zeitraum 1890 bis 1945 Ich möchte diese literaturgeschichtliche Perspektive auf die literarische Mehrsprachigkeit nun auf den Zeitraum bis zum Zweiten Weltkrieg ausweiten und somit auch die Verbindung zu Yvan Golls sprachlich-literarischem Werdegang herstellen. In seiner Studie zur „Extraterritorialität“ der europäischen Literatur beschreibt George Steiner das Aufkommen „sprachlicher Pluralismen“ in der Literatur um 1900 - worunter er auch Formen von Mehrsprachigkeit meint - und die damit einhergehende „Heimatlosigkeit“ der Schriftsteller als epochales Merkmal des Fin de siècle. 17 Steiner spannt somit einen Bogen vom Beginn der literarischen Moderne bis zur Generation von Vladimir Nabokov, Jorge Luis Borges und Samuel Beckett - einer Generation, der bekanntlich auch der große „Heimatlose“ 18 Yvan Goll angehört. Überhaupt lässt sich die von Steiner 17 George Steiner: Extraterritorial. Papers on Literature and the Language Revolution. New York 1971, S. VIIff. 18 In einem Brief an Paula Ludwig vom 27. März 1933 beschreibt sich Goll mit den Worten: „zwischen zwei Heimaten, ewig der Heimatlose“. (Iwan Goll / Paula Ludwig: Ich sterbe mein Leben. Briefe 1931-1940. Literarische Dokumente zwischen Kunst und Krieg. Hg. von Barbara Glauert-Hesse. Frankfurt / M. und Berlin 1993, S. 175.) 36 Dirk Weissmann skizzierte historische Linie literarischer Mehrsprachigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorzüglich anhand der deutschen Literatur nachzeichnen. Über Stefan Georges Frühwerk führt so der Weg vom Ästhetizismus direkt zu den postsymbolistischen Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts. Und Rilkes französische Gedichte des Spätwerks erlauben es, einen Bogen von den 1890er Jahren bis in das Jahrzehnt der Weimarer Republik zu spannen. Andere Dichter wie Golls Zeitgenosse Walter Mehring (1896 bis 1981) knüpften an die Brettl-Lieder eines Frank Wedekind an und schufen nach dem Ersten Weltkrieg eine mehrsprachige Synthese aus Expressionismus, Dadaismus und Kabarettkunst. 19 Überhaupt war der Dadaismus, dem mit Hans bzw. Jean Arp auch enge Weggefährten Yvan Golls angehörten, bekanntlich ein wahres Sammelbecken translingualer Schriftsteller und mehrsprachiger Praktiken. 20 Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird sich noch das Musiktheater dieser plurilingualen Ästhetik annehmen, wie unter anderen Ernst Kreneks Jonny spielt auf (1927) zeigt. 21 Wie aus dieser kurzen literaturhistorischen Skizze hervorgeht, lässt sich Mehrsprachigkeit also als gemeinsamer Nenner einer ganzen Reihe ästhetischer Entwicklungen und Neuerungen vom Naturalismus bis zum Ende der Weimar Kultur nachweisen. Es handelt sich um eine zwar nicht kausale jedoch sicherlich auch nicht allein dem Zufall geschuldete Verbindung von literarischer Moderne und mehrsprachigen Schreibverfahren. Steven Kellman spricht in diesem Zusammenhang von translingualen Schriftstellern als den „shock troops of modern literature“, 22 d. h. von literarischen Innovationsschüben, die sich mehr oder weniger direkt der Mehrsprachigkeit der Autoren verdanken. Das Werk Yvan Golls würde es erlauben, diese Entwicklungslinie der Moderne bis nach 1945 fortzusetzen, wo seine Freundschaft mit Paul Celan darüber hinaus die Verbindung zu mehrsprachigen Schreibweisen in der Nachkriegsliteratur herstellen würde. 23 Dabei wären freilich unter anderem auch solche 19 Siehe hierzu u. a. Dirk Weissmann: Dada - Rag-time - Cabaret: internationalisme artistique et écriture plurilingue chez Walter Mehring. In: Recherches germaniques 45 (2015), S. 49-71. 20 Siehe Franca Bruera / Barbara Meazzi (Hg.): Plurlilinguisme et Avant-gardes. Bruxelles 2011 sowie Jean Weisgerber (Hg.): Les avant-gardes et la Tour de Babel. Interactions des arts et des langues. Lausanne 2000. 21 Siehe hierzu Alan Lareau: Jonny’s Jazz. From Kabarett to Krenek. In: Michael J. Budds (Hg.): Jazz and the Germans: Essays on the Influence of ‚Hot‘ American Idioms on 20 th - Century German Music. Hillsdale / New York 2002, S. 19-60. 22 Kellman: The Translingual Imagination (Anm. 2), S. 31. 23 Vergleiche hierzu auch Hans-Peter Bayerdörfer: Sprachen Rag-Time? Überlegungen zur Entwicklung des polyglotten Gedichts nach 1945. In: Dieter Breuer (Hg.): Deutsche Lyrik nach 1945. Frankfurt / M. 1988, S. 43-64. Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 37 Autoren wie Ernst Jandl (1926 bis 2000) und Oskar Pastior (1927 bis 2006) zu nennen. Gleichzeitig nähern wir uns hier endgültig den Grenzen der bis hierhin praktizierten Großperspektive. Im Folgenden bedarf es einer genaueren Ausdifferenzierung der Autoren und Entwicklungslinien, wobei ich mich nun auf Yvan Goll und die elsässisch-lothringische Literatur konzentrieren möchte. IV. ‚Exogamie‘ der Sprache versus integrale Zweisprachigkeit Der rund eine Generation jüngere Yvan Goll teilt mit Wedekind, George und Rilke sowie einigen anderen translingualen Autoren den grundlegenden Ansatz, durch eine gegenseitige Bespiegelung, Befragung und Durchdringung zwischen dem Deutschen und anderen Sprachen ästhetische Potentiale für eine literarische Erneuerung zu gewinnen. Allgemeine Mittel hierzu sind Formen sowohl textinterner als auch textexterner Mehrsprachigkeit, darunter u. a. Sprachwechsel, Selbstübersetzung, Sprachmischung, mehrsprachige Figurenrede usw., von denen die meisten auch bei Goll zur Verwendung kommen. Die dabei zu beobachtenden Transferbewegungen von einer Sprache zur anderen sind zahlreich, was James Phillips in seiner Studie Yvan Goll and Bilingual Poetry als „movement of energies from poem to poem, from language to language“ beschrieben hat. 24 Wobei mit diesen „Energien“ sehr konkrete Übertragungsprozesse formaler Charakteristika und semantischer Komponenten gemeint sind. Insgesamt teilt Goll mit den oben zitierten Autoren den kosmopolitischen, internationalistischen, ja pazifistischen Impetus ihrer Schreibweise. Sprachliche Vielfalt ist in diesen Werken allgemein Ausdruck einer Abkehr vom Paradigma nationalstaatlicher Einsprachigkeit und ein Plädoyer für kulturelle und menschliche Vielfalt. Jedoch müssen diese Gemeinsamkeiten, wie bereits angedeutet, relativiert werden. Ein erster Unterschied, insbesondere was George und Rilke betrifft, besteht in der Bedeutung der Fremdübersetzung für die verschiedenen Autoren. Denn im Gegensatz zu den geradezu manisch zu nennenden Vielübersetzern George und Rilke spielt die Übersetzung anderer Dichter bei Goll nur eine relativ geringe Rolle. Dieser auf den ersten Blick oberflächlich anmutende Unterschied deutet meines Erachtens auf eine ganz wesentliche Differenz im jeweiligen Sprachbewusstsein hin. So ist die Übersetzung fremder Autoren bei George und Rilke auf das Engste mit ihrer Suche nach neuen sprachlichen Ressourcen im Deutschen verbunden. Das Deutsche erscheint hier nicht nur als Zielsprache, sondern als das sprachliche Fundament ihrer gesamten literarischen Anstrengungen, wobei die Muttersprache durch die übersetzerische „Erfahrung des Fremden“ 24 James Phillips: Yvan Goll and Bilingual Poetry. Stuttgart 1984, S. 145. Vgl. Schmeling: „In jeder Sprache neu“ (Anm. 10), S. 162. 38 Dirk Weissmann angereichert und weiterentwickelt wird. 25 Sollte George in seiner Jugend auch bei der Wahl seiner endgültigen Literatursprache gezögert haben, und hat Rilke auch in seinem Spätwerk dem Französischen den Vorrang gegeben, so steht das Primat des Deutschen als Mutterbzw. Erstsprache bei ihnen wie auch bei Wedekind außer Frage. Ihre experimentelle Mehrsprachigkeit dient hauptsächlich, ja zum Teil ausschließlich der Befruchtung ihrer deutschen Dichtungssprache. Die literarische Mehrsprachigkeit entspricht bei diesen Autoren im Grunde einer „Exogamie der Sprache“, um ein Diktum Adornos zu zitieren, 26 einer in Zeit und Ausmaß begrenzten Lust auf Erneuerung der kreativen Energien mittels sprachlichen ‚Fremdgehens‘. Im Gegensatz dazu wurde bei Yvan Goll bekanntlich immer wieder zu Recht unterstrichen, er habe im Grunde keine bevorzugte Literatursprache gehabt. Auch wenn nicht alle Texte Golls vom Dichter selbst sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch vorgelegt wurden, 27 sondern zu bedeutenden Teilen mittels Fremdübersetzung übertragen wurden, gilt sein Werk als Paradebeispiel eines literarischen Aquilinguismus, 28 und seine perfekte Zweisprachigkeit geradezu als „Markenzeichen“ des Autors. 29 Diese sprachliche ‚Doppelzüngigkeit‘ führt zu beeindruckenden kreativen Möglichkeiten, der Fähigkeit zum bivalenten Code-Switching, des souveränen Sprachwechsels in beide Richtungen, unter Umständen in Form von bidirektionaler Selbstübersetzung. Gleichzeitig wissen wir aber, dass der Dichter selbst diese Zweisprachigkeit durchaus als Dilemma, ja als Last erlebt hat. Seine deutsch-französische Doppelexistenz als Schriftsteller ist weitaus stärker als bei anderen Schriftstellern der literarischen Moderne mit einer konfliktträchtigen Identitätsproblematik verbunden. An diesem Punkt kommt der territoriale Aspekt seiner Mehrsprachigkeit zum Tragen, den ich jetzt kurz darstellen möchte. V. Die elsässische Mehrsprachigkeit als Generationsproblem Sieht man vom Fall der englischsprachigen Texte der New Yorker Zeit ab, entspricht Yvan Golls Werk in weiten Teilen dem „bilingual text“, so wie er 2007 von Hokenson und Munson in einer literaturhistorischen Studie zur literarischen Selbstübersetzung definiert wurde: 25 Siehe hierzu die grundlegende Studie von Antoine Berman: L’épreuve de l’étranger, Culture et traduction dans l’Allemagne romantique. Paris 1984. 26 Theodor W. Adorno: Wörter aus der Fremde. In: Noten zur Literatur. Bd. II. Frankfurt / M. 1965, S. 216-232, hier S. 218. 27 Das Englische als dritte Sprache Golls lasse ich hierbei außer Acht. 28 Vgl. Forster: Dichten in fremden Sprachen (Anm. 4), S. 119. 29 Schmeling: „In jeder Sprache neu“ (Anm. 10), S. 157. Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 39 Writing from the midzone, the bilingual self-translator does not just bridge the gaps between cultures but combines them as a single subject living bilinguality, and writes both languages with one hand. Split in two by post-Romantic traditions of reading national cultures and language-specific texts, the self-translators can be approached through such non-binary concepts as interculture and through the attendant correspondences that span their work. 30 Die amerikanischen Komparatisten unterstreichen in ihrer Darstellung den Konflikt zwischen solchen transligualen Schriftstelleridentitäten und traditionellen philologischen Methoden sowie nationalliterarischen Kartographierungen. Aufgrund der besonderen territorialpolitischen Situation seiner Zeit bekommt der Prozess des binären „splitting“ der Werkeinheit, wie es die Autoren ausdrücken, im Falle Golls eine besondere, ja überragende Bedeutung. Und die „Kombination“ beider Sprachen in einem schreibenden Individuum wird zum Faktor einer oft von Goll selbst sowie von der Forschung thematisierten Zerrissenheit, eines „Zwischen den Stühlen-Sitzens“, 31 das sich nicht zuletzt in den verschiedenen Pseudonymen Golls manifestiert. Im Gegensatz zu solchen Autoren wie Wedekind, George und Rilke handelt es sich bei Goll nicht um eine exogene, frei gewählte oder frei erzeugte Mehrsprachigkeit, sondern um eine endogene, durch territoriale Diglossie bedingte, angeborene Mehrsprachigkeit. Das mehrsprachige Œuvre Golls geht zwar nicht kausallogisch auf dessen Geburt in einem zweisprachigen Gebiet zurück, insofern es dem Schriftsteller durchaus frei stand, seine Sprache und seinen Wirkungsort zu wählen. Wie jedoch zahlreiche Selbstzeugnisse belegen, 32 fühlte sich Goll in seiner Identität durch die von ihm ererbte doppelte sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit auf geradezu tragische Weise determiniert. Das Französische und das Deutsche, so könnte man sagen, bildeten für ihn auf psycholinguistischer Ebene gleichsam eine Kugelmenschen-Identität wie im platonischen Mythos, eine notwendige Einheit, die jedoch durch die politischen Umwälzungen dieser Zeit in Frage gestellt und erschüttert wurde. Dieses Schicksal teilt Goll bekanntlich mit einer ganzen Reihe von im „Reichsland Elsass-Lothringen“ geborenen Autoren wie Hans Arp, René Schickele, Ernst Stadler, Otto Flake und Maxime Alexandre. 33 Gemeinsam ist dieser 30 Jan Walsh Hokenson / Marcella Munson: The Bilingual Text, History and Theory of Literary Self-Translation. Manchester 2007, S. 165. 31 Der Mann, der zwischen den Stühlen sitzt (Anm. 1), S. 7. Vgl. Michel Grunewald / Jean- Marie Valentin (Hg.): Yvan Goll (1891-1950). Situations de l’écrivain. Bern [u. a.] 1994, S. 4 (Einleitung). 32 Siehe beispielsweise den bereits zitierten Brief an Paula Ludwig (Anm. 18). 33 Zum literarischen Sprachwechsel als kollektivem Phänomen siehe u. a. Dieter Lamping: Haben Schriftsteller nur eine Sprache? Über den Sprachwechsel in der Exilliteratur. In: 40 Dirk Weissmann nach 1871 zur Welt gekommenen, oft als verloren bzw. „geopfert“ bezeichneten Generation ein tiefer innerer Konflikt durch die nahezu unhaltbare Zwischenstellung zwischen Deutschland und Frankreich, 34 dem sie sich zum Teil nur durch Exil entziehen konnten. Gerade der 1891 geborene Goll musste sich gleich zu Beginn seiner literarischen Karriere durch Flucht in die Schweiz dem kriegerischen Konflikt entziehen, der gleichsam zwischen den beiden Hälften seiner kulturell-sprachlichen Identität ausgebrochen war. Die Intensität dieser politisch ‚überdeterminierten‘ Doppelidentität ist ein Ausnahmephänomen und unterscheidet den Fall der elsässisch-lothringischen Literatur entschieden von dem anderer mehrsprachiger Autoren derselben Epoche. 35 Immer wieder wurde auf den Boom der literarischen Zweisprachigkeit in Elsass-Lothringen während der Zeit der deutsch-französischen Erbfeindschaft hingewiesen. 36 Ein nicht unerheblicher Teil dieser Autoren gehört zu den treibenden Kräften der literarischen Avantgarde, was wieder auf den bereits erwähnten Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und literarischer Innovation hinweist. Wie die meisten mehrkulturellen und mehrsprachigen Individuen litten sie unter den Nationalismen und versuchten diese auch mit sprachlichdichterischen Mitteln zu durchkreuzen. Ihnen gemein war der entschiedene Wille zur deutsch-französischen Vermittlung vor dem Hintergrund eines aggressiven Nationalismus bei dem gleichzeitigen Bewusstsein, keinen festen Boden unter den Füßen zu besitzen, sich auf einem prekären Vorposten zwischen den Stühlen zu befinden. Ihr persönliches Sprachbewusstsein als Zweisprachige und ihr Selbstverständnis als Vermittler stand selbstredend im eklatanten Widerspruch zu einer politischen Mobilmachung der Nationalsprachen und -kulturen im Kampf gegen den sogenannten Erbfeind. 37 Zweisprachigkeit wurde per se als ‚Fahnenflucht‘ und Verrat am rein monolingual und monokulturell konzipierten Vaterders.: Literatur und Theorie. Poetologische Probleme der Moderne. Göttingen 1996, S. 33-48. 34 Adrien Finck / Maryse Staiber: Histoire de la littérature européenne d’Alsace: 20 e siècle. Straßburg 2004, S. 56. 35 Delphine Grass: World Literature at the Alsace Borderland: The Frontier Poetics of Claude Vigée and André Weckmann’s Poetry. In: Liminalities: A Journal of Performance Studies 3 (2015), S. 1-19, hier S. 2. 36 Siehe z. B. Elke Sturm-Trigonakis: Global Playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur. Würzburg 2007, S. 117 sowie Georg Kremnitz: Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen. Aus der Sicht der Soziologie der Kommunikation. Wien 2004, S. 148. 37 „Im 20. Jahrhundert tritt mit der Vorstellung von der Wehrpflicht der Sprache ein militärischer Imperativ hinzu, der im Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreicht. Die Reinigung der Muttersprache von allem Fremden wird zum geistigen Kampf an der Heimatfront stilisiert.“ (Anja Stukenbrock: Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 41 land angesehen. Diese binäre nationalistische Logik des Entweder-Oder stand im eklatanten Widerspruch zu der lange in die Geschichte zurückreichenden hybriden Identität des Zwischenreichs Lothars. 38 Aus diesem speziellen soziolinguistischem und sprachpolitischem Umfeld resultiert bei den elsässisch-lothringischen Schriftstellern letztlich das Phänomen einer Art Dialektik von Vermittlung und Spaltung bzw. von Überbrückung und Trennung, die sich auch direkt anhand von Golls Produktionsästhetik darstellen und vertiefen lässt. VI. Ambivalenzen zweisprachigen Schreibens Die eben erwähnte dialektische Perspektive fußt u. a. auf neueren Ansätzen aus der Translationswissenschaft, die die herkömmliche Betrachtungsweise von Übersetzung als Vermittlungsarbeit bzw. Brückenbauen revidieren wollen. In diesem Zusammenhang wären vor allem die Studien des in Cornell lehrenden Japanologen Naoki Sakai zu erwähnen, u. a. sein viel zitiertes Werk Translation and Subjectivity , in dem er die Brückenmetapher der Übersetzungswissenschaft einer Revision unterzieht. 39 In einem zusammen mit Sandro Mezzadra herausgegebenen Sammelband hat Sakai jüngst erneut unterstrichen, dass Übersetzung sowohl Brücken als auch Mauern bauen kann. 40 Unter diesem Blickwinkel können Übersetzungen, vereinfacht gesagt, sowohl Sprachgrenzen zu überschreiten helfen wie auch die jeweilige Identität der beteiligten Sprachen und Kulturen bekräftigen, und somit die sie trennende Grenze vertiefen. In bestimmten historischen Kontexten kann die Übersetzungsarbeit durchaus zur sprachlichen bzw. identitären und nationalen Selbstbehauptung dienen. So können unter anderem kleine oder minoritäre Sprachen mittels übersetzerischer Aneignung oder Abgrenzung zu mehr Eigenständigkeit gelangen. 41 Auch wenn sich Sakais translationswissenschaftliche Theorien nicht uneingeschränkt auf den deutsch-französischen Raum übertragen lassen, kann diese Dialektik im germanisch-romanischen Mittelreich Lothars bereits ab den Straßburger Eiden (842) nachgewiesen werden, die ja auch eine sprachliche Grenze kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland [1617-1945]. Berlin [u. a.] 2005, S. 437-438) Vgl. Finck / Staiber: Histoire de la littérature européenne d’Alsace (Anm. 34), S. 6. 38 Während sich nach der Reichsteilung von Prüm (843) im West- und Ostfränkischen Reich allmählich eine relativ geschlossene französische bzw. deutsche Kultur herausbildete, blieb im Mittelreich ‚Lotharingien‘ über Jahrhunderte hinweg eine germanisch-romanische Mischkultur erhalten, wie noch heute Länder wie Luxemburg zeigen. 39 Naomi Sakai: Translation and Subjectivity: On „Japan“ and cultural nationalism. Minneapolis 1997. 40 Sandro Mezzadra / Naoki Sakai (Hg.): Translation: a transdisciplinary journal 4 (2014) [Sonderheft Politics ]. 41 In diesem Sinn wäre zum Beispiel eine Übersetzung des Don Quichotte ins Katalanische weniger eine Geste der Vermittlung als ein Akt sprachlich-kultureller Selbstbehauptung. 42 Dirk Weissmann markieren und diese gleichzeitig vermittelnd zu überschreiten versuchen. 42 Und Yvan Golls Werk als Selbstübersetzer lässt meines Erachtens dieselbe dialektische Ambivalenz von Brücken-Bauen und Grenzen-Ziehen erkennen. Denn neben den bereits erwähnten Transferprozessen zwischen den Sprachen, ihrer gegenseitigen Befruchtung und Bereicherung, beobachtet man bei Goll auch ein stetiges Bestreben, sich den Konventionen des jeweiligen Literatursystems anzupassen. So hat unter anderem James Phillips überzeugend dargestellt, wie Goll seine expressionistischen Texte über den Weg translingualer Bearbeitung der kubistischen Ästhetik der französischen Literatur seiner Zeit anzupassen versuchte. 43 Die übersetzerische Vermittlung, eines der wichtigsten Anliegen Golls überhaupt, 44 geht so Hand in Hand mit der abgrenzenden Untermauerung der Eigenständigkeit des jeweiligen Literatursystems, und sei es entgegen den grundlegenden Intentionen des Autors. Auch Leonard Forster und Eva Kushner haben in diesem Zusammenhang betont, dass die beiden Dichtungssprachen Golls tief in ihrer jeweiligen Tradition verwurzelt sind. 45 Seine perfekte Zweisprachigkeit zeichne sich gerade durch dessen große Treue zum jeweiligen „génie de la langue“ und somit durch gegenseitige sprachliche Abgrenzung aus. 46 VII. Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? Neben den widrigen Zeitumständen wurde bei Goll die praktische Umsetzung und Effizienz seines Willens zur Grenzüberschreitung zusätzlich dadurch eingeschränkt, dass sich sein mehrsprachiges Werk gerade durch die uneingeschränkte Respektierung der Sprachgrenzen auszeichnet. Insofern scheint Goll nicht den futuristischen Impetus eines Guillaume Apollinaire aufgenommen zu haben, der im Kontext seines Manifests L’antitradition futuriste (1913) 42 Vgl. u. a. Finck / Staiber: Histoire de la littérature européenne d’Alsace (Anm. 34), S. 10. 43 Phillips: Yvan Goll and Bilingual Poetry (Anm. 24). Zum Gehalt des Begriffs ‚Kubismus‘ im Zusammenhang mit Golls Werk siehe auch Matthias Müller-Lentrodt: Poetik für eine brennende Welt. Zonen der Poetik Yvan Golls im Kontext der europäischen Avantgarde. Bern [u. a.] 1997, S. 73 f. 44 „J’ai la belle tâche d’être le médiateur d’un côté et de l’autre“. (Yvan Goll: Brief an Walter Rheiner aus dem Jahre 1920, zitiert nach: Teresa Papparella: La Quête d’identité et le bilinguisme d’Yvan Goll. In: Babel, 18 [2008], S. 151-157, hier S. 158.) 45 Forster: Dichten in fremden Sprachen (Anm. 4), S. 118; Eva Kushner: Yvan Goll. Deux langues, une âme. In: François Jost (Hg.): Actes du IV e Congrès de l’Association Internationanale de Littérature Comparée. Fribourg 1964. Den Haag und Paris 1966, S. 576-587. 46 So vertritt Kushner (ebd.) die Meinung, Goll sei genau deswegen ein bedeutender zweisprachiger Dichter, da er den sprachlichen Genius beider Sprachen respektiert habe. Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 43 forderte, den ‚Fluch‘ der biblischen Sprachverwirrung zu überwinden und babylonische Türme in verbindende Brücken umzubilden. 47 In diesem Zusammenhang muss vor allem Golls Verzicht auf interne Mehrsprachigkeit zitiert werden, d. h. sein Verzicht auf Sprachmischung, wie sie im Dadaismus (und zuvor im Futurismus) die Regel war, aber wie wir sie auch bereits im Naturalismus finden. Goll, der ja nicht zur sprachexperimentellen (und direkt in den Dadaismus mündenden) Linie des Expressionismus gehörte, ist ein konsequenter Sprachwechsler und keinesfalls ein ‚Sprachmischer‘ wie es z. B. Wedekind, George und Mehring waren. In diesem Sinne unterscheidet sich die tragisch zu nennende Mehrsprachigkeit Golls auch entscheidend von dem spielerisch-lustvollen Umgang mit der Sprachvielfalt, wie wir ihn beispielsweise bei Hans Arp beobachten können, der seine Mehrsprachigkeit glücklich auslebte anstatt sie als Last zu empfinden. 48 Dass Golls Nachlass nach Sprachen getrennt in Deutschland bzw. Frankreich verwaltet wird, ist in diesem Zusammenhang als symptomatisch zu bezeichnen. 49 Verbindet man diese Beobachtungen mit der von Goll selbst immer wieder thematisierten territorialen Verankerung von Sprache, dann wird deutlich, wie stark sein zweisprachiges Schreiben letztlich unter dem Einfluss der sprachnationalistischen Mauern seiner Zeit stand. Die viel zitierte Idee vom „geistigen Elsässertum“ (René Schickele) 50 als Verkörperung eines transnationalen Raums der Vermittlung (und Versöhnung) scheint in dieser Literatur letztlich daran zu scheitern, dass „die Sprache […] an die Erde gebunden [ist]“, wie es Goll selbst 1929 ausgedrückt hat. 51 In diesem Sinne scheint Goll durchaus die grundsätzliche Einsprachigkeit literarischer Territorien als Ideal postuliert zu haben. Die Position des Schriftstellers zwischen den ‚Stühlen‘ zweier politisch befeindeter Sprachen und die definitorische Macht externer Identitätszuschreibungen ethnolinguistischer Art konterkarieren letztlich alle Versuche einer Grenzüberschreitung im Bereich der Literatur. Die grundlegend translinguale Dimension seines Schreibens befindet sich bei Goll folglich in einem harten Spannungsverhältnis zu einer Reihe externer, aber auch interner Grenzziehungen. Wie die eben zitierten Selbstaussagen zeigen, war Golls Sprachbewusstsein durchaus vom territorialisierten Muttersprachen- 47 „Tours de Babel changées en ponts“. (Guillaume Apollinaire: Liens. In: Calligrammes. Paris 1966 [1918], S. 23-24.) 48 Finck / Staiber: Histoire de la littérature européenne d’Alsace (Anm. 34), S. 23. 49 Der deutschsprachige Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, der frankophone im Stadtarchiv von Saint-Dié-des-Vosges in Frankreich. 50 Siehe u. a. Áine McGillicuddy: René Schickele and Alsace: Cultural Identity Between the Borders. Oxford 2011, S. 59 f. 51 Der Mann, der zwischen den Stühlen sitzt (Interview mit Yvan Goll) (Anm. 1), S. 7. 44 Dirk Weissmann paradigma beeinflusst. Er selbst scheint seine Zweisprachigkeit in weiten Teilen als Anomalie gelebt zu haben, und seine Wahl der literarischen Hauptsprache folgt bis 1939 erstaunlich treu der sprachpolitischen Entwicklung seiner Heimatregion, d. h. er scheint auf individueller Ebene die systemischen Sprachwechsel Elsass-Lothringens verinnerlicht zu haben. 52 Danach versperrte bekanntlich die Korrumpierung der deutschen Sprache durch den Nationalsozialismus bis zum Zyklus Traumkraut (posthum 1951), d. h. bis kurz vor Golls Ableben, die Rückkehr zum Schreiben auf Deutsch. Im Gegensatz zu Wedekind, George, Rilke u. a. hat Goll sich die Sprachen seines literarischen Ausdrucks also weniger gewählt als sich ihnen gleichsam ergeben. Daher führt sein fast völliger Verzicht auf die durchaus epochentypische Sprachenmischung, wodurch der Dichter seine uneingeschränkte Souveränität gegenüber den Nationalsprachen zum Ausdruck bringen kann, letztlich zu folgendem von Richard Exner auf den Punkt gebrachten Sachverhalt: „Il ne ‚possédait‘ pas ces langues, c’étaient elles qui le possédaient“. 53 Unter dem Blickwinkel von Sprache als kollektivem Machtdispositiv wird hier die Sprachvielfalt nicht allein zum ästhetischen Problem - wie beispielsweise bei George -, sondern zum existentiellen Dilemma, das mit einer positiven Betrachtung der Mehrsprachigkeit als Bereicherung nur teilweise in Einklang zu bringen ist. In Abwandlung eines berühmten Diktums Jacques Derridas aus Le monolinguisme de l’autre könnte man diese Problematik bis zum Paradox steigern: „Ja, Yvan Goll hat zwei Sprachen, vielleicht sogar drei, aber es sind nicht seine“. 54 Im deutsch-französischen Kontext der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der mehrsprachige Schriftsteller unaufhaltsam in den Sog sprachnationalistischer Grenzziehungen und Territorialisierungen gerissen. Die Dadaisten wie Arp konnten sich mit ihrer dezidiert panlinguistischen und deterritorialisierten Ästhetik dieser ‚Falle‘ weitgehend entziehen. 55 Andere Schriftsteller seiner Generation wählten die Ausdrucksform des Dialekts als strategischen Rückzug auf eine ‚infranationale‘ Position. Das Schreiben im Dialekt, auf das ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen kann, wurde in der Epoche nach 1871 explizit als Ausweg aus dem elsässischen Dilemma betrachtet, um den Preis jedoch einer empfindlichen Einschränkung des Wirkungskreises und des Ausstiegs aus dem internationalen 52 Vgl. Schmeling: „In jeder Sprache neu“ (Anm. 10), S. 172. 53 Richard Exner: La Poésie allemande d’Yvan Goll. In: Yvan Goll: quatre études. Paris 1956, S. 66. 54 Vgl. Jacques Derrida: Le monolinguisme de l’autre, ou la prothèse d’origine. Paris 1996, S. 15: „Oui, je n’ai qu’une langue, or ce n’est pas la mienne“. 55 Vgl. Schmeling: „In jeder Sprache neu“ (Anm. 10), S. 160. Johann Ohneland-- Johann Ohnesprach? 45 Diskurs der Moderne. 56 Yvan Goll konnte und wollte diesen Weg nicht gehen, da er einerseits im Gegensatz zu anderen elsässisch-lothringischen Schriftstellern nicht in der fränkischen, pfälzischen oder alemannischen Mundart aufgewachsen war (Goll wurde im frankophonen Teil Lothringens jenseits der deutschen Sprachgrenze geboren) und andererseits stets auf Augenhöhe mit der europäischen und internationalen Avantgarde bleiben wollte. VIII. Abschließende Betrachtungen Yvan Goll teilt mit Wedekind, George, Rilke, Mehring und anderen translingualen Schriftstellern der Moderne den Willen zur literarischen Erneuerung und Verjüngung durch sprachliche Vielfalt. Er unterscheidet sich von ihnen durch die soziolinguistischen Determinismen und die sprachpolitischen Spannungen, die in besonderer Weise auf seiner literarischen Praxis gelastet haben. Unter den translingualen Schriftstellern seiner Epoche gehört er zweifelsohne zu denen, deren Mehrsprachigkeit am stärksten externen, soziolinguistischen und sprachpolitischen Faktoren unterworfen war, woraus sich interessante Parallelen mit der Situation postkolonialer Schriftsteller der Nachkriegszeit ergeben. In der Hochphase der Muttersprachenideologie während der beiden Weltkriege wurde der mehrsprachige Schriftsteller nicht nur zum vaterlandslosen Verräter, sondern auch latent zu einem sprachlosen Vogelfreien. 57 Somit könnte Yvan Goll, der sich in „Jean sans terre“ ein mythisches Selbstbildnis gesetzt hat, auch in gewisser Weise als „Jean sans langue“ bezeichnet werden, als „Johann Ohnesprach“, gleich einem modernen Ahasver zwischen den Sprachen wandernd, ohne in einer von ihnen eine Heimat zu finden. Drei Möglichkeiten hätten sich ihm theoretisch angeboten, um aus dem deutsch-französischen ‚double bind‘ herauszukommen: Das Schreiben in nur einer der beiden Sprachen; das Schreiben in einer Mischsprache; das Schreiben im Dialekt. Die Wahl einer dritten Sprache wie des Englischen könnte als vierte Möglichkeit angesehen werden, die ich im vorliegenden Rahmen aber nicht näher ins Auge fassen konnte. Nun war Goll weder ein Regionalist wie die Dialektdichter noch ein einsprachiger Nationalschriftsteller. Doch war er auch kein wirklicher poetischer Internationalist wie beispielsweise die Dadaisten. Sein konsequentes Festhalten an einer gleichsam qua Herkunft aufgebürdeten Zweisprachigkeit besitzt unter diesem Blickwinkel einen heroischen Zug. In diesem Sinne bildet es die Grundlage für seine mythifizierende Selbstdarstellung als Johann Ohneland, 56 Finck / Staiber: Histoire de la littérature européenne d’Alsace (Anm. 34), S. 28 und S. 34 f. 57 Vgl. Claus Ahlzweig: Muttersprache - Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen 1994. 46 Dirk Weissmann als heimatloser Jude, dessen Sprachen stets in gewisser Weise die Sprachen der Anderen bleiben. Die viel (u. a. im vorliegenden Band) zitierte Heimat- und Ortlosigkeit Golls ist folglich eine besonders radikale Form der sprachlichen Obdachlosigkeit, wie sie von George Steiner beschrieben wurde. Die spezifische Stellung Golls innerhalb einer Geschichte der Mehrsprachigkeit in der literarischen Moderne scheint gerade von dieser tragisch zu nennenden Mehrsprachigkeit zu rühren. Natürlich kommen diese Aspekte auch bei anderen mehrsprachigen Autoren wie z. B. bei Rilke zum Tragen. 58 Jedoch besitzen sie bei der Generation elsässisch-lothringischer Autoren, der Goll angehört, ein ganz anderes Ausmaß. Und hier erscheint sein Werk trotz seiner nomadisch-diasporischen Züge letztlich als zutiefst im historisch-territorialen Kontext des elsässisch-lothringischen Raums verankert, auf dessen sprachpolitische Entwicklungen sein Werk direkt reagiert. 59 Anders ausgedrückt: Auf scheinbar paradoxe Weise ist der nomadische Johann Ohneland gleichzeitig ein durch und durch elsässisch-lothringischer Dichter der ‚verlorenen‘ Generation. Somit nimmt Goll eine Zwischenposition ein zwischen einer experimentellen Mehrsprachigkeit modernistischen Zuschnitts und einer existentiellen Zerrissenheit zwischen den Sprachen, einem permanenten Exil in der Sprache. Diese spezifische Form von Mehrsprachigkeit ist, wie gezeigt, untrennbar mit den tiefen Identitätskonflikten verbunden, die ihn und seine Generation insgesamt auszeichnen. Das bewusste Aushalten dieser Spannung macht die Größe seines Œuvres aus. Seine positive Interpretation der Vaterlands- und Wurzellosigkeit als Freiheit könnten für eine interkulturelle Literatur heute wegweisend sein. Sein Verzicht auf eine radikalere sprachliche Deterritorialisierung zur Durchkreuzung nationalistischer Grenzziehungen setzt seiner internationalistischen Zielsetzung - zumindest im historischen Kontext seines Schreibens - Schranken. Die mehrsprachigen Schriftsteller der folgenden Generationen werden in viel stärkerem Maße hybride Schreibweisen ausbilden, wie es bereits Golls elsässischer Freund und Zeitgenosse Hans Arp tat. Diese Schriftsteller werden stärker als Goll die monolingualen Sprachideologien durchkreuzen und das Band zwischen Sprache und Identität zu durchschneiden trachten. 58 Vgl. den Herausgeberkommentar von Manfred Engel und Dorothea Lauterbach zu Rainer Maria Rilkes französischen Gedichten in: Rilke: Gedichte in französischer Sprache (Anm. 15), S. 409 f. 59 Zur Bedeutung des sprachpolitischen und soziolinguistischen Kontexts vgl. Penelope Gardner-Chloros: On the Impact of Sociolinguistic Change in Literature: The Last Trilingual Writers in Alsace. In: The Modern Language Review 4 (2013), S. 1086-1102. Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung 47 Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung Karina Schuller, Münster I. Yvan Goll und seine Bemühungen um die Etablierung eines Surrealismus abseits des Breton’schen Konzepts Yvan Goll war ein künstlerischer Tausendsassa; er war Journalist, Übersetzer, Dramenautor, Dichter und Romanautor und bewegte sich in und zwischen den unterschiedlichen Avantgardebewegungen seiner Zeit mit einer Leichtfüßigkeit und Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen suchte. So überrascht es nicht, dass er sich nach seiner Abkehr vom Expressionismus über den Umweg des Kubismus dem Surrealismus zuwandte. Bereits Ende der Zehner Jahre, spätestens mit seiner Übersiedlung nach Paris 1919 / 20, beschäftigte sich Goll mit dem „Überrealismus“, einem Begriff, den er dem Apollinaire’schen „surréalisme“ entlehnte bzw. diesen ins Deutsche übersetzte. Sowohl in seinem „Brief an den verstorbenen Dichter Apollinaire“, der im Februar 1919 in den Weißen Blättern erschien, als auch in seinem Essay „Die drei guten Geister Frankreichs“ aus demselben Jahr benutzt Goll erstmalig diesen Begriff. 1 In dem Brief an Apollinaire heißt es: „Überrealismus! Überzeitlichkeit im Zeitlichen.“ 2 Und an späterer Stelle: „blutende Wahrheit, aber mit den neuen Mitteln des Dichters verwirklicht: Überrealismus! “ 3 Bereits in seinen ersten Auseinandersetzungen mit einem Konzept des Überrealismus wird kenntlich, dass es sich hier im Zeichen Apollinaires um ein künstlerisch-dichterisches Konzept handelt. Und ebenso wie Apollinaire, der seinen Neologismus des Surrealismus im Vorwort seines Dramas Les Mamelles de Tirésias (1917) gebraucht, entspinnt Goll sein Konzept des Überrealismus zunächst als ein Dramenkonzept. In seinem ebenfalls 1919 entstehenden Manifest „Das Überdrama“ bemüht sich Goll um die Reformierung und Radikalisierung dramatischer Mittel, um „in Anlehnung an Apollinaire surreale und verfremdende Effekte zu erzielen“. 4 Seine Dramen Methusalem , Chaplinaide und Die 1 Vgl. Matthias Müller-Lentrodt: Poetik für eine brennende Welt. Zonen der Poetik Yvan Golls im Kontext europäischer Avantgarde. Mit einem Rückblick auf 50 Jahre Forschungsliteratur zu Yvan Goll. Bern [u. a.] 1997, S. 177. 2 Iwan Goll: Brief an den verstorbenen Dichter Apollinaire. In: Die Weißen Blätter. Eine Monatsschrift 6.2 (Februar 1919), S. 78-81, hier S. 81. 3 Ebd. 4 Andreas Kramer: „Basis aller neuen kommenden Kunst ist das Kino“: Yvan Goll und das Medium Film. In: Eric Robertsen / Robert Vilain (Hg.): Yvan Goll - Claire Goll. Texts and Contexts. Amsterdam und Atlanta 1997, S. 83-96, hier S. 87. 48 Karina Schuller Unsterblichen stehen im Zeichen dieses Überdramas, welches sich nach Goll in besonderem Maße dazu eignete, dem Überrealismus den Weg zu ebnen. So schreibt er in seinem Vorwort zu Methusalem : Überrealismus ist die stärkste Negierung des Realismus. Die Wirklichkeit des Scheins wird entlarvt, zugunsten der Wahrheit des Seins. […] Der Dramatiker ist ein Forscher, ein Politiker und ein Gesetzgeber. Als Überrealist statuiert er Dinge aus einem fernen Reich der Wahrheit, die er erhorchte, als er das Ohr an die verschlossenen Wände der Welt legte. 5 Bereits in dieser frühen Form seines Konzepts von Überrealismus (Surrealismus) schwingt der erkenntnistheoretische Anspruch Golls mit, den er in der und durch die Kunst des Überrealismus verwirklicht sehen will. Doch dazu später mehr. Zunächst sollte in aller Kürze deutlich gemacht werden, dass Goll sich nahezu zeitgleich mit der Gruppierung um André Breton - 1919 schreibt dieser gemeinsam mit Soupault Les champs magnétiques - um die Etablierung eines surrealistischen Konzepts bemühte. Er setzte sich dabei ausdrücklich in die Tradition Apollinaires und geriet aufgrund dessen in die querelles surrealistes , die sich zwischen Paul Dermée und Breton zutrugen und im Jahr 1924 ihren traurigen Höhepunkt bei einer von Yvan Goll inszenierten Aufführung der Tänzerin Valeska Gert fanden. Besonders Albert Ronsin hat die schwierige Beziehung zwischen Goll und Breton bereits eingehend herausgestellt, so dass ich mit einem ausdrücklichen Verweis auf seine Forschungen nur knapp umreißen möchte, welche Stellung Goll im Streit um die Verwendung des Terminus „Surrealismus“ einnahm, um die es bei den querelles surréalistes ging. 6 Paul Dermée, der 1917 einen Brief von Apollinaire erhalten hatte, in dem dieser sich zu seiner Neuschöpfung eben jenes Begriffs äußerte, nutzte den Terminus „surréalisme“ Anfang 1924 für den Titel einer neuen Zeitschrift Interventions surréalistes und machte damit den Begriff Breton abspenstig, der diesen bereits 1922 in seinem Beitrag „Entrée des mediums“ verwandte. 7 In diesem Beitrag setzte Breton den Begriff in einen direkten Bezug zu seinem Konzept des psychischen Automatismus, das in seinem Ersten Manifest des Surrealismus als écriture automatique 5 Yvan Goll: Überrealismus. In: ders.: Dichtungen. Lyrik, Prosa, Drama. Hg. von Claire Goll. Mit einem Nachwort von Helmut Uhlig. Darmstadt [u. a.] 1960, S. 85. 6 Vgl. v. a. Albert Ronsin: Yvan Goll et André Breton. La querelle littéraire à prospos de Surréalisme . In: Europe 899 (2004), S. 191-209. Ebenso Albert Ronsin: Yvan Goll et André Breton: des relations difficiles. In: Michel Grunewald / Jean-Marie Valentin (Hg.): Yvan Goll (1891-1950). Situations de l’écrivian. Bern [u. a.] 1994, S. 57-74. 7 André Breton: Entrée des mediums. In: Littérature. Nouvelle série 6 (November 1922), S. 1-16. Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung 49 seine ausdrückliche Poetisierung erfahren sollte. So heißt es nach der deutschen Übersetzung: Was meine Freunde und ich unter Surrealismus verstehen, ist bis zu einem gewissen Punkt bekannt. Dies Wort, das wir nicht erfunden haben und das wir ebenso gut dem verschwommensten Kritikerwortschatz überlassen konnten, wird von uns in einem exakten Sinne benutzt. Wir bezeichnen damit nach unserer Übereinkunft einen gewissen psychischen Automatismus, der ungefähr dem Traumzustand entspricht, einem Zustand, dessen genaue Abgrenzung heute sehr schwierig ist. 8 En passant unterschlug Breton so das Erbe Apollinaires, nicht nur dadurch, dass er ihn nicht einmal als Namensgeber erwähnte, sondern vielmehr, indem er auf die vermeintliche Willkürlichkeit des verwandten Begriffs versuchte aufmerksam zu machen - ganz so als habe der Begriff auf die exakte Spezifizierung durch Breton und seine Anhänger gewartet. Darüber hinaus entrückte Breton den Surrealismus auch inhaltlich seiner Ursprünglichkeit, indem er zwar wie Apollinaire von einer gesteigerten Form von Wirklichkeit ausging, die der Surrealität, doch im Gegensatz zu Apollinaires Auffassung sei diese nicht in der bewusst erfahrenen Realität zu finden, sondern entfalte sich erst im Zustand des Unbewussten mittels psychisch automatisierter Verfahren. Apollinaires Vision einer Kunstform, die der Surrealismus für diesen bedeutete, einer Kunstform, die vom Künstler bewusst geschaffen und gestaltet werden sollte, war damit unterwandert. Kunstproduktion hing nun nicht mehr mit bewusstem Arrangement des Künstlers zusammen, sondern entsprang gerade dessen Gegenteil, der automatischen Schöpfung der écriture automatique , dem „magischen Diktat “, 9 wie Breton es in Auftritt der Medien nennt. Um nun zurückzukehren zu den Streitigkeiten um den Begriff „Surrealismus“, die sich 1924 in Paris zutrugen, sei an dieser Stelle angemerkt, dass Dermée Bretons Ausrichtung des Surrealismus schmähte und mit der Titeländerung seiner Zeitschrift Interventions zu Interventions surréalistes versuchte, den Begriff seiner ursprünglichen Bedeutung zurückzuführen. Francis Picabia tat es ihm gleich bzw. ging noch darüber hinaus, indem er die Surrealisten-Gruppe um André Breton in großen Tageszeitungen provozierte 10 - nicht, ohne eine entsprechende Reaktion dieser zu erhalten. 11 Im August 1924 veröffentlicht Yvan Goll in der Zeitschrift Le Journal littéraire einen Beitrag, in dem „er den bürokratischen Dogmatismus des Littérature -Kreises 8 André Breton: Auftritt der Medien. In: Robert Desnos: Die Abenteuer des Freibeuters Sanglot. Hg. von Axel Matthes. München 1973, S. 171-185, hier S. 175. 9 Ebd., S. 177. 10 Vgl. Müller-Lentrodt: Poetik für eine brennende Welt (Anm. 1), S. 163. 11 Vgl. ebd. 50 Karina Schuller anprangert“. 12 Darauf lässt er vierzehn Tage später in demselben Journal seinen Artikel Une réhabilitation du Surréalisme folgen, in dem er versucht, den Surrealismus im Sinne Apollinaires zu rehabilitieren 13 und darüber hinaus moniert, „wie wenig der Surrealismus Apollinaires in der Avantgarde noch wert sei“. 14 Zugleich versucht er, die unterschiedlichen Ausrichtungen des Surrealismus, Bretons eingeschlossen, unter der Rückbesinnung auf Apollinaire zu vereinen. Dieses Vorhaben scheitert jäh und Goll muss sich - so zwischen alle Fronten springend - von der Surrealistengruppe um Breton vorwerfen lassen, er produziere sich als „Schirmherr und Schiedsrichter der Sache des Surrealismus“. 15 Der Schlagabtausch in unterschiedlichen Zeitschriften geht weiter, bis zum Oktober 1924. In diesem Monat erscheint etwa eine Woche vor Bretons Erstem Manifest des Surrealismus Yvan Golls Zeitschrift Surréalisme . Die erste und einzige Nummer der Zeitschrift enthält zuvorderst Golls manifeste du surréalisme (Manifest des Surrealismus), gefolgt von einem weiteren Text Golls mit dem Titel exemple de surréalisme: le cinéma . Pierre Albert-Birot folgt darauf mit mon bouquet au surréalisme ; in dem Text geht es um die Historie des Terminus „Surrealismus“. Ähnlich geht es weiter mit Paul Dermée und seinem von Apollinaire erhaltenen Brief, der die Begriffsfindung durch Apollinaire noch einmal veranschaulichen und bekräftigen soll. Pierre Reverdy schließt mit bel occident an, gefolgt von Joseph Delteils esthétes et anges , sowie Marcel Arlands la route obscure , René Crevels je ne vendrai pas la commode de mon grand-père , Jean Painlevés drame néo-zoologique und der „als autobiographischer Rückblick formulierte Artikel des Malers Robert Delaunay“, 16 der sich nach Müller-Lentrodt noch am ehesten mit Golls Manifest des Surrealismus in Verbindung bringen lasse, da dieser sich um das Entstehen eines seiner Kunstwerke drehe: Diese Durchdringung des Kunstwerks beziehungsweise des Gedichts mit dem turbulenten Großstadtleben sei das Kennzeichen seiner [Delaunays, K. S.] und Apollinaires Ästhetik. Goll und Dermée hätten diese Technik, die zu einem solchen gegenwartsnahen Kunstprodukt führt, surrealistisch genannt. 17 Golls Zeitschrift Surréalisme ist dadurch, dass sie Golls Manifest des Surrealismus enthält, von unschätzbarem Wert, obschon es ihm bereits in der ersten Nummer 12 Ebd. 13 Vgl. Jeremy Stubbs: Goll versus Breton: The Battle for Surrealism. In: Eric Robertsen / Robert Vilain (Hg.): Yvan Goll - Claire Goll. Texts and Contexts. Amsterdam und Atlanta 1997, S. 69-82, hier S. 72. 14 Müller-Lentrodt: Poetik für eine brennende Welt (Anm. 1), S. 164. 15 Ebd., S. 165. 16 Ebd., S. 176. 17 Ebd. Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung 51 nicht gelingt, mit seinem Programm - außer bei Delaunay - auf die Beitragenden einzuwirken. Ronsin vermutet darin das Scheitern einer weiteren Nummer, obwohl Goll auch mit seiner Ankündigung eines surrealistischen Theaters in der ersten Nummer der Surréalisme großen Enthusiasmus für die Sache erkennen ließ. Ronsin resümiert: „Il n’y eut pas de n o 2 à la revue lancée par Yvan Goll car le groupe qui s’ètait formé pour le n o 1 n’était pas homogène. Yvan Goll n’avait pas la stature d’un chef d’école.“ 18 Bevor ich auf Golls Manifest des Surrealismus eingehen möchte, schließe ich kurz den Überblick über Golls Interaktionen im Streit um den Surrealismus ab, indem ich zum besagten Tanzabend im November 1924 komme. Goll hatte diesen Abend bereits unter dem Namen „danses surréalistes“ in Pariser Künstlerkreisen angekündigt und somit Breton, der alles andere als erfreut über Golls publizistische Tätigkeiten in puncto Surrealismus war, die Steilvorlage geboten, dort mit seinem Gefolge zu erscheinen und für Ärger zu sorgen. Mit Pfiffen und Eiern störte die Surrealistengruppe um Breton die Aufführung der Tänzerin Valeska Gert in der Comédie des Champs-Elysées und es kam zu einem Eklat um Breton, den Yvan Golls Frau Claire in ihrer autobiographischen Publikation Ich verzeihe keinem wie folgt inszeniert: „Breton sprang auf einen Sitz und beanspruchte laut für sich das alleinige Recht, das Wort ‚Surrealismus‘ zu gebrauchen. Es war kein Dichter mehr, der da gestikulierte, sondern der Exklusivbesitzer einer Fabrikmarke.“ 19 Wie weit dieser Darstellung Glauben geschenkt werden darf, sei dahingestellt, zumindest reichten Bretons Provokationen aus, um Goll außer Fassung zu bringen, denn Goll versetzte Breton an diesem Abend einen Faustschlag - einen später im Exil von Goll selbst als „geste criminel“ bezeichneten Akt der Gewalt, der zwar das punktuelle Ende der Streitigkeiten um den Surrealismus bedeutete, aber zu dem Preis des Ausschlusses Golls aus den Pariser Kreisen, angestrebt von einem zutiefst gekränkten André Breton. 20 Zeitlebens blieb das Verhältnis Bretons und Golls angespannt, auch noch später im amerikanischen Exil, in dem sie sich wiederbegegneten. 21 18 Ronsin: Yvan Goll et André Breton (Anm. 6), S. 195. 19 Claire Goll: Ich verzeihe keinem. Eine Chronique scandaleuse. Bern und München 1978, S. 122. 20 Vgl. Golls Brief an Breton aus dem Jahr 1942. (Zitiert nach: Ronsin: Yvan Goll et André Breton [Anm. 6], S. 199.) 21 Vgl. weiterführend ebd., S. 197-207. 52 Karina Schuller II. Yvan Golls Manifest des Surrealismus-- zur Poetik surrealistischer Dichtung Wie bereits angemerkt, orientiert sich Goll in seiner Konzeption von Surrealismus stark an Apollinaire, der diesen Neologismus 1917 öffentlich machte. Apollinaire verstand unter Surrealismus eine neuartige Kunstform, die durch die Verarbeitung von Alltagseindrücken besonders des Pariser Großstadtlebens entstand. Der Künstler lässt sich nach Apollinaire von der wahrgenommenen Wirklichkeit inspirieren, gibt diese dann nicht naturalistisch wieder, sondern in übersteigerter, eben surrealistischer Form. Surrealistische Kunst tritt dabei erst zu Tage, wenn der Künstler in einem bewussten Akt des Arrangements Surrealistisches erschafft. Dabei „regiert immer der gesunde Menschenverstand (‚le bon sens‘), der den Dichter vor dem ‚Absturz‘ in die Irrationalität bewahrt.“ 22 Denn es ist schon bei Apollinaire Aufgabe des Dichters, mittels Kunst, genauer mittels Dichtung, eine gesteigerte Form von Wirklichkeit aufzuzeigen, die dem Kunstrezipienten andernfalls versagt bliebe. Der Dichter wird so zum surrealistischen Visionär. Die Verschränkung von Kunstproduktion und -rezeption mit Wahrnehmungsbzw. Erkenntnismöglichkeiten fasziniert Yvan Goll besonders am Konzept des Apollinaire’schen „Überrealismus“, wie Goll ihn nennt. Darin sieht er bereits 1919 die Hauptaufgabe des Surrealismus, der die - wir erinnern uns an den eingangs zitierten Brief Golls an den verstorbenen Dichter Apollinaire - „blutende Wahrheit“ zugänglich machen solle. Schon früh wird Goll getragen von seiner „Sehnsucht nach dem Neuen und ganz Anderen, eine[r] Suche, die sich dann in ästhetischen Innovationen konkretisiert“, Innovationen wie eben der durch Apollinaire beeinflusste „Überrealismus“ Golls. 23 So formuliert Goll in seinem Essay Von neuer französischer Dichtung aus der Neuen Rundschau von 1920 den erkenntnistheoretischen Anspruch, den er an surrealistische Dichtkunst stellt oder anders formuliert, die diese überhaupt erst als surrealistisch auszeichnet: Überrealismus, nicht: Überhebung über das Irdische, aber tiefes Einleben in dieses, ganz Ergebung an das Seiende, an jede vorübergehende Handlung und Gestalt, an jeden Augenblick (der ja ein Stück Ewigkeit ist). Es ist das demütige Verstehenwollen alles dessen, was um uns, in uns und außer uns ist, denn der Dichter weiß, daß es 22 Müller-Lentrodt: Poetik für eine brennende Welt (Anm. 1), S. 161. 23 Manfred Schmeling: Von der Regionalität zu Internationalität. Der Fall Yvan Goll. In: Ralf Georg Bogner / Manfred Leber (Hg.): Die Literaturen der Großregion Saar-Lor-Lux-Elsass in Geschichte und Gegenwart. Saarbrücken 2012 [Saarbrücker literaturwissenschaftliche Ringvorlesungen 2], S. 153-170, hier S. 168. Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung 53 Dinge gibt, die wir mit unseren zufälligen groben Sinnen kaum erraten, und sucht sie zu erforschen: er will nicht übersinnlich, aber transsinnlich sein. 24 Der Dichter des Überrealen nutzt seinen sechsten Sinn, die surrealistische Dichtkunst, mit der er die Welt erkennt und diese auf höherer Ebene erfahrbar macht, so Goll: Die Welt in die Atmosphäre der Überwirklichkeit, will sagen, der letzten, ganzen Wirklichkeit getaucht. Es sollen nicht mehr Sätze geformt werden, sondern Dinge aus Worten. […] Apollinaire hat diesem Trieb insofern nachgegeben, daß er die Gegenstände äußerlich auch so wiederzugeben versucht hat, indem er aus der Über-, Unter-, und Nebeneinanderreihung von Worten ein Bild, zum Beispiel einen Springbrunnen, einen Eisenbahnzug, und sogar Regentropfen dargestellt hatte. 25 In seinem Manifest des Surrealismus von 1924 aktualisiert Goll diese erkenntnistheoretische Ausrichtung des Surrealismus, wenn er schreibt: „Aus der Übertragung der Wirklichkeit auf eine höhere künstlerische Ebene, entstand der Surrealismus.“ 26 Gleich im nächsten Passus erläutert Goll, wie er diese Übertragung verstanden wissen möchte - mittels poetischer Sprache, oder genauer mittels „poetische[r] Bilder“. 27 Surrealismus ist für Goll eine gesteigerte Form der Realität, die sich durch Dichtung darbietet - eine Dichtung, die sich „der Urmaterie der Sprache“ bedient und in eben jene poetischen Bilder transformiert. 28 Diese Urmaterie habe schon Apollinaire genutzt, so Goll, und sie bestehe aus „Worte[n] des Alltagslebens“, 29 die - neu verarbeitet - das „elementare[] Material“ 30 surrealistischer Dichtung bilden. Dabei sei der Aspekt der Schnelligkeit entscheidend, der Dichter schaffe die schönsten Sprachbilder, indem er „weit voneinander entfernte Elemente der Wirklichkeit am direktesten und schnellsten“ miteinander verbinde. 31 Ähnlich wie auch Breton in seinem ersten Manifest hat Goll hier Reverdys Bildtheorie (erstmals 1918 unter dem Titel L’image in der Zeitschrift Nord-Sud veröffentlicht) vor Augen, in der Reverdy „die Verbindung ‚ferner‘ Seinsbereiche durch Bilder als besonders poetisch“ empfiehlt. 32 24 Ywan Goll: Von neuer französischer Dichtung. In: Die neue Rundschau 1 (1920), S. 103-110, hier S. 108. 25 Ebd., S. 109. 26 Hier nach der deutschen Übersetzung aus Golls Dichtungen : Yvan Goll: Manifest des Surrealismus. In: ders.: Dichtungen (Anm. 5), S. 186. 27 Yvan Goll: Manifest des Surrealismus (Anm. 26), S. 186. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus. Innovation und Gattungsreflexion. Tübingen 1991, S. 144. 54 Karina Schuller Die Kongruenz Golls und Bretons in der Aufnahme und Weiterverarbeitung der Bildtheorie Reverdys exponiert gleichermaßen in beiden Manifesten die essentielle Bedeutsamkeit von poetischer Sprache für die jeweilige Konzeption von Surrealismus. Breton sieht die écriture automatique zur „Gewinnung der schönsten Bilder“ 33 als besonders geeignet an und entzieht damit die bewusste poetische Produktion dem „automatisch“ Schreibenden als Medium einer sich selbst schreibenden Sprache, die zugleich Öffner der Surrealität bedeutet, indem sie diese durch ihre surrealistischen Sprachbilder zugänglich macht: „Allmählich gewinnt der Geist Gewißheit von der höchsten Realität solcher Bilder.“ 34 Poetische Sprache, nämlich die der écriture automatique , bedeutet auch bei Breton das Mittel des Erkennens einer höheren Realität, der Surrealität, doch im Gegensatz zu Golls Konzeption kommt dem Künstler lediglich die Aufgabe der „bescheidenen Registriermaschine [ ]“ zu. 35 So gründen beide Konzeptionen poetischer Sprache in der Neuschöpfung von Sprache mittels Kombinatorik zweier eigentlich entfernter Sprachbilder, allerdings ist die Position des Künstlers bei dieser Kombinatorik jeweils eine differierende: während Breton den Künstler diese Bilder automatisch , unbewusst schreiben lässt, so ist das Formen poetischer Bilder aus der „Urmaterie“ bei Goll ein bewusster Akt des Künstlers, ganz im Sinne Apollinaires. Nichtsdestotrotz bedeutet Surrealismus für Breton als auch Goll die jeweilige Neuschöpfung von poetischer Sprache - für den einen als psychischen Automatismus der écriture automatique , für den anderen als die rasche „Assoziation zwischen dem ersten Eindruck und dem letzten Ausdruck“. 