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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

2017
978-3-7720-5611-6
A. Francke Verlag 
Cordula Brand
Jessica Heesen
Birgit Kröber
Uta Müller
Thomas Potthast

Ethik als die Suche nach der Begründung des Guten und des Gerechten ist Teil jeder Kultur; umgekehrt weisen auch Ethiken je unterschiedliche Kulturen ihrer Praxis auf. Die in diesem Band gesammelten Beiträge nehmen unterschiedliche Blickwinkel ein, ohne dabei die Verbindung zu anderen Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. So bietet das Buch einen breiten Überblick über das Spektrum moderner ethischer Diskurse, von Grundfragen der Ethik über die Aspekte Politik, Religion, Gender, Körper, Technik, digitale Medien, Sicherheit bis Literatur. Bei aller Pluralität verbindet die Beiträge das Bemühen um eine Auseinandersetzung über Fachgrenzen hinweg und innerhalb der Diskussionsräume einer Gesellschaft, die sich immer wieder über ethische Orientierungen verständigen muss.

a Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 8 TSE 8 Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 8 Ethik als die Suche nach der Begründung des Guten und des Gerechten ist Teil jeder Kultur; umgekehrt weisen auch Ethiken verschiedene Kulturen ihrer Praxis auf. Die in diesem Band versammelten Beiträge nehmen unterschiedliche Blickwinkel ein, ohne dabei die Verbindung zu anderen Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. So bietet das Buch einen breiten Überblick über das Spektrum moderner ethischer Diskurse, von Grundfragen der Ethik über die Aspekte Politik, Religion, Gender, Körper, Technik, digitale Medien, Sicherheit bis zur Literatur. Bei aller Pluralität verbindet die Beiträge das Bemühen um eine Auseinandersetzung über Fachgrenzen hinweg und innerhalb der Diskussionsräume einer Gesellschaft, die sich immer wieder über ethische Orientierungen verständigen muss. ISBN 978-3-7720-8611-3 Brand et al. (Hrsg.) Ethik in den Kulturen Cordula Brand/ Jessica Heesen/ Birgit Kröber/ Uta Müller/ Thomas Potthast (Hrsg.) Ethik in den Kulturen ‒ Kulturen in der Ethik Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn Ethik in den Kulturen-- Kulturen in der Ethik Ethik in den Kulturen-- Kulturen in der Ethik Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn herausgegeben von Cordula Brand, Jessica Heesen, Birgit Kröber, Uta Müller und Thomas Potthast Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany ISBN 978-3-7720-5611-6 Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort Thomas Potthast und Vera Hemleben Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik: Für Regina Ammicht Quinn 11 Grundfragen Dietmar Mieth Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung? . . . . . . . . . . . 17 Thilo Hagendorff Ethik und Weltkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Philipp Richter Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? Möglichkeiten zur Auflösung einer räumlichen Metapher . . . . . . . . . . . . . . . 33 Sebastian Ostritsch Die Freiheit, etwas tun zu müssen - zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und praktischer Normativität bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . 45 Rainer Treptow Skepsis als Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Matthias Möhring-Hesse Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Politik Dietmar Wetzel Das Ethische und das Politische - Konturen einer (un-)möglichen Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Christof Mandry Gesinnung oder Verantwortung. Zu einer irreführenden Alternative in der Migrationsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Alexander Hauschild Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? Zur Aktualität von Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit . . . . . . . . 95 6 Inhaltsverzeichnis Karin Amos Das „Mädchen aus dem Main“ - Spuren eines weggeworfenen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Margret Ruep Im Dialog - Begleitung der Organisationsentwicklung des Oberschulamts Tübingen durch Frau Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Simon Meisch Wasserethik als Kulturethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Thomas Gauly Ökonomie der Information - Der Wandel der Welt und die Suche nach einer „sozialen Ökonomie“ . . . . 141 Religion Rainer Bucher In „neuen Gegenden“ - Theologie in Zeiten des Kapitalismus . . . . . . . . . . 157 Maureen Junker-Kenny „Erwart dir viel! “ - Religion als Horizont der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Jean-Pierre Wils Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form . . . . . . . . . . . 177 Claus Dierksmeier Religion und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Gender Ingrid Hotz-Davies Material Spirituality - Spiritual Materialism: Women and the Problem of Matter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Gero Bauer Marriage, Sex, and Ethics in Ursula K. Le Guin’s “Unchosen Love” and “Mountain Ways” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Marco Krüger „Not Doing Gender“ - Über ein verwaistes Feld in der zivilen Sicherheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Marianne Heimbach-Steins Grund zur Sorge - Genderfragen im Feld der Care-Arbeit . . . . . . . . . . . . . . 231 Inhaltsverzeichnis 7 Körper Uta Müller The Role of Physical Experience for Ethical Decisions . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Julia Dietrich Schmerzgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Cordula Brand Hito no seimei no hōga, oder: vom Respekt vor dem Potenzial . . . . . . . . . . 257 Monika Bobbert Hirntodverständnis und Bereitschaft zur Organspende . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Céline Gressel Die medizinische Re-Konstruktion von Körpern im Zusammenspiel mit der Technik der klinischen Endoskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Eve-Marie Engels Leib und Körper im Scanner - Zur Sicherheit eine kurze Anthropologie, Phänomenologie und Ethik von Körperscannern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Technik Michael Nagenborg Können wir einem Roboter verzeihen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Urban Wiesing Social freezing - Eine neue Technologie und die Herausforderungen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Mone Spindler Wie sich „nicht-technische“ Aspekte vermutlich nicht in die Technikentwicklung „integrieren“ lassen - Eine Bildergeschichte . . . . . . . 307 Digitales Jessica Heesen Über die Kultur im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit . . . . . . . . . 319 Andreas Baur-Ahrens Schaut in die Cloud - Ein Plädoyer für eine eingehendere ethisch / politische Beschäftigung mit der Cloud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Charles D. Raab Information Privacy: Ethics and Accountability . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 8 Inhaltsverzeichnis Roger Brownsword Smart Lawyers for Smart Futures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Sicherheit Matthias Leese Technologie, Moral, Intervention: Sicherheitsethik als öffentliche Intellektualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Tobias Matzner When Samurai meet Judith Butler - Reflections on the Value of Insecurity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Benjamin Rampp Zur normativen Dimension des Konzepts der Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Friedrich Gabel, Birgit Kröber Eine Prise Nachhaltigkeit bitte! Strategien zur Vorsorge eines gesellschaftlichen Burn-Out durch das Streben nach vollkommener Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Simon Ledder Das Liebesschloss: Zwischen ewiger Liebe, Gefängnis und der Suche nach Sicherheit in Krisenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Literatur Hille Haker Wissenschaft und Ethik - Mit den Augen eines Affen gesehen. Ein Bericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Pawan Surana Die Indienbilder deutscher Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Thomas Quinn Zur Dialektik von Ethik und Liebe in der Lyrik eines am 10. Februar geborenen Menschen oder: Mutmaßungen über die Angst vor Regentropfen . . . . . . . . 431 Autor_innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Schriftenverzeichnis (Auswahl) Regina Ammicht Quinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Inhaltesverzeichnis 9 Vorwort Ethik in den Kulturen-- Kulturen in der Ethik: Für Regina Ammicht Quinn Thomas Potthast und Vera Hemleben Eine Festschrift drückt die Kultur akademischen Wertschätzens aus - zugleich scheint das Format inzwischen geradezu aus der Zeit gefallen. Doch nicht alles antiquiert Anmutende gehört notwendig zum zurecht an den Universitäten ausgetriebenen Muff von tausend Jahren. Mag die Ära des „Lehrstuhlinhabers“ ( singulare masculinum tantum ) inzwischen sogar laut Hochschulgesetz in Baden-Württemberg offiziell als beendet erklärt worden sein - eine ausgewiesene Forscherin und Universitätslehrerin mit einer Festschrift zu ehren, ist uns gerne Anlass genug. Und dass eine Festschrift als sogenannter Sammelband in den emsigen und machtförmigen Zählwerken von peer reviewed zumeist als nicht existent gilt, selbst wenn peers dabei gutachten, ist uns eher Ansporn als Hemmnis. Regina Ammicht Quinn wurde am 10. Februar 1957 in Stuttgart geboren und ging dort zur Schule. In Tübingen studierte sie Katholische Theologie und Germanistik, absolvierte später Referendariat und Schuldienst, wohnte und arbeitete einige Zeit in Köln. Ihre Dissertation schrieb sie zur Ethik der Theodizeefrage, einem der fundamentalsten Themen nicht nur der Theologie; in säkularer Form sucht die politische Ethik nach Möglichkeiten und Ausdruck einer Ethik in der Politik in der Moderne, die von Zivilisationsbrüchen heimgesucht ist. Gerade solche notorisch schwierigen Themen haben Regina Ammicht Quinn stets um- und angetrieben. Dies gilt ebenso für die Habilitation zur Ethik der Geschlechter mit Blick auf Körper, Religion und Sexualität. 1 Diese Schrift macht, neben vielen anderen wichtigen Aspekten, einen Vorschlag zum Thema Körper, der quer zur etablierten Sichtweise der Anthropologie(n) steht, und die den aktuellen Diskurs um Körperlichkeit und Verkörperung ausgesprochen herausfordert. Zumeist 1 Ein Verzeichnis der Publikationen von Regina Ammicht Quinn findet sich am Ende dieses Buches. Hier seien genannt: Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Paradigmawechsel in der Theodizeefrage , Freiburg i. Ue./ Freiburg i. Br. 1992 (publizierte Dissertation) und Körper, Religion und Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter Mainz 1999, 3. Aufl. 2004 (publizierte Habilitationsschrift). 12 Thomas Potthast und Vera Hemleben gilt: Menschen sind ein Leib und haben einen Körper, wie Helmuth Plessner es prägnant ausdrückte. Diese letztlich dualistische Trennung von Körper und Leib mit ihren metaphysischen, moralphilosophischen und geschlechterpolitischen Implikationen ist allerdings nicht ohne Kritik geblieben: Es sei auch möglich, ja nötig, so Regina Ammicht Quinn, die mit dem Leib assoziierten Aspekte innerhalb des Körperbegriffs zu verhandeln und nicht begrifflich abzuspalten. Die Ethik einer sehr speziellen Wissenschaftskultur der Theologie im Zeichen des Staatskirchenvertrags musste Regina Ammicht Quinn dann anlässlich mehrerer Berufungsverfahren auf einen Lehrstuhl für Katholische Theologie / Sozialethik erleben. Berufungen scheiterten, allerdings keinesfalls an der fachlichen Qualität, was zwei erste Listenplätze beweisen, sondern an der Verweigerung der Zustimmung ( nihil obstat ) der Römischen Kurie in der Vertretung durch den jeweils zuständigen Bischof. Nicht allein, doch auch aufgrund dieser unerfreulichen Entwicklungen verdanken wir geradezu als List der (Mikro)Geschichte, dass Regina Ammicht Quinn mit einem Umweg über das Baden-Württembergische Kultusministerium bzw. das Oberschulamt im Jahr 1999 ans Tübinger Ethikzentrum gelangte. Zunächst forschte sie im Bereich der Ethik (in) der schulischen Bildung, förderte den Ausbau der Verbindungen zwischen Schule und Hochschule ebenso wie die ethische Weiterbildung von Lehrer_innen. 2006 begann sie, den Arbeitsbereich Ethik und Kultur aufzubauen, der insbesondere mit dem Forschungsschwerpunkt Sicherheitsethik zu einer der tragenden Säulen des Ethikzentrums geworden ist. Die Verbindung von technikethischen mit kulturphilosophischen Aspekten hat sich als ausgesprochen produktiv erwiesen, um die Ethik in den Wissenschaften für den politisch und lebenspraktisch immer bedeutsamer werdenden Bereich „Sicherheit“ weiterzuentwickeln. Die Analyse von Diversität und kultureller ebenso wie körperbezogener Alterität - zuweilen geradezu Alientität - hat hier Maßstäbe der Reflexion auf und Entwicklung von Technik in der Gesellschaft gesetzt. Kultur- und Sozialwissenschaften im festen Kreis von Disziplinen und entsprechenden Kolleg_innen für die Tübinger Ethik in den Wissenschaften verankert zu haben, verdanken wir Regina Ammicht Quinns Impulsen und Projekten. Von Februar 2010 bis Mai 2011 übernahm sie zudem - im wahrsten Wortsinne ehrenamtlich - das Amt der „Staatsrätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche Werteentwicklung“ als parteiloses Mitglied der Landesregierung von Baden-Württemberg. In diesem politisch anspruchsvollen und durchaus heiklen Bereich hat sie neue Akzente mit Bezug auf die Ethik der Kulturen gesetzt und zugleich eine kritische ebenso wie wertschätzende Kultur der Ethik im politischen Raum vertreten. Ethik in den Kulturen-- Kulturen in der Ethik 13 Das Thema kultureller Vielfalt hat an der Universität Tübingen mit tatkräftiger Unterstützung von Regina Ammicht Quinn eine institutionelle Verankerung erfahren. 2013 wurde das „Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung“ gegründet, das sie seither in einer programmatisch zu verstehenden kollegialen ‚Doppelspitze‘ zusammen mit Ingrid Hotz-Davies leitet. Parallel zu diesen Aufgaben erfolgte die Arbeit im Leitungsgremium des Ethikzentrums. Seit 2010 im Vorstand, wurde sie Ende 2014 Sprecherin des IZEW , wiederum gemeinsam, hier mit Thomas Potthast. Die Freude und die Herausforderungen, mit und in einem Team von über 50 klugen, engagierten und positiv eigen-sinnigen Menschen zu arbeiten, gelingt ihr in vorbildlicher Weise. Als Theologin und Kulturwissenschaftlerin wirkte Regina Ammicht Quinn viele Jahre als Mitglied des Direktionsgremiums der Internationalen Theologischen Zeitschrift „Concilium“. Ihre ethische Expertise bringt sie neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit auch im forschungspolitischen Raum ein, so als Mitglied des Bildungsrates des Landes Baden-Württemberg (Legislaturperiode 2001-2006) und derzeit als Mitglied des Wissenschaftlichen Programmausschusses Sicherheitsforschung (Bundesforschungsministerium BMBF ; Beratung der Bundesregierung in Fragen der Sicherheitsforschung) sowie in zivilgesellschaftlichen Bereichen wie dem Wissenschaftlichen Beirat des Vereins Intersexuelle Menschen e. V.. Das Tübinger Programm einer Ethik in den Wissenschaften, so lässt sich zusammenfassen, verdankt Regina Ammicht Quinn eine konsequente Öffnung in neue Themengebiete und transdisziplinäre Erweiterung im Wechselspiel von akademischer Forschung, Politik und Zivilgesellschaft. Die vorliegende Festschrift umfasst einen bunten Strauß des Dankes an Regina Ammicht Quinn, der Beiträge aus dem reichhaltigen Spektrum ihrer Arbeitsfelder versammelt. 1 Es liegt in der Natur - oder wohl eher: Kultur - der Dinge, dass Schubladen-Kategorisierungen oftmals nicht recht passen wollen. Bevor wir aber die Beiträge schlicht alphabetisch oder nach Geburtsdatum oder anderem Kontingenten aufreihen, haben wir nach Perspektiven geordnet, die alle eine bedeutsame Rolle in Regina Ammicht Quinns akademischem Wirken spielen. In der ersten Sektion werden „Grundfragen“ der Ethik und der Ethik in den Wissenschaften adressiert. Der Übergang zur nächsten Sektion „Politik“ ist selbstverständlich fließend, denn wo gäbe es Themen der Politik, die nicht auch Fragen der Ethik beträfen. Ähnlich sieht die Verbindung zur Sektion „Religion“ aus, die nicht abgegrenzt steht, sondern mitten zwischen der Politik und den 1 Für die redaktionelle und technische Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts danken die Herausgeber_innen dem Team des IZEW, namentlich Sophie Nadolski, sehr herzlich. Allen Beiträger_innen sei ebenso gedankt. 14 Thomas Potthast und Vera Hemleben Folgesektionen „Gender“ sowie „Körper“. „Technik“, „Digitales“ und „Sicherheit“ hängen nicht nur miteinander, sondern auch mit den davorstehenden Sektionen zusammen, und schließlich ist die „Literatur“ als Perspektive ein Zugang zu den großen Themen der Ethik, Politik, ja der Kulturen insgesamt. Die Beiträge sind mehr oder weniger sichtbar subjektiv ausgeführt, doch stets mit dem Anspruch intersubjektiver Verständigung über wichtige Themen. Stil, Umfang, Zugangsweise und im weiten Sinne politische Positionierung sind dabei vielfältig, gegebenenfalls auch widerständig und widersprüchlich. Eben genau so, wie sich das Feld der Ethik in den Kulturen und der Kulturen in der Ethik eröffnet. Wir wünschen Regina Ammicht Quinn alles erdenklich Beste zum Geburtstag, ihr und allen Leser_innen viele Anregungen bei der Lektüre. Vor allem aber übermitteln wir der Jubilarin unseren herzlichsten Dank für unermüdliches Engagement und damit verbundenen grandiosem wissenschaftlichen Erfolg, für wissenschaftliche sowie politische Inspiration und - ganz zuletzt und ganz besonders - akademische und persönliche Freundschaft. Ad multos annos! Thomas Potthast und Vera Hemleben im Namen der Herausgeber_innen und aller Mitglieder des Tübinger Ethikzentrums Vorwort 15 Grundfragen Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung? 17 Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung? 1 Dietmar Mieth Vermutlich würden viele, die Ethik nicht professionell betreiben, spontan diese Frage mit „Ja“ beantworten. Es ist aber auch zu vermuten, dass professionelle Ethiker und Ethikerinnen einer Distinktion zwischen moralischer Bildung, die vorteilhaft sein könne, aber nicht zum ethischen Erkennen notwendig sei, bestehen. Denn es könne doch nicht um persönliche Vorbildlichkeit als Legitimation der richtigen Erkenntnisse und Urteile gehen. Sonst wäre ja der gute Ruf, die moralische Vorbildlichkeit, wichtiger als die Argumentation des Experten. Der Experte, die Expertin sollten zwar „periti“ sein, aber dies doch eher durch die wiederholte Aneignung schlüssiger Argumentationsketten. Wir messen ja auch einen Arzt nicht daran, welche Krankheiten er selbst mit den geeigneten Mitteln überstanden hat. Oder daran, ob er selber raucht, wenn er vom Rauchen abrät. Der Experte, die Expertin sind professionell aufgestellte „Wegweiser“, die von sich weg auf den Weg weisen. Andererseits: Vielleicht ist die Frage nach moralischer Bildung des Ethik- Akteurs bzw. der -Akteurin ähnlich wie die Betrachtung des unterschiedlichen Könnens bzw. der Kreativität bei Künstlern und Kunsttheoretikern? Vielleicht unterscheidet sich das, was Kant „Urteilskraft“ nennt, von dem, was er „vernünftige Begründung“ nennt. Hannah Ahrendt hat sich darauf bezogen. Vielleicht ist ein Moralphilosoph wie Paul Ricoeur (1995) wegen dieses Unterschiedes anders aufgestellt als die Vertreter der rein begriffsanalytischen Methoden in der Philosophischen Ethik? 2 Kann der eingangs anvisierte Unterschied zwischen einer engagierten, aber nicht-professionellen Orientierung in der Moral einerseits und dem bestrittenen Anspruch auf Vorbildlichkeit in der professionellen Ethik 1 Im Folgenden ist von „moralisch“ nicht in dem Sinne die Rede, der oft in philosophischen Beiträgen gebraucht wird. Da wird „Moral“ gesellschaftliche Normativität zugewiesen, während „Ethik“ oder „ethisch“ eher im Sinne der individuellen Ausrichtung im Gebrauch ist. Ich spreche hier aber von „moralisch“ im konventionellen Sinne des alltäglichen Gebrauches und von Ethik im Sinne des fachlichen Gebrauches im Raum der Wissenschaft. 2 Er greift auf Hannah Ahrendts Kantauslegung zurück. 18 Dietmar Mieth andererseits auf sich beruhen? Das wäre dann der Unterschied zwischen gelebter moralischer Orientierung, die sich gelegentlich als Empörung einmischt, und emotionsloser Rationalität im wissenschaftlichen Ethik-Diskurs. Oder beunruhigt diese Unterscheidung nicht gerade dadurch, dass sie persönliche Moral und professionelle Ethik auseinanderhält? Um uns damit auseinanderzusetzen, müssen wir zunächst fragen, was moralische Bildung überhaupt ist und was wir von ihr erwarten können. „Bildung“ ist ein Begriff, der auf eine deutsche Insel zu führen scheint, weil er in umliegenden Sprachgewässern (englisch, französisch) nicht vorkommt, sondern dort unter „ education “ fällt, ein Wort, dass die historischen Eigenheiten des Wortes „Bildung“ (religiöse, humanistische und klassische Eigenheiten) nicht so ohne Weiteres in sich aufnehmen kann. Schauen wir also zuerst (1) auf das, was „Bildung“ im Erbe trägt und was Bildung als die Herausbildung moralischer Erfahrenheit beinhaltet. Dann (2) sehen wir uns an, was als elementarer Aufbau moralischer Bildung betrachtet und bewusst inszeniert werden kann. Dann fragen wir uns (3), was bestimmte Übungen und Habitualisierungen für die professionelle Arbeit an der Ethik bringen könnten. Das Wort „Bildung“ wurde von Meister Eckhart (1260-1328) für die deutsche Begriffssprache geprägt (siehe Mieth 2015: 55-82). Die Sprache der „Bildung“ war zunächst eine zutiefst religiöse Sprache. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis wir in einer säkularisierten Welt diesen Klang nicht mehr hören, wenn wir „Bildung“ sagen. Wenn wir im Zeitalter Goethes oder mit dem Universitätsreformer Wilhelm von Humboldt von „Bildung“ sprechen, dann haben wir das Ideal eines vielseitig geformten und mit breiter Kulturkompetenz ausgestatteten Menschen. Noch in meiner Studienzeit war es für Bildungshungrige selbstverständlich, dass man Lehrveranstaltungen nicht nur fachbezogen besuchte, sondern um sich ganz allgemein zu bilden. „Bildung“ erschien hier als anzustrebendes Persönlichkeitsmerkmal, für das man das schulische Reifezeugnis erhielt und darauf das akademische Examen aufbaute. „Akademisch“ erinnerte hier, zumal alle künftigen Lehrer ein philosophisches Examen brauchten, noch an die Akademie Platons. Von diesem Bildungsideal haben sich Schule und Hochschule heute entfernt. Das Wort „Bildung“ gibt es mit dieser Bedeutung und mit dieser Tradition weiterhin nur in der deutschen Sprache. „ Education “ im Englischen und Französischen geben das mit „Bildung“ Gemeinte nicht wieder, sondern in diesem Wort tendiert alles zur Ausbildung von Fachlichkeit und zum Erwerb von Kompetenzen. Das Wort „Bildung“ hat zwar im Deutschen weiterhin einen Beiklang, der über „Ausbildung“ und „Erziehung“ hinaus zielt, aber die Realität, in der wirtschaftliche Sachzwänge und Job-Bedürfnisse Vorrang haben, macht aus der „Bildung“ immer mehr Erlernen von Wissen und Kompetenzen und führt den Gebrauch des Wortes „Bildung“ immer mehr an die theoretische und Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung? 19 praktische Ausbildung heran. In diesem Sinne geschieht auch Bildung m Universitätsfach „Ethik“, auch wenn dessen Zuordnung zu den Fakultäten offen ist. (Das sehen Schmalspur-Philosophen allerdings nicht ein.) M. E. hat Bildung als Prozess vor allem mit der Herausbildung von Erfahrenheit zu tun. 1. Moralische Erfahrungen Bildung ist, um es kurz zu pointieren, der Weg von der Erfahrung zur Erfahrenheit. Erfahrung darf man damit nicht im Sinne der Sammlung von Erlebnissen verstehen. Das englische „ experience “ ist in diesem Sinne meist missdeutbar („ make the experience “). Erfahrung in dem hier gemeinten Sinne kommt zustande, indem ein (erlebtes) Ereignis erst dadurch zur Erfahrung wird, dass man 1. es hervorhebt, indem man es erinnert, 2. es sich erzählt und ihm damit eine weiter erzählbare Form gibt, 3. die Erzählung für sich selbst und meist auch für andere wiederholt, 4. Reaktionen auf die Erzählung einfügt oder abwehrt, 5. dieser Erfahrung eine moralische Bedeutung gibt, 6. durch die Iterität des Erzählens - nach außen und / oder nur nach innen - und durch die Prägnanz der Bedeutung, die dabei gestärkt wird, rückwirkend die moralische Identität und Kompetenz stützt oder verändert. Unsere ersten moralischen Erfahrungen sind familiär. Durch Erinnerung verstärkt, ergreifen sie uns erst voll, wenn wir sie nicht mehr unmittelbar in der Begegnung mit anderen Menschen machen können. Die Erinnerung verschärft eine Anwesenheit, die im Leben zu schwach und zu wenig aufdringlich war: Nicht alle Menschen haben die gleichen Erlebnisse, die durch wiederholte Erinnerung, durch Selbsterzählung in der Aneignung mit Worten, die uns bedrängen, bei uns als bleibende Erfahrung ankommen. Das eigene Tun und das eigene Selbst getrennt zu sehen, sind wir gewohnt, ohne es so recht zu bemerken. Dadurch treten wir in Spannung zu unserem Tun, distanzieren uns, kehren zu uns zurück, uns bejahend und verneinend, uns bestätigend oder bereuend. Diese Erfahrung mit uns selbst ist eine moralische Erfahrung. Eine überlegte Selbstdistanz ermöglicht den Blick auf Gut und Böse, auf Richtig und Falsch, auf die grundlegenden moralischen Entscheidungen. Unser Ziel ist dabei, die Selbstachtung aufrechtzuerhalten, auch unter ungünstigen Bedingungen den Maximen, die wir für richtig halten, zu folgen. Die moralische Erfahrung kann auch eine Gotteserfahrung sein. Gott ist der Ort unserer stärksten Bindung, die Abhängigkeit, ohne die wir nicht frei zu fühlen glauben, die Geborgenheit, die wir uns als Herkunft und Ziel wünschen. Die Gotteserfahrung steht dann im Zusammenhang mit der Erfahrung der moralischen. Verantwortung, die sich an der Unausweichlichkeit des anderen und / oder an der Selbstachtung orientiert Denn Gott ist eingebunden in die 20 Dietmar Mieth Frage, die der andere an uns in der Endlichkeit und Begrenztheit seines Lebens stellt. Die Frage „Wo ist Gott? “ wird beantwortet: im Antlitz des anderen, und zwar in dessen leiblich begrenzten, individuellen Antlitz, wo Barmherzigkeit gefordert ist und wo Gerechtigkeit geschuldet ist. Sie wird aber auch beantwortet durch die Erfahrung: „in unserem Herzen“, eine Antwort, für die religiös orientierte Autoren wie Meister Eckhart, Nikolaus Cusanus und Blaise Pascal unterschiedliche Zeugenschaft und spekulative Gedanken beigetragen haben. Die Ethik als Erfahrenheit beruht, wie Hannah Ahrendt und Paul Ricoeur in Anlehnung an Kants dritter „Kritik“ zu zeigen versuchten, auf einer Schule der Urteilskraft, ebenso wie dieser Gewinn von Erfahrenheit aus Erfahrungen durch eine Schule der Vernunft und der Sensibilität erreicht wird. Ohne moralische Erfahrung tritt die Vernunft gleichsam auf der Stelle. Erfahrenheit bringt sie dorthin, wo sie ihre Kraft entfalten kann. Argumente ohne Erfahrung haben Gründe, aber keinen Grund und Boden. Erfahrung freilich ohne vernünftige Überlegung und ohne die Anstrengung plausibler Argumente wäre blind, aber Vernunft ohne moralische Erfahrung wäre leer. Da moralische Erfahrungen praktisch sind, d. h. den Menschen existentiell und in all seinem Tun betreffen, kann man auch sagen, dass eine erfahrungsbezogene Ethik nicht rein theoretisch sein kann. Da sie mit der Lebenspraxis und mit vielen moralrelevanten Erfahrungen in dieser unlösbar verbunden ist, gilt für Ethik-Lehrer und Lehrerinnen der Satz: Wer nicht so lebt, wie er lehrt, wird bald so lehren, wie er lebt. Das Programm „moralische Bildung“ ist dabei eine Bildung ohne Einbahnstraße. Bildung ist nicht eine abrufbare intellektuelle Demonstration, sondern ein dauerhaftes Reservoir mit fortbestehender Offenheit. Der Weg der Erfahrung zur Erfahrenheit als Weg der Bildung, von dem ich ausging, ist ein Weg der Habitualisierung. Moralische Bildung ist ein Phänomen der „Erfahrenheit“. Sie entsteht aus dem wiederholten Durchlaufen von Erkenntnisgewinn. Aber wodurch wird dieser Gewinn so erzielt, dass er mehr ist als ein abrufbarer kenntnisreicher Bewusstseinsinhalt? Moralische Identität bildet sich auf dem Rücken von Handlungen. Was der Mensch tut, wirkt auf ihn zurück und bildet ihn. Lernen ist auch ein Tun - aber in der hier gemeinten Bildung kommt es nicht auf das äußere Ergebnis, eine Benotung, eine Publikation, einen Gewinn von Ansehen, an, sondern auf die innere Veränderung der Person. Dazu gehört auch Lernen durch Lesen. Ich habe viel über narrative Ethik, auch über Literaturethik geschrieben. Dazu liegen einige Arbeiten vor, auch die glänzende Disseration von Regina Ammicht-Quinn, die Literatur-Interpretation mit der theologischen Theodizeefrage verbindet und m. E. immer noch das Beste ist, was man darüber lesen kann. Daraus ist fast eine kleine Schule entstanden. Man kann sich durch Hören von Erzählungen und durch Lesen von (qualitativer) Literatur verändern. Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung? 21 Paul Ricoeur hat dafür den Dreischritt: „ préfiguration - configuration - refiguration “ vorgeschlagen (Ricoeur 1966: 173-206). Freilich geht es nicht, worauf ich oft aufmerksam gemacht habe, um den unmittelbaren Gewinn von eindeutigen Bewertungen, von Normen oder von Tugenden, sondern um einen Gewinn moralischer Auseinandersetzung und Identitätsbildung durch „Modelle“, die strittig bleiben dürfen, und deren Fragen an uns selbst zur moralischen Nachdenklichkeit anhalten. Wir werden nämlich moralisch verunsichert - das ist der Sinn einer Bildung, die keine Ausbildung ist, sondern „Einbildung“ im alten Sinne von: Bildung in den Menschen. Leider ist das Wort „eingebildet“ tief von der Kanzel des Predigers Meister Eckhart heruntergefallen und im üblichen Sprachgebrauch zum negativ bewertenden Wort geworden. Am Anfang dieses innerlichen Weges zur Herausbildung von moralischer Erfahrenheit steht nicht ein Suchen nach Rezepten. „Aufgefunden“ wird ein emphatischer, wenn auch ungesicherter Zustand, eine moralische „Befindlichkeit.“ Aus dieser Ursprungserfahrung geht ein neu verortetes Selbst hervor, das kontingent-leiblich bleibt, aber gerade darin den Wegweiser von sich weg findet. Daraus wiederum ergibt sich eine Lebensführung im Sinne eines Woraus statt eines Woraufhin und eines Worumwillen als (überholende, transzendierende) Kritik der von Zielen angezogenen nur vorausplanenden Vernunft, bei der die Ethik nur hinterherhinken kann. Ethik fragt dann nicht: Sollen wir das tun? Sie fragt nur noch: Wenn wir das nach den Plänen des sogenannten Fortschrittes tun, wie können wir für die Probleme, die daraus entstehen, abwägende Problemlösungen finden? Es gibt dann Ethik nur noch konsekutiv - eine präventive Ethik hat abgedankt. Ich schlage vor, der teleologischen Ethik im Nachhinein, die ich als „nachhinkende“ Ethik verstehe, etwa im Sinn von Autoren wie Hans Jonas und Erich Fromm eine Ethik der Voraussicht aus Erfahrenheit an die Seite zu stellen. Warum das wichtig ist, ist leicht mit Beispielen zu erläutern: Nehmen wir dazu aus den letzten Jahrzehnten die Debatte um die Atom-Energie und die Patentierung. Voraussicht aus Erfahrenheit stärkt aber auch Themen wie gerechte „Wasser- Verteilung“, moralisch angenommene Migrationskultur oder religiös gestützte Gewalt. 2. Inszenierung moralischer Bildung? Ebenso wie ich Bildung als den Weg von Erfahrung zu Erfahrenheit auf einem narrativen Wege beschrieben habe, gilt es, „Bildung“ mit Reflexion, hier im Sinne permanenter Nachdenklichkeit, zu verbinden. Wer reflektieren lernen will, nimmt an einer Inszenierung von Reflexion teil, die er unter vorfindlichen Inszenierungen auswählt und dann selbst übernimmt. In meiner Teilnahme an 22 Dietmar Mieth einer Inszenierung von moralischer Bildung bin ich an erster Stelle der Literatur begegnet. Es gab ja noch keine visuellen Unterhaltungsmedien - Lesen war die Inszenierung von Bildung. Man sucht auch lebende Vorbilder für diese Inszenierung. Die Inszenierung moralischer Bildung konnte ich an großer Literatur später auch akademisch durchführen: am Beispiel von Thomas Manns Joseph-Romanen - eine Inszenierung gegen die nationalsozialistische Mythologie - und anhand des „Tristan“ des Gottfried von Straßburg - eine mit ambivalenten Zügen ausgestattete Inszenierung der Liebe gegen Zwangsinstitutionen. Inszenierung ist immer ästhetische Formgebung, die sich moralischer Eindeutigkeit entzieht, aber eben deshalb zur Reflexion aufruft statt zu indoktrinieren. Das „Theater als moralische Anstalt“, wie es Friedrich Schiller vorschwebte, ist ja auf seinem Höhepunkt, der klassisch mit dem „Wallenstein“ erreicht ist, eine Aufforderung zum Nachdenken und zum Gewinn einer eigenen moralischen Stellungnahme. Die schlichte Identifikation mit Figuren, die die Moral zu tragen haben, wird bewusst konterkariert. Moralische Nachdenklichkeit, Reflexion, soll entstehen. Der Züricher Germanist Peter von Matt hat dies in eindrücklichen Essays zur Literatur zum Thema gemacht. 3 Aber die Frage bleibt: Ist eine an Erzählung gebildete Schulung moralischer Identität ausreichend? Kann sie nicht im Bereich des beliebigen moralischen Genusses verbleiben? Moral ist spannend als Lektüre. Sie hinterlässt keine Eindeutigkeit - das ist gut für die Reflexion, kann aber auch wie ein Theaterbesuch oder als sonntägliche Predigt folgenlos bleiben. Der kathartische Effekt gehört zur kulturellen Inszenierung eines Selbstgefühls im Bereich gehobener Stimmung. Man fühlt sich besser und erspart sich die Konsequenzen. Die ästhetischen Inszenierer haben dies längst erkannt, aber, wie schon Bertolt Brecht feststellte: das Entsorgungspotenzial der Rezipienten ist beinahe unendlich. Wie kann man mit der moralischen Bildung noch näher an die moralischen 3 Man kann aber auch auf andere Literaturarbeiten verweisen, die einen besonderen Bezug zu Tübingen haben (ohne vollständig zu werden): neben Regina Ammicht Quinns Kommentar zur „Blechtrommel“ von Günter Grass: Zwischen Lissabon und Auschwitz (1992); Hille Hakers Analyse von Uwe Johnson - Moralische Identität (1999), Werner Ego, Abschied von der Moral, eine Rekonstruktion der Ethik Robert Musils (1992), etwa auf Abbt, Christine, Der wortlose Suizid, Die literarische Gestaltung der Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik, (2007), oder auf Berendes, Jochen, Ironie - Komik - Skepsis, Studien zum Werk Adalbert Stifters (2009). Diese Beispiele sollen nur zeigen, wie sehr der Weg zur „narrativen Ethik“ auch über Tübingen geführt hat. Dies gilt auch für Beiträge zur Bioethik, von mir zuletzt: Narrative Ethik am Beispiel des Romans Never let me go von Kazuo Ishiguro und weitere Überlegungen (2015), 219-240. Oder zur Gewaltästhetik vgl. Dietrich, Julia und Müller-Koch, Uta (Hrsg.), Ethik und Ästhetik der Gewalt (2007). Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung? 23 Identitäten heranrücken? Oder sollte man das besser lassen, weil es sonst auf moralische Indoktrination hinausläuft? Das wäre so eine Art Klosterschule der Moral, eine Kadettenanstalt, ein vorkonziliares Priesterseminar oder eine besondere Anhänglichkeit an ein moralisches Vorbild, das nicht strittig ist (der Dalai Lama, der die Moral über die Religion stellt? ). Ist den Grenzen der Narrativität nicht zu entkommen, es sei denn um den Preis des Autonomie-Verlustes und der Indoktrination? Diese Frage zu stellen, heißt, nach praktischen Einübungen zu suchen, die autonome Selbständerungen ermöglichen. 3. Moralische Übungen für eine gefestigte autonome Ethik? 4 Die Person des Ethikers oder der Ethikerin bedarf argumentativer Übung. Man muss nicht so weit gehen, wie die Rhetorik-Schule eines Cicero, in welcher die angewandten rhetorischen Mittel gegenüber dem Gehalt in eine Vorzugstellung zu geraten drohen. Aber eine ethische Scholastik im Sinne einer Kenntnis logischer Argumentationsfiguren und möglicher Fehlschlüsse ist zugleich eine moralische Übung, denn sie erzeugt argumentative Standfestigkeit. Diese Standfestigkeit ist jedoch noch mehr: der Mut, auch mit einer argumentativen Meinung allein stehen zu können, wenn ein Druck von Mehrheiten entsteht und isolierend wirkt. Mut verlangt auch eine emotionale Festigkeit, den Widerstand bei numerischer Unterlegenheit. Die Institution von Minderheitenvoten in Ethik-Kommissionen versucht dies zu stützen, nimmt aber nicht jedem einzelnen den Druck. Die Besetzungspraxis einer lobbyistischen Beschickung kann ohnehin dazu führen, dass Mut erforderlich wird: innerhalb wie außerhalb. Courage ist bei Unterlegenheit eher erforderlich, vor allem dann, wenn diese numerische Unterlegenheit als nicht veränderbar erscheint. Von dem evangelischen Theologen Reinhold Niebuhr stammt die in Gebetsform gefasste Haltung: Man solle mit Heiterkeit (oder mit Gelassenheit) ertragen, was nicht zu ändern sei, mit Mut das angehen, was geändert werden könne und die Gabe der Weisheit erbitten, zwischen beidem zu unterscheiden. Das erscheint als eine sehr realistische, aber auch als eine sehr kluge Maxime. Sie enthält jedoch mehr praktische als moralische Erfahrenheit. Denn sie tendiert zum praktischen Kompromiss. Der praktische Kompromiss ist jedoch, wie ich meine, nachgewiesen zu haben, nicht mit dem ethischen Kompromiss zu verwechseln (Mieth 1984: 113-146). Es kann aus moralischen Gründen ein praktischer Kompromiss gegen die eigene moralische Überzeugung und Argumentation akzeptiert werden. Aber dadurch 4 Vgl. Dietrich, Julia, Grundzüge einer Ethik der Ethik In: Berendes, Jochen (Hg.), Autonomie durch Verantwortung, Impulse für die Ethik in den Wissenschaften, Paderborn 2007, 111-146. 24 Dietmar Mieth darf die moralische Überzeugung und Argumentation weder aufgewogen noch aufgehoben werden. Sonst würde man nicht mehr an der moralischen Verbesserung von Kompromissen arbeiten. Man würde sich dauerhaft auf Anpassung einstellen. Man würde vergessen, wofür man einmal aus moralischen Gründen angetreten ist. Moralische Bildung ist nicht eine praktische Ausbildung in politischen Kompromissen. Diese Ebenen müssen unterschieden werden oder die moralische Klugheit, d. h. die Erkenntnis des Guten und Richtigen unter Einbeziehung der Umstände, wird zur Herrschaft des praktisch Erreichbaren. Dies mag man Politikern und Politikerinnen zugestehen oder es gar von ihnen erwarten - diese Erwartungshaltung sollte man aber der Ethik gegenüber nicht kultivieren. Es gibt also Habitualisierungs-Vorschläge für Ethiker und Ethikerinnen, durch die es ermöglicht wird, auch in Stresssituationen zum dem zu stehen, was man moralisch für gut und richtig hält (Habermas 1976). 5 Eine ethische Identität gewinnt man durch die Einheit von Theorie und Praxs. Moralischen Respekt zu trainieren heißt daher, den moralischen Richtigkeitsanspruch nicht aufzugeben, sondern mit Reverenz gegenüber einer anderen Meinung argumentativ zu begründen. 4. Moralische und religiöse Bildung Ich fasse den bisherigen Gedankengang vorläufig zusammen: Vieles von dem, was ich hier als moralische Bildung beschrieben habe, ist rationales Training. Was nicht logisch ist, kann auch nicht ethisch sein, jedenfalls nicht Ethik im Sinne rationaler Legitimation. Insofern geht es dann im Vergleich zur bloßen Vermittlung von Wissen um ein Training im Sinne dieses Wissens. Es geht aber auch darum, moralisch so zu sein , wie man lehrt, d. h. um moralische Glaubwürdigkeit und um Authentizität. Diese Glaubwürdigkeit bildet sich gleichsam im Rücken wiederholter verantworteter Handlungen. Sie ist eine Habitualisierung, die nicht nur zur Erfahrenheit führt, sondern auch zu einer Spontaneität, die man manchmal „Bauchgefühl“ nennt, obwohl sie eine schnelle, kompakte und erlernte Reaktion aus habitualisierter Erfahrenheit darstellt. Aristoteles, auf den dieses Theorieelement zurückgeht, hat es für selbstverständlich gehalten, dass die Tugendübung zur ethischen Erkenntnisfähigkeit gehört (Christoffer 1989: 167-174). Ich habe „moralische Bildung“ zunächst als den Weg von moralischen Erfahrungen zu moralischer Erfahrenheit beschrieben. Dieser Weg soll aus dem 5 Habermas versucht dort, die Entwicklungsstufen der moralischen Kompetenz bei Kohlberg weiter zu bedenken. Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung? 25 Unterbewussten in das Bewusstsein gehoben, d. h. nicht unabsichtlich hingenommen, sondern bewusst inszeniert werden. Darüber hinaus ist es möglich, das Verhältnis von praktischem Kompromiss und ethischer Überzeugung, das Verhältnis von Gesinnung und Verantwortung, von Zielen und Mitteln, zu trainieren. Zur moralischen Bildung gehört aber auch die nicht-moralische Bildung an den Sachen und Problem selbst. Dies dürfte in einem Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften selbstverständlich sein. Nach dem Verhältnis von moralischer Bildung und religiöser Bildung ist abschließend zu fragen (Auer 2016, Bobbert / Mieth 2015). Die Einsicht der Religion in die Endlichkeit, Fehlerfähigkeit und Sündhaftigkeit des Menschen bedeutet eine Bewährungsprobe für alles Denken, das mit einer Selbsterschaffung des Menschen rechnet, wie dies in der modernen wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Welt seit dem 19. Jahrhundert immer wieder thematisiert wird. Moral hängt durchaus mit religiösen Einsichten zusammen. Eine theologische Ethik thematisiert diese Einsichten mit den Schwerpunkten Umgang mit Schuld, Rettung, Versöhnung. Freilich haben wir durch die vernünftige Aufklärung gelernt, dass Religionen nicht mit Autorität über die Moral verfügen können. Sie können Impulse und Motive geben, die das Nachdenken über Moral verstärken. Hier spielen Motive wie Liebe und Gerechtigkeit, Demut und Hoffnung eine große Rolle. Man darf sowohl die religiöse Erfahrung wie das vernünftige Denken befragen, welche Normen von solchen Motiven begünstigt werden. Beweggründe sind keine Beweisgründe - aber kann es ohne Beweggründe überhaupt das Interesse an Beweisgründen geben? Ethiker und Ethikerinnen sind fehlerfähig und irrtumsfähig. Man muss moralische Bildung von moralischer Vollkommenheit unterscheiden. Moralische Bildung befördert bei aller Behauptung ethischer Streitkultur die Einsicht in Kontingenz: der eigenen Person, der Kontexte, der Diskurse und der Gesprächspartner. Der religiöse Humanismus, der mit moralischer Bildung angestrebt wird, enthält das Kontingenzbewusstsein, das dem ethischen Diskurs in der Philosophie so häufig zu fehlen scheint. Andererseits wird man die moralische Bildung von Ethikern und Ethikerinnen auch daran erkennen können, dass sie sich persönlich aus moralischen Gründen für ein moralisches Anliegen praktisch einsetzen. Dazu gibt es Möglichkeiten genug. Authentizität im ethischen Sinne beinhaltet eine selbstbestimmte Verträglichkeit von Theorie und Praxis, Lehre und Leben. Diese Übereinstimmung im Sinne der Glaubwürdigkeit kann das Argument nicht ersetzen, aber die Aufmerksamkeit für das Argument zu erhöhen. 26 Dietmar Mieth Literatur Abbt, Christin (2007). Der wortlose Suizid: Die literarische Gestaltung der Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik. München: Fink. Ammicht Quinn, Regina (1992). Zwischen Lissabon und Auschwitz. Freiburg i. Ue. / Freiburg / Br.: Herder. Auer, Alfons (2016). Autonome Moral und christlicher Glaube. Neuausgabe. Darmstadt: WBG . Berendes, Jochen (2009). Ironie - Komik - Skepsis. Studien zum Werk Adalbert Stifters. Tübingen: Niemeyer. Bobbert, Monika / Mieth, Dietmar (2015). Das Proprium der christlichen Ethik. Luzern: Exodus. Christoffer, Uwe (1989). Erfahrung und Induktion: Zur Methodenlehre philosophischer und theologischer Ethik. Freiburg ( CH ) / Freiburg i. Br. / Wien: Herder. Dietrich, Julia (2007). Grundzüge einer Ethik der Ethik. In: Berendes, Jochen (Hrsg.) Autonomie durch Verantwortung: Impulse für die Ethik in den Wissenschaften. Paderborn: Mentis. 111-146. Dietrich, Julia / Müller-Koch, Uta (Hrsg.) (2007). Ethik und Ästhetik der Gewalt. Paderborn: mentis. Ego, Werner (1992). Abschied von der Moral: Eine Rekonstruktion der Ethik Robert Musils. Freiburg ( CH ) / Freiburg i. Br. / Wien: Herder. Fludernik, Monika / Falkenhayer, Nicole / Steiner, Julia (Hrsg.) (2015). Faktuales und fiktionales Erzählen. Würzburg: Ergon-Verlag, 219-240. Habermas, Jürgen (1976). Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haker, Hille (1999). Moralische Identität. Tübingen / Basel: Francke. Mieth, Dietmar (1984). Christliche Überzeugung und gesellschaftlicher Kompromiß. In: von Weber, Helmut (Hrsg.) Der ethische Kompromiß. Freiburg ( CH ) / Freiburg i. Br., 113-146. Mieth, Dietmar (2015). Bild und Bildung: Die Entstehung des Bildungsgedankens bei Meister Eckhart und seine Bedeutung im heutigen Kontext. In: Kropac, Ulrich / Pittrof, Thomas (Hrsg.) Bildung und Univers(al)ität. St. Ottilien, 55-82. Ricoeur, Paul (1995). Le Juste. Paris: Esprit. Ricoeur, Paul (1996). Das Selbst als ein Anderer. München: Fink. 173-206. Ethik und Weltkontakt 27 Ethik und Weltkontakt Thilo Hagendorff Eines von vielen Gedankenspielen aus der praktischen Philosophie ist jenes von Carruthers über Astrid die Astronautin. Es geht wie folgt: Nehmen wir einmal an, Astrid sei eine sehr reiche Frau, die genug von ihrem Leben auf der Erde hat und sich daher eine Weltraumrakete kauft, damit sie dieses Leben für immer hinter sich lassen kann. Sie hebt auf einer Flugbahn ab, auf der sie schließlich unser Sonnensystem verlassen wird, und sie nimmt nicht einmal ein Funkgerät oder andere Kommunikationsmittel mit. Wir können daher sicher sein, dass sie nie wieder irgendeinen Kontakt zu einem anderen Menschen haben wird. Nehmen wir nun weiter an, dass Astrid eine Katze als Begleitung mitgenommen hat. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Reise beginnt sie nun damit, die Katze aus Langeweile als Dartscheibe oder etwas anderes zu benutzen, was der Katze unsägliche Schmerzen bereitet. Würden wir nicht denken, dass Astrids Tun völlig falsch ist? (Carruthers 2014: 234) Carruthers nutzt die Ausführungen über die Astronautin Astrid, um seine ethische Theorie zu untermauern. Er beschäftigt sich mit der Frage nach dem moralischen Status von Individuen, mit dem Argument der menschlichen Grenzfälle, mit Fragen nach der Anwendung des Kontraktualismus auf bestimmte ethische Problemstellungen etc. Exemplifizierung finden seine Überlegungen schließlich an der argumentativen Auflösung der Frage, ob es moralisch falsch ist, wenn Astrid die Astronautin in ihrem Raumschiff eine Katze als Dartscheibe benutzt. Folgt man an dieser Stelle Heinrichs Systematik hinsichtlich der Klassifizierung von ethischen Fallbeispielen (Heinrichs 2008), dann handelt es sich hier um ein fiktives Handlungsszenario, welches in systematisch-argumentativer Hinsicht zur positiv-heuristischen Veranschaulichung ethischer Annahmen eingesetzt wird. Generell sind Fallbeispiele als methodische Ergänzung zur ethischen Theorie zu verstehen, nicht jedoch als Bestandteil der Theorie selbst. Andernfalls wäre Ethik bloße Kasuistik. Und dennoch geben gerade Fallbeispiele in der Regel zuverlässige Hinweise auf die grundsätzliche Ausrichtung ethischer Theoriemodelle. Diese können sich, so die hier vertretene These, einerseits daran orientieren, Ethik gewissermaßen praxisnah in Kontakt mit „realen“ Verhältnissen zu 28 Thilo Hagendorff bringen, oder sie können sich andererseits darin erschöpfen, Weltkontakt zu scheuen und im schwerkraftlosen Raum bloßer Gedankenakrobatik zu verbleiben. Ähnlich, wie beispielsweise Bourdieu sich von der Lehnstuhlsoziologie abgegrenzt hat und nahezu zeitlebens eine Soziologie in den Blick genommen hat, welche qua Empirie Weltkontakt sucht und damit dem „Elend der Welt“ (Bourdieu 2009) unmittelbar ausgesetzt ist, so kann die Ethik sich dazu entscheiden, aus der Leichtigkeit akademischer Argumentationsturniere herauszutreten und den diskursiven Kontakt zu den Verhältnissen zu suchen. Freilich soll an dieser Stelle mit dem Ausdruck des „Weltkontakts“ keine Anspielung auf korrespondenztheoretische Annahmen über eine anzustrebende Deckung von Diskursen und Wirklichkeit getätigt werden, dennoch geht es um eine gewisse Öffnung der ethischen Diskursführung für empirische Beobachtungen (Doris / Stich 2005), welche wiederum eine verstärkte „Nähe“ zwischen Ethik und sozialer Praxis begründen können. Diese Nähe oder Bezogenheit von Ethik auf lebensweltliche „Realitäten“ ist nicht nur, aber insbesondere in der praktischen Philosophie, in welcher es zum einen um die maximal akribische Exegese klassischer ethischer Theoriemodelle und zum anderen um das Auffinden des einen richtigen, letztgültigen Modells von Ethik geht, vielerorts abhandengekommen. Letzteres wird etwa von Höffe als „Fundamentalethik“ bezeichnet, welche kontrastiert wird mit einer angewandten Ethik, welche sich im Zuge der zunehmenden Differenzierung der sozialen Praxis auf bestimmte Gesellschaftsbereiche spezialisiert hat (Höffe 2013: 106). Neben der angewandten Ethik entwickelt auch die Fundamentalethik ihre Argumente oftmals unter Hinzuziehung von Fallbeispielen. Prominentere Fallbeispiele oder Gedankenspiele als jenes mit Astrid der Astronautin sind etwa das Heinz-Dilemma, die Idee des Schleiers des Nichtwissens, das Trolley-Problem und andere. Gemeinsam ist all jenen Fallbeispielen und Gedankenspielen, dass sie insofern Praxisbezug missen, als dass die jeweils konstruierten Situationen sich empirisch so gut wie nie beobachten lassen. Daher ist auch ihre Reflexion mit den Mitteln der Ethik in gewissem Sinne müßig. Schließlich findet eine Implementation der moralischen Konditionen jener philosophischen Traktate, welche Fundamentalethik betreiben, in konkrete Handlungszusammenhänge quasi nicht statt. Pragmatisch geboten wäre daher, dass ethische Diskurse „wirklichen“ Problemlagen begegnen, sodass das Wissen, die Reflexionshilfen oder Orientierungsleistungen, welche die Ethik geben kann, in den jeweiligen Lebensbereichen, deren Praxisprobleme die Ethik reflektiert, Resonanz finden können. An dieser Stelle gilt es demnach, aus der Perspektive einer Metaethik dafür zu plädieren, dass Ethik erneut Weltkontakt gewinnt, dass sie sich davon verabschiedet, bloße Teilnehmerin an akademischen Argumentationsturnieren zu sein, und sie stattdessen qua Gespür für die Empirie die Nähe zu Ethik und Weltkontakt 29 den Verhältnissen sucht und zu einer Instanz von lebensweltlicher Relevanz wird. Fraglich ist, ob eine solche Ethik überhaupt darauf angewiesen ist, dass sie durch eine Fundamentalethik flankiert wird. Schließlich könnte man argumentieren, dass die Fundamentalethik eben auf möglichst grundlegende Weise festsetzt, welche Grundsätze die in Kontakt zu den Verhältnissen stehende, auf bestimmte Sparten der sozialen Praxis spezifizierte Ethik in Anschlag bringen kann. Doch es darf bezweifelt werden, dass es hier ein tiefergehendes Abhängigkeitsverhältnis gibt. Im Gegenteil ist es sogar so, dass konstatiert werden kann, dass die Identifizierung höchster, universell gültiger und allgemeiner Prinzipien in der Fundamentalethik - seien dies der kategorische Imperativ, moralische Rechte, Nützlichkeitsprinzipien etc. - mit dem Zweck der daraus erfolgenden Ableitung spezifischer, auf bestimmte Praktiken gemünzter Verhaltensregeln eher problematisch ist. Unabhängig davon, dass überhaupt unrealistisch ist, dass in der sozialen Praxis eingespielte Handlungsroutinen regelmäßig auf fundamentalethische Prinzipien hin reflektiert werden, so ist festzustellen, dass dies auch gar nicht per se wünschenswert wäre. Schließlich verlöre sich so die Sensibilität für die Situation, für den jeweiligen sozialen Kontext, für die jeweiligen Eigenheiten der moralisch agierenden Akteure. Die unveränderliche, situationsübergreifende Einhaltung beispielsweise rein utilitaristisch oder rein deontologisch orientierter Verhaltensprinzipien wäre in vielen Fällen, je nach Besonderheit der Situation, höchst unangemessen. Dem folgend kann eine Fundamentalethik, welche mit abstrakten Gedankenspielen operiert, um schließlich für bestimmte Verhaltensprinzipien argumentieren zu können, mit einer Funktion von Ethik in Verbindung gebracht werden, welche mit Luke (1995) als „Zähmung“ ( taming ) umschrieben werden kann, während eine Ethik, welche Weltkontakt pflegt, mit der der „Zähmung“ entgegengesetzten, ebenfalls von Luke stammenden Idee der „Verwilderung“ ( going feral ) kontrastiert werden kann. „Zähmung“ meint die Restriktion von Handlungsmöglichkeiten, das Einhalten von Verhaltensprinzipien, den Einsatz von Ethik zur Lenkung des Handelns in einen bestimmten Korridor des moralisch Akzeptablen. „Verwilderung“ auf der anderen Seite spielt umgekehrt auf die Freisetzung von Handlungsmöglichkeiten an, auf die Erlangung von persönlicher Autonomie. Während „Zähmung“ einer Art paternalistisch motivierten, ethischen Gesetzgebung entspricht, zielt „Verwilderung“ auf die Reaktivierung von Autonomie und Mitgefühl als Quelle moralischer Rücksichtnahme. „Verwilderung“ diszipliniert moralische Akteure nicht zur Einhaltung von Verhaltensprinzipien, sondern sie emanzipiert von der Unfähigkeit, in Situationen, in denen moralisch relevante Entscheidungen getroffen werden müssen, autonom und mitfühlend handeln zu können. 30 Thilo Hagendorff Nun kann freilich eingewendet werden, dass auch eine angewandte Ethik, welche in einem durch empirisches Beobachteten geschulten Kontakt zu den sozialen Verhältnissen steht, „zähmend“ agieren kann, indem sie Vorschriften darüber aufstellt, welche Handlungen moralisch geboten respektive verboten sind. Doch eine derart agierende Ethik wirkt rasch befremdend, wenn nicht gar verschroben, schließlich wird es möglich, gerade durch ihre fachkundige Praxisnähe die mit ihr verbundenen Dekrete in direkten Abgleich mit ureigenen Interessen, Überzeugungen und Wunschsetzungen zu bringen. Derart wird plötzlich das immense Konfliktpotenzial deutlich, welches die angewandte Ethik mit sich bringt, indem sie das Bestehende mit dem ethisch Richtigen kontrastiert. Die Ethik wirkt derart „ungemütlich“, ja offensichtlich taktlos, als würde sie bar jeglicher interaktionell notwendiger Rücksichten agieren und als wisse sie nicht, dass es weitreichende, sozial verankerte „Ausschaltungswerte“ (Luhmann 2008: 186) für ethisches Reflektieren gäbe, welche sich stabilisierend auf eingespielte soziale Handlungszusammenhänge auswirken. Sobald Ethik nicht mehr mit abstrakten Verhaltensprinzipien operiert, deren situationsspezifische Konkretion im Endeffekt eine bloße Seltenheit ist, sondern sie die Lebens- oder Arbeitswelt moralischer Akteure direkt betrifft und unmittelbar in Beziehung gesetzt werden kann zur bestehenden sozialen Praxis, riskiert sie, in Konflikt zu geraten mit der Intention moralischer Akteure, die Gefahr der Restriktion der eigenen, subjektiv wahrgenommenen Handlungsfreiheit abwehren zu müssen. Doch eine derart „gefährliche“ Ethik hat wenige Erfolgsaussichten. Daher bietet es sich an, dass sie, anstatt auf „Zähmung“ auf „Verwilderung“ setzt - zumal, wie sich aus dem eben gesagten ergibt, kommunikationspsychologische Überlegungen darauf hindeuten, dass Ethik andernfalls als bloße Belastung in der Kommunikation wahrgenommen wird, welche rasch Reaktanz provoziert. Normative Geltungsansprüche, welche offensichtlich „zähmen“ wollen, verpuffen eher, als dass sie tatsächlich eingelöst werden. „Zähmung“ funktioniert, solange es darum geht, moralisch zu fixieren, dass man eine Katze nicht als Dartscheibe benutzen darf, dass man eine Straßenbahn besser eine einzelne als fünf Personen überfahren lassen sollte, dass man hinter dem Schleier des Nichtwissens von der eigenen sozialen Position abstrahieren muss etc. - weil die „Zähmung“ nicht in Bezug zur eigenen Lebens- oder Arbeitswelt gesetzt werden kann. Alsbald sich dies jedoch ändert und Ethik, welche Weltkontakt sucht, plötzlich persönliche Relevanz erhält, setzen sich „Zähmungsversuche“ nicht nur dem Verdacht aus, paternalistisch zu sein, sondern sie sehen sich gleichzeitig einer extremen Ablehnungs- und Verteidigungsbereitschaft entgegengestellt. Anders sieht es aus im Falle der „Verwilderung“, mit welcher, wie oben angesprochen, eine angewandte Ethik, welche gezielt Weltkontakt pflegt, in Verbindung gesetzt werden kann. Hier geht es nicht Ethik und Weltkontakt 31 mehr darum, Restriktionen gegenüber solchen Handlungszusammenhängen aussprechen zu können, welche als moralisch falsch erachtet werden. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Wissen, um das Hinweisen auf blinde Flecken, um bloße Aufmerksamkeitsverschiebungen, mit dem Effekt, Handlungsfreiheit gerade nicht zu senken, sondern zu steigern. Es geht um die Ausweitung von Autonomie, um die persönliche Weiterentwicklung, um die Aneignung von Eigenverantwortlichkeit. Während „Zähmung“ ethische Fremdbestimmung meint, strebt eine an „Verwilderung“ orientierte Ethik die Befähigung von moralischen Akteuren an, moralisch relevante Entscheidungen auf der Grundlage von umfassendem Wissen und Einfühlungsvermögen selbstverantwortlich zu treffen. Sie erkennt, geschult durch ihre Bereitschaft, als Beobachterin erster Ordnung soziale Praxis wahrzunehmen, dass diese durchsetzt ist von versteckten Glaubens-, Überzeugungs- und Wertsystemen, welche es nicht allein gilt, manifest zu machen, sondern überdies zu reflektieren. Ethik, so könnte man meinen, wäre daher gleichsam ein Geschäft sozialer Superbeobachter, welche, ähnlich Künstlern, „merken, was die meisten anderen Menschen nicht merken […]“ (Rorty 1989: 257-258). So schreibt auch Adorno: An denen, die das unverdiente Glück hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen - ein Glück, das sie im Verhältnis zur Umwelt oft genug zu büßen haben -, ist es, mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen oder sich aus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten. (Adorno 1966: 49) Doch eine Ethik des Weltkontakts und der „Verwilderung“, so sehr sie auch auf die Emphase Einzelner angewiesen sein mag, sollte stets nach der Ausweitung ihrer selbst streben. Das Projekt der ethischen „Verwilderung“ bedarf keiner kleinen Klasse an Superbeobachtern, welche Gesellschaft vermeintlich von außen wahrnehmen können. Zwar geht es tatsächlich um die Erlangung einer gewissen Distanz zu sozial eingespielten Handlungsroutinen und Deutungsmustern, allerdings darf diese Distanz nicht missverstanden werden als vollständige Aufkündigung der eigenen Gebundenheit an einen bestimmten sozialen Ort, an eine bestimmte soziale Formatierung. Eine Ethik, welche gezielt solche Reflexionen tätigt, welche explizit Relevanz für bestimmte soziale Praxisfelder aufweisen, ist sich dieser Abhängigkeiten bewusst - und strebt dennoch an, das Prinzip der „Verwilderung“ ebenfalls auf sich selbst anzuwenden. Schließlich kann sie dabei umso mehr jene Abhängigkeiten in den Blick nehmen, je mehr sie Weltkontakt sucht. 32 Thilo Hagendorff Literatur Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2009). Das Elend der Welt. Stuttgart: UTB . Carruthers, Peter (2014). Warum Tiere moralisch nicht zählen. In: Schmitz, Friederike (Hg.): Tierethik. Berlin: Suhrkamp, 219-242. Doris, John M. / Stich, Stephen P. (2005). As a Matter of Fact. Empirical Perspectives on Ethics. In: Jackson, Frank / Smith, Michael (Eds.): The Oxford Handbook of Contemporary Philosophy. New York: Oxford University Press, 114-154. Heinrichs, Bert (2008). Zum Beispiel. Über den methodologischen Stellenwert von Fallbeispielen in der Angewandten Ethik. Ethik in der Medizin 20 (1): 40-52. Höffe, Otfried (2013). Ethik. Eine Einführung. München: C. H. Beck. Luhmann, Niklas (2008). Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a. M: Suhrkamp. Luke, Brian (1995). Taming ourselves or going feral? Toward a nonpatriarchal metaethic of animal liberation. In: Adams, Carol J. / Donovan, Josephine (Eds.) Animals & Women. Feminist Theoretical Explorations. Durham: Duke University Press, 290-319. Rorty, Richard (1989). Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? Möglichkeiten zur Auflösung einer räumlichen Metapher Philipp Richter Die „Ethik in den Wissenschaften“ ist seit mindestens 1985 Programm an der Universität Tübingen. In einem Gesprächskreis ging es von Anfang an darum, in interdisziplinärer Konstellation „ethische Fragen zu besprechen, die sich in und mit Bezug auf die Wissenschaften stellen“ (Potthast / Ammicht Quinn 2015: 9). 1990 wurde das „Zentrum für Ethik in den Wissenschaften“ gegründet, das im vergangenen Jahr sein 25jähriges Jubiläum feierte. Mit Gründung des Zentrums erfolgte zudem die Einrichtung der Lehrstühle „Ethik in den Biowissenschaften“ und „Ethik in der Medizin“ (ebd.). Darüber hinaus wurden von 1991-2001 im Rahmen des Graduiertenkollegs „Ethik in den Wissenschaften“ zahlreiche weitere Projekte im Feld der anwendungsbezogenen Ethik durchgeführt. Wichtige Impulse für Lehre und Forschung in der anwendungsbezogenen Ethik gehen von den Mitarbeitenden des Ethikzentrums aus, wie die zahlreichen Projekte und Publikationen zeigen; nicht zuletzt ist das die Entwicklung eines Ethisch- Philosophischen Grundlagenstudiums für die Universitäten in Baden-Württemberg (siehe Maring 2005). Das Programm einer „Ethik in den Wissenschaften“ hat sich also institutionell etabliert. Doch warum enthält das Programm gerade diese womöglich etwas sperrige Formulierung? Weshalb lautet der Titel nicht vielmehr „Angewandte Ethik“ bzw. „Anwendungsbezogene Ethik“, „Wissenschaftsethik“, „Ethische Fragen der Einzelwissenschaften“ oder „Ethik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“? Nein - diese Vorschläge scheinen nicht zu treffen, was hier eigentlich gemeint ist. Vielmehr ist die Verwendung der Präposition „in“ entscheidend. 1 Ihre metaphorische Verwendung hat sich im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verdichtet, der dabei verschiedene Bedeutungsdimensionen vereint. Um die Auflösungsmöglichkeiten der Metapher, also um eine Klärung des Programms und das Aufdecken seiner begrifflichen Spannungen soll es im Folgenden ge- 1 Dies wird explizit so herausgestellt in der einleitenden Bemerkung im Jahresbericht anlässlich des 20jährigen Bestehens des IZEW (IZEW 2010: 4). 34 Philipp Richter hen. Damit will ich weitere Perspektiven für die methodologische Reflexion des ethischen Nachdenkens unter „Anwendungsbedingungen“ eröffnen. Denn bekanntlich sind die Bezeichnung, der Begriff, die Methode und Zielsetzung einer „Angewandten Ethik“ in der Diskussion heftig umstritten (Überblick in: Richter 2015; siehe Gehring 2015: 27-32; Hubig 2015: 193-205; Kaminsky 2005; Wolf 1994: 187 f.), obwohl freilich in der Forschungspraxis unter diesem Titel methodisch überzeugende und erkenntnisreiche Projekte durchgeführt werden. Aber nicht jede Aktivität, die Anspruch macht, „Ethik“ zu sein, ist ohne weiteres als solche zu bezeichnen. Hier müssten methodische Standards gesichert und auch die Leistung und Grenzen des Faches „philosophische Ethik“ klarer benannt werden. Wie z. B. lässt sich das philosophisch fundierte Nachdenken über moralische Urteile und gelebte Normen und Werte, also das ethische Reflektieren im engeren Sinne, in der Praxis von anderen Formen des Nachdenkens unterscheiden? Das Titelwort „Ethik“ steht jenseits des selbstzweckhaft betriebenen akademischen Faches - also auch als Ethik „in“ den Wissenschaften - häufig unter dem Verdacht der unbegründeten Moralisierung und Bevormundung, der politischen Akzeptanzbeschaffung oder des „Etikettenschwindels“ zur Verschleierung eigentlich strategischer Interessen (siehe Dietrich 2007: 111 f.; Gehring 2015: 37-39; Poscher 2013: 437 f.). Zur Klärung der Frage, was „Ethik in den Wissenschaften“ als eine Ethik unter „Anwendungsbedingungen“ ausmacht, ist es hilfreich, die Metaphorik des Topos genauer zu betrachten, um diese dann exemplarisch mit programmatischen Texten des Ethikzentrums, die hierzu konzeptuelle Überlegungen anstellen, in ein Verhältnis zu setzen. Das Ethikprogramm des IZEW wird vor allem mit Metaphern des Räumlichen gefasst (vgl. IZEW 2010: 4 f.; siehe Hasenclever 1992: 28; Mieth 2007: 39 ff.; Engels 2005: 146): Bei der Forschungsarbeit treten „in“ den Wissenschaften auf Werte und Normen bezogene Fragen auf, die rechtlich oder moralisch nicht eindeutig geregelt sind und daher mit den Mitteln der Ethik geklärt werden müssen. Diese Fragen sollen „in“ den betroffenen Disziplinen und nicht „neben“ diesen bearbeitet werden. Erforderlich sei demnach nicht eine Ethik, die „nach“ oder „zu den Wissenschaften“, sondern „in den Wissenschaften selbst“ stattfindet. Außer den eher räumlichen Metaphern „in“, „neben“ und „zu“ kommt mit „nach“ auch eine zeitliche Metapher vor. Wie Werner Köster 2 im Wörterbuch der philosophischen Metaphern ausführt, kann „Raum“ als „Meta-Metapher“ bezeichnet 2 Köster folgt Nietzsches Ausführungen in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne zu den Urformen bzw. Rahmen der Metaphernbildung (Raum, Zeit, Zahlenverhältnisse), die bei jeder Metaphernbildung nachgeahmt werden (Nietzsche 1981). Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? 35 werden, die ein „ganzes Feld von topischen Begriffen […] strukturiert“ und somit grundsätzliche Unterscheidungs-Möglichkeiten für jeden Bereich des Denkbaren erlaubt. Hierzu gehören Begriffe wie z. B. innen oder außen, peripher oder zentral, höher oder tiefer sowie Ebene, Stufe, Schwelle und viele mehr (siehe Köster 2007: 278). Weiter zählt hierzu insbesondere die räumliche Metapher der „Grenze“, die mit Blick auf den wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang mit dem Erfordernis der Gedankenklärung, der methodischen Sicherung und Wiederholbarkeit von Erkenntnis als „Definieren“, also als Einführen von begrifflichen Unterscheidungen, besonders relevant ist (siehe Zill 2007: 144 f.). Nun könne, so wird oben in der Paraphrase ausgeführt, anwendungsbezogene Ethik einerseits „in den Wissenschaften selbst“, also im „begrenzten Bereich“ einer Wissenschaft, betrieben oder andererseits fälschlicherweise neben diesem Bereich, nach diesem oder zu diesem hin praktiziert werden. Freilich funktioniert hier „Bereich“ wiederum nur im übertragenen Sinne, da die Wissenschaften nicht an bestimmte Orte gebunden sind und auch nicht als materielle „Container“, die etwas enthielten, aufgefasst werden können. Intuitiv kann jedoch wohl jeder mit dieser „verräumlichten“ Redeweise etwas anfangen, so dass „Ethik in den Wissenschaften“ bereits als etablierter Topos gelten kann, der sich zur Argumentation, Plausibilisierung und Illustration eignet und dessen Metaphorik „eine besondere Kraft zu überzeugen zukommt“ (Brenneis 2014: 89 f.). Ich folge hier Andreas Brenneis, der Metaphern über das Moment des unüblichen Sprachgebrauchs charakterisiert: „Metaphern resultieren daraus, dass sprachliche Mittel in ungefügter Weise miteinander verwendet werden, dass Worte aufeinander bezogen werden ohne dies von sich aus anzubieten […]. Mindestens zwei der Bestandteile eines Satzes erzeugen zusammen eine unerhörte Beziehung, die einen Leser und sein Verständnis irritieren, verunsichern, beeindrucken oder begeistern kann“ (siehe ebd.). Metaphern können, wenn ihre Verwendung - wie es vielleicht bei der Rede von „Ethik in den Wissenschaften“ der Fall ist - nicht mehr überrascht, zu Topoi werden (Brenneis 2014: 93), also zu Gemeinplätzen, die sich als Gesichtspunkte zur Findung von überzeugenden Argumentationen, Begründungen und Beweisen eignen (siehe Hubig 1990: 140 f.). Die begriffliche Undeutlichkeit eines Topos, also ein stark metaphorisches Moment, kann hier relativ zum Ziel des Argumentierens vorteilhaft oder nachteilig sein. Auch lassen sich wohl nicht alle Metaphern oder als Topoi verwendete Metaphern, insbesondere die auf das Denken bezogenen, in eine direkte Redeweise überführen. Es ist jedoch sicherlich ertragreich, den im Topos verborgenen begrifflichen Konzepten nachzuspüren und diese explizit zu machen - nicht um den Topos unbrauchbar zu machen (weil womöglich zweifelhaft, unklar, manipulativ etc.), sondern um das entsprechende Forschungs- und Lehrprogramm besser zu verstehen. 36 Philipp Richter Die räumliche Grenz-Metaphorik ist auch konstitutiv für das gängige Verständnis von Wissenschaft und den Wissenschaften. Zum einen gilt Wissenschaft im Allgemeinen als die Praxis zur Generierung von sicherem Wissen in Abgrenzung zum unverbindlichen Meinen und Vermuten oder einem unverstandenen Können (Kambartel 2004: 719 f.; siehe Mildenberger 2007: 54 f.). Zum anderen werden die Vorgehensweisen im Einzelnen, die Disziplinen, häufig über den jeweils behandelten Phänomen- und Problembereich sowie über die verwendeten Methoden (z. B. verstehen oder erklären) und die Begründungsart differenziert (z. B. apriorische oder empirische Argumente) (Kambartel 2004: 720). Freilich erweisen sich insbesondere durch verstärkte interdisziplinäre Kooperation in Forschungsprojekten die „wissenschaftlichen Fachgrenzen als durchlässig“, was jedoch nicht heißt, dass diese eigentlich nicht existieren oder sinnlos wären (siehe Brendel 2011: 2588). Allerdings setzt zumindest die Metaphorik einer „Ethik in den Wissenschaften“ derartige Fachgrenzen voraus: Es gibt viele Wissenschaften, die demnach durch bestimmte Merkmale voneinander unterscheidbar sein müssen. Zudem könne Ethik „in“ diesen oder „neben“ diesen voneinander abgegrenzten Wissenschaften betrieben werden. Weiter ist Ethik selbst eine durch Problembereich, Methode und Begründungsart von anderen Disziplinen abgrenzbare Wissenschaft. Werden die Wissenschaften nun in naiv räumlicher Metaphorik gefasst, dann drängt sich das Bild von Behältnissen wie z. B. Containern oder Aktenordnern auf (z. B. mit der Aufschrift „Biologie“), die einen Bestand wahrer Aussagen und geeigneter Methoden zur Erforschung des Problembereichs (hier: „das Lebendige“) enthalten - sonst aber nichts. Angesichts wissenschaftstheoretischer und -soziologischer Überlegungen scheint es heute jedoch sinnvoll, das statische „Containerbild“ zu überschreiten und die einzelnen Wissenschaften jeweils als dynamische Praxis zu begreifen, in der wissentlich und willentlich nach spezifischen Methoden gehandelt wird, um das Ziel einer Problemlösung und gesichertes Wissen zu erreichen (siehe z. B. Düwell 1996: 220 f.; Mildenberger 2007: 52 f.). Somit hätten wir bildlich nun zwar nicht mehr zwei statische Behältnisse, eines der normativen „Ethik“ und z. B. eines der möglichst wertneutralen „Biologie“ ohne Moral oder ethische Fragen, jedoch bleiben doch von einander deutlich unterschiedene Verfahrensweisen, die auch in verschiedener Weise mit den ihnen jeweils inhärenten gelebten Werten und Normen umgehen. Eine weniger metaethisch interessierte, sondern eher problemorientierte anwendungsbezogene Ethik könnte nun - laut IZEW - Topos - den Akteuren der biologischen Wissenschaftspraxis fälschlicherweise „ungefragte“ Moralaufklärung leisten (über implizite Werte, mögliche Folgen und Probleme der Forschungspraxis etc.) und diesen sodann Vorschriften über wünschenswertes Verhalten machen - so interpretiere ich die metaphorische Rede von einer (verfehlten) Ethik „zu“ den Wissenschaften. Dagegen bestünde Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? 37 eine (ebenfalls verfehlte) anwendungsbezogene Ethik „nach“ den Wissenschaften wohl darin, dass zu Forschungsverfahren und -Produkten einer der Wissenschaften nachträglich eine (womöglich abwegige) ethische Fachexpertise eingeholt wird - ohne über die erforderliche Sachkenntnis zu verfügen. Das laut Topos wünschenswerte Vorgehen bestünde dann vermutlich in kooperativen Forschungsprojekten im Sinne einer Technikfolgenabschätzung. Ein Blick in einige programmatische Texte des IZEW zeigt, dass die Präposition „in“ zumeist für Inter- oder Multidisziplinarität steht (siehe Engels 2005: 146; Mieth 2007: 39 ff.), wobei das verfehlte „neben“ entsprechend einen Mangel an Sachkenntnis in den für die anwendungsbezogene Ethik zumeist erforderlichen „gemischten Urteilen“ ausdrückt (Düwell 2001: 172 f.). Wenn Wissenschaften als „Praxis“ aufgefasst werden und nicht nur als Aussagensysteme und Methodensets, dann kommen in dieser Praxis wertbasierte Präferenz-Entscheidungen vor, die so oder auch anders ausfallen und auch außerwissenschaftliche Werte berücksichtigen können. Die Annahme einer „Wertfreiheit“ der Wissenschaft kann dann nur noch ein „innerwissenschaftliches, methodisches Prinzip“ sein (Mack 1989: 31 f.). Es scheint mir plausibel, dass aus der Annahme, Wissenschaft sei die Praxis des Strebens nach gesichertem Wissen, auch eine auf diesen Zweck relativierte „allgemeine Wissenschaftsethik“ bzw. „Professionsethik“ folgt, die zur ständigen Reflexion des Handelns auffordert und sich an Werten wie z. B. methodische Sorgfalt, Wahrhaftigkeit oder Kollegialität orientiert (Engels 2004: 12). Wissenschaftler / innen sind insofern „vor allem für die Wahrheit des von ihnen produzierten Wissens verantwortlich“ (Mildenberger 2007: 59). Darüber hinaus scheint es sinnvoll, eine besondere Verantwortung bzw. Professionsethik der jeweils einzelnen Wissenschaften aufgrund der Besonderheit ihrer Gegenstände anzunehmen (z. B. Engels 2004: 14 f.). Das aber sind zunächst einmal begriffliche Thesen darüber, was Wissenschaft ist und eigentlich sein sollte, nämlich eine selbstbewusste Praxis, die nicht ohne ethische Reflexion denkbar ist, da jede Praxis mit wissentlich und willentlich ausgeführten Handlungen und Überlegungen zu tun hat. Mit dem Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verbunden ist also zum einen eine Antwort auf die Frage, was Wissenschaft ist und sein soll (nämlich eine neben der disziplinären Wissensgenerierung und Problemlösung auch zu verantwortende und ethisch zu reflektierende Tätigkeit), zum anderen wird damit aber die tatsächliche Wissenschaftspraxis fokussiert, in der nicht notwendig, nicht vorbehaltlos und auch nicht ständig ethisch reflektiert wird. Für diese Praxis ist das gemeinsame ethische Reflektieren ja etwas Neues, das an der Universität Tübingen mindestens seit 1985 praktiziert wird. „Die Ethik in den Wissenschaften richtet sich zunächst auf Personen als Subjekte dieser Ethik. Insofern geht es um den Aufbau einer wissenschaftsethischen Mentalität“ (Mieth 1990: 328). Es ist nicht 38 Philipp Richter ganz klar, ob hier die Wissenschaftler / innen in ihrer Rolle oder allgemein als Personen gemeint sind, die sich unabhängig ihrer bestimmten disziplinären Sozialisation, methodischen Kenntnis etc. in allen Praxisbereichen frei bewegen. Geht es im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ also um Personen, die beiläufig auch Wissenschaftler sind, oder geht es um diese als Vertreter / innen einer bestimmten Wissenschaft? Entweder liefern die Teilnehmer / innen am interdisziplinären Austausch als Vertreter einer Disziplin gesichertes Sach- und Methodenwissen (z. B. über biotechnologische Zusammenhänge) oder sie betätigen sich, z. B. unterstützt durch „philosophisch ethische Zusatzstudien“ (Mieth 2007: 39), als Personen, die an einem Austausch über Werte und Normen teilnehmen. Aber nicht „alle möglichen Beteiligten“ sind auch schon „Ethiker“ oder “Ethikexperten“; z. B. dann nicht, wenn ihnen das „begriffliche Rüstzeug“ und die „Kenntnis der Argumentationsweisen der fachlichen Ethik“ fehlen (Mieth 2001: 299). Fachleute aus der philosophischen Ethik können sich dagegen über biotechnologische Erkenntnisse informieren lassen und als Laien auf diesem Gebiet Fragen stellen oder Zusammenhänge problematisieren, um diese womöglich zum Anlass für begrifflich-philosophische Reflexionen zu nehmen - nicht aber betreiben sie Biowissenschaft. Der Ort, an dem „Ethik in den Wissenschaften“ vorkommen soll, ist demnach vielmehr eine „Brücke“ zwischen den Disziplinen (siehe Mieth 2007: 41; siehe auch Engels 2005: 146) und somit nicht „in“ einer oder „in“ den Wissenschaften zu finden. Sollen nun, um die Metapher aufrecht zu erhalten, die Wissenschaftler als Personen auf diesem interdisziplinären Feld sich die philosophische Ethik zu eigen machen und diese praktizieren? Dann würde eine Person zwar nicht mehr in Ausübung ihrer spezifischen Methoden, aber doch veranlasst durch ihre Rolle als Wissenschaftlerin damit beginnen, ethische Fragen zu stellen und diese mit den Mitteln der Ethik zu bearbeiten. Wir befänden uns nicht mehr „in“ einer Wissenschaft, sondern eher in einer reflektierenden „Daraufsicht“ vom Standpunkt der Ethik - dann aber doch „neben“ der reflektierten Wissenschaft. Denn wenn nun tatsächlich philosophische Ethik betrieben wird, dann stellen sich notwendig zahlreiche metaethische, ontologische, argumentations-theoretische Fragen o. ä., die sich nicht ohne weiteres ignorieren oder als nur für bestimmte Praxisbereiche bzw. „Bereichsethiken“ relevant bezeichnen und also nur selektiv thematisieren ließen (siehe Richter 2015: 203 f.; Hubig 2015: 193-205). Müssen sich Wissenschaftler als solche also für solch eine philosophische Ethik für Alle interessieren (Treptow 2015: 53)? Das scheint zunächst einmal nicht notwendig, insofern sie nur in ihrer disziplinären Rolle verbleiben und nicht das oben skizzierte Feld der Interdisziplinarität betreten und einen Rollenwechsel vornehmen. In den Dis- Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? 39 ziplinen existieren bereits Professionsethiken bzw. ethische Leitlinien 3 und wer sollte besser als die Fachleute selbst wissen, was das richtige Verhalten im Einzugsbereich ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Tätigkeit ist (siehe Treptow 2015: 53 f.)? Warum sollte darüber hinaus - im philosophischen Sinne - „in den Wissenschaften“ ethisch weiter gefragt werden? Das Problem ist nun, dass auch wenn die Auffassung von Wissenschaft als Praxis richtig ist, nicht eigentlich, wie der Topos fordert, davon gesprochen werden kann, dass „in“ den Wissenschaften Ethik stattfinden soll. Das Ziel des Problemlösens und der Generierung von gesichertem Wissen ist in der wissenschaftlichen Praxis dominant, eine gleichzeitige und ausführliche philosophische Reflexion der begrifflichen und normativen Grundlagen des Forschungsprozesses kann nicht durchgeführt werden, ja sie verhält sich zu diesem Ziel mithin störend oder schädlich. Entweder eine Wissenschaftlerin folgt der „Logik der Forschung“ ihrer Disziplin, oder sie reflektiert diese, z. B. um diese methodisch zu verbessern oder nach anderen Vorgehensweisen zu suchen, beides zugleich ist nicht möglich. Ein Beispiel: In der sozial- oder ingenieurwissenschaftlichen Forschung wird induktiv anhand üblicher quantitativer und qualitativer Standards argumentiert, ohne dabei angesichts des theoretischen Induktionsproblems die Leistungen und Grenzen der unterschiedlichen Umgangsweisen mit der problematischen Prämisse von der Gleichförmigkeit der Vergangenheit und Zukunft diskutieren oder zu Ende denken zu können. Ein anderes Beispiel: In der Forschungspraxis kann sich mir die Frage aufdrängen, ob es vertretbar ist, Tieren in Experimenten wirkliches Leid zuzufügen, um mögliche Therapien zur Verminderung des Leides von Menschen zu erschließen. Falls mit dem Ziel der Problemlösung weitergeforscht werden soll, dann muss das tierische Leid in Kauf genommen werden oder der Prozess wird beendet oder modifiziert o. ä. - bei dieser Reflexion und Entscheidung bewegen wir uns methodisch betrachtet jedoch nicht mehr „in“ den Biowissenschaften. Die Methode und Problemorientierung einer Einzelwissenschaft wird bei der ergebnisoffenen Reflexion dieser Praxis suspendiert. Wenn nach normativen Vorentscheidungen, impliziten Werten und Normen und Zielsetzungen gefragt wird, dann werden diese Frage nicht mehr in der Rolle des Wissenschaftlers bearbeitet, sondern so wie sie jeden Menschen betreffen, der wissentlich und willentlich handelt. Somit ließe sich nicht eigentlich Ethik „in“ den Wissenschaften betreiben, sondern mit den Methoden der Ethik wird ausgehend von Fragen, die sich in der Wissenschaftspraxis stellten, weiter gefragt - dann aber „neben“ der Wissen- 3 Vgl. z. B. den Verhaltenscodex der Gesellschaft Deutscher Chemiker, abrufbar unter: https: / / www.gdch.de/ gdch/ ueber-uns/ satzung-und-verhaltenskodex.html (Stand: 22. 03. 2016) oder die Ethischen Richtlinien der Gesellschaft für Informatik , abrufbar unter: www.gi.de/ fileadmin/ redaktion/ Download/ ethische-leitlinien.pdf (Stand: 22. 04. 2016) 40 Philipp Richter schaft. In diesem oben skizzierten „Zwischenraum“ wird nun nicht selbstzweckhaft Ethik betrieben, sondern es geht um spezifische Fragen, die wiederum zu einer Haltung der Nachdenklichkeit und des weiteren philosophischen Fragens führen. Man kann Marcus Düwell vollkommen zustimmen, dass hierbei der Kontakt zu den moralphilosophischen Grundlagenfragen auch in der Ethik unter Anwendungsbedingungen notwendig aufrechterhalten werden muss (Düwell 1996: 223). Denn jedes sich von den Selbstverständlichkeiten der Praxis distanzierende, philosophische Nachdenken über Moral führt letztlich u. a. auf ethische Basistheorien und erfordert z. B. einen Umgang mit dem vorliegenden theoretischen Pluralismus. Wie genau soll dann aber der Kontakt mit den moralphilosophischen Grundlagenfragen erfolgen? Weder sollen dabei die konkreten Fragestellungen der Wissenschaftspraxis und ihre Beantwortung aus dem Blick geraten, noch soll eine lediglich „kleine Ethik“ im Sinne eines bloßen Crashkurses o. ä. eingebracht werden. Da die philosophische Ethik nicht über einen festen Bestand an Kenntnissen und abgeschlossenem Wissen verfügt, zudem das Nachdenken nicht dogmatisch zugunsten einer höheren Moral abgebrochen werden kann, die philosophischen Methoden selbst immer weiter reflektiert werden müssen und auch der Erkenntnisanspruch der Ethik sich in Diskussion befindet (siehe Düwell 2015: 71), kann letztlich aus fachlicher Sicht der Ethik nur in den aktuellen Diskussionstand und das Praktizieren philosophisch-ethischen Nachdenkens eingeführt werden (siehe Richter 2015: 204). In Diskussion des Topos stoßen wir nun auf die Frage nach geeigneten Kommunikationsstrategien und didaktischen Konzeptionen zur Vermittlung philosophischer Ethik für einen Bereich, der sich ‚irgendwie‘ „neben“ dem fachlichen Wissen und Können der Wissenschaften befindet, aber für Wissenschaftler / innen dennoch notwendig interessant sein sollte. Mit der Diskussion um den Erkenntnisanspruch einer anwendungsbezogenen Ethik ist also die Frage nach didaktischen Konzeptionen ihrer Vermittlung eng verknüpft. (Hierzu hat das Tübinger Ethikzentrum ebenfalls Konzepte und Ansätze geliefert, z. B. im Rahmen des Ethisch- Philosophischen Grundlagenstudiums (siehe Maring 2005).) Auch wenn der Erkenntnisanspruch der anwendungsbezogenen Ethik und dessen Verhältnis zur wissenschaftlichen Praxis sowie die didaktischen Strategien einer Vermittlung weiterer Entwicklung bedürfen, so lassen sich abschließend doch zwei Argumente aus dem Begriff der Wissenschaft anbringen, die zeigen, dass eine philosophische Ethik für alle Wissenschaftler / innen als solche notwendig interessant sein muss (siehe Treptow 2015: 53) - auch wenn noch nicht abschließend klar ist, wie diese „neben“ den Disziplinen praktiziert oder im Curriculum verortet werden sollte. Das erste Argument stammt von Klaus Goergen, das er mit Blick auf einen für alle verpflichtenden schulischen Ethikunterricht anbringt - ich wandle es Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? 41 leicht ab. Das zweite Argument stammt von Markus Düwell und betrifft das Ziel der wissenschaftlichen Praxis. Wenn nun, das ist das erste Argument, Wissenschaft das Ziel des gesicherten Wissens erreichen soll, dann muss dabei auch geklärt werden, was „Wissen“ ist und was nicht: Gesichertes Wissen lässt sich nicht erstreben, ohne zugleich wissen zu wollen, was genau unter „Wissen“ verstanden werden kann und wie dieser Begriff gedacht werden muss. Die erforderliche begriffliche Klärung muss mit den Methoden der Philosophie durchgeführt werden und sie führt auch auf normativ-ethische Fragen (vgl. Goergen 2015: 95 f.). Das zweite Argument beginnt mit einer von Marcus Düwell formulierten Frage (Düwell 2015: 72): „Warum betreiben wir Wissenschaft und wozu haben wir eine Universität? “ Letztlich zum ‚Wohl des Menschen‘, u. a. also für den Erhalt eines möglichst freiheitlichen Zusammenlebens (ebd., 72 f.). Nun erforschen alle Wissenschaften perspektivisch Zusammenhänge, die sich letztlich auf Menschen oder menschliches Leben beziehen. Wie jedoch sollen die perspektivischen Erkenntnisse über den Menschen wiederum auf „gute“ Weise zusammengeführt werden? „Aus dem Ziel der Forschung heraus ist es erforderlich, dass die verschiedenen partikularen Forschungsperspektiven überschritten werden“ (Düwell 2015: 73). Aus empirischer Perspektive ist das nicht möglich. Daher müssen alle Wissenschaften, so sie ihre Zielsetzung der Gewinnung sicheren Wissens über und für den Menschen beibehalten wollen, über ihre innerwissenschaftliche Problemorientierung hinaus in einen normativen Diskurs darüber eintreten, „wie der Mensch sich adäquat zu verstehen hat“ (ebd.). Die Klärung dieser reflexiven Frage wird traditionell zumeist als Aufgabe der philosophischen Ethik verstanden. Die beiden Argumente bekräftigen die mit dem Topos einer „Ethik in den Wissenschaften“ verbundene Forderung nach einer ethischen Reflexion von Wissenschaft. Jedoch haben die zuvor angestellten Überlegungen ergeben, dass die metaphorische Verwendung der räumlichen Präposition „in“ im Topos eingeschränkt werden muss. Sie betrifft nur den Ausgangspunkt des ethischen Fragens: Es geht um „ethische Fragen […], die sich in und mit Bezug auf die Wissenschaften stellen“ (Potthast / Ammicht Quinn 2015: 9), dann jedoch kommen wiederum wissenschaftliche oder ethisch-reflexive Methoden zum Einsatz - beides zugleich ist nicht denkbar. Die Zusammenführung der Leistungen und Grenzen beider Denkweisen in einem anspruchsvollen Konzept von „Ethik unter Anwendungsbedingungen“ ist eine bleibende Aufgabe für die Philosophie und ihre Didaktik. 42 Philipp Richter Literatur Brendel, Elke (2011). Art. Wissenschaft. In: Kolmer, Petra / Wildfeuer, Armin G. (Hrsg.) Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 3. Freiburg i. Br.: Alber. 2588-2601. Brenneis, Andreas (2014). Zur topologischen Ordnung von Metaphern. Ein methodologischer Zugang. In: Journal Phänomenologie 41 / 2014, 89-98. Dietrich, Julia (2007). Grundzüge einer Ethik der Ethik. In: Berendes, Jochen (Hrsg.) 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Die Freiheit, etwas tun zu müssen-- zum Zusammenhang von Selbstbestimmung und praktischer Normativität bei Hegel Sebastian Ostritsch Einleitung Die Überlegungen, die ich im Folgenden anstellen möchte, drehen sich um den begrifflichen Zusammenhang zweier wesentlicher Merkmale des alltäglichen menschlichen Selbstverständnisses. Ich meine erstens die Erfahrung, ein freies Wesen zu sein und zweitens die Erfahrung, durch Normen zu bestimmten Handlungen bzw. Handlungsweisen verpflichtet zu sein. Diese beiden Grunderfahrungen menschlichen Daseins scheinen sich auf den ersten Blick schlecht miteinander zu vertragen: Frei zu sein, so könnte man meinen, heißt auch frei zu sein von Normen, die das selbstbestimmte Wählen und Wollen reglementieren und damit einengen. Die Lage wird dadurch noch verzwickter, dass die Rede von praktischen Normen nur dann sinnvoll ist, wenn diese Normen an Wesen gerichtet werden, die nicht fremdbestimmt, sondern in irgendeinem Sinne selbstbestimmt sind. Denn praktische Normen sind solche, die vorschreiben, was getan werden soll . Wer nichts für sein Verhalten kann, an den können auch keine normativen Forderungen gerichtet werden. Wir scheinen somit vor der paradoxen Situation zu stehen, dass praktische Normativität zwar der Freiheit bedarf, umgekehrt aber Freiheit nur ohne die Zwänge des Sollens Freiheit zu sein scheint. Im Folgenden möchte ich versuchen, das Verhältnis von Freiheit und praktischer Normativität zu erhellen und die vermeintliche Spannung zwischen diesen beiden aufzulösen. Meine Leitthese lautet, dass Freiheit wohlverstanden nicht völlige Ungebundenheit bedeutet, sondern die Verpflichtung, das Richtige zu tun. Diese Verpflichtung ist aber keine fremde, uns von außen aufgezwungene, sondern selbstbestimmte Selbstverpflichtung. Philosophiehistorisch gesehen liegen die Wurzeln eines solchen Freiheitsbegriffs wohl in der Philosophie Kants. Ich möchte mich in meiner Argumentation allerdings nicht auf Kant, sondern auf Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts beziehen. Zweifelsohne hat Hegel Kant in diesem Punkt viel zu ver- 46 Sebastian Ostritsch danken. Dass ich mich im Folgenden an Hegel und nicht an Kant orientiere, liegt schlicht daran, dass ich die von Hegel vertretene Freiheitskonzeption für die überzeugendere halte; dies u. a. deswegen, weil sie bestimmte motivationstheoretische Probleme bezüglich der Rolle menschlicher Leidenschaften und Interessen von Anfang an vermeidet. Ich werde in drei Schritten verfahren. Erstens werde ich Hegels Freiheitsbegriff aus der Einleitung der Rechtsphilosophie rekonstruieren und dafür argumentieren, dass Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung zu verstehen ist. Zweitens werde ich darlegen, warum Freiheit, wenn sie als selbstbezügliche Selbstbestimmung verstanden wird, den Raum praktischer Normativität eröffnet. Drittens möchte ich eine motivationstheoretische Konsequenz skizzieren, die sich aus dem von Hegel vorgeschlagenen Zusammenhang von Freiheit und praktischer Normativität ergibt. Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung Wenn wir Freiheit im Kontext praktischer Phänomene betrachten, dann ist sie laut Hegel (1986: § 4 inkl. A. und Z. 1 ) als eine Eigenschaft des Willens zu kennzeichnen. Dies leuchtet unmittelbar ein, ist doch der Bereich des Praktischen der Bereich gewollten Tuns und nicht etwa eine Sphäre unwillkürlichen Geschehens. Umgekehrt ist der Wille für Hegel (1986: § 4 inkl. A. u. Z.) nur als freier denkbar. Auch dies ist plausibel, denn ein unfreier Wille wäre ein gezwungener, „ungewollter“ Wille und damit ein Unding. Mit Hegel gebrauche ich daher von nun an die Ausdrücke „Freiheit“ und „Willensfreiheit“ gleichbedeutend und wechsle zwischen ihnen lediglich aus stilistischen Gründen. Was also ist Willensfreiheit? Hegels Antwort beginnt - getreu seinem üblichen Verfahren, alle zu Beginn einer Untersuchung noch unbegründeten Voraussetzungen auszuklammern - mit der inhaltlich einfachsten Charakterisierung des Willens. Negativ und damit ohne inhaltsreiche Vorannahmen bestimmt, ist Freiheit die Unabhängigkeit von vorgegebenen Determinanten (Hegel 1986: § 5 inkl. A. u. Z.). Freiheit bedeutet somit, alle möglichen „Inhalte“ verneinen und abweisen zu können. Ein solcher Wille besteht bildlich gesprochen nur darin, „Nein, das will ich nicht! “ zu sagen. Das wollende Ich bezieht sich hier also ohne irgendeinen spezifischen Inhalt auf sich und ist daher wie Hegel sagt „allgemein“, d. h. es ist dasjenige, was allen Willen gemein ist. Ein Wille, der allein unter dem Gesichtspunkt solcher Allgemeinheit konzipiert wird, ist aber unvollständig. Denn recht besehen ist er, insofern er ohne 1 Hegels Rechtsphilosophie wird wie üblich nach Paragraphen zitiert. Die Kürzel „A.“ und „Z.“ stehen für „Anmerkung“ und „Zusatz“. Die Freiheit, etwas tun zu müssen 47 jeglichen Inhalt ist, d. h. insofern er überhaupt nichts Spezifisches will, gar kein Wille. Zu wollen, so Hegels entscheidender begrifflicher Hinweis an dieser Stelle, bedeutet notwendigerweise auch, etwas Bestimmtes zu wollen (Hegel 1986: § 6 inkl. A. u. Z.). Ein solcher Wille, den man mit Hegel als besonderen Willen vom allgemeinen unterscheiden kann, stellt für sich allein genommen aber wiederum keine zufriedenstellende Konzeption von Freiheit dar. Wer frei ist, geht nämlich gerade nicht in einem seiner besonderen Wünsche auf. Er ist ja gerade frei, sich von allem zu distanzieren. Dies ist offenbar die erhaltenswerte Erkenntnis der ersten Kennzeichnung des Willens als eines allgemeinen. An diesem Punkt scheinen wir zwischen zwei unzureichenden Weisen, Freiheit zu verstehen, hin und her geworfen zu sein. Sobald wir aber eben dieses Hin und Her nicht als Defekt, sondern als wesentliches Charakteristikum von Freiheit betrachten, haben wir einen neuen Kandidaten für eine überzeugende Auffassung von Freiheit gewonnen. Freiheit, so der neue Vorschlag, ist eine Einheit, die die Besonderheit und die Allgemeinheit des Willens als unselbständige Aspekte umfasst (Hegel 1986: § 7). Was heißt das? Willensfreiheit liegt dann vor, wenn der Wille (also das wollende Ich) einen bestimmten Inhalt ergreift - also etwas will -, dabei aber zugleich er selbst, d. h. immer in der Möglichkeit verbleibt, vom Gewollten abzulassen und etwas Anderes zu wollen. Freiheit ist damit Selbstbestimmung im Wortsinn: Frei ist, wer sich zu etwas bestimmt und dabei zugleich ein nicht durch dieses besondere Etwas festgelegtes, allgemeines Selbst bleibt. 2 Die wohl bekannteste Ausprägung dieser Struktur der Selbstbestimmung ist die Willkür (siehe Hegel 1986: §§ 14-16). Wer frei im Sinne der Willkür ist, der kann tun und lassen, was er will. Er kann seinen Willen in etwas Bestimmtes legen, sich vom gewollten Inhalt wieder distanzieren, eine neue Willensbestimmung vornehmen, sich auch davon wieder distanzieren, usw. Der vielleicht wichtigste Schritt in Hegels Argumentation (1986: § 15 inkl. A. u. Z.) lautet, dass mit der Willkür ebenfalls noch keine zufriedenstellende Freiheitskonzeption gewonnen ist. Was gewollt wird - d. h. der Inhalt des Willens - ist für die Willkür völlig äußerlich. Es ist im Falle der Willkür schlicht zufällig, was man will. In dieser Zufälligkeit liegt nun aber das Problem. Denn sie entpuppt sich als eine Quelle der Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Der Inhalt des Willens ist 2 Dieses Zusammenfallen von besonderem und allgemeinem Willen beschreibt Hegel (1986: § 7) wie folgt: „Ich bestimmt sich, insofern es die Beziehung der Negativität auf sich selbst ist; als diese Beziehung auf sich ist es ebenso gleichgültig gegen diese Bestimmtheit; weiß sie als die seinige und ideelle , als eine bloße Möglichkeit , durch die es nicht gebunden ist, sondern in der es nur ist, weil es sich in derselben setzt.“ (Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle Hervorhebungen hier und im Folgenden aus dem Original.) 48 Sebastian Ostritsch im Falle der Willkür ein Gegebener, eben dasjenige, was das Subjekt in sich als Wunsch, Neigung oder Leidenschaft vorfindet, oder auch dasjenige, was es von außen als wünschens- und begehrenswert vorgegeben bekommt. Die Selbstbestimmung, die die Willkür zu sein schien, erweist sich damit als noch durch Fremdbestimmung kontaminiert. Freiheit kann daher nicht Selbstbestimmung im Sinne der Willkür sein. Was aber fehlt noch zu einem stabilen Begriff des Willens? Das Problem besteht offenbar in der Beliebigkeit und Zufälligkeit des Gewollten - in seinem Vonaußen-Zufallen. Was im Akt der Selbstbestimmung zu wählen ist, kann daher kein Inhalt sein, der der Aktivität der Selbstbestimmung fremd oder äußerlich ist. Dies wiederum lässt nur den Schluss zu, dass der gesuchte Inhalt selbst den Charakter von Selbstbestimmung haben muss. Freiheit ist daher nicht einfach nur Selbstbestimmung, sondern selbstbezügliche Selbstbestimmung. Oder wie Hegel (1986: § 27) es formuliert: Der freie Wille ist „ der freie Wille, der den freien Willen will “. Wir haben es bei der Willensfreiheit also offenbar mit einer komplexen Struktur zu tun, mit einem Willen, der einen allgemeinen und einen besonderen Aspekt umfasst, und sich zudem auf sich selbst bezieht. Betrachten wir zum besseren Verständnis dieser Strukturbeschreibung nochmals ihre beiden Komponenten „Selbstbestimmung“ und „Selbstbezüglichkeit“. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Selbstbestimmung bedeutet, etwas Bestimmtes zu wollen und zugleich aber auch die Fähigkeit zu haben, sich vom einmal Gewollten zu distanzieren. Wenn wir diese Einheit von Etwas-Wollen und Auchanders-Wollen-Können zusätzlich als „selbstbezüglich“ bezeichnen, so bedeutet dies Folgendes: Das, worin ich meinen Willen lege, muss sich selbst schon als Ausdruck von Selbstbestimmung, also als Ausdruck des komplexen Zusammenspiels von Etwas-Wollen und Auch-anders-Wollen-Können, verstehen lassen. Selbstbezügliche Selbstbestimmung lässt sich somit in folgende Aussage der ersten Person übersetzen: Ich wähle etwas Besonderes im Lichte meiner Fähigkeit, überhaupt wählen zu können, und zwar derart, dass ich das Besondere, das ich will, selbst als Verkörperung von Selbstbestimmung begreifen kann. Selbstbezügliche Selbstbestimmung als praktische Normativität Ich komme damit zum zweiten Punkt, nämlich zum Zusammenhang von selbstbezüglicher Selbstbestimmung und praktischer Normativität. Wie ich mit Hilfe von Hegels Überlegungen zu erläutern versucht habe, ist Willkür nicht mit Freiheit gleichzusetzen. Hält man Willkür für Freiheit im eigentlichen Sinne, dann ergibt sich das eingangs genannte Problem: Normen, die unser Handeln regulieren, und die daher „praktische Normen“ genannt werden können, schränken Die Freiheit, etwas tun zu müssen 49 die Willkür ein, die lediglich darin besteht, das tun zu können, was man will. Es scheint dann, als wäre praktische Normativität lediglich eine nachträgliche und zufällig hinzutretende Einengung meiner Freiheit. Wenn wir aber Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung auffassen, dann zeigt sich ein intrinsischer Zusammenhang von Freiheit und praktischer Normativität. Denn Freiheit als selbstbezügliche Selbstbestimmung zu begreifen bedeutet, dass Freiheit nur dann vorliegt, wenn ein nicht-willkürlicher Inhalt, nämlich Freiheit selbst, gewollt wird. Im Selbstbezug der selbstbezüglichen Selbstbestimmung liegt, dass nicht etwa Beliebiges gewollt werden kann, sondern es einen notwendigen Inhalt des Wollens gibt, nämlich das freie Selbst. Wir können auch sagen: Um frei zu sein, muss ich meine eigene Selbstbestimmung bezwecken. Die hier auftretende Notwendigkeit, dieses „müssen“, ist nun aber offenkundig nicht im mechanisch-deterministischen, sondern in einem praktisch-normativen Sinne zu verstehen. „Müssen“ bedeutet hier nicht „nicht anders können“. Das Müssen, von dem hier die Rede ist, ist das Müssen praktischer Normativität, das sich in normativen Sätzen zeigt, wie z. B. „Du hättest ihm helfen müssen! “ oder „Du musst Deinen Eltern gegenüber mehr Respekt zeigen! “. Statt von „müssen“ könnte man auch von „sollen“ sprechen. Beides, „sollen“ und „müssen“, ist hier in einem starken und nicht in einem schwachen Sinne zu verstehen. Ein schwacher Sinn von „sollen“ bzw. „müssen“ liegt beispielsweise vor, wenn wir Dinge sagen wie: „Wenn du einen Kaffee willst, dann musst du ihn dir an der Theke bestellen. Hier wird nicht bedient.“ Mit Kant gesprochen handelt es sich bei derartigen Aussagen um hypothetische, also bedingte Imperative. Von starkem Sollen möchte ich hingegen sprechen, wenn das Sollen bzw. Müssen nicht weiter bedingt ist. Wir können festhalten: Aus dem Begriff selbstbezüglicher Selbstbestimmung folgt starkes Sollen oder anders ausgedrückt: starke praktische Normativität. 3 Hegel selbst gebraucht hierfür den Ausdruck „Recht“ (siehe etwa Hegel 1986: §§ 29-30 inkl. A.). Recht bei Hegel ist also nicht mit dem positiven Recht der Juristen zu identifizieren, sondern meint allgemein dasjenige, was zu tun richtig ist. Hegels für heutige Ohren zunächst vielleicht ein wenig ungewöhnliche Wortwahl ist in (mindestens) einer Hinsicht durchaus hilfreich. Sie erleichtert es, neben dem Zusammenhang von Freiheit und praktischer Normativität auch den Zusammenhang von Rechten und Pflichten einzusehen. Ich habe versucht zu erläutern, wie die Tätigkeit, als freies Subjekt auf die eigene Willensfreiheit gerichtet zu sein, den Raum praktischer Normativität, d. h., den Raum des Rich- 3 Diese Unterscheidung von starker und schwacher praktischer Normativität folgt einem von Kant inspirierten Vorschlag in Luckner 2005. Ich habe sie in Ostritsch 2014 für eine metaethische Deutung von Hegels Rechtsphilosophie verwendet. 50 Sebastian Ostritsch tigen, oder eben den Raum des Rechts, eröffnet. Allein als Teilnehmer in diesem normativen Raum des Rechts habe ich als freies Wesen Pflichten. Denn Pflichten sind nichts anderes als das, was ich im Sinne starker praktischer Normativität tun muss . Pflichten drücken die Notwendigkeit des Handelns aus selbstbezüglicher Selbstbestimmung aus und erwachsen daher nicht aus einer mir fremden Quelle, sondern aus der Struktur des freien Willens, die auch meinen freien Willen ausmacht. Indem ich also den Verpflichtungen nachkomme, die mir meine Freiheit stellt, verwirkliche ich mich selbst. Den Verpflichtungen starker praktischer Normativität Folge zu leisten, ist damit zugleich mein Recht. Abschließend möchte ich noch ein wenig das Blickfeld erweitern und am Beispiel des Zusammenhangs von Freiheit, Motivation und Verpflichtung die theoretische Leistungsfähigkeit des hegelschen Freiheits- und Rechtsbegriffs zumindest kurz andeuten. Freiheit, Motivation und Verpflichtung Ein gegenwärtig viel diskutiertes Thema der praktischen Philosophie ist der Zusammenhang von Motivation und Verpflichtung, oder anders ausgedrückt: von motivierenden und normativen Gründen (siehe Ostritsch 2014: Kap. 3). Normative Gründe können auch als gute Gründe bezeichnet werden. Sie sind solche, die uns zu einer bestimmten Handlung verpflichten. Motivierende Gründe hingegen sind Gründe, die uns - unabhängig davon, ob sie gut sind - zu einer Handlung motivieren. Die von Bernard Williams (1981) diesbezüglich formulierte These besagt, dass gute Gründe nur dann wirklich Gründe sind, wenn sie unser Handeln erklären können und dies ist laut Williams nur der Fall, wenn Gründe zu motivierenden Gründen werden. Die These Williams’ besagt also, dass Gründe nicht unabhängig davon vorliegen, ob sie bei einem Subjekt motivierende Kraft entfalten können. Die Gegenposition zu Williams’ argumentiert hingegen, gute Gründe seien solche, die unabhängig davon gebieten, wie der Motivhaushalt des angesprochenen Subjekts beschaffen ist (siehe Smith 1994: 62). Wenn es z. B. richtig ist, auf Fleischverzehr zu verzichten, dann liegen auch gute Gründe vor, kein Fleisch zu essen, und zwar unabhängig davon, wie es um die faktische Motivation eines Subjekts bestellt ist. Beide Thesen, so scheint mir, haben eine gewisse Plausibilität. Gründe können nicht vollständig von dem, was menschliche Subjekte motiviert und umtreibt, losgelöst sein. Zugleich können Gründe aber nicht in faktischer Motivation aufgehen, weil sich damit das Phänomen des normativen Müssens auflösen würde. Auch hierbei handelt es sich um eine Problematik, die sich schon bei Kant findet. Die Gebote der reinen praktischen Vernunft sollen nämlich einerseits Die Freiheit, etwas tun zu müssen 51 rein und das heißt frei von sie verderbenden sinnlichen Triebfedern sein. Andererseits aber sollen Forderungen der reinen praktischen Vernunft auch wirksam werden. Kant spricht in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1911: 460) diesbezüglich von einem Interesse, „wodurch Vernunft praktisch, d. h. eine den Willen bestimmende Ursache, wird“ und „wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen“. Ich möchte nicht behaupten, dass Kant an der Aufgabe scheitert, beiden Einsichten, sowohl der Reinheit der Vernunft als auch ihrer praktischen Wirksamkeit, gerecht zu werden. Ich bin aber der Überzeugung, dass dieses Problem für Hegel gar nicht erst entsteht. Die Willensstruktur, die für Hegel den Quellpunkt praktischer Normativität darstellt, ist nämlich von anderer Beschaffenheit als die kantische Autonomie. Besondere Willensinhalte - Neigungen, Interessen und Leidenschaften - werden, wie wir gesehen haben, nicht im Namen eines „reinen“ Selbstbezugs ausgeschlossen, sondern sie werden in die selbstbezügliche Gesamtstruktur des Willens integriert. Die sinnlichen Triebfedern sind notwendiger Bestandteil des menschlichen Wollens. Nur wer ihnen nachgeht, will auch etwas. Zugleich aber sieht Hegel, dass nicht jede Bedürfnisbefriedigung deshalb auch schon gut ist. Denn dieser Aspekt der „Besonderheit“ des Willens darf nicht vom anderen Aspekt, der „Allgemeinheit“, isoliert werden. Wie genau Hegel diese hier nur auf einer ersten, quasi-programmatischen Ebene skizzierte Vermittlung von besonderem und allgemeinem Willen und damit auch die Vermittlung von motivierenden und normativen Gründen im Rahmen seiner Theorie der Sittlichkeit (des Gemeinwesens, das Identität und normative Orientierung stiftet) ausarbeitet, ist eine über den engen Rahmen dieses Textes hinausführende Frage, die ich andernorts (Ostritsch 2014) ausführlich beantwortet habe. Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986). Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Moldenhauer, E. / Michel, K. M. (Hrsg.) Theorie - Werkausgabe in zwanzig Bänden, Band 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1911). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) Kant’s Gesammelte Schriften, Band IV . Berlin: Reimer. Luckner, Andreas (2005). Klugheit. Berlin / New York: De Gruyter. Ostritsch, Sebastian (2014). Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik. Münster: Mentis. Smith, Michael (1994). The Moral Problem. Malden, MA : Blackwell. Williams, Bernard (1981). Internal and External Reasons. In: Ders. Moral Luck. Cambridge: Cambridge University Press, 101-113. Skepsis als Passion 53 Skepsis als Passion Rainer Treptow I. „ Bitte sagen Sie jetzt nichts! “ (Loriot 2011) Niklas Luhmann hat in seinem Werk „Liebe als Passion“ (Luhmann 1994) an die soziale Erwartung erinnert, dass Liebesgefühle, die erwidert werden wollen, erst kommunikativ auf ihre Belastbarkeit hin ausgewiesen, sich also einer Art Stresstest aussetzen müssen, damit sie von Adressaten als glaub- und vertrauenswürdig nachvollzogen werden. Weil der / die Andere die Unterscheidung noch nicht treffen konnte, die das echte vom bloß vorgespielten Gefühl, gar vom Schwindel, trennt, erwacht in der Selbstbeobachtung eine bislang noch schlafende Seite der Vernunft: es ist die Skepsis. Von nun an wird kritisch nachgefühlt. Solche Skepsis der anderen Seite kann aber durch eine gelingende Performanz der Eindruckserweckung zerstreut werden. Erinnert werden soll hier - aufgrund verfehlten Biologismus-Vergleichs - gar nicht an die eindrucksvollen Nistbau-Tänze der Paradiesvögel-Männchen; eher an das Vorbringen von Argumenten, es sei besser, wenn man sich mal ‚beim Italiener‘ treffen würde. Denn da erhofft sich das gefühlsbesitzende Individuum günstige Gelegenheit zu beweisen, dass Innerstes und Äußeres, Gefühl und Inszenierung tatsächlich in angemessener Verbindung stehen. Als besonderer Typ der Leidenschaft, als „Passion“, so die Nüchternheit dieser Theorie, kann Liebe erst dann überzeugen, wenn sie in symbolisches Handeln übersetzt, codiert und der Code auch entziffert wird. Folglich müssen Beweise her: galante Worte, die die Einzigartigkeit des Moments zelebrieren, Geschenke, die nicht jeder kriegt, allerlei uneigennütziges Tun, das von der Selbstlosigkeit dessen künden soll, der da an den Start geht - getrieben von einem erheblichen Teil seines Selbst. Droht dem sorgfältig ausgearbeiteten Performanzvorhaben das Scheitern, etwa durch die Tücke des Objekts - z. B. die sich auf dem Antlitz des Bewerbers verfangende Nudel aus Loriots gleichnamigen Sketch, dann gilt es, aller Irritation zu Trotz, die Oberhand über Konversation zu behalten. „ Nein, sagen Sie noch nichts! “ 54 Rainer Treptow So wird das Unwahrscheinliche, das Wunder der Liebe, durch die richtige Nutzung des Codes wahrscheinlicher. Die Bedienung des Codes soll das Innere des Anderen so triggern, dass entsprechende interaktive Anschlusshandlungen ausgelöst und sogar durchgeführt werden können. Und so kann es kommen, dass dann ein Geburtenjahrgang auf den nächsten folgt. Gelingt das dazu nötige Einvernehmen in Einzelfällen nicht, kann es sein, dass der Wind sich dreht und das Feuer der Leidenschaft auf der Seite der Skepsis zu lodern beginnt. Nicht Liebe, sondern Skepsis wird zur Passion. Längst vom Anlass abgelöst, macht sie daraufhin Einiges von sich her. Sie wächst zu einer Haltung an, die fortan den Zugang zur Welt schlechthin bestimmt - auch den Zugang zur Welt des eigenen Selbst. Es ist ein prüfender Zugang zu Dingen und Menschen, eine leidenschaftlich verfolgte Nüchternheit 1 . Folgen wir doch einmal diesem Pfad. II. Als das Zweifeln noch geholfen hat Als Skepsis wird sowohl eine einzelne Infragestellung, ein Gefüge von Zweifeln, aber auch eine Haltung verstanden, die auf ein prinzipiell distanziertes Verhältnis des Individuums zur Welt Wert legt. Wird diese Haltung durch emotionale Beharrlichkeit bekräftigt, die erfahrungsgesättigte Bestätigung vom Nutzen von Skepsis für’s eigene Handeln also durch Empfindungen eingefasst und begleitet, so soll von passionierter Skepsis bzw. von Skepsis als Passion die Rede sein. So verstanden ist Skepsis 2 eine bis in die Selbstinszenierung derer hinein anstrengende Angelegenheit, die sich, in Attitüde und Kompetenz, ihrer Mitgliedschaft in einer ständig den Mangel an Eindeutigkeit (Bauman 1995) zu bewältigenden Moderne vergewissern. Als selbstbewusste Akteure mit der Lizenz zu permanenter Nachprüfung erhoffen sie sich die Zustimmung ihrer peer-groups . Das sind mindestens ebenso skepsispassionierte Zeitgenossen. Sie sollen bestätigen, dass der Habitus - oder ist es eher Haltung, Attitüde? - auch heute noch angesagt ist: als coole Attitüde des immerzu Durchblickenden, vornehmer: des gut informierten Bürgers (Schütz 1972: 85-101), unangenehmer: des Oberlehrers (Busch 1895). Und dass diese Unaufgeregtheit auch in Zukunft angesagt bleibt, so lange, wie die Moderne noch als solche bezeichnet werden kann - das wird man wohl noch sagen dürfen. Die Behauptung indessen, „wir“ seien nie modern gewesen (Latour 2008), scheint zwar so gar nicht zu derlei 1 Das steht vermutlich nirgendwo bei Luhmann, und wenn irgendwo, dann wundert’s nicht. 2 Vom Griechischen: skeptesthai, skopein „sehen, betrachten, untersuchen, prüfen“ Skepsis als Passion 55 Skepsisinszenierung zu passen; jedoch ist sie der vorerst letzte der dernier cries , der entzückt. Wie aufregend! Auch noch die Grundlage der eigenen Habituslegitimation in Frage stellen, wie skeptisch ist das denn ? Doch gut informierte Bürger sind nicht nur gut informiert; sie wissen sich durch die Kaskaden der Informationen auch noch einen Weg zu bahnen. Die dann dem Navi im SUV (Sport Utility Vehicle) vertrauen, dass es schon die Richtung weisen wird? Nein, Skeptiker lassen sich allenfalls Antworten vorschlagen . Gern auch über Geltungs- und Wahrheitsfragen. Der Satz „Wir glauben erstmal gar nichts“ wird zum Markenkern - z. B. eines sich als kritisch verstehenden Journalismus ( Jansen 2016). Passionen wie die coolness zum Beispiel bilden nicht nur eine Herausforderung an das Individuum, die eigenen Gefühle überhaupt wahrzunehmen und darüber hinaus im Verhältnis zum eigenen Selbst achtsam zu begleiten; vielmehr sind sie über diesen egozentrischen Bezug hinaus auf Verständigung angelegt und damit auf die Gestaltung symbolischer Kommunikation durch das passionierte Subjekt. Dieses hat über den Selbstbezug hinaus erheblich mehr zu leisten, als auf die Einfühlung anderer zu vertrauen, deren Spürsinn schon noch die passende Verbindung zum eigenen emotionalen Innenraum herstellen wird. Trotz aller Ambivalenz der Moderne scheint die Skepsis darin einer Sehnsucht zu folgen - oder weniger sentimental formuliert - einem Motiv nach eindeutiger Feststellung, die durch das Widerlegen des Falschen erreicht werden soll. Und wenn schon die Mehrdeutigkeit der Welt nicht zu übersehen ist, dann suchen Skeptiker sie gleichwohl nach Reduktionschancen, auf Eindeutigkeit hin ab. Am Ende ihrer Prüfungen gelangen sie meist zu einem Ergebnis. Dann aber sagen sie eher selten: „ Ich bin der festen Überzeugung “ - das sagen nur Politiker. Gestählt durch vielerlei Erfahrungen, Recht gehabt zu haben, bleiben hardcore -Skeptiker nur einer Grundlage, einem Prinzip treu. Das allerdings entzieht sich jeder Skepsis - das Prinzip, dass alles immer noch anders sein könnte. In schwachen Momenten sagen sie „ Leider wahr .“ Dann, wie ertappt, korrigieren sie sich und sagen „ Nach allem, was wir wissen … “. Und Sir Karl Raimund Popper winkt ihnen wohlwollend von seiner Wolke zu. III. Codes und Variationen Skepsis bewältigt so das Leiden an der Wackeligkeit des für feststehend Gehaltenen. Sie genießt aber die Genugtuung, genau von dieser Wackeligkeit zu wissen. Darin scheint endlich ein Ruhepunkt gefunden, in den nicht auch noch ständig Beweislast gegen den nagenden Zweifel, ob das jetzt wirklich das gute Leben ist, hineingeschleppt werden soll. Es bündeln sich die unterschiedlichsten 56 Rainer Treptow Affekte in der Passion für das Existenzrecht anderer Möglichkeiten. Warum? Vielleicht weil diese Möglichkeiten nicht zum Zuge gekommen, gar unterdrückt sind? Weil capabilities übersehen wurden? Weil hinter der Maske das „wahre“ Gesicht nicht gezeigt wurde oder weil es nun die Skepsis ist, die sich verpflichtet sieht, erst recht dringend zur Maskierung aufzufordern? Aus Sympathie für versäumte Möglichkeiten ist Skepsis der subjektive Ausdruck der Kontingenz; als Passion gerät sie zur Nüchternheit, die an sich selbst trunken ist. Die Spielarten skeptischer Haltungen sind vielfältig. Da gibt es den chronisch missgestimmten Flaneur (Benjamin 1982), dem sein Kritischsein schon von Weitem angesehen werden soll; den tiefgründelnd melancholischen Asketen, der sich die Erfolge seiner Skepsis „am Material“ hart erarbeitet hat; oder die auf Dauerempörung angelegte Aktivistin, die immerzu nach neuem Nachschub für die Passion des Widerlegens sucht - sie alle verbindet doch ein Skepsis-Code: dass ihnen niemals und nirgends ein X für ein U vorgemacht, ein Glaubenssatz für Wahrheit gesetzt, ein Dogma für die Ewigkeit ausgegeben werden kann. IV. Erfolge und Misserfolge Starke Subjekte, das ist mal klar, sind skeptische Subjekte. Mehr noch: Skeptiker sein, heißt, gut gerüstet sein und dies auch zu zeigen. Gerüstet wofür? Für die - ungewollten - Irrtümer der Mitmenschen, das Selbst eingeschlossen; für die fiesen Manipulationen aller Art, die täglich auf sie einwirken, seien sie Nutzer der Medien, Verbraucher der Konsumgüter, seien sie Sinn Suchende im Gewirr der Unvereinbarkeiten, die die moderne Lebensführung mit sich bringt. Und die Erfolgsbilanz von Skepsis ist eindrucksvoll. Öko-soziale Bewegungen verdanken der Kultivierung von Skepsis ihre Existenz, die Zurückweisung von ungerechtfertigter Macht ist ohne sie nicht möglich, auch nicht die sichere Bestimmung von Tatorten und die Aufklärung von Verbrechen: Skepsis - die Mutter aller Sicherheitsmaßnahmen. Wem passionierte Skepsis jedoch keinen Erfolg gebracht hat, könnte der Resignation den Vorzug geben, die in Verdrossenheit umschlägt. Es wird ein Überschuss an Skepsis als hinderlich wahrgenommen, war sie doch nicht hilfreich genug, an der Ungerechtigkeit der Verteilungsverhältnisse Wesentliches zu ändern. So schaut man vielleicht zu, wie andere die unwirksam gewordene Skepsis aufgreifen und sie instrumentalisieren. Dazu ein weiteres Beispiel, allerdings eines, das eher vom Behagen an der Resignation als von Verdrossenheit kündet. Skepsis als Passion 57 V. Skepsis als Populismus: vom Behagen an Resignation Vom sogenannten Euroskeptiker Nigel Farage, einer der treibenden Kräfte der Beendigung der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union, kam das statement , er habe 20 Jahre dem Lebensziel des Austritts gewidmet. Nach der gewonnen Abstimmung des Referendums wolle er sich aber doch lieber seinem Privatleben widmen, sagte er in seiner resignation-speech . 3 . Mit den praktischen Konsequenzen seiner leidenschaftlich betriebenen Euroskepsis wollte er nichts zu tun haben. Die Negativität, die in seinem anhaltenden Zweifel am Sinn der der EU -Mitgliedschaft lag, war immer auch mit gewagten Versprechungen über die zukünftige Unabhängigkeit des Landes verknüpft, als positive Verheißung. Er hatte sich - independence day - der Positivität einer Vision verschrieben, die ihrerseits die Skepsis seiner Gegner lautstark zur Seite wischte. Die Fragwürdigkeit dieses Vorgehens wurde durch Desinformationen zur Rolle des Landes in der EU begleitet, die von Aktivisten und Teilen der Massenmedien gestreut wurden: seht her, es gibt monetäre Fakten, die eben keinen Zweifel mehr zulassen, „we send the EU £ 350 000 a day “. 4 Doch offensichtlich hat diese Spielart passionierter Skepsis eine Anziehungskraft, die nicht Wenige, die sie für eine aufrechte Haltung hielten, aufgebaut auf einem Bündel guter Argumente, im Nachhinein bereuen. Dieser Typ der sogenannten Euroskepsis geriet so noch stärker ins Zwielicht, das wiederum Skepsis-Skeptiker innerhalb Britanniens und vom Kontinent auf den Plan gerufen hatte. Wer Skepsis so stark auf Passionen der Abwehr, auf der Angst vor dem Verlust von politischer Selbstkontrolle aufbaut, Angst vor Überformung durch die EU und vor der Einwanderung geflüchteter Menschen, rückt sie als wirkmächtiges Instrument in die Strategie des Populismus. Begleitet von aufflackernden Gefühlen der Fremdenfeindlichkeit schwimmt sie auf den Wellen einer Leidenschaft, an deren Ende eine Entscheidung steht: nun gerade nicht mehr zu zweifeln. No doubt about it . Paradoxerweise gipfelt diese populistische Skepsis im Ausruf des Austritts- Aktivisten Michael Gove: “People in this country have had enough of experts! ” 5 : Experten haben das Monopol auf Skepsis verloren, der Ball liegt in unserem Spielfeld, wir, die wir stolz sind, keine Experten zu sein - independent of knowledge . 3 Farage, Nigel: Resignation Speech. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=z-QwY0mZzuA (Stand: 04. 07. 2016) 4 Farage, Nigel. Abrufbar unter: http: / / www.telegraph.co.uk/ news/ 2016/ 06/ 24/ nigel-farage-350-million-pledge-to-fund-the-nhs-was-a-mistake/ 5 Sky news. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=GGgiGtJk7MA 58 Rainer Treptow Darin gerät Skepsis zu einem Zerrbild ihrer selbst. Denn Skepsis meint doch eher eine Kultur sorgfältig erarbeiteter, kühl und distanziert vorgetragener Einwände, in der Argumente genannt und sie im Lichte von Wissen und Urteilskraft abgewogen werden - das Milieu des herrschaftsfreien Diskurses schlechthin. Mögen auch Gefühle diesen Prozess des Argumentierens begleiten, so hält sie sich zugute, zwischen beidem - Argument und Gefühl - doch deutlich unterscheiden zu können. Mehr noch: sie sieht sich geradezu in der Pflicht zur Selbstbeobachtung, ob und welche Emotionen ins Spiel kommen und dies den Adressaten auch offen zu sagen. Dass es Machtgefühle sind, in deren Dienst die Skepsis genommen wird, zeigt, wie wenig sie dem entgegenzusetzen hat und wie weit die Utopie vernünftiger Verständigung zurückgewichen ist. VI. Unfreiwillige Skepsis Skepsis als Passion, so der Befund, kann aus vielen Gefühlen und Gefühlskontexten schöpfen, die den operativen Kern des scharfen, des misstrauischen Verstandes mal mehr, mal weniger antreiben, aber auch verhüllen. Nur der Vollständigkeit halber sei an das oben angegebene Beispiel erinnert, an das Gespräch im Restaurant. Kaum begonnen, wird es durch die Aufmerksamkeitsverlagerung Hildegards (Evelyn Hamann) bedrückt, die von der Tücke des Objekts auf dem Antlitz ihres Gegenübers wie halluziniert erscheint. Er hingegen, verunsichert, ob denn etwas erfolgreich ausgehen wird, das er mit Sätzen wie „es gibt Augenblicke im Leben, wo die Sprache versagt“ und „wo ein Blick mehr bedeutet als viele Worte “ eingeleitet hat, im Unbehagen einer ihn schleichend erfassenden Skepsis begehrt er endlich eine Reaktion: „Warum sagen Sie denn nichts? “ Literatur Bauman, Zygmunt (1995). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer. Benjamin, Walter / Tiedemann, Rolf (Hrsg) (1982). Walter Benjamin: Passagen-Werk. Bd I / II , Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Busch, Wilhelm (2007). Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in 7 Streichen. Köln: Schwager & Steinlein. Farage, Nigel (2016): Resignation Speech. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=z-QwY0mZzuA (Stand: 04. 07. 2016) Farage, Nigel (2016) Abrufbar unter: http: / / www.telegraph.co.uk/ news/ 2016/ 06/ 24/ nigel-farage-350-million-pledge-to-fund-the-nhs-was-a-mistake/ (Stand: 08. 11. 2016) Jansen, Hauke (2016): Leiter der SPIEGEL -Dokumentation in Eigenwerbung. Abrufbar unter: www.spiegel.de (Stand: 16. 08. 2016) Skepsis als Passion 59 Latour, Bruno (2008). Wir sind nie modern gewesen - Versuch einer symmetrschen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Loriot (2011): Die Nudel. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=zArEBFsviHs (Stand: 06. 06. 2016). Luhmann, Niklas (1994). Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schütz, Alfred (1972). Der gut informierte Bürger. Ein Versuch über die soziale Verteilung des Wissens In: Brodersen, A. (Hrsg.) Gesammelte Aufsätze. Studien zur soziologischen Theorie, Bd. II , Den Haag: Martinus Nijhoff. S. 85-101. Sky news. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=GGgiGtJk7MA (Stand: 08. 11. 2016). Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ Matthias Möhring-Hesse Gemeinheiten von unten Eine Erklärung für den neuen Rechtspopulismus mit all seinen Schäbigkeiten und Gemeinheiten ist schnell bei der Hand: Bei Wahlen und auf Pegida-Demonstrationen begehren die Deprivierten und die Ausgeschlossenen, die Verlierer der Modernisierung und der Globalisierung, die „zu kurz Gekommenen“ auf - und melden sich als „Wir sind das Volk“ gegen die „da oben“ zur Wahl und zu Wort. Wer sich den Rechtspopulismus so erklärt, der mag auch in die Gegenrichtung denken: Am unteren Rande der auch in der Bundesrepublik zunehmenden sozialen Ungleichheiten lebt es sich nicht nur schwerer. Dort wird auch mit größerer Wahrscheinlichkeit falsch gedacht: gemeiner, aggressiver auf den eigenen Vorteil bedacht und aggressiver gegenüber anderen, erst recht gegenüber den Fremden, den Konkurrenten um öffentliche Aufmerksamkeit und sozialstaatliche Leistungen. Zwar sei es eine Frage der Gerechtigkeit, die von Deprivation und Ausgrenzung Betroffenen zu unterstützen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Es sei aber gerade keine Frage der Gerechtigkeit, ihre Beurteilungen zur Kenntnis zu nehmen, sich ihre Einstellungen und Haltungen anzueignen und sich von diesen über deren Rechte aufklären zu lassen. Gerechtigkeit werden die, die so denken, für die „da unten“ projektieren, bestenfalls mit ihnen; diese Gerechtigkeit werden sie aber nicht mit ihnen denken, geschweige denn: von ihnen selbst denken lassen. Gerechtigkeit, genauer: der sich darin ausrückende Urteilsakt findet - so die Erwartung - am unteren Rande der sozialen Ungleichheit nicht, zumindest nicht richtig statt. Diese Ignoranz gegenüber dem politischen Urteilsvermögen derer „da unten“ besteht zumeist auch dort, wo in den unterschiedlichen Wissenschaftsdiziplinen Ethik betrieben und wissenschaftlich-elaboriert über Gerechtigkeit nachgedacht wird. Sofern dabei Fragen der sozialen Ungleichheit im Fokus stehen, sind die, die an deren unteren Rändern leben müssen, bestenfalls die intendierten Profiteure entsprechender Bemühungen, möglicherweise auch die „Mandanten“, in deren ungegebenem Mandat diese Bemühungen vollzogen werden. Sie sind aber 62 Matthias Möhring-Hesse in der Regel nicht die „ersten Denker“ der Gerechtigkeit, die in ihrem Namen wissenschaftlich gedacht wird. Mehr noch zeigt sich diese Ignoranz, wenn bei all den dringlichen Themen die damit zusammenhängenden Fragen der sozialen Ungleichheit erst gar nicht in den Fokus geraten, - und dann erst recht nicht auf die Stimme derer am unteren Rand gehört wird. Dagegen hat man sich den Sozialwissenschaften - u. a. im Rückgriff auf Arbeiten von Judith Shklar, Barrington Moore oder Axel Honneth - um das Urteilsvermögen derer „da unten“ bemüht (vgl. Rieger-Ladich 2015). Zum Beispiel erforschte François Dubet (2008) die Expertise von Beschäftigten über die Ungerechtigkeiten an ihren Arbeitsplätzen. Den Einfluss von biografischen Erfahrungen auf das Urteilsvermögen der erfahrenen Individuen hat Sylvia Terpe (2009) erkundet und dabei einige Erfahrungen als Ressource, andere hingegen als Barriere der Gerechtigkeit entdeckt. In diesen Untersuchungen werden Menschen, die am unteren Rande der sozialen Ungleichheiten bestehen, nicht zu Heroen der Gerechtigkeit stilisiert. Jedoch wird ihr Urteilsvermögen ob der Ungerechtigkeit ihrer Lebensverhältnisse aufgeklärt - und ihnen dadurch ein solches Urteilsvermögen ausdrücklich zugestanden. Um das Urteilsvermögen der Subalternen in den Pariser Banlieues zu aktivieren, haben Pierre Bourdieu und seine KollegInnen geeignete Gesprächskonstellationen geschaffen - und die dadurch provozierten Erzählungen ihres alltäglichen Leidens und deren Beurteilung in „Das Elend der Welt“ (Bourdieu 1997) dokumentiert. Urteilen die „da unten“ über ihre Lebensbedingungen und ihre Positionen am unteren Rande und wird dieses Urteilen mit sozialwissenschaftlicher Unterstützung manifest, dann werden auch wissenschaftlich betriebene Ethiken auf entsprechende Nachweise dieses subalternen Urteilsvermögens verwiesen. Die Ignoranz in diesen Ethiken geht nämlich nur solange durch, als das Ignorierte nicht bewusst und die Ignoranz nicht auffällig wird. Das gilt zumal für die im Rahmen der christlichen Theologien betriebenen Ethiken, so diese unter dem Diktum der durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie durchgesetzten „Option für die Armen“ stehen. Mit dieser Option werden die „Armen“, wer auch immer damit gemeint sind, nicht nur als Adressaten eines parteiischen Gottes ausgezeichnet, sondern zugleich als die ersten TheologInnen des ebenso parteiischen Glaubens an diesen Gott. Was es aber heißt, dass die „Armen“ die ersten „Denker“ einer unter der „Option für die Armen“ stehenden Ethik ist, darauf hat man bislang keine belastbaren Antworten geben können, - wenn man sich denn überhaupt entsprechende Fragen gestellt hat. Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ 63 Gerechtigkeit als politische Macht Einstellungen und Überzeugungen und andere Dispositionen des Denkens, Sprechens Fühlen und Wollens, damit auch das im Konzept „Gerechtigkeit“ zum Ausdruck kommende Urteilen reflektieren immer und mit Notwendigkeit die jeweils eigene Position im sozialen Raum. Mehr noch: Einstellungen und Überzeugungen und eben damit auch „Gerechtigkeit“ benutzen Akteure in ihren - um es mit Pierre Bourdieu zu sagen - Positions- und Distinktionskämpfen (Bourdieu 1976). Mit diesem sozialwissenschaftlichen Hintergrundwissen hält man „Gerechtigkeit“ für eine ungleich verteilte Ressource in einem durch Ungleichheiten bestimmten sozialen Raum - mit Ungleichheit schaffenden Wirkungen. Der Wert der „Gerechtigkeit“ ist davon abhängt, ob und in welchem Maß man sie für sich und Seinesgleichen, für die eigenen Interessen mobilisieren und gegen die Interessenlagen anderer okkupieren kann. Diese Sicht auf die „Gerechtigkeit“ ist äußerst plausibel, hat aber einen entscheidenden Nachteil: Man beraubt der „Gerechtigkeit“ ihre inklusiven Ansprüche, der sie ihren politischen Nutzen und damit auch den jeweils eigenen Nutzen in Positions- und Distinktionskämpfen verdankt. So entzaubert, kann „Gerechtigkeit“ nicht mehr sinnvoll gedacht werden, - und man kann sie politisch nur noch dann nutzen, wenn man verschweigt, was man über sie denkt, und zugleich hofft, dass hinreichend viele der anderen nicht ahnen, dass man mit „Gerechtigkeit“ nichts Sinnvolles denkt. Trotz dieser und manch anderer Entzauberungen ist das Konzept „Gerechtigkeit“ für die politische Semantik zumindest der westlichen Gesellschaften bis heute konstitutiv. Mit langen Wurzeln vor allem in die griechische Antike hinein lassen sich - zumal in demokratischen Gesellschaften - Ordnungen sozialer Verhältnisse politisch nicht aushandeln, ohne dass die daran beteiligten Akteure ihre Vorstellungen und Forderungen mit Gerechtigkeitsvorstellungen qualifizieren und die von ihnen intendierten Ordnungen als gerecht behaupten. Dazu transzendieren sie eigene Interessenlagen, ohne diese zu leugnen, und weisen sie als ein - in welchem Verständnis auch immer - allgemeines Interesse aus. Dadurch, dass sie sich in Übereinstimmung mit allgemeinen Interessen behaupten, suchen sie Macht zu erzielen, nämlich ihre Chancen zu vergrößern, die eigenen Vorstellungen und Forderungen in den politischen Aushandlungsprozessen auch gegen Widerspruch durchzusetzen. Neben anderen Ressourcen ist „Gerechtigkeit“ damit eine besondere, dabei eigensinnige und anspruchsvolle Ressource der Interessenvertretung und -durchsetzung. Auch wenn man „Gerechtigkeit“ nicht mit Moral und Menschenrechten, also nicht mit den darin ausgesagten unbedingten und allgemeinen Rechten und Pflichten gleichsetzt, wenn man stattdessen auch Werte und ähnlich partikulare 64 Matthias Möhring-Hesse und kontextuelle Überzeugungen und Einstellungen sowie Klugheitserwägungen als Quellen der Gerechtigkeit anerkennt, erwarten politische Akteure - und mit diesen auch Gerechtigkeitstheorien in der Politischen Philosophie, in den Theologien und anderen Disziplinen - von entsprechenden Urteilen erstens deren Allgemeinheit und zweitens deren Allgemeingültigkeit: Die jeweils als gerecht behauptete Ordnung von sozialen Verhältnissen ist nur dann gerecht, wenn sie nicht nur im Interesse eines Teils der davon Betroffenen, sondern in einem wie auch immer qualifizierten gemeinsamen Interesse aller davon Betroffenen und i. d. S. in einem allgemeinen Interesse ist. Diesem Anspruch genügt eine Gerechtigkeitsvorstellung aber nicht schon durch deren bloße Behauptung; „gerecht“ sind Gerechtigkeitsvorstellungen erst dann, wenn die Allgemeinheit, die behauptet wird, auch als gültig erwiesen werden kann. Dies gelingt durch Rechtfertigung der behaupteten allgemeinen Interessen mit guten Gründen - und zwar gegenüber (zumindest prinzipiell) allen, die zu der Allgemeinheit gehören, für die eine bestimmte Ordnung ihrer sozialen Verhältnisse als gerecht behauptet wird, wenn nicht sogar gegenüber (zumindest prinzipiell) allen, die von dieser Ordnung betroffen sind, selbst wenn sie dieser Allgemeinheit nicht angehören. Mit diesen beiden Ansprüchen verspricht das Konzept „Gerechtigkeit“ die größtmögliche Inklusion der die jeweils unterstellte Allgemeinheit ausmachenden Menschen und - darüber hinaus - sogar von außenhalb stehenden „Dritten“. Versprochen wird nämlich, dass bei der Ordnung ihrer sozialen Verhältnisse ihrer aller Interessen gleichermaßen berücksichtigt werden. Gleichberechtigt anerkannt werden dann auch die Interessen derjenigen, die wegen fehlender oder zumindest geringerer Machtressourcen ihre Interessen ansonsten nicht gleichberechtigt verfolgen können und in diesem Sinne „schwache Interessen“ (Willems u. a. 2000, 39-110) haben. Deswegen gilt „Gerechtigkeit“ als die privilegierte Machtressource für die, die eine subalterne Stellung in von durch Machtungleichheiten geprägten Verhältnissen einnehmen. Obgleich ohne Geld und Einfluss, ohne Ansehen, Ämter und Beziehungen können sie ihre Interessen öffentlich als nicht nur eigene Interessen ausweisen und können auf diesem Weg ihre Interessen gegenüber den Interessen derer, die Geld und Einfluss, Ansehen, Ämter und Beziehungen „haben“, aufwerten. So können sie gegenüber jenen, womöglich sogar mit Unterstützung aus deren Kreisen, Macht aufbauen. Womöglich lassen sich gerade ihre Interessen besonders gut unter der Maßgabe der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit als allgemeine Interessen ausweisen. Denn - zumindest prima facie - stellen ihre besonderen Lebenslagen und ihre sozialen Positionen eine Benachteiligung gegenüber anderen und darin eine Verletzung allgemeiner Interessen dar; so aber liegt deren Verbesserung - zumindest prima facie - als Negation dieser Verletzung im allgemeinen Interesse. Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ 65 Gerade weil das Konzept „Gerechtigkeit“ in politischen Arenen demokratischer Gesellschaften eine wirksame Ressource der Interessenvertretung und -durchsetzung ist, wird man dem integrativen Versprechen dieses Konzepts und mehr noch dem Versprechen misstrauen, dass sozial Schwache auf dem Wege der Gerechtigkeit ihre Interessen stärken und fehlende bzw. unzureichende Machtressourcen kompensieren können. Das eingangs angesprochene Hintergrundwissen holt uns wieder ein - und wir vermuten: In politischen Aushandlungsprozessen werden diejenigen, die etwa durch Geld oder Beziehungen größere Macht mobilisieren können, ihren Machtvorsprung - und nicht zuletzt ihr Geld oder ihre Beziehungen - dazu nutzen, Gerechtigkeitsvorstellungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Weil sie nicht nur gute Gründe, sondern auch ihre Machtressourcen bei der Rechtfertigung eigener als allgemeiner Interessen einsetzen können, wird die auf diesem Wege durchgesetzte Gerechtigkeit von vorgelagerten sozialen Ungleichheiten eingenommen. Die dem Konzept „Gerechtigkeit“ zugrundeliegende Rechtfertigungspraxis ist Wirkungsfeld genau dieser sozialen Ungleichheiten und der daraus resultierenden Ungleichverteilung von politischer Macht. Die Okkupation der „Gerechtigkeit“ für starke Interessen drückt sich auch in der paternalistischen Vertretung von schwachen Interessen aus. Politische Akteure mit hinreichend großer Deutungsmacht deuten die Interessen derjenigen, die - weil ohne ausreichende Machtressourcen - ihre eigenen Interessen nicht wirksam verallgemeinern, deshalb eigene Vorstellungen und Forderungen nicht als gerecht erweisen, sich zumindest nicht erfolgreich gegen ihre paternalistische Vereinnahmung wehren können Auf diesem Weg werden schwache Interessen in den als allgemein behaupteten Interessen eingefügt und diese mit Hinweis gerade auf das Wohlergehen der paternalistisch Vertretenen verallgemeinert - und zwar ohne deren Zustimmung, gegebenenfalls sogar gegen deren ausdrücklichen Widerspruch. Eine solche Praxis der „Gerechtigkeit“ besiegelt Ungleichheiten gleich in zweifacher Weise: Akteure mit entsprechend großer Deutungsmacht und hinreichender öffentlicher Reputation verwehren denjenigen, die sich gegen die paternalistische Vereinnahmung ihrer Interessen nicht wehren können, die Möglichkeit, eigene Interessen in vergleichbarer Weise als gerecht zu erweisen; und sie schließen diese darüber hinaus aus dem Kreis derer aus, denen gegenüber sie die von ihnen behauptete Gerechtigkeit rechtfertigen müssen und auf deren Zustimmung sie angewiesen sind, soll ihre Rechtfertigung als ausreichend gelten. 66 Matthias Möhring-Hesse Reflektierendes Urteilsvermögen „Gerechtigkeit“ entsteht durch Urteilen. Mit ›urteilen‹ wird ein Denk- und Sprachakt bezeichnet, bei dem - für gewöhnlich - etwas Besonderes, hier etwa besondere Lebenslagen oder Situationen, unter eine Allgemeinheit, hier etwa allgemeine Interessen oder die Ordnung dieser und aller ähnlichen Situationen, gebracht wird. Zumindest wird bei Immanuel Kant Urteilskraft in diesem Sinne als dasjenige Vermögen ausgewiesen, „unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel stehe, oder nicht“ (KrV 171), bzw. „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KdU B XXV ). Wenn auch nicht auf dem Feld der Politischen Philosophie, sondern als Ergänzung der theoretischen und der praktischen Vernunft unterschied Kant zwischen dem bestimmenden Urteilen , bei dem das Allgemeine bekannt und gegeben ist und das Besondere unter dieses Allgemeine subsumiert wird, und dem reflektierenden Urteilen , bei dem das Besondere gegeben und davon ausgehend das Allgemeine erhoben wird (KdU B XXVI ). Was das moralische Urteilen angeht, führte Kant auf die Spur des bestimmenden Urteilens, sofern das Moralgesetz für ihn als Faktum der praktischen Vernunft gegeben, damit dem Besonderen und also dem Urteilen immer schon vorgegeben ist. Ohne sie deshalb von den Ansprüchen der Allgemeinheit und der Allgemeingültigkeit zu dispensieren, sollte man bei „Gerechtigkeit“ hingegen weniger auf das bestimmende Urteilen, stattdessen vielmehr auf das reflektierende Urteilen setzen. Zumindest wenn entsprechende öffentliche Diskurse nicht übermäßig vermachtet sind und mindestens hinreichend für unterschiedliche Interessengruppen offen sind, liegen allgemeine Interesse den Urteilsakten, also der Behauptung von Gerechtigkeitsvorstellungen und deren Rechtfertigung mit guten Gründen, nicht voraus, sondern sie entstehen in genau diesen Urteilsakten - und bestehen daher auch erst als deren Ergebnisse. Möglicherweise hatte Hannah Arendt genau Urteilskraft der reflektierenden Art als „das politischste der mentalen Vermögen des Menschen“ vor Augen, das „besteht in der Fähigkeit, Einzelnes (›particulars‹) zu beurteilen, ohne es unter solche allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können, bis sie zu Gewohnheiten werden, die durch andere Gewohnheiten und Regeln ersetzt werden“ (Arendt 1979: 36). Dass man bei „Gerechtigkeit“ vor allem auf reflektierende Urteilen setzt, gilt zumal dann, wenn man an dem Urteilsvermögen derer interessiert ist, die in durch ungleiche Machtressourcen geprägten und anderweitig durch soziale Ungleichheiten bestimmten Verhältnissen eine untere Stellung einnehmen. Das, was Kant das bestimmende Urteil nannte, würde deren besondere Interessen und deren besondere Lebenslagen unter eine vorgegebene Allgemeinheit bringen. Diese ist vermutlich eine der öffentlich ausgehandelten und politisch Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ 67 wirksamen Gerechtigkeiten, auf die Subalterne gerade keinen Einfluss nehmen konnten. In einem bestimmenden Urteilsvermögen würde also der Ausschluss von denen „da unten“ aus den politisch wirksamen Gerechtigkeiten lediglich vollzogen und diese Gerechtigkeiten in das Urteilen der so Ausgeschlossenen vermittelt. Solch bestimmendes Urteilen wird es „da unten“ geben, etwa wenn sich diejenigen, die in dem Gefüge der sozialen Ungleichheiten an den unteren Rand gedrängt werden, genau die Gerechtigkeitsvorstellungen annehmen, mit denen dieses Gefüge legitimiert wird - und vielleicht gerade so ihre Benachteiligung „aushalten“. Ist man aber nicht nur an dem Ausbleiben von Protest und Widerstand, sondern inhaltlich an den besonderen Urteilen derer „da unten“ interessiert, dann wird man auf deren reflektierendes Urteilsvermögen setzen - auf ihr Vermögen, ihre besonderen Lebenslagen und ihre Interessen unter den Anspruch der Allgemeinheit und Verallgemeinerung zu bringen und dabei die mit „Gerechtigkeit“ ausgesagte Allgemeinheit und intendierte Verallgemeinerung zu erzeugen. Nur in solch reflektierendem Urteilen entsteht eine „Gerechtigkeit von unten“ - in Differenz zu öffentlich ausgehandelten und politisch wirksamen Gerechtigkeiten und möglicherweise auch in Konfrontation zu diesen. Ausschluss subalternes Urteilsvermögen Wer bei denen „da unten“ mit reflektierendem Urteilsvermögen und im Ergebnis mit so etwas wie „Gerechtigkeiten von unten“ rechnet, der muss erklären können, warum dieses Urteilsvermögen in öffentlichen Diskursen ungehört bleibt und deshalb subaltern ist, warum „Gerechtigkeit von unten“ öffentlich nicht berücksichtigt wird und eben deshalb eine Gerechtigkeit „ … von unten“ ist. Nimmt man „Gerechtigkeit“ als eine umkämpfte Ressource in Positions- und Distinktionskämpfen, erklärt sich dies vor allem mit Bezug auf diejenigen, die in der Nutzung der Gerechtigkeit für ihre Zwecke erfolgreicher als diejenigen „da unten“ sind, deren Erfolg sich möglicherweise sogar der Entwertung des subalternen Urteilsvermögens verdankt. Erklärungen lassen sich aber auch mit Bezug auf das Urteilsvermögen derer „da unten“ und deren Urteilspraxis suchen (Honneth 2000). Eine erste Erklärung zielt darauf, dass Urteilsakte immer ihre Anlässe haben: „Gerechtigkeit“ entsteht durch deliberativen und i. d. S. kollektiven Vollzug von Urteilsvermögen im öffentlichen Raum: Die Lebensverhältnisse in einer politisch konstituierten Gemeinschaft werden bewertet und eigene Interessen behauptet und mit den Bewertungen und Interessen anderer abgeglichen, daraus Forderungen für die sozialen Ordnungen gezogen. Die Anlässe, entsprechendes Urteilsvermögen öffentlich zu vollziehen, sind allerdings ungleich verteilt - und 68 Matthias Möhring-Hesse zwar proportional zu den Vorteilen, die einzelne und soziale Gruppen aus den Ordnungen ihrer politischen Gemeinschaft ziehen. Mit den Vorteilen wächst der Legitimierungsdruck und damit der Druck, in den politischen Auseinandersetzungen den Weg der Gerechtigkeit zu beschreiten und dazu eigene Interessen zu rechtfertigen. Weil ohne diese Vorteile geraten die „da unten“ nicht unter vergleichbaren Legitimationsdruck - und haben deswegen seltener Anlass, eigene Interessen als allgemeine Interessen auszuweisen. Mehr noch: Sofern sie Leistungen der sozialen Fürsorge oder Sozialtransfers beziehen - und darin ihren Vorteil „haben“, geraten sie unter den gegensätzlichen Druck, die ihre Unterstützung legitimierenden Gerechtigkeitsvorstellungen loyal zu bedienen und sich selbst auf diese Vorstellungen hin und in deren Rahmen zu rechtfertigen. Sich den jeweils geltenden Gerechtigkeitsvorstellungen zu unterwerfen, ist für Menschen am unteren Rand der sozialen Ungleichheit auch deswegen attraktiv, weil sie dadurch Ansehen und Zugehörigkeit, zumindest die Aussicht darauf gewinnen. Nicht darüber, dass ihre Interessen auf dem Wege der „Gerechtigkeit“ aufgewertet werden, werden sie dann sozial integriert, sondern darüber, dass sie ihre Interessen einer ihnen fremden „Gerechtigkeit“ unterwerfen. Das besondere Urteilsvermögen, eigene Interessen unter der Maßgabe der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit zu rechtfertigen, hat kognitive Voraussetzungen - und auf diese verweist die zweite Erklärung: „Gerechtigkeit“ kann man nur erzeugen, wenn man konkrete Situation transzendieren, wenn man zwischen (Un-)Zufriedenheit über jeweils besondere Lebenslagen und der Bewertung der sie beeinflussenden sozialen Verhältnisse unterscheiden oder wenn man die Veränderung sozialer Verhältnisse intendieren kann. Hinsichtlich dieser kognitiven Voraussetzungen ist zu erwarten, dass sozial Schwache gegenüber anderen benachteiligt sind, was nicht heißt: urteilsunfähig sind - und dass sie von daher auch weniger in der Lage sind, eigene Interessen auf dem Wege der Gerechtigkeit zu bringen. Ihr reflektierendes Urteilsvermögen ist aktiv; es bleibt aber, so ist zu erwarten, häufiger „unterhalb“ des Niveaus, auf dem ihr Urteilen als Gerechtigkeitsurteile auffällig und von anderen bemerkt wird. Um den der „Gerechtigkeit“ eigenen Ansprüchen der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit genügen zu können, müssen Urteilende den jeweiligen Einzelfall transzendieren und jenseits von „Hier und Jetzt“ etwas Allgemeines erzeugen können. Diejenigen am unteren Rand der sozialen Ungleichheiten sind aber vergleichsweise stärker mit dem „Hier und Jetzt“ beschäftigt, sind damit beschäftigt fehlende Ressourcen auszugleichen, Solidaritäten zu mobilisieren und Schicksalsschlägen auszuweichen. Im Vergleich mit den Bessergestellten „stecken“ sie in ihren konkreten Situationen und haben wenig Anlass und Chancen, diese zu transzendieren. Sie werden ihre Situationen zwar bewerten; Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ 69 aber ihre Bewertungen werden sie nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in Vorstellungen der Gerechtigkeit überführen, die auch jenseits dieser konkreten Situationen Gültigkeit beanspruchen können. Mit „Gerechtigkeit“ beziehen sich Urteilende auf die soziale Ordnung von sozialen Verhältnissen, die besonderen Lebenssituationen von einzelnen bestimmen, nicht aber determinieren. Eine solche Ordnung lässt sich unter dem Anspruch von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit verhandeln; hingegen lassen sich die besonderen Lebenssituationen von einzelnen zumindest in ihrer Komplexität weder unter die mit „Gerechtigkeit“ intendierten Allgemeinheit bringen, noch unter dem Anspruch der Allgemeingültigkeit bewerten. „Gerechtigkeit“ hat deshalb als kognitive Voraussetzung, zwischen der besonderen Situation und der sie bestimmenden, aber eben nicht determinierenden Ordnung sozialer Verhältnisse unterscheiden zu können, etwa nicht von der Zufriedenheit über seine Lebensverhältnisse auf die Gerechtigkeit der sozialen Ordnung zu schließen oder bei einer negativen Bewertung der eigenen Lebensverhältnisse diese nicht bereits für die Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse zu nehmen. Diese Differenzierungen dürften vor allem Menschen beherrschen, die ihre besonderen Lebensverhältnisse transzendieren können. Genau dies ist aber für sozial Schwache eher unwahrscheinlich, so die Bewältigung ihrer Lebensverhältnisse eine vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit verlangt. So aber sind sie einmal mehr darin benachteiligt, Urteile über ihre Lebensverhältnisse und ihre Interessen öffentlich auf das Niveau der „Gerechtigkeit“ zu bringen. Gerechtigkeitsvorstellungen setzen voraus, dass allgemeine Interessen intendiert werden können und in der Folge die Ordnung der jeweiligen Situation auf diese Interessen hin verändert werden kann. Intendier- und Veränderbarkeit ist nicht nur eine pragmatische Voraussetzung, sondern mehr noch: eine kognitive Bedingung von „Gerechtigkeit“. Nur das, was als - in irgendeiner Weise - intendiert werden kann, lässt sich vernünftigerweise unter der Maßgabe der Gerechtigkeit prüfen. Unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten muss damit gerechnet werden, dass entsprechende Erwartungen bei sozialen Schwachen unwahrscheinlicher sind als bei anderen, die auf Grund ihrer Machtressourcen ihre sozialen Zusammenhänge nicht nur wirksamer beeinflussen können, sondern auch über entsprechende Erfahrungen verfügen und daraus entsprechende Erwartungen für die Zukunft ziehen. In dem Maße, wie unter sozial Schwachen nicht nur die Erfahrung von Veränderungen im eigenen Interesse, sondern auch die Erwartungen solcher Art von Veränderungen seltener ist bzw. sind, verfügen sie auch seltener über die Voraussetzungen, ihre Situationen als ungerecht und ihre Interessen als gerecht auszuweisen. 70 Matthias Möhring-Hesse Ein Drittes kommt hinzu: Gerechtigkeitsvorstellungen bewegen sich innerhalb einer gemeinsamen, mit anderen geteilten Sprache, da nur auf dieser Grundlage allgemeine Interessen allgemeingültig ausgewiesen werden können. Eine gemeinsame Sprache ist aber nicht nur eine Ermöglichungsbedingung von „Gerechtigkeit“, sondern zugleich auch deren Grenze: Was in der gemeinsamen Sprache nicht als allgemein und allgemeingültig ausgesagt werden kann, kann prinzipiell auch nicht gerecht „gemacht“ werden. Auch die an unteren Positionen Stehenden haben an dieser Sprache Anteil; sie finden aber in dieser Sprache nicht die gleichen Möglichkeiten, ihre abweichenden Erfahrungen auszudrücken und ihre davon eingefärbten Interessen als allgemein behaupten und als allgemeingültig erweisen zu können. Zudem sind in dieser Sprache hegemoniale Gerechtigkeitsvorstellungen eingewoben, die sich ihnen in der Nutzung dieser Sprache „aufdrängen“ - und zwar auch dann, wenn sie den eigenen Interessen widersprechen. Gerechtigkeit von unten Ist es nach den bisherigen Überlegungen plausibel, dass Menschen in unteren Positionen ihr Urteilsvermögen öffentlich seltener vollziehen und dass ihre Gerechtigkeitsurteile öffentlich zumeist nicht vorkommen, dann ist es aber zugleich auch plausibel, dass unterhalb des Niveaus, auf der Gerechtigkeitsurteile öffentlich bemerkt und verhandelt werden, ein Urteilsvermögen der Subalternen besteht - und mehr noch: dass nicht nur ein entsprechendes Vermögen, an das man ansetzen und das man unterstützen kann, besteht, sondern dass dieses Vermögen vollzogen wird, wofür man sich dann auch inhaltlich interessieren kann. Bestehen aber jenseits der öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten solche „Gerechtigkeiten von unten“, dann wird vom Konzept „Gerechtigkeit“ in aller Öffentlichkeit ein exkludierender, zumindest ein diskriminierender Gebrauch genommen - und dies in Widerspruch zu dem diesem Konzept inhärenten inklusiven Versprechen. Obgleich „Gerechtigkeit“ unter den Ansprüchen von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit steht, entsteht sie unter Bedingungen der Exklusion - und mithin dadurch, dass die beiden Ansprüche der „Gerechtigkeit“ verletzt werden. Dieser Widerspruch schlägt auf die Geltung der öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten zurück - spätestens dann, wenn deren exkludierenden Bedingungen bewusst werden. Dies ist eine beunruhigende Nachricht für Menschen in subalternen Positionen - und für all diejenigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, deren Sache zu ihrem Anliegen gemacht haben. Im Gegensatz zu Anderen finden Subalterne keinen funktionalen Ersatz für die der Gerechtigkeit zugeschriebenen Macht - und bleiben bei der Ordnung der sozialen Verhältnisse, die ihre Le- Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ 71 benslagen bestimmen, ohne Macht. Eine beunruhigende Nachricht ist dies aber auch für all diejenigen, die am Konzept „Gerechtigkeit“, aus welchen Gründen auch immer, als einer politischen Ressource in demokratischen Auseinandersetzungen interessiert sind. In dem Maße, wie „Gerechtigkeit“ hinsichtlich ihres inklusiven Versprechens desavouiert und wie diese Blamage öffentlich manifest wird, wird „Gerechtigkeit“, werden aber auch deren Surrogate als Werkzeug(e) zur Rechtfertigung von Interessen und deren politischen Durchsetzung unbrauchbar, mehr noch: Mit „Gerechtigkeit“ und deren Surrogate wird ein für demokratische Politik konstitutives Konzept in Zweifel gezogen. Daher liegt es nicht nur im Interesse von denen „da unten“, der „Gerechtigkeit“ in ihrem inklusiven Versprechen auf die Sprünge zu helfen und denen „da unten“ mit ihrem Urteilsvermögen Zugang zu den öffentlich verhandelten Gerechtigkeiten zu verschaffen. Auch für die wissenschaftlich betriebenen Ethiken sind die aus öffentlichen Diskursen exkludierte „Gerechtigkeiten von unten“ prekär: Zumindest wenn sie materiale Fragen bearbeiten, liegt ihre diskursive Rationalität außerhalb ihrer selbst, so die Gültigkeit von Urteilen und die Überzeugungskraft entsprechender Gründe - zumindest letztlich - nicht wissenschaftsintern erwiesen werden kann. „Bewahrheitet“ werden wissenschaftlich betriebene Ethiken nicht in ihren Wissenschaften, sondern erst in öffentlichen Diskursen. Dort müssen sich innerhalb der Wissenschaften bewährte Urteile und Begründungen ein weiteres Mal bewähren können - und werden erst dadurch in ihrer Geltung bestätigt. Bestehen aber Zweifel, ob in öffentlichen Diskursen die für das Konzept „Gerechtigkeit“ notwendige Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit überhaupt erreicht werden können, steht auch in Zweifel, ob wissenschaftlich betriebene Ethiken ihre Geltung erweisen können. Sich dann wegen der Exklusivität öffentlicher Diskurse mit einer wissenschaftsinternen Bewährung zufrieden zu geben, wäre keine überzeugende Lösung. Denn wissenschaftlich betriebene Ethiken werden die den öffentlichen Diskursen zugeschriebene Exklusivität mit eigenen Mitteln nicht kompensieren können, sondern werden - im Gegenteil - diese durch die den Wissenschaften eigenen Zugangsbarrieren potenzieren. Die Exklusivität öffentlicher Diskurse können wissenschaftlich betriebene Ethiken allerdings gezielt ausgleichen. Weil sie ihre diskursive Rationalität in öffentlichen Diskursen „haben“, antizipieren EthikerInnen die Bewährung ihrer Ethiken in eben diesen und bereiten deren Bewährung mit entsprechenden Gründen gegenüber antizipierten Gegengründen und Einwänden vor. Mit den Mitteln ihrer Wissenschaften können sie dabei den Zugang zum Urteilsvermögen derer „da unten“ suchen und können deren Urteile über deren Lebensverhältnisse und deren Interessen auf das Niveau der in ihren Ethiken intendierten Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit bringen - oder aber sie daran kritisch 72 Matthias Möhring-Hesse beurteilen und sie zurückweisen. Je mehr EthikerInnen darüber wissen, wie Subalterne ihr Urteilesvermögen mit welchen Ressourcen und Behinderungen vollziehen, wie sie im Vollzug ihres Urteilsvermögens von anderen behindert werden und wie ihnen der Zugang zur „Gerechtigkeit“ erschwert und verwehrt wird, wird es möglich sein, diesen Zugang zu den „Gerechtigkeiten von unten“ auf dem Niveau wissenschaftlichen Argumentierens zu finden. Indem sich wissenschaftlich betriebene Ethiken Zugänge zum Urteilsvermögen der Subalternen verschaffen, deren Urteile in ihren eigenen Überlegungen berücksichtigen und diese schließlich öffentlichen Diskursen zur Bewährung „überlässt“, tragen sie die „Gerechtigkeiten von unten“ in die öffentlichen Diskurse ein. Entsprechend gestimmte Ethiken sind daher gegenüber öffentlichen Diskursen in besten Sinne aufklärerisch - und gegenüber Subalternen und ihren besonderen Gerechtigkeiten advokatorisch, ohne darin paternalistisch sein zu müssen. Sie tragen dazu bei, das dem Konzept „Gerechtigkeit“ inhärenten inklusiven Versprechen einzulösen. Literatur Arendt, Hannah (1979). Das Leben des Geistes, München: Piper. Bourdieu, Pierre (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1997). Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz. Dubet, François (2008). Ungerechtigkeiten: Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz. Hamburg: Hamburger Edition. Honneth, Axel (2000). Moralbewußtsein und soziale Klassenherrschaft. In: Honnet, A. (Hrsg.) Das Andere der Gerechtigkeit: Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt / Main: Suhrkamp, 110-129. Rieger-Ladich, Markus (2014). Ungerechtigkeit. Merkur 68: 787, 1081-1090. Terpe, Sylvia (2009). Ungerechtigkeit und Duldung: Die Deutung sozialer Ungleichheit und das Ausbleiben von Protest. Konstanz: Universitätsverlag. Willems, Ulrich / Winter, Thomas von (Hrsg.) (2000). Politische Repräsentation schwacher Interessen. Opladen: Leske + Budrich. Subalterne Urteilskraft und „Gerechtigkeit von unten“ 73 Politik Das Ethische und das Politische-- Konturen einer (un-)möglichen Konstellation Dietmar Wetzel Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den politischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt. Hannah Arendt (2016: 10-11) 1. Einleitung Viel besser als in diesem zentralen Ausschnitt aus der Arbeit „Wir Flüchtlinge“ (orig. 1943) von Hannah Arendt, ist die Situation und die Gefühlswelt von Flüchtlingen und Migrant_innen wohl kaum auf den Punkt gebracht worden. Ausgehend von der gegenwärtigen Krise der Gesellschaften, die weit mehr als „nur“ eine „Flüchtlingskrise“ ist, möchte ich grundsätzliche Fragen zum Ethisch- Politischen aufwerfen. Wie hängen das Ethische und das Politische zusammen? In welchem Verhältnis stehen diese Begriffe / Konzepte zueinander? Wie wird diese Konstellation in der Sozialphilosophie behandelt? Diese und weitere Fragen möchte ich im Folgenden nicht mit dem Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung behandeln, sondern vielmehr programmatisch zu beantworten versuchen. Um dies leisten zu können, nehme ich eine Diskussion auf, mit der ich mich vor über fünfzehn Jahren begonnen habe zu beschäftigen, und führe diese zugleich weiter. In meiner Dissertationsschrift „Diskurse des Politischen. Zwischen Re- und Dekonstruktion“ (Wetzel 2003) habe ich Positionen und Theorien des Ethischen mit denen der Politik / des Politischen ins Verhältnis zu setzen versucht. Aus den damals geleisteten Re- und Dekonstruktionen und unter Berücksichtigung aktueller Reflexionen zum Ethisch-Politischen resultiert meine These: Das Ethische und das Politische stehen in einem produktiven 76 Dietmar Wetzel Widerstreit zueinander, den es nicht aufzulösen, sondern - normativ gesprochen - aufrechtzuerhalten gilt. Um diese These auszuführen respektive zu begründen, gehe ich wie folgt vor. In einem ersten Schritt thematisiere ich den, wie ich es nennen möchte, „Stachel der Ethik“, 1 indem ich die Bedeutsamkeit, aber auch die Schwierigkeiten bezüglich einer ethischen Reflexion unterstreiche (Abschnitt 1). Daran anschließend problematisiere ich den in der gegenwärtigen Diskussion der politischen Theorie wichtigen Unterschied zwischen der Politik und dem Politischen. Mit diesem Schritt gelingt eine Öffnung eines rein normativen Politikverständnisses hin zu einer Infragestellung der damit verbundenen Ordnungsvorstellungen (Abschnitt 2). Nach diesen, sozusagen vorbereitenden Überlegungen stelle ich drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen vor, die sich exemplarisch in der einschlägigen Literatur wiederfinden lassen (Abschnitt 3). 2 Die dabei stärker theoretischen Reflexionen versuche ich schließlich an einem aktuellen Beispiel kurz zu veranschaulichen. Thema dabei sind die Grenzen der Gastfreundschaft im Kontext der sogenannten „Flüchtlingskrise“ (Abschnitt 4). Im Fazit nehme ich die verschiedenen Stränge auf und fasse meine Argumentation in drei Punkten nochmals zusammen (Abschnitt 5). 2. Der Stachel der Ethik Ethik beziehungsweise die ethische Reflexion erfüllen in unserer Zeit zweifellos eine wichtige Funktion. Gerade im Zusammenhang mit Fragen der Aufklärung lässt sich ethisches Nachdenken nicht mehr aus dem gesellschaftlichen Diskurs der (Post-)Moderne wegdenken. 3 Ob es um Fragen der Genetik, den Umgang mit der Ökosphäre oder schlicht um das Zusammenleben von Individuen und Gruppen geht, Ethik (und Moral) sind immer mit im Spiel. Ethik kommt praktisch überall zum Einsatz, was einer inflationären Handhabe eher zuals abträglich ist - und im schlimmsten Fall zu Heuchelei und zu einem „Tun-Als- Ob“ (siehe Ruhnau / Kridlo / Busch / Roessler 2000) führen kann. Dennoch hilft uns Ethik dabei, unsere moralischen Grundlagen und Einstellungen zu durch- 1 In Anlehnung an den treffenden Titel von Bernhard Waldenfels „Der Stachel des Fremden“ (1991). 2 Selbstverständlich kann es sich hierbei nur um Zuspitzungen und Typisierungen handeln, die nicht die Absicht hegen, den jeweiligen Positionen / Theorien im Einzelnen gerecht zu werden. Mir geht es um unterschiedliche Lesarten des Ethisch-Politischen. Daraus erwachsen, wie noch zu zeigen sein wird, ganz unterschiedliche Konstellationen, die ihrerseits entscheidende Effekte für ein Verständnis gesellschaftlicher Probleme evozieren. 3 Auch hier muss auf die sprichwörtliche „Dialektik der Aufklärung“ hingewiesen werden, insofern Licht und Schatten gleichermaßen zum Aufklärungsprozess dazu gehören, siehe Wetzel (2012). Das Ethische und das Politische 77 denken. 4 Zudem möchte ich Ethik insofern als einen „Stachel“ begreifen, als dieser uns antreibt, über ungerechte Zustände der Welt nachzudenken (und womöglich etwas dagegen zu tun). In einem sehr instruktiven Beitrag hat Jelica Šumič (1997) auf die schwierige Beziehung zwischen Ethischem und Politischem bereits hingewiesen. Nachdem lange Zeit die Ethik aus dem öffentlichen Diskurs der Moderne ausgeschlossen war, trifft man sie als eines der zentralen Themen wieder in eben diesem öffentlichen Diskurs an. Dazu schreibt Šumič dezidiert: Sie (die Ethik) scheint als eine Art schlechten Gewissens überall dorthin zurückzukehren, von wo sie zuvor verbannt wurde. So kann heute sozusagen von einer ‘Rache der Ethik‘ gesprochen werden. Die Berufung auf die Ethik bzw. das Gute ist zum handlichen Rechtfertigungsmittel fast jeden Geschehens geworden (Šumič 1997: 231). So werden im Namen biopolitischer Maßnahmen Frauen in Gebärmaschinen verwandelt; im Namen der Menschenrechte wird überall dort (und nur dort) militärisch eingegriffen, wo dies von Mächtigen so entschieden worden ist, also genauer dort, wo die Nichtbeachtung der Menschenrechte mit den Interessen der jeweiligen Realpolitik zusammenfallen. Ethik und ethische Reflexionen existieren jedoch nicht in einem abstrakt-theoretischen Raum, sondern diese sind in gesellschaftliche und politische Ordnungsmuster eingebunden, so dass zwingend über das Verhältnis zwischen dem Ethischen und der Politik / dem Politischen nachgedacht werden muss (siehe Reese-Schäfer 1997). 3. Die Politik und / oder das Politische? Eine normative Ausrichtung der Politik (und des Politikverständnisses), so wie es beispielsweise die liberalistisch-deliberative Theorietradition impliziert, kann den Wert der Unterscheidung zwischen der „Politik“ und dem „Politischen“ nicht erkennen (siehe Bedorf 2010). Ohne Politik immer schon mit polizeilicher Ordnung zu identifizieren, wie es an manchen Stellen beispielsweise das Werk des französischen Philosophen Jacques Rancière nahelegt, steht Politik doch für die parlamentarisch organisierte Form des demokratischen Regierens (Rancière 2002). Das Politische dagegen verkörpert die „Logik des Widerstreits“, also ge- 4 Mit Moral werden meistens die in einer Gesellschaft vorhandenen Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien bestimmter Individuen, Gruppen oder Kulturen verstanden. Davon abzugrenzen ist Ethik, die als eine Disziplin der Philosophie verstanden werden kann, die moralische Prinzipien, Werte, Tugenden, Geltungsansprüche, Forderungen untersucht und oft auch formuliert und begründet (siehe Taureck 1992: 11 ff.). 78 Dietmar Wetzel rade die Infragestellung der politischen Ordnung - und wird dadurch zu einer notwendigen Korrekturmöglichkeit derselben: Das Politische [le politique] ist dieser dritte Raum des Streits, ein unbestimmter und stets sich wandelnder Punkt, an dem Polizei und Politik [la politique] zusammentreffen. Der Prozess der Politik beginnt mit der Identifikation eines Unrechts [le tort], einem fundamentalen Disput über unterschiedliche Kalkulationen des Gemeinschaftlichen.“ (Tanke 2011: 51; Übersetzung von Thomas Claviez). Dieses so verstandene Politische ereignet sich (wenn überhaupt! ) auf dem Gebiet der Politik immer nur im jeweils konkreten, historischen Fall (beschreibbar als Praxis), der darüber entscheiden muss, was überhaupt das Gemeinsame ausmacht und wer in diesem Zusammenhang etwas zu sagen und zu entscheiden hat. Mit einem solchen konzeptionellen Verständnis des Politischen verliert dieses seine gemeinhin angenommene Selbstverständlichkeit. Im Unterschied zur liberalen respektive diskursethisch beeinflussten politischen Theorietradition (allen voran Habermas) ist Rancières Begriff des Politischen einer des Konfliktes, der Unstimmigkeit, ja des Polemischen. Nicht die kommunikative Verständigung (wenn auch nur als kontrafaktisch angenommener Idealfall), sondern das Streithandeln bestimmt das Geschehen im Raum des Politischen. Politisches Handeln und Kommunizieren gehen nicht einfach in einem rationalen (Verfahrens-)Diskurs auf, den es „nur noch“ institutionell zu etablieren gilt. Erforderlich wird vielmehr in diesem Verständnis, welches Politik zugleich als Handwerk und Kunst begreift, eine Verschränkung von Argument und Metapher; dem politischen Handeln und der Kommunikation eignet demzufolge eine poetisch-polemologische Dimension. Mit Rancière können wir aber noch etwas Zusätzliches akzentuieren: Im politischen Konflikt bemühen sich mindestens zwei Parteien um die Herstellung einer gemeinsamen Situation und um deren Repräsentation. Genau dort, wo ein Teil der Menschen aus dieser Situation ausgeschlossen ist, muss insofern dieses Gemeinsame / Allgemeine - an das Jean-Luc Nancy mit Jacques Derrida so oft erinnert - als zunehmend prekär beschrieben werden, zumal unter globalisierten Bedingungen (Nancy 2004: 59). In drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen soll dieses Verständnis überprüft und etwas genauer ausgeführt werden. Das Ethische und das Politische 79 4. Drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen 4.1 Das Ethische und das Politische im Modus der Versöhnung Ethische Reflexionen haben sich weitestgehend geräuschlos in der Sphäre der Politik in unseren westlichen Gesellschaften etabliert. 5 Die in der Sozial- und Politischen Philosophie so gelagerten Ansätze, beispielsweise die von Jürgen Habermas, John Rawls und Michael Walzer, fokussieren auf eine Verschränkung von Ethik und Politik in der normativen Ordnung der Gesellschaft. 6 Im Hinblick auf Konstellationen des Politischen und des Ethischen erweisen sich die Menschenrechte und der Glaube an die Weltbürger_innen_rechte, unter Einschluss der Solidarität als dem Anderen der Gerechtigkeit (Habermas) sowie die multikulturell ausgerichtete Zivilgesellschaft (Walzer), als normative Fluchtpunkte. Allerdings fokussieren diese Ansätze eher binnengesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen und verharren dabei im Bereich der Politik. Verwaltet wird das proklamierte differenzempfindliche Universelle von einer (Diskurs-)Polizei und einer Gemeinschaft, die über die weltweite Einhaltung der Menschenrechte wachen. In diesem Kontext möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Paradoxie eines derartigen zeitgenössischen Verständnisses von Politik und Ethik lenken. So gibt es auf der einen Seite die wohlmeinenden Bemühungen und Begründungen von Idealisten, die beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich jedoch nur die Bürger_innen der zivilisiertesten Länder erfreuen, und auf der anderen Seite existiert die Situation der Entrechteten (beispielsweise der Flüchtlinge), die sich ebenso beharrlich über die Jahrzehnte verschlechtert hat. Ohne die Notwendigkeit des Beharrens auf Menschenrechte bestreiten zu wollen, existiert die reale Gefahr einer lediglich abstrakten Begründung und Proklamation der Menschenrechte, was nicht selten zu einem reinen Verkündigungspathos verkommt. Welche Rolle spielt dabei genauer die Ethik? Sie gerät sehr schnell zu einer Alibiveranstaltung beziehungsweise zu einer Unterstützungsgehilfin der politischen Ordnung der Herrschenden. So mutiert aber die bereits angeführte „Rückkehr der Ethik“ zu einer Versöhnung von Ethik (Moral) und Politischem, was „heute den wesentlichen Einsatz der vorherrschenden, sich auf Rawls oder Habermas berufenden politischen Reflexion darstellt. [Dies wiederum] ist als Versuch der demokratischen Ordnung zu verstehen, diesen ihr innewohnenden Mangel zu verneinen oder sich seiner imaginär zu entledigen“ (Šumič 1997: 233). Stattdessen rückt das (internationale) Recht in den Fokus dieser Form der politischen Theorie / Philosophie, das gleich- 5 Ethikkommissionen sind nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, dass es mittlerweile eine enge Verquickung zwischen der Sphäre des Ethischen und der Politik gibt. 6 Vgl. zum Folgenden meine eigenen Überlegungen (Wetzel 2003: 307), die ich hier geringfügig überarbeitet und aktualisiert habe. 80 Dietmar Wetzel sam für eine Einhegung der potenziellen Konflikte zwischen Ethischem und Politischem sorgen soll. 7 4.2 Das Politische und das Ethische als radikal-unauflösbarer Konflikt Die in der machiavellistischen Tradition stehenden Ansätze zeichnen sich häufig dadurch aus, dass diese den Anteil des Ethischen für gering, unwichtig oder sogar für schädlich halten. 8 Teile der sogenannten Postmoderne haben diese - neben Machiavelli an Nietzsche geschulte Auffassung - vertreten, auch deshalb, weil der Unterschied zwischen Ethik, Moral und Politik meines Erachtens nicht immer klar genug gezogen worden ist. Lange Zeit hat man sogar „der Postmoderne“ insgesamt das Fehlen jeglicher ethischen Dimension ihres Denkens attestiert. 9 Aber auch Denker wie der französische Philosoph Jacques Rancière verweigern den Anteil des Ethischen, obwohl dessen Werk insgeheim von einer Ethik tief durchzogen ist (siehe Wetzel / Claviez 2016: 141 ff.). Noch radikaler vertritt Jean-François Lyotard einen unauflösbaren Konflikt zwischen dem Ethischen und dem Politischen, und zwar im Namen des Singulären und des Heterogenen (Lyotard 1977). Diese Problematik entfaltet Lyotard vor allem in seinem Werk „Der Widerstreit“ (1989: 11 ff.). Mit Blick auf Habermas und dessen Konsensorientierung bestreitet Lyotard vehement die Artikulationsmöglichkeit eines jedweden Konsenses überhaupt. Für ihn lässt sich die Unmöglichkeit des Konsenses nur durch die Regeln der die öffentliche Kommunikation brechenden Idiome aussprechen. Dadurch wird aber auch jeder gemeinsame Sinn radikal in Frage gestellt. Im Gegensatz zur Habermasschen Voraussetzung einer Versöhnung von Ethik und Politischem hält Lyotard am radikalen Zwiespalt zwischen beiden Instanzen fest. Mehr noch, insofern der Ethik die Aufgabe zufällt, Auseinandersetzungen und Ungerechtigkeiten, kurz, jenes aufzufinden, was der hegemonistische Diskurs verleugnet, marginalisiert und ausschließt, kommt es notwendig dazu, daß der Eingriff der Ethik ins Politische Auseinandersetzungen verursacht. (Šumič 1997: 246) 7 Interessanterweise treffen sich an diesem Punkt zwei wichtige Antipoden des Ethisch- Politischen, Jacques Derrida und Jürgen Habermas (siehe Critchley 1994). 8 In ähnlicher Weise spricht Slavoj Žižek von einer „politischen Suspension des Ethischen“ (2005), bei dem das Ethische komplett zum Verschwinden gebracht wird, oder das Politische völlig ohne Bezug zum Ethischen konzipiert wird. 9 Es ist bezeichnend, dass Axel Honneth in seinem Aufsatz (1994) lediglich der Alteritätsphilosophie von Emmanuel Lévinas so etwas wie ethische Relevanz im Diskurs der Moderne zugestehen wollte. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich allerdings eher um Rezeptionsblockaden, die im Streit zwischen Moderne / Postmoderne für grosse Unkenntnis der jeweils anderen Seite gesorgt haben. Das Ethische und das Politische 81 Dabei besteht aber die Gefahr, den Blick für das Gemeinsame und das für alle Geltende zu verlieren. Mit anderen Worten: Bei einer starken (Über-)Betonung des Besonderen, des Einzigartigen sind so etwas wie „kontextuelle Universalismen“ 10 dann überhaupt nicht mehr denkbar. 4.3 Das Ethische und das Politische: ein produktiver Widerstreit In Anlehnung an Jelica Šumič und in gewisser Weise auch inspiriert durch die Arbeiten des psychoanalytischen Soziologen Thanos Lipowatz (1994, 1998) 11 möchte ich dafür plädieren, das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen im Sinne eines produktiven Widerstreits zu fassen, der letzten Endes immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Normativ gesprochen, darf sich das Verhältnis einerseits nie versöhnen (allenfalls kann es punktuelle Übereinkünfte geben), andererseits darf es auch nie zu einem vollständigen Bruch zwischen Ethischem und Politischem kommen. Was bedeutet dies aus einer sozialtheoretischen Position heraus, die sich für strukturelle Zusammenhänge interessiert? So, wie sich das Ethische immer wieder mit Ansprüchen aus dem Bereich des Politischen konfrontiert sieht, muss auch die Sphäre des Politischen (und der Politik) von Seiten der ethischen Reflexion kritisiert und unterbrechbar gehalten werden. Eine solche „Politik der Unterbrechung“ (siehe Ruby 2009; Liepold-Mosser 1995) sorgt dafür, dass beide Sphären in ihrer Irreduzibilität anerkannt und dementsprechend beibehalten werden. Weder wird eine Versöhnung des Ethisch-Politischen angestrebt, noch eine Loslösung der beiden Bereiche voneinander. Unter Aufrechterhaltung dieser Spannung kann es gelingen, so meine Überzeugung, sich der Konflikte in unserer globalisierten Welt anzunehmen und diese rational durchzudenken und Lösungsvorschläge aus einer konfliktsoziologischen Perspektive zu entwickeln. 12 5. Beispiel „Flüchtlingskrise“ aus ethisch-politischer Sicht-- ein notwendiger Widerstreit Am Beispiel der sogenannten „Flüchtlingskrise“ möchte ich auf das strukturelle Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen genauer zu sprechen kommen. Mein Argument lautet: Weder das Ethische noch das Politische dürfen aufeinander reduziert werden, sondern beide Sphären müssen in einem produk- 10 Das eben versucht Drucilla Cornell in ihrem Werk, das sich jenseits der Universalismus- Partikularismus-Debatte einschreiben möchte (siehe Wetzel 2003: 264 ff.). 11 Lipowatz argumentiert dabei hauptsächlich aus dem Blickwinkel einer an Jacques Lacan geschulten politischen Psychoanalyse. 12 Einige Überlegungen finden sich dazu in Bescherer / Wetzel (2016: 18-21). 82 Dietmar Wetzel tiven Austauschverhältnis bestehen bleiben, sei dieses im Einzelfall konflikthaft oder konsensuell auszubuchstabieren. Anders gesagt: Eine radikale oder unbedingte „Ethik der Gastfreundschaft“, wie sie wiederholt in Anschlag gebracht worden ist (Derrida 1997), ist angesichts einer drohenden rein ökonomisch-instrumentellen Betrachtung gesellschaftlicher Krisen notwendiger denn je. Diese wird allerdings nicht ausreichen, um die „Flüchtlingskrise“ adäquat in den Blick zu bekommen. Umgekehrt reicht es jedoch auch nicht aus, etwa im Sinne einer parlamentarisch organisierten Politik, für das Errichten von Grenzregimen einzutreten, um so Europa als „Wohlstandsinsel“ gegenüber fremden Ansprüchen abzusichern. Eine unbedingte Ethik der Gastfreundschaft darf sich nicht vollständig in Rechtsverhältnisse übersetzen lassen und somit Teil einer politischen Ordnung werden. Vielmehr muss eine „Ethik des Anderen“ gerade angesichts eines behaupteten Verschwindens des Anderen oder gar seiner „Austreibung“ (Han 2016) aufrechterhalten werden. Mittlerweile können wir wissen: In der „Flüchtlingskrise“ gibt es keine einfachen Lösungen: Unrealistisch, ja geradezu irrational, weil von der empirischen Erfahrung bereits mehrfach widerlegt, ist dagegen die Vorstellung, die Flüchtlingskrise durch Abschottung zu lösen. Solange es so gut wie keine Möglichkeit gibt, sich für eine legale Einwanderung zu bewerben, und Flüchtlinge an keiner europäischen Außengrenze einen Asylantrag stellen können, werden sich sowohl Einwanderer als auch Flüchtlinge weiter in die Schlauchboote setzen […] (Kermani 2016: 51). Heerscharen von Forschenden nehmen sich derzeit der Thematik Migration und Flüchtlinge an - und werden sich ihr weiter annehmen. Aus einer gesellschaftspolitisch-kritischen Sicht käme es darauf an, die ethische Dimension im Sinne einer Verantwortung und Gerechtigkeit für das Schicksal unschuldiger Menschen nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig dürfen die ethischen Impulse und Gefühle nicht in Recht und Gesetz überführt werden, weil dann droht, Ethik nur noch als Alibi oder als Ausrede zu instrumentalisieren. Aber auch rein politische Lösungen, die die ethische Dimension vernachlässigen oder für eine Versöhnung zwischen der Sphäre des Ethischen und des Politischen eintreten, erscheinen unbefriedigend, weil dadurch die Infragestellung der politischen Ordnung (und deren Lösungsvorschläge) qua Gesetz und Vorschriften droht verloren zu gehen. 6. Fazit In meinem programmatischen Beitrag habe ich das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem Politischen als eine (un-)mögliche Konstellation interpretiert. Nach einigen Reflexionen zur Sphäre und Bedeutsamkeit des Ethischen bin Das Ethische und das Politische 83 ich näher auf die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen eingegangen. Damit gelingt eine Öffnung des politischen Raums, was ermöglicht, die normative Ordnung der Politik in Frage zu stellen. Vor diesem Hintergrund habe ich drei verschiedene Konstellationen des Ethisch-Politischen problematisiert. Weder die Perspektive einer Versöhnung zwischen dem Ethischen und dem Politischen (1) noch eine radikal-unauflösliche Entgegensetzung beider Sphären (2) wurden als überzeugende Lösungen diskutiert. Vielmehr habe ich für einen produktiven Widerstreit zwischen dem Ethischen und dem Politischen (3) plädiert, so dass aus einer konflikttheoretischen Perspektive ein Changieren zwischen einem unmöglichen und möglichen Verhältnis als Ausweg verdeutlicht werden konnte. Anhand der aktuellen Flüchtlingskrise habe ich diese Position versucht fruchtbar zu machen und die Vorzüge eines solchen Verständnisses auszuweisen. Gerade in Zeiten pragmatischer Lösungsvorschläge erscheint es mir besonders wichtig, auf die unbedingte Ethik der Gastfreundschaft hinzuweisen, die sich jedoch nicht einfach in Rechtsverhältnisse in der politischen Ordnung übersetzen lassen darf. Allerdings darf der „Stachel der Ethik“ nicht derart verabsolutiert werden, so dass keine politischen Lösungen mehr möglich wären. In diesem Spagat müssen die politisch Verantwortlichen und die Zivilgesellschaft um gemeinsame Lösungen ringen. Literatur Arendt, Hannah (2016, [orig. 1943]). Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. Stuttgart: Reclam. Bedorf, Thomas (Hrsg.) (2010). Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp. Bescherer, Peter / Wetzel, Dietmar J. (2016). Urbane Sicherheit - Gerechtigkeitsansprüche in Theorie und Praxis am Beispiel von Bürgerbeteiligungen. In: Frevel, Bernhard (Hrsg.) Sicherheitsproduktion zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS , 11-30. Cornell, Drucilla (1991). Beyond Accomodation. Ethical Feminism, Deconstruction, and the Law. New York / London: Routledge. Critchley, Simon (1994). Habermas und Derrida werden verheiratet. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42: 6, 1025-1036. Derrida, Jacques (1997). 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Konrad Ott (2016) baut beispielsweise sein Buch zur Zuwanderungsethik als Streit zwischen gesinnungs- und verantwortungsethischen Argumentationen auf, Ulrich Körtner (2016) kritisiert kirchliche Stellungnahmen wegen ihrer unausgewogenen Überbetonung gesinnungsethischer Forderungen, die nicht verantwortungsethisch abgewogen seien, und auch Reiner Anselm bezieht sich auf Webers Unterscheidung, wenn er das Einhalten der „grundsätzlichen Differenz“ zwischen einer „auf den Bereich des Politischen und einer auf den Bereich der Weltanschauung bezogenen Herangehensweise“ (Anselm 2016: 166) einklagt. Auch wenn Gesinnungs- und Verantwortungsethik keine einander ausschließenden Einstellungen darstellen, werden sie doch, so Weber, von zwei „unaustragbar gegensätzlichen Maximen“ (1992: 70) bestimmt. Dieser Gegensatz steht auch im Mittelpunkt der Charakterisierung, den die genannten Ethiker von der Debatte geben. Gesinnungsethiker orientieren sich an der Reinheit moralischer Forderungen, deren Unbedingheit sie unbeirrt von faktischen Widerständen und unüberschaubaren Konsequenzen hochhalten, während Verantwortungsethiker sich wesentlich an die vorausschaubaren Folgen möglichen Handelns halten und Entscheidungen suchen, die an die realen Möglichkeiten der gegebenen Situationen angepasst sind. Gesinnungsethik erkennt Ott bei linksstehenden Politikern und Intellektuellen, bei Kirchenvertretern und zivilgesellschaftlichen Akteuren (vgl. Ott 2016: 18), die von den individuellen Menschenrechten der migrierenden und flüchtenden Menschen ausgehen und daraus weitreichende Aufnahme- und Schutzpflichten der westlichen Staaten folgern. Da diese moralischen Rechte in gesinnungsethischer Perspektive nur durch höherrangige moralische Gesichtspunkte eingeschränkt werden können und zudem demokratietheoretische Argumente es als unzulässig erscheinen lassen, dass Migrantenschicksale durch 86 Christof Mandry demokratische Gesetze bestimmt werden, an denen die Betroffenen selbst nicht mitgewirkt haben, führt die gesinnungsethische Position zur Forderung nach „offenen Grenzen“ und zu einer schrankenlosen Aufnahmepflicht der Zielländer (vgl. Ott 2016: 44). Dass eine solche Politik eine enorme Sogwirkung auf alle schlechter gestellten Menschen auf dieser Erde haben muss, stört Gesinnungsethiker nicht, da die Folgenabwägung kein Bestandteil ihres ethischen Räsonnements ist. Diese „Willkommenskultur“ greift aber nicht nur zu kurz, sie ist schlicht unverantwortlich, wenn nicht geradezu absurd (vgl. Ott 2016: 71), denn sie blendet, so Körtner, „mögliche Folgen für die Gesamtgesellschaft, das politische Gemeinwesen - und damit womöglich auch für die Flüchtlinge selbst“ (2016: 67) aus. Gesinnungsethiker denken auch deshalb zu kurz, weil sie nicht berücksichtigen, dass die völkerrechtlichen und ethischen Schutzforderungen gegenüber Flüchtlingen einen funktionierenden Staat und eine aufnahmebereite offene Gesellschaft voraussetzen, deren Funktionieren nur gewährleistet ist, wenn Schutz- und Aufnahmeleistungen definierte Leistungsgrenzen einhalten (vgl. ebd.). Dies hat gerade die verantwortungsethische Perspektive im Blick, die - ohne prinzipienlos zu sein - „stärker konsequentialistisch (also auf die Ergebnisse des Handelns bedacht), prudentiell (also klug und umsichtig) und pragmatisch“ (Ott 2016: 52) vorgeht. Verantwortungsethiker, die sich „in der Regel“ als „Verfassungspatrioten“ verstehen (ebd.), machen sich keine Illusionen über die Motive und Interessen von Menschen - weder bei den Bewohnern der Zielländer noch bei den Zuwandernden - und machen sich Sorgen um die öffentliche Ordnung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die globale wie regionale politische Stabilität. Daher kommen sie zu eher restriktiven Interpretationen der staatlichen Aufnahmepflichten gegenüber Schutzsuchenden und betonen die Souveränität des Staates gegenüber Wirtschaftsmigranten. Ott formuliert daher als verantwortungsethische Maxime „wirksame Abreize gegen Migration in den Grenzen der Menschenwürde zu setzen und Fluchtgründe im Rahmen des Völkerrechts zu reduzieren“ (2016: 74). Unter „Abreizen“ versteht er politische Maßnahmen, die die „Kosten“ für Migration erhöhen und es so unattraktiver machen, das Heimatland auf der Suche nach einem besseren Leben zu verlassen. Dies mündet bei ihm in eine 10-Punkte-Liste an Regulierungsvorschlägen, die der Migrations- und Asylpolitik schärfere verantwortungsethische Konturen verschaffen sollen und solche Dinge wie Einschränkung der Duldungspraxis, Überdenken der Leistungsstandards für Asylbewerber, Einschränkungen beim Familiennachzug etc. umfassen, aber auch die Forderung einschließen, gesinnungsethische Milieus in besonderer Weise an den Kosten zu beteiligen (ebd.: 80). Und Körtner hält es für verantwortungsethisch geboten, die Folgen des brain drains für die Herkunftsländer zu bedenken oder die stabilisierende Wirkung der massenhaften Abwanderung für die dortigen politischen Gesinnung oder Verantwortung 87 Regime, während es bei Zielländern einen „idealen Einwanderungsquotienten“ 1 gebe, dessen Überwie Unterschreiten negative Folgen für die jeweilige Gesellschaft habe (Körtner 2016: 71). Einwanderung müsse daher gesteuert und folglich auch begrenzt werden, denn eine „liberale und migrationsfreundliche Kultur, welche die Rechte von Minderheiten und Notleidenden achtet, ist fragil und bedarf ihrerseits des Schutzes“ (Körtner 2016: 76). Die bisherige Willkommenskultur, so gibt er zu verstehen, hat dies nicht hinreichend beachtet und war darin unverantwortlich, und die deutliche öffentliche Unterstützung seitens der Kirchen für die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel war „rechtspolitisch bedenklich“ und darüber hinaus auch „theologisch problematisch“ (ebd.: 73 f.). Die migrationsethische Diskussion ist, dieser Eindruck stellt sich ein, ziemlich festgefahren zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern, und dazu tragen nicht nur die unterschiedlichen Argumente bei, sondern auch die Tatsache, dass die Debatte nicht nur als ethische, sondern als moralische Auseinandersetzung geführt wird. Gesinnungsethiker werfen Verantwortungsethikern Prinzipienlosigkeit, und Verantwortungsethiker werfen Gesinnungsethikern Verantwortungslosigkeit vor. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Aufteilung des Diskurses in eben diese beiden Lager daran nicht unschuldig ist. Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, dass Webers Unterscheidung nur von jenen verwendet wird, die eine migrationsskeptische und restriktive Haltung einnehmen - sie sehen sich als verantwortlich, die anderen als weltfremde Idealisten (Weber selbst spricht von „Heiligen“. Kein „Gesinnungsethiker“ bezeichnet sich selbst so. Im Gegenteil, diese erkennen ihre Verantwortung gerade darin, den menschenrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden, die wohlhabende westliche Staaten und Gesellschaften gegenüber Menschen haben, die sich veranlasst sehen, ihre Heimat wegen Krieg, Verfolgung und wegen der ökonomischen und politischen Misere zu verlassen - zumal die Ursachen dieser Notlagen häufig zumindest mittelbar mit der europäischen Kolonialgeschichte oder den globalen Weltwirtschaftsverhältnissen zusammenhängen. Gesinnungsethiker würden wohl einwenden, dass sie sehr wohl verantwortungsethisch argumentieren, nämlich in Verantwortung gegenüber moralischen Standards, wie sie etwa in den Menschenrechten formuliert sind. Webers Unterscheidung hat also zunächst eine rhetorische Funktion, nämlich eine ethische Stellungnahme im Migrationsdiskurs zu positionieren und gegenüber anderen Stellungnahmen zu profilieren - mit der Unterscheidung ist eben ein moralisches Gefälle verbunden, das die gesinnungsethische Position der verantwortungsethischen als unterlegen darstellt. Hat Webers Unterscheidung über die rhetorische Funk- 1 Für die Berechnung des „Einwanderungsquotienten“ verweist Körtner auf Collier 2014. 88 Christof Mandry tion hinaus aber auch noch eine weitere Bedeutung, indem sie vielleicht doch auch eine metaethische Differenz markiert? Etwa, weil ethische Verantwortung unterschiedlich konzipiert wird? Verantwortung, ein ethischer Begriff, der im 20. Jahrhundert große Karriere gemacht und den Pflichtbegriff abgelöst hat, ist ein mehrstelliger Relationsbegriff. Unabhängig davon, wie viele Relationen er unterschiedlichen Verantwortungstheorien zufolge genau umfasst, besteht Einigkeit darüber, dass er mindestens dreistellig ist: „Jemand (Verantwortungs subjekt ) ist für etwas (Verantwortungs gegenstand ) vor oder gegenüber jemandem (Adressat oder Verantwortungs instanz ) verantwortlich.“ (Werner 2011: 543). Wer sich mit Webers Unterscheidung als Verantwortungsethiker sieht, muss folglich bestimmen, als wer er wofür und vor wem Verantwortung wahrnimmt. Erstaunlicherweise wird dies häufig nicht explizit gemacht. Bei Ott bleibt vor allem undeutlich, wie die Verantwortungsinstanz aufgefasst wird, während klar wird, dass er die Verantwortungsinstanz des Gesinnungsethikers, nämlich das einzelne Individuum als Menschenrechtssubjekt, als ungenügend empfindet. Sein Hinweis, der Verantwortungsethiker verstehe sich als Verfassungspatriot, kann hier nicht ausreichen, denn Verfassungspatriotismus zeichnet eine Bürgerrolle aus, aber es ist keineswegs damit bereits impliziert, dass sich die Verantwortung des Bürgers normativ allein auf die Verfassung bezieht. Dies ist auch aus der Verfassung heraus unplausibel, da die Präambel des Grundgesetzes das deutsche Volk in der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ sieht und zudem der Grundrechtekatalog mit der Gewissensfreiheit nicht nur voraussetzt, sondern auch anerkennt, dass Menschen sich moralischen Horizonten verpflichtet fühlen, die dem Grundgesetz vorausgehen. Verantwortungsethiker sehen sich ebenfalls den Menschenrechten - und damit auch dem Asylrecht - verpflichtet, wie Ott (2016: 52) unterstreicht. Allerdings richtet sich der Hauptkritikpunkt, den er gegen die gesinnungsethische Perspektive erhebt, gegen die so genannten „overridingness“ moralischer Normen, sodass Menschenrechte (und überhaupt universelle ethische Normen) als höchste Verantwortungsinstanz für ihn ausscheiden. Overridingness und moralischer Individualismus hängen Ott zufolge zusammen und bedeuten, dass Individuen über subjektive moralische Rechte verfügen, die mit normativer Priorität gegenüber anderen Gründen - etwa ökonomischer, sozialer oder kultureller Art - ausgezeichnet sind (vgl. ebd.: 31-34). In diesem Geltungsprimat besteht der Grund, dass gegenüber menschenrechtlichen Ansprüchen von Flüchtlingen kaum je eine Aufnahmebegrenzung zu legitimieren ist - eine verantwortungsethische Position lässt sich, wie Ott andeutet, auf dem Boden des moralischen Individualismus gar nicht entwickeln (ebd.: 32 f.). Wenn Hilfspflichten gegenüber Notleidenden aber mit Kant „unvollkommene Pflichten“ sind und das Maß ihrer Erfüllung folglich mit anderen Gütern bzw. Gesinnung oder Verantwortung 89 Folgenerwägungen abgeglichen werden darf (vgl. ebd.: 73), stellt sich doch die Frage, in welchem normativen Horizont dies geschieht, also das Wohl welchen Kollektivs dagegen in welcher Weise gewichtet wird. Da die verantwortungsethische Position eine ethische Position ist, erhebt sie den Anspruch, der gesinnungsethischen Perspektive gegenüber nicht nur effizienter oder ökonomisch vorteilhafter, sondern auch aus ethischen Gründen vorzuziehen zu sein; dazu bedürfte sie aber gerade einer verantwortungsethischen Vertiefung. Das lässt sich auch gegenüber Anselms theologisch-ethischer Zurückweisung der „gesinnungsethischen“ Priorisierung universeller Menschenrechte einwenden. Er folgert aus der reformatorischen Grundeinsicht, die er in der Grenzziehung zwischen Gott und Mensch erblickt, eine grundsätzliche Differenz zwischen religiös-universalen und politisch-partikularen Sphären. Diese Grenzziehung ist ihm zufolge das fundierende Prinzip sowohl des reformatorischen Glaubens als auch der modernen Politik (Anselm 2016: 163 f.). Gesinnungsethisch würde in der Flüchtlings- und Migrationspolitik auf grundsätzliche Teilhaberechte der Migranten verwiesen, die als vorstaatliche Rechte von jeder staatlichen Ordnung anzuerkennen seien. Damit werde jedoch die reformatorische Leitidee der Differenz zwischen Religion und Politik unterlaufen, denn „hier wird letztlich eine aus einer religiösen Überzeugung abgeleitete regulative Idee - nämlich die der grundsätzlich gleichen Rechte aller - als direkte Leitlinie auf den Bereich der Politik übertragen, jedoch so, dass sie von der Politik nur rezipiert, nicht aber begründet oder modifiziert werden kann“ (ebd.: 166). An Anselms Position überrascht nicht nur, dass die Einsicht in die normative Gleichheit aller Menschen als exklusiv religiöse Einsicht aufgefasst wird, die dem politischen Raum nur auferlegt werden kann, und als sei sie nicht ein Axiom der modernen demokratischen Politik; es verwundert auch, wie beliebig der normative Horizont bleibt, in dem er die Verantwortung des Politikers einordnet. Der Politiker müsse nämlich, so Anselm, für die Folgen seines Tuns einstehen und abwägen, welche Konsequenzen er für das Erreichen seiner Ziele, die ihm wichtig sind und die „seiner eigenen Überzeugung entspringen“, tragen und welche Kompromisse er eingehen möchte (ebd.). Kann man zu Beginn des 21. Jahrhunderts über die legitimen Ziele eines Politikers wirklich nicht mehr sagen, als dass sie eben individuell-authentisch seien - wird man nicht bei einem demokratischen Politiker erwarten dürfen, dass seine Zielsetzungen auch mit universalistischen Orientierungen etwas zu tun haben? Anselms pathetische Formulierung, der Raum des Politischen müsse von universal-normativen Zumutungen frei gehalten werden, indem im reformatorischen Geist „der Absolutsetzung von ethischen Positionen im Namen des Absoluten“ (ebd.: 167) entgegengetreten wird, und sein Hinweis auf „transparente Verfahren“ führen hier nicht weiter, da es unmittelbar zur ethischen Verantwortung gehört, 90 Christof Mandry dem demokratischen Diskurs gehaltvolle normative Positionen erst einmal zuzuführen. Hilft hier vielleicht ein Blick zurück auf Weber weiter? Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für Weber das Herzstück seines auf einem Vortrag basierenden Aufsatzes über „Politik als Beruf “. Verantwortungsethik ist für ihn weniger ein Ethik-Typ als ein bestimmtes Ethos, nämlich das Ethos jenes Politikers, der das Gegenstück zum sozialistischen oder kommunistischen Politiker darstellt, der um der Revolution willen jedwede Folgen seines Handelns in Kauf zu nehmen gewillt ist. Gleichwohl ist sein Politiker ein moderner Politiker, der im „Interessenbetrieb“ der Politik klug agiert und auf die Kooperation mit anderen angewiesen ist (Weber 1992: 38). Weber erkennt nämlich, dass die moderne Politik (seiner Zeit) auf einen Parteiapparat angewiesen ist und zudem mit einer Massengesellschaft zu tun hat. Politiker müssen die Unterstützung der Massen für sich gewinnen und außerdem den Parteiapparat hinter sich bringen, den sie benötigen, um ihre Wähler zu erreichen. Daher ist Webers Politiker eine charismatische Führungspersönlichkeit (ebd.: 59 f). Was den Politiker aber eigentlich ausmacht, und worin auch die Faszination von „Politik als Beruf “ liegt, ist der Umgang mit Macht - Macht, die darin spezifisch politisch ist, dass sie mit „Gewaltsamkeit“ verbunden ist (ebd.: 68). „Das spezifische Mittel der legitimen Gewaltsamkeit rein als solches in der Hand menschlicher Verbände ist es, was die Besonderheit aller ethischen Probleme der Politik bedingt.“ (ebd.: 77). Welches Politikerethos entspricht dem? Drei Eigenschaften sind laut Weber für den Politiker entscheidend: „Leidenschaft - Verantwortungsgefühl - Augenmaß“ (ebd.: 62), wobei Weber die Leidenschaft sofort versachlicht zur „Hingabe an eine Sache“. Da er das Verantwortungsgefühl ebenfalls auf die „Sache“ bezieht, wäre zu erwarten, dass diese „Sache“ nun als Verantwortungsinstanz auch inhaltlich entfaltet wird. Weber weist zunächst jedoch nur auf die Kombination zwischen Leidenschaftlichkeit, also der inneren Verbundenheit und Hingabe an die Sache, und der Distanziertheit und Selbstkontrolle hin, die den echten Politiker vom „Dilettanten“ unterscheidet. Zwar kann die „Sache“ nicht einfach die Macht sein, für die der Politiker brennt (ebd.: 64). Das Was der Sache ist Weber zufolge aber ganz gleichgültig und kann nationaler, religiöser, moralischer oder auch rein alltäglich-pragmatischer Natur sein, sofern nur eine authentische, persönliche Bindung daran besteht: „Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der Politiker Macht erstrebt und verwendet, ist Glaubenssache.“ (ebd.: 65). Nun fragt sich freilich, inwiefern ein „Verantwortungsgefühl“ dieser Sache gegenüber hinreichend konturiert werden kann, wenn sie so wenig bestimmt ist. Reduziert sich die Verantwortung damit nicht auf den Willen, die „Sache“ zu realisieren? Und wie unterscheidet sich dies vom Gesinnungsethiker und vom Diktator? Für Weber Gesinnung oder Verantwortung 91 liegt dies in der Art des „Verantwortungsgefühls“. Falsch und „würdelos“ ist es für Weber, die Politik dadurch zu moralisieren, dass „Schuldige“ für Geschehnisse gesucht werden, die nun einmal geschehen sind. Ganz offenbar steht ihm hier 1919 die Frage nach der deutschen Kriegsschuld vor Augen. Politik wird darin „unsachlich“, so Weber, dass mit Schuld für Vergangenes operiert wird, anstatt „sachlich“ die Gestaltung der Zukunft in den Blick zu nehmen (ebd.: 66). Das Einbringen moralischer Gesichtspunkte in die Politik hat nämlich selbst politische Folgen, insofern es einerseits in der Regel nur Interessen maskiert, andererseits die Gewichte im Austarieren der Interessen verschiebt. Die Verantwortung des Politikers besteht nun gegenüber der Sache und gegenüber der Zukunft, und um dieser Verantwortung willen muss er die rückwärtsgewandte Moral (à la Gesinnungsethik) außen vor lassen und mit allen Interessenverfolgungsmethoden rechnen, um so weit wie möglich seiner „Sache“ eine Zukunft zu sichern (ebd.: 71). Damit konzentriert sich das ethische Kernproblem der Politik darauf, welche „Mittel“ (noch) zu rechtfertigen sind, um die „Sache“ wirkungsvoll zu verfolgen, bzw. welche Nebeneffekte akzeptabel sind, um das Ziel zu erreichen, und es macht den Verantwortungsethiker aus, dass er, anders als der Gesinnungsethiker, diese Frage überhaupt zulässt. Freilich wird man einwenden, dass dies nicht unwesentlich davon abhängt, worin eigentlich die „Sache“ besteht, denn nur für entsprechend hochrangige Ziele sind bestimmte Nachteile nur in Kauf zu nehmen, und es ist irgendeine Norm (ein Maßstab) erforderlich, an der die Hochrangigkeit gezeigt wird. Weber beantwortet diese Fragen nicht; vielleicht hielt er sie nicht in einer Weise für beantwortbar, die auf allgemeinen Prinzipien oder Abwägungsregeln beruht. Mehrere Aussagen weisen aber darauf hin, dass er darin ein schwerwiegendes Problem erkannte, das gewissermaßen die klare Zuordnung zu Gesinnungs- oder Verantwortungsperspektive wieder übersteigt. Er ist sich nämlich darüber im Klaren, dass derjenige, der sich Politik zum Beruf macht, damit der moralischen Korrumpierbarkeit aussetzt, die sein Abwägen verantwortungslos werden lässt. Daher muss der Politiker Verantwortung für sich selbst übernehmen: Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewusst zu sein. Er lässt sich, ich wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern. (ebd.: 73) Politik gefährdet gewissermaßen das „Heil der Seele“ - sie belastet das Gewissen, weil sie zu Kompromissen nötigt, von denen nicht immer klar ist, ob sie von der „Sache“ her tatsächlich noch gerechtfertigt sind. Das ist für Weber übrigens ein Risiko, das sowohl gesinnungsals auch verantwortungsethisch gegeben ist; der Verantwortungsethiker macht sich dieses Risiko allerdings klar, der Gesin- 92 Christof Mandry nungsethiker wähnt sich dagegen gefeit (ebd.: 79). Am Ende der Abwägungen ist aber auch der Verantwortungsethiker auf die „Gesinnung“ verwiesen - wer nicht verantwortungslos handeln will und vom Diktator unterscheidbar bleiben möchte, muss eine Grenze kennen, an der jedes Abwägen halt macht. Weber formuliert es wieder in religiöser Sprache: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich“ - diese Situation muss „für jeden von uns, der nicht innerlich tot ist, irgendwann eintreten können. Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen den echten Menschen ausmachen, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann .“ (ebd.: 81). Wann aber „gesinnungsethisch“ und wann „verantwortungsethisch“ gehandelt werden soll, dafür gibt es Weber zufolge keine Regel - wieder eine Frage der persönlichen Verantwortung. Webers ethisches Panorama ist damit zwar unter ethischen Gesichtspunkten nicht voll ausgestaltet, aber doch vielgestaltig. Es ist unterbestimmt, wo es um die Qualität der „Sache“ geht, die den Politiker bewegt; schließlich ist es eine grundlegende ethische Frage, für welche Ziele man sich einsetzt. Die Frage, wofür es sich lohnt, politisch zu arbeiten, kann nicht darauf reduziert werden, worin man die eigenen Interessen erkennt oder was politisch am ehesten Erfolg verspricht. Außerdem ist es keine rein individuelle Frage, die dem eigenen Lebensentwurf zuzurechnen ist; es gibt auch politische Ziele, die ethisch illegitim sind. Weber scheint sich dessen dort bewusst zu sein, wo er auf den Persönlichkeitswandel hinweist, dem sich der Politiker aussetzt und den er verantworten muss. Schließlich muss auch die politische Kompromissfähigkeit Grenzen haben, wenn sie nicht prinzipienlos und darin unverantwortlich sein soll. Wem gegenüber besteht aber die Verantwortung, sich nicht korrumpieren zu lassen und verantwortlich Kompromisse zu schließen? Weder das Persönlichkeitsethos noch die Legitimität der Kompromissfähigkeit können ja aus der „Sache“ gefolgert werden, der sich der Politiker verpflichtet fühlt. Offenbar muss der normative Bezugspunkt der Verantwortungsethik stärker expliziert werden - da wird dann der Gegensatz zur gesinnungsethischen Perspektive obsolet. Was folgt daraus für die migrationsethische Debatte? Webers Überlegungen zum Ethos des Berufspolitikers nehmen ernst, dass Politiker in einem Betrieb sich zu behaupten versuchen, der seinen eigenen Gesetzen folgt und sich wesentlich um den Zugang zu, den Einsatz und den Erhalt von zwangsbewehrter Macht dreht. Sein Beharren auf der - wie gezeigt recht differenzierten - Verantwortungsethik sucht gerade das Spezifikum eines politischen Ethos zu erfassen, das als Rollenethos des Politikers selbst politischen Charakter hat. Dem gegenüber ist zu unterstreichen, dass der gewöhnliche Intellektuelle oder der akademische Ethiker, der nicht in den politischen Betrieb und in eine Parteiorganisation eingebunden ist, nicht in der Rolle des Politikers Gesinnung oder Verantwortung 93 spricht, sondern - obzwar nicht unpolitisch - an einem öffentlichen Diskurs teilnimmt, vor dessen Hintergrund erst das politische Kompromissfinden und Entscheidungsfinden stattfindet. Dieser Diskursprozess findet seinerseits nur dann in ethisch verantwortbarer Weise statt, wenn alle ethischen Dimensionen der Problematik vertreten und erörtert werden. Den politischen Kompromiss kann eine ethische Diskussion nicht vorwegnehmen; sie muss Sorge tragen, dass alle relevanten Argumente - auch jene, die in der Politik unbeliebt sind, weil sie politischen Mehraufwand verursachen - vorkommen und so weit als möglich Gehör finden. Dafür muss Ethik aber Ethik bleiben und darf sich nicht in die Rolle des Politikers hineinphantasieren. Es ist gar nicht zu erkennen, wieso es unpolitisch wäre oder unverantwortlich sein sollte, menschenrechtliche Ansprüche oder ethische Begrenzungen nationalstaatlicher Souveränitätsansprüche zu vertreten, wie jene Autoren zu denken scheinen, die ihre Position als „verantwortungsethisch“ charakterisieren. Viel eher wird eine Diskussion benötigt, die in einem übergreifenden Sinne verantwortungsethisch ist - wie sie bei Weber wenigstens als Problembewusstsein zu erkennen ist - und die „gesinnungsethische“ Aspekte einschließt. Dazu gehört wesentlich die Frage nach der Verantwortungsinstanz, die bei der Migrationsproblematik ja offenkundig nicht primär im einzelstaatlichen Gemeinwohlhorizont zu lokalisieren ist. Das Bestehen von Staaten, denen gegenüber Individuen mit ihren Wünschen und Interessen auftreten, ist ja gerade Teil der Problembeschreibung und kann nicht einseitig die Perspektive der Beurteilung formulieren. Anders gesagt: Die migrationsethische Debatte muss sich einerseits davor hüten, unreflektiert eine Position einzunehmen, die sich mit dem „Wir“ der Aufnahmegesellschaft identifiziert und in der Torhüter-Rolle überlegt, was (und wer) „uns“ zuzumuten ist. Dieses prinzipielle Machtgefälle zwischen dem Staat und den ankommenden Individuen wird andererseits zwar korrigiert, aber nicht überwunden, wenn die migrationsethische Positionierung anwaltschaftlich zugunsten der Migrierenden erfolgt. Advokatorisches Eintreten für die wenig artikulationsfähigen Rechte der Flüchtenden und Zukunftsuchenden ist in der Migrationsdebatte bitter nötig (und darin zutiefst politisch), aber ändert nichts daran, dass das grundlegende Setting - hier der mächtige Staat, dort das ohnmächtige Individuum - nicht in Frage gestellt wird. Christoph Menke weist darauf hin, dass mit dem Konflikt zwischen dem Individuum als Inhaber subjektiver Rechte und dem Staat als Machtkollektiv die Problemstruktur perpetuiert wird - das Verhältnis „zwischen einem Wir und einem Du (oder einem Ihr und einem Ich), das nicht ein Mitglied ist“ (Menke 2016). Die ethische Debatte müsste sich darauf konzentrieren zu erörtern, wie eine gerechte Anerkennung von Menschen als politischen Wesen zu denken und zu realisieren ist, ohne am menschenrechtlichen Dilemma stecken zu bleiben, dass Migranten „eigentlich“ Teilhaberechte 94 Christof Mandry haben, diese zu ihrer Realisierung aber das erfordern, was ihnen gerade abgeht, nämlich Teil zu sein. Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für eine solche umfassendere Wahrnehmung der ethischen Problematik nicht geeignet; da sie auch diesseits davon irreführend ist, sollte auch auf ihren bloß rhetorischen Gebrauch verzichtet werden. Literatur Anselm, Reiner (2016). Ethik ohne Grenzen? Zeitschrift für evangelische Ethik 60: 3, 163-167. Collier, Paul (2014). Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München: Siedler. Körtner, Ulrich H. J. (2016). Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik. In: Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.) Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise. Freiburg i. Br.: Herder, 66-81. Menke, Christoph (2016). Zurück zu Hannah Arendt - die Flüchtlinge und die Krise der Menschenrechte. Merkur 70: 7, Heft 806, 49-58. Ott, Konrad (2016). Zuwanderung und Moral. Stuttgart: Reclam. Weber, Max (1992). Politik als Beruf [1919]. Mit einem Nachwort von Rolf Dahrendorf. Stuttgart: Reclam. Werner, Micha H. (2011). Verantwortung. In: Düwell, Marcus / Hübenthal, Christoph / Werner, Micha H. (Hrsg.) Handbuch Ethik. 3. Aufl. Stuttgart / Weimar: Metzler, 541-548. Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? Zur Aktualität von Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit Alexander Hauschild Ein kleines sozio-politisches bzw. ethisches ‘Rätsel’ zu Beginn: Am 8. März 2014 verschwindet eine Maschine der Malaysia Airlines, Flugnummer MH 370, mit 239 Menschen an Bord über dem indischen Ozean vom Radar; die mediale Berichterstattung über diese Tragödie ist immens und die Suche nach dem verschollenen Flugzeug, an der sich 26 Nationalstaaten beteiligen - entweder da sich ‘ihre’ Staatsbürger_innen unter o. g. Menschen befanden, oder da ‘ihr’ Staatsgebiet von der Suchaktion betroffen ist -, avanciert zur teuersten der Luftfahrgeschichte (siehe Reidy 2015b). Knappe vier Monate später, am 28. Juni 2014, verschwindet ein Schiff mit 243 Menschen an Bord im Mittelmeer; mediale Berichterstattung über diese Tragödie ist nahezu nicht existent - die erste Meldung bezüglich der angenommenen Havarie dieses Schiffes lässt einen Monat auf sich warten - und an der Suche nach dem verschollenen Schiff beteiligen sich ganze null Nationalstaaten (ebd.). Zwei, zumindest auf den ersten Blick, hinreichend ähnliche Fälle, die doch derart divergierende internationale Reaktionen hervorrufen: was also unterscheidet sie? Eric Reidy (2015b), Mitbegründer eines Teams aus Journalist_innen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das tatsächliche ‘Schicksal’ dieses „Ghost Boat“ sowie der Menschen an Bord zu ermitteln 1 , hat diesbezüglich eine eigene, erste Antwort: The people who fly in airplanes are affluent - rich enough to afford a plane ticket, at least - and have the legal status to board flights and cross international borders. They are not running, desperate for their lives because of oppression, war, or violence. Letzteres war allerdings bezüglich der Passagier_innen des „Ghoast Boat“ der Fall: Die Mehrheit von ihnen stammte aus Eritrea und floh vor dem dortigen Regime quer durch die sudanesische Sahara nach Libyen, um dort ein Schiff 1 Siehe: https: / / medium.com/ ghostboat (Stand: 10. 10. 2016). nach Italien zu besteigen (ebd.). Vor diesem Hintergrund hat Steve Saint Amour, geschäftsführender Direktor der Eclipse Group, eines Unternehmens, das sich auf Such- und Bergungsmissionen in Tiefwasser - z. B. nach verungückten Flugzeugen oder Schiffen - spezialisiert hat, eine noch triftigere Anwort auf oben stehende Frage: „In the case of the Ghost Boat, you only have stateless people […]. Which country has a national interest to find out what happened? “ (ebd.) Für Staatenlose interessieren sich (inter-)nationale politische Entscheidungsträger_innen schlichtweg nicht; zumindest nicht genug, als dass es von Interesse wäre, was mit ihnen geschieht. Hauptsache, sie bleiben ‘anderswo’. Wo (und wie) ist unerheblich. Insbesondere aber müssen sich EUropäische Entscheidungsträger_innen diesen Vorwurf gefallen lassen: Das Mittelmeer ist seit (spätestens) 2014 zur tödlichsten Flucht-/ Migrationsroute der Welt geworden - mit respektablem Abstand: 69 Prozent aller weltweit während der Flucht / Migration erfassten Todesfälle ereignen sich im Mittelmeer ( IOM 2016a: 4). Angesichts dessen hat es den Anschein, als sei Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit, obschon sie sich eigentlich auf die historische Periode von 1918 bis in die frühen 50er-Jahre bezieht, auch heute noch hochaktuell sowie bezüglich der von ihr identifizierten Effekte der Staatenlosigkeit radikal verwirklicht. Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit: Die Recht- und Weltlosigkeit der Staatenlosen Hannah Arendt erkannte früh, noch während der Zweite Weltkrieg in seinem vollen, furchtbaren Gange war, und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Fluchterfahrungen sowie der Erlebnisse ihrer Bekannten und Freund_innen, dass sich, auch abseits des deutschen Vernichtungskrieges, eine sozio-politische Entwicklung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen hatte (siehe z. B.: Arendt 1989a, 1989b): Bereits im Jahre 1943 konstatierte sie in ihrem Aufsatz „Wir Flüchtlinge“, dass „die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen“ habe (Arendt 1989b: 8 f.). Zwar waren ihre Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt noch allein - bzw. mindestens vorrangig - auf jüdische Menschen respektive die, die von der nationalsozialistischen Administration als solche kategorisiert worden waren, bezogen (vgl. ebd.: 21); es schienen hier jedoch schon Einsichten auf, die Arendt (2011, 2013: Kap. 9) in Hinblick auf das ‘generelle’ Phänomen der Staatenlosigkeit erst Jahre später einer historischen wie systematischen Analyse unterziehen sollte. Unter anderem als Reaktion auf die 1948 durch die Generalversammlung der Vereinen Nationen verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erschien nur ein Jahr später, 1949, 96 Alexander Hauschild Arendts bahnbrechender Aufsatz „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in welchem zum ersten Mal ihre berühmte Formel vom „Recht, Rechte zu haben“ auftauchte (Arendt 2011). In ihrem 1951 veröffentlichten Großwerk The Origins of Totalitarianism (1955 erstmals in deutscher Sprache als Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ), griff Arendt (2013: Kap. 9) diesen Ansatz dann erneut und in vertiefter Weise auf. Den maßgeblichen Ausgangspunkt von Arendts (2011, 2013: Kap. 9) historisch-empirischer Untersuchung der sozio-politischen Genese der Staatenlosigkeit bildet die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, mit dessen Ende auch die letzten Vielvölkerstaaten zusammenbrachen und der moderne Nationalstaat sich anschickte, seinen Triumphzug als (bis heute) hegemoniale Form gesellschaftlicher Organisation zu Ende zu führen. Auf diesen Krieg folgte eine Reihe an sozio-politischen wie sozio-ökonomischen Krisen (Inflationen, Massenarbeits- und -erwerbslosigkeit, zahlreiche blutige Bürgerkriege, Pogrome etc.), die schließlich im Zweiten Weltkrieg kulminierten (Arendt 2013: 559 f.). Im Zuge dieser Entwicklungen wuchs die Zahl der aus ihrer ‘Heimat’ Vertriebenen und / oder Fliehenden sukzessive an, sodass „mehr und mehr Menschen in Situationen gerieten, die weder von dem politischen noch von dem gesellschaftlichen herrschenden System vorhergesehen waren“ (ebd.: 560). Es waren exakt jene Menschen, die es, gerade weil die internationale Staatenwelt keine sie betreffende Regel kannte, gerade weil solche Menschen aus der Perspektive einer nationalstaatlich ‘sauber’ geordneten Welt eigentlich gar nicht vorstellbar waren, gar nicht hätten existieren dürfen; Menschen, die, bar jeglicher Staatsbürger_innenschaft, innerhalb des internationalen Staatensystems mindestens de jure scheinbar gar nichts und niemand mehr waren: Wen immer die Ereignisse aus der alten Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat, auf der die Nation geruht hatte, herausgeschlagen hatten, blieb heimat- und staatenlos; wer immer einmal die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert waren, verloren hatte, blieb rechtlos. (ebd.) Nicht ihre Flucht oder Migration per se waren historisch ‘neue’ Phänomene, sondern dass diese Menschen im Anschluss keinen ‘Platz’ auf der nationalstaatlich geordneten politischen Landkarte mehr finden konnten. Diese „Unmöglichkeit, eine neue [Heimat] zu finden“ (ebd.: 607 f.) war allerdings keine praktische, sondern vielmehr eine theoretisch-juridische, die sich aus der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Verrechtlichung des internationalen Staatensystems ergab: es „war kein Raumproblem, sondern eine Frage politischer Organisation“ (ebd.: 608). Durch ihre Flucht erschufen sich die Staatenlosen vor dem Hintergrund des internationalen Staatensystems - quasi performativ - selbst als die oben genannte „neue Gattung von Menschen“ (Arendt 1989b: 8 f.), Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? 97 98 Alexander Hauschild die aufzufangen bzw. wieder aufzunehmen die internationale Staatenwelt bestenfalls rechtlich nicht in der Lage, schlechtestenfalls nicht gewillt war. Das spätestens seit der Antike - zumindest hinreichend - gängige Asylwesen/ -recht brach aufgrund der schieren Zahl der Flüchtlinge und Staatenlosen, ihrer (politischen) Unschuld - sie waren ja nicht im eigentlichen Sinne politisch Verfolgte -, sowie der vorangeschrittenen internationalen Verrechtlichung zusammen (Arendt 2013: 383 f., 586 f., 609 f.). Wer als Staatenlose_r also ihre / seine Staatsbürger_innenschaft und damit ihren / seinen legalen Status verloren hatte, hatte diesen im doppelten Wortsinne global verloren, da „wer nicht mehr in das Netz internationaler Gegenseitigkeitsverträge gehört, weil für ihn keine Regierung und kein nationales Gesetz zuständig ist, aus dem Rahmen der Legalität überhaupt herausgeschleudert ist und aufgehört hat, eine juristische Person zu sein“ (ebd.: 609). Vor diesem Hintergrund sieht Arendt in den gängigen juristischen Kategorien „Flüchtlinge“, „ de jure “ und „ de facto Staatenlose“ nichts als ‘Taschenspielerei’: Nach dieser ‘Logik’ hätten die Flüchtlinge schlicht repatriiert werden, während den Staatenlosen simplerweise ein neuer Staat hätte zugewiesen werden müssen, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Jedoch fand sich bezüglich der Staatenlosen schlichtweg kein Staat, der sie hätte aufnehmen und somit, juristisch gesprochen, (neu) ‘patriieren’ bzw. ‘naturalisieren’ wollen, und ebenso schwierig gestaltete sich die ‘Repatriierung’ der Flüchtlinge, weshalb sie in der Konsequenz allesamt de facto staatenlos blieben (ebd.: 582 f.). Das lag zum einen daran, dass „alle Flüchtlinge praktisch staatenlos sind und nahezu alle Staatenlosen faktisch Flüchtlinge waren“ (ebd.: 582), und zum anderen, „[w]as die Repatriierung anlangt, […] ihre Unmöglichkeit ja gerade das [ist], was legal den Flüchtling konstituiert“ (ebd.: 583, Fn.: 20). Denn ‘Repatriierung’ bedeutete im Falle der Staatenlosen ja nicht mehr - oder eben weniger -, als die „Rückverweisung in ein »Heimatland«, das entweder den Repatriierten nicht haben und als Staatsbürger nicht anerkennen will oder umgekehrt ihn nur allzu dringend zurückwünscht, weil er ein Flüchtling ist“ (ebd.: 579). Insofern subsumiert Arendt die Kategorie der „Flüchtlinge“ letztlich unter die der „Staatenlosen“ (ebd.), genauso wie sie die Unterscheidung zwischen de jure und de facto Staatenlosen für sinnlos bzw. hinfällig erachtet: ihr geht es nicht um die juristische ‘Faktenlage’, sondern um die tatsächliche Lebenswirklichkeit und -praxis, also nicht darum, ob jemand im rechtmäßigen Besitz eines Passes - und damit de jure einer Staatsbürger_innenschaft - ist, sondern darum, ob diese Person ebendiese Staatsbürger_innenschaft de facto , mit allen für sie konstitutiven Rechten und Pflichten, auch effektiv wahrnehmen und aktualisieren kann bzw. könnte. Der Besitz eines Passes, der einen Menschen dazu schlicht nicht ermächtigt, weil der entsprechende Staat diesen Menschen dazu schlicht nicht ermächtigt, ist Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? 99 der Besitz eines wert- und inhaltslosen Stückes Papier oder sonstigen Materials, insofern es in diesem Fall vollkommen unerheblich ist, ob ich ‘Papiere habe’ oder nicht habe, also ein buchstäblicher sans papiers bin. In der Konsequenz ist der de facto-Verlust der Staatsbürger_innenschaft also gleichbedeutend mit dem Verlust der Menschenrechte: Arendt (ebd.: 621) zieht die „Parallele zwischen dem Naturzustand, in dem es »nur« Menschenrechte gibt, und dem Zustand der Staatenlosigkeit, in welchem alle anderen Rechte verlorengegangen sind“, um aufzuzeigen, dass beide Zustände, zumindest in Bezug auf die in sie versetzten Subjekte, letztlich identisch sind; dass also dort, wo Menschen sich ‘nur noch’ auf die Rechte berufen können, auf die sie allein aufgrund der bloßen Tatsache ihres Menschseins Anspruch haben sollen, überhaupt keine Rechte mehr existieren, dass diese Menschenrechte, welche Menschen vorgeblich qua Geburt bzw. ‘Natur’ zuteil werden, letztlich ‘leer’ bzw. nichtexistent sind. Die Staatenlosen, die durch den Verlust einer effektiven Staatsbürger_innenschaft in diesen vermeintlichen ‘Naturzustand’ versetzt wurden, konnten am eigenen Leib und Leben in Erfahrung bringen, „daß die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins ihre größte Gefahr war“ (ebd.: 620). Ebenjene „abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins“ hätte jedoch eigentlich hinreichen müssen, sie für die Inanspruchnahme ‘der’ Menschenrechte zu qualifizieren. Folglich, so Arendt, hat Staatenlosigkeit in Massendimensionen […] die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heißt Rechte, die unabhängig sind von jedem besonderen politischen Status und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen. (ebd.: 607) Da dies nachweislich nicht der Fall war, bleibt Arendt (ebd.: 619 f.) nur - quasi als logische Konsequenz -, den allgemeinen Zusammenbruch der Menschenrechte zu konstatieren. Denn was Staatenlosigkeit laut Arendt (2011, 2013: Kap. 9) generell kennzeichnet ist ein Zustand absoluter Recht- und Weltlosigkeit , wobei Rechtlosigkeit eine spezifische Form politisch-rechtlicher Deprivation konstituiert, während es sich im Falle der Weltlosigkeit um eine Form existenzieller Deprivation handelt, die erst vor dem Hintergrund von Arendts ‘breiterer’ philosophischer Position bzw. politischer Theorie besser verständlich wird. Als Konsequenzen der Staatenlosigkeit sind Recht- und Weltlosigkeit eng miteinander verwoben; aus Arendtscher Perspektive muss die Weltlosigkeit der Staatenlosen notwendigerweise auf ihre Rechtlosigkeit folgen bzw. mit ihr einhergehen, und ist, wie sich zeigen wird, noch weithin gravierender als Rechtlosigkeit dies ohnehin schon ist. 100 Alexander Hauschild Die Rechtlosigkeit der Staatenlosen Das für Arendt (2011, 2013: Kap. 9) an der Rechtlosigkeit der Staatenlosen so neue wie bezeichnende war ihre Absolutheit , welche nicht zuletzt auch aus der globalen Durchsetzung und Verrechtlichung des internationalen Staatensystems resultierte, die ihnen schlichtweg keinen ‘Platz’ auf dieser Erde ‘übrig ließ’: schon zuvor waren einzelne (Menschen-)Rechte zweifellos substantiell verletzt oder nicht gewährt worden - und dies gleichsam in großer Zahl und schwerwiegender Weise; was allerdings ein bisher ungekanntes Phänomen darstellte, waren Menschen, die mit einem Mal all ihre (Menschen-)Rechte - quasi en-bloc - verloren bzw. dieser beraubt wurden, und für die - genauer: gerade weil für sie - keine politische Gemeinschaft mehr existierte, in welcher Subjekte sich wechselseitig Rechte überhaupt erst hätten garantieren können. Auf diese Situation waren ‘die’ Menschenrechte in ihren zahlreichen Festschreibungen und Formulierungen von letztlich partikularen Rechten nicht vorbereitet bzw. ausgerichtet: Denn eine Verletzung substantieller (Menschen-)Rechte bzw. einer Teilmenge von ihnen bedeutet zwar eine (Menschen-)Rechts verletzung , nicht aber einen buchstäblichen Verlust dieser Rechte (Arendt 2013: 611). Eine Rechtsverletzung kann überhaupt nur unter der Voraussetzung eintreten, dass ebendiese Rechte intakt bzw. tatsächlich existent sind, also von Rechtssubjekten beansprucht werden; ein tatsächlicher Rechtsverlust hingegen bedeutet ihre Nicht(-mehr-)existenz, vor deren Hintergrund diese Rechte überhaupt nicht mehr verletzt werden können, da es schlicht nichts mehr gibt, was verletzt werden könnte. Aber auch im Falle des tatsächlichen Verlustes einzelner Rechte konnte noch nicht von einem absoluten Rechtsverlust gesprochen werden, solange zumindest einige Rechte hinreichend intakt blieben; das Phänomen absoluter Rechtlosigkeit trat erst mit den Staatenlosen auf, die plötzlich ohne jede politische und somit Rechtsgemeinschaft dastanden, innerhalb der ihnen Rechte als solche erst hätten gewährt werden können (ebd.: 611 f.). Vor dem Hintergrund der sozialen Ontologie von Rechten sowie ihrem relationalen, gruppenbezogenen Charakter als sozio-politische Institution (vgl. ebd.: 622; 2011: 404, 407) verloren Staatenlose mit ihrer politischen Gemeinschaft also nicht einfach einzelne Partikularrechte, sondern vielmehr alle ihre Rechte, ihren persönlichen Status als Rechtssubjekt, und wurden somit absolut rechtlos (Arendt 2011: 402). Und vor dem Hintergrund des Verlustes dieser politischen Gemeinschaft konnte auch der Genuss bestimmter ‘Rechte’ nicht über die Lage der Staatenlosen hinwegtäuschen: denn wurden einer / m Staatenlosen spezifische substantielle Rechte (zumindest ihrem Inhalt nach) zuteil, dann nie als Rechte , die sie / er legitimerweise hätte beanspruchen oder einklagen können; vielmehr konnte sie / er sich darüber ‘glücklich schätzen’. Wurden ihr / ihm Rechte nicht Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? 101 gewährt oder wieder entzogen, so musste sie / er sich damit abfinden und hatte keine Handhabe dagegen. Wurden Staatenlosen also ‘Rechte’ gewährt, geschah dies gegebenenfalls unfreiwillig und sozusagen eher ‘zufällig’, oder aufgrund der Freiwilligkeit und des ‘guten Willens’ der verantwortlichen Institutionen. ‘Rechte’ aber, deren Gewährleistung keine Pflicht ist, sondern von Freiwilligkeit und / oder ‘gutem Willen’ abhängt, können wohl nach keiner juridischen Definition tatsächlich als Rechte gelten: Die partikularen Rechte, die der Staatenlose in nichttotalitären Ländern genießt und die sich vielfach mit den proklamierten Menschenrechten decken, können an der fundamentalen Situation der Rechtlosigkeit nicht das geringste ändern. Sein Leben, das unter Umständen durch private oder öffentliche Wohlfahrtsorganisationen über Jahrzehnte erhalten wird, verdankt er der Mildtätigkeit privater oder der Hilflosigkeit öffentlicher Instanzen, in keinem Fall aber hat er ein Recht darauf, da es kein Gesetz gibt, das die Nationen zwingen könnte, ihn zu ernähren. (Arendt 2013: 613) Auf diese „fundamentale Situation der Rechtlosigkeit“ musste konsequenterweise die zweite, existenzielle Deprivation folgen: die Weltlosigkeit der Staatenlosen. Denn der „Raub der Menschenrechte“ ist für Arendt (2011: 399) gleichbedeutend damit, „daß einem Menschen der Standort in der Welt entzogen wird, durch den all seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen Wirksamkeit“. Dieser „Standort in der Welt“ aber ist aus Arendtscher Perspektive fundamental für menschliches Sein und Leben. Arendts Begriffe „Welt“ und „Weltlosigkeit“ Die Arendtsche „Welt“ bezeichnet all das, was von und zwischen Menschen geteilt und dadurch erst konstituiert wird, was ihnen sowohl einen „Erscheinungsraum“ als auch einen „Handlungsraum“ bietet, in den sie hineingeboren werden, und den sie in Folge durch Handeln bzw. Tätigkeit gestalten und verändern können (Arendt 1960). Die Existenz dieser, also der ‘Welt’ ist einerseits wesentlich abhängig von menschlicher Tätigkeit und ihrer Verstetigung: „seinem Herstellen von Dingen, […] seinem handelnden Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften“ (ebd.: 27). Andererseits ist ‘Welt’ den Menschen „eine Heimat in dem Maße, indem sie menschliches Leben überdauert […] und als objektiv-gegenständlich gegenübertritt“ und somit erst die Bedingung der Möglichkeit eines relativ beständigen, stabilen Lebens (ebd.: 14). Ohne diese ‘Welt’ könnten Menschen ihr fundamental humanes, spontanes und initiierendes existenzielles Potenzial, das Arendt mit „Natalität“ bezeichnet und das letztlich besagt, dass der Mensch „der Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst“ ist (ebd.: 166), gar nicht entfalten, weil er - als potenziell neuer 102 Alexander Hauschild Anfang - immer in eine bereits existente, hinreichend beständige Welt hineingeboren wird, und ein (neuer) Anfang , im Sinne des Einleitens tatsächlicher Veränderung durch Handeln, immer nur vor dem Hintergrund einer hinreichend persistenten sozio-politischen Welt und Wirklichkeit denkbar und verständlich ist.‘Welt’ ist den Menschen auch ein Raum der Öffentlichkeit, ein Erscheinungs- und Handlungsraum und letzlich der Raum der menschlichen, also geteilten ‘Wirklichkeit’: in der ‘Welt’ befindet sich bzw. aus der ‘Welt’ besteht der ‘Stoff’, auf den Menschen einzig gemeinsam Bezug nehmen können; ‘Welt’ konstituiert inhaltlich wie strukturell das alleinige „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (ebd.: 174), ist sie doch das, was buchstäblich „inter-est“ bzw. ‘von „inter-esse“‘ ist oder überhaupt sein kann, also das „was dazwischen liegt und Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinde[t] und zugleich voneinander scheide[t]“ (ebd.: 173). Die Arendtsche ‘Welt’ ist also ein Zwischen (den Menschen) bzw. das tatsächlich und buchstäblich ‘Zwischen-Menschliche’, der eigentliche und einzige Ort sowie gleichsam die Bedingung der Möglichkeit menschlicher, sozio-politischer Inter aktion, den / die sie mit der Metapher eines „Tisch[es]“ umschreibt (ebd.: 40); und zwar „in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist“ (ebd.: 52). Dieser ‘Tisch der Welt’ ist damit der einzige Ort, öffentlich auf- und in Erscheinung zu treten, Ort des (Miteinander-)Sprechens und (Miteinander-)Handelns, also der Ort der Politik, da Handeln die Arendtsche „politische Tätigkeit par excellence“ ist (ebd.: 16), und der Arendtschen Pluralität, des „Zusammen- und Miteinander-Sein[s] der Verschiedenen “ (Arendt 1993: 9), das den „Sinn“ von Politik, Freiheit, im und durch Handeln aktualisieren soll (ebd.: 28, vgl. 2000: 215 f.). Auf diesem Wege sind Menschen dann auch erst in der Lage, sich durch öffentliches Sprechen und Handeln wechselseitig zu individuieren: Arendt (1960: 189 f.) war der „Grundüberzeugung, daß menschliches Zusammenleben nur darum und in dem Maße sinnvoll ist, als es in einem »Teilnehmen und Mitteilen von Worten und Taten« [Aristoteles, A. H.] besteht“. Nach dem Vorbild der attischen Polis und ihrer Agora, quasi ein Idealbild des Arendtschen öffentlichen Raums, konnte so auch der Flüchtigkeit bzw. Vergänglichkeit menschlicher individueller Existenz und ihrer Taten vorgebeugt werden, indem durch hinterlassene Spuren, das Erinnern und Tradieren von Taten und Bedeutungen in der Polis eine Art „organischen Andenkens“ möglich wurde (ebd.: 191). Diese Praxis „sollte verhindern, daß die »Auftritte« der Sterblichen - die sich gemeinhin vor einem »Publikum« abspielen, das zeitlich und räumlich begrenzt ist […] - jemals aus dieser weltlichen Wirklichkeit wieder verschwinden“ (ebd.). Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? 103 ‘Welt’ nimmt im Arendtschen Denken folglich eine zentrale Stellung ein und insofern muss der Verlust der ‘Welt’, ‘Weltlosigkeit’, furchtbare existenzielle Folgen für menschliches Leben haben. „Weltentfremdung“ bzw. „Entweltlichung“ bedeutet für Arendt einerseits, dass „gewisse Bevölkerungsschichten ihres Platzes in der Welt beraubt und dem Kampf um das nackte Leben ausgesetzt werden“ (ebd.: 249), und andererseits das „Absterben des Erscheinungsraums und die ihm folgende Verkümmerung des Gemeinsinns“ (ebd.: 204). Zwar untersucht Arendt (1960) diese Entwicklungen vorrangig als allgemeine Tendenzen kapitalistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse; jedoch äußern sie sich in Bezug auf Staatenlose in ihrer wohl radikalsten Form, da sie in ihrem Fall absolut sind oder zumindest werden können, und ihnen somit der Zugang zur und damit die Teilhabe an der (zwischen-)menschlichen ‘Welt’ und ‘Wirklichkeit’ gänzlich verwehrt ist. Die Weltlosigkeit der Staatenlosen Durch ihre Flucht verlieren die Staatenlosen zuallererst ihre „Heimat“ und damit gleichsam „die Umwelt […], in die man hineingeboren ist und innerhalb deren man sich einen Platz in der Welt geschaffen hat, der einem sowohl Stand wie Raum gibt“ (Arendt 2013: 607). Da ihnen fortan ein neuer ‘Platz in der Welt’ verweigert bzw. der Weg zu diesem versperrt ist, verlieren sie gleichsam „alle jene Bezüge zur Welt und alle jene Bezirke menschlichen Daseins […], die das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit sind und ausschließlich der von Menschen gebildeten Welt entstammen“ (Arendt 2011: 402 f.) und das bedeutet für Arendt (ebd.: 401) nicht weniger, als den „Verlust aller menschlichen Beziehungen“. So muss auf die absolute Entrechtung der Staatenlosen also die absolute ‘Entweltung’ bzw. ‘Entweltlichung’ folgen, ihre Ausstoßung aus der ‘Welt’ der Menschen, in der allein sie ein, im Arendtschen Sinne, menschliches, ‘gutes Leben’ führen können, das durch Freiheit, Pluralität und die Möglichkeit zum (politischen) Handeln gekennzeichnet ist. Insofern ihre Meinungen, Überzeugungen und Handlungen - quasi ‘für alle Welt’ - irrelevant geworden sind, sind sie „politisch gesprochen, lebende Leichname“ (Arendt 2013: 614). Recht- und Weltlosigkeit bedingen sich also in letzter Konsequenz wechselseitig; oder anders gesprochen: wenn die Rechtlosigkeit der Staatenlosen sie erst einmal weltlos gemacht hat, haben sie aufgrund ebendieser Weltlosigkeit, die sie der gesicherten Möglichkeit zum ‘sinnvollen’ - also gehörten sowie tatsächlich in Betracht gezogenen - Sprechen wie Handeln und damit der Teilnahme an Politik beraubt, keine bzw. kaum eine Chance, wieder Teil einer politischen Gemeinschaft und damit Teil der Menschheit und / oder menschlichen Welt zu werden - sie bleiben ‘reduziert’ auf das Abstraktum ihres bloßen Da-aber-nicht-in-der-Welt-Seins 104 Alexander Hauschild (ebd. 624). Die Staatenlosen erleiden folglich einen „Namens- und Identitätsverlust“ (ebd.: 597), da sie ihren ‘Standort in der Welt’ verlieren und sich fortan nicht mehr durch Sprechen und Handeln in einer Öffentlichkeit vis-a-vis Anderer individuieren können, und werden dabei auch ihrer sowie jedweder politischen Gemeinschaft und damit „politisch (aber natürlich nicht personal) der Fähigkeit beraubt, Überzeugungen zu haben und zu handeln“ (ebd.: 614) - ihre (Meinungs- und Handlungs-)Freiheit ist nicht die eigentlich politische bzw. in einer politischen Gemeinschaft wechselseitig wie institutionell garantierte; ihre Freiheit ist einzig die „Narrenfreiheit“ (ebd.: 613). Dieser ‘Raub’ aber muss für Arendt der schlimmste aller möglichen Raube sein, betrifft er doch exakt die Fähigkeiten des Menschen, die Arendt für die grundlegenden bzw. grundlegend menschlichen erachtet. In diesem Sinne konstituiert Weltlosigkeit eine im Arendtschen Sinne genuin existenzielle Deprivation. Denn insofern menschliche Existenz das Potenzial mannigfaltiger - aber im Arendtschen Sinne letztlich weltbezogener - Kapazitäten und Möglichkeiten konstituiert, muss Weltlosigkeit dieses Potenzial notwendigerweise radikal beschneiden: Der Verlust der Relevanz und damit der Realität des Gesprochenen involviert in gewissem Sinne den Verlust der Sprache, zwar nicht in einem physischen Sinne, wohl aber in dem Sinne, in dem Aristoteles den Menschen als ein Lebewesen definierte, das sprechen kann; denn hiermit meinte er nicht die physische Kapazität, die auch Barbaren und Sklaven zukam, sondern die Fähigkeit, im Zusammenleben durch Sprechen, und nicht durch Gewalt, die Angelegenheiten des menschlichen und vor allem des öffentlichen Lebens zu regeln. Die Narrenfreiheit der Internierungslager wie die Verfolgungen, die unabhängig sind von dem, was einer sagt oder meint, machen gleicherweise den Betroffenen mundtot in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Und an diesen Verlust reiht sich der Verlust der öffentlich gesicherten Gemeinschaft überhaupt, der Fähigkeit zum Politischen, die, wie immer man sie deutete, seit Aristoteles ebenfalls als Kennzeichen des Menschseins überhaupt galten. Hier treten mit anderen Worten Verluste ein, die wir im Sinne der abendländischen Tradition nur als Verlust einiger der essentiellen Charaktere menschlichen Lebens überhaupt verstehen können. (ebd.: 615) Diese Form existenzieller Deprivation, der Gemeinschaftslosigkeit und Unverbundenheit mit der Welt und damit die Unmöglichkeit, in die geteilte Öffentlichkeit einer politischen Gemeinschaft hineinzuhandeln, mündet letzlich in einer unvergleichlichen „Flüchtigkeit“ (ebd.: 621): Staatenlose „sterben, ohne eine gemeinsame Welt errichtet zu haben, in der jeder seine Spuren hätte hinterlassen können und die insgesamt der menschlich verständliche Ausweis ihrer Existenz hätte sein müssen“ (ebd.). Nichts - zumindest im Arendtschen Sinne - bleibt von ihnen, wenn sie sterben, nichts kann verhindern, dass sie ‘auf ewig’ „aus dieser weltlichen Wirklichkeit wieder verschwinden“ (Arendt 1960: 191) - es ist Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? 105 posthum geradezu, als seien sie nie ‘da’gewesen, als hätten sie nie existiert, als gäbe es gar kein posthum . Und auch schon zu Lebzeiten kommt diese ihre „Standlosigkeit in der gesamten Menschenwelt“ letzlich einer „Überflüssigkeit“ gleich (Arendt 2013: 612), was ohne Zweifel große Risiken für ihr Leben birgt: Erstens aufgrund ihrer Rechtlosigkeit, denn „das Recht auf Leben wird erst in Frage gestellt, wenn die absolute Rechtlosigkeit - und das heißt, daß niemand sich bereit findet, Rechte für diese bestimmte Kategorie von Menschen zu garantieren - eine vollendete Tatsache ist“ (ebd.: 612); zweitens aufgrund ihrer Weltlosigkeit, denn „[i]hre Unbezogenheit zur Welt, ihre Weltlosigkeit ist wie eine Aufforderung zum Mord, insofern der Tod von Menschen, die außerhalb aller weltlichen Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stehen, ohne jede Konsequenzen für die Überlebenden bleibt“ (ebd.: 624). Und dies wiederum birgt eine Gefahr für die ‘Welt’ selbst: eine „Abstumpfung unseres Gewissens“ (Arendt 2011: 405): Denn es könnte geschehen, daß es uns […] gar nicht mehr recht ins Bewußtsein dringt, daß überhaupt ein Mensch ermordet worden ist, wenn er praktisch vorher bereits aufgehört hat zu existieren. (ebd.) ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer-− die Arendtschen Staatenlosen des 21. Jahrhunderts Die Literatur bezüglich Hannah Arendts Analyse der Staatenlosigkeit, ihrer Menschenrechtskritik wie ihrem „Recht, Rechte zu haben“ ist zu zahlreich und vielschichtig, um hier gebührend Erwähnung - geschweige denn Behandlung - zu finden. Jedoch konnte in einigen jüngeren Arbeiten meines Erachtens überzeugend gezeigt werden, dass Arendts Perspektive, aller juridischen und sonstigen Veränderungen auf internationaler Ebene zum Trotz, noch immer aktuell und fruchtbar ist (z. B. Gündoğdu 2012, 2015, Parekh 2008, 2013). Zwei maßgebliche Brennpunkte der Kritik an Arendts Ansatz seien aber ebenso erwähnt: Zum einen der Vorwurf, sie vertrete ein essentialistisches, (quasi-)aristotelisches Menschenbild (z. B. Buchwalter 2014: 180, Lechte / Newman 2012: 528, Rancière 2011); zum anderen der Vorwurf, Arendts Perspektive unterschätze bzw. unterminiere die tatsächlichen Akteursqualitäten und Möglichkeiten (politischen) Handelns auf Seiten der Staatenlosen (z. B. Beltrán 2009, Bradley 2014, Krause 2008, Rancière 2011). Obschon ich diese zwei Kritikpunkte für - mindestens in Teilen - angebracht und in Hinblick auf eventuelle Anpassungen bezüglich Arendts Ansatz hilfreich halte, bin ich doch der Überzeugung, dass Arendts Analyse der Staatenlosigkeit auch heute noch einschlägig ist. Zum Ersten: 106 Alexander Hauschild Freilich ist Arendts politische Theorie mit einem spezifischen Menschenbild verbunden bzw. von ebendiesem bestimmt - oder umgekehrt -, welches sich zweifellos niemand notwendigerweise zu eigen machen muss; trotzdem ermöglicht gerade diese ihre Perspektive den wertvollen Fokus auf die gravierende existenzielle Deprivation der Weltlosigkeit, die mit der Rechtlosigkeit der Staatenlosen einhergeht. Zum Zweiten: Auch wenn mir die Betonung der Ansprüche von Staatenlosen auf individuelle (Handlungs-)Autonomie und Akteursstatus als legitimer Weg erscheint, dem vermeintlichen Dilemma der Arendtschen Recht- und Weltlosigkeit der Staatenlosen zu begegnen, gehen doch alle diese Ansätze letzlich davon aus, dass sich Staatenlose bereits auf dem Territorium eines bestimmten (National-)Staats bzw. innerhalb einer bestimmten politischen Gemeinschaft befinden, in dem / r sie politisch aktiv werden könn(t)en. Letzteres aber ist in Hinblick auf die ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer nicht gegeben, weshalb ich der Auffassung bin, dass die von Arendt identifizierte Recht- und Weltlosigkeit auf sie in radikaler Weise zutrifft, dass in ihnen - quasi ‘ par excellence ’ - die Arendtsche Staatenlosigkeit des 21. Jahrhunderts Gestalt annimmt. Anlässlich zweier Schiffsunglücke vor Lampedusa im Oktober 2013, welche Hunderten ‘Bootsflüchtlingen’ das Leben kosteten, hat die International Organization for Migration ( IOM ) das Missing Migrants Project 2 ins Leben gerufen, den ersten globalen Datensatz bezüglich Todesfällen, die sich während Migrationsbewegungen ereignen ( IOM 2016a: 25). Laut dieser Datenerhebung kamen im Jahr 2014 3279 ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer ums Leben ( IOM 2016b). Im darauffolgenden Jahr waren es bereits 3770 Menschen, was das Jahr 2015 zum bisher tödlichsten für ‘Bootsflüchtlinge’ auf dem Mittelmeer werden ließ ( IOM 2016a: 5 f.). Jedoch schickt sich das Jahr 2016 an, seinem Vorjahr den Rang abzulaufen (ebd.: 23). Bis zum 11. Oktober 2016, 9: 00 Uhr MEZ , starben bereits 3611 ‘Bootsflüchtlinge’ auf ihrem Weg über das Mittelmeer ( IOM 2016b). Damit kann dieses seinen ‘Titel’ als tödlichste Flucht-/ Migrationsroute der Welt mit einem Anteil von 80(! ) Prozent an allen Todesfällen während der Migration weltweit im Jahr 2016 nach bisherigem Stand bestätigen ( IOM 2016a: 23). Wohlgemerkt handelt es sich bei diesen Zahlen allerdings tendenziell eher um ungefähre bzw. Minimal zahlen, da eine unbekannte Anzahl von ‘Bootsflüchtlingen’ buchstäblich einfach ‘untergeht’ und somit undokumentiert bleibt (ebd.: 3); und bei dieser Anzahl könnte es sich unter Umständen sogar um die Mehrheit der Todesfälle handeln (ebd.: 4) - wir wissen es einfach nicht. Zwar können die von der IOM veröffentlichten Zahlen als mehr oder minder gesichert gelten, letztlich sind sie aber nicht mehr als ‘vorsichtige’ Schätzungen; keine nationale oder 2 Siehe: http: / / missingmigrants.iom.int/ (Stand: 10. 10. 2016). internationale Behörde verfügt über genaue Informationen bzw. Daten (ebd.: 24 f.). Vor diesem Hintergrund muss die IOM (2016a: 1) bezüglich der ‘Bootsflüchtlinge’ im Mittelmeer konstatieren: Among the numbers reported by IOM are bodies found and people known to be missing and presumed dead. Countless more are never heard of; they simply disappear. Perhaps the families of these dead know, and perhaps they do not. […T]he majority, even among deaths that are known of, are never officially identified. Diese Menschen verschwinden einfach, ohne dass wir davon wüssten, ohne dass wir überhaupt wüssten, dass sie jemals existiert haben - und potenziell ohne dass dies überhaupt auch nur irgendjemand weiß. Sie sind die ‘Überflüssigen’ von Heute, die, deren Existenz scheinbar unwesentlich ist. Die ‘Bootsflüchtlinge’ des Mittelmeeres exemplifizieren somit in geradezu idealtypischer Weise die Arendtschen Staatenlosen des 21. Jahrhunderts. Und dies hat nicht zuletzt die Europäische Union zu verantworten, die ihnen einen legalen und damit sicheren Weg in eine politische Gemeinschaft verweigert. Erinnern wir uns nun abermals an das „Ghost Boat“ mit 243 staatenlosen Menschen an Bord: Ist es tatsächlich möglich, dass solch ein Schiff mitsamt allen Passagier_innen einfach ‘verschwindet’, ohne dass wir auch nur irgendetwas, geschweige denn Genaues, davon und / oder darüber wüssten? Für Yafet aus Eritrea, Jahrgang 1987, ist dies noch immer unverständlich. Er kann es nicht verstehen. Seine Frau Segen, damals 24, war gemeinsam mit ihrer Tochter Abigail, damals zwei Jahre alt, an Bord dieses Schiffes. Er und ihre zweite Tochter Shalom, die heute vier Jahre alt ist, blieben im Sudan zurück. Er weiß nicht, ob Segen und Abigail noch leben, weiß nicht, was ihnen geschehen ist. Das letzte Mal, dass er Segens Stimme hörte, war am 27. Juni 2014 via Telefon; einen Tag bevor das Schiff in See stechen sollte. Sie wollten über Italien nach Norwegen reisen, wo der Asyl- und Familienzusammenführungsprozess vergleichsweise ‘zügig’ vonstatten geht. Dann wollten Yafet und Shalom den beiden folgen. Eric Reidy (2015a) vom „Ghost Boat“-Kollektiv hat Yafet mehrmals interviewt und seine Geschichte niedergeschrieben; er hat versucht, ihm dabei zu helfen, das ‘Schicksal’ seiner Frau und Tochter aufzuklären - bis heute vergeblich. Aber vielleicht kann uns Yafet selbst dabei helfen, das eingangs erwähnte ‘Rätsel’ etwas aufzuklären; trotz all seiner Fragen: »Two hundred and forty-three people disappeared. Young people. Women. Children … No one cares about it. Even the world doesn’t care about it,« Yafet said to me over the phone. He was angry, frustrated. Recht- und Weltlosigkeit auf dem Mittelmeer? 107 108 Alexander Hauschild »If you remember Charlie Hebdo in Paris, 14 or 15 people, they got shot by some terrorists … The world stopped for 14 people, but white people, Europeans. The same thing for Malaysia Airlines,« Yafet continued. A passenger jet with 239 people on board goes down and »all the world, all the countries, were trying to find what happened. But, in our case, nothing … because we are black? I don’t know why. It’s really hard. What can I say? « Yafet sighed. »We are human.« (Reidy 2015a) Yafet hat Recht: sie sind Menschen. Aber mit Hannah Arendt wissen wir, dass das scheinbar nicht reicht. Obwohl es sollte. Literatur Arendt, Hannah (1960). Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer. Arendt, Hannah (1989a). Gäste aus dem Niemandsland. In: Hannah Arendt. Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1, hrsg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin: Edition Tiamat, 150-153. Arendt, Hannah (1989b). Wir Flüchtlinge. 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Juli 2001 in Frankfurt-Nied im Main aufgefundenes, über Jahre misshandeltes und schließlich ermordetes, zum Todeszeitpunkt etwa 15 bis 16 Jahre altes Mädchen bezeichnet, dessen Identität bis heute unbekannt ist. Am 31. Juli 2001 gegen 14.50 Uhr wurde von Passanten die ca. 157 cm große und nur 38,5 kg schwere Leiche eines ungefähr 15bis 16-jährigen Mädchens gefunden. Die Leiche wies eine Vielzahl an Verletzungen am ganzen Körper auf, die auf jahrelange schwerwiegende Misshandlungen schließen lassen, welche nicht ärztlich versorgt wurden. Unter anderem wurde bei der Obduktion eine Fehlstellung der Arme in Folge verheilter Brüche, zahlreiche längere Narben im Bereich von Beinen, Rumpf und Stirn, Brandnarben, die von Verbrennungen mit Zigaretten herrühren können, sowie links ein durch Verletzungen entstandenes Blumenkohlohr festgestellt. Es wird davon ausgegangen, dass das Mädchen ungefähr zwei Jahre jünger aussah und dunkelbraune, ca. 30 cm lange Haare hatte. Die Augenfarbe war nicht mehr feststellbar. Das Gebiss war unbehandelt und hatte noch keine Weisheitszähne. Vermutlich lag das Mädchen 12-24 Stunden im Wasser. Der Tod trat durch zwei durch stumpfe Gewalt hervorgerufene Rippenbrüche, die Lunge und Milz verletzten, höchstens drei Tage vor der Auffindung ein. Die Leiche wurde verschnürt und mit einem Sonnenschirmständer beschwert in den Main geworfen. Die Ermittlungen ergaben, dass das Mädchen vermutlich zwischen der Griesheimer Staustufe und der Wörthspitze ins Wasser geworfen wurde. Unter anderem aufgrund eines zur Verschnürung gehörenden schalähnlichen Gegenstandes wird davon ausgegangen, dass das Mädchen ursprünglich aus dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet stammt, aber schon 1 Der Ausdruck „weggeworfenes Leben“ bezieht sich zum einen auf die Art und Weise der „Entsorgung“ des Körpers, nimmt aber auch Anleihen an Zygmunt Baumans 2005 veröffentlichtem Buch: „Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne“. Der englische Titel: „Wasted Lives: Modernity and Its Outcasts“ bringt den Aspekt der Verschwendung, des unbedachten Wegwerfens noch deutlicher zum Ausdruck. 112 Karin Amos jahrelang im Rhein-Main-Gebiet gelebt haben muss, vielleicht als Dienstbotin. Ermittlungen vor Ort liefen jedoch ins Leere. Da eine Einreise nicht nachgewiesen werden konnte, wird nicht ausgeschlossen, dass das Mädchen über Diplomatenkreise eingereist ist, in denen Ermittlungen aufgrund der diplomatischen Immunität schwierig sind. Die Leiche wurde, finanziert durch Spendengelder der Ermittlungsbeamten, auf dem Friedhof Heiligenstock begraben. Der Fall erfuhr auch noch nach zehn Jahren eine erhebliche Rezeption. Auch ich lebte damals im Rhein-Main-Gebiet, war als Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Frankfurt tätig und kann mich noch gut an die Schlagzeilen erinnern, die den grausigen Fund verkündeten. Ich erinnere mich auch an Gespräche mit Freundinnen und Bekannten, in denen wir uns mit dem Schicksal des Mädchens befassten. Dabei wurde uns klar, dass, wann immer ein solch tragischer „Fall“ im wörtlichen Sinne an die Oberfläche gespült wird, gleichzeitig auch das im Alltag verdrängte Wissen darüber wieder in den Umlauf der gesellschaftlichen Kommunikation gebracht wird, dass es Menschenhandel und Menschenrechtsverletzungen gibt, dass Menschen in furchtbare Abhängigkeiten geraten können, dass auch avancierte Gesellschaften mit ihren komplexen Regelwerken und Regulierungsapparaten nicht immer verhindern können, dass Menschen unter bestimmten Umständen gänzlich unter dem „Radar der Behörden“ leben, wenn dieser Fall auch nicht vorgesehen ist. Die Betroffenheit und persönliche Empörung wurde zusätzlich gesteigert, weil ein sehr junger Mensch, der eigentlich den besonderen gesellschaftlichen Schutz genießen sollte, der Grausamkeit und dem Sadismus mindestens eines anderen Menschen über lange Zeit hilflos ausgeliefert war und offensichtlich sprichwörtlich mutterseelenallein verstarb. Alle großen Tageszeitungen haben damals über den Fall berichtet und er war, wie der Wikipedia-Artikel anmerkt, zehn Jahre später, also 2011, noch nicht aus der Diskussion verschwunden. Auch die Polizei ist noch heute mit dem Fall befasst. In einem von Katharina Iskandar verfassten Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Juli 2011, heißt es: Es sind dicke Ordner, gefüllt mit Fotos, Tatortberichten und kriminalwissenschaftlichen Gutachten, die belegen, dass das Mädchen ursprünglich aus Pakistan oder Afghanistan stammt, aber die Jahre vor seinem Tod im Rhein-Main-Gebiet gelebt haben muss. Seil [der Name des zuständigen Beamten, KA ] kennt inzwischen jedes Detail dieses grausamen Verbrechens. Und er sagt, dass dieser Fall nicht nur ihn, sondern auch seine Kollegen nach wie vor sprachlos mache. Denn das Mädchen muss ein unvorstellbares Martyrium durchlebt haben. Folter seit der frühesten Kindheit. „Es gibt eigentlich keine Worte dafür“, sagt Seil. „Nicht zuletzt deshalb geben wir die Ermittlungen nicht auf". Das „Mädchen aus dem Main“ 113 Für Kinder und Jugendliche wurden im Laufe der europäischen Moderne und vor allem mit der Entwicklung von Nationalstaaten zu modernen Sozialstaaten eigene Vorkehrungen getroffen, um sie zu schützen, aber auch, um sie in die Gesellschaft einzuführen, sie mit den Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten, die sie für die gesellschaftliche Teilhabe brauchen. Erziehung und Sozialisation sind die beiden Schlüsselbegriffe, welche das komplexe Ensemble von Praktiken und Dispositiven bezeichnen, das die komplexen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Individuum markiert. Allerdings sind diese Regelungen und Ressourcen in erster Linie für den nationalen Nachwuchs geschaffen worden; inwiefern zugewanderte Kinder, deren Eltern Staatsbürger anderer Nationen sind, Zugang zu den Institutionen und Angeboten haben und inwiefern sie von den Regelungen, unter anderem der Allgemeinen Schulpflicht betroffen sind, war gut ein Jahrhundert lang strittig und wurde erst im Zuge der Arbeitsmigration in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verbindlich zugunsten der Zugewanderten entschieden - die Dynamik der Europäischen Gemeinschaftsbildung spielte hierbei eine nicht zu unterschätzenden Rolle. Nun bedeutet diese grundsätzliche Regelung nicht, dass tatsächlich alle Kinder die Ansprüche auf soziale Leistung zu ihrer gesellschaftlichen Integration / Inklusion auch beanspruchen können. Zuwanderung ist nicht gleich Zuwanderung und nach wie vor sind geflüchtete Menschen in einer besonders prekären Lage, die ein Licht darauf wirft, dass Menschenrechte die Bürgerrechte nicht „überschreiben“, sondern dass gesellschaftliche Teilhabe und Teilhabebefähigung nach wie vor nicht abstrakt „weltgesellschaftlich“, sondern je gesellschafts-spezifisch geregelt sind. Die Menschenrechte können, in anderen Worten, die staatsbürgerliche Inklusion nicht einfach ersetzen. Was genau unter nationaler Souveränität zu verstehen ist und inwieweit diese tatsächlich zu Exklusion berechtigt, ist durchaus nicht unstrittig. In einem Festvortrag richtete der Tübinger Rechtswissenschaftler Jochen von Bernstorff kürzlich die Aufmerksamkeit auf diesen von Hannah Arendt bemerkten Widerspruch: Während die Bürgerrechte - hier die Staatsbürgerschaft, Menschen zu Mitgliedern der Polis machen und sie damit in die innerhalb der staatlichen Grenzen geltenden Rechte inkludieren, wirken die Menschenrechte exkludierend insofern als die Menschenrechte, die zwar in vielen staatlichen Dokumenten evoziert werden de facto erst dann auf den Plan treten, wenn die Inklusion in die Gesellschaft, die in der Regel als nationale Gesellschaft definiert ist, nicht mehr greift. Mit Hannah Arendt (1986) gesprochen: die Verschmelzung von Volkssouveränität und Menschenrechten schien im europäischen politischen Denken selbstverständlich und sich wechselseitig zu bedingen. Es handelt sich aber um einen Widerstreit, da Volkssouveränität und Bürgerrechte immer auf ein Kollektiv bezogen sind, während die Menschenrechte die Einzigartigkeit der Person in 114 Karin Amos den Mittelpunkt stellen. Es geht aber nicht darum, dass hier unterschiedliche Logiken einander gegenübergestellt sind, sondern dass die philosophische Logik und ihr Werkzeug, die Sprache, die Einzigartigkeit jedes Menschen, die Besonderheit seines Person-Seins nicht zu erfassen mag, sondern lediglich allgemeine Normenkataloge aufstellen kann. Diese Aporie, die zum Beispiel in den Diskussionen um Menschenrechte und die Bürgerrechte im Europa des 18. Jahrhunderts einen Kulminationspunkt erreichte - und zwar in einer interessanten Parallelität von Politik und Pädagogik 2 , begleitet uns also noch immer. In der Pädagogik wird zwar seit Rousseaus „Emile oder über die Erziehung“ aus dem Jahre 1762 betont, dass die Menschenerziehung die primäre und die Bürgererziehung die nachgeordnete sei, aber eigentlich ist es umgekehrt. Menschen werden zuerst in eine bestimmte Gesellschaft sozialisiert und für die Teilhabe an diesem bestimmten gesellschaftlichen Gemeinwesen erzogen (einer Tatsache, der Rousseau bewusst eine künstliche Erziehungssituation entgegensetzen musste, um seine These, dass der Mensch zuerst zum Menschen und erst dann zum Bürger erzogen werden sollte, zu belegen). Die Rechte, die Menschen beanspruchen können, beziehen sich in erster Linie auf die Rechte, die sie als Bürger für die in ihrem Land geltenden Gesetze geltend machen können. Die Menschenrechte kommen eigentlich erst dann ins Spiel, wenn die staatlich territorial verankerte gesetzliche Behandlung der Bevölkerung den Menschenrechten widerspricht, das Verhältnis eines Menschen zu seinem Gemeinwesen problematisch (geworden) ist, entweder weil er oder sie einer Gruppe angehört, die um Leib und Leben fürchten muss, oder weil sich die politische Verhältnisse so verändern, dass das Gemeinwesen nicht mehr schützt und Rechte gewährt, sondern die eigene Bevölkerung verfolgt und drangsaliert. 