36 Die divergierende Position des Künstlers während der surrealistischen Kunstproduktion ist es aber zugleich auch, die beide Ansätze als unvereinbar statuiert, und so erstaunt es nicht, dass Goll in seinem zwei Seiten langen Manifest des Surrealismus nicht darauf verzichtet, die „Ex-Dadas“, 37 wie er Breton und seine Anhänger nennt, und ihre „Fälschung des Surrealismus“ 38 direkt und unverhohlen anzugreifen bzw. die Idee des unbewussten Schreibens als unbrauchbar auszuweisen: „Sie verkündet die ‚Allmacht des Traums‘ und stempelt Freud zur neuen Muße. Als ob sich die Lehre Freuds in die Welt der Poesie übertragen ließe! “ 39 Für Goll ist surrealistische Poetik durch bewusste Arbeit des Dichters gekennzeichnet, durch die rasche Verarbeitung wahrgenommener 33 André Breton: Erstes Manifest des Surrealismus. In: ders.: Die Manifeste des Surrealismus. 12. Auflage. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 9-43, hier S. 35. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 28. 36 Goll: Manifest des Surrealismus (Anm. 26), S. 186. 37 Ebd., S. 187. 38 Ebd. 39 Ebd. Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung 55 Alltagseindrücke, natürlich auch sprachlicher Art, die im Surrealismus ihrer Profanität enthoben und einer höheren Wirklichkeit zugeführt werden, welche sich im surrealistischen Kunstwerk äußert. Dadurch ist „die surréalité […] für ihn eine mit künstlerischen Mitteln zu entwerfende réalité artistique “, eine Form von Wirklichkeit, die erst im und durch das Kunstwerk erkannt werden kann. 40 Allein so könne der Mensch die Natur und damit „das Urgefühl des Menschen“ 41 wiederfinden, allein durch bewusstes Schaffen von Versen, die die „blutende Wahrheit“ 42 offenbaren und nicht „Verschönerung, nicht illusionistische Verbildlichung und metaphernhafte Umschreibung“ 43 bedeuten. Anhand seines bereits 1921 entstandenen und erstgedruckten sowie 1924 überarbeiteten Gedichts Paris brennt möchte ich im Folgenden versuchen, der surrealistischen Poetik Yvan Golls ein greifbareres Gesicht zu geben. Dazu möchte ich surrealistische Sprachbilder herausstellen, die einerseits die Verarbeitung von Alltagseindrücken bedeuten und andererseits dem von Goll geforderten Aspekt der Schnelligkeit durch Evokation einer eben solchen Rechnung tragen. Dies kann in diesem Umfang nur versatzstückartig erfolgen, da es mir aufgrund der Länge des Gedichts nicht möglich sein wird, eine detailreiche Interpretation zu gewähren. Dies hat im Übrigen Johannes Ullmaier mit seiner fundierten Studie Yvan Golls Gedicht „Paris brennt“ von 1995 bereits umfangreich vorgenommen. 44 III. Yvan Golls surrealistische Dichtung: Surrealistische Sprachbilder am Beispiel Paris brennt (1924) Yvan Golls Gedicht Paris brennt erfuhr seinen Erstdruck 1921 als Sonderdruck der Zeitschrift Zenit in deutscher Fassung, 45 wurde 1923 unter dem Titel „Paris brûle“ der französischen Sammlung Le nouvel Orphée hinzugefügt, sowie 1924 der deutschen Gedichtsammlung Golls Der Eiffelturm . Beide späteren Texteditionen sind stellenweise von Goll überarbeitet worden und ich möchte mich im Folgenden auf die 1924 erschienene Version des Gedichts stützen, da diese den Forderungen Golls nach einer surrealistischen Poetik in seinem Manifest nicht nur zeitlich, 40 Michael Knauf: Yvan Goll. Ein Intellektueller zwischen zwei Ländern und zwei Avantgarden. Bern [u. a.] 1996, S. 142. 41 Goll: Manifest des Surrealismus, S. 187. 42 Vgl. Anm. 3. 43 Goll: Von neuer französischer Dichtung (Anm. 24), S. 108. 44 Johannes Ullmaier: Yvan Golls Gedicht „Paris brennt“. Zur Bedeutung von Collage, Montage und Simultanismus als Gestaltungsverfahren der Avantgarde. Tübingen 1995. Hier findet sich neben Ullmaiers Studie ein Wiederabdruck des Gedichts in den drei verschiedenen Fassungen, vgl. hierzu S. 10-63. 45 Vgl. ebd., S. 6. 56 Karina Schuller sondern auch in Struktur und Ausdruck am Nächsten kommt. Paris brennt ist nach Ullmaier „das bei weitem längste und in vielerlei Hinsicht auffälligste Gedicht“ Yvan Golls. 46 Goll verarbeitet in diesem Gedicht Alltagseindrücke des Großstadtdaseins in Paris in Form eines Tageszyklus, der „5 Uhr früh“ 47 beginnt und bis zum nächsten Morgengrauen andauert, obschon eine genaue Zeitangabe zum Schluss des Gedichts verwehrt bleibt, schließt es doch mit dem Vers: „Wieviel Uhr ist es? “, 48 nachdem angesagt wurde: „Für morgen ist der Sonnenaufgang abgesagt“. 49 Angefüllt ist das Gedicht mit surrealistischen Sprachbildern und schnell wechselnden Eindrücken eines Großstadtlebens, die nur das „Zinnober-Schiff PARIS “ 50 anbieten kann und die Paris selbst in einem völlig neuen und surrealistischen Licht erscheinen lassen: „Der Opernplatz / Mit Maggiwürfeln unterminiert / Ist von Ballerinen bewacht“. 51 Ebenso wird aus einer Situation des alltäglichen Wartens an einer Haltestelle, aus einer Begegnung mit einer Unbekannten in Golls Gedicht eine ganz neue und bedeutungsschwere Realität, wenn es heißt: Und an allen Haltestellen Wartet schon die heilige Unbekannte Wieviel Sehnsucht fährt in Autobussen! Wieviel Frauen hat man nie gehabt! Aber sie heißt Isabel Vögelchen aus dem Hotel gefallen Eine Puppe ist ihr Herz Macht die Augen zu wenn man sie hinlegt (Und wenn sie weint Ist schon der zerknitterte Mund der alten Frau da) Die Lider haben Angst wie Ahornblätter im Herbst Zu schwer zu sein und in den Tod zu fallen 52 Die aufgehende Sonne ist in dem raschen Wechsel der Beobachtungen ein gewisser Fixpunkt, der seine Position am Himmel mit dem Laufe des Tages verändert und doch immer „hinter Paris“ steht und alles in und um Paris um- 46 Ebd. 47 Yvan Goll: Paris brennt. In: ders.: Der Eiffelturm. Gesammelte Dichtungen. Berlin 1924, S. 12-25. (Zitiert nach dem Wiederabdruck in Ullmaier: Yvan Golls Gedicht „Paris brennt“ [Anm. 44], S. 16-56, hier S. 17.) 48 Ebd., S. 56. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 16. 51 Ebd., S. 53. 52 Ebd., S. 22 f. Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung 57 schließt: 53 „Und ist ein gelber Löwenzahn / Ist blond im Haar der Tippmamsell / Ist auf Montmartre / Das erste geöffnete Fenster / Anfang des Lebens / Sie steht in allen Bäckereien“. 54 Später: Im Welt-Velodrom Auf ratterndem Einrad radelt die SONNE Das Handicap zu gewinnen Sie schwitzt in ihrem gelben Sweater Das Weltrennen hört nie mehr auf Motorräder erklimmen die Milchstraße Und in Longchamps auf besoffenen Pferden Starten zitronengoldne Jockeys Der Mensch fordert den Weltchampion heraus 55 Die Sonne bietet genügend Inspiration, um Sprachbilder wie das der in den Himmel rasenden Motorräder zu evozieren oder eben das der besoffenen Pferde, auf denen zitronengoldne Jockeys mit der Sonne um die Wette reiten. Ein paar Verse weiter heißt es dann: Eisberge rutschen den Äquator hinunter Komete ringeln den Schwanz Adler aus Aluminium Fallen herab - O toll dreht sich das Jahrhundert Am Ziffernblatt der goldnen garantierten Sonne Und ich fürchte: mein Herz Geht plötzlich wie ein Revolver los! Doch eine Sphinx aus Ziegelstein Äugt: ARBEIT ARBEIT In den Fabriken näseln hurige Sirenen Puddeln stoßen schneiden löten drehen baggern pflügen heizen fegen sticken tippen heben sterben 56 Innerhalb von dreizehn Versen bzw. zwei Strophen ereignet sich ein Jahrhundertkrieg - zu den Adlern aus Aluminium lassen sich Flugzeuge assoziieren -, der die Weltordnung (zer)stört. So rutschen Eisberge den Äquator hinunter. 53 Ebd., S. 21. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 26 f. 56 Ebd., S. 28 f. 58 Karina Schuller Zugleich etabliert der Krieg unter der „garantierten Sonne“ eine neue Ordnung, 57 die das lyrische Ich zwar noch bangen lässt, allerdings schon längst von der arbeitenden Bevölkerung aufgezogen und vollzogen wurde - ein ganzes Leben vollzieht sich rapid, angedeutet durch die subjektlose Abfolge bzw. Aneinanderreihung von nicht konjugierten Verben. Neben den surrealistischen Sprachbildern, die sich zuhauf in Golls Paris brennt finden lassen und die ich hier nur exemplarisch vorstellen konnte, hält das Gedicht, ganz Golls Poetik surrealistischer Dichtung entsprechend, das rapide Tempo in der schnellen Abfolge beschriebener Eindrücke und Wahrnehmungen des lyrischen Ichs, die der profanen Alltäglichkeit enthoben werden. So etwa die Zeitungsschlagzeilen, die es in den „Untergrundbahnen“ 58 als „neue Bibel“ 59 zu lesen gibt: ›Ein Friseur An den Haaren Seiner Frau erhängt 12 Neger An Bord des ›Goethe‹ Wegen Gottesdienst erschlossen Generalstreik Im Vatikan Der Papst hat Leibschmerzen Ein Stern Über New York Drei Millionen Tote auferstanden Er liebte sie Sie liebte ihn Zehn Jahre Zuchthaus‹ 60 Die wahrgenommenen und lyrisch verarbeiteten Schlagzeilen sind im Gedicht kursiviert, so dass die Visualisierung dieser zunächst profanen Versatzstücke noch deutlicher hervortritt und ihre schnelle Abfolge im neuen Arrangement eine gewisse Skurrilität hervorkehrt sowie zugleich verschiedenste Evokationen möglicher Geschichten weckt, die sich hinter diesen Schlagzeilen verbergen. An 57 Ebd., S. 28. 58 Ebd., S. 17. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 17 f. 58 Karina Schuller Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung 59 späterer Stelle wird dieser Aspekt der raschen Visualisierung noch deutlicher, wie Goll sie auch in seinem Manifest des Surrealismus als Maß neuer Dichtung fordert, wenn er schreibt: Seit 20 Jahren triumphiert das Auge. Wir sind im Jahrhundert des Films. Mehr und mehr machen wir uns durch visuelle Zeichen verständlich. Schnelligkeit bestimmt heute Qualität. Kunst ist Ausstrahlung des Lebens und des menschlichen Organismus. 61 Denn hier wird ein wahrgenommener Unfall so beschrieben: Unfall Auflauf Sekundenfilm Ein Kopf Ein Hut Ein Kopf von fünfzigtausend Köpfen Scheitel gut bürgerlich Ein Kopf rollt hin O unerbittlich Autorad Ein Kopf mit väterlichem Bart Vielleicht war es Jochanaan Soeben aus der Untergrundbahn aufgestiegen Irgend ein Kopf Mein Kopf vielleicht? 62 Ähnliches lässt sich für das gesamte Gedicht Paris brennt feststellen, weshalb ich dieses herangezogen habe, um Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung exemplarisch aufzeigen zu können. Durch die neuartige Anordnung und Verwendung wahrgenommener Alltagseindrücke eines pulsierenden Paris gelingt Goll hier die „Erzeugung ‚unwirklicher‘, im geläufigen Wortsinn ‚surrealistischer‘ Bilder“. 63 Dadurch, dass Goll diese Eindrücke lyrisch verarbeitet, werde durch „die verfremdeten Kombinationen […] dem Anliegen Rechnung [ge] tragen, üblicherweise weit voneinander Entferntes zusammenzubringen“, 64 so Ullmaier. Dieser Beobachtung kann man sich sicherlich anschließen und tut man dies, berücksichtigt man den anscheinend in diesem Gedicht von Goll verfolgten Anspruch an surrealistische Dichtung, die - wie wir uns erinnern - sowohl für 61 Goll: Manifest des Surrealismus (Anm. 26), S. 187. 62 Goll: Paris brennt (Anm. 47), S. 33 f. 63 Ebd., S. 148. 64 Ebd. Goll als auch für Breton zwei weit voneinander entfernte (Sprach)Bilder zusammenzufügen vermag und dadurch Kunst schafft, die als surrealistisch gelten darf. 60 Karina Schuller „Keine Politik, direkte Tat.“ 61 „Keine Politik, direkte Tat.“ Yvan Goll, Germaine Berton und der Anarchismus in der Moderne Sikander Singh, Saarbrücken I. 1925 veröffentlichte der Verlag „Die Schmiede“ einen siebenundsiebzig Seiten umfassenden Oktav-Band aus der Feder von Yvan Goll. Germaine Berton. Die rote Jungfrau erschien in der von Rudolf Leonhard herausgegebenen Reihe Aussenseiter der Gesellschaft. Verbrechen der Gegenwart . In dem Berliner Verlag hatte der deutsch-französische Schriftsteller bereits im Vorjahr seine gesammelten Dichtungen unter dem Titel Der Eiffelturm publiziert. Wann der Kontakt zu den Verlegern entstanden ist, ist nicht zu belegen; der Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller und seiner Ehefrau Claire dokumentiert lediglich, dass Yvan Goll sich im Herbst des Jahres in der deutschen Hauptstadt aufgehalten hat, über die Arbeit an dem Buch und über seine Drucklegung gibt die Korrespondenz keine Auskunft. 1 Das Programm des Verlages konzentrierte sich auf zeitgenössische Literatur. Wolfgang Schütte, der die Geschichte des Unternehmens untersucht hat, bescheinigt den Verlegern in diesem Zusammenhang ein „sicheres Gespür für gute Literatur“. 2 Belege hierfür sind unter anderem die Erstveröffentlichungen von Franz Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler (1924) und des Romans Der Process (1925). Bedeutenden Anteil an der literarischen Qualität der Produktion hatten vor allem die beiden Lektoren, der bereits genannte Schriftsteller Rudolf Leonhard und Walter Landauer, der später im holländischen Exil für Allert de Lange in Amsterdam tätig werden sollte. 3 1 Vgl. Yvan Goll und Claire Goll: Briefe. Mainz und Berlin 1966, S. 45-47. Der Brief vom 15. Oktober 1924 belegt jedoch, dass Yvan Goll seine Berliner Korrespondenz zumindest teilweise über „Die Schmiede“ abwickelte. Er schrieb an Claire: „Soeben kommt Dein Brief, nach dem ich gestern vielfach telephonisch schrie (an die Schmiede).“ (Ebd., S. 47.) 2 Wolfgang U. Schütte: Der Verlag Die Schmiede 1921 bis 1931. In: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 90 (1983 / 2), S. 10-35, hier S. 13. 3 Frank Hermann und Heinke Schmitz: Der Verlag Die Schmiede 1921-1929. Eine kommentierte Bibliographie. Morsum / Sylt 1996, S. 11-16. 62 Sikander Singh „Die Schmiede“ war 1921 in Form einer Aktiengesellschaft von Fritz Wurm, Heinz Wendriner und Julius B. Salter gegründet worden. Der Verlag bestand bis zum Jahr 1929. Der Sohn des aus Straßburg stammenden Juristen Salter, Georg Salter, zeichnete für die Buchgestaltung verantwortlich, auch für den Entwurf für die Reihe Aussenseiter der Gesellschaft . 4 Wenngleich Programm und grafisches Erscheinungsbild hochwertig waren, bewertete Kurt Tucholsky das Geschäftsgebaren des Verlages kritisch, wie er im Jahr 1929, nachdem das Unternehmen wegen finanzieller Schwierigkeiten seine Tätigkeit einstellen musste, in der Weltbühne unter der Überschrift Schmiede und Schmiedegesellen herausstellte. 5 Trotz des diskreditierenden Urteils des Berliner Publizisten über das Programm und die Ziele der Verleger war die Reihe Aussenseiter der Gesellschaft , die Rudolf Leonhard lektorierte, ein literarisch ebenso ambitioniertes wie gesellschaftspolitisch anregendes Projekt. Die insgesamt vierzehn Kriminalfälle und -prozesse, die von namhaften Schriftstellern der Zeit wie Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Ernst Weiss, Theodor Lessing, Arthur Holitscher oder Hermann Ungar als Auftragsarbeiten verfasst wurden, berichten nicht nur im Sinne journalistischer Reportagen, sondern wählten für ihre Gegenstände zwar dokumentarerzählerische, aber gleichwohl literarische Formen. 6 Indem die Reihe solche Kriminalfälle behandelte und deutete, die in 4 Salters Weg zu einem einflussreichen Buchgestalter, zunächst im Berlin der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre und in den nachfolgenden Jahrzehnten in New York, begann somit im Verlagsunternehmen seines Vaters. Vgl. Thomas S. Hansen: Classic Book Jackets. The Design Legacy of George Salter. New York 2005, S. 12-24. 5 „Was mich bei der Lektüre der Schmiede-Akten so empört hat, ist die Gewissenlosigkeit, mit der hier Kaufleute die Interessen der Autoren mit Füßen getreten haben. Wer ist Herr Doktor Wurm? Wer ist Herr Salter? Da kommen also zwei junge Herren zusammen, die ein vages Interesse für die ‚Kunst‘ haben, nicht mehr als jeder gebildete Getreidekaufmann auch […]. Diese beiden also, durch nichts zum Verlegerberuf qualifiziert, gründen eine Aktiengesellschaft. Vielleicht haben sie zu Beginn gute Absichten gehabt; bei Gott ist kein Ding unmöglich. […] Auch die Propaganda des Verlages ist nicht gut gewesen. […] Sie fingen Serien an und ließen sie wieder fallen; sie hatten Manuskripte in ihren Schubladen liegen, die um die entscheidenden Monate zu spät herauskamen; sie waren, mit einem Wort, von jener typischen, wilden Betriebsseligkeit der Berliner erfaßt, die heute einen Vergnügungspark ‚ganz groß aufziehen‘, um ihn übermorgen in ein Theater zu verwandeln und nach einer Woche gänzlich zu vergessen.“ (Kurt Tucholsky: Schmiede und Schmiedegesellen. In: Die Weltbühne, 25. Jg., 20. August 1929, Nr. 34, S. 284-289, hier S. 285 f.) 6 Alfred Döblin: Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (1924); Egon Erwin Kisch: Der Fall des Generalstabschefs Redl (1924); Ernst Weiß: Der Fall Vukobrankovics (1924); Theodor Lessing: Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs (1925); Arthur Holitscher: Ravachol und die Pariser Anarchisten (1925); Hermann Ungar: Die Ermordung des Hauptmanns Hanika. Tragödie einer Ehe (1925). Vgl. hierzu Wolfgang U. Schütte: Der Verlag Die Schmiede 1921 bis 1931 (Anm. 2), S. 32 und Frank Hermann und Heinke Schmitz: Der Verlag Die Schmiede 1921-1929 (Anm. 3), S. 33. „Keine Politik, direkte Tat.“ 63 der Öffentlichkeit dieser Jahre Beachtung erfuhren, schrieb sie zudem die Tradition der Pitaval -Sammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts fort. II. Auch Yvan Goll entschied sich bei seiner Darstellung des Prozesses gegen Germaine Berton für einen Stil, der zwischen quellentreuer Dokumentarerzählung und Kolportage changiert; zugleich orientiert sich seine Erzählweise an den narrativen Möglichkeiten des Films. 7 Die 1902 geborene französische Anarchistin wollte im Jahr 1923 den Schriftsteller Léon Daudet ermorden. Der älteste Sohn des Schriftstellers Alphonse Daudet war neben dem Journalisten und Autor Charles Maurras ein führender Kopf der rechtskonservativ-faschistischen Action Française und damit zugleich eine der wichtigsten Persönlichkeiten der nationalistisch-royalistischen Gruppierung. Da sie ihn, trotz mehrfacher Versuche, nicht auffinden konnte, erschoss sie am 22. Januar 1923 mit Marius Plateau den Redaktionssekretär der Zeitschrift, welche die Bewegung unterhielt. 8 Für die Dauer des anschließenden Verfahrens gegen Germaine Berton organisierte die anarchistische Zeitung Le Libertaire eine Solidaritätskampagne. Auch im Kreis der Surrealisten um André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault erfuhr die Tat der militanten Anarchistin Resonanz und Zustimmung. So veröffentlichte die erste Ausgabe von La Révolution surréaliste am 1. Dezember 1924 eine Kollage, welche die Photographie von Berton umgeben von insgesamt achtundzwanzig Porträtaufnahmen präsentiert. 9 Sie zeigen sowohl Mitglieder der Bewegung, wie Pablo Picasso, Jean Cocteau, Giorgio de Chirico und seinen Bruder Alberto Savinio, als auch solche Intellektuelle, die im Kreis der Surrealisten als Wegbereiter und Vordenker der surrealistischen Revolution betrachtet wurden, etwa den Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud. 10 Die Zusammenstellung der Photographien vermittelte dem Betrachter den Eindruck einer ideellen Zusammengehörigkeit als Gruppe, was durch ein Zitat 7 Edward Reichel nennt das Werk in seiner Studie über Goll als Romancier eine „Reportage“. (Edward Reichel: Yvan Goll als Romancier - in Frankreich und in Deutschland. Ein weißer Fleck der Germanistik und Romanistik: Seine Paris-Berlin-Trilogie. In: Offene Gefüge. Literatursystem und Lebenswirklichkeit. Festschrift für Fritz Nies zum 60. Geburtstag. Hg. von Henning Krauß. Tübingen 1994, S. 471-487, hier S. 474.) 8 Vgl. hierzu Richard D. Sonn: Sex and Violence and the Avant-Garde. Anarchism in Interwar France. University Park 2010, S. 27 und Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933 / 39. Berlin und Paris im Vergleich. München 1999 [Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 40], S. 273. 9 Vgl. hierzu Jonathan P. Eburne: Surrealism and the Art of Crime. Ithaca und London 2008, S. 74-95. 10 La Révolution surréaliste, Nr. 1 vom 1. Dezember 1924, S. 17. 64 Sikander Singh aus Charles Baudelaires Paradis artificielles , das am unteren Ende der Seite eingerückt war, zusätzlich betont wurde: „La femme est lʼêtre qui projette la plus grande ombre ou la plus grande lumière dans nos rêves“. 11 Die Beachtung, welche die Gerichtsverhandlung in der Presse erfuhr, dokumentiert die Spannungen und Konflikte zwischen rechten und linken Gruppierungen, die in den Jahren nach dem Ende des Grande Guerre auch in Frankreich den politischen Diskurs bestimmten. So stellt die anarchosyndikalistische, in Berlin von Fritz Kater herausgegebene Zeitung Der Syndikalist in einer Besprechung von Germaine Berton. Die rote Jungfrau heraus, dass Yvan Golls Darstellung zeitgenössischen Presseberichten verpflichtet sei: Der Elsässer Iwan Goll hat in diesem Büchlein die Geschichte der Anarchistin Germaine Berton, ihren Mord an dem französischen Faschisten Marius Plateau, ihren Prozeß und ihre Freisprechung geschildert. Der Verfasser schöpfte aus den Zeitungsberichten. Das meiste Material, das in der Broschüre niedergelegt ist, konnte man im „Libertaire“ zur Zeit der Prozeßführung finden. Wer nicht die Gelegenheit hatte, den „Libertaire“ von dieser Zeit zu lesen und sich dennoch ein Bild von Germaine Berton und einem Teil der anarchistischen Bewegung Frankreichs machen will, der findet in dieser Schrift die beste Gelegenheit hierzu. 12 III. Im ersten der sechs Abschnitte, in die Goll sein Werk gliedert, thematisiert er die Atmosphäre der Zeit, die bestimmt ist von den Meinungskämpfen radikaler, politischer Gruppen, einer problematischen ökonomischen Situation und einer Generation junger Männer, die den Fronteinsatz zwar überlebt hat, aber keinen Weg zurück mehr findet in das zivile, bürgerliche Leben der Nachkriegsperiode. „Nach dem Krieg. Nach dem Frieden. Frankreich fiebert. Fieber ist der Kampf zwischen heiß und kalt. Geht es nach rechts? Geht es nach links? “ 13 Bereits diese ersten Zeilen des Buches lassen den journalistisch geprägten Stil des Werkes hervortreten; teilweise fehlt den Sätzen ein Prädikat, teilweise werden sie parataktisch aneinander gefügt. Auf diese Weise werden Aussagen, Bilder, Gedanken, Sätze und Satzteile zu einem Panorama gereiht, das die divergenten Tendenzen, Konflikte und Widersprüche der französischen Hauptstadt 11 Vgl. hierzu Giuditta Isotti Rosowsky: Savinio, Frankreich und der Surrealismus. In: Savinio europäisch. Hg. von Andrea Grewe. Berlin 2005 [Studienreihe Romania 21], S. 69-82, hier S. 76 f. 12 Der Syndikalist. Organ der Freien Arbeiterunion; Anarcho-Syndikalisten - angeschlossen an die Internationale Arbeiter-Association, Jg. 8 (1926), Nr. 15. 13 Yvan Goll: Germaine Berton. Die rote Jungfrau. Berlin 1925 [Aussenseiter der Gesellschaft. Verbrechen der Gegenwart 5], S. 7. „Keine Politik, direkte Tat.“ 65 in den frühen 1920er Jahren abbildet, und zugleich die Mentalität der Menschen in den Pariser Vorstädten, in denen sich Berton bewegte, veranschaulicht: In den Pariser Faubourgs gedeiht eine eigentümliche Fauna. Nirgends, wie sonst in Vorstädten, der Geruch von Armut und Elend. Fast ein behäbiges Leben. Die proletarischen Allüren immer menschlich und zivilisiert. Irgendwo ist der kleine Mann immer ein Monsieur. Äußerlich fast ein Bürger: auch die Casquette, auch der rote Gürtel sind elegant. 14 Neben dem Atmosphärischen umreißt der erste Abschnitt zwar auch die Kindheit und Jugend Germaine Bertons, bezieht die Informationen zur Lebensgeschichte allerdings auf ihre Herkunft aus einer der unteren sozialen Klassen: „Die ganze Atmosphäre der Banlieue verdichtete sich in dem kleinen Herzen dieses Mädchens“, betont Goll. 15 Und da sein Buch weder eine Biographie noch ein Tatsachenbericht sein will, treten der Umzug nach Tours und das Leben in der Stadt an der Loire, ebenso das familiäre Umfeld, als vage gezeichnete Bilder in den Hintergrund; stattdessen finden sich bereits auf diesen ersten Seiten Einordnungen und Deutungen, die emphatisch auf den späteren Lebensweg als Anarchistin vorausdeuten: „Weil ihr zur Dichterin die Tiefe fehlte, wurde sie zur Mörderin. Zum Morde gehört ebensoviel Inspiration wie zur Erschaffung eines ‚Batteau Ivre‘“, schreibt Goll auf das 1871 entstandene, symbolistische Gedicht Arthur Rimbauds verweisend. Und er ergänzt: „Beide entspringen einem Überschwang des Lebenstempos. Beide sind Siedepunkte eines seelischen Überschwelgens.“ 16 Die Darstellung nimmt damit jene surrealistische Deutung auf, der zufolge die Mordtat als eine Form des notwendigen, subversiven Protests auch eine künstlerische Dimension im Sinne der ästhetischen Positionen des Surrealismus habe. Sowohl Louis Aragon als auch André Breton betonten diesen Gedanken im Rekurs auf Lautréamont oder Thomas de Quincey und in den frühen Ausgaben von La Révolution surréaliste wurden solche Vorstellungen ebenfalls wiederholt herausgestellt. 17 14 Ebd., S. 9 f. 15 Ebd., S. 11. 16 Ebd. 17 Vgl. hierzu Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus: Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film. München 2006, S. 65 und Jonathan P. Eburne: Surrealism and the Art of Crime (Anm. 9), S. 49-73. 66 Sikander Singh IV. Der zweite Abschnitt des Werkes porträtiert die Rückkehr Germaine Bertons aus der Provinz in die französische Hauptstadt. Die Darstellung fokussiert weniger das soziale als das intellektuelle Umfeld, in dem die junge Frau sich bewegt; vor allem wird ihr Weg „[i]mmer weiter [nach] links“, vom „revolutionären Syndikalismus zum Kommunismus“ und schließlich, in der letzten Konsequenz, zum Anarchismus nachgezeichnet. 18 Weil aber der Text den Anarchismus als „die völlige Verleugnung des Staates, die Thronerhebung des Individuums, des Ich“ definiert, wird deutlich, dass Goll in seiner Auseinandersetzung mit Germaine Berton auch über die Möglichkeiten der Literatur als gesellschaftlich und politisch verändernde Kraft nachdenkt. 19 Indem das literarische Kunstwerk, um einen Gedanken Gottfried Benns aufzunehmen, als „Frage nach dem Ich“ verstanden werden kann, hat es als die Möglichkeit des Menschen, zur Freiheit zu gelangen, in Golls Denken zugleich eine politische Dimension. 20 Vor dem Hintergrund dieser Betrachtung erscheint der Mord an Marius Plateau als ebenso folgerichtig wie notwendig. So betont Goll, dass Berton „den individuellen Akt zur Hauptformel ihrer Anarchisten-Philosophie erhoben“ habe: Ihre Religion ist in dieser Zeit der Nihilismus im russischen Sinne. Eine Reihe von einzelnen Gewaltakten gegen die Gewaltherrscher ist nach ihrer Meinung nützlicher als jede Massenaktion. So wird der Mord langsam für sie eine Aufgabe, ein Lebensinhalt. Sie lebt schon mit ihm. 21 Spätestens hier wird deutlich, dass das Werk nur bedingt im Sinne einer dokumentarischen Erzählung gelesen werden kann. Goll ist nicht am Faktischen und seiner historischen Einordnung interessiert, stattdessen unternimmt sein Buch den Versuch, einen politischen Mord zu begründen und damit zu legitimieren. Auch in dieser Hinsicht folgt er der Argumentation der surrealistischen Bewegung, welche die Tat der Germaine Berton sowohl als Umsetzung von Gewaltphantasien in der Nachfolge der Gesänge des Maldoror verstanden wie als revolutionären Akt. Indem der Mord als politisch notwendige Tat für Berton „eine Aufgabe, ein Lebensinhalt“ ist, wird der tödliche Schuss auf Marius Plateau als Konsequenz eines inneren Entwicklungsprozesses dargestellt. Ihre vergeblichen Versuche, 18 Yvan Goll: Germaine Berton (Anm. 13), S. 21. 19 Ebd. 20 Gottfried Benn: Soll die Dichtung das Leben bessern? In: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. von Dieter Wellershoff. Stuttgart 1989, Bd. I, S. 583-593, hier S. 592. 21 Yvan Goll: Germaine Berton (Anm. 13), S. 26. „Keine Politik, direkte Tat.“ 67 Léon Daudet an verschiedenen Orten der Stadt und schließlich in seiner Wohnung anzutreffen, haben im Hinblick auf den Text eine retardierende Funktion. Zugleich machen sie das Getriebene als ein wesentliches Moment ihres Charakters sichtbar. „Nun brandet das Fieber. Nun tobt es dunkel hinter der Stirn, hinter dem zurückgestrichenen Haar. Ein so nutzloser Mensch zu sein! Paris lebt weiter. Weiter schlagen die Stunden. Das Geschick Frankreichs reift.“ 22 Wieder sind es kurze, parataktische Sätze, die zwischen innerem Monolog und auktorialer Perspektive changieren, und auf diese Weise den Eindruck von Unmittelbarkeit und Authentizität erzeugen. Das Werk versucht nicht im Sinne einer Biographie das Leben Germaine Bertons nachzuerzählen oder sich durch eine Distanz wahrende Reflexion der psychischen Verfasstheit der jungen Frau anzunähern. Vielmehr zeichnet der Text den Weg der Anarchistin vom Gedanken zur Tat nach und hebt durch Emphase und Pathos der Sprache deren Legitimität hervor. Die politische Notwendigkeit und moralische Rechtfertigung des Mordes werden nicht hinterfragt, sondern weichen der Vermittlung von Gedankenvorgängen: „Des Mädchens Seele ist ein glühendes Eisen. Die Kugeln kollern in ihrer Tasche in einer wahnwitzigen Karambolage. Dieser Rohling [Marius Plateau, S. S.], dieser gesunde Schlächter, dieses logische Schwein …“ 23 Den Mord darstellend lässt Goll jedoch den Bewusstseinsstrom abbrechen und wechselt erneut in die auktoriale Erzählweise indem er fortfährt: „Germaine steht auf, er will ihr die Türe öffnen … da geschah es. Mein Gott, es ist so einfach. Eine Masse, eine Mauer fällt um.“ 24 V. Dieser Wechsel der Perspektive wird im dritten Abschnitt des Werkes, der von der Verhandlung gegen die Anarchistin vor einer Pariser Geschworenenkammer berichtet, beibehalten. Gleichwohl wird die Außensicht des Erzählers hier als Perspektive eines Gerichtsreporters inszeniert. Im Stil eines Kolportageromans beginnt die Passage mit einer Beschreibung der Angeklagten und ihres Auftretens vor Gericht, wobei in der Darstellung wie in der evozierten Bildlichkeit bereits jene Wertung angelegt ist, die aufgrund ihrer Parteinahme für Germaine Berton auf den Ausgang des Verfahrens vorausdeutet. Vor die Geschworenen tritt eine zarte kleine Midinette und setzt sich so einfach in die Anklagebank, als wär’s ein Autobus, der sie bald, und auf dem raschesten Wege, zu den Compagnons zurückfahren wird. So einfach die Geste, mit der sie das herbst- 22 Ebd., S. 29. 23 Ebd., S. 31. 24 Ebd. 68 Sikander Singh überschüttete Mäntelchen ablegt, das kurz geschnittene schwarze Haar unter dem unscheinbaren Hut befreit, als schüttle ein Vogel seine Federn, und endlich aus dem Handsäckchen Spiegel, Puderquaste und Rotstift hervorzaubert, mit deren Hilfe sie das angelische Porträt einer modernen Revolutionärin zum letztenmal nachtuscht. 25 Das Kapitel thematisiert zwar den Verlauf der Verhandlung, lässt die Argumentation der Anklagevertretung jedoch in den Hintergrund treten. Auf diese Weise wird die Legitimität des begangenen Mordes, jenseits der geltenden Rechtslage, suggeriert. Bertons Verbrechen erscheint so als eine Tat, die mit den Kategorien des Strafrechts nur unzureichend eingeordnet werden kann, weil sie einer höheren, übergeordneten Moral verpflichtet ist - dem Wohl des Volkes. Im Rekurs auf Rhetorik und Ikonographie revolutionärer Erhebungen wird die Anarchistin zu einer zeitgemäßen Revolutionärin stilisiert, die in der Tradition der Jahre 1789, 1830 und 1848 für das Recht und die Freiheit des französischen Volkes streitet. In dem Monolog, mit dem sie sich verteidigt und den Mord an Plateau rechtfertigt - er wird nicht als Redebericht, sondern in direkter Rede wiedergegeben -, tritt dieses Moment in besonderer Weise hervor. Die Angeklagte verweist in ihren Ausführungen auf die Folgen des großen Krieges für die Bevölkerung, erinnert an die Toten und Versehrten, welche die Grausamkeit und Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen bezeugen. Wer das erlebt hat und befürchten muß, daß es noch einmal möglich werden könnte, durch die Schuld der Hetzer, der müßte von allen Gefühlen verlassen oder ein Feigling sein, um sich nicht dagegen zu revoltieren! Und ich habe mich revoltiert! Da kam mir, angesichts der fünfzehnhunderttausend Toten Frankreichs, der Gedanke, den aus der Welt zu schaffen, der den Militarismus noch immer zu preisen wagte, den schlimmsten Feind des Volkes und der Republik, den Abenteurer Léon Daudet … 26 Durch den Rekurs auf die Opfer des Krieges erscheint die Tat in der Selbstdeutung der Täterin als Konsequenz ihrer pazifistischen Gesinnung. Der Widerspruch zwischen dem (politischen) Mord, den sie begangen hat, und einer Haltung, die Gewalt aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnt, danach strebt, die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Individuen wie Völkern zu verhindern und Bedingungen für einen ebenso umfassenden wie dauerhaften Frieden zu schaffen, wird nicht diskutiert. So antwortet sie auf die Frage des Gerichtspräsidenten, ob sie den Mord bereue, mit einer Gegenfrage: „Mein Ge- 25 Ebd., S. 38. 26 Ebd., S. 42. „Keine Politik, direkte Tat.“ 69 wissen hat es mir diktiert. Und da ich mir bewußt war, für das Wohl des Volkes zu handeln, wie sollte ich jetzt bereuen? “ 27 Bevor jedoch in dem Plädoyer ihres Verteidigers noch einmal die Notwendigkeit und moralische Berechtigung ihres Schusses auf Marius Plateau dargelegt wird und bevor die Geschworenen im Epilog ihr Urteil verkünden - es lautet auf Freispruch - werden zehn Filmsequenzen eingerückt. Der Film vom Selbstmord eines Knaben erzählt von Philipp, dem Sohn von Léon Daudet, der einen Monat vor dem Verfahren gegen die Anarchistin in einem Taxi vor dem Untersuchungsgefängnis, in dem Germaine Berton einsaß, im Alter von vierzehn Jahren Selbstmord beging. Der Einschub hat einerseits eine retardierende Funktion, indem er die Erzählung unterbricht und solchermaßen spannungssteigernd wird. Andererseits wird der Freitod des Knaben als ein symbolischer Akt der Solidarität mit der Anarchistin gedeutet. 28 Gemeinsam mit dem Mord an Jean Jaurès, an den Bertons Verteidiger nachfolgend erinnern wird, dient er der moralischen Entschuldigung ihrer Tat. Jaurès war am 31. Juli 1914 in einem Pariser Café bei einem Attentat von dem französischen Nationalisten Raoul Villain ermordet worden. Der profilierte Reformsozialist warnte vor den Folgen einer kriegerischen Auseinandersetzung in Europa und engagierte sich, wie zahlreiche Intellektuelle der Zeit, für die Idee des Pazifismus. Vor diesem Hintergrund wird das Verfahren gegen Germaine Berton auch als „eine Revision des Jaurès-Prozesses“ interpretiert. Jaurès sei „die Klage, mittels deren die ganze Anklage immun“ werde. 29 Auf der Linie dieser Argumentation liegt auch das Plädoyer ihres Verteidigers, der explizit auf Villains Mord verweist und einerseits die Verantwortung der Action Française für die Radikalisierung des politischen Diskurses betont, andererseits den republikanischen Kräften vorwirft, „für das Treiben“ der rechtskonservativen Bewegung „zu nachsichtig gewesen“ zu sein. 30 Seine Ausführungen kulminieren in der Exklamation, eine „Waise aus den Reihen der Anarchie“ habe „sich für das Proletariat geopfert“. 31 Der Epilog, mit dem Goll seine Darstellung des Prozesses gegen Germaine Berton schließt, beschreibt den „Tag des Urteils“, den 24. Dezember 1923. 32 Die Person der Attentäterin tritt zwar in den Hintergrund, indem betont wird, dass „der Anarchie“ der „Prozeß“ gemacht worden sei. 33 Zugleich wird die Anar- 27 Ebd., S. 44. 28 Richard D. Sonn: Sex and Violence and the Avant-Garde (Anm. 8), S. 54-71. 29 Yvan Goll: Germaine Berton (Anm. 13), S. 57. 30 Ebd., S. 64. 31 Ebd., S. 65. 32 Ebd., S. 72. 33 Ebd. 70 Sikander Singh chistin jedoch zu einer Ikone der Revolution, indem sie in die Nachfolge der „heilige[n] Jungfrau von Arc“ gestellt wird. 34 In beiden Deutungsansätzen weist die Tat der Germaine Berton über sich selbst hinaus, ist kein individuelles Verbrechen, sondern eine revolutionäre Geste, ein Akt der Volksbefreiung. VI. Die Parallelisierung Germaine Bertons mit dem Bauernmädchen Jeanne d’Arc, die im Verlauf des Hundertjährigen Krieges die Franzosen zu einem wichtigen Sieg über die Engländer führte, wird bereits durch den Titel des Werkes Germaine Berton. Die rote Jungfrau sichtbar. In Analogie zu der französischen Nationalheldin charakterisiert Yvan Goll die Anarchistin als junge Frau aus dem einfachen Volk, deren Handeln von einer höheren Überzeugung getragen wird. Indem der Text in prägnanten Bildern den Freudentaumel nachzeichnet, den der Freispruch unter den Menschen der französischen Hauptstadt auslöst und Berton als eine Frau darstellt, die um ihre eigene Person kein Aufheben macht, die nach dem Ende des Prozesses und ihrer Haftentlassung „ohne etwas zu denken, ohne sich zu freuen, ohne zu wissen“ in eine „kleine bürgerliche Wohnung“ sich zurückzieht, kulminiert die Hypostasierung in dem Bild der „befreite[n] Befreierin“. 35 Die revolutionäre Rhetorik spiegelt sich jedoch nicht nur in der Darstellung Germaine Bertons selbst. Mit einer Reflexion über die Konjunktion von Gedanke und Tat schreibt der Text jene Vorstellungen fort, die seit der Französischen Revolution des Jahres 1789 das Verhältnis von Literatur und Politik wesentlich bestimmt haben und über die bereits Heinrich Heine seit den 1830er Jahren im Spannungsfeld der deutschen und der französischen Literatur nachgedacht hat. 36 Indem Goll die Erfahrungen und Gedanken nachzeichnet, die zum Mord an Marius Plateau geführt haben, ihn als gesellschaftlich notwendigen sowie legitimen Akt rechtfertigen, thematisiert er die Frage, welchen Beitrag die Literatur zum Diskurs seiner Gegenwart zu leisten vermag. Der Mord erscheint aus dieser Perspektive als Konsequenz eines politischen Ideals, das aus dem Gebiet des Gedankens in die Wirklichkeit überführt werden muss. „Der Gedanke geht der That voraus, wie der Blitz dem Donner“, schrieb in diesem Sinne bereits 34 Ebd., S. 69. 35 Ebd., S. 77. 36 Vgl. hierzu Terence M. Holmes: Welcher Gedanke geht wessen Tat voraus? Zur Revolutionsproblematik bei Heinrich Heine. In: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Hg. von Joseph A. Kruse [u. a.]. Stuttgart und Weimar 1999, S. 544-554. „Keine Politik, direkte Tat.“ 71 Heine Heine am Ende seiner Schrift über die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland in den Jahren 1833 und 1834. 37 Zum anderen skizziert Goll in seinem Portrait Germaine Bertons nicht jene anarchistischen Denkfiguren, die Künstler und Intellektuelle seit dem späten 19. Jahrhundert diskutierten, sondern akzentuiert einen proletarischen Arbeiter- Anarchismus. 38 Auch weist der Begriff in Golls Verwendung keinerlei Unbestimmtheit auf, sondern wird schon im ersten Abschnitt des Textes als „Freiheit des Individuums“ benannt, die das Ziel verfolge, „die arbeitenden Massen“ in den Besitz aller „Produktionsmöglichkeiten“ zu bringen. Der Anarchismus erklärt Goll, sei „[k]eine Politik“, sondern „direkte Tat“. 39 Diese literarische Auseinandersetzung mit dem politischen Anarchismus erzählt von den gesellschaftlichen Verwerfungen im Frankreich der Nachkriegszeit, oder, wie Edward Reichel formuliert, von „der politischen Bürgerkriegslandschaft des Frankreich der zwanziger Jahre“. 40 Allerdings sind seit Georg Forsters Aufzeichnungen seiner gemeinsam mit Alexander von Humboldt unternommenen Reise, die unter dem Titel Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790 veröffentlicht wurde, Reflexionen über die politischen Verhältnisse in Frankreich auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bedingungen in Deutschland zu lesen. Noch deutlicher tritt diese Tendenz in Joachim Heinrich Campes Briefen aus Paris, zur Zeit der Revolution geschrieben aus dem Jahr 1790 hervor, indem seine Berichte aus der französischen Hauptstadt die Differenz zwischen dem revolutionären Aufbruch in Frankreich und den stagnierenden politischen Verhältnissen in seiner deutschen Heimat thematisieren. In dieser Tradition ist auch Golls Beitrag zu der Reihe Aussenseiter der Gesellschaft. Verbrechen der Gegenwart zu verstehen. Der Rekurs auf die Unruhen, rechte wie linke Ideologeme, die Gefährdung der parlamentarischen Demokratie durch die Radikalisierung der politischen Positionen und die instabilen öko- 37 Heinrich Heine: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Hg. von der Stiftung Weimarer Klassik (vormals Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar) und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin und Paris 1970 f., Bd. VIII, S. 229. 38 Vgl. hierzu Walter Fähnders: Anarchismus und Literatur. ein vergessenes Kapitel deutscher Literaturgeschichte zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1987 sowie Hubert van den Berg: Politischer Radikalismus und ästhetische Konvention. Anarchistische Bewegung, Ästhetik, Kunst und Literatur um die vorige Jahrhundertwende. In: Literatur und Anarchie. Das Streben nach Herrschaftsfreiheit in der europäischen Literatur vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Hg. von Rainer Barbey und Heribert Tommek. Heidelberg 2012 [Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien. 15], S. 33-51. 39 Yvan Goll: Germaine Berton (Anm. 13), S. 9. 40 Edward Reichel: Yvan Goll als Romancier (Anm. 7), S. 474. 72 Sikander Singh nomischen Bedingungen, die der Band einleitend skizziert, verweist zugleich auf die politischen Verhältnisse der Weimarer Republik in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre. „Es ist eine wirre, neblige Zeit“, schreibt Goll. „Das Gespenst der Revolution wird auf den Boulevards herumgetragen: eine freche, rotbärtige Fratze, mit einem Messer zwischen den Zähnen, das ist das Wahlplakat der Reaktion gegen den Kommunismus.“ 41 Indirekt verweist Goll damit auf die parallelen Entwicklungen, die Gesellschaft und Politik in Deutschland und Frankreich im Nachgang des Krieges der Jahre 1914 bis 1918 genommen haben. 42 Vor dem Hintergrund seiner lothringisch-elsässischen Herkunft betont der Schriftsteller damit einmal mehr seine Mittlerposition zwischen den beiden großen, europäischen Nationen. 43 In seinem Buch über Die rote Jungfrau erweist sich diese Haltung als ein über die Literatur hinausweisendes politisches Anliegen. 41 Yvan Goll: Germaine Berton (Anm. 13), S. 8. 42 Edward Reichel spricht von dem „jahrzehntelangen ideologischen Bürgerkrieg zwischen Faschismus, Kommunismus und Demokratie in Europa“. (Edward Reichel: Yvan Goll als Romancier [Anm. 7], S. 487.) 43 Er sei, stellt er in einer biografischen Notiz aus dem Jahr 1920 heraus, „durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet“. (Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Hg. von Kurt Pinthus. Reinbek bei Hamburg 1959, S. 341.) Expressionistische Alpen-Passion 73 Expressionistische Alpen-Passion Pazifistische Idealisierung der Schweiz bei Yvan Goll und anderen Eva Wiegmann, Luxembourg I. Anders als Hugo Ball oder Fritz von Unruh, die zunächst von der allgemeinen Kriegsbegeisterung ergriffen waren und sich erst in Folge konkreter Kriegserlebnisse zu leidenschaftlichen Pazifisten wandelten, war Yvan Goll - ähnlich wie René Schickele - von Anfang an herkunftsbedingt ein Kriegsgegner. Beide entstammen ja „dem Grenzland Elsass-Lothringen“, 1 „dem Spannungsfeld zweier Nationen und Kulturen“. 2 Aus dieser Verbundenheit sowohl zur deutschen als auch zur französischen Kultur und Sprache resultierte im Kontext des Ersten Weltkrieges, in dem Deutschland und Frankreich erbitterte Feinde waren, zum einen eine schmerzlich empfundene kulturelle Zerrissenheit. Der tief empfundene Widerspruch, „beider Erbe zu sein und doch keiner [Nationalkultur ganz] anzugehören“, 3 erzeugte ein Gefühl der Heimatlosigkeit, das sich durch Golls jüdische Wurzeln und schließlich das Exil noch verstärkte. Zum anderen befeuerte das Zugehörigkeitsgefühl zu beiden Kulturnationen eine starke Begeisterung für die europäische Idee, der schon vor dem Ersten Weltkrieg etliche vor allem der jüngeren Intellektuellen anhingen. 4 Im Gegensatz zu jenen, die dennoch dem allgemeinen Kriegstaumel erlagen, setzten sich Autoren, die sich wie Schickele und Goll „schicksalhaft zwischen die beiden Nationen gestellt“ sahen, von vornherein für das „Ideal friedlicher Verständigung und geistiger Verbrüderung über die Sprachen und Länder hinweg“ ein. 5 Für Yvan Goll, der von sich selbst 1 Phyllis Berg: Jüdische Themen und das Hiob Schicksal im Werke Yvan Golls. Diss. University of Cincinnati / USA 1976 [Microfilm], S. 12. 2 Erhard Schwandt: Einleitung. In: Yvan Goll: Gedichte. Eine Auswahl. Mit vierzehn Gedichten von Claire Goll. Hg. und mit einem Kommentar versehen von René A. Strasser. Meilen 1968, S. 6. 3 Berg: Jüdische Themen (Anm. 1), S. 12 f. 4 Vgl. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. 3. Auflage. Berlin 2014. 5 Ebd., S. 233. 74 Eva Wiegmann schreibt, er habe „keine Heimat“, 6 gewinnt die Vision eines geeinten Europas, das „im Zeichen eines avantgardistischen Internationalismus und einer dezidierten Kriegsgegnerschaft“ steht, 7 insofern auch den Charakter einer ideellen neuen Heimat, wie unter anderem ein Brief an Majakowski belegt, in dem es heißt: „Ich schreibe auf deutsch und französisch, gehöre aber nur Europa.“ 8 Das der Biographie entspringende Widerspiel von schmerzhafter Zerrissenheit und emphatisch visionärer Hoffnung findet auf künstlerischer Ebene bei Goll ein Pendant im Expressionismus. Denn diese literarische Strömung speist sich - wie Walter Sokel schreibt - ihrerseits aus einer „besondere[n] Zweideutigkeit - in der sich die Gegensätze Pessimismus und Optimismus widerspiegeln“. 9 So verweist etwa der Titel der berühmten, von Kurt Pinthus herausgegebenen Anthologie Menschheitsdämmerung sowohl auf eine apokalyptische als auch auf eine utopische Vision, da die ‚Dämmerung‘ an sich prinzipiell die Nacht ebenso wie den Tag ankündigen kann. 10 Der markerschütternde Schrei einer gequälten Seele, wie ihn Edward Munch in seinem berühmten Gemälde abbildete, steht hier quasi gleichberechtigt und in einer unaufgelösten Spannung neben einem unerschütterlichen Glauben an die Menschheit und die Menschlichkeit. Insofern scheint diese Kunstrichtung in der Zeit des Ersten Weltkrieges Goll eine adäquate Möglichkeit, „in der Verbindung von ethischem Idealismus und psychologische[r] Einsicht“ zum einen das existentielle Leiden an den gegenwärtigen Zuständen auszudrücken und zum andern eine Vision übernationaler Menschlichkeit aufleuchten zu lassen. 11 6 So in der Selbstbeschreibung in Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Revidierte Ausgabe mit wesentlich erweitertem bio-bibliographische Anhang. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 341. 7 Annegret Pelz: Figurierte und defigurierte Europa. In: Eva Lezzi / Monika Ehlers (Hg.): Fremdes Begehren. Transkulturelle Beziehungen in Literatur, Kunst und Medien. Köln 2003, S. 19-32, hier S. 27. Eine ganz andere Semantisierung findet sich in Georg Kaisers antipazifistischem Drama Europa (1915), in dem es um die Verherrlichung des männlichen Kriegsgeistes geht (diesen Hinweis verdanke ich Elisabeth Tropper). 8 Zitiert nach Roswitha Loew (Hg.): Majakowski in Deutschland. Texte zur Rezeption. Berlin 1986, S. 156 f. Vgl. Michaela Schröder: „… gehöre aber nur Europa“. Der Dichter Yvan Goll (1891-1950). In: Kritische Ausgabe (Winter 2008 / 2009), S. 47-51: http: / / www. kritische-ausgabe.de/ sites/ default/ files/ hefte/ europa/ schroeder.pdf (zuletzt aufgerufen am 10. Februar 2017). 9 Walter H. Sokel: Der literarische Expressionismus. Der Expressionismus in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. München 1960, S. 8. 10 Vgl. ebd. 11 Ebd., S. 201. Expressionistische Alpen-Passion 75 II. Die Schweiz als Ort, an dem vier verschiedene Sprach- und Kulturgemeinschaften friedlich zusammenleben, und an dem schon seit Generationen Menschen unterschiedlichster Nationen und Gesinnungen Asyl fanden, schien etwa auch dem, im deutschen Expressionismus stark rezipierten, schwedischen Schriftsteller August Strindberg eine „Utopie in der Wirklichkeit“ zu sein. Nach scharfen Angriffen der konservativen schwedischen Gesellschaft fand 1884 der zu diesem Zeitpunkt stark von sozialistischen Ideen affizierte Autor Zuflucht in der Gegend um den Genfer See. In Neubau, einer seiner sogenannten Schweizer Novellen (schwedischer Originaltitel: Utopier i verkligheten ), wird beispielsweise ein kleiner Hafen am Genfer See, in dem Schiffe aus allen Nationen friedlich nebeneinander ankern, 12 zum Symbol für eine mit utopischem Potential identifizierte Schweiz, 13 die hier auch als ein Ort der Meinungsfreiheit gefeiert wird, an dem sozialistische und kommunistische Ideen ohne Angst vor Repressionen geäußert werden können. Insbesondere die in der Zeit des Französisch-Preußischen Krieges 1870 / 71 situierte Novelle Gewissensqualen (aus demselben Band) gewinnt im Kontext des Ersten Weltkrieges an konkreter Bedeutung und präfiguriert in besonderer Weise die Semantisierung der Schweiz als Sanatorium der europäischen Seele. Erzählt wird die Geschichte eines preußischen Oberleutnants, der seinen Verstand verliert, weil er, der eigentlich „mehr Geologe als Soldat“ ist, 14 sich im Dienste des Vaterlandes dazu gezwungen sieht, gegen seine innerste Überzeugung zu handeln und zu töten. Um seine Seele zu heilen, wird er in ein den kriegerischen Wirren entzogenes Spital in den Schweizer Alpen gebracht, wobei deutlich wird, dass dies nicht nur der Ort ist, an dem der Protagonist geistig gesundet, sondern auch der, an dem zugleich die europäische Seele Heilung finden kann. Die mit utopischem Potential aufgeladene Schweizer Landschaft wird hier beschrieben als „eine andere Welt“, „die schöner war, als die“ kargen Ebenen, in denen sich die Nationen so blutig bekämpfen. 15 Die Höhenlandschaft wird hier zum übernationalen Raum stilisiert, in dem sich die Erkenntnis Bahn bricht, dass alle Menschen Brüder sind. Zugleich wird die neutrale, friedfertige und tolerante Eidgenossenschaft explizit als „Miniaturmodell“ bezeichnet, „nach 12 Vgl. August Strindberg: Neubau. In: ders.: Schweizer Novellen. Übersetzung von Klaus Möllmann und Hans-Jürgen Hube. Rostock 1969, S. 7-103, hier S. 7. 13 Das Strindberg’sche Motiv des Hafens scheint sich zu spiegeln in Golls Langgedicht Der Panama-Kanal . 14 August Strindberg: Gewissensqualen. In: ders.: Schweizer Novellen. Übersetzung von Klaus Möllmann und Hans-Jürgen Hube. Rostock 1969, S. 209-272, hier S. 211 f. 15 Ebd., S. 269. 76 Eva Wiegmann dem das Europa der Zukunft aufgebaut werden“ sollte. 16 So steht am Schluss der Novelle der emphatische Ausruf: „Laß uns Schweizer werden! Die Schweiz ist keine Nation! “ 17 Diese Überzeugung, dass die Schweiz das Land der Zukunft sei, lässt sich auch bei vielen Exilanten während des Ersten Weltkrieges nachweisen. Insbesondere für expressionistische Autoren schien in der sogenannten Willensnation, die nicht eine ethnische, sondern eine vernunftbasiere Konstruktion darstellt, die im Rahmen eines sittlichen Idealismus angestrebte „Herrschaft des Geistes auf Erden“ bereits verwirklicht. 18 Als „Utopie in der Wirklichkeit“ kommt die Schweiz im Ersten Weltkrieg dem nahe, was Foucault als Heterotopie beschreibt, denn die Schweiz ist ja kein vollständig utopischer, sondern eben ein „wirkliche[r] Ort[ ]“, der innerhalb Europas eine „Gegenplatzierung[ ] oder [ein] Widerlager“ darstellt, „in de[m] die wirklichen Plätze innerhalb der [europäischen] Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“. 19 Stefan Zweig beschreibt rückblickend seinen Übertritt der Grenze zur neutralen Schweiz wie einen befreienden Übergang von einer Welt in eine andere: Es waren nur wenige Minuten von einer zur anderen Station, aber in der ersten Sekunde überkam einen schon das Gefühl, als ob man aus stickiger eingesperrter Luft plötzlich in starke und schneegefüllte trete, eine Art Taumel, den man vom Gehirn durch alle Nerven und Sinne weiterrieseln fühlte. […] die Sensation dieses jähen Aufatmens. 20 Die Schweiz galt den Exilanten als „Insel des Friedens“ in einem Meer aus Blut, die als Motiv auch in Golls in der Schweiz geschriebenem Requiem. Für die Gefallenen von Europa (1917) vorkommt. 21 Zugleich wurde dieser heterotopische Ort aber eben über einen individuellen Zufluchtsort hinaus mit utopischen Vorstellungen konnotiert. Das Alpenland sah man als den Ort, in dem das ansonsten „[gebrochene] Herz von Europa“ 22 noch kräftig schlug. Es wurde als „Hort der 16 Ebd., S. 264. 17 Ebd., S. 272. 18 Sokel: Der literarische Expressionismus (Anm. 9), S. 181. 19 Michel Foucault: Andere Räume (1967). In: Karlheinz Barck (Hg.): Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. 5., durchgesehene Auflage. Leipzig 1993, S. 34-46, hier S. 39. 20 Zweig: Die Welt von Gestern (Anm. 4), S. 301. 21 Vgl. Yvan Goll: Requiem. Für die Gefallenen von Europa (1917). In: ders.: Die Lyrik in vier Bänden. Bd. I: Frühe Gedichte 1906-1930. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert- Hesse. Berlin 1996, S. 35-63, hier S. 53. 22 Ebd. Zur Bezeichnung der Schweiz als „Herz Europas“ vgl. auch Zweig: Welt von Gestern (Anm. 4), S. 294. Expressionistische Alpen-Passion 77 Menschlichkeit“ bzw. des europäischen Geistes semantisiert, der - im Sinne der Metaphorik Strindbergs - in den umliegenden Nationen einem kriegerischen Wahnsinn gewichen war. So schreibt etwa Hugo Ball am 15. August 1917 in seinem Tagebuch: Die Idee des natürlichen Paradieses - nur in der Schweiz hat sie geboren werden können. […] Die Schweiz ist die Zuflucht all derer, die einen neuen Grundriß im Kopf tragen. Sie war und ist jetzt, während des Krieges, der große Naturschutzpark, in dem die Nationen ihre letzten Reserven bewahren […]. Von hier, von der Schweiz aus, wird sich Europa wieder beleben. Alle, die sich die Köpfe zerbrechen oder zerbrachen über die Frage, wie der Menschheit wieder aufgeholfen, wie eine neue Zukunft zu garantieren sei, leben oder lebten einmal in diesem Lande. 23 Und Stefan Zweig schreibt in Die Welt von Gestern über die besondere, zukunftsweisende Bedeutung der Schweiz im Kontext des Ersten Weltkrieges: Immer war ich gerne in dies bei kleinem Umfang großartige und in seiner Vielfalt unerschöpfliche Land gekommen. Nie aber hatte ich den Sinn seines Daseins so sehr empfunden: die schweizerische Idee des Beisammenseins der Nationen im selben Raume ohne Feindlichkeit, diese weiseste Maxime durch wechselseitige Achtung und eine ehrlich durchlebte Demokratie sprachliche und volkliche Unterschiede zur Brüderlichkeit zu erheben - welch ein Beispiel für unser ganzes verwirrtes Europa! Refugium aller Verfolgten, seit Jahrhunderten Heimstatt des Friedens und der Freiheit, gastlich jeder Gesinnung bei treuster Bewahrung seiner besonderen Eigenart - wie wichtig erwies sich die Existenz dieses einzig übernationalen Staates für unsere Welt! Zu Recht schien mir dies Land mit Schönheit gesegnet, mit Reichtum bedacht. Nein hier war man nicht fremd; ein freier, unabhängiger Mensch fühlte sich in dieser tragischen Weltstunde hier mehr zu Hause als in seinem eigenen Vaterland. 24 Das Besondere der Schweiz als Willensnation zeigt sich insbesondere im Verhältnis von Deutschsprachigen und Französischsprachigen und gewinnt damit gerade für aus dem Grenzland Elsass-Lothringen stammende und zwischen den kriegerischen Antagonisten stehende Autoren wie René Schickele oder Yvan Goll eine visionäre Bedeutung. Goll, der 1891 im französischen Lothringen zur Welt kam, zog nach dem Tod des Vaters mit seiner Mutter nach Metz, das damals zu Deutschland gehörte. Im Zuge der sogenannten Naturalisierung machte ihn das zu einem Deutschen. Mit dem Ausbruch des Krieges hätte er in Folge dessen als Teil der kaiserlichen Garde gegen Frankreich kämpfen müssen. „Aber er wollte“ - wie Claire Goll schreibt - „nicht gegen die Franzosen kämpfen. 23 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Luzern 1946, S. 177. 24 Zweig: Die Welt von Gestern (Anm. 4), S. 303. 78 Eva Wiegmann Französisch war seine Muttersprache, Frankreich seine wahre Heimat. […] Um diesem Dilemma zu entrinnen“, ging er in die Schweiz. 25 Neben der rettenden politischen Neutralität des Landes wirkte aber mit Sicherheit auch das friedliche Nebeneinander vor allem der deutschsprachigen und der französischsprachigen Bevölkerungsgruppen in der multikulturellen Schweiz besonders anziehend. Hier musste man sich nicht für ein Entweder- Oder entscheiden, denn unter dem Dach der Willensnation waren frankophone und germanophone Eidgenossen ganz offiziell Brüder. Insofern war die Schweiz geradezu ein idealer Ort für jemanden, der „von beiden sich als Feinde gegenüberstehenden Heimatländern nicht als Pazifist, sondern als jeweiliger Fahnenflüchtiger angesehen“ wurde. 26 Und von diesem heterotopischen Ort aus konnte man sich gläubig und glaubwürdig für die Vision der Völkerverständigung und eines geeinten Europas einsetzen, in dem Franzosen und Deutsche Brüder sein würden. III. Da Goll sich naturgemäß beiden Kultursphären zugehörig fühlte, pendelte er auch im Schweizer Exil zwischen den jeweiligen Zentren der französischen und der deutschen Exilanten, zwischen Genf bzw. Lausanne und Zürich. Zürich war mit dem Ausbruch des Weltkrieges quasi „über Nacht die wichtigste Stadt Europas geworden“: „In den Restaurants, den Cafés, in den Straßenbahnen, auf der Straße hörte man alle Sprachen“ und „alle[ ] geistigen Bewegungen“ der Zeit trafen hier aufeinander. 27 In diese Atmosphäre pulsierender Internationalität machte man sich unter anderem im Cabaret Voltaire oder im Café Odeon auf die Suche nach einer „neuen Basis für künstlerische Auffassungen“. 28 „Wir suchten“, wie Hans Arp schreibt, „eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.“ 29 Goll band sich dabei an keine konkrete Gruppe, sondern pflegte Kontakte zu den sogenannten Dadaisten ebenso wie zu James Joyce, Romain Rolland 25 Claire Goll: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse unserer Zeit. München 1976, S. 31 f. 26 Ute Altanis-Protzer: Fiktive Avantgarden. Yvan Goll und die Ästhetische Moderne. In: Iablis. Jahrbuch für europäische Prozesse 12 (2013): http: / / www.iablis.de/ iablis_t/ 2013/ altanis-protzer13.html (zuletzt aufgerufen am 10. Februar 2017). 27 Zweig: Die Welt von Gestern (Anm. 4), S. 314. 28 Ahmet Arslan: Das Exil vor dem Exil. Leben und Wirken deutscher Schriftsteller in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges. Marburg 2004, S. 44. 29 Hans Arp: Unsern täglichen Traum. Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914-1954. Zürich 1955, S. 51. Expressionistische Alpen-Passion 79 und Henri Guilbeaux, René Schickele und Otto Flake, Albert Ehrenstein und Else Lasker-Schüler. 30 Im „luftig-leicht[en]“ 31 Dadaismus sah er allerdings kein „solides Podium […], um sich an das kriegszermürbte Europa zu wenden.“ 32 „Seine messianische Ader trieb ihn“ - wie Claire Goll schreibt - zu den Grundwerten der Menschheit, der Seele und der Vernunft. Er meinte, der Mensch müsse kämpfen, seine Karriere und selbst sein Leben einsetzen, wenn es gelte, sich gegen die Barbarei zu wehren. […] Dabei hütete er sich jedoch zu vergessen, daß über das politische Engagement hinaus die Aufgabe des Schriftstellers darin besteht, durch die Sprache die Elemente einer neuen Sensibilität zu erforschen. 33 Golls Arbeiten aus „der Schweizer Zeit sind außerordentlich vielgestaltig“, können aber insgesamt einem messianisch-kommunionistischen Expressionismus zugeordnet werden. 34 In ihnen spiegelt sich „das Verlangen, das menschliche Schicksal auf neue Wege zu lenken“ 35 und der Glaube „an die versöhnende Kraft des Wortes“. 36 Dabei zeigt sich eine eigentümliche Neubelebung biblischer Topoi, was, laut Joachim Müller, ein generelles Charakteristikum Goll’scher Lyrik darstellt. 37 Die einzelnen Motive, vor allem des Neuen Testaments, werden ihrer konkret religiösen Bedeutung entkleidet und zu Symbolkomplexen eines emphatischen Humanismus umgestaltet, der die transzendentale Leerstelle der Moderne zu füllen sucht. Ein in diesem Zeitraum in Golls Lyrik häufig auftauchender Motivkomplex, an dem sich nicht zufällig auch René Schickele abgearbeitet hat, 38 ist der des Pfingstwunders, das in der Apostelgeschichte die babylonische Sprachverwirrung aufhebt und durch Ausgießung des göttlichen Geistes die Verständigung von Menschen aus aller Herren Länder ermöglicht. Dieser biblische Symbolkomplex erlaubt Goll - etwa in Der Panamakanal - die Verbindung von expressionistischem Geistbegriff und pazifistischer Internationalität. Die Ausgießung des Geistes ist hier, wie auch in dem Langgedicht Alpenpassion , verschränkt mit dem Symbol des Wassers. So geschieht etwa durch das Zusammenfließen der Ströme im Panamakanal das Wunder der Völkerverständigung: 30 Vgl. Claire Goll: Ich verzeihe keinem (Anm. 25), S. 38. 31 Vgl. ebd., S. 40. 32 Ebd., S. 42. 33 Ebd., S. 34. 34 Martin Stern: Literarischer Expressionismus in der Schweiz 1910 bis 1925. Nachwort. In: ders. (Hg.): Expressionismus in der Schweiz II. Dramen, Essayistik. Bern und Stuttgart 1981, S. 223-291, hier S. 245. 35 Goll: Ich verzeihe keinem (Anm. 25), S. 54. 36 Ebd., S. 42. 37 Vgl. Joachim Müller: Yvan Goll im deutschen Expressionismus. Berlin 1962, S. 38. 38 Vgl. René Schickele: Pfingsten. In: Menschheitsdämmerung (Anm. 6), S. 308. 80 Eva Wiegmann Singt ein jeder das Lied seines Herrn und seines Lands, Und es ist ein Geflitter von Sprachen und Lauten; Aber die vielgereisten Matrosen und Argonauten Verstehen sich ganz. Alle Menschen im Hafen, auf den Docks, in den Bars, Alle reden sich voll Liebe an, Ob im Zopf, im Hut, in Mütze, ob blond oder schwarzen Haars, Mann ist Mann. 39 In der Alpenpassion wird dieses Motiv mit einem stärkeren Fokus auf die Ausgießung des Geistes wieder aufgegriffen und über die landschaftliche Verortung konkret mit der Schweiz in Verbindung gebracht. Der Geist-Begriff ist bei Goll - wie im Expressionismus an sich weitestgehend 40 - nicht mystisch zu verstehen, sondern im Sinne einer höhere Vernunft. 41 In der Zeit des Schweizer Exils ist er stark mit dem Europäischen Gedanken verknüpft. So wird etwa in dem Requiem. Für die Gefallenen von Europa (1917) gegen den vernunftwidrigen Krieg konkret der „Europäische[ ] Geist“ als Rückkehr zur Vernunft beschworen. 42 Refugium dieses Geistes ist in der Alpenpassion - analog zu der Semantisierung anderer Exilierter - die schweizerische Berglandschaft. Manifest wird dieser Hort des Geistes im Symbol des Gletschers als gefrorenes ‚Herz Europas‘, das in seiner eisigen Versteinerung „dem täglichen Kampf [e]nthoben[ ]“ ist. 43 Das neunteilige, in lyrisch-dramatischer Mischform verfasste poetologische Gedicht erschien erstmals in dem 1917 publizierten und Claire Studer zugeeigneten Band Dithyramben . Der abschließende, mit Wassersturz überschriebene Teil findet sich auch in Kurt Pinthus’ Anthologie Menschheitsdämmerung . Martin Stern, der Goll „[d]as wohl bedeutendste künstlerische Talent […] unter den 39 Yvan Goll: Der Panamakanal. In: ders.: Die Lyrik in vier Bänden. Bd. I: Frühe Gedichte 1906-1930. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Berlin 1996, S. 17-24, hier S. 24. 40 Dass es insbesondere im rheinischen Expressionismus durchaus auch mythisch-sakrale Elemente gab, belegen: Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande: Christus an Rhein und Ruhr. Zur Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne (Ausstellungskatalog). Hg. vom Verein August Macke Haus. Bonn 2009. 41 „Der expressionistische Aktivist intensiviert den sokratischen Glauben an Überredung und Beweis, bis dieser Glaube den weißglühenden Glanz der Ekstase erhält; doch diese Ekstase beruht auf Vernunft, diese Flamme ist das weiße Licht des Verstandes.“ (Sokel: Der literarische Expressionismus [Anm. 9], S. 225.) 42 Goll: Requiem (Anm. 21), S. 38. 43 Yvan Goll: Alpenpassion. In: ders.: Die Lyrik in vier Bänden. Bd. I: Frühe Gedichte 1906-1930. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Berlin 1996, S. 76-87, hier S. 83. Expressionistische Alpen-Passion 81 Emigranten“ zuspricht, 44 hat die Alpenpassion dagegen in voller Länge in seine Anthologie Expressionismus in der Schweiz aufgenommen. In seinem Nachwort interpretiert er das dialogisch konzipierte Gedicht auf biographischer Grundlage als „symbolische Darstellung“ des „Zueinanderfindens“ der späteren Eheleute Claire Studer und Yvan Goll „im Zeichen des Ringens um neue Menschlichkeit“. 45 Die Figuren Stella und Florian, die im ersten Teil als Flüchtlinge charakterisiert werden, bewegen sich über neun Stationen aus schlammigen Ebenen, aufwärts bis in die alpine Gipfelregion, wobei mit diesem räumlichen Vektor auch ein Hinaufsteigen aus den Ebenen des seelischen Schmerzes und der Verzweiflung angesichts einer in Hass entbrannten Welt „zu den Höhen eines wieder gläubigen Weltvertrauens“ verknüpft ist. 46 Dabei läuft diese dialogisch inszenierte Entwicklung auf eine visionäre Synthese von Natur und Geist, gegenwärtigem Leben und überzeitlichen Werten hinaus. 47 Florian, der Dichter, tendiert im 5., Panorama überschriebenen Teil zunächst angesichts der erhabenen, überzeitlichen Alpenlandschaft dazu, der Gegenwart ganz den Rücken zuzukehren, sich vollkommen auf ewige Werte und damit auch auf eine idealistisch-klassizistische Kunst zu konzentrieren. Hoch in den Bergen fühlt er sich weit über die Menschheit erhoben, an deren Wandlung zum Guten er nicht glauben kann. Wie Nietzsches Zarathustra glaubt er hier einzig an die Möglichkeit, sich als einzelner vom „ Geist der Schwere “ zu befreien und in der Abgeschiedenheit Erlösung zu finden. 48 Florian spricht: Die Menschheit zog mit mir wie eine dunkle Wolke. Doch Wenn des Tags Erkenntnisgeist erstrahlt, taumelt die Nacht zurück zur äschernen Unterwelt. Dann gibt es auch kein Elend mehr, ihr Schuldigen. 49 Stella hingegen ist als Frau von Anfang an der Natur und ihren Geschöpfen eng verbunden und stärker vom Gefühl des Mitleids getragen. 50 Sie steht in enger 44 Stern: Literarischer Expressionismus in der Schweiz (Anm. 34), S. 245. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Zum Motiv des Anti-Zarathustra im Allgemeinen vgl. den Hinweis auf die Bedeutung des Monismus für Yvan Goll in dem Beitrag Yvan Goll. Eine Suche nach Zeitgenossenschaft von Gertrude Cepl-Kaufmann. 48 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. IV: Also sprach Zarathustra. München 1999, S. 387. Vgl. auch ebd., S. 241 f. 49 Goll: Alpenpassion (Anm. 43), S. 82. 50 Als gängiges Motiv der Décadence steht im 19. Jahrhundert die Femme fatale für den gefährlichen, natürlichen Teil, der in der Frau unbändig dem von der Natur völlig entfremdeten dekadenten Mann entgegen tritt (vgl. Wolfdietrich Rasch: Die literarische Décadence um 1900. München 1986, S. 80 f.). 82 Eva Wiegmann Verbindung zur Leben gebärenden Mutter Erde, während sich Florian ganz dem im alpinen Gletscher symbolisierten Geist verschrieben hat, dessen klares Quellwasser er vor jeder Verschmutzung durch den ‚Staub‘ bewahren will, aus dem laut dem 1. Buch Mose der Mensch gebildet ist und das hier zunächst als Symbol der Schwäche und Vergänglichkeit gelesen werden kann. 51 Nicht erwachen darfst du und schmelzen, nicht dich lösen zum Tal der Qual, wo Hunde winseln, wo Menschen auf Krücken hüpfen über Brücken. Wo Schlachthaus mit rotem Auswurf dich bespeit, Fabrik mit eklem Atem dich beschmutzt; staubige Häfen und salzige Meere einander bekämpfen, einander vernichten. Gletscher, du Starker, hüte dich vor dem Volk und der Freiheit! Bleibe der Knecht! Bleibe der König! Bleibe der Große, der Stumme, der Einzige! 52 Der übermenschliche Höhenflug Florians in den Regionen des reinen Geistes erweist sich jedoch im 5. Teil ( Grat ) als lebens- und menschenfeindlicher Irrweg. Schließlich „[überdröhnen] die Rufe der Menschen […] die Kantate der Berge.“ Und Florian erkennt, dass „[a]lle Erkenntnis […] Lüge [ist], die nicht der Liebe entflammt! “ 53 Durch die Verbindung mit Stella und die Erfahrung der zwischenmenschlichen Liebe wandelt er sich schließlich zum „Anti-Zarathustra“, 54 d. h. - auf poetologisch-programmatischer Ebene - zu einem kommunionistischen Künstler, 55 der hofft mit seinem Wort „die Welt zu verändern und seine leidenden Mitmenschen zu erlösen“, 56 indem er den Geist, den er auf seinem Erkenntnisweg in der Höhen der weltentzogenen Berge entdeckt hat, zu den Menschen in der „Tiefe der Täler“ trägt. 57 Diese Entwicklung Florians ist zum einen über das Passions-Motiv deutlich messianisch konnotiert, zum anderen weist es in Verbindung mit der lyrischdramatischen Mischform auch einen latenten intertextuellen Bezug zu Strindbergs Ich-Drama Nach Damaskus (1898 / 1904), der „Mutterzelle des expressio- 51 Auch im biblischen Kontext wird ‚Staub‘ als ein Symbol der Schwäche gebraucht. Vgl. Ps 103,14; Ps 72,9; Hes 27,30; Off 18,19; Mt 10,14; Apg 13,51; Apg 22,23 (https: / / www.bibelkommentare.de/ index.php? page=dict&article_id=2583. Zuletzt aufgerufen am 10. Februar 2017). 52 Goll: Alpenpassion (Anm. 43), S. 84. 53 Ebd., S. 85. 54 Vgl. Sokel: Der literarische Expressionismus (Anm. 9), S. 175. 55 Die christlich konnotierte „Vorstellung der Wandung“ bildet laut Walter Sokel den Kern des kommunionistischen Expressionismus (ebd., S. 192). 56 Ebd., S. 185. 57 Goll: Alpenpassion (Anm. 43), S. 87. Expressionistische Alpen-Passion 83 nistischen Dramas“, 58 auf, in dem ein hochmütig isoliertes Ich gebrochen wird, „um in Demut und Liebe wiedergeboren“ zu werden. 59 Formal knüpft Strindberg mit seinem Drama an das christliche Passions- und Mysterienspiel an, 60 dessen über einzelne Stationen verlaufende existentielle Suchbewegung sich in Golls lyrisch-dramatischem Text spiegelt, in dem die dichterische Ich-Suche des Protagonisten über neun räumlich verortbare innere Entwicklungsstufen verläuft. Über die Erfahrung der Liebe verbinden sich in der Alpenpassion Natur und Geist. Florian, dessen Name sich vom lateinischen ‚florus‘ ableitet, wird dadurch erst zum Blühen gebracht. Erst in der Synthese aus Liebe und Erkenntnis kann er sein ganzes dichterisches Potential entfalten und wie Christus im Pfingstwunder den zur Bekehrung führenden ‚Geist‘ über die Menschheit ausgießen. Auf metaphorischer Ebene bringt er die Gletscher zum Schmelzen, verflüssigt und verlebendigt in seinem Wort die überzeitlichen Wahrheiten, die in der Wassersturz betitelten Schlussszene „[ü]ber die Menschheit strömen und überströmen“. 61 Dabei wird mit dem Schmelzen der Gletscher und dem Zusammenfließen der Wasser im Tal auch das bereits im Panamakanal verwendete und mit dem Pfingst-Motiv verschränkte Symbol der Völkerverständigung wieder aufgegriffen, wenn es heißt: „Die Köpfe lodern über der Erde wie Sterne. Alle Gletscher reißt es hin zu Tal. Alle Völker schmelzen zusammen in Liebe.“ 62 IV. Auffällig in Bezug auf die Semantisierung der Schweiz als ‚Herz Europas‘ ist in der Alpenpassion dessen Aggregatzustand, denn dieses Herz ist hier ja gerade kein pulsierend schlagendes, sondern ein gefrorenes. In dieser eisigen Erstarrung des Geistes zu einem zeit- und weltenthobenen Gletscher spiegeln sich ohne Zweifel die ambivalenten Erfahrungen, welche die Emigranten in der Zeit des Ersten Weltkrieges in der Schweiz machten. Mit dem Internationalen Roten Kreuz war die Schweiz das Zentrum humanitärer Aktionen, versorgte Schwerverletzte aller Nationen und setzte sich nach dem Genfer Abkommen und der Haager Konvention für den Austausch von Kriegsgefangenen ein. Trotz der liberalen Flüchtlingspolitik und der humanitären Grundhaltung begegneten die Schweizer den pazifistischen Kriegsflüchtlingen jedoch in der Regel mit deutlicher Zurückhaltung. 58 Bernhard Diebold: Anarchie im Drama. Frankfurt / M. 1921, S. 173. 59 Ebd., S. 192. 60 Vgl. Sokel: Der literarische Expressionismus (Anm. 9), S. 192. 61 Goll: Alpenpassion (Anm. 43), S. 87. 62 Ebd., S. 84. 84 Eva Wiegmann Allgemeiner Sympathie konnten nur die zur Pflege und Erholung in der Schweiz weilenden Kriegsverwundeten beider Lager sicher sein. […] Die Emigranten - ausgenommen die Frauen - galten als Drückeberger. Sie […] waren sogenannte ‚Refraktäre‘, welche durch ihren […] Pazifismus indirekt auch die schweizerische bewaffnete Neutralität in Zweifel zogen. 63 Das hatte eine deutliche Isolation zur Folge, d. h. man blieb weitgehend unter sich und auch an künstlerischen Aufbrüchen, wie sie im Cabaret Voltaire unternommen wurden, beteiligten sich kaum gebürtige Schweizer. Das lag auch daran, dass die jüngere Generation der eidgenössischen Schriftsteller größtenteils keineswegs eine antimilitaristische Haltung pflegte und 1914 durchaus auch von der allgemeinen Kriegsbegeisterung mitgerissen wurde. 64 Zwar betonte der alternde Carl Spitteler (1845 bis 1924) in seiner Rede Unser Schweizer Standpunkt (1914) die Vorzüge der Willensnation und die Notwendigkeit der Wahrung ihrer Neutralität, aber diesen Argumenten stand man überwiegend verständnislos gegenüber. Es dominierte das Gefühl der Enttäuschung über das Abseitstreten der neutralen Schweiz vom Strom der Geschichte, über die Nichtteilnahme des Vaterlandes an der zukunftsentscheidenden Schicksalsschlacht. 65 Die Enttäuschung über die erlebte Kleingeistigkeit und mangelnde Einsicht der Schweizer in die Vorzüge ihrer Willensnation, spiegelt sich schon in Golls Requiem. Für die Gefallenen Europas : In die Berge. […] Europa schien plötzlich so eng und so klein! Jedoch ein einziges, freundliches Herz: wie musste das gross und dankbar sein! 66 Diese Enttäuschung mag eventuell auch Yvan Goll und Claire Studer dazu motiviert haben, sich gegen Ende des Ersten Weltkrieges in ein alpines Paradies im 63 Stern: Expressionismus in der Schweiz (Anm. 34), S. 240. 64 Zu den spezifischen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf das intellektuelle Klima in der Schweiz vgl. Eva Wiegmann-Schubert: Kulturkritik und Naturverbundenheit im Werk von Meinrad Inglin. Von der antimodernen Verweigerung zur konstruktiven Kulturkritik. Essen 2012, S. 52-57. 65 So sind etwa Meinrad Inglins Phantasus (1916) und Rudolf von Markwald (1916) vor allem von der Enttäuschung über das Abseitstreten der neutralen Schweiz vom Strom der Geschichte während des Ersten Weltkriegs getragen. „Aus heutiger Sicht erscheint vor allem merkwürdig, daß viele auch hierzulande Mobilmachung und Grenzbesetzung vorerst positiv erlebten, daß später bedauernd vom verlorenen ‚Geist von 1914‘ geschrieben wurde und daß sogar offizielle Stellen verkündeten, die kriegerischen Ereignisse seien ‚dazu angetan, unsere Literatur neu zu orientieren und ihr wichtige Ziele zu stecken‘.“ (Stern: Expressionismus in der Schweiz [Anm. 34], S. 235) 66 Goll: Requiem (Anm. 21), S. 41. Expressionistische Alpen-Passion 85 nur vermeintlichen „natürlichen Paradies[ ]“ zurückzuziehen, 67 nämlich nach Ascona, in die Künstlerkolonie auf den Monte Verità, in der im „Geist der Utopie“ (Ernst Bloch) ein alternatives Leben erprobt wurde. V. So wie die Kontakte zu den exilierten Schriftstellern sehr spärlich waren, so setzte auch die Auseinandersetzung mit ihren Werken, wie auch die Rezeption des Expressionismus in der Schweiz überhaupt erst verspätet ein, wirkte dafür aber relativ lange nach. 68 Ab Mitte der 1920er Jahre und vor allem am Vorabend des Zweiten Weltkrieges galt es, ein mit den heroischen, ethnisch basierten Selbstbildkonstruktionen der Nachbarländer konkurrenzfähiges Autoimage zu finden. In diesem Kontext wurde die Neutralität der Eidgenossenschaft nicht mehr als tragisches Abseitstreten vom Strom der Geschichte gesehen. Vielmehr knüpfte man an die pazifistische Idealisierung der Schweiz und ihre Stilisierung zum ‚Hort der Menschlichkeit‘ und ‚Schutzpark des Geistes‘durch die Emigranten im Ersten Weltkrieg an. 69 Insbesondere ab 1933 lässt sich dabei ein deutliches Erstarken des Glaubens an die geschichtliche Mission der Schweiz feststellen, der es obläge in Zeiten der Barbarei den europäischen Geist zu hüten und schließlich zum Ausgangpunkt für dessen kontinentale Erneuerung zu werden. 70 Von kulturpolitischer Seite aus wurden in der Zeit der sogenannten Geistigen Landesverteidigung vor allem in der deutschsprachigen Schweiz künstlerische Produktionen gefördert, die ein ähnlich heroisch-mythisches Nationenbild entwarfen wie die nationalsozialistische Propaganda. Um das „friedliche und gedeihliche multikulturelle Mit- oder Nebeneinander der vier Sprachgemeinschaften in der selbstgenügsamen, nichtexpansiven ‚Willensnation‘“ emphatisch aufzuladen und den sachlichen Fakten das nötige Pathos zu verleihen, 71 boten sich sowohl im Bereich der Literatur als auch auf dem Feld der bildenden 67 Ball: Die Flucht aus der Zeit (Anm. 23), S. 177. 68 Stern: Expressionismus in der Schweiz (Anm. 34), S. 231. 69 Ein frühes Zeugnis aus der Endphase des Ersten Weltkrieges findet sich bei Hermann Kesser: Der nächste Gipfel. In: Martin Stern (Hg.): Expressionismus in der Schweiz. Bd. II.: Dramen, Essayistik. Bern und Stuttgart 1981, S. 117-126, hier S. 120. 70 Vgl. Eva Wiegmann-Schubert: Das Image der Schweiz als ‚God’s Own Country‘. Wechselwirkungen zwischen integrativer Identitätskonstruktion und nationaler Positionsbestimmung in Europa. In: Revue transatlantique d’études suisses 4 (2014) [Themenheft: Cœur ou marge de l’Europe? Perspectives et paradoxes suisses], S. 31-41, insbesondere S. 37-39. 71 Jürgen Barkhoff: Europa wird entweder untergehen oder verschweizern. Konjunkturen einer Diskursfigur. In: ders./ Valerie Heffernan (Hg.): Schweiz Schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Berlin und New York 2010, S. 197-213, hier S. 201. 86 Eva Wiegmann Kunst Rückgriffe auf die Bilderwelten des messianischen Expressionismus an. So wurde beispielsweise der Maler Cuno Amiet, der dem expressionistischen Künstlerverbund „Die Brücke“ angehört hatte, in der Phase der Schweizerischen geistigen Landesverteidigung zum Schweizer Nationalkünstler stilisiert und seine Bilder fanden größte Beachtung. 72 Auf literarischer Ebene lässt sich eine produktive Rezeption expressionistischer Werke etwa bei dem in etwa zeitgleich zu Amiet zum Nationalschriftsteller erklärten Meinrad Inglin nachweisen. Insbesondere in der Novelle Über den Wassern (1925) scheinen dabei in der Symbolverschränkung von alpiner Gipfelregion und Hort des Geistes sowie der Verbindung von Zarathustra- Reflektionen und Wassermetaphorik im Kontext einer geistigen Erneuerung explizite Bezüge zu Yvan Golls Alpenpassion auf. Die den expressionistischen Stil adaptierenden, künstlerischen Erzeugnisse aus der Zeit der Geistigen Landesverteidigung waren jedoch „nur in seltenen Fällen von […] durchschlagende[r] Qualität“ und „ästhetisch[ ] […] weniger kühn und extrem“. „Wirklich avantgardistische Formexperimente fehlen“. 73 Insgesamt wird in Verbindung mit heimatkünstlerischen Elementen in der schweizerischen Rezeption von Strindberg, Goll und anderen das zukunftsweisende einer „Utopie in der Wirklichkeit“ eher abgelöst von den Aspekten der Bewahrung traditioneller Werte im „konservativen Herzen Europas“ - wie es bei Kasimir Edschmid heißt. 74 Dennoch lässt sich mit Peter von Matt konstatieren, dass „Deutsche Emigranten in der Schweiz […] aus der Kulturgeschichte beider Länder nicht wegzudenken“ sind und deren Wirken einen „kulturellen Stoffwechsel“ erzeugte, der trotz anfänglicher Skepsis „die Schweiz tief geprägt hat“. 75 72 Vgl. http: / / www.swissinfo.ch/ ger/ kultur/ der-kuenstler-cuno-amiet--privat-und-offiziell/ 30937410 (zuletzt aufgerufen am 10. Februar 2017). 73 Stern: Expressionismus in der Schweiz (Anm. 34), S. 226. 74 Kasimir Edschmid: Das Bücher-Dekameron: Eine Zehn-Nächte-Tour durch die europäische Gesellschaft und Literatur. Berlin 1923, S. 287. 75 Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. München 2012, S. 182. Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll 87 Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll Jasmin Grande, Düsseldorf Die Tagung fragte nach den Konjunktionen, den Bindegliedern zwischen Yvan Goll und seiner Epoche, speziell nach seiner Verortung im Diskurs der Moderne. Dieser Fragestellung geht der Beitrag nach, indem er Goll in ein Spannungsfeld mit einem weiteren Akteur der Moderne setzt: Hannes Küpper. Küpper nimmt nicht zuletzt durch Bertolt Brechts Lob, die einzige zeitgemäße Einsendung im Rahmen des Wettbewerbs der Literarischen Welt mit dem Gedicht Hehe the Iron Man! geleistet zu haben, eine Sonderstellung in der Moderne-Reflexion ein. 1 Darüber hinaus ist der Autor Hannes Küpper selbst wenig erforscht, vornehmlich als Herausgeber der Theaterzeitschrift Der Scheinwerfer. Blätter der Städtischen Bühnen Essen von 1927 bis 1930, ein Forum Neuer Sachlichkeit , wie Erhard Schütz und Jochen Vogel 1986 feststellen. 2 Die Frage nach der Modernität, verstanden als ein ins Verhältnis Setzen mit seiner Zeit, bildet für die folgende Auseinandersetzung die Basis: Wie setzen sich Goll und Küpper ins Verhältnis zu ihrer Zeit und wie kommen sie auf diese Weise zueinander? I. Yvan Goll im Diskurs seiner Epochenverortung Im Rahmen der Tagung wurde Yvan Golls Verhältnis zu seiner Zeit, seine Poetiken und Manifeste, die er aus dieser Aufgabenstellung entwickelt, intensiv reflektiert. Der Schriftsteller Yvan Goll stand dabei im Kontext eines Modernebegriffs, der Verlustbewältigung betreibt: Verlust von Heimat, Kindheit, Regionen als Paradiesen, 3 auch den Verlust von Zeit und Raum in der retrospektiven Konstruktion z. B. des Exilortes, von Identität, Yvan Goll im Kontext einer polylingualen Moderne wie bei Dirk Weissmann. 4 Die Modernität des Werkes Yvan Golls zeichnet sich u. a. durch den Entwurf von Bewältigungskonzepten aus, mit denen er die Brutalität der Gegenwart ad absurdum führt und darüber 1 Vgl. Walter Delabar: Klassische Moderne: Deutschsprachige Literatur 1918-1933. Berlin 2010, S. 89. 2 Erhard Schütz / Jochen Vogel (Hg.): Der Scheinwerfer. Ein Forum der Neuen Sachlichkeit 1927-1933. Essen 1986. 3 Vgl. hierzu Eva Christina Wiegmanns Beitrag Expressionistische Alpen-Passion. Pazifistische Idealisierung der Schweiz bei Yvan Goll und Anderen . 4 Vgl. hierzu Dirk Weissmanns Beitrag Yvan Golls translinguales Werk im Kontext mehrsprachiger Schreibverfahren der literarischen Moderne . 88 Jasmin Grande wiederum Bedarf für neue Bewältigungskonzepte anmeldet. Überleben in der Moderne als Teil von ihr - zeitgemäß - fordert von den Künstlern, das lässt sich als Konsens des auf der Tagung verhandelten Modernebegriffs festhalten, poetische Bewältigungskonzepte, als Hoffnungsträger ebenso wie als Absagen. Goll kommt noch ein weiterer Aspekt von Modernität zu: sein Selbstverständnis als Teil einer schreibenden Zeit war ihm Verpflichtung zur grundlegenden Positionierung. Goll war nicht nur Transporteur eines sendungsbewussten Dichterbildes, sondern vertrat diese Positionen streitbar in Literaturbetrieb und öffentlichem Diskurs, wie z. B. im Fall des Surrealismus. 5 Yvan Goll ist also nicht nur modern, sondern er ist auch Verursacher von Moderne, ein Aspekt, der die Kontaktaufnahme Hannes Küppers prädestiniert. Diese Perspektive zielt auch auf die Kontextualisierung seiner Bewältigungsansätze in der Zeit ab, beispielsweise im Horizont des Schriftstellers und Kunstkritikers Carl Einstein oder des Dramatikers Georg Kaiser, die mit ihrem Nachdenken über Form und Poetik der von ihnen genutzten Textsorten als Aktualisierer der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts fungieren. Vergleichbar kennzeichnet Golls Werk eine interessante Vielfalt an verwendeten Textsorten und ästhetischen Verfahren, mit denen dieser zu einem modernen Literaturbegriff beiträgt. Auch bei Einstein finden sich z. B., ähnlich wie bei Goll, Bewältigungskonstrukte für die Moderne, die als Personifikationen erfasst sind: Der Snob, der Arme, der Revolteur, der Kritiker. 6 Im Snob - 1909 erstmals im Hyperion erschienen - zeigt sich der Einzelne in der Moderne in Reaktion auf Friedrich Nietzsche und den Verlust des Glaubens: „Er identifiziert geistige Formen mit Inhalten des Seins, ihm ist das Ideelle zum Primären geworden; denn es ist die letzte Spiegelung, die punktuelleste.“ 7 Vom erkennenden Menschen fokussiert Einstein auf den Armen, dessen Gebundensein er - einem Menippos ähnlich - mit veränderter Perspektive als maßgeblich hervorhebt. Im Revolteur wird der Snob schließlich zum Handelnden, der im Widersprechen einen Grenzgänger präsentiert: Leben in der Moderne ist Leben an der Grenze, in der Differenz zur anderen Seite erst vollzieht sich der nach Einstein wichtige Impuls des Uneindeutigen, des Prozesses - Handlung. Die vierte Personifikation, der Zeitkritiker, ist Einstein selbst, es fasst seinen engagierten Einspruch als Teil des Werkes, transportiert 5 Vgl. hierzu Karina Schullers Beitrag Yvan Golls Poetik surrealistischer Dichtung . 6 Vgl. hierzu Gertrude Cepl-Kaufmann / Jasmin Grande: Rheinland - Berlin - Paris. Carl Einsteins messianische und spirituelle Identitätssuche im Kontext seiner biographischen Topographie. In: Nicola Creighton / Andreas Kramer (Hg.): Carl Einstein und die europäische Avantgarde / Carl Einstein and the European Avant-Garde. Berlin [u. a.] 2012, S. 13-30, hier S. 13. 7 Carl Einstein: Der Snob. In: Carl Einstein. Werke Band I, 1908-1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980, S. 23-28, hier S. 25. Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll 89 den Widerspruch an die Praxis den größten Gegensatz, indem der Snob zum „Zeitgenossen“ wird. Hier konstruiert sich Einsteins (Wort-)‚Heimat‘: In der öffentlichen Meinungsäußerung, so Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, bestimmt Carl Einstein zugleich seinen geistesgeschichtlichen, kunsttheoretischen, ästhetischen und politischen Ort, den er in den folgenden Jahrzehnten in fast selbstzerstörerischer Radikalität immer wieder zu vermessen beginnt und der ihn in seinem Werk wie in seiner Biographie zum Protagonisten einer ganzen Generation von Revolteuren und Erneuerern macht. 8 Die Umschreibung dichterischer Selbstverständnisse in Denkbilder und Personifikationen liegt also in der Zeit. Es geht weiter, wenn man vom Snob und von z. B. Orpheus nicht nur von Denkbildern als Standortbestimmungen des Dichters ausgeht, sondern sie als Personifikationen / als Denkbilder-Versuche vorhandener oder möglicher Literaturbegriffe liest, da durch diese Lesart der Verdacht der Selbststilisierung wegfällt hin zu einer konkreten Befragung des Moderne-Konzepts des jeweiligen Autors. Dementsprechend reflektiert der Schriftsteller Goll im Orpheus, wie Hermann Gätje und Matthias Müller-Lentrodt gezeigt haben, das Potential der Literatur, wobei die Versagung immanent und potentielles Ende der lyrischen Befragung ist. II. Hannes Küpper und der Scheinwerfer Nach seiner Verwundung im Ersten Weltkrieg 1916 beginnt der 1897 in Düsseldorf geborene Hannes Küpper eine Schauspielausbildung an einem der wichtigsten Orte der Moderne in der Region: der Hochschule für Bühnenkunst in Düsseldorf, der Lehranstalt Louise Dumonts und Gustav Lindemanns. Die beiden Theaterleute hatten hier mit ihrem Theaterprogramm, dem Umfang ihres Selbstverständnisses als Institution von der Bühne bis zur Hochschule sowie durch die Herausgabe einer hauseigenen Theaterzeitschrift Die Masken ein umfangreiches Projekt der Moderne initiiert. Sie blieben darin nicht unumstritten und wenn sich Hannes Küpper später kritisch zu Louise Dumont positioniert, so ist ihr Einfluss auf ihn dennoch spürbar, nicht zuletzt über die Kontakte, wenn er z. B. im Scheinwerfer Beiträge von Hulda Pankok, einer engen Freundin Louise Dumonts und Journalistin, abdruckt. Von 1927 bis 1933 bleibt Küpper in Essen, wird 1933 in Düsseldorf Spielleiter an den Städtischen Bühnen und beteiligt sich nach einer Station in Hamburg ab 1949 am Aufbau des deutschen Fernsehens. 1955 stirbt er in Berlin. 8 Hermann Haarmann / Klaus Siebenhaar: Vorwort. In: Carl Einstein. Werke. Bd. I: 1908-1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke unter Mitarbeit von Jens Kwasny. Berlin 1980, S. 4-15, hier S. 8 f. 90 Jasmin Grande Das schriftstellerische Werk Hannes Küppers findet sich verstreut in maßgeblichen Zeitschriften seiner Zeit, u. a. der Literarischen Welt , dem Dreieck. Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Kritik , herausgegeben von Jo Lhermann und Walter Gutkelch, in einem ersten Lyrikband Die Sache ist die , der 1923 gemeinsam mit Maxim Valentin entstand. Ab 1927 erweitert er seinen Modernitätsradius nicht literarisch, sondern kulturpraktisch als Herausgeber des Scheinwerfers . Die Zeitschrift stellt durch ihre Auswahl an Themen, Autoren und Gestaltung einen Multiplikator der neuen ästhetischen Positionierungen dar. Als Theaterzeitschrift transportiert sie einen modernen, interdisziplinären Theaterbegriff. Küpper präsentiert in seiner Zeitschrift, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Erik Reger (d. i. Hermann Dannenberger, im Scheinwerfer publizierte Reger unter verschiedenen Namen, u. a. als Fritz Schulte ten Hoevel), provokant einen aller Mystik und Geniedenkens enthobenen Theater- und Kunstbegriff, in dem die Frage nach dem Modernegehalt von Kinderkunst ebenso ein Spezialheft erhält, wie die Themen Tanz, Sport, Kritik der Kritik, Arbeitswelt, Georg Kaiser, etc. Auffällig ist darüber hinaus die durchgängige Präsenz von Beiträgen von Journalistinnen, die sowohl regionale Anbindung der Beiträge und Mitarbeiter von Pankok über Wollheim bis Reger als auch die Internationalität mit Beiträgen über Cocteau, Theater in Moskau und England, etc. Vogel und Schütz halten in ihrem Nachwort fest: Obwohl Küpper die Extreme der Zeit im SCHEINWERFER aufeinanderprallen ließ, geriet die Zeitschrift doch nie in politische Querelen. Das gelang Küpper, weil er sich unberechenbar und bis zur Selbstverleugnung unbekümmert verhielt. Er kürzte Texte des darin äußerst peniblen Adorno ebenso, wie er Beiträge von Bronnen oder dem jungen Alexander Mitscherlich ablehnte, weil sie ihm nicht genug Qualität zu haben schienen. Er ließ Klages und Bronnen von rechts kritisieren, Goebbels antworten, lavierte erfolgreich zwischen den so verschiedenen Theaterkritikern Jhering und Kerr […]. 9 Diese „Unbekümmertheit“ ist aber mehr als nur ein Talent Küppers im Umgang mit den Beiträgern, sondern kulturpolitisches Programm der Zeitschrift, die in der scheinbaren Tendenzlosigkeit ihre Tendenz in der Neuen Sachlichkeit nachweist und damit eben doch als dezidiert moderne Position die Deutungshoheit linksintellektueller Wirklichkeitsinterpretationen vertritt. Küpper adaptiert hier Verfahren der Reportage und der Verfremdung und weist hiermit sowohl auf seine geistige Autonomie als auch seine Nähe zu Brecht hin. 9 Schütz / Vogel: Scheinwerfer (Anm. 2), S. 366. Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll 91 III. Zur Begegnung zwischen Yvan Goll und Hannes Küpper: Der Briefwechsel Der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach archivierte Bestand zum Scheinwerfer dokumentiert in ca. 7 000 Briefen die quirlige Tätigkeit Küppers und den regen Austausch mit den Zeitgenossen von Adorno bis Toller, von Brecht bis Schickele, von Benn bis Roth, von Goll bis Kaiser. 10 Das Konvolut um Goll und Küpper umfasst neun Briefe von Hannes Küpper an Yvan Goll vom 2. Juni 1928 bis zum 7. April 1930, 11 und vier Briefe sowie eine Postkarte von Yvan Goll an Hannes Küpper vom 2. Juni 1928 bis zum 7. April 1930. 12 Während es sich bei den Briefen Golls um handschriftliche Dokumente handelt, liegen zu Küpper ausschließlich Durchschläge vor. Die beiden Männer haben im Umfeld modern-produktionsästhetischer Debatten zwei Berührungspunkte: Theater und Lyrik, die Gegenstand ihres Briefwechsels sind. Trotz der Überschaubarkeit des Konvolutes lassen sich die Briefe als Begleitschreiben einer Reflexion über Netzwerke der Moderne lesen, indem sie die für die Vernetzung, sprich: die Grundlage zum Aufbau von Zeitgenossenschaft, im frühen 20. Jahrhundert relevanten Informations- und Austauschquellen berühren. So nimmt Hannes Küpper den Kontakt zu Yvan Goll über eine Einladung zur Mitarbeit am Scheinwerfer auf: 13 Ich erlaube mir, Ihnen hiermit einige der bisher erschienenen Nummern meiner Zeitschrift „Der Scheinwerfer“ zu übersenden, und ich wäre Ihnen sehr zu Dank verbunden, wenn Sie mir kurz mitteilen würden, ob Ihnen die Zeitschrift in dieser Form (als Theater-Zeitschrift) gefällt. Vielleicht haben Sie selbst einmal Lust, im „Scheinwerfer“ mitzuarbeiten. Es würde mich ausserordentlich freuen, wenn Sie mir einen Beitrag einsenden würden. 14 Doch es geht ihm um mehr. Küpper ist der Schriftsteller Goll ein Begriff und er möchte sich mit ihm bekannt machen, hierzu sendet er Beispiele des Schein- 10 Den Begriff verwende ich als Ausdruck eines sich in einer Zeitgemeinschaft Befindenden. Auch wenn ich Gertrude Cepl-Kaufmanns Hinterfragung der Zeitgenossenschaft bei Goll hin zu einer himmlischen, sozusagen virtuellen Zeitgenossenschaft teile. 11 Mit Beginn des Briefwechsels 1928 hatte Küpper also gerade den zweiten Jahrgang des Scheinwerfers abgeschlossen, insgesamt waren 15 Hefte erschienen. 12 Zum Bestand vgl. Jochen Meyer: Berlin unterm Scheinwerfer. Hannes Kuepper und seine Zeitschrift „Der Scheinwerfer“. In: Berlin / Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Marbacher Magazin 35 (1985), S. 87-126, insbesondere S. 99. 13 Der Scheinwerfer. Blätter der Städtischen Bühnen Essen erschien von 1927 / 28 bis 1932 / 33 in sechs Jahrgängen im Verlag Fredebeul & Koenen in Essen. Hannes Küpper war der Herausgeber der Zeitschrift. 14 Hannes Küpper an Yvan Goll, Brief vom 2. Juni 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 92 Jasmin Grande werfers , die Sonderhefte: Tanz, Kritik und Kinderkunst. 15 Goll ist begeistert von dem Forum und bietet seine Mitarbeit an, allerdings nicht zum Theater, sondern zur Poesie, er sendet je drei Liebesgedichte von Claire und von sich selbst: Vielen Dank und meine herzlichsten Gratulationen für den wunderschönen „Scheinwerfer“, eine ganz hervorragende Zeitschrift, so unprovinziell 16 und so garnicht fachlich, obwohl ein essener Theaterunternehmen. Die 4 Nummern, die Sie mir sandten, über Tanz, über Kritik, über Kinderkunst: keine andere hat in der letzten Zeit Vollkommeneres geleistet. Gern arbeite ich mit. Vielleicht widmen Sie einmal eine Nummer der Poesie? Ich schicke Ihnen hier je 3 Liebesgedichte von Claire und von Iwan: 17 aus einer Doppelsammlung, die später erscheinen wird. 18 Küppers Reaktion ist einschlägig, er freut sich, der von ihm aus der Lektüre der Arbeit Golls als ideal imaginierte Kontakt, der in seiner Zugewandtheit Goll gegenüber mitschwingt, hat sich bestätigt. Ja, ein Sonderheft zur Poesie plant er gern für den nächsten Jahrgang, und Küpper bittet Goll um Hilfe bei der Suche nach einem Übersetzer für seine „Sportgedichte“: Lieber Herr Goll, hoffentlich sind Sie mir nicht böse, wenn ich mit einer Bitte an Sie herantrete! Ich hätte gern die Sportgedichte von mir, besonders das von der Suzanne Lenglen 19 wie von Segrave, 20 Mac Namara 21 und Johnny Weissmüller, 22 die ja alle in 15 Das sind die Sonderhefte zum Tanz 11 / 12, 1 (März 1928), zur Kritik der Kritik 14 / 15, 1 (Mai 1928) und Jüngste Generationen 6, 3 (Dezember 1927). 16 Jochen Meyer hat in seinem Beitrag Berlin unterm Scheinwerfer die unterschiedlichen Versuche Küppers aufgezeigt, mit dem Scheinwerfer nach Berlin zurückzukehren. Vgl. Meyer: Berlin unterm Scheinwerfer (Anm. 12), S. 100 f. 17 Der Anhang ist nicht erhalten. 18 Yvan Goll an Hannes Küpper, 6. Juni 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 19 Suzanne Lenglen (1899-1938), d. i. Suzanne Rachel Flore Lenglen: französische Tennisspielerin mit dem Spitznamen „Die Göttliche“, die mit 25 Titeln bei den Grand-Slam-Turnieren sowie ihrem extravaganten Auftreten zu den ersten Weltstars im Sport gehörte. Hannes Küpper bezog sich in seinem 1928 publizierten Gedicht Suzanne, die Göttliche auf Lenglen. 20 Segrave, d. i. Sir Henry O’Neil de Hane Segrave (1896-1930): Britischer Rennfahrer, hielt parallel den Schnelligkeitsrekord zu Land und zu Wasser, 1929 für seine Verdienste um das Vereinigte Königreich in den Adelsstand erhoben. Hannes Küpper bezog sich in seinem Gedicht 327 Kilometer auf Segrave. 21 Mac Namara, d. i. Reggie MacNamara (1888-1971): Australischer Radsportler, der aufgrund seiner Fahrweise, die viele Stürze provozierte, mit dem Spitznamen Iron Man versehen wurde, gewann von 1913 bis 1933 insgesamt 19 Sechstagerennen. Hannes Küpper bezieht sich in seinem Gedicht He, he! The Iron Man! auf MacNamara. 22 Johnny Weissmüller, d. i. Johann Peter Weißmüller (1904-1984): In Österreich-Ungarn geborener US-amerikanischer Schwimmer, Wasserballspieler und fünffacher Gewinner einer olympischen Goldmedaille, ab 1948 Tarzan-Darsteller in den gleichnamigen Kino- Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll 93 Paris bekannt sind, ins Französische übersetzt. Uebrigens wurde das Gedicht von Mac Namara „He, he, the Iron Man“ im vorigen Jahr von Bert Brecht bei einem Preisausschreiben der „Literarischen Welt“ 23 preisgekrönt. Vielleicht können Sie mir jemand nennen, der für die Uebersetzung infrage käme, da ich sonst keine Beziehungen nach Paris habe. 24 Zwei Monate später, Goll hat offenbar auf den vorangegangenen Brief nicht reagiert, fragt Küpper erneut wegen eines weiteren Projekts an: so hat ihn der Essener Bibliophilen-Verein mit der Erstellung einer Publikation beauftragt: 25 Von dem Essener Bibliophilen Verein 26 habe ich den Auftrag, eine nur für die Mitglieder bestimmte Ausgabe „Technik in der Kunst“ herauszugeben. 27 Ich erinnere mich, von Ihnen einmal ein Gedicht über den Eiffelturm gelesen zu haben, das ich sehr gern bringen würde. Sollten Sie noch andere Gedichte haben, worin das technische Motiv dichterisch behandelt ist, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Sehr zu Dank verbunden wäre ich Ihnen ferner, wenn Sie mir noch andere Ihnen bekannte Dichtungen dieser Art nennen würden. 28 Küpper geht es offenbar auch um eine Vernetzung Gleichgesinnter - also die Konstruktion einer geistigen Zeitgenossenschaft. Wiederum zwei Monate später folgt ein dritter Brief Küppers, in dem dieser Goll an seine Anfrage zur Übersetzung erinnert und mit einem dritten Projekt auf ihn zukommt: einem filmen. Hannes Küpper bezieht sich in seinem Gedicht Der fliegende Fisch aus dem Jahr 1927 auf Weißmüller. 23 Die Zeitschrift Die literarische Welt: unabhängiges Organ für das deutsche Schrifttum erschien wöchentlich von 1925 bis 1933 in Berlin-Lichterfeld, Herausgeber waren Willy Haas (von 1925 bis 1932) und Karl Rauch (von 1933 bis 1934). 1927 rief die Literarische Welt einen Literatur- und Kunstwettbewerb aus, die Juroren waren Bertolt Brecht, Herbert Jhering, Alfred Döblin. Ca. 400 Lyriker sandten Werke ein, die aber die Anforderungen der Jury im Blick auf Gebrauchswert und Alltagsrelevanz nicht erfüllten. Vgl. Bertolt Brecht: Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker. In: Die literarische Welt, Jg. 3, Nr. 5 (4. Februar 1927), S. 1. 24 Hannes Küpper an Yvan Goll, Brief vom 10. August 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 25 Hannes Küpper an Yvan Goll, Brief vom 10. August 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 26 Essener Bibliophilen Verein, d. i. Essener Bibliophilen-Abend. 27 Der Band „Technik in der Kunst“ erschien 1929 unter dem Titel Technische Zeit. Dichtungen . Herausgegeben wurde er vom Essener Bibliophilen-Abend als Jahresgabe für den Essener Bibliophilen-Abend und die Maximilian-Gesellschaft, in einer auf 150 Exemplare limitierten, nummerierten Auflage, die Ausstattung übernahm Max Burchartz, Hannes Küpper zeichnete für die Textauswahl verantwortlich. 28 Hannes Küpper an Yvan Goll, Brief vom 14. Juni 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 94 Jasmin Grande Beitrag für ein Scheinwerfer -Sonderheft Soll das Drama eine Tendenz haben? . 29 Zwei Wochen später antwortet Goll endlich in einem sehr langen Brief, lobt die Gedichte Küppers und avisiert eine Übersetzung durch Geo Charles. Ihre Gedichte haben mir sehr sehr gefallen. Ganz aufgeregt war ich schon, als ich den Iron Man aus der LW 30 las. Ihre anderen mir zugesandten Verse zeigten mir, dass Sie das Tempo der Zeit in sich haben wie das Rad eines Autos. […] Es ist in Paris ein Dichter, der sich sehr für Ihre Gedichte begeistern wird; Geo Charles, 31 der Autor mehrerer Olympischer Dichtungswerke. Herausgeber der Zeitschrift „Montparnasse“: 32 aber als ich ihn suchte, zu Beginn des Sommers, war er schon über alle Berge, nach Amsterdam, und jetzt war er zu den Tolstoi-Festen 33 in Russland. Aber nun soll er zurück sein, und ich bin überzeugt Mac Namara und die Suzanne Lenglen werden ihn einen Sportruf: [Hadji Rigidi] ausstossen lassen. Sie werden bestimmt übersetzt werden, entweder von ihm oder von mir. (Also seine Abwesenheit war auch ein Grund für mein Schweigen) 34 Für den Band Technische Zeit stellt Goll drei Texte zur Verfügung, darunter An den Eiffelturm aus dem Jahr 1924 und die Ode an Lindbergh , die 1921 am Tag nach der Ankunft von Charles Lindbergh in Paris im Berliner Tageblatt erschien. Kam Ihre Bitte ein Gedicht für Ihre Sammlung „Technik in der Kunst“: Ich stak so tief in meinem Roman, dass ich von Versen nichts hören wollte. Jetzt ist er fertig, kommt im November hier heraus. „Agnus Dei“ heißt er. 35 Ich habe Ihnen jetzt 3 Gedichte zusammengesucht, ganz alte „An den Eiffelturm“ stammt aus dem Jahr 1924 „Automobilrennen“ (1920) „Ode an Lindbergh“ erschien am Tag nach L. Ankunft in Paris im Berliner Tageblatt. 36 29 Hannes Küpper an Yvan Goll, Brief vom 3. Oktober 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 30 LW meint die Zeitschrift Literarische Welt . 31 Geo Charles, d. i. Charles Louis Prosper Guyot, auch Géo-Charles (1892-1963): französischer Schriftsteller, Journalist, Sportler, Kunstsammler. Géo-Charles Werk zeichnet sich u. a. durch die Verbindung von Literatur und Sport aus. 32 Die Monatszeitschrift Montparnasse erschien in Paris mit Unterbrechungen 1914 erstmals u. a. mit Artikeln zu Wilhelm Lehmbruck und Julius Meier-Graefe. 1921 wurde sie von Paul Husson, Charles Guyot und Marcel Say erneut initiiert, der Fokus lag europäischen Themen. 33 Tolstoi-Feste: 1928 jährte sich der Geburtstag Tolstois zum 100. Mal. 34 Yvan Goll an Hannes Küpper, 15. Oktober 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 35 Agnus Dei. Roman. Paris: Éditions Emile-Paul Frères, 1929. 36 Yvan Goll: Ode an Charles Lindbergh. In: Berliner Tageblatt, Nr. 245 (Abend-Ausgabe) vom 25. Mai 1927. Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll 95 Ich glaube, das ist guter Stoff für Sie. 37 Außerdem schickt er einen Beitrag für das Sonderheft Soll das Drama eine Tendenz haben? . Wenig später folgt eine Postkarte Golls, in der er meldet, dass Suzanne, die Göttliche in einer Übersetzung von Goll selbst in der Kunst- und Literaturzeitschrift Sagesse erscheinen werde. 38 Küppers weitere Impulse an Goll, auch He He the iron man zu übersetzen, scheinen jedoch nicht zu fruchten, der Briefwechsel geht noch einige Male hin und her, mit Küppers Absage aus technischen Gründen an die Vermittlung des Stückes Die Kapellmeisterin von Goll endet er schließlich. Dabei scheint Goll seine Beiträge kostenfrei zur Verfügung gestellt zu haben - Honorarfragen sind fast nicht Gegenstand des Austauschs. Mit Ihrem Lustspiel steht die Sache so: in dieser Spielzeit ist eine Aufführung bei uns leider nicht möglich, da wir schon disponiert haben und mit Verträgen festgelegt sind. Was in der nächsten Spielzeit wird, ist noch nicht bekannt, da wir wieder einmal Oberspielleiter-Wechsel haben: Dr. Sebrecht 39 geht nach Saarbrücken, und Waniek 40 aus Zürich kommt her. Ich werde aber selbstverständlich Ihr Stück im Auge behalten. 41 IV. Zur Verortung Hannes Küppers im Epochenkontext Gertrude Cepl-Kaufmann weist Küpper als Den Zeittyp aus, als jemanden, dessen Werk in besonderem Maß aktuell ist, an seine Zeit gebunden, sie stellt fest, dass sein „schmales Œuvre in der Tat als besonderes Dokument des Übergangs vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit, des Übergangs vom chaotischen Beginn bis zur Stabilisierungsphase der Weimarer Republik“ zu lesen ist.“ 42 Auch Schütz und Claßen weisen auf das über die Textproduktion hinausgehende Wirken Golls hin, das „Aufspüren kontroverser Meinungen zu aktuellen Themen 37 Yvan Goll an Hannes Küpper, 15. Oktober 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 38 Yvan Goll an Hannes Küpper, 1. Oktober 1929, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 39 Sebrecht, d. i. Friedrich Sebrecht (1888-1956): Dramatiker, Theaterkritiker. 40 Waniek, d. i. Herbert Waniek (1897-1949): Österreichischer Schauspieler und Regisseur. 41 Yvan Goll an Hannes Küpper, 7. April 1930, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 42 Gertrude Cepl-Kaufmann: Hannes Küpper - Der Zeittyp. In: Gertrude Cepl-Kaufmann / Winfried Hartkopf / Ariane Neuhaus-Koch / Hildegard Stauch (Hg.): „Stets wird die Wahrheit hadern mit dem Schönen“. Festschrift für Manfred Windfuhr zum 60. Geburtstag. Köln 1990, S. 395-420. Diese Position unterstützt u. a. das Vortragsmanuskript Gedanken über die Dramaturgie des Fernsehens von Hannes Küpper in der Vortragsreihe für künstlerisch-technische Mitarbeiter der RFT und RRF vom 30. April 1941, S. 14: „Das Fernsehspiel hat den heißen Atem des Augenblicks, fern vom Wirken elektrischer Ströme. Auch eingeblendete Filmstreifen etwa vermögen ihm kaum seine schöne Gegenwärtigkeit zu nehmen.“ (Zitiert nach: Knut Hickethier: Das Fernsehspiel im Dritten Reich. In: William Unicchio [Hg.]: Die Anfänge des Deutschen Fernsehens: Kritische Annäherungen an die Entwicklung bis 1945. Tübingen 1991, S. 74-124, hier S. 113.) 96 Jasmin Grande ist die große Stärke Küppers“ und schreiben weiter: „- und nicht das Schreiben. Seine im Scheinwerfer anfangs veröffentlichten Gedichte sind aus heutiger Sicht allenfalls als Dokumente neusachlicher Mode interessant - gewiß nicht wegen ihrer Sprachmächtigkeit.“ 43 Mit ihrer Benennung als Zeittyp hat Gertrude Cepl- Kaufmann dieser Perspektive auf Literatur als zeitungebundenes Format im Werk Küppers widersprochen, sie stellt fest: „Der Schriftsteller Küpper aber, der sich für einige Jahre als Exponent einer zeittypischen Literatur fühlen durfte, hatte sein emphatisches poetisches Bemühen zu diesem Zeitpunkt schon längst aufgegeben.“ - Entsprechend führen Schütz und Claßen für den Scheinwerfer weiter aus: Allerdings muss man zu Küppers Gunsten sagen, dass es ihm bei der Zeitschrift auch nicht in erster Linie um die Möglichkeit eigener Publikation ging. Sein ganzer Ehrgeiz - das belegt der Briefwechsel mit den Autoren allenthalben - zielte darauf, kontroverse Standpunkte öffentlich vorstellen zu lassen. 44 Auch Goll und Küpper thematisieren die Frage nach der zeitgemäßen Form in ihrem kurzen Briefwechsel, so schreibt Goll an Küpper in Reaktion auf dessen Gedichte: Man könnte über manches miteinander diskutieren und ich würde Sie fragen, warum Ihnen der Reim z. B. so wichtig erscheint. Gerade bei so technischem Untergrund! Ich hätte auch eine Antwort für Sie, die Ihnen recht gäbe - aber ich denke, dies neue Empfinden der beflügelten Materie müsste uns auch ganz neuen Rhythmus schenken, nackten, harten, reimlosen … 45 Küpper antwortet: Sie werden meine Ansicht darüber komisch finden, aber es ist so: den Reim verwende ich bei solchen Arbeiten, die zeitgebunden sind, dagegen bei solchen Arbeiten, die nach meiner Meinung zeitlos sind, ist es mir nicht möglich, den Reim unterzubringen, abgesehen davon, dass ich es auch garnicht versuche. 46 Den Reim verwendet Küpper also um das zeitgemäße Thema mit einem überzeitlichen Format zu verbinden. Was also motiviert Küpper, Goll um die Übersetzung seiner Lyrik zu bitten? Ein Antwort findet sich in der Begründung Küppers für die Auswahl seiner Texte: „Ich hätte gern die Sportgedichte von 43 Schütz / Vogel: Scheinwerfer (Anm. 2), S. 367. 44 Ebd., S. 368. 45 Brief Hannes Küpper an Yvan Goll vom 15. Oktober 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. 46 Brief Hannes Küpper an Yvan Goll vom 20. Oktober 1928, Deutsches Literaturarchiv Marbach. Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll 97 mir, besonders das von der Suzanne Lenglen wie von Segrave, Mac Namara und Johnny Weissmüller, die ja alle in Paris bekannt sind, ins Französische übersetzt.