3 In welchem Verhältnis Mensch und Bürger zueinander stehen, ist also eine Frage, über die zu vielen Zeiten und an vielen Orten nachgedacht wurde, auch wenn sie besonders häufig mit der Europäischen Aufklärung in Verbindung gebracht wird. Bisher ist es aber nicht gelungen, die mit beiden Rechtsformen verbundenen Spannungsverhältnisse aufzulösen. Damit bleibt es dabei, dass den stärksten Schutz sehr grob gesprochen, zumindest solange sich Regierungen nicht gegen die eigene Bevölkerung wenden, die in der Staatsbürgerschaft verbrieften Rechte und gegenüber dem Staat zu erhebenden Ansprüche gewähren. Dass die Staatsbürgerschaft nur eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für gesellschaftliche Teilhabe ist, ist hier nicht zu vertiefen. 2 Diese Parallelität ist Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Untersuchung von David Lloyd und Paul Thomas in: "Culture and the State" (1998). 3 Ich habe hier einen sehr engen Bezug zwischen Gemeinwesen und Staatsbürgerschaft hergestellt; ein Bezug, der im weiteren Gang der Überlegung zu problematisieren ist. Das „Mädchen aus dem Main“ 115 Bevor ich endgültig in laienhafte Plattitüden abgleite, denn das komplexe und verworrene Dickicht der Menschenrechte ist nun wirklich nicht das Feld, für das ich Expertise besitze, möchte ich wieder die Brücke zu dem Fall des unbekannten Mädchens im Main schlagen, der ja der Anlass für die hier angestellten Reflexionen ist. Das Mädchen war, wie im Wikipedia-Artikel erwähnt, mit einem besonderen Stück Stoff, dass zu einem besonderen Knoten geschlungen war, mit dem Schirmständer verbunden. Dieses Textil heißt, in den Regionen, in denen es verwendet wird, Nala. Nun erinnert die Art der „Entsorgung“ der Leiche auf perverse Weise an einen Embryo. Das Mädchen war in fötaler Haltung in ein Bettlaken verschnürt, statt der lebensverbindenden Nabelschnur, ein Stück Stoff; statt ins Leben und damit in ein menschliches Kollektiv zu kommen, wurde das Mädchen zu Tode gebracht und sollte ein für allemal aus jedem menschlichen Kollektiv verschwinden. Da so gut wie nichts über das Mädchen bekannt ist, kann nur der tote Körper selbst mittels moderner Obduktionsverfahren „zum Sprechen“ gebracht werden, und das, was auf diese Weise kommuniziert wird, lässt vermuten, dass die junge Unbekannte nie zur Person werden konnte, wenn der Begriff der Person nicht alltagsgebräuchlich, sondern philosophisch oder soziologisch spezifisch verstanden ist: Person heißt wörtlich „durch die Maske sprechen“ und bezeichnet die öffentliche Seite des menschlichen Lebens, Person-Sein wird oft mit Begriffen wie Autonomie oder Mündigkeit in Verbindung gebracht und bedeutet, seine Angelegenheiten selbstbestimmt regeln zu können, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Der Eigenname trägt erheblich dazu bei, den Status der Person auszudrücken, und ich muss gestehen, dass ich versucht war, der Unbekannten den Namen Nala zu geben, der ja auch ein Frauenname sein kann, allerdings in anderen Regionen der Welt als der, aus der die Tote ursprünglich stammt. Dies rührt sicher auch daher, dass das Bedürfnis der Benamung, der namentlichen Anrufung als Voraussetzung für die Subjektivierung so stark ist, obwohl ausgerechnet der Name „Nala“ im Fall des toten Mädchens aus dem Main nur Ausdruck äußersten Zynismus sein kann. Rechte, staatsbürgerliche Rechte oder Menschenrechte, lassen sich metaphorisch in gewisser Weise auch als Nabelschnur oder Rettungsleinen, englisch „life line“, verstehen, denn sie sollen dafür sorgen, dass Menschen an der Fülle des Lebens teilhaben können; dass diese Rechte eingelöst werden, ist nicht selbstverständlich, sondern muss unter Umständen erstritten und erkämpft, Ansprüche müssen geltend gemacht werden. Hier spielt der Begriff der Mündigkeit eine Rolle. Sind Menschen noch nicht (Kinder) oder nicht mehr (aus Krankheitsgründen) mündig, so ist gesetzlich stellvertretendes Handeln vorgesehen, mit welchem sich Micha Brumlik ausführlich in seiner „Advokatorischen Ethik“ befasst hat. Im Falle des „Mädchens aus dem Main“, wie auch in all den zahllosen 116 Karin Amos weiteren Fällen, in denen junge Menschen zu Tode gequält wurden, gab es aber niemanden, der sich advokatorisch ihrer angenommen hätte. Es spricht vielmehr alles dafür, als sei sie schon sehr früh, jedenfalls über viele Jahre ihres jungen Lebens, in eine furchtbare und ausweglose Situation geraten. Wenn es zutrifft, worüber bis heute nur spekuliert wird, dass sie als Dienstbotin in einem Diplomatenhaushalt tätig war und sich deswegen nichts über sie sagen lässt, weil auch die Mitglieder des Hausstandes unter die diplomatische Immunität fallen, dann hätte ihr junges Leben schon früh eine besonders tragische, nahezu perfide Wendung genommen. Wenn dies nicht zu hoch gegriffen wäre, könnten man der diplomatischen Immunität die gleiche Dialektik bescheinigen, die Adorno und Horkheimer in der Idee der Aufklärung identifizierten. Fortschritt und Vervollkommnung tragen immer schon ihr Gegenteil in sich. Alles, das der Verbesserung dient, kann sich verkehren und anstatt die Menschen zu befreien, in die schlimmste Sklaverei führen. Analog: das Recht, das Diplomaten vor Übergriffen schützt, gewährt ihnen und ihrem unmittelbaren Umfeld gleichzeitig jeden Freiraum für Übergriffe gegenüber den von ihnen abhängigen Personen. Hier advokatorisch tätig zu sein, ist also besonders erschwert. Ich möchte im weiteren Gang meiner Überlegungen darlegen, dass die naheliegende Empörung ethisch-moralisch sehr berechtigt und sicher auch notwendig und hier fühle ich mich Regina Ammicht Quinn sehr verbunden, die mutig und da, wo es notwendig ist, kompromisslos, Widersprüche aufzeigt und gesellschaftliche Tabus ans Licht holt und diese Empörung (mich ebenfalls auf einer Linie mit Ammicht Quinn wissend) mit einer analytischen Perspektive zu verknüpfen ist, um diesen Fall näher zu beleuchten, was hier der Fall ist. Ich werde dies tun, indem ich den Spuren der italienischen Philosophen Giorgio Agamben und Roberto Esposito folge: Agamben, weil er mit „Homo sacer“ ein kontroverses, wichtiges, die Debatten anregendes Buch vorgelegt hat, das sich letztlich mit den totalitären Tendenzen demokratischer Gesellschaften befasst, hier aber wegen seiner wichtigen Unterscheidung in „zoe“ und „bios“ konsultiert wird und Esposito, weil er mit den beiden komplementären Bänden „immunitas“ und „communitas“ einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaftsanalyse leistet. Zunächst zu Agamben: In „Homo sacer“ legt Agamben eine Unterscheidung zugrunde, die sich bei Aristoteles und Hannah Arendt findet und von der Unterscheidung von „zoe“ und „bios“ handelt. „Zoe“ meint die schiere Existenz, das organische Leben, und „bios“ meint die politische Existenz des Menschen, die auf Rede und Interaktion gründet. Diese Unterscheidung wurde in der Folge aus unterschiedlichen Perspektiven hinterfragt (stellvertretend Dubreuil 2006). Die Figur des Homo sacer bezeichnet im Römischen Recht ein Leben, das getötet, aber nicht geopfert werden darf, das auf „zoe“ reduziert ist und aller politischen Rechte und Teilhabemöglichkeiten beraubt ist. In modernen Gesell- Das „Mädchen aus dem Main“ 117 schaften, for better or for worse, Agamben macht hier eher auf die Gefahren als auf die positiven Effekte aufmerksam, sind beide Dimensionen untrennbar miteinander verbunden. Der Begriff der „Biopolitik“ ist ohne diese Verbindung nicht denkbar. Dass im Fall der unbekannten Toten beide Dimensionen wieder getrennt werden konnten, dass hier die Vernichtung des Organismus von statten gehen konnte, ohne auch nur Spuren von „zoe“ zu berühren, dass ihre Nichtexistenz mit Blick auf Name, Herkunft, Identität, nach Agamben nicht nur, wenn dem so sein sollte, der diplomatischen Immunität mithin einem Sonderfall geschuldet wäre, sondern als Ausdruck des permanenten Ausnahmezustands gesehen werden kann, der von Agamben als modernes gesellschaftliches Konstitutiv betrachtet wird, hat Konsequenzen für alles Weitere. Während die eine Erklärungsrichtung den Tod des Mädchens zum Spezialfall macht, betont die andere, dass alle Gesellschaften „homines sacri“ hervorbringen, welche die Dynamik von Inklusion und Exklusion in Gang halten. Am Ende geht es aber nicht darum, beide Perspektiven diametral sondern als aufeinander verweisend zu verstehen. Es gibt nicht nur einen Modus der Hervorbringung von „homines sacri“, sondern viele, und es wird am Ende darauf ankommen, Agambens vieldiskutierten, aber auch umstrittenen Begriff mit anderen Perspektiven in Dialog zu bringen; beispielsweise mit Baumans bereits zitiertem des „wasted life“, oder auch - mit dem von Slavoj Žižek aufgegriffenen des „disposable life“. Ich tendiere dazu zu argumentieren, dass eigentlich nur Fälle wie der des tragischen Todes des Mädchens aus dem Main unter den Begriff des „Homo sacer“ fallen - hier steht die nackte menschliche Existenz auf dem Spiel. In den Debatten um „wasted“ oder „disposable lives“ liegt der Fokus etwas anders. Diese Diskussionen setzen sich kritisch mit Nützlichkeits- und Brauchbarkeitssemantiken auseinander, die durch die aktuell diskutierte Vierte Industrielle Revolution nochmals besonders angeheizt werden, weil diese die Zukunft der Arbeit und den damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel aufgreifen. Zu diesem Feld zählen alle kritischen ökonomischen Diskussionen, ob sie nun den Begriff des Neoliberalismus nutzen oder nicht. Beide Perspektiven erinnern daran, dass wir - Bürger so genannter avancierter Gesellschaften - nichts wirklich im Griff haben, wenn es um den elementaren Schutz des Lebens geht. Einerseits betören wir uns mit unseren eigenen Machbarkeitsphantasien, möchten glauben, dass den Möglichkeiten menschlicher Ingenuität keine Grenzen gesetzt sind; andererseits gelingt es uns nicht, menschlichem Leben in ‚unseren’ Gesellschaften den elementarsten Schutz zukommen zu lassen, dessen es bedarf, um sich entfalten zu können. Fälle wie die des „toten Mädchens aus dem Main“ erinnern uns also daran, dass uns der vermeintlich sichere Boden verloren zu gehen droht. Um dies zu illustrieren, möchte ich am Ende meiner Ausführungen nochmals an den An- 118 Karin Amos fang zurückgehen, an die implizit gestellte Frage, ob die Gemeinschaft dafür verantwortlich ist „Sicherung“ für die nackte Existenz zu bieten. Die moderne politische Philosophie legt dies eigentlich nahe: von Hobbes, Rousseau, Kant bis zu den modernen kommunitaristischen und kommunikationsethischen Theorien; sie alle suggerieren, dass die Gemeinschaft schützt. Das Problem wäre dann so zu fassen, dass ein junger Mensch aus der Gemeinschaft gleichsam herausgefallen wäre oder ausgestoßen wurde, ohne in eine neue Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nun erinnert aber Robert Esposito in seinen symmetrisch konstruierten Bänden „Communitas“ und „Immunitas“ daran, dass die Gemeinschaft genau dort anfängt, wo das Eigene aufhört; die Gemeinschaft also der Abgrund sein kann, in den man stürzt - eine Gefahr, die bereits Wilhelm von Humboldt mit dem Begriff der Entfremdung belegte; sich selbst fremd werden. Esposito erinnert daran, dass aus "munus" - im Sinne von Bürde, Verpflichtung, Gabe, Amt - die Gemeinschaft hervorgeht: Ihr Grund ist eine geteilte Verpflichtung, etwas, das noch nicht da ist, sondern ausgefüllt werden muss. "Im-munitas" (als Schutzmechanismus) und "Com-munitas" sind mithin die beiden Pole, an denen sich die Ambivalenz von Geteiltem und Bedrohlichem anlagert, welche die Gemeinschaft seit jeher prägen. Das Schicksal des „toten Mädchens aus dem Main“ lässt sich einerseits lesen als Mahnung an avancierte Gesellschaften, dass Schutz und Vernichtung von Leben sehr eng beieinanderliegen können; dass aller Steigerungs- und Sakralitätssemantik zum Trotz ein menschliches Leben einfach vernichtet, weggeworfen werden kann. Weitet man den Blick und abstrahiert vom hier zur Diskussion stehenden Fall, dann ließen sich nochmals Facetten des Begriffs der ‚Immunität’ anführen. Ja nach Perspektive erscheint diese Vernichtung entweder als gesellschaftliche „Immunisierung“ im Sinne Espositos, als Schutz gegen „Eindringlinge“, als die Zuwanderung ja oft verstanden wird. Immunität könnte aber auch anders gelesen werden, nämlich als Immunisierung und Desensibilisierung der Gesellschaft gegenüber Menschen, für die man sich als nicht zuständig erachtet. Es ist sicher kein Zufall, dass sowohl die Überlegungen von Agamben in „Homo sacer“ als auch die Espositos vor dem Hintergrund der Entstehung des modernen Totalitarismus, dessen wesentliche Ausdrucksform das Dritte Reich war, entwickelt wurden. Das „Mädchen aus dem Main“ 119 Literatur Agamben, Giorgio (2002). Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Arendt, Hannah (1986). Element und Ursprünge totalitärer Herrschaft. München: Piper. Bauman, Zygmunt (2005). Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition. „Das Mädchen aus dem Main“ Wikipedia Artikel. Abrufbar unter: https: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Das_M%C3%A4dchen_aus_dem_Main (Stand: 12. 10. 2016) Dubreuil, Laurent (2006). Leaving Politics: Bios, Zōē, Life. Diacritics Vol. 36, No. 2, “Bios,” Immunity, Life: The Thought of Roberto Esposito, 83-98 Esposito, Roberto (1998). Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Berlin: Diaphanes. Esposito, Roberto (2002). Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Berlin: Diaphanes. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor (2003). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt: Fischer. Iskandar, Katharina: Das Mädchen aus dem Main: Die Tote ohne Namen. Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 28. Juli 2011. Lloyd, David / Thomas, Paul (1998). Culture and the State. New York, London: Routledge. Im Dialog-- Begleitung der Organisationsentwicklung des Oberschulamts Tübingen durch Frau Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn Margret Ruep Wenn über das Grundsätzliche keine Einigung besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu schmieden . Konfuzius Regina Ammicht Quinn habe ich am Tag meiner Amtseinführung als Präsidentin des Oberschulamts Tübingen im Oktober 2000 kennengelernt. Dass dies ein besonderer Glücksfall war, habe ich dann im Lauf meiner Arbeit erfahren: Die Begegnung mit einer Persönlichkeit, die sich auszeichnet durch tiefes und umfassendes Wissen gleichermaßen wie durch eine überzeugende Integrität, bei der Wissen, Haltung, Sprache und Handeln übereinstimmen. Regina Ammicht Quinn ist ein Mensch, mit dem man gerne zusammen ist, mit dem und von dem man gerne lernt. Im Dialog-Sein mit ihr bedeutet immer auch, Wissen auszutauschen und im besten Sinne zu reflektieren, sich also im Modus des Deutero-Lernens zu bewegen. Mein Interesse war es, im Oberschulamt Tübingen auf eine Weise zu arbeiten, dass pädagogisches Denken vor der bürokratisch-technokratischen Verwaltungsarbeit Vorrang haben sollte. Das Konzept einer Lernenden Organisation mit einer ethisch fundierten Grundhaltung hatte ich bereits als Schulleiterin vertreten und versucht, es gemeinsam mit einem engagierten Kollegium umzusetzen. Der Gedanke, auch innerhalb einer Behörde ein Lernendes System zu gestalten und dabei die fünf Disziplinen - Persönliche Entwicklung, - Teamlernen, - gemeinsame Vision, - Kommunikation und - systemisches Denken in ihrem Zusammenspiel zu beachten und zugleich die beiden Grundprinzipien - Partizipation und - Dialog mit Leben zu füllen, hatte mich seit meiner Schulleiterzeit inspiriert. Da ich das an meiner Schule erfolgreich hatte umsetzen können, war ich überzeugt, dass es auch in einer Behörde gelingen konnte. Es ging hier darum, einen bereits begonnenen Entwicklungsprozess aufzugreifen und weiterzuführen. Mein Vorgänger in Tübingen hatte zum Zeitpunkt meiner Amtsübernahme mit den dortigen Mitarbeitenden einen Leitbildprozess abgeschlossen und damit für das Amt eine wichtige Orientierung gegeben, mit der alle sich identifizierten, da sie am Prozess intensiv beteiligt waren. Für mich war es im Lauf meiner Berufsjahre stets wichtig gewesen und immer bedeutsamer geworden, eng mit der Wissenschaft verbunden und in gutem Kontakt zu bleiben. Es erschien mir im Bereich der Bildung notwendig, neu generiertes Wissen aufzunehmen, aber auch stets immer wieder neu die Grundlagen und Zielsetzungen des Handelns zu reflektieren. Würden wir das nicht tun, davon war ich überzeugt, würden wir zurückfallen in fehlerhafte Handlungsmuster, die sich auf veraltetes Wissen gründeten und die deshalb die Qualität der Arbeit beeinträchtigen würden. Dass Oberschulamt und Universität so nahe beieinanderlagen, dass das Behördengebäude sogar einen Hörsaal der Universität beherbergte, hatte traditionell in Tübingen schon immer zu einem engen Austausch zwischen dem Amt und der Wissenschaft geführt. Das zeigte sich zum Bespiel am regelmäßigen gemeinsamen Sport mit gezieltem Training für das Sportabzeichen. So erlebte ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als besonders aufgeschlossen und bereit, sich auf einen Entwicklungsprozess auch weiterhin einzulassen. Da im Lernenden System der Dialog als Grundprinzip angenommen wurde, lag es auf der Hand, eine Dialogrunde als feste Gesprächsrunde einzuführen. Damit verbunden war das Ziel, im regelmäßigen Austausch die Grundlagen unseres Handelns zu reflektieren sowie die Veränderungsschritte fundiert zu erörtern und somit alle Entwicklungsschritte wissenschaftlich begleitet zu wissen. Der Dialog als Gesprächsform ist innerhalb des traditionellen, streng hierarchischen Verwaltungsmodells gewissermaßen ein Paradoxon. Dialog nämlich bedeutet, eine Gesprächsform einzuüben, bei der die Hierarchie herausgenommen wird. Es geht um ein Gespräch zwischen Gleichberechtigten, von Angesicht zu Angesicht. Das ist gerade im hierarchischen Kontext nicht einfach, und es dauert seine Zeit, bis sich die nötige Offenheit einstellt. Dennoch halte ich auf der Grundlage meiner Erfahrungen in verschiedenen Führungsfunktionen 122 Margret Ruep den Dialog als die qualitativ höchste und erfolgreichste Kommunikationsweise, wenn es um Veränderungen geht. Wer sich darin versucht, wird Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem ganzen Potenzial erleben. Ebenso wird damit die Fähigkeit zur Empathie und zu komplexem Denken eingeübt. Der Angst vor Komplexität und vor Neuerungen wird dadurch eher entgegengewirkt. Stattdessen kann der Blick dafür geschärft werden, dass Komplexität nicht das Problem, sondern immer wieder die Lösung ist. Regina Ammicht Quinn war bereit, uns auf der Grundlage ihrer exzellenten wissenschaftlichen Expertise auf diesem Weg und mit diesem Vorgehen zu begleiten. Sie brachte ihrerseits grundlegende Ideen für diesen Prozess ein. So richteten wir also eine Dialogrunde - „Schule und ethische Bildung“ - ein, gemäß der Aussage im Leitbild der Behörde: „Wir begreifen uns als eine den Dialog pflegende, innovative und lernende Organisation .“ Beteiligt am Dialog waren neben der Universität und dem Oberschulamt verschiedene Institutionen wie etwa die Pädagogische Hochschule Weingarten oder die Stiftung Weltethos von Professor Hans Küng, aber auch Lehrkräfte, Schulleitungspersonen oder Verwaltungsbeamte. Der Entwicklungsprozess im Oberschulamt Tübingen führte zu einer genauen Analyse der Behörde, alle Bereiche betreffend: Führung, Prozesse, Mitarbeitende, Ergebnisse. Mitarbeiter- und Kundenbefragungen lieferten uns dazu wichtige Daten. Das Managementkonzept der EFQM (European Foundation of Quality Management), das das Konzept der Lernenden Organisation impliziert, unterstützte das gesamte Vorhaben. Wichtig war uns vor allem, dass wir auf der Grundlage einer ethischen Orientierung arbeiteten, welche die Besonderheit von Behördenstruktur und Regierungssystem berücksichtigte, sie aber auch beeinflussen konnte. Gerade in Bürokratien besteht die Gefahr einer Technokratisierung ohne normative Reflexion. Bildung und Bildungssystemen aber muss stets eine normative Reflexion vorausgehen. Durch die Arbeit in den regelmäßig stattfindenden Dialogrunden konnten wir zu dieser Thematik die Ausgangslage wie folgt beschreiben: Die Schulen und der Bildungsbereich befinden sich im Umbruch. Diese Entwicklungsphase - zugleich ein gesellschaftlicher, verwaltungspolitischer und bildungsinterner Umbruch - ist mit hohen Belastungen und Verunsicherungen verbunden. Unterschiedliche und zum Teil konkurrierende Erwartungen bewegen alle Beteiligten des Bildungsbereichs: Hier sollen, bitte, die Probleme gelöst werden, die uns als einzelne und als Gesellschaft bedrücken. Im Weiteren war uns insbesondere die Ethik der Strukturen wichtig: Die ethische Ausrichtung einer solchen Institution kann und darf nicht autoritär angeordnet werden. Eine verordnete Identität ist keine. Wir brauchen eine Im Dialog 123 124 Margret Ruep Ethik der Strukturen. Diese ethische Ausrichtung ist mehr als der gute Wille einzelner; sie ist das reflektierte ‚Wie’ des Umgangs mit Menschen, Sachen und Inhalten. Wenn das institutionelle Handeln, die Verhaltensregeln von Schule und Schulverwaltung dadurch geprägt sind, dann kann deutlich werden, dass die Unverfügbarkeit und Einmaligkeit der Person die Voraussetzung jeder Bildungsarbeit ist. Immer wieder wurde in den Gesprächen deutlich, wie wichtig vor diesem Hintergrund Führungspersonen sind. Deshalb haben wir ein spezifisches Bewerberverfahren entwickelt, um für die entsprechenden Aufgaben die passenden Führungspersonen zu gewinnen. Regina Ammicht Quinn hat uns dabei durch ihre hohe fachliche Kompetenz und die persönliche Integrität grundlegendes Wissen vermittelt und Anleitung gegeben. In einem internen Papier zum Thema ‚Führung’ hat sie auf die folgenden wichtigen Grundlagen und Führungselemente hingewiesen: Im pädagogischen Bereich ist eine Berufsethik in besonderer Weise von Bedeutung. Bildung ist das, was eine vorangehende Generation der nachfolgenden schuldet; Bildung ist damit auf Zukunft gerichtet, daraufhin, dass Kinder und Jugendliche in der Welt von heute und in der Welt von morgen - die wir nicht kennen - sinnvoll leben können. Bildung ist cultivating humanity (Martha Nussbaum). Humanity bedeutet beides: die Menschheit und Menschlichkeit; cultivating hat einen klaren landwirtschaftlichen Beiklang: wie ein guter Wein gepflegt wird, so geschieht das in der Schule mit der Menschheit - und mit der Menschlichkeit. Nicht nur, aber vor allem im pädagogischen Bereich stehen Führungskräfte in einem komplexen Zusammenhang von Anforderungen und Verantwortung. Sie werden beständig auf drei Ebenen herausgefordert: - als Person - im Hinblick auf die Form ihres Führungshandelns - im Hinblick auf den Inhalt ihres Führungshandelns. Auf allen drei Ebenen geht es um Professionalität, Sachkundigkeit und Effektivität. Aber es geht um mehr als das. Es geht darum, dass Führungskräfte mehr sind als Vor-Gesetzte, die dort sitzen, wo jemand sie hingesetzt hat: vorne. Von ihnen wird erwartet, dass sie Vor-Bilder und Vor-Läufer sind. Professionalität, Sachkundigkeit und Effektivität stehen nicht im Widerspruch zu einer moralischen Grundhaltung; eine Professionsethik vereint diese Anforderungen. Das Ziel einer Professionsethik ist es, die drei Ebenen von Person, Form des Führungshandelns und Inhalt des Führungshandelns zur Kongruenz zu bringen; Im Dialog 125 ihr Ziel ist es, dass Menschen, die Menschen führen, im Lot sind; dass sie mit sich und mit anderen ein gutes Leben führen können. Daraus ergeben sich spezifische ‚Reflexionsorte’, die für Führungspersonen von stetiger Bedeutung sind: - Gerechtigkeit als Haltung, die Führungspersonen zu Entscheidungen verhelfen als Anwälte derer, die von dieser Entscheidung betroffen sind, ohne mitwirken zu können. - Wahrhaftigkeit als Selbstverpflichtung zur Wahrheit. - Respekt und Fürsorge, eine Haltung, bei der Führungskräfte Eigenverantwortung ebenso einfordern wie respektieren, zugleich Fürsorgepflicht ausüben. Dazu gehört die angemessene Kommunikationsform, die dialogisch ist und auf Verständigung zwischen Subjekten gerichtet ist - nicht zwischen Subjekten und Objekten. - Selbstbewusstsein als Haltung auf zwei Ebenen: als Bewusstsein seiner selbst, das selbstreflexiv und selbstkritisch ist und eigene Haltungen und Einstellungen überprüfen kann und als Selbst-Bewusstsein hinsichtlich der Sicherheit der eigenen Person, die dann andere Menschen in ihren Kompetenzen schätzen und ermutigen kann und andere Kompetenzen nicht fürchtet. - Subjektivität: Menschen, die führen, sind mit Macht ausgestattet und statten andere mit Macht aus. Auch dort, wo Menschen sich um Objektivität bemühen, sind sie nie „neutral“. Eine immer neue Überprüfung der eigenen Impulse und Wertigkeiten ist für einen Entscheidungsprozess besonders dort nötig, wo die Konsequenzen für andere weitreichend sind. Zugleich entspringen die Visionen, die eine Führungspersönlichkeit für sich, für andere Menschen, für eine Organisation hat, einer reflektierten Subjektivität. Führungskräfte, die sich selbst im Sinn einer Professionsethik überprüfen, werden für andere als Person - nicht nur als Funktion - sichtbar sein; zugleich wird dieses Personsein nicht willkürlich, sondern reflektiert sein. - Loyalität: Führungskräfte sind immer wieder Loyalitätskonflikten ausgesetzt. Es mögen Loyalitätskonflikte um eine Sache oder um eine Person sein, oder aber Loyalitätskonflikte, die eine Person „zwischen Baum und Borke“ stellt: zwischen der Verantwortung den Vorgesetzten und der Verantwortung den Untergebenen gegenüber. Eine Professionsethik ermutigt hier zum Offenlegen der Konflikte. Eine grundlegende Loyalität mit dem System als ganzem und denjenigen, die das System repräsentieren und führen, ist nötig für den Bestand und das Funktionieren eines Systems. Zugleich kann Loyalität nie der höchste Wert sein. Eine Begrenzung dieser Loyalität ist dort nötig, wo durch das Handeln oder die Weisung anderer in grundlegender Weise Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Fürsorge, Respekt in Frage gestellt werden. 126 Margret Ruep - Scheitern als immer wieder reflektierte Möglichkeit. Reflexion leitet dazu an, dass innerhalb einer Organisation eine Arbeitsatmosphäre herrscht, die es nicht überflüssig macht, Scheitern zu verheimlichen oder zu verleugnen. Nötig sind Unterstützungssysteme, die nicht nur versuchen, ein Scheitern zu verhindern, sondern auch versuchen, ein Scheitern anzuerkennen und möglichst positiv zu wenden. - Selbstsorge als eine Haltung von Respekt und Fürsorge immer auch auf die eigene Person angewandt. Dies ist gerade für Führungskräfte eine bedeutende Tugend, die auf die eigene körperliche und seelische Gesundheit abzielt und dafür sorgt, dass auch für und in der Profession die Lust am Leben bewahrt wird. - Integrität der Person als Ganzheit im Sinne von Menschen, die Sicherheit aus sich heraus schöpfen, die deshalb Vertrauen erwecken und sich des Vertrauens würdig erweisen, die über Probleme und Widersprüche in ein lebendiges Gespräch treten, weil Probleme und Widersprüche als Probleme und Widersprüche erlebt werden - nicht als Vernichtung der eigenen Autorität. Schließlich sind es Menschen, die Menschen führen und es sind Menschen - keine Untertanen -, die geführt werden. Und Führen heißt nicht erzwingen, sondern Zukunft eröffnen. Rückwirkend möchte ich an dieser Stelle Regina Ammicht Quinn sehr herzlich danken für eine gemeinsame arbeitsreiche Zeit in Tübingen, während der sie sich als Führungskraft in diesem besten Sinne für uns als Behörde gezeigt hat und in erheblichem Maß beigetragen hat, den Bildungsbereich hier weiterzuentwickeln und der Behörde „Oberschulamt Tübingen“ einen sehr besonderen Weg zu ermöglichen, was nicht zuletzt auch in einer Evaluierung bestätigt wurde. Leadership is much more an art, a belief, a condition of the heart, than a set of things to do. Max De Pree, amerikanischer Unternehmer und Schriftsteller Im Dialog 127 Literatur Keller, Gustav & Ruep, Margret (2004). Lernende Organisation Schulverwaltung - LOS ! Donauwörth: Auer. Dies. (2007). Schulevaluation - Grundlagen, Methoden, Wirksamkeit. Frankfurt am Main: Peter Lang. Senge, Peter Michael et. al. (1994). Das Fieldbook zur fünften Disziplin. Stuttgart: Klett Cotta. Ders.: (1999). Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart: Klett Cotta. Youtube: Interview Prof. Dr. D. Treichel mit PD Dr. Ruep. Abrufbar unter: https: / / www. youtube.com/ watch? v=j9pj7331aC4 (Stand: 08. 11. 2016). Wasserethik als Kulturethik 129 Wasserethik als Kulturethik Simon Meisch Einleitung In diesem Beitrag befasse ich mich mit der These von Regina Ammicht Quinn, wonach es „keine Ethik [gibt], die nicht im allgemeinen Sinn Kulturethik wäre“ (Ammicht Quinn 2011: 267). Wenn wir ihr dabei folgen wollen, können wir uns fragen, was dies für unterschiedliche Bereiche der anwendungsorientierten Ethik bedeutet. Ich ignoriere damit bewusst, dass sich nicht alle Bereichsethiken gerne als Kulturethik verstehen werden. Vielmehr lasse ich mich auf die erwähnte These ein und frage mich, was mit ihr für die Wasserethik gewonnen wäre. Ich stelle dazu zunächst den jungen wasserethischen Diskurs vor. Anschließend gehe ich auf die Arbeit von Regina Ammicht Quinn am Kulturbegriff sowie der Bestimmung von Kulturethik ein. Sie setzt sich zum einen kritisch mit traditionellen Kulturbegriffen auseinander und entwickelt zum anderen ein Verständnis von Kulturethik, das unterschiedliche Abstraktionsebenen unterscheidet und bespricht. 1 Vor diesem Hintergrund skizziere ich, inwiefern dies für die Wasserethik relevant sein könnte. Wasserethik Wasserethik ist ein junges Feld der anwendungsorientierten Ethik (Grunwald 2016). Es wäre daher irreführend, von der Wasserethik im Singular zu sprechen, als gäbe es sie als einheitliche Akteurin (Meisch 2017). Dem ist nicht so. Ich verweise hier auch lediglich auf die durchaus bestehende Diversität bereits etablierter Bereichsethiken (vgl. z. B. Michl et al. 2008). In diesem Beitrag verwende ich ein breites Verständnis von Wasserethik, die ich als Oberbegriff für diejenigen bereichsethischen Reflexionen begreife, die sich im weitesten Sinne mit dem menschlichem Handeln im Verhältnis zu Wasser beschäftigen (analog zur Bioethik, vgl. Düwell 2008: 23-24). Sie umfasst demnach unterschiedliche 1 Ich beziehe mich in meinem Beitrag auf ihren Artikel ‚Kulturethik’ in der dritten Auflage (2008) des ‚Handwörterbuch Ethik’, herausgegeben von Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha Werner. 130 Simon Meisch bereichsethische Zugänge (etwa der Umwelt-, Wirtschafts-, Technik-, Literatur- oder politischen Ethik), aber auch wissenschaftsethische (u. a. der Hydrologie) und berufsethische (u. a. Wasseringenieur_innen) Fragestellungen. Damit entsteht zwar eine große inhaltliche Bandbreite; eine Reduzierung auf einzelne Bereiche wird dem diversen Handlungsfeld jedoch nicht gerecht. Wasserethik befasst sich etwa mit Fragen, wie sie für die Umweltethik typisch sind, wie z. B. Fragen nach dem absoluten Wert von Wasser oder Wassersystemen oder dem Recht von Flüssen auf ihr Wasser. In einer sozialethischen Perspektive fragt sie nach der gerechten Wasserordnung oder einer gerechten Verteilung von Wasser - gerade angesichts einer Milliarde Menschen, die über keinen sicheren Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen verfügt. Die Ermöglichung dieses Zugangs wird oft mit der Schaffung von Infrastruktur verbunden, so dass sich technikethische wie auch berufsethische Fragen stellen. Diesen Beispielen ließen sich weitere hinzufügen. Wasserethik muss sich sowohl diese wechselseitigen bereichs-, wissenschafts- und berufsethischen Bezüge bewusst machen, als auch diejenigen zwischen allgemeiner und anwendungsorientierter Ethik (Stoecker et al. 2011: 3 f.). Letzteres wird dann besonders relevant, wenn es um Konstituierung ethischer Urteile in konkreten sozialen Kontexten geht bzw. sich metaethische Fragen stellen (Meisch 2017). Wie andere Bereichsethiken 2 auch setzt sich die Wasserethik mit fraglich gewordenen Handlungskontexten auseinander (Stoecker et al. 2011: 4, Böhme 1997: 17). Sie strebt danach, mit Hilfe ethischer Reflexion Menschen in solchen Situationen Orientierung zu bieten, in denen Unklarheiten und Unsicherheiten über moralisch richtiges Verhalten bestehen. Der Bedarf nach einer ethischen Vergewisserung im menschlichen Umgang mit Wasser lässt sich auf jüngere Entwicklungen zurückführen, die aber alle mit einer bestimmten Vorstellung gesellschaftlicher Naturverhältnisse zusammenhängen, auf die unten noch zu sprechen sein wird. Es lässt sich sicher sagen, dass die Ökonomisierung von Wasser eine, wenn nicht die Entwicklung war, durch die der Bedarf nach ethischer Verständigung entstand. Der global ungleiche Zugang zu Trinkwasser und Sanitäranlagen oder die Verschmutzung bzw. Versalzung von Wasser waren bereits seit Langem bekannt, ohne dass dies zur Entstehung eines neuen Feldes in der anwendungsorientierten Ethik geführt hätte. An anderer Stelle habe ich die Ökonomisierung von Wasser als die unwillkürliche Geburtshelferin des wasserethischen Diskurses und von Geburt an seine größte Herausforderung bezeichnet (Meisch 2016a: 382). Mit Ökonomisierung meine ich einerseits das Vordringen des Marktes, seiner Logik 2 An einer anderen Stelle habe ich diskutiert, ob Wasserethik die Voraussetzungen erfüllt, um als Bereichsethik angesehen zu werden (oder nicht), bzw. ob es wünschenswert ist, dass es eine weitere Bereichsethik gibt (Meisch 2016a). Wasserethik als Kulturethik 131 und Wertvorstellungen in Lebensbereiche, die zuvor durch andere Formen sozialer Organisation bestimmt waren. Andererseits impliziert Ökonomisierung aus normativen und epistemologischen Gründen eine Kritik an der Steuerungsfähigkeit des Staates und die Forderung, den (demokratisch legitimierten) Staat (zu Gunsten des Marktes) aus der gesellschaftlichen Steuerung zurückzudrängen (Streeck 2015, Walker / Cooper 2011). Gerade am Diskurs um die Ökonomisierung von Wasser kann gut abgelesen werden, was es bedeutet und welche, zum Teil massiven Irritationen entstehen, wenn über ein gesellschaftliches Handlungsfeld eine Logik (die des Marktes) gestülpt wird, das bisher durch andere Logiken oder Wertvorstellungen geprägt war (wie Wasser als öffentliches oder als Gemeingut, das islamische Recht des Durststillens oder rituelle Bedeutungen von Wasser). Das Marktmodell zog zunächst einen Teil seines argumentativen Erfolgs daraus, dass vorausgegangene Ansätze zur Lösung von Wasserproblemen zumindest teilweise als gescheitert galten (Munck 2016). Dies waren oft großtechnische Projekte, die von Politik und Wasserexpert_innen am Reißbrett entworfen wurden und Vorstellungen sozioökonomischer Entwicklung vertraten, die sich den Globalen Norden zum Vorbild nahmen. Diese Top-Down-Ansätze scheiterten zudem auch deswegen, weil sie mit ihren linearen Kausalitätsannahmen der Komplexität von Mensch- Wasser-Verhältnissen nicht gerecht wurden. Das Konzept der Resilienz nahm für sich in Anspruch, mit diesen erkenntnistheoretischen und steuerungspolitischen Herausforderungen angemessener umgehen zu können. Genealogisch speiste es sich zum einen aus Einsichten der Ökologie und der Systemforschung und zum anderen aus der neoliberalen Gesellschaftstheorie insbesondere von Friedrich von Hayek (Walker / Cooper 2011). Hegemoniale Diskurse zur Governance von Wasser finden überwiegend im Marktparadigma statt (Sneddon 2013). Dieses ist an Vorannahmen und Voraussetzungen geknüpft, die sich im Alltag (selbstredend) idealtypisch nicht finden ließen, was zu einem krassen Missverhältnis zwischen der Marktideologie und ihrem tatsächlichen Wirken in der Realität führte, einem Zustand, den Brenner und Theodore (2002: 352) mit ‚real existierendem Neoliberalismus’ bezeichneten. Dies ist für den Wassersektor gut dokumentiert (vgl. u. a. Swyngedouw 2005, 2009). Wir sehen hier zwei idealtypische Ansätze, Wasser institutionell zu verregeln, die in der Literatur aufeinander bezogen diskutiert werden: Top-Down am Reißbrett und Bottom-Up durch marktförmige Selbstorganisationsprozesse. Beide werfen in erheblichem Maße ethische Fragen auf; beiden ist jedoch gemein, dass sie Wasser als etwas Gesellschaften Äußerliches und Managebares behandeln. Neben der Ökonomisierung kann noch die Einsicht in die Folgen des anthropogenen Klimawandels als Anlass für die Entstehung einer Wasserethik gesehen werden. Voraussichtlich wird der Klimawandel erheblichen Einfluss auf regionale Wassersysteme ausüben. Damit beeinträchtigt er nicht allein die Verfügbarkeit von Süßwasser als Trinkwasser und für sanitäre Zwecke, sondern auch für die Produktion von Lebensmitteln und Energie. Zugleich wirken Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel bzw. zur Vermeidung des weiteren Anstiegs der globalen Erwärmung auf Wassersysteme zurück, beispielsweise wenn CO 2ärmere Wasserkraftwerke gebaut oder sog. Energiepflanzen gepflanzt werden. Ökonomisierung und globale Umweltveränderungen werden zunehmend aufeinander bezogen diskutiert. Gerade unter dem Vorwand der Wasser-, Lebensmittel- und Energiesicherheit für die Ärmsten der Armen weltweit versuchen globale ökonomische Eliten, wichtige Ressourcen für die Aufrechterhaltung des bestehenden ökonomischen Systems zu sichern (Leese / Meisch 2015). Wasserethik beschäftigt sich also insbesondere mit denjenigen Stolpersteinen, die sich aus der Ökonomisierung von Wasser und den Ungewissheiten globaler Umweltprobleme ergeben. Beide wirken in unterschiedlicher Weise auf bestehende Wasserkulturen. Zugleich werden beide innerhalb einer bestimmten Wasserkultur thematisiert und bearbeitet, die auf der cartesianischen Vorstellung aufbaut, der Mensch könne die Natur beherrschen und besitzen. Wasser wird dabei auf seine elementaren Eigenschaften reduziert und als etwas der menschlichen Kultur Äußerliches und technologisch zu Beherrschendes verstanden. Wasserethik steht also vor der Herausforderung, diese gesellschaftlichen Naturverhältnisse kritisch zur Sprache zu bringen und Orientierung zu bieten. Dies umfasst die Konfrontation bestehender Wasserkulturen mit den vereinheitlichenden Tendenzen des neoliberalen Modells, die Argumentation für kulturübergreifende Prinzipien eines Zugangs zu Wasser und ihr eigener Standpunkt innerhalb der hegemonialen Wasserkultur. Hierbei leistet Ammicht Quinns kulturethischer Ansatz wertvolle Beiträge. Die kulturethische Perspektive von Regina Ammicht Quinn Regina Ammicht Quinn setzt sich in ihrer Arbeit am Kulturbegriff kritisch von früheren Verständnissen ab, entwickelt diese aber auch weiter. Unter Kultur versteht sie ein „System von Symbolen und Bedeutungen und gleichzeitig die Praxis der Menschen, die innerhalb dieses Systems leben, es aufrechterhalten und verändern“ (Ammicht Quinn 2011: 267). Damit wird schon Einiges über Kultur ausgesagt. Es ist ein normativ und evaluativ gehaltvoller Kontext, in dem sich Menschen bewegen. Zugleich erhalten sie ihn aufrecht, indem sie seine Regeln befolgen. Ammicht Quinn präzisiert den Kulturbegriff in zwei Hinsichten. Kultur sieht sie erstens als einen ‚Vermittlungsbegriff von Individuum und Gesellschaft‘ (Ammicht Quinn 2011: 266). Damit ist mehreres gemeint. In der antiken Tradition bedeutet Kultur das Unverfügbare, das zwar menschengemacht ist, aber dem Zugriff des einzelnen Individuums entzogen bleibt (Ammicht Quinn 132 Simon Meisch 2011: 265). Individuen stellt sie ein System an Regeln, Bedeutungen und Symbolen bereit, das von ihm erlernt werden kann und befolgt werden soll. Als solches ist Kultur für die Identität von Menschen konstitutiv und stabilisierend. Jedoch steht sie auch immer in der Gefahr, als Medium von Herrschaft repressiv und gewalttätig zu wirken. Zweitens sieht Ammicht Quinn Kultur von Beginn an als einen ‚Vergleichsbegriff‘. Es sei ein konstitutives Merkmal von Kulturen, dass sie sich damit auseinandersetzen (müssen), dass es andere Kulturen gibt, und sie ihre Beziehung zueinander zu klären haben. Die Einsicht, dass es andere Kulturen gibt, führte ab der Neuzeit zu Abgrenzungsprozessen, die das ‚Authentische‘ der eigenen Kultur, das, wie es (vermeintlich) schon immer gewesen ist, vor den Anderen zu schützen versuchte, (auch) indem das Andere dem Eigenen gegenüber herabgesetzt wurde. Die Zunahme von Umfang und Tempo an Kontakten mit anderen Kulturen, wie sie die Globalisierung mit sich brachte, stellte die Frage nach der Bewahrung von traditioneller Kultur und ihrem Schutz von neuem. Debatten um die vermeintliche Leitkultur machen dies deutlich, die bewahren soll, was schon immer galt, und an dem sich die Fremden, bitteschön, zu halten hätten. Gegen diese konservativen Kulturbegriffe verteidigt Ammicht Quinn den Begriff der Authentizität, der sich wandle „[…] von einer primär historisch begründeten Kategorie , die darauf besteht, dass Kulturen so bleiben müssen, wie sie ‚immer‘ waren, zu einer systematisch argumentierenden Kategorie, die die Art und Weise betrachtet, wie Fremdes angeeignet wird […]“ (Ammicht Quinn 2011: 266, Hervorheb. i. O.). Kulturen sieht Ammicht Quinn nicht als abgeschlossene Einheiten, die ohne Kontakt nebeneinander bestünden. Dies sei schon historisch falsch. Sie sieht Kulturen generell in der Lage, aufeinander zu reagieren und voneinander zu lernen. Globalisierung könne zu einer kulturellen Homogenisierung führen, sie biete aber auch die Chancen. So könne der historisch sich immer wieder manifestierende, problematische Bezug von Kultur und Nationalstaat gelöst werden; zugleich sei Kultur „die mitlaufende Beobachtung, die unter den Bedingungen des Pluralismus zu jedem Wert auch den Gegenwert bereithält“. Für Ammicht Quinn bedeutet ‚mitlaufende Beobachtung‘ die Minimierung von Gewalt- und Unterdrückungspotenzial und zugleich Gedächtnis. Menschlichem Handeln blieben Handlungsoptionen geöffnet. Regina Ammicht Quinn weist darauf hin, dass jede Kultur immer schon mit einer bestimmten Moral verbunden ist. Davon unterscheidet sie die Kulturethik als Reflexion auf diese Moral und schlägt drei Reflexionsebenen vor (Ammicht- Quinn 2011: 267): 1. „Auf der ersten Ebene gibt es keine Ethik, die nicht im allgemeinen Sinn Kulturethik wäre, denn jede Ethik befindet sich im Bereich der Kultur, hält ihn aufrecht, kritisiert ihn oder verändert ihn. Wasserethik als Kulturethik 133 134 Simon Meisch 2. Auf der zweiten Ebene ist Kulturethik im spezifischen Sinn mit der Reflexion dieses Standorts innerhalb einer bestimmten Kultur befasst, eines Standorts, der eine bestimmte Struktur von Symbolen und Bedeutungen voraussetzt. Kulturethik als eine ethische Reflexion der moralischen Aspekte einer Kultur ist hier normative Voraussetzung von Ideologiekritik, Institutionenkritik und Kritik der Kommunikationsformen eines bestimmten Systems. 3. Diese Reflexion des eigenen Standorts führt auf der dritten Ebene zu einer Kriteriologie sowohl im normativen Sinn als auch im Sinn des guten Lebens, die ethische Urteile über Kulturen ermöglicht.“ Kulturethik in diesem Sinne reflektiert erstens Moral in einem bestimmten kulturellen Kontext, setzt sich zweitens kritisch mit ihrem eigenen Standort innerhalb dieses Systems auseinander, das sie auch aufrecht erhält, und entwickelt drittens Kriterien, mit denen sie kulturelle Kontexte im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus bewerten kann. Es kommt der Kulturethik die Rolle zu, kulturelle Vielfalt überhaupt erst wahrzunehmen und anzuerkennen. Dabei steht sie laut Regina Ammicht Quinn vor einer doppelten Herausforderung. Sie muss zum einen vermeiden, den eigenen Standpunkt, von dem aus sie diese Vielfalt wahrnimmt, zu verabsolutieren. Zum anderen darf sie aber auch nicht kulturelle Vielfalt einfach affirmativ zelebrieren und sich die Möglichkeit nehmen, kritisch auf bestehende Ungerechtigkeiten reagieren zu können. Kulturethik komme auch die Aufgabe zu, Mittlerin zwischen Kulturen zu sein und die Sprachfähigkeit zu erhalten. Wenn sie aus chauvinistischen oder aus relativistischen Gründen vermeidet, eine Position zu beziehen, unterminiert sie diese Dialogfähigkeit. Zugleich vermeidet sie damit auch nicht das implizite Entstehen von Bewertungen, über die dann aber nicht offen gesprochen wird: „Gegen einen normativen Chauvinismus, Romantizismus und Skeptizismus geht es in der kulturethischen Reflexion darum, Verständigungsmöglichkeiten und Kritikmöglichkeiten über kulturelle Grenzen hinweg zu etablieren.“ (Ammicht Quinn 2011: 268). Die Suche nach Möglichkeiten der wechselseitigen Kritik steht im Spannungsfeld zwischen universalistischen Geltungsansprüchen und partikularen Vorstellungen des guten Lebens. Damit formuliert Regina Ammicht Quinn ein anspruchsvolles Forschungsprogramm für die Kulturethik - und auch für die junge Wasserethik. Wasserethik als Kulturethik „Wer mit der Erscheinungsvielfalt des Wassers vertraut ist, wird leichter einräumen, daß jede Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie für die neuzeitliche Wissenschaft kennzeichnend wurde, ein Irrweg ist oder zumindest nur zur Wasserethik als Kulturethik 135 halben Wahrheit führt.“ (Böhme 1988: 11). Diese Kritik äußerte Hartmut Böhme 1988 in seiner lesenswerten und immer noch aktuellen Kulturgeschichte des Wassers. Seine Diagnose ist kennzeichnend für jene Forderungen, Wasser und den Umgang mit Wasser kulturell eingebettet zu betrachten (Goodbody 2008). Während die menschlichen Perspektiven auf Wasser vielfältig sind, wird der öffentliche Diskurs doch durch ein hydrologisches Paradigma geprägt. Dieses reduziert Wasser auf seine stofflichen Eigenschaften und seine Ströme auf den Wasserkreislauf, den Wasserexpert_innen zu kontrollieren und manipulieren versuchen. Wasser sei technologisch zu beherrschen und müsse beherrscht werden, um Nutzen zu generieren und Schaden zu vermeiden. Diese Vorstellung gesellschaftlicher Naturverhältnisse hält den Natur-Kultur-Dualismus aufrecht und betrachtet Wasser als etwas der Gesellschaft Äußerliches. Als ein Ausweg aus dieser reduktionistischen hydrologischen Perspektive gilt die stärkere Zuwendung der Wasserforschung zu kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Wasser. Hier öffnet sich ein weites Feld, das von der Politischen Ökonomie bis zu den Literaturwissenschaften reicht, die je mit guten Gründen andere Wasserkulturen und eine Überwindung des Natur-Kultur-Dualismus einfordern (u. a. Linton / Budds 2013, Böhme 1988, Goodbody 2008, Schmidt / Peppard 2014). Dem Wasserkreislauf wird der hydro-soziale Kreislauf gegenübergestellt, der die vielfältigen kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Wasser und Gesellschaft herausarbeitet und sich damit beschäftigt, wie sich beide wechselseitig immer wieder neu erschaffen („a socio-natural process by which water and society make and remake each other over space and time“, Linton / Budds 2013: 175). Das Konzept des hydrosozialen Kreislaufes stammt ursprünglich aus der politischen Ökonomie und beschäftigt sich mit der sozialen Aneignung von Wasser. In diesem Verständnis war Wasser nie eine kontextlose Substanz, sondern begegnete Menschen immer bereits in sozial konstruierten und vermachteten Strukturen, von denen einige profitierten und andere nicht. Dies bedeutet, dass durch Veränderungen in diesen Strukturen bestimmte Akteure gewinnen oder verlieren werden. Diese Perspektive auf Wasser besitzt (mehr oder weniger explizit gemachte) normative Bezüge und verfolgt emanzipatorische Absichten. Darauf aufbauend plädieren Linton und Budds (2014) für eine stärkere begriffliche Öffnung des hydrosozialen Kreislaufs über den engeren politikökonomischen, überwiegend auf Prozesse der Kapitalakkumulation fokussierenden Kontext hinaus. Diese Erweiterung erlaube Einsichten in drei Bereichen: erstens, was Wasser ist und wie es über soziale Prozesse angeeignet wird; zweitens, wie Wissen über Wasser entsteht und welche alternativen Wissensformen bestehen; und drittens, wie Wasser soziale Beziehungen, Macht und Technologien zusammenbringt. Linton und Budds drücken dabei die Hoffnung aus, dass „by revealing the ways in which social inequalities and injustices 136 Simon Meisch become produced and sustained through water, the hydrosocial cycle might be useful in promoting more equitable hydrosocial relations“ (Linton / Budds 2014: 179). Damit wird ein Weg geebnet, um Wasser als konstitutives Merkmal von Wasserkulturen wahrzunehmen und zu untersuchen. Indem zugleich explizit ethische Reflexion eingefordert wird, steht die Wasserethik auch vor kulturethischen Fragestellungen. 3 Für die Wasserethik geht es aber nicht allein darum, hydrosoziale Praktiken zu reflektieren und für moralisch verantwortbare Praktiken zu argumentieren, sondern sie muss sich auch mit ihrem eigenen Standort innerhalb eines Systems von Symbolen und Bedeutungen auseinandersetzen, die eine Wasserkultur bilden, und damit die Grundlage schaffen für die Kritik von Ideologien, Institutionen und Kommunikationsformen, die diese Wasserkultur ausmachen. In diesem Verständnis würde Wasserethik dafür sensibilisieren, dass es überhaupt vielfältige, kontingente hydrosoziale Kulturen gibt (Schmidt / Peppard 2014: 540). Aus dem Umstand, dass Wasser das sine qua non für menschliches Leben ist, folgt selbstredend nicht, dass selbst basale hydrosoziale Praktiken überall die gleichen (gewesen) wären: „Nur vordergründig erscheinen Akte wie Trinken oder Baden als gewissermaßen geschichtslose Elemente sozialen Handelns.“ (Böhme 1988: 11). Eine kulturethisch inspirierte Wasserethik kann dazu beitragen, die Vielfalt an hydrosozialen Kulturen wahrzunehmen und die vermeintliche ‚Natürlichkeit’ der vorherrschenden Wasserkultur in Frage zu stellen, die auf den reduktionistischen Vorstellungen einer sich auf Descartes berufenden neuzeitlichen Wissenschaft aufbaut. Sie schafft damit zum einen die Wertschätzung (für das Wissen) traditioneller Wasserkulturen, wappnet aber zum anderen dagegen, diese Kulturen naiv zu romantisieren und damit bestehende Ungerechtigkeiten nicht zu thematisieren. Politikökonomische Ansätze betonen die Rolle politischer Macht bei der Aneignung von Wasser. Die Kritik ungerechter Verhältnisse und Forderungen nach der Emanzipation von Menschen aus unterdrückenden Bedingungen baut zumindest implizit auf normativen und evaluativen Vorstellungen legitimer Machtausübung und eines guten und förderlichen menschlichen Lebens auf. Eine kulturethisch verstandene Wasserethik fordert hier die explizite ethische Diskussion zugrundeliegender Annahmen. Damit schafft Wasserethik auch die Grundlage, um ethische Urteile über Wasserkulturen fällen zu können. Gerade dieser letzte Punkt stellt eine große Herausforderung für eine als Kulturethik verstandene Wasserethik dar, weil voraussetzt wird, dass es überhaupt möglich ist, Urteile über andere Kulturen zu fällen. Gerade für 3 Im Rahmen dieses Beitrags kann ich der reizvollen Aufgabe leider nicht nachgehen, mich systematisch mit einer bestimmten hydrosozialen Kultur und insbesondere der hegemonialen naturwissenschaftlichen auseinanderzusetzen, indem ich sie durch die konzeptuellen Linsen der Kulturethik von Regina Ammicht Quinn betrachte. Wasserethik als Kulturethik 137 kulturwissenschaftlich arbeitende Forscher_innen steht die Bewertung anderer Kulturen unter einem Generalverdacht (vgl. etwa Peppard / Schmidt 2014: 535, dazu Meisch 2017). Wasserethik müsste es sich einerseits zur Aufgabe setzen, Kriterien zu entwickeln, die einen universellen Anspruch dafür formulieren, was irgendwie jedem sofort einleuchtet, dass nämlich alle das Wasser zum Leben haben sollen, das sie für ein gutes Leben benötigen. Diese Kriterien müssten andererseits unterschiedlichen Vorstellungen des guten Lebens Rechnung tragen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder der Fähigkeiten-Ansatz von A. Sen und M. Nussbaum genannt; auch die deontologische Theorie von A. Gewirth scheint hier vielversprechend (Meisch 2016b). In diesem Beitrag habe ich allenfalls skizziert, was die junge Wasserethik gewinnen kann, wenn sie sich die kulturethischen Überlegungen von Regina Ammicht Quinn aneignet. Wichtig ist mir hier, dass die Wasserethik erstens ein Rüstzeug erhält, um Wasser als Element unterschiedlicher Kulturen zu verstehen sowie ihren eigenen Standpunkt innerhalb dieser Kulturen wahrzunehmen und zu reflektieren. Zweitens wird sie eingeladen, skeptische bzw. relativistische Positionen zu überwinden und Kommunikation und Dialog zwischen unterschiedlichen Wasserkulturen zu ermöglichen. Jedoch ließe sich noch vieles mehr ausführen. 4 Literatur Ammicht-Quinn, Regina (2011). Kulturethik. In: Düwell, Marcus / Hübenthal, Christoph / Werner, Micha M. (Hrsg.) Handbuch Ethik. Stuttgart / Weimar: Metzler, 264-269. Benessia, Alice (2012). Hybridizing sustainability: Towards a new praxis for the present human predicament. Sustainability Science 7 (Supplement 1), 75-89. Böhme, Gernot (1997). Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ernsten Fragen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 4 Ich habe nicht darüber gesprochen, dass Kulturethik auch Verständigungsmöglichkeiten zwischen Wasserkulturen suchen kann und damit auch zwischen naturwissenschaftlichen und anderen Wissensformen. Die Folge wären hybride, kulturspezifische Wissensformen. Dahinter steht ein emanzipatorisches Potenzial für eine Nachhaltige Entwicklung, dessen Ausformulierung einen eigenen Buchbeitrag verdient (vgl. Benessia et al. 2012). Ich habe in diesem Text in kritischer Absicht von der Neoliberalisierung von Wasser gesprochen - und möchte davon auch nicht abrücken. Jedoch warnt uns Regina Ammicht Quinns Kulturethik davor, zu naiv von einer neoliberalisierenden Kulturschmelze auszugehen. Kulturen reagieren unterschiedlich auf die neoliberale Herausforderung, und es wäre eine empirische Frage, wie sie dies tun (Brenner / Theodore 2002). Mit dieser Perspektive würden wir Kulturen zumindest nicht ausschließlich in eine Opferrolle drängen. 138 Simon Meisch Böhme, Hartmut (1988). Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung. In: Böhme, Hartmut (Hrsg.) Kulturgeschichte des Wassers. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7-47. Brenner, Neil / Theodore, Nik (2002). Cities and the Geographies of “Actually Existing Neoliberalism”. Antipode, 34: 3, 349-379. Düwell, Marcus (2008). Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche. Stuttgart: J. B. Metzler. Goodbody, Axel (2008). Wasserkultur: Kulturelle Dimensionen der ökologischen Wende im Umgang mit dem Wasser und die Leistung der literarischen Imagination. In: Goodbody, Axel / Wanning, Berbeli (Hrsg.) Wasser - Kultur - Ökologie. Beiträge zum Wandel im Umgang mit dem Wasser und die Leistung der literarischen Imagination. 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Genealogies of resilience. From systems ecology to the political economy of crisis adaptation. Security Dialogue 42(2), 143-160. Ökonomie der Information-- Der Wandel der Welt und die Suche nach einer „sozialen Ökonomie“ Thomas Gauly I. Die Ökonomie der Information und der Wandel der Welt Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschafts- und Sozialsysteme hat nach den weltweiten Finanzkrisen an Dynamik und Schärfe gewonnen. Die Prophezeiung des Untergangs politischer oder wirtschaftlicher Systeme ist freilich nicht neu. Auch die Rede von der „Welt im Wandel“ gehört zum festen Topos der Geschichte der Menschheit. Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, scheint wieder eine Epochenwende anzustehen, scheint ein fundamentaler Wandel für jedermann „mit Händen zu greifen“. Dieser tiefgreifende Wandel hat seine Wurzeln und Grundlage in der Ökonomie der Information. 1 Blicken wir auf das 20. Jahrhundert, so werden im Rückblick erste Konturen von Entwicklungen und Umbrüchen sichtbar, die sich heute als Treiber eines grundlegenden und umfassenden Wandels manifestieren. Seine Wurzeln sind vielfältig: So hat das Ende der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bipolarität am Ende der 1980er Jahre eine ungeahnte Dynamik an Veränderungen freigesetzt. Es begann der wirtschaftliche und politische Aufstieg von Staaten und Regionen, die noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts als „Dritte-Welt- Länder“ bezeichnet wurden. Es begann die Rückkehr Chinas als Weltmacht, die Rückkehr Russlands als europäische Wirtschaftsmacht. Und schließlich hat das Ende des Ost-West-Konflikts auch zu einer gesellschaftlichen Öffnung von Regionen geführt, die vierzig Jahre lang als „Terra incognita“ galten. Zugleich muss gesagt werden: Der Krieg kehrte nach Europa zurück. 2 Nahezu zeitgleich 1 Wenn wir in diesem Kontext über die „Ökonomie der Information“ sprechen, geht es hier nicht ausschließlich um die Network-Economy-Forschung oder Informationsgüterökonomie (vgl. Linde 2009), sondern um einen sehr viel weiter gefassten Begriff, der vielfältige Kontexte der Kommunikation umfasst. 2 Die als „Balkankonflikt“ bekannten militärischen Konflikte auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien machten den Anfang einer Kette von Katastrophen: 10-Tage-Krieg in Slowenien (1991), Kroatienkrieg (1991-1995), Bosnienkrieg (1992-1995), kroatisch-bos- 142 Thomas Gauly entwickelte sich der internationale Terrorismus in verschiedensten Formen und Gestalten zum Surrogat und Wegbegleiter althergebrachter Formen des Krieges. Auch die Renationalisierung in Europa und die Renaissance des religiösen Fundamentalismus vor allem in muslimisch dominierten Ländern werfen in all ihrer Ambivalenz Fragen auf. Freilich dürfen nicht die gewaltigen Fortschritte in Technik, Luft- und Raumfahrt, Biotechnologie und Medizin vergessen werden, die bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen der Welt sowohl zum Einzug technologischer Errungenschaften und sozialer Verbesserungen, als auch zu weiteren gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen führten. All diese Entwicklungen fließen ineinander und wurden seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als jenes Phänomen benannt, das unser Weltverständnis ebenso verändert, wie unser alltägliches Leben: Die Rede ist von der Globalisierung 3 . Globalisierung ist weit mehr als das Synonym für den weltweiten Austausch von Waren und Dienstleistungen. Globalisierung ist mehr als die Summe aller Güter, ist überhaupt keine Summe. Sie ist vielmehr eine neue „Qualität“ oder Dimension des Zusammenlebens und damit die paradigmatische Beschreibung eines neuen Weltverständnisses, das sich gleichsam zu einem neuen Weltbewusstsein entwickeln wird. Die „Digitale Revolution der Kommunikation“ Seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts finden wir den Ausgangspunkt einer technologischen Revolution, welche erst Jahrzehnte später ins allgemeine Bewusstsein drang: „Die Digitale Revolution der Kommunikation“ (Gauly 2001: 30). Ein Phänomen, das in der Geschichte der Menschheit unvergleichbar ist. Es betrifft Organisationen in Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft ebenso wie jeden einzelnen als Privatperson. Es ist grundlegend für die Art und Weise, wie sich Staaten untereinander austauschen, Kriege gegeneinander führen, wie Terroristen agieren, wie Informationen zwischen Unternehmen und Organisationen oder zwischen einzelnen Personen ausgetauscht und verarbeitet werden. Das Internet als globales Kommunikationsnetzwerk nischer Krieg im Rahmen des Bosnienkriegs, Kosovokrieg (1999) und der albanische Aufstand in Mazedonien (2001). Blickt man auf die „Rückeroberung der Krim“ und den aktuell anhaltenden Konflikt in der Ukraine, so zeigen sich Muster der kriegerischen Auseinandersetzung, die über Jahrhunderte Europa nicht zur Ruhe kommen ließen. 3 Den Begriff „Globalisierung“ machte der US-amerikanische Trendforscher John Naisbitt (* 1929) in den 80er Jahren populär (vgl. Naisbitt 1982). Darin beschrieb Naisbitt am Beispiel der Autoindustrie die Funktionsweise der Globalisierung. Ökonomie der Information 143 und die Kommerzialisierung einer neuen Infrastruktur 4 bereiteten den Boden für diese Revolution. 5 Die neue Art der Kommunikation prägt inzwischen das menschliche Zusammenleben auf allen Kontinenten. Die „Digitale Revolution der Kommunikation“ ist die wirkmächtigste Revolution aller Zeiten, weil sie individuell, kollektiv und institutionell auf globaler Ebene unabhängig von Einkommen, sozialer Schicht, nationalen Grenzen oder Regionen Zugang zu Information und Interaktion ermöglicht. Sie erlaubt einen globalen Informationsaustausch in Realtime 6 , dessen tägliches Volumen die Vorstellungskraft eines jeden von uns übersteigt. Und sie hat sich zu einem ökonomischen Faktor und Treiber ungeahnten Ausmaßes entwickelt. Um die Geschwindigkeit dieser Vorgänge zu verstehen, muss man sich nur vergegenwärtigen, dass es beispielsweise erst zehn Jahre her ist, dass das erste Smartphone von Apple in den USA auf den Markt kam, das heute - in den unterschiedlichsten Varianten und von einer Vielzahl von Herstellern - aus der alltäglichen Kommunikation kaum mehr wegzudenken ist. Die „Welt als Dorf“ und die Entstehung einer kollektiven Identität Nie zuvor war die Welt so klein. Nie zuvor erschien sie uns so greifbar. Und paradoxerweise erschien sie uns nie so fern und undurchschaubar. Die Welt wird heute als „Globales Dorf “ verstanden. Der Begriff geht auf den Medientheoretiker Marshall McLuhan zurück, der ihn 1962 in seinem Buch „Die Gutenberg- Galaxis“ prägte (McLuhan 1962). Die Welt, so seine These, wächst zusammen, indem „Individualität“ zugunsten einer kollektiven Identität aufgegeben wird. Diese kollektive Identität muss nicht kulturpessimistisch interpretiert werden, wenngleich man sie in ihrer vollen Ambivalenz begreifen sollte. Denn unbeantwortet ist die Frage, ob individuelle durch kollektive Identität eingeschränkt, verdrängt oder gar ersetzt werden wird. Auch die damit verbundene Frage, 4 Damit sind traditionelle leitungsvermittelnde Telekommunikationsnetze wie Telefonnetze, Kabelfernsehnetze, Mobilfunknetze ebenso gemeint wie hochmoderne Breitbandnetze oder sogenannte Next Generation Networks (NGN), welche die bisherige Netzinfrastruktur und -architektur ersetzen werden. Durch die Kommerzialisierung dieser Infrastrukturen (u. a. durch Privatisierung) ist weltweit eine milliardenschwere Industrie entstanden. 5 Mit „Kommunikation“ sind hier alle Möglichkeiten des inhaltlichen Austausches von Informationen gemeint, sei es individueller, als auch persönlicher oder kollektiver, etwa institutioneller, Art. Dagegen wird unter „Information“ im Folgenden eine quantitative Größe verstanden. Information als Träger eines Inhaltes, der aber erst als Ware oder im Zuge eines kommunikativen Vorganges eine Bedeutung erhält. 6 Der Begriff „Realtime“ wird oft missverstanden, denn im Wortsinne versteht man darunter, dass exakt in der Millisekunde, in der eine Information gesendet wird, diese beim Empfänger ankommt. Dies ist aktuell noch nicht möglich. 144 Thomas Gauly inwiefern eine kollektive Identität zu mehr Gemeinsinn und sozialem Miteinander oder vielmehr zu totalitären Allmachtsphantasien global agierender Systeme, Institutionen oder von Einzelpersonen führt, ist offen. Klar scheint nur eines: Viel intensiver als zu früheren Zeiten wird Globalität heute zur selbstverständlichen kollektiven Welterfahrung und zugleich zur Zumutung eines jeden von uns, weil die Komplexität der Globalisierung mit großen Ängsten vor den Konsequenzen einer weiteren Globalisierung verbunden ist. Die durch die Globalisierung erzwungene Weitung unseres Bewusstseins, Menschen der „einen Welt“ zu sein, deren Schicksal weit mehr miteinander verwoben ist, als wir es uns je gedacht oder gewünscht hätten, kann man als den eigentlichen Einschnitt zu Beginn des neuen Jahrhunderts nennen. 7 Denn es macht uns nicht nur Interdependenzen sichtbar, Verstrickungen, von denen wir nichts wussten, sondern es offenbart sich uns zugleich als ein gigantisches unüberschaubares Mikado-Spiel, bei dem die kleinste Berührung eines Stäbchens am einen Ende der Welt, den ganzen Haufen am anderen Ende zum Wanken bringen kann. Damit wird die Ambivalenz - ständig informiert zu sein, scheinbar über alles Bescheid wissen zu können, aber zugleich dies alles nicht einordnen, geschweige denn verstehen oder mitgestalten zu können - zur mentalen Bürde des informationsgetriebenen Individuums im 21. Jahrhundert. Das Verschmelzen von Raum und Zeit Damit kommen wir zum zweiten Phänomen, das neben einer wachsenden kollektiven Identität Teil des neuen Verständnisses von der Welt ist, nämlich die Veränderung unserer bisherigen Wahrnehmung von Raum und Zeit. Anders als in den vergangenen Jahrhunderten haben wir in „Realtime“ teil an Geschehnissen, die sich am anderen Ende des Globus ereignen. Unser bisheriges Verständnis von Raum und Zeit verschwindet im digitalen Zeitalter, indem wir „zeitgleich“ die Welt an unterschiedlichen Schauplätzen „erfahren“ und mit ihr kommunizieren können. Und nicht nur dies: Wir sind nicht allein passive Zuschauer oder Zeugen, sondern können wiederum in „Realtime“ zu Akteuren des Geschehens in völlig anderen Kontexten und Zeitzonen werden. 7 An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass mit den Durchbrüchen der Raumfahrt, insbesondere den beiden Mondlandungen, dieses „Weltbewusstsein“ einen entscheidenden Impuls bekam. Ökonomie der Information 145 Ein neues Verständnis von Mensch und Maschine Vor allem zwei Forschungsgebiete sind für das Ineinanderfließen und damit für die Verschmelzung von fiktiver und physikalischer Welt, von Raum und Zeit von hoher Bedeutung: die sogenannte „Artificial Intelligence“ ( AI ) und die „Kybernetic Intelligence“ ( KI ). 8 Beide rücken die Digitalisierung von Informationen in die Nähe menschlicher Intelligenz und verändern damit unser gewachsenes Verständnis von Mensch und Maschine. 9 Es entstehen zunehmend autonome „selbstlernende Systeme“ mit „neuronalen Netzwerken“, die es mit „menschenalltäglicher Komplexität“ (Büscher et al. 2011) aufnehmen können. Dies ist keine Science-Fiction-Geschichte, sondern Realität: Weltweit bekannt wurden die Google-Software Alpha-Go und der „Jeopardy-Supercomputer Watson“ von IBM. Er beschränkt sich nicht mehr auf das ihm zugewiesene Expertenwissen, sondern ist selbständig in der Lage, Informationen von allen möglichen Quellen zu generieren und agiert damit „deutlich wie ein menschenähnliches Gehirn bzw. ähnlich den Verfahren, die wir anwenden, wenn wir Informationen aggregieren, um Fragen zu beantworten“ ( Jeschke 2016). Hinzu kommt: Es entsteht eine völlig unbekannte Form von „Gruppenintelligenz“ unter Maschinen, das sogenannte „Internet of Things“, indem sich z. B. Autos miteinander in Echtzeit autonom vernetzen können. Mit anderen Worten: Diese Systeme sind in der Lage, voneinander zu lernen und zwar über die Informationen hinaus, die ursprünglich in ihrer Software angelegt waren. So wie wir Menschen seit Jahrtausenden agieren, um uns Informationen anzueignen, indem wir mit anderen kommunizieren, sind diese Maschinen in der Lage, andere Maschinen zu befragen und deren Wissen „abzusaugen“ und sich anzueignen. Sie tun dies in einer Komplexität und Geschwindigkeit, mit der das menschliche Gehirn nicht konkurrieren kann. Sabina Jeschke, eine der weltweit führenden Expertinnen auf diesem Gebiet, bringt den Unterschied zwischen den Maschinen der „alten Welt“ und den Maschinen der „neuen Welt“ wie folgt auf den Punkt: Gegenwärtige Techniksysteme sind vollständig das Ergebnis unseres Denkens und unterliegen in diesem Sinne auch vollständig unserer Kontrolle […]. In dem Moment aber, in dem ein Auto autonom fährt, beginnt es zu lernen, es entwickelt sich, es verändert sich. Ein solcher Lernprozess kann längst nicht mehr in demselben Maße kon- 8 Vgl. hierzu den Beitrag der Direktorin des Kybernetic-Clusters an der Aachener RWTH University Sabina Jeschke (2016): „4.0 - eine Revolution der künstlichen Intelligenz“, 3-33. 9 Spätestens die technischen Errungenschaften Roms haben dieses Verhältnis nachhaltig geprägt. Zu den ersten Anwendungen zählen Erfindungen aus dem 1. und 2. Jahrtausend v. Chr., u. a. die Maschinen des Archimedes. 146 Thomas Gauly trolliert werden wie unsere herkömmlichen ,Master-Slave-Systeme’ - und mit diesem Kontrollverlust tun wir uns schwer. (ebd.) Mit diesen Entwicklungen stehen wir mitten in der vierten industriellen Revolution, bei der physikalische und virtuelle Welten miteinander verschmelzen und das Verhältnis Mensch-Maschine eine neue Dimension erhält. 10 Neu ist, dass Information 11 in ihrer Vielgestalt, als Content, Ware, Produkt, Träger von anderen Informationen (Software) mit anderen Systemen zum Treiber einer neuen Ökonomie wurde. Durch die Vernetzung der „intelligenten Maschinen“ wandelt sich die bisherige Produktionslogik, weil dabei die physikalische mit der virtuellen Welt verschmolzen wird (Linde 2009). So fasst es die Kybernetik-Expertin Jeschke zusammen: “Am Ende steht die vernetzte Fabrik und eine zunehmend autonome Produktions- und Logistikkette, mit Maschinen, Geräten und Produkten, die scheinbar selbstständig arbeiten“, gemäß dem Motto „Everybody and everything is networked“ ( Jeschke 2016: 32). Gleichzeitig werden intelligente Maschinen selbstverständlicher Teil unseres Privatlebens, prägen unser Sozialverhalten 12 und werden - dank Smartphones, „Social Media“, Sexrobotern etc. - immer stärker Teil unserer Lebenswirklichkeit. 13 Diese vierte industrielle Revolution basiert auf den Grundlagen Information, Kommunikation und Intelligenz ( AI und KI ). Sie ist insofern ihren Vorgängern seit dem späten 18. Jahrhundert ähnlich, als dass auch sie gewaltige soziale Umwälzungen, Veränderungen der Lebensverhältnisse aller Bevölkerungsschichten, der politischen und wirtschaftlichen Abläufe mit sich bringen wird. Aber sie erhält eine völlig neue Dimension allein aufgrund der Globalität, mit der sie sich vollzieht, und aufgrund der Geschwindigkeit und Intensität (Totalität), mit der sie all unsere Lebensbereiche verändert. Haben sich in den vergangenen zweitausend Jahren der Menschheitsgeschichte Generationen von Philosophen und Theologen am Unterschied von 10 Eine der wenigen Politiker, die dies frühzeitig verstanden haben ist die deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. Die promovierte Physikerin mahnte schon früh, dass die bisherige Digitalisierung erst der Anfang einer großen Entwicklung sei. 11 Eine allgemeine Definition von Information als Gut findet sich bei Linde 2009: „Ein Informationsgut ist eine inhaltlich definierbare Menge an Daten, die von Wirtschaftssubjekten als nützlich vermutet wird.“ Vgl. hierzu zwei amerikanische Autoren, welche einen anderen Ansatz wählen, davon ausgehend, dass nur Informationen, die digitalisierbar sind, als ökonomisches Gut bezeichnet werden können: Shapiro / Vavian 1998. 12 Bereits heute prägen die sogenannten „sozialen Medien“, wie Facebook oder Whatsapp das Sozialverhalten von Millionen Jugendlichen und Erwachsenen. 13 An dieser Stelle sei erinnert an menschenähnliche Sexroboter der US-Firma True Companion. Diese Maschinen können reden, Berührungen spüren und jeden sexuellen Wunsch ihres Besitzers erfüllen. Die Roboter werden bereits auf dem Markt für rund 6695 Dollar vertrieben. Vgl. Lobe (2016: 23). Ökonomie der Information 147 Geist und Materie, am Unterschied von Mensch und Natur, von Mensch, Tier- und Pflanzenwelt, von Mensch und Kosmos abgearbeitet, so erweitert sich deren Arbeitsgebiet auf einen neuen Themenkreis mit Bezug auf das Verhältnis von Mensch und intelligenter Maschine - oder vielleicht sogar von Mensch und „Humanoid“. 14 II. Europa und die Suche nach einer „Sozialen Ökonomie“ Neben diesen philosophischen und theologischen Fragen stehen aktuell politische und soziale Fragen im Interesse der Öffentlichkeit 15 : Nicht wenige Sozialpolitiker und Ökonomen fürchten den Verlust sozialer Errungenschaften und von Millionen Arbeitsplätzen. Sie prognostizieren angesichts des industriellen Einsatzes von intelligenten Systemen eine weltweite Massenarbeitslosigkeit, die in sozialen Unruhen und politischen Umstürzen endet. Auf der anderen Seite stehen jene, die in der vierten industriellen Revolution die große Chance sehen - ähnlich wie im Zuge der ersten industriellen Revolution - die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung von Arbeiten zu „befreien“, die unwürdig oder unzumutbar sind. Diese Protagonisten glauben an die Option, dass sich der Mensch stärker als zuvor auf die ihm geschenkten Fähigkeiten Kreativität, Erziehung und Bildung besinnen kann. Zu diesen Stimmen zählt Visha Sikka. Der in Indien geborene Amerikaner gehört zu den erfolgreichsten Softwareentwicklern weltweit. Sikka sieht die Lage wie folgt: It is possible that humans end up killing ourselves, causing our own destruction. It is also possible that, due to a deep-rooted lack of understanding technology and its implications, and weaknesses in education, we end up stupidly creating systems with enough intelligence and enough power, but not enough purpose or integrity, that these systems cause the extinction of humanity. Or, we could create a „Human Revolution“. One where education, enlightened, purposeful education, helps us evolve out of our messes, and shows us a much better way forward […]. 16 Sikka verweist auf den entscheidenden Punkt, nämlich die Frage, an welchen Werten und Zielen wir die neuen Informationssysteme ausrichten wollen und 14 Der Begriff wurde vor allem in der Science-Fiction-Literatur des 20. Jahrhunderts für menschenähnliche Lebewesen aus dem All verwandt. Inzwischen hat er auch in den Forschungsbereichen der „Artificial Intelligence“ Eingang gefunden. 15 Vgl. stellvertretend für die in den westlichen Medien zum Teil undifferenziert geführte Debatte: „Der Spiegel“, Nr. 36 vom 3. 9. 2016, dessen Titel lautet: „Sie sind entlassen! Wie uns Computer und Roboter die Arbeit wegnehmen - und welche Berufe morgen noch sicher sind“. 16 Vgl. hierzu die Rede von Vishal Sikka, „Human Revolution“, CeBIT, November 2014. Das Zitat stammt aus einem Gespräch, das ich im August 2016 mit ihm führte. 148 Thomas Gauly welchen Einfluss dies auf die Entwicklung unserer Wirtschaftssysteme haben soll. Er fragt nach dem Sinn und Ziel des Ganzen, indem er „Integrität“ als Anspruch und Ziel für das „neue Zeitalter“ formuliert. Im Kern ist dieser Appell eine Anfrage an alle Verantwortlichen, rechtzeitig die Weichen zu stellen, damit die vierte industrielle Revolution zu mehr Freiheit und mehr „Arbeit in Würde“ und nicht zu mehr Abhängigkeit von Systemen führt, die nicht auf die Bedürfnisse des Menschen, sondern primär auf die monetären Ziele eines Wirtschaftssystems und seiner Shareholder gerichtet sind. Unabhängig davon, wie realistisch die Bedrohungen der menschlichen Arbeit gesehen werden, scheint es angebracht, dass die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik sich dieser Frage - nämlich der Steuerungsfähigkeit unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems und dessen Wertegrundlagen - stellen. Tun sie dies nicht, so werden Ängste und Unmut in der Bevölkerung wachsen, die sich bereits in unterschiedlichen Formen manifestieren. So hat nicht nur die Zahl der Globalisierungsgegner seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts stark zugenommen, sondern auch deren Organisationsgrad, der sich weit in NGO s, etablierte Parteien bis in bürgerliche Mittelschichten hinein erstreckt. So paradox es sein mag: Den Menschen in den Industriestaaten ging es objektiv gesehen nie besser als heute - Gesundheit, Sicherheit und Wohlstand seien als Stichworte genannt. Und dennoch nehmen Ängste und Psychosen zu, weil die großen Zeitläufte, allen voran die Globalisierung, nicht als Chance zur Weiterentwicklung eines Lebens in Würde, sondern als Gefahr für das Bestehende und als mentale Überforderung wahrgenommen werden. Was ist „sozial“ und was ist eine „soziale Ökonomie“? Zu den prominentesten Stimmen, die sich im Zuge dieser Debatte zu Wort meldeten, gehört Papst Franziskus. Er rief in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreises im Mai 2016 dazu auf, unsere „liquid economy“, die sich zu sehr nach „revenues, profiting from speculations and lending at interest“ orientiere, zu einer „social economy“ zu entwickeln. Er verbindet damit ein Wirtschaftssystem, „that invests in persons by creating jobs and proividing training“. 17 Ähnlich wie Sikka sieht der Papst offensichtlich die Chance gekommen, unsere Wirtschaft in eine andere Richtung zu lenken, die menschliche Kreativität und Entfaltung seiner Würde freisetzt. Die Frage „Was ist sozial? “ mag für christlich motivierte Ethik und Theologie leicht zu beantworten sein. Blickt man in die Geschichte der Sozialen 17 Vgl. die Rede des Papstes bei der Preisverleihung in Rom am 6. Mai 2016, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Mai 2016, 1-2. Ökonomie der Information 149 Marktwirtschaft und ihrer Veränderungen in Zeiten der Globalisierung, so wird jedoch deutlich, dass das Verständnis von einer „Sozialen Wirtschaft“ ebenso grundlegenden Wandlungen unterliegt wie die Definition der Arbeit. Und es wird deutlich, dass die Unterschiede allein innerhalb Europas mit Blick auf Werte wie „sozial“, „gerecht“ oder Begrifflichkeiten wie die „Würde des Menschen“ längst nicht mehr so übereinstimmend beantwortet werden können, wie dies lange Zeit erschien. So haben z. B. die nordischen Länder ein durchaus anderes Verständnis von „sozialer Gerechtigkeit“ als die Länder im Süden Europas und auch ein zentraler Begriff wie die „Würde der Person“ wird innerhalb Europas höchst unterschiedlich interpretiert. 18 Um die Heterogenität Europas bezüglich eines gemeinsamen Verständnisses von Grundwerten zu verdeutlichen, sei hier nur an die kontroverseren Diskussionen im Zusammenhang mit den Anwendungen der Humangenetik erinnert. Und man darf daran erinnern, dass auch innerhalb der christlichen Kirchen und ihrer Soziallehre erheblicher Diskussionsbedarf besteht, wenn man diese Begrifflichkeiten im globalen Kontext interpretiert. Klassische Begrifflichkeiten und Lehren wie die eines Oswald von Nell Breuning 19 von der „Sozialnatur“ und „Individualnatur“ des Menschen sind damit nicht überholt, aber sie müssen im Kontext einer globalisierten Welt neu interpretiert werden. Stellen wir die Frage „Was ist sozial? “ und konkretisieren diese hinsichtlich politisch definierter und gesellschaftlich akzeptierter „Sozialstandards“ in den unterschiedlichen Kontinenten, Regionen und Staaten, so wird deutlich, vor welch große Aufgaben wir in Zeiten der Globalisierung gestellt sind. Europa und die Wirtschaft der Zukunft Wenn wir die Entwicklungen der Industrien der vergangenen Jahrzehnte analysieren, so können wir eine signifikante Verschiebung an der Spitze der größten und mächtigsten Unternehmen feststellen. Geht man der Frage nach, wer den industriellen Wandel treibt und wer die bisherigen Nutznießer sind, so muss man folgendes feststellen: Vergleicht man die Liste der größten Unternehmen der Welt mit Blick auf deren Börsenbewertung, deren Umsätze und Anzahl von Kunden, so werden beide Ranglisten von chinesischen und amerikanischen Unternehmen dominiert. Diese chinesisch-amerikanische Dominanz sollte Europa 18 Als Sekretär und Mitautor des ersten Grundsatzprogrammes der christlich-konservativen Parteien Europas habe ich selbst zu Beginn der 90er Jahre diese Erfahrung machen dürfen. 19 Im Zentrum seiner Lehre standen die Grundprinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Zur Diskussion über das beste Wirtschaftssystem vgl. von Nell Breuning (1986). 150 Thomas Gauly zu denken geben, und zwar in zwei Richtungen: Zum einen hinsichtlich seiner Innovationsfähigkeit und Wirtschaftskraft. Es scheint, als habe der alte Kontinent nicht die Kraft zur ökonomischen Innovation und Kreativität wie dies in anderen Teilen der Welt offensichtlich der Fall ist. Zum anderen müssen die Europäer sich fragen, ob und in welcher Weise sie in Zukunft unser Verständnis von einer „Sozialen Marktwirtschaft“, unser Verständnis von der Würde der Arbeit und unser Verständnis vom Menschen auf der großen Weltbühne einbringen können, wenn die Treiber des sozialen und ökonomischen Wandels jenseits des Abendlandes zu Hause sind. Ist Europa zur technologischen und wirtschaftlichen Mittelmäßigkeit verdammt? Oder sind wir vor allem durch unsere Geschichte dazu prädestiniert, die Rolle des politisch-moralischen Vermittlers zwischen USA und China zu spielen? Steht Europa vor der Herausforderung, die Dialektik von Mensch und Maschine zum Vorteil des Menschen zu lenken, nicht gegen die Maschine, sondern durch die Maschine hindurch? Werden wir eine künftige Tragödie verhindern, nicht durch einen „deus ex machina“, sondern durch einen „homo ex machina“? Wer seine Sicht von einer „sozialen Ökonomie“ - wie diese auch immer aussehen mag - einbringen oder gar durchsetzen möchte, muss nicht nur gute Argumente haben, sondern sich insbesondere mit den Denkweisen der vierten Industriellen Revolution und den Interessen chinesischer und amerikanischer Industrie- und Politikentscheider vertraut machen. Und er muss zweitens die Rolle Europas definieren, dem alten demografisch erschlaffenden Kontinent, der nicht nur die Wiege der Sozialen Marktwirtschaft ist, sondern vor allem von Humanismus und Aufklärung. Vielleicht liegt darin die Chance Europas innerhalb eines weltumspannenden Dialogs? Globalisierte Wirtschaft und globales Ethos Die Zeiten eines Adam Smith, in denen man an eine „unsichtbare Hand“ glauben durfte, sind längst vergangen. Und auch der Einfluss der christlichen Kirchen insgesamt, deren großes Verdienst es ist, die Lösung der „sozialen Frage“ in Zeiten der ersten industriellen Revolution, sowohl intellektuell als auch durch konkrete Taten, vorangebracht zu haben, muss heute als eher marginal bezeichnet werden. Es scheint fatal, dass gerade jetzt, da wichtige Sinnstifter an Einfluss verlieren, die Frage nach der Moral aktueller ist denn je. Aber vielleicht liegt gerade darin eine neue Chance, einen neuen Weg hin zu einem für alle verbindlichen Ethos zu finden? Wenn es um die Moral jener Marktteilnehmer geht, welche die vierte industrielle Revolution vorantreiben, also um jene Unternehmen, Organi- Ökonomie der Information 151 sationen und deren Führungspersonal, welche zunehmend an Macht und Einfluss gewinnen, so scheint es aus europäischer Sicht sowie Sicht europäischer Philosophie und Theologie ratsam, gemeinsam über Themen wie die „Würde des Menschen und seiner Arbeit“, „die gerechte Verteilung der Güter“ oder die Frage „Was ist sozial? “ in einen Dialog einzutreten. Dies wird nicht leicht sein, denn die Sprache der Ökonomie und Technik ist nicht die Sprache der Theologie und Ethik, und man sollte sich immer die „neuen Machtkonstellationen“ vor Auge halten: Die Verschiebung wirtschaftlicher Macht wird sich auf die inhaltliche Formung zukünftiger Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme auswirken. Daher muss die Frage erlaubt sein: Warum sollten sich jene, welche an den „Schalthebeln der Macht“ sitzen, auf ein Gespräch über eine „soziale Ökonomie“ einlassen, wenn diese ihnen weniger Profit und weniger Macht über Menschen verspricht? Eine plausible Antwort darauf könnte lauten: Solange die Globalisierung den Menschen mehr Angst als Zuversicht vermittelt, mehr Sorge um die Zukunft ihrer Arbeit, die Sicherheit ihres Wohlstandes und den sozialen Zusammenhalt, je weniger Zustimmung und Akzeptanz werden die neuen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme erhalten. Es muss also ein ausgeglichenes Maß an technischem Fortschritt und „sozialer Befriedigung“ geben, damit beides gegeben ist, wirtschaftliches Wachstum einerseits und ein Leben in Würde. Wenn beides zusammenkommt, könnte dies die Grundlage einer „sozialen Ökonomie“ bilden. Diese Verständigung kann in einer globalisierten Welt jedoch nur gelingen, wenn wir uns auf globaler Ebene auf gemeinsame Grundwerte als Ziele einer „sozialen Ökonomie“ einigen, die am Ende zu einer Verständigung über von allen gelebte und respektierte Werte, also ein „Weltethos“ (Dierksmeier 2016) führen können. Das mag auf den ersten Blick sehr naiv klingen, aber die Gegenfrage sei erlaubt: Können wir es angesichts der Globalisierung unserer Lebensbereiche leisten, uns auf die Ethik eines Landes, einer Wirtschaft, oder einer Kultur verlassen zu können? Es ist doch plausibel, was Hans Küng und andere bereits in den 1990er Jahren rieten: „Heute, in Zeiten des Internets, einer global agierenden Politik und Wirtschaft und zunehmend multikultureller Gesellschaften, braucht es einen Grundkonsens über Werte und Normen, der unabhängig von Kultur, Religion oder Nationalität gilt.“ Gleichwohl muss auch gesagt werden: In einem wie auch immer gearteten Weltethos dürfen Überzeugungen und Werte nicht synkretistisch zum philosophischen Einheitsbrei werden. Globale kollektive Identität kann im Zeitalter der Globalisierung nur gelingen, wenn sie mit einer individuellen Identität und der Einbettung des Einzelnen in konkrete soziale (reale, nicht fiktive) Lebenswelten und Traditionen verbunden ist. Gerade die Einsicht in die Vernetzung der Welt, das Wissen um die Interdependenz einerseits und um die damit verbundenen Gefahren andererseits 152 Thomas Gauly zwingen zu der Einsicht, stärker als je zuvor über ein Weltethos nachzudenken, dessen Grundwerte gleichermaßen von Asiaten wie von Amerikanern, von Europäern wie von Afrikanern und Ozeanern geteilt werden können. Darüber muss von Seiten der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gesprochen werden, wenn verhindert werden soll, dass die fortschreitende Ökonomisierung, zunehmend als Gefahr oder Bedrohung wahrgenommen wird. Gerade die Katholische Kirche als globale Institution mit einer 2000 Jahre alten Geschichte könnte hierfür Brücken bauen, wenn sie die notwendige Offenheit und den Respekt vor anderen Kulturen und Religionen als Grundlage ihrer Position berücksichtigt. Bevor der Glaube an die Chancen der Globalisierung weltweit in einen tiefen Kulturpessimismus oder in politische Konflikte umschlagen, sollten die Verantwortlichen diesen Dialog suchen. Dies klingt nach einer Utopie und vollkommen unrealistisch angesichts der vielen machtpolitischen Interessen, welche die „eine Welt“ zerteilen. Aber war es nicht genauso unrealistisch, vor nur 50 Jahren davon zu träumen, dass es einmal möglich sein würde, dass Milliarden von Menschen 24 Stunden am Tag unmittelbaren Zugang zu Informationen und Wissen bekommen? Warum dürfen nur die träumen, die an menschenähnlichen Maschinen forschen? Warum soll nur denen das Feld überlassen werden, welche die Ökonomie der Information allein dazu nutzen, reich zu werden und nicht jenen, die davon träumen, dass Technologie und Kommunikation dazu dienen können, unsere Welt menschlicher zu machen? In diesem Zusammenhang sei noch einmal an Papst Franziskus erinnert, der den politischen Führern der Europäischen Union eine große Vision auf den Weg gab: den Traum eines sozialen Europa und damit verbunden, eines „neuen Humanismus“. 20 Die Ideen eines „neuen Humanismus“ und einer „sozialen Ökonomie“ bergen das Potenzial, eine große Debatte über die Sinnhaftigkeit unserer Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu führen. Damit wären große Chancen verbunden: Zum einen könnte eine solche Debatte dazu führen, den technologischen Errungenschaften und ihren Anwendungen eine „soziale Richtung“ zu geben. Zum anderen könnten jene Mitglieder unserer Gesellschaft wieder zurückgewonnen werden, die aus Angst vor Ausgrenzung, digitaler Unfreiheit und Überforderung in eine Verweigerungshaltung oder den radikalen Widerstand gegen die Globalisierung gegangen sind. 21 Und schließlich würde damit eine Hoffnung gepflanzt, dass die Grundkoordinaten des Menschen im 21. Jahrhundert nicht Unmündigkeit, 20 Vgl. hierzu den Sammelband “Europa im Schicksalsjahr“, hrsg. von Armin Laschet (2016). 21 Vgl. aus der Vielzahl der Autoren zur Debatte über die Unfreiheit und Entmündigung im digitalen Zeitalter den Beitrag von Evgeny Morozov, „Wir verlieren die Technik an den Feudalstaat“, in: Neue Züricher Zeitung vom 31. 8. 2016, 25. Ähnlich argumentierend: Betancourt (2016). Ökonomie der Information 153 Angst oder Gier sind, sondern der soziale Zusammenhalt aller und ein Leben in Würde. Wer bereit ist, dies zu denken, muss Träumer und Realist zugleich sein. Wir sollten den Mut dazu haben. Literatur „Der Spiegel“, Nr. 36 vom 3. 9. 2016: Sie sind entlassen! Wie uns Computer und Roboter die Arbeit wegnehmen - und welche Berufe morgen noch sicher sind. Betancourt, Michael (2016). Critique of digital capitalism, New York: Punctum Books. Büscher, Christian / Mayer, Marcel / Schilberg, Daniel / Jeschke, Sabina (2011): Artificial Cognition in Autonomous Assembly Planning Systems. In: Jeschke, Sabina / Liu, Honghai / Schilberg, Daniel (Hrsg.): Intelligent Robotics and Applications: Proceedings of the 4th International Conference, ICIRA 2011, Aachen: Springer-Verlag, 168-178. Dierksmeier, Claus (2016). Qualitative Freiheit - eine philosophische Fortschreibung des Weltethos-Projekts. Tübingen: Transcript-Verlag. Gauly, Thomas (2001). Das Ende der Öffentlichkeitsarbeit. Die digitale Revolution bedeutet das Ende der klassischen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 1. 2001, Nr. 18, S. 30. Jeschke, Sabina (2016). 4.0 - eine Revolution der künstlichen Intelligenz, In: Palais Biron. Baden-Badener Unternehmer Gespräche, 23, 3-33. Laschet, Armin (Hrsg.) (2016). Europa im Schicksalsjahr. Freiburg: Herder. Linde, Frank (2009). Ökonomie der Information. 2. Aufl. Göttingen: Universitätsverlag. Lobe, Adrian (2016). Wenn Roboter lieben. In: Neue Züricher Zeitung, 31. 8. 2016, 23. McLuhan, Marshall (1962). The Gutenberg Galaxy, Toronto: University of Toronto Press. Morozov, Evgeny (2016). Wir verlieren die Technik an den Feudalstaat. In: Neue Züricher Zeitung vom 31. 8. 2016, 25. Naisbitt, John (1982). Megatrends: Ten New Directions Transforming Our Lives. New York: Warner Books, Inc. Rede des Papstes bei der Preisverleihung in Rom am 6. Mai 2016, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Mai 2016, 1-2. Rede von Vishal Sikka, „Human Revolution“, Ce BIT , November 2014. Shapiro, Carl / Vavian, Hal R. (1998). Information Rules. A Strategic Guide to the Network Economy. Harvard: Harvard Business School Press. von Nell Breuning, Oswald (1986). Kapitalismus kritisch betrachtet. Zur Auseinandersetzung um das bessere „System“, Freiburg i. Br: Herder. Ökonomie der Information 155 Religion In „neuen Gegenden“ 1 -- Theologie in Zeiten des Kapitalismus Rainer Bucher I. In Ruinen Läge nicht die Zufälligkeit der Jahresgrenze zwischen unseren Geburtstagen, Regina Ammicht Quinn würde das Geburtsjahr mit dem Autor dieser Zeilen teilen. Wir teilen damit auch spezifische katholische Generationenerfahrungen. 2 In unser beider Kindheit und Jugend fielen die letzten Ausläufer des geschlossenen katholischen Milieus (Großbölting 2013, Gabriel 1992), der tridentinischen Kirche und somit der konstantinischen Machtformation katholischer Religion (Siebenrock 2014, Bauer 2014). Unsere theologische Generation 3 verdankt dem durchaus viel: nicht nur die (Ausgangs-)Themen ihres wissenschaftlichen Arbeitens, sondern vor allem auch die Erfahrung existentieller Ernsthaftigkeit des Religiösen. Denn das wird man der vorkonziliaren Konstellation nicht absprechen können: Man konnte in ihr Religiöses - in seiner katholischen Fassung - als existentiell relevant erfahren, wenn sich diese Relevanz freilich, nicht zuletzt in Frauenleben, oft auch als massive Unterdrückung eingeschrieben hat (Wieser 2012). Unsere Generation hat aber auch den Zusammenbruch dieser Konstellation erlebt, eines katholischen Dispositivs, das den jesuanischen Impuls in einer beeindruckenden, freilich auch einschüchternden und autozentrierten Machtkonfiguration formatiert hatte: das religiöse Leben, die kirchlichen Ämter, die theologischen Diskurse. Dieser Zusammenbruch war und bleibt Befreiung. Aber er bedeutet auch, in den Ruinen eines untergehenden Machtsystems leben zu müssen und in genau dieser Konstellation professionell Theologie zu treiben. 1 Der Titel referiert auf Ammicht Quinn (2001): „Andere Leben, neue Unsicherheiten. Theologische Ethik in neuen Gegenden". 2 Wie ich in den langen Jahren unserer Freundschaft feststellen durfte. Für diese Freundschaft bin ich zutiefst dankbar. 3 Jenseits seiner populärwissenschaftlichen Verwendung wurde die analytische Reichweite des Generationenbegriffs in den letzten Jahren interdisziplinär eingehend diskutiert. Vgl. Kraft/ Weißhaupt (2009). Ruinen fehlt der ursprüngliche Zusammenhang. Sie rufen ihn aber noch auf. „Die Ruine schafft die gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens, nicht nach seinen Inhalten oder Resten, sondern nach seiner Vergangenheit als solcher“ (Simmel 1907 / 1993: 129), so Georg Simmel in seinem einschlägigen Essay. „Sie ist die Stätte des Lebens, aus der das Leben geschieden ist - aber dies ist nichts bloß Negatives und Dazugedachtes …, sondern daß das Leben mit seinem Reichtum und seinen Wechseln hier einmal gewohnt hat, das ist unmittelbar anschauliche Gegenwart.“ (ebd.) Simmels Analyse markiert die doppelte Versuchung eindrucksvoller Ruinen: Ihre Bewohner und Bewohnerinnen können so tun, als ob die in den Ruinen präsente Gegenwart der Vergangenheit eine „reale Gegenwart“ und nicht eben nur die Gegenwart einer Vergangenheit wäre, und jene außerhalb der Ruinen können sich an ihrem scheinbar harmlosen Vergangenheitscharakter und am Reichtum, der war, museal erfreuen. Der Feuilletonkatholizismus übrigens erklärt dann diese bildungsbürgerliche Freude am Vergangenen flugs und gewandt zum Eigentlichen des Christlichen, womit er einer doppelten Verwechslung unterliegt und beide Versuchungen kombiniert. Ruinen konstituieren tatsächlich einen eigenen Raum, aber eben doch einen ganz merkwürdigen. Ruinen sind Elemente in einem eigenartigen Zwischen: zwischen einem Gestern, das sie erinnern, und einem Morgen, in dem es für sie gerade noch die Existenz als malerische Erinnerungsorte zu geben scheint; zwischen einem Innen, das sie imaginieren, und einem Außen, das sie nicht wirklich draußen lassen können, zwischen der Macht, die sie repräsentierten, und der Ohnmacht, die sie sind. Das macht sie irritierend, faszinierend und - bei allen Versuchungen - sympathisch. Norbert Bolz etwa vermutet, „daß die Sympathie für die Ruine aus einem Unbehagen an von Menschen gestifteten Totalitäten rührt. Man zieht das Bruchstück dem Ganzen, das Fragment dem System und den Torso der vollendeten Skulptur vor.“ (Bolz 1996: 8 f.) Was also von manchen nostalgischen Ruinenbewohnern geleugnet, von manchen außerhalb gerne musealisiert und von dritten ästhetisierend totalisiert wird, das kann als Fragment und Torso anti-totalitäre Faszination entfalten, hält man nur die Spannung von Fragmentarität und Relevanz in immer neuen Balancen aufrecht. Unsere Generation treibt katholische Theologie in den Ruinen des Machtsystems „katholische Kirche“. Dessen Glaubwürdigkeit ist spätestens nach der Aufdeckung der verbreiteten sexuellen Gewalt (beschönigend: „Missbrauchsskandal“) dramatisch defizitär, seine personelle Situation ist prekär, die institutionelle Stabilität unter der Oberfläche staatskirchenrechtlichen und finanziellen Komforts gefährdet. Die wissenschaftlichen Diskurse der Kirche aber, also ihre Theologie, müssten in solch einer Situation offenkundig neu formatiert 158 Rainer Bucher werden, wollen sie ihrer Gegenwart standhalten: In dieser Lage adäquate Balancen hinzubekommen, die lebbar präsentieren, was in diesem untergehenden Machtsystem gespeichert ist, ist freilich alles andere als einfach oder gar selbstverständlich. Zumal diese Konstellation leider nicht bedeutet, dass dieses ruinöse Machtsystem nicht doch noch ausschlägt, wo es sein eigenes Ende allzu deutlich präsentiert bekommt: Regina Ammicht Quinn musste es erfahren. Sie hat den Abstieg der kirchlich-katholischen Pastoralmacht vom Kosmos zur Kommunität zum Körper am letzteren markiert und diesen Endzum Ausgangspunkt genommen, nach einer jetzt noch möglichen „Theologischen Ethik der Geschlechter“ 4 zu fragen. Ihr Balancierungsversuch von realisierter Fragmentarität und neuer Relevanz wurde bekanntlich amtskirchlich sanktioniert: welch ein Unglück. II. Der doppelte Kontinuitätsbruch „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ - so lautete die erste Zeile der Hymne der DDR , eines Staates, dem man nach seinem Ende nicht einmal mehr den Status einer Ruine zubilligte, vielleicht um die eigenen Verstrickungen in dieses typisch deutsche Projekt voller graumäusiger repressiver Mittelmäßigkeit nicht ständig erinnert zu bekommen, vielleicht aber auch, weil tatsächlich gilt: Wer pathetisch aus Ruinen in die Zukunft will und sich befreit wähnt von den Abgründen dessen, was war, hat keine Zukunft. Es geht um mühsam zu findende Gleichgewichte, nicht um triumphale Aufbrüche. Man kann Ruinen nicht einfach hinter sich lassen, wie es die DDR ideologisch versuchte, welche paradoxerweise praktisch bis zu ihrem Ende nicht einmal in der Lage war, viele reale Ruinen des Krieges zu beseitigen oder zu renovieren. Im anderen deutschen Staat, der Bundesrepublik Deutschland, lief es anders herum: Er konnte die baulichen Kriegsruinen relativ rasch beseitigen, schon in der Kindheit unserer Generation waren sie fast völlig entfernt. Die ideologischen Ruinen aber wurden im Westen Deutschlands lange versteckt und erst nach 1968 kenntlich gemacht: Man hatte sich in ihnen eingerichtet und einfach so getan, als ob es die Gebäude, die den eigenen Ruin in sich trugen, und in denen man nicht ungern gewohnt hatte, nie wirklich gegeben hätte. Das war die andere Erfahrung, der unsere theologische Generation nicht ausweichen konnte (Ammicht Quinn 1992). Wir leben nicht in der selbstverständlichen Kontinuität einer selbstbewussten demokratischen Tradition, sondern nach dem Zivilisationsbruch (Diner 1988) des Nationalsozialismus, und, fast einschnei- 4 So der Untertitel der Habilitationsschrift von Regina Ammicht Quinn. In „neuen Gegenden“-- Theologie in Zeiten des Kapitalismus 159 160 Rainer Bucher dender noch, nach dem allzu langsamen Auslaufen von dessen Verschleierung und Verkleisterung in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Unsere theologische Generation ist damit durch einen doppelten Kontinuitätsbruch gekennzeichnet wie durch die Tatsache, dass wir die erste Generation waren, die diese Brüche weder selbst herbeigeführt, noch aufgedeckt, noch „überwunden“ hatte. Kirchlich war das mit dem II . Vatikanischen Konzil geschehen, gesellschaftlich „1968“ und beide Male ging es um die Erkenntnis, in Ruinen platziert zu sein: in den Ruinen des konstantinischen kirchlichen Machtsystems wie in den Ruinen einer gesellschaftlichen Kontinuität, unter der sich ein unauslotbarer Abgrund auftat. Wir sind nicht in den Kämpfen dieser Brüche, in ihrer Hitze, aber auch nicht in ihrem Aufbruchs- und Befreiungspathos sozialisiert worden, wir hatten uns nicht in und mit ihnen zu orientieren, sondern kurz danach. Die Generation der Konzilsväter hatte den theologischen Durchbruch aus dem neuscholastischen Getto vorbereitet und teilweise selbst mit herbeigeführt, die Generation unserer Lehrer - theologische Lehrerinnen gab es in dieser Generation auf deutschsprachigen Lehrstühlen nicht - hatte ihn in den 1960er und 70er Jahren zur Vorherrschaft gebracht und zur Selbstverständlichkeit unseres Theologiestudiums gemacht. Die „68er“ aber hatten den Kontinuitätsbruch des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte markiert und zur deutschen Nachkriegsgeschichte inszeniert. Sie, wie auch unsere theologischen Lehrer, hatten eine unumstößliche Sicherheit: die geradezu historische Legitimität ihres Sieges über ihre Gegner. 100 Jahre Gegenwartsverweigerung und Exklusionsdynamik hatte man in der katholischen Kirche, 20 Jahre kollektiv und individuell verweigerte Schuldkonfrontation in Deutschland beendet. Die Ruinen der konstantinischen Kirchenformation, die Ruinen der verweigerten Ehrlichkeit und Redlichkeit gegenüber der eigenen Nationalgeschichte, sie offerierten paradoxerweise einen sicheren Ort und dann doch noch einmal so etwas wie eine „Auferstehung aus Ruinen“. Nur: III. Wo sind wir? „Wenn Du mich aber nach der größten Gefährdung des Humanen fragst, dann sehe ich die … (in) mangelnde(r) Ambiguitätstoleranz“, so Regina Ammicht Quinn in einem Interview mit dem Autor dieser Zeilen. Ambiguitätstoleranz bedeutet, dass Menschen Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten, Ungewissheiten, aber auch unterschiedliche Erwartungen an die eigene Person aushalten können; dass sie unsichere Situationen zulassen und sich auf bislang fremde Situationen einlassen können. Mangelnde Ambiguitätstoleranz heißt, dass Menschen In „neuen Gegenden“-- Theologie in Zeiten des Kapitalismus 161 unbekannte Situationen sehr schnell als unkontrollierbar und bedrohlich erleben und diese Situationen nur in einem Entweder-Oder-, einem Schwarz-Weiß-Denken verarbeiten können. Inklusion und Exklusion sind die Bewegungen, die daraus folgen: Inklusion für diejenigen, die mir ähnlich sind, die ich verstehe, die einer mir bekannten Ordnung unterworfen sind; Exklusion für alle anderen. (Bucher 2016) Regina Ammicht Quinns Hinweis auf die heute zur Sicherung des Humanen notwendige Ambiguitätstoleranz signalisiert eine auf den ersten Blick kleine, aber doch folgenreiche Verschiebung gegenüber jener Zeit, in der ausgerechnet der doppelte Kontinuitätsbruch noch relative Sicherheit und stabile Orte vermittelte. Denn nach der Freude über den errungenen Durchbruch wird eine Frage immer unabweisbarer: Wo sind wir, wenn wir nicht mehr in den alten Macht-Kathedralen der Religion oder den Gehäusen der repressiven deutschen Gesellschaftsgeschichte sind, aber auch nicht mehr die frohen Beobachter ihres Zusammenbruchs? Das Befreiungserlebnis dieser Zusammenbrüche hat die Illusion genährt, wir wären im Freien. Unsere theologische Generation hat noch mit und aus dieser Erfahrung gelebt und gearbeitet, wir haben Theologie auf der Basis von historischem Denken, nach-kantianischer Philosophie und der „neuen Wissenschaften“ des 19. und 20. Jahrhunderts wie Soziologie und Psychologie betrieben und dem später nach dem „cultural turn“ kulturwissenschaftliche Referenzdiskurse hinzugefügt. 5 Und wir haben Theologie ganz selbstverständlich auf der Basis einer demokratischen, liberalen und auch reichen Gesellschaft getrieben. Aber wir sind nicht im Freien. Die Konstellationen sind, so zeigte sich nach und nach, ziemlich anders. Wenn Ambiguitätstoleranz heute die zentrale Möglichkeitsbedingung für die Sicherung des Menschlichen ist, dann ist eine Situation gefährlicher und gefühlter Unsicherheit eingetreten, die offenbar nur noch mit außergewöhnlichen Tugenden zu verarbeiten ist. Wenn wir aber nicht im Freien sind, in wessen Kathedralen sind wir? Wer herrscht heute? Wer ist für die Gegenwart verantwortlich? Die unmittelbaren Nachfolgepaläste zu den Kathedralen der Religion hatte der Staat erbaut. In ihm realisierten sich die großen Nachfolgeideologien der Religion: der Nationalismus, der Faschismus, der Kommunismus. So sehr sie alle den Staat auch gerne überwinden und überschreiten wollten, sie arbeiteten in seinem Rahmen und auf seiner Basis. Der Staat war denn auch das große Problem der Kirchen der Neuzeit, zu ihm als dem neuen Souverän, der niemanden fragen muss, mussten sie sich in Beziehung setzen. Die katholische Kirche tat dies, indem sie sich nach und nach analog zum neuzeitlichen Staats- 5 Exemplarisch etwa in der von Regina Ammicht Quinn mit herausgegebenen Reihe „ReligionsKulturen“; siehe Gruber (2013). 162 Rainer Bucher absolutismus selbst als absolutistischer Staat konstituierte, der Protestantismus hingegen konstituierte sich als die Kirche der neuen Staaten, also staatsaffin . Mit der staatlichen Herrschaft aber ist es derzeit nicht mehr so weit her. Paradoxerweise liefert der grassierende Rechtspopulismus hierfür ein unmittelbares Indiz. Denn er imaginiert und propagiert den Nationalstaat als Regelungsrahmen einer kulturell und gar ethnisch homogenen Gesellschaft. Gegen die Ahnung, in Zeiten der Globalisierung nicht mehr auf dem Festland unhinterfragbarer Sicherheiten, sondern auf dem offenen Meer einer liquid modernity (Bauman 2003) zu sein, setzt man noch einmal auf den starken ‚illiberalen‘ Staat, auf seine reale und kulturelle Regelungsmacht. Wie die katholische Kirche im 19. Jahrhundert fährt man die Strategie von Inklusion und Ausschluss, was eine Zeit lang klappt, den Repressionslevel freilich nach und nach erhöht - und auf Dauer nicht funktioniert. Denn es übersieht den neuen Machthaber, übersieht, wo man ist und wer herrscht. „Nationalismus und die Beschwörung ethnischer Einheit sind ein Ersatz für fehlende Integrationsfaktoren in einer desintegrierenden Gesellschaft“, 6 so Zygmunt Bauman, diese aber gehorche den Imperativen der ökonomischen Deregulierung. Damit ist markiert, wer herrscht und wo wir sind: in den weiten Kathedralen des Kapitalismus im Stadium seiner kulturellen Hegemonie. Unter kulturell hegemonialem Kapitalismus verstehe ich, was Ulrich Bröckling am Beispiel des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) analysiert hat, oder Eva Illouz „emotionalen Kapitalismus“ nennt. Liebe in Zeiten des Kapitalismus ist eben Liebe in Zeiten des Kapitalismus - und nicht einfach Liebe. „Der emotionale Kapitalismus“, so Illouz, „ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen, um so jene breite Bewegung hervorzubringen, die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben … der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft“ (Illouz 2008: 13). Was für die Liebe in Zeiten des Kapitalismus gilt, gilt auch für Glauben und Kirche in Zeiten des Kapitalismus: Sie werden von jenem geprägt, zutiefst und zuinnerst. Denn die Priorität, die Macht, die Dominanz, eben die Souveränität liegt beim Kapitalismus. Das „unternehmerische Selbst“ ist ein Subjektivierungsprogramm, dessen „Anrufungen“, so Bröckling, „totalitär“ sind. „Nichts soll dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung, deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte.“ Zudem ist im Kapitalismus üblich und einer der Garanten seines Erfolgs: „Selbst der 6 In einem Spiegel-Interview vom 7. 9. 2016: Baumann (2016). In „neuen Gegenden“-- Theologie in Zeiten des Kapitalismus 163 Einspruch, die Verweigerung, die Regelverletzung lassen sich in Programme gießen, die Wettbewerbsvorteile versprechen“ (Bröckling 2007: 283). Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint also nicht nur, dass sich die Logik und die Mechanismen des Marktes in immer mehr gesellschaftliche Teilsysteme ausbreiten und deren Eigenlogiken unterwandern und überformen, wofür die Universität mit ihrem akademischen Kapitalismus (Münch 2011), die öffentliche Verwaltung mit dem New Public Management (vgl. etwa Schedler / Proeller 2006) und der Sport mit mittlerweile so ziemlich allem stehen. Nein, klassisch kapitalistische Prinzipien wie Wettbewerb, Verdinglichung, Quantifizierung, Monetarisierung, extrinsische Motivationsanreize, dichte Rückkopplungsnetze, Verflüssigung, eben jenes berühmte Verdampfen „alles Ständische(n) und Stehende(n)“ (Marx / Engels 1972: 465), wie es im Kommunistischen Manifest heißt, all diese ungeheuer erfolgreichen Dynamisierungsprozesse, die ja auch Befreiungsprozesse aus den ständischen Schalen des Geschlechts, der Nation, der Religion, der Geburtsfamilie sind, all diese große Versprechen des Formalen und Effektiven und Dynamischen, die der Kapitalismus gibt, all dies schreibt sich uns tief in Schichten ein, die man so gerne davor geschützt gesehen hätte, die es aber nicht sind, will man kein unkorrumpierbares, dekontextualisiertes Selbst ganz im eigenen Inneren annehmen - das aber gibt es nicht. Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ist souverän, nicht zuerst, weil er sich, wie der Staat, des äußeren Machtapparates bemächtigen würde, sondern weil er auf die Menschen auf einer viel wirksameren Ebene zugreift, jener, die sie zu dem macht, was sie sind: Er bemächtigt sich ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen, ihrer Ängste und Nöte. Er formt bereits Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute und dann befriedigt er sie, er gibt all dem Sprachen, Bilder und - Erfüllung: konkret und fassbar. Der kulturell hegemoniale Kapitalismus arbeitet exakt dort, wohin sich auch die Kirchen geflüchtet hatten, als der moderne souveräne Staat ihnen die äußere Macht nach und nach nahm: auf jener Sehnsuchtsebene, die man christlich Frömmigkeit nennt, die speziell der Protestantismus tief in die Person und ihr Gewissen, der Katholizismus aber in seine nachreformatorisch medial immer subtiler aufgerüsteten Räume und Sozialformen einschrieb und über sie dann auch in deren Bewohner und Bewohnerinnen. Der Kapitalismus ist so ‚klug‘, sich weder ans protestantische Gewissen noch an kirchenanaloge Sozialformen zu heften, so sehr er manchmal mit den Formen, Diskursen, Techniken und Medien der lieben Alten spielt; festlegen aber lässt er sich nicht. Die Strategien der Wunschproduktion, Sehnsuchtserfüllung und Kontingenzbewältigung des kulturell hegemonialen Kapitalismus sind effizienter, flexibler, anschaulicher, adressatenorientierter, liquider als jene der Kirchen: Sie sind nicht traditionsbehindert. Der Kapitalismus ist bekanntlich, wie sein 164 Rainer Bucher zentrales Medium, das Geld, die anti-essentialistische Formation überhaupt. Er macht, was wirkt. Spätestens das elektronische Geld ist reine Wirkung. Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ersetzt nicht die alten Angsterzeuger und Angstbewältiger, Sehnsuchtsproduzenten und Sehnsuchtserfüller, aber er drängt sie ins zweite Glied oder noch weiter zurück. Die einschlägigen Untersuchungen zeigen: Unter der Herrschaft des Kapitalismus verschwindet Religion nicht, aber sie wird, zumindest in unseren Breiten, extrem relevanzgemindert. Sie wird, so etwa der Religionsmonitor 2008, hinter Partnerschaft, Bildung, Familie, Arbeit, Freizeit und selbst noch hinter der Politik einsortiert (vgl. Müller / Pollack 2007). Vor allem aber: Der Kapitalismus macht, was alle Souveräne ausmacht, er macht sich die anderen untertan, auch die Religion. Das sind die Gegenden, in denen wir heute Theologie treiben. IV. Fragen, die sich stellen Die unmittelbare und unabweisbare Frage, die sich der Theologie da stellt, ist jene nach dem Stil, den Themen, den Formaten, die eine im kulturell hegemonialen Kapitalismus situierte Theologie bräuchte (vgl. Appel 2010, Bucher / Oxenknecht-Witzsch 2015). Es gibt jedenfalls kein Außerhalb. Welche Theologie wäre weder die Theologie dieser Kathedralen noch eine kleine Nische im Untergeschoss, die still und nostalgisch von den eigenen, untergegangenen Machträumen träumt; oder die laut und elitär meint, die neuen Kathedralen mit ein paar intellektuellen Diskursgirlanden oder neo-romantischen, alternativen Gemeinschaftserfahrungen beindrucken zu können? Oder die, wahrhaft die traurigste aller Möglichkeiten, gar nicht merkt, wo sie ist? Die Frage des katholischen Pastoraltheologen, wie sich eine Kirche orientieren müsste, die hilft, in den neuen Kathedralen des Kapitalismus zu leben, ohne ihm zu verfallen, kann hier nur gestellt werden. Er sieht eine Kirche, die in den Glaubenserfahrungen unserer Väter und Mütter im Glauben so große Schätze und Reichtümer eines subtilen, weisen und reichen Existenz- und Weltverhältnisses in sich birgt, und doch so viele Lasten der Konstantinischen Formation mit sich schleppt, vor allem die unaufmerksame Selbstbezüglichkeit des Patriachalismus und Klerikalismus, eine Kirche, die spürt, dass sie sich von all diesen Sünden irgendwie befreien muss und es doch offenkundig nicht wirklich schafft. Einstweilen muss genügen, einen neuen Blick auf jenes Phänomen zu werfen, das man unter dem Begriff der Säkularisierung neuerdings wieder verstärkt diskutiert (Taylor 2009, Pollack / Rosta 2015). Der Säkularisierungsbegriff, zuerst ein innerkirchlicher Rechtsbegriff, der den Übergang vom Ordenskleriker zum Weltpriester oder die Entlassung eines Territoriums oder einer Institution aus kirchlich-geistlicher Herrschaft meinte, wurde nach und nach zum negativ In „neuen Gegenden“-- Theologie in Zeiten des Kapitalismus 165 besetzten Selbstbeobachtungsbegriff des eigenen Einflussverlustes seitens der Kirchen. Diese definierten das, was sie in der europäischen Moderne an sich erfuhren, ihren sukzessiven Machtverlust über Staat und Gesamtgesellschaft, über die kulturellen Manifestationen und schließlich über die Lebensführung des Einzelnen unter der Kategorie der „Verweltlichung“. „Säkularisierung“ benannte damit den nachhaltigen Erosionsprozess der kirchlichen Macht-Kathedralen: von den einen tief betrauert, von den Liberalen des 19. Jahrhunderts heftig herbeigesehnt. Schon die Identifikation bestimmter Teilbereiche der christlichen Gesamtkultur des Mittelalters als „säkular“ war übrigens, Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, selbst ein religiöser Interpretationsprozess und Konsequenz einer spezifischen Selbstdeutung des Christentums. Der Säkularisierungsbegriff fasst bis heute, da er längst aus seinem kirchlichen Herkunftsbereich ausgewandert ist und soziologisch analytisch-neutral verwendet wird, den weltgeschichtlich ziemlich singulären Prozess des Ruins der kirchlichen Kathedralen in westlichen Gesellschaften unter der Perspektive der ehemals dominanten Größe Religion. „Säkularisierung“ denkt von der, historisch gesehen, religiösen Normalität her, nicht von der Gegenwart strukturell und zunehmend auch individuell säkularisierter Gesellschaften. Der epochale Relevanzverlust von Religion und ihrer Institutionen in entwickelten westlichen Gesellschaften wird als das erfasst: als Relevanzverlust von Religion. „Säkularisierung“ zeigt sich hier noch einmal, ist selbst ein Begriff des religiösen Zeitalters. Was aber passiert, wenn man den so gefassten Prozess unter der Perspektive des neuen Hegemons begreift, dies jenseits jeden Pathos, das Säkularisierung für das „Normale“ hält, Religion für vergangen erklärt und gar einem Narrativ unaufhaltsamen Fortschritts folgt, jenseits aber auch der religiösen althergebrachten Vorstellung von der „Unnatürlichkeit“ und Fatalität von „Säkularisierung“. Setzt man bei jenem Souverän an, der heute herrscht, dem kulturell hegemonialen Kapitalismus, gelangt man auch jenseits des Benjaminschen Vorschlags, den Kapitalismus selbst als Religion zu identifizieren, insofern er „essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen (dient), auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“ - so der berühmte erste Satz von Benjamins Essay (Benjamin 2003: 15). Man kann sich dann auch nicht in die gepflegte Distanz bildungsbürgerlicher Souveränität verabschieden, wie sie Žižek karikiert: ‚Ich glaube nicht daran, es ist nur Teil meiner Kultur‘ scheint die vorherrschende Art für den verleugneten oder verschobenen Glauben zu sein, der für unsere Zeiten charakteristisch ist. Vielleicht ist der ‚nichtfundamentalistische‘ Begriff von ‚Kultur‘, der sich von ‚wirklicher‘ Religion, Kunst, usw. unterscheidet, in seinem innersten Kern der 166 Rainer Bucher Name für das ganze Feld verleugneter und unpersönlicher Glaubenssätze - ‚Kultur‘ als der Name für all die Dinge, die wir praktizieren, ohne wirklich an sie zu glauben, ohne sie ernst zu nehmen (Žižek 2015: 53). Es wird analytisch weder ausreichen, das herrschende Neue einfach als (und sei es nur funktionsäquivalente) Variante des Alten zu betrachten, noch wird es genügen, das Alte nicht mehr ernst zu nehmen, um im Neuen frei zu leben. Der ungeheure kulturelle Freisetzungsprozess, den der Sieg des Kapitalismus bedeutet und gegen den ja alle religiösen Fundamentalismen zuvorderst ankämpfen, bedeutet eben auch den Aufbau einer neuen, weit subtileren Herrschafts- und Subjektivierungsstruktur. Deren pastorale Ökonomie kreist nicht mehr um das öffentliche Geständnis und eine „Ethik der Reinigung“, wie es Foucault für das Christentum analysiert hat (Foucault 2014). Man kann aber mit Fug und Recht bezweifeln, dass mit den neuen Herrschaftstechniken des Kapitalismus eine Renaissance der antiken „Kunst der Existenz“ eingeleitet wurde. Was herrscht, wenn die Subjektivierungsstrukturen des kulturell hegemonialen Kapitalismus herrschen, wenn Digitalisierung und Globalisierung posthumanistische Utopien (oder Dystopien) denkbar werden lassen? Und wie darauf reagieren, will man nicht in das zerschlissene Pathos und die Zirkularität romantischer Subjektivitätstheorien oder klassenkämpferischer „Gegen-Kulturen“ verfallen, die allesamt immer noch von der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie geschluckt, verdaut und zur eigenen Dynamisierung ausgebeutet wurden? Was tun - und denken - wenn man aber auch nicht einfach mitmachen will und kann? Das sind die Fragen, die sich unserer Generation im Spätsommer ihrer theologischen Existenz stellen. Da verschwimmen dann auch die üblichen Disziplingrenzen, zum Beispiel jene zwischen philosophischer Ethik und katholischer Theologie. Literatur Ammicht Quinn, Regina (1992). Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Paradigmawechsel in der Theodizeefrage. Freiburg i. Ue./ Freiburg / Br: Herder. Ammicht Quinn, Regina (2001). Andere Leben, neue Unsicherheiten. Theologische Ethik in neuen Gegenden. In: Bucher, Rainer (Hrsg.) Theologie in den Kontrasten der Zukunft. Graz / Wien / Köln, 69-93. Appel, Kurt (2010). Theologie im Zeichen des Nihilismus. In: ET -Studies 1, 91-110. Bauer, Christian (2014). Alpenländische Diaspora? Erkundungen im nachkonstantinischen Christentum. In: Bucher, Rainer (Hrsg.) Nach der Macht. Zur Lage der katholischen Kirche in Österreich. Innsbruck: Universitätsverlag Innsbruck, 35-73. Bauman, Zygmunt (2003). Flüchtige Moderne. Frankfurt / M: Suhrkamp. 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In: Cavalli, Alessandro / Krech, Volkhard (Hrsg.) Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band II . Frankfurt / M., 124-130. Taylor, Charles (2009). Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt / M: Suhrkamp. Wieser, Renate (2012). Religiöse Subjektivierungsweisen katholisch sozialisierter alter Frauen. Stuttgart: Kohlhammer. Žižek, Slavoj (2015). Der neue Klassenkampf. Berlin: Ullstein. „Erwart dir viel! “-- Religion als Horizont der Ethik 169 „Erwart dir viel! “-- Religion als Horizont der Ethik Maureen Junker-Kenny Im Titel der Festschrift sind Spannungspole benannt, die sich in Grundsatzdebatten wie denen zwischen kommunitaristischer und universalistischer, hermeneutischer und deontologischer Ethik, zwischen kultureller Relevanz, interkultureller Übersetzbarkeit und normativer Begründung widerspiegeln. Regina Ammicht Quinns eigene kontextsensible, aber zugleich prinzipiengeleitete Verortung dieser Pole sucht auf der einen Seite der Perspektive der Handelnden und ihrer Selbstverständnisse gerecht zu werden, auf der anderen die Nichtrelativierbarkeit von geschichtlich errungenen normativen Standards wie Gewaltfreiheit und Menschenwürde zu wahren (Ammicht Quinn 2006). Ich lese die erste Hälfte des Festschrifttitels, „Ethik in den Kulturen“ , als die These, dass es in all den partikularen geschichtlichen Vergemeinschaftungen einen identifizierbaren menschlichen Vollzug gibt, der nicht mit den jeweiligen Kulturpraktiken ineins fällt: „Ethik“ als die universalistische These einer Fähigkeit zur Moralität also. Die zweite Hälfte des Titels, „Kulturen in der Ethik“ , hingegen macht darauf aufmerksam, dass es eine Rückwirkung dieser Lebens- und Wertewelten auf die normative Reflexion gibt. Dieser zweiten Hälfte will ich nachgehen. Meine Frage ist, wie Bestimmungen von Glück und Sinn als dem subjektiven und gemeinschaftlichen Movens des Handelns das Verständnis von Moralität geprägt haben. Ebenso wie die Hoffnungsdimension, ohne die menschliches Handeln sowie Ethik als Fähigkeit zur Reflexion auf dieses Handeln nicht zu verstehen sind, 1 ist die Ausrichtung auf das „gelingende Leben“ eine menschliche Konstante, die jedoch geschichtlich verschieden gefüllt wird. Ich möchte im Folgenden die Bedeutung von Glaubenstraditionen als éducation sentimentale erkunden, im Bewusstsein der Dialektik zwischen den sprachlichen Ressourcen, die einer Kultur zur Verfügung stehen und den Erfahrungsmöglichkeiten, die sie bietet ( Joas 2004: 24, 56 f.). Nach einer kurzen Erörterung der Kennzeichnung der Gegenwart als „postsäkular“ (1) will ich an eine Debatte 1 In Paul Ricoeurs (1996 / 2006) Analyse konstitutiver menschlicher Fähigkeiten ist Imputabilität, moralische Zurechenbarkeit, die höchste, die den Schritt von der deskriptiven Ebene der Fähigkeiten des Sprechens, Erzählens und Handelns zur normativen Ebene verlangt. 170 Maureen Junker-Kenny erinnern, die Ende der1960er Jahre zwischen dem Philosophen Hans Blumenberg und dem evangelischen systematischen Theologen Wolfhart Pannenberg geführt wurde, ob die exorbitante Hoffnung auf einen rettenden Gott nicht die Neuzeit mit einer uneinlösbaren Hypothek belastet hat. Ein solches Ausmaß an Erwartung, wie der Glaube an den jüdischen und den christlichen Gott sie geschürt hatte, sei unter endlich-autonomen Bedingungen nie zu begleichen, so Blumenbergs These (2). In meiner Schlussfolgerung wird die Relevanz für eine gegenwärtige Ethik beleuchtet, Fragen der Pluralität in Kenntnis der Transformationen und Übersetzungsleistungen in den Weltreligionen bearbeiten zu können. Die Alternative zu einem solchen hermeneutischen und komparativen Vorgehen wäre eine reine Außenperspektive ohne Interesse an den internen Neuinterpretationen der Religionen in wechselnden Epochen. Die Intention, die im Titel der Festschrift aufscheint, ist es, die Rolle des Partikularen, also die „Kulturen in der Ethik“ zu würdigen. Der Gewinn könnte in der Entdeckung von Inhalten, Denkformen und Motivationen bestehen, die von ihrem geschichtlichspezifischen Ursprung, z. B. einem Propheten oder Gründer, nicht abgelöst werden können, die aber dennoch einen universalistischen Horizont aufspannen. Für die ethische Theorie könnte dies eine anschauliche Gelegenheit sein, Glück als die Fähigkeit zu erfassen, sich „an der Vielfalt des Menschlichen erfreuen zu können“ und „Menschenliebe aus Freude am Leben“, nicht aus „verbissener Tugend“ (Ammicht Quinn 2006: 74) verwirklicht zu sehen (3). 1. Die Gegenwartskultur als „post-säkulare“ Soziologische und kulturwissenschaftliche Studien der zeitgenössischen Gesellschaft haben Züge wie Gegenwartsorientierung, eine Ästhetisierung des Alltags und die Suche nach Sinnerfahrung durch Erlebnisausrichtung hervorgehoben (Schulze 1992). Sind die Wendungen zu lifestyle , Ästhetik, Marken-Bewusstsein, medialer Kommunikation und Selbstinszenierung nur als Ablenkung und Abkehr von drängenden globalen Problemen wie Gerechtigkeit und Frieden zu sehen, oder kann die gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit auch eine Basis für die Anerkennung anderer Lebensmodelle und Identitäten abgeben? 