“ Küpper wählt die Sportgedichte aus, weil ihre Thematik auch in Frankreich bekannt ist, d. h. sein Moderne-Ansatz über das Thema über kulturelle Grenzen hinweg lesbar wäre. Neben der Internationalisierung der von ihm vertretenen Strömung geht es Küpper auch um den Ausbau seines Netzwerks, sein zweiter Grund liegt in seinen mangelnden Beziehungen nach Paris und damit macht er auch klar, wo er seine Texte verorten möchte, nicht in Frankreich, sondern in Paris! Seine Position sowohl in Form als auch Inhalt legt Küpper u. a. in dem Gedicht Notwendigkeit dar, in dem der Schriftsteller als Mittler ausgelagert ist in eine unmittelbare Instanz, die den Prozess der Bewältigung nicht christlich, hoffnungsfroh, empathisch motiviert, sondern als unvermeidliche Tatsache konstruiert: Notwendigkeit Notwendigkeit: brutales, hartes, unerbittliches, kulturloses Wort. Der Tatsache deines Seins gilt aller Kampf und Geschehen. Wo ist die Form, in die wir dich hineinpressen können? Wenn wir glauben, dich gepackt zu haben, bist du erstarrt, geschmolzen oder verdunstet. Du bist stark, da du den Begriff „Zeit“ nicht kennst, sondern zeitlos bist, wandernd, treibend. Weil du dich nie zu erkennen gibst, hielt ich dich für ein mystisches Etwas. Ich habe dein schwingendes Gesetz abgelauscht und erkannt, sah der Menschen irrtümliches Gehaben, die dich Chaos, verneinendes Geschehen, irrational und noch mehr nennen. Ich will dich nicht weiter ergründen. Mein Dich-Erahnen genügt. In mir ist Ruhe mehr als je. Ich füge mich wissentlich deinem Machtgebot. Ich weiß: dein Sein „Wendet“ immer die „Not“ Da ewig schwingendes, versöhnendes Gesetz - genannt: Notwendigkeit! 47 47 Schütz / Vogel: Der Scheinwerfer (Anm. 2), S. 25. 98 Jasmin Grande V. Die Technische Zeit Was, so lässt sich nun abschließend und den Bogen zum Anfang schlagend, fragen, motiviert Küpper, aus der von Goll zugesandten Lyrikauswahl den Text An den Eiffelturm für den schließlich unter dem Titel Technische Zeit veröffentlichten Band auszusuchen: Das Motiv des Eiffelturms, das Goll hier und an anderer Stelle zur Ikone erhebt und als Denkbild fruchtbar macht. Der Band Technische Zeit behauptet, schaut man ihn durch, eine epochengeschichtliche Parallelposition: Er listet Texte von Gottfried Keller bis Walt Whitman, von Stefan Zweig bis Paul Zech, von Erich Grisar bis Heinrich Lersch, von Lola Ridge bis Margarete Bruns und belegt die literarische Präsenz des Technischen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart sowie die Übernahme der Deutungshoheit über die Wirklichkeit durch die Literatur. 48 Entsprechend erscheint Küpper hier nicht mehr als temporär beschränkter Dichter, sondern als Teil einer jahrhunderteumfassenden Entwicklung, so lässt sich auch sein darin enthaltener Text lesen: Elektrizität Du bist nicht mehr für uns ein weiß, blau, Grünes, knisterndes seltsames Etwas. Lange lagst du in Bereitschaft, - Kamst pünktlich, als unsere Not groß war. Eingefügt bist du in die unendliche Kette Unserer Notwendigkeiten. Wir spüren dein Dasein in uns, Ein neuer Lebensinhalt hat uns erfaßt. Wir blitzen mit dir durch den weiß, blau, Grün knisternden Weltenraum, Neubelebende, elektrische Energien verschenkend, Mit der wir unsere Not wenden müssen. 49 48 „Insgesamt ist die Textauswahl aufschlussreich: Küpper und Buchartz stellten den kleinen Band […] in die kulturellen Auseinandersetzungen um die Modernisierung ihre Bewältigung. Sie setzten dabei, wie die Aufmachung und die Textauswahl zeigten, auf die Moderne […].“ (Walter Delabar: Technik-Kampf-Zone Ruhrgebiet. Uwe-K. Ketelsen und die neuaufgelegte Anthologie „Technische Zeit“ aus dem Jahr 1929. In: literaturkritik. de 7 [Juli 2009]: http: / / literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id=13146 [zuletzt aufgerufen am 11. Februar 2017].) 49 Technische Zeit. Dichtungen. Hg. vom ‚Essener Bibliophilen-Abend‘. Textzusammenstellung durch Hannes Küpper. Ausstattung durch Max Burchartz. Reprint der Original- Technische Zeit. Hannes Küpper und Yvan Goll 99 Die Abstraktion, die Versachlichung hin zur Konstruktion eines empathiefreien Gegenübers, die Küpper in der Textauswahl als epochenimmanente, Kontinente übergreifende Entwicklung behauptet, ist logische literarische Konsequenz. Dazu passt ebenfalls, dass Küpper die Texte nicht chronologisch anordnet, sondern z. B. den Band mit dem Text Ethik und Technik des japanisch-österreichischen „Ur-Europäers“ Richard Nicolaus Coudenhove-Kalergi eröffnet: Ethik und Technik sind Schwestern: Ethik beherrscht die Naturkräfte in uns Technik beherrscht die Naturkräfte um uns. Beide suchen die Natur zu bezwingen durch gestaltenden Geist. Ethik sucht durch heroische Verneinung den Menschen zu erlösen: durch Resignation - Technik durch heroische Bejahung: durch Tat. […] 50 Wer in der Auswahl des Bandes interessanterweise fehlt, sind die Futuristen. Golls An den Eiffelturm zwischen Carl Sandburgs Rauchnächte und Erich Grisars Die Neue Maschine kann als Reflexion über die Aktualisierung von lyrischen Denkbildern gelesen werden, als Beitrag zur Frage, woran literarisch die Deutungshoheit festgemacht und weitergeschrieben werden kann - durch die Positionierung des Eiffelturms. In einer Gegenüberstellung mit den Orpheus- Konzepten Golls kann der Eiffelturm als Antientwurf interpretiert werden und zeigt gerade, wie es nicht funktioniert, denn in der Konjunktion von Eiffelturm und Arc de Triumphe verbindet Goll epochale Perspektiven. Robert Delaunay, dem Goll das Gedicht in seiner Sammlung 1924 widmet, hatte eine Postkarte als Grundlage seiner 1909 / 1910 ansetzenden Studien zum Eiffelturm genommen, in der der Blick vom Arc de Triomphe auf den Eiffelturm geht und von denen aus er, von der zentralistischen Anlage des Arc de Triomphe angeregt, seine abstrakte Bildsprache entwickelt. 51 Der Eiffelturm wird dabei zum Sehnsuchtsort, zur Kathedrale sozusagen, die gerade in den ersten Entwürfen Delaunays die Unvereinbarkeit von hier und dort, Arc de Triomphe und Eiffelturm, verausgabe Essen, 1929. Hg. von Uwe-K. Ketelsen. Bielefeld 2008 [Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen 28. Anthologien aus der Arbeitswelt 4], S. 63. 50 Ebd., S. 3. 51 Vgl. Visions of Paris. Robert Delaunays Series. Organized by Max Rosenthal. Ausstellungskatalog. New York 1997. 100 Jasmin Grande sinnbildlicht. Mit den beiden Monumenten stehen sich zwei Prinzipien gegenüber, die Goll hier auch aufgreift und deren Wirkmächtigkeit im Hinblick auf Zeitgemäßheit das Gedicht hinterfragt. Als „Eiserne Flöte“ 52 stellt der Eiffelturm ein Vermittlungsinstrument dar, doch der Spieler des Instruments ist der „letzte Engel“ 53 und seine Distanz zum Geschehen - „Unten verwest Paris“ 54 - ist auch sein Potential, das ihn erst zum Flötenspieler werden lässt. Die in der Technischen Zeit veröffentlichte Fassung des Gedichts schließt mit der Nachfrage an weitere Höhenkämme: Matterhorn, Niagara, das Straßburger Münster. Eine variante, um eine weitere Strophe erweiterte Textfassung fügt dem Gedicht einen neuen gedanklichen Aspekt hinzu: Hier folgt ein Appell an die „Flöte am Munde des Engels“, ein Aufruf zur Moderne als letzte Hoffnung: „Flöte am Munde des Engels / Verwandle dich in dieser Nacht / Werde Posaune“. 55 52 Technische Zeit (Anm. 49), S. 39. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Der Eiffelturm. In: Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Band I: Frühe Gedichte 1906-1930. Berlin 1996, S. 319. „Leur Charlie et notre Charlot“ 101 „Leur Charlie et notre Charlot“ Zu Yvan Golls und Fernand Légers Chaplin-Rezeption Alexander Gaude, Münster Für die europäischen Avantgarden repräsentierte das filmische Schaffen Charlie Chaplins, das während des Ersten Weltkrieges sowohl die Spielpläne der amerikanischen als auch der europäischen Lichtspielhäuser zu dominieren begann, nicht nur ein massenmediales Phänomen der zeitgenössischen Populär- und Alltagskultur, sondern darüber hinaus einen Gegenstand der künstlerischgeistigen Auseinandersetzung. Die Filme Chaplins stellten, wie Dorothee Kimmich beschreibt, viele Intellektuelle vor eine Herausforderung, „weil schnell klar wurde, dass es sich keineswegs um einen kurzlebigen Starkult handelte, sondern dass hier eine hochbrisante Mischung aus gesellschaftspolitischen, philosophischen und ästhetischen Problemen behandelt wurde.“ 1 In der Folgezeit sollte Chaplin in der Rezeption der europäischen Avantgarden zu einer Ikone der Moderne avancieren, die paradigmatisch die ästhetischen Bemühungen der Kreation einer neuen durch das Medium des Films vermittelten Form- und Bildsprache exemplifizierte. I. Chaplin in Frankreich Jacques Haïk importierte für die Firma „Western Import Co.“ im Oktober 1915 die ersten Chaplin-Filme nach Frankreich und veränderte aus marketingstrategischen Gründen die Titel, um die Attraktivität für das französische Publikum zu steigern. 2 Haïks größte Leistung in diesem Zusammenhang bestand in der Erfindung und systematischen Verwendung des französischen Idioms „Charlot“, eines Diminutivs des Vornamen Chaplins, der den amerikanischen Begriff des „Tramps“, der in der französischen Sprache den Begriffen „vagabond“ oder „clochard“ entspricht, ersetzte und der in einer Vielzahl von Titeln der für den 1 Dorothee Kimmich: „Der Mensch ist ein Loch“: Charlie Chaplin als Ikone der Moderne. In: dies. (Hg.): Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. Frankfurt / M. 2003, S. 7-29, hier S. 7 f. 2 Libby Murphy: Charlot français: Charlie Chaplin, the First World War and the construction of a national hero. In: Contemporary French and Francophone Studies 14 / 4 (2010), S. 421-429, hier S. 422. 102 Alexander Gaude französischen Markt lizensierten Filme Chaplins inkorporiert wurde. So wurde beispielsweise der Film Caught in the Cabaret aus dem Jahr 1914 von Haïk in Charlot, garcon de café umbenannt. Durch diese Umbenennungen stellte Haïk in Analogie zu den Titeln der populären Kurzfilme des damaligen französischen Starkomikers Max Linder ( Max et son chien Dick , Max a peur de l’eau , Max et l’inauguration de la statue ) die Figur des „Charlot“ in den Mittelpunkt des Titels, um den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit direkt auf den komödiantischen Protagonisten zu lenken und somit eines spezifischen „Brandings“ der Marke Chaplin und der mit ihr assoziierten Figur des „Tramps“ in den französischen Kinos Vorschub zu leisten. 3 Haïks Vermarktungsstrategie führte zu landesweiten Besucherrekorden und einem rasanten Anstieg der Popularität Chaplins, die sich bis in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges erstreckte, wie der eng mit Fernand Léger befreundete Schriftsteller Blaise Cendrars rückblickend über die Begeisterung seiner mit ihm an der Somme stationierten Kameraden über die Filme Chaplins bei deren Einführung im Jahr 1915 berichtete: Charlot war an der Front in aller Munde … Charlot, Charlot, Charlot. In allen Unterkünften, und des nachts schallte das Gelächter bis in die vordersten Schützengräben. Rechts, links, die ganze Front entlang, alles schüttelte sich vor Lachen aus. 4 Die von Cendrars hier geschilderte Begeisterung der französischen Soldaten führte insbesondere in der Nachkriegszeit, wie Libby Murphy anhand einer Vielzahl von Fallbeispielen eindrucksvoll nachweist, zu einer Form der „kulturellen Appropriation“ durch konservative französische Intellektuelle. 5 In dem am 16. Mai 1922 in der Zeitschrift La Crapouillot erschienen Artikel Leur Charlie et notre Charlot weist der Filmkritiker Drésa explizit auf die aus seiner Perspektive unterschiedlichen Rezeptionsweisen des amerikanischen und französischen Publikums der Filme Chaplins hin: Während die Amerikaner im „Tramp“ nur einen lächerlichen italienischen Immigranten sahen, betrachteten die Franzosen die Figur des „Charlot“ als Verkörperung der durch Poesie, Jovialität, Humor und der Liebe zur Freiheit charakterisierten Seele der französischen Nation. 6 Die Franzosen hätten, so Drésa, aus Chaplins Figur des Charlots einen nationalen Held erschaffen, dessen Potential nicht in der Genialität Chaplins begründet 3 Siehe dazu Jean-Jacques Meusy: Paris-Palaces ou Les temps des cinémas (1894-1918). Paris 1995, S. 256. 4 Blaise Cendrars: Les Chronique du jour, 21. Dezember 1926: La naissance de Charlot. Wiederabgedruckt in: ders.: Tout autour d’Aujourd’hui 11. Paris 2005, S. 125-127. (Zitiert nach: Norbert Aping: Charlie Chaplin in Deutschland 1915-1924: Der Tramp kommt ins Kino. Marburg 2014, S. 19.) 5 Murphy: Charlot français (Anm. 2), S. 425. 6 Drésa: Leur Charlie et notre Charlot. In: Le Crapouillot, 16. Mai 1922, S. 17. „Leur Charlie et notre Charlot“ 103 liege, sondern erst durch die Intelligenz des französischen Volkes erkannt wurde. 7 Eine vergleichbare chauvinistische Chaplin-Rezeption stimmte zwei Jahre später Cendrars selbst in der Zeitschrift Le Disque vert in seinem Aufsatz Charlot et la guerre an, in dem er frei von Ironie argumentierte, Chaplin sei der entscheidende Faktor bei dem Sieg der Franzosen über die Deutschen gewesen, da diese zu dem damaligen Zeitpunkt Chaplin noch nicht kannten. 8 Murphy weist in ihrer Studie neben den kulturappropriatorischen Aspekten der Chaplin-Rezeption auf die in den französischen Feuilletons artikulierte Dichotomie zwischen Medienstar und Künstler in der Perspektive auf Chaplins filmisches Schaffen hin: While Comœdia associated Chaplin with the Hollywood star system and the American film industry, La Crapouillot called him a „poet“, a „sculptor“ and the „greatest artist of modern times“, who had elevated cinema from a mere „pastime“ to „an art“. 9 Insbesondere die Pariser Dadaisten spielten in ihrer großen Bewunderung für Chaplin - unter Elimination jedweder nationalistischer Prämissen - bewusst mit dieser ambivalenten Wahrnehmung. In der gemeinsam mit Philippe Soupault herausgegebenen dadaistischen Zeitschrift Littérature riefen André Breton und Louis Aragon zu einer - einem politischen Stimmungsbarometer vergleichbaren - Umfrage unter den Pariser Dadaisten und ihrem Kreis nahestehenden Künstler über die zur damaligen Zeit weltweit wichtigsten Persönlichkeiten auf, die nach einem Punktsystem bewertet werden sollten, das die Meinung der Befragten von „höchster Anerkennung“ bis zu „größter Abneigung“ widerspiegeln sollte. In der im März 1921 erschienen Ausgabe von Littérature wurden die Abstimmungsergebnisse unter dem markigen Titel Liquidation veröffentlicht, in der die Figur des „Charlot“ den dritten Platz direkt hinter - traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast - André Breton und Philippe Soupault einnahm, weit vor Jesus Christus, Dante Alighieri, Napoléon Bonaparte, Richard Wagner, Leonardo da Vinci, Émile Zola und dem „unbekannten Soldaten“. 10 Auf den letzten Plätzen rangierten der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill, der französische General, Militärstratege und politische Hardliner Ferdinand Foch, sowie der symbolistische Schriftsteller Henri de Régnier. Der Nonsense-Umfrage Aragons und Bretons, die jedoch in ihrer dezidiert antimilitaristischen Haltung eine ernste Komponente besitzt, vergleichbar ist Francis Picabias Einreihung Chaplins unter berühmte Persönlichkeiten der Welt- und 7 Ebd., S. 18. 8 Blaise Cendrars: Charlot et la guerre. In: Le Disque vert 4-5 (1924), S. 78. 9 Murphy: Charlot français (Anm. 2), S. 426. 10 Louis Aragon / André Breton: Liquidation. In: Louis Aragon / André Breton / Philippe Soupault: Littérature. Jg. 3, Nr. 18 (März 1921), S. 1-5. 104 Alexander Gaude Literaturgeschichte im ersten Kapitel seines ein Jahr zuvor ebenfalls in der Zeitschrift Littérature veröffentlichten Manifestes DADA philosophisch , das den Pariser Dada-Frühling des Jahres 1920 begleiten sollte: 11 DADA denkt an Byron und an Griechenland. DADA denkt an Shakespeare und an Charlot Chaplin. DADA denkt an Nietsche [sic] und an Jesus Christus. DADA denkt an Barrès und an Sonnenuntergänge. 12 Picabias heterogene Auflistung potentieller Referenzgrößen dadaistischer Weltanschauung ist hier keinesfalls rein positiv zu verstehen. Der in der letzten Zeile erwähnte symbolistische Romancier Maurice Barrès beispielsweise, der zuerst mit liberalen Werten sympathisierte und schließlich im Rahmen seiner Politisierung durch die Dreyfus-Affäre zu dem neben Charles Maurras einflussreichsten Rechtsintellektuellen Frankreichs avancierte, wurde von den Dadaisten unter der Initiative Bretons im Rahmen eines fiktiven öffentlichen Schauprozesses, in dem eine Vielzahl von dadaistischen Künstlern in verteilten Rollen als Richter, Anwälte und Geschworene mitwirkten, im Mai 1921 symbolisch zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 13 Picabia beschreibt in seinem Manifest den antithetisch-heterotopen Charakter dadaistischen Denkens und karikiert zugleich die in Zeitschriften wie La Crapouillot tatsächlich so artikulierte pathetische Deklamation Chaplins als „neuen Shakespeare des Kinos“. 14 Neben der ästhetischen Perspektive auf das filmische Schaffen Chaplins, in der Chaplin primär als gleichrangiger Künstler verstanden wurde, war es insbesondere der Aspekt seiner Popularität, den sich die Pariser Dadaisten zu Nutze machen wollten. So kündigten beispielsweise André Breton und Tristan Tzara öffentlich an, Chaplin würde an der zweiten großen Pariser Dada-Soiree im März 1920 11 Der Beginn des Pariser Dadaismus wird auf Tristan Tzaras 1919 erfolgten Umzug von Zürich nach Paris datiert. Die ersten großen Pariser Dada-Großveranstaltungen fanden zwischen Februar und Mai 1920 statt. Aragon, Breton und Soupault arbeiteten bereits ab der im Dezember 1918 erschienen dritten Ausgabe des von Tzara in Zürich herausgegebenen Magazins Dada eng mit dem rumänischen Begründer des Cabaret Voltaire zusammen. Siehe Karl Riha / Jürgen Schäfer (Hg.): Dada total. Manifeste, Aktionen, Bilder, Texte. Stuttgart 1994, S. 376 f. 12 Francis Picabia: DADA philosophisch. In: Louis Aragon / André Breton / Philippe Soupault: Littérature. Jg. 2, Nr. 13 (Mai 1920), S. 5. (Zitiert nach: Francis Picabia: Schriften in zwei Bänden. Übersetzt von Pierre Gallissaires / Hanna Mittelstädt. Hamburg 1981, Bd. I, S. 78.) 13 Zum Barrés-Prozess siehe T. J. Demos: Dada’s Event. In: Jaleh Mansoor (Hg.): Communities of Sense. Durham / North Carolina 2010, S. 135-152. 14 Claude Blanchard: Pour les Philistins: La Naissance d’un film. In: Le Crapouillot, 16. März 1922, S. 14. „Leur Charlie et notre Charlot“ 105 teilnehmen, um sich öffentlich als Dadaist zu „outen“, um die Pariser Kinoenthusiasten zu mobilisieren. 15 II. Chaplin in Deutschland Ihren französischen Kollegen vergleichbar, vereinnahmte auch die Berliner Dada-Gruppe Chaplin als Dadaisten, wie aus einem unter anderen von George Grosz, John Heartfield, Richard Huelsenbeck, Raoul Hausmann und Wieland Herzfelde unterzeichneten Pamphlet, das in der kurzlebigen Berliner Zeitschrift Der Dada im April 1920 veröffentlicht wurde, hervorgeht, in dem Chaplin von den Berliner Dadaisten als „guter Dadaist“ gelobt und als „größter Künstler der Welt“ apostrophiert wird: Die Int. Dada-Company, Berlin sendet Charlie Chaplin, dem größten Künstler der Welt und guten Dadaisten, Sympathiegrüße. Wir protestieren gegen die Ausschließung der Chaplin- Films in Deutschland. 16 Die erste Aufführung eines Chaplin-Films in einem deutschen Kino ereignete sich fünf Jahre nach dem französischen Start am 30. August 1921 im Berliner Ufa-Palast am Zoo. Der von den Berliner Dadaisten in ihrem Pamphlet kritisierte „Ausschluss“ der Filme Chaplins in Deutschland lag in den sowohl ökonomisch als auch juristisch schwierigen Lizenzverhandlungen der Ufa mit den amerikanischen Studios begründet, die sowohl durch den hohen Wechselkurs zwischen Mark und Dollar als auch durch die restriktive Importpolitik der protektorativen Filmwirtschaft der Weimarer Republik erschwert wurden. 17 Eine eingehendere künstlerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Chaplin“ durch die Berliner Dadaisten fand jedoch mit Ausnahme von Johannes Baaders am 14. April 1919 entstandener Collage Gutenberggedenkblatt / Ehrenporträt von Charlie Chaplin 18 nicht statt. 15 Siehe Mark Polizotti: A Revolution of the Mind: The Life of André Breton. New York 1995, S. 127. 16 Raoul Hausmann (Hg.): Der Dada. Nr. 3 (3. April 1920), S. 4. 17 Norbert Aping: Charlie Chaplin in Deutschland. 1915-1924: Der Tramp kommt ins Kino. Marburg 2014, S. 65 f. Vor 1919 hingegen konnten in Deutschland keine Filme Chaplins aufgrund US-amerikanischer Handelsbeschränkungen gezeigt werden, da Deutschland bis zum Abschluss des Versailler Vertrages als feindliches Land eingestuft wurde. 18 Collection Musée national d’art moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. 106 Alexander Gaude III. Golls Chaplin Yvan Golls im Jahr 1920 in der renommierten Film- und Theaterzeitschrift Die neue Schaubühne veröffentlichter Artikel Apologie des Charlot kommt damit eine wichtige Vermittlerfunktion in der Chaplin-Rezeption in Deutschland zu. Im oben skizzierten komplexen Wettstreit der europäischen kulturellen Eliten um die Deutungshoheit über das filmische Schaffen Chaplins spielt Golls Abhandlung darüber hinaus eine bedeutende Rolle im französisch-deutschen Kulturtransfer. Yvan Goll erschien immer zur exakten Zeit an den jeweiligen „Hotspots“, den kreativen Laboratorien der Klassischen Moderne: von dem durch das Cabaret Voltaire geprägten dadaistischen Zürich, über den Monte Verità der Lebensreformer, 19 dem Paris der Surrealisten bis ins New Yorker Exil der aus Europa immigrierten Avantgarde. Nach seinem am 1. November 1919 gemeinsam mit Claire von Ascona nach Paris erfolgtem Umzug berichtet er der deutschen Leserschaft, die erst ein Jahr nach Erscheinen von Golls Apologie des Charlot von der „Chaplin“-Mania heimgesucht werden sollte, von „35 Leinwänden nur in Paris“ auf denen Chaplin-Filme zu sehen waren. 20 Dabei rückt Goll, der in seinem Artikel konsequent nur die Figur des „Charlot“ benennt und sich auch nur, unter Auslassung der Erwähnung des Namens „Charlie Chaplin“, auf diese bezieht, das tragische Element der Filme Chaplins in den Mittelpunkt und interpretiert dieses im Kontext einer christlich-jüdischen Metaphorik: Charlot ist überall, und ohne Wesen, wie Zebaoth. Sein Geist grinst auf Paris und Europa und Amerika. Charlot ist das Genie unserer Zeit. […] Dann, wenn er plötzlich an einer Laterne heraufklettert, wie an einer rosa Jakobsleiter, und er stürzt kopfüber in den Himmel ab, schluchzen vor Lachen so viele unglückliche Ladenmädels, Soldaten, elende Streikmenschen, armes, armes Volk. Charlot ist der beste Mensch unserer Zeit. Er grinst überhaupt nicht. Er stirbt vor lachender Verzweiflung. 21 Die hier beschriebene omnimediale Präsenz des „Charlot“ auf den internationalen Kinoleinwänden wird von Goll mit der hebräischen Personifikation der Allmacht Gottes, des „Jahwe Zebaoth“, einer alttestamentarischen Erweiterung des Gottesnamens, die sich als „Herr der irdischen und himmlischen Heerscharen“ übersetzen lässt, verglichen. 22 Goll interpretiert dabei den Einsatz filmischer 19 Siehe Theo Kneubühler: Die Künstler und Schriftsteller und das Tessin. Von 1900 bis zur Gegenwart. In: Harald Szeemann (Hg.): Monte Verità, Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Mailand 1980, S. 136-178, hier S. 155-157. 20 Yvan Goll: Apologie des Charlot: In: Die neue Schaubühne. Monatshefte für Bühne, Drama und Film. 2. Jg., Heft 2 (1920), S. 31-32, hier S. 31. 21 Ebd., S. 31 f. 22 Zebaoth. In: Brockhaus Universal Lexikon. Leipzig und Mannheim 2003, Bd. XXVI, S. 8559. „Leur Charlie et notre Charlot“ 107 Tricktechnik, wie beispielsweise eine um 180 Grad gedrehte Kulisse, die den Eindruck erzeugt, ein Schauspieler könne eine Wand hochlaufen, als biblisches Bild, in diesem Falle, der Jakob im ersten Buch Mose erschienenen Himmelsleiter, an der die Engel auf- und absteigen. 23 Durch die Verwendung der Oxymera „vor Lachen schluchzen“ und „lachende Verzweiflung“ unterstreicht Goll dabei die psychologisch ambivalente Rezeptionshaltung des aus seiner Perspektive primär proletarisch geprägten Kinopublikums, hinter dessen Gelächter er eine tiefe Trauer vermutet. Dabei akzentuiert Goll explizit den messianisch-christologischen Charakter der Figur des „Charlot“, die durch ihren katalytischen Humor einer durch den Ersten Weltkrieg traumatisierten Generation die Hoffnung auf Erlösung verheißt: „Aber was der ganzen Generation unseres Zerfalls fehlt, was sie allein retten könnte - ist nicht der auferstandene Christ […], sondern ein Narr, der euch lachen macht.“ 24 Goll begründet mit seiner Apologie des Charlot eine jüdische Rezeptionsgeschichte des filmischen Schaffens Charlie Chaplins, das Hannah Arendt ein Vierteljahrhundert später als Teil einer „verborgenen jüdischen Tradition“ einer Kulturgeschichte der Moderne beschreibt, in der Chaplins Figur exemplarisch den „suspekten Paria“ verkörpert, 25 der im Angesicht von Ausgrenzung und Verfolgung Überlebensstrategien entwickelt: Chaplin hat, belehrt durch die Grunderfahrungen seiner Kindheit, die jahrhundertealte jüdische Angst vor dem Polizisten dargestellt, in dem sich eine feindliche Umwelt verkörperte, und die jahrhundertealte jüdische Weisheit, dass die menschliche Schlauheit Davids unter Umständen mit der tierischen Stärke Goliaths fertig werden kann. 26 Golls kunstvolle und literarisch elaborierte Deutung des filmischen Schaffens Chaplins für das deutsche Publikum wird begleitet von einem von Claire verfassten und ebenfalls in der Zeitschrift Die neue Schaubühne erschienen Aufsatz, in dem sie die ästhetische Wirkmächtigkeit des amerikanischen Kinos anhand dessen drei zur damaligen Zeit wichtigsten Akteuren beschreibt - Douglas Fairbanks, Charlie Chaplin und Sessue Hayakawa - und in diesem Zusammenhang auf die Vorreiterrolle Chaplins hinweist: „Das Genie unter ihnen ist Charlot, der Molière des Jahrhunderts.“ 27 23 1. Mose 28,12. 24 Goll: Apologie des Charlot (Anm. 20), S. 31. 25 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition (1948). In: dies.: Essays. Frankfurt / M. 1976. (Zitiert nach: Kimmich: Charlie Chaplin [Anm. 1], S. 136-152, hier S. 138.) 26 Ebd., S. 139. 27 Claire Goll: Amerikanisches Kino. In: Die neue Schaubühne. Monatshefte für Bühne, Drama und Film. 2. Jg., Heft 6 (1920), S. 164-165. 108 Alexander Gaude Die Aufsätze von Yvan und Claire Goll nehmen beide eine wichtige Position in der sogenannten Kino-Debatte ein, in der zwischen 1909 und 1929 Schriftsteller um die ästhetischen Möglichkeiten des neuen Mediums Film und dessen vermeintlichem Angriff auf die kulturelle Monopolstellung der Literatur stritten. 28 In der Debatte, in der Autoren, Journalisten, sowie Kultur- und Theaterkritiker die strukturellen Eigenheiten von Literatur und Film diskutierten, die unterschiedlichen Medien voneinander abzugrenzen oder anzunähern versuchten und deren potentielle gegenseitige Einwirkung kritisch reflektierten, vertrat Goll eine in seinem ebenfalls im Jahr 1920 in der Neuen Schaubühne veröffentlichten Aufsatz Das Kinodram eindeutig artikulierte Position: „Basis für alle neue kommende Kunst ist das Kino.“ 29 Für Goll repräsentierte das von ihm emphatisch gefeierte neue Medium des Films eine Grundlage zur Kreation einer neuen Kunstform - des Kinodrams - die alle traditionellen Gattungen synthetisieren sollte: „So werden im Kinodram alle Künste mitwirken: es wird nicht nur Dichtung sein, sondern Malerei, Musik, Plastik, Tanz.“ 30 Golls Position in der Kino-Debatte ist - mit Ausnahme der Berliner Dadaisten - aus deutscher Perspektive aus mehreren Gründen außergewöhnlich, da Goll nicht nur zu den wenigen Teilnehmern der Debatte gehörte, die die ästhetischen Möglichkeiten des Films rückhaltlos zelebrieren, sondern darüber hinaus noch versuchte, diese literarisch zu funktionalisieren. 31 Goll hielt hierbei direkten Anschluss an die französische Avantgarde, die durch die Erfindung von Filmgedichten, Filmdramen und Filmromanen, sogenannten „Ciné-poèmes“, „Ciné-drames“ und „Ciné-romans“ versuchte, sowohl filmische Themen als auch filmische Verfahren literarisch umzusetzen. Guillaume Apollinaire kommt in diesem Zusammenhang eine Vorreiterrolle zu. In einem Interview mit Pierre Albert-Birot, das in dessen Zeitschrift SIC im Jahr 1916 erschien, nimmt Apollinaire die von Goll vier Jahre später in seinem Essay Das Kinodram emphatisch gefeierten, durch das Kino generierten revolutionären Artikulationsmöglichkeiten für die Literatur vorweg: „Der epische Dichter wird sich mittels des Kinos ausdrücken. […] Das große, eine totale Dramaturgie hervorbringende Theater, das ist zweifellos das Kino.“ 32 Insbesondere 28 Anton Kaes, Einführung. In: ders. (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929. Tübingen 1978, S. 1. 29 Yvan Goll: Das Kinodram. In: Die neue Schaubühne. Monatshefte für Bühne, Drama und Film. 2. Jg., Heft 6 (1920), S. 141-143. 30 Ebd., S. 143. 31 Andreas Kramer: „Basis aller neuen kommenden Kunst ist das Kino“: Yvan Goll und das Medium Film. In: Eric Robertson / Robert Vilain (Hg.): Yvan - Claire Goll. Texts and Contexts. Atlanta 1997, S. 83-95, hier S. 83-84. 32 Pierre Albert-Birot: Les Tendances nouvelles. In: ders.: SIC 8-10 (August-Oktober 1916), ohne Seitenangabe. (Zitiert nach: Franz-Josef Albersmeier: Theater, Film und Literatur in „Leur Charlie et notre Charlot“ 109 in den „Ciné-poèmes“ spielte die Figur des Charlot eine herausragende Rolle und wurde zum Gegenstand zahlreicher Gedichte wie beispielsweise Charlot au bord de la mer von Max Jacob (1955 veröffentlicht, wahrscheinlich früher entstanden), Le Musickissme von Blaise Cendrars (November 1916), Charlot sentimental und Charlot mystique von Louis Aragon (beide 1918) oder auch Soir avec Charlot von Paul Morand (1928). 33 Yvan Golls 1919 im Pariser Verlag Éditions de la Sirène veröffentlichte und von ihm selbst so betitelte „Kinodichtung“ Die Chapliniade, die ein Jahr später in deutscher Sprache im Dresdener Rudolf Kaemmerer Verlag erscheinen sollte, reagierte somit in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht auf die literarischen Experimente der Pariser Avantgarde im Bestreben in der Auseinandersetzung mit dem Medium Film und unter explizitem inhaltlichen Bezug auf die Figur des Charlots eine neue literarische Formensprache zu kreieren. Anders jedoch als beispielsweise Louis Aragons „Ciné-poème“ Charlot mystique, das sich dezidiert, wie Franz-Josef Albersmeier nachweist, in der lyrischen Montage von Einzelszenen auf einen spezifischen Film Chaplins bezieht ( The Floorwalker von 1916), 34 entwickelt Goll in seinem Theaterstück Die Chapliniade einen autarken surrealen Handlungskosmos, der sich nur noch peripher in Form von eingeschobenen Verfolgungsjagden und Schlägereien an den Slapstick-Elementen der Filme Chaplins orientiert. Die Verwendung spezifisch filmischer Techniken manifestiert sich in Golls in den Regieanweisungen detailliert beschriebenem Einsatz von Filmeinblendungen, die als bühnentechnisches Mittel fungieren sollten, um beispielsweise Landschaften (die Alpen, der Hafen von Marseille) und Traumszenen auf eine Leinwand im Hintergrund der Bühne zu projizieren oder aber die Handlung begleitende Aphorismen als Text anzuzeigen. 35 So revolutionär Golls durch den Gebrauch von Filmtechnik vollzogene „Transformation der Topographie des Bühnenraumes“ erscheint, 36 so sehr bleibt er in der sprachlich-dramaturgischen Ausgestaltung seines Stücks in Form von metrisch artikulierten Monologen und Dialogen klassischen (Sprech-)Theatertraditionen verhaftet. Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. Darmstadt 1992, S. 83.) 33 Ein „Ciné-poème“ ist in der Definition Franz-Josef Albersmeiers ein Gedicht, „dessen Inhalt (Sujet, Motiv) dem Film entlehnt und das auch in formaler Hinsicht (Technik, Bildgestaltung) vom Film beeinflusst ist.“ (Ebd., S. 87.) 34 Ebd., S. 89-95. 35 Yvan Goll: Die Chapliniade. Dresden 1920, siehe S. 14, S. 18, S. 19, S. 27, S. 30, S. 33, S. 34 und S. 36. 36 Siehe Franziska Sick: Yvan Golls surreales Filmtheater. In: Michael Lommel [u. a.] (Hg.): Französische Theaterfilme - zwischen Surrealismus und Existentialismus. Bielefeld 2004, S. 39-64, hier S. 40. 110 Alexander Gaude Die absurde Handlung der vier lose miteinander verwobenen Einzelszenen setzt ein mit der metaleptischen Transgression der von einem Filmplakat in die Wirklichkeit entfliehenden Figur des Charlot, der von einem Plakatkleber verfolgt wird, um ihn wieder auf einer Litfaßsäule aufzukleben. Charlot, der nach seiner Flucht seine Berufung zum Poeten erkennt („Unselige Gabe der Götter: Ich glaubte, ich sei ein Mensch / Und ach ich bin ein Dichter: auch eine Karriere! / Nun bin ich frei, da ich mich ahne! “ 37 ), fährt in der zweiten Szene mit dem Orient-Express auf den hier in den Alpen lokalisierten mythologischen Musenberg Parnass, um seine Wandlung zum Dichter zu vollziehen. Er trifft auf dem Weg dorthin im Zug auf eine begüterte Witwe, deren sprechendes Reh er adoptiert, nachdem er diese mit seinem Spazierstock erstochen hat. 38 Nach einem Flug mit der Lokomotive, auf deren Dampfkessel er reitet, stellt Charlot fest, dass der Parnass verlassen ist und begibt sich daraufhin in die Wüste, von wo aus er zum Mittelpunkt der Erde reist. 39 Er landet schließlich im Hafen von Marseille auf einer Arbeiterkundgebung, deren Anführer ihn bittet die Menge von der Werktätigkeit zu befreien („Erlöse uns von der Arbeit! Bring den Kommunismus der Seele! “ 40 ). Das Stück endet in einem verlassenen Wald, durch den Charlot gemeinsam mit dem Reh spaziert und sein Schicksal beklagt: „Mein Schicksal aber bleibt es, ewig zu grinsen. […] Doch ich bin traurig wie jeder Prophet! Keiner versteht mich! Jeder lacht mich Unsterblichen tot! “ 41 Im Anschluss an dieses Lamento tritt der Plakatkleber auf, ergreift ihn und klebt ihn auf eine Litfaßsäule. Goll inszeniert in Die Chapliniade die Figur des Charlot in inhaltlicher Analogie zu seinem Essay Die Apologie des Charlot als tragisch-messianische Erlösungsgestalt, karikiert diese Interpretation aber zugleich, indem er beispielsweise die Bestrebungen der demonstrierenden Arbeiterschaft im Hafen Marseilles, Charlot als spirituellen und revolutionären Anführer zu inaugurieren, der Lächerlichkeit preisgibt, wie die absurden Plakataufrufe der Protestierenden exemplifizieren: „Christus-Charlot! Geist und Manna! Wir wollen vor den Blumen der Wüste knien! Führe uns zum Reh! Heilige Revolution! “ 42 Durch die Vielzahl an Monologen und Dialogen werden die rein visuellen Elemente der dynamischen Stummfilmkomik Chaplins, die in den „Ciné-poèmes“ der französischen Avantgarde im Handlungszentrum stehen, in Golls Stück in den Hintergrund gedrängt. In den phantastischen Elementen wie beispielsweise 37 Goll: Chapliniade (Anm. 35), S. 17. 38 Ebd., S. 18-23. 39 Ebd., S. 33. 40 Ebd., S. 35. 41 Ebd., S. 41 f. 42 Ebd., S. 36. „Leur Charlie et notre Charlot“ 111 Charlots Ritt auf der Lokomotive oder der an Jules Verne gemahnenden Reise zum Mittelpunkt der Erde evoziert die Chapliniade die Atmosphäre der Trickfilme des französischen Filmpioniers Georges Méliès, ohne allerdings deren medienspezifische Verfahren sprachlich zu simulieren. Nach Irina O. Rajewskys Modell intermedialer Kategorien handelt es sich bei einem „Ciné-poème“, wie beispielsweise Aragons Charlot mystique, um ein intermediales Produkt, bei dem sich ein Medienwechsel ereignet. Bei einem Medienwechsel wird ein medienspezifisch fixierter „Prä-Text“ in ein anderes Medium transponiert, das heißt von einem semiotischen System in ein anderes übertragen. 43 In Bezug auf Charlot mystique bedeutet das konkret, dass der „Prä-Text“ des Chaplin-Films The Floorwalker aus dem Medium des Films in das Medium der Literatur in Form des Gedichts Charlot mystique transformiert wurde. Darüber hinaus tritt in den „Ciné-poèmes“ häufig das Phänomen der intermedialen Bezüglichkeit auf, bei dem die medienspezifischen Verfahren des kontaktgebenden Medienprodukts durch die Verfahren des kontaktnehmenden Objektmediums thematisiert, simuliert und reproduziert werden. 44 Als Beispiel für eine Form intermedialer Bezüglichkeit kann die von Aragon angewandte szenische Montage in Charlot mystique fungieren: Oh der Handelsvertreter so komisch mit seinen Brauen, künstlichen Er hat aufgeschrien, als ich daran zog Seltsam Dass ich diese vornehme Fremde gesehen habe Mein Herr, ich bin kein leichtes Mädchen 45 Aragon montiert hier zwei Szenen aus The Floorwalker ineinander, die jedoch in keiner chronologischen Koinzidenz stehen und sich nicht aufeinander beziehen. Er wählt für sein Gedicht eine Form szenischer Montage aus, die zwar auf dem Film The Floorwalker basiert, zeitgleich aber die Logik der Handlung des Films außer Kraft setzt, in dem Szenen außerhalb des narrativen Kontexts des Films im Medium der Sprache miteinander kombiniert werden. Aragon simuliert in Charlot mystique Schnitt- und Montagetechniken des kontaktgebenden Objektmediums Film, arrangiert die inhaltlich auf den Film The Floorwalker bezugnehmenden Szenen jedoch anders als im Ursprungsmedium. 43 Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen 2002, S. 16. 44 Ebd., S. 17. 45 Louis Aragon: Geheimnisvoller Charlot (1918). In: ders.: Feu de joie. Paris 1974. Die deutsche Übersetzung stammt von Dorothee Kimmich. (Zitiert nach: Kimmich: Charlie Chaplin [Anm. 1], S. 215.) 112 Alexander Gaude Im Gegensatz dazu kann Golls Chapliniade keine Formen intermedialer Bezüglichkeit zu einem Chaplin-Film aufweisen. Lediglich auf die phänotypischen Attribute der Ikonografie des „Charlot“ wird in den Regieanweisungen immer wieder dezidiert Bezug genommen: „und plötzlich in den gewohnten Zivilkleidern: Runder Melon-Hut, Jäckchen, Rohrstöckchen, Korkzieherhosen“. 46 Goll inszeniert in seinem Stück die Figur des „Charlot“ als introspektiven Künstler und Dichter. Er akzentuiert dabei primär die psychologischen Elemente der Figur des „Charlot poète“, des „dichtenden Tramps“, einem Begriff, der auch jenseits der literarischen Avantgarde von Paris ab 1918 zu einem geflügelten Wort avancieren sollte. 47 Insofern ist für Goll Chaplin im Kontext der Chapliniade als transmediales Phänomen von größerer Bedeutung als die formalästhetische Auseinandersetzung mit dessen filmischen Schaffen in Form eines literarischintermedialen Experiments. IV. Légers Chaplin Yvan Goll und Fernand Léger lernten sich zwischen 1919 und 1920 in Paris durch Florent Fels kennen, Kunstkritiker und Herausgeber der kurzlebigen Avantgardezeitschrift Action , an der unter anderen auch Autoren wie Max Jacob, André Salmon, Blaise Cendrars, Jean Cocteau oder Ezra Pound partizipierten. 48 Wie Claire Goll in ihren Memoiren berichtet, waren sie und Yvan regelmäßig zu Besuch in Légers Atelier auf der Rue Notre-Dame-des-Champs am Montparnasse, das der französische Maler seit 1916 bewohnte. 49 Die genauen Umstände und Hintergründe der Zusammenarbeit an der 1920 im Dresdener Rudolf Kaemmerer Verlag erschienenen deutschsprachigen Fassung von Golls Chapliniade , für die Léger vier Zeichnungen schuf (Abb. 1 - 4), sind unklar. Blaise Cendrars veröffentlichte den von Fernand Léger illustrierten „Ciné-roman“ La fin du monde filmée par l’ange Notre Dame ebenfalls im Jahr 1919 in dem Verlag Éditions de la Sirène , in dem Goll im selben Jahr die französische Version der Chapliniade publizierte. 50 Der Aufbau der beiden von Léger illustrierten Bücher Golls und Cendrars ist in struktureller Hinsicht vergleichbar. Léger schaltet zwischen den Text ganzseitige Illustrationen ein, die wiederum Fragmente des Textes in plakativ-typografischer Weise aufgreifen - ein Verfahren, das insbesondere in 46 Goll: Chapliniade (Anm. 35), S. 7. 47 Albersmeier: Theater, Film und Literatur in Frankreich (Anm. 32), S. 88. 48 Siehe Claire Goll: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse unserer Zeit. Bern 1978, S. 108. 49 Ebd., S. 116. 50 Beiläufig sei noch erwähnt, dass die Figur des „Charlot“ auch in Cendrars Werk einen Kurzauftritt hat: Blaise Cendrars: La fin du monde filmée par l’ange Notre Dame. Paris 1919, S. 24. „Leur Charlie et notre Charlot“ 113 den Illustrationen auf den Seiten 15 (Abb. 2) und 31 (Abb. 3) der Chapliniade evident wird. Léger rekurriert hierbei auf eine urbane Reklameästhetik, die für sein ebenfalls im Jahr 1919 entstandenes Summum-Werk, das großformatige Gemälde La Ville , 51 die kompositorische Grundlage bildet. 52 In einem späteren Gespräch mit Cendrars wies Léger darauf hin, dass die Reklamewände am Place de Clichy, der häufig auch als Schauplatz der „Geburt der Werbung“ bezeichnet wurde, ihn zur Wahl dieser Bildmotivik inspirierten. 53 Christopher Green analysiert in diesem Zusammenhang die kompositorischen Parallelitäten zwischen der filmischen Erzählweise Cendrars und Légers Verfahren beim Bildaufbau: Yet the parallel between Cendrars’ poetic mimicry of the film-camera and Léger’s staccato use of scene-setting images remains clear and illuminating, for La Ville is very much a disintegrated composition, dependent on upon the sudden dissonance of cutting and the clear isolation of images in a compartmented structure - it is very much a cinematic composition […]. 54 Die von Cendrars im Medium der Literatur angewandte Form der filmischen Bildmontage entspricht, so Green, der von Léger im Bildaufbau inszenierten Kollision von breiten Flächen und Schrift sowie der close-up-artigen Akzentuierung und Isolierung einzelner gegenständlicher Elemente, die einen cinematografischen Eindruck evoziert, der primär durch eine dem Filmschnitt analoge optische Fragmentierung der unterschiedlichen Bildebenen hervorgerufen wird. Entscheidend dabei ist die von Green adressierte, zu Beginn der Moderne sich artikulierende, dissoziative Form urbaner Raumwahrnehmung, die sich in La Ville manifestiert und die auch schon zeitgenössische Dichter wie beispielsweise der mit Léger befreundete Ezra Pound als „cinematografisch“ charakterisierten: „Die optischen Eindrücke reihen sich aneinander, sie überschneiden, kreuzen sich, sie sind ‚cinematografisch‘, doch sie bilden keine einfache lineare Sequenz.“ 55 Gerade der Aspekt der Nonlinearität filmischer Darstellungsverfahren kennzeichnet meiner Auffassung nach den Unterschied zwischen Légers (spät-)kubistischer Simulation filmischer Verfahrensweisen und denen anderer 51 Philadelphia Museum of Art, A. E. Gallatin Collection. 52 Siehe dazu Kirk Varnedoe / Adam Gopnik: High & Low. Moderne Kunst und Trivialkultur. München 1990, S. 208 f. 53 Christopher Green: Léger and the Avant-Garde. New Haven / Connecticut 1976, S. 182. 54 Ebd., S. 183. 55 Zitiert nach John Alexander: Parenthetical Paris 1920-1925: Pound, Picabia, Brancusi and Léger. In: Pound’s Artists. Ezra Pound and the Visual Arts in London, Paris and Italy. London 1985, S. 107. Pound beteiligte sich auch an der Produktion von Ballet Mécanique und beschäftigte sich intensiv mit Légers Konzepten einer maschinellen Ästhetik. Vgl. hierzu Rebecca Beasley: Ezra Pound and the Visual Culture of Modernism. Cambridge 2007, S. 184-192. 114 Alexander Gaude Avantgarden der Klassischen Moderne. Anders als beispielsweise die italienischen Futuristen oder Marcel Duchamp in seinem Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 aus dem Jahr 1912, 56 die versuchten mithilfe der malerischen Interpretation der fotografischen Bewegungsstudien Étienne-Jules Mareys und Eadweard Muybridges, die Dynamik einer sequenzialisierten Folge von Bewegungsabläufen als Simultanität in Form eines malerischen Cinematografismus zu erfassen, wird in Légers simultaner Montage fragmentierter Bildebenen die Non-Linearität filmischer Wahrnehmung exemplifiziert. Abb. 1: Fernand Léger: Charlot cubiste, 1920, Zeichnung. In: Yvan Goll: Die Chapliniade - eine Kinodichtung. Dresden 1920, S. 9. 56 Philadelphia Museum of Art. „Leur Charlie et notre Charlot“ 115 Abb. 2: Fernand Léger: Charlot cubiste, 1920, Zeichnung. In: Goll: Die Chapliniade (Abb. 1), S. 15. 116 Alexander Gaude Abb. 3: Fernand Léger: Charlot cubiste, 1920, Zeichnung. In: Goll: Die Chapliniade (Abb. 1), S. 31. „Leur Charlie et notre Charlot“ 117 Abb. 4: Fernand Léger: Charlot cubiste, 1920, Zeichnung. In Goll: Die Chapliniade (Abb. 1), S. 37. 118 Alexander Gaude Abb. 5: Pablo Picasso: Harlekin, 1915, Öl auf Leinwand, Museum of Modern Art, New York. Vor diesem Hintergrund sind auch Légers Illustrationen zu Golls Chapliniade zu verstehen, in denen er in vier Zeichnungen die von ihm selbst so betitelte Figur des Charlot cubiste entwickelt (Abb. 1 - 4). In seiner figuralen Disposition unterscheidet sich dabei der Charlot cubiste wesentlich von der Figurendarstellung in Légers sogenannter mechanischer Periode, in der er Körper, wie beispielsweise in den Gemälden Les Acrobates dans les cirque (1918) 57 oder Les Trois personnages (1920) 58 ersichtlich, zwar in geometrisierender Form abbildet, 57 Kunstmuseum Basel. 58 Privatsammlung. „Leur Charlie et notre Charlot“ 119 deren strukturelle Integrität jedoch niemals tangiert. Im Gegensatz zu diesen durch den Einsatz von Schattierungen plastisch ausdeklinierten, monochromen roboterartigen Figuren seiner mechanischen Periode ist der Charlot cubiste bestimmt durch die fragmentarische Zusammensetzung flächiger Einzelsegmente, die aufgrund ihres Schwarz-Weiß-Kontrastes den dissonanten Charakter des figürlichen Gesamtaufbaus noch verstärken. Léger orientiert sich dabei kompositorisch an Picassos 1915 entstandenem synthetisch-kubistischen Gemälde mit dem Titel Harlekin (Abb. 5), in dem der spanische Maler den Körper eines Harlekins in verschiedene rechteckige Flächen auflöst, die in unterschiedlicher Ausrichtung übereinandergelagert, wie Pendel hin- und herzuschwingen scheinen. Brigitte Léal akzentuiert in ihrer Analyse von Picassos Bild die vermeintliche „Unmenschlich-“ oder „Seelenlosigkeit“ der an die Mechanik eines Hampelmanns gemahnenden Darstellung des Harlekins: „The angular rigidity of the forms, animated by a secrect mechanism, would remove all humanity from this sinister puppet“. 59 Gerade aber dieser Aspekt scheint in besonderem Maße auch auf Légers Charlot cubiste zuzutreffen, der in seinem hohen Abstraktionsgrad nur noch aufgrund der chaplinesken Attribute wie Spazierstock und Hut mit der filmischen Ikonografie des „Tramps“ zu korrespondieren scheint. Dabei repräsentiert die von Léal für Picassos Harlekin attestierte fehlende „Menschlichkeit“ in Bezug auf den in seiner Physis ebenso hampelmannartigen Charlot cubiste einen elementaren Bestandteil der Film- und Schauspielästhetik Légers. In seinem bemerkenswerten, fünf Jahre nach der Erfindung des Charlot cubiste veröffentlichten Essay Schauspielballett und Gegenstandsschauspiel erörtert Léger dezidiert anhand der Schauspielkunst Chaplins das Potential der durch das neue Medium des Films erweiterten Möglichkeiten szenischer Darstellung: Wer das Unerwartete seines Schauspiels schön zu gestalten versteht, meistert Bühne und Saal. Charlie Chaplin ist in dieser Hinsicht genial. […] Bei Chaplin lässt sich die Absicht nur selten erraten. […] Mit der soliden Verknüpfung von Menschenmaterial und beweglichem Dekor nehmen die Möglichkeiten, das Publikum zu verblüffen, beträchtlich zu. Die Spielfläche verzehnfacht sich, und selbst der Bühnenhintergrund wird lebendig. Alles gerät in Bewegung. Der bisher im Vollsinn des Wortes „maßgebende“ Mensch wird wie alles übrige Teil des szenischen Mechanismus. War er früher Endzweck, ist er jetzt nur noch Mittel. 60 Entgegen der bisherigen Vorstellung, Schauspieler seien aufgrund ihrer „glaubwürdigen Persönlichkeit“ verantwortlich für die Gesamtwirkung einer Darbie- 59 Siehe Brigitte Léal: The Ultimate Picasso. New York 2003, S. 181. 60 Fernand Léger: Schauspielballett und Gegenstandsschauspiel (1925). In: ders.: Mensch, Maschine, Malerei. Übersetzt von Robert Füglister. Bern 1971, S. 166-169, hier S. 167. 120 Alexander Gaude tung auf den Zuschauer, 61 propagiert Léger den Anbruch einer revolutionären Ästhetik der Darstellenden Künste, in der Dekor, Musik und Beleuchtung nicht mehr eine subsidiäre Funktion einnehmen, sondern synchron auf demselben Niveau mit dem Schauspieler interagieren sollen. Die Attraktivität einer Aufführung liegt in der Anzahl der Möglichkeiten den Zuschauer zu überraschen, ihn visuell zu „verblüffen“. Dabei soll der Schauspieler, so Léger, nur noch ein Element in einem einheitlichen Gesamtkonstrukt repräsentieren, das in einer „mechanischen Choreografie“ kulminiert, 62 die den Betrachter „mit immer neuen Überraschungseffekten zu verblüffen vermag.“ 63 Der Schauspieler wird somit zu einer rein technisch-visuellen Funktion innerhalb eines „szenischen Mechanismus“ degradiert. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Erörterungen scheint die Figur des Charlot cubiste in ihrer fragmentierten Optik geradezu paradigmatisch Légers fünf Jahre später publizierte filmästhetischen Forderungen zu personifizieren. Die Mechanik des hampelmannartigen Charlot cubiste kann somit als Teil einer filmischen Apparatur verstanden werden, die diese visuell segmentiert und strukturiert. Die filmische Perspektive von La Ville , in der Léger den dissoziativen Raumeindruck der modernen Großstadt mit einem (spät-)kubistischen Formvokabular simuliert, richtet sich nun auf den „Schauspieler“ selbst, der sich im Fokus der Kamera in Einzelsegmente auflöst. Vier Jahre nach den Illustrationen zu Golls Chapliniade verwirklichte Léger gemeinsam mit Dudley Murphy sein Konzept einer „mechanischen Choreografie“ im Rahmen seines bahnbrechenden Experimentalfilms Ballet Mécanique (1924), der gekennzeichnet ist von der rhythmischen Montage von Nahaufnahmen operierender Maschinen und menschlicher Körperteile. Nicht mehr die Schauspieler, die handelnd in einem dramatischen Szenarium agieren, sind der Mittelpunkt des Films, sondern die Mechanik menschlicher und maschineller Bewegung selbst, die durch ihre rhythmische Montage ein optisches Sensationserlebnis beim Zuschauer generiert, bildet den Kern des Dargestellten. Léger realisiert hierbei seine ästhetischen Vorstellungen eines Films, in dem „das mechanische Element die Hauptrolle spielt und die Maschine zum wichtigsten Darsteller wird“, 64 ein Konzept, das Léger erstmalig partiell in Abel Gance’ La Roue (1923) verwirklicht sah und welches nun in Ballet Mécanique perfektioniert wird. Sowohl in der Eröffnungsals auch in der Schlusssequenz von Ballet 61 Ebd., S. 167. 62 Ebd., S. 166. 63 Ebd., S. 167. 64 Fernand Léger: Gedanken über den bildnerischen Wert des Filmes „La Roue“ von Abel Gance (1922). In: Léger: Mensch, Maschine, Malerei. Übersetzt von Robert Füglister. Bern 1971, S. 184-188, hier S. 184. „Leur Charlie et notre Charlot“ 121 Mécanique tritt der Charlot cubiste erneut auf, diesmal tatsächlich in Form einer Holzpuppe mit beweglichen Gliedern. 65 Zu Beginn des Films zieht er zur Begrüßung des Zuschauers seinen Hut, worauf im Anschluss in großen Lettern der Filmtitel erscheint: „Charlot présente le Ballet Mécanique.“ 66 Der Charlot cubiste als Personifikation der filmästhetischen Vorstellungen Légers wird somit nicht völlig frei von Ironie von dem französischen Künstler zum Präsentator des Filmes erkoren. In der finalen Sequenz tanzt der Charlot cubiste bis zur Auflösung in seine Einzelteile, nur sein rotierender Kopf ist zum Abschluss noch zu sehen. 67 Die Segmentierung und Auflösung des darstellenden Akteurs innerhalb der filmischen Apparatur wird somit nicht nur auf einer formalästhetischen, sondern auch auf einer symbolischen Ebene am Ende des Films vollzogen. Légers maschinell-funktionalistische Interpretation der Figur des „Charlot“ wird insbesondere in seiner Zeichnung für Golls Chapliniade auf Seite 31 evident (Abb. 3), in der er das in Golls Stück auf den „Charlot“ im Mittelpunkt der Erde einprasselnde Stimmenwirrwarr typografisch visualisiert. So umrahmt beispielsweise die typografische Deutung von Golls Textzeile „Hirn in Butter gebacken“ den Kopf des Charlot cubiste : 68 Während der Buchstabe „H“ des Wortes „Hirn“ am linken oberen Rand den Ansatz des rechtwinkligen stufenartigen Haares des Charlot cubiste bildet, schließt der Vierzeiler „ IRN IN BRAUNER BUTTER “ in anderer Typografie an die unterste quadratische Locke rechts an. Der Kopf von Légers Charlot cubiste erscheint somit auch auf einer emblematischen Ebene „hirnlos“ und korrespondiert in dieser Hinsicht thematisch mit dem 1919 entstanden Mechanischen Kopf Raoul Hausmanns (Abb. 6). 69 So wie Hausmanns dadaistische Skulptur den im Untertitel benannten Geist unserer Zeit verkörpert, der durch rein äußerlich einem hölzernen Modell-Kopf aufgeklebten Medien und Messinstrumenten wie einem Fotoapparat, einer Druckwalze, einer Taschenuhr oder einem Maßband repräsentiert wird, so wird der Kopf des Charlot cubiste umschlossen von sinnlosen auditiven Informationspartikeln. Sowohl der Mechanische Kopf Hausmanns als auch der Kopf von Légers Charlot cubiste stellen geistlose entindividualisierte Maschinenwesen dar, die durch mediale Prothesen konstituiert werden. Beide Werke lassen sich im über- 65 Der Charlot cubiste befindet sich im Musée national d’art moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. 66 Fernand Léger / Dudley Murphy: Ballet Mécanique. 1924. 19 min, hier 1: 05 min. 67 Ebd., 15: 16-15: 45 min. 68 Goll: Chapliniade (Anm. 35), S. 33. 69 Raoul Hausmann tätigte rückblickend über die „Hirnlosigkeit“ des Mechanischen Kopfes die Aussage: „Ich wollte den Geist unserer Zeit enthüllen, den Geist eines jeden in rudimentärem Zustand. […] / Ein Alltagsmensch hatte nur die Fähigkeiten, die der Zufall ihm auf den Schädel geklebt hatte, äußerlich, das Hirn war leer.“ (Zitiert nach: Raoul Hausmann: Retrospektive. Kestner-Gesellschaft Hannover. Hannover 1981, S. 68.) 122 Alexander Gaude tragenen Sinn als „Kameraköpfe“ oder auch als „Projektorenköpfe“ interpretieren: Während der oben auf dem Mechanischen Kopf angebrachte Messbecher als Objektiv fungieren und der an der rechten Seite angebrachte Transportmechanismus als Filmantrieb dienen könnte, sieht man in der Zeichnung Légers, wie der Charlot cubiste durch sein „Kameraauge“ den Filmstreifen, den er mit seiner linken Hand bewegt, auf eine Leinwand in seiner rechten Hand projiziert. Beide Köpfe besitzen anstelle eines „Gehirns“ nur noch einen filmischen Projektionsmechanismus, der filter- und gedankenlos die (audio)-visuellen Informationen seiner Umwelt widerspiegelt. Abb. 6: Raoul Hausmann: Der Geist unserer Zeit (Mechanischer Kopf), 1919, Skulptur, Musée national d’art moderne, Centre Pompidou, Paris. Légers abstrakte Interpretation der Figur des „Charlot“ gipfelt in der Zeichnung auf Seite 15 (Abb. 2), in der er - der Darstellung des Engels in seinen Illustrationen zu Cendrars La fin du monde filmée par l’ange Notre Dame vergleichbar - „Leur Charlie et notre Charlot“ 123 den Körper des Charlot cubiste in einzelne Buchstaben auflöst: Während die Buchstaben „CHA“ auf der rechten Bildseite in vertikaler Ausrichtung als Schrift eines Reklameschildes lesbar sind, bilden die Beine des Charlot ein „R“ und sein linker Arm ein spiegelverkehrtes „L“, die in Kombination mit den Buchstaben „ OT “ am oberen Bildrand den Namen „ CHARLOT “ ergeben. Der Körper des Charlot cubiste wird somit zu einem bedeutungslosen Signifikanten degradiert, der sich in die chaotische Textur der Großstadt integriert. Im Sinne von Légers filmästhetischem Konzept einer „mechanischen Choreografie“ verbinden sich hier Dekor und Akteur, Ornament und Figur zu einer kompositorischen Einheit. Yvan Golls und Fernand Légers im Medium des Künstlerbuches Die Chapliniade aufeinandertreffenden, inhaltlich als auch formal divergierenden Auseinandersetzungen mit der Figur des „Charlot“ stellen außergewöhnliche literarische und bildkünstlerische Werke im Wettstreit der Avantgarden um die Deutungshoheit über das filmische Schaffen Chaplins dar. Während Goll sowohl im Anschluss an als auch in der Abgrenzung zu Pariser Literaten wie Louis Aragon und Blaise Cendrars die Figur des „Charlot poète“ individualpsychologisch weiterentwickelt, repräsentiert Légers Kreation des Charlot cubiste die ironische Personifikation seiner filmästhetischen Vorstellungen in Form eines entindividualisierten, abstrakten und mechanistischen Figurentypus. Die Ikonografie des „Tramps“ erscheint dabei wie ein transmediales „Bilderfahrzeug“ im Sinne Aby Warburgs, das sich jedoch nicht sinnvermittelnd zwischen den Zeitaltern bewegt, sondern sinnentleert zwischen unterschiedlichen Medien pendelt, um von den verschiedenen Vertretern der Avantgarden semantisch besetzt zu werden im Bewusstsein der eruptiven Radikalität des neuen Mediums Film und der damit einhergehenden medialen Wirkmächtigkeit Chaplins Rechnung zu tragen. Eine Radikalität, die von den europäischen Avantgarden versucht wurde mit ästhetischen Mitteln im Medium der Kunst zu beantworten und nicht - im Gegensatz zu den kulturellen Eliten Japans - durch Terrorismus. Bei seiner ersten japanischen Promotionstour im Jahr 1932 sollte Chaplin bei einem Anschlag der ultranationalistischen „Liga des Blutes“ gemeinsam mit dem japanischen Premierminister Inukai Tsuyoshi bei einem zu Ehren des Filmstars abgehaltenen Empfang ermordet werden, um das Land vor einem kulturellen Verfall zu bewahren. Während Inukai dem Anschlag zu Opfer fiel, entging Chaplin dem Attentat nur durch Zufall, weil er noch mit Inukais Sohn Takeru einen Sumo-Kampf besuchte. Ein Ereignis, das in der jüngsten deutschen Literaturgeschichte durch Christian Krachts Roman Die Toten wieder in Erinnerung gerufen wurde. 70 70 Christian Kracht: Die Toten. Köln 2016. Père Ubu wird Bürger 125 Père Ubu wird Bürger Yvan Golls Methusalem (1922) im französisch-deutschen Kontext Hanna Klessinger, Freiburg im Breisgau Die Uraufführung von Alfred Jarrys Skandalstück Ubu roi am 10. Dezember 1896 im Pariser Nouveau Théâtre gehört als „Bataille D’Ubu roi“ zu den Gründungsmythen des europäischen Avantgardetheaters. 1 Entstellende Masken, drastische Körperlichkeit, absurde Handlung und verballhornte Sprache - berühmt wurde das leitmotivische „Merdre“ - überrumpelten das Publikum. Es entlud sein Befremden in einem legendären Tumult. So nahm Jarrys Schockästhetik bereits um die Jahrhundertwende das Dada-Theater vorweg; Ubu roi diente vielen Provokationen des Avantgardetheaters im 20. Jahrhundert als Vorbild. 2 Auch Yvan Golls satirisches Drama Methusalem oder Der ewige Bürger (1922) lässt sich in diese Traditionslinie einordnen und bezeugt zudem, 3 wie Goll sich zu Beginn der 1920er Jahre dezidiert in einen Pariser Avantgardekontext einschreibt. Sein Drama ist dabei Zeugnis einer ästhetischen Umorientierung: Nach seiner Umsiedlung nach Paris 1919 übersetzte der bilinguale Autor Goll seine in der dortigen Theateravantgarde neugewonnen Erfahrungen zunächst in die deutschsprachige Fassung des Methusalem , um sie sogleich in der französischen Fassung weiter zu modifizieren beziehungsweise dem neuen Zielkontext anzupassen. Die französische Fassung Mathusalem ou L’éternel bourgeois. Drame satirique erschien 1923 im Nouvel Orphée . 4 Im Vergleich der beiden Fassungen möchte ich im Folgenden danach fragen, wie Goll die Impulse aus Jarrys Theater - und aus der zeitgenössischen Jarry-Rezeption der 1920er Jahre - abgestimmt auf den jeweiligen Sprach-, Theater- und Gesellschaftskontext umsetzt. 5 1 Vgl. die Erinnerung von Jarrys Freund Georges Rémond: La bataille „d’Ubu roi“. In: Alfred Jarry: Ubu roi. Hg. von Noël Arnaud. Paris 1978, S. 175-180. 2 Die Wirkungsgeschichte Jarrys erhellt, mit Blick auf Dada und Surrealismus: Henri Béhar: Le théâtre Dada et surréaliste. Paris 1979. 3 Iwan Goll: Methusalem oder Der ewige Bürger. Ein satirisches Drama (mit Figurinen von George Grosz). Potsdam 1922. Die Uraufführung fand am 13. Oktober 1924 in Berlin statt. 4 Yvan Goll: Le nouvel orphée (La Chaplinade, Methusalem, Paris brûle, Le Nouvel orphée, Astral, Les Edition du matin). Paris 1923. 5 Zur bilingualen Poetik Golls und seinen Selbstübersetzungen vgl. Manfred Schmeling: „In jeder Sprache neu“. Zweisprachigkeit und Kulturtransfer bei Iwan Goll. In: Johann Strutz 126 Hanna Klessinger Die vorgeschlagene Lesart soll helfen, Golls von der Forschung vernachlässigtes dramatisches Werk 6 literatur- und theatergeschichtlich genauer zu verorten. 7 Die wenigen Beiträge, die bisher zu seinen Dramen vorliegen, beschränken sich darauf, Golls Pionierleistung herauszustellen: 8 In der Tat weisen insbesondere seine Filmdramaturgie und integrierten Filmprojektionen auf spätere intermediale Experimente voraus. 9 Goll kann mit Recht als Vorläufer sowohl des absurden Theaters als auch der neoavantgardistischen Postdramatik gelten. Sein Diktum „Es gibt kein Drama mehr“ stammt immerhin schon aus dem Jahr 1922. 10 Über der Pionierleistung wurden hingegen die spezifischen modernen Traditionslinien vernachlässigt, denen seine dramatischen Experimente ihrerseits verpflichtet sind - und aus denen sie sich produktiv speisen. und Peter V. Zima (Hg.): Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Tübingen 1996, S. 157-174. Im Zusammenhang der beiden Fassungen des Methusalem (vgl. ebd., S. 164-167) weist Schmeling dezidiert darauf hin, dass Golls Selbstübersetzungen die Texte „bis zu einem gewissen Grad an den sozio-kulturellen Hintergrund und den damit verbundenen Informationsstand des Zielpublikums“ (ebd., S. 164 f.) anpasse. Vgl. auch Manfred Schmeling: Von der Regionalität zur Internationalität. Der Fall Yvan Goll. In: Ralf Georg Bogner / Manfred Leber (Hg.): Die Literaturen der Großregion Saar-Lor-Lux-Elsass in Geschichte und Gegenwart. Saarbrücken 2012 [Saarbrücker literaturwissenschaftliche Ringvorlesungen 2], S. 153-170. 6 Das aktualisierte Killy Literaturlexikon führt Goll lediglich als „Lyriker und Erzähler“ (Klaus Hensel / Wilhelm Kühlmann: Goll, Yvan. In: Killy Literaturlexikon. Bd. IV. Berlin und Boston 2012). Bisher liegt lediglich eine Monographie zu Golls Dramatik vor: Karin Rieser-Spriegel: Untersuchungen zum dramatischen Werk Yvan Golls. München und Salzburg 1972. Rieser-Spriegels textnahe Untersuchungen sind vor allem grundlegend für die historische Einordnung von Golls Dramaturgie zwischen den verschiedenen Avantgarden. 7 Gerade der spezifische Theater-Kontext bleibt in den allgemeinen Hinweisen auf die historischen Avantgardebewegungen unterbelichtet. Auch bedarf die unscharfe Einordnung „zwischen“ den Avantgarden einer Präzisierung. Zu dieser Einordnung vgl. Michael Knauf: Yvan Goll. Ein Intellektueller zwischen zwei Ländern und zwei Avantgarden. Bern [u. a.] 1996. Vgl. auch Rieser-Spriegel: Untersuchungen (Anm. 6), S. 4-31, die Goll „zwischen Expressionismus, Surrealismus und Absurde“ verortet. 8 Grundlegend in dieser Hinsicht ist die Arbeit von Franz Norbert Mennemeier: „Das wichtigste Element in der Kunst ist die Überraschung.“ - Iwan Goll als Theaterautor. In: Franz Norbert Mennemeier / Erika Fischer-Lichte (Hg.): Drama und Theater der europäischen Avantgarde. Tübingen 1994, S. 1-28. Vgl. auch Jean-Marie Valentin: Le théâtre de Goll et sa modernité. In: Michel Grunewald und Jean-Marie Valentin (Hg.): Yvan Goll (1891-1950). Situations de l’écrivain. Bern [u. a.] 1994, S. 161-171. 9 Bereits Rieser-Spriegel: Untersuchungen (Anm. 6) dehnt in den Schlusskapiteln ihrer Dissertation (S. 165-187) die Wirkungsgeschichte über die historischen Avantgarden bis zu den Neoavantgarden wie „Action-, Living-, Multimedia-Theatre, Nouveau Réalisme, Fluxus und Happening“ aus. 10 Iwan Goll: Es gibt kein Drama mehr! In: Die neue Schaubühne 4 (1922). Nr. 1, S. 18. (Zitiert nach: Yvan Goll: Dichtungen. Hg. von Claire Goll. Darmstadt 1960, S. 84.) Père Ubu wird Bürger 127 Mit Golls Jarry-Rezeption im Methusalem soll nun eine dieser Traditionslinien exemplarisch erhellt werden. Hierbei steht jedoch nicht allein der diachrone intertextuelle Dialog im Fokus. Zugleich soll ein synchroner Kontext einbezogen werden, über den Golls Jarry- Rezeption vermittelt ist und in dem sie ihrerseits weiterwirkt. Durch das Konzept des Kulturtransfers beziehungsweise der aktuellen sogenannten „Transfer studies“ kommen weniger Einzeltextreferenzen in den Blick als vielmehr komplexere Rezeptions-, Selektions- und Vermittlungskontexte sowie Netzwerke. 11 So steht Golls Rezeption im Zusammenhang der Wiederentdeckung des Ubu roi durch die Dadaisten und der Jarry-Verehrung der Surrealisten. 12 Andere Lektüren flankieren diese Rezeption beziehungsweise wirken als Katalysatoren, etwa Golls Verehrung für Guillaume Apollinaire, dem er seinen Begriff des „Überrealismus“ verdankt, und der ein Freund Jarrys gewesen war. 13 Zum Netzwerk, das sich rund um das Methusalem -Drama spannt, gehören auch Golls Begegnung und Zusammenarbeit mit Antonin Artaud, der 1926 ein Théâtre Alfred Jarry gründete und 1927 in der Pariser Inszenierung des Methusalem mitwirkte. 14 Die Reihe ließe sich fortsetzen. Fürs Erste bleibt festzuhalten: Golls Methusalem ist fest im Kontext der Pariser Theateravantgarde verwurzelt. Ihm verdankte Goll entscheidende Impulse für seine ästhetische Neuorientierung nach der expressionistischen Frühphase. Signifikanter Weise vollzog er diese französisch inspirierte Neuausrichtung gerade auch in deutscher Sprache, wodurch er als Mittler im französisch-deutschen Kulturtransfer wirken konnte. 15 11 Im Anschluss an Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands. Paris 1999, konzipieren die Transfer studies einen erweiterten Transfer-Begriff, der auch die Dynamik multikultureller, nomadischer Akteure im Blick hat, wie sie vor allem in der postkolonialen, globalisierten Gegenwart begegnen. Vgl. Damien Ehrhardt / Soraya Nour Sckell (Hg.): Interculturalité et transfert. Berlin 2012, S. 13-18. Die Idee transkultureller Nomaden lässt sich prinzipiell auch auf international agierende Künstler der Moderne übertragen, zu denen in besonderem Maße ein multilingualer Autor wie Yvan Goll gehört. 12 Zur Jarry-Rezeption der Dadaisten und Surrealisten vgl. Béhar: Le théâtre Dada (Anm. 2). Zu Golls Rolle innerhalb der Avantgarden vgl. außerdem Henri Béhar: Regards sur Yvan Goll et des avant-gardes. In: Grunewald und Valentin (Hg.): Yvan Goll (Anm. 8), S. 83-99. 13 Béhar: Le théâtre Dada (Anm. 2, S. 97) ordnet Goll unter die „épigones de Jarry et d’Apollinaire“. 14 Vgl. ebd., S. 419. 15 Zu Golls Mittlerfunktion im deutsch-französischen Kulturtransfer nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Heike Schmidt: Art mondial. Formen der Internationalität bei Yvan Goll. Würzburg 1999, bes. S. 37-41. 128 Hanna Klessinger I. Pariser Avantgarde trifft deutschen Spießbürger „Nichts Neues. Die Welt wird so alt.“ 16 Mit diesen Worten lässt Goll seinen Methusalem am Einstieg des Dramas aus dem Schlaf auffahren und voll Sehnsucht nach Neuigkeiten zur Zeitung greifen. Auf der Bühne steht mit dem Titelhelden die Verkörperung des - deutschen - Spießbürgers und kapitalistischen Ausbeuters. In zehn rasanten Szenen wird dieser raffgierige und stets hungrige Schuhfabrikant immer wieder aus seiner Lethargie gerissen. Sein Gegenspieler ist ein russischer Student und Revolutionär, der die Arbeiter seiner Schuhfabrik zum Streik aufwiegelt. Als er sogar Methusalems schwärmerisch-naive Tochter Ida schwängert, wird er von Methusalems Sohn Felix, einer grotesken Karikatur des modernen Zahlenmenschen, zum Duell gefordert. Der Student wird erschossen, ersteht aber wieder auf und erschießt - am Höhepunkt einer turbulenten Revolutionsszene - seinerseits Methusalem. Doch auch dieser ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht totzukriegen: Im Schlussbild, das Ida und den Studenten mit dem inzwischen geborenen gemeinsamen Sohn zeigt, erscheint er plötzlich wieder auf der Szenerie, freundlich grüßend und auf sein Gulasch hoffend - das als Leitmotiv seiner Unersättlichkeit das gesamte Stück durchzieht (aber nie serviert wird). Schon anhand der Handlungsskizze wird deutlich: Golls Methusalem folgt einer avantgardetypischen antinaturalistischen Dramenästhetik. Untermauert wird diese durch eingelegte Traumsequenzen, die als Filmprojektionen realisiert werden sollen. Phantastische Szenen wie Die Revolution der Tiere (Szene 2) repräsentieren ebenfalls das Unbewusste, etwa Methusalems Urangst vor dem Umsturz der Verhältnisse. Wie sehr diese neue Dramenästhetik im Pariser Avantgardekontext verwurzelt ist, zeigt Golls Vorwort zum Methusalem . Hier fallen gleich mehrere Code-Wörter, die diese Verwurzelung anzeigen: „Überrealismus ist die stärkste Negierung des Realismus. Die Wirklichkeit des Scheins wird entlarvt, zugunsten der Wahrheit des Seins.“ 17 Markiert wird dieser „Überrealismus“ durch: „Masken“: grob, grotesk, wie die Gefühle, deren Ausdruck sie sind. Nicht mehr „Helden“, sondern Menschen, nicht Charaktere mehr, sondern die nackten Instinkte. Ganz nackt. 18 16 Die deutsche Fassung wird nach folgender Ausgabe zitiert: Iwan Goll: Methusalem oder Der ewige Bürger. Ein satirisches Drama. Text und Materialien zur Interpretation besorgt von Reinhold Grimm und Viktor Žmegač. Berlin 1966, hier S. 11. 17 Ebd., S. 7. 18 Ebd. Père Ubu wird Bürger 129 Schon die durch Anführungszeichen als Zitat ausgewiesenen „Masken“ lassen sich - zusammen mit dem später fallenden Begriff der „Puppen“ 19 - auf Jarry und die aktuelle Jarry-Rezeption beziehen, worauf ich noch genauer eingehen werde. Außerdem handelt es sich bei dem programmatischen Begriff „Überrealismus“ um Golls Übersetzung von Guillaume Apollinaires Wortprägung „surrealisme“, die dieser bereits 1917 vorgelegt hatte und die im zeitgenössischen Kontext der sich formierenden surrealistischen Bewegung kursierte. Apollinaire verwendete den Begriff erstmals im Programmheft des avantgardistischen Balletts Parade sowie im Untertitel seines Dramas Les Mamelles de Tirésias . Drame surrealiste en deux actes et un prologue (1917) . 20 Auch wenn Golls Apollinaire-Rezeption und seine Auseinandersetzung mit der Gruppe der Surrealisten in der Forschung fundiert erschlossen sind, 21 lohnt ein genauerer Blick auf diesen zeitgenössischen Kontext. Denn die spezifische Theaterästhetik, die sich mit dieser Apollinaire-Rezeption verbindet, erschließt sich nur, wenn man neben der Theater- und Kunsttheorie auch die theatrale Praxis berücksichtigt, markiert doch gerade das Ballett Parade einen weiteren Meilenstein in der Geschichte des Avantgardetheaters. II. Theaterhistorischer Kontext: Das musterbildende Ballett Parade (1917) Das vierzehnminütige Tanzstück Parade . Ballet réaliste , eine Kooperation der Ballets Russes und ihres Choreografen Léonide Massine mit Jean Cocteau, Pablo Picasso und Eric Satie, lässt sich ebenfalls in die Tradition von Jarrys Theater- Coup Ubu roi stellen. Der Schock, dem sich auch hier das erregte Publikum ausgesetzt sah, vermittelte sich durch Kontraste: Das Ballett präsentierte kein harmonisches Ganzes zwischen Bewegung, Musik, Bühnenbild und Kostümen, sondern erschien als theatrale „Assemblage heterogener Elemente“: 22 Die in eine 19 Ebd., S. 8. 20 Guillaume Apollinaire: Les Mamelles de Tirésias. Drame surrealiste en deux actes et un prologue. Paris 1918. Zu Golls Poetik des Überrealismus und seiner Apollinaire-Rezeption vgl. ausführlich Matthias Müller-Lentrodt: Poetik für eine brennende Welt. Zonen der Poetik Yvan Golls im Kontext der europäischen Avantgarde. Mit einem Rückblick auf 50 Jahre Forschungsliteratur zu Yvan Goll. Berlin [u. a.] 1997. 21 Zu Golls durch Apollinaire vermittelte Rezeption von Parade vgl. die Hinweise bei Valentin: Le théâtre (Anm. 8), S. 166; sowie bei Ricarda Wackers: Die Zusammenarbeit von Kurt Weill und Yvan Goll. Münster 2004 [Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau 5], S. 81-95. 22 Olivier Berggruen: Das Theater als Metapher. In: Olivier Berggruen / Max Hollein (Hg.): Picasso und das Theater. Ostfildern 2006, S. 27-37, hier S. 30. Picassos Assemblagen lassen sich mit Berggruen als Verfahren beschreiben, das Elemente aus ihren gewohnten Beziehungen löst, um sie in neue Kontexte zu rücken - und dadurch auffällig zu machen (vgl. ebd., S. 30 f.). 130 Hanna Klessinger Nummernfolge fragmentierte Handlung zeigt eine „Parade“, also eine burleske Szene vor einem Varietétheater, mit der das Publikum angelockt werden soll. Die Artistenwelt wird - noch in romantisch-realistischer Manier - bereits durch die figuralen Motive auf dem von Picasso entworfenen Vorhang eingeführt, um sogleich mit dem ebenfalls von Picasso stammenden antinaturalistischen Bühnenbild zu kontrastieren, das eine stilisierte Großstadtszenerie darstellt. Vor dieser agieren die Tänzer, die teils in ‚realistischen‘, teils in kubistisch-abstrakten Kostümen auftreten und die titelgebende „Parade“ aufführen: Von zwei Theatermanagern begleitet, geben ein chinesischer Zauberkünstler, ein kleines amerikanisches Mädchen und zwei Akrobaten Kostproben ihrer Künste, können jedoch keine Zuschauer anlocken. Vor allem die von Picasso als überlebensgroße bewegte Skulpturen gestalteten Kostüme der Managerfiguren provozierten im Publikum einen regelrechten „Aufruhr“. 23 Als dreidimensionale Übersetzung kubistischer Malerei zeigen diese skulpturalen Ganzkörpermasken zeichenhaft die wesentlichen Elemente der Figur, etwa - in monumentaler Vergrößerung - den gezwirbelten Bart und die Pfeife des „Französischen Managers“ oder die am Rücken montierte transportable Skyline, die den „Amerikanischen Manager“ charakterisiert. Parade folgt der avantgardistischen Retheatralisierung und setzt die spezifischen Theaterzeichen wie optische und akustische Reize, Bewegungen von Körpern im Raum im Sinne eines intermedialen ‚Gesamtkunstwerks‘ in Szene. Dieses neuartige Zusammenspiel der verschiedenen Theaterzeichen inspirierte Apollinaire zu seiner Wortschöpfung „sur-réaliste“, mit der er den Untertitel Ballet réaliste präzisierte: De cette alliance nouvelle, car jusqu’ici les décors et les costumes, d’une part, la choréographie, d’autre part, n’avaient entre eux qu’un lien factice, il est résulté, dans Parade, une sorte de sur-réalisme où je vois le point de départ d’une série de manifestations de cet Esprit Nouveau […]. 24 Diese neue Verbindung - ich sage neu, weil bisher Bühnenbild und Kostüme [auf der einen Seite und die Choreographie auf der anderen Seite, H. K.] nur von sehr künstlichen Fäden verbunden waren - hat in Parade zu einer Art Sur-Realismus geführt, den ich für den Ausgangspunkt einer ganzen Serie von Manifestationen des Neuen Geistes halte […]. 25 23 Alexander Schouvaloff: Picassos Romanze mit den Ballets Russes. In Berggruen / Hollein: Picasso (Anm. 22), S. 69. 24 Guillaume Apollinaire: Œuvres complètes. Bd. IV. Hg. von Michel Décaudin. Paris 1966, S. 444. 25 Die an dieser Stelle unvollständige deutsche Übersetzung stammt von Hajo Düchting (Hg.): Apollinaire zur Kunst. Texte und Kritiken 1905-1918. Köln 1989, S. 277. Père Ubu wird Bürger 131 Für Apollinaire treten hier erstmals alle optischen und akustischen Elemente eines Balletts gleichberechtigt nebeneinander. Bühnenbild und Kostüme folgen nicht mehr der Logik des Ausstattungstheaters, sondern werden zu eigenständigen Bühnenzeichen aufgewertet; ihr proklamierter Realismus, von Apollinaire als Surrealismus qualifiziert, liegt gerade in ihrer zeichenhaften, zeigenden Qualität. Durch Überzeichnungen und die typisch kubistische Multiperspektivität treten die zu zeigenden Elemente besonders hervor. Vermittelt durch Apollinaires Rezeption übersetzt Goll die antinaturalistische und retheatralisierende Masken-Ästhetik, wie sie paradigmatisch von Parade verkörpert wird, in seine Theatertheorie und Dramenästhetik. Indem er sie im Methusalem mit einer Jarry-Rezeption verbindet, aus der sich auch seine zeitgenössischen Vorbilder speisen, zeigt er sich auf der Höhe des avantgardistischen Diskurses. Die optische Ähnlichkeit von Picassos Parade- Kostümen mit den Methusalem- Figurinen, die George Grosz für die Publikation des Methusalem anfertigte, sind übrigens kein Zufall: Sie können, wie Richard West nachgewiesen hat, als Folge von Golls Mittlerleistung im Kulturtransfer gewertet werden: 26 Inspiriert durch Golls Programmatik und eine durch Goll wesentlich beeinflusste Rezeption des Pariser Avantgardetheaters entwarf Grosz ebenfalls reine Theaterwesen, die ihr Inneres, ihr Wesen und ihre Wahrheit, zeichenhaft nach außen tragen: in ihre Masken, die übrigens nicht nur physische, sondern auch sprachliche Masken darstellen, wie noch zu zeigen sein wird. Das Maskenhafte von Grosz’ Methusalem- Figurine offenbart sich in optischen Verzerrungen, Hervorhebungen und Spiegelungen an der sichtbaren Oberfläche, die direkt und schockartig auf die Zuschauer wirken sollen (siehe Abb. 1). Auf die genaue Bedeutung einzelner Elemente dieser zeichen- und maskenhaften Figurine komme ich im Zusammenhang der folgenden Interpretation von Golls Drama noch zu sprechen. Doch nachdem der theatergeschichtliche Kontext von Golls surrealistischer Jarry- und der flankierenden Apollinaire- Rezeption exemplarisch erhellt wurde, sollen nun die direkten intertextuellen Bezüge genauer betrachtet werden. 26 Auf Golls und Grosz’ Kenntnis von Picassos Kostümen verweist Richard West: George Grosz: Figure for Yvan Goll’s Methusalem . In: Bulletin of the Cleveland Museum of Art 55 (1968), H. 4, S. 91-94, hier S. 93. 132 Hanna Klessinger Abb. 1: George Grosz: Methusalem (1922). New York, Museum of Modern Art. Watercolor, metallic paint, pen and ink on paper, 52,6 x 41,1 cm. Mr. and Mrs. Werner E. Josten Fund. 143.1957. Père Ubu wird Bürger 133 III. Père Ubu als Urahn des Methusalem Das Masken- und Puppenhafte der Figuren seines Methusalem markiert Goll bereits in seinem Vorwort als programmatische Jarry-Referenz: „Denn was will er [d. i. der Dramatiker]: euch Puppen geben, euch spielen lehren, und dann die Sägespäne der kaputten Puppen wieder in den Wind schütten.“ 27 Denn Jarrys Antidrama Ubu roi geht ursprünglich auf ein Marionettenstück zurück: Mit der Fantasiegestalt König Ubu nahmen Jarry und zwei Schulkameraden in den späten 1880er Jahren einen Physiklehrer am Gymnasium in Rennes aufs Korn. Einige Jahre später - 1896 - wurde diese Figur, die noch deutlich die Züge des Puppentheaters trägt, von einem realen Schauspieler, Firmin Gémier, verkörpert: In einer von Jarry entworfenen ‚Ganzkörpermaske‘ (siehe Abb. 2) und in einem Bühnenbild, an dem Pierre Bonnard und Henri Toulouse-Lautrec mitgewirkt hatten, begleitet von der Musik des Operettenkomponisten Claude Terrasse, wurde dieser auf eine Pariser Bühne geschickt - im Rahmen von Aurélien Lugné Poes Théâtre de l’Œuvre. 28 Handlungsstruktur, Figurenzeichnung und Dialogführung von Jarrys Ubu roi tragen noch deutlich die Spuren des Puppenspiels. Sie dienen der antinaturalistischen und antisymbolistischen Ästhetik, die für die Avantgarden so musterbildend wurde. Der Protagonist Vater Ubu ist in seiner Überzeichnung eine Figur des Kasperletheaters beziehungsweise ein Guignol: unförmig, naiv, tollpatschig und böse. Die stilisierte Wurst auf seinem dicken Wanst ist äußeres Zeichen seiner Fixierung auf Essen, Verdauen und Sex. „Merdre“ 29 , lautet sein stetig wiederholtes Leitwort, wichtigstes Requisit ist sein „bâton-à-physique“ 30 („Physikstock“ 31 ), der phallisch konnotiert ist und seine Grausamkeit markiert. Denn Jarrys Drama Ubu Roi präsentiert, die Tradition der Geschichtsdramen und vor allem Shakespeares Macbeth parodierend, die Geschichte eines Usurpators: Angestiftet von seiner Frau tötet Père Ubu den polnischen König Wenzeslas. Doch sein Machthunger ist in der Folge unersättlich: Er massakriert zunächst die Adligen des Landes, dann die Beamten - stets mit grotesken Folter- und Tötungsmaschinen -, schließlich sogar die Bauern. Er betrügt seine Mitstreiter und tötet seine Frau. Ubus Maßlosigkeit und sein Realitätsverlust provozieren jedoch einen Gegenfeldzug unter der Führung des russischen Zaren, was An- 27 Goll: Methusalem (Anm. 16), S. 8. 28 Entstehungs- und Aufführungsgeschichte finden sich anschaulich dokumentiert in Anhang und Nachwort der folgenden Ausgabe: Alfred Jarry: König Ubu. Übersetzt und hg. von Ulrich Bossier. Stuttgart 1996. Im Folgenden zitiere ich aus dieser Übersetzung. 29 Die französischen Zitate folgen der Ausgabe: Alfred Jarry: Œuvres complètes. Bd. II. Hg. von Henri Béhar. Paris 2012, S. 457-526. 30 Ebd., S. 499 und öfter. 31 Jarry: König Ubu (Anm. 28), S. 39. 134 Hanna Klessinger Abb. 2: Alfred Jarry: Véritable portrait de Monsieur Ubu (1896). Holzschnitt. Bibliothèque nationale de France ( RC -A-56926). Père Ubu wird Bürger 135 lass zu ebenso grausamen wie grotesken Schlachtszenen gibt, ebenfalls ganz im Stile des Puppentheaters gehalten. So ersteht auch dieser grausame König Ubu, einmal geschlagen, immer wieder auf und kann mit seiner - ebenfalls wieder zum Leben erwachten - Frau über das Meer nach Paris fliehen, wo er „Maître des Finances“ 32 („Meister der Finanzen“) 33 werden möchte. Ubu ist als grotesker Typus eine Verkörperung der niederen Instinkte des Menschen, eine Art überzeichnet-zeichenhafte Quintessenz aller Königs- und Rachetragödien. Neben der vordergründigen Komik rührt die schockhafte Wirkung Ubus an Unbewusstes und Verdrängtes der Zuschauer. Deshalb verwundert es nicht, dass Jarrys Ubu roi auch Artauds Theater der Grausamkeit entscheidend inspirierte. Das masken- und zeichenhafte Kostüm entwarf Jarry für einen Schauspieler, der sich in der Aufführung „unpersönlich“ 34 („impersonnel[ ]“) 35 machen sollte, wie es in Jarrys Prolog zur Uraufführung heißt. Jarrys Masken-Methode, mit der das Wesen eines Typus zeichenhaft an der Oberfläche der stilisierten und überzeichneten Gestalt ablesbar wird, übernahm Goll für seinen Methusalem : Mit seinem vor dem Bauch baumelnden „Kassaschrank“ spitzt dieser die Grausamkeit des ewigen Bürgers ganz auf die Sphäre der Ökonomie beziehungsweise des Geldes zu, wodurch ein schon bei Jarry, etwa verfremdet im „cheval à phynances“, 36 vorgebildetes Kernmotiv nochmals besonders akzentuiert wird: M ethusaleM , der Ur-Bürger, sitzt in einem breiten, plüschenen Sessel, raucht eine dicke Zigarre […]. Er hat die Gicht und trägt das rechte Bein in Wolltücher gewickelt. Sein Gesicht ist tiefrot, dicker Glatzschädel, die Augen sehr klein, kein Bart. Über dem Bauch trägt er eine fingerdicke massivkupferne Uhrkette, als Berlocke einen Kassaschrank en miniature. Als Krawattennadel einen goldenen Schuh in Größe einer Taschenuhr: die Marke seiner Schuhfabrik. 37 Grosz übersetzt das Wesen dieses Methusalem-Typus in seiner Figurine (siehe Abb. 1) auch dadurch, dass er ihm ein großes Messer wie einen Säbel umhängt. Der kapitalistischen Logik des Stückes folgend, trägt es das Markenlogo der Zwillingsmesser und steht für die ewige Machtsucht à la Ubu - im modernen Gewand, gekennzeichnet durch Essen beziehungsweise Völlerei, gewaltsame Ausbeutung, sich Bereichern an Untergebenen. Ausgerechnet der rechte Fuß des Schuhfabrikanten ist versehrt. Dies ist als Symptom einer Krankheit des 32 Jarry: Œuvres complètes (Anm. 29), Bd. II, S. 516. 33 Jarry: König Ubu (Anm. 28), S. 57. 34 Ebd., S. 68. 35 Jarry: Œuvres complètes (Anm. 29), Bd. II, S. 609. 36 Ebd., S. 496. 37 Goll: Methusalem (Anm. 16), S. 11. 136 Hanna Klessinger Systems zu deuten, ebenso wie die fatale und selbstzufriedene Behaglichkeit des Pantoffels, der den linken Fuß bekleidet. Buchstäblich „vernagelt“ - mit (deutschen) „Eichenbrettern“ - ist der Kopf dieser monströsen Figur. 38 Aggressivität, ‚Weinseligkeit‘ (der linke Arm streckt ein typisch deutsches Römer Weinglas in die Höhe) und Nationalismus (Nationalfarben, Eisernes Kreuz) bilden eine bedrohliche Mischung. Festzuhalten ist auch die Anlehnung ans ubueske Puppentheater: Golls Figurine wird, wie die kleine Skizze der Hinteransicht erläutert, von einem Schauspieler als Maske vor dem Körper getragen, der sie wie ein Puppenspieler an ihren Gelenken bewegen kann. 39 Der visuelle Code von Grosz’ Kostümentwürfen wird durch das von Goll vorgesehene dynamische Bühnenbild flankiert. Dessen antinaturalistische, antiillusionistische Ästhetik zeigt sich ebenfalls von Jarry und seinen avantgardistischen Nachfolgern inspiriert - insbesondere dort, wo es durch (mechanische) Verwandlungen zum regelrechten Mitspieler wird. Im Prolog zur Uraufführung des Ubu roi verweist Jarry auf diese antiillusionistischen Verwandlungen seines Décors, in denen „Türen sich unter blauem Himmel auf verschneite Ebenen öffnen“ und „uhrengeschmückte Kamine sich spalten, um als Türen zu dienen“. 40 „Elephantenfiguren in den Regalen“ beleben sich, um von „Palmen“ zu fressen, die „am Fuße von Betten grünen“: 41 [V]ous verrez des portes s’ouvrir sur des plaines de neige sous un ciel bleu, des cheminées garnies de pendules se fendre afin de servir de portes et des palmiers verdir au pied des lits, pour que les broutent de petits éléphants perchés sur des étagères. 42 Bei Goll belebt sich das von ausgestopften Tieren dominierte Interieur ebenfalls - und dies auf bedrohliche Weise: M ethusaleM ist eingeschlafen, vermummt unter seinen Zeitungen. Die künstlichen und ausgestopften Tiere des Raumes beginnen zu leben und sich zu bewegen. […] Sie treten alle aus ihren unnatürlichen Stellungen und gehen frei auf der Bühne umher. 43 Selbst der „Kuckuck aus der Schwarzwalduhr“ nimmt an der folgenden Revolution der Tiere (Szene 2) teil. An anderer Stelle wird ein Schrank plötzlich zur 38 Handschriftliche Notiz von George Grosz am rechten Bildrand unten (unter der Skizze der Hinteransicht). 39 Vgl. die Haltevorrichtungen an der Hinterseite (Bleistiftskizze am rechten Bildrand unten) sowie die handschriftlichen Anmerkungen neben dem linken Arm („Arm beweglich“) und dem rechten Arm („desgleichen beweglich“). 40 Jarry: König Ubu (Anm. 28), S. 69. 41 Ebd. 42 Jarry: Œuvres complètes (Anm. 29), Bd. II, S. 610. 43 Goll: Methusalem (Anm. 16), S. 15. Père Ubu wird Bürger 137 „ gläsernen Lifttür “: „ Man sieht in der Tat einen Lift halten, die Tür aufspringen und F elix M ethusaleM heraustreten. “ 44 Mit Antennen auf dem Kopf und einem Sprachrohr versehen, verkörpert Methusalems Sohn einen modernen Zahlenmenschen, der beständig die Börsendaten durchgibt. 45 Seinem Vorbild Jarry folgt Goll auch darin, dass er die Zeichenhaftigkeit der Maskeraden ins Sprachliche überträgt. Durch Verzerrungen, Verfremdungen und Überzeichnungen entstehen sprachliche Masken, die deutlich an Jarrys Sprachbehandlung anknüpfen. Denn ins Maskenhafte tendieren im Ubu roi bereits die formelhaften Wiederholungen: Hierzu zählen neben dem leitmotivischen „Merdre“ und den grotesken Fügungen mit „physique“ („Physik“) und „phynance“ („Phynanz“) auch die „chandelle verte“ 46 („grüne[ ] Rotze“), 47 in der sich ebenfalls die Fixierung auf Körperflüssigkeiten, Phallisches und Gewaltsames, auch im Sinne verbaler Aggressionen, manifestiert. Dies wird gleich in der Eingangsszene deutlich: P ère u bu : Merdre! M ère u bu : Oh! Voilà du joli, Père Ubu, vous estes un fort grand voyou. P ère u bu : Que ne vous assom’je, Mère Ubu! M ère u bu : Ce n’est pas moi, Père Ubu, c’est un autre qu’il faudrait assassiner. P ère u bu : De par ma chandelle verte, je ne comprends pas. 48 V ater u bu : Schoiße! M ère u bu : Ach wie reizend, Vater Ubu; Ihr seid führwahr ein rechter Lumpensack. V ater u bu : Daß ich Euch nicht erschlag, Mutter Ubu! M ère u bu : Doch nicht mich, Vater Ubu; einen andern sollt Ihr totmachen. V ater u bu : Bei meiner grünen Rotze, das versteh ich nicht. 49 Doch Mère Ubu lässt nicht locker, ihrem begriffsstutzigen Mann, nachdem er seine zotigen Leitflüche „merdre“ und „[d]e par ma chandelle verte“ einbeziehungsweise zweimal wiederholt hat, ihren ambitionierten Plan à la Lady Macbeth schmackhaft zu machen: M ère u bu : À ta place, ce cul, je voudrais l’installer sur un trône. Tu pourrais augmenter indéfiniment tes richesses, manger fort souvent de l’andouille et rouler carrosse par les rues. 50 44 Ebd., S. 21. 45 Vgl. ebd. 46 Jarry: Œuvres complètes (Anm. 29), Bd. II, S. 467 u. ö. 47 Jarry: König Ubu (Anm. 28), S. 5 u. ö. 48 Jarry: Œuvres complètes (Anm. 29), Bd., S. 466 f. 49 Jarry: König Ubu (Anm. 28), S. 5. 50 Jarry: Œuvres complètes (Anm. 29), Bd. II, S. 468. 138 Hanna Klessinger M utter u bu : An deiner Stelle würde ich ebendiesen Arsch auf einen Thron setzen. Dann könntest du deine Reichtümer sagenhaft vermehren, jede Menge Leberwurst essen und in einer Kutsche durch die Stadt fahren. 51 Bei Golls Methusalem sind es die formelhaft wiederholten Preise, die, flankiert vom zentralen Motiv des Essens, die rücksichtslose Unersättlichkeit des Kapitalisten anzeigen. Dergestalt überzeichnet, werden sie als neurotische Fixierungen lesbar, die zusammen mit der gleichförmigen Langeweile die spezifische Aggressivität dieser Figur bedingen. Auch diese schlägt sich wie bei Jarrys Ubu an der körperlichen und sprachlichen Oberfläche nieder. Auch Methusalem ist eine typisierte, maskenhafte Theaterfigur im Gestus des Zeigens: Schockartig und direkt, aber grotesk-komisch gebrochen. In der verzerrten Fratze des ewigen Bürgers rührt sie wie ihr Vorbild Ubu an die verdrängten Bereiche des Menschen beziehungsweise des kollektiven Unterbewussten: Hinter der vermeintlich harmlosen Kasperletheaterfigur lauert das Ur-Böse, werden die Urängste einer Gesellschaft gespiegelt. Welche Macht die niederen, buchstäblich nackten Triebe in Golls Methusalem gewinnen, zeigt eindrücklich eine stumme Sequenz am Ende der ersten Revolutionsszene (Szene 4). Die aufgebrachte Menge wollte Methusalem lynchen, konnte aber noch einmal beruhigt werden: Während es dann ruhiger wird, bringen zwei goldbetreßte Lakaien einen reichgeschnitzten Nachtstuhl herein, helfen Methusalem seine Hose aufknöpfen und herunterziehen und setzen ihn auf besagten Stuhl. Die Menge ist vollkommen gemeistert. Die Polizisten stehen steif und ehrerbietig. Methusalem lächelt und furzt. Vorhang. 52 Methusalems Erleichterung, einer großen Gefahr entronnen zu sein, manifestiert sich körperlich: Dem wohl angstgeschuldeten Drang wird nun genüsslich nachgegeben, um ihn zugleich in eine Machtdemonstration umzuwandeln. Doch gerade in einer Szene wie dieser zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Fassung - womit ich zu meinem letzten Punkt komme. 51 Jarry: König Ubu (Anm. 28), S. 6. 52 Goll: Methusalem (Anm. 16), S. 25. Père Ubu wird Bürger 139 IV. Fassungsvergleich: Drastisches Körpertheater versus ironisch-leichtes Spiel An der soeben zitierten Passage lässt sich im Vergleich mit der französischen Fassung eine Akzentverschiebung beobachten: 53 Während das derb Körperliche in der deutschen Fassung dieser stummen Szene mit aller Macht exponiert wird und die Schockästhetik über direkte sinnliche Reize funktioniert, erscheint die französische Fassung deutlich gedämpfter. 54 Hier kann die ubueske Figur ihre grobsinnliche Körperlichkeit nicht genüsslich ausleben, sondern wird ausgelacht. In einer Art metatheatraler Verlachkomödie wird das revolutionäre Volk zum Publikum: Deux laquais apportent une chaise percée, lui déboutonnent le pantalon et l’assoient sur le siège. Alors la foule, au lieu de se fâcher, éclate en un rire énorme. L’autobus démarre. Vacarme formidable. Les agents ferment la fenêtre. Le rideau tombe vite. 55 In dieser Fassung scheint es so, als könne man die grausame Gestalt, die sich nach ausgestandener Angst erst einmal erleichtern muss, einfach durch Lachen bannen. Besonders deutlich werden die Unterschiede der beiden Fassungen in der Schlussszene. Die Dialogführung der französischen Fassung ist hier weniger absurd, setzt aber stattdessen auf bühnenwirksame Wortkomik, die durch semantische Mehrdeutigkeiten und Missverstehen transportiert wird. Hierdurch erhält sie etwas Leichtes, Spielerisches, passend zu einer - ironischen - Distanz zum ubuesken Typus. Die deutsche Fassung bleibt hingegen beim absurd-grotesken Dialog und transportiert ein offenbar deutlich gegen jedes expressionistische Aufbruchs- und Revolutionspathos gerichtetes pessimistisches Geschichts- und Menschenbild: s tudent : O Gott, ist das Leben langweilig! i da : Wann ist die Revolution zu Ende? s tudent : Wenn die andern keine Villa mehr haben. i da : Und wenn wir eine haben? s tudent : Beginnt die neue. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. den Editionsbericht von Reinhold Grimm und Viktor Žmegač in: Goll: Methusalem (Anm. 16), S. 51-54, hier S. 52. Die ‚Dämpfung‘ avantgardistischer Schockästhetik in der französischen Fassung sieht Manfred Schmeling: „In jeder Sprache neu“ (Anm. 5), S. 165 f., dem französischen Publikumsgeschmack geschuldet. 55 Yvan Goll: Théâtre: Mathusalem. Les Immortels. Paris 1963, S. 7 - 96, hier S. 44. 140 Hanna Klessinger […] i da : Wenn nur Fürchtegott nicht immer pissen wollte! s tudent : Ich muss das Abendblatt kaufen. Steht müde auf. M ethusaleM kommt aus dem Hintergrund langsam an ihnen vorbei. Na, wird es regnen, Kinder? […] Aber ich muß, ich muß jetzt Gulasch essen … Vorhang. 56 Der Student wird hier als Nachfolger Methusalems gezeigt: durch seine Langeweile und Müdigkeit sowie durch die Zeitungslektüre. Der Schluss vermittelt hier ein pessimistisches, zyklisches Geschichtsbild: Einmal stehen die einen oben, dann die anderen. Sein Fatalismus wird durch den nicht totzukriegenden Methusalem besiegelt. Anders akzentuiert ist hingegen die französische Fassung: l’e tudiant : J’ai perdu mon bouton de col! i da : Pas d’ordre pour un sou! l’e tudiant : Prolétaires de tous les pays, unissez-vous! L’enfant crie. i da : […] Zut! Le voilà qui pisse encore! l’e tudiant : Aimez-vous les uns les autres. i da : Mais tu ne me tromperas jamais, dis? l’e tudiant , lisant le journal: Le sucre a augmenté de trois sous. i da : Et toi qui ne gagne rien, imbécile! M athusaleM entre, comme d’habitude, l’air bien portant: Eh bien, mes enfants, ça va? Croyez-vous qu’il pleuvra? […] On va bientôt manger, je pense … 57 Auch in dieser Passage erscheint die französische Fassung heiterer und spielerischer. Der Revolutionär wird als Phrasendrescher und verkappter Spießer ironisiert, der sich um seinen Kragenknopf sorgt. Der Pessimismus, der aus der auch hier suggerierten Methusalem-Nachfolge spricht, wird zugleich durch Wortkomik gebannt: Die Parolen, mit denen der Student alle Proletarier aufruft, sich zu vereinigen und einander zu lieben, werden von Ida wörtlich genommen, worauf sie sich ängstlich seiner Treue versichern will: „Mais tu ne me tromperas jamais, dis? “ Ob einem angesichts von Methusalems Wiederkehr schließlich das Lachen nicht doch im Halse stecken bleibt, scheint die französische Fassung bewusst offen zu lassen. 56 Goll: Methusalem (Anm. 16), S. 50. 57 Goll: Théâtre (Anm. 55), S. 95 f. Père Ubu wird Bürger 141 Zusammenfassend ist festzuhalten: In der deutschen Fassung lassen sich die Jarry-Bezüge als Kulturtransfer verstehen, mit dem der französische Avantgardekontext adaptiert und transformiert wird. Werkbiographisch ist dies auch als Ablösung vom Expressionismus zu lesen. Als Gegengift wird hier ein direktes, schockartiges, über optisches und sprachliches Zeigen wirkendes Körpertheater erprobt und gleichzeitig im Zielkontext vermittelt - und mit ihm ein gegen expressionistisches Pathos profiliertes fatalistisches Menschen- und Geschichtsbild. Im französischen Kontext, in dem die Codes der Jarry-Rezeption und ihre Traditionslinie leichter verstanden wurden, ist demgegenüber eine spielerischheitere Akzentuierung des Musters auffällig. Die größere Rücksicht auf Bühnenwirksamkeit und eine stärkere praktische Theatralität scheinen auf die dortige Theaterszene zugeschnitten und demonstrieren auf subtile Weise, dass sich der Autor auf der Höhe des ästhetischen Diskurses der Avantgarden befindet. So hatte beispielsweise das seinerzeit musterbildende Ballett Parade einen leichten, spielerischen Umgang mit avantgardistischer Bühnenästhetik vorgeführt, wie ihn auch Goll insbesondere in der französischen Fassung seines Methusalem akzentuiert. In welcher Weise gerade diese spielerische Transformation des Ubuesken über den Surrealismus bis zum absurden Theater Becketts wirkt, wäre in einer anschließenden wirkungsgeschichtlichen Untersuchung zu zeigen. Der Neue Orpheus 143 Der Neue Orpheus Transmediale Konstruktionen des Orpheus-Mythos im Werk von Yvan Goll, Kurt Weill und Jean Cocteau Matthias Müller-Lentrodt, Berlin Die mythische Figur des dichtenden Sängers Orpheus erscheint nicht nur durch viele Jahrhunderte europäischer Musik- und Literaturgeschichte als Prototyp des Dichters und Sehers, sondern auch als Urbild des Grenzgängers und Mittlers zwischen den Welten, zwischen Göttern und Menschen, zwischen Sakralem und Profanen, Diesseits und Jenseits, anders gesagt, er ist die überzeitliche Inkarnation des Künstlers, dem ein scheinbar unerschöpfliches Potential eignet als Projektionsfläche für die transzendenten Sehnsüchte des Menschen nach Unsterblichkeit der Seele, nach Verwandlung und Verewigung des Daseins. Besonders die Gattung der Oper hat von ihren Anfängen bis in die Moderne eine starke Affinität zum Orpheus-Mythos entwickelt als unentbehrlicher Leitfigur des musikalischen Dramas. Von Jacopo Peris’ Favola drammatica L’Euridice und Claudio Monteverdis Orfeo bis zu Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice, von Jacques Offenbachs Opéra bouffa Orphée aux enfers bis zu Kurt Weills Kantate Der Neue Orpheus ist der griechische Sängerheld das emblematisch-gültige Beispiel für die Macht und Mission der Musik und Dichtkunst geblieben und daher bis in die Gegenwart immer wieder aktualisiert und mit neuer Bedeutung aufgeladen worden. Dabei dient der in die Moderne transponierte Mythos dem Künstler als Orientierungs- und Leitbild für seine Identitätssuche und sein Bemühen um eine Neubestimmung seiner Funktion und Rolle in der unbeständigen Realität der anonymen großstädtischen Massengesellschaft. Kann der Künstler seine Vision einer besseren Welt angesichts widriger Zeitumstände noch aufrechterhalten oder ist seine Utopie zum Scheitern verurteilt? Yvan Goll hat seit seinen Pariser Anfangsjahren immer den Kontakt zu Künstlern gesucht, die in anderen Medien als der Literatur arbeiteten, insbesondere zu Vertretern der École de Paris . Er war befreundet mit bildenden Künstlern wie Marc Chagall, Fernand Léger, Alexander Archipenko und Joan Miró, die er zu Radierungen, Lithographien und Zeichnungen zu seinen Gedichten inspirieren und mehrfach als Buchillustratoren gewinnen konnte. Die überaus produktive Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern der Avantgarde ist ein konstituierendes Merkmal des Goll’schen Werkes bis in seine Spätphase hinein. Sie hat zu 144 Matthias Müller-Lentrodt erstaunlich vielen äußerst kostbaren, buchkünstlerisch ambitionierten Sondereditionen geführt, bei denen sich Text und Bild oft auf kongeniale Weise verbunden haben. Goll pflegte auf ganz selbstverständliche und natürliche Weise den von Apollinaire geübten und für ihn vorbildlichen freundschaftlichen Umgang mit Malern und Bildhauern und dehnte seinen intellektuell-künstlerischen Austausch auch auf die ersten Pioniere der Filmkunst aus. Schon in Ascona lernte er 1917 den schwedischen Filmregisseur Viking Eggeling kennen und begann eine Zusammenarbeit, die in dem Filmprojekt der Diagonalsymphonie erste Früchte trug. 1920 schrieb Goll seine Kinodichtung Die Chapliniade (eine poetische Hommage an den jungen Charlie Chaplin, mit vier kubistischen Zeichnungen von Fernand Léger). Der von Ricarda Wackers apostrophierte „Dialog der Künste“, das „permanente Streben nach einer Synthese der Künste und Kunstrichtungen in der Nachfolge Apollinaires“ lag Goll nicht nur eminent am Herzen. 1 Sein gattungsübergreifendes Werk ist ohne den interdisziplinären Blick auf die transmediale Kunstproduktion in den zwanziger Jahren nicht umfassend zu begreifen, da sich Goll selbst als Mittler zwischen den Künsten verstand und inszenierte. Yvan Goll und Kurt Weill trafen in einer Zeit des Umbruchs und der diskursintensiven Avantgarde aufeinander, in der beide Künstler nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchten, mit neuen Medien, Gestaltungsformen und Stilen zu experimentieren begannen, nicht zuletzt mit dem Ziel, neues Publikum in die Theatersäle zu locken, das im Begriff war, dem Film und der Unterhaltungsrevue zuzulaufen. Der Expressionismus war einige Jahre zuvor von den meisten Künstlern endgültig ad acta gelegt worden. Satire, Ironie, Groteske und Verfremdung rückten nun als Stilmittel in den Fokus der künstlerischen Darstellung. Auch Goll wandte sich nunmehr in seiner Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“ und dem absurden Theater zu und setzte neue poetologische Akzente. In seinem Überdrama Methusalem hatte er 1924 diese neuen „überrealistischen“ Ausdrucksmittel zur Karikatur des „Ewigen Bürgers“ wirkungsvoll eingesetzt. In der erhaltenen handschriftlichen Widmung seiner Dichtung Der Neue Orpheus rühmt Goll seinen musikalischen Mitstreiter als „wirklichen, zu Fleisch und Gesang gewordenen Orpheus“, als Inkarnation des „Neuen Orpheus“ und spricht damit ganz selbstverständlich die autobiografische Dimension der Komposition an. Leider ist bis heute der Briefwechsel zwischen Goll und Weill, dessen Auswertung wichtige Ergebnisse zu ihrer Zusammenarbeit liefern könnte, verschollen. 1 Ricarda Wackers: Dialog der Künste. Die Zusammenarbeit von Kurt Weill und Yvan Goll. Münster 2004 [Veröffentlichungen der Kurt-Weill-Gesellschaft Dessau 5], S. 65. Der Neue Orpheus 145 Weill wagte sich sicher nicht zufällig an die Bearbeitung des Orpheus-Stoffes, der von jeher die ideale Synthese von Wort und Ton versinnbildlicht und schon in den ersten Musikdramen eines Angelo Poliziano das Wiederbeleben des tragisch scheiternden Helden der Antike bedeutete. Doch erst durch Monteverdis Hymnus an die Macht der Musik in Orfeo erfuhr dieser Mythos eine andere, vielmehr euphemistische Wendung. Aus dieser Oper, deren Klavierauszug Weill zusammen mit dem Pianisten Claudio Arrau nach verbürgter Überlieferung während der Arbeit an der neuen Komposition intensiv studierte, zitiert er in seiner Kantate ebenso wie aus Arien von Glucks Orfeo ed Eurydice . Auch in seiner Wertschätzung von Offenbachs Orphée aux Enfers , dessen Fülle musikalischer Einfälle und parodistische Ironie ihn begeisterte, nährte sich der Ehrgeiz Weills, dem antiken Stoff eine gegenwartsnahe Facette hinzuzufügen. Im Zeitraum von 1922 bis 1926 erfährt das Orpheus-Thema in der deutschen und französischen Literatur-, Musik- und Theaterwelt eine erneute Hochkonjunktur, insbesondere in den Jahren 1925 und 1926: Gian Francesco Malipiero komponiert seinen dreiteiligen Opernzyklus L’Orfeide , Darius Milhauds Kammeroper Les malheurs d’Orphée , nach einem Libretto von Armand Lunel, wird 1925 uraufgeführt, und Jean Cocteaus Theaterstück Orphée feiert 1926 seine Premiere, während Ernst Krenek im gleichen Jahr seine Oper Orpheus und Eurydike komponiert. Ricarda Wackers hat in ihrer detaillierten musikwissenschaftlichen Studie über Die Zusammenarbeit von Kurt Weill und Yvan Goll deutlich gemacht, dass sowohl die Leitgedanken Golls im Neuen Orpheus wie auch die in der collageähnlichen Struktur des Gedichts angelegten formalen Gestaltungsmöglichkeiten Weill zu einer musikalischen Auseinandersetzung angeregt haben. In den ästhetischen und künstlerischen Konzeptionen beider Künstler fänden sich viele gemeinsame oder zumindest vergleichbare Positionen: Sensibilität gegenüber den neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen und Tendenzen, eine ähnliche Auffassung von der Aufgabe der Kunst, sich in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, die Überzeugung von der ethischen Verantwortung des Künstlers, ihr Bestreben, zeitgenössische Ausdrucksmittel und Medien (wie den Film oder Elemente der Populärkultur und des Jazz) in ihre Kunstschöpfungen zu integrieren und die Grenzen zwischen den einzelnen Künsten und Kunstgattungen zu überschreiten, 2 kurz: die „intermediale Orientierung“ 3 einte Weill und Goll genauso wie ihre Ablehnung naturalistischer und psychologisierender Darstellung auf der Bühne. 2 Ebd., S. 157 f. 3 Christoph M. Pleiner: Du übtest mit mir das feuerfeste Lied. Eros und Intertextualität bei Claire und Iwan Goll. Bern [u. a.] 1999 [Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 72], S. 303. 146 Matthias Müller-Lentrodt Weill hatte Goll Ende 1924 über die Vermittlung Georg Kaisers in Berlin kennengelernt, in einer Zeit, in der Goll im Verlauf der Pariser „Querelle surréaliste“ zunehmend ins Abseits gedrängt wurde. Er lernte Goll als einen Vertreter der experimentellen Bühnenkunst kennen, der nicht nur wegen der bevorstehenden Uraufführung der Bürgergroteske Methusalem seine Kontakte nach Berlin intensivieren wollte. Weill hatte sich selbst in den Jahren 1924 bis 1925 mit der Problematik des Künstlers in der modernen Gesellschaft beschäftigt und darüber nachgedacht, welche veränderte Rolle und Funktion der Musiker in der großstädtischen Massenzivilisation einnehmen und wie der Komponist auf die veränderte Wirklichkeit reagieren sollte. Das musikalische Zeugnis dieser intensiven Phase der Reflexion und Selbstfindung ist die Komposition Der Neue Orpheus , dem die 1923 entstandene dritte Fassung der gleichnamigen Dichtung von Yvan Goll zugrunde liegt. Zunächst nannte Weill die im Sommer 1925 fertiggestellte Komposition „Concertino für Sopran, Geige und Orchester“, später legte er sich auf die Bezeichnung „Kantate“ fest (nach dem italienischen „Cantata“, zu deutsch „Singgedicht“), ein mehrgliedriges Werk solistischer Vokalmusik mit Instrumentalbegleitung. Die Bezeichnung Kantate weist in die Nähe der Oper und des Oratoriums, vereint konzertante und dramatische Elemente und trägt der szenischen Variationsbreite der Dichtung Golls Rechnung. Weills Kantate war ursprünglich gedacht als Vorspiel zu seiner Oper Royal Palace , für die Goll ebenfalls das Libretto geschrieben hat. Die neuere Musikwissenschaft sieht in dieser Kantate eine wichtige Etappe auf dem Weg Weills zum Musikdrama und zur Erneuerung der Oper, die Ende der zwanziger Jahre in der Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht ihren Höhepunkt finden sollte. Der amerikanische Kurt Weill-Spezialist Kim H. Kowalke erkennt in der Kantate einen „new type of expression“, 4 der sich vom expressionistisch geprägten Stil des Violinkonzerts entfernt, den psychologischen Aspekten (wie noch in der 1924 uraufgeführten Oper Der Protagonist ) weniger Raum lässt und sich einer mehr soziologisch motivierten, moralisch engagierten Musik mit einfacherem Idiom annähert. Weill greift hier schon explizit Elemente der zeitgenössischen Populärmusik, des Varietés und der Tanzmusik auf und integriert diese in seine freitonale Tonsprache. Der Neue Orpheus wurde 1927 bei der Uraufführung in der Berliner Staatsoper (unter der Leitung von Erich Kleiber) als Zeugnis einer „neuen Gattung melodramatischen Gesangs zwischen Konzert, arioser Oper, kabarettistischem 4 Kim H. Kowalke: A new Orpheus. Essays on Kurt Weill. New Haven / Connecticut 1986, S. 8. Der Neue Orpheus 147 Chanson und Nummernrevue“ angekündigt. 5 Die Kantate erinnert in der Art der Stimmführung und Dissonanz-Behandlung an Weills erste Oper Der Protagonist , auch in Bezug auf die instrumentale Besetzung mit dominierenden Bläsern, Schlagwerk, Solovioline und Harfe. Weills Partitur, so attestiert sein Biograf Jürgen Schebera, zeige […] in ihrer Verbindung von linearer Polyphonie, atonalem Material und durchdringender Chromatik einen wachen, bereits kräftig entwickelten Sinn für die Bühne und für die Wirkung der Musik. 