2 Die Einsicht, dass Gerechtigkeit sich sowohl in Strukturen der Distribution als auch im Zugestehen von Andersheit und Differenz realisiert, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, in komplexen Systemen die Stimmen der Betroffenen in ihrer Diversität zu Gehör zu bringen. Von hier eröffnet sich eine ungeahnte 2 Mit dieser Aussicht beschließt Michael Bongardt (1999: 466-49) seine Diskussion der Erlebnisgesellschaft anhand der Kategorien des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen bei Kierkegaard. „Erwart dir viel! “-- Religion als Horizont der Ethik 171 Verbindung zwischen den Diagnosen der Erlebnisorientierung und der postsäkularen Verfasstheit der Gesellschaft. Was sich verändert hat, ist in Hans Joas‘ Erörterung der Abklärung dieses Begriffs durch Jürgen Habermas nicht die fortdauernde Präsenz religiöser Gemeinschaften als solche, sondern ihre Wahrnehmung in den Köpfen der Zeitgenossen. Es ist eine Frage der Sensibilisierung, auf was man achtet. Die Unterschätzung der Rolle, die Religionen weiterhin in den Strukturen und den symbolischen Ressourcen demokratischer Kulturen gespielt hatten, werde, so Joas, nun korrigiert, und die Einstellung wird eine neue: darin, dass nun mit dem Fortbestehen religiöser Gemeinschaften und Traditionen in sich weiterhin säkularisierenden Gesellschaften gerechnet werden muss, besteht das „Post“-Säkulare; „post“ als Sache der Erkenntnis und des Einstellungswandels, nicht als plötzlicher Neubeginn wieder erstarkter, vormals im Aussterben begriffener religiöser Gruppen. Die Aussicht auf fortdauernde Präsenz macht sie dann auch zu nicht zu übersehenden Gesprächspartnern, und dies führt zu der Frage nach dem Medium der Verständigung: welche Sprache ist fähig und erwünscht in der Auseinandersetzung z. B. über dringende Fragen der Steuerung von Zukunftstechnologien? Und welche Übersetzungsbereitschaft zwischen religiös und säkular gewonnenen Problemanzeigen müssen beide Seiten zeigen? Die Einbeziehung von Kulturen in die Ethik zeigt sich hier als Auftrag, Pluralität als Herausforderung und Chance für die Verständigung über das Universalisierbare in praktischen Diskursen anzunehmen und ernsthaft mit Traditionen zu rechnen, die Vorstellungen des guten Lebens, der Gerechtigkeit und Verantwortung aus ihren religiösen Symbolwelten schöpfen. Das muss nicht bedeuten, dass der Standard der Universalisierbarkeit aufgegeben und dass die Begründung der Verpflichtung, die gleichursprüngliche Freiheit der anderen anzuerkennen, durch die autonome Vernunft bestritten wird. Es heisst aber, dass eine Religion mit ihrer theologischen Anthropologie, Geschichtsauffassung und Gotteslehre diese Ausrichtung praktischer Vernunft auf Anerkennung konkretisieren, nachhaltig motivieren und an der Entdeckung und Bestimmung dessen, was moralisch relevant ist, mitwirken kann. Bisher ist es um die Heuristik des Richtigen und der leitenden Visionen gegangen, zu denen in einer postsäkularen Gesellschaft neben anderen Traditionen auch die religiösen beitragen können. Wie steht es aber mit dem Vorwurf, dass auf einer grundlegenden und schwer zu eruierenden Ebene bestimmte geschichtliche Religionen den Erwartungshorizont so immens ausgedehnt haben, dass die autonome Vernunft immer nur hinterherhinken konnte und eine Beweislast zu übernehmen hatte, der keine endliche Freiheit gewachsen war? Dass das Hauptproblem der kulturellen Präsenz von Religionen also nicht an Kämpfen um Au- 172 Maureen Junker-Kenny torität und Sanktionsgewalt festzumachen ist, sondern an der Aufladung des psychologischen Erwartungshaushalts mit Wunschprojektionen? Statt um Übersetzung müsste es dann um Quarantäne gehen, und nicht um gemeinsame Lernprozesse, sondern um das Abtrainieren nicht realitätsgerechter Einstellungen. 2. Glaubenstraditionen als éducation sentimentale Die Beobachtung, dass Religionen nicht nur in ihren Institutionen, sondern im kulturellen Erbe einer Gesellschaft präsent sind und dort weiterhin Artikulationsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, ermöglicht es Hans Joas ihren Beitrag als positiv zu werten, ohne auf Inhalte einzugehen. Als Erweiterung von Optionen wird ihr Beitrag als Freiheitsgewinn verbucht. So können wir Sprachen, Kulturen und Religionen als reichhaltige Repertoires für die Artikulation von Erfahrungen ansehen … die vorhandenen Deutungsmuster (sind) immer schon erfahrungsdurchsetzt, ebenso wie unsere Erfahrungen nicht völlig unabhängig von Deutungen und Erwartungen sind. ( Joas 2004: 24) Eine andere Perspektive auf den Einfluss einer Religion auf die Gefühls- und Erwartungsspanne in der Entwicklung des „Westens“ hat Hans Blumenberg vorgestellt. Der Glaube an einen rettenden Gott hatte Erwartungen hinterlassen, die von einer säkularisierten Moderne nicht zu befriedigen waren. Die theologische Vorgeschichte wirkte sich als Legitimitätsdefizit autonomer Freiheit aus. “Kulturen in der Ethik“ bedeutet dann, dass die Kultur, hier die Wirkungsgeschichte des jüdischen und christlichen Gottesglaubens, im Bereich ethischer Visionen und Lebensauffassungen so viel versprochen hat, dass Moralität nur eine überforderte sein konnte. Angesichts dieses prinzipiellen Zweifels an der Brauchbarkeit der Elemente des Gottesglaubens hat der Theologe Wolfhart Pannenberg eine alternative Sicht der Bedeutung der Rezeptionsgeschichte des biblischen Monotheismus für die menschliche Freiheitsgeschichte vorgeschlagen, die andere Motive für relevanter hält: so die Versöhnung der Welt mit Gott, der selbst die Schuld auf sich nimmt; die Erschaffung des Menschen als Gottes Ebenbild; Gottes Aufmerksamkeit für die einzelnen und ihr Heil; vor allem aber die, wie Blumenberg selbst anführt, „unendliche Bestärkung der menschlichen Selbstachtung“ (Blumenberg 1966: 584, Anm. 50) durch die Inkarnation Gottes in einem Menschen. Als Beförderung des Zutrauens des Menschen zu sich selbst im Gegenüber zu Gott werden sie als wirksame Faktoren zugunsten der Freiheitsgeschichte vorgestellt (Pannenberg 1972). Welche Sicht ist überzeugender, Blumenbergs oder Pannenbergs? In der kulturvergleichenden Analyse des Bibelwissenschaftlers Seán Freyne ist es bezeichnend, wie verschieden die Figur der Hoffnung in der griechischen Mythologie und in der hebräischen Bibel behandelt wird. Für die „Erwart dir viel! “-- Religion als Horizont der Ethik 173 Griechen ist Hoffnung, eine der Göttergaben an den Menschen, das einzige und letzte, das übrig bleibt, nachdem alles Gute davongeflogen ist: The Greeks had their own version of the Garden of Eden story. According to an old fable Zeus gave mortals a vessel full of good things, but when in curiosity the lid was lifted all the good things escaped to the gods and hope alone was trapped when the lid was restored, making it the only comfort left to humans. In truth, however, it proved to be a fairly limited comfort. The future had an uncertain, if not downright malevolent aspect to it. Fate controlled the destiny of mortals, and in the hellenistic age religion, magic and philosophy were concentrated on the need to deal with its foibles, not to liberate oneself from them but simply to negotiate one’s way through the many pitfalls that lay in store for humans. (Freyne 1995) Der griechischen Skepsis setzt er die Erfahrung Israels entgegen, für das der Exodus grundlegend war: „Ich werde mit Euch sein“ ist die Antwort Yahwehs auf die Frage, die Moses am brennenden Dornbusch stellt: Was ist Dein Name? (Ex 3: 13). Der Bundesschluss am Berg Sinai, die Wanderung durch die Wüste und die Ankunft im Gelobten Land sind weitere Schlüsselereignisse, die zu einer Zeit geschrieben wurden, als Israel auf seine babylonische Gefangenschaft im 6. vorchristlichen Jahrhundert reflektierte und sein Selbstverständnis durch diese Geschichtsschreibung ausbildete: „a defiant statement of hope, based on the belief that the same God who had initiated their communal experience in the Exodus was still with them“ (Freyne 1995: 10 f.). Der reflektierte „ethische Monotheismus“ hat einen Maßstab dafür, wer allein als Gott verehrt werden kann, im Unterschied zu den macht- und maßstabslosen Lokal- und Nationalgöttern. Nicht in einer Schlacht, sondern im regulären Urteilsprozess eines Gerichtsverfahrens mit Evidenz und Argumenten zeigt sich, wer Gott ist, am Kriterium des Schutzes für die Verletzbaren: Wie lange noch wollt Ihr ungerecht regieren und den Frevlern Raum geben? Schafft Recht dem Geringen und der Waise, dem Armen und dem Bedürftigen schafft Gerechtigkeit! (Psalm 82, 2-3). Damit hat die Bibel einen „völker- und weltumgreifenden … universalen Maßstab aufgestellt (Wacker 2009: 407 f). Die historische Forschung der Bibelexegeten zeigt, dass die menschliche Kapazität zur Hoffnung kulturell höchst verschieden bestimmt werden kann und wie sie durch den Gottesglauben Israels und dann des Christentums geschichtlich geprägt wurde. Sie bewirkte die Wendung von einem zyklischen Natur- und Geschichtsverständnis zu einem eschatologischen Horizont, in dem Gott ein von der Weltgeschichte verschiedenes Weltgericht verspricht, das die Verlore- 174 Maureen Junker-Kenny nen rettet. Dieses geistesgeschichtliche Erbe kann als maßlose Übersteigerung des Erhoffbaren beurteilt werden, die im Zeitalter der Moderne mühsam auf ein realistisches, mit menschlichen Kräften erreichbares Maß zurückgestutzt werden musste. Es kann aber auch, wie Ernst Bloch es in seiner philosophischen Würdigung der Hoffnung versucht, in seinen geschichtlich angereicherten Ausdrucksformen erkundet werden. In der grundlegenden Bestimmung dieser Eigenschaft kommt Seán Freyne der Philosophie des Noch-Nicht bei Ernst Bloch nahe: „Hope is faith and trust in the possibility of the not-yet which makes it worthwhile to live and be in the present“ (Freyne 1999: 10). Ernst Bloch spürt den vielen Facetten nach, in denen sich Hoffnung niederschlägt: (Ueding 2016) Rettungsphantasien (42) und Wunschträume (53), Augenblicke der Erfüllung und Vergebung (64), Detektivromane, die vorführen, dass man „hinter die Geheimnisse einer Gesellschaft kommen“ (190) kann. Im für die Hoffnung kennzeichnenden „Nichthaben“ besteht ein „Korrelat“ zur „Offenheit der Geschichte“ (139). Voraussetzung ist eine Sicht des Gegebenen als „Experimentum Welt, ungelungen und im Werden“ (71), das ein „Meer des objektiv-real Möglichen“ (73) darstellt. Ueding resümiert Blochs Umgangsstil mit Studierenden und Mitarbeitern: Er „behandelte uns … als das Versprechen, das wir waren“ (110). In dem Maße, in dem für die Ethik die Beziehung zur Handlungsfähigkeit zentral ist, muss sie sich für den Fundus an Traditionen und Menschen interessieren, der in einer Gesellschaft zugänglich ist. 3. Schlussfolgerungen Religionen als historisch individualisierte, spezifische Kulturen in der Ethik können der Moralität einen Horizont stiften, in der die Grenze menschlicher Macht nicht die Grenze der Ethik sein muss. Selbst was Menschen nicht erfüllen können, darf erhofft und in die Bestimmung auch der praktischen Vernunft als Streben nach dem Unbedingten einbezogen werden. Die mögliche Zukunft kann in die Gegenwart hereinbrechen. Auch wenn die Antizipation des Todes Teil der menschlichen Reflexionsfähigkeit ist, wie Ingeborg Bachmann mit Heidegger, über dessen Philosophie sie promovierte, annimmt, kann es Durchbrüche geben: Ein Wohlklang schmilzt das Eis O großes Tauen! Erwart dir viel! Silben im Oleander, Wort im Akaziengrün Kaskaden aus der Wand. „Erwart dir viel! “-- Religion als Horizont der Ethik 175 Die Becken füllt, hell und bewegt, Musik. (Bachmann 1983: 157) Wenn Hoffnung nicht nur ein Geschenk der Natur an den Menschen, sondern ein spezifisch gefülltes kulturelles Erbe darstellt, das durch einen Fundus gedeuteter Erfahrungen vermittelt worden ist, dann kann diese Erbschaft auch wieder verschwinden, wenn sie nicht aktiv angeeignet und kritisch transformiert wird. Als Potenziale, die auf historischen Entwicklungen und spezifischen Bedingungen basieren, können sie unzugänglich werden, wenn diese Umstände nicht länger gelten. 3 Die christliche Hoffnung auf die Transformationsfähigkeit der Welt als Laboratorium möglichen Heils, in der die Anfänge des Reiches Gottes schon wie ein Senfkorn gepflanzt sind, kann auch wieder verkümmern Einer der Hintergründe für Jürgen Habermas, die Fähigkeit zu übersetzen auszuzeichnen, ist die Wahrnehmung, dass motivierende Gründe fragil sind und eines unterstützenden Kontextes bedürfen. Die Sensibilität für Pathologien und Fehlentwicklungen, für Leiden und Scheitern ebenso wie die motivierenden Sinnhoffnungen der Religionen als Ressourcen für gegenwärtige demokratische Meinungsbildungen können durch solche Zweisprachigkeit fruchtbar gemacht werden. Diese Fähigkeit kommt jedoch nicht erst als Medium der Willensbildung zwischen Mitbürgern zum Tragen. Sie ist schon in der literarischen Reflexion tätig gewesen und präsent, wenn dichterische Kreativität Resonanz findet. Nach der exegetischen Erforschung des Korintherbriefs und seiner Rezeptionsgeschichte und der konzeptionellen Einordnung als theologische Tugenden in der Christlichen Ethik des Mittelalters sind Glaube, Hoffnung und Liebe dann in freier Übersetzung poetisch anschaulich und als „Herz, Anker und Kreuz“ (Bachmann 1983: 133) von vielen Lebenswelten aus erkennbar. „Erwart dir viel! “ ist dann keine Anleitung zu einer passiven, aber anspruchsreichen Lebensführung, sondern eine Erweiterung des Raums des Möglichen, den Handlungsfähigkeit voraussetzen muss, durch den Glauben an einen begleitenden, rettenden und vollendenden Gott. Die Moralität behält als Grund der Verpflichtung die 3 In Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, 1360 f., spricht Ernst Bloch (1959) davon, dass „das heutige Geschlecht, indem es ohne Todesfurcht lebt, vergangenen Glauben beleiht, auch von völlig ungedeckten Schecks lebt“, dass „im Unterbewusstsein noch frühere, sattere Wunschbilder fortdauern und stützen. […] Wahrscheinlich also zecht dieser ganz flache Mut […] auf fremde Kreide. Er lebt von früheren Hoffnungen und dem Halt, den sie einmal verliehen hatten. Und zwar lebt er, was hier entscheidend wichtig ist, sehr oft von einem abgelaufenen Glauben, der, wenn er einmal gänzlich verdampft wäre, desto hilfloseres Grauen freiließe.“ Vgl. Pröpper (2011, Bd. 2, 750) und seine Diskussion von Blochs Auffassung der Person Jesu (Pröpper 1976: 29-38). 176 Maureen Junker-Kenny menschliche Freiheit, doch diese gewinnt einen Sinnhorizont für ihr Handeln in riskanter Zuversicht und Geduld. Literatur Ammicht Quinn, Regina (2006). Glück - der Ernst des Lebens? Freiburg: Herder. Bachmann, Ingeborg (1983). Sämtliche Gedichte. München: Piper. Bloch, Ernst (1959). Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt: Suhrkamp. Blumenberg, Hans (1966). Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt: Suhrkamp. Freyne, Seán (1995). Jesus Christ: Witness and embodiment of the hopes of Bongardt, Michael (1999). Ästhetische Existenz und christliche Identität. In: Junker-Kenny, M./ Tomka, M. (Hrsg.) Die Erlebnisgesellschaft, Concilium 35, 461-470. Israel. In: Junker-Kenny, M. (Hrsg.) Christian Resources of Hope. Dublin: Columba Press, 9-25. Joas, Hans (2004). Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg: Herder. Pannenberg, Wolfhart (1972). Gottesgedanke und menschliche Freiheit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pröpper, Thomas (1976). Der Jesus der Philosophen und der Jesus des Glaubens. Ein theologisches Gespräch mit Jaspers - Bloch - Kolakowski - Gardavsky - Machovec - Fromm - Ben-Chorin. Mainz: Grünewald. 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Über Religion in ästhetischer Form Jean-Pierre Wils Die Kunst umspielt das Geheimnis (: Religion) (Peter Handke, Vor der Baumschattenwand nachts, 44) Mein Problem ist das Glaubensbekenntnis. […] Die Form macht alles, die Form ist schöpferisch. […] Wahrscheinlich ist alles verloren. Aber die Religiosität ist ein ungehobener Schatz im Menschen. (Peter Handke im Gespräch, 110 ff.) Nein, Gott ist kein Vorbild. (Péter Esterházy, Die Markus-Version, 79) Eine kleine Typologie Dass Religion - die christliche - irgendwann und endgültig aus unseren Gesellschaften ausgezogen sein wird, hat vermutlich keine einzige Säkularisierungsthese jemals behauptet. Das Maß ihrer neueren Präsenz vermag jedoch zu überraschen, wobei die Erscheinungsformen gegenwärtiger Religion höchst verschieden ausfallen. Idealtypisch und demnach vereinfachend formuliert könnte das Spektrum ungefähr so aussehen: Da sind die fundamentalistischen Strömungen, die in ihrer Fixierung auf den Wortlaut der (jeweils) Heiligen Schrift ihren kulturellen Umgebungen den Rücken kehren und zurückfinden wollen zu dem, was Olivier Roy „heilige Einfalt“ nennt. Indem sie ihre kulturelle Verwurzelung verabschieden, wandern sie auch aus jener Pufferzone aus, die sie an die Lebensgewohnheiten, vor allem aber an die dort erforderlichen Kompromisse des Alltags gebunden hat. Hier wird Reinheit angestrebt. Das gelingt längst nicht immer, weshalb die scharfe Verurteilung der kulturellen Umgebung und die Distanzierung wissenschaftlich beglaubigten Wissens einhergehen können mit einer Überanpassung an die Standards ökonomischen Erfolgs. Auf die gefährliche Variante jener Strömungen stoßen wir in den politisch radikalisierten und gewaltbereiten, apokalyptisch eingefärbten Bewegungen. Nun wird Gottes Urteil über die verfallene Welt in eigener, aber unheiliger Regie 178 Jean-Pierre Wils vollzogen, wobei die Opfer und die Selbstaufopferungen nicht ins Gewicht fallen. Im Gegenteil, diese gelten als Gütesiegel und müssen als Ehrenbanner der vollzogenen Aktionen betrachtet werden. Explosive Religion hinterlässt eben Spuren. Die Bluttaten legen aus der Sicht ihrer Vollstrecker Zeugnis einer höheren Moral ab, die sich buchstäblich auf Kriegsfuß mit jedem ‚common sense‘ befindet. Die Lauheit unreiner Religion drängt die Propheten der Umkehr zur Not zu infernalischen Taten. Der Begriff des „moralischen Nihilismus“, der von Winfried Schröder stammt, ließe sich hier angemessen verwenden. Mit Schaum vor dem Mund - sei es aus offenbarungsgewisser Trunkenheit, sei es aus Hass gegen jegliche Andersheit - werden Fanatiker zu selbsternannten Stellvertretern ihres jeweiligen Gottes. Ihre Siegeszüge hinterlassen bekanntermaßen überall verbrannte Erde. Mit Bastler-und Sammlerreligion haben wir zu tun, wenn Versatzstücke aus verschiedenen Traditionen zu einem Muster verknüpft werden, das hauptsächlich der eigenen Sinnfindung dient. Der Kleister, der das Gebilde zusammenhält, heißt „Spiritualität“, nicht selten sogar „Mystik“. Ebenso häufig werden diese Kategorien als Hebel für eine Entlastung vom übertriebenen Gewicht der Orthodoxie, die auf der eigenen Tradition lastet, benutzt. Diese Freigeistreligion umfasst jene Bekenner, die sich mit den aus ihrer Sicht verhärteten Profilen dieser Tradition nicht länger identifizieren lassen wollen, aber aus ihren Gefilden auch nicht ausgebürgert werden möchten. Sie erhoffen sich eine Revitalisierung aus vornehmlich fremden Quellen. Die genannten Begriffe „Spiritualität“ und „Mystik“ signalisieren die prekäre Identität dieser bekennenswilligen Dogmenverächter. Nischenreligion betrifft jene Zonen eines faktisch resignierten Glaubens, der in periodischen Abständen, folkloristisch gesonnen, das Tageslicht erblickt. Er manifestiert sich vor allem in dörflichen Umgebungen, wo das Vereinsleben noch nicht gänzlich zum Erliegen gekommen ist. Da scheint an einigen (Sonn-) Tagen des Jahres die religiöse Institution noch intakt zu sein, während sie im Alltag ebenso wie in den nachrückenden Generationen zu einer zu vernachlässigenden Größe geschrumpft ist. Gewiss existieren weiterhin beachtliche Kreise binneninstitutioneller, stabiler Religiosität. Aber ihre Zukunft leuchtet nicht . Sie diffundieren zunehmend zwischen den genannten typologischen Varianten. Mit Sicherheit ist diese skizzenhafte Darlegung unvollständig. Denn es mögen einige sich nicht niederlassen wollen in den aufgezeigten Behausungen, erst recht nicht jene, die ebenso emotional wie intellektuell von Religion nicht lassen wollen, weil sie sowohl mit ihrem Schwund als auch mit ihrem schrillen Lärmen einen Verlust verbinden. Um sie geht es in diesem kleinen Aufsatz. Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 179 Der Schwund von Religion wird nicht selten mit einem herablassenden Grinsen quittiert, mit der banalen Freude darüber, dass uns die Last endlich genommen wurde und unserer Emanzipation keinerlei Grenzen mehr gesetzt sind. Diese Art von „Autonomie“ hat inzwischen trivial-konsumhafte Züge angenommen. Ihre Protagonisten verwechseln ihr „Selbst“ mit dem „Gesetz“. Religion identifizieren sie mit blinder Gesetzesabhängigkeit, in jedem Fall mit der Unterdrückung genuiner Bedürfnisse und ihrer Erfüllung. Ohne Religion, so lautet das frohlockende Fanal, lebt es sich besser und schöner. Was in all diesen Fällen schon längst als verloren gelten darf, ist die so wichtige Mischung von Ernst und Distanz . Sie ist deshalb wichtig, weil sie ein Maßhalten ermöglicht - zwischen einer völlig reflexionslosen Totalidentifikation auf der einen Seite und einer leichtsinnigen Verwerfung von allem, was auch nur in die Nähe religiöser Überzeugungen gerät, auf der anderen Seite. Genau diese Mischung bleibt erhalten in der ästhetischen Aufhebung von Religion. Es ist ihre Aufhebung im doppelten Wortsinn, also ein Gestaltwandel, der weder konserviert noch liquidiert, der hier am Werke ist. Dinge werden verlassen und bewahrt zugleich. Sie werden nicht bloß über Bord geworfen, so als könnte man sich in ihrer Nähe eine entstellende Krankheit zuziehen, sondern vielmehr aufgehoben. Es ist die ästhetische Signatur dieser Aufhebung, welche die nötige Distanz schafft, die Luft zum atmen, in einer ansonsten höchst bedrängten und bedrängenden Umgebung. Eigentümlicher Weise bewirkt diese Distanz Möglichkeiten der Nähe, die sich sonst nicht böten. Die Grenzen der Moral Wer in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an westlichen Universitäten Theologie studiert hat, wurde vielerorts mit einer gewaltigen Ethisierung dieser Disziplin konfrontiert. Moral schien der Skopus von Religion zu sein. Die politische Theologie europäischer Prägung aus jener Zeit bildete lediglich den Transmissionsriemen jener Moral in das Feld politischen Handelns. Diese Ethisierung der Theologie widerspiegelte ein hohes Maß an Moralisierung von Religion, vor allem christlicher Religion. Die ganze Ambivalenz dieser Lage macht sich bemerkbar in dem damals oft zitierten (katholischen) Motto einer „autonomen Moral im Kontext des christlichen Glaubens“, das von dem Tübinger Moraltheologen Alfons Auer stammte. Dass moralische Konflikte nicht temperiert und ihre ethische Reflexion unter den modernen Bedingungen einer religionsheterogenen Landschaft nicht aus den intrinsischen Impulsen religiöser Überzeugungen, jedenfalls nicht ohne deren Übersetzbarkeit in einen öffentlichen Vernunftgebrauch ( John Rawls), gelingen können, stellt die Grundeinsicht jener „autonomen Moral“ dar. Der Würde der Moral wegen wird ein Abstand benötigt 180 Jean-Pierre Wils zur Religion. An dieser Einsicht ist nicht zu rütteln. Es ist aber schwer zu sagen, was der „Kontext des christlichen Glaubens“ zu dieser Reduktion moralischer Konflikte, zu den dazu gehörigen Argumentationen überhaupt noch beiträgt. Vom Kontext zur Moral schienen die Brücken nahezu gesprengt. Der lose Kontext führte zu Appendix-Theologien auf den schmalen Schlussgeraden vieler Veröffentlichungen im Bereich der theologischen Ethik. Deren Prädikat „theologisch“ signalisierte eine gewisse Angst, dass das Resultat des Forschens lediglich als Ethik ‚tout court‘ rezipiert werden könnte. Es gibt, wie gesagt, keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Entkoppelung durchaus fruchtbare Effekte gezeitigt hat: Auf dem Hintergrund einer „Rehabilitation der praktischen Philosophie“ (Manfred Riedel) lebte die christliche Ethik - vor allem in einer rezeptiven Attitüde - geradezu auf. Zu sagen, worin die genuin religiösen Bestandteile einer solchen Ethik lagen, fiel zunehmend schwer. Dass es schwerfallen muss , zu sagen, was der religiöse Gehalt dieser Ethik ausmacht, ist allerdings in ihrer Kennzeichnung als „autonome Moral“ bereits unmissverständlich enthalten. Aber diese Schwierigkeit ehrt sie . Und diese Schwierigkeit zeigt auf die Notwendigkeit hin, den Glauben vor Moral zu schützen - vor seiner Identifikation mit Moral. Die großräumige Identifikation beider, also die Entzifferung des Glaubens bzw. der Religion als Moral, gehörte auf den ersten Blick in jene oben umrissene Typologie gegenwärtiger Religionsgestalten. Aber in jenem forcierten Reduktionismus auf Moral ist sie in Wahrheit schon längst aus dem Blickfeld geraten. „Man sieht in der Christuslegende eine Moral verkörpert, der man nacheifern sollte - die Moral der Nächstenliebe, die Moral der Bergpredigt. Aber ist das noch ein Glaube? “, fragt sich Peter Strasser (1998) in seinem fulminanten Essay Der Weg nach draußen und seine Antwort lautet: „Es spricht alles dafür, hier mit einem Nein zu antworten“ (194). Strasser sieht hier eine Unterwerfung des Glaubens unter die Ethik, eine Art Selbstauflösung des Glaubens zugunsten der Moral. Ethik gehe es um die Realisierung des Guten, das Glaubenserlebnis dagegen beinhalte „eine Geborgenheit im Schlechten, die sich dem ethischen Räsonnement entzieht“, das heißt, ein Setzen auf Erlösung (195). Nebst der „autonomen Moral“ existiert demnach eine „Autonomie des Glaubens“, ein religiöses Terrain, das mit anderen Fragen als Moralfragen befasst ist - mit der Bedeutung unserer Existenz. Wenn alle möglichen Fragen der Moral beantwortet wären, so lässt sich Ludwig Wittgensteins berühmter Satz aus dem Tractatus logico-philosophicu s variieren, wäre unser Lebensinn noch gar nicht berührt. Wie aber können wir uns jenem Lebenssinn intellektuell nähern, vorausgesetzt, dass wir uns in die Typologie der gerade umrissenen Behausungen nicht einweisen lassen wollen? Der soeben zitierte Peter Strasser hat in einem anderen Zusammenhang, im Journal der letzten Dinge , auf einen historisch Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 181 aufschlussreichen Sachverhalt aufmerksam gemacht - auf die Auflösung von Religion. Dies geschieht just in dem Moment, wo das Eigenrecht oder die Autonomie der Moral zum Durchbruch gelangt. „Der Hang,“, so Strasser, „die Kunst als Religion zu interpretieren“ falle zusammen „mit dem Durchbruch des Universalismus in Erkenntnis und Moral“ (167). Diese Entwicklung, die auch von Max Weber beschrieben worden ist, setzt bereits in der deutschen Aufklärung ein und setzt sich bis weit in das 19. Jahrhundert fort. Auf den Punkt gebracht heißt das: Sobald Moral ihrem Wesen nach menschheitsidentisch ist, löst sich Religion in ihrer historisch und dogmatisch unzweideutig nicht-universellen Gestalt von ihr ab. Der Universalismus der Moral zeigt nun unmissverständlich auf den dogmatischen Partikularismus der Religion. Um diesem Partikularismus zu entgehen und der Religion eine neue Art Heimat zu bieten scheint die Kunst eine willkommene Hilfe zu sein. „Kunstreligion“ - Kunst als Erlösung - nannte man dieses Produkt. Wir befinden uns heute in einer ähnlichen Lage. Unsere Orthopraxie hat sich emanzipiert aus religiöser Bevormundung und moralriskanten Glaubensüberzeugungen. An die Erlösungsfunktion der Kunst vermögen wir allerdings nicht mehr zu glauben. Vielleicht ist dies aber die Stunde der ästhetischen Erkundung einer Religion, der christlichen, die uns durch die Finger zu rinnen droht. „Der Weg nach draußen“ (Peter Strasser) könnte ansonsten endgültig versperrt sein. Ästhetische Bewohnbarkeit Vor einigen Jahren hat Bruno Latour uns ein Buch geschenkt, in dem er die religiöse Spurensuche eines Intellektuellen, der aus seinem Katholizismus längst herausgefallen war, nachgezeichnet hat. Dabei spielt nicht nur die ästhetische Unbewohnbarkeit oder Indifferenz seiner einstigen Religion eine wichtige Rolle, sondern auch die Beliebigkeiten des Sprechens, die Banalisierung der Sprache, die Trostlosigkeit einer bereitwilligen Adaption an die Niveaulosigkeiten von Kitschkunst und kindlich anmutenden Phantasien. „Trödelkram“ nennt Latour, was ihm da begegnet: „kunstlos, geistlos, unwissend, ungebildet, von keiner Überlieferung gedeckt, durch nichts autorisiert baumeln dann im Kirchenschiff zusammengeflickte Wortstummel, deren ‚Anpassung an die Gegenwart‘ ihre tödliche und finale Blässe nur noch steigert. Jedem werden aus Kirchen, die er letzthin besichtigt hat, Beispiele geläufig sein - angesichts mancher im Vorraum von Katechismusschülern zur Illustration heiliger Worte an die Wand geklebter Filzstiftzeichnungen schwitzen ja selbst die Steine blutige Tränen. Wie können wir uns aus dieser Schlinge ziehen? “ (Latour 2011: 88) Es ist hier die Rede von einer Substanzlosigkeit des Glaubens als Gestaltlosigkeit , von der Versuchung, mittels der Verabschiedung einer anspruchsvollen 182 Jean-Pierre Wils ästhetischen Vergegenwärtigung Gottes auf ein nichtbedrängtes und windstilles Reservoir schlichter Gläubigkeit zu stoßen. Die durch einen anspruchsvollen künstlerischen Gestaltungswillen gebildeten Barrieren gegen eine Unmittelbarkeit, die subjektivistische Übergriffe auf die Tradition verhindern helfen, sind niedergerissen worden. Die Tiefenbohrungen einer Intellektualität, die sich mit Banalisierungen nicht zufrieden gibt, werden als lästig empfunden, als Vermeidung vollmündiger Treuebekundungen. Dass aber Trivialisierungen ästhetischer und intellektueller Natur dem Glauben keineswegs zu irgendeiner Relevanz für unsere Lebensdeutung verhelfen, beginnt sich herumzusprechen. Denn in infantilisierter Religion wird Einfaches mit Schlichtheit verwechselt, Klares mit Unterforderung. Der Wunsch, das Leben möge religiös nicht ohne Deutung bleiben, wird hier schwerlich eine Resonanz finden. Umso überraschender stellt man fest, dass in den Domänen der Kunst - in der bildenden ebenso wie in der musikalischen und literarischen - seit einiger Zeit eine Hinwendung zu den großen, also nicht -moralischen Themen der (christlichen) Religion stattfindet. Die von Johannes Rauchenberger herausgegebene und drei große Bände umfassende Ausstellungsdokumentation Gott hat kein Museum. No Museum has God zeigt auf eine umfassende Renaissance von Religion in der Kunst des 21. Jahrhunderts. In ihr ist alles erlaubt, weshalb es ab und zu wahrhafte Epiphanien gibt, die imstande sind, religiöse Sachverhalte sich ereignen zu lassen . Und da gibt es keine Scham, sich mit Dingen zu befassen, die außerhalb des normierten Diskurses liegen und theologisch geradezu marginalisiert sind. Im Folgenden werde ich in fünf Miniaturen von einer literarischen Kleinen Renaissance des Religiösen berichten. Inkarnation reloaded So hat Karl Ove Knausgård, noch bevor am gigantischen Projekt seiner autobiographischen Romane begonnen wurde, alles hat seine Zeit veröffentlicht, eine mit Blick auf die Geschicke der Engel teilweise Neuschreibung der Bibel, vor allem des Ersten Testaments. Es ist das Kommen Jesu, das hier zu den entscheidenden Momenten gehört, welche die Anwesenheit der Engel auf der Erde in Frage stellen. Die Inkarnation mache in Zukunft durch Zwischenwesen realisierte Vermittlungen überflüssig, weshalb deren Vertreibung diesmal nicht aus dem Paradies, sondern auf der Erde unaufhaltsam fortschreite. Was Inkarnation bedeutet, gibt uns der Erzähler folgendermaßen zu verstehen: Christus schrieb nicht […]. Es hätte dem grundlegenden Sinn der ganzen Inkarnation widersprochen. Das Göttliche wurde Körper; Arme und Beine, Kopf und Bauch, Herz und Lunge. Das Göttliche hielt sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 183 Zeit auf. Darin lag keine Universalität, nur eine Singularität. Und in dieser lag der Sinn. Die Kirchenväter begriffen nicht, dass der Sinn von Jesus Leben in jedem einzelnen der einzigartigen Augenblicke lag, die er hier gewesen war. Sie hatten den blutüberströmten, gekreuzigten Leib vollständig in die Sprache gehoben und in philosophischen Abstraktionen aufgelöst. Die Menschen begriffen es dagegen sehr wohl. Die hysterische Reliquienanbetung des Mittelalters brachte dies zum Ausdruck: Gott war hier gewesen, mitten unter uns, wie wir. Nicht immer, aber ein einziges Mal. Und damals, als Pontius Pilatus Statthalter in Jerusalem und Augustus Kaiser des Römischen Reichs war, hatte er seinen Fuß dorthin gesetzt, hatte seinen Kopf dort geruht, seine Hand dort gelegen. (Knausg ård 2007: 526) Es trifft hier die Unbefangenheit, mit der die Schreibabstinenz Jesu zum Anlass einer freien Spekulation wird. Inmitten einer mythologisch getränkten, angelologischen Erzählung gewinnt die Inkarnation jene Substanz, die sie in dogmatischer Umzingelung und in kunstloser Behauptung ansonsten verlieren würde. Im ästhetischen Milieu des Romans darf alles gesagt und erspäht werden, was im wissenschaftlich restringierten und kulturell indexierten Umfeld nicht stattfinden darf. Dabei geht es nicht um konträre Stellungen, um eine neue antidogmatische Dogmatik, sondern um die gewagte Freilegung eines Gehalts an Sinn , der ebenso ersehnt wie auch bestritten werden kann. Hier dominiert das freie, aber nicht willkürliche Spiel der Einbildungskraft mit einer überlieferten Glaubensannahme des Christentums - mit der Inkarnation -, die aus den archäologischen Beständen unserer Kultur in eine Gegenwart reicht, die diese kaum mehr entziffern kann. In diesem ein Weltpanorama entfaltenden Roman wird das Schicksal der Engel, das in ihrer langsamen Verbannung und anhaltenden Degeneration besteht, mit der biblischen und post-evangelischen Menschheitsgeschichte verbunden, bis die traurige Gegenwart erreicht wird. Das Werk entfaltet einen Sog, weil es den Buchstabencharakter und die Historizität der überlieferten und nicht-überlieferten religiösen Ereignisse annimmt und weiterspinnt . Weiterspinnen bedeutet hier, der ästhetischen Phantasie, verschwistert mit einer existenziellen Seriosität, ihren seltsamen, mäanderenden Lauf lassen. Nichts muss hier begradigt werden, weder in die Richtung einer streng gehüteten Doktrin noch auf dem abschüssigen Pfad unserer vermeintlichen Evidenzen. Knausgård nimmt uns mit in eine mythische Zeit vor der unseren, in der beispielsweise die Sintflut sich noch ereignen konnte, bevor sie exegetisch dekomponiert oder archäologisch trivialisiert wurde. In dieser Sintflut spielte sich ein Menschheitsdrama globalen Ausmaßes ab, deren langsames, unheimliches Kommen und deren weichendes, heilsames Versickern beim Lesen ihre Spuren hinterlassen. 184 Jean-Pierre Wils Entrückungsszenarien Über „hochmögende Literatur“ hat Sibylle Lewitscharoff mal gesagt, diese enthalte „herrliche Wahrheitskapseln“, die „still und leise, hinterrücks an unserer Zivilisierung raspeln und feilen, deren wir immerzu bedürftig sind“. (Lewitscharoff 2012: 154) Dieser Satz enthält eine wunderbare Metapher, die der Verkapselung der Wahrheit. In ihren Poetikvorlesungen, denen das Zitat entnommen ist, verteidigt die Autorin immer wieder die Wahrheitssuche der Literatur, trotz oder wegen deren Launen und Spielereien. (107) Aber diese Wahrheit ist gleichsam verpackt, umgeben von einem ästhetischen Schutz, der sie vor vorschnellem Zugriff hütet, oder von einer Membran, die ihre Durchlässigkeit für Neuinterpretationen gewährleistet. Es „wimmeln im günstigen Fall Partikel des Wiedererkennens und der Offenbarung.“ (123). Mit einer solchen „hochmögenden“ Sprache haben wir es auch in Lewitscharoffs jüngstem Roman Das Pfingstwunder zu tun. Dort befinden sich Dante-Forscher auf einem Weltkongress zur Göttlichen Komödie in Rom, unweit vom Vatikan, und werden dort, bis auf den Erzähler, just am Pfingsten und inmitten ihrer enthusiastischen Vorträge zu den einzelnen Cantos von einem Taumel erfasst, der sie auf die Fenstersimsen steigen lässt und in den Himmel fahren. Nebst den Ereignissen und den späteren Erinnerungen des als einzig, frustriert übrig gebliebenen Frankfurter Professors hat Lewitscharoff ihr Buch mit stupender Dante-Gelehrsamkeit getränkt, die in den einzelnen Interpretationen der Tagungsteilnehmer reichlich demonstriert wird. Aber der langsame Gang durch die einzelnen Cantos gibt ihr auch die Möglichkeit, entlang dem spätmittelalterlichen Weltbild Dantes und seiner Orthodoxie luftige Spekulationen anzustellen. Die Reise durch die Hölle und das Purgatorium mit Ankunftsziel im Himmel nötigt gewissermaßen zu der Frage, wie man eine solche Odyssee aus heutiger Sicht kommentieren könnte und welche Kennzeichnungen uns für die genannten Ortschaften zur Verfügung stünden. Lewitscharoff wagt sich weit über das Knochengerüst heutiger Theologie hinaus, über deren Fundamentalverlegenheit in überweltlichen Angelegenheiten und fragt sich, welches Fleisch im Kochtopf transmundanen Hinausdenkens womöglich vorhanden wäre. So offeriert sie uns ein schönes Bild für den Übergang in die Ewigkeit himmlischer Nachbarschaft zu Gott - das Bild einer Reise in größter Beschleunigung und plötzlichster Abbremsung. Hier sinnt die Literatur nach über den Transitus und probt eine kleine zeitphilosophische Reflexion. „Wer sich in Gottes Nähe wagt“, so Lewitscharoff, „nähert sich Ihm im Geschwindigkeitsrausch, und wer sich darin zu halten vermag, stürzt aus der Zeit in die Dauer“ (Lewitscharoff 2016: 295). Immerhin existieren offenbar literarisch-philosophische Anhaltspunkte, was sich und wie es sich dort womöglich ereignet . Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 185 Was sich in der Hölle abspielt, eignet sich zu handfester Imaginationsarbeit, denn als ihre Vorabspiegelungen lassen sich unsere irdischen Gefilde bezeichnen. Auch wenn man die aus theologischen Höllenexkursionen bekannten (und bei Dante in Übermaß vorhandenen) Folter- und Peinigungsfantasien einmal beiseite lässt und ein zivileres Kriterium anlegt, bleibt genügend übrig. Und Lewitscharoff gelingt überaus mühelos die Kennzeichnung der Differenz zum Warteraum des Himmels, zum Purgatorium. Man könnte auch sagen“, im Hinblick auf die Verdammten, diese „litten unter Erinnerungsverhaftung, seien einer immerwährenden Zeitlichkeit ausgeliefert; bestimmte Erlebnisse und Handlungen, aufgrund deren sie in die Hölle verfrachtet wurden, sind ihren Hirnen wie eingebrannt, da ist kein Raum für das freie Schweben der Gedanken, die sich läutern und die Rückstände des Kummers, des Hasses, der Selbstbezogenheit und Verworfenheit allmählich abstreifen. Im Purgatorium wird das Gepäck der Erinnerung luftiger, der Möglichkeitssinn, der eine außerordentlich beglückende Freiheit ahnen lässt, verleiht den Seelen die Energie für den Auftrieb und zerlöst die gedankliche und leibhaftige Schwere, die ihre Körper einst im Griff hatte - zugunsten eines Leichtwerdens, welches ihnen ermöglicht, sich in die himmlischen Regionen aufzuschwingen (297). Die absolute Selbstreferenz des Erinnerungsinhalts, der eiserne Kokon der Gedanken, die sich in unendlicher, eben höllischer Repetition um sich selbst bewegen, macht die grausame Ausweglosigkeit der infernalischen Existenz deutlich. Über keinerlei Ausflugsmöglichkeit in einen befreienden, anderswo gelagerten, raumschaffenden Hintergedanken mehr verfügen zu können mutet wie die treffliche Charakterisierung eines klaustrophobischen, eben höllischen Daseins an. Im Vergleich dazu kennzeichnet das Purgatorium bereits eine gewisse Leichtigkeit. Der „Möglichkeitssinn“ ist hier wieder heimisch geworden, das Dasein hat seine Sackgassenhaftigkeit abschütteln können. „Durch die reinigenden Schmerzen wird Zug um Zug Raum für eine hold lächelnde Freiheit geschaffen“ (ebd.). Lewitscharoffs theologische Glossen öffnen den Zugang zu einer Dimension religiöser Wanderschaft in unbekannt gewordenen Gegenden, an die unsere Vorfahren ebenso manifest geglaubt haben, wie wir abgrundtief an ihnen zweifeln. Solchermaßen werden aber Pfade ins Unbekannte semantisch geebnet, dorthin, wo der Schutt trister Dogmatik, aber auch das Hohngelächter der rest- und haltlos Abgeklärten ein Weitergehen versperrt hatten. 186 Jean-Pierre Wils Melancholische Apokalypse Ganz anders gelagert sind da die Reisen des großartigen polnischen Autors Andrzej Stasiuk in Der Osten . Hier erkundet jemand die weiten Landschaften einer zum Verschollen verurteilten Weltgegend, die bis an die Grenzen der Mongolei rührt. Stasiuk hat ein untrügliches Gespür für einen bevorstehenden totalen Untergang, für das Verschwinden eines Landstrichs, der mindestens dreifach heimgesucht wurde - durch die Nazis, durch die Kommunisten und durch die radikal-demokratisierte Abgötterei des totalen Konsums. Seitdem ist der Osten „auch ein Grab“. Es waren zunächst die Faschisten, die Anspruch auf ihn erhoben, weil sie seinen Raum aus ideologischem Irrsinn heraus brauchten. Und dieser Raum war verhältnismäßig leicht zu haben. „Denn für den Osten würde sich niemand einsetzen. Weil der Osten immer eine Leichenkippe war. Man könnte sie verbrennen, bis sich auf den Scheiben fünf Kilometer weiter das Fett absetzte. Doch niemand wagte es, für sie einzutreten, die Frauen putzten nur wortlos die Fenster“ ( Stasiuk 2016: 86). Aus dem Osten sollte das Licht der Erlösung kommen, aus ihm wurde jedoch eine Sehnsuchtslandschaft, nunmehr der Vernichtung preisgegeben. Stasiuk befindet sich auf einer nicht enden wollenden Suche nach Sprengsel eines Lebens, das sich in Bescheidenheit und Würde vollzogen hat. Aber um dieses Leben zu finden bräuchte es eine Reinigung, eine Reinigung der Seele. Das Reisen wird zu einer Weise der Purifikation. „Warum kehren die Gedanken nicht zu den Orten des Überflusses zurück? Zu einer gesättigten Landschaft? Ich kann mir vorstellen, dass die Seele Linderung braucht. Dass es die Leere der Wüste wie die Unendlichkeit des Wassers ist, aus dem wir einst an Land gingen. Unwiderruflich.“ (237) Hier widerspiegeln die Natur und die sparsamen Behausungen ihrer Bewohner Zustände der Seele, psychische Konstellationen, ebenso Not und Hoffnung des Reisenden. Aber dieser ahnt nichts Gutes, erfüllt von einer Art apokalyptischer Melancholie. „Ich wusste, dass die Endzeit schon voll im Gang war“ (288). Das Drama ist längst nicht mehr in seinem ersten Akt, aber kaum jemand scheint es wirklich zu bemerken. Zu den untrüglichsten Zeichen dieses Dramas gehört für Stasiuk das rapide Verschwinden der Vergangenheit, das Abhandenkommen von Bleibendem, das die Späteren sich als ihre Vergangenheit noch werden erinnern können. Es sieht so aus, als lebten wir mit dem Rücken zur Vergangenheit, als ginge uns diese nichts mehr an. Wir existieren im Vorwärtstrieb, unbeschwert von den Lasten, aber auch von den möglichen Versprechungen der Vergangenheit abgeschnitten. Wir sind gleichsam entgeistert. Als ich hierherzog, kam es mir vor, als sei die Luft voller Geister und Stimmen. So war es wahrscheinlich auch. Es wäre interessant zu erfahren, ob das, was jetzt ist, ebenfalls Geister hinterlassen wird. Die Schatten der Limousinen-Rinder auf den Wiesen der Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 187 Vergangenheit. Ob jemand an dieser Stelle anhalten wird, um sich anzusehen, was früher gewesen ist. In hundert, zweihundert Jahren. Und ob die Vergangenheit dann überhaupt noch existieren wird? Ob jemand sie brauchen wird, um etwas von seinem Leben zu begreifen? Es ist gut möglich, dass es dann nur noch die Zukunft geben wird (291). Die Apokalypse besteht nicht darin, keine Zukunft mehr zu haben oder deren Ende befürchten zu müssen, sondern im selbstauferlegten Zwang, im dünnen Modus bloßen Futurs zu leben. Alles ist auf Erneuerung eingestellt und kaum wird man gewahr, dass sich unter der fadenscheinigen Oberfläche fröhlichen Fortschritts eine anschwellende Brutalisierung ausbreitet. Der Schlussstrich, der sich hinter der Vergangenheit zu ziehen beginnt, mutet immer noch wie die fällige Befreiung von bedrückendem Ballast an, während dieses Abschlussverfahren für Stasiuk zunehmend die Dimension einer religiösen Bedrängnis annimmt. Er stellt sich die Frage, ob wir - einst - aus unserer Zukunftsfixierung noch werden aufwachen können und auf eine Vergangenheit blicken werden, die auch Gutes für uns bereithält. Der Bahndamm liegt höher als früher, und ich schau von oben, wie eine ausdruckslose Bebauung die wilden Orte verschlingt. Sie kriecht immer weiter und macht das Frühere endgültig zunichte. Aber mir ist das egal. Ich sehe die Vergangenheit deutlicher als die Gegenwart. Schließlich erhält das, was ist, erst Sinn, wenn es vorbei ist (253). Sinnverleihung geschieht tatsächlich eher im Rückblick als aus der Gegenwart heraus. Zukunftsmanien sind zu dieser Sinnverleihung aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage, denn das zu Erwartende lässt sich im Voraus weder gewichten noch bewerten. Angesichts des Ausmaßes an Zerstörung finden sich in Stasiuks Roman spontane Gebete, Anrufe des Herrn, damit der Erzähler seinen Zorn wie auch seine Verzweiflung ausdrücken kann. Und es kehren die großen und einfachen Fragen wieder, welche die vergangenen Menschen, die Bewohner dieser endlosen Landschaften, zu stellen gewagt haben. Wohin gehen wir nach dem Tod? Worauf warten wir? In diesen palastähnlichen Grabmälern aus Granit und Marmor. In Mausoleen. In diesen Todeshäusern voller Luxus. Aufbewahrt in Krypten, unter verzierten Platten, hinter schmiedeeisernen Türen. Auf Friedhöfen, die stillen Städten gleichen. Als würden wir nicht glauben, dass der Herr kommt, und müssten uns selbst um alles kümmern. Aufbewahren bis weiß nicht wann. In Häusern aus Marmor, in dunklen Wohnungen aus Terrazzo. Weil wir keine Hunde und keine Geier haben. Weil wir nicht glauben, dass der Herr uns wieder erschaffen wird aus Staub, aus Rauch. Dass er uns wiederfinden wird im Atem des Hundes. Wir glauben nicht (239). 188 Jean-Pierre Wils Stasiuk ist ein ungemein leiser Erzähler, der die Dinge abtastet, die da geschehen sind und weiterhin unaufhaltsam geschehen. Wer in ihm einen Vergangenheitsverklärer am Werk sähe, irrte sich gewaltig. Stasiuk fragt nach dem, was bewahrt werden könnte und sollte, nach dem, was so wertvoll ist, so dass es sich um unsere Vergangenheit handeln wird. Dieses Andenken im wahrsten Sinne des Wortes geschah in der Sprache und in den Riten der Religion. Mit letzteren zusammen droht es zu verschwinden. Zwischenaufenthalt im Reich Gottes Die große und großartige, essayistisch, theologisch und autobiographisch gleichermaßen angelegte Erzählung Das Reich Gottes von Emmanuel Carrère behandelt die Zeugnisse des Lukas und des Paulus, aber sie zeigt uns vor allem den Aufstieg des katholischen Glaubens des Autors und seinen Abfall von ihm. Carrère wurde in seinem Leben phasenweise zu einem streng bekennenden Katholiken, der aber irgendwann nicht mehr konnte. Er verlor seinen Glauben, aber bevor er - bereits abfällig - zum letzten Mal in die orthodoxe Ostermesse ging und das „Christus ist auferstanden“ sagte, notierte er in sein letztes Glaubensheft: „Herr, ich gebe dich auf. Gib du mich nicht auf “ (Carrère 2016: 115). Es handelt sich in diesem Buch um die Geschichte eines bedeutenden Schriftstellers, der in die Versuchung gerät, glauben zu wollen, und damit sowohl familiär als auch sozial zu einem zeitweiligen Außenseiter wird. Carrère berichtet in diesem Zusammenhang von seinem etwas älteren Freund Hervé, den er erst später in seinem Leben kennengelernt hat, und der sich abhebt vom Pariser Künstler- und Journalistenmilieu, worin er - Carrère - sich in aller Regel aufhält. „Wir“, die Bewohner jenes Milieus, „sprachen nie anders als mit einem Grinsen im Gesicht“. Und im Hinblick auf sich selbst schreibt Carrère, dass „selbst der ehrlichste Ausdruck meiner Not […] in einer Marinade aus Ironie und Sarkasmus [schwamm].“ Hervé dagegen zeichnete sich aus durch seine „völlige Ironiefreiheit“ (38). Es ist genau diese Haltung, die Carrère fasziniert, eine Haltung, die auch Kindern eigen ist, zu denen man Jesus zufolge werden muss, wenn man zu ihm kommen wolle. Ironie kann zum leicht toxischen Mittel der Wahrheitsbestreitung werden, der Sarkasmus fügt den Hochmut des sich überlegen Dünkenden hinzu. Carrére wollte sich von alledem befreien. Zu dem Evangelisten Lukas gewinnt Carrère später ein nachreligiöses Verhältnis. Er glaubt nicht länger, dass er mit dem Wort Gottes zu tun hat. Es interessiert ihn ebenso wenig, jedenfalls nicht vorrangig, ob die Worte des Lukas imstande wären, seinem Leben eine Bedeutung zu geben. Stattdessen tauchen nun typisch exegetische Fragen auf: Woraus schöpft Lukas? Welche Quellen standen ihm zur Verfügung? Und Carrère liefert gleich die drei gängigen Ant- Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 189 worten mit: Lukas hat sich ausführlich des Markusevangeliums bedient. Oder Zeugen erster, zweiter oder dritter Hand haben es ihm erzählt. Womöglich sogar hat Lukas Einiges frei erfunden. Für einen ehemaligen Christen sind diese drei Möglichkeiten gleich-gültig. „Ich bin kein Christ mehr“, schreibt Carrère, „Ich bin ein Autor, der zu verstehen versucht, wie ein anderer Autor ans Werk gegangen ist; und dass er viel erfunden hat, scheint mir auf der Hand zu liegen. Jedes Mal, wenn ich gute Gründe habe, eine Passage dieser Kategorie zuzuordnen, bin ich glücklich. Und zwar umso mehr, als einige dieser Fundstücke gehörigen Kalibers sind, nämlich das Magnificat , der Barmherzige Samariter und die erhaben schöne Geschichte vom verlorenen Sohn. Als Handwerker weiß ich sie zu würdigen und möchte meinem Kollegen dazu gratulieren“ (328). Das nachreligiöse Verhältnis zum Text ist jedoch weit davon entfernt bloß analytisch zu sein. Das Zugehörigkeitsgefühl, das von der Attraktivität der genannten Evangelienpassagen offenbar ausgelöst wird, ist emphatischer Natur. Sie vermögen zu binden und zu bewegen, auch wenn der dazugehörige Glaube nicht länger existiert. Man darf in den beiden erwähnten Gleichnissen eine Wahrheit vermuten, wie sie in der philosophischen Morallehre nicht vorkommt und deren Überzeugungskraft und Fähigkeit, zu erschüttern, von keinerlei religiöser Einhegung abhängig sind. Carrère geht in seinen literarisch-dokumentarischen Zeugnissen den Weg eines ehemaligen Christen, der sich in seinem schwankenden Agnostizismus gleichwohl nicht heimisch fühlt. Er teilt das Schicksal so mancher von uns. Aber wer sind „uns“? Bereits früh in seinem Buch fragt sich Carrère, was die Menschen mit einem religiösen Sensorium nun eigentlich von den anderen trennt. Warum sind einige religiös musikalisch, wenn auch nur in einfach-melodischer Begabung, und andere völlig unempfänglich für die Musik der Sphären, sogar für deren grobakustischen Signale? Weshalb tönt etwas in empfangsfähigen Gemütern, während andere in glücklicher Taubheit verharren? Und was ist jenes „etwas“? Die versuchsweise Antwort ist weit davon entfernt, spektakulär zu sein. Sie hat erneut mit dem Freund Hervé zu tun. Seit meiner Kindheit fragt er sich: Was mache ich hier? Und was ist dieses ‚ich‘? Und was das ‚hier‘? Viele Leute können ihr ganzes Leben verbringen, ohne von diesen Fragen berührt zu werden - oder wenn, dann nur flüchtig, und es fällt ihnen nicht schwer, das Thema zu wechseln. Sie stellen Autos her und fahren sie, lieben, diskutieren neben der Kaffeemaschine, regen sich auf, weil es zu viele Ausländer im Land gibt, planen ihre Ferien, sorgen sich um ihre Kinder, wollen die Welt verändern, Erfolg haben, und wenn sie welchen haben, ihn nicht verlieren, sie führen Kriege, wissen, dass sie sterben werden, aber denken so wenig wie möglich daran, und all das ist wahrlich genug, um ein Leben auszufüllen. Aber es gibt noch eine andere Gattung 190 Jean-Pierre Wils von Menschen, denen das nicht genug ist. Oder zu viel. Auf jeden Fall ist es ihnen nicht selbstverständlich. Ob sie klüger sind als die anderen oder nicht, darüber kann man endlos diskutieren, Tatsache ist, dass sie sich nie von einer gewissen Bestürzung erholt haben, die es ihnen verbietet zu leben, ohne sich zu fragen, warum und was der Sinn von alledem ist, falls es einen gibt. Das Leben ist für sie ein Fragezeichen, und selbst wenn sie nicht ausschließen, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt, suchen sie nach ihr, denn sie können nicht anders (39). Der religiös zugängliche Mensch ist also keineswegs ein Geborgener, ein Heimischer. Er gleicht ganz im Gegenteil einem Herausgefallenen, einem Exilierten aus der Kuhstallwärme wohlig abgesicherten Daseins. Er mag sogar herausgefallen sein aus den herkömmlichen Texturen seines Glaubens, fremd geworden in den gehüteten Traditionen seines Werdegangs. Aber er kann nicht anders als ausharren. Taub-stummes Beten Kurz vor seinem Tod veröffentlichte Péter Esterházy die Erzählung Die Markus-Version . Der Ort des kargen Geschehens ist ein nordungarisches Dorf, wo eine ganze, aus Budapest zwangsausgesiedelte Familie bei einem Bauern untergebracht ist. Der vermeintlich taub-stumme Erzähler, der Jüngste zweier Brüder, spricht im Modus eines nach Innen gekehrten Betens. Zu seinem Universum gehört die murmelnd-betende Großmutter, ein trinkender Vater, ein starker Bruder, eine Mutter, die sich den Kopf schüttelt über den religiösen Kitsch der Großmutter und eben ein süßliches Jesuskindlein an der Wand, direkt gegenüber dem Gekreuzigten, dessen Holz gerissen ist. Texte aus dem Markus-Evangelium durchziehen die Erzählung, die in der Nachholocaustzeit zu situieren ist. Aber auch das Leben danach ist von Unglücken geprägt. Dass die Großmutter ihren Sohn verloren hat und darüber erbittert ist, schwebt wie eine dunkle Wolke über das theologische Nachsinnen des Taubstummen, eines Kindes undeutlichen Alters. Hier wird nichts weniger als eine Gottessuche betrieben, Theodizee-geprägt, eine Art Gottesbeweis aus der Stille heraus und in die Stille hinein entworfen, denn auch Gott spricht nicht. „Zum Beten brauche ich keine Worte, deshalb kommt mir Großmutters taubstummer Gott gelegen“ (Esterházy 2016: 5). Im Grunde handelt es sich hier um ein Zwiegespräch zwischen zwei Stummen, die sich Einiges zu sagen hätten, wenn beide sprächen. Aber der Eine schweigt. Das Elend dieser Welt, jedenfalls in seiner Anhäufung und willkürlicher Verteilung, lässt sich nicht begreifen, erst recht nicht neben der Behauptung, Gottes Wesen bestünde aus reiner Güte. Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 191 Das Jammertal bedeutet, dass wir vor Schmerz schluchzen. Es gibt also den guten Gott, den gütigen Gott, deshalb sagen wir auch ‚Grundgütiger‘, und es gibt das Schluchzen auf der Erde, weil etwas schmerzt. Das bedeutet, das Gute und das Schluchzen, das kann man nicht verstehen. Dieses Rätsel ist Gott. Das heißt, wir sollen wirklich nicht anmaßend sein. Da ist Großmutters Lektion. Und noch: Auch wenn wir sterben und in den Himmel kommen, also Gott sehen, also im Glück und so weiter, das muss man jetzt nicht ausführen, auch wenn, werden wir dieses Rätsel selbst dann nicht verstehen. Wir werden den Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen, doch das Rätsel bleibt. Warum wir auf der Erde so viel jammern, wenn er so gut ist. Unendlich gut. Was mag dieses ‚von Angesicht zu Angesicht‘ sein? Von Tag zu Tag? Egal. Dabei interessiert es mich sogar sehr. Ich würde fragen, könnte ich fragen. Gottes Rätselhaftigkeit ist nicht wie ein Mantel, den er anzieht und auszieht. Das Rätsel liegt in Gott beschlossen. Auch das ist nicht richtig. Gott ist auch das Rätsel. Beziehungsweise ohne Rätsel ist kein Gott. Wenn sie an diese Stelle kommt, zuckt Großmutters Gesicht immer, ich weiß, sie denkt an ihren Sohn, und ich sehe ihre knorrige Hand, wie sie sich zur Faust ballt. Dann wäre ich lieber nicht an Gottes Stelle (14). Es gelingt Esterházy, in solchen Überlegungen der Erzählfigur und seiner Großmutter deren konkretes Unglück mit einer theologischen, also Gott unmittelbar intendierenden Spekulation zu verbinden. Diese gewinnt an Glaubwürdigkeit, weil sie aus der Perspektive einer kindlichen, ursprünglichen Fragehaltung geschieht, die davor gefeit ist, sich in das begriffliche Klappergerüst eines abstrakten Akademismus zu verlieren. Der taubstumme, junge Beter in seiner gelehrten Einfalt nimmt, als wäre er ein Resonanzorgan, die Klage und Bitternis der Großmutter auf, aber auch die Reste ihrer unverbrauchten Frömmigkeit und spricht zu Gott. Er würde fragen, könnte er fragen. Was geschieht in der Ewigkeit, falls da überhaupt etwas geschieht? Prallen unsere Fragen ab an der wesentlichen Rätselhaftigkeit Gottes? Ist Gott womöglich unempfindlich für unsere Qualen, sind sie ihm gleichgültig? Bleibt er unerreichbar? Kann er, der in seiner prallen Ewigkeit haust, mit uns, den in der Zeit lebenden Menschen, vielleicht gar nicht kommunizieren? Durch die Freude dringt die Schönheit der Welt in unsere Seele ein. Durch den Schmerz dringt sie in unseren Körper. Diese von Gott abgeguckte Liebe verlangt von Gott nichts, weder Liebe noch Gunst, nichts, nicht einmal Gegenliebe. Ich beginne mich zu langweilen. Dabei ist es aufregend, dass die Großmutter von Gott erzählt, obwohl Gott gar keine Geschichte hat. Das ist die andere. Wenn es keine Zeit gibt, gibt es keine Geschichte. Die Geschichte fließt wie der Jordan. Es gibt keine Zeit, es gibt das Unendliche. Das Unendliche ist überwältigend, aber es hat keine Geschichte. Deshalb kam er vom Himmel herab und ward Mensch (16). 192 Jean-Pierre Wils Die Inkarnation - das Herabkommen vom Himmel und die Menschwerdung - erscheint hier in einem dramatischen Licht: Gott befreit sich aus der Not Seiner erhabenen Ewigkeit, aus der Geschichtslosigkeit Seiner zeitlosen Zeit. Und er tut dies, damit die Freude und der Schmerz der Menschen nicht ohne „Gegenliebe“ bleiben müssen. Unser taubstummer Beter fasst das Sinnen seiner Großmutter in ein an Gott adressiertes Gespräch. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass dieser in keiner beneidenswerten Lage verkehrt. Auch seinem Sohn war nichts Gutes beschert. Vielleicht braucht er Trost. Gott kann nicht lachen. Ich wäre nicht gerne an seiner Stelle. Obwohl er alles, immer alles weiß. Auch dazu fällt mir ein, dass ich nicht gerne an seiner Stelle wäre. Daran denke ich oft. Es ist besser, ein Mensch zu sein als Gott. Glaube ich. Wir sind in Gottes Hand, hat mein Bruder gesagt. Aber in wessen Hand ist Gott? (32) Die Markus-Version des Péter Esterházy ist, wie der Titel eben unmissverständlich verdeutlicht, eine Version. Diese schreibt sich in das Evangelium hinein und entfernt sich wieder von ihm. Die Literatur Lewitscharoffs und die ihrer Kollegen stellen ebenfalls Versionen dar. Es sieht so aus, als sei auch unsere Lage eine Art Version, die Lage derer, die Distanz halten zur religiösen Überlieferung, aber schwerlich von ihr lassen können. Dieser Zustand vermag sie davor zu bewahren, den Weg des Ressentiments einzuschlagen, den der Verhärtung und des Missmuts wegen einer Säkularisierung, die gleichzeitig voranschreitet. Die Moral und mit ihr die Ethik als ihre Reflexion haben per saldo von dieser Säkularisierung profitiert. Wir sollten nicht hoffen, dass Moral in Zukunft erneut religiös gebettet wird. Das würde beiden - der Moral und der Religion - nicht guttun. Literatur Carrère, Emmanuel (2016). Das Reich Gottes, Berlin: Mattes und Seitz. Esterházy, Peter (2016). Die Markus-Version, Berlin: Hanser. Handke, Peter (2016). Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015, Salzburg / Wien: Jung und Jung. Knausgård, Karl Ove (2007). alles hat seine zeit, München: BtB. Latour, Bruno (2011). Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin: Suhrkamp. Lewitscharoff, Sibylle (2016). Das Pfingstwunder, Berlin: Suhrkamp. Lewitscharoff, Sibylle (2012). Vom Guten, Wahren und Schönen, Berlin: Suhrkamp. Patterer, Hubert/ Winkler, Stefan (Hrsg.) (2012). Peter Handke im Gespräch, Graz, Kleine Zeitung. Rauchenberger, J., Gott hat kein Museum. No Museum has God. Religion in der Kunst des beginnenden XXI . Jahrhunderts, Johannes (Hrsg.) (2015). Paderborn: Schöningh. Jenseits des Moralischen. Über Religion in ästhetischer Form 193 Riedel, Manfred (Hrsg.) (1972). Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. 1 Geschichte - Probleme - Aufgaben, Bd. II Rezeption - Argumentation - Diskussion, Freiburg i. Br.: Rombach. Roy, Olivier (2010). Heilige Einfalt. Über die Gefahren entwurzelter Religion, München: Stedtler. Schröder, Winfried (2002). Moralischer Nihilismus. Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann Holzboog. Stasiuk, Andrej (2016). Der Osten, Berlin: Suhrkamp. Strasser, Peter (2000). Der Weg nach draußen. Skeptisches, metaphysisches und religiöses Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Strasser, Peter (1998). Journal der letzten Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Religion und Freiheit 195 Religion und Freiheit Claus Dierksmeier Das Prinzip der Freiheit und die Praxis religiösen Lebens stehen miteinander im Alltag oft in Konflikt. Diese Konflikte können einerseits von Seiten der Theologie geschürt werden, wenn diese sich gegen die Idee der Freiheit ausspricht, wie manche Koranauslegungen islamischer oder die Bibelauslegungen evangelikaler Fundamentalisten. Andererseits können Konflikte zwischen Religion und Freiheit aber auch von Seiten des Liberalismus aus angefacht werden, sofern dieser sich zu einem fanatischen Säkularismus aufwirft. Wer weder spirituellen noch säkularen Fundamentalismus wünscht, hat daher auch die Idee der Freiheit daraufhin kritisch in Augenschein zu nehmen, wie von ihrer Warte aus Konflikte mit spirituellen Orientierungen und Praktiken erzeugt oder verstärkt werden. Dazu gehört vorrangig die Frage, ob und wie verschiedene Freiheitsverständnisse zu unterschiedlichen Einstellungen gegenüber der Religion führen. Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen - anhand von zwei polarkonträren Arten, Freiheit zu denken: orientiert an den Kategorien der Quantität und der Qualität. Während es quantitativ gedachter Freiheit auf ein »je mehr, desto besser« an Freiheitsoptionen ankommt, setzt qualitativ ausgerichtete Freiheit ihren Akzent umgekehrt auf ein »je besser, desto mehr«. Quantitative Freiheit umschreibt ein maximierendes Grundanliegen, dem es auf die höchstmögliche Anzahl oder die größtmögliche Ausdehnung individueller Wahlmöglichkeiten ankommt. Die Idee der qualitativen Freiheit will uns demgegenüber für das notwendige Bewerten, Schaffen und Verändern jener Möglichkeiten sensibilisieren: einige sollten wir besonders fördern, andere weniger. Während quantitative Freiheit darauf sinnt, wie viel Freiheit dem Einzelnen gewährt wird, achtet qualitative Freiheit darauf, welche Freiheiten wir einander einräumen und wessen Freiheit wir ermöglichen. Wer Freiheit rein quantitativ definiert, dem bleibt keine Alternative, als sich - ceteris paribus - bei in Konkurrenz stehenden Handlungs- und Gestaltungsalternativen für diejenigen zu entscheiden, die insgesamt mehr Optionen beziehungsweise Folgeoptionen zu bieten versprechen. Quantitativ ausgerichteter Liberalismus reibt sich daher oft an der Religion, weil Spiritualität durch die 196 Claus Dierksmeier Bindungen, die sie anempfiehlt, Freizügigkeit reduziert. So behauptet Friedrich August von Hayek etwa, dass ein „Jesuit who lives up to the ideals of the founder of his order“ als unfrei zu gelten habe, weil ihm seine geistliche Widmung zahlreiche Optionen verwehre (Hayek 1960: 14). Aber - stimmt das? Nun, wenn ein Jesuit auf gewisse Freizügigkeiten verzichtet, verfügt er nicht notwendigerweise über weniger Optionen, sondern zunächst einmal über andere : solche etwa, die erst aus intensiver Widmung und Konzentration auf spirituelle Ziele entstehen und in einem durch und durch säkular ausgerichteten Leben vielleicht weniger vorkommen. Wiegen also einander möglicherweise schon quantitativ der Verlust und der Zugewinn an Optionen auf ? Doch selbst falls jenem Jesuiten tatsächlich eine geringere Anzahl an Auswahlmöglichkeiten zu Gebote stände, könnte es dennoch qualitativ um seine Freiheit gut bestellt sein. Wenn ihm sich etwa erst durch konsequente Abstinenz von bestimmten Verhaltensweisen und einer dadurch begünstigten Hinwendung zu geistigen Gütern andere Dimensionen des Selbst- und Weltbezugs auftun, die ohnedies verschlossen blieben, und falls jene neuen Optionen jenem Jesuiten weit mehr bedeuten als die im Zuge meditativer Praxis sowie kontemplativer Disziplin aufgegebenen, würde dann die religiöse Bindung seine Freiheit nicht eher stärken als schwächen? Solche Gedanken aber kann nur eine qualitativ ausgerichtete Denkungsart einfangen; rein quantitativ ergibt sich diese Schlussfolgerung gerade nicht: Abwägen kommt vor Abwiegen . Wenden wir daher einmal den Blick und nehmen zuerst die qualitative Dimension der Freiheit in Augenschein mit der Frage nach der Art und Güte der in Rede stehenden Optionen. Diese Frage ist, meine ich, nur durch eine Bewertung unserer jeweiligen Möglichkeiten zu beantworten. Jene Bewertung jedoch setzt Werte und Normen voraus, von denen her sich unsere Lebenschancen als mehr oder weniger sinnvoll einstufen lassen. Ein alltägliches Beispiel dazu: der Umgang mit Nikotin. Freiheit besteht ja nicht nur darin, rauchen zu dürfen, sofern man es wünscht. Sondern Freiheit kann auch darin gefunden werden, dem eigenen Bedürfnis zu rauchen, nicht stattzugeben, weil man sich - etwa durch eine Selbstbindung an den Wert Gesundheit - von jenem gefühlten Bedürfnis zu distanzieren sucht. Nicht nur Präferenzen erster Ordnung gehören also zur Freiheit, sondern auch deren Umformung durch Präferenzen zweiter Ordnung. Insofern müssen wir unseren Blick auf zwei weitere Aspekte hin ausrichten. Zum einen auf die interne Bedingtheit von Präferenzen: Der bloße Wunsch, keine Vorliebe für Zigaretten zu haben, lässt diese ja nicht sofort erlöschen. Zum anderen auf externe Bedingungen, welche unsere Präferenzen beeinflussen: Eine Umwelt etwa, die das Rauchen als besonders attraktiv oder abscheulich por- Religion und Freiheit 197 traitiert. Insofern folgt aus dem direkten Anspruch auf Freiheit ein indirektes Verlangen, auf jene Kontexte der Freiheit einzuwirken. Darum sind auch die sozialen und kulturellen Kontexte, unter welchen sich unsere normativen Einstellungen und die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkontrolle ausformen, genuiner Gegenstand einer Theorie der Freiheit (siehe Dworkin 1988: 15). Und in ihre deskriptive Erfassung fließen präskriptive Momente unvermeidlich mit ein. Denn um innere Freiheit korrekt zu beschreiben , müssen wir verstehen, was wir uns selber (im Namen eben jener Freiheit) immer schon selbst vorschreiben . Die Faktizität von Freiheit lässt sich letztlich nur ermessen im Rückgriff auf ihre auch normativen Zielvorgaben. Ideale gehören zur Realität der Freiheit. Statt einer dem spirituellen Leben ganz äußerlich bleibenden, rein mengenmäßigen Betrachtung der Optionen gläubiger Menschen, nimmt deshalb die Theorie qualitativer Freiheit das Phänomen religiöser - wie jeglicher - Selbst- und Wertbindung ernst. Ein qualitatives Freiheitsverständnis muss persönliche wie kommunitäre Beschränkungen der individuellen Handlungsmacht nicht per se bekämpfen. Es kann und wird etliche davon - als Formen freiwilliger Qualifizierungen - affirmieren. Qualitativer Liberalismus kann sich daher gegenüber traditionellen Kulturformen und sittlichen Lebensgemeinschaften entspannter verhalten. Beispiele erwünscht? Es lässt sich etwa im Dringen der Religion auf „verantwortliche Freiheit“ ein wertvoller Bundesgenosse des Liberalismus ausmachen (Benedict XVI 2009). Wer Freiheit als Geschenk des Höchsten begreift, ist vielleicht weniger geneigt, Wert und Wesen der Freiheit allein über Kalküle der Nutzenmaximierung zu bemessen (Rahner 1970), und findet sich womöglich eher bereit, die Freiheit anderer auch dann und dort zu fördern, wo dies dem Eigennutz abträglich erscheint (Lehmann 2003). Wer Freiheit aus gleichem Grund als verpflichtenden Auftrag versteht, will anderen zu ebensolcher Freiheit verhelfen, wie das Beispiel der lateinamerikanischen Befreiungstheologie vor Augen führt. 1 Insofern religiöse Selbst- und Weltverständnisse oft noch 1 Im Ausgang von den Werken Thomas von Aquins (1225-1274), die sich (wie die Summa Contra Gentiles ) an die Vernunftfähigkeit aller Menschen, auch der Nicht- und Andersgläubigen, richteten, erarbeiteten zu Anfang des 16. Jahrhunderts die Theologen der „Escuela de Salamanca“ eine kosmopolitische Philosophie und Globalisierungsethik mit Blick auf die indigenen Völker. Dabei waren vor allem die Schriften von Francisco de Vitoria (1483-1546) und Domingo de Soto (1494-1560) ausschlaggebend für die weitere Theoriebildung. Vitoria verteidigte die politische Freiheit und Autonomie der lateinamerikanischen Bevölkerung (Francisco de Vitoria, Luciano Pereña und C. Baciero, Relectio De indis. Carta Magna de los Indios: 450 aniversario, 1539-1989 , Madrid 1989); de Soto ging auch Fragen des Sachbesitzes und der wirtschaftlichen Freiheit an (Domingo de Soto und Venancio Diego Carro, De Iustitia et Iure. [De la justicia Frontiydel derecho] , Madrid 1967). Ihre Schriften dienten zunächst dominikanischen Theologen zur Grundlage einer 198 Claus Dierksmeier den Fernsten zum Nächsten erklären und der gesamten Welt mit einem seins- oder schöpfungstheoretisch begründeten Respekt begegnen, haben sie also der gegenwärtig durch globalisierte Wirtschaftsbeziehungen und Umweltkrisen erzwungenen Entgrenzung der Freiheitsperspektive vorgegriffen und eben jene kosmopolitische Qualifizierung schon längst vollzogen, um die der Liberalismus gegenwärtig noch ringt (Baraúna [Hrsg.] 1967, Dierken 2005). Eine qualitativ gedachte Freiheit tritt aber kritisch auf den Plan, wo die Lebenschancen anderer Menschen beschnitten werden. Religionsgemeinschaften müssen divergente Weltanschauungen und Lebensformen tolerieren, schon um nicht eben diejenige Freiheit zur religiösen Selbstbestimmung zu negieren, die sie für sich selbst in Anspruch nehmen. Qualitativer Liberalismus schwingt sich zwar nicht zum säkularen Richter über das religiöse Wissen und Gewissen auf, überprüft aber sehr wohl die Prozeduren religiöser Willensbildung und Selbstartikulation auf ihre universelle Freiheitsverträglichkeit hin. So sind Religionen etwa darauf zu verpflichten, zu respektieren, dass Menschen sich in spirituellen Dingen frei bilden und entscheiden, auch und gerade wo dies einschließt, dass sie sich über alternative - nicht zuletzt: irreligiöse - Weltanschauungen informieren und diesen folgen (Christman 2009: 173). Die Freiheit zur Religion ist also nicht mehr, aber auch nicht weniger zu schützen als die Freiheit von der Religion. Dabei steht die Theorie qualitativer Freiheit im Einklang mit einer philosophisch über sich selbst aufgeklärten Religiosität (Dierksmeier 1999: 110-112). Denn es wird die weltanschauliche Neutralität des Staats ja nicht nur von säkularen, sondern gerade auch von etlichen spirituellen Selbstverständnissen aus gefordert; als Ausdruck eines Respekts vor Kritik politischer Unterdrückung und ökonomischer Ausbeutung der eingeborenen Bevölkerung. Dabei stachen vor allem Bartolomé de las Casas (1484-1566) und Alonso de la Vera Cruz (1507-1548) heraus, welche sich beide mit philosophischen sowie politischen Argumenten gegen kolonialistisches Unrecht und für das Recht zur freiheitlichen Selbstbestimmung der Lateinamerikaner einsetzten (vgl. Bartolomé de las Casas, An Account, Much Abbreviated, of the Destruction of the Indies, with Related Texts, Indianapolis, Indiana 2003 und Cruz Alonso de la Vera, De dominio infidelium et iusto bello, I-II , Mexico 2000). Im 20. Jahrhundert berief sich sodann die befreiungstheoretische Bewegung in Lateinamerika erneut auf dieses intellektuelle Erbe einer (theologisch) die Freiheit des Menschen als Geschenk Gottes ansehenden beziehungsweise (philosophisch) alle Personen zum eigenen Vernunft- und Freiheitsgebrauch ermutigenden Tradition. Dies gilt besonders für die befreiungstheologischen Schriften von Gustavo Gutierrez (Gustavo Gutierrez, A Theology of Liberation: History, Politics, and Salvation, Maryknoll, New York 1973) und Ignacio Ellacuría (Ignacio Lee Michael Edward Ellacuría , Ignacio Ellacuría: Essays on History, Liberation, and Salvation, 2013) sowie für die befreiungspädagogischen Werke von Paulo Freire (Paulo Freire und Antonio Faundez, Learning to Question: A Pedagogy of Liberation , Geneva 1989) und nicht zuletzt für die Befreiungsphilosophie von Enrique Dussel (Enrique D. Dussel, Philosophy of Liberation, Maryknoll, New York 1985). Religion und Freiheit 199 der Unverfügbarkeit des persönlichen Gewissens oder der Unvertretbarkeit des individuellen Gottesverhältnisses (Kabat-Zinn / Davidson 2012). Dem quantitativen Liberalismus hingegen mangelt es an einem zureichenden Maßstab für eine solche, behutsame Grenzziehung. Zumeist begegnet quantitativer Liberalismus allen Bindungen spiritueller und traditioneller Art mit Misstrauen. Denn streng genommen erlaubt ein rein mengenorientiertes Denken keine Differenz hinsichtlich der Applikation der Idee der Freiheit. Mehr Optionen müssen überall und stets als vorzugswürdig gelten (Flathman 1987: 92). Wo aber kulturelle oder religiöse Gemeinschaften diesem Maximierungsimperativ ein eigenständiges, um bestimmte Optionen reduziertes Profil entgegensetzen, kommt es über kurz oder lang zu Reibungen. Demgegenüber gleicht das Mandat eines an der Idee qualitativer Freiheit orientierten Liberalismus, im politischen Raum für friedliche Pluralität zu sorgen, keinem Imperativ zur Säkularisierung. Die Philosophie qualitativer Freiheit zieht eine Grenze der Toleranz allein angesichts einer Toleranz der Intoleranz. Sie bewertet Freiheitsgebrauch danach, ob und wie er die ungleichartigen, aber gleichförmigen Freiheiten anderer schützt und steigert. Religionsfreiheit wäre daher daraufhin zu prüfen, ob und wie ihr Gebrauch dazu führt, alternative Formen der Spiritualität zu nivellieren oder zu attackieren. Während das Modell quantitativer Freiheit von einer sich in Independenz und Indifferenz gefallenden Freiheit ausgeht, die sich von sozialen, moralischen oder religiösen Bindungen nach Gutdünken isolieren kann (Christman 2005: 123,143), wird aus der Perspektive qualitativer Freiheit Autonomie auch in dependenten und interdependenten Lebensverhältnissen sichtbar (O’Neill 1992: 212-221). Die Frage nach einer liberalen Gestaltung der Lebensverhältnisse wird folglich nicht mehr beantwortet nach der quantitativen Gleichung: mehr Independenz = weniger Dependenz = mehr Freiheit. Sie verlangt vielmehr nach einer qualitativen Antwort darauf , welche Formen von wessen Dependenz und Interdependenz die Autonomie aller fördert. Rahmenvorgaben etwa können Freizügigkeit beschneiden, aber gerade dadurch Freiheit ermöglichen, weil sie die Intaktheit unserer Zivilisation sowie der sie tragenden Werte und Tugenden pflegen. Im Ergebnis heißt das: Die Perspektive qualitativer Freiheit erlaubt einen differenzierteren Umgang mit der Religion. Während quantitative Freiheit gegenüber Spiritualität prinzipiellen Argwohn hegt, verschließt sich qualitative Freiheit allein fundamentalistischen Kräften, welche Freiheit nur für die eigene Botschaft, aber nicht für konkurrierende Bekenntnisse zulassen wollen (Dierksmeier 1998, Nussbaum 2006: 182-185). Um es bildhaft auszudrücken: Quantitativer Liberalismus identifiziert sich allein mit dem weißen Licht der Freiheit und sieht in allen Spektralfarben politische Gegner. Qualitativer Libe- 200 Claus Dierksmeier ralismus erkennt, dass jene Spektralfarben nichts weiter sind als Aspekte des weißen Lichts der Freiheit im Prisma lebensweltlicher Spezifizität und Symbole. Während quantitative Freiheit die Buntheit bekämpft, in welcher sich qualitative Freiheit gefällt, richtet sich qualitativer Liberalismus lediglich gegen das Schwarz der Fundamentalisten. Literatur Baraúna, Gulherme (Hrsg.) (1967). Die Kirche in der Welt von heute: Untersuchungen und Kommentare zur Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des 2. Vatikanischen Konzils. Salzburg: Müller. Benedict XVI (2009). Charity in Truth - Caritas in veritate: Encyclical Letter. Ft. Collins, CO : Ignatius. Christman, John (2005). Saving Positive Freedom. Political Theory 33: 1, 79-88. 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Religion und Freiheit 201 Gender Material Spirituality-- Spiritual Materialism: Women and the Problem of Matter Ingrid Hotz-Davies Into the Ark If one wanted to take a crash course, in these seemingly post-feminist days, on the main concerns and battle lines of the ‘old’ feminism, rather than work through a library of scholarly writing, polemic and theory building, one could do worse than start with Michèle Roberts’s equally enlightening and amusing novel The Book of Mrs. Noah (1987). This novel presents us with both an example and a critique of feminist debate and literary writing as it was practiced in the hey-day of feminist literary criticism and writing. Roberts’s intricately woven tale begins with a gesture of escape as a librarian-writer, who calls herself the wife of Noah, during a stay in Venice in the furtherance of her husband’s career, literally jumps out of their lives and into a world of her own fashioning. This is the world of the “ark,” a mental and within the fantastic logic of the novel also material place put together by her. Coming along on the trip are a number of “Sibyls”, women writers each suffering from writer’s block for one reason or another, who are invited to use the ark as a writer’s workshop and retreat, as well as an uninvited guest, the “Gaffer”, who sees himself as the “speaker of the Word of God” (Roberts 1987: 51) and is bitterly dismayed by the presence of so many women writers, creatures unthinkable in his model of inspiration, art and genius. Clearly, this is a witty representation of various strands within feminist and anti-feminist thought deploying conflicts and arguments which are, plus ça change …, still very much with us. The first three Sibyls to speak immediately lament the women-only rationale of the retreat, claiming that feminism isn’t for them as feminists “don’t like heterosexual women. Women like me, who really like men, who really like being women” (47), or that the single-sex set-up of the ark is itself “sexist” against men since what counts is after all merely “being a writer and striving for excellence” (47), or that the literature of “the so-called feminist writers” lacks dispassionate detachment and is a betrayal of the idea that the artist is androgynous, or that “some of my best friends are men. Writers. They don’t call themselves male writers. Why should they? And they treat me 204 Ingrid Hotz-Davies just like one of themselves! Not as a woman” (48). Against these voices stands the “Correct Sibyl”, clearly an academic, who would like “some properly rigorous arguments on what constitutes creativity” first, and while suspecting that gender and the imagination may very well be linked, does not think that “any of you have theorized it correctly as yet” (50). The “Forsaken Sibyl” enters into the fray and “hisses and spits”: You’re traitors to your own sex, […] Men have dominated literature with their fantasies and lies about us, they’ve invented their phallic language to silence us and put us down, they’ve constructed a ridiculous grammar based on male subject and female object, denying the body and repressing the female point of view. […] What we’ve got to do is forget their literature and write our own. And that means inventing a whole new female language. Incoherence and irrationality and syntactical violence and multiple word-orgasms, that’s what we need. (49) What we have here, are positions ranging from simple anti-feminism and anti-separatism via equality feminism and Virginia Woolf ’s notion of the androgyny of the writer, to an academic feminism that would eventually become something like ‘Gender Studies,’ to positions of the so-called “French Feminism” of Luce Irigaray and others, who posited the need for an écriture feminine to subvert the ‘phallologocentrism’ of the patriarchal symbolic order. On this level, this is a self-reflexive text that introduces, at a time when feminist criticism was in the very process of constituting itself, a meta-discussion about the discursive climate in which it was formed. At the same time, the ark itself is a richly imagined space, an archive and a library of both canonical and non-canonical writings, the marginalized voices of women, and the marginalized deities of the world’s religions and myths. That is, on this level the novel is itself an intervention in the re-writing of the symbolic order that the Forsaken Sibyl called for; not so much in terms of an écriture feminine as in terms of a recovery and re-evaluation of the cultural materials available to and about women, men, and everything in between. From this emerge six short stories exemplifying different imagined fates in the history of women and trans-gender persons from the Old Testament to a post-apocalyptic world of the future, that is: six literary exemplifications of what a writing sensitive to the history of our gendered lives could be about. The sequence opens with a story pursuing a classic technique developed by feminist writers like Michèle Roberts, Angela Carter or Suniti Namjoshi: the feminist retelling of ancient fables and tales, in this case the story of Noah and the Ark or rather the story of Noah’s wife. 1 Clearly, such a retelling is motivat- 1 In this, Roberts is not alone around that time. A ‚post-modern‘ re-telling of this story as the founding story of patriarchal social arrangements can also be found, for example, in Material Spirituality-- Spiritual Materialism 205 ed by the marginalization of this character in the Bible, a silence made all the more relevant by the fact that after all this is the story of how Noah decided to relocate his whole family, an event for which one might well want to know what the rest of the family thought about it. Roberts enters this story through three significant imaginative alterations and additions: Noah’s wife is not only given a voice but is in fact made the first-person narrator so that Noah himself (called ‘Jack’ in this tale) as well as his God become characters narrated in her story; Roberts develops a contrasting theology in terms of their experience of and notion of the divine for Noah and his wife with direct access granted to the wife’s experience more than Noah’s, whose beliefs are only accessible in passages in which his wife reports what he did and said; God’s reconciliation after the Flood in which in the Bible he resubjects animals very clearly and violently to the rule of man, specifically also as food, is rejected by Noah’s wife, for whom the animals have acquired a claim to some equality with humans because they shared the uncertain voyage with them. What is of particular interest for me here is the two faiths developed by Roberts for these two archetypal players. To start with the patriarchal end of the spectrum, there is Jack’s / Noah’s version: For Jack God is […] a mighty father in the sky, who punishes us when we do wrong, and sends us diseases and plagues and famines to show us his power. […] Jack walks and talks with his God. Sometimes he […] stays away for a whole night. In the morning he comes back and announces that we have to offer a sacrifice or else we’re in trouble. (72 f.) This God is not only a punitive and jealous God, it is also a God whose existence is thought to be clearly outside and beyond the material world. It is an entity that is in need of an intermediary in the form of a privileged male whom he ‘talks to’ and who is the medium through which his orders are channeled. That is, he is in need of a priest. Noah’s wife is not committed to this God since for her, God is something she learns to experience in and through her everyday life in a psycho-material fusion which interconnects the material world with her sense of self and all of that with an experience of God: Timothy Findley’s novel Not Wanted on the Voyage (1984) or in the chapter “The Stowaway” in Julian Barnes’s The History of the World in 10 ½ Chapters (1989), which tells the story from the perspective of the woodworms who needless to say were not invited to come on the voyage but snuck in anyway. For Angela Carter, see The Bloody Chamber and Other Stories (1979), for Suniti Namjoshi among others Feminist Fables (1981). 206 Ingrid Hotz-Davies I start to reflect on the world around me through concentrating intently on whatever it is that I am doing. I flow out of myself and become pot, hide, fish, earth, leaf. I worship the creation of the world day by day by letting myself become a part of it, by working. God is in my hands as they scrub, wring, knead, scour, caress, sew, carve. I act, I create, and God pours through me. At these times I am not-myself, I go into a strange country. Sometimes I come to with a shock, to find myself kneeling, my forehead bowed to the ground. (72) For Noah, these seizures are incomprehensible, his wife’s “wild prayers” (72). His wife, in turn, cannot understand her husband’s punitive God, since for her, what is at the heart of the divine is not a system of rules and prohibitions but rather the mystical experience of a fully materialized deity “when the terrible beauty of God shimmers as close to us as the raindrop on the end of a twig, burns in the grass. You only have to sit still and see .” (72). For Jack, hers is a “childish vision”, but she is “not sure” (73). In any case, she acknowledges a very basic set of spatial coordinates: “Jack’s God is up, mine is down” (73). On the one hand, this decidedly ‘downwardly’ directed notion of the divine seems to anchor humans to the material world not only in its irreducible materiality but also in the sociocultural conventions through with it is inhabited (scrubbing, wringing, kneading, scouring, etc.) so that ‘woman’ seems to be an organic part of a spiritual-material whole as well as of a specific patriarchal cultural structure. At the same time, however, the novel imagines that there are no limits to how this spiritual-material fusion may be experienced: its endpoint seems to be a simultaneous merging and detaching already hinted at in Mrs. Noah’s “not-myselfish” depersonalization in her fusion with matter / the divine. The ultimate horizon is a final point of fusion which leaves human concerns like gender entirely behind as the experience of the Flood is not merely one of horror: Water is my mother, my lover, my bed. […] Water is my god. I’ve had enough of being a woman, with being confined in a clumsy body, with being defined by men. […] I am reborn from the Boat into water. I become fish. Untroubled by the Flood, which, after all, is merely my home. I go with it. (83) Feminism and the Materialization of the Divine What we are looking at in this first tale in The Book of Mrs Noah is a reinventing of the divine and of spirituality that takes a very characteristically feminist material turn very much in keeping with the interventions of feminist theologians like Mary Daly, Carol P. Christ or Rosemary Radford Ruether in the English-speaking world around the same time, or indeed the work of Regina Ammicht Quinn in Germany. These theologians together laboured more than Material Spirituality-- Spiritual Materialism 207 any theological school before them in bringing the divine ‘down’ to the level of material experience, bodies, the environment, the globe, the cosmos, the particle, or conversely in bringing matter ‘up’ to the divine. In fact, it would be fair to say that the uncompromising materiality of the spiritualities and deities envisaged by feminist theology is a hallmark of this theological movement (Parson (2002), McClintock Fulgerson / Briggs (2012), Isherwood / McEwan (1996)). But not only those whom the lay theologian Sara Maitland calls “professional Christians” (Maitland, 3) are a part of this feminist movement; novelists like Michèle Roberts and, indeed, Sara Maitland herself, are also heavily invested and involved in re-thinking the nature of the divine along materialist lines. In a series of talks collected in the volume A Big-Enough God: An Artful Theology (1994), Maitland sets out to imagine a variation of the argument-from-design by asking what kind of God could have created the material world we live in, a world which in all of its material manifestations as well as in all activities that these material entities get up to is thought of as “the revelation of God in the creation” (Maitland 1994: 10). The answer she comes up with is a strikingly and challengingly vibrant deity who seems to take the greatest pleasure in a material world which is highly dynamic, determined by continual change and a stupendous proliferation of forms, a world in which matter itself is “a high risk, creative” (58), where “difference proliferates and the number of insect species is uncountable” (5). And, almost as if echoing Michèle Roberts’s Mrs Noah, she begins her illustration with a distinctly ‘low’ point, one that is made to unfold its miraculous complexity in the telling: the fate of a certain species of horsehair worm. This is a creature, scientists tell us, who develops in the following way: an egg is placed on a plant in a body of sweet water, hatches, needs to be picked up by an aquatic host, has to get away from this host in order to encyst submerged in water on the shoreline, has to be picked up by a land host before it starves, has to be swept back into the water in order to mate there and place some eggs on a piece of vegetation in the water, etc. 2 If we access the divine through the existence of the horsehair worm, Maitland can only exclaim: “Pity the poor horsehair worm, and pity even more the vermical theologian who has to wriggle up to a word processor and try to explain to horsehair worms what God’s good purpose was in making them . Never forget that the God who made the worm made thee” (41). The miracle for her then is that “not only did the creator create everything, but that he is apt to create anything ” (42), a deity that is who to her not only reveals himself in the material world, but materializes himself there as a God who is “careless, profligate even“, outrageous”, an entity 2 Mailand picked up this story from an earlier experiment in exploring matter in Annie Dillard’s Pilgrim at Tinker Creek (1974). 208 Ingrid Hotz-Davies that loves complexity and riskiness, whose goodness may not be evident in the material world, but whose “flamboyance”, “abundance”, and “sheer ebullience” is (42-43). Again, there is no outside to this vision of the manifestation of the divine in matter. This God cannot be accessed through recourse to an ‘above’, nor is there any one privileged access point, nor can this God be thought of as the originator of prohibitions and regulations. After all, his creation is one where anything is likely to happen. What we can say is that this is a vision of God which is massively invested not only in the creativity of the divine but of matter itself, a vision in fact where the divine and matter are no longer clearly separated from each other so that their creativity seems to merge into a materially divine union. Divine Matter: A Feminist Invention? Such spiritual-material mergings are a hallmark of many feminist interventions in theology and philosophy, but in fact this figure of thought does not begin there. In England, the emergence of women as philosophers happens in the 17 th century with the works of Margaret Cavendish (1623-1673), who left us a vast body of philosophical thought that has only recently come into its own as a complex and profoundly materialist contribution to the history of philosophy, and in the works of Anne Conway (1631-1679), a thinker less well known today than the more flamboyant Cavendish, but an important philosopher nonetheless. In contrast to Cavendish’s mostly secular outlook, Conway develops a radical theology of matter which anticipates with a decidedly monistic view of the universe the much more famous contributions of Leibniz, who was influenced by her thought (Merchant 1979). Her posthumously published The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy (1692) 3 promises much in its subtitle, claiming that these would be the principles “concerning God, Christ, and the Creatures, viz. of Spirit and Matter in general, whereby may be resolved all those Problems or Difficulties, which neither by the School nor Common Modern Philosophy, nor by the Cartesian, Hobbesian, or Spinosian, could be discussed”, The approach she chooses in this ambitious enterprise does not so much set out to prove the existence of God by contemplating the cosmos as it starts from a to her self-evident assumption about the nature of God in order to then ask what this might entail for the cosmos. This God is to her quintessentially “life” (Conway 1962: 9), a being “infinitely good, loving, and bountiful” (13), one who in his very essence is a creator and cannot help but be a creator of material 3 The work was published first in a Latin translation in 1690 and then in an English retranslation in 1692. Material Spirituality-- Spiritual Materialism 209 manifestations: “the essential attribute of God is to be the creator. Consequently God was always a creator and will always be a creator because otherwise he would change. Therefore creatures always were and always will be” (13). In a triad of God, Christ, and Creatures, God is clearly outside his creation with Christ playing the role of mediator between God and the creatures. But at the same time, there can be no ‘creature’ that is not alive, since the creation of life is the thing that defines God in his essence. That is, there can never be a division between ‘dead’ or inferior matter and spirit, there can only be a scale of ‘liveness’ separating the rock from the horsehair worm from the human being from a gust of wind. In a monistic view in which ‘creature’ means the whole universe from ‘anorganic’ matter to biological organisms, the distinction between matter and spirit cannot hold, for all God’s ‘creatures’ are of necessity alive: How can any dead thing proceed from him or be created by him, such as mere body or matter […]? It has been truly said that God does not make death. […] how can a dead thing come from him who is infinite life and love? Or, how can any creature receive so vile and diminished an essence from him […] that it does not share any life or perception and is not able to aspire to the least degree of these for all eternity? (45) If all matter is alive, then this must mean that matter and spirit cannot be separated from each other as different substances or forms of existence, and indeed for Conway “the whole creation is always just one substance or entity” (52) in which “body is nothing but fixed and condensed spirit, and spirit nothing but volatile body or body made subtle” (61). It is this spiritual-material fusion that lies at the heart of Anne Conway’s theology, and it seems like an almost uncanny anticipation of the feminist theologians and philosophers of spirituality as they emerged in the 1970s. 4 In order to understand this continuity, we cannot resort to any notion of a ‘tradition’: these later thinkers were not readers of Conway (if anything, they might have been readers of Leibniz, who was originally influenced by her! ), any more than they were readers of the early manifestations of a proto-feminist theology in the works of seventeenth-century Quaker theologians like Margaret Fell in her Womens Speaking Justified (1667). On the contrary, these women had to re-invent their convictions of a spiritual materialism / material spirituality many times over, each time as it were from scratch. The astonishing thing is that they did. I believe that the reason for this lies in the surprising continuity of women’s place and experiences under patriarchy, a continuity which, as we shall see, holds to this very day. This continuity consists of two factors. The one 4 And indeed, there are many more examples in between these two historical moments. See the chapter “Material Universes” in Ingrid Hotz-Davies 2001: 137-199. 210 Ingrid Hotz-Davies is conceptual. If women are conceptually positioned in a system of binary oppositions that places the male above the female as it places spirit above matter, mind above body, reason above emotion, etc. (see Harvey / Okruhlik 1992), and if we assume that this must have been irksome to women through the centuries, then it makes sense to assume that they were exceptionally motivated to think their way through and out of this state of affairs, if necessary ‘from scratch’. In this, there are essentially two ways: either women are also spirit, mind, reason, etc., and their assignment to the side of matter is simply wrong, or the hierarchy between matter and spirit is wrong, or better still, does not exist. The first path has of course also been tried, for example by such enlightenment thinkers as Mary Astell (1666-1731), who essentially argued that women should try to insulate themselves as much as is in their power from their assignment to the place of matter through dedicating themselves to learning and eschewing marriage, or failing in this they should learn to bear the grim reality of their place in the world with a stoic assurance that ultimately they were made for God and not for this. But by far the more often travelled road was the one chosen by Anne Conway, Margaret Cavendish, and those who came after them, up to Michèle Roberts’s Mrs Noah: attempting a profound unsettling and revaluation of the spirit / matter divide. At the same time, maybe the reason for this self-generating tradition was not merely philosophical; maybe the enforced limitations of women’s lives to matters of the family, the house, keeping people fed, clothed, clean, and in spirits (! ), also opened a door to them, maybe an unsought for door, but still a door, as it does for Mrs Noah, who finds God in her “hands as they scrub, wring, knead, scour, caress, sew, carve”. In any case, the stubborn loyalty to matter that these women chose to embrace, again and again, seems to be one of the most consistent and profound legacies they have collectively left to the world, and if we now find ourselves in the middle of a ‘material turn’, we would do well to remember that this ‘turn’ is just catching up with them. And in turn, it positions the strong presence of women within the so-called “new materialism”, from Donna Haraway’s dogged refusal to honour the spirit / matter, human / non-human, human / animal divide to Karen Barad’s postulation of an “agential realism” which sees matter as endowed with agency and a life of its own (Barad 2007) to Jane Bennett’s belief in a “vibrant matter” (Bennett 2010), within a long tradition of women’s thought of which they may not even be fully aware, but which they have joined up with nevertheless, again as it were. 5 5 For a good collection of key „new materialist“ feminist voices, see Alaimo / Hekman (2008). This also includes key essays by Elizabeth Grosz, Donna Haraway, and Karen Barad. For an overview of the debate specifically also with reference to the impact it has on how we see gender, see Dolphijn / van der Tuin 2012. Material Spirituality-- Spiritual Materialism 211 Literatur Alaimo, Stacy / Hekman, Susan (Ed.) (2008). Material Feminisms. 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This seems highly ironic at a time in which, in many countries, cultures, and contexts, marriage as an institution is far from stable, sexual encounters before / outside of / beyond marriage have become (or have always been) the norm, and a wider acceptance of lived forms of sexuality and partnership that are visibly not heterosexual seems increasingly possible. Religious authorities, unfortunately, still play a major role in morally devaluing both non-heterosexual love and sex, and sexuality as such. Regina Ammicht Quinn rightly points out that sexuality and morals have had a difficult relationship, especially in the context of the Church and Christian religious tradition. According to her, clinging to moralising attitudes towards sexuality, which pathologise, (de-)legitimise, and find boxes for any kind of assumedly sinful bodily behaviour, never was and definitely can no longer be a viable option. Nor should we assume that sexuality could ever exist outside the realm of morals and ethics, especially at a time and in a culture which positively affirms the body, but also normalises and violates it in the pursuit of some idolised physical ideal and ultimate social recognition (cf. Ammicht Quinn 2008: 148-150). Instead, Ammicht Quinn calls for a re-evaluation of the relationship between morals and sex. The norms and values that should hold for sexuality are the same as those that should hold for our whole life: respect for human dignity and non-violence. Sexuality of any kind can succeed, according to Ammicht Quinn - and in a fundamentally Christian sense -, when it is lived holistically, where the ideal of finality is part of it, and where it is productive, be it literally or figuratively (cf. Ammicht Quinn 2008: 166). God’s incarnation, His becoming not just body, but indecent flesh, should, Ammicht Quinn suggests, be remem- 214 Gero Bauer bered as an affirmation of the fallible, erotic, enjoying human body that is not restricted to a narrow understanding of policed, reproductive, binary-gendered heterosexuality (cf. Ammicht Quinn 2013: 208-210). It seems clear from this that we need to continue thinking and talking about what ‘the good life’ means for us in terms of sexuality and the body, and how it relates to established structures of moral and ethical authority. One of the realms of reflection and enjoyment that helps us distance ourselves from who we are and, at the same time, returns us to a better understanding of ourselves, is fiction. “Distanced from one’s own world, yet still connected to it in time or space, the reader confronts ‘anew’ the old world.” (Cummins 1993: 65) Fictional texts give us access to worlds that are different from, or similar to our own, or both. Ursula K. Le Guin, one of the most distinguished US-American science fiction and fantasy writers, has been an expert in taking us to worlds that are both far away (chronologically, geographically, mythically), and, at the same time - exactly because of their difference -, make us see our own reality anew and differently, not least of all when it comes to questions of ethics, sexuality, and relationships. One of the central themes of Le Guin’s work is an anthropological outlook on life, both in terms of creating ‘fictional ethnographies,’ and of a focus on the productive encounter with the ‘other.’ Her protagonists “are observers, and […] often find themselves caught up in cultural confrontation, which they must often mediate.” (Rochelle 2005: 410) Le Guin’s novels and stories are thought-experiments, asking ‘What if ? ’ (cf. Cummins 1993: 66-67). The genres of fantasy and science fiction provide the ideal background for her creative enterprise. As Elizabeth Cummins observes, [central] to understanding the fiction of Ursula K. Le Guin […] is the recognition of the importance of world-building and the nature of the different worlds she builds. [… Science fiction and fantasy] are genres in which world-building is essential. (Cummins 1993: 1; 6) Le Guin imagines societies similar enough to our own, but also distant enough to enable a certain degree of ‘otherness’ that productively de-familiarises the familiar. “Le Guin values identity and difference, and suggests that these two principles complement rather than contradict each other.” (Burns 2008: 203) Or, as Elizabeth Cummins puts it, “[t]he perception of self and other, the ability to distinguish between ‘me’ and ‘not-me,’ is a recognition of both difference and affinity.” (Cummins 1993: 5) As Tony Burns demonstrates, Le Guin’s fiction is centrally concerned with ethics and morals. Endowing her fictional characters, despite all differences, with a common humanity and history, she acknowledges what Burns calls “the Marriage, Sex, and Ethics 215 moral point of view” (Burns 2008: 183): the idea that “there is a universally valid ethical order, a moral law which applies to all human beings, a law which is in some essence ‘natural’ rather than a purely social ‘construction,’ and which is, therefore, discovered by human beings rather than made by them.” (Burns 2008: 186) The basic insight that humans are subjects, not objects, is key to Le Guin’s moral philosophy and understanding of ‘the good life’ that drives her fiction (cf. Burns 2008: 186-187). At the same time, she acknowledges that within these basic moral patterns, there is considerable room for diversity between societies in terms of their practical application. This tension between common morality and lived diversity is what makes Le Guin’s fiction so fascinating as an ongoing ethical experiment in fiction. Her writing provides thought space for what Regina Ammicht Quinn suggests in her plea for both a return to basic moral principles, and the positive acknowledgement of diverse lives. Very often, the conflicts that arise in Le Guin’s fiction derive from a clash between what she would call ‘ethics,’ a set of socially proscribed duties and obligations, associated with coercion and authority, and ‘morality,’ referring to character and individual conscience (cf. Burns 2008: 191). While these notions of ‘ethics’ and ‘morality’ might contradict a more common notion of the terms, the dichotomy is useful for an understanding of the ethical dilemmas Le Guin’s characters experience. Both Unchosen Love and Mountain Ways are set in the Hainish universe of the Ecumen, one of four fictional settings Le Guin created in the course of her career as a writer. The underlying foundational myth assumes a peaceful federation of planets (the Ekumen), which were all originally populated by the oldest human society on Hain. Earth is only one of many such interstellar colonial projects. Over time - hundreds and thousands of years - the planets all developed different societies and customs, and even lost contact with each other for several hundred years (the interim period our own reality is supposed to be set in), an idea which enables Le Guin to create her diverse anthropological thought-experiments. Frequently, her protagonists are visitors (often scientists) from other planets, who explore the unfamiliar environment from an anthropological point of view, and, predictably, face conflicts of cultural misunderstanding. What all worlds have in common though, and what, as mentioned above, emphasises Le Guin’s moral agenda, is their shared humanity. “Le Guin’s science fiction world underscores the importance of maintaining a balance among the peoples of the Hainish planets by recognising the commonality of humanity within the different races and cultures.” (Cummins 1993: 11) In many of the Hainish stories - as in her fiction in general - Le Guin is concerned with questions of gender, sexuality, and partnership, and their relation to ethics and morality. Both stories discussed here are set on the planet O, on which society is only secondarily divided into two sexes. More important is the 216 Gero Bauer division into “two halves or moieties, called (for ancient religious reasons) the Morning and the Evening. You belong to your mother’s moiety, and you can’t have sex with anybody of your moiety” (Le Guin 2003b: 91) A breech of this sexual taboo is considered incest. A marriage on O always includes four people, and is called a ‘sedoretu.’ It includes a man and woman each from the Morning and Evening moiety. You’re expected to have sex with both your spouses of the other moiety, and not to have sex with your spouse of your own moiety. So each sedoretu has two expected heterosexual relationships, two expected homosexual relationships, and two forbidden heterosexual relationships. (Le Guin 2003b: 91) In what follows, I will analyse the two stories in question in terms of the relationship and conflicts between religious and societal expectations (what Le Guin might call the society’s ‘ethics’), and the wishes, desires, standards, and judgements of the individual characters (roughly what I referred to earlier as Le Guin’s understanding of ‘morality’) concerning sexuality and marriage. The central question will be what effect the stories have on the reader in terms of the tension between similarities to (there are ethical standards and social expectations regarding sex and marriage) and differences from (the taboos, freedoms, and interdictions lie elsewhere) our own society. Unchosen Love starts with the fictional auto-ethnographic account of an inhabitant of a farmhold on O, again discussing this society’s marriage conventions: “nobody seems to have complicated marriage quite as much as my people have.” (Le Guin 2003a: 69) Here, the narrative already confronts the reader with a distancing effect: the narrator, sharing with us his cultural point of view, has moral convictions similar to, but crucially different from our own, and would be shocked by what, for most people in our society, would seem ‘normal’ and morally justified. For example, regarding the division of his culture into two moieties, he remarks: “How could you couple indiscriminately without regard to incest [between Morning and Evening people]? […] Two legs, two sexes, two moieties - it only makes sense! ” (Le Guin 2003a: 69; 70) Le Guin thus introduces the reader to a moral framework that is recognisable, but, at the same time, different enough to trigger reflection about our own sexual morals. The story itself is about Hadri, who is from an inland farmhold and goes to live with Suord of Meruo, a fishing community by the sea. Suord and Hadri are (male) lovers, but Suord’s passionate love for Hadri is overwhelming for the latter. Hadri feels foreign and out of place, and only by getting to know Duun, one of two women who will, in the end, enter into marriage with the two men, can Hadri find peace and balance. At the heart of the story thus lies the conflict between individual social and emotional needs, and the expectations from and Marriage, Sex, and Ethics 217 duties to the surrounding society or social microcosm. The moral and ethical issues are found, again, both elsewhere, and exactly where we might suspect them: although bisexuality is the norm, and homosexual sex part of the institution of marriage, questions as to the ‘right’ and ‘wrong’ of relationships and marriage do arise. At the very beginning of the actual plot, the narrator points to the main conflict in the way relationships are formed. The people of Meruo “seldom made sedoretu with village people, but married one another.” (Le Guin 2003a: 73) The conflict is one we recognise, although, for most of us, it might be ‘other’ in terms of its temporality: inclusion and exclusion based on village or clan membership was, until a few decades ago, (and still is, for some people) common in many rural areas. This is the social conflict Hadri finds himself in, on coming to Meruo. The more personal moral dilemma, however, is whether it is his obligation to follow Suord out of gratitude for his love: “Hadri thought he owed it to Suord to do what he asked, since Suord loved him so passionately.” (Le Guin 2003a: 73) As in many of Le Guin’s stories, influenced as she is by Taoist philosophy, the protagonist has to find the right balance between what seems demanded of him and what feels right for him. Significantly (and refreshingly), the moral conflict Le Guin’s character faces is so far removed from any issues regarding ‘sexual identity’ that it becomes almost comically sad to witness Hadri’s struggle with Suord’s and society’s sexual demands: “Hadri was a little shy sexually and found the gender difference hard to cross; he had found his pleasure and solace mostly with other young men, though some women attracted him very much.” (Le Guin 2003a: 75-76) In the course of the story, the reader follows Hadri’s increasing self-awareness. It becomes clear to him that his reluctance to get married in Meruo is connected to other issues that, for Hadri, form part of a good life, namely geographical and cultural roots, and personal space: “What did they take him for? Did they think he had no standards, no place of his own? Let them marry each other, he would have no part of it. […] Hadri had no room of his own there. That in itself was insulting, unnatural.” (Le Guin 2003a: 83) Towards the end, when Hadri finally has a conversation with Duun, who, together with Sasni - a woman with a will as strong as Suord’s - would be part of his sedoretu, he finds in her a person in a conflict of interests similar to his own: “I [Duun] love Sasni! I always did, I always will! That doesn’t mean I, I, I have to do everything she says, everything she wants, that I have to, that I have to - […] I don’t belong to Sasni! ” (Le Guin 2003a: 87) Hadri and Duun help each other voice their concerns about their marriage with Suord and Sasni, and, in the end, their close emotional bond helps them balance their feeling of being overwhelmed by the other two. In Unchosen Love , then, Le Guin confronts us 218 Gero Bauer with moral dilemmas we recognise from our own relationships and culture, while, at the same time, emphatically (and efficiently) removing issues of ‘sexual identity’ and monogamy from the realm of negative moral judgement. I would, hence, strongly disagree with Tarya Malkki’s claim that “Le Guin still believes that an old-fashioned, monogamous union between man and woman - what we commonly know as ‘marriage’ - is an ideal state.” (Malkki 1995: 100) Instead, Le Guin demonstrates that a balanced, trusting, sexual and emotional relationship need not be restricted to binary heterosexuality. In Mountain Ways , Le Guin emphasises different aspects of the moral and ethical challenges surrounding sex and the ‘sedoretu.’ Here, Enno, a female religious scholar from the lowlands, and Shahes, a female farm owner from the mountains, fall in love. It proves impossible for them to find two suitable men for a marriage, so they decide to cheat: Enno pretends to be a man, and they marry Temly and Otorra. Most of the story revolves around the ethical dilemma - mostly on Enno’s part - of, on the one hand, going against religion and tricking another man and woman into a dishonest marriage, and, on the other hand, doing what feels right. Marriage and family are repeatedly framed in terms of duty and responsibility: “Marriage was an urgent matter of business. [Shahes] was thirty years old. Danro had no whole sedoretu, no childbearing women, and only one child. Her duty was clear. […] It was the farmholder’s duty to provide continuity.” (Le Guin 2003b: 95; 97) At the same time, sexual relationships as such seem - apart from the ‘incest taboo’ (no sex between members of the same moiety) - removed from negative social sanctioning: “Temly and Shahes had a sexual friendship that was a true and reliable pleasure to them both. They both wished it could be permanent.” (Le Guin 2003b: 96) All characters - and especially Enno - have, however, internalised their society’s ethical convictions and rules concerning the right and wrong of marriage. Discussing a possible union involving Shahes, Enno (or Akal, as she calls herself by her maiden name), and Tamly, Enno / Akal comments: “Two Day marriages and no Morning marriage? Two Evening women in one sedoretu? There’s a fine notion! ” (Le Guin 2003b: 98) Here, again, Le Guin deflects attention from any moral concern about same-sex sexuality as such, and, by introducing seemingly equally constructed religious taboos and rules, points out the unstable character of our own society’s norms and conventions without absolutely delegitimising the stabilising function of such institutionalised norms. Things get even more complicated when Shahes suggests Enno’s transformation into a man. Both turning conventional views on external gender conventions upside down, and complicating any easy expectations regarding the resulting moral concerns, Le Guin confronts us with an ethical dilemma that Marriage, Sex, and Ethics 219 is decidedly ‘other: ’ “[Shahes: ] Who’s to know, Akal? Who’d ever know you? You’re taller than most men up here - you can grow your hair and dress like a man […] [Enno / Akal: ] A woman in a Night marriage? […] You’re crazy. […] It’s wicked and unfair. It would desecrate the marriage sacrament.” (Le Guin 2003b: 99; 100) Again, the problem is not the homosexual relationships involved in the marriage; in fact, the problem here is (partly) Enno’s concern about depriving Otorra of the male-homosexual relationship in their marriage. Social policing and internalised moral concerns, then, do, in this story, revolve around issues of allowed and forbidden sexuality and partnership - only, in this case, the problem is a surplus of female-homosexual bonds, not homosexual bonds as such. It is certainly unusual how Le Guin, despite her character’s concern about her disguise as a man, depicts the gender performance as extremely successful, not least in terms of the identity struggle Enno / Akal experiences, which becomes visible in Le Guin’s use of pronouns: She [Akal] saw Akal [in the mirror]. Akal was a tall, thin man with a thin face, a bony nose, and a slow, brilliant smile. She liked him. […] They told him the road to Danro, and he went off up the zigzags, whistling a familiar praise song. As Akal went on, he stopped whistling, and stopped being a man, and wondered how she could pretend not to know anybody in the household. (Le Guin 2003b: 102) In fact, both the successful gender performance, and the positive energy of Shahes and Akal’s love helps them balance the moral scruples resulting from their breech of social conventions: “As soon as [Akal] had seen Shahes, touched Shahes, all her scruples and moral anxieties had dropped away. […P]erversity and sacrilege were not asked of her. All she had to do was change sex. And that only in appearance, in public.” (Le Guin 2003b: 105) The preliminary resolution to their troubles unexpectedly appears when Otorra confesses to his not being bisexual, a ‘coming out’ that, in all its personal difficulty, strikes the reader as slightly comical in its being different from the normative assumptions of ‘our society: ’ “‘I just only ever want women,’ Otorra said in a shaking voice. ‘A lot of people are like that,’ Akal said. ‘They are? ’” (Le Guin 2003b: 108) Of course, the deceit does lead to conflict. What is at stake, as in Unchosen Love , is to find the right balance: although Shahes and Akal seem to get what they want, Otorra soon voices his unhappiness with the sexual exclusivity of their relationships, which contradicts tradition and religion: “a marriage isn’t two pairs. It’s four. […] It’s a religious duty [to have sex with men].” (Le Guin 2003b: 117) In the end, the deceit is uncovered, and it seems possible (although this remains open) that the characters can achieve a balance in terms of mutual honesty. Although Le Guin always emphasises respect for a (fictional or non-fictional) 220 Gero Bauer society’s religious traditions and norms - its ‘ethics’ - she also demonstrates how, in the end, it is personal moral judgement and the search for a life in balance, especially regarding sexuality and partnership, that should have priority. As such, Le Guin’s stories illustrate Regina Ammicht Quinn’s call for a return to basic moral principles when thinking and talking about sexuality: respect for human dignity and non-violence. Nothing more, and nothing less. References Ammich Quinn, Regina (2008). Feministische Ethik und die anthropologische Grundkategorie der Körperlichkeit. In: Spieß, Christian / Winkler, Katja (Hrsg.). Feministische Ethik und christliche Sozialethik. Münster: Lit Verlag, 145-183. Ammicht Quinn, Regina (2013). Sexualität und Moral - A Marriage Made in Heaven? In: Dies. (Hrsg.). “Guter” Sex: Moral, Moderne und die katholische Kirche. Paderborn et al.: Ferdinand Schöningh, 196-210. Burns, Tony (2008). Political Theory, Science Fiction, and Utopian Literature: Ursula K. Le Guin and The Dispossessed. Lanham et al.: Lexington Books. Cummins, Elizabeth (1993). Understanding Ursula K. Le Guin. Columbia, SC : University of South Carolina Press. Le Guin, Ursula (2003a). Unchosen Love. In: Ders. (Ed.). 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Mit Blick auf die wissenschaftliche Arbeit von Regina Ammicht Quinn offensichtlich sehr viel, prägen doch Fragen nach Geschlechterkonstruktionen ihr Wirken ebenso wie die Beschäftigung mit unterschiedlichsten Aspekten der zivilen Sicherheitsforschung. Der breitere Blick auf die deutsche Forschungslandschaft zur zivilen Sicherheit fällt jedoch deutlich ernüchternder aus. So umfasst die BMBF -Projektdatenbank der zivilen Sicherheitsforschung immerhin einen Fundus von mehr als 250 Forschungsprojekten. Jedoch ergibt die Titelsuche in dieser Datenbank sowohl für das Schlagwort „Gender“, als auch für die Begriffe „Frau“ und „Gleichstellung“ jeweils null Treffer. 1 Immerhin hat es das Wort „sozial“ in den Titel dreier Projekte und das Wort „gerecht“ in den eines Projekts der „neuen Hightech-Strategie“ geschafft. Die öffentliche Sicherheitsforschung hat - im Gegensatz zu Regina Ammicht Quinns Arbeit - also auf den ersten, zugegebenermaßen sehr oberflächlichen Blick nur wenig Verbindung zu den Themen Geschlecht, Gleichstellung und Gender. Unter Umständen haben sich aber auch Judith Butlers (2012) Erkenntnisse aus „Das Unbehagen der Geschlechter“ schon so weit in der Sicherheitsforschung verbreitet, dass die Suche nach den oben genannten Schlagworten als naiver Versuch scheitern musste. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Sicherheitsforschung nur äußerst selten (soziale) Geschlechter überhaupt beachtet - und damit patriarchale Strukturen (unbewusst) reproduziert. Dies mag unter anderem daran liegen, dass sowohl die deutsche als auch die europäische zivile Sicherheitsforschung interdisziplinär angelegt und zu einem hohen Maß technisch geprägt ist. Dieser Technozentrismus wäre nun eine hervorragend bequeme Möglichkeit für die regelmäßig in den Forschungsprojekten beteiligten Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen, das Klischee der ach so wenig gendersensiblen Zunft der Informatik und Ingenieurswissen- 1 Stand: 02. 09. 2016, der Versuch darf gern auf folgender Website wiederholt werden: http: / / www.sifo.de/ de/ projekte-a-z.php. 222 Marco Krüger schaften zu bedienen. Allerdings trägt diese Verantwortungsdelegation, erstens, keineswegs der Rolle der politisch institutionalisierten Geldgeber*innen Rechnung (immerhin sind das Ministerien und die Europäische Kommission). Zweitens, und wesentlich zentraler, ist diese Ausrede angesichts der diesbezüglichen Defizite in den eigenen Disziplinen, sowie der potenziellen Möglichkeit Genderaspekte in Forschungsprojekten selber prominent zu verhandeln, zumindest verkürzt. Zwar kann dem entgegengehalten werden, dass sich im Bereich der Sozialwissenschaften die Genderstudien als eigenständige Disziplin immerhin institutionell herausgebildet haben. Jedoch bleibt die Betrachtung von Genderfragen auch hier zumeist auf einzelne Genderstudiengänge und einige wenige Genderlehrstühle in einzelnen Fächern, wie der Soziologie oder den Kulturwissenschaften, beschränkt. Die zivile Sicherheitsforschung an sich ist dabei weniger ein rein akademisches Projekt und schon gar keiner spezifischen wissenschaftlichen Disziplin zuzuordnen. Vielmehr ist sie ein politisches Programm, das Gesellschaft gestalten soll. Solche politischen Programme sind in aller Regelmäßigkeit Gegenstand der Analysen der Politikwissenschaft und im Falle der zivilen Sicherheit speziell Sache der Sicherheitsstudien. Was läge also näher, als sich in die Welt der Sicherheitsstudien zu begeben, um die Ursprünge der Genderblindheit der zivilen Sicherheitsforschung zu ergründen? Dieser Beitrag wagt die Reise in die Tiefen der Sicherheitsstudien, stets auf der Suche nach der so oft übersehenen Genderdimension in der Sicherheitsforschung. Die Reise führt zunächst zu den Anfängen der Sicherheitsstudien, die von der oft beschworenen Anarchie des internationalen Systems und dem Zählen von gegnerischen Panzern geprägt war. Auch nach dem Ende des zweiten Weltkriegs bedurfte es einiger Jahrzehnte sowie eines Vertiefungs- und Erweiterungsprozesses, um den Nationalstaat nicht mehr als alleinige Analyseeinheit und Militär nicht mehr als ausschließliche Sicherheitsdimension zu begreifen (Buzan et al. 1998). Neben dem Nationalstaat fanden eine Anzahl an gesellschaftlichen Entitäten und sogar das einzelne Individuum als potenzielle Referenzobjekte der Sicherheitspolitik Beachtung. Und mehr noch: auch die Themenvielfalt hat sich erweitert. Nicht mehr die bloße militärische Stärke, die Anzahl an Panzern oder die jeweiligen nuklearen Kapazitäten spielten in der Analyse von Sicherheit eine Rolle. Vielmehr hat sich ein breites Spektrum an praktizierten Lesarten von Sicherheit herausgebildet. Während beispielsweise Barry Buzan, Ole Wæver und Jaap de Wilde (1998: 22 f.) mit dem Militär, der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Umwelt die Analyse von fünf, aus ihrer Sicht sicherheitsrelevanten, Sektoren vorschlagen, gehen andere Sicherheitskonzeptionen deutlich weiter. So formuliert das Konzept der Human Security ein so umfassendes Sicherheitsverständnis, dass Roland Paris (2001: 93) in seiner „Not Doing Gender“ 223 Kritik des Konzepts schreibt: „[i]f human security means almost anything, then it effectively means nothing“. Diese kurze, notwendigerweise kursorische Darstellung der Entwicklung der Sicherheitsstudien führt nun aber zu einem unbefriedigendem Zwischenfazit: Sicherheit soll nicht auf das Militär beschränkt sein, gleichzeitig aber auch nicht beliebig auf alle Bereiche des Lebens ausgedehnt werden. Wen und was soll Sicherheit aber dann überhaupt adressieren? Erwartungsgemäß existieren auf diese Frage unterschiedliche Antworten, deren Umsetzung nicht so sehr mit einer normativen Wünschbarkeit, als vielmehr mit einer machtpolitischen Realisierbarkeit verbunden ist. Das Konzept der Human Security ist ein sehr instruktives Beispiel für die Verknüpfung von Sicherheitskonstruktionen und gesellschaftlichen Machtpositionen, da seine Entstehung auf das Engste mit einer politischen Agenda verknüpft ist. So wurde Human Security von einigen Staaten wie Japan, Kanada und Norwegen im Rahmen der Vereinten Nationen vorangetrieben (Commission on Human Security 2003: iv, Persaud 2016: 148), um den Fokus der Sicherheitspolitik auf das Individuum zu lenken. „[F]reedom from want and freedom from fear“ (Commission on Human Security 2003: 10) ist das Motto dieser Sicherheitskonzeption, die aufgrund ihrer Entwicklungsgeschichte allzu stark in der Rationalität der Vereinten Nationen verhaftet bleibt und die internationale Struktur wie auch den Nationalstaat - wenn überhaupt - nur oberflächlich hinterfragt. Gerade ihr politischer Ursprung sorgte aber gleichzeitig dafür, dass Human Security allerlei akademische und politische Aufmerksamkeit erhielt und bis heute erhält. Die Vertreter*innen von Human Security nutzten ihre prominente Position im Sicherheitsdiskurs, um den sicherheitspolitischen Fokus - wenngleich reformistisch und in Machtfragen tendenziell unkritisch - auf das Individuum zu lenken (Persaud 2016). Diese Betonung des Individuums als primäres Referenzobjekt von Sicherheit birgt durchaus das Potenzial, feministischem Sicherheitsdenken den Weg in den Sicherheitsmainstream zu ebnen. Wer nun denkt, dass unsere Reise damit bereits abgeschlossen und die Genderdimension der Sicherheitsstudien gefunden wäre, irrt leider. Denn die Anschlussfähigkeit der Human Security an Genderansätze verblieb zumeist theoretisch. Praktisch zeigt sich, dass explizit feministische Sicherheitsargumente und -theorien bis heute eine akademische Randerscheinung im Mainstream der Sicherheitsstudien darstellen. Daran konnte auch die institutionell steigende Verankerung von kritischen Sicherheitsansätzen, der nächsten Station auf der Suche der Genderdimension, nur wenig ändern. Der Copenhagen School (Buzan et al. 1998) wirft Lene Hansen (2000) gar vor, durch ihren diskursiven Ansatz marginalisierte Gruppen, die im öffentlichen Diskurs kaum Gehör finden, gänzlich zu vernachlässigen. Auch die von der Frankfurter Schule inspirierten Critical Security Studies stehen der Konzeption von Sicherheit gemäß der Copenhagen School kritisch gegenüber. 