6 Dabei trägt die Solo-Sopranstimme den Text in einem oft distanzierten Parlando- Stil vor, der sich deutlich von dem Arie- und Rezitativschema der traditionellen Oper unterscheidet. Die Singstimme, die vor allem den Mittel- oder Variationsteil dominiert, hält sich ganz streng an die Prosodie und den Sprechduktus der Textvorlage von Goll, die an manchen Stellen gekürzt und vereinfacht wurde, aber ohne die grundsätzliche Bedeutung zu verändern. Die Kantate beginnt mit einem rhythmisch-akzentuierten Motiv, das die Grundstimmung der ganzen Komposition wie ein vorangestelltes Motto ankündigt und expressive Chromatik mit dissonierenden Intervallen verbindet. Ricarda Wackers deutet dieses zyklisch am Schluss wiederkehrende Motiv als „Metapher für das Scheitern Orpheus’“, da es vor Orpheus’ schicksalhaftem Blick zurück und seinem anschließenden Suizid wiederauftaucht. 7 Weill legt einen musikalischen Subtext zu Golls Dichtung an, fügt aber auch überleitende, rein instrumentale Passagen ein, die keine textkommentierende Funktion haben. Nicht nur um die musikalische Kohärenz und den symmetrischen Aufbau der Komposition zu wahren, wählt Weill eine andere Dramaturgie als die der Textgrundlage, auch aufgrund einer wichtigen, noch näher zu untersuchenden Bedeutungsverschiebung. Der vom Komponisten aufgebaute Spannungsbogen unterscheidet sich ganz wesentlich von dem kontinuierlich ansteigenden Spannungsbogen in Golls Vorlage. Während bei Goll alles auf die Schlusspointe, auf den Suizid Orpheus’ hinausläuft, wird in Weills fünfteiliger Komposition der musikalische Höhepunkt in den 3. Abschnitt, den Variationsteil, vorverlegt. Im 4. und 5. Teil dagegen sinkt der Spannungsbogen merklich. Der Schluss wird bei Weill kaum akzentuiert und verklingt fast beiläufig. Offensichtlich hält Weill die Strophen mit Orpheus’ Gang durch die großstädtischen Niederungen für wichtiger als den Schluss der Dichtung. Den Haupt- 5 Blätter der Staatsoper (1927). (Zitiert nach: Ricarda Wackers: Dialog der Künste [Anm. 1], S. 201.) 6 Jürgen Schebera: Kurt Weill. Reinbek 2002 [Rowohlts Monographien], S. 44. 7 Wackers: Dialog der Künste (Anm. 1), S. 177. 148 Matthias Müller-Lentrodt akzent legt Weill nicht auf den Tod oder Freitod des Helden oder Antihelden, sondern auf dessen Auseinandersetzung mit der modernen Welt. Er verleiht jeder der sieben Situationen, in denen Orpheus seine Musik in der Unterwelt, ob im Varieté oder im Vorstadtkino verbreitet, ein individuelles musikalisches Erscheinungsbild. Die Variationssequenz wird für Weill eine Art Experimentierfeld, auf dem er mit parodistischen Versatzstücken, verfremdeten Zitaten aus Offenbachs Orpheus in der Unterwelt , melodischen Anleihen aus Glucks Orfeo ed Eurydice und Anklängen an zeitgenössische Populär- und Tanzmusik (Foxtrott, Walzer, Jazz, Zirkus- und Marschmusik) spielt, ganz im Geist der von seinem Lehrer Ferruccio Busoni geprägten Ästhetik der „Jungen Klassizität“. In der Klavierstunde etwa hört man in der Musik Weills deutlich den parodistischen Unterton heraus, die siebte Variation erinnert entfernt an Wagners Musik. Das musikalische Material, das in den Variationen zusammenmontiert wird, ist derart heterogen, dass es für die zeitgenössischen Konzertbesucher wie auch für die Musikkritiker schwer war, die unterschiedlichen Elemente auseinanderzuhalten. Sehr schnell werden Assoziationen zum Kabarett und der Revue wach, die von Wackers hervorgehobene „gleichzeitige Verfügbarkeit unterschiedlicher Stillagen“ findet sich in Golls Text als Ausdruck der Polarität von Antike und Moderne genauso wie in Weills Kantate und irritierte nachhaltig. 8 Insofern wurde die erste Zusammenarbeit der beiden Künstler auch nicht zu einem dauerhaften Publikumserfolg. Weills Kantate endet durch den Gegensatz von Textaussage und musikalischer Gestaltung in einer mehrdeutigen Stimmung. Die gelöste, ruhige Musik Weills lässt den Selbstmord des Neuen Orpheus weniger als schockierende Verzweiflungstat erscheinen, sondern verleiht ihm durch den lyrisch verinnerlichten, von der Harfe beseelten Klang einen verklärten Anschein und relativiert damit die drastische Geste der tödlichen Enttäuschung. Wie verhält es sich nun mit dem Potential der neuen Kunst, für die der Neue Orpheus steht, die Menschheit zu erlösen oder die Gesellschaft zu verändern? Goll lässt keinen Zweifel, dass sein Erlösungsversuch gescheitert ist. Der orphische Zauber der Musik erreicht die in technischen Zwängen und versachlichter Entfremdung unempfänglich gewordene, desillusionierte Menschheit nicht mehr, 9 deshalb hat sein Neuer Orpheus keine wirkliche Existenzberechtigung mehr (Pleiner spricht von der „parodistischen Liquidierung des von Goll selbst propagierten hybriden Dichterideals“ 10 ). Dennoch bleibt die Erlösungshoffnung weiterhin im Raum stehen als gegenwärtig (noch) nicht einlösbare Utopie. 8 Ebd., S. 202. 9 Ebd., S. 169. 10 Pleiner: Eros und Intertextualität (Anm. 3), S. 303. Der Neue Orpheus 149 Weill ist weniger pessimistisch, denn er ist noch auf der Suche nach der Erneuerung seiner Tonsprache, und damit weit entfernt von einer Kapitulation der Kunst. Bei ihm bleibt aber zumindest offen, ob die Kunst, das heißt die Musik, den Menschen dauerhaft aus der Krise befreien und zu einem besseren Leben verhelfen kann. Dass der antike Mythos als sinnstiftend konnotiert und der überzeitliche „Gott der Musik“ den Alltagsbanalitäten mit allen ihren Zumutungen ausgesetzt wird, ließe sich als Ausdruck einer gewissen Zukunftshoffnung werten, die allerdings nach 1933 bei Weill zunächst in eine politisch motivierte Resignation übergeht und dann die Notwendigkeit begründet, im amerikanischen Exil die gewonnene künstlerische Freiheit zu verteidigen und als Film- und Musicalkomponist weiter zu entfalten. Mitte der zwanziger Jahre unternahm auch der Pariser Dichterfürst Jean Cocteau in dem Theaterstück Orphée den Versuch, den Mythos in den Rhythmus und die Bildwelt der modernen Zeit zu übertragen, aus Orpheus einen zeitgenössischen Dichter zu machen. Die Sage des thrakischen Sängers schien ihm (ähnlich wie in Rilkes Sonetten an Orpheus ) die gefährdete Lebensbedingung und Todesnähe der Dichtung zum Ausdruck zu bringen und besonders seine eigene Verfassung und Identität als Dichter widerzuspiegeln. Seine persönlichen Erfahrungen und der uralte Mythos sollten zusammenfließen in einem Werk für die Bühne, das Cocteau im Sommer 1925 in Villefranche-sur-Mer niederschrieb. Ein Jahr nach der mehr oder weniger erfolgreichen Entziehungskur vom Opium folgte eine besonders kreative Phase am Mittelmeer, in der er fast gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander an den griechischen Mythen arbeitet, König Ödipus von Sophokles adaptiert und das Libretto für Igor Stravinskys Oratorium Ödipus Rex schreibt. Einige Monate nach dem plötzlichen Tod seines Dichterfreundes Raymond Radiguet hatte Cocteau, nach seinem Bekenntnis, eine Offenbarung, bei der ihm der Name des Engels, der ihn nach diesem Tod heimsuchte, enthüllt wurde: Heurtebise, der in seinem neuen Stück in der Gestalt eines jungen Glasers erscheint. Ursprünglich hatte er an einem christlichen Bühnenstück gearbeitet mit dem Titel Das Mysterium der Geburt des Herrn , wie er seinem Biografen André Fraigneau anvertraute: Meine erste Idee zu Orpheus war ein Werk über die Geburt Christi, und der Engel erschien darin in der Form des Josef (des an der Geburt unbeteiligten Vaters). Langsam wurde daraus ein griechischer Mythos. […] Die Geburt der Gedichte ersetzte die des göttlichen Kindes. 11 11 Zitiert nach: Geneviève Albrechtskirchinger: Klassische Mythen im Werk Jean Cocteaus. In: Jochen Poetter / Geneviève Albrechtskirchinger (Hg.): Jean Cocteau. Gemälde, Zeich- 150 Matthias Müller-Lentrodt Heurtebise, dem man bei seinem ersten Auftritt in seiner Gestik noch etwas vom Erzengel Gabriel der „Verkündigung Mariae“ anmerkt, verwandelt sich aber immer mehr zum Götterboten Hermes („Psychopompos“) des griechischen Mythos, der die Seelen während ihres Abstiegs in die Unterwelt begleitet und sie dort nicht irregehen lässt. Heurtebise hat die seltsame Macht über die Spiegel, die magischen Tore ins Jenseits. Die Erinnerung an Radiguet und der Wunsch Cocteaus, ihn dort zu suchen, wo er sich nun aufhält, mit dem Toten zu kommunizieren, die rätselhaften Botschaften des Verstorbenen den Lebenden mitzuteilen, leiten ihn bei der Gestaltung der Figur des Heurtebise. Ideen zu dem Stück sollen Cocteau auch nach spiritistischen Seancen gekommen sein. Außerdem habe der frühe Verlust des Vaters (Cocteau war nur 9 Jahre alt) durch dessen Freitod die Kommunikation mit dem Jenseits zu einer Art Notwendigkeit gemacht, die der Todesengel Heurtebise als Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits verkörpert. Die wirkliche Neuerung, die Cocteau einführt und die dem Orpheus-Mythos einen aktuellen und sehr persönlichen Sinn gibt, ist die Einführung einer vierten Hauptgestalt, deren Bedeutung vom Theaterstück von 1925 bis zum späten Film Le Testament d’Orphée von 1960 zunimmt, so sehr, dass sie schließlich die Hauptrolle spielt, nämlich der Tod („La Mort“). Diese Person, der Tod, erscheint schon im Theaterstück, aber erst im Film Orphée von 1949 / 1950 mit den neuen technischen Möglichkeiten, die ihm das Kino bietet, und in der weiterentwickelten Konzeption, hat sich auch das Zentrum des Geschehens verlagert. Das Hineintreten in den Spiegel und das gemeinsame Heraustreten (mit Eurydice) ist im Film nun direkt dargestellt. Erst jetzt sieht man den schwierigen Weg von Orphée, geführt von seinem Engel Heurtebise, durch ein schwereloses Universum, eine mysteriöse Zone, ein Niemandsland der vierten Dimension, das nach Cocteau zwischen dem Leben und dem Tode verborgen ist. Wir schauen ihm zu beim Besuch des Todes in dessen Reich. Von da an verändert die Geschichte selbst ihren Sinn: der Tod, der in Orpheé nur ein fleischgewordenes Symbol war und keinen Bezug zu Orpheus hatte, ist nun eine Person geworden, eine Prinzessin, die liebt und geliebt werden kann. Doch der Dichter ist zwischen zwei Lieben hin- und hergerissen: noch liebt er Eurydice, die unter den Toten Lebende, aber aus der Begegnung mit dem Tod, der sein eigener Tod ist, wird eine andere Liebe geboren, die Liebe zum Tod selbst, die schließlich die stärkere werden wird. Eurydice versteht ihn so gut, dass sie sich im Rückspiegel seines Autos zeigt, um dann (als Orpheus sie anblickt), gänzlich zu verschwinden, ihn allein zurücklassend mit dem Tod, „Madame La Mort“, die er liebt und die ihn nungen, Keramik. Köln 1989, S. 16. Vgl. André Fraigneau: Jean Cocteau - Gespräche über den Film. Esslingen 1954, S. 79 f. Der Neue Orpheus 151 liebt, daher keine Macht über ihn hat und ihn am Leben lässt, indem sie auf ihre Liebe verzichtet. Um Orpheus und die Poesie zu retten, opfert sich die Prinzessin selbst und muss sich dafür vor einem Unterweltgericht verantworten. Cocteau erläutert in den Entretiens sur le cinématographe die Bedeutung des Todes in Orphée : „[D]ie Person, die den Tod des Orpheus darstellt, opfert sich, gibt sich auf, um den Dichter unsterblich zu machen, frei nach Mallarmés berühmtem Gedichtauftakt von Le tombeau d’Edgar Poe : Tel qu’en Lui-même enfin l’éternité le change Le poète suscite avec un glaive nu […]. So wie ihn die Ewigkeit in seinem Ich endlich verwandelt. […] 12 Der Dichter muss also mehrfach sterben, um zu leben. Jeder von uns, so Cocteau, trage in sich seinen eigenen Tod (vergleichbar hier dem mystischen Glauben des Rilke’schen Dichtermönches aus dem Stundenbuch ), der sich von Geburt an mit uns beschäftige. Schon für den zwanzig Jahre vor Orphée entstandenen, in Avantgardekreisen sehr umstrittenen Film, besser gesagt das Filmpoem Le Sang d’un poète war diese Idee der Ausgangspunkt: „La necessité pour le poète de traverser des morts successives et de renaître sous une forme plus proche de sa personne.“ 13 In Orphée schließlich hat Cocteau dieses Thema orchestriert, dessen Kadenz Das Testament des Orpheus darstellt. Eng verknüpft ist damit für Cocteau das Thema der Spiegel: „[M]an sieht sich in ihnen älter werden. Sie bringen uns dem Tod näher.“ 14 Im Stück Orphée selbst heißt es: „regardez-vous toute votre vie dans une glace et vous verrez la Mort travailler comme des abeilles dans une ruche de verre.“ („Man sieht den Tod arbeiten wie Bienen in einem gläsernen Bienenstock.“) 15 Die Spiegel sind im Film die Türen ins Jenseits, die Eingänge in die Unterwelt und zurück in die diesseitige Welt. Sie sind die Türen, durch die der Tod kommt und geht, durch die man mit Hilfe von Handschuhen hindurchgelangt. Assoziationen zum Mythos des Narziss, ganz deutlich in einer Einstellung mit Jean Marais (als er in einer einsamen Landschaft aufwacht und sein Bild in einer mit einem Spiegel ausgelegten Wasserpfütze erblickt) und Reminiszenzen an Oscar Wildes Helden Dorian Gray und dessen Aufforderung, sein ganzes Leben 12 Zitiert nach: Jean Cocteau: Kino und Poesie. Notizen. Frankfurt / M. 1989, S. 65. 13 Jean Cocteau: Du cinématographe. Paris 1973, S. 127. 14 Cocteau: Kino und Poesie (Anm. 12), S. 65. 15 Jean Cocteau: Théâtre complet. Hg. von Michel Décaudin. Paris 2003, S. 383-422. Siehe auch die Inszenierungshinweise von Cocteau mit den Anmerkungen von Michel Décaudin: Notes de mise en scène. In: ebd., S. 423-424. 152 Matthias Müller-Lentrodt wie in einem Spiegel anzuschauen, oder auch an Lewis Carrol’s The looking glass , stellen sich erst ein, wenn man sich den Film mehrmals anschaut. In den Spiegelszenen ließ Cocteau Zwillingszimmer bauen, mit Zwillingsobjekten ausgestattet, in denen Doubles agierten; der Spiegel, in den die Hände von Jean Marais eintauchen, benötigte eine Wanne von 400 kg Quecksilber, berichtete Cocteau, während der Ton, der den Eintritt und Austritt aus dem Spiegel begleitet, von einem Stimmgabelton herrührt, von dem er nur den Nachhall aufgenommen hatte. Cocteau verwendete Zeitlupe und andere Tricktechnik, genuin filmische Syntax, um seine Vorstellung vom poetischen Filmessay umzusetzen und mit der von ihm konstruierten Wahrheit den Zuschauer zu überzeugen. Die Filmkunst war für ihn „die einzige Kunst, die es erlaubt, Zeit und Raum zu beherrschen.“ 16 Cocteau bediente sich des Konzepts der Einstein’schen Relativitätstheorie insofern für seine poetischen Zwecke. Die Relativität der Zeit und des Raumes ist im ganzen filmischen Œuvre ein wichtiges Strukturelement, auch in seinem letzten Film Le Testament d’Orphée von 1960. Cocteau hat aber gleichzeitig betont, dass Orphée für ihn ein realistischer und gleichzeitig bekenntnishafter Film sei, ein Film, der eine ihm eigene Wahrheit ausdrücke, auch wenn er dafür eine andere Logik einsetze, die dem Mechanismus des Traumes folge: „Le film nous offre un véritable véhicule de poésie, en ce sens qu’il permet de montrer l’irréalité avec un réalisme qui oblige le spectateur à y croire.“ 17 Ein Film sei kein Traum, den man erzähle, so Cocteau, sondern ein Traum, den wir dank einer Art von Hypnose zusammen träumten, und der kleinste Fehler im Mechanismus wecke den Schläfer auf und nähme ihm das Interesse an einem Traum, der nicht länger der seine sei, bekennt Cocteau während seiner Arbeit an Orphée , der für ihn ein Kriminalfilm sei, der einerseits in den Mythos und andererseits ins Übernatürliche eintauche. Als Dichter wie als Filmdichter ging es ihm darum, das „Unbekannte“ zu verfolgen: „traquer l’inconnu“, wie er sagte. 18 Autoradios, chiffrierte Botschaften, das Signal der Kurzwellen, der Stromausfall: Cocteau benutzt Elemente des Alltags, banal erscheinende Requisiten und Accessoires und lädt sie mit poetischer oder sogar metaphysischer Bedeutung auf. Es ging ihm aber letztlich darum, seine Art zu leben und das Leben zu betrachten, darzustellen. Insofern müssen die Orpheus-Filme auch als autobiografische Zeugnisse verstanden werden. 16 André Fraigneau: Gespräche über den Film. Esslingen 1954, S. 88 f. 17 Jean Cocteau: Du cinématographe. Belford 1973, S. 131. 18 Ebd., S. 152. Der Neue Orpheus 153 In dieser Hinsicht sind die besprochenen Dichtungen, Kompositionen und Filmpoeme, die um den Orpheus-Mythos kreisen, vergleichbar: sie sind stark autobiographisch geprägt. Ihre Schöpfer transformieren den antiken Mythos in teils gegenwartskritische, teils imaginär-künstlerische Poesie, in eine private Todes- und Wiedergeburtslehre (Cocteau), die sich auf den Dichter oder Künstler bezieht. Ihr jeweiliges Medium wird im Mythos gespiegelt und selbstreflektiert. Für die Dichter der Moderne verkörpert Orpheus daher Segen und Fluch des Dichterschicksals zwischen der Gewissheit der eigenen Sterblichkeit und der Begierde nach Ruhm und Unsterblichkeit. Es ist sicher unwahrscheinlich, dass Yvan Goll den Film Orphée , der im Oktober 1950 im Pariser Pathé-Kino seine Premiere feierte, gesehen hat, da er nur kurze Zeit später seinem Leukämie-Leiden erlag, auch dies ein „Mort d’un poète“ der etwas weniger spektakulären, dafür umso tragischeren Art. Aber dass er von Anfang an insbesondere am Filmschaffen der Avantgarde interessiert war, darüber kann es keinen Zweifel geben. Über die Beziehung Golls zu Cocteau ist nicht allzu viel Stichhaltiges überliefert. Es ist möglich, dass sie sich schon 1920 während ihrer Arbeit für die Revue Action über deren Herausgeber Florent Fels kennenlernten, für die beide Autoren Aufsätze oder Artikel schrieben. Dass die Golls in Lokalen, wie dem Bœuf sur le toit , in dem Cocteau Hof hielt, verkehrten, ist Claire Golls literarischer Chronique scandaleuse La poursuite du vent (zu deutsch: Ich verzeihe keinem ) zu entnehmen, deren Aussagen aber mit größter Vorsicht zu genießen sind. Etwas despektierlich und ironisch äußert sich Madame Goll darin über den „snobistischen Werbefachmann“ Cocteau, 19 der selbstgefällig mit seinem Leben spielte, aber einen untrüglichen Sinn für alles Neue und Avantgardistische besaß, für viele Protagonisten der Pariser Kunstszene (Picasso, Stravinsky, Satie) warb, aber auch von ihnen als Sprachrohr ihrer Ideen benutzt wurde. Cocteau hätte es auf verblüffende Weise verstanden, Ideen, Bilder und Geschichten in unterhaltsame Wortakrobatik zu verpacken, blieb aber mit allem, was er unternahm, an der Oberfläche. Wie ein Seiltänzer, so Claire Goll, balancierte er durch die Gesellschaft der Snobs und parfümierten Epheben, scheute keine Skandale, ein Blender und Schaumschläger, der nichts zu sagen gehabt hätte, das Nichts aber ausgezeichnet sagte. 20 Besonders diese mondänen Kreise waren ja Yvan Goll zuwider, so dass es bei einer reinen Bekanntschaft blieb und sich aufgrund ihrer Wesensverschiedenheit keine Freundschaft daraus oder gar produktive Zusammenarbeit entwickelte. 19 Claire Goll: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse unserer Zeit. Bern 1978, S. 137. 20 Ebd., S. 137 f. 154 Matthias Müller-Lentrodt Nach Auskunft von Klaus Mann, der 1929 Goll in Paris besucht hatte, verberge sich hinter dem Snob(isten) Cocherel in Golls Roman Der Mitropäer der legendenumwobene Jean Cocteau. Goll habe diesen bis in persönliche Einzelheiten (den Genuss türkischer Zigaretten und dessen Hofhaltung im Cabaret Bœuf sur le toit ) karikiert, in seinem Roman erscheint dieses Lokal als ein Ort geschmeidiger Zynismen, ein Mikrokosmos kultivierter Langeweile. In einem Aufsatz für die Revue Rhénane äußerte sich Goll relativ positiv über die Lyrik der neuesten französischen Dichter, auch über die von Cocteau und Cendrars, und bringt sie in Zusammenhang mit der neuen Ästhetik, „die die veränderten Schwingungen unseres Fühlens und die rapide Bewegung unseres Intellekts, parallel mit Kino und Aeroplanerlebnissen hervorbringe.“ 21 Der moderne Künstler müsse, so Goll, eine seiner Zeit entsprechende Kunst und Literatur schaffen. In diesem Punkt stimmten also alle drei Künstler, die hier im Brennpunkt der künstlerischen Transformation des „Orpheus-Mythos“ zueinander in Beziehung gesetzt wurden, überein: der Künstler, ob Dichter, Komponist oder Filmautor, muss vor allem eines sein (und damit eine der Forderungen Apollinaires erfüllen): „résolument moderne“. 21 Yvan Goll: Aus französischen Zeitschriften. In: Revue Rhénane 6 (1922), S. 274. Vgl. die Zitate und Hinweise in: Les Avant-gardes littéraires au XX siècle. Bd. I: Histoire. Hg. von Jean Weisgerber. Amsterdam 1984, S. 253 f. „Jeder ist Orpheus“ 155 „Jeder ist Orpheus“ Der Orpheus-Mythos und Unterweltvisionen in der Lyrik Yvan Golls Hermann Gätje, Saarbrücken Ein immer wiederkehrendes Moment der Lyrik Yvan Golls ist die Kontrastierung von Motiven aus den Sagen und Mythen der Antike mit Phänomenen der Moderne und der technisierten Welt. Hier fügt er sich in ein Grundmuster des expressionistischen Denkstils ein, das in Georg Heyms Gedicht Der Gott der Stadt ikonografisch zum Ausdruck gebracht wird und dessen Verse zu stehenden Wendungen geworden sind. Goll hat diese Topoi aufgenommen und mit seiner eigenen Bildwelt angereichert, seine Biographie darin gespiegelt. Die klassische Dualität von Liebe und Tod spielt in seinen Gedichten ebenso eine zentrale Rolle. Diese Aspekte treten vor allem in seinen frühen Gedichten prägnant hervor, wenn er die griechische Sage des Dichters Orpheus aufgreift. Orpheus reist in die Unterwelt, um seine verstorbene Frau Eurydike zurückzuholen. Es wird ihm gestattet, unter der Bedingung, auf der Rückkehr aus der Unterwelt nicht auf sie zurückzuschauen. Doch Orpheus packt Angst und Sorge, und er schaut während des Weges nach Eurydike, die daraufhin sofort verschwindet und in den Hades zurückkehren muss. Orpheus galt den Griechen als Erfinder der Kunst und des Tanzes, er gehört zu den in Literatur, Kunst und Musik am meisten adaptierten Stoffen, quer durch alle Stilrichtungen von Populärbis Hochkultur. Er steht sinnbildlich für die Harmonie zwischen Natur und Kunst. In Golls Lyrik personifiziert Orpheus die Entfremdung und Verunsicherung des Menschen in der technisierten Welt. Die Gedichtzeile „Jeder ist Orpheus“ bringt dies zum Ausdruck und verweist auf ein bei Goll häufig auftretendes Narrativ: der Mensch der Moderne sucht in der Unterwelt, im Moloch der Großstadt, sein verlorenes Glück und scheitert. Zugleich spiegelt sich Goll selbst im Dichter Orpheus und in dem Paar Orpheus und Eurydike die Beziehung zu seiner Frau Claire, wie er Künstlerin und Dichterin. Der Aufsatz möchte am Beispiel der Orpheus-Figur und der strukturell mit ihr zusammenhängenden Unterwelt-Thematik in Golls Werk Konstanten und Varianten in der Spiegelung einer mythologischen Figur und der Darstellung von Mythen allgemein illustrieren, denn das Motiv und von ihm ableitbare, mit ihm verschränkte Topoi und Symbole durchziehen Golls gesamtes Schaffen. Dabei lassen sich Entwicklungslinien skizzieren: der Orpheus 156 Hermann Gätje in Golls Spätwerk trägt unter dem Einfluss von Krankheit und biografischen Erlebnissen andere Züge als der des frühen Werks, auch die Unterwelt-Darstellungen sind anders akzentuiert. Am Beispiel einiger repräsentativer Texte werde ich dies illustrieren. 1 In zwei Gedichten, die in den Jahren 1918 und 1924 veröffentlicht wurden - sie tragen den Titel Der neue Orpheus bzw. Der Neue Orpheus -, erscheinen diese Motive in ihrem Zusammenwirken am deutlichsten und in ihrem Konnex offensichtlich, weil Goll hier den Orpheus-Stoff konkret adaptiert und ausgestaltet. Beide Gedichte hängen zwar fassungsgeschichtlich zusammen, doch sind sie in Inhalt, Stil, Form und Struktur so unterschiedlich, dass man von zwei verschiedenen Texten sprechen kann. Dies zeigt sich schon in der Länge: Das erste umfasst in der Werkausgabe der Gedichte sechzehn Seiten, das zweite vier, wobei die Textmenge der zweiten Fassung durch Zeilensprünge verhältnismäßig noch geringer ist. 2 Beim ersten Text, untertitelt Eine Dithyrambe , handelt es sich um ein längeres Erzählgedicht in rhythmischer Prosa, besonders charakteristisch sind seine parataktischen kurzen Sätze in expressionistischer Manier. Das zweite Gedicht komprimiert und verdichtet die Erzählung und betont formal durch Verknappung und Zeilensprünge stärker das lyrische Element. Dieses 1924 publizierte Gedicht, 1923 bereits in einer leicht abweichenden französischen Fassung veröffentlicht, 3 gehört zu Golls bekanntesten, es wurde von Kurt Weill vertont und gilt der Forschung als exemplarischer Text im Hinblick auf Fragen der Intermedialität und Transmedialität. 4 Beide Gedichte übertragen den Orpheus-Mythos in die Gegenwart. Orpheus, der als „ewige[r] Dichter der Welt“ den Einklang von Mensch und Natur verkörpert, findet sich in der entfremdeten Welt des modernen Menschen: „Sträflinge“ „in Fusel und Armut“, „grauen Städte[n]“. 5 Die Menschheit hockte unten an der Erde. Er fühlte sie fern wie die Geliebte in der Unterwelt. Als Gott der Kunst mußte er sie befreien. Und Orpheus stieg in die menschliche Unterwelt. 6 1 Yvan Golls Gedichte werden im Folgenden zitiert nach: Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Band I: Frühe Gedichte 1906-1930; Band II: Liebesgedichte 1917-1950; Band III: Jean sans Terre / Johann Ohneland; Band IV: Späte Gedichte 1930-1950. Berlin 1996. 2 Vgl. Der neue Orpheus. Eine Dithyrambe (1918). In: Goll: Die Lyrik (Anm. 1), Bd. I, S. 95-111; Der Neue Orpheus (1924). In: ebd., S. 247-250. 3 Ebd., S. 214-218. 4 Vgl. den Beitrag Der Neue Orpheus. Transmediale Konstruktionen des Orpheus-Mythos im Werk von Yvan Goll, Kurt Weill und Jean Cocteau von Matthias Müller-Lentrodt. 5 Goll: Die Lyrik (Anm. 1), Bd. I, S. 95. 6 Ebd., S. 97. „Jeder ist Orpheus“ 157 Die erste Fassung von 1918 schildert Orpheus’ Reise in die Gegenwart, seine deprimierenden Erfahrungen dort, die Rückkehr in seine Welt und entwirft die Vision seiner Wiederkehr im dritten Jahrtausend, wo man ihm eine Kathedrale gebaut hat und er der Menschheit die Absolution erteilt. Das zweite Gedicht stellt Orpheus hingegen lakonisch als Zeitgenossen vor, der von seiner Umwelt nicht als ewiger Dichter, sondern als Durchschnittsmensch wahrgenommen wird, was die litaneihafte Wiedergabe seiner biometrischen Daten und persönlichen Eigenschaften ironisch pointiert: O Zeitgenosse, sehr geehrter Herr! Orpheus ist zu dir gekommen Von den griechischen Hügeln In die Ackerstraße des Alltags Ist der neue Dichter gestiegen 7 Orpheus: wer kennt ihn nicht: 1 m 78 groß 68 Kilo Augen braun Stirn schmal Steifer Hut Geburtsschein in der Rocktasche Katholisch Sentimental Für die Demokratie Und von Beruf ein Musikant 8 „Vergessen hat er Griechenland“ 9 und muss sich erst als Klavierlehrer, Autor von Couplets, Kirchenorganist durchschlagen, schließlich wird seine Musik dank der Technik von Grammophonen sogar massenhaft vervielfältigt, er gibt Konzerte: „Orpheus wird zum Genie / Er reist von Land zu Land“. 10 Doch trotz des vermeintlichen Erfolges sieht Orpheus die Intention seiner und der Kunst überhaupt verfehlt, denn seine Musik wird als Unterhaltung wahrgenommen und bleibt bei den Menschen letztlich ohne tiefere Wirkung. Doch es ist ihr eigentlicher Zweck, den Menschen auf seiner Suche nach Liebe, Schönheit und einem erfüllten Lebenssinn zu beflügeln: 7 Ebd., S. 248. 8 Ebd., S. 247 f. 9 Ebd., S. 248. 10 Ebd., S. 250. 158 Hermann Gätje Ewig bleibt uns Geschick Eurydike: Das Weib das unverstandene Leben Jeder ist Orpheus 11 Die Lage kulminiert, als Orpheus mit dem Zug von Athen nach Berlin fährt, und er bei seiner Ankunft Eurydike als vulgäres Straßenmädchen am Schlesischen Bahnhof stehen sieht: Eurydike: die unerlöste Menschheit! Und Orpheus sieht sich um Er sieht sich um - und will sie schon umarmen Zum letzten Mal aus ihrem Orkus holen: er streckt die Hand Er hebt die Stimme Umsonst! Die Menge hört ihn schon nicht mehr Sie drängt zur Unterwelt zum Alltag und zum Leid zurück! 12 Orpheus erschießt sich daraufhin im Wartesaal des Bahnhofs. In engem Zusammenhang mit diesen beiden Orpheus-Texten steht Golls Zyklus Die Unterwelt von 1919. Dessen Gedichte kreisen um die Großstadt, beschreiben typische Menschen, Haustiere, Orte, Gegenstände, Situationen und Milieus und fügen sich zu einem lyrischen Mosaik der Metropolen der Moderne und ihrer hinter dem schönen Schein verborgenen Schattenseiten zusammen. Das erste Gedicht Der Styx verweist programmatisch auf den Unterweltfluss und kontrastiert Mythologie und Alltag: „Du aller Städte Styx! “ lautet die erste Zeile, die „Verwanderten der Welt“ „winken wie die Schatten an den Ufern“ „Doch sind sie noch viel toter als die Toten! […] Es braucht kein Charonkahn mit Trauersegeln aufzusteigen! “ 13 Dass das zweite Gedicht den Titel Die Kloaken trägt, lässt auf einen Zusammenhang zwischen der Unterwelt und den bei Goll häufigen Fluss- und Wassermetaphern schließen, der sich in den folgenden Gedichten des Zyklus manifestiert und auf ein an diesen Bildern orientiertes Kompositionsprinzip verweist: Die Quelle , Der Frager vor dem Ozean , Der Kanal oder Der ewige Schiffbruch . Hier lässt sich ein Bogen zu Golls erstem zu Bekanntheit gelangten Gedicht Der Panama-Kanal von 1914 spannen, das den ökologischen 11 Ebd., S. 247. 12 Ebd., S. 250. 13 Ebd., S. 139. „Jeder ist Orpheus“ 159 und soziologischen Einbruch der Technik und der Moderne in eine archaische unberührte Natur thematisiert. Golls in den Gedichten erkennbare Reserviertheit der Großstadt gegenüber ist gewiss nicht nur rational oder sozialpolitisch begründet, sie ist auch in seinem Temperament und seinem Lebensgefühl fundiert. Briefe an seine Frau aus der Lebensphase, in der die erwähnten Gedichte entstanden, korrespondieren mit ihrem Inhalt. Goll war nach dem Krieg aus der Schweiz nach Paris gezogen, hielt sich auch zeitweise in Berlin auf, 1919 hatte er Claire geheiratet. Am 27. Oktober 1921 schreibt er an sie: Die ganze Woche aber war ich blöd blöder am blödsten. Gehetzt wie ein wildes Tier. Wozu? […] D-Zug-Staub. Erledigt kam ich dann in X an. In tiefer Nacht. Trostlos. Und um Mitternacht nach Nancy, wo ein armes Mütterlein am Perron stand. […] Erst heute früh kam ich wieder zu mir: Wanderung in mein herbes herbsthaftes Lothringen. Alte Wege, Mauern, Weinberge. Einen Tag, diesen einzigen wohl im Jahr, schenkte ich dem Gras und der Sonne. Und diese waren so dankbar, daß sie mich beinahe wieder gesund machten. Ach, nur eine Stunde Sonne. Wir hatten keine in Paris noch in Berlin. 14 Dieser Brief weist einige markante intertextuelle Bezüge zu Der Neue Orpheus von 1924 auf. Die öde Bahnfahrt verweist auf Orpheus Fahrt nach Berlin. Hier bietet sich ihm am Bahnsteig der triste Anblick eines armen Mütterleins, im Gedicht löst die zum Straßenmädchen mutierte Eurydike einen Schock aus. Im Brief klingt an, dass die Eisenbahn generell für Goll immer Technik und Moderne assoziiert, in späteren Gedichten wird die U-Bahn zur Chiffre für die Unterwelt. Der positive Kontrast dazu, die Wanderung durchs herbsthafte Lothringen, findet in Orpheus Entsprechung, denn er wird im Gedicht als „Musikant des Herbstes“ charakterisiert. 15 Man muss bei solchen Äußerungen bedenken, dass sie auf momentanen Stimmungen beruhen, an einigen Stellen äußert Goll sich positiv über Paris, Berlin jedoch bleibt ihm immer suspekt. Dennoch kristallisieren sich in der Gesamtschau der Briefe Tendenzen heraus, die mit seinen Gedichten kongruieren: Menschenansammlungen, die Kulturszene, Hektik bleiben ihm fremd, er sucht gerne Parks auf, sehnt sich nach Natur und Sonne, seine oft zum Ausdruck gebrachte Affinität zur Jahreszeit Herbst sticht hervor. Der skizzierte Komplex von Motiven, Denkmustern und Bildassoziationen findet sich in Golls Lyrik bis in die Mitte der 1920er Jahre wiederholt und variiert in mehreren Texten. So zum Beispiel im Gedicht Toboggan (ein Fahrgeschäft auf 14 Iwan Goll / Claire Goll: Briefe. Mainz und Berlin 1966, S. 33. 15 Goll: Die Lyrik (Anm. 1), Bd. I, S. 247. 160 Hermann Gätje Jahrmärkten) von 1922. In Der Neue Orpheus von 1924 ist „[d]ie Achse der Welt [ist] rostig geworden“, 16 in Toboggan „ist die geölte Erdachse [von Turbinen] getrieben“, „[d]ie Nitralampe der Sonne gehört der AEG “, „Juno schüttet Kölnisch Wasser auf die Zwillinge“, „[d]ie Pfeiler der Erde sind rostig“, „[d]er Acheron“ [neben dem Styx einer der fünf Flüsse der Unterwelt] „läuft vor Leichen über“, „[a]lle Luftschiffe sind nur Seifenblasen der Freiheit / Platzen“. 17 In Golls späteren Gedichten taucht das Orpheus-Motiv seltener und auch nicht in solch exponierter Form auf. Dies entspricht der Entwicklung seiner Lyrik generell. Während die früheren Gedichte sehr expressionistischen und darauf folgend surrealistischen Paradigmen verhaftet sind, häufig klassische Motive, standardisierte Bilder und Topoi aufgreifen, wird Golls späteres Werk zunehmend subjektiver und vor allem hermetischer. Damit gewinnt es an Individualität, wird stilistisch vielschichtiger und mehrdeutiger, entzieht sich jedoch zunehmend der Interpretation. Die Gegenüberstellung mit Gedichten aus der frühen Schaffensphase im Hinblick auf Motivüberschneidungen und Anklänge kann jedoch Deutungshorizonte für die Verschlüsselungen späterer Texte geben. Im Folgenden werde ich exemplarisch einige spätere Gedichte auf Verweise und versteckte Anspielungen auf das Orpheusbzw. Unterweltmotiv und die erwähnten Bildkomplexe betrachten. Seit Anfang der 1920er Jahre verfasst Goll, meist gemeinsam mit seiner Frau Claire, Zyklen von Liebesgedichten, die in poetische Dialoge fließen, in denen sich Texte „Ivan à Claire“ und „Claire à Ivan“ abwechseln. Schon die frühen Liebesgedichte antizipieren in ihrem subjektiven, persönlichen Gestus das spätere Werk Golls. In diesen Texten gewinnt der Orpheus-Mythos eine andere Dimension. Beispielhaft ist das 1924 entstandene Gedicht Orphée (aus dem Zyklus Ivan à Claire ), das postum in der Sammlung Duo d’amour veröffentlicht wurde: Ich steig in jeden Autobus Wo eine Frau mit einem Samthut sitzt Und Traum um die Augen wie du! In allen Opernhäusern such ich die Logen ab, Für jeden Dampfer nach Thule hab ich Karten: Seit ich, Eurydike, dich verlor, Weil ich mich einmal umsah, Muß ich mich umsehn Nach allen Frauen der Erde. 18 16 Ebd. 17 Ebd., S. 318. 18 Ebd., Bd. II, S. 475. „Jeder ist Orpheus“ 161 Hier steht im Gegensatz zu den oben behandelten expressionistisch geprägten, zeitkritischen Gedichten nicht die Rolle Orpheus als Gott der Kunst im Fokus, sondern der Liebende, der seine Geliebte verloren hat. Möglicherweise spielt das Gedicht auf eine persönliche Angelegenheit zwischen dem Schriftstellerpaar an. So könnten Autobus, Samthut, Opernhäuser Chiffren sein. In seiner Symbolik schlüssig ist der Verweis auf den Mythos von Thule, die sagenhafte Stadt verweist auf die Suche bis ans Ende der Welt. Am Schluss wird das Gedicht in der Doppelbedeutung des Wortes „umsehen“ sprachspielerisch pointiert. Ähnlich, aber nicht so rätselhaft ist ein nur mit Ivan à Claire / Ivan an Claire überschriebenes Orpheus Gedicht, das sich zweisprachig in der Sammlung Poèmes de Jalousie von 1926 findet: Orpheus betörte die gähnenden Panther Die samtenen Maulwürfe, Den hysterischen Vogelstrauß, Die vierstöckigen Walfische, Die unverstandenen Pfauen, Die bürgerlichen Hummeln, Die Skorpione. Aber du, Gefährlichste von allen, Mit welchem Gesang Bezwinge ich dich? 19 Die Legende, dass Orpheus mit den Tieren sprach, wird hier originell anthropomorphisiert. Dass Orpheus und Eurydike als Rollen im Dialog zwischen Yvan und Claire fungieren, zeigt sich darin, dass Claire sich als Eurydike an Ivan wendet (in der Sammlung Poèmes d’amour , 1925) Folge mir da, neuer Orpheus, Nicht in die Unterwelt nach, An jeder Straßenecke erwarte mich; Denn selbst aus des Todes Umarmung Kehrt mein unsterbliches Herz zu dir zurück. 20 Claire spielt hier auf die Gedichte um den „neuen Orpheus“ und ihren Autor an, und schlägt so eine intertextuelle Brücke zu diesen. 19 Ebd., S. 63. 20 Ebd., S. 45. 162 Hermann Gätje Die politische Entwicklung seit 1933 bleibt nicht ohne Spuren auf die Lyrik Yvan Golls und verstärkt seine Distanz zum Deutschen. Er hat bereits seit den 1920er Jahren zunehmend auf Französisch geschrieben, was mit seiner stärkeren Hinwendung zum Surrealismus zusammenhängt, der einer französischen, symbolistisch geprägten Tradition literarischen Entwicklungslinie entspringt, die personell repräsentiert von Baudelaire zu Apollinaire führt. Es ist ein wesentliches Charakteristikum von Golls Lyrik, dass seine Texte eine Synthese beider Kulturtraditionen darstellen. So lassen sich in expressionistisch geprägten Texten wie Der neue Orpheus Elemente des Symbolismus erkennen, zumal die Figur des Orpheus in dieser französischen Tradition eine ganz besondere Rolle einnimmt. Man denke an den von Apollinaire geprägten Begriff Orphismus für eine Stilrichtung des modernen Kubismus. An dem 1936 erschienenen französischen Gedichtzyklus Métro de la mort lässt sich Golls Entwicklung demonstrieren. In diesem Band wird wieder die oben skizzierte Opposition Großstadt-Natur pointiert. Doch die Gedichte wirken pessimistischer, bitterer, vor allem weil ihnen die hintergründige Ironie der Gedichte um den „neuen Orpheus“ fehlt. Eine bemerkenswerte Parallele zu den früheren Texten zeigt sich darin, dass die Sammlung wie die Unterwelt von 1919 mit einem Gedicht über den Unterweltfluss Styx beginnt: Métro Styx , das die Unterwelt mit der Untergrundbahn allegorisiert und damit das Eisenbahn-Motiv wieder aufgreift. Doch während das oben zitierte Gedicht Der Styx von 1919 wortreich und appellativ expressionistisches Pathos und Ironie verknüpft („Du aller Städte Styx! “ 21 ), indem es Mythos und Alltag pointiert kontrastiert und ihm unmittelbar ein Gedicht über die Kloaken folgt, erscheint Métro Styx düster und knapp: Métro Styx Ombre grêle et hâtive Passager quotidien Quitte la triste rive Sur le fleuve de Rien Descends descends le Styx Dont l’onde de mercure Toujours s’écoule et dure 21 Ebd., Bd. I, S. 139. „Jeder ist Orpheus“ 163 L’oeil de l’horloge fixe Tes départs tes retours Car tu reviens toujours Le temps use ta tempe La peur ronge tes yeux Et dans ton crâne flambe Le grand rêve des dieux Mais les rames se pressent Ombre il te faut partir Et toujours revenir Vers la même détresse 22 Die tägliche U-Bahn-Fahrt wird zu einem Abstieg in die Unterwelt, doch immer wieder muss man zurückkehren und wiederkehren. In der in dem Gedicht zum Ausdruck gebrachten Vergeblichkeit klingt der Sisyphos-Mythos an. Charakteristisch für den düsteren Ton und die verschlüsselte Symbolik des Zyklus ist auch das Gedicht Eurydike , welches auch in einer deutschen Fassung existiert: Eurydike Am Eingang der Hölle Auf dem Quai des Vergessens Verließest du mich ohne dich umzusehen Ich konnte dir die Eisenblumen nicht pflücken Vom Gitter das unsre Leben trennte Ich blieb allein zurück In unsrer gealterten Straße Aus der Vergangenheit stapfte Ein weißes Pferd hervor Roch das Salz meiner Tränen Und leckte meine Hände 22 Ebd., Bd. IV, S. 9. 164 Hermann Gätje Eine alte Zeitung im Winde flatternd Hielt ein um meine Füße zu bedecken Gegen die kalte Einsamkeit 23 Ähnlich wie in dem oben zitierten Gedicht „Orphée“ von 1924 variiert Goll hier die Bedeutung von „umsehen“ im Vergleich zum Narrativ des überlieferten Mythos. Zwischen 1936 und 1944 entstand Golls (primär in Französisch verfasstes) poetisches Opus magnum Jean sans Terre , von dem zu seinen Lebzeiten nur einige Teile erschienen. In dem Namen und der Figur des legendenumrankten englischen Königs allegorisiert Goll sein Leben und seine Existenz zwischen den Kulturen. Als Gesamtkomposition spiegeln die - für Goll eigentlich untypisch - metrisch-gereimten Texte seine Person und Stationen seines Lebens bis ins New Yorker Exil, wohin die Golls nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geflohen waren. Eine signifikante Adaption des Orpheus-Stoffes findet sich in diesem Zyklus zwar nicht, zumal das lyrische Ich in allen Gedichten auf das an einem quasimythischen Vorbild ausgerichtete Alter ego des Autors, Johann Ohneland, fokussiert, doch werden alle Themen von Golls bisherigem Werk aufgegriffen: Großstadt, Natur, Liebe, Tod. Und dabei finden sich in früheren Gedichten mit der Orpheus-Figur verknüpfte Motive in dem neuen, autobiographischen Kontext wieder: Johann Ohneland in der Hölle […] Die Schattenmenge Der stygischen Flut Die sich auf die Hänge Des Nichts entlud Und des Stromes kompakte Unbezähmbare Macht Gräbt Katarakte In den Métro-Schacht […] 23 Ebd., Bd. II, S. 214 f. Vgl. die französische Fassung ebd., Bd. IV, S. 18 f. „Jeder ist Orpheus“ 165 Doch die tausend Monde Dieser Unterwelt Haben niemals den Urgrund Des Schicksals erhellt […] Bin dir zum Bestatter Und Sänger erkorn Dich Stadt will ich schlachten Dein Herz mir schmorn Stadt dein Gekröse Deine Milz reiß ich aus Deinen Fettdarm geb ich Den Ratten zum Schmaus Sieh dir dein Gomorrha Im Blutregen an Doch noch vor dem Frührot Fliehst du Johann! 24 Das Gedicht weist intertextuelle Bezüge zu den Texten um den „neuen Orpheus“ auf, die im Kontext offensichtlich werden, wenn vom „erkorn[en]“ „Sänger“ gesprochen wird. Die in diesem späteren Gedicht drastisch ausgedrückte Wut und Aggression weist im Ton Unterschiede zu den von bitterer Ironie und Melancholie getragenen früheren Gedichten auf. Die mythischen Bezüge sind auch in Jean sans Terre zahlreich, ebenso die für Golls Lyrik charakteristische Kontrastierung von Mythos und Alltag. Seine Verweise stammten schon immer aus den verschiedenen Kulturkreisen, neu ist nun, dass er sich in den USA intensiv mit amerikanischen, indianischen Mythen beschäftigt, was sich in zahlreichen Gedichten niederschlägt, besonders in der 1942 bis 1946 entstandenen Iphetonga Elegie , in Französisch verfasst und von Claire Goll ins Deutsche übertragen. Das Großgedicht kontrastiert das New York der Gegenwart mit seiner indianischen Vergangenheit als unberührte archaische Landschaft. Wieder gewinnt die Wassermetaphorik eine zentrale Bedeutung. Der Lackawanna-Fluss wird zu einem mythischen Strom, in dem Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod 24 Ebd., Bd. III, S. 55-59. 166 Hermann Gätje in Symbolen aus verschiedenen Kulturkreisen zu einer Allegorie zusammenfließen. Der für Golls Weltsicht typische Gegensatz von Natur und Großstadt wird prononciert. In diesen neuen topografischen Kontext lässt er das Motiv der Unterwelt und des Styx einfließen, der Weg zur Unterwelt führt über das New Yorker Slumviertel Bowery: IX Charon’s Fähre legt an der Bowery an Die Schläfer der Morgue sagen die Messe Die Herbstzeitlose der Straßenlampe Blüht dem letzten Tag entgegen Krambuden von Piräus! Barbiere von Chosros! Fleischer von Sodom! Der Hahnenschrei kündigt ein Totenmahl an Unter der Drehtür des Elixierhotels Sickert der erste Blutstropfen hervor Leicht gebeugt fliegt der einzige Engel fort Und mein Schatten steigt hinunter die Treppe des Grauens 25 Die hier erkennbare Entwicklungslinie Golls zu einer verstärkten Hermetik setzt sich in seinen letzten Gedichten fort, die sich in den aus seinem Nachlass herausgegebenen Sammlungen Das Traumkraut und Neila. Abendgesang finden. Sie sind unter dem Eindruck der schweren Krankheit und dem Wissen um den nahen Tod entstanden. Auch das Leid des jüdischen Volkes, die nationalsozialistischen Verbrechen, bleiben nicht ohne Spuren in seinem Werk. Die Texte greifen zwar nicht signifikant oft, aber doch häufiger als früher jüdische Mythologien auf. All dies fließt in Golls Spätwerk zusammen. Es scheint, Goll kehrt am Ende seines Lebens wieder zu seinen Wurzeln zurück: er besinnt sich seiner jüdischen Herkunft und schreibt wieder in Deutsch. 26 Die Texte sind geprägt von dem Versuch, Worte für das Unsagbare zu finden, den Tod in Worte zu fassen. Sie sind gezeichnet von der Ungewissheit und Angst 25 Ebd., Bd. IV, S. 373. 26 Die hier konstatierte stärkere Rolle von Motiven aus dem jüdischen Kulturkreis war Gegenstand der Diskussion über diesen Beitrag während der Tagung „Konjunktionen“. Barbara Wiedemann verwies darauf, dass die Autorschaft dieser späten Texte zwischen Yvan und Claire Goll nicht eindeutig zuzuweisen sei und die stärkere Akzentuierung des Jüdischen mutmaßlich auf Claire bzw. deren Einfluss zurückgehe. „Jeder ist Orpheus“ 167 vor dem Jenseits, dem Versuch, den Tod durch Liebe zu überwinden, worin sich eine Affinität zum Orpheus-Mythos zeigt: Was klage ich, solang noch deine Hand In meiner Hand erblüht Wie eine Rose von Jericho […] Was fürcht’ ich der Weltennacht Solange ich deine Lippen wandern hör […] 27 Auch wenn hier das Unterwelt-Styx-Motiv nicht mehr explizit auftaucht, findet sich das Bild variiert wieder, im folgenden Beispiel invertiert er es: Geliebte du mein Strom An deinem rechten Ufer steht das Vergangene An deinem linken Ufer wandert das Werdende Zusammenströmend singen wir Gegenwart Sie sehen uns nach, die Bäume der Verwesung Sie fliegen uns voraus, die Vögel der Erlösung In deinem rechten Auge bin ich Licht In meinem linken Auge bist du Schatten Die Sonne rollt von deiner rechten Schulter Der Mond verweilt in meiner linken Hand Geliebte, ich dein Strom Zusammenfließend schweigen wir die Gegenwart 28 „Wasser“, genauer: reines Wasser, wird in den Gedichten zu einer Chiffre für Leben: Stunden Wasserträgerinnen Hochgeschürzte Töchter Schreiten schon herab die Sonnentotenstraße 27 Goll: Die Lyrik (Anm. 1), Bd. II, S. 381. 28 Ebd., S. 328. 168 Hermann Gätje Auf den Köpfen balancierend Einen Krug voll Zeit Eine Ernte ungepflügter Tropfen Die schon reifen auf dem Weg hinab Wasser Wasser immer weniger weniger Wasserfälle Flüsse Tränen Nebel Dampf Immer weniger Tropfen immer weniger Zeit Schattenträgerinnen Schon vergangene schon verhangene Ewigkeit 29 Setzt man diese Passagen in Bezug zu den früheren Texten zeigt sich evident, wie sehr Goll Wasser und Flüsse als Lebensmetaphern verinnerlicht hat. Die Natur, das Leben werden im reinen Wasser versinnbildlicht: einem Quell oder dem archaischen Lackawanna. Dem gegenüber stehen die Gewässer der Zivilisation: „Kloaken“, die Landschaft zerstörende Kanäle (wie der Panama-Kanal); sie werden in seinem Werk signifikant häufig mit dem Unterweltfluss des Styx assoziiert. Ich fasse zusammen: der Beitrag wollte einen exemplarischen Einblick in einen Motivkomplex geben und wie dieser sich in Golls Entwicklung als Lyriker spiegelt. Es sollte aufgezeigt werden, wie bestimmte mythische Stoffe, Motive, Metaphern und Symbole in Golls Werk strukturell verknüpft sind und so einen Einblick in einige für diesen Autor charakteristische Denk- und Bildmuster geben. Im Hinblick auf die vorgestellten Texte erscheint mir vor allem der Dualismus Großstadt - Natur bemerkenswert. Zwar gilt Goll als Großstadtdichter, doch es zeigt sich immer wieder, wie sehr ihm im Grunde das Urbane, ja die Moderne suspekt war und er sich eher zur Natur hingezogen fühlte. Diese Hybridität spiegelt sich in seinem Werk und entspricht seiner „Ortslosigkeit“, der Zwischenexistenz dieses Autors zwischen deutscher und französischer Kultur. In seinem Werk ist ein in seinem Gemüt verankertes Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne erkennbar, er steht zwischen diesen beiden Denkstilen. Es ist dabei bemerkenswert, dass sich darin Parallelen zu Otto Flake zeigen, einem Autor seiner Generation ähnlicher Provenienz. Flake wuchs im Elsass auf und war ebenfalls von beiden Kulturen geprägt. Doch während Flake sich nach einigen experimentellen Versuchen auf die traditionelle, realistische Erzählform des 19. Jahrhunderts festlegte, ist Golls Werk in Stil und Form überwiegend in der Moderne verhaftet. 29 Ebd., S. 317. „Ne touchez pas à mes arbres“ 169 „Ne touchez pas à mes arbres“ Naturmythos und Modernisierung in Yvan Golls Mélusine Manfred Schmeling, Saarbrücken I. Zur Kulturgeschichte der Wasserfrau Die besonderen Fähigkeiten der Melusine, so liest man, garantieren ihr „einen Platz im Pantheon der großen Gründungsmythen des Westens“. 1 Diese Formulierung mag etwas pathetisch klingen, aber richtig ist, dass der erstmals von Jean d’Arras im Jahre 1392 bis 1394 schriftlich vermittelte Stoff bis in unsere Gegenwart hinein an Aktualität und Bedeutung nicht verloren hat. Wenn Yvan Golls Theaterstück den Titel Mélusine trägt, so bedeutet das allerdings nicht, dass die dort thematisierten Eigenschaften einer Frau mit Fischschwanz den Namen Melusine in unproblematischer Weise verkörpern. Golls Protagonistin dürfte eigentlich keinen Fischschwanz besitzen, wenn sie stolz verkündet: „Ich heiße Melusine“. 2 Denn ein solches Wesen besitzt ursprünglich einen Schlangenbzw. Drachenschwanz, ein Attribut, das erst im Mittelalter auftaucht und auf christlichen Vorstellungen beruht. Die komplizierte Kulturgeschichte der im oder am Wasser lebenden Gestalten kann man unter anderem an der Namens- und Formenvielfalt ablesen. Melusine ist ein Name unter vielen. Sie gehört zu den „weibliche[n] Naturgottheite[n] niedrigen Ranges“ wie die Sirene, die Undine, die Nixe, die Loreley oder die Rusalka. 3 Der semantische Kern, die problematische Begegnung zwischen einem Elementarwesen und einem Menschen ist allen Varianten gemeinsam. Die Motive von Verlockung und Tod bilden das Zentrum aller Bearbeitungen des Mythos, schon bei Homer: In der Odyssee befinden sich die als Vogelfrauen imaginierten Sirenen im Blickfeld von Odysseus auf einer Wiese, und um sie herum liegen menschliche Knochen verstreut: „Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen, / Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine / Modernder Menschen umringt und 1 Mélusine. Moderne et Contemporaine. Études réunies par Arlette Bouloumié avec le concours d’Henti Béhar. Lausanne 2001. Vgl. Buchrückentext. 2 Yvan Goll: Mélusine. Édition des versions françaises et allemande établie à partir des manuscrits et présentée par Alain Montandon. Clermont-Ferrand 2001, S. 172. 3 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. Koblenz 2014, S. 938. 170 Manfred Schmeling ausgetrockneten Häuten.“ ( XII . Gesang, V. 39-46). 4 Die Todesarten variieren im Verlaufe der Deutungsgeschichte: Bei Yvan Goll verbrennen die Protagonisten. Unter dem Einfluss der Elementarwesen-Lehre des Paracelsus, der im Liber de nymphis die Melusine als aquatischen Geist beschreibt und entdämonisiert, 5 übernehmen Rezipienten allerdings nur noch selten die antike Form der Sirene als weibliches Zwitterwesen mit Vogelbeinen, sondern zeigen eine deutliche Präferenz für die Mensch-Fisch-Variante, auch dort, wo sie die Gestalt „Melusine“ nennen. Zahlreiche Bearbeitungen des Themas gehen der Mélusine von Yvan Goll voraus, viele folgen nach. Der in der Histoire de Lusignan von Jean d’Arras um 1400 gestaltete Melusinen-Stoff hat die spätere Rezeptionsgeschichte entscheidend mitgeprägt, vor allem aufgrund der dort geschilderten Tabu-Verletzung. Wenn die Liebe eines Menschen zu einem Naturwesen für diesen Stoff charakteristisch ist, so geht es aus der Perspektive der Frau nicht nur um eine Liebesbeziehung, sondern auch um die Teilhabe an der christlichen Welt der Menschen. In die Heirat willigt Melusine unter der Voraussetzung ein, dass der Gatte sie an Samstagen gewissermaßen „in Ruhe lasse“. 6 Als dieser sie durch ein Guckloch in der Tür dennoch im Bade beobachtet und damit das Versprechen bricht, verwandelt sie sich in ein Monstrum mit Schlangenschwanz und entzieht sich ihm, wie es sich für drachenähnliche Wesen gehört, über den Luftweg. Die Deutung, dass es sich bei den Wasserfrauen um erlösungsbedürftige Geschöpfe handelt, die durch die Ehe mit einem Menschen eine Seele erhalten, findet sich erst in Paracelsus’ Liber de Nymphis sowie in der durch ihn mit angeregten Undine -Erzählung (1811) des Romantikers Friedrich de la Motte Fouqué. La Motte Fouqué, dessen Undine auch Goll als Grundlage gedient haben könnte, gestaltet den Wandel von der wilden, naturhaften Kindfrau zur Ehefrau; d. h. mit der Seelengewinnung scheinen das Kreatürliche und die erotische Anziehungskraft weitgehend neutralisiert. Im Unterschied zu Yvan Goll, dessen Melusine, Adoptivtochter bürgerlicher Eltern, ohne weibliche Konkurrenz bleibt, erzählt La Motte Fouqué die Geschichte von einem Mann zwischen zwei Frauen. Dass Undine nach dem Treuebruch durch ihren Ritter Huldbrand, der sich für die in Adelskreisen verkehrende Berthalda entscheidet, in ihr Element zurück- 4 Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voss. Düsseldorf und Zürich 2002, S. 602. 5 Theophrast von Hohenstein (Paracelsus): Das Buch von den Nymphen, Sylphen, Pygmaeen, Salamandern und den übrigen Geistern. Faksimile der Ausgabe Basel 1590. Übertragen und mit einem Nachwort versehen von Gunhild Pörksen. Marburg 1996. 6 Andere Versionen sprechen von einem bestimmten Tag im Monat: „[…] impure une fois par lune […]“. Vgl. Jacques Le Goff: L’Imaginaire médiéval. Paris 1985. (Zitiert nach: Vic De Donder: Le chant de la sirène. Paris 1992, S. 105.) „Ne touchez pas à mes arbres“ 171 kehrt, kann man als Absage Fouqués an rationalistische Lebensvorstellungen werten. Der Gegensatz von Natur und Gesellschaft, der im Mittelalter durch den Glauben, um nicht zu sagen Aberglauben, überbrückt wird, bleibt letztlich unaufgelöst. Romantische Naturvorstellung, patriarchalisches Frauenbild sowie der märchenhafte poetische Grundton geben dieser Erzählung einerseits ein idyllisches Gepräge, andererseits bleibt die Vereinigung mit dem Fremden und Anderen, die Überschreitung der Grenze, eine unbefriedigte Sehnsucht. So erscheint der Mythos der Wasserfrau als ein Modell des Begehrens und der enttäuschten Glückserwartung zugleich. Das Zwei-Welten-Schema (Natur-Seele, Mythos-Gesellschaft) erweist sich als außerordentlich beständig. Wir finden es in Ludwig Tiecks Sehr wunderbaren Historia von der Melusina (1800), in Hans Christian Andersens Die kleine Seejungfrau (1837) sowie in den modernen Interpretationen des Mythos wieder, unter anderem in Giroudoux’ Ondine (1938), in Tomasi di Lampedusas La Sirena (1956), in Ingeborg Bachmanns Undine geht (1956 / 1957) und in dem Roman Die Sirene (1980) von Dieter Wellershoff. Der Versuch, die Grenze zwischen den Antipoden zu überschreiten, gilt auch für das Thema ‚Liebe und Tod‘, das bis in die Romantik hinein (Fouqués Undine gibt ihrem Ritter den Todeskuss), ja auch noch in Heinrich Heines Loreley -Lied oder in Literatur und Kunst des Fin de Siècle, mit einer Dämonisierung des Weiblichen einhergeht. Zumindest einige Komponenten des Themas finden wir in Golls Mélusine wieder. Auf der anderen Seite erfüllt die Literatur-Nixe in letzter Zeit zunehmend kultur- und gesellschaftskritische Aufgaben im Sinne einer Revision männerzentrierter Urteile und Vorurteile über das Weibliche: Wenn „Undine geht“, wie der Titel einer Erzählung von Ingeborg Bachmann lautet, 7 so ist das ein emanzipatorischer Akt, sowohl gegenüber allen, „die Hans heißen“ - gemeint sind die Männer schlechthin -, als auch unter der Prämisse, dass die Geschichte der literarischen Wasserfrauen heute neu und anders geschrieben werden müsse. 