224 Marco Krüger Ken Booth (2007: 106 f.) argumentiert dabei, dass Sicherheit mehr sei als Überleben und die Copenhagen School mit ihrem Verständnis von Versicherheitlichung eben diesen Unterschied negiere. Booth (2007: 106) hingegen geht von Sicherheit als „ survival-plus “ aus. Das „ plus “ ergibt sich aus der Abwesenheit von existenziellen Bedrohungen, die erst die relative Handlungsfreiheit eines Individuums erlaubt. Sicherheit ist in diesem Zusammenhang Emanzipation, da sie die Befreiung der Menschen „from those physical and human constraints which stop them carrying out what they would freely choose to do“ (Booth 1991: 319) bedeutet. Wiederum sind aber auch die Critical Security Studies lediglich anschlussfähig an feministische Theorien, ohne aber einen expliziten Genderfokus zu entwickeln. Diese bloße Anschlussfähigkeit einer, wenn auch kritischen, Theorie an den Feminismus genügt jedoch offensichtlich nicht, um Genderaspekte aktiv in die Sicherheitsstudien zu inkludieren. Nach Robert Cox (1981: 128, Herv. i. O.) sind Theorien nie neutral, sondern „always for someone and for some purpose. All theories have a perspective“. Dass diese Perspektive auch bei normativ kritischen Theorien nicht gleich „gendersensibel“, geschweige denn „feministisch“ bedeutet, verdeutlicht die Kritik von feministischer Wissenschaftsseite am Autor*innenkollektiv c. a. s. e. 2 . Der Versuch des c. a. s. e. Collectives, die Gemeinsamkeiten der bis dato eher nebeneinander existierenden kritischen Sicherheitsschulen aufzuzeigen (c. a. s. e. Collective 2006), wurde seitens Christine Sylvester (2007) für die mangelnde Berücksichtigung feministischer Sicherheitsstudien kritisiert. Die Autor*innen des c. a. s. e. Collectives (2007: 560) räumten in ihrer Antwort auf diese Kritik zwar durchaus ein, dass sie Aspekten wie Feminismus und Postkolonialismus nur sehr am Rande in ihrem Manifest Platz gewähren, beteuerten jedoch sich mit Feminismus grundsätzlich zu befassen (c. a. s. e. Collective 2007: 566). Allerdings erinnert der Titelzusatz „The c. a. s. e. collective Responds“ (ebd.) in seinem Duktus eher an den etwas martialischen Star Wars Titel „Das Imperium schlägt zurück“, denn an eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den etwaigen Exklusionswirkungen des eigenen Manifests. Besonders bemerkenswert ist, dass die Autor*innen die Nichtbeachtung einer ganzen Reihe von feministischen Wissenschaftler*innen mit deren akademischem Fokus auf Genderaspekte im Krieg begründen, während sich das Manifest primär mit Sicherheit jenseits von Krieg befasse (ebd.). Tatsächlich erscheint die Literatur zu Genderfragen im Kontext von Krieg vergleichsweise 2 c. a. s. e. steht für Critical Approaches to Security in Europe. Hinter dem Akronym c. a. s. e. verbirgt sich eine Gruppe von Wissenschaftler*innen, die verschiedenen Schulen in den Sicherheitsstudien angehören. „Not Doing Gender“ 225 ausführlich (u. a. Shepherd 2013). Diese legt jedoch tatsächlich einem klaren Schwerpunkt auf die Ebene der internationalen Politik sowie die (reproduktive) Rolle von Frauen für die Konstitution des Nationalstaats. Auch andere Autor*innen, wie bspw. Cynthia Enloe (1989), behandeln die feministische Perspektive auf Sicherheit vor allem durch die Brille der Internationalen Beziehungen. Die Autor*innen des c. a. s. e. Collevtive behalten mit ihrer Aussage zwar recht, dass die Genderliteratur in den Sicherheitsstudien sich primär am Kriegsphänomen abarbeitet. Diese Erkenntnis tröstet jedoch nicht darüber hinweg, dass noch nicht einmal der Mangel an einem breiten Genderdiskurs abseits von Krieg innerhalb der kritischen Sicherheitsstudien thematisiert wurde, um so Genderthemen sichtbarer zu machen. Damit endet unsere Reise zur Genderperspektive in den Sicherheitsstudien. Sie hat einerseits gezeigt, dass selbst die kritischen Sicherheitsstudien nur eine Strömung, und sicherlich nicht den Mainstream, in der akademischen Verhandlung von Sicherheit darstellen. Die kritische 3 feministische Beschäftigung mit Sicherheit fristet innerhalb der gegenhegemonialen, kritischen Sicherheitsstudien wiederum nur ein Nischendasein. Trotz dieses etwas unbefriedigenden Ergebnisses ist es doch gelungen, das Genderpotenzial innerhalb der Sicherheitsstudien zumindest aus nächster Nähe erahnen können. Doch was bedeutet dies nun für die zivile Sicherheitsforschung? Optimistisch gesehen, könnte man sagen: Der Bereich der zivilen Sicherheitsforschung bietet noch reichlich Gelegenheit für die Anwendung dezidiert feministischer Perspektiven. Dabei würde es den Analysen innerhalb der Sicherheitsforschung sicherlich helfen gendersensibler zu werden, wenn die (Sub-)Disziplin der Sicherheitsstudien einen stärkeren Fokus auf Genderfragen legen würde. Zwar dreht sich die kritische Sicherheitsforschung im Allgemeinen um die Identifikation von Machtstrukturen und Regierungspraktiken sowie um deren gesellschaftliche Einordnung. Eine dezidiert feministische zivile Sicherheitsforschung würde es aber erlauben, den Fokus gezielt auf diejenigen Machtverhältnisse zu lenken, die seitens der Genderstudien in aller Regelmäßigkeit thematisiert, aber in der zivilen Sicherheitsforschung allzu gern vergessen werden. Sicherheitsmaßnahmen beweisen sich als bemerkenswert blind gegenüber den (diskriminierenden) Praktiken gesellschaftlich dominanter Gruppen (Bigo 2008: 104). Die Inklusion von feministischen Ansätzen in die zivilen Sicherheitsstudien wäre dabei geeignet, die gegenwärtige Sicherheitspolitik und -forschung unter einer zusätzlichen Perspektive zu hinterfragen und bestehende Marginalisierungs- 3 Eine Diskussion inwiefern und unter welchen Voraussetzungen feministische Ansätze als kritisch zu bezeichnen sind führt bspw. das c. a. s. e. Collective (2007: 566-569). 226 Marco Krüger strukturen aufzudecken. Damit würde sie zugleich den Blick für bisher noch weitestgehend unsichtbare Sicherheitsaspekte schärfen. Ein stärkerer Fokus auf Gender würde der Sicherheitsforschung damit nicht nur auf einer moralischen (und auch sicherheitsethischen) Ebene, sondern auch ganz pragmatisch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Aussagekraft, gut zu Gesicht stehen. Ein Beispiel hierfür sind die ersten zögerlichen Versuche, die Bedeutung von militarisierter Männlichkeit für Postkonfliktgesellschaften zu erforschen. Diese Beschäftigung mit der Bedeutung von Männlichkeitsbildern ist zwar im Bereich der Friedensforschung ein erfolgsversprechendes akademisches Betätigungsfeld, aber leider noch keineswegs in der zivilen Sicherheitsforschung angekommen. Die Betrachtung der vergleichsweise beschaulichen Landschaft der deutschen Sicherheitsforschung offenbart eine ganz ähnliche Tendenz. Die erforschten Sicherheitsthemen sind zwar vielfältig, oft aber zumindest nicht explizit gendersensibel (vielleicht sogar explizit nicht), wie der eingangs erwähnte oberflächliche Blick auf die Forschungstitel verriet. Was der Mehrwert der Berücksichtigung von Genderstudien in der zivilen Sicherheitsforschung aber sein könnte, zeigt das Beispiel einer ganz speziellen gesellschaftlichen Domäne: der des Fußballs. Während sich die Sicherheitsforschung im Fußball vor allem der Frage nach dem Verhältnis zwischen Fanszenen und der Polizei (Feltes 2010) widmet oder an technischen Mitteln forscht, um polizeiliches Handeln im Fußballeinsatz effektiver zu gestalten, erscheinen Genderfragen - wenn überhaupt - nur von untergeordneter Bedeutung zu sein. Dabei sind diese auch in der Fußballforschung weder unbekannt noch neu. Sowohl in der wissenschaftlichen Literatur (Selmer / Sülzle 2007) als auch in der praktischen Fansozialarbeit (KOS 2015) gibt es Ansätze, die sich insbesondere der Rolle von Frauen im Fußball widmen und den noch immer verbreiteten Sexismus thematisieren. Was davon jedoch in den Bereich der Sicherheitsforschung vordringt, ist - vorsichtig formuliert -, überschaubar. Noch immer geht es hauptsächlich um die Frage, wie die scheinbar gottgegebene Gewalt im Fußball nur effektiv geahndet werden kann. Dabei gibt es gute Gründe anzunehmen, dass Männlichkeitskonstruktionen sowohl auf Seiten der organisierten Fans als auch auf Seiten der geschlossenen Polizeieinheiten existieren und das Handeln der Akteur*innen beeinflussen. Sowohl Ultragruppierungen als auch geschlossene Polizeieinheiten sind soziale Gefüge mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl und durchaus ausgeprägten Verhaltenskodizes. Beide Welten, die der Polizei bereits qua Berufsbild, die vieler Ultra- und Hooliganszenen aus dem eigenen Selbstverständnis heraus, lehnen Gewalt zumindest nicht per se ab. Vielmehr bauen sie auf martialisches Auftreten und Dominanz. Solche Selbstverständnisse, die aus den antagonistischen „Not Doing Gender“ 227 Rollen resultierenden Feindbilder, sowie die mangelnde Hinterfragung von Geschlechterkonstruktionen lassen Gewalt als etwas erscheinen, das es eigentlich nicht ist: eine notwendige Begleiterscheinung des Fußballs. Statt nun aber Gewalt als Grundbestandteil des Fußballs zu betrachten, könnte gerade eine gendersensible Perspektive deren Ursachen hinterfragen und so dazu beitragen, Fußball langfristig friedlicher werden zu lassen. Fußball bildet ein vielleicht etwas verzerrtes Abbild gesellschaftlicher Machtverhältnisse, mit all ihren Geschlechterrollen, patriarchalen Strukturen und Zwängen, die im Gramscianischen Sinne den gesellschaftlichen Konsens panzern. Den Blick für eben diese Genderfragen zu schärfen würde die Diskussion über Gewalt im Fußball verändern. Diese Veränderung kann verunsichern. Sicherlich würde sie aber die Aufmerksamkeit auf eine derjenigen Perspektiven lenken, die in der heutigen Debatte regelmäßig unter den Tisch fallen. Das Aufgreifen dieser bisher nicht oder nur wenig beachteten Perspektiven stellt einerseits eine analytische Erweiterung der zivilen Sicherheitsforschung dar. Andererseits, und nicht minder wichtig, ist die Reflexion über Marginalisierungen auch ein zentraler Bestandteil einer, im besten Sinne, politischen Ethik. Der Forschungsschwerpunkt Sicherheitsethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften ( IZEW ) bewegt sich unter der Leitung von Regina Ammicht Quinn (2012, 2014) zeit seines Bestehens zwischen diesen beiden Welten. Sicherheitsethik hinterfragt bisher Unhinterfragtes, reflektiert Alltägliches und Neues gleichermaßen und oszilliert damit zwischen Verunsicherung und Orientierung (Matzner / Ammicht Quinn 2015). In Anbetracht der mangelnden Repräsentanz von Genderdiskursen im breiten Feld der (zivilen) Sicherheitsforschung ist es eben nicht bloß naheliegend, sondern vielmehr die schiere Aufgabe der Sicherheitsethik, Genderfragen aufzugreifen. Regina Ammicht Quinn (2014: 42) schreibt: „Die meist unsichtbare Unterseite von Sicherheitsdiskursen und Sicherheitshandlungen ist das Sichtbarwerden menschlicher Verletzbarkeit. Solches Sichtbarwerden menschlicher Verletzbarkeit ist unangenehm“. Viel zu lang und viel zu oft hat sich die zivile Sicherheitsforschung solche Unannehmlichkeiten in puncto Gender weitestgehend erspart. Und gerade deshalb sollte es die Rolle der Sicherheitsethik sein, auf die Genderdimension der Sicherheit aufmerksam zu machen. Dass die Thematisierung von Genderfragen auch in der zivilen Sicherheitsforschung möglich und nötig ist, zeigt Regina Ammicht Quinn nicht nur durch ihre Doppelfunktion als Sprecherin des IZEW und Direktorin des Zentrums für Gender- und Diversitätsforschung, sondern durch ihre ganze akademische Biographie hinweg. Sowohl die Sicherheitsethik als auch die Genderforschung haben den normativen Anspruch der Hinterfragung bestehender gesellschaftlicher (Macht-) Strukturen gemein. Es scheint, als ob beide noch einen langen gemeinsamen 228 Marco Krüger Weg haben, bis die zivile Sicherheitsforschung nicht mehr kein Geschlecht beachtet, sondern - frei nach Judith Butler - ganz selbstverständlich erst mehr als zwei kennt, um sie in einer hoffentlich nicht allzu fernen Zukunft als anachronistische Relikte einer vergangenen Zeit wieder vergessen zu können. Literatur Ammicht Quinn, Regina (2012). Zwischen Angstdiskursen und Akzeptanzfragen: Grundlagen einer Sicherheitsethik. In: Würtenberger, Thomas / Gusy, Christoph / Lange, Hans-Jürgen (Hrsg.) Innere Sicherheit im europäischen Vergleich. Sicherheitsdenken, Sicherheitskonzepte und Sicherheitsarchitektur im Wandel. Berlin u. a.: LIT Verlag, 217-230. Ammicht Quinn, Regina (2014). Sicherheitsethik. Eine Einführung. In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) Sicherheitsethik. Wiesbaden: Springer VS , 15-47. Bigo, Didier (2008). Security. A Field Left Fallow. In: Dillon, Michael / Neal, Andrew W. (Hrsg.) Foucault on Politics, Security and War. London: Palgrave Macmillan, 93-114. Booth, Ken (1991). Security and Emancipation. Review of International Studies 17: 4, 313-326. Booth, Ken (2007). Theory of World Security. Cambridge: Cambridge University Press. Butler, Judith (2012). Das Unbehagen der Geschlechter. 16. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Buzan, Barry / Wæver, Ole / de Wilde, Jaap (1998). Security. A New Framework for Analysis. Boulder / London: Lynne Rienner. C. A. S. E. Collective (2006). 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Wie so oft mit ihren Wortmeldungen bringt sie damit in höchst dankenswerter Weise auf den Punkt, wie Gender in der gesellschaftlich und kirchlich kontrovers bis polemisch geführten Auseinandersetzung wirkt, und sie regt damit weiteres Nachdenken an. Diesen Impuls nehme ich auf: Er scheint mir geeignet, um auch in dem scheinbar weniger aufgewühlten, jedoch spannungsreichen Feld der Familien- und Sozialpolitik Genderaspekte auszuleuchten und das keineswegs geringe „Stör“bzw. Verunsicherungspotenzial einer gendersensiblen Analyse in dieser Arena zu reflektieren. Mit meinem Essay möchte ich diese These skizzenhaft erproben - und zwar anhand des wachsenden Sorge-/ Care-Bedarfs in der Gesellschaft des langen Lebens, also der zugleich langlebigen und alternden Gesellschaft (vgl. Heimbach-Steins 2012). In fünf Schritten werde ich zentrale Herausforderungen der Geschlechtergerechtigkeit im Feld der Care-Arbeit ansprechen; dabei gehe ich von der Situation hierzulande aus, die allerdings nicht ohne Rücksicht auf die Internationalisierung des Care-Arbeitsmarktes angemessen wahrzunehmen ist. I. Care / Fürsorge ist in allen Gesellschaften der Welt ein fundamentaler Bereich menschlichen (Zusammen-)Lebens. Er betrifft all jene Tätigkeiten, die Menschen für sich und für Andere zum Erhalt, zur Pflege und zur Regeneration der Lebenskräfte ausüben - Kinderpflege und -erziehung, Altenbetreuung und -pflege, Gesundheitspflege, Haushaltstätigkeiten (vgl. Fisher / Tronto 1990: 41). Care / Fürsorge ist ohne Zweifel ein universal-existentialer menschlicher Faktor, 232 Marianne Heimbach-Steins die damit verbundene Arbeit gesellschaftlich notwendig. Wie, wo und von wem sie geleistet wird, unterliegt dem Wandel geschichtlicher und gesellschaftlicher Geschlechter- und Generationenverhältnisse, demographischer Entwicklungen und politischer Rahmenbedingungen. Care / Fürsorge beschreibt ein Handlungsfeld, das traditionell als „privat“ bzw. „zur Privatsphäre gehörig“ und als „weiblich“ klassifiziert wird, zugleich aber eine enorme ökonomische und kulturelle Bedeutung hat. Durch den demographischen Wandel und die (im Schnitt der Bevölkerung) in vergleichsweise kurzer Zeit immens gestiegene individuelle Lebenserwartung - heute werden die Menschen in Deutschland im Schnitt um 30 Jahre älter als vor hundert Jahren - hat sich das Feld der Fürsorgearbeit tiefgreifend verändert und erweitert: Neben die Aufgaben der Erziehung und Betreuung der jeweils nächsten Generation ist in stetig wachsendem Umfang die Pflege der (vielfach an Demenzerkrankungen leidenden) Hochbetagten getreten. Zu den Kennzeichen der modernen Gesellschaft gehört nicht zuletzt die tiefgreifende Veränderung von Geschlechterrollen; die gestiegene Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen hat dazu beigetragen, dass privat geleistete Fürsorge zu einem knappen Gut geworden ist und dass mit der Vervielfältigung beruflicher Alternativen auch die professionelle Kinder-, Kranken- und vor allem Altenpflege als vergleichsweise schlecht entlohnter, typischer „Frauenberuf “ durchaus an Attraktivität verloren hat. Das knappe Gut Care / Fürsorge unterliegt einem Prozess der Ökonomisierung - und zudem, wie gleich noch zu besprechen ist - der Globalisierung, ohne dass die „klassischen“ Muster geschlechtsspezifischer gesellschaftlicher Arbeitsteilung „überholt“ worden wären (vgl. Meier-Gräwe 2012). Noch immer erweist sich die geschlechterasymmetrische Verteilung der Zuständigkeit für Care-Arbeit zu Lasten der Frauen - der Mütter und Großmütter, der Töchter und Schwiegertöchter im familiären Kontext, der überwiegend weiblichen professionellen Pflegekräfte in der Kranken- und Altenpflege sowie der Wanderarbeiterinnen, die in zahlreichen Privathaushalten Kinderbzw. Altenbetreuung übernehmen - als außerordentlich stabil. Diese Verschiebungen sowie ihre Ursachen und Wirkungen lassen sich mit empirischer Forschung unter Einsatz der Sonde Gender untersuchen und sozialethisch wie sozialpolitisch reflektieren. II. Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, unterschiedliche Erfordernisse verantwortlicher Lebensführung - Bildung, Erwerbstätigkeit, Erziehung, Pflege, (zivil-)gesellschaftliches Engagement - so miteinander zu vereinbaren, dass kurz- und langfristige Aspekte der Verantwortung in einem vernünftigen und Grund zur Sorge-- Genderfragen im Feld der Care-Arbeit 233 nachhaltigen Verhältnis zueinander stehen. Die Veränderung von Geschlechterleitbildern und Generationenverhältnissen in den letzten Jahrzehnten fordert Gesellschaft und Politik heraus sicherzustellen, dass die im Generationenverhältnis notwendig zu leistenden Fürsorge-Aufgaben - ob professionell oder privat - auch geleistet werden (können). Eine Politik, die diese Herausforderung geschlechter- und generationengerecht lösen will, muss auf eine augenscheinlich paradoxe Situation reagieren: Einerseits haben sich traditionelle Leitbilder überlebt: Sie können die Vielfalt der Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern in den unterschiedlichen Verantwortungsräumen des privaten, beruflichen und öffentlichen (zivilgesellschaftlichen und politischen) Lebens nicht mehr angemessen abbilden; deshalb funktionieren sie auch nicht mehr als Orientierungsmarken für eine Politik, die unter realen Bedingungen Verantwortungswahrnehmung stärken will. Weder die traditionell vorausgesetzten und politisch unterstützten „Normalbiographien“ des erwachsenen männlichen Vollzeiterwerbstätigen und der inhäusig tätigen, ökonomisch (und rechtlich) vom Ernährer abhängigen Hausfrau-und-Mutter noch das Modell der Familie mit traditioneller geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung (Alleinernährer- Modell) taugen länger als (alternativlose) Leitbilder. Andererseits zeigen die traditionellen Geschlechterrollen und die Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ein hohes Beharrungsvermögen - auch im landläufigen gesellschaftlichen und politischen Bewusstsein. Retraditionalisierungstendenzen, die in jungen Familien typischerweise mit der Geburt des ersten Kindes einsetzen (Blossfeld 2009), die Konzentration nicht-beruflich ausgeübter Care-Aufgaben bei den Frauen, insbesondere wenn dafür die Erwerbsbeteiligung (zeitweise) zurückgefahren oder aufgegeben wird, der immer noch keineswegs überwundene Gender-Pay-Gap sowie der frauendominierte berufliche Care-Sektor sind - untereinander zusammenhängende - Symptome für diesen Befund. Diese hochgradig gegenderte Paradoxie aufzudecken und zu problematisieren, muss verunsichernd wirken, weil sie vorhandene Erwartungen an selbstverständliche Care-Leistungen von Frauen irritiert, weil sie die heute und mehr noch die in Zukunft Pflegebedürftigen mit einer tiefen Ungewissheit bezüglich der wirksamen Anerkennung und praktischen Beantwortung ihrer (künftig zu erwartenden) Care-Bedürfnisse konfrontiert und weil sie die politischen Verantwortungsinstanzen vor ein bislang ungelöstes Problem stellt, das nicht weiterhin - mehr oder weniger stillschweigend - auf dem Rücken der Frauen, denen eine natürliche Affinität zu den Sorgetätigkeiten attestiert wird, abgeladen werden kann. Die quantitativen und qualitativen Dimensionen des künftigen Pflegebedarfs angesichts der in den kommenden Jahren allmählich ins Rentenalter eintretenden Baby-Boomer-Generation machen das Thema zu einer gesamtgesellschaftlichen Mega-Aufgabe (vgl. u. a. Heimbach-Steins 234 Marianne Heimbach-Steins 2016). Nicht nur die großen Alterskohorten der späten 1950er bis Mitte 1960er Jahrgänge und die gestiegenen Lebenserwartungen bei Frauen und Männern, sondern auch die - u. a. aufgrund der faktischen Zuwanderungsgeschichte der „alten“ Bundesrepublik - gesteigerte Heterogenität von Lebensentwürfen und Bedürfnisprofilen tragen dazu bei. Die Bearbeitung des Feldes verlangt daher notwendigerweise eine komplexe intersektionale Analyseperspektive, wissenschaftlich interdisziplinäre Untersuchungsansätze sowie ressortübergreifende politische Konzepte. III. Die geschlechterasymmetrische Verteilung von privat geleisteter, aber auch von (in der Regel relativ schlecht bezahlter) beruflicher Care-Arbeit bringt langfristig ungleiche biographische Folgen bzw. Belastungen für die Pflegenden mit sich. Auch und gerade im Zusammenhang familial gemeinschaftlich getroffener (Lebens-)Entscheidungen ist das eine Tatsache, die unter Gerechtigkeitsaspekten bewusst gemacht und explizit berücksichtigt werden muss, sei es, dass ein Paar sich über die Arbeitsteilung in der Familie so einigt, dass eine / r von beiden um der Sorgearbeit willen ganz oder teilweise auf Berufstätigkeit verzichtet, oder sei es, dass z. B. unter Geschwistern eine Verabredung über die Zuständigkeit für die Pflege alter Eltern mit entsprechenden Auswirkungen auf die Erwerbsbeteiligung und die Alterssicherung der pflegenden Tochter oder des pflegenden Sohnes getroffen wird (vgl. Welskop-Deffaa 2012). Die Folgen solcher Entscheidungen müssen den konkret involvierten Personen bewusst sein und in die Entscheidung einbezogen werden. Dies verweist aber unmittelbar auf die politische Verantwortungsebene, auf das Gebot der Transparenz und der Konsistenz sozialpolitischer Regelungen einerseits und auf die Notwendigkeit, etwa pflegepolitische Rahmenbedingungen so anzupassen, dass die Pflegenden - zumeist Frauen, seltener Männer (die erst im Rentenalter häufiger pflegen) - Care-Aufgaben und langfristig lebensunterhaltsichernde Erwerbstätigkeit miteinander vereinbaren können . Dazu bedarf es positiver Anreize zur Vermeidung bzw. Überwindung benachteiligender Arrangements. Zudem sollten Solidaritätsressourcen dort gestärkt werden, wo aufgrund der individuellen Lebensentscheidungen und der partnerschaftlichen sowie familiären Verhältnisse die Plausibilitäten stark und die Realisierungsbedingungen günstig sind. Die sozialen Voraussetzungen der Wahrnehmung von Care-/ Fürsorgeverantwortung durch die Einzelnen müssen konsequent mitgedacht und modelliert werden. Damit wird das Paradigma der Individualisierung - jedenfalls im landläufigen Verständnis - zumindest in seinen normativen Implikationen überholt: Die Entscheidungen zur Übernahme von Sorgearbeit sind zwar von einzelnen - Grund zur Sorge-- Genderfragen im Feld der Care-Arbeit 235 bzw. von konkreten Paaren und Familien - nach ihren eigenen Prärogativen gemeinsam zu fällen und umzusetzen, aber sie sind weder von den ermöglichenden oder behindernden Rahmenbedingungen her als bloß individuelle anzusehen, noch sind sie es im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung der Aufgabe. Dementsprechend liegt eine hohe politische Verantwortung darin, für gerechte - und das heißt mit Blick auf die soziale Realität des gesamten Care- Bereichs nicht zuletzt für geschlechtergerechte - Rahmenbedingungen und Anerkennungsverhältnisse in diesem Bereich Sorge zu tragen. IV. Unter den bisher gegebenen Bedingungen sind mit der längerfristigen Übernahme von care-Aufgaben im familialen Bereich typischerweise langfristig negative erwerbsbiographische Folgen verbunden: Wer für Kindererziehung und / oder Angehörigenpflege zeitweise, teilweise oder ganz auf Erwerbsbeteiligung verzichtet, nimmt den Verlust einträglicher(er) und weitergehender Sicherungsansprüche, die immer noch weitgehend an Erwerbstätigkeit gebunden sind, in Kauf. Dies führt unter anderem dazu, dass weniger Frauen bereit sind, diese Aufgaben - als Mütter, Töchter und Schwiegertöchter - zu übernehmen. Nur zu einem kleinen Teil wird der Mangel an - ob unentgeltlich-privat oder beruflich tätigen - care-Arbeiterinnen durch männliche Erziehungs- und Pflegepersonen kompensiert. Problemlösungen werden typischerweise nicht in einer veränderten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gesucht, sondern im „Zukauf “ familienexterner Fürsorgekapazitäten. Entweder werden Aufgaben aus der Familie in eigene Institutionen der (teil-)stationären Pflege ausgelagert, oder es werden personelle Kapazitäten ambulanter Pflegedienste in Anspruch genommen oder als „Live-In-Pflegekräfte“ in die Privathaushalte geholt und dort gegen Entgelt eingesetzt (vgl. zur Situation von Live-In-Kräften in deutschen Haushalten: Emunds 2016). Letztgenannte Option, die vor allem aufgrund der hohen Kosten der Pflege vielfach gewählt wird, verweist auf die unter Gender-Aspekten besonders relevante „weibliche Kehrseite der Globalisierung“ (Ehrenreich / Hochschild 2003: 3): Arbeitsmigrantinnen aus ärmeren Ländern treten in die „Fürsorgelücke“ ein, die durch die veränderten geschlechtsspezifischen Erwerbsmuster entstanden oder zumindest verschärft wurde (vgl. ausführlicher: Heimbach-Steins 2010). Sie tun es um den Preis vielfach äußerst prekärer, wenn nicht illegaler Arbeitsbedingungen (vgl. u. a. Emunds / Schacher 2012) in der strukturellen „Unsichtbarkeit“ des Arbeitsplatzes Privathaushalt. Diese Entwicklung folgt also einerseits aus der gesteigerten ökonomischen Partizipation und Verantwortung von Frauen in unserer Gesellschaft, andererseits aus einer fortdauernden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die den Bereich 236 Marianne Heimbach-Steins der Fürsorge ungeachtet sonstiger Verschiebungen im Geschlechterverhältnis weiterhin den Frauen zuschreibt. Fürsorgearbeit wird zum wertvollen „Rohstoff“, der aus Entwicklungs- und Transformationsländern in die sogenannte entwickelte Welt importiert wird (Parreñas 2001). Die „Fürsorgelücke“ bzw. „Fürsorgekrise“ wird allerdings durch die Dynamik des internationalen Care-Arbeitsmarkts eher verlagert als wirklich geschlossen. Nur auf den ersten Blick mag die Vermarktlichung der Fürsorge in globalen Fürsorgeketten als win-win-Situation erscheinen, von der Nachfragerinnen wie Anbieterinnen profitieren: Die berufstätigen Frauen in den Industrieländern entlasten sich selbst (und ihre Ehemänner / Partner) von Fürsorgeaufgaben, indem sie Migrantinnen beschäftigen und damit in die Lage versetzen, nicht nur den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern einen beträchtlichen Teil ihrer Einkünfte in die Heimat zu überweisen, ihren Kindern eine wirtschaftlich bessere Lebensgrundlage zu verschaffen und zur ökonomischen Entwicklung ihres Heimatlandes beizutragen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich ein hochgradig problematisches Bild: Die Care-Migration (um die Situation etwas abgekürzt auf den Begriff zu bringen) bewirkt ein neues care-deficit in den Herkunftsgesellschaften; in einer Art Domino-Effekt entstehen die globalen Fürsorgeketten (Hochschild 2003: 17). Der menschliche Preis dieses Handels ist hoch und in Marktkategorien nicht adäquat darstellbar; darin wiederholt sich die Minderbewertung der weiblich konnotierten Sorgearbeit: Die „Rohstoffausbeutung“ trifft nicht eine Ware, sondern Menschen. Sie betrifft die Frauen, die ihre Fürsorgekapazitäten auf dem keineswegs sozial temperierten globalen Fürsorgemarkt anbieten und vielfacher Verwundbarkeit ausgesetzt sind - unter typischerweise ungerechten Arbeitsbedingungen und einem Zeitregime, das nur ausbeuterisch genannt werden kann (vgl. Emunds 2016), und sie betrifft zusätzlich die Kinder und Alten, die in den Herkunftsländern ihre primären Fürsorgepersonen entbehren, weil Mütter, Schwestern oder Töchter in fernen Ländern anderer Leute Kinder erziehen oder fremde alte Menschen pflegen. Zwar profitieren die Zurückgebliebenen von den Rücküberweisungen, gleichwohl geht der wirtschaftliche Gewinn häufig auf Kosten elementarer menschlicher Beziehungen und wird nicht selten durch Entfremdung ganzer Familien erkauft (vgl. UNFPA 2006: 47-61). Es liegt auf der Hand, dass der ganze Komplex der globalen Fürsorgeketten innerhalb des Feldes asymmetrischer Sorgebeziehungen und deren struktureller Einbettung besonders gravierende geschlechtsspezifische Ungerechtigkeitserfahrungen und menschenrechtlich relevante Gefährdungen birgt. Die entsprechenden Probleme mit Hilfe gendersensibler Analyseinstrumente sichtbar zu machen, geht über eine bloße Analyse hinaus und trägt Verunsicherungen nicht nur in die Familien, die zu Beispiel mit Hilfe einer „Pflege-Polin“ dafür Grund zur Sorge-- Genderfragen im Feld der Care-Arbeit 237 Sorge tragen möchten, „dass es Oma gut geht“ (Emunds 2016), sondern auch in die Verantwortungsfelder der Pflegepolitik, die vor dieser Kehrseite des Systems bis heute weitgehend die Augen verschließt, weil guter Rat hier im wahrsten Sinne des Wortes teuer ist. 1 V. Ein Schlüsselproblem zur Überwindung des Care- / Fürsorge-Defizits liegt in der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung von Care-Arbeit. Deren gesellschaftliche Neubewertung ist unerlässlich, um für die Zukunft hinreichende und qualitätvolle Care-Kapazitäten zu sichern und Voraussetzungen für eine Überwindung der Geschlechterasymmetrie in diesem Feld gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu schaffen. Politische Antworten auf Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft stehen unter der Herausforderung, die Einzelnen möglichst nicht unter neue, uniformierende Zwänge zu setzen, die flexible und zugleich verlässliche Modelle der Kooperation behindern: Individualisierung der Verantwortung für die eigene Risikovorsorge bedeutet jedoch - unter den heutigen Bedingungen - für Frauen und Männer de facto, dass sie ihre gesamte Lebensplanung unter das Vorzeichen möglichst vollzeitiger Erwerbstätigkeit setzen müssen, um wenigstens basale Versorgungsansprüche für das Alter sowie für den Fall von Krankheit und / oder Pflegebedürftigkeit zu erwerben. Zugespitzt gesagt, läuft dies auf eine implizite Pflicht zur Erwerbsarbeit hinaus, die aber häufig gar nicht eingelöst werden kann. Entweder fehlt es an geeigneten Arbeitsplätzen oder die Vollzeiterwerbstätigkeit reicht nicht einmal aus, um den Lebensunterhalt zu sichern und eine nachhaltige Risikovorsorge zu betreiben. Dies betrifft v. a. die Arbeit im Niedriglohnsektor, in dem sich überproportional viele Frauen finden. Zudem tritt die vorsorgepolitisch motivierte Notwendigkeit lebenslanger Vollzeiterwerbstätigkeit in Konkurrenz zu der privat-familiären Übernahme längerfristiger Care-/ Fürsorge-Verantwortung, u. a. wegen unzureichender Kinderbetreuungsinfrastruktur, Ganztagsschulangebote und Unterstützungsmaßnahmen für die Pflege im sozialen Nahraum (vgl. Klammer / Klenner / Pfahl 2010: 40-47): Wer unter dem Druck steht, individuell vorsorgende Selbstsorge zu betreiben, kann gleichzeitig nicht (oder nur eingeschränkt) für andere sorgen. Die nicht einfach individualisierbare Herausforderung, „Zeit für Verantwortung“ zu haben, wird hier konkret. 1 In einem kooperativen sozialethischen Forschungsprojekt des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster und des Nell-Breuning-Instituts St. Georgen werden diese Zusammenhänge derzeit gerechtigkeitstheoretisch und empirisch untersucht. 238 Marianne Heimbach-Steins Denn zugleich liegt dem Pflegesystem in Deutschland die normative Erwartung zugrunde, dass Erziehungs- und Pflegeaufgaben vorrangig in den privat-familiären Lebenszusammenhängen übernommen werden. Dies entspricht nicht nur starken Traditionen in unserer Gesellschaft, sondern dafür sprechen durchaus auch gewichtige rechtliche und ethische Gründe. Das Verhältnis zwischen privatem Engagement und professioneller, privater oder öffentlicher, Unterstützung ist jedoch, sowohl was den Zeiteinsatz als auch was die Kosten angeht, prekär. Die entsprechenden Erwartungen sind alles andere als genderneutral. Sie richten sich mehrheitlich auf die Frauen und werden auch überwiegend von Frauen erfüllt, was wiederum zulasten ihrer eigenständigen und hinreichenden Unterhaltssicherung und Risikovorsorge geht. Die geschlechterspezifischen Asymmetrien bezüglich der sozialen und ökonomischen Teilhabe werden so immer wieder bestätigt und verfestigt. Das Dilemma zwischen Erwerbstätigkeit und nicht-beruflicher Care-Arbeit wird nur lösbar sein, wenn einerseits der enge sozialpolitische Zusammenhang von Erwerbsarbeit und sozialen Sicherungsansprüchen gelockert wird, und andererseits, wenn der gesamte Komplex der Care-Arbeit (Erziehung, Pflege), ob sie nun privat und unentgeltlich oder professionell als entlohnte Arbeit erbracht wird, gesellschaftlich neu bewertet wird. Daraus ergeben sich verschiedene Folgerungen: Erstens muss nicht berufliche, längerfristig und mit erheblichem Zeitaufwand (nicht zwingend vollzeitig; möglicherweise auch teilzeitig in Kombination mit Teilzeiterwerbstätigkeit) ausgeübte Erziehungs- und / oder Pflegetätigkeit der Erwerbstätigkeit vergleichbare soziale Sicherungsansprüche begründen (für die Anerkennung von Kindererziehungszeiten ist hier inzwischen sozialpolitisch weitaus mehr erreicht worden als es bisher für Pflegezeiten der Fall ist). Zweitens muss beruflich ausgeübte Care-Arbeit lebensunterhaltsichernd entlohnt werden. Eine solche Aufwertung ist u. a. eine notwendige (wenn auch kaum allein hinreichende) Voraussetzung dafür, dass entsprechende Berufe auch von Männern gewählt werden und der stark steigende Bedarf an Arbeitskräften in diesem Sektor gedeckt werden kann. Drittens müssen faire Arbeitsbedingungen für (migrantische) Pflegekräfte, die in Privathaushalten arbeiten und mitleben, sichergestellt werden (vgl. Emunds 2016: 149-179). Geschlechtergerechtigkeit im Bereich der Sorgearbeit erfordert eine umfassende anerkennungsorientierte Revision des Feldes von Care-Aufgaben, insbesondere des Pflegesektors. Sozialwissenschaftliche und sozialethische Analysen des Feldes unter Einbezug der Genderkategorie können zu einer durchaus produktiven Verunsicherung beitragen: Es wäre einiges gewonnen, wenn bei Männern wie Frauen in den verschiedenen Verantwortungsfeldern unserer Gesellschaft das Bewusstsein dafür Grund zur Sorge-- Genderfragen im Feld der Care-Arbeit 239 wüchse, dass die Sorge für Kinder und Alte, für Menschen mit Behinderung und Demenzkranke eine Aufgabe ist, die nicht „natürlicherweise“ den Frauen zuzuschreiben ist, sondern nur in fairer Kooperation zwischen den Geschlechtern dauerhaft und im Sinne der Sicherung von Lebensqualität für die Pflegebedürftigen wie für die Pflegenden (! ) gewährleistet werden kann. Das Thema geht alle an - als potenzielle Pflegende und als mit hoher Wahrscheinlichkeit im eigenen Leben irgendwann Betroffene. Der Weg zu mehr Gerechtigkeit - Geschlechterwie Generationengerechtigkeit - führt über die heilsame Verunsicherung. Literatur Ammicht Quinn, Regina (2016). Gender. Unnötige Aufregung um eine nötige Analysekategorie. In: Stimmen der Zeit 234. 141 600-610. Blossfeld, Hans-Peter (2009). Die Entwicklung der Aufgabenteilung im Eheverlauf in Deutschland, In: BMFSFJ (Hg.): „Rollenleitbilder und -realitäten in Europa: Rechtliche, ökonomische und kulturelle Dimensionen“. Dokumentation des Workshops, 20.-22. Oktober 2008, 47-61. Ehrenreich, Barbara / Hochschild, Arlie Russell (Hg.) (2003). Global Woman. Nannies, Maids and Sex Workers in the New Economy. London. Emunds, Bernhard / Schacher, Uwe (2012). Ausländische Pflegekräfte in Privathaushalten. (Frankfurter Forschungspapiere zur gesellschaftsethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung 61). Frankfurt / M. 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This debate examines specifically the question of whether moral judgements alone move people toward acting morally or whether other motivating factors, existing independently of moral judgements, are necessary in moving people to act. My interest in this article is to explore and basically present the role of physical experiences, or what we experience through our senses, in the discussion. I want as well suggest how we can assign a significant role in ethics not only to moral judgements in a cognitive ethical framework but also to the meaning of human desires. 2. Moral judgement and motivation Moral externalism claims that there is no necessarily intimate link between moral judgements and the motivations that lead people to act morally. To be more specific: In order for us to act morally we need an external motivation, judgements alone do not suffice. What are the external motivations that motivate people to act? These motivations could be, for example, acting in a way as to avoid sanctions by then following specific orders - something in line with the position of John Stuart Mill in his work “Utilitarianism”— or even emotions such as sympathy or pity that motivate people. The point here is that motivations are not linked to the judgements of the people acting. This position conflicts with one of our basic attitudes concerning moral judgements: We assume that the expression of a moral belief has another effect as the expression of amoral statements on the world. The “effect” means that moral statements do not express the state of the world but rather how the world should be. This can be interpreted as such: moral statements in themselves contain a motivating power—which is exactly the position called in question by the representatives 244 Uta Müller of externalism. Accordingly, a person could have certain moral beliefs but not be motivated to follow these beliefs while acting, as a person, though possessing a recipe for a specific dish, decides not to follow the recipe while cooking. Formulated positively, moral judgements motivate only when a certain attitude presents itself that motivates a person to act. Svavarsdóttir (2005: 165) puts this as follows: „[…] moral judgments motivate by engaging a conative attitude that employs a distinctively moral mode of presentation“. Unlike the case with the recipe, we assume that there is a link between having a moral belief and acting according to this belief. An alternative to externalism is moral internalism, represented by many variations but basically, in all these variations, claiming that moral judgements alone motivate us to act. When we make a moral judgement, or deem something as right or proper, then we have the motivation to act as well, according to this judgement. The defenders of internalism explain how expression and motivation coincide in that moral statements, as opposed to amoral statements, express preferences, emotions, or commands and prohibitions. What they express depends accordingly on the corresponding theoretical approaches. When we say that something “is a morally correct decision” then we, along the lines of prescriptivism, should act according to this decision. When moral internalism is interpreted thus, in all its variations, then moral judgements are not considered statements of truth. They lead us to act morally or they express moral feelings, but are in themselves neither right nor wrong, true nor false. This corresponds with non-cognitive ethics. Moral beliefs are not mental attitudes deemed correct or incorrect but are “pro attitudes”. They are also not concepts of belief, which can be judged. A difficulty with this form of internalism is one of the many difficulties concerning non-cognitive ethics: Moral judgements fall outside the realm of our belief systems, and their validity is not based on that which forms all the other beliefs human beings possess. As Donald Davidson states: “[the noncognitivist approach] bifurcates language in an unacceptable way by leaving the semantics of evaluative sentences unrelated to the semantics of sentences with a truth value“ (Davidson 2004: 26 f.). (Those who defend this position back their claims through the Speech Act Theory, something I will not go into here.) 3. The Challenges of Internalism The claims of a close link between moral judgement and moral motivation are described as “internalism requirement”, a phrase originating from Christine Korsgaard (1996). Here we encounter the first difficulty in internalism: not all moral judgements motivate us to act according to these judgements. We all The Role of Physical Experience for Ethical Decisions 245 know cases of people expressing a moral judgement but acting otherwise. These people know the recipe but do not follow it. The response of the internalists in defense of the internalism requirement could be that there is always the possibility of adversely affecting the motivating influence of a moral belief. It can happen that the link between moral belief and motivation is severed. We can well imagine that certain situations and experiences could jeopardize the tie between judging and acting to the extent that people are brought at such moments not to act according to their own moral beliefs; as Korsgaard claims: “[…] there seem to be plenty of things that could interfere with the motivational influence of a given rational consideration. Rage, passion, depression, distraction, grief, physical or mental illness: all these things could cause us to act irrationally, that is, fail to be motivationally responsive to the rational considerations available to us” (1996: 378). Internalism should be able to claim that moral judgements normally motivate action, but that there are obvious exceptions. The phenomena that break the tie between judgement and motivation must be considered in some form when explaining how people act. Within the cognitivist variant of internalism, three claims are worth examining. They are: 1. The internalism requirement: There is a close link between moral judgement and the corresponding motivation to act. 2. The cognitive attitude: By expressing a moral judgement, a belief capable of being true is espoused. 3. The incompatibility of desires and beliefs: These are different phenomena. Desires have a powerful influence on how we act. These three points are problematic when we maintain that moral judgements do not have a comprehensible link either to beliefs or to desires. In the case of the link between motivation and belief, we have already seen that the internalism requirement corresponds to the claim that moral judgements do not always motivate. What I would want to demonstrate is that moral judgements can motivate and at the same time are capable of being true. This would mean that claim 1 and claim 2 are compatible with one another. A further point is the doubt that 2 and 3 are compatible: How can the relationship of beliefs to desires be understood in such a way that desires might have a comprehensible effect on true or rational beliefs? 4. Internalism and Cognitivist Theory Donald Davidson presented a theory of action that linked motivation, beliefs and desires. When someone wants to take a judgemental or moral remark seri- 246 Uta Müller ously, then he or she, according to Davidson, is thereby motivated in hoping to see certain circumstances become a reality. Davidson is not a non-cognitivist, as he considers expressions of judgement as expressions of belief, which could be correct, or true, or false. “It is desirable that I quit smoking” is the expression of a belief, namely, it is worthwhile for the speaker to stop smoking. This statement is a claim that is assumed to be true. Statements of judgements can be differentiated from other statements through the claim that the said statement is true and that the person who expresses this claim has the wish or “pro attitude” that the expressed-for situation will come about: When feasible, this person will act accordingly, that is, stop smoking. The link between the beliefs of a person about to act and the pro attitude of wanting to act according to these beliefs presupposes that the person who is acting grasps the connection between beliefs and action, or better, the reasons for so acting. The connection can be made clear through the following example: 1. Premise: M. wants to protect herself from rain. 2. Premise: M. believes that opening an umbrella will protect her from rain. 3. Conclusion: M. opens up her umbrella. This example (put forward as a practical syllogism) presents the reasons in 1 and 2 why M. opens up her umbrella: She has the desire not to get wet and is convinced that an umbrella will protect her from the rain. The statement: “M. wants to protect herself from rain” is the expression of a belief: the belief that M. does not want to get wet. This belief can be correct or incorrect, depending on M.’s wishes. Together, they explain M.’s action of opening her umbrella. If M. were to hold an incorrect or false belief concerning the function of the umbrella, such as an umbrella is not water resistant, then her considerations would be different. But: Someone could explain to her that umbrellas are normally water resistant and protect people from rain, leading M. to the same conclusions and leading us to say that she acted according to her beliefs and desires. The claim of a judgement statement is, according to Davidson, the expression of a belief based on a fact of judgement, and the belief that a certain fact of judgement is desirable. The internalist understanding within Davidson’s theory of action interprets actions by way of genuine beliefs and reasonable desires, that is, by way of rational thought. That being said, such a theory must be able to explain how obviously irrational actions occur or come about. This would be the case in which the motivation to act a certain way, according to a moral judgement, is disrupted in some manner. When the internalism requirement is evoked, then such a disruption could be explained through cognitive theory (and not through a non-cognitive explanation, as I have already explained; see Davidson 1982b). The Role of Physical Experience for Ethical Decisions 247 True irrationality means that a person who is to act cannot or will not recognize the proper reasons for a specific action, even when he or she has been instructed otherwise (and even when doing otherwise would harm the person). According to Christine Korsgaard, this is not a serious objection, since comprehending what are proper reasons for doing something can become disrupted just as comprehending the theoretical considerations can become disrupted. It does not have to follow that even when we accept the internalism requirement that we always are capable of being convinced to act as our moral judgements demand. As Korsgaard puts it: But if there is a gap between understanding a reason and being motivated by it, then internalism does not imply that people can always be argued into reasonable conduct. The reason motivates someone who is capable of being motivated by the perception of a rational connection. Rationality is a condition that human beings are capable of, but it is not a condition that we are always in. (Korsgaard 1997: 380) 5. The Role of Desires Davidson remarked that we may act based on reasons that can spring from completely different sources: We can say: she did this because she is angry … or because she has problems … because she didn’t want to miss her train … because she is simply used to doing something a certain way … because she feels she has to do it … and on and on. The reasons for doing something are varying and can be based on feelings, beliefs, habits, needs or events that develop in the world. But not all beliefs, wishes, feelings and the like bring about the corresponding behavior or actions. What also must be considered is that the person, in order to do something, to act, must see something positive in the act of doing. Again, according to Davidson, if my thesis is correct, someone who says honestly ‚It is desirable that I stop smoking’ has some pro attitude towards his stopping smoking. He feels some inclination to do it; in fact he will do it if … he has no contrary values or desires. Given this assumption, it is reasonable to generalize: if explicit value judgements represent pro attitudes, all pro attitudes may be expressed by value judgements that are at least implicit. (Davidson 1982a: 86) The positive evaluation of an action, whether acting in response to our desires or even against our desires, is the next point I would like to address here, and so with regard to physical experiences - what we experience through our senses. These experiences must then be understood in relation to our desires and beliefs and understood as capable of taking on a leading role in how we are 248 Uta Müller motivated to act, even when disrupting the tie between moral judgement and motivation. First, I want to explain the notion of physical experience. (I would like to avoid dealing with emotions and feelings and rather focus on those phenomena that shape our physical and perceptual nature.) I will present physical experience as that deriving from an understanding of the body according to a phenomenological philosophy, that is, a body in which our senses and our sensory experiences are at once physical and mental experiences as well. We perceive the world through our sensory organs, our bodies, and have then a perception of things. At the same time, these perceptions maintain an internal, or inward, dimension as well. We are able to relate to our own conscious perceptions. We are able, for example, to characterize ourselves through the effect of our perception of things in the world, that is, we are able to relate to our perceptual experiences. An essential aspect of the subjective within perception, and with regard to the theory of action, is that people are able to understand perceptions as agreeable or disagreeable. The perception of a green meadow is under the right circumstances very agreeable to me, while the perception of a table is neither agreeable nor disagreeable. What is contextually important is that we cannot in general control the subjective reaction we have to our perceptions. Some perceptions are agreeable to us, others not. How we develop certain perceptions is not always something we control, but rather something that happens to us. To feel something is agreeable or disagreeable creates an intimate bond to our will and to our actions. Normally, we seek out those experiences that are agreeable and avoid those that are disagreeable. Characterizing something as agreeable or disagreeable has a defining character on our will. The conclusion that the indeterminable character of many perceptions is agreeable or disagreeable, thus signifying that the human will is defined by sensory perceptions alone, comes here a bit too hasty. Perceptions are made with our senses, but, as said earlier, we can relate to our perceptions and behave according to these perceptions in many different ways (at least in most cases). These different ways, of how we behave with regard to our perceptions, can be characterized, in my judgement, as desires . We can relate reflexively to our own subjective experiences und evaluate them as desirable or non-desirable. Since the context of our discussion concerns the motivation of action, I will not refer to the reactions to physical experiences that do not allow us the chance of referring to our perceptions; for instance, that when we touch a hot burner we pull immediately away from the heat and scream out in pain. This example is difficult to explain by way of desire. I admit that the boundary between what is simply a physical reaction and what is desire is in many cases difficult to determine. The Role of Physical Experience for Ethical Decisions 249 The solution to the problem of desires and beliefs lies in the manner of conceptually linking them together and, namely, by saying that desires are tied to conceptual evaluations. This means that we evaluate the world through our desires and that we judge consequently whether these desires present good reasons for how we act. This concept of desires, according to Davidson, means that desiring something involves having a tendency to see something good or desirable about it. An objection to such a theory, which Davidson called the “belief-desire theory”, could be that it is doubtful whether physical experiences can be linked to evaluations, that is, to statements of truth or to beliefs. More concretely, the objection lies in the doubt that it is possible to take a sensory or physical condition, something, say, like an agreeable perception, and conceptually link it to statements over whether the perception is true or false. This is because we cannot take a non-conceptual condition and link it to a conceptual evaluation. They are simply completely different phenomena. Statement 3 in the triad of internalism, mentioned earlier, can be interpreted as such: it is compatible with the other two statements: Beliefs and desires are conceptually linked and can be differentiated in that desires refer in certain situations to our physical perceptions or conditions. As Davidsons suggests, belief is an attitude of holding true or accepting as true, and a desire is an attitude of holding desirable or accepting as valuable (see Davidson 2004: 24). We should not, in reference to Davidson’s remarks, understand the subjective side of perceptions as being a construct involving a true part and a non-true part (that is, physical experience). Such statements are evaluations, judgement calls, over a condition that is being determined as agreeable or disagreeable. We can, as I already mentioned, relate to the content of our perceptions and find what is agreeable and desirable in them, or decide to look elsewhere for what we may find agreeable. And we can evaluate that which is disagreeable in such a manner as to find reasons why it is best to avoid certain actions and to discover other goals. We should not determine perceptions experienced through our senses as less valuable. We, as physical beings, are defined by these perceptions and must react to them. We all know how difficult it is, not to search for that which is agreeable but to accept what is disagreeable. But in deciding how we should act, our evaluations, based on reasoning, are significant. And reasoning, and the validity of our reasoning, which can always be questioned, speaks in the end for the relevance of normative ethics. The varying degree of desirability that is due a certain action can only be accorded through ethical reasoning. It makes a difference if we claim that people are required to act in a certain way as according to Kant’s categorical imperative, or to act in a certain way that is desirable. Davidson recognized this as well: „[…] judging an act good is not the 250 Uta Müller same a judging that it ought to be performed, and certainly judging that there is an obligation to make some sentence true is not the same as judging that it is desirable to make it true” (2004: 37). I am not going to expand here on the role of ethical reflection, but stress on the significance of normative ethics. References Davidson, Donald (1982a). Intending. In: Ders.: Essays on Actions and Events. Oxford: Clarendon Press, 83-102. Davidson, Donald (1982b). Paradoxes of Irrationality. In: Wollheim, Richard/ Hopkins, James (Hrsg.) Philosophical Essays on Freud. Cambridge: Cambridge Uni Press, 289-305. Davidson, Donald (2004) Expressing Evaluations. In: Ders.: Problems of Rationality. Oxford: Clarendon Press, 19-37. Korsgaard, Christine (1997) Skepticism about Practical Reason. In: Darwall, Stephen / Gibbard, Alan / Railton, Peter (Hrsg.) Moral Discourse and Practice. 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Der Finger zuckt zurück, ein helles scharfes Brennen durchfährt ihn, mit einem kurzen ziehenden Einatmen schrecke ich auf, breche ich meine Arbeit ab, erstarre für einen Moment! - Mit einem offenen, aber noch vorsichtigen Ausatmen komme ich wieder in Bewegung, untersuche ich meinen Finger: Ein feiner Schnitt, die scharfe Kante frischen Papiers, nicht weiter schlimm. Während ich den Finger, um die Blutung zu verringern, in die Höhe, über die Höhe des Herzens hinaus in die Höhe strecke, suche ich ein Pflaster, das ich über den schmalen, blutumsäumten Einschnitt hinüberklebe. Ich komme wieder zur Ruhe und will weiterarbeiten. Ich brauche doch bloß diesen einen Finger zu schonen … Aber wie häufig ich gerade diese Stelle dieses Fingers als Tastfläche einsetze bzw. einsetzen will, und wie schwer es ist, ihre Funktion einem anderen Finger zu übertragen! Meine eingespielte Motorik mag sich nicht daran gewöhnen, mit einem anderen Finger die Tasten des Telefons oder den Lichtschalter zu bedienen - immer wieder stoße ich mit dieser Stelle, die meine Stelle ist, schmerzhaft an. Ich kann mich nicht mehr recht konzentrieren … Und es ärgert mich: Wie muss ein Ich gedacht werden, dessen Bewusstseinsherrlichkeit schon durch einen Schnitt in den Finger ge- 1 Bei diesem Essay handelt es sich um einen Wiederabdruck von: Dietrich (1996). Eine wissenschaftliche Ausarbeitung und Weiterführung dieser Überlegungen findet sich in Dietrich (2009). 252 Julia Dietrich stört werden kann? Oder anders herum: Was ist es am Schmerz, schon an diesem kleinen, harmlosen Schmerz, das ihn so eindringlich macht? Das Gefühl, gestört zu werden, macht zunächst einmal deutlich, dass es eine Ordnung gibt, die gestört werden kann (ein Chaos kann nicht gestört werden). Auch der Begriff der Verletzung, der die Störung zu einer (begrenzten) Zerstörung steigert, setzt eine Ordnungsvorstellung voraus, wobei wir meistens direkt an die durchtrennte Haut, d. h. an einen räumlichen Zusammenhang denken, der in der Verletzung zerstört wird. Doch das ist, insofern die Verletzung von Schmerz begleitet wird, ein wenig voreilig. Sowohl auf der Ebene der Wahrnehmung als auch auf der Ebene der Reaktion ist es zuallererst eine Ordnung in der Zeit, die durch den Schmerz der Verletzung gestört wird: Der Schmerz durchbricht jeden Rhythmus. Das gilt sowohl für den Rhythmus der Atmung (und für weitere körperliche Funktionen) als auch für die Folge der Tätigkeiten, mit denen ich gerade beschäftigt bin. In einem ansatzlosen Einatmen, in einem durch Reflexe gesteuerten Zurückzucken, in einem kurzen Moment des Herausgerissen-Seins und der Erstarrung setzt der Schmerz einen Nullpunkt, von dem aus alle Rhythmen wie neu beginnen. Erst mit dem nächsten Ausatmen komme ich wieder in Bewegung, kann ich die Kontrolle wiedergewinnen und nach einem Pflaster suchen, finde ich mich wieder in Zusammenhänge ein. Ein Ich also, das durch einen Schmerz gestört werden kann, hat einen Rhythmus, und ein Schmerz, der dieses Ich stört, stört seinen Rhythmus. Eine Grenze, meine Haut, wurde durch die scharfe Kante eines Papiers (ein Messer, die Spitze eines Nagels …) überschritten. Die Ordnung eines Ich, das durch einen Schmerz gestört werden kann, zeigt sich darin als eine Ordnung auch im Raum. Das Ich hat einen Körper, der sich im Raum ausdehnt, aber nicht unendlich ist. Denn dieser Körper erfährt sich im Widerstand von außen als begrenzt und von anderen Körpern umgeben, d. h. in einer Welt. Der körperliche Schmerz, den mir die Welt bereiten kann, wenn sie mir meinen Platz streitig macht, bietet insofern den höchsten Grad der Gewissheit, dass ich eine Grenze habe und dass ich auf einer Welt bin, dass ich überhaupt ‚wo‘ bin, nämlich hier und nicht da (wo andere Körper sind). So geht die Selbstbestätigung, die mir der Schmerz erlaubt, auf Kosten der Sicherheit: Der Schmerz zeigt mir meinen Ort, zeigt mir aber auch, dass dieser Ort gefährdet ist, dass Ecken, Kanten und Klingen ihm zusetzen, in ihn eindringen, ihn als Ort zerstören können und dass mein Leben davon abhängt, eine Abgrenzung gegenüber der Welt aufrechtzuerhalten. Da, wo ich bin, darf nichts anderes sein. Im Schmerz erfahre ich die Umwelt als eine gefahrenvolle und feindselige Umwelt, der gegenüber ich mich behaupten und in der ich mir Inseln der Heimat, der Wohnung, der Kultur erst schaffen und verteidigen muss. Die Erfahrung von Schmerz ist daher ganz ursprünglich mit dem Gefühl der Niederlage in einem Kampf, im Kampf der Abgrenzung nämlich, Schmerzgrenze 253 verknüpft. Die Sprache, mit der Schmerzerfahrungen beschrieben werden, ist schon immer die Sprache der Feindschaft und der Gegnerschaft gewesen, die sich von außen gegen den Körper und gegen das körperliche Ich richtet. Da ist zum einen die Metapher des Kampfes selbst: Schmerzen attackieren mich, ich bekämpfe sie, sie suchen mich heim, ich unterdrücke sie. Da ist zum anderen die Metapher der Bearbeitung, die ich durch die Waffen und Werkzeuge des Feindes erleide: Schmerzen stechen, brennen, hämmern; sie wirken wie ein Messer, eine Klammer, eine Säge, die ich hoffe, ‘abstellen’ zu können. Diese Ausdrücke zeigen aber auch, wie sich die Störung der räumlichen Ordnung mit der Störung der zeitlichen Ordnung verknüpft. Sie lassen sich nämlich auch und erneut im Hinblick darauf lesen, dass Schmerz meinen Rhythmus stört. ‘Stechen’, ‘Hämmern’ oder auch das Pochen, in das der helle Schmerz des Einschnitts übergeht, stellen Rhythmen dar, mit denen der Schmerz, nachdem er mich in einem ersten Erschrecken aus meinem Rhythmus gebracht hat, auch verhindern kann, dass ich ihn wieder aufnehmen kann. Im chronischen Schmerz wird dies besonders deutlich, weil nach und nach sämtliche Lebensrhythmen von ihm erfasst und verändert werden. Der beharrlich fremde Rhythmus des Schmerzes lenkt mich von mir ab, ich finde nicht in mein Zentrum zurück, ich kann mich nicht mehr konzentrieren, mich nicht mehr in mir zentrieren … Der Schmerz durchbricht nicht nur die Ordnung der Zeit und des Raums, sondern auch die des Bewusstseins. Er gewinnt Macht durch eine zweifache Gefährdung des Bewusstseins, nämlich durch eine Umpolung des Bildes, das es sich von dem Körper gemacht hat, und durch die Versuchung des Aktes seiner Aufmerksamkeit selbst. Da ist zum einen diese neue Stelle, die im Schmerz entsteht, diese bestimmte Region meiner Fingerkuppe, die sich, soweit der Schmerz reicht, deutlich von ihrer Umgebung abhebt. Und ist sie auch lokalisiert und von einer in etwa bestimmbaren Ausdehnung, so bewirkt sie doch eine Umpolung des gesamten Befindens. Durch den Schmerz wird der Körper in dieser schmerzenden Stelle zentriert und reagiert als ganzer mit einer allgemeinen Mobilisierung, in der sich alles um diese neue Stelle dreht. Diese Umpolung macht mir bewusst, dass ich eine ‚normale‘ Ordnung und Zentrierung meines Körpers kenne, die nicht unbedingt mit den naturwissenschaftlichen Kategorien beschreibbar ist und deshalb als die Ordnung des Leibes bezeichnet werden kann. Diese leibliche Ordnung ist die Basis für die Geläufigkeit meiner Motorik, für die Sicherheit, mit der ich in der Wohnung Ecken und Kanten vermeiden und Lichtschalter auch im Dunkeln finden kann. Ich kann mir diese Ordnung gezielt durch ein inneres Spüren bewusst machen und mich, so wichtig sie auch für mein mirselbst-Vertrauen ist, noch einmal von ihr unterscheiden und zu ihr verhalten. Im Schmerz aber ist dieses Sich-Verhalten-Zu gefährdet. Denn die Stelle, an 254 Julia Dietrich der mein Finger schmerzt, entdecke nicht ich, sondern sie entdeckt sich mir in ihrem Schmerzen. Die Richtung meiner Aufmerksamkeit mag dieselbe sein wie in einem Tasten oder Erspüren - von mir zu der Stelle -, aber der Impuls der Bewegung hat sich von einem ‘Anzielen’ zu einem ‘Angezogen-Sein’ gewandelt. Meine Aufmerksamkeit richtet sich nicht frei aus sich heraus auf etwas hin, sondern wird fast unwiderstehlich angezogen, aus mir heraus angesogen. Die Schmerzstelle scheint wie ein schwarzes Loch von unendlicher Anziehungskraft zu sein, von dem ich mich mit aller Kraft zurückhalten muss, die mich in Versuchung führt … Solange ich das Bewusstsein nicht verliere, kann ich immer wieder ein solches Ver-halten zuwegebringen, doch bei jeder Berührung werde ich erneut abgelenkt, verliere ich erneut einen Augenblick die Kontrolle über meine Perspektive. Dass ich (und hier: die Autorin) mich über die Ablenkung durch einen kleinen Schnitt in den Finger ärgern kann, ist bestes Zeichen dafür, dass ich mich in meinem Stolz der Selbstbeherrschung - zurecht - gekränkt fühle, also insgeheim von dieser Dramatik der Selbstentfremdung weiß. Dieser mikroskopische Blick auf einen kleinen körperlichen Schmerz zeigt, dass das Ich auf verschiedenen Ordnungssystemen aufbaut, von denen der körperliche Schmerz bisher vor allem die Ordnung der Zeit, die Ordnung des Raums und die Ordnung des Bewusstseins bzw. der Perspektive herausgestellt hat. Sicherlich kann man auch von den Analysen anderer Empfindungen aus die Existenz und die Bedeutung dieser Ordnungssysteme ausmachen. Aber die Besonderheit und Eindringlichkeit des körperlichen Schmerzes, möchte man sagen, beruht darauf, dass er, und sei er noch so schwach, nicht nur einzelne, sondern alle drei Ordnungssysteme zugleich betrifft, ja, eigentlich dasjenige Medium darstellt, mit dem überhaupt alle drei Ordnungssysteme zugleich betroffen werden können. Er gefährdet alle fundamentalen Perspektiven, von denen aus ich mich zu mir selbst, zur Welt, zur Verletzung und zu ihm in ein Verhältnis, und das heißt, in eine Distanz bringen könnte. Und insofern er auch die leibliche Ordnung unterläuft, gewinnt er gegenüber seelischem Schmerz einen Machtvorsprung, der ihn klar von ihm unterscheidet. Der körperliche Schmerz, der schon in der Ordnung der Zeit und des Raums einen Übergriff bedeutete, potenziert sich durch seinen Angriff auf die Ordnung des Bewusstseins zu einem Medium totaler Passivität und Ergriffenheit. Diese Ergriffenheit kann ich als Niederlage, Kränkung und Leid, aber auch als die Sicherheit der Zugehörigkeit zur Wirklichkeit empfinden. Es ist ganz einfach: „Kneif ’ mich mal, ich glaub’, ich träume …“. Es ist sehr stark: Wer sich selbst Schmerzen zufügt, wer sich selbst Schmerzen zufügen lässt in Initiation oder Masochismus, der sucht die Wirklichkeit seiner selbst, der Gemeinschaft, seiner Hingabe. Doch kommt hier der körperliche Schmerz nicht in ein enges Verhältnis zur körperlichen Lust, zu deren Erzeugung und Steigerung er ja auch Schmerzgrenze 255 beitragen kann? Teilt denn nicht die körperliche Lust mit dem körperlichen Schmerz die Herausforderung und damit Wirklichkeit von Rhythmus und von räumlicher Begrenzung und von leiblicher Ordnung und Perspektive? Vielleicht muss man auf das zurückgehen, was dem Schmerz vorausgeht. Man könnte sich zum Beispiel fragen, warum wir uns nicht viel häufiger wehtun. Ein Blick durch das Zimmer mit der Überlegung, woran man sich wehtun könnte, bringt eine erstaunliche und erschreckende Überfülle zutage: Alle Gegenstände haben Kanten, Ecken oder können in scharfe Scherben zerbrechen; der Boden ist knochenhart, die Glühbirne versehrend heiß, die Spitze des Brieföffners, die Schere … Warum tue ich mir nicht öfter weh? Nun, ich habe diese Dinge in meine Wohnung gelassen, sie angeordnet, sie sind in einer mir auf den Körper geschneiderten, maßgeschneiderten Ordnung, in der sich meine Leiblichkeit auskennt. Ich vertraue ihnen, sie bauen eine schützende Umwelt auf (die sich in der Folter zu einer Quelle der Bloßstellung verkehrt 2 ). Ich halte aber auch Abstand zu ihnen oder berühre sie in einer angemessenen Geschwindigkeit. Schmerzen dagegen bereiten sie, wenn sie zu schnell, zu stark, zu heftig auf mich einwirken, wenn sie ein mir und meinem Körper angemessenes Maß der Näherung überschreiten, wenn ich an sie stoße, auf sie falle, sie sich mir entgegenschleudern. Der Schmerz signalisiert damit eine Maßlosigkeit, ein zu nah (nämlich hindurch), ein zu heftig (nämlich hinein), ein zuviel (nämlich die neue Stelle auf der Fingerkuppe). Die Frage des Arztes oder der Ärztin, was mir denn fehle, geht insofern auf präzise Weise am Schmerz vorbei: Es ist gerade nicht so, dass mir etwas fehlt, sondern dass mir etwas zuviel ist. Den körperlichen Schmerz als Folge einer Maßlosigkeit zu verstehen, nähert ihn dem seelischen Schmerz wieder an und kann dann auch den Gebrauch des gemeinsamen Begriffs ‘Schmerz’ erklären. Auch seelische Verletzungen gehen auf Maßlosigkeiten zurück, und verständlich wird, dass sich seelische Verletzungen in körperlichen Schmerz verwandeln können. Die Grenzen des Menschlichen, so zeigt der Schmerz, sind nicht nur in der Metapher des Räumlichen zu begreifen. Die Grenzen des Menschlichen sind viel eher Grenzen der Intensität. Gegenüber der Maßlosigkeit des Schmerzes aber erwächst die Wohltat körperlicher Lust und Befriedigung, erwächst auch die Heilung aus dem Finden des rechten Maßes der Berührung, des Taktes, des Kontaktes 3 . Vielleicht ist die Mäßigung ein Charakteristikum des Menschlichen? Gewiss aber des Lebendigen. 2 Wie sich die Dinge des Vertrauens - Essen, Wasser, Wände, Bett - zu Waffen verwandeln und mir keinen Schutzraum mehr gewähren - dies zu zeigen, ist eine der Stärken von Elaine Scarrys ‘durchwachsenen’ Buch „Der Körper im Schmerz” (1992). 3 Den Hinweis auf den speziellen Zusammenhang zwischen dem Maß des Taktes (von lat. tangere - berühren! ) und dem Kontakt verdanke ich Dr. Iris Öchsner, München. 256 Julia Dietrich Literatur Dietrich, Julia (1996). Schmerzgrenze. der blaue reiter Nr. 4 (2 / 1996), 57-59, Link zum Verlag: http: / / www.derblauereiter.de/ journal/ journal/ start/ Dietrich, Julia (2009). „Ich habe Schmerzen.“ Anthropologische Grundlagen des Verhältnisses von Schmerz und Sprache. In: Ingensiep, Hans Werner / Rehbock, Theda (Hrsg.) „Die rechten Worte finden …“ Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens. Würzburg: Königshausen und Neumann, 107-122. Scarry, Elaine (1992). Der Körper im Schmerz. Frankfurt / Main: S. Fischer. Hito no seimei no hōga, oder: vom Respekt vor dem Potenzial Cordula Brand Zumindest im „Westen“ denken wir uns Menschen als Personen. Doch es ist vertrackt mit diesem Personenbegriff: lang und breit debattiert, zwei konträre Konzeptionen - eine graduelle und eine absolute, die unversöhnlich weiterhin nebeneinanderstehen - leicht verzweifelt wirkende Versuche, den Begriff für nicht notwendig zu erklären und immer noch keine befriedigende Lösung oder Sprachregelung für bioethische wie gesellschaftliche Debatten gefunden. Dabei sind die Fronten zwischen einem graduellen und einem absoluten Verständnis des Personenbegriffs so verhärtet, dass es gar nicht mehr möglich zu sein scheint, über Alternativen nachzudenken. Zumindest nicht in der westlich geprägten akademischen Welt, also im Rahmen der in Europa, Nordamerika und z. T. auch anderswo geführten entsprechenden Debatten. Nun mag man ja mit dem einen oder anderen Konzept zufrieden sein oder sich der Auffassung anschließen, dass der Begriff unnötig ist, die Debatte also so oder so für erledigt erklären - mich jedoch lässt die Frage nach einem für mich überzeugenden Verständnis des Person-Seins nicht los. Dies liegt vor allem an meinen persönlichen Intuitionen zu Fragen am Beginn und am Ende des menschlichen Lebens, die sich nicht durch die vorliegenden philosophischen Theorien erklären und begründen lassen. Was also tun, wenn die Debatten in einem philosophischen ‘Denkraum’ keine Antworten auf drängende Fragen parat haben? Entweder man ignoriert die Fragen oder man schaut sich nach einen neuen Raum um. Nach einer längeren Phase der Ignoranz bin ich dann tatsächlich in einem neuen Denkraum - nämlich dem der japanischen Philosophie - auf eine Idee gestoßen, die das Problem „Person“ in einem anderen Licht erscheinen lässt. Diese Idee rankt sich um den Ausdruck ‘hito no seimei no hōga’ oder ‘sprout of human life’ bzw. ‘menschliche Sprossen’. Dieses Konzept entstammt der japanischen Bioethikdiskussion und enthält einige spannende Besonderheiten, die ich im Folgenden ein wenig erläutern möchte. 258 Cordula Brand Sprout of human life-- Ursprung und Idee Interessant ist schon allein, wie der Begriff ‘hito no seimei no hōga’ überhaupt in der japanischen Debatte aufgekommen ist. Zum erstem Mal Erwähnung fand er 2002 in der Abschlusserklärung des japanischen Bioethik-Komitees zur Formulierung des Law Concerning Regulations Relating to Human Cloning Techniques and Other Similar Techniques (Morioka 2006). 1 Der Begriff wurde erdacht, um auf die Bedenken hinsichtlich des moralischen Status des menschlichen Embryos zu reagieren und gleichzeitig die Forschungsfreiheit so wenig wie möglich zu beschränken. ‘Sprout of human life’ soll darauf aufmerksam machen, dass menschlichen Embryonen ein eigener moralischer Wert zukommt, dieser aber gleichwohl - nach sorgfältiger Abwägung - Forschung an Embryonen zulässt. Auf dem siebten Treffen des Bioethik-Komitees (22. 02. 2000) kommentiert der Rechtswissenschaftler Ida die Motivation zur Einführung des Begriffes so: In this case [if you want to enable stem-cell research], I think that a rationale - that embryos are not human life - is necessary to some degree. And that is why I say that human embryos are the sprout of human life. […] [A]n embryo is not just a “thing” either; if it divides, it will naturally become a person. This is why we used the expression “sprout of human life”, and thus in a sense it describes an intermediate stage on the way of becoming a person. (Ida in Kodama / Akabayashi 2010: 12) Selbst wenn die Argumentation im Rahmen des Bioethik-Komitees “does not move beyond very general statements”, wie Horres et al. (2006: 31) zusammenfassen, kann man doch aus den diversen Diskussionen eine basale Argumentation herausfiltern: 1. Das Prinzip der Menschenwürde stellt einen der Grundwerte der japanischen Gesellschaft dar. 2. Der Umgang mit menschlichen Embryonen muss daher von diesem Prinzip geleitet werden. 3. Menschliche Embryonen haben einen besonderen Status. 4. Daher müssen menschliche Embryonen mit Respekt und besonderer Sorgfalt behandelt werden. 1 Erdacht wurde der Begriff im Unterausschuss zum menschlichen Klonen; später wurde er im Bericht der japanischen Regierung zur Forschung an Embryonen im Rahmen der Ergänzungen zu Artikel 2 verwendet (Kodama / Akabayashi 2010). Dass der Begriff tatsächlich Eingang in die abschließende Formulierung gefunden hat ist, wie man bei Morioka (2006: 5) nachlesen kann, der Demokratischen Partei zu verdanken. Eine feinkörnige Analyse der Debatte findet sich in Morioka (2006). Einen Überblick geben Kodama und Akabayashi (2010) sowie Steineck (2008). Hito no seimei no hōga, oder: vom Respekt vor dem Potenzial 259 5. Der moralische Status des Embryos “may be outweighed by considerations of fundamental human rights of those people with severe afflictions.” (Horres et al. 2006: 31) Diese Argumentation ist in philosophischer Hinsicht bestenfalls kryptisch. Das verwundert insofern nicht, als der Begriff ‘sprout of human life’ letztendlich seine ursprüngliche Aufgabe erfüllte. Er diente als ein Kompromiss zwischen den Gegnern und Befürwortern von Forschung an und mit menschlichen Embryonen. Er erlaubte, dass Embryonen zur Forschung freigegeben werden können - unter bestimmten Umständen und besonderer Sorgfalt 2 - bei gleichzeitiger Achtung eines besonderen Status aufgrund der Zwischenposition zwischen reinem Ding im Sinne eines Körpers und einer ‘Person’ im Sinne der moralischen Diskussion um den Status des Embryos. Eine wunderbare Zusammenfassung der Debatten innerhalb des japanischen Bioethik-Komitees, die hier unkommentiert stehen kann, findet sich bei Kodama und Akabayashi: [T]he compromise […] between advocates and skeptics of embryo research was, like it or not, very Japanese in a distinct way. The Committee introduced the Western idea of human dignity, which leans toward absolutist ethics and suggests a total ban on the use of human embryos as well as the creation of cloned embryos. However, by coining the symbolic phrase ‘sprout of human life’, the Committee found an eclectic solution. Although this term may not be a commonsensical one, it nevertheless allowed the Bioethics Committee to approve research using human embryos while demanding that researchers exercise due respect in handling them. Accepting the Western idea of human dignity and at the same time making ambiguous the Western dichotomy of things and persons, the Committee made it possible for ethics and science to reconcile with each other, at least for the time being. (Kodama / Akabayashi 2010: 439) Sprossen im Raum der Möglichkeiten Kodama und Akabayashi weisen treffend auf den eklektischen Charakter des Begriffes ‘hito no seimei no hōga’ hin. Nichtsdestotrotz - oder gerade deswegen - hat er Eingang in die japanische Bioethik-Debatte gefunden (Steineck 2005). Diskutiert wird hier vor allem, welchen Status die ‚Sprossen‘ konkret haben und inwiefern der Begriff tatsächlich zur Klärung bioethischer Diskurse beitragen kann. So geht z. B. Muramatsu von einer Patt-Situation in der internationalen Debatte um den Begriff ‘Person’ aus. Er argumentiert, dass sowohl 2 Es überrascht leider auch nicht wirklich, dass in der weiteren „Entwicklung” des Gesetzes diese Bestimmungen dazu beigetragen haben, dass die Regeln immer mehr verwässert wurden. 260 Cordula Brand die Argumente für die Zuschreibung vollständiger personaler Rechte für alle Entwicklungsstadien des Menschen als auch die Argumente für eine graduelle Entwicklung des personalen Status in die falsche Richtung weisen. Dies tun sie, weil das erste Argument die Bedeutung des menschlichen Körpers und das zweite die Bedeutung der Akzeptanz unterschätzt (Muramatsu in Steineck 2001: 33 f.). Von diesen Überlegungen ausgehend entwickelt Muramatsu ein eigenständiges Konzept der menschlichen Personalität, welches viele verschiedene Bausteine aus westlicher wie japanischer Philosophie miteinander kombiniert. Es ist eine sehr spannende Aufgabe, Muramatsus Ansatz in theorievergleichender Hinsicht zu untersuchen, allein, ein solches Projekt ist zu ausufernd für den hiesigen Rahmen. Daher möchte ich hier ausschließlich die Idee eines Personbegriffs darstellen, der ein Standardargument auf den Kopf stellt - und diese Idee für sich selbst sprechen lassen. 3 Muramatsu argumentiert, dass eine Person grundsätzlich durch ihren Körper konstituiert wird. Da ein Embryo ein Körper ist, verfügt er über ein Merkmal, das das Personsein mitgestaltet. Manipuliert man nun diesen Körper, so gefährdet dies das Verständnis von der körperlichen Grundlage der Personalität. Unter ‘konstituieren’ versteht Muramatsu die Akzeptanz einer Entität als Person. Aus Dingen werden also Personen, indem sie als Personen anerkannt werden. Die Grundvoraussetzung hierfür ist, dass es einen Körper gibt der anerkannt werden kann. 4 So ist es möglich, dass wir eine Entität, z. B. einen Embryo, als eine Person anerkennen, bevor die Entität tatsächlich selbst personales Verhalten zeigt. Dieses erste Anerkennen ist also die Bedingung dafür, dass Menschen sich als Personen verhalten können: Bevor man als Person handeln kann, muss man als Person behandelt werden. Muramatsu gesteht durchaus zu, dass diese beiden Aspekte, Körperlichkeit und Sozialität, nicht zwingend dazu führen, menschliche Embryonen uneingeschränkt zu schützen, allerdings zeigen sie, dass es keineswegs irrational ist, Embryonen als Personen zu behandeln. In seiner Rekonstruktion des Begriffs ‘Person’ weist Muramatsu auf insgesamt drei komplementäre Faktoren hin, die eine Personen konstituieren: Neben der Körperlichkeit und der Sozialität nennt er auch noch das Bewusstsein. Dabei weicht allerdings sein Verständnis der Begriffe, vor allem das des Bewusstseins 3 Muramatsus Ansatz und die hier dargestellten Aspekte finden sich bislang leider nur in Steineck (2005: 33-37). Muramaturs Werk (2001) zum Thema wurde noch nicht übersetzt. Weitere Einblicke in sein Gedankengebäude konnte ich bei einem persönlichen Gespräch in Tokyo im März 2013 gewinnen. Diese Erkenntnisse sind in die Darstellung mit eingeflossen. Es wird schon bei dem hier gebotenen sehr kurzen Einblick deutlich, dass Muramatsu sich auf diverse Aspekte der Arbeiten Merleau-Pointys bezieht, sich von Plessner und Aristoteles inspirieren lässt und auf Momente der Care-Ethics eingeht. 4 Es bleibt fraglich, wie der Begriff Körper hier genau verstanden werden kann bzw. sollte. Hito no seimei no hōga, oder: vom Respekt vor dem Potenzial 261 und des Körpers, zumindest von der Standardauffassung innerhalb der englisch- und großen Teilen der deutschsprachigen Debatte ab. Unter Bewusstsein fasst Muramatsu einige Aspekte zusammen, die in dieser Kombination doch eher ungewöhnlich sind: die Subjektivität der menschlichen Existenz, die moralische Autonomie und eine bestimmte Seinsweise, nämlich die der Potenzialität. Menschen sind demnach nicht dadurch charakterisiert, dass sie bei Bewusstsein sind, sondern dadurch, dass sie zu einer Sphäre der Potenzialität gehören. Die menschliche personale Existenz ist genau dadurch ausgezeichnet, durch die Reichweite ihrer Möglichkeiten. Dieser Raum der Möglichkeiten ist nicht durch externe Faktoren determiniert, auch wenn er nicht unabhängig von diesen ist. Um diese Form des Bewusstseins zu entwickeln muss der Mensch in ein soziales Netz eingebunden sein. Hier kommt also der Faktor der Sozialität ins Spiel. Der Mensch braucht soziale Beziehungen. Damit jemand also über Selbstbewusstsein oder Personalität verfügen kann, muss er bereits als Person behandelt werden. Körperlichkeit verweist nach Muramatsu auf den Körper als Ausdrucksweise der Personalität. Der Körper selbst ist gleichzeitig ein Teil der dinglichen Natur und ein Reservoir habitualisierter Fähigkeiten. Als solcher ist er immer ein Medium für und ein Produkt von Kultur. Gerade diese habitualisierten Fähigkeiten, so Muramatsu weiter, ermöglichen schließlich den menschlichen Handlungsspielraum, seine Gestaltungskraft und sein Personsein. Auffallend ist, dass in allen drei Faktoren - Bewusstsein, Sozialität und Körperlichkeit - eine Form von Potenzialität auftaucht. 5 Der Bewusstseins-Faktor versetzt die gesamte Entität in einen Raum der Möglichkeiten, dies wird ermöglicht durch den sozialen Faktor, der einen Raum der Möglichkeiten zur Verfügung stellt welcher schließlich genutzt und gestaltet werden kann durch den Faktor der Körperlichkeit. Die Potenzialität an sich - und damit auch die des Embryos - ist hier also als Bedingung der Möglichkeit der Personalität angelegt. Für den menschlichen Embryo, den ‘sprout of human life’ oder die ‘menschliche Sprosse’, gilt damit, dass gerade weil er schon bereits Teil hat am Raum der Möglichkeiten, ihm personale Eigenschaften zugeschrieben werden können. Das ist insofern interessant, als dass gerade die Potenzialitätsargumente im westlich geprägten akademischen Raum zum Teil sehr kritisch gesehen werden, bis hin zur Ansicht, dass eben die Potenzialität der Grund ist, Embryonen keinen personalen Status zuzuschreiben (Birnbacher 2006). Diese spannende Divergenz scheint mir Grund genug zu sein, sich die Argumentation rund um das Potenzial in Japan ein wenig genauer anzusehen. 5 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass das Konzept von Muramatsu hinsichtlich des Zusammenspiels der drei Faktoren etwas kryptisch bleibt, wie Steineck (2005) zurecht anmerkt. 262 Cordula Brand Potenzial und Sorgfalt Innerhalb der bioethischen Debatte in Japan finden sich einige Autoren, die das Potenzial der Embryonen, ganz im Sinne Muramatsus, stark machen - allerdings nicht so weitgehend, dass die Verwendbarkeit in der Forschung komplett eingeschränkt wäre, wie wir gleich sehen werden. Zum Beispiel vergleichen Kodama und Akabayashi (2010) die menschlichen Sprossen mit dem so genannten ‘pre-embryo’ aus der internationalen ‘westlichen’ Debatte. Der pre-embryo bezeichnet einen Embryo bevor sich der Primitivstreifen ausgebildet hat (Grobstein 1979; McCormick 1991). Dieses Konzept dient demselben Zweck wie die Idee der ‘sprouts of human life’, nämlich ein graduelles Person-Verständnis mit abgestuften Rechten argumentativ zu untermauern. Dabei stellen die Autoren allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Ansätzen fest: Die Idee des pre-embryo, der noch keine Person ist, setzt voraus, dass der Embryo tatsächlich eine Person ist - eine Idee, die vielen Verteidigern des graduellen Prinzips zu weit geht. Das Konzept ‘sprout of human life’ hingegen, so Kodama und Akabayashi (2010: FN 21) setzt eben diese Annahme nicht voraus, da es sich beim Embryo um eine Entität handelt, die in der Zukunft erst eine Person werden wird. Genau dieses Potenzial erfordert allerdings auch eine besondere Sorgfalt, da es sich, nun mit Muramatsu gesprochen, um die Bedingung der Möglichkeit der Personalität handelt. Embryonen als menschliche Sprossen sind also keine Dinge, da sie über die besondere Form der Potenzialität des Person-Seins verfügen und Teil des Raums der Möglichkeiten sind. Sie sind aber auch keine Personen, da sich die Potenzialität erst noch entfalten muss. Nun stellt sich natürlich sofort die Frage, was genau denn mit der speziellen Sorgfalt, die im Umgang mit Embryonen an den Tag gelegt werden soll, gemeint ist. Dies ist ein klassisches Problem, dass die Idee der menschlichen Sprossen mit allen graduellen Kriterienkatalogen der Personalität gemein haben. Allerdings darf man an dieser Stelle die Macht der Sprache nicht außer Acht lassen. Im Begriff ‘hito no seimei no hōga’ schwingt, so Morioka (2006) eine besondere Vorstellung dieses Potenzials mit, die bei der Übersetzung ins Englische und damit auch ins Deutsche verloren geht: When they hear the words “the sprout of human life”, many Japanese feel some kind of vigorous energy moving inside the embryo. It might be biological energy, or it might be spiritual. This energy does not mean the mere “future possibility” of becoming a person. It is something that actually exists inside the embryo. (Morioka 2006: 13) Morioka führt weiter aus, dass diese Energie verstanden werden kann als “a vigorous energy to develop and transform itself that we once were, that we came Hito no seimei no hōga, oder: vom Respekt vor dem Potenzial 263 from, and that we still have at the basis of our existence” (Morioka 2006: 15). Mit der Zerstörung dieser Energie könnten wir, so seine Befürchtung, “destroy something very important which we actually share at the basis of our lives” (Morioka 2006: 12). Der Respekt vor dieser Form des (energetischen) Potenzials als Bedingung der Möglichkeit der Personalität erfordert also die besondere Vorsicht, die im Umgang mit Embryonen aber auch mit allen anderen Formen des Seins geboten ist. Der japanische Begriff ‘hito’ (human being) selbst, wie Herbert (2011) ausführt, trägt ebenfalls eine besondere Konnotation mit sich, die mit dem energetischen Aspekt der Potenzialität verbunden ist. ‘Hito’ in seiner grundlegenden Bedeutung meint “a place where the spirit is” (Herbert 2011: 6). Diese Bedeutung wurzelt in der shintoistischen Denktradition und gibt dem Begriff ‘hito no seimei no hōga’ und der Rolle, die das Potenzial und die Sorgfalt in der japanischen Bioethik spielen nochmal eine andere Intensität. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich grundlegend vom biologistischen Verständnis des Menschen, wie er sich vor allem in graduellen Standardargumenten zur Person-Debatte findet. Gleichzeitig verfällt er nicht in das gegensätzliche Extrem eines absolut verstandenen Person-Konzepts. Indem innerhalb der japanischen Debatte ein Aspekt der Diskussion, das Moment der Potenzialität, deutlich anders gewichtet wird als in der westlichen akademischen Welt, weist diese Diskussion eine neue Perspektive auf und eröffnet einen weiteren Horizont. Es ist das Verbindende der Potenzialität, das den Reiz dieser Überlegungen ausmacht und - ganz im Sinne der Theorie, neue Denkräume schafft. Literatur Birnbacher, Dieter (2006). Das Dilemma des Personenbegriffs. In: Birnbacher, Dieter (Hrsg.) Bioethik zwischen Natur und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 53-76. Grobstein, Clifford (1979). External Human Fertilization. Scientific American 240, 57-67. Herbert, Jean (2011). Shintô. At the fountain-head of Japan. London / New York: Routledge. Horres, Robert / Ölschleger, Hans Dieter / Steineck, Christian (2006). Cloning in Japan: Public Opinion, Expert Counselling, and Bioethical Reasoning. In: Roetz, Heinz (ed.) Cross-cultural issues in bioethics. The example of human cloning. Amsterdam / New York: Rodopi, 17-49. Kodama, Satoshio / Akabayashi, Akira (2010): Neither a Person nor a Thing: The Controversy Concerning the Moral and Legal Status of Human Embryos in Japan. In: Capps, Benjamin / Campbell Alastair V. (eds.) Contested cells. Global perspectives on the stem cell debate. London / Singapore: Imperial College Press, 421-439. 264 Cordula Brand McCormick, Richard (1991). Who or what is the pre-embryo? Kennedy Institute of Ethics Journal, 1: 1, 1-15. Morioka, Masahiro (2006). The Ethics of Human Cloning and the Sprouts of Human Life. In: Roetz, Heinz (ed.) Cross-cultural issues in bioethics. The example of human cloning. Amsterdam / New York: Rodopi, 1-16. Muramatsu, Akira (2001): Hito wa itsu hito ni naru no ka: Seimei rinri kara jinkaku e. When does a human being become a human person? Toyko: Nihonhyoronsha. Steineck, Christian (2005). Japanese discussions on the concept of “person” and its function in bioethics. Journal International de Bioéthique, 16: 1, 29-40. Steineck, Christian (2008). Embryonenforschung in Japan. In: Steineck, Christian / Joung, Phillan / Döring, Ole (Hrsg.) Embryonenforschung in Japan, Korea und China. Freiburg / München: Alber, 11-50. Hirntodverständnis und Bereitschaft zur Organspende Monika Bobbert Einleitung In öffentlichen Debatten wird einerseits immer betont, dass die Organspende eine freiwillige Gabe sei. Man könne dadurch aber Leben retten. 1 Wenn ein vorgängig objektiver, da medizinisch festgestellter Hirntod zwingend als sicheres Todeszeichen angenommen wird, können Menschen, die anderen helfen wollen, unter Druck geraten, einer Organentnahme bei Angehörigen zuzustimmen oder sich zur Organspende bereit zu erklären. Zahlreiche Werbekampagnen und christliche Aufrufe zur Organspende als Ausdruck der Nächstenliebe legen nahe, dass es trotz der erklärten Freiwilligkeit unmoralisch ist, keine Organe spenden zu wollen. Gibt es gute Gründe dafür, keine Organe zu spenden? Die Themen Organspende und Hirntod sind nach wie vor nicht einfach zu behandeln. 2 Im Folgenden wird dargelegt, warum die Begründungslast, die das Hirntodkriterium zu tragen vermag, sehr viel geringer anzusetzen ist als viele Mediziner, Juristen und Ethiker meinen. Häufig wird in Debatten der Tod des Menschen einerseits durch ein gesetztes Hirntodkriterium medizinischempirisch enggeführt, und andererseits wird betont, dass christliche Nächstenliebe im Fall der Organspende ein Akt der Supererogation darstelle. Diese beiden Thesen scheinen mir nicht ganz schlüssig aufeinander bezogen zu sein. 1 Für Anregungen und Hinweise danke ich Nadia Primc. 2 Dies zeigte sich erneut bei der Vorbereitung eines Entwurfs für eine aktualisierte „Handreichung zum Thema Hirntod und Organspende“ der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), mit der die Kommission Bioethik betraut war. Innerhalb dieser Kommission gab es in Bezug auf das Hirntodverständnis und die Frage des moralischen Anspruchs der Organspendebereitschaft zwei unterschiedliche Positionen. Die Position der Organspende als Gabe mit einem medizinischen Hirntodbegriff wurde von Franz-Josef Bormann vertreten. Die Position der Autorin, die an der Vorbereitung des Entwurfs beteiligt war, schlug sich in der Handreichung der Bischofskonferenz von 2015, die sich nur wenig von der Erklärung der DBK und EKD von 1990 unterscheidet, nicht nieder. Sie wird im Folgenden dargelegt. 266 Monika Bobbert Meines Erachtens ist insbesondere die Zustimmung eines potenziellen Organspenders zum plausiblen und fachlich gut abgesicherten Ganzhirntodkriterium der Medizin ein springender Punkt und nicht lediglich ein psychisches Problem oder das Problem medizinischer Laien. Auf der anderen Seite ist die Möglichkeit der Rettung eines Menschen meines Erachtens immer mehr als eine Frage der Supererogation: Es müssen aus moralischer Sicht Belastungen und Rechte betrachtet werden. Dies heißt aber nicht, dass in jedem Fall unmittelbar eine moralische Pflicht resultiert. Moralische Rechte Die Bereitschaft zur Organspende setzt Freiwilligkeit und umfassende Informiertheit voraus. Obwohl durch Organspende das Leben anderer Menschen gerettet werden kann und man daher hinter der Aufforderung zur Organspende eine Pflicht vermuten könnte, 3 ist der Begriff der Spende und weniger der Begriff der Pflicht aus moralischer Sicht angemessen. 4 Denn jeder Mensch hat das moralische Recht auf Schutz des Lebens bis zu seinem vollständigen Ende und das Recht auf physische und psychische Integrität. In Bezug auf die Sterbephase, innerhalb der der Hirntod einen Zeitpunkt, nicht jedoch den Endpunkt darstellt (siehe Denkhaus / Dabrock 2012: 142, Höfling 2012: 168 f.). gebietet die Achtung der Menschenwürde, dass ein Mensch nicht nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck behandelt wird. Nur unter zuverlässiger Einhaltung dieser Normen und der entsprechenden Umsetzungsregeln dürfen wir bei einem irreversiblen Organausfall das Organ eines anderen Menschen annehmen. 5 3 So besteht beispielsweise laut Steigleder (2006) eine grundsätzliche Pflicht zur Organspende, die allerdings Ausnahmen zulässt. Als mögliche Ausnahmen begründende Umstände nennt Steigleder u. a. religiöse Ansichten, die Bedürfnisse von Angehörigen oder aber auch die Überzeugung, dass der Hirntod nicht ohne weiteres mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden kann. 4 Übereinstimmende Einschätzungen finden sich unter anderem bei Eibach (2013: 527 ff.); Deutsche Bischofskonferenz und Rat der Evangelischen Kirchen Deutschlands (1990); Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland (2014); Deutsche Bischofskonferenz (2015). 5 Aus der Einschätzung, dass der Eintritt des Hirntodes nur einen Zeit-, nicht aber den Endpunkt des Sterbeprozesses darstellt, folgt noch nicht per se (wie etwa Schumacher 2013 dies vertritt), dass die Organentnahme bei hirntoten Patienten dann als unzulässig anzusehen ist, d. h. dieselben in diesem Fall als bloßes Mittel gebraucht werden (vgl. Stoecker 2012: 113 ff, Eibach 2013: 517). Die derzeit in Deutschland geübte Praxis, nämlich in Anschluss an die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Feststellung des Hirntodes (Bundesärztekammer 2015) den Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen, stellt eine verkürzte Darstellung des gegenwärtigen Diskussions- und Forschungsstandes dar. Die Debatte um die Hirntoddefinition wird insbesondere seit dem 2008 vom President's Council on Bioethics veröffentlichtem White Paper wieder verstärkt geführt - ein ausführlicher und kritischer Kommentar zum White Paper und Hirntodverständnis und Bereitschaft zur Organspende 267 Subjektive Betrachtung des Todes Zum eigenen Sterben können wir keine Erfahrungen sammeln, die man als „empirisch“ bezeichnen kann, auch wenn es vielleicht Situationen der Vorwegnahme des Sterbens im Bewusstsein gibt (siehe Mieth 2013). Auf der anderen Seite machen wir Erfahrungen mit Anderen, die sterben, mit der Betrachtung des Todes von außen. Diese Betrachtung kann empirisch (objektiv messbare Daten), existentiell (Angst- oder Gelassenheitsphänomene) oder spekulativ (z. B. auf der Grundlage von philosophischen und / oder theologischen Denkmodellen) sein. Eine subjektive Betrachtung des Todes fragt danach, wann ich mich selbst für tot erachten würde. Der Tod hat also eine individuelle Seite, die sich nicht durch empirische Daten ersetzen und auch nicht ohne weiteres auf Andere anwenden lässt. Dass unser Todesverständnis eine irreduzible subjektive Seite hat, ist zum Teil darauf zurückzuführen dass „der Tod begrifflich eng zum Leben gehört: Wer tot ist, lebt nicht mehr, und wer nicht mehr lebt, ist tot“ (Stoecker (2012: 103). Der Begriff des Lebens weist unterschiedliche Komponenten auf, die sich nicht alle auf eine rein biologische Definition (Stoffwechsel etc.) reduzieren lassen. Zu nennen ist hier z. B. die individuelle, biographische Komponente des Begriffes 'Leben', welche Leben als die Summe unserer (subjektiven) Erlebnisse fasst. Diese irreduzible Komplexität des Begriffs Leben überträgt sich notgedrungen auch auf den ihm gegenübergestellten Begriff des Todes, d. h. dieser kann ebenso wenig auf seine biologische Komponente reduziert werden. Im Bereich der Organtransplantation überwiegt die empirische Betrachtung irreversibler Anzeichen des Sterbens, mit Hilfe derer wir den „Tod“ punktuell zu definieren versuchen. Aber bereits auf empirischer Ebene zeigen sich Divergenzen, etwa angesichts national unterschiedlicher biologischer Todesdefinitionen und medizinischer Kriterien der Organentnahme. Zwar kann der Ganzhirntod als empirisch-naturwissenschaftliche Signatur der Unumkehrbarkeit eines begonnenen Sterbeprozesses beibehalten werden, doch erfasst das empirische Paradigma das Phänomen des menschlichen Sterbens und Todes nicht ausreichend. 6 Es gab und gibt vielfältige kulturelle, philosophische und theologische Todesverständnisse. Die Hirntoddefinition ist eine demokratisch legitimierte Konvention, 7 die mittels medizinischer Kriterien operationalisiert wird. der dazugehörigen Debatte findet sich bei Feindegen / Höver (2013); vgl. zudem Müller (2010). 6 Dies trifft auch dann zu, wenn man - wie Schockenhoff (2012: 124) dies vorschlägt - den Hirntod nicht mit dem Tod des Menschen gleichsetzt, sondern diesen lediglich als zweifelsfreies Anzeichen dafür ansieht, dass der Tod des Menschen bereits eingetreten ist. 7 Zur Entstehungsgeschichte des Hirntodkriteriums siehe Baron et al. (2006). 268 Monika Bobbert Gesellschaftliche Festlegung einer Todesdefinition Da sich nur in Bezug auf eine vorausgesetzte Todesdefinition beurteilen lässt, ob ein Todeskriterium akzeptabel ist, 8 sollte eine gesellschaftliche Festlegung wie die des Hirntods einerseits die Organentnahme gestatten, andererseits aber Freiheit für individuelle Todesdefinitionen bewahren. Gesellschaftliche Erwartungen oder die moralische Abqualifizierung von Nicht-Spendern würden die Entscheidungsfreiheit jedes Menschen, ob er im Sterben zum Zeitpunkt des Hirntods Organe spenden möchte, zu Unrecht einschränken. Weil jedoch mit einer Organspende das Leben von Menschen gerettet werden kann, sollten sich Bürgerinnen und Bürger zur Frage der Organspende einen Willen bilden und diesen nach Möglichkeit schriftlich oder mündlich kommunizieren. Denn wir können letztlich nicht vertreten werden, wenn es um unsere individuellen Vorstellungen von Sterben und Tod und um die Bereitschaft geht, im eigenen Sterben für das Weiterleben anderer Menschen zu sorgen. Nachdenken über Organspende als moralische Aufgabe Sich mit der Frage der Organspende zu befassen und die Entscheidung für oder gegen die Organspende zu kommunizieren, stellt eine moralische Aufgabe dar: Zum einen darf uns das Nachdenken über diese Frage zugemutet werden, weil sich durch Organspende Menschenleben retten lassen. Zum anderen sollten wir unsere Angehörigen vor Belastungen bewahren. Denn angesichts der rechtlich geltenden erweiterten Zustimmungslösung (Entscheidungslösung) werden sie im Falle des eingetretenen Hirntods und bei fehlender Willensbekundung seitens des Patienten nach dessen mutmaßlichen Willen gefragt. Ungeachtet des Ergebnisses ihrer Mutmaßungen über den Willen des Betroffenen werden sie ihre Auskünfte als große Verantwortung oder Belastung empfinden und später möglicherweise daran zweifeln, ob sie wirklich im Sinne des Verstorbenen entschieden haben. 9 8 Streng genommen gilt es beim medizinischen Hirntodkonzept nochmals drei Ebenen zu unterscheiden: (1) die Todesdefinition, d. h. in diesem Fall als irreversibler Ausfall der integrierenden Funktionen oder Selbsterhaltungsfunktionen des Organismus als Ganzem, (2) das Todeskriterium, d. h. der irreversible Ausfall der Funktionen des Gesamthirns oder des Hirnstammes und (3) die Ebene der diagnostischen Tests, welche es ermöglichen sollen, den Ausfall der Hirnfunktionen und damit den Tod medizinisch festzustellen. 9 Zu den Schwierigkeiten des Konstruktes des 'mutmaßlichen Willens‘, siehe Himpsl / Schmidt-Petri (2013); Bobbert (2012). Zur Sicht der Angehörigen auf die schwierige Entscheidung für oder gegen eine Organspende siehe Donauer (2012). Hirntodverständnis und Bereitschaft zur Organspende 269 Erweiterte Zustimmungslösung als guter Kompromiss? Die erweiterte Zustimmungslösung (Entscheidungslösung) als Kompromiss zwischen Selbstbestimmung und Lebensrettung kommt allerdings angesichts der neuen Möglichkeit, schwerkranke Patienten am Ende des Lebens entweder „patientenorientiert“, d. h. palliativ, oder aber „spendeorientiert“ zu behandeln, an ihre Grenzen (siehe Schöne-Seifert et al. 2011). Die grundsätzliche Frage, ob man Intensivpatienten mit neurologischen Schäden und der Möglichkeit eines demnächst eintretenden Hirntods anders behandeln darf, obwohl der Ausgang noch offen ist und im günstigsten Fall eine Besserung eintreten könnte, darf weder von Angehörigen noch von Ärzten entschieden werden. Denn Vertretungsvarianten (vgl. Betreuungsgesetz) oder ein Konstrukt wie der „mutmaßliche Wille“ würden hier zu kurz greifen. Vielmehr sollte für eine „spendeorientierte“ Behandlung im Vorfeld eines potenziellen Hirntods, die neben maximaler intensivmedizinischer Weiterbehandlung auch eine Reanimation umfassen könnte, nur dann durchgeführt werden, wenn die Betroffenen selbst vorab eine Entscheidung gefällt haben - in Form einer Patientenverfügung mit entsprechenden Zusatzerläuterungen zur Organspendebereitschaft oder in einem dahingehend präzisierten Organspendeausweis. Voraussetzungen eines Aufrufs zur Organspende Der Aufruf zur Organspende beinhaltet also zum einen, sich mit der Ganzhirntoddefinition und mit der Zuverlässigkeit medizinischer Kriterien für den Ganzhirntod einverstanden zu erklären, und zum zweiten, der Entnahme von Organen zuzustimmen. Zum dritten beinhaltet er neuerdings - wie oben erwähnt - Fragen der Behandlung potenzieller Organspender im „Präfinalstadium“, d. h. der Hirntod ist entweder noch nicht diagnostiziert oder noch nicht eingetreten. Nur eine umfassende, auch die strittigen Aspekte thematisierende Aufklärung der Bevölkerung kann die Grundlage für ein Ja oder Nein zur Organspende sein. Häufig jedoch erfolgen aus dem Ethos des Heilens heraus Informationen über Organspende mit dem Ziel, die Organspendebereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen - trotz der Forderung des Transplantationsgesetzes nach einer ergebnisoffenen Aufklärung (§ 2 TPG Abs. 1). Der Tendenz, aus Gründen des Werbens für die Organspende schwierige Fragen der Organtransplantation zu umgehen, muss jedoch entgegengewirkt werden. Die Bereitschaft zur Organspende kann nur als informiert und freiwillig erachtet werden, wenn der Hirntod als Todesdefinition, der Umfang des entnehmbaren Organ- und Körpermaterials und die Belastungen der Spender und ihrer Angehörigen sowie der Empfänger und der 270 Monika Bobbert Mitarbeiter des Gesundheitswesens genannt und öffentlich diskutiert werden. Dazu zählt außerdem die Diskussion der hohen Priorität der Transplantationsmedizin in der Gesundheitsversorgung und möglicher Wege der Bedarfssenkung durch Präventionsmaßnahmen (siehe Bobbert 2014) wie Gesundheitsunterricht in den Schulen, Regelungen für die Nahrungsmittelindustrie und Sekundärprävention bei Übergewicht und Alkoholabusus und nicht zuletzt das Problem des internationalen Organhandels, der mit einem Wohlstands- und Bildungsgefälle verbunden ist. Unabhängige Struktur der ergebnisoffenen Information und Beratung Eine von unmittelbaren Transplantationsinteressen unabhängige institutionelle Struktur zur Information und zur Entscheidungsfindung der Bürgerinnen und Bürger im Vorfeld stellt ein Desiderat dar. Reflektierte Beratung in Bezug auf einen Organspendeausweis sollte daher in unabhängigen Beratungsstellen erfolgen, deren Mitarbeiter über psychische, soziale und medizinische Kenntnisse verfügen. Eine ergebnisoffene Aufklärung, die mit der Fähigkeit einhergeht, sich den Ambivalenzen der Organspende zu stellen, ist besonders wichtig, wenn Angehörige nach dem mutmaßlichen Willen eines hirntoten Patienten gefragt werden. Für eine unabhängige Information und eine psychische und seelsorgerliche Begleitung der Angehörigen während und nach einer Explantationsentscheidung sollten öffentliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Die Förderung einer offenen und ehrlichen Diskussion ist auch im Sinne derjenigen, die vornehmlich an einer Erhöhung der Spendebereitschaft interessiert sind. Eine Erhöhung der Spendebereitschaft kann auf lange Sicht nur mit Hilfe vertrauensbildender Maßnahmen erreicht werden, wozu auch das offene Ansprechen von Unsicherheiten, wie etwa bei den Fragen rund um das Hirntodkriterium, gehört. Ethik in Aus- und Weiterbildung von Ärzt(inn)en und Pflegekräften Eine Organspende, die für zahlreiche Beteiligte erhebliche Belastungen mit sich bringt, basiert auf dem Vertrauen in ein zuverlässig funktionierendes Verteilungsverfahren, das in erster Linie durch die ethischen Normen Bedürftigkeit und Chancengleichheit gerechtfertigt ist. Die Bereitschaft zur Organspende beruht auf dem Vertrauen, dass das Verteilungsverfahren unabhängig ist von ökonomischen Interessen oder Menschenrechtsverletzungen im Zusammen- Hirntodverständnis und Bereitschaft zur Organspende 271 hang mit Organhandel. Diesem Vertrauen müssen die behandelnden Ärzte und Ärztinnen gerecht werden, indem sie die Verteilungsregeln umsetzen. Dies ist deshalb nicht leicht, weil der traditionellen Arzt-Patient-Beziehung angesichts der Betroffenheit ferner Dritter Grenzen (in Form von Verfahren und Kriterien der Organzuteilung) gesetzt werden. Um die entsprechenden ethischen Normen und Begründungen nachvollziehen zu können und um auf psychische, interpersonelle und institutionelle Probleme der Umsetzung vorbereitet zu sein, bedarf es medizinethischer Unterrichtseinheiten in der Aus- und Fortbildung von Ärzt(inn)en und Pflegekräften. Insgesamt sollten die Bemühungen um Explantation und Transplantation von einer Sterbekultur in den Kliniken umrahmt sein. Kliniken sollten wieder wie in früheren Jahrzehnten dazu übergehen, ihr ärztliches und pflegerisches Personal im Umgang mit Sterben und Tod im Krankenhaus fortzubilden. Literatur Baron, Leonard / Shemie, Sam D. / Teitelbaum, Jeannie / Doig, Christopher James (2006). Brief review: History, concept and controversies in the neurological determination of death. Canadian Journal of Anesthesia, Bd. 53, Nr. 6, 602-608. Bobbert, Monika (2012). Ethische Fragen medizinischer Behandlung am Lebensende, in: Eckart, Wolfgang U. / Anderheiden, Michael (Hg.) Handbuch Sterben und Menschenwürde Bd. 2, Berlin: de Gruyter, 1099-1114. Bobbert, Monika (2014). Alternativen zur Organtransplantation: Prävention eines irreversiblen Organversagens als medizinische und ethische Herausforderung, In: Hilpert, Konrad / Sautermeister, Jochen (Hg.), Organspende. Herausforderung für den Lebensschutz, Freiburg / Br., 349-359. Bundesärztekammer ( BÄK ) Richtlinien zur Feststellung des Todes nach § 3 TPG und Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen Ausfalls der Gesamtfunktion des Gehirns.. Deutsches Ärzteblatt, Bd. 112, Nr. 27-28, A-1256 ff oder DOI: 10.3238/ arztebl.2015.rl_hirnfunktionsausfall_01 Denkhaus, Ruth / Dabrock, Peter (2012). Grauzonen zwischen Leben und Tod. Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit in der Debatte um das Hirntod-Kriterium. Zeitschrift für medizinische Ethik, Bd. 58, 135-148. Deutsche Bischofskonferenz. Handreichung zum Thema Hirntod und Organspende Juli 2015. Quelle: http: / / www.dbk-shop.de/ media/ files_public/ piyiecpbc/ DBK_1241.pdf (Stand: 24. 10. 2016) Deutsche Bischofskonferenz; Rat der EKD (1990). Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evanglischen Kirche Deutschlands ( EKD ) zu Organtransplantationen. Abrufbar unter: http: / / www.ekd.de/ EKD-Texte/ organtransplantation_1990.html (Stand: 24. 10. 2016) 272 Monika Bobbert Donauer, Marita (2012). ‚Plötzlich betroffen und entscheiden müssen‘. Erfahrungen mit der Organspende aus der Angehörigensicht. Zeitschrift für medizinische Ethik, Bd. 58, 183-189. Eibach, Ulrich (2013). Organspende: Moralische Pflicht und Akt der Nächstenliebe? Eine theologisch-ethische und seelsorgerliche Sicht. Wege zum Menschen, Bd. 65, 515-534. Feindegen, Norbert / Höver, Gerhard (2013). Der Hirntod - Ein ‚zweites‘ Fesnster auf den Tod des Menschen? Zum Neuansatz der Debatte um das neurologische Kriterium durch den US -Biorat. Würzburg: Königshausen & Neumann. Himpsl, Franz / Schmidt-Petri, Christoph (2013). Herz und Nieren der Moral. Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 07. 05. 2013, 13. Höfling, Wolfram (2012). Tot oder lebendig - tertium non datur. Eine verfassungsrechtliche Kritik der Hirntodkonzeption. Zeitschrift für medizinische Ethik, Bd. 58, 163-172. Mieth, Dietmar (2013). Beitrag Organtransplantation als Problem ethischer Verantwortung. Ein Essay 2013. Müller, Sabine (2010). Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik. Ethik in der Medizin, Bd. 22, 5-17. Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland ( OBKD ) (2014). 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Die medizinische Re-Konstruktion von Körpern im Zusammenspiel mit der Technik der klinischen Endoskopie Céline Gressel Die moderne medizinische Diagnostik ist heute kaum noch ohne den Einsatz technischer Artefakte denkbar. Ein Grund dafür ist, dass diese den Mediziner- Innen einen spezifisch professionalisierten Blick auf und in die PatientInnenkörper ermöglichen. Diese Form des „medizinischen Blicks“ (Foucault 1973) geht mit der medizinischen Umdeutung und Re-Konstruktion der PatientInnenkörper einher. Die Wahrnehmung von Körpern wird immer von gesellschaftlichen Faktoren geprägt, sie werden sozial gedeutet und in den ihnen so zugeschriebenen Bedeutungen wirksam. Das zeigt sich schon daran, wie unterschiedliche Funktionen und Teile des Körpers im Wandel der Epochen und Kulturen als natürlich angenommen werden (vgl. Gugutzer 2015: 8). Das Wissen und die Bilder über Körper werden durch gesellschaftliche Strukturen, Werte und Normen, Technologien und Ideensysteme geprägt (vgl. ebd.). Die Bedeutungszuschreibungen und Definitionen von Körpern variieren folglich auch situationsspezifisch. Bei der klinischen Endoskopie des Verdauungstraktes 1 werden die Körper der PatientInnen in einer ganz besonderen, der Medizin eigenen, Art und Weise wahrgenommen und behandelt 2 . Damit die Körper regelgerecht untersucht 1 Dieser Text basiert auf den Ergebnissen der Analysen mehrerer Beobachtungsprotokolle, die ich im Rahmen meiner Abschlussarbeit in einem großen Kreiskrankenhaus durchführte. 2 Bei der Endoskopie (Spiegelung) werden Körperhöhlen und / oder Hohlorgane untersucht. Parallel zur Untersuchung können auch kleinere Eingriffe vorgenommen werden. Die Untersuchungen, auf die ich mich hier beziehe, fanden auf der Station für Endoskopie, in einem Krankenhaus statt. Ich beobachtete Magen- und Darmspiegelungen, und ERCPs (Endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie = endoskopische Untersuchung des Gallengangs und / oder der Bauchspeicheldrüse. Bei dieser Untersuchung kommt neben der herkömmlichen Endoskopie zusätzlich Röntgentechnik zum Einsatz). Die PatientInnen kamen mit unterschiedlichen Beschwerden zur Untersuchung, die bei einer Vorbesprechung erfragt wurden. Die von mir beobachteten Eingriffe dienten der 274 Céline Gressel werden können, müssen sie bestimmte Anforderungen erfüllen. Diesen Anforderungen gemäß werden die Körper unter Zuhilfenahme spezieller Techniken manipuliert und angepasst. Dadurch werden die Körper umgedeutet und medizinisch re-konstruiert. So werden medizinisch verfügbare Körper hergestellt d. h. es werden „anatomische Körper“ (Hirschauer 2004) erzeugt. Die Zusammenarbeit mit Technik erleichtert es dem medizinischen Personal, den anatomischen Körper herzustellen. Gleichzeitig stellen Technik und Medizin Anforderungen an die PatientInnen und an das medizinische Personal selbst, die sich in ihren Auswirkungen auf die Körper aller an der Untersuchung beteiligten beobachten lassen. Die Zurichtung der Körper In technische Artefakte sind immer bestimmte Handlungsaufforderungen und Programme eingeschrieben. Diese beinhalten und vermitteln Prädispositionen ihrer Nutzung. So ermöglichen und begrenzen sie die Optionen der NutzerInnen im Umgang mit ihnen. Verstärkt werden die in den Programmen vermittelten Umgangs- und Gebrauchsweisen durch die Widerständigkeit der Artefakte, die sich in ihrer Materialität begründet. Damit die Interaktion mit Technik gelingen kann, müssen die menschlichen AkteurInnen den ihnen so oktroyierten Regeln gehorchen, was sich unmittelbar auf ihr Verhalten und auf ihre Körper auswirkt. Dies erinnert stark an Foucaults Begriff der „Disziplinierung“ (Foucault 2014). Disziplinierung, in Foucaults Sinn, macht den menschlichen Körper durch Manipulation, Formierung und Dressur nutzbar (vgl. Foucault 2014: 174). Kennzeichnend für diesen Begriff der Disziplinierung ist, dass sie längerfristige Wirkungen auf Verhaltensweisen der menschlichen AkteurInnen hat, die sich ebenso auf andere übertragbare Situationen erstrecken. Im Fall der endoskopischen Untersuchung des Verdauungstraktes sind die Auswirkungen der Technik auf die Körper der PatientInnen jedoch zeitlich begrenzt. Deshalb sind sie nicht als Formen von Disziplinierungen, sondern als „Zurichtungen“, wie von Burri (2008) vorgeschlagenen, zu verstehen. Zurichtungen müssen, im Gegensatz zu Disziplinierungen, keine Konsequenzen auf langfristige Verhaltensänderungen haben. So kann man auch dann von Zurichtungen sprechen, wenn sie nicht bewusst wahrgenommen werden. Bilderzeugung und der Entnahme von Biopsien. Die hergestellten Bilder und die Ergebnisse der histologischen Untersuchung der biopsierten Präparate bildeten die Grundlage der weiteren Diagnostik. In einigen Fällen wurden kleinere Eingriffe während der Untersuchung vorgenommen. Alle von mir beobachteten PatientInnen waren während der endoskopischen Untersuchung sediert. Die medizinische Re-Konstruktion von Körpern 275 Eine weitere Besonderheit bei der medizinischen Endoskopie ist, dass die Technik nicht nur auf ihre NutzerInnen -also das medizinische Personalzurichtend wirkt, sondern auch auf eine dritte Partei, die PatientInnen. Die PatientInnen selbst handeln nicht aktiv mit der Technik. Trotzdem gipfelt die Zurichtung, in einer der striktesten Formen körperlicher Formierung, gerade in ihrer Wirkung auf sie. Nämlich in der Sedierung 3 der PatientInnen 4 . Die Sedierung führt zu einer absoluten Ausquartierung der PatientInnen aus ihren Körpern, was eine Trennung der Person (als Individuum) von ihrem Körper (als Hülle) zur Folge hat. Die PatientInnen, deren Befinden eigentlich im Mittelpunkt der Untersuchung steht, können so vollständig aus der Tätigkeit des Untersuchens herausgenommen werden. Durch die Sedierung wird der PatientInnenkörper für die Untersuchung in besonderem Maße verfügbar gemacht. Er wird immobilisiert (vgl. Burri 2008: 187), kann also nicht mehr willentlich von den PatientInnen, sondern nur noch von außen bewegt werden und kann so für die Untersuchung gedreht, gezogen und (bei der Entnahme von Biopsien) sogar verletzt werden, ohne dass die PatientInnen etwas davon bemerkten oder sich dagegen wehren könnten. Ausquartierung Hirschauer (2004) bezeichnet die Loslösung der Personen von ihren Körpern als „Ausquartierung“. Dieser Prozess lässt sich, meinen Beobachtungen zu Folge, in drei Schritte gliedern. 1. Ablegen der Individualität 2. Kontrolle über die Körperfunktionen abgeben 3. Sedierung → Verlust des Bewusstseins Diese Schritte laufen nicht immer strikt voneinander getrennt ab. Besonders Schritt 1 und 2 können sich in der Praxis überschneiden. Der erste Schritt, das Ablegen der Individualität, beginnt schon bevor die Pflegekraft der Endoskopie den Körper auf die Untersuchung vorbereitet. Schon die Kleidung, die die PatientInnen während des Eingriffes tragen müssen, ist stan- 3 Die Sedierung ist eine Form der Anästhesie. Sie dient der Herbeiführung eines Bewusstseinsverlustes der PatientInnen. Dazu wird den PatientInnen ein Hypnotikum (in den von mir beobachteten Fällen zumeist Propofol) injiziert. Im Fall der Endoskopie kann auf die Analgesie (Hemmung des Schmerzempfindens) und die Relaxation (künstliche Herbeiführung der Muskelentspannung) verzichtet werden. 4 Technisch sind endoskopische Untersuchungen auch ohne Sedierung möglich und werden von manchen Ärzten auch so durchgeführt. In den von mir beobachteten Fällen wurden alle PatientInnen für diese Art der Untersuchung sediert. 276 Céline Gressel dardisiert und auf die Untersuchung abgestimmt. Für die Koloskopie 5 tragen sie ein hinten geöffnetes OP Hemd und eine transparente Netzunterhose, die ebenfalls hinten offen ist. Die stationär aufgenommenen PatientInnen werden dort bereits am Morgen entsprechend eingekleidet. Die ambulanten PatientInnen müssen ihre persönliche Kleidung und den gesamten Schmuck ablegen sobald sie den Untersuchungsraum betreten haben. Damit wird schon im Vorfeld der eigentlichen Untersuchung ein Teil der Persönlichkeit abgelegt. Darauf folgt die technische Vorbereitung auf die Untersuchung. Zu diesem Zeitpunkt sind die PatientInnen noch nicht sediert und somit noch bei Bewusstsein. Die Pflegekräfte verkabeln die Körper der PatientInnen, schließen sie an Schläuche an und legen bzw. prüfen den venösen Zugang zum Blutkreislaufsystem. Sie sprechen dabei fortwährend mit den PatientInnen über das, was als nächstes geschieht, beantworten alle Fragen und wirken so beruhigend auf die PatientInnen ein. Langsam aber sicher übernimmt die Pflegekraft mehr und mehr die Kontrolle über die Handlungen und die Körper der PatientInnen. Der letzte Schritt, hin zur vollständigen Ausquartierung, ist die Injektion des Narkosemittels, die dazu führt, dass die PatientInnen binnen Sekunden das Bewusstsein verlieren. Der Körper ist nun vollständig für die Untersuchung vorbereitet. Folgen der Ausquartierung Durch die vorübergehende Loslösung des Körpers von der Person wird er von seiner Funktion als „Symbol und Container von Personen […] (die) kulturell intakt gehalten werden müssen“ (Hirschauer 2004: 79, Hervorhebungen im Original) entbunden. Es steht nicht mehr die PatientIn, als Person, im Fokus der Untersuchung, sondern der ‚leere‘ Körper, der wie ein Objekt behandelt werden kann. So muss die kulturelle Intakthaltung der Personen während des Eingriffs nicht mit großem Arbeitsaufwand gewährleistet werden, was ohnehin nicht vollständig erreichbar wäre. Ein Ausklinken aus den gesellschaftlich anerkannten Interaktionsritualen wird möglich. Dadurch ist das medizinische Personal nicht mit der Herstellung von Interaktionen mit den PatientInnen belastet, sondern kann sich gänzlich auf die Durchführung der Untersuchung konzentrieren. Verhaltensregeln und Tabus, die von allen Beteiligten eingehalten werden so lange die Person ‚anwesend‘ ist, werden durch diese Trennung teilweise hinfällig. So verschieben sich während der Untersuchung beispielsweise die Schamgrenzen. Das Entweichen von Luft aus dem Darm z. B. ist in dieser 5 Spiegelung des Dickdarms. Die medizinische Re-Konstruktion von Körpern 277 Situation völlig normal und am Ende der Untersuchung unumgänglich und sogar erforderlich 6 . Bei Eingriffen ohne Sedierung erfolgt die ‚Ausquartierung‘ über die Konstruktion einer „Un-Person“ (Heimerl 2006). Dazu fokussieren sich die ÄrztInnen allein auf den Körper. Durch eine Form professionell gerichteter Aufmerksamkeit, die sich einzig auf die Wiederherstellung der Funktionalität der Körper richtet, kann es ihnen gelingen, den PatientInnen als Personen nicht zu nahe zu kommen (vgl. Heimerl 2006: 388). Auch hier wird der Körper getrennt von der Person betrachtet. Dies gestaltet sich jedoch sehr aufwändig und bedeutet eine Gratwanderung zwischen der medizinisch hinreichenden Behandlung des Körpers und den Interaktionen mit der Person und ihrer kulturellen Intakthaltung (vgl. Heimerl 2006: 377 f.). Daraus folgt ein enormer Mehraufwand für das medizinische Personal. Durch die Sedierung muss diese Herstellungsleistung nicht erbracht werden. Verschaltung und räumliche Verteilung Bereits während des Prozesses der Ausquartierung der PatientInnen aus ihren Körpern, werden diese mit Verbindungen zu technischen Artefakten ausgestattet und mit Technik verschaltet. Die Verschaltung geht bis tief ins Innerste des Körpers: Das Endoskop wird durch natürliche Körperöffnungen in den Verdauungstrakt eingeführt; der Sensor des Überwachungsmonitors misst die Vitalparameter, die essentielle Körperfunktionen repräsentieren; der venöse Zugang schafft eine direkte Verbindung von der Umwelt zum Blutkreislaufsystem der PatientInnen. Nach der Ausquartierung der PatientInnen aus ihren Körpern übernimmt Technik die Aufgabe, Auskunft über den körperlichen Zustand der PatientInnen zu erteilen. Die Vitalparameter werden auf den Überwachungsmonitor ausgelagert, der Verdauungstrakt auf den Bildschirm und die Krankengeschichte der PatientInnen auf die PatientInnenakte im PC . So werden die Körper der PatientInnen gewissermaßen räumlich verteilt, gleichzeitig werden sie dadurch an den Untersuchungsraum gebunden. Aufgabe des medizinischen Personals ist es dabei, alle Bereiche im Blick zu behalten, zu kontrollieren und zu koordinieren. Auch die Körper der ÄrztInnen werden mit denen der PatientInnen und mit Technik verschaltet und räumlich verteilt. Während des Eingriffs halten sie das Endoskop in Händen und bewegen dieses vor ihrem eigenen Körper. Dabei 6 Verbleibt die Luft im Darm hat das starke Schmerzen zu Folge. 278 Céline Gressel erzielen sie eine Wirkung im Inneren der PatientInnenkörper, nehmen diese aber außerhalb (auf dem Bildschirm) wahr. ÄrztIn und Endoskop bilden eine handelnde Einheit. Vermittelt durch das Endoskop werden so Abbilder der PatientInnenkörper erzeugt, die es dem medizinischen Personal ermöglichen, in das Innere der PatientInnenkörper zu schauen und dort durch ihr Handeln verändernd zu wirken. Die Länge und Flexibilität des Endoskops erweitert den räumlichen Bereich, in dem sie handeln können. Das Endoskop ist aber Gleichzeitig nur so lang, dass die ÄrztInnen sich nicht von den PatientInnenkörpern entfernen können. Folglich werden die ÄrztInnen durch diese Verbindung räumlich eingeschränkt. Sie können das Endoskop auch nicht einfach loslassen ohne Verletzungen der PatientInnen zu riskieren. Damit ist ihre Bewegungsfreiheit im Raum stark vermindert. Die aktiv handelnde Arzt-Endoskop-Einheit und der passive PatientInnenkörper sind die Hauptakteure der Bilderzeugung (vgl. Burri 2006: 437). Die Aufgabe der Pflegekraft ist die Assistenz. Sie kann sich als einzige relativ frei im Raum bewegen und ist deshalb für die Überwachung und Bedienung des Überwachungsmonitors und des PC s, sowie der Beschaffung der Materialen zuständig. Trotzdem ist auch sie an die Nähe zur ÄrztIn und zum PatientInnenkörper gebunden. Wenn die Pflegekraft sich aus dieser Konstellation entfernt, führt dies zu Irritationen und Problemen bei der Fortsetzung des Eingriffes. Es findet also eine „Verschaltung der Körper“ (Burri 2006: 436) aller Beteiligten miteinander und mit der Technik statt. Dadurch entsteht eine ganz spezifische Raumsituation, und daraus folgend eine charakteristische Wahrnehmung der im Raum verteilten PatientInnenkörper: Die Behandelnden sehen zwar die vom Endoskop erzeugten Bilder, also Repräsentation des Körperinneren, außerhalb des Körpers auf einem Bildschirm, können sich aber trotzdem nicht vom Körper der PatientIn entfernen. Die Blicke sind nach oben auf den Bildschirm gerichtet, während die Hände unten, außerhalb des PatientInnenkörpers, arbeiten. Der Effekt dieser Arbeit wird jedoch, vermittelt durch das Endoskop, im Inneren des Körpers erzielt. Die eingesetzten Bildschirme und Monitore spielen in dieser Konstellation eine tragende Rolle. Sie dienen der Strukturierung der Verteilung der Patient- Innenkörper, denn sie zentrieren die räumlichen Praktiken der AkteurInnen. Sie wirken wie „Kristallisationspunkte, welche die Bewegungen der Körper im Raum und damit die sozialen Formationen während der Arbeit orchestrieren“ (Burri 2008: 136). Dadurch entsteht eine spezielle Anordnung der Körper im Raum. Sie befinden sich räumlich sehr eng aufeinander, der Fokus der Aufmerksamkeit der Untersuchenden liegt jedoch während der gesamten Untersuchung außerhalb dieser räumlich zentralen Konstellation, nämlich auf den Die medizinische Re-Konstruktion von Körpern 279 Bildschirmen und Monitoren, die das Innere des PatientInnenkörpers extern repräsentieren. Anforderungen an die PatientInnenkörper Die Untersuchung stellt an die Köper der PatientInnen die Anforderung „eine[…] spezifische[…] Form körperlicher Unversehrtheit“ (Burri 2006: 432) aufzuweisen. Es werden in gewissem Maße genormte Körper voraussetzt (vgl. ebd.), die den medizinisch konsentierten Annahmen über Normalität entsprechen. Weiterhin werden die Körper während der Untersuchung nicht individuell wahrgenommen, sondern durch die Herstellung ‚anatomischer Körper‘ umgedeutet. Diese Herstellung erfolgt zunächst nicht in der manuellen Veränderung der PatientInnenkörper, sondern ist vordergründig eine Wahrnehmungsleistung der ÄrztInnen. Das, was die sie während der Untersuchung auf dem Bildschirm sehen, vergleichen sie laufend mit den idealtypischen Vorstellungen davon, wie menschliche Körper und ihre Strukturen anatomisch aussehen. Das Wissen über die Anatomie der menschlichen Körper erwerben die ÄrztInnen aus Büchern und Erfahrungen in ihrer Arbeit. Das in den Büchern vermittelte Wissen und die darin enthaltenen Bilder, wie auch die Erfahrungen während des Studiums, werden zum größten Teil nicht durch Untersuchungen an lebenden PatientInnen gewonnen, sondern durch Studien an Leichen (vgl. Hirschauer 2004: 85). Dieser „imaginäre anatomische Körper wird in ihm [dem PatientInnenkörper, C. G.] gesucht und an ihm geschaffen“ (Hirschauer 2004: 85). Der Begriff des „Erschaffens“ bezieht sich bei Hirschauer auf die Präparation von Organen bei chirurgischen Operationen. Die PatientInnenkörper werden dort so präpariert, dass sie so exakt wie möglich mit der Vorstellung des anatomischen Körpers übereinstimmen. So werden Organe erst sauber herauspräpariert, bevor sie behandelt werden. Bei der endoskopischen Untersuchung des Verdauungstraktes ist eine Präparation der organischen Strukturen nur in seltenen Fällen notwendig, wird aber durchaus auch praktiziert. Auch ohne Präparationen suchen die ÄrztInnen bei endoskopischen Untersuchungen nach den anatomischen Körpern bzw. organischen Strukturen um im nächsten Schritt gegebenenfalls Abweichungen von den Normalbildern ausfindig machen zu können. Fazit Die menschlichen Körper werden im Rahmen der endoskopischen Untersuchung umgedeutet, verschaltet, verteilt und so medizinisch re-konstruiert. Sie unterliegen während des Prozesses der Erstellung der Bilder des Körperinneren verschiedenen temporär begrenzten Zurichtungen. Diese werden teil- 280 Céline Gressel weise durch den Einsatz von Technik ermöglicht, teilweise erst durch ihn erforderlich. Die Sedierung ist eine der drastischsten Formen der Zurichtung. Die PatientInnen werden kontrolliert vergiftet, immobilisiert und vorübergehend aus ihren Körpern ausquartiert. Das hat für die Körper zur Folge, dass sie in ihrer Bedeutung neu definiert und bestimmten Voraussetzungen unterworfen werden: - Die Körper werden den Regeln und Anforderungen der Medizin und der Technik unterworfen. - Sie werden von den Personen getrennt betrachtet und als ‚leere Hüllen‘ wahrgenommen, die nicht empfindungsfähig sind und für die die außerhalb des Untersuchungsraums gültigen Interaktionsrituale außer Kraft gesetzt sind. - Sie sind nicht mehr dem Willen und Handeln der Person unterworfen, sondern sind abhängig von Technik und - durch Technik vermittelt - vom Handeln des Personals. Der Körper verliert so an Eigenständigkeit. - Die Grenzen und die Bedeutungen der individuellen Körper verschieben sich durch ihre räumliche Verteilung und die Verschaltung aller an der Untersuchung beteiligten AkteurInnen miteinander (auch mit Technik) hin zu einer untersuchenden Einheit. Die für die Untersuchung relevanten Bereiche der PatientInnenkörper werden auf technische Artefakte ausgelagert. Durch die Bildgebung liegt die Konzentration auf dem Bildschirm, auch wenn das Handeln im Körperinneren vollzogen wird. - Auch die Körper des Personals werden durch die Verschaltung mit der Technik und den PatientInnen körperlichen Zurichtungen unterworfen. Das Personal kann über seinen Körper nicht mehr frei verfügen, da es räumlich an den des PatientInnenkörpers gebunden ist. - Es gibt bestimme medizinische Normalitätsvorstellungen über die Patient- Innenkörper. Zum Teil sind diese nicht verhandelbar. Zum Teil können sie künstlich hergestellt werden. Die Körper werden als anatomische Körper wahrgenommen bzw. wenn nötig so lange präpariert, bis solche hergestellt sind. Die PatientInnenkörper werden durch die Sedierung, Immoblisierung, Ausquartierung und Verteilung für die Untersuchung verfügbar gemacht. Sie werden in diesem Prozess so umgedeutet, dass sie während der Untersuchung als bloße, biologisch vorhandene, objektive ‚Hülle‘ - anatomische Körper - wahrgenommen werden. Diese ‚Hülle’ hat eine eigene Biografie, die in der Patientenakte dokumentiert ist. Sie ist aber nicht empfindungsfähig und unterliegt nicht den gesellschaftlichen Interaktionsritualen. Die kulturelle Intakthaltung der Person muss bei sedierten PatientInnen nicht aufwändig hergestellt werden. Die medizinische Re-Konstruktion von Körpern 281 Dies hat entlastende Wirkungen für die PatientInnen und das medizinische Personal. Das medizinische Personal kann freier und fokussierter handeln, da es sich nur auf die ‚leeren‘ Körper konzentriert. Dies ermöglicht es der ÄrztIn den Fokus auf die klinische Untersuchung zu behalten. Ohne den Einsatz von Technik, wäre dies so nicht möglich, sondern beinhaltete eine enorm aufwändige Herstellungsleistung. Literatur Burri, Regula Valérie (2006). Die Fabrikation instrumenteller Körper: Technografische Untersuchungen der medizinischen Bildgebung. In: Rammert, Werner / Schubert, Cornelius (Hrsg.) Technografie. Zur Mikrosoziologie der Technik. Frankfurt am Main / New York: Campus Verlag, 425-442. Burri, Regula Valérie (2008). Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Technik Körper Gesellschaft, Band 2. Bielefeld: Transcript. Foucault, Michel (1973). Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München: Carl Hanser Verlag. Foucault, Michel (2014). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gugutzer, Robert (2015). Soziologie des Körpers. Bielefeld: Transcript. Heimerl, Birgit (2006). Choreographie der Entblößung: Geschlechterdifferenz und Personalität in der klinischen Praxis. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, Heft 5, Oktober 2006, 372-391. Hirschauer, Stefan (2004). Praktiken und ihre Körper: Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Hörnig, Karl / Reuter, Julia (Hrsg.) Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript, 73-91. Leib und Körper im Scanner-- Zur Sicherheit eine kurze Anthropologie, Phänomenologie und Ethik von Körperscannern Eve-Marie Engels Das Ziel der Beherrschung, entweder im Dienst der Bejahung körperlichen Daseins und dann bald auf Spitzenleistung, bald auf völlige Entspanntheit, d. h. Grazie gerichtet, oder aber im Dienst der Körperverneinung, der Askese und Weltflucht, ist dem Menschen durch seine physische Existenz gestellt: als Leib im Körper. Mit dieser Doppelrolle muß sich jeder vom Tage seiner Geburt an abfinden. (Plessner 2003b: 238) 1. Zur Einführung Helmuth Plessner formulierte diesen Satz in einem anderen Kontext als dem unserer heutigen Technik. Gleichwohl eignet er sich vortrefflich als Anstoß zu einer Reflexion über den Menschen im 21. Jahrhundert und seine hochtechnisierte Lebenswelt. Dabei habe ich eine Technik herausgegriffen, bei der das von Plessner angesprochene Verhältnis von Leib und Körper eine zentrale Rolle spielt: Körperscanner . Diese werden inzwischen an zahlreichen Flughäfen eingesetzt, um festzustellen, ob Passagiere unter ihrer Kleidung Waffen oder andere Instrumente tragen, durch welche die Flugsicherheit und damit das Leben der Menschen an Bord gefährdet werden könnten. Dabei kann es sich um Nacktscanner handeln, bei denen der betreffende Fluggast im Bild nackt erscheint, oder, wie dies heute zunehmend der Fall ist, um Körperscanner, die ein Piktogramm, d. h. ein „Strichmännchen“ zeigen, an dem im Fall von Auffälligkeiten ohne Abbildung des nackten Körpers die nachzukontrollierenden Bereiche markiert sind. So wird auf Objekte hingewiesen, die die Sicherheit der Menschen an Bord gefährden könnten. Körperscanner erfüllen daher eine wichtige Funktion. Wer berufsbedingt viel fliegt, wird sie begrüßen, weil das Risiko von Waffen- oder Sprengstoffattentaten durch diese Kontrolle zumindest verringert, wenn auch nicht ausgeschaltet werden kann. Auch das Abtasten der Fluggäste durch Sicherheitskräfte, das viele als unangenehm empfinden mögen, entfällt dadurch. Selbstmordatten- 284 Eve-Marie Engels täter, die für ihre Zielsetzungen bewusst ihr eigenes Leben opfern und Andere mit in den Tod reißen, wie dies bei den Terroranschlägen mit Flugzeugen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 der Fall war, können allerdings durch Körperscanner nicht präventiv entlarvt werden. Denn diese Attentäter sind selbst die tödliche Waffe, und Absichten sind nicht im Scanner darstellbar. Und falls sie vor Betreten der Flugzeuge Waffen bei sich trugen, sind diese offensichtlich nicht durch das Sicherheitspersonal entdeckt worden. Aber dieses Beispiel bildet glücklicherweise die Ausnahme. Mit meinen folgenden Darstellungen und Überlegungen möchte ich meine Leserinnen und Leser auf eine kurze Reflexionsreise in die philosophische Anthropologie und Phänomenologie einladen und auf dieser Grundlage anschließend ethische Überlegungen zu Körperscannern anstellen. 2. Leib und Körper in Anthropologie und Phänomenologie Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht die Frage, wie sich die Konzepte von Leib und Körper im Lichte der Anwendung von Körperscannern darstellen. Welcher Gegenstand oder was wird beim Scannen sichtbar? Ist es nur der Körper oder auch der Leib? Kann ein Leib überhaupt Gegenstand des Scannens sein? Oder gehört zum Leib mehr als der sichtbare, abbildbare Körper, etwas Spezifisches, welches das Leibliche im Unterschied zum Körperlichen auszeichnet? Die Unterscheidung zwischen Leib und Körper ist in der philosophischen Anthropologie und Phänomenologie geläufig und nimmt hier eine bedeutende Stellung ein. Helmuth Plessner, neben Scheler und Gehlen im 20. Jh. ein Hauptbegründer der philosophischen Anthropologie als Disziplin, wird immer wieder mit seiner Differenzierung zwischen Körper und Leib angeführt. Deren Beziehung hat er in mehreren Schriften reflektiert. Diese sind vor allem sein philosophisches Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928 / 2003a), Lachen und Weinen (1941 / 2003b) und die Anthropologie der Sinne (1970 / 2003c). Der für Plessner entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier 1 ist die „exzentrische Positionalität" oder „Position“ des Menschen. Der Mensch ist dasjenige Lebewesen, „das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß 1 Plessners Verständnis von Tieren und die von ihm getroffene strikte Unterscheidung zwischen dem Menschen und anderen Tieren hinsichtlich ihrer Ausstattung mit bestimmten Fähigkeiten ist aus der Perspektive des aktuellen ethologischen Kenntnisstandes zu relativieren. Wie wir heute wissen, nehmen Lernfähigkeit und Plastizität des Verhaltens bei zahlreichen Tierarten einen viel größeren Stellenwert ein, als dies 1928, als Plessners Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch erschien, bekannt war. Auch geht man heute bei manchen Tieren, wie den Menschenaffen, von einer Art Selbstbewusstsein und der Fähigkeit aus, die Absichten Anderer zu erkennen („theory of mind“). Dies schmälert jedoch nicht die Bedeutung von Plessners Anthropologie. Auch hat er sich später, wie in Leib und Körper im Scanner 285 diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.“ (Plessner 2003a: 364). Der Mensch „lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“ (ebd.) Während der Mensch somit durch Selbstbewusstsein und Reflexionsfähigkeit in Distanz zu sich selbst treten und damit eine ex-zentrische Position einnehmen kann, dabei jedoch um seine Mitte weiß, lebt das Tier „aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte.“ ( Plessner 2003a: 360, Hervorh. von E.-M. E.) Eine für den Kontext meines Beitrages weitere wichtige Differenzierung beim Menschen ist die zwischen Leib und Körper . In der Diskussion wird auf Plessners Unterscheidung zwischen „Leib-Sein“ und „Körper-Haben“ hingewiesen. „Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) - auch wenn er von seiner irgendwie >>darin<< seienden unsterblichen Seele überzeugt ist - und hat diesen Leib als diesen Körper“. Er existiert physisch „ als Leib im Körper“ (Plessner 2003b: 238). Diesen Doppelaspekt des menschlichen Daseins als Leib und Körper führt Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch und in Lachen und Weinen auf die oben beschriebene exzentrische Position des Menschen zurück. Der Mensch geht in keiner der beiden Ordnungen auf: „Er ist weder allein Leib noch hat er allein Leib (Körper).“ (Plessner 2003b: 241). Daher sind beide Perspektiven auf den Menschen unverzichtbar. Als Leib steht der Mensch „in der Mitte einer Sphäre“. Das bedeutet, dass er subjektiv entsprechend seiner für den Menschen typischen „empirischen Gestalt ein absolute s Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt“ (Plessner 2003a: 367, Hervorh. von E.-M. E.). Dem Menschen ist sein Leib in seinen Grenzen unmittelbar doppelt gegeben. Er kann ihn bewegen und er empfindet ihn (Plessner 2003c: 330). Er verfügt also über ein durch seinen Leib vermitteltes artspezifisches örtliches und zeitliches Orientierungsvermögen. Aus der naturwissenschaftlichen Perspektive ist der Mensch dagegen ein Objekt, ein „Körperding“. Als solches hat er keine bevorzugte Perspektive, sondern kann zum Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise werden (Plessner 2003a: 367). Die ihn betreffenden Orts- und Zeitangaben sind dann relativ , d. h. bezogen auf ein mathematisch-physikalisches Koordinatensystem. Obwohl Leib und Körper „keine material voneinander trennbaren Systeme ausmachen“, fallen sie nicht zusammen (ebd.). Für Plessner ist dieser Doppelaspekt „radikal“ (ebd.). Hermann Schmitz unterscheidet nicht nur Leib und Körper, sondern differenziert beim menschlichen Körper zwischen dem „sinnfälligen Körper“, d. h. dem sichtbaren und tastbaren Körper und dem „naturwissenschaftlichen Körper“, einem „Konstrukt aus Zahlen“, das auf Messungen beruht. seiner Anthropologie der Sinne (1970 / 2003c), differenzierter über das Leistungsspektrum von Tieren geäußert. 286 Eve-Marie Engels Von beiden Körperweisen unterscheidet er den Leib. Auch sinnfälliger Körper und Leib sind nicht miteinander identisch (Schmitz 2011: 143). Leib und Körper sind aufeinander bezogen, wenn auch nicht deckungsgleich. Ohne Körper gibt es keinen Leib, doch geht der Leib über das Körperliche hinaus. Nach Husserl ist der Leib „als Leib durch und durch seelenvoller Leib.“ (Husserl 1984: 71) 2 Plessner spezifiziert die exzentrische Position des Menschen in Die Stufen des Organischen und der Mensch auch mit drei anthropologischen Grundgesetzen. Diese sind das „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“, das „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“ und „das Gesetz des utopischen Standorts“. (Plessner 2003a: 383 ff.). In Lachen und Weinen (1941) greift er diese Gesetze wieder auf. Die Gesetze „vermitteln so zwischen der Grundverfassung der exzentrischen Position und den typischen Weisen menschlichen Wirkens.“ (Plessner 2003b: 244). Auf das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit sei hier näher eingegangen. Es bedeutet, dass dem Menschen die spezifische Weise der Realisation seiner Existenz nicht von Natur aus in die Wiege gelegt ist. Die besondere Existenzform eines exzentrischen Wesens ist seine Ergänzungsbedürftigkeit. Der Mensch ist „von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich. “ (Plessner 2003a: 385). Nur weil er “von Natur halb ist […], bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt ins Gleichgewicht zu kommen.“ ( Plessner 2003a: 396) Dies geschieht durch die Schaffung von Kultur als „einer zweiten Natur“ des Menschen ( Plessner 2003a: 385). Hierzu gehört auch die Technik. Plessners anthropologisches Gesetz der natürlichen Künstlichkeit ist jedoch nicht als Freibrief für die Einführung und Anwendung jeder beliebigen Technik zu deuten. 3 Im Folgenden werde ich nun im Lichte der vorgestellten anthropologischen und phänomenologischen Ansätze einige ethische Implikationen von Körperscannern herausarbeiten. Dazu beginne ich mit einer Frage: Körperscanner oder Leibscanner? Warum werden Körperscanner nicht als „Leibscanner“ bezeichnet? Im Deutschen gibt es den Ausdruck „Leibesvisitation“ zur Bezeichnung besonders gründlicher Personenkontrollen aus unterschiedlichen Anlässen, wie bspw. bei Antritt einer Haftstrafe oder an Flughäfen. Der Begriff „Körperscanner“ evoziert andere Konnotationen als der Ausdruck „Leibscanner“. Er vermittelt 2 Zum Verhältnis von Körper, Leib und Seele siehe auch Regina Ammicht Quinn 2004, insbesondere Kap. 1.1.2 „Körper, Leib und Seele. Semantische und andere Fragen“, S. 27-37. 3 Zur Reflexion von Plessners Anthropologie in den Neurowissenschaften siehe Engels 2009 und Hildt 2009. Leib und Körper im Scanner 287 den Eindruck einer Distanz, Neutralität und Nüchternheit. Die betreffende Person wird für die Zeit im Scanner - wie aus der zuvor beschriebenen naturwissenschaftlichen Perspektive - als „Körperding“ betrachtet. Der Ausdruck „Leibscanner“ erweckt dagegen eher die Assoziation des Zu-nahe-Tretens, des Eindringens in die Intim- und Privatsphäre der gescannten Person, von Grenzüberschreitungen, die es abzuwehren gilt. Wie oben dargestellt, kommen mit den Begriffen „Leib“ und „Körper“ in der philosophischen Anthropologie und Phänomenologie unterschiedliche Sichtweisen auf den Menschen zur Geltung. Der Begriff „Körperscanner“ ist daher angemessener als der Begriff „Leibscanner“. Er sollte jedoch nicht als Tarnbegriff missbraucht wird, um unter seinem Deckmantel Übergriffe in die persönliche Sphäre der Menschen zu erleichtern. Leibscanner im strengen Sinne kann es nicht geben, wenn wir unter einem Leib den beseelten Leib verstehen, denn im Scanner werden nur körperliche Aspekte der Person sichtbar. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Anwendung von Körperscannern für die betreffenden Personen, die gescannt werden, unproblematisch ist. Denn die Personen im Körperscanner sind keine reinen Körper, sondern leibliche und verletzliche Wesen, sie sind, mit Plessner formuliert, „ als Leib im Körper“. Regina Ammicht Quinn und ihre MitarbeiterInnen haben in ihrem Projekt Körperscanner: Reflexionen auf Technik und Anwendungskontexte (KRETA) vor allem die ethisch relevanten Fragestellungen und Implikationen von Körperscannern herausgearbeitet (Ammicht Quinn et al. 2014). „Der Einsatz von Körperscannern erfordert eine Auseinandersetzung mit Fragen der Gerechtigkeit und dem angemessenen Umgang mit Vulnerabilität im Feld der Sicherheit.“ (Ammicht Quinn et al. 2014: 11). Eine Verletzbarkeit kann für eine Reihe von Personen aus unterschiedlichen Gründen vorliegen bzw. durch die Situation im Scanner entstehen. Beispiele sind Personen, die auf Grund ihrer Körpergröße von der Benutzung der Scanner- Technik ausgeschlossen sind, wie dies für sehr kleine und sehr große Menschen der Fall ist. Betroffen sind auch Personen mit verdeckten Behinderungen, mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen, Personen mit Traumata und starkem körperlichem Schamgefühl sowie solche mit Klaustrophobie u. ä. (ebd.). Die Art der Probleme hängt auch vom Zusammentreffen einer spezifischen Vulnerabilität mit einem bestimmten Scannertyp ab, z. B. ob es sich um einen Nacktscanner oder einen Körperscanner mit Piktogramm handelt. „Körperscannertechnologie bedarf einer hohen Sensibilität in sowohl politischer als auch praktischer Hinsicht.“ (Ammicht Quinn et al. 2014: 46). Der personale Leib eines Menschen und sein mittels Techniken naturwissenschaftlich (re)konstruierter Körper sind, um es abschließend noch einmal her- 288 Eve-Marie Engels vorzuheben, nicht identisch. „Der naturwissenschaftliche Körper ist ein vielfach bewährtes und immer noch verbesserungsfähiges Konstrukt, das in erster Linie dazu dient, vertrauenswürdige Prognosen zu liefern, an denen sich menschliches Tun und Lassen, z. B. im Fortschritt der Technik, aber auch durch Zurückhaltung vor Gefahren, orientieren kann.“ (Schmitz 2011: 144). Körperscanner dienen der Gefahrenabwehr. Dabei ist stets zu beachten, dass eine einzige Perspektive zum vollständigen Verständnis des Menschen - und dies gilt sicherlich auch für andere Lebewesen - nicht ausreicht. „Deshalb sind beide Weltansichten notwendig, der Mensch als Leib […] und der Mensch als Körperding. […]“ (Plessner 2003a: 367, Hervorh. von E.-M. E.). Literatur Ammicht Quinn, Regina (2004). Körper - Religion - Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter. 3. Aufl. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag (1. Aufl. 1999). Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) (2014). Sicherheitsethik. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Ammicht Quinn, Regina / Beimborn, Maria / Hagendorff, Thilo / Königseder, Anja / Leese, Matthias / Nagenborg, Michael / Schuler, Magdalena / Schumann, Daniel (2014). Abschlussbericht. Forschungsprojekt KRETA - Körperscanner: Reflexionen auf Technik und Anwendungskontexte. Tübingen. Engels, Eve-Marie (2009). Die künstliche Natur des Menschen - Neuroprothesen und Neurotranszender. In: Hildt, Elisabeth / Engels, Eve-Marie (Hrsg.) Der implantierte Mensch. Therapie und Enhancement im Gehirn. München: Karl Alber, 129-143. Hildt, Elisabeth (2009). Fremdes im Gehirn. In: Hildt, Elisabeth / Engels, Eve-Marie (Hrsg.) Der implantierte Mensch. Therapie und Enhancement im Gehirn. München: Karl Alber, 105-128. Husserl, Edmund (1984): Die Konstitution der geistigen Welt. Text nach Husserliana, Band IV . Hrsg. und eingel. von Manfred Sommer. Hamburg: Meiner. Plessner, Helmuth [1928] (2003a). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften IV . Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Plessner, Helmuth [1941] (2003b). Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. Gesammelte Schriften VII . Ausdruck und menschliche Natur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 201-387. Plessner, Helmuth [1970] (2003c). Anthropologie der Sinne. Gesammelte Schriften III . Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 317-393. Schmitz, Hermann (2011): Der Leib. Berlin / Boston: de Gruyter. Leib und Körper im Scanner 289 Technik Können wir einem Roboter verzeihen? 291 Können wir einem Roboter verzeihen? Michael Nagenborg Einleitung In der Debatte um den rechtlichen und moralischen Status von Robotern wird nicht zuletzt die Frage diskutiert, ob wir Roboter bestrafen können. So weist Peter Asaro (2012) in „A Body to Kick, but Still No Soul to Damn“ darauf hin, dass Roboter über keine Empfindungen verfügen, somit kein Übel kennen und auch nicht bestraft werden können. Dagegen ließe sich einwenden, z. B. in Anschluss an Daniell Dennett (1998), dass Roboter ja vielleicht doch über so etwas wie künstliche Empfindungen verfügen könnten. Mir scheint diese Diskussion jedoch nicht nur reichlich spekulativ, sondern auch ein wenig einseitig zu sein, da wir auf eine verwerfliche Handlung nicht nur mit Strafen, sondern auch mit Verzeihen und Vergeben reagieren können. In Anschluss an Hannah Arendt werde ich im ersten Abschnitt deshalb die Bedeutung dieser Alternativen zur negativen Sanktion herausstellen. Diese Überlegungen werden uns zur zentralen Frage hinführen: „Können wir einem Roboter verzeihen? “ Man mag gegen diese Frage einwenden, dass sie doch offensichtlich der Frage nachgeordnet sei, ob Roboter überhaupt Träger_innen von moralischer Verantwortung sein können. Im zweiten Abschnitt möchte ich diesem Einwand die Überlegung entgegenstellen, dass wenn wir überhaupt bereit sein sollten, Roboter als Verantwortungsträger_innen zu akzeptieren, wir dann auch prinzipiell bereit sein sollten, ihnen zu verzeihen. Ich möchte also vorschlagen, dass wir die Möglichkeit, einem Roboter zu verzeihen, als eine notwendige Bedingung für die sinnvolle Zuschreibung von moralischer Verantwortung in Betracht ziehen sollten. Die Frage der Vergebung ist dabei auch von anthropologischen und technikphilosophischen Interesse, da der Versuch ihrer Beantwortung dazu beitragen könnte, diesen nicht-trivialen Fall eines Roboters besser zu fassen, der weder bloße Maschine noch Person ist. Dies ist der Gegenstand des dritten Abschnittes, in dem ich auch vorschlagen möchte, die Vergebung für das Fehlverhalten eines Roboters als eine Art „Lackmus-Test“ im Bereich der Mensch-Maschine-Beziehungen zu betrachten. Im Übrigen, bitte ich die Leser_innen im Voraus um Verzeihung dafür, dass das 292 Michael Nagenborg Hauptaugenmerk in meinem Beitrag auf der Begründung der Frage und nicht auf ihrer Beantwortung liegt. Eine letzte Vorbemerkung zur Begrifflichkeit: Ich habe mich dazu entschieden, nicht zwischen Verzeihen und Vergeben zu unterscheiden, da diese Unterscheidung in der Literatur nicht immer oder in immer gleicher Weise getroffen wird. Die Differenz zwischen Verzeihen und Vergeben lässt sich sicherlich in einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit der Frage fruchtbar machen. Da es im Folgenden aber darum geht, die Frage zu plausibilisieren, wurde hier darauf verzichtet. Ähnlich verhält es sich mit „Strafen“. Die Wortwahl ist zunächst einmal Hannah Arendt (2002) geschuldet und erlaubt auch eine Zuspitzung der Problematik. Gleichwohl wäre es sicherlich sinnvoll zwischen verschiedenen negativen Reaktionen auf Fehlverhalten zu unterscheiden. Oftmals genügt uns ja ein einfaches Naserümpfen oder ein anderer Ausdruck der Missbilligung. Auch hier wäre also in möglichen zukünftigen Arbeiten eine Differenzierung geboten, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. 1. Verzeihen Die folgenden Überlegungen sind nicht zuletzt durch Hannah Arendts Überlegungen zur Rolle des Vergebens in „Vita Activa“ (2002, Original: 1958) inspiriert. Für den Bereich des politischen Handelns verweist sie dort auf die komplementäre Rolle von Versprechen und Vergeben (Arendt 2002: 300-317). 1 Nun gilt es sicherlich zu beachten, dass sich Arendt ausdrücklich auf den Bereich des Handelns, nicht aber des Arbeitens oder des Herstellens bezieht. Im Gegensatz zu den beiden zuletzt genannten Bereichen zeichnet sich ihrer Meinung nach das Handeln dadurch aus, dass gemeinschaftliches und politisches Handeln nicht instrumentell und das Ergebnis nicht absehbar ist. Zudem ist Handeln eben stets ein gemeinschaftliches Handeln, insofern es im Zusammenspiel und in Auseinandersetzung mit anderen Menschen erfolgt. Die Möglichkeit, Versprechen zu geben und anzunehmen, ist für sie ein zentraler Mechanismus um mit der prinzipiellen Unberechenbarkeit von Menschen umzugehen und durch diesen Akt, „Inseln in einem Meer der Ungewißheit“ (Arendt 2002: 313) zu erschaffen. Da es Menschen nicht immer möglich ist, Versprechen zu halten - ja, sie sich vielleicht aus guten Gründen dazu entscheiden mögen, ein Versprechen zu brechen - ist für Arendt die Möglichkeit der Vergebung ebenfalls von zentraler Bedeutung, da ansonsten jedes gebrochene Versprechen nur mit Sanktionen 1 An dieser Stelle noch ein Dankeschön an Melis Baş, die mich auf die Passage in der „Vita Activa“ aufmerksam gemacht hat. Können wir einem Roboter verzeihen? 293 beantwortet werden könnte. Dies würde wiederum zur Folge haben, dass ein gebrochenes Versprechen unsere Handlungsoptionen - unsere Freiheit - auf Dauer einschränken würde, da das Fehlverhalten einer anderen Person uns zu einem sanktionierenden Verhalten zwingen würde. Das Gleiche gilt für den Fall, dass wir selbst ein Versprechen brechen: Könnten wir einander nicht vergeben, d. h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, beschränkte sich unsere Fähigkeit zu Handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis zu unserem Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würde […] .“ (Arendt 2002: 302) Die Crux ist somit, dass Menschen prinzipiell unberechenbar sind, weil sie stets anders handeln könnten. Versprechen schaffen Sicherheit, indem die Personen, welche sich ein Versprechen geben, freiwillig ihre Handlungsoptionen einschränken. Durch diese freiwillige Einschränkung gewinnen wir an Freiheit, weil hierdurch gemeinschaftliches Handeln ermöglicht wird. Wenn wir jedoch auf die Nichterfüllung von Versprechen nur und ausschließlich mit Sanktionen reagieren können, dann verlieren wir genau dasjenige, was wir im Akt des Versprechens gewinnen wollten: Unsere Freiheit. Dabei gilt es m. E. zwei Gründe für die Bedeutung der Vergebung zu unterscheiden: (1) Unsere Freiheit wird dadurch eingeschränkt, dass uns ohne die Möglichkeit des Vergebens nur eine Handlungsoption zur Verfügung steht (wir sind gezwungen zu sanktionieren). (2) Sanktionen mögen die zukünftigen Optionen für das gemeinschaftliche Handeln einschränken, wenn die sanktionierte Person die Strafe als ungerecht erfährt. Hinzukommt, dass das Strafen-müssen auch für den Strafenden unerwünschte Folgen zeigen mag. In anderen Worten: Das Problem ist, dass wir ohne die Möglichkeit der Vergebung nur über eine Option verfügen, auf Fehlverhalten zu reagieren, und dass diese eine Handlungsoption in einer Art des Strafens besteht. 2 Nun finden sich diese Überlegungen bei Arendt im Zusammenhang des „Handelns“ und es wäre sicherlich überzogen, sie auf alle Formen des menschlichen Verhaltens auszudehnen. Sie scheinen mir jedoch auf alle Formen menschlichen Tuns übertragbar zu sein, die durch das Geben und Annehmen von Versprechen gekennzeichnet sind. Dies scheint mir in der Tat auf viele Handlungen zuzutreffen, da beispielsweise jedweder Vertrag auf Versprechen basiert. Ebenso lassen sich Versprechen als ein wesentlicher Bestandteil von Vertrauensbeziehungen fassen, zumindest von solchen, in denen wir darauf vertrauen, dass eine andere 2 Dass wir es hier mit zwei Teilproblemen zu tun haben, lässt sich anhand des umgekehrten Falles verdeutlichen: Wenn wir nur Verzeihen (aber nicht Sanktionieren) könnten, dann würde dies ebenfalls unsere Handlungsfreiheit einschränken. Wir hätten dann aber nicht die Probleme, die sich aus dem Strafen-müssen ergeben. 294 Michael Nagenborg Person oder Institution eine Handlung X vollzieht, um Schaden von uns abzuwenden (siehe Nagenborg 2010). Eine derartige Beziehung lässt sich ohne ein (zumindest implizites) Versprechen nur schwerlich erklären. Ähnlich wie bei Arendt (2002) dienen derartige Versprechen m. E. dann auch dazu, dass Maß an Ungewissheit zu reduzieren, indem die Möglichkeiten der legitimen Verhaltensweisen der beteiligten Personen eingeschränkt werden: Wir vertrauen eben darauf, dass jemand X und nicht Y tut. Und wer einen Kaufvertrag unterschreibt, verspricht den geforderten Betrag zu zahlen. Da Menschen aber nicht immer ihre Versprechen einhalten können oder wollen, gewinnt zugleich die Möglichkeit, verzeihen zu können, auch jenseits des engeren Bereich des Handelns (im Arendt’schen Sinne) an Bedeutung. 2. Vergebung als Bedingung von Verantwortung Wenn Vergebung somit für das Zusammenleben von Menschen von zentraler Bedeutung ist, so spricht zunächst einmal wenig dagegen im Analogieschluss zu behaupten, dass die Möglichkeit der Vergebung von ähnlicher Bedeutung für das zukünftige Zusammenleben von Menschen und Robotern ist. Einzuwenden wäre allerdings, dass es doch bitte schön erst einmal zu klären gilt, ob Roboter für ihre Handlungen überhaupt verantwortlich sein können. Immerhin: So lange nicht die Behauptung im Raum steht, dass Roboter Verantwortungsträger_innen sind, dann können wir uns die Diskussion über die Möglichkeit der Vergebung sparen. Es mag die Leser_innen trösten, dass ich selbst der Behauptung, dass Roboter in vollem Umfang moralisch verantwortlich sein können, ausgesprochen misstrauisch gegenüberstehe. Einige Kolleg_innen sind hier weniger zurückhaltend. So kommt beispielsweise Keith Abney zu dem Schluss: „If I am right, one day robots could become moral agents, and, so, full moral persons.“ (Abney 2012: 50) Auch Colin Allen und Wendell Wallach (2012) schließlich „full moral agency“ für Roboter prinzipiell nicht aus, vertreten aber für die Gegenwart und absehbare Zukunft die schwächere These, dass Roboter als „artificial moral agents“ zu betrachten sein. Die Betonung liegt dabei auf „artifical.“ Wie wir später sehen werden, ist aber auch diese abgeschwächte Position nicht unproblematisch. Eines der Probleme in der Auseinandersetzung mit derartigen Positionen ist, dass es hierbei immer um zukünftige Technologien geht. Wir sind somit gezwungen, auf einer sehr prinzipiellen Ebene für oder wider die Idee eines moralisch-verantwortlichen Roboters zu diskutieren. Das wird beispielsweise in dem Zitat von Abney (2012) sehr deutlich: „ one day robots could become moral agents“ (Hervorhebungen von M. N.). Das inzwischen erreichte Abstraktionsniveau in der Diskussion, was nun genau eine Person ausmacht, erweist sich Können wir einem Roboter verzeihen? 295 dabei als wenig hilfreich. Das latente Unbehagen, welches durch anthropozentrische oder gar speziesistischen Positionen hervorgerufen wird, tut sein Übriges. Und ich finde es im Grunde selbst sympathisch, wenn man darauf hinweist, dass man doch ein wenig unverkrampfter an die Frage herangehen sollte, ob Computer denken können. Wie Alan Turing (1950) schon anmerkte: Bei anderen Menschen können wir auch nie zu 100 % sicher sein, dass sie tatsächlich über Bewusstsein verfügen - aber wir sind so höflich, es dann doch anzunehmen. Warum sollten wir also nicht das gleiche tun, wenn wir es mit Maschinen zu tun haben? Gleichwohl, es widerstrebt mir, Roboter als moralische Verantwortungsträger_innen aufzufassen. Und dieses Unbehagen möchte ich mit der Frage fassen, ob wir Robotern denn auch verzeihen können. Denn, wenn wir einem Roboter sein Fehlverhalten nicht verzeihen können, so wären wir gezwungen, stets mit Sanktionen zu reagieren. Und dies wäre - sofern meine Überlegungen in Anschluß an Hannah Arendt richtig sind - keineswegs wünschenswert. Es geht mir dementsprechend auch nicht darum, zu behaupten, dass Roboter Träger_innen moralischer Verantwortung sind. Es soll vielmehr die Messlatte in der Diskussion um den moralischen Status von Robotern als Verantwortungsträger_innen höher gelegt werden. 3. Vergebung als Lackmus-Test der Mensch-Maschine Beziehung Die Frage nach der Möglichkeit, einem Roboter zu verzeihen, wird nur dann philosophisch interessant, wenn wir zwei triviale Fälle ausschließen: (1) Der Roboter wird als reine Maschine wahrgenommen - dann lässt sich „verzeihen“ im besten Falle metaphorisch verwenden. (2) Der Roboter verfügt über alle relevanten Eigenschaften eines Menschen - und ist dementsprechend wie ein Mensch zu behandeln. Zu (1): Wenn es sich bei dem Roboter um eine streng deterministische Maschine ohne eigenen Entscheidungsspielraum handelt, dann besteht zugleich auch keine Ungewissheit hinsichtlich seines Verhaltens. Dementsprechend ist es auch nicht notwendig, seine Handlungsfreiheit durch ein zusätzliches Versprechen einzuengen. Genau genommen wäre es sogar unmöglich, die Handlungsfreiheit einzuschränken, denn eine solche Machine hat gar keine. Wenn also unser Auto uns mal wieder in Stich lässt, dann mögen wir ihm dies verzeihen - aber eben nur in einem metaphorischen Sinne. Zu (2): Dieser Fall ist natürlich nur im moralischen, nicht aber im technischen Sinne trivial. Aber wenn es bestimmte Eigenschaften des Menschen gibt, welche einer Vertreterin oder eines Vertreters dieser Spezies als Verantwortungsträger_in (etwa: als Person) ausweisen, dann sollten wir auch bereit sein, eben diese Kriterien auf nicht-menschliche Individuen anzuwenden. Und dies gilt un- 296 Michael Nagenborg abhängig davon, um welche Kriterien und welche Art von nicht-menschlichen Individuum es sich handelt. Es ist also prinzipiell nicht einzusehen, warum wir über den Personenstatus von Robotern nicht ebenso streiten können wir über den Personenstatus von Affen. 3 Dem entsprechend möchte ich mich im Folgenden auf den Fall eines Roboters konzentrieren, der mehr als eine bloße Maschine ist, aber nicht über alle erforderlichen Eigenschaften eines Menschen (bzw. einer Person) verfügt. Dies wirft unmittelbar die Frage auf, was dies denn für eine Art von Roboter sein soll. Tatsächlich könnte es sein, dass die Frage nach der Möglichkeit des Verzeihens, uns dabei helfen könnte, diese Frage zu beantworten. Was können wir von einer solchen Maschine erwarten? Ein erster Vorschlag: (1) Entscheidungsfreiheit, in dem Sinne, dass die Maschine Entscheidungen trifft und ihr Verhalten nicht allein durch äußere Einflüsse determiniert wird. (2) Dass die Maschine in der Lage ist, ihr Verhalten zu begründen. - Um hier die Messlatte in Sachen „Entscheidungsfreiheit“ nicht zu hochzulegen: 4 Wenn sich Entscheidungsfreiheit prinzipiell in Ungewissheit über das zukünftige Handeln manifestiert (das System sich also stets anders verhalten könnte ), dann ist es vielleicht ausreichend, wenn das Verhalten des Systems für einen menschlichen Beobachter nicht vorhersagbar ist. Es könnte sich also de facto um ein strikt deterministisches System handeln und wir könnten sein Verhalten vorhersagen, wenn wir denn über alle relevanten Informationen über die Umwelt sowie die genaue Konstruktion und den aktuellen Zustand des Systems verfügen würden. Dies ist aber oftmals nicht der Fall, weil sowohl die Systeme als auch ihre Umwelt zu komplex sind. Der nicht-triviale Fall eines Roboters, der mehr ist als eine bloße Maschine ist, wäre somit eine opaque Technologie im Sinne von Sherry Turkle (2005): Eine Maschine, die uns dazu einlädt, ihr Verhalten nicht in mechanistischen, sondern in psychologischen Begriffen zu erklären. Natürlich können wir auch im Falle einer opaquen Technologie immer wieder in die modernistische Perspektive wechseln und versuchen, ihr Verhalten in mechanistischen Begriffe zu verstehen - der Punkt ist: wir tun dies in der Regel nicht. Nun scheint jedoch die Schwierigkeit, das Verhalten des Systems mit Gewissheit vorherzusagen, uns noch nicht dazu berechtigen, den Roboter als Verantwortungsträger_in zu qualifizieren. Ein Roboter, der seine Entscheidungen dem 3 Faktisch scheint mir die Frage beim aktuellen technischen Entwicklungsstand hinsichtlich des Status von Affen jedoch relevanter. Clement (2013) bietet beispielsweise einen gute Überblick zur Frage der moral agency von nicht-menschlichen Tieren. 4 Die Versuchung, Kriterien für Autonomie einzuführen, welche zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausschließlich von Menschen erfüllt werden können, ist natürlich vorhanden. Aber hier scheint mir tatsächlich ein wenig Vorsicht geboten, denn es ist gar nicht ausgemacht, dass wir Menschen derartigen Kriterien stets gerecht werden können. Können wir einem Roboter verzeihen? 297 Zufall überlässt, wäre sicherlich ein Quell der Ungewissheit, aber nicht autonom. 5 Dass beim Menschen freilich nicht anders. Wer alle Entscheidungen dem Zufall überlässt verfügt letztendlich noch nicht über Autonomie in einem relevanten Sinne. Hierfür bedarf es zumindest, dass wir Gründe für unser Verhalten anführen können (siehe Nagenborg 2005: 69). Deshalb die zweite Anforderung an Roboter, die mehr als bloße Maschinen sein sollen: Gründe für das eigene Verhalten zu haben und anführen zu können. Selbst, wenn wir bereit sind, einer solcher Maschinen zuzugestehen, dass sie ihr Handeln begründen kann, gibt es keine Gewährleistung dafür, dass gute Gründe für einen solchen Roboter mit den guten Gründen für Menschen identisch sind. In Hinblick auf die Möglichkeit des Verzeihens gilt es dabei vor allem eins zu beachten: Ein guter Grund einem Menschen sein Fehlverhalten zu verzeihen, ist die allgemeine Einsicht, dass Menschen Fehler machen oder gute Gründe haben mögen, ein Versprechen zu brechen. Wir können dann sagen: „Wenn ich in Deiner Lage gewesen wäre, ich hätte wahrscheinlich ebenso gehandelt wie Du. Dass macht Dein Verhalten zwar nicht besser, aber es ist für mich nachvollziehbar.“ 6 Was im Regelfall, dem Akt des Verzeihens von menschlichen Fehlverhalten, nicht betont werden muss, ist die gemeinsame Natur des Verzeihenden und der Person, welcher verziehen wird. Was im Fall der Vergebung für einen Roboter fehlt, ist eben diese geteilte Natur und somit die prinzipielle Nachvollziehbarkeit des Fehlverhaltens. Sollten wir jedoch eines Tages feststellen müssen, dass Menschen ernsthaft und aufrichtig damit beginnen, Robotern oder anderen Maschinen zu verzeihen, dann wäre dies ein starkes Anzeichen für einen fundamentalen Wandel in der Beziehung zwischen Menschen und Maschinen - und insofern scheint mir der Akt des Verzeihens ein guter Lackmustest dafür zu sein, ob wir bereit sind, einem technischen Artefakt den Status einer nicht-trivialen Maschine (im genannten Sinne) zukommen zu lassen. Eine solche Maschine wäre nicht nur in technischer Hinsicht bewundernswert, sie weckt auch unser philosophisches Interesse, weil nur schwer vorstellbar ist - zumindest für mich - was eine solche 5 Der Roboter wäre nicht einmal in einem technischen Sinne „autonom“ zu nennen: Die Erzeugung von Zufall ist nämlich etwas, was deterministischen Maschinen prinzipiell nicht möglich ist. Computer greifen deshalb immer auf die Messung schwer vorhersagbarer Ereignisse in ihrer Umwelt zurückgreifen, wo sie des Zufalls benötigen. Zufällige Entscheidungen des Systems sind im technischen Sinne also stets heteronom, da die Quelle des Zufälligen außerhalb des Systems zu verorten ist. 6 Bekanntlich hat diese Nachvollziehbarkeit ihre Grenzen. Das radikal Böse zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass wir nicht mehr begreifen können, wie ein Mensch so etwas tun kann. Franziska Dübgen (2016) erinnert deshalb in Anschluss an Jacques Derrida (2001) daran, dass „[…] ebenjene Gräueltaten [es sind], die nicht zu vergeben sind, die zugleich nach Vergebung verlangen.“ (Dübgen 2016: 19) 298 Michael Nagenborg Maschine auszeichnen würde und wie es sich mit solchen Maschinen leben lässt. Wenn aber Hannah Arendt (2002) darin zu folgen ist, dass „in der Verzeihung zwar eine Schuld vergeben wird, diese Schuld sozusagen nicht im Mittelpunkt der Handlung steht“ (Arendt 2002: 308), sondern die Person, der vergeben wird, dann ist des Weiteren zu beachten, dass im Akt des Verzeihens Respekt vor dieser Person zum Ausdruckt gebracht wird: Wir vergeben „jemanden das, was er getan hat, um dessentwillen, der er ist.“ (Arendt 2002: 310). Und die Schwierigkeit zu verstehen, was das Wesen eines Roboters ausmacht, dem wir vergeben könnten, trägt wohl dazu bei, dass ganze Unterfangen so gänzlich absurd erscheinen zu lassen. Wenn wir jedoch damit beginnen sollten, derartigen Maschinen zu vergeben, dann würde sich vielleicht gerade im Akt der Vergebung zeigen, was es denn ist, dem wir verzeihen. 4. Großmut im Umgang mit Robotern Eine weitere Schwierigkeit darüber nachzudenken, was es bedeuten mag, einem Roboter zu vergeben, liegt in dem Umstand begründet, dass Vergebung ein souveräner Akt ist. Es lassen sich insofern keine Kriterien dafür benennen, wann einer Person oder einem Roboter zu verzeihen ist. Wie ich bereits eingangs darlegt hatte, besteht der Sinn des Vergebens für Arendt darin, eine Alternative zum Strafen bereitzustellen, damit wir nicht durch das Fehlverhalten eines anderen Menschen dazu gezwungen sind, in einer bestimmten Art und Weise zu reagieren. Verzeihen zu können, aber nicht zu müssen, ermöglicht und erfordert eine freie Entscheidung. Diese Freiheit würde aber verloren gehen, wenn wir unter bestimmten Umständen dazu gezwungen wären, ein Fehlverhalten zu verzeihen. In diesem Sinne können Täter_innen vielleicht auf Vergebung hoffen, aber nicht einfordern. Aber auch dann, wenn wir Verzeihen als souveränen Akt auffassen, so mag es doch gute Gründe dafür geben, jemanden oder etwas zu verzeihen, etwa, weil wir einen Schlussstrich ziehen und unser Verhalten nicht länger von der Vergangenheit abhängig machen wollen. Auch mag der Umgang mit Robotern, die wir im Falle eines Fehlverhaltens nur bestrafen können, auf Dauer unerwünschte Nebenwirkungen zeigen, da Strafen ein moralisch ambivalenter Akt ist. Im Kern bedeutet Strafen, das rechtmäßige Zufügen eines Übels. Einem anderen Wesen willentlich Schmerzen zu verursachen, bleibt jedoch moralisch problematisch, auch wenn dies rechtmäßig geschieht. 7 Wenn wir die Möglichkeit 7 In der westlichen Welt stellt sich das Problem oftmals nicht so offensichtlich, weil wir das Strafen an den Staat delegieren. Spätestens im Umgang mit Gefangenen holt uns es uns Können wir einem Roboter verzeihen? 299 der Vergebung kategorisch ausschließen und Fehlverhalten stets sanktionieren müssen, dann sind wir auch gezwungen, uns stets in eine moralisch ambivalente Situation zu bringen. Insofern scheint Großmut als Tugend im Umgang mit Robotern geboten, nicht nur um des Roboters, sondern auch um unser selbst willen. Wenn wir dazu nicht in der Lage sind, so tritt erschwerend hinzu, dass derartige Roboter zu moralische Verantwortungsträger_innen zweiter Klasse werden. Denn es ist ja davon auszugehen, dass wir weiterhin in der Lage sind, Menschen zu verzeihen. Wir würden somit in einer Welt leben, in der es zwei Arten von moralischen Verantwortungsträger_innen gibt: solche, denen man verzeihen kann, und solche, die man bestrafen muss. Dies würde aber dazu beitragen, dass sich ein unüberbrückbarer Graben zwischen den beiden Gruppen auf tut - und zwar nicht deshalb, weil wir diesen Typus von Roboter von vornherein als moralischen Verantwortungsträger_in ausschließen. Im Gegenteil: Der Kluft entsteht gerade dann, wenn wir bestimmten Robotern Verantwortung zuschreiben, aber nicht bereit sind, ihnen Fehler zu vergeben. Und es scheint mir fast, dass sich diese Roboter wünschen werden, nie mehr als nur eine Maschine geworden zu sein. 5. Zusammenfassung und Ausblick Die Zuschreibung von moralischer Verantwortung ohne die Möglichkeit des Vergebens ist somit ein riskantes Unternehmen. Wenn wir Fehlverhalten nicht verzeihen können und bestrafen müssen, so bringen wir selbst in eine moralisch ambivalente Situation. Auch wenn das gemeinschaftliche Handeln von Menschen und Robotern auf dem ersten Blick neue Handlungsoptionen ermöglichen mag - und somit unsere Handlungsfreiheit erweitert - droht die dann notwendigerweise asymmetrische Beziehung, unsere Freiheit stets wieder zu untergraben. Es fällt auch gar nicht so leicht, zu begreifen, was das bedeuten soll, dass wir einem Roboter verzeihen. Dies ist sicherlich zunächst der Komplexität des Phänomens „Verzeihen“ geschuldet, dem diese Ausführungen sicherlich nicht annähernd gerecht werden konnten. Versteht man zudem Verzeihen als souveränen Akt, dann kommt hinzu, dass keine Kriterien dafür anzuführen sind, wann jemanden oder einem Roboter zu verzeihen ist. Hinzu tritt die hier explizit gemachte Voraussetzung, dass es sich um einen Roboter handeln soll, der mehr als eine Maschine ist, aber nicht alle relevante Eigenschaften von Menschen teilt. Um es noch einmal zu betonen: Die Diskussion um die Zuschreibung von dann aber wieder ein, wie die Ethik des Strafvollzuges zeigt. 300 Michael Nagenborg moralischer Verantwortung an eine Maschine scheint mir philosophisch witzlos, wenn wir nicht annehmen, dass diese Maschine sich vom Menschen unterscheidet. Diese Differenz auszuloten und fassbar zu machen, fällt jedoch nicht leicht. Deswegen sollten wir der vermeintlich schwächeren Forderung, Roboter als moralische Verantwortungsträger_innen eigener Art (artificial moral agents, etwa im Sinne von Allen und Wallach) mit Mißtrauen begegnen. Der moralische Status dieser Kreaturen scheint mir zurzeit unklar. Dabei geht es nicht allein darum, welchen Anforderungen eine solche Maschine erfüllen muss, sondern auch um die Frage, was dies für unseren Umgang mit diesen Entitäten eigener Art bedeuten soll. Der Akt der Vergebung bietet dabei einen guten Fokus, um dieser Frage nachzugehen. Literatur Abney, Keith (2012). Robotics, Ethical Theory, and Metaethics: A Guide for the Perplexed. In: Lin, Patrick / Abney, Keith / Bekey, George A. (Hrsg.) Robot Ethics. Cambridge, MA / London, UK : MIT Press, 35-52. Allen, Collin / Wallach, Wendell (2012). Moral Machines: Contraction in Terms or Abdiction of Human Responsibility? In: Lin, Patrick / Abney, Keith / Bekey, George A. (Eds.) Robot Ethics. Cambridge, MA / London, UK : MIT Press, 55-68. Arendt, Hannah (2002). Vita Activa. München / Zürich: Pieper. (Amerikanisches Original: 1958; Deutschsprachige Erstveröffentlichung: 1960) Assaro, Peter (2012). A Body to Kick, but Still No Soul to Damn: Legal Perspectives on Robotics. In: Lin, Patrick / Abney, Keith / Bekey, George A. (Hrsg.) Robot Ethics. Cambridge, MA / London, UK : MIT Press, 169-186. Clement, Grace (2013). Animals and Moral Agency: The Recent Debate and Its Implications. Journal of Animal Ethics 3: 1, 1-14. Dennett, Daniel Clement (1998). Brainchildren: Essays on Designing Minds. Cambridge, MA : MIT Press. Derrida, Jacques (2001). On Cosmopolitanism and Forgiveness. London / New York: Routledge. Dübler, Franziska (2015). Grenzen der Versöhnung? polylog 34, 13-25. Nagenborg, Michael (2005). Privatheit unter den Rahmenbedingungen der IuK-Technologien. Wiesbaden: VS Verlag. Nagenborg, Michael (2010). Vertrauen und Datenschutz. In: Maring, Matthias (Hrsg.) Vertrauen - zwischen sozialem Kitt und der Senkung von Transaktionskosten. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, 153-167. Turing, Alan M. (1950). Computing machinery and intelligence. Mind 49, 433-460. Turkle, Sherry (2005). Computer Games as Evocative Objects. In: Raessens, Joost / Goldstein, Jeffrey (Eds.) Handbook of Computer Game Studies. Cambridge, MA / London, UK : MIT Press, 267-279. Social freezing-- Eine neue Technologie und die Herausforderungen der Moderne Urban Wiesing In meinen kurzen Ausführungen 1 möchte ich eine andere Perspektive auf die neue Technologie des sogenannten Social freezing einnehmen als die übliche Frage, wie sie ethisch zu bewerten ist. Ich möchte auf die Umstände hinweisen, unter denen sie genutzt werden kann. Ich möchte untersuchen, auf welche Weise eine Lebenssituation medikalisiert wird und mit welcher Ambivalenz dies einhergeht. Denn - so meine These - social freezing ist ein typisches Beispiel für die Herausforderungen, mit denen wir angesichts moderner Technologie und moderner Lebensbedingungen immer wieder konfrontiert sind. Das social freezing verdeutlicht paradigmatisch die ambivalente Situation, in der Menschen sich in einer von Technik dominierten Welt befinden. Social freezing wird in Deutschland öffentlich erst diskutiert, seit Apple und Facebook ihren Mitarbeiterinnen das Angebot gemacht haben, das frühzeitige Einfrieren von Eizellen zu bezahlen, um sie in späterem Alter für eine Schwangerschaft zu nutzen. Die Reaktion in Deutschland war überwiegend Ablehnung, gar Entrüstung. Doch getreu dem Motto „bad news are good news“ ist den Firmen damit ein geschickter Werbecoup gelungen. Sie präsentieren sich als moderne, einfallsreiche Unternehmen, die weder Kosten noch Mühe scheuen, wenn es ihre Mitarbeiterinnen zu fördern und den Frauenanteil in der IT -Branche zu erhöhen gilt. Sie geben sich einmal mehr als unkonventionell, technikaffin und innovationsfreudig. Ihre Werbestrategen dürften zufrieden sein. Es dürfte überdies schwierig werden, Argumente dafür zu finden, diese Technologie zu verbieten. Denn wer will es einer Frau schon verwehren, den Zeitraum zu verlängern, um Kinder zu bekommen? Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen verbleibt ihnen dazu weniger Zeit. Zudem sind sie es, die zumeist die beruflichen Nachteile durch Kindererziehung auf sich nehmen. Die neue Technologie kann Freiheitsspielräume eröffnen, biologische Nachteile kompensieren und die Abhängigkeit von der biologischen Uhr etwas lindern. 1 Überarbeitete und aktualisierte Version eines Artikels aus der taz „Die Moderne schlägt zu“ vom 10. 4. 2015. 302 Urban Wiesing Freilich nur für einen begrenzten Zeitraum, denn die biologische Uhr ist ja nicht angehalten, sie tickt nur langsamer und damit etwas länger. Trotzdem, die Mutterschaft kann auf einen späteren Lebensabschnitt verschoben werden. Dies als kleinen, gleichwohl wünschenswerten Schritt zu mehr Chancengleichheit der Geschlechter zu interpretieren dürfte nicht vollends abwegig sein. Außerdem, was ist neu an einem solchen Vorgehen? Frauen planen ihre Fortpflanzung ohnehin längst auch unter beruflichen Aspekten. Die Verhütungsmittel, von Konservativen zunächst genauso empört abgelehnt wie jetzt das social freezing, werden heute geradezu selbstverständlich genutzt, um den richtigen Zeitpunkt für die Mutterschaft zu wählen, auch in beruflicher Hinsicht. So gesehen erlaubt das social freezing ein Voranschreiten in eine längst bekannte und weithin genutzte Richtung. Und warum sollte man es einer Frau übelnehmen, eine weitere technische Option zu nutzen? Zumal in einer liberalen Gesellschaft, in welcher der Staat den Lebensstil von Frauen ohnehin nicht zu bewerten hat, auch nicht in Bezug auf ihre Fortpflanzung. Und dass sich die beiden nicht mehr ganz so großen christlichen Kirchen flugs gegen das social freezing ausgesprochen haben, scheint säkularen Befürwortern einer technisch unterstützten Selbstgestaltung nur zu bestätigen: Hier dürfte es um Fortschrittliches gehen, um Freiheit! Soweit so, gut - könnte man meinen. Geringe Erfolgsquoten Doch die Angelegenheit ist komplizierter. Da wären zunächst einmal die Erfolgsquoten. Die Technologie ist nicht nur teuer, sie ist auch wenig erfolgreich, insbesondere im fortgeschrittenen Alter, und gerade dafür ist sie vorgesehen. Trotz subtiler Anstrengungen der reproduktionsmedizinischen Zentren, ihre Erfolgsquoten zu verschleiern, sind die Ergebnisse der In-vitro-Fertilisation ernüchternd. In Deutschland bekommen nur 15 % der Frauen ein Kind pro Behandlungszyklus. Überdies können zahlreiche medizinische Fragen derzeit nicht beantwortet werden. Wenn das Alter der Frauen zur Zeit der Eizellentnahme wichtig ist für die Qualität der Eizellen und den Erfolg der Prozedur - je jünger umso besser -, dann sollte man die Eizellen so früh wie möglich entnehmen. Das social freezing macht nur Sinn, wenn die Zellen lange vor der künstlichen Befruchtung eingefroren wurden. Es ist allerdings unbekannt, was das Einfrieren für viele Jahre, evtl. Jahrzehnte für die Eizellen bedeutet, für die Erfolgsquote des Verfahrens und für die Gesundheit der Kinder. Es ist demnach auch unklar, wie viele Eizellen entnommen werden müssen, um eine einigermaßen akzeptable Erfolgsquote zu haben. Frauen können darüber nicht wissenschaftlich fundiert informiert werden. Eines ist freilich klar: Die Erfolgschancen der natürlichen Fortpflanzung zu früherer Zeit sind allemal größer. Aber, um eine Social freezing 303 ethische Frage zu stellen: Wenn eine Frau um diese geringe Erfolgsquote und die zahlreichen Unsicherheiten des Verfahrens weiß und trotzdem bereit ist, sie zu nutzen und viel Geld dafür auszugeben, und wenn für das Kindeswohl gesorgt ist - wo sind die tragfähigen Argumente, es ihr zu verbieten? Verfügen und verfügt werden durch Technologie: die Ambivalenz der Moderne Social freezing wird getragen von den bekannten Motiven der Moderne: Es ermöglicht eine weitere Beherrschung der Natur und dient zur Überwindung naturgegebener Barrieren. Es erlaubt einen weiteren Rationalisierungsschub in der Lebensgestaltung. Nicht zuletzt verliert die Unterscheidung zwischen natürlich und künstlich einmal mehr ihre Relevanz. Es spielt keine Rolle, auf welche Weise das Kind gezeugt wurde. Zudem haben sich in der Moderne die Lebensstile individualisiert und das letzte Credo lautet ohnehin: Eine jede Frau entscheide nach ihren eigenen Vorstellungen für sich selbst. Die Eliminierung des Zufalls, die Erweiterung von Freiheitsspielräumen, die Selbstverwirklichung, die Individualisierung - alles das sind höchst bekannte Motive der säkularen Moderne, die paradoxerweise quasi religiösen Charakter angenommen haben. Doch all dies ist offensichtlich nicht ohne einen Preis zu haben. Und nicht alles, was sich nicht verbieten lässt, muss deswegen auch zu einem guten Leben beitragen. Die Moderne kommt bekanntermaßen mit einem dauerhaften Wandel der Lebenswelt und in dessen Gefolge mit zahlreichen ungefragten Herausforderungen daher. Beim social freezing zeigt sie einmal mehr ihre typische Ambivalenz. Denn das Verfügenkönnen über Lebensbereiche durch Technologie geht gleichzeitig einher mit einem Verfügtwerden. Mit der Option für Frauen, die Phase ihrer Reproduktionsfähigkeit technologisch unterstützt zu verlängern, geht der zumindest subtile Druck einher, genau dieses auch zu tun. Es ist doch illusorisch zu glauben, von dieser Möglichkeit ginge keine Normativität des Faktischen aus. Erleiden Frauen, die aus welchen Gründen auch immer auf diese Technologie verzichten, nicht automatisch Nachteile gegenüber ihren Konkurrentinnen? Die Technologie ist verfügbar, und von nun an stellt sich die Frage, ob man sie nutzen soll. Dieser Preis ist für die erweiterte Möglichkeit der Lebensgestaltung zu zahlen. Die Gleichzeitigkeit von Verfügen und Verfügtwerden ist nicht neu. In vielen Bereichen eröffnen Technologien neue Möglichkeiten und neue Freiheiten, aber zugleich führen sie uns in Abhängigkeiten. Auch wenn der Nutzen im Ganzen gesehen größer ist als die Nachteile (warum sonst hätten sich die Technologien so schnell verbreitet? ), so kann das Verhältnis von Verfügen und Verfügtwerden 304 Urban Wiesing bei einigen Technologien und in bestimmten Situationen durchaus ein schlechtes sein. Diese Frage stellt sich bei jeder Nutzung einer Technologie aufs Neue und erst recht beim social freezing angesichts der dürftigen Erfolgsquoten und der weiteren Folgen. Social freezing als Angebot des Arbeitgebers Denn das Angebot eines Arbeitgebers, ihren Mitarbeiterinnen social freezing zu finanzieren, überschreitet eine Grenze; es ist übergriffig. Es vermischt unvermeidlich und zugleich auf tückisch normative Weise zwei Bereiche, die in der Gegenwart eigentlich getrennt werden: die Familie und das Berufsleben. Unter modernen Bedingungen ist die Familie ein abgeschotteter Bereich des Privaten, der für die Fortpflanzung, die Weitergabe von angemessenem Verhalten - sprich: Erziehung - und gegenseitige Stützung zuständig ist. Entscheidungen in diesem Bereich, solange sie moralisch akzeptabel sind, unterliegen letztlich der Frage, inwiefern sie authentisch sind. Das Erwerbsleben findet hingegen zumeist außerhalb der Familie statt, und dortige Entscheidungen stehen unter ganz anderen Vorgaben. Das Angebot von Facebook und Apple vermischt nun die beiden Bereiche auf subtile Weise. Darin liegt das Perfide des Angebots. Es appelliert zugleich an zwei unterschiedliche Sphären und verbindet sie mit einer versteckten Vorgabe. Es betrifft das Private und das Erwerbsleben gleichermaßen und vermischt die jeweils vorherrschenden Entscheidungskriterien. Einerseits gilt im Privaten die individuelle biographische Selbstgestaltung der Frau oder des Paares. Solange für das Kindeswohl gesorgt ist, zählt hier eine eigene, möglichst authentische Entscheidung. Andererseits berührt das Angebot die Rationalität des Berufslebens: Jede Frau schreibe ihre berufliche Biographie möglichst rational und effizient. Und in der Arbeitswelt sind private individuelle Beliebigkeiten nicht gerade karrierefördernd. Hier führt eine Durchrationalisierung der Erwerbs- Biographien eher zum Erfolg. Erst recht in einer Zeit, in der die Anforderungen im Berufsleben gestiegen sind. Gleichzeitig bleibt offen, ob die Offerte der Unternehmen primär auf Chancengleichheit und erweiterte, individuellere Gestaltungsmöglichkeiten der Familien-Biographie oder auf die Rationalisierung der Erwerbsbiographie abzielt. Beides ist möglich, beides ist angesprochen, und beides lässt sich in der Praxis ohnehin nicht trennen. Die Offerte lässt ihr primäres Ziel offen, und darin liegt das Perfide. Selbstverständlich ist es nur ein Angebot, keine Frau muss, aber jede kann ihre eigene individuelle Fortpflanzungsentscheidung treffen. Erwartet das Unternehmen, dass das Angebot genutzt wird? Das muss es noch nicht einmal dementieren. Denn die Erwartung, es zu nutzen, kommt ohnehin von selbst, al- Social freezing 305 lein durch die Strukturen und Anforderungen des Erwerbslebens. Am Ende stehen der latente Zwang und die ihm folgende, schleichende Selbstverständlichkeit, ganz frei und authentisch das Erwerbsleben nun auch noch mittels social freezing zu optimieren. Die private, höchst persönliche Fortpflanzungsstrategie gelingt am besten, wenn sie zufälligerweise auch mit den Anforderungen einer Erwerbsbiographie übereinstimmt. Insofern stehen beim social freezing ganz unterschiedliche Interpretationen nebeneinander: Ermöglicht es erweiterte, authentische Entscheidungen einer Frau, den Zeitpunkt ihrer Mutterschaft selbst zu bestimmen? Oder nötigt es zur weiteren Unterwerfung der Lebensplanung unter das Diktat des Erwerbslebens? Auf beide Fragen kann man mit ja antworten, und vor allem: die Antworten schließen sich noch nicht einmal gegenseitig aus. Die perfekte Ambivalenz. Eines ist jedoch klar: Die Moderne lässt sich nicht rückgängig machen. Social freezing ist da, egal ob vom Unternehmen gesponsert oder nicht, und ab jetzt sind Frauen mehr oder weniger explizit mit der Option konfrontiert. Es ist nicht das erste Angebot zur freien, authentischen Selbstgestaltung der eigenen Biographie unter harten ökonomischen Vorgaben - und sicher nicht das letzte. Die Qual der Wahl zeigt sich auch hier einmal mehr. Und ausweichen geht nicht: Wer nicht wählt, hat auch gewählt. Insofern verbleibt beim social freezing einmal mehr nur die schwer zu erlernende Grundtugend, mit der man den ständigen Herausforderungen des modernen Wandels begegnen sollte: die Gelassenheit. Das bedeutet konkret: Es ist trotz allem und tröstlicherweise nicht auszuschließen, dass eine Frau auch ohne social freezing ein gelingendes Leben führen kann. Wie sich „nicht-technische“ Aspekte vermutlich nicht in die Technikentwicklung „integrieren“ lassen-- Eine Bildergeschichte Mone Spindler Der Integrationsdiskurs ist „extensiver“ geworden (vgl. Rodriguez et al. 2013: 1128). In der Mathematik werden Funktionen integriert. Der europäische Integrationsprozess scheint gefährdet. „Flüchtlingen“ wird Integration per Gesetz verordnet. Benachteiligte Bevölkerungsgruppen sollen integriert werden. Nun geht es auch auf forschungspolitischem Terrain um Integration. Seit Inter- und Transdisziplinarität mehr forschungspolitische Forderungen an die Wissenschaften als wissenschaftliche Selbsterneuerungsprojekte sind (vgl. Bogner 2010: 9 ff., Maasen 2010: 249 f.), wird die komplizierte Frage, was das „Inter“ oder das „Trans“ eigentlich genau bedeuten soll, zunehmend mit dem Schlagwort „Integration“ beantwortet (vgl. Holbook 2013: 1865, Bammer 2013; Pohl et al. 2008). In diesem Sinne wurde der Begriff auch in einflussreiche Programme zur Forschungsförderung eingeschrieben, und zwar wenn es darum geht, wie Technikentwicklungsprojekte gestaltet werden sollten: „Socio-technical integration“ ist ein Forschungsmodus, der in den europäischen Rahmenprogrammen zunehmend gefordert und gefördert wird. Dieser forschungspolitische Integrationsdiskurs ist mit den Jahren diverser, extensiver und pervasiver geworden (vgl. Rodriguez et al. 2013, 1128 ff.): Sollten anfangs vor allem ethische, rechtliche und soziale Aspekte (ELSA) integriert werden, geht es mittlerweile auch um sozio-ökonomische Dimensionen und um die Beteiligung von Unternehmen, Nutzer_innen, gesellschaftlichen Interessengruppen und einen Dialog mit „der Gesellschaft“ (diverser). Die Integration dieser Aspekte und Akteur_innen soll immer näher an Forschungs- und Entwicklungspraktiken konkreter Projekte geleistet werden und nicht durch parallele, begleitende Forschungen (pervasiver). Während anfangs vor allem Forschungen im Bereich der Lebenswissenschaften integriert forschen sollten, ist die Integrationsforderung mittlerweile auch auf andere Forschungsbereiche ausgeweitet worden (extensiver) (vgl. Rodriguez et al. 2013). In diesem Kontext steht auch das Konzept „integrierte Forschung“, das derzeit im Förderprogramm zur Mensch-Technik-Interaktion des BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) ausgearbeitet wird (vgl. BMBF 2015: 20 ff.). Technikentwicklungsprojekte sollen demnach einen bunten Strauß von Aspekten und Akteur_innen in ihre Entwicklungsarbeit integrieren, 1 unter anderem auch Perspektiven „nicht-technischer“ Disziplinen. Wer z. B. Fördergelder für technische Innovationen im Pflegebereich einwerben möchte, dem verordnet das BMBF aktuell: Nicht-technische Forschungsfragen zu ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen ( ELSI ), die sich aus der avisierten Anwendung der Technologien ergeben, müssen gemäß dem Ansatz einer integrierten Forschung zwingend in den Projekten berücksichtigt werden. 2 Die Erwartungen an die Integration interdisziplinären Wissens in die Technikentwicklung sind hoch (siehe auch Warnke / Gransche 2009): Sie soll marktfähigere Produkte und mehr Lebensqualität bringen. Die Technik soll menschenfreundlicher und die Menschen technikfreundlicher werden. Die interdisziplinäre Forschung soll helfen, große gesellschaftliche Probleme praktisch zu lösen. Diskurse sollen fundiert oder auch vorweggenommen werden. Eine Diskussion darüber, ob die Ziele dieser forschungspolitisch verordneten Vergesellschaftung der Technikwissenschaften vereinbar, vertretbar (vgl. Balmer et al. 2016) und realisierbar sind, steht aus. Vage, mit Ansprüchen überladene Integrationsbegriffe Was kann und was soll Integration im Kontext interdisziplinärer (Technik)Forschung eigentlich bedeuten? Angesichts der zentralen Stellung, die dem Begriff „Integration“ zugewiesen wird, finden sich erstaunlich wenige und unkonkrete Hinweise auf die zugrunde gelegten Integrationsbegriffe. Im Falle „integrierter Forschung“ sollen die zu integrierenden Aspekte z. B. „systematisch zusammengeführt“ und „wechselseitig aufeinander bezogen“ werden (vgl. BMBF 2015: 20). An verwandter Stelle scheinen auch weitreichendere Vorstellungen von Integration durch. Hier gilt es, „etablierte disziplinäre Abgrenzungen hinter sich [zu] lassen“, verschiedene Wissenssphären miteinander zu „verschränken“ oder gar zu „verschmelzen“ (vgl. Warnke / Gransche 2009: 17). 1 In „integrierter Forschung“ sollen folgende Aspekte systematisch zusammengeführt werden: Der Mensch im Mittelpunkt; ethische, rechtliche und soziale Fragen; Nutzerintegration; Nachwuchsförderung; Potentiale kleiner und mittelständischer Unternehmen (KMU) nutzen und internationale Perspektiven (vgl. BMBF 2015: 20 ff). 2 Siehe: https: / / www.bmbf.de/ foerderungen/ bekanntmachung-1237.html (Stand: 06. 10. 2016). 308 Mone Spindler Verständlicherweise gehen die genannten forschungspolitischen Schriften nicht ins methodologische Detail. Dennoch fällt auf, wie wenig Konkretisierung und Begründung nötig scheinen, um die Forderung nach interdisziplinärer Integration plausibel zu machen. Integration klingt lateinisch, sachlich, inklusiv. Vom Wortsinn her bezeichnet der Begriff die „[Wieder]Herstellung einer Einheit [von Differenziertem]“. Darüber hinaus ist das Schlagwort so unbestimmt, dass es selbst eine Menge wissenschaftspolitischer Ziele zu integrieren vermag. Die vagen, mit Ansprüchen überladenen Integrationsbegriffe sind kein Alleinstellungsmerkmal der forschungspolitischen Ansätze. Diese Kritik begleitet die Diskussion über inter- und transdisziplinäre Forschung schon lange (vgl. z. B. Heckhausen 1987: 129), ohne dass sie dabei immer unter dem Begriff „Integration“ verhandelt würde. Bis heute bleibe es „nach wie vor notorisch unklar, was [unter Interdisziplinarität] überhaupt zu verstehen ist“ ( Jungert et al. 2010: XI ). Das bringt den Konzepten Integration bzw. Interdisziplinarität die Kritik ein, vor allem auch wissenschaftspolitische Rhetorik zu sein. Bilder von interdisziplinärer Integration Begibt man sich dennoch weiter auf die Suche danach, was „Integration“ im untersuchen Kontext eigentlich bedeuten kann und soll, fällt auf, dass viele Autor_innen Integration mit Hilfe von Metaphern oder Bildern genauer zu bestimmen versuchen. Interdisziplinarität ist demnach z. B. kein Patchwork, sondern gleicht einem nahtlos gewebten Stoff (vgl. Lattuca 2001: 11). Sie wird mit einem impressionistischen Ölgemälde verglichen (vgl. Friedman et al. 2008), dessen Farben kunstvoll gemischt und in vielen Schichten aufgetragen wurden. Man soll sich die Integration disziplinärer Wissensbestände wie den Sehvorgang vorstellen, in dem Auge und Gehirn verschiedenste Reize zu einem kohärenten Bild synthetisieren (vgl. Bammer 2006: 1). Häufig wird die Metapher der Verschmelzung gebraucht (vgl. z. B. Warnke / Gransche 2009: 17). „Interdisziplinäre Zusammenarbeit zur integrierten Forschung“ wird auch als buntes Zahnradgetriebe dargestellt (siehe Abbildung). Es wäre zu kurz gegriffen, die Bildersprache als bloße Vermeidungsstrategie vor der ausstehenden Begriffsklärung zu deuten. Sie kann auch ihrerseits als eine Integrationsmethode gelesen werden. Die Autor_innen möchten neue Modi der Wissensproduktion über Grenzen der Disziplinen und teils auch der Wissenschaft hinweg vermitteln. Es kann durchaus sinnvoll sein, für diese inter- oder transdisziplinäre Vermittlungsarbeit Bilder zu nutzen. Die Sprache der Bilder scheint unmittelbarer verständlich und dadurch möglicherweise „integrativer“ als fachwissenschaftliche Sprachen. Bilder können Konzepte nicht ersetzen. Sie können aber ein guter Anlass sein, die Diskussion über Konzepte aufzunehmen. Nicht-technische Aspekte in der Technikentwicklung 309 310 Mone Spindler Es lohnt sich also, exemplarisch eines der Bilder gemeinsam zu betrachten und durchaus beim Wort zu nehmen. Interdisziplinäre Integration als buntes Zahnradgetriebe Die vielleicht konkreteste Vorstellung davon, was „Integration“ im Kontext „integrierter Forschung“ bedeuten soll, liefert ein Bild: Auf den Websites des BMBF -Forschungsprogramms zur Mensch-Technik-Interaktion findet sich ein Agenturfoto, das „Interdisziplinäre Zusammenarbeit zur integrierten Forschung“ veranschaulichen soll (siehe Abbildung). 3 Das Bild zeigt acht Personen, die in einem lichten, modernen Raum um einen edlen Holztisch sitzen. Die Tischrunde ist sorgfältig nach unterschiedlichem Geschlecht, Alter, Hautfarbe und gleicher Schicht ausgewählt. Vor ihnen sind Zahnräder unterschiedlicher Form und Farbe ausgebreitet. Spätestens die Kaffeetassen und das Tablet auf dem Tisch deuten darauf hin, dass es sich um ein Arbeitstreffen handelt. Bei der Tischgesellschaft scheint es sich um ein interdisziplinäres Projektteam zu handeln, das darüber brütet, wie sich die Zahnräder zu einem Getriebe zusammenfügen lassen. 3 Das Agenturfoto bebildert den Projektsteckbrief des BMBF-Verbundprojekts INTEGRAM, das im Arbeitsbereich Ethik und Kultur am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen unter der Leitung von Regina Ammicht Quinn durchgeführt wird (siehe www.uni-tuebingen.de/ integram (10. 10. 2016). Das Bild wurde vom Projektträger VDI / VDE bzw. vom BMBF ausgewählt. „Interdisziplinäre Zusammenarbeit zur integrierten Forschung“. © Istock / Getty Images. abrufbar unter: http: / / www.technik-zum-menschen-bringen.de/ projekte/ integram (19. 9. 2016) Lassen wir uns einen Moment auf das Bild von interdisziplinärer Technikentwicklung als Konstruktion eines bunten Zahnradgetriebes in gemeinschaftlicher Tafelrunde ein. Mit dem Zahnrad steht eine alte Technik im Mittelpunkt des Bildes, das den neuen Modus der High-Tech Entwicklung verdeutlichen soll. Im Gegensatz zu manch neuer Technik sind Zahnräder begreifbar und in ihrem technischen Funktionieren recht anschaulich. Angesichts der Unklarheit darüber, was interdisziplinäre Integration eigentlich ausmacht, ist das zunächst eine beruhigende Botschaft. Bei genauerer Betrachtung vermitteln Zahnradgetriebe jedoch einen sehr anspruchsvollen Integrationsbegriff. Zahnräder werden so hergestellt, dass sie formschlüssige Verbindungen mit Gegenrädern eingehen. Mit ein wenig Schmierfett versehen sollen sie perfekt ineinandergreifen, Zahn für Zahn, Umdrehung für Umdrehung. So können Zahnradgetriebe erstaunliche Kräfte übertragen. Nun liegen auf dem Arbeitstisch Zahnräder ganz unterschiedlicher Form und Farbe. Ihre Verschiedenheit lässt sich als Symbol für die diversen Wissens- und Praxisformen lesen, die die Personen am Tisch aus ihren jeweiligen Fachgebie- Nicht-technische Aspekte in der Technikentwicklung 311 312 Mone Spindler ten zu dem Arbeitstreffen mitbringen. Man könnte sich vorstellen, dass die Acht jeweils mit einem ihrer besten Zahnräder in der Tasche angereist sind, die alle in verschiedenen Schmieden für sehr spezielle Getriebe gefertigt wurden. Es wäre ein Wunder, wenn sie mit ein wenig Arrangierarbeit schlüssig ineinander greifen und Energie sinnvoll übertragen würden. Größere Metallarbeiten wären nötig, um sie aufeinander abzustimmen und füreinander umzuarbeiten. Aber das Bild von Integration als Zahnradgetriebe gerät schon an einem früheren Punkt ins Wanken. Das Zahnrad als Bild für Bausteine der Wissensproduktion bleibt mit seinen über den Umfang gleichmäßig verteilten Zähnen in Sachen Komplexität noch hinter dem verstaubtesten Wissensbegriff zurück. Zudem ist gar nicht davon auszugehen, dass die Mitglieder des interdisziplinären Forschungsteams alle ausgerechnet Zahnräder als ihre Arbeitsmaterialien mitbringen. Zumal wenn es um die Integration „nicht-technischer“ Disziplinen geht. Vermutlich würden neben den Zahnrädern auch „Dinge“ wie Werte, empirische Befunde, Konzepte oder Kritik auf dem Tisch ausgebreitet. Mechanische und oft auch sprachliche Übersetzungen kommen hier an ihre Grenzen, da Disziplinen bisweilen nicht nur „words“, sondern „worlds apart“ sind (vgl. Holbook 2013: 1868). Warum also überhaupt Zahnräder? Liegen nur Zahnräder auf dem Tisch, weil „nicht-technische“ Arbeitsmaterialien gar nicht mitgedacht sind? Schließlich soll ja Technik entwickelt werden, wenn auch ein bisschen bunter als bisher. Oder entspringen die Zahnräder der Idee, dass sich Integration durch einen Mechanismus der Methodenbefolgung erreichen lässt? Oder noch besser durch eine „Integrationsmaschine“ wie dem Integraphen oder dem Integrimeter, zwei fast vergessene mathematische Geräte aus prä-digitaler Vorzeit. 4 Zeichnet sich da vielleicht ein ganz neues Zukunftsfeld der Innovation ab? Auch wenn das Zahnradgetriebe als Metapher für interdisziplinäre Integration also hinkt, wie sieht es mit der Tischgesellschaft aus? Zunächst fällt positiv auf, dass die Frage wer unter welchen Verhältnissen die Integration leisten soll, überhaupt im Bild ist. In den anderen erwähnten Bildern der Integration - dem nahtlos gewebten Stoff, dem impressionistischen Ölgemälde und dem Sehvorgang - kann man sich die Akteur_innen und Produktionsbedingungen der Integration nur denken. Man stößt dabei auf alles andere als post-moderne Vorstellungen von Wissensproduktion: Hinter dem gewebten Stoff erscheint die Weberin, die alle Strippen geschickt ins Handwerk laufen. Das impressionistische Ölgemälde ist das Werk eines Malers, dessen Kunst gerade in der Eigenmächtigkeit besteht, mit der er die verschiedenen Farben wieder und wieder 4 Vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Mathematische_Instrumente#Integratoren (Stand: 08. 10. 2016). Nicht-technische Aspekte in der Technikentwicklung 313 mischt und übereinander aufträgt. Im Bild von Integration als Sehvorgang sind es gar Auge, Neven und Gehirn, die gewissermaßen organisch integrieren. Das Bild der acht Personen, die um einen Arbeitstisch sitzen, zeigt hingegen, dass „interdisziplinäre Integration“ tatsächlich mit menschlicher Zusammenarbeit verbunden ist. Dabei wird ein schönes Bild der Zusammenarbeit gezeichnet: Alle sitzen an einem Tisch. Von oben betrachtet scheinen alle auf Augenhöhe miteinander zu diskutieren. Und zwar über die gleiche Sache, nämlich die Zahnräder, die vor ihnen auf dem Tisch liegen. Im Fotostudio mag das gelingen. Wenn Projektteams tatsächlich einmal an einem Tisch zusammen sitzen, ist ein „herrschaftsfreier“, „sachlicher“ Diskurs vielleicht manchmal das Ideal, selten aber Normalität. Zu gerne würde man in die Gesichter der Beteiligten gucken können und auch einen Blick unter den Tisch riskieren. Auf der Suche nach weniger idealistischen Bildern interdisziplinärer Wissensproduktion Die Bilder der „Integration“, die im Kontext interdisziplinärer (Technik)Forschung gezeichnet werden, sind alle auf ihre Weisen idealistisch. Das macht sie ebenso störanfällig wie lehrreich. Die kleine Bildergeschichte zeigt: Es fehlt nicht nur an Konzepten dafür, was „Integration“ genau bedeuten soll, wenn man sie nicht zu einem Zahnradgetriebe des Konsenses stilisieren will (vgl. auch Holbook 2013). Vielleicht fehlt es auch an Bildern interdisziplinärer Wissensproduktion, die auch Grenzen der Integrierbarkeit und den Wert der Desintegration fassen können. Möglicherweise müssen solche Bilder in gemeinschaftlichem Experimentieren mit post- ELSI Formen der Zusammenarbeit (vgl. Balmer et al. 2016) erst entstehen. Hierfür müssten zunächst Motivations-, Macht- und Arbeitsverhältnisse geschaffen werden, die derartige Experimente tatsächlich ermöglichen. Trotz allem: Interdisziplinärere Technikentwicklung bietet zumindest eine Chance auf eine reflexivere Technikentwicklung. Mit den bisherigen Begriffen und Bildern der „Integration“ erscheint das Vorhaben allerdings eher eine harmonisierende Rhetorik für konfliktreiche Aushandlungsprozesse, die für die „zu integrierenden“ nicht selten mit erheblichen „existenziellen, epistemischen und affektiven Kosten“ verbunden sind, die bisher meist unsichtbar bleiben (vgl. Viseu 2015: 642). 314 Mone Spindler Literatur Balmer, Andrew S. / Calvert, Jane / Marris, Claire / Molyneux-Hodgson, Susan / Frow, Emma / Kearnes, Matthew et al. (2016). Five rules of thumb for post- ELSI interdisciplinary collaborations. 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(Digitale) Informationstechniken stehen - wie andere Techniken auch - in einem zweifachen Verhältnis zur Kultur: Informationstechniken sind selbst Kultur und schaffen Kultur. Obwohl diese Dialektik prinzipiell für jedes technische Artefakt behauptet werden kann (man denke nur an die kulturstiftende Kraft der Glühbirne oder des Küchenherds), ist die Einwirkung der Informationstechniken auf die grundlegende Form des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses doch besonders bedeutend. Kommunikationstechniken haben nicht nur aufgrund ihrer räumlichen Ausdehnung und ihres Anwendungsspektrums einen weit reichenden Einfluss, sondern auch deshalb, weil sie Vermittlungsfunktionen in öffentlichen Gesellschaftsbereichen und lebensweltlichen Kontexten wie Berufsleben oder Familie haben, wo sie unsere Kommunikation als Mittel für Reflexion, Verständigung und Selbstrepräsentation prägen. Die Bedeutung der digitalen Medien hat vor allem seit der Etablierung einer allgemeinen Internetnutzung in den 1990er Jahren wachsend zugenommen, gleichzeitig rückte der Medienbegriff in das Zentrum gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse. In der öffentlichen Diskussion wird und wurde er in unterschiedlichen Schwerpunkten vor allem in Hinsicht auf den Wandel hin zu einer „digitalen Gesellschaft“ behandelt. In der Medienwissenschaft und der Technikphilosophie ist häufig die Vorstellung von einer totalen Medialisierung (siehe Livingstone 2009) vorzufinden. Gleichzeitig hat in der Medienphilosophie eine Rückbesinnung auf einen historisch grundgelegten Begriff von Medialität stattgefunden, der sich weitgehend unabhängig von den Diskursen zur digitalen Medienkommunikation über erkenntnistheoretische Dimensionen von Medialität zu vergewissern sucht (siehe Münker 2016). 320 Jessica Heesen Aus höherer Perspektive betrachtet, ist die Bereitschaft zur Mediennutzung selbst immer auch Ausdruck bestimmter Präferenzen und eines (anthropologisch grundgelegten) kulturellen Formwillens (vgl. Gehlen 1986). Der Informations- und Kommunikationstechnik werden bei wachsender gesellschaftlicher Etablierung stetig mehr Möglichkeiten geboten, die Form der Kommunikation zu strukturieren, aber auch die Definitionsmacht über metaphorische oder symbolische Orientierungen zu erhalten. Medientechniken, wie Technologien allgemein, eröffnen so rekursiv bestimmte Pfade zur Erschließung der menschlichen Umwelt. Sie bestimmen in welcher Weise wir uns der gegenständlichen und sozialen Realität nähern. In erkenntnistheoretischer Perspektive sind Technologien „Filter“, die zwischen dem Subjekt und der erfahrbaren Umwelt stehen. Sie sind damit Mittel der menschlichen Welterschließung, also der Weise, wie wir Wirklichkeiten im Prozess des Erkennens als für uns erkennbare gestalten (siehe Heesen 2008: 19). Insbesondere konstruktivistische Strömungen haben die Beteiligung der apparativen Medien an der Selbstorganisation sozialer Wirklichkeit und der entsprechenden individuellen Bewusstseinsformen durch die Medien betont (vgl. Merten / Schmidt / Weischenberg 1994, Pörksen 2011). Wie auch Theorien zum Verhältnis von Medientechnik und Kultur, tendieren sie zu einer Auflösung eines gegenständlichen zu Gunsten eines erkenntnistheoretischen Medienbegriffs. Medien kommen beispielsweise nach S. J. Schmidt eine Schlüsselfunktion bei der Kopplung personaler Selbstreflexion und sozialer Lebensbereiche zu. Medien als Räume der Strukturierung gesellschaftlicher Wissensbestände nehmen hier die zentrale Rolle für die Weisen dieser Kopplung wie auch die Konstruktion eines gesellschaftlichen Wirklichkeitsmodells ein, so dass Schmidt die Begriffe Kultur und Medium in einem Konzept von Medien kultur identifizieren kann (siehe Schmidt 1994). Forschungsrichtungen aus der Soziologie, den Cultural Studies oder der Humangeografie untersuchen die Beziehung zwischen Medientechniken und Kulturformen oder die Wechselwirkung zwischen Technik- und Kulturgeschichte. Insgesamt ist der Begriff der Medienkultur (siehe Pias u. a. 2003) und entsprechende Studiengänge inzwischen etabliert und hat den systemkritischen Begriff der Kulturindustrie, grundgelegt durch Adorno und Horkheimer (1993 [1944]), weitgehend abgelöst. Die Begriffe Medium und Kultur verschmelzen hier zu einem Konzept, das grundlegende Fragen des menschlichen In-der-Welt-Seins artikuliert. Für beide ist die dialektische Stellung des Menschen zwischen konstruktivistischer „Welterschaffung“ und Abhängigkeiten von (selbstgeschaffenen) kontextuellen Strukturen - wenn man so will, den „Weltdeterminanten“ - grundlegender Ausgangspunkt. Über die Kultur im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit 321 In der Reflexion dieser Bedingungsverhältnisse überschneiden sich die Gegenstandsbereiche von Medien- und Technikphilosophie wie auch der Kulturwissenschaft; sie nehmen Medien sowohl in ihrer apparativen Gestalt, aber auch als Schlüssel zum Verständnis menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung in den Blick. Die Auseinandersetzung mit der Wirkung von Informationstechniken auf den Alltag wie auch auf Formen der Weltdeutung ist somit weitgehend gleichbedeutend mit der Frage nach dem Einfluss von Informationstechniken auf Kultur. Kultur digital Digitale Medien, insbesondere die Sozialen Medien, sind „Mitmach-Medien“, in denen die Nutzerinnen und Nutzer nach Belieben eigene Beiträge und Dienste einstellen können. Sie bieten viele Anwendungen für den Alltag und sind entsprechend auf Ebene der Inhalte häufig Ausdruck von Alltagsthemen. Gleichzeitig werden Informationstechniken und das Internet jedoch auch für die Repräsentation von Kunst und die Dokumentation von ursprünglich nicht-digital vorliegenden Medien (z. B. Bücher) oder immaterieller Kultur (z. B. traditionelles Brauchtum) genutzt. Die Datafizierung bzw. Digitalisierung berührt damit den Gegenstandsbereich eines engen wie auch eines weiten Kulturbegriffs (siehe Reckwitz 2005). Ein weiter Kulturbegriff fasst Kultur als das gesellschaftliche Ganze, einschließlich der ideellen und materiellen Reproduktion (siehe Marcuse 1980 [1937]). Ein enges Verständnis von Kultur meint hingegen die künstlerischen und kunsthandwerklichen Artefakte, das Kulturgut (Traditionen, Bräuche) und teils auch bürgerlich hoch bewertete „zivilisatorische“ Hervorbringungen wie „Debattenkultur“ oder „Esskultur“. Das Besondere an der digitalen Erfassung von Kultur ist nun vor allem ihre umfängliche Reichweite und Eingriffstiefe sowohl in Bezug auf den engen als auch den weiten Kulturbegriff. Man kann hier von einer Totalität der Erfassung von Kultur und zwar unabhängig von der Weite des zugrunde gelegten Kulturbegriffs sprechen. Sowohl kulturelle Institutionen und künstlerische Artefakte, die einen engen Kulturbegriff begründen, als auch die unterschiedlichen Alltagskulturen und Formen der Weltdeutung, auf die sich ein weiter Kulturbegriff bezieht, sind von digitaler Reproduktion, Speicherung und Weiterverarbeitung betroffen. Für das künstlerische Artefakt bedeutet die Digitalisierung ein erneutes Mehr an Verbreitung - ein Thema, das bereits mit Buchdruck, Fotografie und Film aufkam. Der Weg der Mona Lisa zu Google Picture ist also ähnlich wie ihr Weg in zigtausende Kunstkataloge und Postkarten. Die Problemlage für das 322 Jessica Heesen sogenannte immaterielle Kulturerbe muss jedoch neu bestimmt werden. „The ‘intangible cultural heritage’ means the practices, representations, expressions, knowledge, skills - as well as the instruments, objects, artefacts and cultural spaces associated therewith - that communities, groups and, in some cases, individuals recognize as part of their cultural heritage” ( UNESCO 2013). Das immaterielle Kulturerbe ist häufig Teil der Alltagskultur, z. B. erfolgte 2010 bzw. 2013 die Eintragung der mediterranen Ernährung auf der Liste (siehe UNESCO Intangible Heritage Lists). Bei der Frage nach dem Einfluss der digitalen Reproduktion auf jedwede Art von kulturellen Erzeugnissen soll im Folgenden das Augenmerk auf der ästhetischen Wirkung (siehe Jauß 1977) liegen. Ein solcher Zugang schließt an Diagnosen an, die bereits Walter Benjamin 1934 in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ stellt. Benjamin hält fest: „Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks - sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet“ (Benjamin 1977: 139). Reproduktionstechnik … löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte“ (Benjamin 1977: 141). So beschreibt Benjamin einen Prozess, der unter dem Begriff Rezeptions- oder Wirkungsästhetik in den 1970er Jahren zum Standard kultur- und kunstgeschichtlicher Analysen wurde. Benjamin betont in seinem Aufsatz zwei Aspekte: die so genannte „Aktualisierung“ des Reproduzierten in seinem jeweils neuen Kontext sowie „die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe" (ebd.). Diese Analyse trifft weiterhin zu, auch wenn die Möglichkeiten zur Reproduktion sich ihrerseits vervielfältigt und ausdifferenziert haben. Während jedoch ein Kunst objekt durch Reproduktion zwar nicht im Auge des Betrachters, wohl aber in der Substanz unverändert bleibt, kann die Spiegelung und Reproduktion einer immateriellen kulturellen Überlieferung zu ihrer essentiellen Veränderung führen. Das betrifft nicht nur namentlich die immaterielle Kultur wie sie mit der Begriffsverwendung durch die UNESCO veranschaulicht wird, sondern sämtliche Formen von Alltagskultur, Sitte und Konventionen, die als Weltbegriff von Kultur (vgl. Ammicht Quinn 2011: 264) Identitäten und Interaktionen strukturieren und prägen. Solche Wissensbestände und Praktiken sind kulturell überlieferter Bestandteil der Lebenswelt und konstituieren Selbstverständnis und Weltwahrnehmung einer sozialen Gemeinschaft. Für moderne digitale Technologien („ Pervasive Technologies“) ist es selbstverständlich, dass sie sich mit dem alltäglichen Über die Kultur im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit 323 Handlungsumfeld verweben. Per definitionem ist Lebenswelt eigentlich ein Handlungsumfeld, das in Bezug auf die ihm zugrunde liegenden Bedeutungen und Konstitutionsbedingungen nicht hinterfragt wird (zum Lebenswelt-Begriff siehe Berger / Luckmann 1969). Insbesondere die Alltagskultur spielt hierbei eine grundlegende Rolle. Es lässt sich festhalten: Teile dieser Lebenswelt werden zunehmend durch mobile und individualisierte Informationstechniken und entsprechende Praktiken (wie etwa Self-Tracking) reproduziert. Eine Ausweitung der Digitalisierung bis in den lebensweltlichen Bereich der Kultur geht einher mit einer Objektivierung und Reflexion oder anders ausgedrückt mit der Entfremdung und Ästhetisierung von Lebenswelt. Dieser Prozess kann einerseits die Befreiung von überkommenen Traditionen fördern, andererseits aber das Zerbrechen gelebter gemeinschaftlicher Identitäten zur Folge haben. Im Moment ihrer informationstechnischen Erfassung werden gewohnte gemeinschaftliche Werte und Praktiken vergleichbar gemacht, dekontextualisiert und indirekt zur Disposition gestellt. Die Auswahl, Systematisierung und Benennung vormals disparater Phänomene macht sie für die Mediennutzung erst verfügbar und öffnet sie potenziell verschiedenen Formen von Öffentlichkeiten und Datenerhebungen. Lebensweltliche Alltagskulturen stehen damit einerseits der Reflexion und der Kritik in einem weit höherem Maße zur Verfügung als vorher. Andererseits kann die Loslösung der Tradition aus dem gelebten lokalen Kontext leicht zu ihrer Konservierung als festgeschriebener Folklore führen. Der technisch induzierte „Zwang“ zur digitalen Reproduktion sämtlicher kultureller Praktiken ist deshalb ambivalent zu bewerten. Die demokratisch und ethisch einerseits wünschenswerte Repräsentation von Kultur ist andererseits gleichbedeutend mit der Teilhabe an einem System, das die ästhetische Eigenheit des Kulturprodukts wie auch das Verständnis von Alltagskultur im Prozess der Digitalisierung verändert. Was ist wertvolle Kultur? Eine weitere Herausforderung der Digitalisierung liegt in der Menge der nun verfügbaren Kulturprodukte. Sie ist zum einen erzeugt durch die digitale Reproduktion künstlerischer Artefakte, zum anderen hergestellt durch die Ästhetisierung bzw. Medialisierung von Alltagskultur und Lebenswelt. In der Regel kommt die Wertschätzung für ein Kulturprodukt (im weiten Sinne) durch eine Selektion zum Ausdruck. Maßgeblich sind in diesem Zusammenhang z. B. Bewertungskriterien wie Erinnerungswert, Materialwert, Kunstwert, Gebrauchswert oder der mögliche zukünftige Wert (zum Wert digitaler Archive für zukünftige Generationen siehe Kornwachs 2016). Die digitalen 324 Jessica Heesen Medien machen die Zuschreibung solcher Kriterien jedoch schwer, indem sie gewohnte Kennzeichnungen kultureller Interpretationskontexte obsolet werden lässt. Unterteilungen wie „Hochkultur“ oder „Populärkultur“ zum Beispiel werden mit der interaktiven, demokratischen und ortsunabhängigen Distribution und Rezeption der Inhalte im Internet hinfällig. Beim Gang in die Oper verlässt sich die Besucherin darauf, dass die Auswahl des Stückes institutionell geregelt wurde und man es ihr nach der Bewertung durch verschiedene Gremien und / oder kompetente Personen präsentiert. Diese „Qualität durch Verfahren“ und ihre Kennzeichnung durch den Kontext der Rezeption (das Opernhaus, oder bei anderen Kunstformen z. B. das kommunale Kino, der Radiosender) fallen durch die „Alles-Überall-Jederzeit-Rezeption“ der digitalen Medien weitgehend weg oder werden irrelevant. Medienkonvergenz, mobiles Internet und intelligente Umgebungen pluralisieren den Kultur- und Kunstbegriff konsequent bis zur Unkenntlichkeit. Ein „anything goes“ in Bezug auf Kunst und Kultur kann hier als technische Vollendung eines aufgeklärten Kunstbegriffs (siehe Beuys 1978) begriffen werden und insofern als Ausdruck einer liberalen Gesellschaft, in der Werturteile an erster Stelle dem Individuum überantwortet werden. Um Individuen zumindest potenziell zu einer Meinungs- und Geschmacksbildung zu befähigen, um also überhaupt erst die Kompetenzen aufzubauen, die für eine eigenständige Orientierung erforderlich sind, können Institutionen wie Bibliotheken, Museen oder der (Kultur)Journalismus einen hervorgehobenen Beitrag leisten (siehe Heesen 2011). Sie alle teilen die Funktion, gesellschaftliche Phänomene einzuordnen, zu interpretieren und letztlich auch zu bewerten. Um diese Funktion mit der notwendigen Autorität und Reputation ausfüllen zu können, müssen diese Einrichtungen jedoch erstens plausibilisieren können, dass der Prozess der Selektion selbst wertvoll ist zweitens, dass sie als Institutionen besonders zu dieser Selektion befähigt sind und drittens, dass die Öffentlichkeit auf verständliche Art in den Einordnungs- und Selektionsprozess eingebunden ist. Besonders der letztgenannte Punkt ist wichtig in Konkurrenz zu einem Umfeld, in dem die maschinelle Selektion und die Nutzung semantischer Netze durch Suchmaschinen stetig ausgeweitet wird und die Kriterien für Selektion und Einordnung den Nutzerinnen und Nutzer aber weitgehend unbekannt bleiben (siehe Tesnière / Lesquins 2006: 73-76, zu neuen Formen der Nutzer-Einbindung und der Media Governance siehe Eberwein / Porlezza 2016). Eine rein technisch getriebene Archivierung von „allem“ wird den gesellschaftlichen Aufgaben für die Pflege und Entwicklung von Kultur nicht gerecht. In einem Medium, das alle Inhalte neutralisiert, ist Neutralität ein überkommenes Leitbild. Über die Kultur im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit 325 Literatur Ammicht Quinn, Regina (2011). Kulturethik. In: Marcus Düwell / Christoph Hübenthal / Micha H. Werner (Hrsg.). Handbuch Ethik. 3. aktualisierte Aufl. Stuttgart / Weimar: Metzler, 264-269. Benjamin, Walter (1977). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders. Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 136-170. Berger, Peter / Luckmann, Thomas (1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer. Beuys, Joseph (1978). Jeder Mensch ein Künstler, Auf dem Weg zur Freiheitsgestalt des sozialen Organismus, 3 Tonbandkassetten. Wangen: FIU -Verlag. Eberwein, Tobias / Porlezza, Colin (2016). Both sides of the story: Communication ethics in mediatized worlds. Journal of Communication, 66: 2, 328-342. 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Eine eingehende Beschäftigung mit der Cloud aus einer ethischen Perspektive ist, wie ich argumentieren werde, notwendig, aber bislang nur unzureichend umgesetzt, und viele Aspekte sind daher noch zu beleuchten. Zwar wäre es falsch zu behaupten, dass ein ethischer Blick auf die Cloud und das Cloud Computing bislang gänzlich fehlte. Häufig stehen in der Auseinandersetzung mit der Cloud jedoch vor allem die Folgen und Besonderheiten einer Datenauslagerung und -sicherheit aus Sicht der Nutzer_innen im Vordergrund (vgl. z. B. Bendel 2016). Zum Beispiel zeigt sich dies anhand der oft beispielhaften Problematik, ob und welche Daten Anwaltskanzleien über ihre Klient_innen in der Cloud speichern dürfen. Dennoch bietet Cloud Computing nicht nur das Potenzial, sondern auch die Notwendigkeit, sich tiefergehend aus einer ethischen und politischen Perspektive mit diesem sozio-technischem Trend zu beschäftigen. Ich möchte anhand einiger kurzer Schlaglichter aufzeigen, welche Aspekte dieses Argument untermauern und wo blinde Flecken in der Betrachtung der Cloud liegen könnten. Was ist die Cloud? Ein zunehmender Fokus auf Cloud Computing und Cloud-Dienste sowie ihre weitere Fortentwicklung ist einer der offensichtlichsten und wichtigsten Trends 328 Andreas Baur-Ahrens in den Informations- und Kommunikationstechnologien. Aber was genau muss man sich darunter vorstellen, wenn man vom Arbeiten in der Cloud, von der Synchronisation in der Cloud oder Ähnlichem spricht? Hier gibt es neben der für Konsument_innen und Nutzer_innen bekannten Dienste großer Internetkonzerne (wie z. B. Dropbox oder Gmail) natürlich noch weitere und tieferliegende Formen von Cloud-Technologien. Häufig werden die Möglichkeiten und Anwendungsbereiche der Cloud in drei Bereiche unterteilt: „Infrastructure as a Service“ (IaaS), „Platform as a Service“ (PaaS) und „Software as a Service“ (SaaS). Diese drei verkörpern sehr unterschiedliche Formen einer ähnlichen Idee: Die bedarfsgerechte Nutzung von Informationsinfrastruktur, welche konzentriert in entfernten Rechenzentren betrieben und vorgehalten wird. SaaS ist wahrscheinlich das vor allem unter Konsument_innen am weitesten verbreitete Modell, bei dem meist webbasiert Anwendungen zentral zur Verfügung gestellt werden, statt sie jeweils auf einzelnen Kundenrechnern zu installieren. Beispiele sind Office-Anwendungen wie Google Docs oder Microsoft Office 365. Bei PaaS-Angeboten hingegen wird keine fertige Software angeboten, aber eine vorkonfigurierte und gewartete Plattform, auf der dann eigene Anwendungen flexibel aufgesetzt werden können. IaaS wiederum ist die grundlegendste der drei Varianten und bietet basale IT-Hardware-Bausteine an, auf der dann v. a. Unternehmen eigene Systeme aufsetzen können und die dafür benötigte Speicher-, Rechen- und Netzwerkkapazität dynamisch anpassen können. Bekannte Beispiele sind hier die Angebote von Amazon Web Services oder Microsoft Azure. Unternehmen sparen sich mit Cloud Computing kapitalintensive eigene IT - Abteilungen und eigene Server und mieten benötigte Computerdienste, die sie über das Internet nutzen können und bedarfsgerecht dynamisch an ihre Anforderungen anpassen können - ein sehr wichtiger ökonomischer Aspekt in volatilen Märkten. Zentrale Installationen sind deshalb typische Outsourcingmöglichkeiten, die billiger zu betreiben sind als hunderte Einzelinstanzen der Dienste, schneller auf Sicherheitslücken reagieren können und durch die Konzentration den Wartungsaufwand verringern. Tausende Universitäten, Unternehmen und Regierungen / Verwaltungen haben z. B. ihre E-Mails, Dokumente und Kalender mithilfe der G Suite for Education, Business oder for Government auf Server von Google ausgelagert. Microsoft und andere IT -Unternehmen bieten ähnliche, für die Nutzer_innen teilweise kostenlose Angebote an. Aber auch Staaten nutzen vermehrt Cloud-Dienste für Ihre Verwaltung und auch Sicherheitsinfrastrukturen. In den USA wurde z. B. 2014 eine gemeinsame Cloud-Infrastruktur „ ICITE “ für 17 geheimdienstliche Behörden (unter anderem CIA und NSA ) gestartet, die von Amazon betrieben wird und die gemeinsame Datenverarbeitung und den Austausch zwischen den Behörden verbessern soll (Konkel 2014). Schaut in die Cloud 329 Cloud verschleiert Aber Cloud steht nicht nur für einen wirtschaftlichen Trend, mit dem Unternehmen versuchen, ihre IT günstiger und flexibler zu organisieren. Cloud ist auch eine Metapher. Zum einen steht diese für den Trend, dass Menschen gerne ihre Kommunikation, ihre Dokumente, Fotos und Unterhaltungsangebote überall verfügbar haben. An verschiedenen Orten, auf verschiedenen Geräten und mit der Möglichkeit, dies mit anderen Menschen zu teilen. Welches digitale Angebot kann man sich heute vorstellen, das ohne Cloud-Anbindung funktioniert? Welchen Dienst gibt es noch, der nicht mit einem Wolkensymbol bewirbt, dass er immer und überall funktioniert? Die Wolke ist nicht nur ein Symbol für Synchronisation und „alles - immer - überall“ geworden, wie einige Werbebotschaften vermitteln (wie z. B. Microsofts Cloud-Werbung „To create and share. Anywhere.“). Das Symbol der Wolke ist praktisch auch das einzige, was von verschiedenen Symbolen (z. B. Pfeilen) aus diesem Themenbereich übriggeblieben ist. Cloud steht deshalb nicht nur für Synchronisation, sondern auch für Datensicherheit. Denn die Daten sind nicht nur lokal, sondern auch „sicher“ in der Cloud gespeichert (vgl. z. B. Accenture). Hier nun wird beim Nachdenken über den Begriff klar, wie positiv die Metapher der Wolke besetzt ist und wie viel der technischen Grundlagen dabei ausgeblendet wird. Bei Cloud tauchen die Bilder der magischen Synchronisation, der sicheren Speicherung eigener Daten, die Möglichkeiten der Kommunikation und des Teilens auf. Aber was ist dafür notwendig? Die Free Software Foundation Europe hatte eine Kampagne gestartet unter dem Slogan: „Es gibt keine Cloud, es gibt nur die Computer anderer Menschen“. Sofort wird das Bild ein anderes: Was, wenn der Computer des anderen nicht richtig funktioniert? Was, wenn er abgeschaltet wird? Warum überhaupt stellen andere für mich Computer auf, was haben sie davon? Wo stehen diese Computer, was kosten sie, was benötigen sie? Wer reguliert sie und stellt sicher, dass alles in Ordnung ist? Unter der Metapher der Cloud wird vieles versteckt und positiv verpackt: z. B. die materiellen Grundlagen der Cloud-Infrastruktur, die Akteure und ihre Interessen, die legalen und politischen Rahmenbedingungen, unter denen die Cloud-Infrastruktur betrieben wird. Und auch die Umwelt, die Stromtrassen und Kühleinrichtungen, die für Rechenzentren notwendig sind. Die Cloud ist nicht einfach irgendwo im Himmel, sondern besteht aus Technik in einer existenten Umgebung mit realen Gesetzen. Cloud ermöglicht Die knappen Gedanken über die Grundlagen der Cloud zeigen einen immensen technischen Unterbau, der für Cloud-Anwendungen nötig ist. Diese Technik 330 Andreas Baur-Ahrens entsteht und wirkt aber nicht isoliert. Zum einen geht sie Hand in Hand mit der Entwicklung von smarten Technologien (die auf zentrale Speicherorte, performante Datenauswertungsmöglichkeiten und ständig aktuelle Informationen angewiesen sind, was nicht im Gerät selbst, sondern über die Verbindung zu einer Cloud-Infrastruktur realisiert wird). Aber auch die Kommerzialisierung des Internets und die zunehmende Monetarisierung sowie die sicherheitsrelevante Auswertung von Daten greifen mit dem Trend hin zur Cloud ineinander. Technologie ist jedoch aus ethischer Sicht nicht neutral, sie steht auch nicht nur mit weiteren Technologien in Verbindung, sondern auch mit der Gesellschaft in einer sozio-technischen konstitutiven Beziehung. Technologie ist demnach auch ermöglichend und einschränkend, ganz konkret bezogen auf Handlungsmöglichkeiten der Menschen, aber auch in einem grundlegenden und strukturellen Sinne. Cloud-Infrastrukturen ermöglichen Menschen natürlich viel Positives: Kommunikation, Erinnerung und das Teilen von Momenten, effizienteres Arbeiten, Zugang zu Technologie für weniger Bemittelte, weil die Anwendungen nur gemietet werden und keine große Anschaffung benötigen, etc. Ich möchte im Folgenden jedoch ein paar Schlaglichter auf Problematisches lenken, das mit Cloud Computing ermöglicht wird. Zuallererst ist da sowohl die staatliche als auch die ökonomische Überwachung der Menschen. Wer Cloud-Dienste nutzt, ist in seinem Handeln gegenüber dem Anbieter praktisch transparent. Jedoch kann nicht nur die Interaktion von werbetreibenden Unternehmen ausgewertet werden, sondern zentral in Rechenzentren gespeicherte (und unverschlüsselte) Daten sind auch von staatlichen Stellen und Geheimdiensten sehr viel leichter und aggregierter auszuforschen, als wenn diese auf einzelnen privaten oder Unternehmenscomputern gespeichert sind. Cloud wird demnach für die Sicherheitsethik relevant, nicht nur, was Überwachung angeht, aber auch was die mithilfe von Cloud-Infrastrukturen vorangetriebene Interoperabilität und den Austausch von Wissen und Daten zwischen und in Staaten betrifft. Darüber hinaus sind die mittlerweile sehr breit auch in der Informationsethik diskutierten Folgen von Big Data für die Gesellschaft nicht denkbar ohne Cloud Computing (Amoore 2016). Gerade das Speichern und Analysieren von Daten, die aus enormen Mengen an einzelnen Erhebungspunkten und -sensoren stammen, lassen sich ohne eine Cloud-Infrastruktur nicht umsetzen. Cloud geht einher mit einer neuen Form des „digital reasoning“ (Amoore 2016) und fortschreitende Big-Data-Anwendungen gehen Hand in Hand mit dem Trend zur Cloud. Cloud ohne Big Data zu denken ist demnach unsinnig, weshalb die ethischen Betrachtungen von Big Data auch die Cloud-Infrastruktur miteinbeziehen müssen. Schaut in die Cloud 331 Die nicht abschließende Betrachtung der Ermöglichungen durch Cloud-Infrastruktur möchte ich mit dem Gedanken schließen, dass cloudbasierte und damit zentralisierte und transparente Anwendungen auch die Errichtung von bewussten und unbewussten Zugangsbarrieren ermöglichen. Wer kann diese Dienste nutzen? Welche Vorstellung der Nutzer_innen wird in solche one-forall-Lösungen miteingebaut? Außerdem ermöglichen cloudbasierte Anwendungen auch eine sehr einfache Preis- und anderweitige Diskriminierung der Nutzer_innen, die eine kritische Betrachtung der Gerechtigkeit und Möglichkeiten der Benachteiligung nötig macht. Cloud schränkt ein Die Cloud hat auch handlungsnormierende und einschränkende Wirkungen. Die Veränderungen von Infrastruktur, Technik und Nutzungspraktiken im Rahmen des Trends zu Cloud Computing stehen in einem konstitutiven soziotechnischen Verhältnis. Ein paar Beispiele möchte ich kurz aufgreifen und beleuchten: Cloud Computing erschwert Anonymität in der Nutzung von Informationstechnologien. Um an seine entfernt gespeicherten Daten zu kommen oder um Zugang zu Cloud-Diensten zu bekommen, muss man sich ausweisen, Benutzerkonten anlegen und pflegen. Dies wird natürlich am einfachsten, wenn man sich auf einen Anbieter konzentriert oder sich überall mit dem gleichen Benutzerkonto authentifiziert. Ein anonymes Schreiben, Bilderanschauen oder Musikhören wird bei Cloud-Diensten faktisch unmöglich. Selbst bei pseudonymen Accounts ist es durch die umfassenden cloudbasierten Tracking- und Werbenetzwerke ohne ausreichenden technischen Sachverstand kaum möglich, einzelne Dienste anonym und ohne netzseitige Verknüpfung der enttarnenden Daten zu verwenden. Des Weiteren führt ein Mehr an Cloud Computing zu einer verringerten Transparenz der Datenverarbeitung auf der Seite der Nutzer_innen. Es ist natürlich nicht so, dass alle Nutzer_innen in gleichem Maße Fähigkeiten haben, die Funktionsweise von Programmen und Software zu verstehen und nachzuvollziehen. Bei quelloffener lokaler Software ist dies jedoch zumindest grundsätzlich gegeben. Cloud-Daten hingegen werden zentralisiert in ein paar Dutzend Rechenzentren gespeichert und verarbeitet. Die Kontrolle der Daten liegt nun nicht mehr bei den Nutzer_innen, sondern bei den zentralen Systemen, denen man vertrauen muss. Letztendlich haben sie den Einfluss darüber, wer wann welche Daten sehen oder bearbeiten kann. Außerdem haben Cloud-Dienste kaum Interesse daran, den Kund_innen eine einfache Migration der Daten oder eine Interoperabilität mit konkurrierenden Anbietern zu ermöglichen (vgl. De Filippi / McCarthy 2012). 332 Andreas Baur-Ahrens Dies führt noch zu einem letzten, sehr grundsätzlichen Schlaglicht auf die Cloud. Aufgrund der Zentralisierungstendenzen, die mit der Cloud einhergehen, wird auch das sozusagen demokratische und gleichberechtigte Endezu-Ende-Prinzip der ursprünglichen Internet-Infrastruktur herausgefordert und eingeschränkt. Strukturelle Schwerpunkte und Konzentrationen im Netz werden geschaffen, die auch die Rolle der Nutzer_innen beeinflussen kann. Ein erster Blick darauf lässt vermuten, dass der Trend hierbei hin zu einer passiveren, von zentralen Cloud-Diensten abhängigen Nutzer-Rolle geht. Darüber hinaus vergleichen de Filippi und McCarthy (2012) diese Entwicklung mit der industriellen Revolution und der in diesem Zusammenhang zu beobachtenden Zentralisierung der Produktionsmittel bei Großindustriellen. Die Produktionsmittel der Informationsgesellschaft würden vermehrt nun bei zentralisierten System liegen und - zumindest de facto - von großen Informationstechnikunternehmen kontrolliert werden, was eine enorme strukturelle Veränderung bedeutet. Schluss De Bruin und Floridi schreiben, dass die Cloud nicht mit Technologien wie der Atomkraft oder Genmanipulation zu vergleichen sei und deshalb auch keine starke Regulierung und Beschäftigung mit der Technik selbst im Vordergrund stehen sollte, um Innovation nicht zu gefährden, weshalb die Nutzer_innen über die Risiken der Cloud-Nutzung aufgeklärt werden müssten (de Bruin / Floridi 2016). Diese Aussage halte ich für falsch, denn zwar ist die Cloud offensichtlich nicht mit den o. g. Technologien vergleichbar, aber sie ist dafür deutlich in sozio-technischen Beziehungen verwurzelt und wird nicht ‚außerhalb der Gesellschaft‘ erprobt, entwickelt und genutzt, sondern mittendrin. Allein mit diesem kurzen und nur sehr an der Oberfläche kratzenden Überblick über ethisch relevante Aspekte der Cloud und des Cloud Computings, die über die Nutzer_innen-Sicht hinausgehen, sollte deutlich geworden sein, dass dennoch Risiken vorhanden und Problematisierungen notwendig sind. Deshalb möchte ich dafür plädieren, in Zukunft die sozio-technischen Entwicklungen in diesem Zusammenhang kritisch zu hinterfragen, daran zu arbeiten, versteckte Wertannahmen, Folgen und strukturelle Zusammenhänge aufzudecken und die Entwicklung, Regulierung und Debatte um die Cloud aktiv mitzugestalten. Die Cloud ist, wie die einzelnen Schlaglichter auf die strukturellen Veränderungen, die Handlungsermöglichungen und die durch die Metapher versteckten Aspekte zeigen, nicht neutral, sondern politisch und performativ und bedarf der gesellschaftlichen Debatte. Schaut in die Cloud 333 Literatur Amoore, Louise (2016). Cloud geographies: Computing, data, sovereignty. Progress in Human Geography, 1-21. Abrufbar unter: http: / / phg.sagepub.com/ content/ early/ 2016/ 08/ 10/ 0309132516662147.full.pdf+html (Stand: 08. 11. 2016). Bendel, Oliver (2016). Cloud Computing aus Sicht von Verbraucherschutz und Informationsethik. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 53: 5, 607-618. de Bruin, Boudewijn / Floridi, Luciano (2016). The Ethics of Cloud Computing. Science and Engineering Ethics. Abrufbar unter: https: / / link.springer.com/ article/ 10.1007%2 Fs11948-016-9759-0 (Stand: 30. 09. 2016). de Filippi, Primavera / McCarthy, Smari (2012). Cloud Computing: Centralization and Data Sovereignty. European Journal for Law and Technology 3: 2. Konkel, Frank (2014). The Details About the CIA ’s Deal With Amazon. The Atlantic, 17. Juli 2014. Abrufbar unter: http: / / www.theatlantic.com/ technology/ archive/ 2014/ 07/ the-details-about-the-cias-deal-with-amazon/ 374632/ (Stand: 30. 09. 2016). Information Privacy: Ethics and Accountability 335 Information Privacy: Ethics and Accountability Charles D. Raab Introduction: The Emergence of Ethics in Information Privacy Under labels such as ‘cyberethics’, ‘digital ethics’, and ‘information ethics’, the application of ethical perspectives to the processing of information is a growing field of research and practice, especially in the age of the Internet and of intensive and extensive surveillance, although there are long antecedents (Moor 1985). In recent years, there has been a noticeable ‘turn’ from reliance on legal regulation to an emphasis on ethics - and accountability and transparency as well - in this part of the field of information policy. In academia, a large number of journals, conferences, meetings, and other institutional manifestations of the interest in information ethics can be identified in a variety of general and specific fields. 1 In the practical world, ethical issues abound - and sometime become ‘concerns’ - in the development of technological innovations and their application; for example, in the ‘Internet of Things’, sensing technologies for security purposes, algorithms and predictive analytics, and ‘smart’ devices worn on the body or used in large-scale (e. g., urban) systems. There is no simple explanation for the nascent phenomenon of ethical stock-taking and the application of ethical principles to personal-information practices across various sectors. These include commerce and marketing, health and social care, banking and finance, law-enforcement and counter-terrorism, education and learning, leisure and entertainment, and transportation and movement, to name a few. These domains exhibit the many types of surveillance or monitoring in which - facilitated or enabled by technological development - the collection, processing, and transmission of personal data form the bedrock of business, governmental and social activities that are driven by various motivations. Surveillance may involve practices of watching, listening, tracking, detecting and sensing, and data-monitoring (‘dataveillance’: Clarke 1988), and is greatly facilitated by technological innovations. These all have a potential or actual impact on ethical and social values, including privacy. 1 See International Center for Information Ethics, available at: icie.zkm.de; (Last access: 11 / 09 / 16) 336 Charles D. Raab The main issue may not necessarily be that of the use of personal data, but of other dimensions of human rights, including privacy, as well as the risk of unethical behaviour, that are engaged when surveillance is practiced by state or commercial organisations. Privacy as such comes in many forms: the physical person, behaviour and action, communication and personal information, data and images, thoughts and feelings, location and space, and association are among these (Finn et al. 2013, Wright / Raab 2014). Ethical concerns and conflicts arise in practices that affect these forms, and in their complex interrelationships, whether the resolution of these issues is embedded in legal prescription or alongside it. As understood in legislation for information privacy or the protection of personal data, ‘processing’ embraces a spectrum of activities: obtaining the data; recording it, holding it, or carrying out any operation including its organisation, adaptation or alteration; its retrieval, consultation or use; its disclosure or making it available; and its alignment, combination, blocking, erasure or destruction. Such practices involve, but are not wholly dependent upon, advanced information technologies. They are governed by a continuously developing, but precarious, regulatory framework of laws and other instruments (Bennett / Raab 2006) that bears a close relationship to important ethical principles but is not co-extensive with them. This regulatory development demonstrates the attention that is given to restricting what can be done with these data and the information extracted from them. Each step in the birth-to-death data cycle brings with it the reality that those who make decisions about the control or processing of data confront legal and ethical prescriptions to which they must pay attention, sometimes under the threat of litigation or financial sanction, or perhaps of public disapproval and distrust. The protection of personal data is only one aspect of privacy that surveillance implicates, and privacy is only one aspect of human rights. The extensive development of legal and self-regulatory measures is based on globally recognised ‘fair information’ principles, so that this subject is not unexplored in terms of its concordance with ethically resonant precepts, although distinctions can be drawn between rights, principles, rules, and ethical norms or precepts. In this climate, the formation of practically focused machinery for ethical analysis and advice - separate from but related to legal principles and data-protection machinery - is a notable development. The aim is to justify or to disqualify certain information practices and processes and to establish a firmer foundation for regulation. There is only space here to mention a few initiatives - which also include regard for accountability - and to comment on the extent to which ethical norms are translated into practice. Working at the level of the European Union’s top rank on the regulatory side of data protection, the European Data Protection Supervisor ( EDPS ) established Information Privacy: Ethics and Accountability 337 in 2015 an Ethics Advisory Board ‘to explore the relationships between human rights, technology, markets and business models in the 21st century from an ethical perspective, with particular attention to the implications for the rights to privacy and data protection in the digital environment’. 2 In the same year, the United Kingdom’s National Police Chiefs’ Council ( NPCC ) established an Independent Digital Ethics Panel for Policing ( IDEPP ). The remit is to examine and challenge decision-making and thinking in digital policing and cybercrime control so that these can demonstrably be carried out according to ethical principles. IDEPP aims to deal with ethical dilemmas, provide guidance, and help establish ethical guidelines. In 2007, the UK Government established the National DNA Database ( NDNAD ) Ethics Group 3 to advise on ethical issues concerning the politically controversial NDNAD , which contains a vast collection of DNA samples recovered from crime scenes, suspects and other persons, giving rise to issues concerning privacy invasion and discrimination in the collection and use of such genetic information. The UK ’S Alan Turing Institute ( ATI ), the new national centre for data science embracing five leading research universities, has been devising an ethical component and machinery for the ATI ’s largely research-and-innovation, practiceand policy-oriented development and training programme in data analytics and other aspects of data science, a field that ‘draws on the mathematical sciences, the computing sciences, the social sciences, and domain expertise from multiple industries and sectors’. 4 These are only a few of the many similar departures across the world, and it is perhaps too soon to judge their robustness in actually affecting practice or limiting the adverse effects of technologically equipped practices. Of course, the application of ethical considerations to the field of informatics and related pursuits - whether instigated by practitioners or pressed upon them by other disciplines, interested parties, or public opinion - has precedents dating from well before ‘data science’. Bynum (2015) traces computer and information ethics to the work of Norbert Wiener, starting in the 1940s (e. g., Wiener 1950), and shows how it has developed and ramified with ‘exponential growth’ into a discrete field in the decades since then. Added to the direct application of ethical thinking is the growing perception that the ethical underpinning of laws and codes of practice needs to be more clearly apprehended by those involved in transactions involving personal data, and by society at large. This is especially so as new technologies, business plans and government operations generate dilemmas that conventional data-protec- 2 Ethics Advisory Group (2015); see also European Data Protection Supervisor (2015) 3 https: / / www.gov.uk/ government/ uploads/ system/ uploads/ attachment_data/ file/ 504653/ NDNAD_Ethics_Group_terms_of_reference.pdf. (Last access: 14 / 09 / 16). 4 The Alan Turing Institute, available at: https: / / turing.ac.uk. (Last access: 11 / 09 / 16). 338 Charles D. Raab tion ‘heritage’ formulae cannot easily unravel, especially as the canvas widens from information privacy to the other dimensions of privacy and human rights. Existing principles, legal and codified rules, and good-practice guidance need to be repositioned to present a robust ethical and legal challenge to the seemingly insatiable zeal to exploit personal data in ways that are often highly intrusive on people’s need (and desire) for privacy. But the effects of this exploitation spread more widely than those that concern the individual, and her privacy, alone. The attendant economic and other forms of categorical discrimination that often result from profiling and other practices of so-called ‘big data’ analytics have important consequences for related human values (e. g., dignity and autonomy) and for the shape of society, including the social distribution of privacy, and for the enjoyment of human rights. These effects are in the spotlight in the emphasis on ethics, and legal frameworks by themselves - even if grounded in ethical norms - fall short of comprehending them and providing remedies. Gary T. Marx (1998) seeks ‘an ethics for the new surveillance’ beyond what data protection and its principles could offer. He poses 29 questions to be asked about surveillance systems, embracing the means of surveillance, the context of data collection, and how surveillance is used. Although much of the resultant enquiry covers ground already established by data protection regimes and governed by their established principles, Marx’s questions range more widely into the territory of trust, harm and disadvantage; the relationships affected by surveillance; means and ends; social inequalities in the availability of technologies and in the means of resistance; effects on third parties; and other ethically highly significant areas that are normally left out of account in data protection (Raab 2012a). In a similar vein, Raab (1995), Raab and Bennett (1998), and Bennett and Raab (2006) ask questions about who gets what privacy, and about how the social maldistribution of privacy can be justified. But as with Marx, inventories of questions beyond the conventional scope of information privacy and data protection - even if they can be readily answered, which is not certain - only begin the search for ethical principles. Yet such questioning moves us into the realm of social and cultural enquiry, description and analysis that Stoddart (2012) argues is an alternative and complementary ethical route - ‘a discursive approach’ - to the more established one of ‘rights-based ethics’. It thus points up the salience of social-scientific and cultural study to the search for ethical guidelines if we seek deeper understanding of how, in different sectors, surveillance works in a world of persons, contexts and relationships. Many who work practically or academically in the personal-information vineyard are also feeling the need to explore ethical dimensions that go beyond formal, often minimal, statutory compliance. Is this the ‘new piety’, in which conscience tempers convenience, commercial gain, and mission-oriented public Information Privacy: Ethics and Accountability 339 policy? Or does it represent the maturity of an information- (and information technology-) driven society in which risks and harms to human rights and social relations have become more evident, giving rise to countervailing efforts to devise a different settlement among competing interests? Is it perhaps a small, gestural accommodation of practice to the exhortations of academically based cyberethics? Or is the latter speciality gaining a firmer purchase amongst regulatory agencies and information practitioners, thus having some effect on the climate in which personal information circulates in everyday life? Does it reflect a movement towards a strategy of principles-based regulation, with perhaps less emphasis on rules-based regulation (Black 2008)? Compliance with laws, however, remains supremely important. Their global spread and their revision - as exemplified by the European Union’s General Data Protection Regulation ( GDPR ) of 2016 - to keep pace with technological, economic and public policy changes are essential. But more direct adherence to ethical norms that may be obscured by the details of legal requirements to do, or to refrain from doing, various things is increasingly enjoined upon data users (‘controllers’ and ‘processors’) and expected by ‘data subjects’ (all of us). It is difficult for laws to establish unambiguous lines between the permissible and the prohibited, and to decree what should be regulated and how. This perplexity reflects a broader societal unease or ambivalence about new technologies, about new and behaviourally or societally transformative applications, and about new relationships shaped by these developments. Moving Closer to Ethics-Based Accountability Practice Recital 4 of the GDPR is very general in its ethical reference: ‘(4) The processing of personal data should be designed to serve mankind’; but the GDPR ’s emphasis on respect for the ‘fundamental rights and freedoms’ of natural persons is ubiquitous, alongside many statutory rights that are established within the details of how, when, and why personal data may be processed. Obedience to the rule of law is another precept, reflecting the ethical and legal roots of the EU ’s national jurisdictions. The GDPR embodies traditional data protection principles enshrined in landmark international documents, such as the 1980 OECD Principles and the Council of Europe Convention No. 108 of 1981, 5 that form the basis of national legislation. To paraphrase them: personal data should be fairly and lawfully collected for a valid purpose; accurate, relevant, and up-to date; not 5 Revised in 2013. See The OECD Privacy Framework http: / / www.oecd.org/ sti/ ieconomy/ oecd_privacy_framework.pdf (last access: 08. 