8 II. Die dramatische Handlung Golls Mélusine, Drama in vier Akten, bleibt gegenüber der gender-kritischen Perspektive Bachmanns eher unverbindlich. Das Stück spielt in Frankreich. Die französische Fassung ist konkreter als die deutsche: Schauplatz ist eine Villa in „Ermonville“, einem Städtchen in der Picardie, 45 Kilometer von Paris entfernt. 7 Ingeborg Bachmann: Undine geht. Erzählungen. Leipzig 1973. 8 Zur neueren wissenschaftlichen Rezeption vgl. Anke Bennholdt-Thomsen / Alfredo Guzzoni: Melusine und andere Wasserfrauen in Yvan Golls Schauspiel und der Lyrik des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2014. 172 Manfred Schmeling In der deutschen Version liest man: „Eine bescheidene Villa an der Peripherie einer Großstadt.“ 9 Die Umwelt, ein Park in der Nähe des Hauses, ist das zentrale Motiv, denn dieser Park verkörpert gewissermaßen die Welt der Melusine, die unberührte Natur, im Unterschied zur Alltagswelt, die im ersten Akt reichlich profan ausschaut. Melusines Mann, Oleander, beschwert sich über die mangelnde Häuslichkeit seiner Frau, die doch tatsächlich vergessen hat, ihm morgens um sieben Uhr das Rasierwasser aufzukochen. Melusine lebt in einer Art Zwangsheirat und nennt Oleander einen „Spießer“. 10 Sie findet zunächst eine Fürsprecherin in ihrer Stiefmutter, Madame Lapérouse, die zugleich die frühere Geliebte des Herrn Oleander war. Hauptvorwurf Oleanders ist, dass Melusine sich ihm entzieht, auch sexuell: „Ich habe nie etwas übrig gehabt für Jungfrauen. Bei Melusine habe ich immer das Empfinden, als ob ich eine Minderjährige verführen sollte.“ 11 Mme Lapérouse mahnt zur Geduld: Sie hat immer im Park drüben gelebt, unter den alten Bäumen oder im wirren Dickicht, unterhielt sich mit den Feen und Nymphen und ersann Faune, vor denen sie Angst haben konnte … Ein wenig Geduld, mein Lieber! 12 Auf der Terrasse des Hauses taucht ein Geometer auf und berichtet, dass der Park an den Grafen von Lusignan verkauft worden sei. Die Bäume des Parks müssten abgeholzt werden, damit neue Gebäude entstehen könnten. Der Graf möchte dort ein Schloss errichten. Melusine schwört, dass sie das verhindern wird: „Rühren Sie meine Bäume nicht an! “ 13 Pythia, die Muhme der Melusine und ebenfalls aus der Märchenwelt stammend, erscheint und klärt Melusine auf: Sie dürfe sich nicht verlieben, denn: „Wenn Du liebst, verlierst Du Dein Geheimnis. Du wirst aus dem göttlichen Geschlecht ausgewiesen. Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, als zu sterben oder Madame Oleander zu werden, eine kleine Bürgersfrau, die ihren Mann betrügt.“ 14 Damit ist bereits das mythische Grundthema der erstrebten, aber unmöglichen Vereinigung von Natur und Seele angesprochen. Die Galerie der Männer, die sich in Melusine verlieben, setzt sich fort mit dem Geometer, der für die Vermessung des Parks verantwortlich ist, dann mit einem Maurer, der aus Liebe zu Melusine verrückt wird und im Wald die Bäume küsst, und schließlich mit einem Architekten, der Melusine auf die Hawaii- Inseln entführen möchte. Er ist verheiratet und hat vier Kinder: „Für Sie verlasse 9 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 155. 10 Ebd., S. 165. 11 Ebd., S. 159. 12 Ebd., S. 158. 13 Ebd., S. 170. 14 Ebd., S. 183. „Ne touchez pas à mes arbres“ 173 ich alles.“ 15 Alle am Bauprojekt beteiligten, d. h. den Park zerstörenden Männer sterben unter mysteriösen Umständen. Pythia trifft mit Oger, einer weiteren mythologischen Gestalt, zusammen, die zwischen der Märchenwelt und der realen Welt eine Art Doppelexistenz führt wie Pythia. Oger war einst verliebt in Pythia, arbeitete als Feldhüter, wanderte nach Amerika aus und sucht nun den Weg zurück zur Natur. Später bekennt er, der „Vater“ Melusines zu sein. Oleander, er ist Immobilienmakler, hätte gerne den Park gekauft und für eigene Bauinteressen genutzt. Aber der Graf von Lusignan ist ihm zuvorgekommen und hat auf dem ehemaligen Parkgelände ein neues Schloss errichtet, „modern und doch klassisch“, wie ein Besucher bei der Schlosseröffnung sagt. 16 Nun verliebt sich auch noch der Graf in Melusine, die die Liebe schließlich ehrlich erwidert: „du hast eine Frau aus mir gemacht.“ 17 Damit ist die Katastrophe losgetreten. Pythia und der Oger vertreten schließlich wieder die Gesetze ihrer Märchenwelt, zu der auch Melusine einst gehörte: „Du hast unser Geschlecht verraten und unsere Legende.“ 18 Sie üben Rache, indem sie das Schloss abbrennen lassen. Die Überschreitung der Grenze durch Melusine - „Ich bin ein Mensch geworden“ 19 - bedeutet zugleich ihren Tod, sie stirbt im Schlossfeuer zusammen mit dem Grafen von Lusignan. III. „Claire-Mélusine“ Jede Wasserfrau hat ihre Zeit, auch die Melusine von Yvan Goll. Genaue Daten über Ort und Zeit der Entstehung der Melusine kennt man nicht. Erste Fassungen seiner Mélusine in deutscher und französischer Sprache entstanden um 1920, wurden seinerzeit aber nicht publiziert. In dieser Zeit siedelten Claire Studer und Yvan Goll nach Paris über, wo sie im Juli 1921 heirateten. Eine Überarbeitung des Stückes scheint aus dem Jahre 1930 zu stammen. Grundlage für diese Annahme ist u. a. ein Brief von Yvan an Claire Goll nach Challes-les-Eaux (22. August 1930): „Ich habe noch die Akten Melusines aus der Bibliothek nachzulesen. Eine sehr geheimnisvolle Dame, über die wenig geschrieben wurde, zu meinem großen Erstaunen. Melusine wird dann eben von mir sein.“ 20 Dass die „geheimnisvolle Dame“ sehr wohl auch 1930 schon häufiger bearbeitet wurde, hätte Goll eigentlich wissen müssen. In einem weiteren Brief vom 14. September 15 Ebd., S. 198. 16 Ebd., S. 210. 17 Ebd., S. 227. 18 Ebd., S. 234. 19 Ebd., S. 235. 20 Claire Goll / Iwan Goll: Meiner Seele Töne. Das literarische Dokument eines Lebens zwischen Kunst und Liebe, aufgezeichnet in ihren Briefen. Neu hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. München 1978, S. 56. 174 Manfred Schmeling 1930 schreibt er, dass der 1. Akt „ungefähr fertig“ sei. 21 Hinsichtlich der zwei Versionen - 1920 und / oder 1930 - existieren in der Forschung allerdings nur vage, z. T. widersprüchliche Angaben. 22 Eine deutsche Version erschien erstmals 1960 im Luchterhand Verlag (Darmstadt) in einer Werkauswahl, 23 die erste französische wurde im Rahmen einer zweisprachigen Ausgabe 2001 von Alain Montandon auf der Grundlage der in Saint-Dié-des-Vosges vorhandenen Skripte herausgegeben. Bei der Frage der zeitlichen Entstehung des Dramas mögen inhaltliche Details etwas weiterhelfen: Die Erwähnung des Pariser Modeschöpfers Patou in Mélusine ist ein Indiz für Golls Versuch, den Stoff zeitgeschichtlich einzubinden. 24 Das Fischschwanz-ähnliche Kleid sei „die neueste Pariser Mode. Ein Modell von Patou“, meint Melusine. 25 Patou, dessen Parfum noch 1976 als „Eau de Patou“ vermarktet wurde, kam 1912 nach Paris, eröffnete dort zunächst ein Mode-Atelier und nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1919 eine Boutique. Er produzierte gehobene, elegante Mode und Sportkleidung für die Damen der Gesellschaft. Die zeitliche Einordnung korrespondiert mit der sozialen Komponente in diesem Theaterstück, das zahlreiche Hinweise auf den gesellschaftlichen Status der Protagonisten bzw. auf soziale Kontraste enthält. Es ist trotz Wasserfrauenträumereien mehr als nur ein romantisches Stück. Alain Montandon betont im Vorwort der Ausgabe von 2001, dass Golls Mélusine ein „œuvre de théâtre assez traditionnelle dans la forme“ und ziemlich weit entfernt von der Modernität und dem Grotesken seiner anderen Arbeiten sei. 26 Hier gilt es zu differenzieren. Wenn man das Stück zum Beispiel mit dem 1919 entstandenen Mathusalem ou l’Éternel Bourgeois vergleicht, 27 das gerne als Groteske mit surrealen Elementen gehandelt wird, so existieren durchaus Parallelen, etwa was die Inszenierung des Zweiwelten-Status betrifft: Moderne versus archaische Welt, prosaische versus poetische Welt, Mythos versus Vernunft, Natur versus Technik etc. Ebenso deutlich sind die Parallelen zwischen Methusalem und Oleander, die den für zeitgenössische Gesellschaftskomödien typischen „Bourgeois“ verkörpern. Golls Mélusine ist trotz der Traumkulisse und trotz stark elegischer Tendenzen ein zivilisationskritisches Werk, das seiner Zeit den Stempel aufdrückt. Darüber hinaus liefern die biographischen Komponenten manche Hinweise zur Einordnung des Stückes, nicht nur wegen der Widmung - „Für Claire-Mélusine“ - sondern auch aufgrund der in Briefen und 21 Ebd., S. 57. 22 Vgl. Goll: Mélusine (Anm. 2.), S. 19 (Einführung von Alain Montandon). 23 Yvan Goll: Dichtungen. Lyrik. Prosa. Drama. Hg. von Claire Goll. Darmstadt 1960. 24 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 219. 25 Ebd., S. 218. 26 Ebd., S. 15. 27 Yvan Goll: Mathusalem ou l’Éternel Bourgeois. Les Immortels. Paris 1963. „Ne touchez pas à mes arbres“ 175 Schriften zu findenden Aussagen. In dem oben zitierten Brief vom 14. September 1930 schreibt Yvan: „Aber etwas von Deinem Geist schwebt von den Wänden doch um mich herum, wenn ich an der Melusine dichte.“ 28 Und dann noch der Nachsatz: „Bete für Melusine und Deinen Iwan.“ Der Melusine-Mythos verschmilzt hier gleichsam mit dem Claire-Mythos! 29 Künstlerpaare pflegen sich gegenseitig zu inspirieren, und für die Beurteilung der Melusine ist dieser Gedanke alles andere als eine quantité négligeable. 30 Sowohl im persönlichen Leben der beiden als auch im Blick auf ihr jeweiliges Frauenbild finden wir Anknüpfungspunkte. Die Möglichkeit einer autobiographischen Lesart wird im Nachhinein von Claire Goll bestätigt, auch wenn sie sich den Fischschwanz der Melusine nicht wirklich anziehen möchte. Sie schreibt in einem Brief an Aribert Reimann, der der das Stück für die Schwetzinger Festspiele 1971 als Oper bearbeitet hat: Den Fischschwanz, mit dem mich mein Mann bekleidete, bin ich nie völlig losgeworden. Völlig unschuldig schleppte ich ihn durch das Leben. Denn nie war mir eine Verwandtschaft mit Sirenen bewusst. Wenn Pythia mir einen Zauber vermacht hat, dann den der Poesie. Aber ich spielte nie mit der Verliebtheit der Anderen wie Melusine. […]. Ich ziehe es vor, in einer Zeit in der die Frauen törichterweise Gleichschaltung mit Männern anstreben, dem aussterbenden Geschlecht der Melusinen angehört zu haben. Ist doch die Waffe einer Frau nicht Virilität, sondern Charme. In sechs Monaten werde ich 80 und man wird mir sicher, bevor man mich in Yvans Grab trägt, ein Sterbehemd mit dem Schuppenschwanz der Meerweibchen anziehen. 31 Ein spielerischer Text, der freilich in sich nicht frei von Widersprüchen ist, denn den Fischschwanz möchte Claire schließlich doch nicht missen. Und wie sie es mit der Liebe hält, das schildert sie unumwunden in ihrer Autobiographie La poursuite du vent ( Ich verzeihe keinem ). 32 Dabei erstaunen weniger ihre Erzählungen über erotische Eskapaden - obschon Kritiker bestreiten, dass die „Skandalnudel Claire Goll“ wirklich eine Affäre mit dem verheirateten Rainer Maria Rilke hatte, die zu Schwangerschaft und Abtreibung führte 33 -, sondern man ist 28 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 57. 29 Zur Biographie von Claire Goll vgl. u. a. Susanne Nadolny: Claire Goll. Ich lebe nicht, ich liebe. Berlin 2002. 30 Gerda Marko: Schreibende Paare. Zürich 1995, vgl. zu Claire und Yvan Goll S. 365-381. 31 Brief von Claire Goll an Aribert Reimann vom 19. April 1971. (Zitiert in: Goll: Mélusine [Anm. 2], S. 15 f., Anm. 23.) 32 Claire Goll: La poursuite du vent. Paris 1976. (Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Ava Belcampo: Ich verzeihe keinem. Bern und München 1978.) 33 Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen. Biografie eines Liebenden. München 2015, S. 225. Vgl. auch Gunnar Decker: Rilkes Frauen oder die Erfindung der Liebe. Leipzig 2004. Das Buch enthält einen Artikel über „Claire Goll, die erotomane Anarchistin“, S. 191 f. 176 Manfred Schmeling verwundert über ihr Frauenbild, das logischerweise ihr Männerbild involviert: „trotz aller feministischen Bewegungen bleibe ich bei meiner Meinung, dass die Frau ein minderes Wesen ist und dem Mann niemals ebenbürtig wird“. 34 Das sind die Worte einer 80jährigen … Interessanterweise hat auch Claire Goll einen Wasserfrauen-Text, Nymphen am Brunnen , geschrieben, der 1929, also wenig früher als die Melusinen-Bearbeitung, entstanden sein müsste. Ich halte es aus methodischen Gründen für gerechtfertigt, ihn im gegebenen Zusammenhang kurz zu präsentieren, denn er stützt die autobiographische Lesart der Mélusine . In der Forschung wurde dieser Zusammenhang bisher nie hergestellt. Es handelt sich um eine Erzählung, die satirisch mit den Trinkkur-Gewohnheiten diätbewusster Franzosen ins Gericht geht und zugleich das ‚Ondine‘-Schicksal einer Freundin schildert. 35 Vielleicht entstand er sogar während Claires eigenen Kuraufenthalten, u. a. in Challes-les-Eaux. Ondine ist eine reale Person, eine 20jährige Freundin von Claire Goll, blond und verheiratet. Sie beginnt jedes Jahr am 1. Mai ihre Trink-Tournee in den verschiedenen Bädern Frankreichs. Claire Goll wendet nun dasselbe Prinzip an wie Yvan in der Mélusine : Märchen-Diskurs und Realität interferieren: Ondine ist großmütterlicherseits mit den Nymphen der germanischen Mythologie verwandt. Darum ist sie so wasserstoffsuperoxydblond. Keine Quelle ohne Ondine. Sie fährt im Mai nach Vichy, um dort - zu flirten […], nur nicht um Wasser zu trinken. Die Bäder sind eine gute Ausrede. […] Die Sirenen sterben nicht aus. Schillernd und trügerisch haben sie sich durch die Jahrhunderte hindurch erhalten. Und vielleicht wird sich Odysseus ewig gegen ihren verführerischen Gesang Wachs in die Ohren stecken müssen. Ewig wird er das Weibchen der denkenden Kategorie vorziehen. Den meisten Männern erscheint die intelligente Frau wie eine Frau mit Buckel. 36 Gegenüber dem gerade zitierten Selbstbild der Frau geht es nun also um die Perspektive des Mannes. Allerdings entstand dieser Text fünfzig Jahre früher als Claires Autobiographie. Auch der folgende Satz über die Mode erinnert fast wörtlich an die in Yvans Mélusine genannten Attribute der Protagonistin: „‚Und sieh mal‘“, sagt Claires Ondine, „‚Sieh mal den Fischschwanz aus perlmutternen Schuppen an meinem Abendkleid, eine wahre Brautschleppe.‘“ 37 Der Text schließt mit einer Pointe ab: „‚Wie viele Brautschleppen mit Abendkleidern nimmst du mit, Ondine? ‘ ‚Oh, nur zehn.‘ Wenn sie ins Bad gehen, hüten sie sich 34 C. Goll: Ich verzeihe keinem (Anm. 32), S. 5 f. 35 Claire Goll: Nymphen am Brunnen. In: dies.: Der Gläserne Garten. Prosa 1917-1939. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Berlin 1989, S. 119-123. 36 Ebd., S. 121 f. 37 Ebd., S. 123. „Ne touchez pas à mes arbres“ 177 vor Ondine! “ 38 Eine ähnliche Bemerkung finden wir im Drama: „Nehmen Sie sich vor Märchenwesen in acht“, sagt Melusine zum Grafen. 39 In Yvans Drama ist der Fischschwanz geradezu Leitmotiv, denn an ihm arbeiten sich fast alle männlichen Protagonisten ab. Pythia, Muhme, Wahrsagerin und Hexe zugleich, sagt es explizit: „Ich schenke dir den Fischschwanz, der dich feit und heiligt. Er verleiht dir eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Männer.“ 40 Bei Yvan Goll ist es also zunächst nicht der Gesang der Sirenen, der die Männer in seinen Bann zieht, sondern der eigentlich ganz unromantische Fischschwanz mit seinen Schuppen. 41 Auf Oleanders entrüsteten Ausruf „Einen Fischschwanz anzuziehen! “ antwortet Melusine nüchtern: „Das ist die letzte Pariser Mode […] Im nächsten Winter wird es überhaupt kein Kleid mehr 38 Ebd. 39 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 127. 40 Ebd., S. 182. 41 Goll bewegt sich immer wieder spielerisch zwischen den Welten von Sein und Schein. Der Graf von Lusignan geht auf besonders körperliche Weise zur Sache: Melusine: „Brutal bist du. Du hast mir meinen Fischschwanz ausgerissen. G: Ausgerissen? Du tust, als ob er angewachsen wäre. Ich habe dir doch nur dein Kleid ausgezogen … / M: Er war aber angewachsen. Du hast mir sehr weh getan. / G: Ich habe eine Frau aus dir gemacht. / M: Das ist mein Fluch! “ (Goll: Mélusine [Anm. 2], S. 232.) Abb. 1: Claire und Yvan Goll, gezeichnet von Otto Dix, 1927. 178 Manfred Schmeling ohne eine solche Schleppe geben.“ 42 Goll spielt nicht nur mit der männlichen Vorstellungskraft, sondern er entromantisiert das Nixen-Motiv immer wieder zugunsten der Beobachtung von Mode und Zeitgeist. Die Idee der Teilhabe Melusines an der höheren Gesellschaft findet sich wie schon in der Romantik auch in Golls Drama, aber der romantische Raum ist durchsetzt von Anachronismen, die auf das 20. Jahrhundert verweisen. Claire Golls Text zielt in die gleiche Richtung, verstärkt jedoch den gesellschaftskritischen Impetus, wenn sie in satirisch-journalistischem Ton die Bäderbesuche reicher Franzosen beschreibt und die Nymphe Ondine mit „Vichy-Hôpital“ und Pariser Couturiers assoziiert. 43 Ein weiterer Text von ihr, Das Mysterium zu 5000 Franken , der 1928 entstand, setzt sich unmittelbar mit Jean Patou und seiner „Diktatur mit der Schere“ auseinander. 44 Die (auch zeitliche) Nähe zu Yvans Drama ist unübersehbar. Das Thema gegenseitiger literarischer Einflussnahme zwischen Claire und Yvan hat die Kritik von jeher besonders beschäftigt. Begriffe wie „Kopoetin“ oder „Produktionsgemeinschaft“, die das Verhältnis zwischen den beiden Dichtern auf eher ironische Weise kennzeichnen, sind im Umlauf. 45 Es handelt sich hierbei um eine komplexe Problematik, die neben psychologischen Aspekten nicht zuletzt auch die Frage der Authentizität vieler Yvan-Goll-Texte betrifft. Das Thema ließe sich freilich sehr viel grundsätzlicher behandeln als es hier anlässlich des Wasserfrauenmotivs möglich ist. Die Parallelen offenbaren jedenfalls, dass das Künstlerpaar das Thema im Dialog miteinander erarbeitet haben muss, wobei Claire eine kritisch-ironische und weniger eine poetische Haltung einnimmt. Auch Yvan bleibt nicht bei der Poesie stehen, obwohl er sie in den lyrischen Zwischen-Szenen praktiziert. Der Text ist gespickt mit zeitkritischen Reminiszenzen. Wenn Yvan Goll die Mélusine seiner Frau Claire gewidmet hat, dann haben die im Stück präsentierten Weiblichkeitsvorstellungen durchaus etwas mit ihr zu tun. Claire Goll hat ihre eigene Weiblichkeit seitenlang in ihrer Autobiographie beschrieben als eine Rolle der selbst akzeptierten Unterlegenheit in 42 Ebd., S. 214. 43 Das Motiv der Wasserfrau verwendet Claire Goll in einer weiteren Erzählung (1941): Das 10 000-Franken-Diner . In: dies.: Zirkus des Lebens. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 17-35. Raue Realität und Symbolsprache interagieren hier: Trimouille, der gerade einen Mord begangen hat, erinnert sich an seine Zeit als Schleusenmeister in Haybessur-Meuse und „an die kleine, aus dem Wasser tauchende Nixe. […]“ Er hat die Nixe zu seiner Frau gemacht und sie ist „Schleusennixe“ geworden: „Sie segelt in seinem Herzen, die Nixe. Sie öffnet und schließt die Herzkammern.“ (Ebd., S. 33.) 44 Das Mysterium zu 5000 Franken. In: C. Goll: Der Gläserne Garten (Anm. 35), S. 128-131. Vgl. S. 129. 45 Nadolny: Claire Goll (Anm. 29), S. 17 und S. 19. „Ne touchez pas à mes arbres“ 179 vielen Belangen, aber auch als die Freiheit der Verwendung weiblicher Waffen gegenüber dem Mann. 46 Nicht eine bestimmte weibliche Rolle wird über das Wasserfrauen-Motiv in der Mélusine vermittelt, sondern der ganze Komplex an imaginierter Weiblichkeit, wie wir ihn aus der Geschichte der literarischen und ikonischen Wasserfrauen kennen. Insofern befasst sich das Drama mit Klischees, nicht nur mit gesellschaftlichen Klischees über Frauenrollen, sondern auch mit literarischen Versatzstücken, mit typisierten Wesen, die als solche kaum noch aussagekräftig sind, weil sie schon immer und immer wieder die Kulturgeschichte bevölkerten. „Alle Frauen sind in dir vereint! “, sagt der Architekt zu Melusine. 47 Typischerweise bleibt es nicht bei positiven Charakterisierungen: die dem Nixen-Motiv eigene Mischung aus Gut und Böse, Liebe und Tod, angepasster und emanzipatorischer Weiblichkeit finden wir in Mélusine wieder. Es kommt zu einer Entwicklung in der Benennung, die mit dem Geschehen parallel läuft: Melusine wird anfangs beschrieben als „Kind“, „liebliche Kindfrau“, „jungfräuliche Frau“, 48 „kleine Bürgersfrau“, die mit allen „Nixengaben“ ausgestattet sei usw. 49 Nach den Verführungserfolgen und mit zunehmender Dramatik nennt man sie „Zauberin“, 50 „Halbweltsdame“ 51 oder „Weib“ mit „grünen Hexenaugen“. 52 Der Fischschwanz gerät dann - auf gedanklicher Ebene - eben doch zum Schlangen- oder Drachenschwanz, d. h. auf Melusine reagieren die Menschen eigentlich wieder mittelalterlich: so als stehe sie mit dem Teufel im Bunde. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass Yvan Goll, ebenso wenig wie Claire, einen Beitrag über die Emanzipationsthematik liefern wollte. IV. Gesellschafts- und Kapitalismus-Kritik Neben der biographischen scheint eine weitere Lesart überzeugend: die zivilisationskritische Perspektive und die Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen einem natur-utopischen Entwurf auf der einen Seite und der Realität der europäischen Vor- und Nachkriegs-Gesellschaft auf der anderen. Goll hatte seine pazifistische Phase ebenso wie die Hoffnung auf ein sozialistisches System um 1920 bereits überwunden, und in seinen späteren europakritischen Romanen, etwa in Die Eurokokke (1927), in Der Mitropäer (1928) oder in Sodom Berlin 46 C. Goll: Ich verzeihe keinem (Anm. 32), S. 145 f. 47 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 199. 48 Ebd., S. 182. 49 Ebd., S. 184. 50 Ebd., S. 189. 51 Ebd., S. 212. 52 Ebd., S. 222. 180 Manfred Schmeling (1929) schildert er entsprechend enttäuschte Erwartungen. Goll war weniger an praktischer Politik als an Ideen interessiert. Claire schreibt dazu: Goll glaubte an die Politik, nicht als Kämpfer, sondern als Poet, der soziale Ideen für eine Möglichkeit hielt, die Menschen neu zu organisieren und von Geldinteressen und Ungerechtigkeiten zu befreien. Er sah im Kommunismus einen neuen Aufbruch für die Menschheit. 53 Claire Golls Aussagen sind immer mit Vorsicht aufzunehmen, aber sie hat Recht, was die soziale Komponente in der Dichtung Golls betrifft. In Mélusine kann man das am Aufbau des Stückes ablesen: Im ersten Akt wird die Szenerie einer kleinbürgerlichen Familie präsentiert, im zweiten die Arbeitswelt mit den am Schlossbau beteiligten Protagonisten, Geometer, Architekt und Maurer, im dritten der Glanz der Aristokratie beim Galaempfang im Schloss und im vierten und letzten Akt die Katastrophe. Durchsetzt sind die Szenen mit lyrischen Passagen und Evokationen der Natur durch Melusine. Melusine probt zugleich den Aufstand gegenüber allen Instanzen, die ihrem Ideal von Natur und Freiheit entgegenstehen. Das Bürgertum, das vor allem die Stiefeltern verkörpern, wird geradezu ridikülisiert. Melusine begründet ihre Enthaltsamkeit gegenüber Oleander letztlich mit sozialen Vorbehalten: Das Glück der Bourgeoisie, „das ist der Schmorbraten auf dem schöngedeckten Tisch. Das ist heißes Wasser zum Rasieren und die Zeitung zum täglichen Milchkaffee.“ 54 Oleander, der Immobilienmakler, steht für die Welt des Kapitals. Melusine träumt von ihren Blumen und Oleander vom Geld: „Ach, laß mich mit deinen Blumen. Ich bin wütend. […] Die Geschäfte gehen schlecht. Wir haben eine Million verloren.“ 55 Derartige Themen erinnern wieder an Szenen aus dem satirischen Drama Mathusalem . Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit den Revolutionsunruhen sind in diesem Stück ebenso präsent wie das kleinbürgerliche, stumpfe Leben im Allgemeinen. Zwar sind die Äußerungen in der Mélusine weniger satirisch überzeichnet, jedoch mehren sich im dramatischen Fortgang der Handlung die Anspielungen auf politische und soziale Zustände, besonders in den Dialogen mit dem Maurer und den Arbeitern. Melusine fragt den Maurer: Für wen bauen Sie das Schloß? Maurer: Das weiß ich nicht. Melusine: Sie kennen den Mann nicht, für den Sie Ihren Schweiß vergießen? Maurer: Ich will ihn nicht kennen. Vielleicht mißfiele er mir. Melusine: Dann würden Sie nicht mehr arbeiten? 53 Goll: Ich verzeihe keinem (Anm. 32), S. 62. 54 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 167. 55 Ebd., S. 173. „Ne touchez pas à mes arbres“ 181 Maurer: Oh nein. Man muß doch leben. […] Melusine: Revolutionär sind Sie nicht. 56 Yvan Goll spiegelt in diesem Dialog ein Stück Zeitgeschichte. Mit politischen Bildern wird nicht gespart: Melusine assoziiert die rote Farbe der Ziegel mit dem Blut des Maurers und fordert die Arbeiter zum Streik auf: 57 „Gleich kommen Deine Kameraden. Erzähle ihnen von Melusine. Sie müssen alle für mich streiken. Für jeden Streikenden kriegst du einen Kuß.“ 58 Allerdings geschieht alles Politische unter ironisch-satirischem Vorbehalt. Die Idee des Streiks, der politischen Aktion, wird durch den Kuss gleichsam demontiert. In dem kurzen Manifest Es gibt kein Drama mehr vermittelt Goll ein eher pessimistisches Bild, was seine politische Einstellung betrifft. 59 Er glaubt nicht, dass politische Themen, schon gar nicht die Revolution oder der Streik, zum Drama taugen: Aha: das revolutionäre Drama? Gibt es nicht. Es kann heute nur eine wirtschaftliche Revolution geben, keine des Muts und des Herzens. Das Wörtchen „rot“ ist schon kitschig geworden. Arbeiter in einer Straße vor Maschinengewehren, totaler Unsinn! 60 Am 9. November 1918 und in den folgenden Tagen hatten in Berlin bekanntermaßen die ersten revolutionären Unruhen stattgefunden. Sie führten zur Abdankung des Kaisers und zur Ausrufung der Republik. Im Januar 1919 folgte der Arbeiter-Aufstand, der brutal niedergeschlagen wurde. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die sich am Aufstand beteiligt hatten, wurden erschossen. Yvan Goll verknüpft hier also in riskanter Weise ein aktuelles Politikum mit der Rekonstruktion des mittelalterlichen Stoffes. Aber als die eigentliche Revolutionärin präsentiert sich Melusine, die gegen die Zerstörung der Natur ankämpft. Sie ist zugleich ein Stück weit die Stimme Yvan Golls, der sich, müde von politischer Agitation und enttäuscht von der politisch-ökonomischen Entwicklung, auf den Mythos und die Poesie zurückzieht. Oleanders Diskurse über Immobilienkauf und Verluste sind satirischer Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse. Im Manifest heißt es lapidar: „Die Zeit zu merkantilisch.“ 61 In dem gerade zitierten Dialog bleibt der Auftraggeber der Arbeit anonym und der Maurer resigniert. Er wird gewissermaßen zum Überläufer, verfällt der Liebe und den Mächten der Natur. Als die Arbeiterschaft verängstigt die Weiter- 56 Ebd., S. 186 f. 57 Ebd., S. 188 f. 58 Ebd., S. 189. 59 Goll: Dichtungen (Anm. 23), S. 84. 60 Ebd. 61 Ebd. 182 Manfred Schmeling arbeit verweigert, vermutet der Architekt „eine marxistische Anwandlung“. 62 Die ironische Anspielung auf Marx verweist auf Golls psychische Situation nach dem Krieg und seine wachsenden Vorbehalte gegenüber dem Kommunismus. Das Ganze ließe sich zusammenfassen unter dem Stichwort der Entfremdung : im marxistischen Sinne als die Verdinglichung des Arbeiters im Produktionsprozess, im psychologischen Sinne als Verlust der Selbstkontrolle der Arbeiter, die, wie es im Stück heißt, aus Liebe zu Melusine „verrückt“ werden. Golls Grundeinstellung bleibt dabei aber eher eine satirische; politische Agitation ist seinem Werk, zumindest nach dem Krieg, eher fremd. V. Der Gesang der Melusine: Golls Poetik Wenn Goll der Melusine seine Gedanken unterlegt, ihr seine Stimme leiht, so betrifft das nicht nur sein Frauenbild oder sein gesellschaftliches Engagement gegen Krieg, Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Armut, sondern auch seine poetischen Interessen. Es ist gerade der Melusine-Mythos, der Goll zu höchst poetischen Formulierungen inspiriert. Damit bewegen wir uns wieder auf dem traditionellen Terrain der Muse, ein Topos, der im Stück indirekt und direkt auftaucht. Zugrunde liegt dem Topos der Gesang der Sirenen. „Was singst Du? “, fragt Madame Lapérouse. 63 Melusine antwortet: „Ach, ich singe nicht! Ich singe niemals. Könnte ich singen, so wär’ ich erlöst.“ 64 Hierbei dürfte es sich um eine Anspielung auf Die kleine Seejungfrau von Hans Christian Andersen handeln. Der dänische Dichter hatte den Gewinn der Beine, d. h. die Menschwerdung der Seejungfrau, alternativ mit dem Verlust der Stimme verknüpft. Yvan Goll lässt Melusine in zum Teil lyrischer Form und in mehr oder weniger surrealen Bildern sprechen. Eine Vertonung im Rahmen der Oper drängte sich daher geradezu auf. Durch die besondere melodische Sprache, die mit der prosaischen Welt des gesellschaftlichen Alltags und der Arbeit scharf kontrastiert, erinnert Goll zumindest indirekt an das Motiv einer Verbindung zwischen Elementargeist und Dichter, Gesang und Poesie. Erst in der Begegnung mit dem Grafen kommt es explizit zum Gesang, wobei die Identität der Sängerin bewusst im Dunkel gelassen wird. Melusine spricht im lyrischen Ton von Liebe und Tod und gibt sich ganz dem Grafen hin: „ich dir gehöre“. 65 Die Stimme scheint sich zu verselbständigen: Melusine: Wer sang? Graf: Ein Stern? 62 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 192. 63 Ebd., S. 162. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 228. „Ne touchez pas à mes arbres“ 183 Melusine: Eine Nachtigall? Graf: Du? 66 Der Lockruf der Stimme bedeutet letztlich den Tod des Grafen, der im eigenen Schloss verbrennt. Wenn Melusine in der Verbindung mit dem Grafen eine menschliche Seele erlangt, dann um den Preis ihrer eigenen Vernichtung, denn auch sie erleidet den Feuertod. Damit überbietet Goll Dichter wie Brentano, Fouqué oder Heine. Aus dem Gesang wird ein Abgesang. In Golls Gedicht Kölner Dom finden wir eine Formulierung, die diesen Gedanken aufgreift: „Die Fische und die nackten Nymphen / Sterben im romantischen Wasser aus“. 67 Als eine Art Abgesang könnte man in der Mélusine auch jene zahlreichen Textstellen deuten, in denen der Mythos als Legende identifiziert, rationalisiert und ironisiert wird. Und wenn Pythia fragt, ob die Nymphen nicht doch „genug hätten vom Göttlichen“, wird mit dem Mythos auch die Glaubenstradition desavouiert. 68 Ähnlich argumentiert Oger: „Gegen die Maschinen kommt kein Gott mehr an.“ 69 Im 20. Jahrhundert sind Rekonstruktionen mythischer Stoffe schon immer ein Stück weit Parodien ihrer selbst. Sie sind nur noch als Erzählungen in der Erzählung tauglich, sind „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg), ästhetischer Widerstand gegen das Unheil. Darum stattet Goll den Oger, der mit bürgerlichem Namen „François“ heißt, mit einem kulturellen Gedächtnis aus. Oger berichtet, wie er einst seine Tochter Melusine als Kind auf seine Knie genommen und ihr „die Geschichte von der kleinen Seejungfrau“ erzählt hatte. 70 Geschildert werden Einzelheiten aus dem Andersen-Märchen. Das intertextuelle Spiel mit der Tradition und der immanente Verweis auf Genres wie Legende und Märchen gehören im 20. Jahrhundert zu den typischen Procedere der literarischen Modernisierung. Ein wesentliches Element des Melusine-Dramas ist die besondere Sprache, die sich zwischen Alltagssprache und poetischer Ausdrucksweise bewegt. Melusine vertritt bzw. verkörpert die Welt der Poesie und der Natur zugleich. Oleander bezeichnet Melusine, mit der ihn außer dem Ehering nichts verbindet, als „hysterisch“. Der Ausdruck bezieht sich unter anderem auf ihre von Naturbildern geprägte Redeweise, die der Geschäftsmann nicht versteht. Dass gerade er „Oleander“ heißt, ist pure Ironie. Aber wie lässt sich das Stück stilistisch einordnen? Die Bilder und Vergleiche Golls sind stilgeschichtlich zwischen Symbolismus, Expressionismus und Sur- 66 Ebd. 67 Yvan Goll: Kölner Dom. In: ders.: Die Lyrik in vier Bänden. Bd. I: Frühe Gedichte (1906-1930). Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Berlin 1996, S. 268. Das Gedicht ist Teil des Zyklus Der Eiffelturm (1924) . 68 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 207 f. 69 Ebd., S. 208. 70 Ebd., S. 221. 184 Manfred Schmeling realismus nur schwer bestimmbar. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Mischung, wenngleich der surrealistische Impetus überwiegt. Es kommt häufig zu paradoxen Zusammenfügungen naturhafter und menschlicher Züge. Beispiele aus dem poetischen Repertoire der Protagonistin: „Dotterblumen wachsen im Grund meiner Augen.“; 71 „Weinet, meine Trauerweiden“; 72 „wo der Mond wie das Blut eines Mordes schrie.“ 73 Goll beschreibt in seinem Manifest des Surrealismus eine Vorgehensweise, die dem Verfahren in der Mélusine durchaus nahe kommt: „Ein Poet von heute würde schreiben: ‚Deine Augen aus Himmel! ‘ Die schönsten Bilder sind jene, die weit voneinander entfernte Elemente der Wirklichkeit am direktesten und schnellsten verbinden. So wurde denn das Bild das beliebteste Attribut moderner Dichtung.“ 74 Das erinnert an eine Formulierung aus Lautréamonts Les Chants de Maldoror . Die Kritik hat das darin verwendete Bild - das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch (6. Gesang, 3. Strophe) - als surrealistisches Programm verstanden. Im Manifest des Surrealismus beruft sich Goll allerdings auf Apollinaire, den er sehr schätzte und als surrealistischen Vorläufer betrachtete. 75 Der poetologische Diskurs Yvan Golls besticht freilich weniger durch Präzision als durch Originalität, etwa wenn es im Motto des Manifestes heißt: „Das Kunstwerk soll die Realität überrealisieren. Das erst ist Poesie.“ 76 Dass sich auch die surrealistische Malerei - z. B. durch Paul Delvaux und René Magritte - des Themas annimmt, hat gute Gründe. Hybride Geschöpfe wie die Wasserfrauen gehören zu den bevorzugten Objekten der Traumwelt der Surrealisten. VI. (Natur-)Mythos und Moderne Der Neuwert des Goll’schen Dramas liegt letztlich weniger in der Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition als in der besonderen Konfrontation seiner Zeit mit der Natur. Wenn Melusine den Geometer warnt - „Rühren Sie meine Bäume nicht an“ -, so darf man das jedoch nicht als Ausdruck ökologischer Programmatik interpretieren, obschon man heutiger ‚grüner Politik‘ Melusines Einsatz für die Natur als Werbe-Idee durchaus empfehlen könnte. 77 In Deutschland herrschte nach dem Krieg so etwas wie eine der Natur zugewandte 71 Ebd., S. 160. 72 Ebd., S. 179. 73 Ebd., S. 225. 74 Yvan Goll: Manifest des Surrealismus. In: ders.: Dichtungen (Anm. 23), S. 186 f. 75 Ebd., S. 186: „Der Surrealismus ist eine, von Guillaume Apollinaire angeregte Konzeption.“ 76 Ebd. 77 Goll: Mélusine (Anm. 2), S. 170. „Ne touchez pas à mes arbres“ 185 Neubesinnung mit Wandervögel-Bewegungen und Aktivitäten der „Bündischen Jugend“. Das Naturbewusstsein der Menschen war eine Reaktion auf Modernisierung und Fortschrittsglauben, wie sie sich unter anderem im Bauboom, in der neuen Automatisierung und Schnelligkeit des Verkehrs, in der Amerikanisierung, in der Mode und in der Frauenemanzipation widerspiegelten. Diese Abb. 2: Frans Masereel: Die Sirene, 1928. 186 Manfred Schmeling Themen sind punktuell auch in Mélusine gegenwärtig. Unter anderem tauchen die amerikanischen Boxcalf-Schuhe in Werken Golls, auch in Mélusine , immer wieder auf. Oger wird im Drama als ein Amerika-Rückkehrer präsentiert, der zu seinen Ursprüngen, das heißt zur Natur zurückkehrt. Hinzu kommt eine sehr persönliche Utopie Yvan Golls, der einerseits die Natur seiner lothringischen Heimat innerlich mit sich führte, andererseits mit zunehmender Zivilisationsmüdigkeit dem Ideal der Verschmelzung von Natur und Mensch immer mehr nachträumte. Landschaften, Wälder, Parks, die Flora insgesamt lieferten ihm Gegenräume jenseits von Großstadt, von Industrie und Verkehr - idyllische Motive, die wir in seinen Werken, auch im Briefwechsel mit Claire, ständig wieder finden. Melusine verkörpert die unberührte, die reine Natur (daher die Evokation ihrer Jungfräulichkeit im Stück), eine Natur, die als realer Rückzugsraum bereits ausgedient hat. Goll sagt es in Mélusine ganz explizit: „Die Immobilien-Agenturen, die Erdarbeiter, der neuzeitliche Geist sind gekommen, um die Natur zu töten, […]. Die Nymphen aus dem See sind obdachlos.“ 78 Den Kampf gegen den „neuzeitlichen Geist“ gewinnen im Drama die göttlichen Mächte, denn alle Vertreter des Projekts einer gesellschaftlichen Modernisierung sterben. Wollte man den tragischen Ausgang des Dramas, Melusines Ende als Menschenwesen, allegorisch auslegen, so bleibt die Rückgewinnung der ursprünglichen Natur durch den Menschen ein unerfüllbarer Wunschtraum. In einer großen kritischen Studie über die Wasserfrauen wird mit Blick auf die Romantiker geltend gemacht, dass mit der gescheiterten Vereinigung von Natur und Mensch der Topos vom „Verlorenen Paradies“ aufgerufen sei und dass somit „der Geschichtsprozess als ein Entfremdungsprozess“ interpretierbar wird. 79 Man würde Goll und der Melusine sicherlich Unrecht tun, wollte man das Stück geistesgeschichtlich zu sehr strapazieren. Gleichwohl könnte dieser Gedanke eine Art Unterbau liefern für eine Einordnung von Golls Drama in den größeren philosophischen Kontext der Melusinen-Bearbeitungen seit Beginn der Neuzeit. 78 Ebd., S. 207. 79 Monika Schmitz-Emans: Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde. Würzburg 2003, S. 111. „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 187 „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ Yvan Golls letzte deutsche Gedichte und seine Begegnung mit Paul Celan Barbara Wiedemann, Tübingen Als der 58jährige Yvan Goll und der fast 29jährige Paul Celan sich am 6. November 1949 kennenlernen, haben sie zwar unterschiedliche Schicksale hinter sich. Ihre aktuelle Situation ist aber in mancher Hinsicht vergleichbar: Beide sind noch nicht allzu lange in Paris - Goll seit Juni 1947 als US -Amerikaner, Celan seit Juli 1948 als Staatenloser -, und beide schreiben in dieser französischsprachigen Umgebung Gedichte in deutscher Sprache. Das ist keineswegs selbstverständlich für jüdische Dichter nach der Jüdischen Katastrophe. Goll ist zwar am Ende seiner dichterischen Laufbahn, für ihn ist die neue Lebensetappe aber dennoch, wie er betont, ein kreativer Neuanfang: „Dies ist für mich ein übermütig überschäumender Frühling, an dem ich klopfenden Herzens nach mehr als zwanzigjähriger Unterbrechung die deutsche Sprache wieder in mir erschallen lasse“, schreibt er im Mai 1948 an Hans Bolliger nach Zürich 1 und ganz ähnlich an Alfred Döblin, der in seiner Zeitschrift Das Goldene Tor im Mai 1948 erstmals im Nachkriegs-Europa deutsche Gedichte Golls publiziert. 2 Celan seinerseits steht am Anfang seiner Laufbahn: Im Februar 1948 sind erstmals Gedichte von ihm außerhalb Rumäniens erschienen, in einer Wiener Zeitschrift und einer Zürcher Tageszeitung. Seinen im Oktober 1948 in Wien publizierten ersten Gedichtband Der Sand aus den Urnen macht er Yvan Goll bei seinem Besuch zum Geschenk. Soweit die Voraussetzungen dieser Begegnung, die sich im Notizkalender von Yvan Goll durchaus mit Bewunderung für den Jüngeren niederschlägt: „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne et nous émerveille“. 3 Diesen, Celan, bestärkt das Lob des Älteren auf seinem Weg. „‚Wissen Sie‘“, referiert er die bei der Begegnung anwesende Claire Goll in einem Brief an Erica Lillegg nicht ohne eine gewisse Eitelkeit, „‚wir fürchteten, Sie könnten einer sein, der Gedichte schreibt, aber kein Dichter ist. Sie sind aber ein Dichter. Ein wirklicher.‘ Und Iwan Goll, der das wahrscheinlich besser weiß als sie, meinte 1 Zitiert nach Barbara Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ‚Infamie‘. Frankfurt / M. 2000, S. 707. 2 Brief vom 20. Mai 1948, ebd., S. 710 f. 3 Eintrag vom 6. November 1949, ebd., S. 17. 188 Barbara Wiedemann dasselbe.“ 4 Celan kennt damals von Goll offenbar nur Französischsprachiges, im zitierten Brief nennt er als Golls letzte Buchveröffentlichung Elegie d’Ihpétonga - er sieht das bibliophile Werk vielleicht bei seinem Besuch bei Goll. Die Verhältnisse bezüglich des Nachlasses von Yvan Golls Spätwerk 5 sind zwar auch nach der Publikation des Gedichtwerks durch Barbara Glauert-Hesse 6 schwierig geblieben. Eine Untersuchung des Werks unmittelbar vor und nach der Begegnung mit Celan lässt sich jedoch auf eine solide Textbasis stellen: Sie kann zum einen auf die von Goll autorisierten Publikationen von 1948 und 1949 im Goldenen Tor zurückgreifen, zum andern auf das Konvolut Die Liebessonne mit auf Dezember 1949 und Januar 1950 zumeist auf anderen Textzeugen von Yvan Goll selbst handschriftlich datierten Gedichten. Von Paul Celan stehen die in Bukarest und Wien sowie davor im Arbeitslager und in Czernowitz entstandenen Gedichte aus Der Sand aus den Urnen zur Verfügung; für die nach der Begegnung mit dem Ehepaar Goll geschriebenen Gedichte der dritte und vierte Zyklus von Mohn und Gedächtnis , dessen Textbestand im September 1952 endgültig feststeht; dazu das auf den 13. Februar 1950 datierte Widmungsgedicht für Yvan Goll, Der Tod , das ursprünglich für diesen Band vorgesehen ist. 7 Im Folgenden befasse ich mich zunächst mit den im Mai 1949 publizierten Gedichten Golls im Vergleich zum Konvolut Die Liebessonne und im Anschluss daran mit Gedichten Celans aus beiden Schaffensperioden. Im Rahmen von Überlegungen zu Celans Goll-Übertragungen ist erst dann ein Fazit zu ziehen. I. Im Mai-Heft 1949 der Zeitschrift Das Goldene Tor sind fünf Gedichte von Yvan Goll unter diesem Namen abgedruckt, von denen zwei, Wasserwunder und Geburt des Feuers , bereits 1948 am gleichen Ort, mit kleineren Varianten und unter dem Autorennamen Tristan Thor, zu lesen waren, außerdem Morgue , Sage und Das Dreieckstier . 4 Brief vom 12. November 1949, ebd., S. 19. 5 Einen großen Teil der in den letzten Pariser Jahren entstandenen deutschen und französischen Gedichte hat Yvan Goll unfertig hinterlassen; die postumen Veröffentlichungen beruhen auf Bearbeitungen des Materials durch Claire Goll. 6 Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Berlin 1996. 7 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt / M. 2003, S. 438. Die Entfernung des Gedichts aus dem Manuskript von Mohn und Gedächtnis gehört zu den letzten Veränderungen darin; siehe dazu im Briefwechsel zwischen Celan und Rolf Schroers die Briefe vom 16. August 1952 und 4. September 1952 (Paul Celan - Heinrich Böll, Paul Schallück, Rolf Schroers: Briefwechsel mit den rheinischen Freunden. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin 2011, S. 16-19). „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 189 Das Letztgenannte steht, wie andere aus beiden Serien im Goldenen Tor auch, in enger Beziehung zu einer französischsprachigen Vorlage, in diesem Fall das Gedicht La Bête de la Fable . Quellen für Golls erste deutsche Gedichte nach der Rückkehr aus dem Exil sind der damals noch nicht publizierte Komplex Les Cercles Magiques und die 1949 zusammen mit Elégie d’Ihpétonga veröffentlichten Masques de Cendre . 8 Der von Goll geschilderte deutsche Neuanfang erscheint also zunächst als übersetzendes Ausprobieren, ob das Deutsche für Gedichte überhaupt noch taugt. Das Dreieckstier Das Dreieckstier aus Fabeln stapfend Schrift der Magie zwischen den Hörnern Geht auf und ab im Rübenfeld Blutunterlaufnes Augetier Salpeterblumen schon verglast und stier Ein träger Mord im Rübenfeld Der schwarze Zucker trieft von seiner Lefze Und Ruf der Eber in den roten Dornen Seltsamer Schweiß des Rübenfelds La Bête de la Fable La bête triangulaire hors des chardons qu’elle piétine La magique écriture entre les cornes Monte et descend dans le champ de légende Animal fabuleux injecté d’ecchymoses Fleurs de salpêtre déjà vitreuses et fixes Un lâche meurtre dans la ravière Le sucre noir suinte de sa babine Et le cri des verrats dans les épines rouges Sueur étrange de la rivière 8 Die Aufnahme der deutschen und französischen Fassungen in verschiedene Bände der Ausgabe Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6) und ohne gegenseitige Hinweise erschwert den Überblick; die Angaben zur Entstehung für Les Cercles Magiques (1951) sind gerade bei den betreffenden Gedichten unzureichend. Außer dem im folgenden diskutierten Beispiel handelt es sich um folgende Gedichte aus Les Cercles Magiques : Les Yeux dans les Yeux (Bd. IV, S. 490) zu Aug in Aug (Bd. II, S. 401), Miracle de l’eau (Bd. IV, S. 491) zu Wasserwunder (Bd. II, S. 349), Visage du Charbon (Bd. IV, S. 492) zu Kohleantlitz meiner Berge (Bd. II, S. 439), Légende (Bd. IV, S. 493) zu Sage (Bd. II, S. 410). Ähnlich verwirrend sind die Verhältnisse für die Gedichte aus Masques de Cendre (1949): Mon père le feu (Bd. IV, S. 380) zu Geburt des Feuers (Bd. II, S. 318) und das unten diskutierte Chien de ma mort (Bd. IV, S. 390) zu Bluthund (Bd. II, S. 313). Dazu kommen Dubletten mit englischsprachigen Gedichten aus dem Band Love Poems von 1947. 190 Barbara Wiedemann Mein Säugetier mein Reuetier Kein Vogel aus dem Busch des Zweifels Im ahnungslosen Rübenfeld Die Hand des Schlächters schon auf seiner Schuld Das schwarze Blut aus seinem Dreiecksmaul Im unbewegten Rübenfeld 9 O bête à-mille-pieds de mon remords Nul oiseau du buisson des doutes Dans les champs ignorants de l’ensorcellement La main du vengeur déjà sur sa faute Le sang noir hors de sa gueule triangulaire Dans l’impassible champ de la légende 10 Ein durchaus unheimliches Tier treibt im deutschen Gedicht sein Unwesen in auf den ersten Blick wohlgeordnet wirkenden, vier- oder fünftaktigen, meist jambischen Versen - eine Art ungereimter Terzinen, deren strophische Einheit das Refrain-Wort „Rübenfeld“ markiert. Das Animalische ist ausgesprochen betont: Abgesehen vom Titel haben wir in Reimposition dreimal die Wortsilbe „tier“ (V. 1, 4 und in V. 10) und dazu, ebenfalls in Reimstellung, das animalische Assoziationen ermöglichende Adjektiv „stier“ (V. 5). Der Charakter der französischen Gedichtgrundlage unterscheidet sich deutlich davon: Hier wird „bête“ als Wort zwar auch wiederholt (V. 1 und 10), jedoch nicht so häufig und nie in Reimposition. Im Vordergrund steht vielmehr „légende“: Das Wort ist im deutschen Text zwar als „Fabeln“ präsent, dort steht es aber nie in Reimposition: Statt „champ de la légende“ steht jeweils „Rübenfeld“. In seiner Wiederholung in der ersten und letzten Strophe des französischen Gedichts jeweils am Versschluss ist jedoch der Keim für die deutsche Refrain-Struktur angelegt. Das deutsche Tier aber hat die eher harmlose Welt der „Fabeln“ verlassen und ist in die reale Welt mit aller Brutalität eingebrochen. Hier findet tatsächlich Anverwandlung an das Deutsche statt; das Gedicht klingt nicht nach Übersetzung - es ist ein deutsches Gedicht. Vorsichtig einzuschränken ist diese Beurteilung in Bezug auf „stapfend“ (V. 1): Die Partizipialkonstruktion entspricht zwar nicht, wie im unten zitierten Gedicht Bluthund , einem französischen Partizip, die Formulierung aber dennoch eher französischen als deutschen stilistischen Gepflogenheiten. 9 Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. II, S. 410; Erstdruck in: Das Goldene Tor 4 (1949), S. 368 f. 10 Im Rahmen der Nachlass-Sammlung Les Cercles Magiques aus dem Jahr 1951. (Goll: Die Lyrik in vier Bänden [Anm. 6], Bd. IV, S. 493). „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 191 Das im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrte Konvolut Die Liebessonne 11 ist in seiner ursprünglichen, im Amerikanischen Krankenhaus in Neuilly entstandenen Gestalt mit rotem Faden zusammenheftet, auf dem Deckblatt steht in Schönschrift mit blauer Tinte: „Die Liebessonne / an Claire / Weihnacht 1949“. In seiner heutigen Form enthält es im ersten Teil die neun von Yvan Goll ebenfalls mit blauer Tinte sorgfältig und weitgehend fehlerlos auf Einzelblätter geschriebenen Gedichte: Ich hab dir einen Regenpalast erbaut (18. Dezember 1949), 12 In meines Herzens Afrika ( Oden an Liliane I , 16. Dezember 1949), Tief hängt die Regenwolke ( Oden an Liliane II , auf einem Blatt mit dem vorausgehenden Gedicht, kein Entstehungsdatum bekannt), Leg an mein Ohr dein silbernes Muschelohr ( Oden an Liliane III , kein Entstehungsdatum bekannt), In deinem Aug sind unsere Paläste schon ( Oden an Liliane IV , 17. Dezember 1949, auf einem Blatt mit dem vorausgehenden Gedicht), Die Nacht ist unsere rauhe Schale (kein Entstehungsdatum bekannt), Ich war der Fragende und du die Magierin (9. Dezember 1949), 13 Aus Gräbern steigt, aus Schattengenist das Ei (16. Dezember 1949) und Ich höre steigen aus dir den frierenden Vogel der Frühe (9. Dezember 1949). In dieser Form wurde das Ensemble Claire Goll möglicherweise im Zusammenhang mit einer Lesung am 23. Dezember 1949 übergeben: „Je lis à Claire 12 nouveaux poèmes en allemand dont le Regenpalast.“, notierte Goll in seinen 11 Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. II, S. 339-348 und 614-617. Aus den Anmerkungen ist der besondere Charakter des Objekts nicht zu entnehmen; zudem ergeben sich dadurch, dass die Manipulation im Jahr des Widmungsdatums nicht wahrgenommen wird (siehe unten), Ungereimtheiten mit den Entstehungsdaten der Einzelgedichte, die zu entschärfen sich die Herausgeberin mit Einschätzungen wie „Spätere Textvariante“ oder „Späterer Entwurf “ behilft. 12 Anders als in Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. II, S. 341 abgedruckt, erscheint das Gedicht in der Liebessonne tatsächlich ohne Titel. Siehe das Faksimile in: Yvan Goll: Gedichte. Eine Auswahl. Mit vierzehn Gedichten von Claire Goll. Hg. und mit einem Kommentar versehen von René A. Strasser. Meilen 1968, S. 365. Der Regenpalast fungiert bereits in Golls Notizkalender (18. Dezember 1949) als Kurztitel für das Gedicht, so auch im Eintrag vom 23. Dezember 1949 und wieder auf einer Liste der an Alain Bosquet gesandten Gedichte aus dem Februar 1950. Bei den hier und im Folgenden angegebenen Daten ergänze ich die Informationen aus Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6) durch Angaben von Francis Carmody: The Poetry of Yvan Goll. Paris 1956, S. 204 und im Aufsatz von Erhard Schwandt: Korrekturen zum Bericht von Reinhard Döhl. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1966. Darmstadt 1967, S. 191-206, die hier relevante Liste der Entstehungsdaten für 1949 und 1950 S. 205 f. Auch in Schwandts Liste ergeben sich für 1948 Ungereimtheiten in Zusammenhang mit dem Widmungsdatum. 13 In der Liebessonne titellos, in Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. II, S. 342 wird als Titel Erinnerung und Erkenntnis angegeben; Schwandt datiert auf den 15. Dezember 1949, möglicherweise anstatt des 25. Dezember 1949, siehe unten (Schwandt: Korrekturen [Anm. 12]). 192 Barbara Wiedemann Notizkalender. 14 Das Gedicht Ich war der Fragende und du die Magierin wurde nach der Geschenkübergabe von Goll am 25. Dezember 1949 mit Bleistift weiterbearbeitet. Dem Objekt sind nachträglich drei Blätter in kleinerem Format mit den Gedichten Ein Staubbaum wächst (kein Entstehungsdatum bekannt) sowie Der Salzsee und Die Hütte aus Asche (jeweils 8. Januar 1950) hinzu gebunden und als Einheit - recht unschön - mit einem vom Material her mit Sicherheit nicht von Ende 1949 stammenden roten Klebeband gesichert. 15 Die Veränderung der in blauer Tinte geschriebenen Jahreszahl 194 9 auf dem Titelblatt in 194 8 durch Hinzufügung einer unteren Schleife in schwarzer Tinte gehört sicher zu diesem Vorgang, 16 und das Ganze in den Höhepunkt der Goll-Affäre, die weniger mit Yvan Goll als mit Claire Goll zu tun hat: Das Titelblatt war als Schwarzweiß- Kopie im Juni und Juli 1961 bei der Ausstellung Yvan Goll, Claire Goll und ihre Freunde - Ausstellung im Château des Rohan in Straßburg ausgestellt, deren Hauptziel ohne Zweifel die Bekräftigung von Claires Plagiatvorwürfen gegenüber Celan durch angebliche Beweise war. 17 14 Unveröffentlicht; ich danke Nadine Albert-Ronsin für die Möglichkeit, aus dem Dokument zu zitieren. Welche drei weiteren vielleicht ursprünglich der Liebessonne sogar beigehefteten Gedichte Goll vorlas, ist nicht mehr zu entscheiden. In die Schaffensperiode ab Anfang November 1949 sicher zu datieren sind die beiden Oden Aus meinen Knochen trinke ich das Kiefernmark (Goll: Die Lyrik in vier Bänden [Anm. 6], Bd. II, S. 336, 15. Dezember 1949, Carmody: The Poetry [Anm. 12]: 13. Dezember 1949) und Der böse Fisch des Flusses: er wurde blau (Bd. II, S. 371, 19. Dezember 1949). Siehe außerdem: Mein Abraham! Mein Mörder-Vater! Liebe! (Bd. II, S. 392, 13. November 1949), Liebender zu sein, ach, wer erfaßt es (Bd. II, S. 333, 18. November 1949), Wieviel Morgensonnen haben ihr Ebenbild (Bd. II, S. 333 18. November 1949), Mit Atem besiegte ich dich: Du merktest nichts (Bd. II, S. 334, 18. November 1949), Fremd ist mir meines Haupthaars Wolle (Bd. II, S. 334, 18. November 1949, Carmody: The Poetry [Anm. 12]: 20. Dezember 1949), Wer immer dir begegnet (Bd. II, S. 338, 18. November 1949; Carmody: The Poetry [Anm. 12] und Schwandt: Korrekturen [Anm. 12]: 18. Dezember 1949), Hab ich gepflückt in den Gärten von Ephesus (Bd. II, S. 335, 9. Dezember 1949), Es spricht sich herum daß deine Füße rasche Fische sind (Bd. II, S. 335, 9. Dezember 1949), In deinem Haupte streichle ich das Feuer das mich versengt (Bd. II, S. 336, 15. Dezember 1949), Mein Wind! Mein Bruder! Eile mit mir zu ihr! (Bd. II, S. 336 f., 17. Dezember 1949) und Das ewige Licht deiner Liebe (Bd. II, S. 337, 18. Dezember 1949) mit der wohl früheren Fassung Die Ampeln deiner Gegenwart (Bd. II, S. 338, 18. November 1949). Schwandt: Korrekturen [Anm. 12] nennt außerdem die Gedichte Von deinem Veilchen (17. Dezember 1949, Bd. II, S. 331, dort auf den 21. Oktober 1948 datiert), Carmody: The Poetry [Anm. 12] gibt zusätzlich die Entstehung im Dezember 1949 und Januar 1950 für Die Himmelfahrt (Bd. II, S. 346). 