11. 2016); Council of Europe, Convention for the Protection of Individuals with Regard to Automatic Processing of Personal Data (Convention 108). 340 Charles D. Raab excessive in relation to its purpose; not retained for longer than needed for the purpose; collected with the knowledge and consent of the individual or otherwise under statutory authority; not communicated to third parties except under specified conditions that might include consent; kept under secure conditions; and accessible to the individual for amendment or challenge. But the GDPR also emphasises some principles that, it could be argued, had not been prominently foregrounded earlier. Among these are those of transparency (or openness) and accountability. Both signify a new configuration of the ethical and practical relationship between users of personal data and citizens or consumers that the OECD in 1980 called the Openness Principle and the Accountability Principle. Noting that ‘there is growing interest in how the principle [of accountability] can be better used to promote and define organizational responsibility for privacy protection’, the revised 2013 OECD Guidelines elaborates the accountability principle for a data controller in terms of what a privacy management programme should consist of, how it should notify regulators and data subjects in case of a data breach, and how the organisation should be prepared to demonstrate the programme to regulators or others who promote adherence to a code of conduct. How closely these valuable measures get to the heart of what ‘accountability’ might mean in theory or practice is debatable. Moreover, it is far from clear how the disparate items that are considered by the OECD to be part of an accountability drive in data protection (e. g., better data security, Binding Corporate Rules, trustmarks and privacy seals, and the - now defunct - EU - US Safe Harbor Framework) might or might not instantiate ethics. Nonetheless, an impetus has developed to improve data-controller accountability, now aiming to apply ethics to the practical matter of accounting for the stewardship of personal data. This approach is developed in documents produced by the ‘Galway Project’ - the locus of meetings later migrated to Paris and Madrid - mentioned by the OECD and led by a group drawn from the worlds of business, academia, law and regulation under the auspices of the Centre for Information Policy Leadership ( CIPL ) (Raab 2012b, Bennett 2012). The work has been taken over by the newly-formed Information Accountability Foundation ( IAF ), under the same leadership, adopting the brand of ‘Big Data Ethics’ in its work since 2013 (The Information Accountability Foundation 2014). This initiative deserves a closer look because it explicitly aims to traverse unfamiliar territory to establish a new ethical foundation for accountability, and because we can learn from its merits and shortcomings. As part of the ethical ‘turn’ in information privacy, business, policy and regulatory actors have worked to define terms and frameworks for ‘ethical’ - not just legal - uses of personal data. ‘Accountability’ is sometimes elided with Information Privacy: Ethics and Accountability 341 ‘responsibility’, but it signifies a relationship between interested parties whose positions are often opposed, in which ethics bear upon the way the relationship is conducted - a kind of ‘I’ and ‘Thou’ of information processes - rather than a mere concentration on the faceless mechanics of crunching ‘big data’ and then ticking compliance boxes that obscure ethical contents and decisions. However, the link between accountability and ethics is not so clearly delineated, and the imprecision of this ‘halo’ treatment of what could be very important advances in the ethical and accountable governance or information privacy would require remedial work. There is some resonance between the IAF project and the GDPR ’s approach to accountability, transparency and governance in Article 5(2). The GDPR requires data controllers and processors to ‘demonstrate’ their compliance and attention paid to principles and procedures for safeguarding the rights and interests of those whose personal data are involved. In a similar vein, the project seeks a ‘common ethical frame based on key values’, and identifies five key values for ‘big data’ - ‘Beneficial, Progressive, Sustainable, Respectful, and Fair’ - that should underlie a ‘balancing process’ and a ‘balanced ethical approach’. Beneficial means that an organisation must define the benefits from their data analytics and who gains from them; risks have to be balanced by benefits. Progressive means that the value from the analytics must be better than if they were not used, and that less intensive, less risky processing should be used where they achieve the same gains. Sustainable means that the value from big-data insights should persist over a reasonable span of time. Respectful means that the interests of all stakeholders or parties should be understood, taken into consideration, and respected. Fair means enhancing beneficial opportunities and protecting against risky actions ( IAF 2015a: 8-10). The provenance of these five is not explained, nor how they relate to the traditional data protection principles; nor is their ethical content clearly focused. Whether they form a coherent body of ethical precepts, rather than an arbitrary and adventitious inventory, is not established. Nevertheless, from these five values - although not necessarily uniquely from them - many questions are generated that, the project claims, need to be addressed. Some of these would indeed be novel for information-system practitioners: who benefits from, and who is at risk from, data analytics? How should important values and rights beyond privacy be taken into consideration? should organisations aim to minimise the risks? how can all the interests of all who are affected by an application of data analytics be comprehended? how can beneficial opportunities be enhanced? These are serious questions that might indeed help to reposition thinking about data protection as something more than a legal compliance routine, and that might even engender a more sweeping analysis and practically aimed critique of information and other technologies and their effects. 342 Charles D. Raab Unfortunately, many crucial matters remain. First, it is not easy to locate the five values in particular ethical theories or schools of ethics: the values are not expounded and are left as headline items that have an ethical aura, playing a role in generating subsidiary questions for participants’ practical work in the interrogation processes. How decision-makers are meant to assess and benchmark - beyond any claim to be providing - benefits and fairness, improvements and added value, may well depend upon which ethical theories are applied, given that these may give different answers. The terminology of ‘values’ seems disconnected from the analysis protocols and the questions they specify. Next, there is no clarity about what ‘balancing’ means and whether this over-used and misleading mantra should play a part; it is part of the conventional data-protection wisdom that is invoked as a practical but rarely explained tool for resolving difficult issues and conflicts (Raab 1999). The AIF does not say how it should be applied in, for instance, balancing the interests of all stakeholders; of data controllers and individuals; of individuals, society, ‘political entities’ and the organisation; and the risks and benefits of data analytics. These are all identified as within the scope of what is to be balanced ( IAF 2015c). Nor is it clear how balancing is to be performed ‘with integrity’ (Ibid: 11); yet the five key values are meant as a ‘compass’ in all deliberations. This ethical package is explained as the springboard: ‘[t]he assessment worksheet is based on the five key values described in the UEF [Unified Ethical Frame] and will raise the issues necessary to make sound ethical judgments as it concerns new big data analytics’ ( IAF 2015b: 5). But what a ‘sound’ ethical judgment might look like - and whether all ‘stakeholders’ would agree - depends, in large part, on where one is coming from in terms of moral philosophy. Then there are cognitive problems: it is heroically assumed that data protection can gain and employ ‘a full understanding of the potential impact of big data on the full range of human rights, not just those related to privacy’ ( IAF 2014), although it is commendable, in view of the enormous and widespread effect of modern information processing, that the canvas is thus widened towards gaining a knowledge base for practical ethics. But there are also problems in the application of political theories of democracy and public policy-making to accountability, as witness the stunning comprehensiveness of taking into ‘respectful’ consideration all the affected parties: ‘individuals to whom the data pertains, organizations that originate the data, organizations that aggregate the data and those that might regulate the data’ ( IAF 2015b: 7). There is no guide to achieving this, or to what it means in detail, thus ignoring age-old practical and ethical dilemmas of democratic and public-engagement processes. The project is therefore more exhortatory and idealistic than usable and ethically or legally potent. Certainly, the project is still incomplete: post-2014 documents strive to Information Privacy: Ethics and Accountability 343 apply the ethical values in detail to ‘big data’ analytics using a worksheet, an assessment framework, and an enforcement routine ( IAF 2015c, 2015d). The perspectives of organisational ‘big data’ decision-makers are taken into account, but also those of regulatory and oversight bodies. To be sure, the aim is not to create ethical philosophers but to apply ethical reasoning and principles to the important subject-matter of data analytics and other forms of surveillance. However, there is not yet a persuasive ethical grounding for what may be useful assessment and compliance devices that may cause participants, and especially data users, to think about the consequences of their work beyond what they are required to do, or what they habitually do. Can there be any advance on this front? What is ‘Accountability’? Space prevents further development here, but a start could be made by considering what accountability is about and how it can be made more ethical. The idea of ‘an account’ is under-examined in the project, which is more concerned with ‘demonstrating’ stewardship than with the story that is told. The practical worksheets, interrogations and other materials point in the direction of an account, but seem also pitched towards making a data protection impact assessment, rather than an ethically based accountability performance relating to the organisation’s personal-data processing. Three facets of accounting can be identified: acting, reporting, and relationships. Acting refers to substantives, such as the roles, functions and performance of accountable actors: the things for which they are supposed to bear responsibility. Reporting is procedural, and refers to the stories or narratives that compose the ‘account’ that the actors give to others: how they produce and promulgate these (Raab 2012b; Gray and Jenkins 1985). Relationships can be internal to an organisation or external with agents, customers, or society generally: those to whom the actor is accountable. These facets can provide a framework for deeper enquiry into accountability as an ethical process. Considering substance : is the data controller’s use of personal data (the act or performance) ethical? We would need to specify criteria for judging ‘good’, ‘bad’, ’right’, wrong’, and other ethical evaluative categories, beyond the question of legal compliance. We would ask whether the performance obeys certain rules, principles, or contextual norms (Nissenbaum 2010) having ethical content, so that the performance can be judged for its ethical quality. We might want to explain shortcomings: for instance, does the actor have several motives, several interests, or experience other sources of counter-pressure against ethical conduct? These circumstances might in fact form part of the account that is 344 Charles D. Raab proffered; but if the performance is ethically deficient, these explanations cannot necessarily mitigate it. Considering stories about performances: are they honest, truthful, and faithful to the rules of accounting? Ideally they would tell the whole story, plainly, frankly, and without ‘spin’ or propaganda, with a willingness to admit performance errors. Owning up to shortcomings and error can be seen as procedurally ethical, but evidence of subsequent improvement would be required if the story were to be seen in a more substantively ethical light. Considering relationships : is there a willing acceptance of the need to report, to be transparent about stewardship performance, and to engage in dialogue with receivers and scrutinisers of the account? Formal respect for the rights, needs and interests of others is important, showing civility beyond mere legal compliance; this is a strong point in the IAF project. But if the accounting relationship is a theatre for rhetorical skill or other manipulative tactics aimed at convincing the audience, rather than of telling a demonstrably true story, its ethical quality is suspect: the audience’s acceptance could reflect their gullibility, their lack of information with which to interrogate the report, and the existence of a culture of preparedness to forgive failure and ethical lapses rather than to challenge these. Taking relationships further, and with regard to personal data, let us look at accountability from the standpoint of an accountable person, ‘me’. My accountability to you is with reference to your interest or ‘stake’ as a customer or a citizen for whose personal data I am steward insofar as I am the ‘controller’, in law. I am accountable to you for the ethical quality of both my performance as steward and for the story I tell you about this performance. But I am also accountable to society for these two facets because society depends on the maintenance of these two cultures, one of data stewardship and one of the requirement to give an account of it. This is not obvious, but is indicated by considering that the information privacy that is in question is not only your individual right that you and you alone may be interested in safeguarding, but - as Regan (1995) has powerfully argued - also has social value. Privacy is a common, public, and collective value; it is one of several public goods that is constitutive of society and the political system (Loader / Walker 2007), and is protectable in the public interest (Raab 2012c). Society, and not only an individual or individuals, therefore has an interest in the ethical quality of my stewardship performance and in the account or story that I tell about it. The account is therefore a public account, not a private one that I give to you alone as an individual with regard to your data. It is one that should therefore be open to all to inspect, to question and to rebut if necessary (Raab 2012b). They may contribute some information about my stewardship, interpretations of my account, or insights about my honesty or other ethical Information Privacy: Ethics and Accountability 345 qualities that might not be available to you alone if there were solely a bilateral accountability relationship between you and me. I may have several motives for performing and accounting ethically. I may be concerned to build or maintain a good reputation for my performance as steward and as an accountable actor. I may genuinely want to be ethical because I think it is ‘right’ to do so. I may want to reduce the likelihood of being found wanting, and I may calculate that ‘honesty is the best policy’ for achieving this aim. It may in fact be easier and cheaper to behave ethically (but what if it were not? ), or I may think that dishonesty and unethical behaviour ‘does not pay’ (but what if it did? ). Motives must therefore also be evaluated in terms of their ethical quality. These remarks merely begin to sketch some of the terrain upon which an ethical approach to accountability for information privacy may be located, beyond the busy-work of the accountability project or similar practical and well-meaning initiatives. Further, more fundamental ethical inquiry is necessary, and we are nearer the beginning than the end of this process. References Bennett, Colin J. (2012). The Accountability Approach to Privacy and Data Protection: Assumptions and Caveats. In: Guagnin, Daniel / Hempel, Leon / Ilten. Carla / Kroener, Inga / Neyland, Daniel / Postigo, Hector (Eds.) Managing Privacy through Accountability. London: Palgrave Macmillan, 33-48. Bennett, Colin J./ Raab, Charles D. (2006). 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Although she is a theologian and ethicist and I am a lawyer, our research interests intersect in the broad church that is ‘bioethics’ and, in particular, in relation to the contested concept of human dignity. Indeed, a couple of years ago, in the surroundings of the magnificent castle in Tübingen, we participated in a memorable international workshop on just this topic. 1 However, there is also a commonality in the commitment that is characteristic of Professor Quinn and her colleagues at the Ethics Centre of the University of Tübingen ( IZEW ) to ‘embed’ their bioethics in the researching of science and technology. For many lawyers, the idea that we should embed law in either ethics or in science and technology would seem absurd: law, it would be protested, is an autonomous discipline, with its own research agenda. Nevertheless, if lawyers are to make a constructive contribution to debates about emerging technologies - whether to debates about gene editing and cell-free fetal DNA testing, or about driverless cars and machine learning - they cannot take such a detached view; rather, they need to work much more closely both with bioethicists and with scientists and technologists. In this spirit, my contribution sketches how lawyers can help their communities transition to their smart futures - or, more prosaically, it indicates some key action points for lawyers who wish to engage in a more responsive way with regulatory debates concerning emerging technologies. I The regulatory environment The first action point is this: instead of framing questions in terms of the formal law, and nothing but the formal law, lawyers must think in terms of the ‘regulatory environment’. Of course, lawyers are trained and employed to advise cli- 1 Coinciding with the publication of Düwell et al. 2014. 350 Roger Brownsword ents on the (formal) legal position, and to present arguments to courts as to the (formal) legal position. Understandably, this concentrates the legal mind on the prohibitions, permissions, and requirements that are set out in the constitution, codes, legislation and case-law; nothing else is relevant. However, if lawyers are to make a serious contribution to the many debates about how societies should position themselves relative to new technologies, this narrow focus on formal law simply will not do. Instead, lawyers should think in terms of the signals, including the legal signals, that constitute the ‘regulatory environment’. In some social settings, the formal law will supply the applicable rules, but in others the formal law will be more in the background. Often, the working rules - the ‘living law’ as Eugen Ehrlich (1913) famously termed it - will have been spontaneously developed by the group and it will be these informal rules that are actually operative. For example, there might be no legal prohibition on the use of mobile phones (other than when driving a vehicle); but, pretty quickly, informal rules will be developed that set the limits on the times and places for the use of mobile phones. Moreover, in modern societies, informal codes abound in business and professional groups. It follows that, if we are to anticipate how a new technological development might be received, we need to be aware of the full range of normative signals that might determine the social acceptability of its use. II Technological instruments as part of the regulatory environment As a second action point, lawyers should further widen their lens to take account of the regulatory effects - paradigmatically, the intended regulatory effects - of new technologies and their applications. If we think of the ‘regulatory environment’ as a setting in which various rules and standards signal what ought or ought not to be done, then we increasingly find that technological support is given to improve the chances of compliance. For example, in modern transport settings, the rules of the road might be supported by technologies that advise drivers that they are exceeding the speed limit or that caution against driving because drink or drugs have been detected. However, going beyond cautions and advice, some technological interventions will simply take over, thereby disabling inappropriate acts (Brownsword 2008). Smart cars might be disabled on sensing alcohol or drugs in the driver; and smart autonomous vehicles will be designed so that they travel at safe speeds. Smart Lawyers for Smart Futures 351 On this account, we can treat any particular regulatory environment as having (in principle) two dimensions. First, there is the normative dimension where regulators seek to guide the conduct of regulatees by setting standards; and then there is the non-normative dimension where regulators employ various kinds of technology (product design, automation, architecture, and the like) to channel regulatees in the desired way. As this latter dimension becomes more sophisticated, the technologies that are employed are embedded in our physical surroundings (in the way, for example, that sensors detect a human presence in a room and switch on the lights), or in smart devices, or possibly in our bodies and even in our genetic coding. Although, in the technologically managed environments of the future, a regulatee might explore what can and cannot be done, in many respects this will no longer seem like a signalling environment: for regulatees who are habituated to this kind of environment, it will just seem to be the way things are (Brownsword 2015). III The complexion of the regulatory environment Building on this understanding of the regulatory environment, smart lawyers should be in the vanguard in raising questions about the complexion of the regulatory environment (Brownsword 2011) and in articulating principles that should guide decisions about whether to use rules or technological management (or combinations of the two) for regulatory purposes. In the normative part of the regulatory environment the signals are backed either by prudential reason (compliance is in a person’s best interest) or by moral reason (compliance is the right thing to do). In the non-normative part of the regulatory environment, the signals simply indicate what it is possible to do and what it is not possible to do, presenting in terms of what can and cannot be done rather than what ought or ought not to be done. The complexion of the regulatory environment is given by the particular mix of these signals with their backing reasons. Two important questions that arise from a sensitivity to the particular complexion of the regulatory environment are as follows. First, where new technological instruments of surveillance, location, identification and so on are used in support of the rules (particularly the rules of the criminal law), the prudential signals are amplified. The message is that non-compliance will be detected and punished. The question is whether the moral signals are getting crowded out. Secondly, where regulation takes the form of technological management, leaving regulatees with no choice other than to comply, the general question is whether this is corrosive of autonomy. And, for moralists, there is a particularly important question about whether this kind of compulsion compromises 352 Roger Brownsword the conditions for moral community (where agents aspire freely to do the right thing for the right reason). IV Understanding and dealing with pluralism The fourth action point is to engage intelligently with pluralism. Lawyers who deal with appeal court cases are used to there being more than one (reasonable) reading of the law. However, smart lawyers also need to engage with communities that are often seriously divided both prudentially and morally. To start with ‘prudential’ judgments (these being directed at identifying what is in one’s own interest) it is hardly surprising that, where agents are each invited to make their own self-interested judgment about a matter, not all judgments will be the same. For example, while A might judge that it is in his interest to spend time on social networking sites, B might judge otherwise. While A might be a consumer who welcomes the benefits of Instagram, B might be an employee of Kodak whose job is threatened by the San Francisco start-up. 2 Similarly, where new automated technologies impact on the employment market, there will be mixed reviews from employees and consumers, but also from economists who try to assess whether, in the longer term, the disruptive effects are positive or negative relative to the overall economic well-being of the community. While regulators might see no need to interfere with many individual (informed) prudential judgments, it is implicit in the above remarks that there will be cases where they cannot simply sit on their hands. For example, where there are obvious concerns about human health and safety, regulatees will look to regulators to set appropriate standards in relation to the research and development, and the application, of new ‘risky’ technologies (such as synthetic biology or autonomous vehicles). This is not usually understood as a demand for zero risk but, rather, that regulators should set standards that manage the risk at an acceptable level. However, what constitutes an ‘acceptable’ risk will depend upon how the costs and benefits are calculated and how they are distributed. Where a regulatory position needs to be taken, how should regulators respond to a prudential plurality? In a democracy, there is a reasonable expectation that there will be a process of public engagement before a position is taken, but, engaging the public on questions concerning emerging technologies is far from straightforward. In an influential report by the Royal Society and the Royal Academy of Engineering (2004: para 38), it is recommended that: di- 2 See Andrew Keen (2015: 87-88), reporting that ‘between 2003 and 2012 - the age of multibillion-dollar Web 2.0 start-ups like Facebook, Tumblr, and Instagram - Kodak closed thirteen factories and 130 photo labs and cut 47,000 jobs in a failed attempt to turn the company round.’ Smart Lawyers for Smart Futures 353 alogue and engagement should occur early, and before critical decisions about the technology become irreversible or ‘locked in’; dialogue should be designed around clear and specific objectives; the sponsors should publicly commit to taking account of the outcome of the engagement process; dialogue should be properly integrated with other related processes of technology assessment; and resourcing for the dialogue should be adequate. Even with attention to these matters, however, there might be doubts about how fully the public is engaged; and, of course, it is difficult to ‘immunise’ a citizens’ jury against the influence of the media. Assuming, though, that members of the public can be adequately engaged, their prudential calculations are likely to be varied and, concomitantly, their preferred regulatory responses will be varied. Still, in a democracy, this is the stuff of politics; decisions that are made today can be revised tomorrow; and, while this might not be the ideal way of accommodating the variety of self-interested views, it is a civilised way of living with pluralism. Accordingly, even if the realisation of deliberative democracy is challenging, it appeals as the right approach. Turning to ethical judgments, pluralism can arise in various ways but the differences start with what agents take to be the criterion of doing the right thing. In Europe, three views are commonly taken. According to one view, we do the right thing by acting in accordance with our duties ; another has it that we should always respect the rights of others; and a third advocates the maximisation of a good such as utility. Each view is open to articulation in many different ways: different goods or goals, different rights, and different duties may be specified. Nevertheless, in principle, the basic pattern of ethical debate, whatever the particular technological focus - whether it be biotechnology (and bioethics), ICT (and cyberethics), nanotechnology (and nanoethics), or neurotechnology (and neuroethics) - is governed by this matrix. Although, in principle, the matrix sets the pattern, in practice, it is not always fully expressed in debates about the ethics of new technologies. Often, we find only a two-sided debate with utilitarian cost / benefit calculations being set against human rights considerations. Elsewhere, though, we find a threeway articulation of the matrix, the key substantive positions being utilitarian, human rights, and dignitarian. Here, in this distinctive bioethical triangle, we find a dignitarian alliance taking issue with both utilitarians and human rights advocates (Brownsword 2003). While the latter can sometimes find a common position, it is much more difficult to reach an accommodation with the dignitarians. For, according to the dignitarian ethic, some technological applications (ostensible ‘benefit’ and user consent notwithstanding) are categorically and non-negotiably unacceptable. 354 Roger Brownsword Somewhat confusingly, recurrent appeals to human dignity are made both by advocates of human rights as well as by duty-driven dignitarians. For the former, human dignity (qua empowerment) underpins human rights; for the latter, human dignity (qua constraint) sets limits to our autonomy and to our adoption of new technologies (Beyleveld / Brownsword 2001). This suggests that we should be slow to treat notions that commonly figure in ethical arguments - for example, ‘harm to others’, ‘informed consent’, ‘precaution’ and ‘proportionality’ - as neutral. Rather, we should read such ideas through the lens of a particular substantive articulation of the matrix. It also follows that we should be realistic about what we can expect of ethical experts. Policy makers and regulators who seek advice from such experts can be told how the plurality plays in relation to a particular issue but the plurality cannot be easily dissolved. In practice, co-opting ethical experts promises to improve the quality of the regulatory process and it might well be that the most acceptable response to ethical pluralism (as with prudential pluralism) is to invest in the integrity of the process. In Europe, we find ethical pluralism both within nation states and between one nation state and another, creating an ethical and regulatory patchwork at a regional level. In some groups, members are committed to the same general ethical view, such as a commitment to the rights recognised by the European Convention on Human Rights, but they then take various positions on questions concerning the interpretation of particular rights or on the priority between conflicting rights. This reflects, so to speak, ‘closed pluralism’. However, in other groups, there is no such common commitment. Here, some might be committed to rights but others to utilitarian or dignitarian principles. Needless to say, where pluralism takes this more ‘open’ form, the regulatory challenge is greater (Brownsword 2010). For smart lawyers, two points always should be borne in mind. First, just because a technology is judged (on prudential grounds) to be ‘safe’, it does not follow that its use is ethically acceptable. Secondly, unless serious attempts are made to engage with the viewpoints that make up the plurality, the regulatory environment is likely to be unstable. V Facilitating good governance Fifthly, smart lawyers should appreciate the importance not only of using the right instruments but of using them at the right time . For example, if hard law is introduced while a technology is still in a developmental phase, it might address the wrong target, stifle beneficial innovation, and soon become disconnected (as we have seen in Europe with data protection laws that were predicated on large mainframe computers). Smart Lawyers for Smart Futures 355 Knowing that this is a risk, we might favour using a more flexible type of standard or, indeed, a less formal type of governance. So far as the former is concerned, it is trite that flexibility comes at the price of rule-predictability. So far as the latter goes, there are obvious concerns about leaving it to industry or to the professions to self-regulate - for example, there is a concern that self-regulation will operate in ways that are less than open and inclusive and that are guided exclusively by considerations of self-interest. Good governance, by contrast, is understood as being transparent, inclusive, accountable, and consistent with the public interest. Unless there is some oversight in relation to these criteria, the regulatory environment will be seen by many as deficient. Gaining and maintaining public trust and confidence is important; and, where trust is lacking, governance needs not only to be good, it needs to be seen to be good. VI Understanding why some regulatory interventions fail A good deal of research effort has been expended in tracking the impact of particular legal interventions, some of which are more successful than others. A sixth action point is to synthesise this body of knowledge so that we understand more about the conditions for regulatory effectiveness. Treating regulatory effectiveness / ineffectiveness as a matter of degree, what determines how well a particular intervention works? Broadly speaking, we find the key determinants in three places: in the capacity and practice of regulators; in the response and resistance of regulatees; and in external interference (Brownsword and Goodwin 2012: Chs. 12-15). In the first of these areas, in a global context, corruption is perhaps the most widespread reason for regulatory ineffectiveness: at some level, whether in setting the standards, or in monitoring compliance, or in responding to non-compliance, regulators or their agents are corrupt. Even if regulators are not directly ‘buyable’ in this way, they might nevertheless be ‘captured’ by influential regulatees who are able to discourage interventions that go beyond a certain level of tolerance relative to the (typically, business) interests of the latter. Even if there is neither corruption nor capture, regulators might find themselves restricted by inadequate resources. Notoriously, regulators often have to make hard choices in deciding whether to prioritise strategic issues or to respond to individual cases; and where non-compliance is detected, it might be on a scale that overwhelms those agencies that are responsible for correction. With regard to the second of the areas, it is trite that regulators tend to do better when they act with the backing of regulatees. If regulatees do not perceive the purpose that underlies a particular regulatory intervention as being in either their prudential or their moral interests, the motivation for compliance is weak- 356 Roger Brownsword ened. Prohibitions on the consumption of alcohol and recreational drug use are textbook examples. However, resistance to regulatory interventions can spring, too, from competing professional norms or business imperatives leading not just to individual acts of resistance but also to group cultures of non-compliance. In all these cases, the critical point is that regulation does not act on an inert body: regulatees will respond to regulation in various ways, sometimes by complying with it, sometimes by ignoring it, sometimes by resisting or repositioning themselves (whether lawfully or unlawfully), sometimes by relocating, and so on. Regulatees have minds and interests of their own; they will respond in their own way; and the nature of the response will be an important determinant of the effectiveness of the regulation. The third area involves some external distortion or interference with an otherwise reasonably effective regulatory intervention. Some kinds of third-party interference are well-known - for example, regulatory arbitrage is nothing new. However, even where regulatory arbitrage is not being actively pursued, the effectiveness of local regulatory interventions can be reduced as regulatees take up more attractive options that are available elsewhere. Most importantly, though, the development of the Internet and the shifting of transactions and interactions to online environments has added a new challenge to regulatory effectiveness. Quite apart from the creation of new vulnerabilities to cybercrime and cyberthreats, how are local regulators to control access to drugs, or alcohol, or gambling or direct-to-consumer genetic testing services, or the like, when Internet providers, hosted on servers that are located beyond the national borders, direct their goods and services at local regulatees? In short, lawyers should be aware that regulatory environments are thick with signals that point in different directions such that, even if the regulators’ performance is exemplary, there are too many variables in play for anyone to be confident that new laws will move things in the desired direction let alone be fully effective. VII Understanding the tensions and trade-offs implicit in generic regulatory purposes Finally, it is imperative that lawyers work to improve the general understanding of the tensions that are built into the generic regulatory purposes (associated with most emerging technologies) to which most societies subscribe. Broadly speaking, these generic purposes articulate as a triple demand that regulators should act in a way that will: - support rather than stifle beneficial innovation; Smart Lawyers for Smart Futures 357 - manage risks to human health and safety and the environment at an ‘acceptable’ level; and - respect moral values and principles such as privacy and confidentiality, freedom of expression, human rights and human dignity. The crucial point, however, is that these purposes can pull in different directions, potentially creating a three-way set of tensions. Thus, where the first of these purposes is in the foreground, there might be calls for some tweaking of the IP (intellectual property), competition law, or tax regime so that innovation is more effectively incentivised. Moreover, there will regularly be calls for light touch, or ‘better’, or ‘proportionate’, or ‘targeted’ regulation. In short, ‘over-regulation’ is to be avoided. However, these calls will be resisted by those who are concerned that the technologies might be dangerous relative to human health and safety, or might cause damage to the environment; and they will also be resisted by those who are concerned that, irrespective of whether the technologies are judged to be dangerous, they are incompatible with such fundamental values as human rights or human dignity, liberty, equality and justice. Where the former HSE (health, safety and environment) concern is engaged, there will often be calls for ‘precaution’ (which might well involve more than a light touch regulatory intervention); and where the latter concern is a priority, this might demand even stronger red-line intervention - to repeat, even where a technology is agreed to be both ‘beneficial’ and ‘safe’, it might still be opposed on value grounds (as we have seen, particularly in relation to biotechnologies). VIII Conclusion According to Will Hutton, we find ourselves at ‘a dramatic moment in world history’ - indeed, at a moment when our children can expect ‘to live in smart cities, achieve mobility in smart transport, be powered by smart energy, communicate with smart phones, organise [their] financial affairs with smart banks and socialise in ever smarter networks’ (Hutton 2015: 17). For tomorrow’s smart futures, we will continue to need lawyers who can speak to the legal position. However, we will also need lawyers who are smart in the sense that they can talk to both ethicists and scientists, and who can work with policy makers and the public in designing regulatory environments that are acceptable, effective, and sustainable. 358 Roger Brownsword References Beyleveld, Deryck / Brownsword, Roger (2001). Human Dignity in Bioethics and Biolaw. Oxford: Oxford University Press. Brownsword, Roger (2003). Bioethics Today, Bioethics Tomorrow: Stem Cell Research and the ‘Dignitarian Alliance’. University of Notre Dame Journal of Law, Ethics and Public Policy 17, 15-51. Brownsword, Roger (2008). Rights, Regulation and the Technological Revolution. Oxford: Oxford University Press. Brownsword, Roger (2010). Regulating the Life Sciences, Pluralism, and the Limits of Deliberative Democracy. Singapore Academy of Law Journal 22, 801-832. Brownsword, Roger (2011). Lost in Translation: Legality, Regulatory Margins, and Technological Management. Berkeley Technology Law Journal 26, 1321-1365. Brownsword, Roger (2015). In the Year 2061: From Law to Technological Management. Law, Innovation and Technology 7, 1-51. Brownsword, Roger / Goodwin, Morag (2012). Law and the Technologies of the Twenty-First Century. Cambridge: Cambridge University Press. Düwell, Marcus / Braavig, Jens / Brownsword, Roger / Mieth, Dietmar (Eds.) (2014). Cambridge Handbook of Human Dignity. Cambridge: Cambridge University Press. Ehrlich, Eugen (1913). Fundamental Principles of the Sociology of Law. New Brunswick: Transaction Publishers [2001]. Hutton, Will (2015). How Good We Can Be. London: Little, Brown Book Group. Keen, Andrew (2015). The Internet is not the Answer. London: Atlantic Books. Royal Society and the Royal Academy of Engineering (2004). Nanoscience and Nanotechnologies: Opportunities and Uncertainties. London: RS Policy document 19 / 04. Smart Lawyers for Smart Futures 359 Sicherheit Technologie, Moral, Intervention: Sicherheitsethik als öffentliche Intellektualität Matthias Leese Die Sicherheitsethik, wie sie unter Regina Ammicht Quinn am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften ( IZEW ) in Tübingen in der letzten Dekade entwickelt und ausdifferenziert wurde (Ammicht Quinn 2012, 2014a, 2014b), ist fast schon notwendigerweise eine politische Ethik. Es ist eine Ethik, die - obgleich sie keinen expliziten Steuerungsanspruch erhebt - vor unintendierten Folgen und Nebeneffekten von Sicherheitshandeln warnt, gleichzeitig intervenierend kooperiert, und versucht, Alternativen technischer oder regulatorischer Natur aufzuzeigen. Doch worauf gründet sich die Legitimation einer Ethik, die nicht bloss als Reflektions- und Resonanzraum dient, sondern die einen Anspruch darauf erhebt, „Sicherheit“ konstruktiv zu einem allgemeinverträgliche(re)n Gut zu formen? Im Normalfall würde man an dieser Stelle wohl die Universalität oder konsensuale Herstellung von Normen als Begründung heranziehen. Für mich ist diese Antwort jedoch aus zwei Gründen nur teilweise zufriedenstellend. Erstens ist der Begriff von (Un-)Sicherheit zu vielschichtig und mit teilweise konfligierenden Bedeutungen aufgeladen, um eine „richtige“ Sicherheit aus philosophischen Maximen abzuleiten. Und zweitens reduziert eine solche Sichtweise die Rolle der Wissenschaftlerin, da sie das komplexe Zusammenspiel zwischen Moralität, Forschung, und Politisierung außer Acht lässt. Ich möchte deswegen in diesem Beitrag einen vielleicht eher ungewöhnlichen Weg gehen, und mich der Frage nach der Legitimität einer explizit politischen Sicherheitsethik durch die Bourdieusche (1991) Figur des „öffentlichen Intellektuellen“ annähern. 1 Für Pierre Bourdieu erfüllt die Figur der Intellektuellen eine zentrale Funktion als Scharnier zwischen Expertenwissen und der öffentlichen „Explizitmachung“ dieses Wissens für ethisch-moralische Zwecke. Wenn Bourdieu in diesem Sinne von Intellektuellen spricht, so meint er „vor allem die 1 Bourdieu verwendet, zumindest in der Übersetzung von Jürgen Bolder, durchgängig die männliche Form. Um dieser unnötigen Diskriminierung sprachlich entgegenzutreten, wird hier, sofern es sich nicht um direkte Zitate handelt, erratisch entweder die männliche oder die weibliche Form verwendet. Wichtig ist, dass alle verwendeten Formen inklusiv zu verstehen sind. 362 Matthias Leese mit hoher Kompetenz auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet (Soziologen, Ökonomen, Ökologen, Philosophen)“ (Bourdieu 1991: 20), die die Wirklichkeit erforschen müssten um sie im Anschluss einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, und somit praktikabel für Diskussionen und letztendlich politische Entscheidungen zu machen. Eine solche Überbrückung der Kluft zwischen hochspezialisiertem Expertenwissen und politischer Argumentation ist gleichzeitig Kernbestandteil einer Sicherheitsethik Tübinger Prägung, die sich nicht darauf beschränken kann (und will), aus dem akademischen Elfenbeinturm für den akademischen Elfenbeinturm zu kommentieren. Ich werde daher im Folgenden versuchen, die Idee von Ethik als öffentlicher Intellektualität am Beispiel von Technologieentwicklung für den Sicherheitsbereich aufzuarbeiten. Bevor ich dabei zur Rolle der Intellektuellen zurückkomme, ist ein kurzer Umweg über die Techniksoziologie beziehungsweise science and technology studies ( STS ) vonnöten. Sicherheit ist heutzutage im Grunde gar nicht mehr ohne Technologie zu denken. Man könnte sagen, dass das nicht nur für den Sicherheitsbereich, sondern für Gesellschaft und Alltag allgemein gilt - allerdings sind die Konsequenzen von Sicherheitshandeln, das durch Technologien unterstützt oder erst möglich gemacht wird, sehr spezifisch. Technologien bestimmen heute bis zu einem gewissen Grad, wer welches Maß an Kontrolle und Verdacht über sich ergehen lassen muss, wer Grenzen überschreiten und komfortabel reisen darf, oder welche Stadtviertel besonders intensiv von Polizeistreifen patrouilliert werden. Technologie spielt also eine zentrale Rolle dabei, wie Unsicherheiten reduziert werden sollen. Entsprechend muss Technologie als zentrales Thema für ethische Reflektion gesehen werden. Deterministisch betrachtet könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass Technologien als bloße Werkzeuge für menschliches Handeln eine unmittelbare Verlängerung von menschlicher Moral darstellen. Eine solche Herangehensweise greift aber maßgeblich zu kurz, indem sie die soziale, ökonomische, und politische Einbettung von Technologie ausblendet. Bruno Latour (2002: 248), exemplarisch für konstruktivistische STS -Ansätze, spricht davon, dass Technologien und Moralvorstellungen zutiefst verwoben seien, da in beiden Fällen die Abwägung zwischen Mittel und Zweck im Mittelpunkt der Überlegungen stehe. Während sich moralische Fragen allerdings häufig unter Bezugnahme auf universelle Gebote oder Verbote begründen lassen, stellt sich die Thematik im Falle von (Sicherheits-)Technologien offener dar. Technologie, im Sinne eines konstruktivistischen Verständnisses, stellt eine Übersetzungsleistung dar. Übersetzt werden dabei etwa instrumentelle Visionen („die Technik soll etwas Bestimmtes leisten“), ökonomische Vorstellungen („die Technik soll einen Profit auf dem Markt erwirtschaften“), Karrierevorstellungen („die Entwicklung der Technik zum Zwecke einer Beförderung oder Qualifikati- Technologie, Moral, Intervention: Sicherheitsethik als öffentliche Intellektualität 363 onsarbeit“), oder politische Programme („die Technik als Lösung regulatorischer oder sozialer Probleme“). Die konkrete Ausgestaltung von Technologien bleibt dabei vorerst offen und vage, und verdichtet sich erst im Verlauf des Forschungs-, Entwicklungs- und Designprozesses immer mehr bis zum fertigen Produkt. Dabei müssen immer wieder wegweisende Entscheidungen getroffen werden, wobei sich nicht zwangsläufig die beste technologische Option oder Designoption durchsetzt, sondern Marktrationalitäten, Machtverhältnisse in Industrie und Politik, bereits bestehende Infrastrukturen und Standards, institutionelle Bedürfnisse oder auch der öffentliche Diskurs eine Rolle spielen. Verdeutlichen lässt sich die soziale Konstruktion von Sicherheitstechnologie etwa am Beispiel von Körperscannertechnologie. Vor die Wahl gestellt, die Visualisierung der Scanergebnisse eines Passagiers an der Sicherheitskontrolle am Flughafen entweder als „Nacktbild“ (dem die von der menschlichen Hautoberfläche reflektierten Terahertzstrahlen erstaunlich nahekommen) oder als abstrahiertes „Strichmännchen“ zu realisieren, entschieden sich Teile der Industrie für das „Nacktbild“, da diese Option aus operativen Gesichtspunkten sinnvoller erschien (potenziell gefährliche Gegenstände konnten von einem menschlichen Operator schnell und mit hoher Treffsicherheit von nicht gefährlichen Gegenständen unterschieden werden). Noch bevor die ersten Geräte im Jahr 2011 in einen Testlauf unter realen Bedingungen gehen konnten, wurden jedoch Terahertz-„Nacktbilder“ in der Presse veröffentlicht, und lösten einen breiten Diskurs um Privatsphäre, Intimsphäre, und Eingriffsschwellen im Rahmen von Sicherheitshandeln aus. Daraufhin wurde seitens der Industrie kurzerhand auf eine Visualisierung mittels Abstraktion umgestellt, was jedoch zur Folge hatte, dass, mangels verlässlicher automatischer, algorithmenbasierter Objekterkennung und -klassifizierung, potenziell gefährliche Gegenstände nicht mehr anhand des Bildmaterials identifiziert werden konnten, und somit bei jeder Detektion aufwendig manuell nachkontrolliert werden musste. Unter realen Einsatzbedingungen am Flughafen Hamburg verloren die Geräte dadurch so viel von ihrer Leistungsfähigkeit, dass sich das Innenministerium letztlich gezwungen sah, die bis dahin favorisierte Technologie vom unmittelbaren Einsatz auszuschließen (Leese 2015). Und auch wenn knapp fünf Jahre nach dem Testlauf mittlerweile Körperscanner an allen großen deutschen Flughäfen zu finden sind, verdeutlicht das Beispiel die Eingebundenheit von Technikentwicklung in eine komplexe Gemengelage von Akteuren, Interessen, Strukturen, Diskursen, und technischen Prädispositionen. Moralvorstellungen in Bezug auf Scham, Würde, Körperlichkeit und Nacktheit (und in Verbindung damit Fragen nach Normalität und Abweichung, sowie der Übersetzung von Abweichung in Verdacht und Be- 364 Matthias Leese drohung) wurden hier zugunsten von Effizienz- und Effektivitätsabwägungen vernachlässigt - obgleich bereits früher im Entwicklungsstadium die Möglichkeit bestanden hätte, ein alternatives, sensibleres Design zu verfolgen. Das Verhältnis von Technologie und Moral ist jedoch kein einseitiges. So wie Moralvorstellungen in Technik eingeschrieben werden, so verändern sich ihrerseits Moralvorstellungen durch die Implementierung von Technologien in den Alltag, in Institutionen, in unsere Kommunikationsformen, und so weiter. Latour (2002: 252) schreibt zu dieser wechselseitigen Einflussnahme: “If you want to keep your intentions straight, your plans inflexible, your programmes of action rigid, then do not pass through any form of technological life. The detour will translate, will betray, your most imperious desires.” Für Latour ist klar, dass Technologie immer zwangsläufig ein transformierendes Element darstellt, das durch Übersetzungsleistungen in beide Richtungen moralische Aufladung erfährt und gleichzeitig in der Lage ist, Moralität zu verändern. Als Beispiel ließe sich hier etwa die veränderte Bereitschaft von Internetnutzern anführen, in sozialen Medien zu einem nicht unbeträchtlichen Teil die eigene Privatsphäre aufzugeben, oder die Inkaufnahme einer potenziellen ständigen Ortung von Smartphone-Nutzern, die durch die permanente Nutzung von GPS -Signalen entsteht. Sowohl soziale Medien als auch Smartphones sind für viele Menschen nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken, und so findet eine Anpassung der eigenen Werte an die Erfordernisse der Technologie statt. Sich wandelnde Wertvorstellungen sind dabei erstmal kein normatives Problem an sich, aber sie verdeutlichen ein fundamentales Dilemma einer jeden Sicherheits(technologie)ethik: Technologien entwickeln häufig erst dann ihre sozialen Auswirkungen, wenn sie als voll ausgereifte Produkte ihren Weg in den täglichen Gebrauch finden (Collingridge 1981). Sie können dann nur noch politisch oder ökonomisch reguliert werden - die Technologie selbst ist nicht mehr offen für Eingriffe. Im Sinne von Latour (1987) ist damit das Stadium erreicht, in dem offene Konflikte und Kontroversen beigelegt und technologische Artefakte „geschlossen“ worden sind. (Sicherheits-)Technologien werden im Zuge dieses Schließungsprozesses zu „black boxes“, d. h. zu Systemen, die einfach zu bedienen, jedoch häufig nur schwerlich in ihrer inneren Logik zu verstehen sind. Ein Beispiel hierfür sind Softwarelösungen zur Risikoklassifikation, etwa für Passagiere am Flughafen. Der Input ist leicht nachvollziehbar, er besteht aus Passagierdaten, etwa dem automatisiert erhobenen „Passenger-Name-Record“ ( PNR ) Datensatz, der unter anderem Informationen zu persönlichen Details des Reisenden, zur Zahlungsweise, zur Reiseroute, bis hin zur Sitzplatz- und Essenswahl beinhaltet. Der Output ist ebenfalls leicht verständlich - der Passagier wird entweder als unbedenklich oder als bedenklich eingestuft, mit beliebig vielen Zwischenstufen und anschliessenden Handlungsempfehlungen für die Technologie, Moral, Intervention: Sicherheitsethik als öffentliche Intellektualität 365 Sicherheitsbehörden (Bellanova / Duez 2012). Was allerdings in der Zwischenzeit passiert, welche Algorithmen wie und auf welcher spezifischen Grundlage welche Berechnungen anstellen, bleibt im Dunkeln. Der Schließungsprozess hat dazu geführt, dass moralische Kontroversen, die sich bei der Übersetzung von (Un-)Sicherheitsvorstellungen in Technologie fast schon zwangsläufig ergeben, unsichtbar werden. Hier ist der entscheidende Punkt, an dem Bourdieu mit seinem Idealtyp des öffentlichen Intellektuellen ansetzt. Bourdieu (1991: 16 f.) argumentiert, zugegebenermaßen aus einer etwas paternalistisch anmutenden Perspektive, dass es die Hauptaufgabe der Intellektuellen sei, „die Situation der anderen sozialen Gruppen zum Ausdruck zu bringen, sie zumindest zu verstehen und ihnen vielleicht - im günstigsten Fall - helfen zu können, sich auszudrücken.“ Im Speziellen hat Bourdieu die Vision eines Klassenkampfes vor Augen, der aus Sicht der Arbeiterklasse eines Advokaten bedarf, eines Fürsprechers, der Anliegen in den öffentlichen Diskurs einspeist und sie durch explizit moralische Argumente unterfüttert. Die grundsätzliche Konzeption einer (Rück-)Übersetzungsleistung durch öffentliche Intellektuelle hat jedoch sehr viel breiteres Potenzial, speziell im Hinblick auf Technologie und Moralität. Für Bourdieu (1991: 46) müssten sich die Intellektuellen in diesem Spannungsverhältnis auf die ungeschriebenen Gesetze eines ethischen und wissenschaftlichen Universalismus [berufen], um eine Art moralisches Lehramt auszuüben und bei gewissen Gelegenheiten eine kollektive Mobilisierung für einen Kampf zu untermauern, der dazu bestimmt ist, den Werten, die in ihrer Welt gelten, im ganzen sozialen Universum Geltung zu verschaffen. Ein universeller Geltungsanspruch, wie ihn Bourdieu propagiert, kann, im Sinne der doppelten Problematisierung des Verhältnisses von Technologie und Moralität bei Latour, weder Sinn noch Agenda einer politischen Sicherheitsethik sein. Im Gegenteil muss eine Sicherheitsethik gerade im Hinblick auf Technologien eine Sensitivität für Kontexte, für Akteure, für Machtverhältnisse, und für Genealogien entwickeln. Nur so können letztlich fundierte Werturteile über diese Technologien und, wichtiger, ihre übergeordneten Implikationen für die Rolle von Sicherheitsvorstellungen in unserer Welt abgegeben werden. Die Einsicht, aus akademischen Analysen ein politisches Mandat ableiten zu müssen, hat sich etwa - mit höchster Relevanz für die Sicherheitsethik - auch in Techniksoziologie und STS etabliert. Wiebe Bijker (2003) beruft sich in seiner Antrittsrede als Präsident der Society for Social Studies of Science (4S) im Jahr 2001 explizit auf das politische Mandat des Expertentums, das durch die allgegenwärtigen Schließungsprozesse von komplexen Technologien un- 366 Matthias Leese abdingbar gemacht wird. Für ihn entspannt sich die Aufgabe der öffentlichen Intellektuellen nicht so sehr an Konflikten zwischen politischen Systemen oder der Klassenkampf-Rhetorik, sondern an der fast schon ubiquitären Technisierung der Welt. Es sei die Aufgabe der Techniksoziologin to show to a broad array of audiences - politicians, engineers, scientists, and the general public - that science and technology are value laden, that all aspects of modern culture are infused with science and technology, that science and technology do play key roles in keeping society together, and that they are equally central in all events that threaten its stability. (Bijker 2003: 444) Eine Techniksoziologie, in diesem Sinne verstanden, ist explizit normativ aufgeladen und politisch, und schwingt sich damit gewissermassen dazu auf, die Leerstellen, die sich aus dem titelgebenden Dreisatz “Technologie, Moral, Intervention” ergeben, zu füllen. Zentral hierfür ist die Rolle der Wissenschaftlerin / Intellektuellen. Bijkers Aufruf stellt damit eine Problematisierung der Rolle der Wissenschaft als solcher dar, und zwingt gleichzeitig Akademikerinnen, ihre Rolle in der Welt zu reflektieren und gegebenenfalls neu zu definieren. Wissenschaft, ganz gleich welcher Disziplin, spricht, sofern sie nicht ausschließlich in einer deskriptiven Rolle verharren will, Werturteile über die Objekte ihrer Forschung aus. Aus solchen Werturteilen können wiederum vielerlei Schlüsse gezogen werden: sie können beispielsweise zur Verbesserung von „Dingen“, zur Steigerung von Effizienz in Prozessen und Organisationen, zu einer regulatorischen Politikberatung, oder eben auch zur Öffentlichmachung von sozialen Missständen und Ungerechtigkeiten, und damit zum Anstoß eines moralischen Diskurses, genutzt werden. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus ist dabei nur unscharf definiert. Gerade Teildisziplinen, die sich auf die Tradition kritischer Theorie beziehen, und die damit den Anspruch auf sozialen Wandel bereits explizit in ihren theoretischen und methodologischen Konzepten verankert haben, sind hier an vorderster Stelle zu nennen. Die Idee der Wissenschaftlerin als öffentliche Intellektuelle findet sich aber auch etwa in der „Freiburger Schule“ um Arnold Bergstraesser wieder, der unter Bezug auf Aristoteles die Aufgabe der Politikwissenschaft vorranging darin sah, zum Wohle von Demokratie und Allgemeinheit beizutragen. Im Sinne einer öffentlichen Intellektualität als Scharnierfunktion Bourdieuscher Prägung müssen Wissenschaftler also gewissermassen multiple, überlappende Identitäten besitzen. Für Bourdieu (1991: 46) selbst ist die Rolle der Intellektuellen labil und unbeständig, und dabei von permanenten Grenzüberschreitungen geprägt. Lara Coleman (2015) spricht in diesem Sinne davon, dass die Lücke zwischen Expertentum und Öffentlichkeit, zwischen Akademie und Technologie, Moral, Intervention: Sicherheitsethik als öffentliche Intellektualität 367 Aktivismus, ganz bewusst offen bleiben müsse, da eine Schliessung im Interesse keiner der beiden Seiten sein könne. Vielmehr müssten Wissenschaftlerinnen ein bewusstes „hin und her“ zwischen den Sphären praktizieren, um die Integrität des jeweils spezifischen akademischen Feldes nicht zu gefährden, aus dem sich ihre moralische Autorität speist. Für Bourdieu (1991: 42) muß [der öffentliche Intellektuelle] einer intellektuell autonomen, d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes in engerem Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat. Was bedeuten diese Überlegungen nun für das Verhältnis von Sicherheitsethik und Öffentlichkeit? Eine politische Sicherheitsethik Tübinger Prägung gibt sich nicht damit zufrieden, als Resonanzraum ohne Praxisbezug zu fungieren. Gerade im Hinblick auf Sicherheitstechnologien bedient sie sich ihrer empirischen (sozial- und kulturwissenschaftlichen) Nachbardisziplinen, um „schwarze Kisten“ zu öffnen oder sie im besten Sinne bereits vor ihrer Schliessung in einen bilateralen Dialog und / oder öffentlichen Diskurs zu integrieren. Dazu gehört unter anderem, immer wieder die teilweise unangenehme Aufgabe von „ethischer Begleitforschung“ in Technologieprojekten auszuüben, zu sensibilisieren und - wenn nötig, in einem Anflug von Bourdieuschem Paternalismus - mahnend den Zeigefinger zu heben. Dazu gehört auch, sich einer Öffentlichkeitskommunikation und der damit verbundenen Gratwanderung zwischen Komplexitätsabbildung und -reduktion nicht zu verschließen. Ebenso gehört zum Aufgabenfeld, wenn nötig Politikberatung zu betreiben und dabei klare Handlungsoptionen und -empfehlungen aufzuzeigen. Im Wirken von Regina Ammicht Quinn spiegelt sich die Rolle der öffentlichen Intellektuellen, die sich nie darauf beschränkt hat, Moralitätsdiskurse bloß innerhalb der Universität anzustoßen, unter anderem in ihrer Arbeit in politischen Gremien im Sicherheits(forschungs)bereich. Exemplarisch seien hier ihre Rollen im Wissenschaftlichen Programmausschuss Sicherheitsforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ( BMBF ), im Wissenschaftlichen Beirat des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit ( FOES ), und im Forschungsbeirats des Bundeskriminalamts ( BKA ) genannt. In diesen Gremien trat und tritt sie mit dem Anspruch auf, Sicherheitsforschung nicht zu einem anormativen Diskurs der technischen Disziplinen verkommen zu lassen, sondern die Moralitäten von Technologie mit all ihren Ambivalenzen und Diskontinuitäten nicht nur in die öffentliche Aufmerksamkeit, sondern auch ins politische Bewusstsein zu rücken. Nicht zuletzt ist es ihr zu verdanken, dass die „gesellschaftlichen 368 Matthias Leese Dimensionen“ im deutschen Sicherheitsforschungsprogramm institutionalisiert wurden und dort als eine Art Stolperstein für Moralfragen in Technologie- und Sicherheitspolitik fungieren. (Sicherheits-)Ethik, verstanden als öffentliche Intellektualität, ist eine Ethik der Grenzüberschreitung im bestmöglichen Sinne. Sie setzt sich bewusst zwischen die Stühle. Sie zwingt dabei zu kontinuierlicher Reflektion - nicht nur was die komplexen Wechselwirkungen von Technologie und Moralität angeht, sondern auch was die eigene Identität und das eigene Rollenverständnis von Wissenschaft und Wissenschaftlerinnen betrifft. Sie fordert geradezu die Bildung von Werturteilen, und in der Folge die Politisierung dieser Werturteile. Es ist eine Ethik, die mit der immer weiteren Technisierung von Sicherheit unbedingt nötig ist und bleibt. Literatur Ammicht Quinn, Regina (2012). Zwischen Angstdiskursen und Akzeptanzfragen: Grundlagen einer Sicherheitsethik. In: Würtenberger, Thomas / Gusy, Christoph / Lange, Hans-Jürgen (Hrsg.) Innere Sicherheit im europäischen Vergleich: Sicherheitsdenken, Sicherheitskonzepte und Sicherheitsarchitektur im Wandel. Münster: LIT , 317-330. 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Investment bankers apparently can take any risk they want and, even if they put the security of their companies in danger, someone will save them - even at the expense of the autonomy of entire states. Similarly, technological progress seems inherently tied to risk. At the “frontier” of technological invention, the Silicon Valley and the corresponding Californian Ideology (see Barbrook / Cameron 1996) is based on taking risks - and becoming hilariously rich as a reward for ignoring security. Is that a contradiction, or just an invalid conflation of national and financial security? The ups and downs of the financial crisis in Europe - particularly Greece - suggest that national and financial security are at least intertwined. However, I do not want to discuss this interrelation, but to ask, on a more fundamental level: Beyond pointing out the dangers of making security a value that trumps all others, is there a positive value of insecurity? And what are the conditions and circumstances for insecurity to be a positive value? This question is important because endorsing insecurity comes in many different forms and contexts. For example, I just used a prominent example of people who seem to live for the moment, who seize any opportunity life offers them, and do not care much about putting aside resources for the future: investment bankers. But they are people who otherwise share the white male bourgeois values that are produced by the Rolexes and Versaces, maybe enhanced with a shiny SUV to drive out to the farmer and buy locally produced meat. In contrast, from Nietzsche to rock’n’roll, living for the moment and contempt for security are, in our cultural imaginary, associated with challenging established or bourgeois values. Apparently, accepting or even taking pleasure in insecurity can produce quite diverse effects. 370 Tobias Matzner To get a grip on this diversity, let us start with a quick look at Nietzsche, who is prominent in philosophy for celebrating ecstatic action on his way to the “revaluation of all values”. But this centrality of action in his thought does not only shift values: he develops a new metaphysics, which consequently enables this revaluation. In the Genealogy of Morality we find the famous quote: [P]opular morality separates strength from the manifestations of strength, as though there were an indifferent substratum behind the strong person which had the freedom to manifest strength or not. But there is no such substratum; there is no ‘being’ behind the deed, its effect and what becomes of it; ‘the doer’ is invented as an afterthought, - the doing is everything. (Nietzsche 2007: 26) This, of course, has been an important step towards performative concepts of subjectivity, which still play a role in relevant emancipatory projects, and I do not want to diminish this. But the problem remains that for Nietzsche the celebration of action is the hallmark of self-sufficiency. His concept lends itself to Achilles, whose rage makes him perform the most heroic deed of the war, and die in its execution - his death defining his entire person through his heroic deed. But it lends itself also to the neoliberal demand to constantly refashion oneself - never achieving a stable person whose future could be secured. It is difficult to differentiate this scope of approaches that appropriate Nietzschean figures from Nietzsche’s own theoretical angle. This shows that his idea of the pure self-sufficiency of ecstatic action depends on certain contexts. But quite common to male and white figures of autonomy, it dissimulates those conditions of its own possibility or renders them transparent. This contextual caveat is voiced by Hannah Arendt, despite her profound sympathy for Nietzschean thought. She writes that without others, who witness the act, who react to it, and thus contest its reality, a single pure doing vanishes the moment it is done (Arendt 1998: 197). Thus, forfeiting security in contempt for anxious concerns about the future implies the security that the glory of the contemptuous act will prevail. And this is impossible without others who keep it alive in further acts - which is no matter of course for many. Another form of the interplay between praise for personal insecurity and the security of social circumstances can be found in the Hagakure (Tsunemoto 1980). This is a text written in Japan in the early eighteenth century, and it is known as one of the most famous texts on the codes, practices, and morals of Samurai. The book has caused controversy especially because it was used to inspire kamikaze pilots during the Second World War, and because of other appropriations of the book in the fascism of the Axis powers. This has been called an abuse and ignorance of the text, as it should be understood in the context of the early eighteenth century Japan, where an aging Samurai writes a nostalgic When Samurai meet Judith Butler 371 lament for the old heroic times of war. The author lives during a rather peaceful period when many former warriors had become magistrates. While I can not do justice to these debates here, which presuppose substantial knowledge of Japanese literature and history, what interests me is that this book sells very well today, also in Western societies. It has inspired many works in contemporary culture, maybe most famously Jim Jarmusch’s movie Ghost Dog . But it is also a declared favorite of many managers and high-ranking officials in both military and political positions. So I focus on the contemporary appeal of this text. When we start reading the book we are quickly confronted with an extreme celebration of personal insecurity: The Way of the Samurai is found in death. When it comes to either / or, there is only the quick choice of death. […] If by setting one’s heart right every morning and evening, one is able to live as though his body were already dead, he gains freedom in the way his whole life will be without blame and he will succeed in his calling (Tsunemoto 1980: 17-18). There are many similar passages: “A warrior has to be brave but not proud, which means to defy death.” Or: [T]he Way of the Samurai is, morning after morning, the practice of death, considering whether it will be here or be there, imagining the most sightly way of dying, and putting one’s mind firmly in death (Tsunemoto 1980: 73). But importantly all these fragments are tied to passages that emphasize that the aim is not a warrior who follows commands blindly. In contrast, not caring for one’s survival is a precondition to maintain calm, prudent, and thoughtful action that allows conscious understanding of the most important things in life: The clan and one’s master on the one hand and personal moral integrity on the other hand. Here, preparing for death and learning to embrace the insecurity of one’s own life does not entail a reduction to the bare necessities of life. On the contrary, in the Hagakure , embracing insecurity means perfect dress and grooming at all time (because one would not want to die in a neglected state). It means resolving conflicts quickly and decidedly, while always keeping perfect manners (because one would not want to leave tensions behind that could harm the family). Thus, the text makes clear that just surviving in a life with decaying social relations, manners, and morals is not a life worth living. So the celebration of death and insecurity is premised on a more fundamental insecurity: moral integrity and social status can never be guaranteed and are in constant danger. Thus, embracing the insecurity of one’s life and property is the way to maintain one’s reputation and to support the aims of the clan and the master. Contrary to Nietzsche’s perspective, in the Hagakure , the glorious deeds that defy 372 Tobias Matzner death are not challenging morality, but are the very way to completely subject oneself to it. Again the value of insecurity depends on a social precondition: an established tradition, code of conduct, and morality. But importantly, this social condition presents itself as fundamentally insecure. One is constantly at risk of losing one’s moral integrity, one’s reputation. And such a loss will also damage one’s family and the master. It is this fundamental insecurity of the social and moral environment that makes it necessary to embrace personal insecurity, to live in a way that does not care for one’s own survival. Judith Butler, in a discussion of honor killings, calls this “hyper-vulnerability” (Kyle 2011). The hyper-vulnerability of the family, the nation, or a similar identifying structure, puts the individual life at stake. In the Hagakure , this structure is reputation and the clan. But the particularity of the Hagakure is that it turns this threat into a purely individual virtue. This might explain the appeal of the Hagakure in countries with a business culture where investments have to become ever riskier, where people are encouraged never to go for the secure but less aggressive alternative, and where bankers read a book on Samurai in order not to lose their edge. Countries where parents already start to worry about threats to their children’s careers when they are in elementary school, where no qualification is a guarantee for the future, where no error is permissible, and where only permanently outdoing oneself might lead to a decent life. Again this implies that these lives are hypervulnerable life. The problem is: just to criticize such virtues of individual insecurity, and to opt for security instead, is no solution either. After 9 / 11, our hyper-vulnerable nation states react by trying to eradicate the smallest risk - accepting the detention, abuse, and killing of innocents for the sake of the greater good, the hypervulnerable nation. The surge of critical Security Studies and the many results it has produced attests to the adverse effects of such attempts to produce security. So the problem seems to lie with the hyper-vulnerability, that is with the insecurity of the social preconditions, which then can entail both securitization and the endorsement of personal insecurity. Of course it seems almost trivial to say that social security is a precondition for a secure personal life. But this trivial relation comes with its own problems. Establishing social security often means trying to institutionalize and hedge the fundamental dependency of our lives on others. When dependency is regarded as vulnerability, material and institutional provisions are established to replace this dependency. But often this has led to power structures that render the dependency on others invisible, e. g. the exploitation of workers or women’s care work at home. The celebration of insecurity characteristic of 1968 - live hard, love hard, die young - has attacked the materialism and narrow morality such When Samurai meet Judith Butler 373 endeavors can produce. But this attack in turn relies on an individualist image of free action that has dissimulated its social preconditions, which excluded many - based on gender, education, and class - from the newfound liberties. The debates on intersectionality (see Crenshaw 1995) have shown how easily emancipatory movements fight for some while producing new exclusionary effects at the same time. Thus, accepting a fundamental dependence on others, rather than trying to institutionalize remedies against it, can open a perspective on social situatedness that differs from the hyper-vulnerability discussed above. This perspective is also based on a kind of fundamental insecurity, albeit in a way that allows a different approach to the value of insecurity by including rather than opposing it. I want to trace this perspective in the remainder of this paper. Consider, for example, radical ecological or anti-nuclear energy activists. They weld their bodies to train tracks, set themselves in concrete, or tie themselves to trees in a way that makes their bodies highly vulnerable. This is purposely making use of the way the police have to proceed very cautiously when removing them, which takes time, attracts media, and thus increases the impact of their protest. The deliberate exposure, in an insecure and vulnerable position, to those forces that are meant to deter the protests again relies on a more fundamental morality: Even protestors who destroy infrastructure or do other illegal things must not be hurt or treated with excessive violence. In acknowledging that the protestors can never build a force that is stronger than the state, they expose and polarize this dependency to an extreme. Thus they force the state to refrain from using its own force and to fall back on a more fundamental morality, at least for a few minutes or hours - or to publicly expose the state’s immorality should the protestors be hurt or molested. In this constellation, the vulnerability and insecurity of the protestors is turned into an instrumental value for political aims. One can debate whether this is a proper way of protest or an abuse, but I will leave that aside for now. Such protests radicalize a basic element of every public appearance. Every public appearance (for explicit political aims or not) renders a person insecure and vulnerable. This basic exposure in any interaction has been thematized, for example, by Hannah Arendt (1998) and Adriana Cavarero (2000). Judith Butler uses this theory in her book Giving An Account of Oneself . She shows that this basic exposure is often rendered invisible or transparent by those for whom this elementary insecurity never bears consequences. Those who can walk the streets freely, those who can voice their concerns and whose opinions and are heard, those that can display their gender and sexuality in public, and many more. This leads to a concept of individual autonomy, for which vulnerability and insecurity are bad things. But this concept relies on the fact that the pu- 374 Tobias Matzner blic exposure and the ensuing insecurity of such people are shielded by power relations. Others, however, are forced by these power relations to account for themselves using norms which are not their own and which do not fit the persons that appear in personal interaction. For those that stand on the other side of these power relations, endorsing insecurity can help to foreground this situation. Judith Butler talks about this in an interview with the journal Truthout : When I was in Ankara, Turkey, and I was on a march with a group of transgender women, queer activists, human rights workers and feminists, people who were both Muslim and secular, everyone objected to the fact that transgender women were being killed regularly on the streets of Ankara. So, what’s the alliance that emerged? Feminists who had also been dealing with sexual violence on the street. Gay, lesbian, queer people, who are not transgender, but are allied because they experience a similar sense of vulnerability or injurability on the streets (Kyle 2011). In this analysis, dissimulating insecurity does not simply mean that some persons are treated badly. It means they are treated badly because the same basic insecurity that comes with any interaction is mitigated for some and not for others. Those who are not immediately prone to the effects of this basic insecurity might fail to see how this depends on social structures that mitigate it for them. They can then advocate individual autonomy without recognizing its preconditions. As Stacy Aleimo writes concerning activists using their bodies: Humans are vulnerable because they are not in fact ‘human’ in some transcendent, contained sense, but are flesh, substance, matter; embedded within and inseparable from the ‘environment’ (Alaimo 2010: 24). That means accepting insecurity is connected to acknowledging the human being beyond the autonomous subject that holds center stage in liberal thought. With regard to this concept of liberal autonomy, every dependency appears as the aforementioned hyper-vulnerability: If one always depends on others one can never be secure and thus needs to strife even more. This can even include endorsing insecurity in the style of the Hagekure . In contrast, endorsing insecurity in a different manner means to acknowledge that both one’s own person and the other are always at stake in every act. And this means acknowledging that attempts to counter this insecurity require reducing the mutual exposedness in interaction to a relation structured by power. This very often exerts violence on some who do not find themselves in that reduction. One could object that this only shows why we have to accept insecurity, rather than attribute a positive value to it. But I think insecurity as an elementary ethical stance can have a value - even for acts that aim at security. When Samurai meet Judith Butler 375 Such a stance will lead to actions that acknowledge and include the uncertain ground one stands on and the risk of exposing one’s acts and one’s self to others. It will aim at ways of acting that remain insecure in the sense that they allow themselves to be affected - and sometimes even shattered - by the shaky and insecure acts of others. References Alaimo, Stacy (2010). The naked word: The trans-corporeal ethics of the protesting body. Women & Performance: a journal of feminist theory 20(1), 15-36. Arendt, Hannah (1989). The Human Condition, Chicago: University of Chicago Press. Barbrook, Richard und Andy Cameron (1996). The Californian Ideology. Science as Culture 6(1): 44-72. Bella, Kyle (2011). Bodies in Alliance: Gender Theorist Judith Butler on the Occupy and SlutWalk Movements. Truthout, December 15. Abrufbar unter: http: / / www. truth-out.org/ news/ item/ 5588: bodies-in-alliance-gender-theorist-judith-butler-onthe-occupy-and-slutwalk-movements. (Last access: 08 / 11 / 2016) Butler, Judith (2005). Giving an Account of Oneself New York: Fordham University Press. Cavarero, Adriana (2000). Relating Narratives, London: Routledge. 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Dabei sind es überaus unterschiedliche Felder, in denen der Begriff Verwendung findet: in den Materialwissenschaften ebenso wie in den inzwischen als klassisch zu identifizierenden Resilienzforschungsfeldern der (Sozio-)Ökologie und der Psychologie, in der Katastrophen- und Transformationsforschung, aber auch in der Entwicklungszusammenarbeit und im Bereich der Sicherheitsforschung- und -praxis, um nur eine knappe Auswahl zu nennen. Resilienz wird in diesen Kontexten vielfach als aussichtsreiche neue Perspektive auf Formen des Umgangs mit Risiken und Bedrohungen in komplexen, als unübersichtlich wahrgenommenen Gesellschaftskonstellationen verhandelt, die produktivere Strategien und Lösungsansätze für diese Herausforderungen bereitzustellen verspricht als bislang vorliegende Konzepte. Damit geht häufig eine (zumindest implizite) Normativität des Konzepts einher: Resilienz, so die Annahme, sei grundlegend positiv zu bewerten und solchermaßen ein legitimes Ziel gesellschaftlicher Steuerungsbemühungen. Im Nachfolgenden soll diese Normativität des Konzepts der Resilienz einem genaueren Blick unterzogen und herausgearbeitet werden, inwiefern das Konzept sowohl aus theoretisch-analytischer als auch aus ethischer Perspektive kritisch zu beurteilen ist. Dies soll insbesondere mit Blick auf die Rezeption und 1 Der vorliegende Beitrag knüpft an gemeinsame Überlegungen mit Martin Endreß zu den Herausforderungen einer soziologischen Theorie der Resilienz an (siehe Endreß / Rampp 2014, Endreß / Rampp 2015) und entstand im Kontext des Projekts „Theorie der Resilienz“ der DFG-Forschergruppe „Resilienz. Gesellschaftliche Umbruchphasen im Dialog zwischen Mediävistik und Soziologie“. Ich danke Martin Endreß und Marie Naumann für ihre vielfältigen Anregungen. 378 Benjamin Rampp Verwendung des Konzepts der Resilienz im Kontext der Sicherheitsforschung und -praxis geschehen. Die Resilienzperspektive Bei aller Diversität der Forschungs- und Praxisfelder, in denen der Resilienzbegriff mittlerweile rezipiert wird, lassen sich doch einige Elemente eines Grundverständnisses einer Resilienzperspektive identifizieren, welche insbesondere auf der (sozio-)ökologischen Forschung fußt (siehe bspw. Holling 1973, Holling / Gunderson 2002). Diese zentralen Aspekte sollen im Nachfolgenden knapp skizziert werden, um damit ein grundlegendes Verständnis für die im vorliegenden Beitrag diskutierte Perspektive zu ermöglichen. Resilienz beschreibt zunächst die Frage nach dem produktiven Umgang mit Prozessen und Umbrüchen, die den Bestand der jeweils in den Blick genommenen (biologischen, sozialen etc.) Einheit in Frage stellen bzw. auf eine solche Weise wahrgenommen werden. Dabei können diese Umbrüche bspw. als (latente) Vulnerabilitäts- oder (manifeste) Krisen- und Katastrophenkonstellationen kodiert werden. Grundlegend kann Resilienz also als ein Komplementärkonzept zu dem der Vulnerabilität bzw. Bedrohungskonstellationen im Allgemeinen verstanden werden (siehe Bürkner 2010, Christmann et al. 2011) und wird solchermaßen auch im empirischen Feld rezipiert und diskutiert. Von besonderer Bedeutung ist die Annahme, dass Resilienz mehr als nur die Widerstandskraft gegenüber und das bloße Überleben von bestandsbedrohenden Umbrüchen meint. Stattdessen wird mit dem Begriff der Resilienz impliziert, dass aus Krisenerfahrungen produktive Effekte für den Weiterbestand der betroffenen Einheit gewonnen werden können: gewissermaßen ein produktives (Fastbzw. Teil-) Scheitern, wie es bspw. bereits bei Schumpeter in der Vorstellung eines „process of creative destruction“ (Schumpeter 1943 / 2003: 81-86) angelegt ist. Dieser produktive Umgang mit Bedrohungskonstellationen wird im Kontext der Resilienzforschung - vor allem derjenigen sozial-ökologischer Provenienz - prozessual konzipiert. Im Modell des „Adaptive Cycle“ (siehe bspw. Holling / Gunderson 2002) sind Phasen von „growth“/ „exploitation“, „conservation“, „collapse“/ „release“ und „reorganization“ miteinander verbunden und veranschaulichen einen Zyklus aneinander anknüpfender Wachstums- und Krisenbzw. (partiellen, potenziell aber auch endgültigen) Zerstörungsprozessen. Darüber hinaus wird ein solcher „Adaptive Cycle“ als Mehrebenenphänomen verstanden, der mit anderen „Adaptive Cycles“ auf unterschiedlichen Ebenen in einem panarchischen System verbunden ist, so dass sich Prozesse auf der einen Ebene potenziell immer auch auf andere Ebenen (die sich u. a. durch differieren- Zur normativen Dimension des Konzepts der Resilienz 379 de Zeitlichkeiten unterscheiden können (siehe dazu auch Endreß / Rampp 2014: 95-96) auswirken können. Im Rahmen der Resilienzforschung wird schließlich häufig auf eine Typologie von drei Dimensionen bzw. Modi von Resilienz zurückgegriffen, welche verschiedene Ausprägungen des Umgangs mit Bedrohungskonstellationen widerspiegeln (siehe bspw. Endreß / Rampp 2015: 38-41, Folke et al. 2010, Keck / Sakdapolrak 2013, Lorenz 2013): Die Dimension der Bewältigung stellt dabei auf kurzfristige, reaktive Formen des Umgangs mit Bedrohungen, die Dimension der Anpassung auf mittelbis langfristige Prozesse begrenzter struktureller Anpassung an neue Herausforderungen und die Dimension der Transformation auf langfristige und umfassende Wandlungsprozesse ab. Resilienz als Thema des Sicherheitsdiskurses Die Resilienzperspektive hat in den vergangenen Jahren, wie bereits angemerkt, auch im Feld der Sicherheitsforschung und -praxis zunehmende Resonanz erfahren (siehe dazu bspw. Blum et al. 2016, Bourbeau 2013, Kaufmann 2012, Kaufmann 2015, Kaufmann / Blum 2012). Der Rückgriff auf das Konzept der Resilienz ist dabei vor allem im Kontext der Frage nach Formen der Steuerung und der Herstellung von Sicherheit im Rahmen fortgeschritten moderner, komplexer Gesellschaftskonstellationen zu verorten, worauf insbesondere David Chandler (2014a, 2014b) verweist. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich solche Gesellschaftskonstellationen nicht - oder nicht mehr - ohne weiteres steuern und damit sichern lassen. Eine zentrale Rolle für die gestiegene Relevanz der Resilienzperspektive spielt hier die Dominanz eines Risikodispositivs, in dem Sicherheit als eine Frage von zu managenden Wahrscheinlichkeiten verstanden wird. Die Herstellung von Sicherheit wird in Bezug auf einen empirischen Kontext diskutiert, dem zugeschrieben wird, dass er von als ubiquitär wahrgenommenen Risiken geprägt sei, die sich überall und zu jeder Zeit realisieren könnten. Da in dieser Vorstellung die Möglichkeit eines umfassenden Schutzes bzw. des Verhinderns des Eintretens von Schäden als zunehmend unwahrscheinlich (und tendenziell unmöglich) eingestuft wird, verschiebt sich der Fokus auf den Modus der ‚preparedness‘, also die Art und Weise des Umgangs mit bereits eingetretenen Schäden (siehe Blum et al. 2016: 156-158). Damit werden andere Formen proaktiver Sicherheitspraktiken jedoch keineswegs irrelevant, sondern verknüpfen sich mit einem solchen Modus, was sich in den zuvor skizzierten drei Dimensionen der Bewältigung, der Anpassung und der Transformation widerspiegelt. 380 Benjamin Rampp Normative Fragen der Resilienzperspektive Mit dieser Entwicklung des Konzepts der Resilienz gehen - analog zu den vielfältigen Verwendungskontexten des Konzepts - verschiedene theoretischkonzeptionelle, und damit letztlich auch praktische, Probleme einher (siehe Endreß / Rampp 2015: 42-50). Eines dieser Probleme soll im Nachfolgenden besondere Berücksichtigung finden: die Frage der Normativität des Konzepts der Resilienz und deren Konsequenzen. Auch wenn Resilienz in der einschlägigen Forschung - insbesondere in den Feldern der Sozial-Ökologie und der Psychologie - prima facie als analytisches Konzept diskutiert wird, so ist dessen praktische Umsetzung in diesen Kontexten nicht minder von Interesse. Resilienz wird hier, wie zuvor angedeutet, als ein grundlegend positiv bewertetes Ziel verstanden, welches es zu verfolgen gilt (siehe Endreß / Rampp 2015: 45-46). Es liegt also eine normativ spezifisch ausgeprägte Perspektive zu Grunde, die aber selten expliziert oder gar problematisiert wird. Dies erscheint aus einer soziologischen ebenso wie einer ethischen Perspektive aber zwingend notwendig und hat sowohl für die theoretisch-analytischen Grundlagen des Konzepts wie dessen praktische Umsetzung gewichtige Konsequenzen. Im Nachfolgenden werden fünf miteinander verknüpfte Problemkomplexe der bisherigen (impliziten und kaum reflektierten) Normativität von Resilienz adressiert: (1) Essentialistische Annahmen, die Rolle von Perspektivität und die Bedeutung eines sozialkonstruktiven Ansatzes In der bisherigen Resilienzforschung der Sozial-Ökologie und der Psychologie lässt sich die Dominanz einer essentialistischen Perspektive identifizieren: Es wird von einem ‚objektiven‘ Standpunkt ausgegangen, von dem aus die ForscherInnen (und auch die Akteure, welche das Konzept in der Praxis umsetzen) eruieren könnten, welche Phänomene und Zustände als Resilienz und welche als Vulnerabilität zu verorten sind bzw. welche Faktoren resilienzfördernd wirken und welche diese dagegen hemmen oder gar verringern. Wie u. a. die Science and Technology Studies zeigen, sind solche essentialistischen Annahmen bereits im Kontext naturwissenschaftlicher Forschungskontexte wie der Ökologie problematisch, noch virulenter scheinen sie aber zu werden, wenn das Konzept der Resilienz auf soziale Prozesse und bspw. das Feld der Sicherheitsforschung und -praxis übertragen wird. Denn was als Vulnerabilität oder Bedrohung und was als Resilienz wahrgenommen wird, ist stets eine Frage der Perspektivität, d. h. ist abhängig von der jeweiligen Beobachtungsposition und den mit dieser Position verknüpften Zuschreibungsprozessen, die wiederum im Zeitverlauf va- Zur normativen Dimension des Konzepts der Resilienz 381 riieren können, so dass ein einmal als hergestellte Resilienz wahrgenommener Zustand nach einer Veränderung der gegebenen Sozialkonstellation oder dem Aufkommen neuen Wissens über den jeweiligen Problemkomplex nachfolgend ggf. radikal anders eingeschätzt werden muss. Um das Konzept der Resilienz analytisch gewinnbringend nutzen zu können ist also eine grundlegende sozialkonstruktive Orientierung notwendig, die diese Zuschreibungs- und Konstruktionsprozesse in den Blick nimmt (siehe Christmann et al. 2011, Endreß 2015, Endreß / Rampp 2015: 44-45) und bislang unhinterfragte essentialistische Annahmen kritisch reflektiert. (2) Wessen Resilienz zu welchem Preis? Das Thema der Perspektivität leitet über zu der normativ zentralen Frage nach den Kosten der Herstellung von Resilienz und der Verteilung dieser Kosten. Solche Kosten können ökonomischer Natur sein, etwa, wenn Mittel zur Herstellung von Resilienz einer sozialen Gruppe verwendet werden, die dann für eine andere Gruppe nicht zur Verfügung stehen, können aber auch viel grundlegenderer Natur sein, wenn bspw. die Resilienz der einen Gruppe zu mittelbaren oder unmittelbaren Vulnerabilitäten oder Schäden einer anderen Gruppe führen (siehe Endreß / Rampp 2015: 46). Diese Frage wird noch komplexer, wenn die Mehrebenenperspektive des Resilienzkonzepts, d. h. insbesondere das Modell der Panarchie, konsequente Berücksichtigung findet und somit Güterabwägungen zwischen unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Zeitlichkeiten ins Blickfeld rücken. (3) Nebenfolgendynamiken Mit der skizzierten essentialistischen Grundorientierung gehen in der bisherigen Resilienzforschung oftmals (wenn auch nicht durchgängig) teleologische Annahmen und Kausalitätsvorstellungen einher, die implizieren, dass Resilienz als eine Form (ökologischer, psychischer, sozialer) Steuerung eingesetzt werden könne. Berücksichtigt man die Einwände gegenüber einer essentialistischen Orientierung ebenso wie die Bedeutung von Perspektivität, dann wird deutlich, dass solche Steuerungsvorstellungen zu kurz greifen - gerade wenn Resilienz im Kontext komplexer gesellschaftlicher Konstellationen diskutiert wird. Stattdessen gilt es, vor allem (nicht-intendierte) Nebenfolgendynamiken analytisch in den Blick zu nehmen (siehe Böschen et al. 2006, Endreß 2010, Endreß / Rampp 2015: 41, Merton 1936, Merton 1995) - und zwar abermals Ebenen und Zeitlichkeiten übergreifend in panarchischer Perspektive. Daran schließt erneut die Frage der Güterabwägung an, die sich insofern verschärft, als Kosten und Nutzen von Resilienzstrategien (und damit einhergehenden bzw. als solche kodierten 382 Benjamin Rampp Sicherheitspraktiken) sowie die Verteilung dieser Kosten und Nutzen aufgrund von Nebenfolgendynamiken strukturell weder in ihrem Umfang, noch in ihrer konkreten Ausprägung ex ante bekannt sein können. (4) Struktureller Konservatismus? Basierend auf den vorhergehenden Anmerkungen können in der bisherigen Resilienzforschung zumindest Elemente eines strukturellen Konservatismus identifiziert werden, insofern hier keine Entwicklungsvorstellung in modernistischer Optik (mehr) anleitend ist, sondern Risiken als unvermeidlich identifiziert werden und der produktive Umgang mit ihnen zur Leitwährung der fortgeschrittenen Moderne gerät (siehe Blum et al. 2016: 154-156). Dieser strukturbewahrende Charakter der Resilienzperspektive verweist auf jeweils spezifische Ordnungsvorstellungen, die es zu sichern gelte, und obstruiert damit umfassendere Umbruchsprozesse. Allerdings trifft diese Kritik das Konzept der Resilienz nur eingeschränkt, wenn dieses konsequent prozessual gefasst wird (siehe Endreß / Rampp 2015: 48) und - wie bspw. in der sozial-ökologischen Forschung - insbesondere auf Anpassungs- und v. a. Transformationspotenziale abstellt. (5) Macht- und herrschaftsanalytische Fragen: Gouvernementalität und Responsibilisierung Schließlich stellen sich - insbesondere mit Blick auf den Kontext der Sicherheitsforschung und -praxis - macht- und herrschaftsanalytische Fragen (siehe Blum et al. 2016: 156-158 und 162-169, Chandler 2014a, Chandler 2014b, Endreß / Rampp 2015: 46-47, Joseph 2013). Die zentrale Annahme des Resilienzansatzes, dass Krisenerfahrungen und Bedrohungskonstellationen nicht nur abgewendet oder bewältigt werden müssen, sondern auch produktiv zur Weiterentwicklung genutzt werden können (und ggf. sollen) verweist auf ein dem Ansatz inhärentes Moment neoliberaler Logik: Da umfassende Sicherheit in der das Konzept der Resilienz anleitenden Komplexitätsperspektive nicht garantiert werden kann und auch nicht länger als Desiderat kodiert wird und stattdessen der produktive Umgang mit ubiquitären, alltäglichen Risiken und deren Konsequenzen im Fokus steht, muss jeder Akteur aktives Eigenengagement mit Blick auf diese alltäglichen Risiken zeigen, um einen solchen produktiven Umgang zu ermöglichen. Es findet also ein Prozess der Responsibilisierung statt, der jeden Einzelnen bzw. jede Einzelne zu einem eigenständigen Handeln ermächtigt und ihm bzw. ihr zugleich die Verantwortung zur Achtsamkeit und ‚preparedness‘ zuschreibt - in neoliberaler Zur normativen Dimension des Konzepts der Resilienz 383 Diktion: ‚Fördern und Fordern‘. Ein solchermaßen von einer neoliberalen Logik geprägtes Steuerungsverständnis knüpft unmittelbar an Foucaults Konzept der Gouvernementalität, der darin ausgearbeiteten Vorstellung von Regieren (und des „Regieren[s] über Freiheit“ (Krasmann 1999)) sowie den damit verknüpften Techniken des Selbst an (siehe Blum et al. 2016: 156-158, Foucault 2005: 966-999, Foucault 2006a, insbes. 134-172, Foucault 2006b, Joseph 2013). In der Praxis der Herstellung von Sicherheit geht diese Responsibilisierung einher mit einer und ist angewiesen auf eine umfassende(n) gegenseitige(n) Beobachtung insbesondere der alltäglichen Lebensführung im Sinne einer „Kriminologie des Alltags“ (Garland 2008: 326) bzw. einer „Kultur allseitigen Verdachts“ (Endreß / Rampp 2013: 156). Denn gerade in dieser, so die Logik des Risiko- und Sicherheitsdispositivs, an welches das Konzept der Resilienz anschließt, könnten neue Gefahren emergieren und sich schrittweise und zunächst unbemerkt entwickeln, bis sie zu einem manifesten, akuten Problem werden. In der Verknüpfung verschiedener Formen der auf Sicherheit abstellenden Responsibilisierung - von der Achtsamkeit und gegenseitigen Beobachtung bis zur ‚preparedness‘ für den Eintritt des Schadensfalls - spiegeln sich schließlich die verschiedenen Dimensionen bzw. Modi von Resilienz, d. h. sowohl die Bewältigung eingetretener Schäden ex post als auch die Anpassung an potenzielle neue Risiken sowie umfassende Transformationsprozesse ex ante, wider. Aus einer ethischen Perspektive erweist sich diese Form des Regierens als strukturell ambivalent: Resilienz bedeutet zugleich Empowerment als auch die Zumutung einer neoliberalen Responsibilisierung. Es ist das komplexe Zusammenspiel von Freiheit und Regieren, welches sich hier - ganz im Sinne foucaultscher Gouvernementalitätsanalysen - manifestiert. Coda Das Konzept der Resilienz erweist sich im Kontrast zu den in der Resilienzforschung bislang dominierenden normativ-positiven Zuschreibungen also als strukturell ambivalent und bedarf deshalb der kritischen analytischen Reflexion seiner Grundannahmen. Diese Reflexion, so scheint es auch aufgrund der vielfältigen Forschungs- und Verwendungskontexte des Resilienzkonzepts notwendig und angebracht, gilt es, inter- und multidisziplinär sowohl mit Blick auf theoretische als auch empirische Fragen anzulegen. Einen bedeutenden Beitrag dazu kann die Sicherheitsethik leisten, wie sie maßgeblich von Regina Ammicht Quinn entwickelt wurde (siehe einführend Ammicht Quinn 2013). Diese Sicherheitsethik zeichnet sich dadurch aus, dass sie strukturelle Ambivalenzen als zentrales ethisches Problem im Bereich der Sicherheitsforschung und -praxis identifiziert, die spezifischen Herausforde- 384 Benjamin Rampp rungen komplexer Güterabwägungen in diesen Kontexten fokussiert, sensibel für Nebenfolgendynamiken ist und die grundlegende Perspektive einer „moralische[n] Achtsamkeit“ (Ammicht Quinn 2013: 42) einnimmt: „Nimmt das Sicherheitsdenken die Reflexion auf das ihr eigene ‚rückläufige Moment‘ nicht auf, die Reflexion auf die Problematiken, die nicht als Gegenteil des Sicherheitsdenkens, sondern als Teil von ihm zu sehen sind, dann läuft dieses Denken Gefahr, höchst problematisch zu werden“ (Ammicht Quinn 2013: 16). Es ist, um in Regina Ammicht Quinns Worten fortzufahren, ein „Lernen von Odysseus“ (Ammicht Quinn et al. 2013: 279), welches diese Sicherheitsethik anleitet und auch für die analytische Reflexion des Konzepts der Resilienz angebracht scheint; so gilt es, mit einem doppelten Sirenengesang umzugehen (siehe Ammicht Quinn et al. 2013: 279-280, 290-291), der einerseits die vielfältigen Risiken fortgeschritten moderner, komplexer Gesellschaftskonstellationen widerspiegelt, auf die das Konzept der Resilienz eine potenzielle Antwort sein könnte, andererseits aber für die mit dem Konzept verknüpften, normativ gesättigten Versprechungen steht, die es kritisch zu hinterfragen gilt. Literatur Ammicht Quinn, Regina (2013). Sicherheitsethik: Eine Einführung. In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) Sicherheitsethik. Wiesbaden: Springer VS , 15-47. Ammicht Quinn, Regina / Nagenborg, Michael / Rampp, Benjamin / Wolkenstein Andreas F. X. (2013). Ethik und Sicherheitstechnik: Eine Handreichung. 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Der Drang mehr Sicherheit zu erfahren und garantiert zu erhalten, führt dazu, dass auf der einen Seite mit jeder sichtbaren Sicherheitslücke eine höhere Erwartung von den Mitgliedern einer Gesellschaft aufgebaut wird, diese von institutioneller Seite zu verschließen. Auf der anderen Seite werden immer höhere Aufwendungen - bis zur absoluten Erschöpfung von Ressourcen - aufgewendet, um diesen Erwartungen nachzukommen. Damit wird der gesellschaftliche Burn-Out charakterisiert als eine Zunahme gesellschaftlicher Ängste und eines Anwachsens von Frustration und des gegenseitigen Misstrauens. Es droht ein Umkippen beispielsweise der Stimmung von optimistisch zu pessimistisch, eine Verspannung politischer Stabilitäten und die Pulsfrequenz, d. h. die Abfolge beunruhigender Ereignisse wird (gefühlt) täglich dichter. Der folgende Essay unternimmt das Gedankenexperiment, die Gefahr eines gesellschaftlichen Burn-Out durch das Streben nach vollkommener Sicherheit zu untersuchen. Dabei wird diskutiert, inwieweit das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung als verbindendes Moment individueller Burn-Out-Vorsorgestrategien verstanden werden kann und inwieweit dies im Sicherheitsdiskurs Beachtung finden sollte. 388 Friedrich Gabel, Birgit Kröber Burn-Out Tendenzen im Sicherheitsstreben Das fortwährende Streben nach Sicherheit greift zunehmend tiefer in den Alltag, die Arbeit und die Freizeitgestaltung hinein (siehe Dyk / Lessenich 2008: 33). Das Ziel: Das Erreichen einer scheinbar längst überfälligen vollkommenen Sicherheit in einer modernen komplexen Welt, einer Berechenbarkeit in der Unberechenbarkeit des Lebens (siehe Clavell 2012: 121). Doch stets bleibt nur Ernüchterung, denn es zeigt sich, dass jede Sicherung immer weitere, zuvor noch unbekannte Unsicherheiten offenlegt (siehe Ammicht Quinn 2014: 19, Buhelt 2012: 189) und das Gefühl heute wieder nicht fertig geworden zu sein verschwindet nicht. Diese Parallele zwischen Individuum und Gesellschaft lässt sich aber noch weiter zuspitzen, denn auch was die „physischen“ Ressourcen (individuell wie gesellschaftlich) angeht, wird der Kampf um mehr Sicherheit mit Aufbietung aller Kräfte geführt (siehe Weicht 2014: 35). Doch so wie auch ein Körper 1 nicht ewig einer solchen Belastung widerstehen kann, zeigen sich auch in der Gesellschaft die Stresssymptome immer deutlicher und der Kreislauf der Versagensangst gewinnt an Geschwindigkeit. Dies erzeugt jedoch seinerseits wieder neuen Stress und damit neue Unsicherheiten (siehe Münkler 2010: 27). Einen bedeutenden Anteil daran haben etwa immer neue, hypothetische Katastrophenszenarien für die Vorbereitungsmaßnahmen zu treffen sind. Die Symptome sind dabei vielfältig. Seien es die wachsenden Ängste vor dem Fremden, dem Unsicheren (weil Unbekannten) oder der verzweifelte Versuch, zu einem früheren, scheinbar erfolgreicheren „Lebensabschnitt“ zurückzukehren - der Drang zum Nationalstaat wird so offen vertreten, wie seit langem nicht mehr (siehe Zielcke 2016). Gleichzeitig sind die Gefahr dieser Sicherheitsspirale und die damit verbundene Diagnose, dass ein „Sicherheitsstreben zur totalen Kontrolle“ nicht ewig weitergeführt werden kann, bekannt; unweigerlich wird der „Körper“ irgendwann nachgeben. Auch haben bereits zahlreiche „Doktoren“ auf die Gefahren hingewiesen, die etwa mit einem stetigen Misstrauen gegenüber der Gesellschaft und ihren Mitgliedern (z. B. jeder könnte ein Terrorist sein), mit dem Ausschluss des Anderen (Kriminalisierung von Migration; siehe Baumann 2009: 4) einhergehen. Getan wird zur selben Zeit wenig. Zu schwach ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, zu bitter das Eingeständnis, dass nicht alles sicher sein muss oder kann (siehe Glaeßner 2003: 23, Meyer 2009: 35) und dass nicht alle Unsicherheit per se schlecht ist. Es hat schon fast religiösen Charakter, wie sehr wir glauben eine vollkommene Sicherheit erreichen zu können (siehe Leese 2016: 424). Wenn aber einerseits eine Veränderung gescheut wird, und anderer- 1 Der Begriff Körper wird hier analog zum individuellen Körper im übertragenen Sinne auch als “gesellschaftlicher Körper“ und „Welt-Körper“ gedacht, da ein Burn-Out psychische und physische / körperliche Symptome hat. Eine Prise Nachhaltigkeit bitte! 389 seits dieses Verhalten auf Dauer nicht gut geht, scheint der gesellschaftliche Burn-Out unausweichlich. Und das, obwohl sich mit Blick auf die Medizin und die dort genannten Burn-Out-Vorsorgestrategien durchaus Wege denken lassen, diesen Worst-Case noch zu vermeiden. Nachhaltige Entwicklung und Burn-Out Prävention Sucht man nach spezifischen Behandlungsempfehlungen zur Burn-Out-Vorsorge, so sind der Mittel ebenso viele, wie es keine eindeutigen zu geben scheint. Gleichzeitig gibt es, so unsere These, eine Idee, die einem Großteil dieser Empfehlungen gemein ist: Es bedarf eines nachhaltigen Umgangs mit den eigenen Ressourcen . Auch wenn der Begriff der „Nachhaltigen Entwicklung“ selbst nicht fällt, ist das dahinterstehende ganzheitliche und integrierte Vorgehen ein notwendiger Schritt, um langfristig gesund leben zu können. Nachhaltige Entwicklung geht dabei weit über das althergebrachte Dreisäulenmodell hinaus (siehe hierzu UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro). Vielmehr ist sie als ein ganzheitlicher Ansatz zu verstehen, der sich unter anderem auf natürliche Ressourcen, kulturelle Vielfalten, politische Rechte und politische Stabilität sowie auf ökonomische Grundrechte bezieht, die für alle jetzt lebenden Generationen und alle nachfolgenden Generationen erhalten bleiben sollen. Mit Blick auf individuelle Therapiestrategien kann man analog von körperlichen Ressourcen, einer Balance der Lebensbereiche, vom individuellen Umgang mit Umwelten sowie von sozio-ökonomischer und politischer Stabilität sprechen, die in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt und bearbeitet werden müssen. In diesem Sinne ist auch die Analyse, was einen Burn-Out hervorruft , immer ein Blick auf das Zusammenspiel vieler Faktoren. Um den Zusammenhang zwischen einem gesellschaftlichen Burn-Out und der Nachhaltigen Entwicklung besser zu verdeutlichen, werden in diesem Essay die individual-therapeutischen Ansätze mit den Leitlinien der Nachhaltigen Entwicklung (siehe Ott / Döring 2008) betrachtet. Dem Gedanken der Effizienz kann im Burn-Out Kontext ein anderer Umgang mit den eigenen Ressourcen gegenübergestellt werden. Resilienz verweist auf die Wertschätzung eigener Fähigkeiten und die Pflege sozialer Kontakte und Suffizienz 2 wird im Burn-Out Kontext mit dem Abbau unrealistischer Erwartungen Rechnung getragen. Was dies für den Kontext Sicherheit und dementsprechend eine gesellschaftliche Burn-Out-Vorsorge bedeutet, soll im Folgenden präzisiert werden. Dabei wird zudem dargestellt inwieweit die genannten Leitlinien Nachhaltiger Entwicklung für den Sicherheitsdiskurs von Bedeutung sein könnten. 2 Suffizienz ist hier nicht im medizinischen Sinne gemeint. 390 Friedrich Gabel, Birgit Kröber Effizienz-- Umgang mit den eigenen Ressourcen Eine der ersten Therapieempfehlungen die Burn-Out-Patienten oder Gefährdeten nahegelegt wird, ist ein Umdenken im Umgang mit den eigenen Ressourcen oder Kräften. Dadurch soll Stress reduziert, Kraft regeneriert und damit der individuelle Körper geschützt werden. Übertragen auf den Kontext Sicherheit lassen sich diese Empfehlungen in (mindestens) zweifacher Weise deuten, wobei beide miteinander verflochten sind. Die erste Perspektive bezieht sich auf den „Welt-Körper“ und damit auf den Umgang mit natürlichen Ressourcen, die das Streben nach vollkommener Sicherheit in großem Maße bindet. Effizienz bedeutet in diesem Sinne einen bewussteren Umgang mit dem „Welt-Körper“ zu etablieren, einerseits dadurch, dass Ressourcen aller Art bei Sicherheitsmaßnahmen nachhaltig genutzt werden. Andererseits geht es darum, im Sinne des Suffizienz-Gedankens, ein alternatives Verständnis von erwarteter Sicherheit zu etablieren. In einer zweiten Perspektive kann man effizienten Umgang mit den eigenen Ressourcen auf den „gesellschaftlichen Körper“ beziehen. Mehr noch als natürliche Ressourcen verschlingt das aktuelle Sicherheitsstreben finanzielle, personale und zeitliche Mittel sowie politische Aufmerksamkeit. Sich gegen eine stete Gefahr zu sichern, eine Gefahr die zumeist als existenzielle Bedrohung beschrieben wird (Versicherheitlichung; siehe Huysmans 2011: 379), bindet Mittel und Aufmerksamkeit, die für andere Aufgaben und Lebensbereiche nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine mögliche Folge sind innere (soziale) Konflikte (brennende Banlieus aufgrund repressiver statt sozialer Adressierung von Problemen; siehe Keller 2015). Doch eine solche Effizienz ist in einer freiheitlichen Gesellschaft keineswegs einfach zu erreichen. So gibt es weder Einigkeit über die zu erreichenden Ziele, noch über die effizientesten Wege, diese jeweils zu realisieren. Hinzu kommt, dass sich etwa Prävention immer in einer Grauzone, da ihre Wirksamkeit nur schwer nachzuweisen ist und nicht jeder Investition in Vorsorge auch immer ein Ereignis folgt. Effizienz mit Blick auf den „gesellschaftlichen Körper“ wäre dementsprechend darin zu sehen, sinnvoll zwischen Sicherheitsproblemen und Nicht-Sicherheitsproblemen zu unterscheiden und sie in deren eigener Logik zu bearbeiten. Denn auch Ressourcen, die in Nicht- Sicherheitsbereiche investiert werden, können den Stress für Fragen der Sicherheits-Arbeit senken. Eine Bearbeitung sozialer Probleme durch Sicherheitsmaßnahmen im genuinen Verständnis von Sicherheit greift demgegenüber zu kurz; dies zeigt sich besonders prägnant am Konzept der Humanen Sicherheit. Diese umfasst alles, was in irgendeiner Weise mit dem Bereich der Sicherheit in Verbindung steht. Bildung zum Beispiel ist in dieser Hinsicht eine Frage der Sicherheit, weil die Folgen fehlender Bildung, fehlende Lebenschancen sind und Eine Prise Nachhaltigkeit bitte! 391 diese wiederum ein Straffälligwerden begünstigen können. So nachvollziehbar diese Argumentation auch sei, so sehr verschleiert sie, dass Sicherheitshandeln eine andere Logik zugrunde liegt. Statt einer Verhinderung von sollte die Befähigung zu im Vordergrund stehen. Das Konzept der „Human Security“ ist deshalb nur insoweit sinnvoll, wie Sicherheit nicht zum übergeordneten Wert erhoben wird, sondern andere Bereiche (z. B. Gesundheit, Soziales, Bildung, etc.) auch für sich und ohne Blick auf eine Erhöhung von Sicherheit wertgeschätzt werden. Effizient und damit den (gesellschaftlichen) Körper schonend wäre demnach, Ressourcen in einem ausgewogenen Verhältnis auf Sicherheit und die sozialen Ursachen von Unsicherheit zu verteilen. Resilienz-- Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten und Stärkung des Miteinanders Neben dem angemessenen Umgang mit den eigenen Ressourcen ist es sinnvoll, die eigenen Fähigkeiten wertschätzen zu lernen und soziale Kontakte zu pflegen. Die Umsetzung dieser therapeutischen Empfehlung könnte im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung von Sicherheit durch die Forderung nach Resilienz geleistet werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es kein einheitliches intra- und interdisziplinäres Konzept von Resilienz gibt. Einige der Ansätze führen eher den aktuellen Sicherheitsdiskurs in selber Manier fort (siehe Fainstein 2015), anstatt ihn zu überformen. Versteht man Resilienz jedoch als eine Antwort auf die Einsicht, dass Sicherheitsbedrohungen eintreten werden und es neben Maßnahmen der Vermeidung, auch Maßnahmen des Umgangs mit Schadensereignissen bedarf, die die Handlungsfähigkeit einer Gesellschaft gewährleisten, hat Resilienz ein großes Potenzial (siehe Grove 2014). Dies ist mit dem Verständnis Nachhaltiger Entwicklung vereinbar, nachdem Veränderungen (z. B. Klimawandel) auf den „Welt-Körper“ und den „gesellschaftlichen Körper“ unausweichlich sind, aber die grundlegenden Funktionen, die den beiden Körpern inhärent sind, durch resiliente Strukturen erhalten bleiben sollen. „Grundlegende Funktionen“ bedeutet dabei nicht „Überleben um jeden Preis“, sondern beinhaltet auch die jeweiligen Werte einer Gesellschaft, wie sie beispielsweise für Deutschland im Grundgesetz festgeschrieben sind. Eine neue Qualität erreicht Resilienz aber erst dann, wenn eine Weiterentwicklung bestehender (unzureichender) Strukturen mitgedacht wird (siehe Folke 2006). Eine so verstandene Resilienz würde die Entwicklung einer Unsicherheitskompetenz bedingen, nach der „nicht alles verhindern zu können“ nicht versagen bedeutet, sondern die Notwendigkeit verdeutlicht, vorhandene gesellschaftliche (körperliche) Potenziale zu nutzen. Es hieße, dass auch die begrenzten eigenen 392 Friedrich Gabel, Birgit Kröber (institutionellen) Fähigkeiten hinreichend sein können, Sicherheitserwartungen zu erfüllen. Aufgabe der Gesellschaft wäre damit, die Nutzung ihrer Potenziale, durch Schutz vor Bedrohungen und Verhinderung von sozialer Polarisierung, zu ermöglichen; denn erst wenn alle Teile eines Systems resilient sind, ist es auch das System. Eine solche Resilienz würde bedeuten, den Beitrag anderer Bereiche, wie etwa Armutsbekämpfung oder soziale Integration als sicherheitsfördernd wertzuschätzen. Zudem wäre dies ein Schritt weg von einer Sicherheit als Schutz vor jedem Anderen, hin zu Sicherheit mit und durch den Anderen (siehe Meyer 2009: 36). In wie weit mensch hier Gefahr läuft „Human Security“ durch „Nachhaltigkeit“ zu ersetzen sei dahingestellt. Suffizienz-- Umdenken und maßvolle Ziele Die dritte Leitlinie Nachhaltiger Entwicklung ist schließlich Suffizienz, verstanden als ein Umdenken hin zu einem maßvollen Umgang, angemessenen Erwartungen an sich und die Umwelt (siehe Lexikon der Nachhaltigkeit 2015). Der Druck alles schaffen oder haben zu wollen, immer besser und genauer zu werden, ist kontraproduktiv. Insbesondere dann, wenn das Geleistete, aufgrund immer neuer Arbeit, kaum oder nicht gewürdigt wird. Diese Beschreibung lässt sich ohne Schwierigkeit auf den Sicherheitsdiskurs übertragen, indem stets nur nach noch mehr Sicherheit gestrebt wird, man aber immer wieder enttäuscht ist, weil das Erreichte nicht genug scheint. Dieses Sicherheitsparadox (siehe Buhelt 2012: 189), nach dem jedes Schaffen von Sicherheit immer neue Bereiche, die noch unsicher sind, offenlegt, ermüdet und frustriert. Wie eine Sisyphos-Arbeit wirkt es, wenn es trotz aller Sicherheitsmaßnahmen doch immer wieder zu tragischen Ereignissen kommt. Besonders illustrativ ist hier das Beispiel der Ambivalenz von Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung. Einerseits mit Blick auf die entwickelte Technik (Cockpittür als Schutz vor Eindringlingen - Germanwings; siehe Harloff/ Kock 2015) andererseits in Hinblick auf die sozialen Folgen von Maßnahmen, wo etwa unter Verweis auf einzelne Täter*innen ganze Bevölkerungsgruppen zu Gefahrengruppen stigmatisiert werden (Islamisierung des Terrors; Vaughan-Williams / Stevens 2016: 50) und somit ein Teufelskreis beginnt. Gleichzeitig sind diese paradoxen Strukturen in der Forderung nach vollkommener Sicherheit selbst angelegt und der einzige Ausweg ist, diese unrealistische Forderung gegen eine erfüllbare Version auszutauschen. Etwa indem der Gleichsetzung von unsicher mit nicht-100 %-sicher vorgebeugt wird. Es ist ja (etwa in Deutschland) gerade nicht so, dass an jeder Ecke Gefahr lauert. Vielmehr sind es entweder Ausnahmen oder Einzelfälle, für die Vorsorgemaßnahmen oftmals nicht im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Kosten stehen würden. Zudem würde es bedeuten, diese nicht 100 %ige Eine Prise Nachhaltigkeit bitte! 393 Sicherheit zu kommunizieren und in ihren Folgen zu diskutieren. Die öffentliche Forderung täuscht zum einen oftmals über die eigene Begrenztheit hinweg und erzeugt auf diese Weise innerlich, wie äußerlich massiven Druck. Statt jedem Sicherheitsinteresse (mit Sicherheitsmitteln) gerecht werden zu wollen, sollten Forderungen zurückgewiesen werden, wenn diese, auch mit Blick auf mögliche Nebenfolgen, individuelle oder gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten überschreiten. Schließlich ist es im Kontext von Sicherheit ein Problem, dass (Sicherheits-)Erfolge nur wenig Beachtung finden (siehe Slovic 1993: 677). Das Potenzial Nachhaltiger Entwicklung für den Sicherheitsdiskurs Die Diagnose Burn-Out ist über den einzelnen Menschen hinaus ein Zeichen unserer Zeit und hat aus diesem Grund bereits viel Aufmerksamkeit bekommen. Mit diesem Essay wurde der Versuch unternommen, die Symptome und Ursachen des Krankheitsbilds Burn-Out auf den Kontext aktueller Sicherheitspolitik anzuwenden. Hierbei wurde schlaglichtartig eine mögliche Interpretation beleuchtet nach der das aktuelle Streben nach Sicherheit und seine Folgen in hohem Maße Ähnlichkeit mit den Symptomen der Burn-Out-Erkrankung aufweisen. Dies wiederum wurde zum Anlass genommen, entlang medizinischer Behandlungsstrategien Empfehlungen zu formulieren wie ein potenzieller gesellschaftlicher Sicherheits-Burn-Out vermieden werden könnte. Dabei wurde in besonderer Weise auf das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung zurückgegriffen, da, so die These, Hauptmerkmal aller Burn-Out-Gründe ein kurzfristiger und nicht nachhaltiger Umgang mit dem Körper ist, der nicht dauerhaft durchgehalten werden kann. Demgegenüber liegt die Stärke des Konzepts Nachhaltiger Entwicklung darin, eine ganzheitliche und integrierte Perspektive einzunehmen. In diesem Sinne wurde auch der Versuch unternommen, das Konzept einer Nachhaltigen Entwicklung auf struktureller Ebene mit Sicherheit zu verankern und dadurch Sicherheit als relatives und relationales Gut, welches in starker Wechselwirkung mit Umwelten steht, zu beschreiben. Der Diskurs über das integrierte Konzept Nachhaltiger Entwicklung sollte damit eine besondere Rolle spielen, wenn es darum geht, die Probleme des aktuellen Sicherheitsdiskurses zu bewältigen und den Anspruch einer totalen Sicherheit hinter sich zu lassen. Als Ergebnis unseres Gedankenexperimentes wird demnach folgende ganzheitlich / integrative Perspektive vorgeschlagen. Der Effizienz-Gedanke verweist darauf, auch bei der Sicherheitsherstellung (nicht nur natürliche) Ressourcen nachhaltig zu nutzen. Mit Blick auf den Suffizienz-Gedanken bedeutet es aber auch das Ziel vollkommener Sicherheit zu hinterfragen, weil Effizienz allein bei 394 Friedrich Gabel, Birgit Kröber zu hoher Erwartung (in immer kürzerer Zeit) das eigentliche Ziel verfehlt. Der Suffizienz-Gedanke muss in diesem Sinne mit Effizienz einhergehen, um eine Nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten. Des Weiteren kann eine alternative Sicherheitserwartung (Suffizienz) auch eine Kompetenz im Umgang mit Unsicherheit begünstigen und damit zu einer resilienteren Gesellschaft führen. Eine resiliente Gesellschaft hingegen ist aufgrund der Fähigkeiten, Störungen und Veränderungen zu bewältigen auch dem Suffizienz-Gedanken nahe, weil das Gedankenspiel veränderter Verhaltensmuster gedacht werden darf und gedacht wird. Zugleich wäre denkbar, dass resiliente Systeme, durch die Nutzung sozial-befähigender statt baulich-verhindernder Maßnahmen, weniger Ressourcen benötigen, um mit einer Störung umzugehen. Da nicht jeder potenziellen Sicherheitsbedrohung vorgebeugt werden kann, ist es effizient, die Resilienz eines Systems zu stärken und damit seine Fähigkeit nachhaltig mit Störungen umgehen zu können. Literatur Ammicht Quinn, Regina (2014). Sicherheitsethik. Eine Einführung. In: Dies. (Hrsg.) Sicherheitsethik: Studien zur Inneren Sicherheit, Wiesbaden: Springer VS , 15-47. 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An einem gewählten Tag begibt sich, soziologisch formuliert, eine Gruppe, deren Mitglieder durch Liebe zueinander miteinander verbunden sind - in den meisten Fällen wohl ein junges, verliebtes heterosexuelles Paar, aber theoretisch sind weder Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Alter noch Anzahl der Beteiligten limitierende Faktoren - zu einer Brücke; die Gruppenmitglieder schließen dort ein Vorhängeschloss an das Brückengeländer und werfen gemeinsam den zugehörigen Schlüssel in den Fluss. Dann, so der Wunsch, solle die Bindung auf ewig halten. Über die Ursprünge - soweit dieser Begriff überhaupt verwendet werden will - dieser Praktik gibt es konkurrierende Narrative. Eine tragische Geschichte wird aus Serbien erzählt: Während des Ersten Weltkrieges schworen sich ein Soldat, Relja, und eine junge Lehrerin, Nada, im Kurort Vrnjacka Banja die Liebe, kurz bevor der Soldat an die Front musste. Serbien verlor den Krieg, Relja blieb in Griechenland und heiratete eine Frau vor Ort. Nachdem Nada dies erfuhr, war sie sehr verzweifelt, bis sie schließlich an gebrochenem Herzen verstarb. Seitdem brachten junge Pärchen an einem Brückengeländer der Stadt Vorhängeschlösser an, auf denen ihre Namen eingraviert waren, und warfen die Schlüssel weg. Damit verbunden war der Wunsch, dass die hier vergegen- 1 Ich danke Jessica Heesen, Marco Krüger, Tanja Prinzhorn und Maja Urbanczyk für ihre wertvollen und präzisen Kommentare. 