15 Weder die Ergänzungen von heterogenem Material noch die Veränderung im Bereich der Bindung wird von Barbara Glauert-Hesse beschrieben (Goll: Die Lyrik in vier Bänden [Anm. 6], Bd. II, S. 614). 16 Siehe Abbildung Nr. 9, leider in schwarz-weiß, mit Detailansicht des manipulierten Datums in: Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre (Anm. 1). 17 Es handelt sich um das Straßburger Exponat Nr. 56. Zur Ausstellung siehe ebd., S. 703. „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 193 Im Gegensatz zu den im Goldenen Tor publizierten scheint keines der Gedichte des ursprünglichen Geschenk-Zyklus auf französischsprachigen Vorlagen zu beruhen. Es handelt sich hier wirklich um einen deutschsprachigen Neuanfang. Das gilt auch für die Form; Goll schreibt in diesem Sinn am 16. Dezember 1949 in seinen Notizkalender: „J’ai commencé à écrire plusieurs Horazische Oden.“ 18 - die meisten der tatsächlich zu Weihnachten überreichten Gedichte der Liebessonne sind in Odenform geschrieben. Alle sind sie auf ein Du zugesprochen, das in Ich hörte steigen aus dir den frierenden Vogel der Frühe in jeder Strophe „meine Geliebte“ genannt wird. 19 Sie, diese Geliebte, wird dort mit den vier Elementen in der Schöpfung verortet, die also ohne die Geliebte nicht vorstellbar ist. Das passt durchaus zu einem Geschenk für Claire und unterscheidet sich in der Form wohl, in der Sprechhaltung aber nicht grundsätzlich von den Malaiischen Liedern für Paula Ludwig, wenn es sich dort auch um Rollengedichte handelt und er, der Geliebte angesprochen ist: Den Versen „Ich war der Fragende und du die Magierin / Auf dem Dreistuhl der Zeit / / Ich brachte dir mein Traumtier zum Opfer / Du gabst mir zurück den Rauch der Erinnerung“ 20 sind die fast 17 Jahre nach „Über meine Äcker bist du geschritten / Sie haben die Fröhlichkeit deiner Füsse vernommen / / Du hast die Angst meiner Gräser gepflückt / Du hast die Wunden meiner Blumen verschüttet“ 21 kaum anzumerken. Yvan Goll versucht mit diesen neuen deutschen Gedichten vom Dezember 1949 offensichtlich, Anschluss an seine letzten genuin deutschen Gedichte vor der Emigration zu bekommen. Dabei setzt er mit der Liebessonne eine Form fort, mit der er bereits wenige Wochen vor der Begegnung mit Celan - siehe die Ode an den Zürichsee vom 23. Oktober 1949 - zu experimentieren beginnt. 22 Die drei zusätzlich angebundenen Gedichte sind mit den hier vorgestellten nicht vergleichbar: Auch für sie scheint es zwar keine französischen Grundlagen zu geben, keines aber nähert sich festen Formen und die Du-Ansprache dominiert zumindest nicht den Ton. Das zweite und das dritte Gedicht gehören zu den letzten genau datierbaren deutschsprachigen Gedichten des Sterbenden. 23 Die Hütte aus Asche möchte ich hier genauer ansehen. Die ursprüngliche Reinschrift in blauer Tinte wurde mit Bleistift von Yvan Goll weiterbearbeitet: 18 Unveröffentlicht. Der Eintrag gibt zur Vermutung Anlass, dass im November 1949 liegende Entstehungsdaten von Oden aus der Liebessonne teilweise oder insgesamt auf einer fehlerhaften Lesung schlampig geschriebener Monatsangaben beruhen (siehe die z. T. abweichenden Lesungen von Schwandt: Korrekturen [Anm. 12] und Carmody: The Poetry [Anm. 12] in Anm. 14), die Gedichte also tatsächlich im Dezember entstanden sind. 19 Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. II, S. 343. 20 V. 1-4, ebd., Bd. II, S. 342, dort in V. 2 „Dreihstuhl“ (Druckfehler). 21 V. 1-4, ebd., Bd. II, S. 187, vom 1. März 1933. 22 Ebd., Bd. II, S. 413. 23 Das letzte ist Das Wüsten-Haupt (Notizkalender: 9. Januar 1950), ebd., Bd. II, S. 347 f. 194 Barbara Wiedemann Die Hütte aus Asche Ich dachte zu spät an ein Haus aus klingendem Glas Mit Feuer- und Wasserlilien als Wache <Wir hatten kein Haus wie die andern an der sicherenr Straße> Wir mußten immer weiterwandern Im Schnee, der weder Salz noch Zucker war DieAn runden Kegel<n> des Mondes entlang Du riefst nach deinen Schutzvögeln Die hoch im Äther zu den Gräbern Afrikas flogen Die Straße des Vergessens machte große Schleifen Und keine blasse Blume am Weg Gen Mitternacht fand sich eine Hütte aus Asche Man hörte die lachenden Gebisse der Wölfe Mit Fackeln hielt ich sie fern Und fing im Nesselbach einen Ölfisch Der uns lange erwärmte Breit war das Bett aus geschnitztem Schnee Und da geschah das Wunder: Dein goldener Leib erstrahlte als nächtliche Sonne 24 Die Korrekturen zeigen wichtige Tendenzen der spätesten Gedichte. In den Oden im vorderen Teil der Liebessonne fallen Preziosen in der Bildlichkeit auf: Ein „silbernes Muschelohr“ 25 etwa, „Alabastersäulen und Bergkristall“ 26 oder ein „Rubin“. 27 Im vorliegenden Gedicht wird gerade ein Restbestand an Preziosen getilgt, das von Lilien bewachte Glashaus. Es bleibt „goldener Leib“ als „Wunder“ am Schluss, prägend aber ist anderes: die Obdachlosigkeit im tiefsten Sinn des Wortes, eine durch bedrohliche Raubtiere und die Abwesenheit von Schutz und Blumen gekennzeichnete, unwirtliche Mondlandschaft. Ähnliches ließe sich an Der Salzsee beobachten; auch dort Unwirtlichkeit durch die Reduktion der Farben, auch dort die Bedrohung durch Tiere, die es zu bekämpfen gilt. 28 24 Hinzufügungen in < >; Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. II, S. 345, gibt unkommentiert sowohl den hinzugefügten, als auch die gestrichenen Verse, das entspricht nicht der vom Dichter intendierten Endfassung. 25 Leg an mein Ohr dein silbernes Muschelohr , ebd., Bd. II, S. 340. 26 Ich hab dir einen Regenpalast erbaut , V. 2, ebd., Bd. II, S. 341. 27 Ich höre steigen aus dir den frierenden Vogel der Frühe , V. 5, ebd., Bd. II, S. 343. 28 Ebd., Bd. II, S. 344. „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 195 Ähnliches ist schon in Das Dreieckstier ansatzweise zu beobachten; die Form, in der das 1948 gesagt wird, weicht aber stark ab. Die Nachkorrektur im neuen ersten Vers verstärkt bereits Angelegtes und damit eine weitere Tendenz: die zur doppelten Senkung. Die Gedichte im Geschenkteil der Liebessonne funktionieren nach anderen metrischen Kriterien; mehr als eine doppelte Senkung gibt es selten im Vers. Hier aber wird durch die verschiedenen Korrekturvorgänge alles getan, um einen rein daktylischen ersten Vers zu erhalten. Beide ersten Verse der ursprünglichen Fassung haben zumindest eine einsilbige Senkung; aus dem neuen Eingangsvers „Wir hatten kein Haus wie die ándern án der sícheren Straße“ wird auch der letzte einsilbige Rest entfernt: „Wir hatten kein Haus wie die ándern an sícherer Straße.“ Im Weiteren gibt es zwar nicht durchgehend zweisilbige Senkungen, das Verhältnis zwischen ein- und zweisilbigen Senkungen hat sich gegenüber den Gedichten aus dem Goldenen Tor zugunsten letzterer aber umgekehrt und bestimmt den Ton. Ähnliches lässt sich auch über andere um die Jahreswende 1949 / 50 entstandene Gedichte sagen: „Die Angst deiner Hände ist leicht wie der Rauch über Äckern“ 29 etwa oder „Du Tochter der Tiefe, wie halt ich dich hier im Glashaus des Mondes“. 30 Beide Gedichte sind in einer handschriftlich von Yvan Goll notierten Liste der am 11. Februar 1950 an Alain Bosquet gesandten Gedichte enthalten, deren Daten Claire Goll ebenfalls für die Straßburger Ausstellung manipuliert hat. 31 Die Hütte aus Asche ist im Nachlass Paul Celans als Typoskript unter dem Titel Aschen-Hütte erhalten. 32 Aus einer gestrichenen Randbemerkung Celans in seinem Exemplar des Sammelbandes von 1960 33 geht hervor, dass er zumindest zeitweise daran zweifelt, ob der deutsche Wortlaut nicht eine Übersetzung von ihm, Celan, ist: „? von mir übersetzt? “. 34 Alternativ schlägt er vor, nach einer Handschrift zu forschen. Nach der Begutachtung eben dieser besteht kein Zweifel: Yvan Goll hat dieses deutsche Gedicht geschrieben. II. Damit komme ich zu Paul Celans Gedichten aus der Zeit vor und nach seiner Begegnung mit Yvan Goll. Der beim ersten Besuch überreichte Band Der Sand aus den Urnen enthält in seinem ersten Zyklus vorwiegend Gedichte, für die 29 Die Angst-Tänzerin , V. 1, ebd., Bd. II, S. 346. 30 Tochter der Tiefe , V. 1, ebd., Bd. II, S. 348. 31 Siehe Abbildung 10 in: Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre (Anm. 1) sowie ebd. S. 152-154. 32 Ebd., S. 25 f., die Titelform entspricht derjenigen in der Liste für Alain Bosquet. 33 Yvan Goll: Dichtungen. Lyrik - Prosa - Drama. Hg. von Claire Goll. Darmstadt [u. a.] 1960. 34 Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre (Anm. 1), S. 25. 196 Barbara Wiedemann Golls Beschreibung im Notizkalender, „les ombres de Rilke et Trakl s’effacent petit à petit devant son clair génie“, 35 durchaus zutrifft. Diese Gedichte entstammen der Zeit vor Celans Ankunft in Bukarest 1945. Der zweite Zyklus enthält in Bukarest und Wien zwischen April 1945 und Juli 1948 Geschriebenes. Der größte Teil davon geht in den ersten Zyklus von Mohn und Gedächtnis ein. Die wohl Ende 1944 in Czernowitz geschriebene Todesfuge 36 schließt Der Sand aus den Urnen ab, steht aber chronologisch zwischen den Zyklen des Wiener Bandes. Wegen sinnentstellender Druckfehler lässt Celan den Band schon im Winter 1948 aus dem Handel nehmen - Yvan und Claire Goll erhalten also eines von Celans Autorenexemplaren, das er am 26. Januar 1952 beim letzten Treffen mit Claire Goll wieder an sich nimmt. Das Gedicht Das Gastmahl ist in einer Sendung an den Zürcher Feuilletonredakteur der Tat , Max Rychner, vom 4. Dezember 1946 belegt und liegt im Mai 1947 gedruckt in einem mehrsprachigen Bukarester Almanach 37 vor: Das Gastmahl Geleert sei die Nacht aus den Flaschen im hohen Gebälk der Versuchung, die Schwelle mit Zähnen gepflügt, vor Morgen der Jähzorn gesät: es schießt wohl empor uns ein Moos noch, eh von der Mühle sie hier sind, ein leises Getreide zu finden bei uns ihrem langsamen Rad … Unter den giftigen Himmeln sind andere Halme wohl falber, wird anders der Traum noch gemünzt als hier, wo wir würfeln um Lust, als hier, wo getauscht wird im Dunkel Vergessen und Wunder, wo alles nur gilt eine Stunde und schwelgend bespien wird von uns, ins gierige Wasser der Fenster geschleudert in leuchtenden Truhen -: es birst auf der Straße der Menschen, den Wolken zum Ruhm! So hüllet euch denn in die Mäntel und steiget mit mir auf die Tische: wie anders sei noch geschlafen als stehend, inmitten der Kelche? Wem trinken wir Träume noch zu, als dem langsamen Rad? 38 35 Ebd., S. 17. 36 Paul Celan: Der Sand aus den Urnen. Wien 1948, S. 59 f. (Celan: Die Gedichte [Anm. 7], S. 40 f.); zur Datierung siehe Barbara Wiedemann: Welcher Daten eingedenk? Celans „Todesfuge“ und der „Izvestija“-Bericht über das Lemberger Ghetto. In: Wirkendes Wort 61 (2011), S. 437-452. 37 Ion Caraion / Virgil Ierunca Agora (Hg.): Colecţie internatională de artă şi literatură. Bukarest 1947, S. 69. 38 Celan: Der Sand (Anm. 36), S. 44 (Celan: Die Gedichte [Anm. 7], S. 33). „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 197 Die drei Strophen aus dreizehn Versen zeigen eine auf die griechische Kolchis- Sage anspielende Vision: Die „Wir“ genannten Zecher sind die Handelnden bei einer Aussaat, die „Jähzorn“, also keine angenehme Ernte erwarten lässt. Sie tun dies, um der Ankunft der zur Mühle gehörenden „sie“ zuvorzukommen, die nicht Zornessaaten suchen, sondern „ein leises Getreide“. Die Stimmung ist so ambivalent wie bedrohlich. In Sprechhaltung und sprachlich-metrischer Form ist das Gedicht typisch für den Zyklus von Der Sand aus den Urnen , und zwar nur für diesen. Die Stropheneinheit ist jeweils durch formale Verfahren gestaltet: Assonanzen in der Mittelstrophe (fast durchgehend Schlusswörter mit dem Tonvokal ‚u‘) und die Wiederaufnahme aus dem Schlussvers der ersten Strophe in dem der dritten („langsamen Rad“). Auffallend sind Archaismen in Wortschatz und Flexion („Geleert sei“, „falber“, „so hüllet euch denn“, „steiget mit mir“, „wie anders sei noch geschlafen“). Die langen, ungereimten Verse haben überwiegend zweisilbige Senkungen; sie nehmen damit die Versform der Todesfuge auf, sind aber kompakter und wiederholen nicht deren - in Celans Werk dieser Zeit einmalige - große, an eine Ballade erinnernde Form. In den für Mohn und Gedächtnis neu konzipierten, seit der Ankunft in Paris entstandenen Zyklen sind die Gedichte in der Regel kürzer als Das Gastmahl - im ersten Pariser Zyklus kürzer als im zweiten - und haben in der Regel auch kürzere, meist aber ebenfalls reimlose Verse. 39 Ich bin allein aus dem ersten, bis Oktober 1950 entstandenen Zyklus ist charakteristisch für diese Phase: Ich bin allein, ich stell die Aschenblume ins Glas voll reifer Schwärze. Schwestermund, du sprichst ein Wort, das fortlebt vor den Fenstern, und lautlos klettert, was ich träumt, an mir empor. Ich steh im Flor der abgeblühten Stunde und spar ein Harz für einen späten Vogel: er trägt die Flocke Schnee auf lebensroter Feder; das Körnchen Eis im Schnabel, kommt er durch den Sommer. 40 Wie der Rhythmus - keine überlangen Daktylen mehr - hat auch die Bildlichkeit ihren durch den Bukarester Surrealismus angeregten, bedrohlich wuchernden Charakter verloren. Der Dichter fängt an, sparsamer mit Sprache und Bildern umzugehen. Die Aussage ist von nur zwei Bildbereichen bestimmt: Pflanzliches und winterliche Niederschläge. Feste Gedichtformen wie Oden oder Sonette 39 Ausnahmen sind die gereimten Gedichte So schlafe , So bist du denn geworden und Sie kämmt ihr Haar (Celan: Die Gedichte [Anm. 7], S. 46 und S. 51). 40 Paul Celan: Mohn und Gedächtnis. Stuttgart 1952, S. 53 (Celan: Die Gedichte [Anm. 7], S. 45). 198 Barbara Wiedemann fehlen vollständig. Allerdings sind gut überschaubare, sorgfältig konstruierte Gedichte wie dieses für die ersten Pariser Jahre prägend: Aus zwei ungereimten kürzeren Strophen gleicher Länge - drei oder vier Verse - mit jeweils parallelen Anfängen bestehen weitere fünf Gedichte, ein zusätzliches dieser Länge ist gereimt. Die Teilung der Aussage in zwei Strophen wird nicht selten dazu genutzt, eine Gegenüberstellung oder Entwicklung deutlich zu machen. Im vorliegenden Gedicht ist jede Strophe in sich schon durch einen Gegensatz gestaltet: Eine doppelte Handlung des Ich („Ich bin“, „ich stell“ bzw. „Ich steh“ und „spar“) steht einer Handlung Dritter gegenüber, deren Urheber jeweils noch vor der Strophenmitte genannt („Schwestermund, / du sprichst“ bzw. „für einen späten Vogel: / er trägt“) und damit formal zur Ich-Handlung in Beziehung gesetzt ist. Der Gegensatz in den Strophen stellt sich dar als der von „Aschenblume“ und „lebensroter Feder“. III. Haben die vier hier vorgestellten Gedichte und die von ihnen vertretenen Werkphasen der beiden Dichter miteinander zu tun? Es geht gewiss nicht darum, nach vergleichbaren „Metaphern zu schnüffeln“, wie Celan das in den frühen 1960er Jahren kritisch genannt hat. 41 Wenn sich das Wort „Asche“ sowohl in Die Hütte aus Asche als auch in Ich bin allein findet, bedeutet das keine Abhängigkeit und muss auch nicht mit der „Weltsprache der modernen Poesie“ begründet werden, mit der Anfang der 1960er Jahre, in Anlehnung an eine Formulierung von Hans Magnus Enzensberger im Vorwort zu seinem Museum der modernen Poesie , gerne argumentiert wurde. 42 Sondern allein mit der traurigen Tatsache, dass der Vernichtungsantisemitismus des Deutschen Reichs aus Menschen wie Yvan Goll und Paul Celan Asche gemacht hat. Das hat keiner der beiden Dichter aus der Literatur entnehmen müssen, welcher auch immer. Anderes erscheint mir wichtig. Golls nach-exilische Entwicklung bis zu den letzten Gedichten aus dem Januar 1950 deutet auf ein besonderes Ereignis im Spätherbst 1949, das ihm offenbar Ermutigung ist, überhaupt wieder genuin deutsche Gedichte zu schreiben; allein die große Zahl um die Jahreswende 1949 / 1950 entstandener deutscher Gedichte ohne französische Vorlagen zeugt von einem kreativen Schub. Seit Dezember 1949 ist zudem ein für Goll wirk- 41 Notiz von 1960 (Wiedemann [Hg.]: Paul Celan - Die Goll-Affäre [Anm. 1], S. 484). 42 Im Kapitel „Weltsprache der modernen Poesie“ formuliert Enzensberger: „Der Prozeß der modernen Poesie führt, wie sich an den Texten dieses Museums zeigen läßt, in wenigstens fünfunddreißig Ländern zu Ergebnissen, die Vergleich über Vergleich herausfordern: er führt, mit einem Wort zur Entstehung einer poetischen Weltsprache.“ (Frankfurt / M. 1960, S. 13). „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 199 lich neuer Ton zu hören; darauf weist 1962 schon Francis Carmody hin. 43 Die auffallendsten Veränderungen in Golls später Entwicklung betreffen nicht die Bildlichkeit, sondern die an Die Hütte aus Asche beobachtete Tendenz zum daktylischen Langvers. Ohne Zweifel: Hier ist die Inspiration durch Celans Bukarester Gedichte zu spüren. Dass in einzelnen im Dezember 1949 entstandenen Versen - V. 1 des titellosen Gedichts Fremd ist mir meines Haupthaars Wolle etwa, oder „Das krause Haar deiner Nelken“, V. 2 von in Hab ich dich gepflückt in den Gärten von Ephesus 44 - die Faszination über eine rhythmische Annäherung hinausgeht und die für ein bestimmtes Gedicht Celans zeigt, das Bukarester Gedicht Der Stein aus dem Meer mit den Versen „Sie tragen ihm Lanzen voran, so trugen wir Traum, so entrollt’ uns das weiße / Gespinst um sein Haupt: eine seltsame Wolle, / an Herzens Statt schön.“ 45 , sei nur am Rande bemerkt. Derartige konkrete Anklänge sind nicht allzu häufig, zumindest in den tatsächlich von Yvan Goll stammenden Gedichten 46 - und um Claire Golls Nachlassbearbeitungen mit Der Sand aus den Urnen in der Hand geht es hier nicht. Der Befund deckt sich im Übrigen mit einer Aussage Celans vom 5. Mai 1960, deren Ton („ dieser Goll“) unter anderem daraus zu erklären ist, dass er an diesem Tag Claire Golls antisemitisch gefärbten Plagiatvorwurf in der Münchner Zeitschrift Baubudenpoet 47 erstmals vollständig lesen konnte: „Wie viele haben, wie dieser Goll, ihre Gedichte nur deshalb schreiben können, weil es die meinen gab! “, schreibt er an Klaus Demus, der selbst Zeuge von Golls letzten Lebenswochen ist. 48 Mit „weil es die meinen gab“ differenziert Celan sehr genau zwischen der Inspiration Yvan Golls und den Plagiaten von dessen Witwe. Zeigen Celans Gedichte der frühen 1950er Jahre umgekehrt, dass er von Golls Gedichten beeindruckt war? Dafür gibt es weder auf formaler Ebene noch in der Bildlichkeit Anhaltspunkte. Celan entfernt sich vielmehr von Golls späten Gedichten, wie er sich von seiner eigenen frühen Werkstufe entfernt. Zu diskutieren ist freilich ein möglicher Einfluss durch Golls früheres Werk, vor allem durch Celans übersetzenden Umgang mit den französischen Gedichten in Elégie 43 Yvan Goll: Jean sans Terre. Hg. von Francis Carmody. Berkely und Los Angeles 1962, S. 203. Folgen für die Plagiatsdiskussion hatte der Hinweis nicht. 44 Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. II, S. 334 und S. 335. 45 Celan: Der Sand (Anm. 36), S. 46 (Celan: Die Gedichte [Anm. 7], S. 34). 46 Im Zusammenhang mit Die Angst-Tänzerin (Goll: Die Lyrik in vier Bänden [Anm. 6], Bd. II, S. 346) bemerkt Celan selbst: „/ Hauptsächlich an ‚Das ganze Leben‘ - ‚Plan‘ Anfang 48, ‚Der Sand aus den Urnen‘ 48, S. 51 - ‚angelehnt‘ …“ bzw. „vgl. d. g. Leben“ (Wiedemann [Hg.]: Paul Celan - Die Goll-Affäre [Anm. 1], S. 26 f.). Das ganze Leben entstand am 28. Dezember 1946 in Bukarest (Celan: Der Sand [Anm. 36], S. 51, Celan: Die Gedichte [Anm. 7], S. 37 f.). 47 Claire Goll, Unbekanntes über Paul Celan. In: Baubudenpoet 5 (März / April 1960), S. 115 f. 48 Paul Celan - Klaus und Nani Demus: Briefwechsel. Hg. und kommentiert von Joachim Seng. Frankfurt / M. 2009, S. 299. 200 Barbara Wiedemann d’Ihpétonga suivie de Masques de Cendre und Chansons Malaises . 49 Dazu abschließend einige Überlegungen. Die ersten zehn Verse des Gedichts Chien de ma mort aus den Masques de Cendre sind Grundlage für eines der ersten deutschen Gedichte, die Goll selbst nach seiner Rückkehr für eine Öffentlichkeit freigibt, Bluthund ; das deutsche Gedicht schickt Goll am 18. Mai 1948 an Iwan Heilbut für eine Anthologie: Chien de ma mort Chien rouge assis devant ma porte et veillant sur mes feux Mangeur de cœurs et de rognons dans les faubourgs de ma détresse Ta langue chaude une flamme mouillée Lèche le sel de ma sueur le soufre de ma mort Chien rouge de ma chair Happe les rêves qui m’échappent Aboie à mes fantômes blancs Ramène à leur bercail Toutes mes gazelles voleuses Et mords l’osselet de l’Ange en déroute […] 50 Bluthund Bluthund vor meinem Herzen Wachend über mein Feuer Nähre dich von bittrer Niere In der Vorstadt meines Elends Leck mit nasser Flamme deiner warmen Zunge Salz meines Schweißes Zucker meines Tods Wächter vor meinem Fleisch Fang die Träume die mir entfliegen Bell die weißen Geister an Bring zurück zu ihrem Pferch Alle meine Gazellen Beiß die Knöchel meines fliegenden Engels 51 Paul Celan hat das ganze Gedicht Chien de ma mort auf Golls Bitte hin übersetzt, der Text liegt als Todeshund vor; hier ebenfalls nur die ersten zehn Verse: Roter Hund der du kauerst vorm Tor der du wachest bei meinen Feuern Der du issest die Herzen und Nieren in meines Elends Vorstadt Es ist deine Zunge ein Flammennaß Sie leckt meines Schweißes Salz meines Todes Schwefel 49 Der von Celan ebenfalls übersetzte Band Les Georgiques Parisiennes (Paris 1951) muss hier unbeachtet bleiben; Celan kannte die Gedichte nur in der von Claire Goll publizierten Form, die sie aus in nicht in fertigem Zustand hinterlassenen Entwürfen, ähnlich wie viele Gedichte in Traumkraut (Wiesbaden 1951), postum hergestellt hat. 50 V. 1-10, Goll: Die Lyrik in vier Bänden (Anm. 6), Bd. IV, S. 390. 51 Ebd., Bd. II, S. 313; die dort angegebene Datierung bezieht sich auf das Datum der Absendung an Heilbut, nicht die Entstehung des Gedichts. Die Publikation kam nicht zustande. „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 201 Roter Hund meines Fleisches Packe den Traum den ich nicht mehr erhasche Bell meine weißen bell meine Schemen an Treib heim in die Hürde Meine entsprungnen Gazellen Dem flüchtigen Engel schlag deinen Zahn in den Knöchel […] 52 Eine Übertragung ist die Möglichkeit, um in intensiven Kontakt zu einem Text und dessen Autor zu kommen. Wie produktiv ein übersetzender Kontakt sein kann, wissen wir etwa von Celans Auseinandersetzung mit dem Werk des russischen Dichters Ossip Mandelstamm. 53 Bei der Gegenüberstellung von Golls Gedicht Bluthund mit Celans Übertragung Todeshund - ich mache bewusst diesen Unterschied - interessiert also vor allem die Frage, wie genau sich Celans deutsche Fassung am Ausgangstext orientiert und welche eigenen Akzente er setzt. Dass Celan das seinerzeit nicht veröffentlichte Gedicht Bluthund gekannt hat, ist im Übrigen eher unwahrscheinlich. Der Übersetzer versucht, mit den Mitteln der deutschen Syntax Vers für Vers das im französischen Gedicht Gesagte wiederzugeben. Es wird häufig übersehen, dass es Celan auf Genauigkeit in der Übersetzung durchaus ankommt, wenn er auch gleichzeitig darauf besteht, dass ihm nur seine je aktuelle, persönliche Sprache für eine konkrete Übertragung zur Verfügung steht. Im vorliegenden Fall bemüht er sich zumindest in den kürzeren Versen, wichtige Stellen im Vers wie Anfang und vor allem Schluss mit Wortschatzelementen zu besetzen, die dem französischen Original entsprechen: In V. 6, wo die deutschen Verben entsprechend „happe“ und „m’échappent“ platziert werden, ergibt sich das zwar von selbst, er bemüht sich aber auch, den Binnenreim wenigstens als Assonanz zu behalten; und in V. 8 übersetzt er nicht „Treib in die Hürde heim“, sondern so, dass „Hürde“, entsprechend „bercail“ an den Versschluss zu stehen kommt, „Treib heim in die Hürde“. Die Übertragung ist durchaus originalgetreu zu nennen: Nicht übersetzt zu haben, könnte man Celan allein ein „Toutes“ (V. 9) oder ein „et“ (V. 10) vorwerfen. Die ungewöhnliche Trennung von Substantiv und Adjektiv in V. 7, „Bell meine weißen bell meine Schemen an“, ist bei gutem Willen als wohlüberlegtes Verfahren der Genauigkeit zur Hervorhebung der 52 Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre (Anm. 1), S. 57. 53 Siehe dazu Barbara Wiedemann: Eine Flaschenpost auf Atemwegen. Paul Celans zweite Begegnung mit Ossip Mandelstamm. In: Sprachkunst 36 (2005), S. 69-97. 202 Barbara Wiedemann Farbe zu deuten - „blancs“ steht durch die Nachstellung im Französischen im betonten Versschluss. Weniger als das Fehlende sind es die Zusätze, die den deutschen Text wirklich zu einem deutschen und zu einem Text Celans machen. So gestaltet er V. 10 neu, um auch im Deutschen ein transitives Verb zu erhalten: Im wörtlichen „Beiß den Knöchel“ (so formuliert Goll selbst) fehlt ihm wohl die Eindrücklichkeit, die das Verb mordre assoziativ - französisch mort und deutsch ermorden - vermittelt: Mit seiner Lösung „schlag deinen Zahn in den Knöchel“ unterstreicht Celan nun die aggressive Nuance. Und in den ersten vier Versen löst er die Partizipien- und Substantiv-Lastigkeit, die im Deutschen wohl, im Französischen aber unproblematisch ist, in Sätze auf. Gerade die ersten beiden, sehr langen Verse mit ihren durch archaisierende Verbformen erzwungenen Daktylen klingen nun in der Tat wie Golls späteste deutschen Gedichte, wie „Die Angst deiner Hände ist leicht wie der Rauch über Äckern“ 54 oder „Und mir aus dem Meer die Nahrung des Tages fischen“. 55 Allerdings sind dies gerade solche Verse, die die Lektüre von Der Sand aus den Urnen nicht leugnen können und eben keine Orientierung des Übersetzers am Spätwerk des Autors. Gerade die Archaismen trifft man in Celans Bukarester Gedichten, etwa als „So hüllet euch denn in die Mäntel und steiget mit mir auf die Tische“ in Das Gastmahl . Goll geht Anfang 1948 in Bluthund andere Wege - als Autor hat er auch alle Freiheiten! Er kürzt die Verse inhaltlich und bricht sie; das im Deutschen problematische Partizip Präsens vermeidet er gerade nicht. Im Vergleich entspricht Celans Todeshund sehr viel eher Golls letzter Werkphase als Bluthund . Yvan Goll ist von Celans Arbeit wohl auch nicht nur als Übertragung angetan; daran erinnert sich Celan am 17. Juli 1956 in einem Brief an Hermann Lenz: Ich hatte damals auch mehrere französische Gedichte von Goll ins Deutsche übersetzt, um Goll das Gefühl der geistigen Vereinsamung zu nehmen, er hatte nur lobende Worte für diese Übersetzungen, ich mußte versprechen, mehr zu übersetzen. Ich tat es, obwohl mich das Bestreben Golls - und besonders Claire Golls -, alles zu Literatur zu machen, befremdete. 56 In der Tat figuriert Todeshund unter den Gedichten für den zweiten Zyklus von Das Traumkraut , die Goll am 9. Februar 1950 an Alain Bosquet schickt, ohne Übersetzerangabe. Ob er das frühe Gedicht Bluthund im ersten Zyklus belassen hätte, sei dahingestellt. Unter den versandten Gedichten finden sich eine ganze 54 V. 1 von Die Angst-Tänzerin (Goll: Die Lyrik in vier Bänden [Anm. 6], Bd. II, S. 346). 55 V. 2 von Es spricht sich herum daß deine Füße rasche Fische sind (ebd., Bd. II, S. 334). 56 Paul Celan - Hanne und Hermann Lenz: Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Hanne Lenz. Frankfurt / M. 2001, S. 55. „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 203 Reihe von heute im Konvolut Die Liebessonne zusammengefassten, und, neben Todeshund , auch Rasiel’s Gesang und Gipskopf . Auch das sind Übertragungen Celans, für die handschriftliche Fassungen von Goll selbst nicht vorliegen: Yvan Goll will Celans deutsche Fassungen offenbar wie eigene Gedichte verwenden, im Nachlass liegen sie auch in von Claire Goll weiterbearbeiteten Fassungen vor. 57 Celan gegenüber behauptet sie in einem Brief aus Stuttgart, im Juni 1951 beim Süddeutschen Rundfunk Todeshund gelesen zu haben. 58 Von solchen Erfahrungen her lassen sich 1960 geäußerte Vorwürfe Celans nicht nur an Claire, sondern auch an Yvan Goll - sie sind selten - deuten: „Die Erde sei ihm leicht, aber - auch dieser Iwan Goll war kein anständiger Mensch“, schreibt Celan am 3. Juli 1960 an Klaus Demus und nimmt schon am 4. August 1956 dem Freund gegenüber Geäußertes wieder auf: Klaus, noch etwas: ich kann auch Iwan Goll nicht schonen. Ich habe es bisher getan, jetzt kann ich’s nicht mehr in diesem Maße. Denn daß er - leider - kein Ehrenmann war, habe ich ebenfalls erfahren. Ich muß Dich an folgendes erinnern, Klaus: Du warst dabei, als unter den „nachgelassenen“ Gedichten auch eines der von mir übersetzten (ich glaube der ‚Todeshund‘) zum Vorschein kam; ein paar Worte waren, nicht eben glücklich, geändert, und darunter stand … Iwan Goll … 59 Wieder ist der scharfe Ton aus der Situation heraus zu deuten - die Umstände von 1960 kennen wir schon; 1956 wird Celan mit anonymen Briefen des Plagiats bezichtigt, in einem französischen Goll-Sammelband bringt Claire Goll als Übersetzerin eines deutschen Nachworts eine Spitze auf Celan unter, außerdem erscheinen die Pariser Georgika in einer deutschen Fassung von Claire Goll, die mit der nicht publizierten Celans mehr als nur zufällige Übereinstimmungen hat. 60 Ohne den Hintergrund der Plagiatvorwürfe von Claire Goll gegenüber Celan wäre der aus der Liste an Bosquet ablesbare Vorgang auch als Verzweiflungsgeste eines Sterbenden zu deuten, der sieht, dass er sein Werk selbst nicht mehr vollenden kann. 57 Siehe dazu Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre (Anm. 1), S. 67 f. 58 Eine Lesung von Celans Übertragungen durch Claire Goll in Stuttgart ist nicht nachzuweisen (siehe ebd. S. 166 f.). In ihrem Brief vom 14. Juni 1951 nennt sie als Titel, wohl aus dem Gedächtnis, Roter Hund meines Todes . 59 Celan / Demus: Briefwechsel (Anm. 48), S. 318 und S. 209. 60 Zu den anonymen Briefen siehe Wiedemann (Hg.): Paul Celan - Die Goll-Affäre (Anm. 1), S. 198-201, zum Goll-Band in der Reihe Poètes d’aujourd’hui ebd., S. 213-215; ebd., S. 142-151, Detail-Hinweise zur zweisprachigen Ausgabe Yvan Goll: Pariser Georgika. Übertragen von Claire Goll. Darmstadt [u. a.] 1956. „‚Todesfuge‘ notamment nous empoigne“ 205 „Der Mensch hat sich die Sterne erfunden“ Konstellationen des Verhängnisses in Yvan Golls Werk Nelia Dorscheid, Saarbrücken In Yvan Golls Appell an die Kunst von 1917 heißt es über die Aufgabe des Künstlers: „Deine Arbeit ist Kampf: Kampf wider den Schlaf und die Stumpfheit, Kampf gegen den Nichtgeist und die Nacht. Der Mensch hat sich die Sterne erfunden.“ 1 Dieser Gedanke wird in dem Gedicht Karawane der Sehnsucht fortgeführt: „Irgendwo springt ein Mensch aus dem Fenster, / Einen Stern zu haschen, und stirbt dafür“. 2 Diese Abhängigkeit zwischen „Mensch“ und „Stern“ als eine Konjunktion von Macht und Ohnmacht, Erschaffen und Vernichten erzählt die Geschichte eines Verhängnisses: „Vor allem aber“, so Goll, bedeute die Arbeit des Künstlers den „Kampf gegen dich selbst: gegen die lastende Erbschaft, die du in dir trägst.“ 3 Ein Verhängnis ist begriffsgeschichtlich zunächst das „zum geschehen zugelassene, angeordnete“, auch eine „nachlässigkeit“ oder „erlaubnis […] in der älteren urkundensprache“, schließlich, im Zuge der Reformation, die „verordnung, anordnung“ vonseiten Gottes. Die Aufklärung wandelte diese Zuschreibung in das „verordnete, angeordnete, und zwar das durch höhere macht geordnete, geschick, schicksal“ des Menschen um, auch explizit als „untergang“ und „todesbestimmung“ gedacht: 4 „schlimmer, verheerender Schicksalsschlag, unglückliche Fügung, großes Unglück“. 5 Dieses letzte und heute gängige Verständnis des Wortes entlässt den Menschen vollends aus seinen Möglichkeiten. Seine Auslieferung ist eine totale, da ihm nicht einmal die bittende, eifernde oder hadernde Hinwendung an einen Gott bleibt. Der Mensch ist vereinzelt, sein Schicksal wahrlich unbestimmt. Der Fatalist ruft gerade diese Ohnmacht zum Wirkprinzip seines Lebens aus. Bei Jacob und Wilhelm Grimm wird „fatal“ als 1 Yvan Goll: Appell an die Kunst. In: ders.: Gefangen im Kreise. Leipzig 1988, S. 293 f., hier S. 293. 2 Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse. Bd. I: Frühe Gedichte 1906-1930. Berlin 1996, S. 154. 3 Goll: Appell (Anm. 1), S. 293. 4 Vgl. den Artikel Verhängnis . In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961, Bd. XXV, Sp. 527-529. 5 Vgl. den Artikel Verhängnis . In: Wahrig Deutsches Wörterbuch. Hg. von Renate Wahrig- Burfeind. 9. Auflage. München 2011, S. 1572. 206 Nelia Dorscheid Synonym für „verhängnisvoll“ genannt, von diesem Wort heißt es wiederum, es bedeute „schicksale in sich bergend, schicksale hervorrufend“. 6 Die Sterne symbolisieren in der abendländischen Literatur gemeinhin Unzählbarkeit, Ruhm, den Geliebten oder die Zukunft. In der Moderne tritt der Diskurs über sie und - im Zuge dessen - die Verkehrung ihrer Bedeutung hinzu. Der Stern spricht nun auch von Vereinzelung, Niederheit, Einsamkeit, Begrenztheit. 7 In Clemens Brentanos Gedicht Was reif in diesen Zeilen steht , aus der Spätfassung des Gockel -Märchens, ist das Liebesgedicht Was heiß aus meiner Seele fleht (1834) aus einem Brief an Emilie Linder weiterentwickelt zu einem poetologischen Gedicht. 8 Darin wird die dichterische Schaffenskraft mit den Wuchskräften des Kornes assoziiert: „Die Einfalt hat es ausgesäet, / Die Schwermut hat hindurchgeweht, / Die Sehnsucht hat’s getrieben“. Das Korn verweist auf die Verse jenes Gedichts: „Was reif in diesen Zeilen steht, / Was lächelnd winkt und sinnend fleht, / Das soll kein Kind betrüben“. Doch ist „das Feld einst abgemäht“, so wandelt die „Armut“ darüber hin, liegengebliebene Ähren aufzusammeln, „[s]ucht Lieb’, die für sie untergeht, / Sucht Lieb’, die mit ihr aufersteht, / Sucht Lieb’, die sie kann lieben“. Über Nacht reibt sie, weiterhin „einsam und verschmäht“, betend die Körner aus den Ähren, in der Frühe aber „[l]iest“ sie etwas an das „Feldkreuz [A]ngeschrieben[es]“. Nicht das, was sie zwischen den Körnern gesucht hat, die Liebe selbst, kann sie dort entdecken, wohl aber das, „[w]as Lieb’ erhielt, was Leid verweht“, nämlich „O Stern und Blume, Geist und Kleid, / Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit! “ 9 Wenn das Korn (also die Verse des Dichters) die Liebe sein sollen, so versinnbildlicht die Inschrift des am Feldrand gelegenen Kreuzes eine Prozessionsetappe, eine Weg- oder Unglücksmarkierung oder eine Danksagung und ein Gelübde in schwieriger Zeit. Ihr Segen stellt eine poetologische Reflexionsbewegung zwischen Anrufung und Gewähr dar. Diese dient dazu, mithilfe der beiden Verse einen Segen von höherer Macht zu erbitten, der in wahrlich wunderbarer dichterischer Selbstermächtigung erteilt wird. Somit vermittelt dieses zunächst unscheinbar wirkende Gedicht einen romantischen Schwebezustand, der im Verlauf der Moderne zwar oft genug zu einseitigem Bekenntnisse gerät, in der Regel aber einen Grundgedanken moderner Konstellationen darstellt. Denn die Selbstsegnung der Literatur sieht sich auch weiterhin immer mit einem Hang zur Fremdsegnung konfrontiert (Elias Canetti würde es eine „Todesneigung“ 6 Vgl. den Artikel verhängnisvoll . In: Deutsches Wörterbuch (Anm. 4), Bd. XXV. Sp. 530. 7 Vgl. den Artikel Sterne . In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 369 f. 8 Clemens Brentano: Werke. Bd. I: Gedichte, Romanzen vom Rosenkranz. Hg. von Wolfgang Frühwald [u. a.]. Darmstadt 1968, S. 619. 9 Ebd. „Der Mensch hat sich die Sterne erfunden“ 207 nennen), sie aus der als unmittelbar empfundenen Freiheit in die als mittelbar empfundene zu entlassen. Denn zwei Verse, die - indem sie geschrieben sind, gerade wie ein „Sternbild“ - das Dichten an sich und für sich „erhalten“ sollen, sind keine allzu sichere Bank, zumal wenn sie am Ende des Gedichtes stehen. Die „Lieb’“ oder das, was sie sein soll, ist nun einmal aufgebraucht und muss neu erwiesen werden: „Und ist dies Feld einst abgemäht, / Arm Lindi durch die Stoppeln geht, / Sucht Ähren, die geblieben, / Sucht Lieb’, die mit ihr untergeht, / Sucht Lieb’, die mit ihr aufersteht, / Sucht Lieb’, die ich mußt’ lieben! “ 10 In Brentanos Gedicht Es ist ein Schnitter, der heißt Tod werden dieselben Elemente zu Hilfe angerufen: „O Stern und Blume, Geist und Kleid, / Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit! / Den Kranz helft mir winden, / Die Garbe helft binden, / Kein Blümlein darf fehlen, / Jed Körnlein wird zählen / Der Herr auf seiner Tenne rein, / Hüte dich schöns Blümelein! “ 11 Das Gedicht spielt mit dem christlichen Paradox, dass ein jedes „Blümelein“ sich vor dem Schnitter zu hüten habe, da es in den Erntekranz eingebunden, in dieser Einbindung zugleich gerettet werde. Jene Elemente, unter ihnen der Stern, sind folglich solche der (Ver-)Fügung, während die Liebe selbst unbegriffen, geborgen scheint. Brentanos Gedicht Was reif in diesen Zeilen steht lässt an Georg Trakls Gedicht De profundis II (1912) denken, darin heißt es: „Am Weiler vorbei / Sammelt die sanfte Waise noch spärliche Ähren ein. / Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung / Und ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams.“ 12 Bei Trakl findet die Waise den gewaltsamen Tod durch das Lyrische Ich: „Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern. / Gottes Schweigen / Trank ich aus dem Brunnen des Hains. / […] / Nachts fand ich mich auf einer Heide, / Starrend von Unrat und Staub der Sterne.“ 13 Das Gedicht schreibt am expressionistischen Täter-Mythos mit, der im Sinne eines „Athenäums“-Fragmentes von Friedrich Schlegel wirksam ist: „Sinn für Poesie […] hat der, für den sie ein Individuum ist.“ 14 Jene „Waise“, man denke dabei an die vereinzelte reimlose Verszeile innerhalb einer gereimten Strophe, welche sich im Reim zu einer weiteren Waise, mit dieser zu einem „Korn“ fügt, 15 ist für das Lyrische Ich die individuelle Verkörperung der poesis . Sie ist Zentrum seines Gesichtsfeldes und darin Verhängnis: „Was in der 10 Ebd., S. 546. 11 Ebd., S. 616. 12 Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Hg. von Walther Killy und Hans Szklenar. 2. Auflage. Salzburg 1987, Bd. I, S. 46. 13 Ebd. 14 Friedrich Schlegel: „Athenäums“-Fragmente und andere Schriften. Stuttgart 2005, S. 131. 15 Vgl. den Artikel Waise . In: Wahrig Deutsches Wörterbuch (Anm. 5), S. 820: „Reimen zwei Waisen verschiedener Strophen miteinander, spricht man von ‚Korn‘.“ 208 Nelia Dorscheid Poesie geschieht, geschieht nie, oder immer. Sonst ist es keine rechte Poesie. Man darf nicht glauben sollen, daß es jetzt wirklich geschehe.“ 16 Das romantische Gedicht wird auf charakteristisch frühexpressionistische Art, auf die romantische Weise, fortgeschrieben, und entspricht damit Novalis’ Idee, wonach „[d]ie äußern Erscheinungen sich zu den innern, wie die perspektivischen Veränderungen zu der Grundgestalt [verhalten] - und so wieder die äußern und innern Erscheinungen unter sich.“ 17 Bei Trakl ist das Verhängnis dem Lyrischen Ich mal Impetus, mal Epiphanie; es verhandelt nicht, hadert nicht, ist auf verstörende Art mit sich und seinem Schmerz, wortwörtlich, im Reinen. Elias Canetti bringt dieses Phänomen in einem Aphorismus auf den Punkt: „Den Sinn verhalten , nichts ist so widernatürlich wie die unaufhörliche Aufdeckung des Sinns. Der Vorzug und die eigentliche Macht der Mythen: daß der Sinn nicht genannt wird.“ 18 Golls Lyrisches Ich hingegen lehnt sich auf gegen sein Verhängnis, auch indem es droht: Mich schlägt der Wind. Mit spitzen Steinen stößt Die Straße fremde Ebenen entlang - O fühlst du nicht den Drang, Mein Herz, noch unerlöst, so unerlöst? Erhobener, du heb mich auf! Du weißt von meinem Leid, von meinen Nächten: Du Gott, wenn du nicht sinkst, wenn du nicht niederfällst Und mich erhebst und mich erhöhst: Entflügelter, so spott ich dein! So bist du irdischer als ich, verfelst, Nur Stolz und Stein - Ich aber flieh zu dunklen Ebenen allein! 19 Golls Ich sieht den Menschen von Anbeginn an in einer Welt der Verhängnisse sich einrichten: „Die Fäustchen, wie verkrochne Rosen, / Stemmen sie immer gegen den Himmel, sie wälzen / Des Wiegen-Sarges Deckel von ihrem Haupte.“ 20 Mal begegnet er diesem revoltierend („Knie auf zu mir, du dumpfe Stadt! / Ich bin dein Sohn, dein hochgeborner Sohn: / […] / Und würde dein Laternenmann, mit einem Stern auf seiner Stange, / Und könnte dir dein Herz 16 Schlegel: „Athenäums“-Fragmente (Anm. 14), S. 88. 17 Novalis: Aus dem Allgemeinen Brouillon 1798-1799. In: ders.: Werke. Hg. von Gerhard Schulz. 3. Auflage. München 1987, S. 480. 18 Elias Canetti: Die Fliegenpein. Zürich 1992, S. 82. 19 An den Hügel. In: Goll: Die Lyrik (Anm. 2), Bd. I, S. 170. 20 Säuglinge. In: ebd., S. 156. „Der Mensch hat sich die Sterne erfunden“ 209 anzünden, / […]“ 21 ), mal einfühlend im Sinne der sozialkritischen Großstadtlyrik („Die goldenen zwanzig Mark sind deine einzigen Sterne“ 22 ), schließlich wieder melancholisch: Du heller Funke im Nachtgebüsch, […] Unsicheres Licht, das ein Schicksal über die Erde hält, Vielleicht ein Stern, von dem Millionen Menschen nach neuen Himmeln schmachten, Ein fernes Chaos, an die Nacht vergeudend seine unsagbaren Prachten! […] Sitzen zwei Menschen darin, die über sich hinaus gefunden? […] Kleine Welt, du großer Kosmos, traumfern über dem Straßenschacht, Irdischer Stern, von meinem Fenster grüß ich dich in tiefer Nacht. 23 Goll geht im Zeichen der Moderne dem Stern als Konstrukt des Menschen nach, analog zu Canettis Wort vom „[…] Gott, der die Menschen nicht erschaffen, sondern gefunden hat.“ 24 In einer Aufzeichnung des Schweizer Schriftstellers Ludwig Hohl heißt es: „Jene, die ‚eine Welt‘ in sich tragen (schöpferische Menschen): Sie stehen nicht dem Range oder der Stufe nach höher, sondern es sind größere Quantitäten .“ 25 Der Mensch ist begabt zur Form, der bildhafte Stern ist der Entwurf einer immensen Quantität als Qualität, voller Schönheit. In diesem Sinne formuliert Goll: „Der Mensch hat sich die Sterne erfunden“ und damit sein Verhängnis gesetzt: 26 Und an anderer Stelle: „Irgendwo springt ein Mensch aus dem Fenster, / Einen Stern zu haschen, und stirbt dafür“. 27 Jean Améry konstatiert in seinem Buch Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod , dass „die Übersetzung aus der objektiven Sprache in die des Subjekts […] niemals vollkommen gelingen“ kann: „Wir sind unser Körper: wir haben ihn nicht.“ 28 Und weiter: „Wenn auch der Freitod in diesem Verstande sinnlos ist, verhält es sich nicht so mit dem Entschluß dazu. Dieser nämlich, hinzielend auf den Tod, aber der Anti-Logik des Todes noch nicht untertan, wird nicht nur in Freiheit gefaßt, er bringt auch reale Freiheit uns zu.“ 29 Schließlich schreibt Améry: „So ist 21 Der Laternenmann. In: ebd., S. 157 f. 22 Die Kokotte. In: ebd., S. 159. 23 Das Fenster. In: ebd., S. 162. 24 Canetti: Die Fliegenpein (Anm. 18), S. 11. 25 Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung. Frankfurt / M. 1981, S. 726. 26 Goll: Appell an die Kunst (Anm. 1), S. 293. 27 Goll: Die Lyrik (Anm. 2), Bd. I, S. 154. 28 Jean Améry: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. 6. Auflage. Stuttgart 1992, S. 45 und S. 71. 29 Ebd., S. 135. 210 Nelia Dorscheid der Freitod zwar der atemgebende Weg ins Freie , nicht aber dieses Freie selber. Was die traumhafte Schönheit dieses Weges, wenn er auch verwachsen ist vom Dornengestrüpp des Trennungsschmerzes, nicht zerstört.“ 30 Das Symbol des Sterns ist in Golls Frühwerk so stark eingebunden, dass es wie das jeweils Vergessene, das immer wieder in seiner Plötzlichkeit aufwartet und darin das Werk strukturiert, erscheint. „Der Geist führt einen ewigen Selbstbeweis“, um mit Novalis zu sprechen. 31 Mit Canetti wird klar, welche Bedeutung jener „Selbstbeweis“ für das Vermögen zum Denken hin hat: „Das Denken verliert seine Wucht, wenn es zum Alltag wird, es soll wie von fernher auf seine Gegenstände stürzen.“ 32 In einem Fragment der österreichischen Spätexpressionistin Hertha Kräftner (1928 bis 1951), die sich mit nur 23 Jahren das Leben nahm, tritt die Epiphanie geradezu bühnenwirksam verstörend ein: Im Haustor Winter 1950 / 51 Fragment Er sagte: „Geh noch nicht. Der Mond wird später scheinen.“ Sie sagte sanft: „Ich muß aber gehen, sie warten mit dem Abendessen.“ Sie gingen zu der Straßenbahn. „Komm hinter das Haustor“, sagte er, „ich will dich küssen.“ Dort roch es süß nach ausgekühlter Himbeermarmelade. Er nahm sie an Schulter und Hüfte. Aber der Portier lauerte schon hinter den Stiegen. „Mörder“, sagte er langsam und laut. 33 Der Stern bei Yvan Goll ist Menschenwerk, dem Himmel entnommen und ihm wiederum zugedacht und als Fragment wie das Verhängnis das Gegenwärtige, zukünftig gedacht: Plötzlichkeit, Dekonstruktion, Entzug, Epiphanie sind seine Konjunktionen. „Sie hatte schnell noch die Teller gewaschen“, heißt es in seinem Gedicht Die Kindesmörderin : „Da dachte sie dran, wie jemand sich umsieht, der etwas verlegt“. 34 Der Mord an dem Kind wird nicht ausgesprochen, die mutmaßliche Mutter und Mörderin, heißt es, dachte nur „daran“ im Wirkungskreis der „Verlegung“ eines Gegenstandes. Dieses geradezu „wunderbare“ Aufmerken im Kontinuum des Seins formuliert Schlegel in den Athenäums -Fragmenten: Man wundert sich immer mißtrauisch, wenn man zu wissen scheint: das und das wird so sein. Und doch ist es grade ebenso wunderbar, daß wir wissen können: das und das ist so; was niemanden auffällt, weil es immer geschieht. 35 30 Ebd., S. 144. 31 Novalis: Urfassung von Blütenstaub 1797-1798. In: ders.: Werke (Anm. 17), S. 323. 32 Canetti: Die Fliegenpein (Anm. 18), S. 35. 33 Hertha Kräftner: Kühle Sterne. Gedichte, Prosa, Briefe. Frankfurt / M. 2001, S. 152. 34 Die Kindesmörderin. In: Goll: Die Lyrik (Anm. 2), Bd. I, S. 160. 35 Schlegel: „Athenäums“-Fragmente (Anm. 14), S. 100. „Der Mensch hat sich die Sterne erfunden“ 211 Es ist die Angst des Schöpfers vor dem eigenen Gericht, denn, so Novalis, „[w]ie kann ein Mensch Sinn für etwas haben, wenn er nicht den Keim davon in sich hat. Was ich verstehn soll, muß sich in mir organisch entwickeln - und was ich zu lernen scheine ist nur Nahrung - Inzitament des Organism.“ 36 Jedoch lässt sich, noch immer mit Blick auf Die Kindesmörderin , mit E. M. Cioran anfügen: Nur in dem Maß, in dem wir uns nicht kennen, ist es uns möglich, uns zu verwirklichen und etwas hervorzubringen. […] Der Schöpfer, der sich selbst durchsichtig wird, schöpft nicht mehr: sich kennen, das heißt, seine Gaben und seinen Dämon ersticken. 37 Diese Konstellation ist das Verhängnis. Der Stern, Lehnwort des Lyrischen Ichs, den es wissend in und vor sich trägt, darf nicht jener sein, denn sonst richtet sich das Ich ein in der Idee vom Verhängnis: „Jeder Beginn einer Idee entspringt einer unmerklichen Verletzung des Geistes“, 38 führt Cioran seine Gedanken fort, im Sinne von Gottfried Benns Doktor Rönne aus Gehirne , der konstatieren muss: „Was ist es denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall.“ 39 Der imaginierte Aufbruch weicht der nicht vorgesehenen Anordnung innerhalb einer regelrechten, klaren Struktur. Das Ich erscheint als Regelwidrigkeit, „Gitterfehler“, der den Kristall als solchen mitbestimmt. Golls Frühwerk metaphorisiert das Symbol des Sterns. Der Ausreizung seiner symbolischen Bedeutungen und deren Verkehrungen folgt die stärkere dichterische Betreuung, wie sie Benn und im folgenden Novalis vornehmen: Wenn mich jemand früge, warum die Sonne jeden Morgen aufgehe, und ich ihm antworte, weil die Erde sich um ihre Achse in einer bestimmten Zeit drehe - so muß ich bei ihm bekannte Wahrnehmungen des Raumes voraussetzen. Ich zeige ihm die Anwendung eines Bekannten aufs Unbekannte - ich verbinde einen subjektiven Zustand bei ihm mit einem objektiven - ich lege etwas in das Fach seiner Erkenntnis hinein. Alle Weisheit besteht also in der Anwendung eines Bekannten auf ein Unbekanntes - Einfügen eines Passenden in ein Passendes . 40 „Am schwarzen Golde deiner Traueraugen / Entzünden sich die unermeßlichen Nächte“, heißt es in Golls Gedicht Die Katze : 36 Novalis: Blütenstaub. In: ders.: Werke (Anm. 17), S. 326. 37 E. M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung. 2. Auflage. Frankfurt / M. 1981, S. 92. 38 Ebd., S. 99. 39 Gottfried Benn: Gehirne. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Dieter Wellershoff. Wiesbaden 1968, Bd. V, S. 1191. 40 Novalis: Fragmente und Studien bis 1797. In: ders.: Werke (Anm. 17), S. 306. 212 Nelia Dorscheid Du Finsternis voll Sterne, die nicht sind, Du schaust uns an, und siehst uns nicht! Das macht, du Sphinx, unwirkliches Symbol: Wir fürchten nicht die Nacht und nicht die Schatten Und nicht den Tod versinkender Sterne, Wir fürchten nur das Dunkel, Das aus uns bricht. 41 Das Verhängnis des fragmentarischen romantischen Denkens scheint in Golls Lyrik, in der Tradition Novalis’, immer wieder auf: „Wie wir, schweben die Sterne in abwechselnder Erleuchtung und Verdunklung - aber uns ist, wie ihnen, im Zustand der Verfinsterung doch ein tröstender, hoffnungsvoller Schimmer leuchtender und erleuchteter Materie gegönnt.“ 42 Friedrich Schlegel wünscht diesem romantischen Denken, wie in seiner Schrift Entwicklung des Innern Lebens (1823) ablesbar, durch den Übertritt zum Katholizismus zu entrinnen, indem er die Rückkehr zu Gott als einzige Möglichkeit erkennt, jenen „Zwiespalt […] unter den innern Elementen und Kräften, den wesentlichen Bestandteilen des Menschen“ zu überwinden. 43 Das Ich ringt, in Abhängigkeit vom Kulminationspunkt seines Sterns, um verheißende Konjunktionen, wohl wissend um die Schwierigkeit schlüssiger Beweisführungen, „[s]tarrend von Unrat und Staub der Sterne“ tragen „[w]ir alle [ ] nicht die Schuld: wir sind der Erde Antlitz, nicht ihr Sinn.“ 44 Dem entspricht auch Golls Fortschreibung der Figur Hiobs in Hiobs Revolte , einem von einigen Gedichten Golls um die biblische Figur, die um 1948 entstanden. In dem gleichfalls zu diesem Zyklus gehörenden Gedicht Hiob wird zunächst eine Deutung des biblischen Hiob evoziert, die Gerhard Kaisers Charakterierung Hiobs - von „vornherein [als] Gezeichneter ausgezeichnet und als Ausgezeichneter gezeichnet“ 45 - entspricht: „O Herr daß du mich ausbrennst / Wie lebenden Kalk brütenden Staub / Daß du mich adelst zur Nessel / Und meinen Schmerz versteinerst im Fels / / […] / So kehr ich zu mir zurück wie die Statuen / Die nur von innen wahrnehmbar sind / / […] Aus meinem Herzen stürzt der gebaggerte Stern“. 46 Doch in Hiobs Revolte erfahren wir ihn als Fatalisten: 41 Die Katze. In: Goll: Die Lyrik (Anm. 2), Bd. I, S. 168. 42 Novalis: Werke (Anm. 17), S. 407. 43 Friedrich Schlegel: Entwicklung des Innern Lebens. In: ders.: Dichtungen und Aufsätze. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München 1984, S. 523. 44 Der Passant. In: Goll: Die Lyrik (Anm. 2), Bd. I, S. 161. 45 Gerhard Kaiser / Hans-Peter Mathys: Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie. Berlin 2010, S. 32. 46 Hiob (Erste Fassung). In: Goll: Appell (Anm. 1), S. 163-165, hier S. 163. „Der Mensch hat sich die Sterne erfunden“ 213 Mögen sie wachsen meine Geschwüre […] Mir bleibt der Stein auf dem ich steh Bis er zu meinem Grabstein wird Durch ihn bin ich reich an Geheimnis An unvergänglichem Geheimnis Er leiht mir seinen Schlaf Der tief bis zu den Quarzen reicht Und hoch hinauf zu Sternfossilien Mein ist die Vertikale Vom Wagen der Nacht bis zum Kristall. 47 Wenngleich diese provozierende Evokation einer Konjunktion an die Rede des Gefangenen aus dem Gedicht Gesang aus einer Zelle („Was nie geahnt ward, weiß ich heute; / Daß die brennenden Kohlenwagen / Lichtlasten, Diamanten aufwärts tragen, / Daß alle müden Gäule meine weinende Seele haben, / Und daß kein Himmel ist ohne dich, Erde! “ 48 ) erinnert, so verharrt dieser Hiob (im Gegensatz zum biblischen Vorbild) in der „Revolte“, deren Aufschwung aber, wie wir nun wissen, bei Goll, mit „Sternfossilien“, auch ein Entweder-Oder kennt: Nur so versteh, o Herr, meinen Hinsturz, O daß du den Gefangenen so stumm verständest, Wenn er von rauschenden Sonnen träumt, Daß du ihm täglich dein jauchzendes Ja In den zerschütteten Turm der Erde sändest! 49 47 Hiobs Revolte. In: ebd., S. 166-168, hier S. 168. 48 Gesang aus einer Zelle. In: Goll: Die Lyrik (Anm. 2), Bd. I, S. 156. 49 Ebd. Abbildungsnachweis Fotorechte S. 10 © Stadtmuseum Düsseldorf S. 13 (oben) © Kölnisches Stadtmuseum / Rheinisches Bildarchiv, Köln S. 13 (unten) © Museum Ludwig, Köln / Rheinisches Bildarchiv, Köln S. 114-117 © Andreas Rafalski/ RF/ ULB Münster S. 118 © The Museum of Modern Art, New York S. 122 © bpk/ CNAC-MNAM S. 132 © 2016. Digital Image, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florenz S. 134 © Bibliothèque nationale de France, Paris Bildrechte S. 10, S. 13 (unten), S. 114-117, S. 122, S. 177, S. 185 © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 S. 118 © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2017 S. 132 © Estate of George Grosz, Princeton, N. J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2017 ISBN 978-3-7720-8606-9 Orpheus, Johann Ohneland, Hiob - zahlreiche Identitäten hat der deutsch-französisch-jüdische Schriftsteller Yvan Goll (1891 bis 1950) dichterisch adaptiert, um seine ambivalente Position zwischen den Nationen und Kulturen zu versinnbildlichen. In der expressionistischen Sammlung „Menschheitsdämmerung“ ist er mit sieben Dichtungen vertreten. Aber nicht nur die Aufnahme in das Standardwerk des deutschen Expressionismus hat das Urteil der Literaturgeschichte über ihn bestimmt. Indem Goll zu Beginn des Ersten Weltkrieges in die Schweiz emigrierte, wo er sich dem Kreis von Pazifisten um Romain Rolland anschloss, und am Anfang des Zweiten Weltkrieges Frankreich verließ, um nach New York zu flüchten, ist die Zuordnung als Schriftsteller des Exils ebenfalls prägend für seine Nachwirkung geworden. Der Band fragt nach den Einflüssen und Wechselwirkungen der Moderne und ihrer Verlaufsformen auf sein Werk. HERMANN GÄTJE, SIKANDER SINGH (HRSG.) Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne Gätje • Singh (Hrsg.) www.francke.de