398 Simon Ledder ständlichte Beziehung ewig halten solle, und ihnen nicht dasselbe Schicksal widerfahre wie Nada. Dies berichtet zumindest die Homepage des Kurorts (siehe Vrnjačka Banja o. J.). Andere Herkunftserzählungen verweisen auf Pécs, auf Riga oder auf Rom. All diese Geschichten sind jedoch fragwürdig, lässt sich die Praktik der Liebesschlösser doch erst ab den 1990er Jahren erfassen (siehe Hänel / Uhlig 2010: 71). Heute sind die Schlösser in allen größeren Städten Deutschlands präsent. Selbst an der winzigen Brücke über der Ammer, keine 100 Meter vom IZEW entfernt, findet sich ein einzelnes Liebesschloss (Stand: September 2016). Dies stellt jedoch eine Ausnahme dar: Liebesschlösser werden tendenziell an Orten angebracht, an denen sich schon andere Liebesschlösser befinden (siehe Maiwald 2016: 27). Das Liebesschloss hat sich zumindest als Begriff dermaßen etabliert, dass es im Juli 2013 von Duden.de als Eintrag aufgenommen wurde. Die Verbreitung stellt die jeweiligen Städte jedoch vor neuen Herausforderungen und ist zu einem Problem der Ordnungsämter geworden. Das Gesamtgewicht der vielen einzelnen Schlösser geht an verschiedenen Brücken in den zweistelligen Tonnenbereich. Im Juni 2014 brach in Paris ein Geländeteil auf der Pont des Arts zusammen, auf der Kölner Hohenzollernbrücke drohte 2015 eine Fluchttür aus den Angeln gerissen zu werden. Entsprechend schicken die Städte Angestellte mit Bolzenschneidern vorbei, um die „gefährlichen“ Objekte wieder zu entfernen. In anderen Städten wird das Aufhängen dieser Schlösser mittlerweile geahndet; in Venedig etwa drohen 3 000 Euro Strafe. Dennoch nimmt das Interesse, die eigene Liebe zu verewigen, nicht ab; wird sogar massiv gefördert. Es gibt unzählige Webseiten, die Liebesschlösser verkaufen, in die frei wählbare Zeichen eingraviert werden; das Schloss selbst hat dann gerne eine Herzform. Beliebt sind Namen und Daten, etwa die Feier des einjährigen Zusammenseins oder gar der Hochzeitstag. In der etwas kostengünstigeren Version wird auf ein Vorhängeschloss aus dem Baumarkt mit wasserfestem Stift ein „R + T 4-ever“ geschrieben und das Schloss mit Herzchen beklebt. Romantische Liebe und öffentliche Intimität Das Liebesschloss lässt sich zunächst als Bekundung einer romantischen Liebe verstehen. Die romantische Liebe setzte sich als Ideal erst im Bürgertum des 19. Jh. durch. Im Unterschied zur höfischen Liebe des Mittelalters, in der Liebe und Ehe nahezu entgegensetzt wurden, wird in der bürgerlichen Philosophie die von Schichtbeschränkungen befreite, auf gegenseitiges Begehren begründete Liebesehe als erstrebenswert postuliert (siehe Luhmann 1994: 51 ff.). Das Konstrukt des Liebespaares ist auf Dauer und Exklusivität ausgerichtet und stützt Das Liebesschloss 399 sich auf die gegenseitige, bedingungslose Liebe der beteiligten Subjekte, die als gleichwertige Individuen betrachtet werden. Der Diskurs der romantischen Liebe ist eng verknüpft mit den soziostrukturellen Veränderungen, die sich aus dem Erwachsen kapitalistischer Verhältnisse ergeben. Die Hausgemeinschaft, die bis ins 18. Jh. alle Mitglieder des oikos umfasste, wandelte sich in der bürgerlichen Gesellschaft zur Etablierung einer privatisierten Familienstruktur, in der Arbeitsstätte und Wohnung auch räumlich klar voneinander getrennt wurden. Die schon in der Antike angelegte Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wurde durchgesetzt; ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ wurden essentialistisch den Sphären von Reproduktion und Produktion entsprechend konstruiert. Während zuvor „rationale“ Gründe ausschlaggebend für Heiratsbeziehungen waren, wurde in den philosophischen Diskursen der Romantik das emotionale Verhältnis der Beteiligten als Beweggrund für eine Eheschließung ausgezeichnet. In diesen Diskursen wurde insbesondere die Abgrenzung von einer arrangierten „Vernunftehe“ postuliert, wie sie im Adel geschlossen werden würde. Das Ideal der Liebesehe korrelierte insgesamt mit den veränderten ökonomischen Anforderungen. Die gelebte Praxis unterschied sich jedoch von diesem Ideal. Insbesondere die formulierte Gleichwertigkeit der beteiligten Individuen wurde durch die asymmetrischen Geschlechterbeziehungen konterkariert. Nur in modifizierter Form resultierten aus dem Ideal wirksame Beziehungsnormen, und diese zunächst nur in privilegierten Kreisen der bürgerlichen Schichten. Zwar wurde die Liebesheirat der bürgerlichen Familie - mit unterschiedlichen Anforderungen an die nun vereindeutigten Geschlechter - zum „kulturellen Leitbild“ (Peukert 2012: 15) auch der Arbeiter_Innenschichten; deren ökonomische Schlechterstellung bedingte jedoch, dass beide Ehepartner_Innen einer Lohnarbeit nachgingen. Eine Beschränkung der Tätigkeiten der Ehefrau auf die Sphäre der Reproduktion, wie sie als Beziehungsnorm postuliert wurde, war nur in wohlhabenden Schichten möglich. Erst im Zuge der Reallohnsteigerungen in den 1950er Jahren konnte sich das Ein-Ernährer-Modell auch faktisch durchsetzen. In der romantischen Liebe wird eine Komplementarität der beiden beteiligten Personen behauptet, die sich aufgrund der sich jetzt festgeschriebenen geschlechtszuordnenden Eigenschaften nahezu selbstverständlich ergeben würde. Dabei wohnt der romantischen Zweierbeziehung von Beginn an ein Eskapismus gegenüber den erstarkenden kapitalistischen Verhältnissen inne. In diesen Verhältnissen sind die Arbeiter_Innen „frei im Doppelsinn“ (Marx 1998: 183): Sie sind frei von der Leibeigenschaft und nicht länger einer persönlichen Herrschaft unterworfen; zugleich sind sie aber frei von Produktionsmitteln wie Maschinen und Fabriken, weswegen sie ihre Arbeitskraft verkaufen müssen - bei Strafe des Verhungerns. In der fortschreitenden Industrialisierung interessiert nicht das 400 Simon Ledder Individuum in seiner Persönlichkeit, sondern einzig als mehrwertgenerierende Träger_In von Arbeitskraft, das als beliebig austauschbar erscheint. Dem entgegen erscheint die stets individualisierte Liebe im Privaten als Oase des Glücks, in der die Persönlichkeit des anderen geschätzt wird; zumindest in der unbewusst androzentrischen Perspektive diverser marxistischer Kritiken. Faktisch ist jedoch auch das Private von Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogen, wie insbesondere feministische Bewegungen immer wieder betont haben (siehe Lenz 2010). Die Privatheit der Liebe wird in der Praktik des Liebesschloss aufgebrochen, wie sich etwa im Vergleich zu anderen Praktiken der Liebesbekundung zeigt. So war es lange Zeit Brauch, dass das Paar seine Initialen in einen Baum ritzte. Das junge Paar traf sich, vermutlich heimlich und ohne elterliche Erlaubnis, an einem abgeschiedenen Ort, z. B. am Waldrand, an dem sie unter sich waren und ihrer Liebe zueinander Ausdruck verliehen. An diesem Ort wurden dann die Initialen in einem Baum verewigt, und würden dort alle Zeit überdauern, sofern der Baum nicht gerade gefällt würde. Der Ort wurde damit als Ort des Liebespaares vereinnahmt. Zugleich symbolisierten die Initialen im Baum die zeitlose Bindung; der Baum als etwas Lebendiges würde bis in alle Ewigkeit mitwachsen. Die Abgeschiedenheit des Ortes garantierte eine Privatheit, in der nur sehr zufällig vorbeikommende Personen diese Liebesbekundung überhaupt wahrnehmen konnten. Die Liebesschloss-Praktik teilt den Anspruch, die ewige Bindung zu beschwören, aber anstelle der heimlichen Bekundung wird diese nun in aller Öffentlichkeit vollzogen. Das Anbringen des Schlosses gerät zu einem Festakt am helllichten Tage an einem hochfrequentierten Ort. Die konstante Zurschaustellung trifft prinzipiell jede Passant_In, die auf der Brücke irgendwann unterwegs ist, solange das Schloss hängt. Die Öffentlichkeit ist aber nicht nur auf die Anwesenden auf der Brücke bezogen, sondern das Anbringen des Schlosses wird direkt fotografiert und in den sozialen Medien wie Instagram, Facebook etc. geteilt. Das Liebesversprechen wird zur öffentlichen Intimität. Jedoch ist das Herausstellen der eigenen Liebesbeziehung ein zeitlich sehr begrenzter Akt. Nachdem die Zeremonie vorüber ist, verbleibt das jeweilige Liebeschloss neben ungezählten anderen. Es versinkt in der Masse und wird dadurch nahezu anonymisiert. Während das fotografische oder filmische Festhalten des Moments zwar eine hör- und sichtbare Referenz im je persönlichen Beziehungsnarrativ erlaubt, verschwindet das spezifische Liebeschloss in der Menge. In ihrer Gesamtheit bilden Liebesschlösser, wenn auch individuell unterschiedlich gestaltet, ein symbolisches Bollwerk, das die tradierten kulturellen Leitbilder des 19. Jh. schützt. Das Liebesschloss 401 Eigentumsverhältnis Dass aber gerade ein Vorhängeschloss als Artefakt dieses Liebesversprechens fungiert, bedarf einer Deutung. Ein Schloss am Spind oder am Werkzeugschuppen wird genutzt, um Dinge einzusperren. Es schließt andere Menschen von der Nutzung der Dinge aus, die in einem Ort hinter dem Verschlussmechanismus liegen. Damit wird zunächst ein Eigentumsverhältnis geschützt, wenn nicht gar erst materiell etabliert. Das Schloss schließt aber nicht nur alle aus, die keinen Schlüssel dafür besitzen, sondern schließt auch die Dinge ein, die den Ort nicht verlassen können. Während dies für leblose Objekte zunächst unproblematisch erscheint, ändert sich die Lage, sobald menschliche oder nicht-menschliche Tiere eingeschlossen werden können. Die Redewendung „jemanden einsperren und den Schlüssel wegwerfen“ ist kein Ausdruck eines positiven Gefühls gegenüber einer Person. Das Vorhängeschloss verweist auf ein Gefängnis, wenn auch auf ein selbst gewähltes. Aus einer feministischen Perspektive ist ein solches Eigentumsdenken bereits häufig kritisiert worden, begründet sich ein solcher Anspruch letztlich auf die Verfügungsgewalt von Menschen über Menschen, und dies historisch zumeist in der Verfügungsgewalt von Männern über Frauen. Menschliche Subjekte werden in ihrer Freiheit beraubt und ihre Würde wird verletzt, wenn sie als Eigentum von anderen betrachtet werden. Eine solche Possessivierung menschlicher Beziehungen findet sich seit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft vor allem in mittelbarer Form; in der Bundesrepublik Deutschland etwa in dem Recht des Mannes, über die Erwerbstätigkeit der Ehefrau zu entscheiden, was bis 1977 gültig war. Unmittelbarer jedoch ist der Zwang zur Erfüllung sexueller Verpflichtungen; sexualisierte Gewalt durch die zumeist männlichen Ehepartner wurde juristisch selten geahndet. Erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe ein Straftatbestand. In der Praktik des Liebesschlosses werden solche Assoziationen jedoch ausgeblendet. Dennoch wurden genau diese Aspekte bereits Zielscheibe künstlerischer Protestformen. 2012 hat die Künstlerin Kronemann im Zuge der Neueröffnung eines Hackerspaces in Bamberg ein „Lovepicking“ veranstaltet. Kroneman organisierte einen Workshop im Schlösseröffnen als Teil einer Urban Hacking-Intervention. 2 Im Zuge dessen öffneten die Teilnehmer_Innen diver- 2 Dabei muss berücksichtigt werden, dass das Schlösseröffnen (engl.: lockpicking ) in der Hacking-Community ein sehr verbreitetes Hobby ist. Nicht nur informationstechnische Hürden, sondern ebenso mechanische Hindernisse wie Türschlösser sollen überwunden werden. Entsprechend wird die alljährliche deutsche Meisterschaft des Schlösseröffnens auf dem Kongress des Chaos Computer Clubs ausgetragen. 402 Simon Ledder se Schlösser und arrangierten diese in langen Ketten neu. 3 Sie wollten damit ihrer Ansicht Ausdruck verleihen, dass das mit einem Käfig oder Gefängnis assoziierte Schloss als Symbol für Liebe sehr ungeeignet sei. Und dass sich Beziehungen auch öffnen oder neu arrangieren lassen, ohne dass dabei etwas zu Bruch gehen müsse. Das Künstler_Innenkollektiv Frankfurter Hauptschule hat im Sommer 2016 eine weitreichendere Kritik an den Liebesschlössern geäußert. Die Künstler_ Innen erklärten: „Liebesschlösser sind ein Anschlag kleinbürgerlicher Ästhetik auf uns alle! […] Diese Schlösser sind moderne Keuschheitsgürtel. Hier geht es nicht um Liebe, sondern um Besitz“ (Frankfurter Hauptschule 2016). Sie riefen dazu auf, Liebesschlösser vom Eisernen Steg in Frankfurt zu entfernen und ihnen zukommen zu lassen; bei einem Euro Belohnung pro Schloss. Nach eigenen Angaben hat die Frankfurter Hauptschule 3 000 Schlösser gesammelt, diese eingeschmolzen und in eine Wanne transformiert, in der sie zum Abschluss dieses Kunstprojektes Bier und Perlwein zum freien Verzehr anbot. Der Schwerpunkt dieses Projektes lag nicht auf der Verköstigung mit Freibier in der Wanne, sondern in der Aufmerksamkeitsgenerierung bezüglich der Liebesschlösser selbst. Auch die Frankfurter Hauptschule kritisiert den assoziierten Käfig. Die hier beschriebenen Formen künstlerischer Kritik reihen sich in feministische Kritiken der romantischen Zweierbeziehung als Eigentumsverhältnis ein. Damit wird jedoch nicht angesprochen, wieso in den letzten Jahren ausgerechnet diese Symbolik gewählt wurde. Woher kommt es, dass ein solch eindeutiges Symbol für Sicherheit als Symbol für die Liebe ausgewählt wird? Popularisierung und Prekarisierung der romantischen Liebe Die Praktik des Liebeschlosses lässt sich mit Eva Illouz (2003) als ein Akt der Sinnstiftung eines Liebespaares begreifen, der auf die Verschränkung der romantischen Liebe mit der Konsumkultur seit dem 19. Jh. verweist. Wie Illouz hervorhebt, wurden im 19. Jh. Aktivitäten wie beispielsweise gemeinsame Restaurantbesuche zu Konstituenten von Liebesbeziehungen. Das Rendezvous etablierte sich als Ritual, in dem sich zwei Subjekte, befreit von ständischen oder elterlichen Anforderungen, kennenlernen konnten. Durch diese gemeinsamen Rituale versicherte sich das Liebespaar gegenseitig die Ernsthaftigkeit der Beziehung. Zunächst vor allem in der Arbeiter_Innenschicht praktiziert, nahm das 3 Damit referierten die Teilnehmer_Innen auf die sogenannte Padlock Challenge, die in der Schlösseröffnen-Community häufig als Aufgabenstellung fungiert: Alle Teilnehmer_Innen erhalten eine bestimmte Anzahl Schlösser zum Öffnen, die miteinander verknüpft sind; sobald eines geöffnet wurde, wird dies an die Kette einer anderen Teilnehmer_In gehängt. Gewonnen hat, wer als erstes all seine Schlösser weggeben konnte. Das Liebesschloss 403 Bürgertum dieses Ritual auf und weitete es auf eine Vielzahl möglicher Orte wie Vergnügungsparks und Kinos aus. Diese Ausweitung stellte die ärmeren Schichten jedoch vor größere Herausforderungen. Illouz betont die Relevanz, die die Populärkultur für die beständige Reproduktion des Ideals der romantischen Zweierbeziehung hat. In Zeitschriften, Filmen und Pop-Musik wird die innige, ewigwährende Liebe immer wieder beschworen und setzt damit Erwartungen für Subjekte in Liebesbeziehungen. Auch die Praktik des Liebesschlosses wird medial popularisiert. Federico Moccia (1992) lässt in seinem Roman Tre metri sopra il cielo ein Liebespaar das Vorhängeschloss an der Milvischen Brücke in Rom anbringen; entsprechend wird der Brauch durch die Romanverfilmung Tres metros sobre el cielo von Fernando González Molina (ES 2006) audiovisuell repräsentiert. Die Fotos der Liebesschlösser sind Aushängeschilder von Stadt-Marketing-Abteilungen; zugleich empfehlen Zeitschriften und Webseiten, als Zeichen der Liebe dieses Ritual zu vollführen. Das Liebesschloss verweist damit auf die behauptete Notwendigkeit, Zeichen der Liebe zu setzen. Es bedarf gemeinsamer Aktivität und der Etablierung gemeinsamer Rituale, um sich zu versichern, dass die geführte Beziehung eine verbindliche ist. Das gemeinsame Schloss wird ebenso als Beweis der Liebe verhandelt wie die Zurschaustellung von Eifersucht - beide zeigen auf eine erwartete Dramatik, die dem Narrativ der romantischen Liebe inhärent ist. Analytisch betrachtet drückt sich so jedoch eher die Fragilität von Beziehungen aus als ihr Ewigkeitscharakter. Dieser muss beschworen werden, um sich gegen die wahrgenommene Unsicherheit abzusichern (siehe Maiwald 2016: 24). Maiwald rekurriert des Weiteren auf Arlie Hochschilds Analyse der „Gefühlsarbeit“ (Hochschild 2006: passim). Hochschild bezeichnet mit dem Begriff emotion work diejenigen Handlungen, die Subjekte in ihren privaten Beziehungen ausführen, um ihre Gefühle gegenüber anderen Personen zu lenken. Wie Maiwald (2016: 31) herausstellt, lässt sich die Praktik des Liebesschlosses nicht zwingend als eine Gefühlsarbeit im engeren Sinne interpretieren, da unklar sei, ob die Beteiligten an ihren Gefühlen für die jeweils andere Person arbeiteten. Was sich jedoch festhalten ließe, wäre die Gefühlsarbeit bezüglich der Beziehung selbst, die durch diese Handlung umsorgt und konserviert werden solle. In der Praktik wird eine Handlung vollführt, die eine Sicherheit herstellen soll. Die Praktik des Liebeschlosses ist folglich eine Form des Sicherheitshandelns, wenn auch auf einer sehr symbolischen Ebene. Nun lässt sich immer wieder festhalten, „dass absolute Sicherheit eine Fiktion ist“ (Ammicht Quinn / Rampp 2009: 145). Der Wunsch nach Sicherheit trägt die Gefahr in sich, andere Güter, wie etwa die Freiheit selbstbestimmter Handlungen, zu beschneiden. Die gefühlte Notwendigkeit, sich dergestalt seiner Beziehung versichern zu müssen, verweist jedoch auf die zunehmende Prekarisierung des Subjektstatus 404 Simon Ledder insgesamt, wie sich nicht nur, aber auch in den Geschlechterverhältnissen zeigt. Seit den 1970er Jahren führten die feministischen Bewegungen auf der einen, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse auf der anderen Seite zum Aufbrechen der Geschlechterstereotype, wie sie sich seit dem 18. Jh., entwickelten (siehe McRobbie 2010, Scholz 2011). Auch bezogen auf die Konsumkultur verwischen sich an vielen Punkten eindeutige Zuweisungen, welches Geschlecht für welchen Aspekt verantwortlich ist. Das Aufbrechen der vergeschlechtlichten Zwangsverhältnisse, das für viele Menschen befreienden Charakter hat, wird von anderer Stelle massiv bekämpft, da diese dadurch Privilegien verliert (siehe Hark / Villa 2016). Dieser Antifeminismus wurde nicht zuletzt in der vom Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung der Universität Tübingen organisierten Ringvorlesung „Gender: Aufregung um eine Analysekategorie“ im Wintersemester 2016 diskutiert. Hier wurden insbesondere die expliziten Emanzipationsgegner_Innen thematisiert, die entgegen der Veränderung der Geschlechterverhältnisse einen Rückgriff auf Vorstellungen der 1950er Jahre fordern. Ein Kernelement des aktuellen Antifeminismus besteht u. a. in der anhaltenden Privilegierung heterosexueller Paare und dem homophoben Zurückweisen aller Versuche, die Heteronormativität zu kritisieren. Dem entgegen erscheint das Liebessschloss als nahezu emanzipatorisch, erlaubt seine Offenheit doch auch homosexuellen Paaren, ihre auf Dauer gerichtete Beziehung durch dieses Symbol zu zelebrieren. Das Liebesschloss erlaubt damit auch homosexuellen Paaren Einzug in eine Ordnung der Anerkennung. Zugleich ist diese jedoch limitiert durch die Anforderungen an Exklusivität und Dauerhaftigkeit. Die Liebesschlösser reproduzieren und verfestigen die hegemoniale Vorstellung, dass romantische Beziehungen immerwährend und nur zwischen zwei Personen sein können; davon abweichenden Beziehungsformen wird diese Anerkennung versagt. Es wäre völlig verfehlt, die Liebesschloss-praktizierenden Gruppen und die Vertreter_Innen des Antifeminismus in einen Topf zu werfen. Was sich jedoch bei beiden findet, ist das Aufrufen eines Ideals von exklusiver, auf Ewigkeit gerichteter, romantischer Beziehung. Das Liebesschloss ist daher nicht nur als Symbol für Liebe zu verstehen, als was es gemeint ist, sondern ist zudem der Ausdruck eines Rufes nach Sicherheit. Sie sind Manifestationen einer „Culture of Fear“ (Furedi 1997), in der die Subjekte um ihre eigene Identität bangen. In dieser Instabilität offenbart sich die Verletzlichkeit der liebenden Subjekte, die ihre Beziehungen als beständige Fragilität erfahren. Wenn die allen Menschen innewohnende Verletzlichkeit Ausgangspunkt ethischen Handelns sein soll, wie etwa Regina Ammicht Quinn stets betont hat (2004, 2010), verweist die Praktik des Liebesschlosses auf eine ethische Dimension, da sie die Prekarität der Subjekte ausdrückt. Wie Judith Butler Das Liebesschloss 405 argumentieren würde, ist die „Gefährdetheit“ ( precariousness; Butler 2010: 10) ein Element, das alle Menschen in ihrer Verletzlichkeit und Abhängigkeit von anderen Menschen miteinander teilen. Es sind jedoch die soziopolitischen Verhältnisse, die bestimmen, welche Personen sich konkret in einem Zustand der „Prekarität“ ( precarity ; ebd.: 32) befinden. Die diskursiv zunehmenden Krisen der Welt setzen immer mehr Menschen in einen derart prekären Zustand, dass sie sich beständig in Gefahr sehen, nicht länger ein Leben in Sicherheit führen zu können. Dies umfasst auch die Möglichkeit dauerhafter Beziehungen, deren Aufrechterhaltung als immer schwieriger wahrgenommen wird. Die Praktik des Liebesschlosses in ihrem Eigentumsdenken zu kritisieren, wie dies die künstlerische Kritik geäußert hat, ist daher nicht ausreichend. Mit jedem neu angebrachten Schloss wird die Vormachtstellung des romantischen Liebesideals verfestigt, was die Erwartungshaltungen an liebende Subjekte verschärft. Die Fragilität des eigenen Subjektstatus wird insgesamt weiter vorangetrieben, ohne dass die Grenzen der bürgerlichen Liebesvorstellung damit in Verbindung gebracht werden. Die Verletzlichkeit der Subjekte wird hier ignoriert und stattdessen auf die scheinbar freie und individualisierte Wahl der Beteiligten abgehoben, die jedoch ob der Abhängigkeit der Subjekte von ihrer Umwelt nie gegeben ist. Das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, dem Ideal gerecht zu werden, wird im Liebesschloss als Symbol einer wahrgenommenen Verunsicherung der liebenden Subjekte ausgedrückt. Aus einer ethischen Perspektive ist es geboten, ebenjene Zustände zu kritisieren und zu ändern, in denen der Ruf nach einer derartigen Sicherheit als Notwendigkeit erklingt. Literatur Ammicht Quinn, Regina (2004). Würde als Verletzbarkeit. Eine theologisch-ethische Grundkategorie im Kontext zeitgenössischer Kultur. Theologische Quartalschrift 184: 1, 37-48. Ammicht Quinn, Regina (2010): Über die Notwendigkeit narrativer Identitäten. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 32: 2, 126-130. Ammicht Quinn, Regina / Rampp, Benjamin (2009). „It'll turn your heart black you can trust.“ Angst, Sicherheit und Ethik. Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 78: 4, 136-149. Becker-Schmidt, Regina (1991). Vergesellschaftung und innere Vergesellschaftung. Individuum, Klasse, Geschlecht aus der Perspektive der Kritischen Theorie. In: Zapf, Wolfgang (Hrsg.) Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main / New York: Campus, 383-395. Butler, Judith (2010). Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt am Main / New York: Campus. 406 Simon Ledder Dröge-Modelmog, Ilse (1987). Was heißt hier Liebe? Gedanken zu einem sozialen Massenphänomen. In: Dröge-Modelmog, Ilse / Mergner, Gottfried (Hrsg.) Orte der Gewalt. Herrschaft und Macht im Geschlechterverhältnis. Opladen: Westdeutscher Verlag, 15-31. Frankfurter Hauptschule (o. D.). Stahlbad ist 1 Fun. Abrufbar unter: https: / / www.facebook.com/ events/ 967908849995013/ (Stand: 30. 09. 2016) Furedi, Frank (1997). Culture of Fear: Risk Taking and the Morality of Low Expectation. London / New York: Continuum International Publishing Group. Hänel, Dagmar / Uhlig, Mirko (2010). Die Liebesschlösser an der Hohenzollernbrücke. Wie man im Rheinland die Liebe festhält … In: LVR -Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte (Hrsg.) Alltag im Rheinland 2010. Bonn: LVR -Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, 67-75. Hark, Sabine / Villa, Paula-Irene (Hrsg.) (2016). Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript. Hochschild, Arlie Russell (2006). Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt am Main / New York: Campus. Illouz, Eva (2003). Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt am Main / New York: Campus. Lenz, Ilse (2010). Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS . Luhmann, Niklas (1994). Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Maiwald, Kai-Olaf (2016). An Ever-Fixed Mark? On the Symbolic Coping With the Fragility of Partner Relationships by Means of Padlocking. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 17: 2, Art. 4. Abrufbar unter: http: / / www.qualitative-research.net/ index.php/ fqs/ article/ view/ 2478/ 3946 (Stand: 30. 09. 2016) Marx, Karl (1998). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. 19. Aufl. Berlin: Dietz. McRobbie, Angela (2010). Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Wiesbaden: Springer VS . Moccia, Federico (1992). Tre metri sopra il cielo. Mailand: Feltrinelli. Molina, Fernando González (dir.) (2006). Tres metros sobre el cielo. ES : Antena 3 Films. Peukert, Rüdiger (2012). Familienformen im sozialen Wandel. Wiesbaden: Springer VS . Scholz, Roswitha (2011). Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorie und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats. Angermünde: Horlemann Verlag. Vrnjačka, Banja (o. J.). Most ljubavi. Abrufbar unter: http: / / www.vrnjackabanja.co.rs/ srpski/ sadrzaj/ turizamglmeni/ mostljubaviglmeni (Stand: 30. 09. 2016) Das Liebesschloss 407 Literatur Wissenschaft und Ethik-- Mit den Augen eines Affen gesehen. Ein Bericht Hille Haker Einleitung Spätestens seit dem 18., vor allem aber seit dem 19. Jahrhundert, beschäftigt sich die moderne Wissenschaft mit der Frage nach dem Menschen. Was ist der Mensch? Was unterscheidet den Menschen vom Tier, mit dem er so vieles teilt? Was hat die Evolution mit uns und aus uns gemacht? Und welche Wissensformen haben wir, um Kenntnis über uns zu erhalten? Gerne überlassen wir die moderne anthropologische Forschung den empirischen Wissenschaften, insbesondere der Evolutionsbiologie und der Anthropologie. Wer aber etwas über die Diskursformationen der letzten zwei Jahrhunderte erfahren will, die in ihrer Wirkmächtigkeit für die Gegenwart kaum zu unterschätzen sind, tut gut daran, einen Schritt hinter die empirische Forschung zurückzutreten. Neben der philosophischen Anthropologie oder der von Foucault entwickelten genealogischen Diskursgeschichte als Quelle ethischer Reflexion lohnt der Blick in die Literatur. Auch sie stellt die Frage nach dem Menschen, seinem Verhältnis zum Tier, seiner Natur und Geschichte - nur ist sie nicht an die „Grenzen der Vernunft“, die in den wissenschaftlichen Diskursen gezogen werden, gebunden. Dass diese Freiheit aufschlussreich für die ethische Reflexion ist, will ich an einem Text zeigen: Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“. 1 1 Ich zitiere den Text im Folgenden nur noch nach den Seitenzahlen der Ausgabe von Fischer (siehe Kafka 1986). Kafka publizierte den Text noch selbst, und zwar 1917 in Martin Bubers Zeitschrift Der Jude , was zu anhaltenden allegorischen Interpretationen geführt hat. Wie wir sehen werden, ist eine allegorische Lesart zwar insofern erstens naheliegend, als die gesamte Erzählung von vielfältigen Allegorien durchzogen ist. Allerdings unterläuft sie, zweitens , eine vorschnelle Festlegung der Verweisungen insofern, als sie eine „absolute Allegorie“, vergleichbar der „absoluten Metapher“ Blumenbergs ist, die sich jeder konkreten Zuordnung innerhalb der Tier- oder Menschenwelt widersetzt. Insofern setzt drittens jede konkrete Allegorisierung genau die ideologische Lesart der „Akademie“ fort, gegen die der Text sich wendet. Es wäre lohnenswert, in diesem Sinne eine Rezeptionsgeschichte der Erzählung zu schreiben. 410 Hille Haker Spiegelungen (I) Der Affe, dem der Name Rotpeter gegeben wird, 2 wird fünf Jahre vor seinem Bericht an eine nicht näher benannte Akademie im Zuge einer „Jagdexpedition der Firma Hagenbeck“ (140) eingefangen. Für diese Jagdexpeditionen war Hagenbeck berühmt oder, je nach Perspektive, berüchtigt, und die exotischsten Expeditionen führten ihn bzw. die Tierjäger des Unternehmens unter anderem auch nach Afrika (siehe Anhalt 2007). Auf wenigen Seiten erfasst Kafkas Erzählung Ein Bericht an eine Akademie die Situation um die Wende zum 20. Jahrhundert: sie reflektiert den Kolonialismus, die Sehnsucht der bürgerlichen Gesellschaft nach Exotik und die Ausstellung von „exotischen“ Tieren - und Menschen - in Zoos und im Zirkus. Darüber hinaus ironisiert sie die wissenschaftliche Identifizierung und Kategorisierung von Tieren und Menschen in der neu entstandenen Rassenlehre. Die Aufforderung „einer“ Akademie, mit der Kafkas Erzählung beginnt, legt das Genre der erzählten Geschichte fest. Der „Bericht“ reiht sich in die moderne Tradition der Auftragsarbeiten für wissenschaftliche Gesellschaften ein, die zum Beispiel philosophische Preisfragen, Gutachten oder aber Aufsätze umfassen, wie wir sie auch heute noch kennen: „Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen.“ (139) Der Bericht setzt im gesetzten Amtsdeutsch ein, richtet sich direkt an seine Adressaten und verspricht, „Kenntnisse“, nicht „Urteile“ (147) zu vermitteln. Die ironische Brechung, die die gesamte Erzählung durchzieht, zeigt sich allerdings bereits an diesem Satz: ein Mensch soll autobiographisch von seinem „äffischen Vorleben“ (139) berichten. Die Erzählung verzerrt das, was berichtet wird, wie überhaupt die gesamte Erzählung das Genre des wissenschaftlichen Berichts persifliert, in dem sie im Ton scheinbarer Neutralität von Urteilen durchzogen ist, die die „Objektivität“ eines Berichts an eine Akademie unterlaufen. Der Auftrag selbst setzt einen Diskurs voraus, der die Erzählung in den Zusammenhang der Anthropologie des 19. Jahrhunderts stellt. Dieser Diskurs geht davon aus, dass aus Affen Menschen geworden sind und dass Affen und Menschen sich dadurch unterscheiden, dass der eine lediglich zur Vorgeschichte des anderen wird. Wäre dies so, könnte der „Berichterstatter“ genau genommen gar nichts über eben dieses Vorleben sagen: dieses ist der Geschichte (und daher der autobiographischen Erinnerung) gerade unzugänglich und präsent nur in den Spuren der Vergangenheit. Folgt man also der Logik 2 Der Affe merkt dazu mit Empörung an, dass er nicht nur eine Neuauflage des „dressierten Affentier[s]“ Peter ist, von dem er sich allerdings (physisch) nur durch den roten Fleck auf der Wange unterscheidet, eine Wunde, die er sich bei seiner Gefangennahme zugezogen hat. (140) Wissenschaft und Ethik 411 der Frage, kann der Mensch gewordene Affe in der Tat „leider der Aufforderung nicht nachkommen.“ (139) Dafür müsste er, „wenn überhaupt die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin zurückzulaufen, das Fell vom Leib mir schinden“ (139), also nackter als nackt werden. Zwei Schüsse, zwei Wunden und ein „Luftzug“ aus der Vergangenheit, der die Fersen entweder kühlt oder kitzelt, das ist alles, was Rotpeter aus seinem wirklichen „äffischen Vorleben“ geblieben ist, auch wenn einer der „Windhunde“ (ein Journalist) ihm unterstellt, er sei „noch“ nicht ganz Mensch, da er sich keineswegs schämt, seine Wunde „unterhalb der Hüfte“ zu zeigen. 3 Ende des 18. Jahrhunderts werden in der Staats- und Moralphilosophie die allgemeinen Menschenrechte als normativer Maßstab moderner Verfassungsstaaten etabliert, aber gleichzeitig werden sie weiterhin bestimmten Menschengruppen verweigert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dienen dafür nicht zuletzt die evolutionsbiologischen und zoologischen Forschungen - Biologie und Anthropologie greifen darin eng ineinander. Der Wissenschaftler (sic! ) des 18. und 19. Jahrhunderts konstruiert das Tier als sein Gegenüber, als „Anderes“. Anhalt hält in seiner überaus materialreichen Studie zur Entstehung von Zoos im 19. Jahrhundert und den in dieser Zeit vorherrschenden Bildern von Tieren und Menschen fest: Tiere können […] zu Menschen und Menschen zu Tieren gemacht werden. […] die Differenz bedingt das paradoxe Bestreben, Menschen zum „Anderen“ oder das „Andere“ zur eigenen Vorstellung vom Menschen zu machen. In beiden Fällen ist das „Andere“ minderwertig. Der Mensch, der den „Anderen“ zum Tier verwandelt, macht ihn zu einem lebendigen Besitzstück; der Mensch, der Tiere dressiert, vermenschlicht sie. (Anhalt 2007: 57) Weil es Tier ist, kann der Mensch wissenschaftlich, ökonomisch und kulturell über es verfügen; zugleich ist das Tier aber das lebendige Andere des Menschen selbst; es fasziniert und ist Gegenstand vielfältiger Imaginationen. In der Zwischenzone von „Tier“ und „Mensch“ stehen, so besagt es die biologische Rassenlehre Ende des 19. Jahrhunderts, diejenigen, die nicht in das Bild vom (zivilisierten, europäischen) Menschen passen, das die Wissenschaft, Politik und Kultur konstruiert. 4 Bekanntlich stellte der Pionier moderner Zoos und Tier- 3 Linda Williams’ Aufsatz zur Scham in der neueren biologischen und soziologischen Forschung, vor allem aber die Relevanz für Darwins Feststellung, besonders die Scham markiere die Differenz zwischen Tier und Mensch, ist ebenso aufschlussreich wie ihr Verweis auf Derridas Arbeiten in den Jahren vor seinem Tod (siehe Williams 2012). 4 Zu den berühmtesten deutschen Vertretern der „Rassenlehre“ gehören Ernst Haeckel und seine Schüler, für die der Hagenbecksche Zoo vielfältiges Anschauungsmaterial liefert und zu denen auch Hagenbecks Assistent Alexander Sokolowsky zählt, der sowohl Hae- 412 Hille Haker gehege Carl Hagenbeck Ende des 19. Jahrhunderts in seinen „Völkerschauen“ „exotische“ fremde Menschenvölker aus; umgekehrt gefällt ihm die Vermenschlichung von Tieren, etwa Orang Utans, die er am Tisch essen lässt. Besonders aufschlussreich für Kafkas Erzählung ist die Ähnlichkeit des (fiktiven) Affen Rotpeter mit dem (realen) Schimpansen Moritz, den Hagenbeck gerne in einen Frack kleidete: (…) Moritz geht stets völlig bekleidet (…) Er schläft in seinem Bett, raucht seine Zigaretten, trinkt seinen Wein, und wenn er reist, reist er 2. Klasse! (…) jetzt befindet er sich wieder auf Reisen, denn er ist für die verschiedenen Städte Europas engagiert. 5 Kafkas Erzählung zitiert nicht nur diesen Diskurs und die ihm zugehörige Praxis, sie ist auch eine Abrechnung mit ihm: „Ihr Affentum, meine Herren, sofern Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine.“ (139) Dennoch folgt der Autor des Berichts (der Mensch gewordene Affe Rotpeter) zumindest vordergründig den Erwartungen der „Akademie“ - und zwar, wie er betont, „mit großer Freude“ (ebd.). Er übererfüllt die Aufgabe sogar, indem er tatsächlich zurückblickt; allerdings zeigt er dabei kein Interesse an der Konstruktion einer Fortschrittsgeschichte, wie sie in der Einladung der Akademie impliziert ist. 6 Die Erzählung ist deshalb ein literarisches Dokument der Wissenschaftskritik, das die moderne Anthropologie und Biologie, aber eben ckel als auch Hagenbeck verehrte. Darwinismus und „Exotismus“ bilden dabei einen engen Zusammenhang, der unter anderem im Zoo hergestellt wird und dadurch die ästhetische Erfahrung des „Anderen“ ermöglicht: “Der ‚weiße Mann’ Hagenbeck führte die Exoten, das Publikum ästhetisierte sie wie ‚Wundertiere’, wundersame, also exotische, Tiermenschen - romantisierte Barbaren. Der Barbar, der verachtete Tiermensch, wurde in der Völkerschau zum ‚Wundertier’, zum exotistischen Wunschprodukt des faszinierend inszenierten Fremden.” (Anhalt 2007: 335). Sokolowsky verfasste eine Biographie Carl Hagenbecks, aus dem Anhalt seine Einsichten entnimmt. Ob diese einer kritischen Prüfung standhalten, kann ich nicht beurteilen - aber mir geht es hier auch nur um die eindeutigen Zusammenhänge zwischen der Erzählung und Hagenbecks Praktiken - eindeutig deshalb, weil Kafka sie als Referenz in seinem Text angibt. Als Kafkas Text veröffentlicht wird, ist der Genozid an den westafrikanischen Völkern der Herero und Nama unter Kaiser Wilhelm II (einem interessierten Besucher des Hagenbeckschen Zoos) gerade einmal zehn Jahre her. 5 So schreibt Carl Hagenbeck in seinem 1908 erschienenen Buch Von Tieren und Menschen , S. 220, (siehe Anhalt 2007: 191). 6 Das Bild vom „Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies,“ der „heute nur ein Luftzug, der mir die Fersen kühlt“ ist (139), nahm Walter Benjamin in seiner berühmten Geschichtsphilosophischen These zum Angelus Novus auf; auch für Benjamin ist Geschichte für den Geschichtsschreiber nicht als Freiheits- und Fortschritts-, sondern als Katastrophengeschichte relevant. Es kommt wohl, wie wir noch sehen werden, auf die Perspektive an, von der aus Geschichte philosophisch reflektiert wird. Wissenschaft und Ethik 413 auch ihre Verbindung zur Bewusstseins- und Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts als Herrschaftsgeschichte entlarvt. Der Mensch (in) der Natur. Eine Geschichte (I) Für Rotpeter, den Mensch-Affen, ist die Differenz zwischen Tier und Mensch scheinbar ganz traditionell diejenige zwischen Natur und Kultur bzw. Geschichte - nur unter umgekehrten evolutionsgeschichtlichen Vorzeichen: seine Identität als Affe, an die Rotpeter sich, wie er betont, kaum mehr erinnert, erscheint als „freie“ und „eigensinnige“ Identität (139). 7 Seine Identität als Mensch basiert demgegenüber auf den Kennzeichen der Zivilisation, und die „Zivilisierung“ beginnt eben mit dem Verzicht auf Individualität, dem Fügen ins „Joch“ und dem Vergessen der eigenen Herkunft. Weil Rotpeter sich in seinem Bericht auf die beiden Pole, Affe und Mensch, beziehen muss, dies aber nicht im Sinne der Darstellung eines „Vorlebens“ tun kann, wie die Akademie es verlangt, verschränkt er sie in anderer Weise als seine Auftraggeber: für ihn ist das Tier nicht ausschließlich Vorgeschichte , und der Mensch nicht ausschließlich die Überwindung der Affennatur. Affe und Mensch, Natur und Geschichte, Vergessen und Erinnern, Freiheit und Zwang, Gleichheit und Differenz bleiben zwar als begriffliche Pole bestehen, aber die Unterscheidung von Tier und Mensch verschiebt sich ständig, zum Teil als Umkehrung der anthropozentrischen Wertungen (das Tier ist frei, der Mensch unfrei), zum Teil als Einebnung der Differenz von Tiernatur (das Tier ahmt den Menschen nach, bis er ein Mensch ist) und Menschnatur (der Mensch ahmt das tierische Verhalten nach, s. u.) - kurz, das Verhältnis von Tier und Mensch ist, wie Adorno es etwas später theoretisch fassen wird: dialektisch. Der sprechende Affe ist ein Mensch, aber zugleich ist er ein sprechender Affe , der sich in einen Menschen verwandeln musste, um zu überleben. Rotpeter beschreibt seine Verwandlung als den einzigen Ausweg, der ihm nach seiner Gefangennahme durch die Hagenbeckschen Tierjäger blieb: „Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Als Affe kannte ich es vielleicht und ich habe Menschen kennengelernt, die sich danach sehnen.“ (142) Rotpeter ist Hegels „Knecht“ vergleichbar: er hat das Leben in „Knechtschaft“ dem Frei-Tod vorgezogen. Ähnlich wie Rotpeter beschreibt Frantz Fanon das Leben der Sklaven, die im Bericht über die Gefangennahme, den Transport und das „Menschsein“ in der „Zivilisation“ Europas evoziert wird. Der “Sklave” ist zwar Mensch - aber als Mensch bleibt er der Sklave des europäischen “Herren”: “The Negro is a slave who has been 7 So hatte es auch Nietzsche in der „Genealogie der Moral“ gesehen: Glück und Vergessen bilden ein Paar, dem Leiden und Erinnerung gegenüberstehen. 414 Hille Haker allowed to assume the attitude of a master. The white man is a master who has allowed his slaves to eat at his table.” (Fanon 1967: 219) Aus dieser Position berichtet Rotpeter über seine Menschwerdung. Zum Zeitpunkt des Berichts steht er auf dem Gipfel dessen, was er meint erreichen zu können: er darf zu den „hohen Herren“ einer Akademie sprechen, was offenkundig ebenfalls eine Weise ist, „am Tisch essen“ zu dürfen. Den Wissenschaftlern, die sich der Wahrheit verschrieben haben, hält er jedoch einen Spiegel vor, der die Dialektik zum Ausdruck bringt: sie erweisen sich in ihrer Gewalt als so wenig „zivilisiert“, wie sie es gerne den „wilden“ Tieren zuschreiben. Wenn Rotpeter sich schamlos zeigt, dann entspricht dies dem Verhalten, das er von Menschen gelernt hat und das sie (nur) am Tier verachten: „kommt es auf die Wahrheit an, wirft jeder Großgesinnte die allerfeinsten Manieren ab.“ (140) Wie es die ihm gestellte Aufgabe verlangt, schreibt Rotpeter die Geschichte seiner Menschwerdung, aber er schreibt sie als Geschichte der Gewalt, Selbstdisziplinierung und Unterwerfung. Als Autor seiner eigenen Geschichte (dem Bericht) wie im übrigen auch seiner Selbst-Bildung wird er selbst zum Subjekt dieser Geschichte (dem Leben) - im Sinne der Philosophie des Selbstbewusstseins „qualifiziert“ ihn dies als Menschen. Der Mensch (in) der Zivilisation. Eine Geschichte (II) Rotpeter präsentiert die Geschichte des Menschen im „Galopp“ („eine Zeit, kurz vielleicht am Kalender gemessen, unendlich lang aber durchzugaloppieren“, 139). Die Metapher des „Galoppierens“ ironisiert die evolutionäre Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, verweist zugleich aber auf die „Sprünge“ in der Geschichte als Erzählung , insofern diese notwendig viele Elemente und Facetten „überspringen“ muss. Rotpeters Bericht ist entsprechend eine Darstellung über die Entstehung des Menschen, welche Darwins „Abstammung des Menschen“ zur Seite zu stellen ist - ein solches Unterfangen wird freilich in zweifacher Weise ironisiert - im Bericht selbst durch Rotpeter, und in der Erzählung, die diesen Bericht enthält. Die Chronologie der Ereignisse erscheint dadurch eher der literarischen Form einer „Geschichte“ geschuldet als den Ereignissen selbst, die womöglich weniger linear und „progressiv“ sind, als die Geschichte sie erscheinen lässt. 8 Nach der Gefangennahme werden die „wilden Tiere“ auf dem Hagenbeckschen Dampfer in Kisten bzw. Gitterkäfigen gehalten, die Folterkellern gleichen. In Rotpeters Bericht evoziert die Kistenwand eine Exekutionswand: „Affen ge- 8 Zur Verhältnisbestimmung von Geschichte und Erzählung ist insbesondere Paul Ricœurs Studie aufschlussreich (Ricœur 1991). Wissenschaft und Ethik 415 hören bei Hagenbeck an die Kistenwand“; „Weiterkommen, weiterkommen! Nur nicht mit aufgehobenen Armen stillstehen, angedrückt an die Kistenwand.“ (142). In diesem Käfig beginnt Rotpeters „Verwandlung“ in einen Menschen, ein von ihm selbst gefasster Entschluss, „irgendwie mit dem Bauch ausgeheckt … denn Affen denken mit dem Bauch.“ (142) 9 . Diese Verwandlung ist einerseits der Prozess der Zivilisation - oder das, was die Wissenschaft vom Menschen als Zivilisationsprozess und Geschichte des Geistes und der Freiheit versteht: Sprache und Bildung bis zur Erlangung eines ehrbaren sozialen Status in Form einer bürgerlichen (Künstler-) Existenz - auch wenn die Kunst häufig gerade in der Nachahmung der Natur bzw. des tierischen Lebens besteht, wie die Trapezkünstler beweisen, für die Rotpeter nur Verachtung übrig hat: „Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen … du Verspottung der heiligen Natur! Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter des Affentums bei diesem Anblick“ (ebd.). Andererseits ist die Menschwerdung für den Affen der einzige „Ausweg“, um zu leben - und leben, so sagt die Wissenschaft, wollen alle Lebewesen - „sollte der Ausweg auch nur eine Täuschung sein“. Mimikry der Umwelt - die Camouflage des Affen in der Menschenwelt! - und Mimesis - die perfekte Nachahmung der Handlungen von Menschen - erweisen sich als „evolutionäre“ Überlebensstrategie. Der eingesperrte Affe lernt es, seine Wärter nachzuahmen, denen er auf diese Weise ähnlich wird. „Es sind gute Menschen, trotz allem.“ (142) In dem „trotz allem“ aber liegt nicht nur das gesamte Gewicht der Moralfähigkeit - der Unterscheidungsfähigkeit von „gut“ und „böse“, die laut der biblischen Genesiserzählung den Menschen vom Tier unterscheidet - sondern darüber hinaus und womöglich sehr viel wichtiger für die Evolution des Menschen, die Einsicht in die ethische Gewalt gegenüber dem Opfer, das sich auf die grausamen Regeln des Täters einlassen muss, wenn es überleben will (siehe Butler 2003). Die Überidentifizierung verkehrt die „natürliche“ Welt- und die Wertordnung der „äffischen“ Welt: die Wärter verhalten sich wie Tiere, aber Rotpeter „berichtet“, dass sie ihm nicht böse sind, auch wenn sie sich über seinen Zustand als Tier und sein Verhalten beklagen; sie quälen ihn, aber er sagt nur, dass sie ihn dort kitzelten, „wo es mir angenehm war“ (143). Wer sein Überleben der Freiheit vorzieht, der muss beobachten und so handeln wie diejenigen es verlangen, von denen das eigene Leben abhängt. Und so lernt der Affe: den Handschlag, der „Offenheit“ bezeugt (139), spucken („schon in den ersten Tagen“, 144), Pfeife rauchen, Schnaps trinken und schließlich: sprechen („das offene Wort“, 139) - kurz, Rotpeter wird ein Künstler der Nachahmung des Menschen, lange bevor er „Künstler“ im Zirkus wird: „meine 9 Insofern ist diese Erzählung auch als eine umgekehrte „Verwandlung“ zu verstehen, die in Kafkas gleichnamiger Erzählung vom Menschen zum Tier verläuft. 416 Hille Haker Richtung war mir ein für allemal gegeben.“ (146) Mit der Sprache geht die Fähigkeit zu Willensentscheidungen - die Handlungswahl, wenn auch nur in einem geringen Handlungsspielraum - einher. Rotpeter „will“ kein Zootier werden und „entscheidet“ sich gegen den Zoo und für das Varieté (146); beide Varianten wurden von Hagenbeck praktiziert. Er lernt ohne zurückzuschauen und unterwirft sich einer Selbstdressur, die womöglich selbst Nietzsche hätte schwindlig werden lassen: „Ach, man lernt, wenn man muss; man lernt, wenn man einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos.“ (ebd.) Ein Lehrer wird über diese Verwandlung „fast äffisch“ und muss in einer „Heilanstalt“ behandelt werden (ebd.); Rotpeter „überschlägt“ sich in seinem Lerneifer geradezu und lernt bei fünf Lehrern gleichzeitig, „indem ich ununterbrochen aus einem Zimmer ins andere sprang.“ (146) Die Richtung seiner Selbsterziehung ist, wenn auch durch „Entwicklungssprünge“ gekennzeichnet, die der Affe wörtlich nimmt, die bürgerliche Existenz: Fortschritt. Zukunft. Bildung. Wohlstand. Sex. Das Resultat: „die Durchschnittsbildung eines Europäers“ (147), Erfolg im Varieté mit allen Insignien einer erfolgreichen künstlerischen Existenz („ich habe wohl kaum mehr zu steigernde Erfolge“, ebd.), Einladungen zu Banketten, wissenschaftlichen Gesellschaften oder „gemütlichem Beisammensein“. Zuhause wartet „eine kleine halbdressierte Schimpansin“ (ebd.). Hegel hat die Herrschaftsbeziehung von „Herrn“ und „Knecht“ als eine Metamorphose der Freiheits- und Bewusstseinsgeschichte des Menschen beschrieben. Dabei beschreibt er diese “Metamorphose” - ein Konstrukt, das er von Goethe übernimmt (siehe Förster 2002a, Förster 2002b) - des Scheiterns gegenseitiger Anerkennung als eine „Stufe“ der geistigen Entwicklung des Bewusstseins, die notwendig scheitern muss, weil die Beziehung zwischen Herrn und Knecht gerade nicht über die Asymmetrie hinausgeht. Hegels Fehler ist jedoch, dass er sich nicht entscheidet, ob die Herrschaftskonstellation eine logische - oder nur empirisch beobachtbare - Beziehung der (Nicht-)Anerkennung ist. In seiner Geschichtsphilosophie erscheint die Geschichte der Metamorphosen in der Tat als Fortschrittsgeschichte aus der Sicht derjenigen Gesellschaft, die diese „Stufe“ hinter sich gelassen hat - mit allen Problemen, die dies bereiten muss, wenn man sie tatsächlich als Teleologie der Geschichte liest. Frantz Fanon hat die Wirkmächtigkeit einer solchen Herrschafts-Geschichtsschreibung beschrieben, und er hat der Perspektive der (historischen) Herren die Perspektive der (historischen) Sklaven gegenübergestellt (Fanon 1967). Unabhängig vom systematischen Ort der „Herr-Knecht“ Metapher in Hegels Theorie der Anerkennung ist diese Perspektive auf einer Linie mit Kafkas Erzählung wie auch mit der Geschichtsphilosophie Benjamins oder der „Negativen Dialektik“ Adornos. Wissenschaft und Ethik 417 Spiegelungen (II) Rückblickend schließt Rotpeter, der „keines Menschen Urteil“, sondern „nur Kenntnisse verbreiten will“, er habe erreicht, was er habe erreichen wollen. Die Spuren der Vergangenheit sind jedoch nicht zu löschen, wie an der wiederum buchstäblich genommenen Achillesferse spürbar ist. Sie ist das Zeichen der Verletzlichkeit des griechischen Helden Achill - an dieser Stelle der Verletzlichkeit ist für jeden Menschen der „Luftzug“ aus der Vergangenheit fühlbar. Verletzlichkeit ist die Verbindung zu einer „anderen“ Freiheit. Aber der in der Zivilisation „angekommene“ Mensch hat noch eine andere Stelle der „Verwundbarkeit“: Rotpeter kann nämlich seiner „kleinen, halbdressierten Schimpansin“ (147) nicht bei Tageslicht unter die Augen treten - spiegelt sie doch seine eigene Geschichte deutlicher als das Bild, das er in seinem Bericht von sich entwirft: „sie hat nämlich den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick; das erkenne nur ich, und ich kann es nicht ertragen.“ (ebd.) Hier entlarvt sich die Bildungs- und Fortschrittsgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht nur als Geschichte der „Dressur“, sondern zugleich enthält die Vernunft die Spuren des „Irrsinns“ des „verwirrten“ Tieres - Spuren, die keineswegs nur dem vergangenen „Vorleben“ zugerechnet werden können, sondern im „Blick“ präsent sind. Anders gesagt: nur der, der diesen Anblick eines verwirrten, dressierten Tieres nicht ertragen könnte - wäre noch nicht ganz zivilisiert. Er wäre verletzbar. Er würde sich - noch? - vor dem Blick auf sich selbst schämen. Er wäre der Affe, der den Menschen in ihrer Unfähigkeit zur Scham den Spiegel vorhält. 10 In seinem Text The Animal that therefore I am setzt Derrida (2002) mit der Erfahrung seiner Scham vor seiner Katze ein und fragt danach, ob der Blick des Tiers, der seine Scham auslöst, tatsächlich von der Katze selbst ausgeht oder nur seine Projektion darstellt. Ist es tatsächlich der Blick des Tieres, auf den der Mensch antwortet, bringt dies unser anthropozentrisches, aber auch unser moralisches Urteil in Bezug auf das Tier ins Wanken. Die Herrschaft des Menschen über das Tier (wie insgesamt über die Natur) kennzeichnet den anthropologischen Diskurs der Moderne - die Scham über den Blick des Tiers auf den (nackten) Körper des Mannes Jacques Derrida ist darin nicht vorgesehen. Weil Rotpeter sich schämt, ist er zugleich äffischer als auch (im moralischen Sinn) 10 So wäre Mitscherlichs These von der Unfähigkeit zu trauern diese These von der Unfähigkeit der Scham voranzustellen (Mitscherlich 1967). Mitscherlichs These ist in sozialpsychologischer und historischer Hinsicht relevant; ethisch geht jedoch der Verlust der Schamfähigkeit bzw. die Unfähigkeit sich zu schämen mit dem Verlust der Moral fähigkeit einher und betrifft daher den Kern dessen, was Menschsein ausmacht. So hatte wie bereits oben erwähnt, auch Darwin die Scham als zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier ausgemacht (Darwin 2000). 418 Hille Haker menschlicher als die “Akademie” es insinuiert. Scham, so wusste bereits Darwin, beginnt mit dem Abwenden des Blicks - sie ist das Gegenteil des Voyeurismus, der Hagenbecks Zoo und die „Akademie“ kennzeichnet. Die Scham ist eine Störerfahrung, weil sie die „Alterität“ und „Ähnlichkeit“ von Tier und Mensch im gegenseitigen Sich-Anblicken erfasst. Der Blick der Schimpansin (sic! ), der den Irrsinn des Tieres in sich trägt - ist grund-los; er birgt die abgründige Grenze (limit), die der Mensch selbst ist: As with every bottomless gaze, as with the eyes of the other, the gaze called animal offers to my sight the abyssal limit of the human: the inhuman or the ahuman, the ends of man, that is to say the bordercrossing from which vantage man dares to announce himself to himself, thereby calling himself by the name that he believes he gives himself. (Derrida 2002: 381) Bei der Scham, heißt das, muss die Ethik ansetzen: als Kritik an der Scham losigkeit unserer Beziehungen zum Tier, an der Schamlosigkeit, mit der wir Gewalt ausüben. Wir wissen - oder könnten wissen - dass sie auch vor dem Menschen nicht Halt macht. 11 Unmoral beginnt mit der Unfähigkeit, sich der eigenen Gewalt und Herrschaft zu schämen. Wenn dies die Aufgabe der Ethik ist: Kultur, Wissenschaft und Moral des Menschen so zu transformieren, dass das gegenseitige "Sich-Anblicken” nicht ohne Scham, wohl aber ohne Beschämung möglich ist, dann findet sie darin womöglich in der Literatur eine andere Geschichte als in den Geschichten, die sich die Wissenschaft von sich selbst erzählt. Literatur Anhalt, Utz (2007). Tiere und Menschen als Exoten: exotisierende Sichtweisen auf das "Andere" in der Gründungs- und Entwicklungsphase der Zoos. Dissertation Hannover. Abrufbar unter: http: / / edok01.tib.uni-hannover.de/ edoks/ e01dh07/ 524261350.pdf dissertation manuscript. (Stand: 13. 9. 2016) Butler, Judith (2003). Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Darwin, Charles (2000). Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Frankfurt am Main: Eichborn. Derrida, Jacques (2002). The Animal That Therefore I Am (More to Follow). Critical Inquiry 28: 2, 369-418. Fanon, Frantz (1967 (Paris 1952)). Black Skin. White Masks. New York: Grove Press. 11 „In this sense it is ironic that, since the seventeenth century, it is the Enlightenment tree of scientific knowledge itself that prevents a turning away in shame from the consequences of our choice over which creatures remain in the garden, and those who will be forever banished and expelled.” (Williams 2012: 37). Wissenschaft und Ethik 419 Förster, Eckart (2002). Die Bedeutung von §§ 76,77 der „Kritik der Urteilskraft“ für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie [Teil 1]. Zeitschrift für die philosophische Forschung 56: 2, 169-190. Förster, Eckart (2002). Die Bedeutung von §§ 76, 77 der „Kritik der Urteilskraft“ für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie [Teil II ]. Zeitschrift für philosophische Forschung 56: 3, 321-345. Kafka, Franz (1986). Ein Bericht für eine Akademie. In: Kafka, Franz, Erzählungen. Frankfurt: Fischer. Mitscherlich, Alexander / Mitscherlich, Margarete (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper. Ricœur, Paul (1991). Zeit und Erzählung. Bd. I- III . München: Fink. Williams, Linda (2012). Darwin and Derrida on human and animal emotions: the question of shame as a measure of ontological difference. New Formations 76, 21. Die Indienbilder deutscher Denker 421 Die Indienbilder deutscher Denker Pawan Surana Seit mehr als 300 Jahren beschäftigten sich deutsche Philosophen, Dichter und Wissenschaftler - vor allem deutsche Indologen - intensiv mit Indien und dessen Literatur. Indisches Kulturgut zog die Deutschen an: Bereits vor 200 Jahren gab es Berichte über Indien, aber dies waren überwiegend Reisebeschreibungen, die eher eine subjektive Perspektive enthielten und daher wissenschaftlich nicht hinreichend begründet waren. Zwar gab es am Anfang sprachliche Hindernisse, aber diese wurden bald durch den Erwerb des Sanskrits und Prakrits, durch gute Übersetzungen und das tiefere Verständnis fördernde Interpretationen überwunden. Hervorragende Werke deutscher Indologen, Dichter und Denker trugen maßgeblich zum Verständnis des indischen Gedankengutes und zu dessen Anerkennung bei. Im Folgenden werden deutsche Philosophen, Dichter und Wissenschaftler beispielhaft geschildert. Es gibt drei Hauptrichtungen der deutschen Beschäftigung mit Indien: 1. Intensive Forschungen und vergleichende Interpretationen, Übersetzungen, Schaffung von Wörterbüchern (zum Bespiel Paninis Grammatikbuch) und Veröffentlichung des Rigveda, wie auch intensive Arbeiten über die Upanischads. 2. Bewunderung und Aufnahme der indischen Philosophie, heftige Kritik am Kastenwesen. 3. Behandlung bekannter indischer Themen in der deutschen Literatur. Der erste berühmte deutsche Philosoph, der sich mit Indien beschäftigte, war Immanuel Kant (1724-1804). In seinen Vorlesungen Über physische Geographie kommt er auf das Kastenwesen der Inder zu sprechen. Genauer äußert er sich über die Sittenlehre der Inder: „Ihre Moral ist so beschaffen, dass sie nichts dem Menschen Schädliches enthält.“ (Kant in Glasenapp 1954: 33) 1 . Kant deutet eine Art Toleranz der Inder an, indem er betont, das Inder Religionen der anderen 1 Alle hier erwähnten Äußerungen von Kant sind in seinen Vorlesungsmanuskripten zu finden und von Helmut Glasenapp in Kant und die Religionen des Ostens zusammengefasst. Alle Angaben zu Kant werden im Folgenden daher nach Glasenapp gegeben. 422 Pawan Surana Länder respektieren. Sie zwingen daher auch niemanden, die ihrigen anzunehmen. Besonders intensiv hat Kant sich allerdings nicht mit dem indischen Gedankengut auseinandergesetzt. Vielleicht lag es daran, dass zu seiner Zeit nicht genügend originale indische Schriften in deutscher Sprache vorhanden waren. Die deutschen Denker, die sich nach Kant mit Indien beschäftigten, verfügten über umfangreichere und zuverlässigere Originalmaterialien in deutscher Sprache als Kant selbst. Bei Herder findet man eine gewisse Neigung, Indien in verklärendem Licht zu zeigen. In seiner Schrift von 1774 Auch eine Philosophie der Geschichte zur Menschheit vertritt er die Meinung, dass „der Orient die Wiege der Menschheit gewesen sei“ (Herder 1877-1913: 5 / 484). Weiter schreibt er: Die Hindus sind der sanftmütigste Stamm der Menschen. Kein Lebendiges beleidigen sie gern; sie ehren, was Leben bringt und nähren sich mit den unschuldigsten Speisen, der Milch, dem Reis, den Baumfrüchten, den gesunden Kräutern, die ihnen ihr Mutterland darbietet. (Herder 1877-1913: 13 / 222) Man wirft Herder vor, dass er die Inder idealisiert, weil er sich bemüht, ihre guten Seiten hervorzuheben. Aber die Äußerungen von Herder legten in der Romantik die Grundlage dafür, dass viele Wissenschaftler sich angezogen und motiviert fühlten, intensive Forschungen zu indischen Werken zu betreiben. Und die damaligen Dichter reizte es, Indien und Inder in ihrer Dichtung positiv darzustellen. Manche Dichter der Romantik sehnten sich gar nach dem fernen Land Indien. Theodor Heuss hielt 1960 an der Delhi Universität eine Rede über Indo-German Intellectual Relations 2 . Er machte uns in dieser auf die deutsche Romantik aufmerksam und betonte ausdrücklich: But it was only with the advent of the Romantic Movement in Germany - a movement deeply concerned with intellectually penetrating and honouring the creation of other epochs - that foreign cultures were approached with the learner's disciple's rather than the schoolmaster's attitude, and that their innate originality and intrinsic came to be appreciated. (Heuss 1961: 8) Am 17. Mai 1791 schickte Georg Forster seine Übersetzung von Kalidasas Drama Sakontala , welches er vom Englischen ins Deutsche übersetzte, an Goethe, Herder sowie an andere Freunde und Bekannte und löste damit eine Welle der Begeisterung aus (Kade-Luthra 2006: 274). Goethe hat das Stück nicht nur mit 2 Während seines Besuchs in Indien hielt Heuss im Jahre 1960 den Vortrag in englischer Sprache an der Delhi- Universität. Die Indienbilder deutscher Denker 423 Freude gelesen, es hat auch sein dichterisches Herz inspiriert. Er brachte das Lob von Sakontala in Form eines Distichons zum Ausdruck: Will ich die Blüte des frühen, die Früchte des späteren Jahres, Will ich, was reizt und entzückt, will ich, was sättigt und nährt, Will ich den Himmel, die Erde mit einem Namen begreifen - nenn ich, Sakontala, dich, und so ist alles gesagt. (Goethe 1973: 114) 3 Dieses Gedicht von Goethe hatte eine revolutionäre und sogar eine magische Wirkung auf die geistige Welt Europas und insbesondere auf die deutsche Geisteswelt. Das Gedicht erweckte bei vielen deutschen Wissenschaftlern und Dichtern das Interesse für Indien und das indische Kulturgut. Plötzlich wurden neue Horizonte sichtbar und spürbar (Leifer 1969: 97-114). Das Distichon von Goethe markierte die Wende zum Interesse am Indischen: Viele deutsche Indologen haben Kalidasas Drama Shakuntala übersetzt, es gibt mehr als 22 verschiedene deutsche Versionen, in die jeweils die Eigenarten der Übersetzer eingeflossen sind. Dem großen Erfolg von Shakuntala folgten andere Werke von Kalidasa, die meistens direkt vom Sanskrit ins Deutsche übersetzt wurden. Der erste deutsche begeisterte Übersetzer von Chandogya Upanishad war der Philosophieprofessor Anselm Rixner (Glasenapp 1960: 26), der 1808 eine deutsche Übersetzung veröffentlichte. Einen noch tieferen Einfluss gewann Friedrich von Schlegels bekanntes Buch Über die Sprache und Weisheit der Indier (1975). Dieses Buch erzielte eine positiv strahlende Wirkung auf die damalige deutsche Geisteswelt. Friedrichs Bruder August Wilhelm von Schlegel (1769-1845) erhielt schon 1818 die erste Professur für Sanskrit in Bonn (Glasenapp 1960: 40). Als junger Wissenschaftler fertigte er eine Textausgabe von Bhagvad-Geeta an und übersetzte einige Teile des Ramayana sowie verschiedene indische Dichter. Vor allem aber wurde durch seine Zeitschrift Indische Bibliothek eine solide Basis für junge deutsche Indologen erschaffen, die die Forschung erst ermöglichte. Nach dem ersten Sanskritlehrstuhl folgten viele andere. Deutschland war außerhalb Indiens einst das Land mit den meisten Sanskrit-Lehrstühlen. Die Romantiker sahen, im Kontrast zu dem durch die Aufklärung „verdorbenen“ Europa, die heile Welt in Indien. Für deutsche Romantiker laufen Indienlob und Europakritik oft parallel. In seiner 25. Vorlesung spricht Schelling über das Indische. Er meint: „was den Inder in Religion und Philosophie wie in bildender Kunst und Poesie auszeichnet, ist die Seele“ (Schelling in Glasenapp 1960: 40). Er äußert in dieser Hinsicht noch ausdrücklicher: „niemand nimmt oder empfängt mit solcher Leichtigkeit den Tod wie der Inder“ (Schelling in Glasenapp 1960: 37). 3 Theodor Heuss (1961: 9) erwähnt in seinem englischsprachigen Vortrag Indo German Intellectual Relations dieses Distichon. 424 Pawan Surana Während Kant seine Informationen über Indien noch aus Reisebeschreibungen beziehen musste, standen Schopenhauer umfangreiche indische Schriften zur Verfügung. Zu der Upanishadenliteratur meinte der Philosoph: „sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein“ (Schopenhauer 1977: 437). Der Vedanta und der Buddhismus beeinflussten Schopenhauer außerordentlich. So kann man in seiner Willenslehre enge Beziehung zu buddhistischen Anschauungen erkennen (vgl. Glasenapp 1960). Zudem lobt Schopenhauer die Stellung der Frauen und betont, dass „in Hindustan kein Weib jemals unabhängig ist, sondern nach Manus Gesetzbuch sie unter der Aufsicht des Vaters, oder des Gatten; oder des Bruders oder des Sohnes steht“ 4 (Schopenhauer in Glasenapp 1960: 70). Es wäre wissenschaftlich hoch interessant zu vergleichen, wie weit Vedanta und die Upanishad tatsächlich mit Schopenhauers philosophischen Überlegungen übereinstimmen. Diesen Versuch unternimmt Helmut von Glasenapp (1960) in seinem Buch Das Indienbild deutscher Denker , indem er die Gemeinsamkeiten und Unterschiede darstellt. Aber ich glaube, es bedarf noch weiteren intensiven Studiums dieser Verknüpfungen, um die Bandbreite der Vergleiche abzudecken. Es ist erstaunlich, wie viele deutsche Denker sich mit der indischen Kultur auseinandergesetzt haben. Im Folgenden seien noch einige weitere ausschnittsweise erwähnt. Der große Hegelianer Karl Rosenkranz (1805-1879) interessierte sich sehr für die Philosophie und Dichtung Indiens. Schon als der Westen für indische Kunst noch kein rechtes Verständnis hatte, ist er für deren gerechte Würdigung eingetreten (Glasenapp1960: 114). Und auch Paul Deussen (1845-1919) hat sich bemüht, in seinem siebenbändigen Werk Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen der indischen Philosophie den gebührenden Platz zu geben (Deussen 1915, Vorrede V- XIII ). Er meint, dass die indische und die abendländische Philosophie zwei parallele Entwicklungsströme menschlichen Wahrheitsstrebens darstellen. Noch erwähnenswert ist das im 1920 erschiene Buch von Keyserling Reisetagebuch eines Philosophen , welches kein gewöhnliches Reisetagebuch ist. Keyserling nimmt darin den Besuch der einzelnen Orte zum Anlass, um gewisse verschiedenartige Probleme zu behandeln. Die Besichtigung von Rameshvara und anderen Tempeln zum Beispiel veranlasste ihn dazu, über Symbolik und Rituale nachzudenken. In Jaipur kommt er zur Beschreibung des Kastenwesens. Im Jahr 1935 veröffentlichte der bekannte Theologe, Arzt und Humanist Albert Schweitzer ein kleines Buch Die Weltanschauung der indischen Denker . Schweit- 4 Indische selbstbewusste Frauen in der Gegenwart lehnen diesen Gedanken von Manu grundsätzlich ab, denn alle Lebewesen sollten in einer Demokratie als eigenständige Lebewesen betrachtet werden. Die Indienbilder deutscher Denker 425 zer beschäftigte sich hier mit dem Gegensatz zwischen abendländischem und indischem Denken: „Die indischen Arier neigen zur Welt-und Lebensverneinung, die iranisch-persischen und die europäischen zur Welt-und Lebensbejahung" (Schweitzer 2010: 30). Rudolf Steiner verteidigt die indische Karma-Theorie. Er hielt das Karma für eine Vorstellung, derer die Welt bedarf (Steiner in Glasenapp 1960: 206). Lothar Wendel, der in Pilani als Dozent für deutsche Sprache tätig war, hat 1951 in Bad Godesberg eine indische Bibliothek mit Lesesaal geschaffen. Er beschäftigte sich besonders mit der Verbreitung von Literatur der Jain. 1924 begründete Dr. Paul-Dahlke das „Buddhistische Haus“ in Berlin, für ihn ist der Buddhismus eine nüchterne Wirklichkeitslehre. Das Zentrum der „Altbuddhistischen Gemeinde“ ist heute in Utting am Ammersee. Grundlegend für die deutsch-indische Verständigung waren aber vor allem die mühevollen Arbeiten deutscher Indologen, mit zahlreichen direkten Übersetzungen von Rigveda, den Upanishaden, Bhagvad Geeta, Shakuntala und anderen klassischen Werke der Sanskrit-Literatur sowie intensiven Studien zur Sprache. Von diesen sollen hier einige genannt werden - alle können hier leider nicht aufgeführt werden: Wichtig, war vor allem die vergleichende Sanskrit-Grammatik von Franz Bopp (1916). Hermann Gundert (1814-1893) schuf das Malayam-Deutsch-Wörterbuch. Hermann Jakobi (1850-1937) trieb in Indien Forschungen zum Jainismus. Besonders seine Übersetzung des Kalpasutra und seine Veröffentlichung über den Ursprung von Buddhismus aus dem Sankhya Yoga , sind berühmt geworden. Zu erwähnen wäre hier auch das Wörterbuch Sanskrit-Deutsch von Otto von Böhtlingk (1879-89). Er hat den deutschen Lesern auch Paninis Grammatik (1887) erschlossen, indem er Paninis Sutras sehr präzise ins Deutsch übertragen hat. Mit großer Wertschätzung wird in Indien an Max Müller gedacht. Er hat der ganzen Welt mit seiner ersten Übersetzung des gesamten Rigveda aus dem Altsanskrit ins Englische ein großes Geschenk gemacht. Zu seinem Ehren heißen die Goethe Institute in Indien „Max Mueller Bhavan“. Unter den indischen Intellektuellen, die ihn als wahren Freund betrachten, wird er auch „Moksh-Mueller“ genannt. Moksh heißt auf Deutsch „Erlösung“. Sein Buch „India, What Can It Teach Us? “ öffnete vielen Wissenschaftlern in Indien die Augen. Sein letztes große Werk „Six Systems of Indian Philosophy“ wurde 1899 veröffentlicht. Hierbei handelt es sich um die erste Arbeit, die die Gesamtheit der indischen Philosophie in angemessener Klarheit vorstellt. Das Indienbild der deutschen Denker wäre nicht vollständig, wenn wir hier nicht noch Beiträge deutscher Dichter, die in ihren Werken indische Themen behandelt haben, mit einbeziehen. Den berührenden Beitrag von Goethe, das Distichon über Shakuntala 5 , haben wir schon am Anfang erwähnt. Er hat 5 Das Drama Shakuntala wurde von älteren deutschen Indologen Sakontala ernannt. 426 Pawan Surana durch seine Schrift über Indische Dichtung die europäischen Intellektuellen auf den Reichtum der Sanskrit-Literatur aufmerksam gemacht (1833: 176). In seiner Dichtung Der Gott und die Bajadere (1998: 273) und der Paria-Legende (1998: 323) hat er zudem anrührend die indische Problematik des Kastenwesens behandelt. Auch im 20. und 21. Jahrhundert gibt es deutsche Dichter, die in ihren Schriften indische Themen behandelt haben. Sie sprechen in lobenden oder auch kritischen Tönen von der indischen Gesellschaft und weisen einen mehr und mehr realitätsnahen Stil auf. Aus Liebe zu Goethe übernahm der Nobelpreisträger Thomas Mann das Motiv der vertauschten Köpfe. Er verarbeitete sie auf dichterisch bezaubernder Weise in seiner Erzählung Die vertauschten Köpfe (1940). Den Nobelpreisträger Hermann Hesse hat Indien bei seinem dichterischen Schaffen stark beeinflusst. Er schreibt in Über mein Verhältnis zum geistigen Indien und China : „Von frühster Kindheit an war ich von außen her mit indischem Wesen vertraut, mein Großvater, meine Mutter und mein Vater waren alle drei lange in Indien gewesen, sprachen indische Sprachen" (Hesse 1980: 259). Es dauerte lange, bis er zu der Überzeugung kam, in einer geistigen Welt zu leben, in der Europa und Asien, Veden und Bibel, Buddha und Goethe den gleichen Anteil hatten. Hesses Roman Siddhartha (1922) hatte und hat eine große Wirkung auf junge Generationen. Der Brahmanensohn Siddhartha und sein Freund Govinda verlassen das Elternhaus und machen sich auf den Weg, um sich selbst zu finden und den wahren Sinn des Lebens herauszufinden. Viele junge Leute wurden durch die Lektüre bewegt, Indien zu besuchen und dort seelische Ruhe zu suchen. Es war für Hesse allerdings nicht einfach, den Roman zu vollenden. Er musste mit dem Schreiben des Romans eine Pause machen, denn es fiel ihm schwer zu beschreiben, was er selbst nicht erlebt hatte. Etwa anderthalb Jahre lang musste er meditieren und als Asket leben, bis er anfing, an dem Roman weiter zu schreiben. Im Roman treffen die beiden Freunde viele Mönche und Schramanas. Dann erreichen sie den Ort, wo sich der berühmte Buddha aufhält. Sein Freund Govinda bleibt bei Buddha, aber Siddhartha ist nicht völlig zufrieden. Er geht weiter und scheut sich nicht, allerlei weltliche Erfahrungen zu machen. Am Ende kehrt er jedoch der Welt den Rücken und geht in den Wald. Hier trifft er am Ufer eines Flusses den Bootsmann Vasudeva, der ihn beruhigen kann. Siddhartha lernt so vom Fluss, ruhiger zu werden. Sein Freund Govinda begegnet ihm wieder. Die Freunde tauschen geistige Erfahrungen aus. Aber sie bleiben nicht zusammen, sondern trennen sich. 1931 schreibt Hesse in seiner Schrift Mein Glaube : […] daß mein Glaube in diesem Buch einen indischen Namen und indisches Gesicht hat, ist kein Zufall. Ich habe in zwei Formen Religion erlebt als Kind und Enkel from- Die Indienbilder deutscher Denker 427 mer, rechtschaffener Protestanten und als Leser indischer Offenbarungen, unter denen ich obenan die Upanishaden, die Bhagvad-Geeta und die Reden des Buddha stelle. (Hesse1975: 336) Ebenso wie Hesse ist auch der Nobelpreisträger Günter Grass viermal nach Indien gereist. Auf Einladung der indischen Regierung kam er als Staatsgast zum ersten Mal 1975 nach Indien. Er besuchte Neu-Delhi, Kalkutta und Kerala. Das war ein kürzerer Aufenthalt, den er im Roman Butt in seinem Kapitel Vasco kehrt wieder beschreibt (1977). 1978 hielt er sich mit seiner Frau Ute auf einer Weltreise zehn Tage in Mumbai auf. Im August 1986 kam Grass mit seiner Frau zum dritten Mal nach Indien. Er hatte die Absicht ein Jahr in Indien zu verbringen, blieb aber nur etwa sechs Monate in Kalkutta. Hier wollte er herausfinden, was ihn damals, elf Jahre zuvor, so fasziniert hatte. 1988 publizierte er dann Zunge zeigen (Grass 1988), ein Indienbuch mit Zeichnungen, welches das Elend der Stadt Kalkutta beschreibt. Er kritisiert darin deutlich die elende Lage und die Armut der Inder. Durch das Buch fühlten sich viele indische Intellektuelle verletzt. Grass wurde vorgeworfen, die anderen menschlichen Seiten und zwischenmenschlichen Beziehungen völlig außer Acht gelassen zu haben. Gesehen hat er z. B. nicht, dass Kalkutta eine Stadt der Musiker, Dichter, Reformbeweger, Künstler, weltbekannter Filmproduzenten und Freiheitskämpfer ist. 2005 unternahm er gemeinsam mit Tochter und Schwiegertochter eine weitere zehntägige Reise nach Indien und besuchte erneut seine Lieblingsorte in Kalkutta und nahm sich Zeit für die Straßenschulen des Kalkutta Social Project und half bei diesem Projekt. Ein Beispiel mag verdeutlichen, woran Günter Grass gelegen war, als er diese Reisen unternahm. Im Kapitel Vasco kehrt wieder schreibt er: In einem Jumbojet reiste er an. Eigentlich will er nur die schwarze Kali besuchen und sehen, wie sie die Zunge rausstreckt. […] Die Göttin Kali gilt als weiblicher Aspekt des Gottes Shiva. Ihre Kraft zerstört. Nach Laune reißt sie ein, was notdürftig steht. Wir leben in ihrem Zeitalter. (Vasco denkt beiläufig an seine Frau Ilsebil, die gern mit Gläsern um sich wirft und stark ist im Wünschen). (Grass 1977: 221 ff.) Grass hat das Bild der Göttin Kali allerdings nicht vollständig begriffen, denn sie zerstört nur das Bösartige und unterstützt das Gute. Die Mehrheit der Intellektuellen in Indien fühlten sich verletzt, als sie erfuhren, was im Buch Zunge zeigen steht. Aber ich glaube, auch harte wahrhaftige Kritik sollte eine Möglichkeit bieten, nötige Verbesserungen anzugehen. Grass lag es sehr daran über die elende Lage Vieler in der Stadt Kalkutta kritisch zu berichten. Im 21. Jahrhundert sind zwei Bücher von Martin Mosebach erschienen, die eine dichte Darstellungen indischer Sujets bieten. Sein Roman Das Beben spielt 428 Pawan Surana 2005 in Indien, obwohl der Anfang in Deutschland stattfindet und das Ende bei den Salzburger Festspielen. Es ist interessant zu beobachten, dass die Charaktere in dem Roman sowohl aus Indien als auch aus Deutschland stammen. Der Held dieses Romans ist ein deutscher Architekt, der von Europa nach Indien flieht. Auf der Flucht vor einer unglücklichen Liebe nimmt er in Indien den Auftrag an, einen Königspalast in ein Luxushotel umzubauen. Martin Mosebach ist mehrmals in Indien gewesen. Tatsächlich war er für einige Wochen Gast des ehemaligen Königs von Sirohi. Er beschreibt die zerfallene Königsherrschaft und die Leute der Gegend und versucht, in das innere Leben des Palasts hineinzublicken. Hier mischen sich die Wirklichkeit und dichterische Vorstellung so schön, dass der Leser dies praktisch nicht bemerken kann. Ironisch beschreibt Mosebach das Leben des Königs. Als Schriftsteller hat er jedoch die Freiheit, den König als eine komische, fiktive Figur darzustellen. Schön und berührend beschreibt er die heilige indische Kuh, der der deutsche Architekt am Flughafen begegnet. Diesen Text hat Mosebach bei der deutsch-indischen Gesellschaft in Jaipur vorgelesen. Die Zuhörer in Jaipur waren von dieser Dichterlesung sehr entzückt. Von hier aus fuhr er nach Bikaner, eine geschichtsträchtige Wüstenstadt. Dort wohnte er einige Wochen als Gast bei einer indischen Familie, wobei das Buch über Bikaner entstand. Ich wunderte mich über den reißerischen Titel Die Stadt der wilden Hunde . Vielleicht wohnte der deutsche Dichter in einer Straße der Stadt Bikaner, wo es viele Straßenhunde gab. Das Buch enthält Reisebeschreibung von Jaipur und von Bikaner und beschreibt das tägliche indische Leben. Bikaner kann man zu Recht als Wüstenstadt beschreiben, weil um die Stadt herum die Straßen meistens von Sand bedeckt sind, aber ich würde Bikaner nicht die Stadt der wilden Hunde nennen. Es gibt noch weitere deutsche Schriftsteller, die im 20. Jahrhundert über Indien geschrieben haben. Die Beschreibung Indiens von Stefan Zweig enthält noch romantische Töne im Gegensatz zu späteren Dichtern wie Ingeborg Drewitz, Josef Winkler oder anderen, die sich aus dem Schatten der Romantiker bereits weit entfernt haben. An der deutschen Beschäftigung mit Indien ist bewundernswert, dass man am Anfang etwas in Indien suchte, ohne - wie Goethe oder die Schlegel-Brüder - jemals in Indien gewesen zu sein. Sie lernten den Schatz der Sanskrit-Literatur entweder durch Übersetzungen oder durch mühsames Erlernen des Sanskrit und des Prakrit kennen. Die Basis dieser Beschäftigung war die umfangreiche indische Literatur, bei deren Studium die deutschen Intellektuellen keine Mühe scheuten. Vor etwa 250 Jahren lernte man in Deutschland die alte Kultur Indiens intensiver kennen. Am Anfang standen die Reisebücher, dann aber erschloss man sich nach und nach die altindische Literatur. Heute am Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es eine wechselseitige Mobilität zwischen Indien und Deutschland. Ständige Kommunikation und der Austausch Die Indienbilder deutscher Denker 429 von Menschen, Ideen und Waren beleben den Alltag. Es laufen interessante und nützliche Projekte zwischen deutschen und indischen Wissenschaftlern. Das früher ersehnte Land Indien eröffnet für Deutsche neue Anreize und Möglichkeiten. Indische Wissenschaftler interessieren sich auch dafür, mit deutschen Wissenschaftlern gemeinsame Forschungsprojekte durchzuführen. Es gibt zudem Schulaustauschprogramme. Außer Varanasi, Haridwar und Pushkar interessieren heute auch High-Tech- Städte Indiens Europäer und insbesondere Deutsche. Zu Hilfe kommen jedoch frühere intensive, wissenschaftliche Werke und Interessen der Deutschen, die nie danach trachteten, das Land Indien zu erobern. Dies bietet Hoffnung für weitere post-koloniale Begegnungen. Literatur Bobb, Franz (1816). Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. Frankfurt a. M.: Andreäsche Buchhandlung. Böhtlingk, Otto von (1879-1989). Sanskrit-Lexikon (in kürzerer Fassung). Abrufbar unter: http: / / www.sanskrit-lexicon.uni-koeln.de/ scans/ PWScan/ disp2/ (Stand: 06. 10. 2016) Deussen, Paul (1915). Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen. Leipzig: F. A. Brockhaus. Glasenapp, Helmuth von (1954). Kant und die Religionen des Ostens. Würzburg: Holzner. Glasenapp, Helmuth von (1960). Das Indienbild deutscher Denker. Stuttgart: K. F. Koehler. Goethe, Johann Wolfgang von (1833). Indische Dichtungen. In: Werke, Ausgabe letzter Hand. Stuttgart: Cotta. Goethe, Johann Wolfgang von (1973). Gedichte und Singspiele II . In Goethe, Berliner Ausgabe, Berlin: Aufbau-Verlag. Goethe, Johann Wolfgang von (1998). Der Gott und die Bajadere. In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band I. München: C. H. Beck, 273. Grass, Günther (1977). Der Butt. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand. Grass, Günther (1988). Zunge Zeigen. Darmstadt: Luchterhand. Herder, Johann Gottfried (1977-1913). Sämtliche Werke, Bände 5 und 13. 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Februar geborenen Menschen oder: Mutmaßungen über die Angst vor Regentropfen Thomas Quinn Das Datum des Geburtstags ist nicht das einzige, was Regina mit Brecht gemeinsam hat. Gemeinsam mit Brecht hat auch Regina eine Liebe zu Brecht: Was bei ihm Selbstliebe ist, mag bei ihr eine Art Nächstenliebe sein. Mag auch sein, dass Regina auch eine Bibelliebe mit Brecht gemeinsam hat, die wiederum Brechtliebe mit Nächstenliebe verbindet. Als Brecht einmal nach seinem Lieblingsbuch gefragt wurde, soll er geantwortet haben: „die Bibel“. Da er gefürchtet hat, dass seine Antwort nicht ganz ernst genommen würde, hat er einen kleinen hermeneutischen Hinweis zum Besten gegeben: Man soll über die Antwort bitte nicht lachen. Ob Regina je gesagt hat, die Bibel sei ihr Lieblingsbuch, ist mir nicht bekannt. Lieblingsbücher dagegen sind mir doch bekannt. Antigone von Jean Anouilh gehört(e) dazu, Kindheitsmuster von Christa Wolf, auch David Grossmanns Eine Frau flieht vor einer Nachricht , neuerdings Salvage the Bones von Jesmyn Ward. Antworten auf solche Fragen sind historisch und biografisch, ohne deshalb Geschmacksfragen oder Modeerscheinungen, geschweige denn Glaubensfragen sein zu müssen. Wenn allerdings Regina die Frage nach dem Lieblingsbuch als Glaubensfrage verstanden hätte, ist es gut denkbar, die Bibel wäre ihre Antwort gewesen. Je nach Glaubensverhältnis hätte man vielleicht mit oder ohne Freude über die Antwort geschmunzelt: Gelacht hätte man im Fall (von) Regina aber nicht. Was man dem Marxisten Brecht nicht so ohne Weiteres geglaubt hätte, hätte man der ehemaligen Studentin der katholischen Theologie vermutlich geglaubt. Was Regina für eine Art Theologiestudium qualifiziert hätte, Brecht aber nicht, obwohl es ihm bei seiner Berufung nicht wenig half, ihr dagegen bei ihrer Berufung nur wenig half. Mag auch sein, dass Regina mit Brecht auch eine Schwäche für „Mutter Courage“ teilt, was Reginas Blick für Frauenfragen vielleicht geschärft hat, ganz sicher für Fragen von Courage. Jemandin, die Mutter Courage zwar nicht schrieb, 432 Thomas Quinn aber auch nicht nur spielte, Helene Weigel, würde vermutlich nicht bestreiten, dass Mutter Courage Brechts Blick für Frauenfragen geschärft haben könnte. Sie würde vermutlich aber bestreiten, dass sein Blick für Frauen je geschärft werden musste. Regina und Brecht beide würden allerdings vermutlich sagen, es sei mit dem Glauben wie mit der Liebe so eine Sache, wobei keineswegs ausgemacht sei, dass beide dabei dasselbe gemeint hätten. Ob bei Brecht die Liebe vor der Moral kommt, wie bei Regina Theologie vor dem Ethikzentrum? *** Wir wollen lieber über die Dialektik von Liebe und Ethik sprechen, um unseren Blick auf ein Gedicht zu schärfen. Genauer: über ein Gedicht sprechen, um unseren Blick für die Dialektik von Liebe und Ethik zu schärfen. Aber vielleicht sollte man eigentlich gar nicht versuchen, über ein Gedicht zu sprechen. Der Raum, in dem über Gedichte gesprochen wird, ist eher eng und fensterlos, mit liebloser Üppigkeit möbliert, und am ehesten von Positivisten bewohnt, die dem Gedicht so nah kommen wie Schopenhauers Stachelschweine zueinander. Die kritische Distanz ist die Stachellänge. Vielleicht sollte man versuchen, über das zu sprechen, worüber das Gedicht zu sprechen versucht. Vielleicht sollte man versuchen, aus dem Gedicht heraus zu sprechen? Eine Art Minima Moralia , wo nicht die Moral die Liebe bestimmt, sondern umgekehrt - eine Moral, die die Liebe maximieren will, oder wenigstens den Versuch dazu macht. Erst kommt die Liebe, dann die Moral. Adornos Reflexionen „aus dem beschädigten Leben“, standen nicht über dem Leben, sie standen dem Leben bei. Über das beschädigte Leben sprechen, beschädigt das Leben beim Sprechen, wie Gleichgültigkeit Liebe verletzt, und aus dem Begriff Gültigkeit eine Farce macht. Man kann nur dann aus einem Gedicht heraus sprechen, wenn einem das Gedicht nahe geht. Wenn - wie Eichendorff und Hartmut Rosa sagen würden - das Lied im Gedicht im Interpreten Anklang findet und resoniert. Wenn das Gedicht im Interpreten zu singen anhebt. Auch eine Resonanz aus der Ferne ist ein Zeichen der Nähe. Eine Distanz, die nicht diese Nähe sucht, wäre nicht deshalb wissenschaftlich, geschweige denn kritisch, sondern nur gleichgültig. In der Resonanz steckt eine Hoffnung, und in der Hoffnung steckt eine Mahnung. In der Resonanz schwingt ein Gefühl mit, dass das Leben nicht immer gelingt, dass es beschädigt werden kann, und in der Tat beschädigt wird. Dieses Gefühl wird ge- und ertragen durch ein anderes Gefühl - durch das Gefühl, dass das Leben gelingen kann und soll, dass es nicht nur nicht beschädigt werden muss, sondern gar nicht beschädigt werden darf. Dann hat man ein Gefühl für den Stoff, aus dem Gedichte gemacht werden. Eine Ethik, die will, dass das Leben gelingt, ist aus demselben Stoff. Zur Dialektik von Ethik und Liebe 433 Leiden ist so wenig Schicksal wie Lieben - alle drei sind Themen für die Ethik. Welches Leben wäre beschädigter als ein Leben, das die Liebe nie gekannt hat? Reflexionen aus dem Gedicht heraus, erst recht aus einem Liebesgedicht heraus, können nicht umhin, Selbstreflexionen zu sein. Diese Art Subjektivität schränkt ihre Gültigkeit nicht ein: Es zeichnet sie aus. Selbstlose Liebe ist so wenig möglich wie selbstlose Reflexion, und genauso wenig wünschenswert. Selbstreflexion ist der Standpunkt, von dem aus Liebe erst möglich wird, auch die Liebe, die Erkenntnis ist. Die Liebe wird dann wirklich, wenn man erkennt, dass man einen eigenen Standpunkt hat und haben muss, und dass man den eigenen Standpunkt in dem Maße verliert, in dem man ihn verabsolutiert. Wer selbstlos liebt, läuft Gefahr, das zu leugnen, was in der Liebe geschenkt wird, und durch das Schenken erhalten wird. Erst durch das Du wird das Ich zum Ich - in der Erkenntnis wie in der Liebe. Für die oder den, die oder der wissen will, ist das Objekt der Erkenntnis zugleich auch immer eine Art Objekt der Begierde, und deshalb nie nur Objekt. Wer selbstlos denkt, denkt nicht deshalb objektiver und sicher nicht ehrlicher. Wer meint, selbstlos zu denken, begeht die philosophische Todsünde der Selbsttäuschung: Er hintergeht sich durch das selbstverherrlichende Gefühl, dass das Subjekt hintergehbar ist. Die Selbsttäuschung überwindet das Selbst nicht, sie macht es nur blind - für Erkenntnis wie auch für Liebe. Idealismus läuft Gefahr, das Subjekt zu verabsolutieren, wie Positivismus das Objekt. Bei jenem geht das Ich verloren, bei diesem wird das Du verdinglicht. Liebe und Erkenntnis sind beide Formen der Teilnahme. Und in der Erkenntnis wie in der Liebe ist in der Teilnahme nicht nur ein Nehmen, sondern auch ein Geben. Es gibt auch zwischen Kants erster und zweiter Kritik ein Geben und Nehmen. Die Lösung der dritten Vernunftantinomie ist die Freiheit, die die Ethik postuliert, und die die Liebe mehr als bloß ein Postulat werden lässt. *** Dass Bertolt Brecht am 10. Februar geboren wurde, ist keine Glaubenssache, sondern eine Tatsache. Das Geburtsdatum steht fest. Nach der Geburt kam das Unfeste, das Nicht-Festgelegte, das Deutungsbedürftige, das sein Lebenswerk wurde. Bei einem Dichter, aber nicht nur bei Dichtern, mutet das Wort „Lebenswerk“ fast ein bisschen pleonastisch an, denn: Wie kann man das Werk vom Leben trennen? Da aber (zu) oft das Leben aus dem Werk entfernt wird, lassen wir es stehen. Brecht wurde Brecht nicht durch die Geburt, sondern durch das, was er nach der Geburt geworden war. Dichter werden, sie werden aber nicht als Dichter geboren. Die Welt, in die sie hineingeboren werden, kommt immer dazu. Hier beginnt die Formfrage eines Gedichts seinen Gehalt zu bekommen. Es sind Menschen, die Gedichte formen, wie Goethes Prometheus Menschen 434 Thomas Quinn formen wollte. Und die Gedichte tragen die Spuren ihrer Welt, ihrer Götter, Göttinnen und Götzen - trotzig und stolz. Form wird Inhalt, weil Gedichte die Spuren des Menschen tragen, der sie gestaltet, und der Welt, die den Menschen gestaltet. Die Formfrage ist immer auch eine Frage nach dem, was die Gestalt gestaltet: Die Formfrage darf sich auf die Form so wenig beschränken wie die Sprache auf sich. *** Kritische Deutungen von Literatur sind Mutmaßungen, unkritische meistens Anmaßungen bzw. Zumutungen. Jene verlassen den sicheren Hafen des Positivismus und wagen es ins Offene der Unsicherheitsfragen, diese quälen sich mit Unsicherheitsfragen seltener, verwechseln gelegentlich die eigene Selbstsicherheit mit absoluter Sicherheit, was so lange stimmt wie das (ver)wissenschaftlich(t)e Ich / Ego absolut bleibt. Was in bestimmten Strukturen eine ganze Weile dauern kann. Was in anderen Lebenskontexten stimmt, stimmt auch im Leben eines Gedichts: Wenn man versucht, einem Gedicht gerecht zu werden, kann zu viel Sicherheit bei der Deutung für das Leben des Gedichts tödlich sein. Das Gedicht verliert seine Freiheit. Nirgendwo ist dies problematischer als im Fall eines Liebesgedichts, denn wie die Liebe brauchen auch Liebesgedichte viel Freiheit, - um geschrieben zu werden, und um verstanden zu werden. Ziel ist es, das Leben des Gedichtes nicht zu beschließen, sondern zu erschließen. Wenn ein Gedicht erschlossen wird, ist es ein bisschen wie die wundersame Brotvermehrung. Am Schluss findet man im Gedicht viel mehr als man zu Anfang für möglich gehalten hat, und man wundert sich darüber, warum man es vorher nicht gesehen hat. Dies trifft für die Liebe zu, aber auch für eine Ethik, die den Mut hat, die Pandora-Büchse des Lebens zu öffnen, und dann ein zweites Mal zu öffnen, um die darin noch verschlossene Hoffnung in die Welt zu befreien. *** Mit Mutmaßungen beginnt die Dialektik, um die es hier geht. Mutmaßungen im besonderen Sinne, weil es sich um eine besondere Dialektik handelt. Zur Ethik gehört zum Beispiel ein Maß an Mäßigung, der Blick für das richtige Maß, das Augenmaß, wobei das Auge stellvertretend für Erkenntnis und für alle Sinne stehen mag, ohne deren Teilnahme Sinn im mehrfachen Sinn sinnlos wird. Das Auge bleibt allerdings nur solange ein guter Stellvertreter, wie man sich die Augen nicht davor verschließt, dass das Auge nie alles sehen kann, und nie sehen kann, wenn es nicht sehen kann. Eine Ethik, die um ihren blinden Fleck weiß, hat einen blinden Fleck weniger. In Kants sapere aude sieht man nicht nur eine Ermutigung zu Mut, sondern auch eine Warnung vor dem blinden Fleck. Liebe auf den ersten Blick ist auf Dauer so wenig gesichert wie Erkenntnis auf Zur Dialektik von Ethik und Liebe 435 den ersten Blick. Es ist nicht nur Liebe, die blind machen kann, sondern auch ein Überschuss an empirisch orientierter Selbstsicherheit bei der Erkenntnissuche. Formulierte man einen kategorischen Imperativ aus Kants erster Kritik, so hieße er: „sei selbstkritisch“; er gelte nicht nur metaphysischen Versuchungen, sondern auch Versuchen einer Ethik. Zur Selbstkritik gehört Mut, auch der Mut zu Mutmaßungen und zu der Mäßigung und zu dem Augenmaß, die verhindern, dass kategorische Imperative zu dogmatischen Verurteilungen werden. Kategorisch in einer Ethik darf nur die Offenheit sein, die Selbstkritik bedingt. Selbstkritik verhält sich zur Kritik wie Selbstliebe zur Nächstenliebe. Ohne Selbst keine Kritik, auch keine Literaturkritik, und auch keine Liebe. Mag sein, dass Liebe mit Mutmaßungen beginnt. Auch zur Liebe gehört Mut und ein Maß an Mäßigung. Die Mutmaßungen nehmen zu in der Form größer werdenden Vertrauens und bleibender Offenheit. Mehr Mut ist nie fehl am Platz. In der Liebe ist zu wenig immer falsch; zu viel kann es nicht geben. Wer meint, dass es zu viel Liebe geben kann, hat aufgehört zu geben, und zu lieben; hinter dem Gefühl des „zu viel“ versteckt sich ein „zu wenig“. Die Mäßigung ist maßlos, sie bedeutet hier nie weniger Zuwendung, sondern immer genaueres Hinschauen - Augenmaß bei der Zuwendung. Hier hilft ein kritisches, auch selbstkritisches Auge; hier schadet ein skeptisches Herz. Wer denkt, dass Liebe und Kritik inkompatibel sind, darf nicht übersehen, dass die Möglichkeit der Liebe nicht immer kompatibel ist mit der Realität, in der sie verwirklicht werden muss. Das selbst-kritische Auge sieht nicht nur das geliebte Du, sondern auch die Welt, in der es vorkommt. Bei der Fokussierung auf das Du nimmt das Ich kritisch wahr, dass etwas in der Welt und in sich selbst falsch sein kann, dass man nicht selten sich und die Welt verändern muss, wenn die Liebe in ihr verwirklicht werden soll. Liebe ohne Welt verführt zu einer fatalistischen Romantik, die blind zu einer Welt ohne Liebe führen kann. *** Meine Mutmaßungen gelten einem Gedicht, das Brecht 1937 schrieb. Mag sein, dass die Dialektik von Ethik und Liebe zu dem Zeitpunkt in Brechts Leben eine existentielle Frage war. Er schrieb das Gedicht an und für Ruth Berlau. Berlau war eine dänische Schauspielerin, die zeitweilig eine von Brechts Geliebten war. Mag auch sein, dass die Dialektik von Ethik und Liebe für Helene Weigel eine Rolle gespielt hat. Weigel, die berühmteste Mutter Courage, war zu diesem Zeitpunkt mit Brecht verheiratet. Mag sein. Mag auch nicht sein. Unsere Mutmaßungen gelten aber weder Brecht noch Berlau noch Weigel. Bei unseren Mutmaßungen gilt: Erst kommt das Gedicht, nicht das Moralisieren. Ob Liebe vor Ethik kommt, wie das Fressen vor der Moral? Es gibt vermutlich keine richtige Antwort auf eine falsch gestellte Frage. Halten wir so viel fest: Moralisieren 436 Thomas Quinn hat wenig mit Ethik zu tun, und noch weniger mit Liebe. Überlassen wir das Biografische den Biografen. Suchen wir im Gedicht nicht nach Brechts Leben; suchen wir lieber nach dem Leben in Brechts Gedicht. Wir sollten nicht zu erklären versuchen, was wir verstehen müssen. Wer das Leben erklärt, begegnet ihm als Totem und verfehlt die - bei vielen Philosophen (zu) oft berüchtigte - Frage nach dem Sinn des Lebens. In diesem Sinne kann es auch in Methodenstreiten um Leben und Tod gehen. Der naturalistische Fehlschluss in der Ethik hat einen positivistischen Doppelgänger in der Literaturkritik, den man den biografistischen Fehlschluss nennen kann. Das ganze Leben eines Gedichts ist immer mehr als die Summe der Zahlen, Daten und „Fakten“ im Leben des Dichters. *** Dass wir bei der Auseinandersetzung mit dem Gedicht das Biografische des Autors Brecht den Biografen überlassen, heißt jedoch nicht, dass wir das Autobiografische des Interpreten, das eigene Leben außer Acht lassen können - oder sollen. Im Gegenteil. Die Suche nach dem Leben im Gedicht geht nicht spurlos am eigenen Leben vorbei. Das Leben, das man im Gedicht findet, ist immer Teil des eigenen Lebens - phänomenologisch betrachtet sowohl retrospektiv wie auch prospektiv. Retrospektiv, weil das Leben, das man im Gedicht findet, resoniert mit etwas, was im eigenen Leben schon gewesen ist. Prospektiv, weil das eigene Leben nicht abgeschlossen ist und daher offen ist und anders werden kann. Die Präsenz meines Selbst im Prozess des Verstehens geht über das Epistemologische hinaus ins Ethische, wie aus Kants erster Kritik die zweite hervorgeht. Wenn ich nicht über das Gedicht spreche, sondern aus ihm heraus, dann kann das Gedicht zu mir sprechen. Es kann mir sagen, wie Rilkes Archaischer Torso Apolls, „du musst dein Leben ändern“. Wer sich dem Gedicht öffnet, setzt sich einer Welt aus, die nicht mehr nur interpretiert werden darf. Nehme ich den Anspruch des Gedichts nicht an, nehme ich die Einladung des Gedichts zum Dialog nicht an, bin ich dafür taub, dann bleibt das Gedicht stumm wie der Stein, der nur Stein war, ehe Rilkes Künstler ihn in den Torso Apollos verwandelt hat. Trete ich in einen Dialog mit dem Gedicht ein, betrete ich eine Realität, in der Unmögliches möglich wird, in der sonst stummer Stein spricht, in der sich eine hermeneutische Aufgabe in einen moralischen Appell verwandelt - in der eine hermeneutisch erworbene Erkenntnis zum Handlungsimperativ wird. In dem Sinne wie Kants zweite Kritik aus der ersten hervorgeht, ist die Ethik die Transzendenz jeder epistemologisch unmöglichen weltfernen Metaphysik. Und im anderen Sinn ist die Ethik meta-physisch, weil sie dort beginnt, wo das bloß Physische endet. Die Ethik muss genau auf das Empirische hören, und das Empirische hat in der Ethik immer etwas zu sagen. Insofern ist die Ethik eine Zur Dialektik von Ethik und Liebe 437 zum Teil empirische Wissenschaft. Aber nie hat in der Ethik das Empirische das letzte Wort. Das Empirische verhält sich zur Ethik wie das Physische zum Meta-physischen: Die Ethik ist so gesehen keine empirische, sondern eine metaempirische Wissenschaft. Das Verhältnis der Ethik zum Empirischen ist notwendig und spannend. Löste man die Spannung zu Gunsten des Empirischen auf, hätte man eine Art normative Kraft des Faktischen, aber dafür eine kraftlose Ethik oder eine unethische Normativität. Die Ethik setzt wie das Gedicht die sinnlich erfahrbare Welt voraus; sie setzen beide aber nicht nur die Welt voraus, sondern ebenso und entscheidender deren Veränderbarkeit. *** MORGENS UND ABENDS ZU LESEN Der, den ich liebe Hat mir gesagt Daß er mich braucht Darum Gebe ich auf mich acht Sehe auf meinen Weg und Fürchte von jedem Regentropfen Daß er mich erschlagen könnte. B. Brecht Das Gedicht besteht aus 31 Wörtern, die in zwei ungleich langen Strophen geordnet sind. Die erste Strophe besteht aus drei Zeilen, die zweite aus fünf. Die acht Zeilen sind einer Titelzeile mit fünf Wörtern untergeordnet, nicht nur optisch-formal, sondern auf eine besondere Weise inhaltlich. Der Titel verrät nichts von dem, was danach kommt. Abgesehen von den Nomen folgt die Großschreibung eher einem dichterischen Gesetz als einem grammatikalischen. Die Großschreibung signalisiert den Anfang eines Verses; zusammen mit der Stropheneinteilung sorgt der Vers für das nötige Minimum an Struktur. Die Versform ist frei, aber nicht willkürlich. Mit der Sprache ist der Dichter nicht fremdgegangen - Fremdwörter gibt es nicht. Die Sprache scheint einfach und unmittelbar. Konrad Duden freute sich über die Interpunktion vermutlich nicht; die Verständlichkeit der Sprache könnte er jedoch nur schwer bemängeln. Scheler würde in Duden einen verkappten Kantianer wähnen und ein Plädoyer für eine Grammatik der Gefühle machen. Abgesehen von den Zeichen nach dem ersten und letzten Wort ist es ein Gedicht ohne Punkt und Komma, ohne dass die Verständlichkeit des Gedichts in irgendeiner Form darunter leidet. Es versteht sich alles fast wie von selbst, wenigstens sprachlich. Darin liegt natürlich 438 Thomas Quinn eine Gefahr, denn - wie wir sehen werden, und gesehen haben - Liebe ist im besten Fall verständlich, in keinem Fall aber selbstverständlich. Es reimt sich im Gedicht nichts, außer der Liebe. Man spürt einen Gleichklang zwischen Ich und Du, den man in den Wörtern nicht hört. Die zwei Strophen bilden zusammen einen einzigen Satz. Was die Satzform betrifft: Hier scheinen Inhalt und Form ineinander überzugehen. Die Satzform schwebt zwischen Aussage, Aufforderung und Wunsch; es ist ein Schweben, das der Liebe und dem Leben entspricht. „Aber Lebende“, schrieb Rilke in Duino, „machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.“ Er mag Recht haben, nicht nur in Bezug auf Grammatiken des Sprachgefühls. Liebende sind Lebende, die den Fehler am ehesten vermeiden können. *** Die Sprache im Gedichttitel ist offen. Sie lässt sich nicht auf eine einzige Form oder ein einziges Gefühl festlegen. Während die acht Zeilen des Gedichts eindeutig aus der Perspektive des Ich sehen, sieht es anders bei der Titelzeile aus. Die Wörter lassen sich weder dem Ich noch dem Du ausschließlich zuordnen. Grammatikalisch nach Duden handelt es sich um einen Imperativ. Es ist jedoch ein Imperativ, der mehr Wunsch und Hoffnung ist als einfordernde Aufforderung oder Mahnung. Er bittet vielmehr als er befiehlt. Dem Charakter nach ist die Titelzeile dem Gebet näher als dem Gebot. Wer spricht aber das gebetähnliche Gebot? Denkbar ist es, dass die Zeile dem zuzuschreiben ist, den das Ich liebt, dass er es daran erinnern will, dass er das Ich, das sein Du ist, braucht. Denkbar ist es auch, dass die Wörter dem Ich zuzuschreiben sind, dass es sich selbst daran erinnern will, dass es geliebt wird, dass es den Geliebten nicht vergessen darf. Wem die Worte des Imperativs zuzuschreiben sind, hat vielleicht eine Art ethische Relevanz: Es sagt etwas über die Art des „Imperativs“ aus. Ist es das Ich, das sich selbst erinnert, kommt der Imperativ von innen. Kommt der Imperativ „morgens und abends zu lesen“ vom ihm, den es liebt und der es braucht, dann kommt der Imperativ von außen. Ein Imperativ von innen käme dem Kantischen Ideal der Pflicht nah. Käme der Imperativ von außen, käme er eher dem Schillerschen Ideal der „schönen Seele“ gleich, in der Entweder / oder-Fragen wie innen / außen und Pflicht / Neigung keine Fragen sind, weil sie zu stark unterscheiden, oder logisch unterscheiden, was dialektisch in der Sache selbst nicht unterschieden werden kann. In der Grammatik der Liebe ist der Imperativ kategorisch, weil die Hoffnung, die darin ausgedrückt wird, utopisch absolut ist, im Sinne einer Hoffnung, die nicht enttäuscht werden darf. Dass allerdings diese Hoffnung ausgesprochen wird, sagt auch, dass, wer auch immer spricht, weiß, wie wenig selbstverständlich das Gesagte ist. Utopische Hoffnungen werden geäußert in dem Bewusstsein, dass das, was nicht enttäuscht werden darf, doch enttäuscht Zur Dialektik von Ethik und Liebe 439 werden kann. In der Diskrepanz dazwischen entsteht ein Handlungsimpuls, in dem Begründung und Motivation so wenig oder nur so unterschieden werden können, wie das Ich und das Du. Es gibt keine Garantie, dass eine Hoffnung, die nicht enttäuscht werden darf, nicht enttäuscht wird. Je nachdem, ob und wie deutlich die Hoffnung ausgesprochen wird, sind die Chancen auf Erfüllung besser oder schlechter. Unausgesprochen sind die Chancen am schlechtesten; dies ist mit ein Grund, warum Hoffnung wie Liebe Sprache braucht. Dass „morgens und abends“ gelesen werden soll, macht das Unbedingte des Imperativs konkreter und unbedingter zugleich. Wer auch immer liest, Du oder / und Ich, soll es nicht nur lesen. Es soll nicht aufhören, es zu lesen - „morgens und abends“, wenn man wacht und wenn man schläft, so lange man lebt - und liebt. Morgens und abends markieren gleichzeitig Grenz- und Übergangszeiten, Zeiten, in denen sich Gegensätze treffen und ablösen wie Tag und Nacht. Später im Gedicht wird Liebe nicht nur mit Leben verknüpft, sondern auch mit Überleben. „Morgens“ und „abends“ sind Zeitangaben, die die Zeit zeitlos machen wollen. Das Ich des Gedichts ist aber nicht blind und sieht, dass die Lebenszeit und damit die Liebe unter der Bedingung zeitlos sind, dass man noch lebt. Zwischen der Titelzeile und der letzten Zeile verbindet sich die Erfahrung der Liebe mit der Erfahrung der Kontingenz. Das geliebte Ich will, dass die Liebe nie endet, weiß allerdings auch, dass das Leben beschädigt und letztlich beendet werden kann, dass es „erschlagen“ werden könnte - abrupt und endgültig, in einem einzigen sonst so schönen Augenblick, der doch nicht verweilt. Der plötzliche Augenblick des Todes wird dann zum Augenblick der Ewigkeit, der hohl ist, weil leb- und sinnlos. Liebe ist ein Grund zum Leben, eine Mut machende, herausfordernde Antwort auf die Kinderfrage „Wozu? “. In der Liebe steigert sich das Gefühl, immer leben zu wollen, und gleichzeitig das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. Liebe ohne Leben ist keine - physisch wie metaphorisch. Unwahrscheinlich, dass das geliebte Ich je Heidegger gelesen hat; wahrscheinlich, dass es das Kapitel „Sein-zum-Tode“ verstanden hätte. Die fröhliche Naïveté, mit dem das Gedicht daherkommt, trägt auch eine existenzielle Sorge in sich, die der Liebe innewohnt. *** War es richtig, ist es hermeneutisch erlaubt, die Titelzeile mit Hilfe von den Zeilen zu deuten, die im Gedicht erst später kommen, die, streng genommen, in den Wörtern der Titelzeile selbst nicht vorkommen? Was ist einem Wort, einem Text immanent? Von Anfang unseres Textes an haben wir das Gedicht als Ganzes nicht nur mit Hilfe von Zeilen angedeutet, die im Gedicht später kommen. Wir haben es gedeutet mit Hilfe sozusagen von „Zeilen“, die im eigenen Leben früher gekommen sind. Ist nicht (das eigene) Leben die Voraussetzung dafür, Leben deuten zu 440 Thomas Quinn können, und Leben deuten zu müssen? Der Auseinandersetzung mit dem Leben im Gedicht geht die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben voraus. Fehlt die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, wird der hermeneutische Zirkel zum Teufelskreis. Falsch wäre, man dächte, man hätte erst dann begonnen, das Leben im Gedicht zu deuten, als man das Leben im Gedicht gelesen hat. Ehe Hegels Begriff der Erfahrung als Phänomenologie des Geistes enden konnte, begann er als Lebenserfahrung. Hier begänne jede Phänomenologie des Gedichts. *** Die erste Strophe des Gedichts stellt das Ich und das Du genauer vor, wie auch explizit das, was Ich und Du miteinander verbindet: die Liebe. In der Liebe ist die Unterscheidung zwischen Ich und Du so wichtig wie unmöglich. Wenn nicht beide beides sind, ist es nicht Liebe, sondern eine Art Begehren, die erst Liebe wird, wenn das Objekt der Begierde begehrendes Subjekt wird. In der ersten Strophe sagt das Ich, was ihm das Du gesagt hat. Es ist zwar das Ich, das spricht; es spricht allerdings zunächst das aus, was ihm das Du gesagt hat. Das Du kommt durch das Ich zur Sprache. So lernen wir das Du als „er“ kennen. Das Du ist der, den das Ich liebt, der es „braucht“. Was für ein Ich ist es, das den liebt, und von ihm gebraucht wird? Da Brecht Brecht war, stellt man sich vielleicht leicht(fertig) das Ich als die Geliebte vor. Aber Brechts Liebesleben ist nicht mit der Liebe im Leben des Gedichts gleichzusetzen. Wenn das Geschlecht des Ich durch das Geschlecht des Du festgelegt zu sein scheint, dann hat dies möglicherweise mehr zu tun mit Vorstellungen von dem biografischen Brecht und / oder mit Vorurteilen über Liebe und Geschlecht und Gender, als mit der Liebe im Leben des Gedichts. Im Gedicht ist die Frage nach dem Geschlecht der Liebenden, ob es sich um heterosexuelle oder homosexuelle Liebe handelt, unbedeutend vor der Frage, ob und wie die zwei sich lieben, und was die Liebe in deren Leben für eine Bedeutung hat. Die Sprache des Gedichts legt das Geschlecht des Du nicht fest. In der ersten Strophe sagt das Ich, was der Geliebte ihm gesagt hat. Auf eine Weise sagt der, den das Ich liebt, warum er es liebt. Liebe wird konkretisiert, der Grund für die Liebe scheint einfach zu sein: Er „braucht“ es. So einleuchtend wie der Refrain im Beatles-Song With a Little Help From My Friends : Do you need anybody? I need somebody to love … Und doch ist es nicht so einfach, weil das Verhältnis zwischen Lieben und Brauchen nicht so einfach ist. „Brauchen“ ist kein schönes Wort. Es zeigt zwar an, dass etwas fehlt, das man braucht, das man nötig hat. In diesem Fall zeigt es an, dass jemand geliebt wird, dass die geliebte Person fehlt, und dass etwas immer Zur Dialektik von Ethik und Liebe 441 fehlt, wenn diese Person nicht da ist. Das Leben des Liebenden ist ganz, wenn die geliebte Person da ist, und nicht ganz, wenn sie fehlt. „Brauchen“ kann allerdings weniger liebenswürdige Bedeutungen haben. Brauchen kann auch Zeichen der Abhängigkeit sein, wo die Liebe keine befreiende Unterstützung bedeutet, sondern die Unterwerfung der geliebten Person der Unfreiheit dessen, der sie braucht. In Brauchen klingt Gebrauchen an, oder auch Missbrauchen, was sich mit Lieben schlecht reimt. Wie Fromm klar machte, ist Lieben keine einfache Kunst. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Mensch geliebt wird, weil er gebraucht wird, oder ob er gebraucht wird, weil er geliebt wird. Hier kann ein marxistischer Freudianer ein bisschen Kantianer werden. Wer einen Menschen liebt, weil er ihn braucht, hat den anderen Menschen instrumentalisiert. Der geliebte Mensch wird Mittel zum Zweck, was Kant kategorisch ablehnt. Instrumentalisierung geht im besten Fall an der Liebe vorbei, im schlimmsten Fall zerstört sie sie. In Kants Ethik, aber nicht nur dort, hat sie keinen Platz. In der ersten Strophe stellt sich Liebe als Ursache vor, in der zweiten als Wirkung. Liebe hat Konsequenzen. Indem der, den das Ich liebt, sagt, dass er es braucht, hat er ihm einen Grund zu leben gegeben. Aber auch einen Grund nicht so zu leben wie bisher. Wenn die Ansprache von dem Torso Apollos sagen kann, dass du dein Leben verändern musst, umso mehr ist Veränderung angesagt, wenn dich die Kunst der Liebe anspricht, wenn der, den du liebst, dir sagt, dass er dich braucht. Dem Wort der Liebe folgen im Leben der geliebten / gebrauchten Person Taten. Das Brauchen in der ersten Strophe lässt sich durchaus im Fromm-Kantischen Sinne als moralisch deuten, als ein Brauchen wegen der Liebe und nicht als Liebe wegen des Brauchens. Aus der Not wird keine Tugend gemacht, auch keine Liebe. Durch das Brauchen der Liebe wird die geliebte Person nicht zum Mittel eines Zwecks gemacht. Was jedoch deontologisch in der liebenden Person ist, wird durchaus teleologisch in der geliebten Person selbst. Durch das Brauchen, von dem, den es liebt, wird das Ich zwar kein bloßes Mittel zum Zweck, doch wird es gerade durch die Liebe gezwungen, den Zweck seines Lebens neu zu denken, und anders zu leben. Im Ich dreht sich das bei Kant moralisch relativierende „Um … zu“ in ein existentiell relevantes „Darum“. Die Interesselosigkeit von Kants moralischem wie auch ästhetischem Urteil greift hier nicht, kann die Liebe hier nicht begreifen. Liebe hat - wie und als Erkenntnis - ein Interesse. Das Interesse, das bei Kant in der Ethik wie in der Ästhetik nur einen kompromittierenden Platz hat, erhält so in der Liebe seinen festen Sitz im Leben. Weil der, den das Du liebt, das Ich braucht, braucht es etwas zu tun. Etwas anders und etwas Anderes. Das Brauchen ist zwar Liebe, aber diese Liebe setzt die geliebte Person unter einen Druck, der in der geliebten Person selbst entsteht. Das Interesse der Liebe ist ein selbstloses Selbstinteresse. 442 Thomas Quinn Wie das geliebte Ich gelebt hat, bevor ihm gesagt wurde, dass es geliebt und deshalb gebraucht wird, wissen wir nicht. Aber in dem Moment, in dem die Liebe ausgesprochen wird, unterscheidet sich das Leben in ein Vorher und Nachher. Vorher gab es sicher einen Weg, vielleicht einen Weg, der dem Ich auch als „sicher“ vorkam, den es naiv und unbeschwert ging - ohne etwas zu befürchten. Aber nachdem der, den es liebt, gesagt hat, dass er es braucht, ist der Lebensweg anders als vorher. Ob der Weg nachher von außen „objektiv“ anders ist, ob nicht: Wegen der Liebe sieht das Ich anders auf den Weg und es geht ihn auch anders. Ein Weg wird zum eigenen, zu „meinem Weg“. Das Ich geht seinen Weg selbstbewusster. Und indem es mehr auf den Weg achtet, wächst auch die Selbstachtung. Die Liebe verlangt beinahe buchstäblich Re-spekt im doppelten Sinne: Das Ich re-spektiert den eigenen Weg, es schaut wieder und achtet kritischer auf den Weg und auf sich selbst. So führt die Liebe auch zu einem Mehr an kritischem Selbst-Respekt. Die Sorge dessen, der in der ersten Strophe das Ich braucht, wird in der zweiten Strophe zur Selbst-Sorge. Die Sorge, die bei Goethe Faust blind macht, macht bei Heidegger und Foucault sehend. *** Wenn Liebe und Brauchen sich nur schwer reimen, aus Liebe und Fürchten und Erschlagen einen Reim zu machen, ist noch schwerer. Liebe und Furcht scheinen sich zunächst gegenseitig so auszuschließen wie Leben und Tod. Eher denkt man, dass Liebe wie die Wahrheit ist, die frei, aber nicht Angst macht. Ohne Heideggers Nichts heraufbeschwören zu wollen, und obwohl buchstäblich das Wort Furcht vorkommt, sprechen wir hier lieber nicht von Furcht, sondern vom Begriff „Angst“. Manchmal nimmt man ein Wort am besten ernst, wenn man dafür ein anderes Wort nimmt. Das konkrete Etwas, vor dem man Furcht hat, ist hier zwar gegeben, das konkrete Etwas ist jedoch ein Regentropfen, und so gesehen nicht viel mehr als nichts. Der Regentropfen ist auch kein Regentropfen aus einer Giftwolke, auch kein Regentropfen aus einem Sturm wie Katrina, wie Jesmyn Ward in Salvage the Bones beschreibt. Der Regentropfen ist ein jeder Regentropfen, und deshalb eher kein Regentropfen, sondern vielmehr etwas, was selbst aus der Liebe kommt, was zu ihr gehört, wie Tod zum Leben. Das Ich, das den liebt und von dem, den es liebt, gebraucht wird, nimmt das Leben als ihr Leben nicht nur ernst, sondern buchstäblich todernst - ein jeder Regentropfen könnte es erschlagen. Das scheinbar Naive der ersten Strophe verschwindet abrupt und völlig im Laufe der zweiten Strophe. Die zwei Strophen beginnen, sich zueinander zu verhalten wie das Vorher und das Nachher der Liebe im Leben des Ich. Und mit der Unterscheidung zwischen Vorher und Nachher kommt ein Zeitbewusstsein Zur Dialektik von Ethik und Liebe 443 ins Leben. Vorher und Nachher beginnen sich zueinander zu verhalten wie Leben und Tod. Aus dem Bewusstsein der Einheit in der Liebe ist ein Bewusstsein der Zerbrechlichkeit des Lebens und damit der Liebe geworden. Liebe wird zum Vexierbild. Der Traum der unauslöschlichen Treue, dass nur der Tod uns scheidet, wird zum Alptraum, dass der Tod uns scheidet - mit dem nächsten Regentropfen. Die Liebe, die dem Tod trotzt, lebt aus dem Trotz heraus deshalb mit einem Todesbewusstsein. Es ist allerdings ein Todesbewusstsein, in dem ein gesteigertes Lebensbewusstsein steckt. Man könnte den Übergang von der ersten zur zweiten Strophe mit den Augen der Begriffe Schillers sehen. Man könnte dann sehen, wie das Gedicht, das so naiv anfängt, sentimentalisch aufhört. In der individuellen Biografie steckt ein Stück Kulturgeschichte, das in die Moderne weist. Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen, von Natur zur Kultur markiert einen Bruch, der sich hier im Verhältnis zur Natur äußert. Die Natur, die den naiven Menschen ernährt, könnte den sentimentalischen Menschen erschlagen. Wenn man sich früher in der Natur unterwegs durch das Leben geborgen wusste, fühlt man sich jetzt bei jedem Schritt gefährdet. Wie Schiller in seiner Studie Über naive und sentimentalische Dichtung nostalgisch schrieb: „Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.“ Die Einheit mit sich und der Natur weicht einem Zwiespalt in sich und mit der Welt. Unreflektierte Freude weicht selbstbewusster Angst. Der beschwingte Schritt ist belastet und belastend. Während Ich und Du in der ersten Strophe durch Liebe vereint vorkommen, ist das Ich in der zweiten Strophe als vereinzeltes allein unterwegs. Zweiheit ist die Kehrseite der Einheit, ohne ihr Gegensatz zu sein. Aus dem Ideal der Einheit von Ich und Du wird die reale Erfahrung, dass die Einheit einer Zeit angehört, in der sich eine Erinnerung aus der Vergangenheit die Zukunft gestaltet. Und sei die Vergangenheit die erste Strophe, und die Zukunft die Zeit, in der es Regentropfen geben könnte. Märchen sagt: „Es war einmal …“ Und weil die Liebe Einmaligkeit anders erlebt hat, sagt sie: „Es wird einmal …“. Liebe hat dann die Beweislast, dass sie kein Märchen ist. In der letzten Zeile des Gedichts wird das Ich an die Grenze des Lebens geführt. Diese Grenze ist auch die Grenze der Liebe, und wird von ihr gezogen, ja forciert. Durch die Möglichkeit des Todes ist die Liebe absolut begrenzt. Bis aber der Tod als Wirklichkeit eintritt, will die Liebe absolut sein. *** Liebesgedichte sind oft so tröstlich wie untröstlich, und so gefühlt / gedacht und geschrieben, dass das eine das andere nicht aus-, sondern einschließt. Bei Shakespeare heißt es untröstlich im Sonett 64: 444 Thomas Quinn That Time will come and take my love away. This thought is as a death which cannot choose But weep to have that which it fears to lose. Bei Goethe heißt es einmal tröstlich in „Willkommen und Abschied“: Du gingst, ich stund und sah zur Erden Und sah dir nach mit nassem Blick: Und doch, welch Glück geliebt, zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! Auch in „morgens und abends zu lesen“ steckt im Willkommen der Liebe der Abschiedsgedanke, der Wermutstropfen der Regentropfen, die erschlagen könnten. Liebe will Ewigkeit, postuliert allerdings weder Unsterblichkeit noch Gott. Postulate sind eine Art Glauben - make-believe - und eine Art Denken - wishful-thinking. Liebe ist eine Art Leben, die wishful-thinking Lügen straft und make-believe in die Flucht treibt, aus der es kommt. Das Liebesgedicht hat etwas eigentümlich A-theistisches an sich. Nicht selten wird in der Liebeslyrik die geliebte Person vergöttlicht. Wenn aber der Vergöttlichung keine Vermenschlichung folgt, wird früher oder später die Liebe unmenschlich, ohne göttlich zu sein. Das idealisierte Objekt der Begierde stirbt den bitteren Tod des Realitätsverlusts. Der Traum ist nicht aus, doch aber die Illusion, mit der er verwechselt wurde. In „Willkommen und Abschied“ ist zwar von den Göttern die Rede, aber Goethe spricht sie an, ohne sie um etwas zu bitten, geschweige denn die Liebe von ihnen abzuleiten oder leiten zu lassen. Er bestätigt damit die Liebe, nicht die Götter - oder einen Gott, oder eine Göttin. Shakespeares Sonette sind weitgehend gott-los, dafür aber auf eine besonders menschliche Weise nicht lieb-los. Die Unsterblichkeit, die Shakespeare heraufbeschwört, ist mit dem Wort verbunden, das der Dichter schreibt, mit dem er seine Liebe „verewigt“, nicht mit dem Wort im Anfang, das Gott geworden ist. Shakespeares Wörter haben Ewigkeitswert, weil sie im Leben ihre Wurzeln haben, nicht in einem Leben nach dem Tod, in dem sie nachklingen. Liebe wird nicht im Jenseits vollendet, sondern dort, wo sie gelebt wurde, und beendet werden kann. The rest is silence . Dass in der Liebe die Vergöttlichung in die Vermenschlichung übergehen muss, findet in der Theologie in der Menschwerdung Gottes einen Ausdruck, der Gott als Liebe vorstellbar und den Glauben menschlicher machen kann. Bei Goethe und Shakespeare wie auch hier bei Brecht gibt es aber keinen Gott, der das Ich auf Händen trägt, oder dafür sorgt, dass es unterwegs seinen Fuß nicht an einen Stein stößt. Es gibt nur den Erdenschweren, den es liebt, und der es braucht, dem es Mut macht, seinen Weg zu gehen - trotz Regentropfen. Das Zur Dialektik von Ethik und Liebe 445 Ich ist mutig, aber nicht übermütig. Es glaubt an die Liebe, aber nicht deshalb an Gott, oder dass der Glaube Berge versetzen oder gar einen Regentropfen aufhalten kann. Das Ich gibt acht auf sich und schaut - mit Rücksicht auf den Geliebten, mit Vorsicht auf sich und einer Weitsicht, die sie beide umgreift. Es geht dann einfach seinen manchmal schwierigen Weg. Wenn das Liebesgedicht eine Ethik beinhaltet, dann konsequent eine autonome Ethik, bei der das Prinzip der Autonomie dem dialogischen Prinzip untergeordnet ist, wie das Epistemologische dem Ethischen. Kommt zu dem Ich und dem Du Gott dazu, macht man aus dem zwischenmenschlichen Dialog einen über-menschlichen Trialog, dann hat man die Grenze zwischen Ethik und Theologie überschritten. Liebesgedichte hören auf, Liebesgedichte zu sein, wo sie anfangen, Glaubensbekenntnisse zu werden. Man macht aus einem Liebesbekenntnis ein Glaubensbekenntnis auf die Gefahr hin, dass die Möglichkeiten der Liebe unterschätzt werden, und damit auch die der Theologie. Ethik heißt dann auf den Weg sehen, sich und den Weg achtend, Gefahren im Blick halten, ohne den Weg aus dem Auge zu verlieren. Am Ende des Wegs mag stehen, was an dessen Anfang stand, nur stärker und konkreter, und gelebter. Solange man nicht stehen bleibt, solange man den Weg geht - bis an die Grenze. Man mag diesen Weg einen Weg der Transzendenz nennen. Es ist aber kein Weg, der in ein Jenseits führt, an dessen Ende ein Leben nach dem Tod beginnt. Diese Transzendenz hat eine Grenze, an der es regnet, an der man erschlagen werden kann - und eines Tages morgens oder abends - sterben wird. Die Liebe ist durch den Tod absolut begrenzt, aber sie will dem Tode trotzend absolut bis an diese Grenze gehen. Die Transzendenz, die durch das Diesseits führt, propagiert weder Gott noch Unsterblichkeit und postuliert keine Freiheit. Sie lebt jedoch aus einer Freiheit, die kein Regulativ der Vernunft ist, sondern eher eine Kraft der Liebe, die das Ich selbst schöpft, schöpfen muss, aber auch schöpfen kann, weil es liebt und liebend gebraucht wird. Die Freiheit beweist sich durch die Liebe, die es gibt, und die Schritte, die das Ich auf seinem Weg macht. Die Freiheit beweist und bewährt sich auch in der Angst vor dem Regentropfen, der es an den Tod erinnert, ohne dass diese Erinnerung das Ich auf seinem Weg aufhalten kann, oder die Liebe, zu dem, der es braucht, in Frage stellt. Die Liebe zwischen Ich und Du lebt aus dem, was Tillich einst den „Mut zum Sein“ nannte. Transzendenz heißt hier nicht Grenzen überschreiten, sondern so mutig und frei zu sein, sich der Grenze bewusst, unbedingt bis an die Grenze zu gehen. An der Grenze steht man mit - wie Goethe schrieb - vielleicht „nassem Blick“. Wer soll an der Grenze entscheiden, ob ein Regentropfen von innen, oder von außen kommt? Menschen machen alle den Fehler, dass sie zu stark unterscheiden. *** 446 Thomas Quinn Bleibt mutzumaßen, ob ich „morgens und abends zu lesen“ richtig gelesen habe. Ob ich es überhaupt gelesen, oder nur etwas hineingelesen habe? Habe ich sentimentalisch gelesen, was naiv geschrieben wurde? Ob die Liebe gut beraten ist, ein Verhältnis mit der Ethik einzugehen? Wäre ein dialektisches Verhältnis die richtige, die einzigmögliche Art von Verhältnis für so anspruchsvolle Partner? Letzten Endes sucht man in Liebesgedichten moralische Imperative und ethische Normen vergeblich. Wer sich auf sie einlassen kann, findet vielleicht moralische Provokationen, weil sie einer / m sagen, wie wenig Liebe die Norm ist, und das Normale in Frage stellen. In der Infragestellung findet sich vielleicht die ethische Leitfrage, die auf der Suche nach dem guten Leben an der Liebe nicht vorbei kann. Ein Liebesgedicht ist wie die Liebe selbst - ein kompromissloser Kompromiss. Die Erwartung, dass es beim Versuch, ein Liebesgedicht zu deuten, anders sein könnte, wäre nicht realistisch. Oder nur so realistisch, wie die Hoffnung, dass morgens und abends ein jeder Regentropfen nach oben fällt. Autor_innenverzeichnis 447 Autor_innenverzeichnis Prof. Dr. S. Karin Amos , seit 2006 Professorin für Allgemeine Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen und seit dem Wintersemester 2013 / 14 Prorektorin für Studierende, Studium und Lehre. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Internationalisierung von Bildung und Erziehung, der Beziehung von Regulierungs-/ Steuerungsformen und Modi der Subjektivierung in der Spätmoderne sowie der Wechselbeziehung zwischen Bildung und Verwissenschaftlichung. Dr. Gero Bauer , Literatur- und Kulturwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung der Universität Tübingen. Seine Forschungsinteressen umfassen Gender und Queer Studies, Camp, Film- und Musikvideoästhetik, New Materialism sowie Europäische Literatur- und Kulturgeschichte. Andreas Baur-Ahrens , M. A. , Politikwissenschaftler, ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Privatheit und Datenschutz, kritische Sicherheitsstudien, Cybersecurity und Big Data. Prof. Dr. Monika Bobbert, Psychologin und Professorin für Moraltheologie, Leiterin des Seminars für Moraltheologie der Theologische Fakultät der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bio-, Medizin- und Pflegeethik, Grundlagen der Moraltheologie und Ethik, Sozialethik sowie methodische Fragen angewandter Ethik und Moralpsychologie. Dr. Cordula Brand , Philosophin, ist seit 2016 Geschäftsführerin des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der angewandten Ethik, vor allem der Organisations- und Bioethik, Metaethik sowie Wissenschaftstheorie. Prof. Dr. Roger Brownsword , Law, holds appointments at both King's College London and Bournemouth University. He is a member of the International Advisory Board of the International Centre For Ethics in the Sciences and Humanities of the University of Tübingen. His principal research interests are in law, regulation, and technology. 448 Autor_innenverzeichnis Prof. Dr. Rainer Bucher leitet seit 2000 das Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz. Er forscht zu den Konstitutionsproblemen der Katholischen Kirche in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und zu den Grundlagenproblemen der Theologie nach der "pastoralen Wende" des II . Vatikanum. Prof. Dr. Claus Dierksmeier ist Professor für Globalisierungs- und Wirtschaftsethik und Direktor des Weltethos-Instituts an der Universität Tübingen. Seit 2016 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Rates des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Seine akademische Arbeit konzentriert sich auf Fragen der Politik-, Religions- und Wirtschaftsphilosophie unter besonderer Berücksichtigung von Theorien der Freiheit und der Verantwortung im Zeitalter der Globalität. Prof. Dr. Julia Dietrich , Philosophin, vertritt die Professur für Didaktik der Philosophie und Ethik an der Freien Universität Berlin. Sie leitet den Arbeitsbereich Ethik und Bildung am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Philosophie des Körpers bzw. des Schmerzes, Argumentationstheorie und Interdisziplinarität. Prof. Dr. Eve-Marie Engels , Philosophin, seit 1996 Leiterin des damals in der Fakultät für Biologie neu eingerichteten Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften, war von 2001-2011 Sprecherin des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften und von 2004-2013 Sprecherin des dort angesiedelten DFG -Graduiertenkollegs "Bioethik". Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören neben ethischen Fragen Themen der Wissenschaftstheorie und Geschichte der Biologie. Friedrich Gabel , Philosoph, ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der Gerechtigkeit, Katastrophensicherheit sowie Sicherheit und Exklusion. Dr. Thomas Gauly , Unternehmer, berät weltweit Unternehmen, Institutionen und Einzelpersönlichkeiten in den Themen Strategie und Kommunikation. Seit 2016 ist der Mitglied des Internationales Beirates des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu seinen Spezialgebieten gehören angewandte Medienethik, Kommunikationsstrategie und Reputationsmanagement. Autor_innenverzeichnis 449 Céline Gressel , M. A., Soziologin, ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt INTEGRAM (Integrierte Forschung: Eine kritische Analyse und wissenschaftspraktische Vermittlung am Beispiel des Forschungsfeldes Mensch-Technik-Interaktion) am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in der Techniksoziologie (insbesondere Mensch-Technik-Interaktion) und den Methoden qualitativer Sozialforschung. Dr. Thilo Hagendorff , Medienwissenschaftler, arbeitet seit 2013 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören insbesondere Fragen der Digitalisierung. Prof. Dr. Hille Haker , Theologin und Ethikerin, ist seit 2010 Inhaberin des Richard McCormick Endowed Chair of Ethics an der Loyola University Chicago. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Grundlagenfragen der Ethik und Sozialethik, Bioethik und Ethik der Neuen Technologien, Feministische Ethik sowie Literatur und Ethik. Alexander Hauschild studiert Friedensforschung und Internationale Politik (M. A.) an der Universität Tübingen und ist studentische Hilfskraft im Bereich Sicherheitsethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften. PD Dr. Jessica Heesen , Philosophin, Leiterin der Nachwuchsforschungsgruppe Medienethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Ethik, Informations- und Medienethik, Sicherheitsethik, Technikphilosophie, Sozialphilosophie, Wissenschaftstheorie. Prof. Dr. Vera Hemleben ist emeritierte Professorin für Genetik an der Universität Tübingen und Gründungsmitglied des Gesprächskreises „Ethik in den Wissenschaften“. Von 1996 bis 2011 war sie Vorsitzende des Wissenschaftlichen Rates des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften, dessen Mitglied sie bis heute ist. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins , Theologin, ist seit 2009 Direktorin des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster und Herausgeberin des Jahrbuchs für Christliche Sozialwissenschaften. Zu ihren 450 Autor_innenverzeichnis Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der politischen Ethik, der Menschenrechtsethik und der Grundlegung einer kontextuellen christlichen Sozialethik. Prof. Dr. Ingrid Hotz-Davies ist seit 2001 Professorin für englische Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen und seit 2013 zusammen mit Regina Ammicht Quinn eine der Direktorinnen des Tübinger Zentrums für Gender- und Diversitätsforschung. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Gender / Sexualität und Literatur, Englische Literatur der Frühen Neuzeit, englischsprachige Literatur von Frauen sowie literarische Kommunikation unter erschwerten Bedingungen. Prof. Dr. Maureen Junker-Kenny ist Professorin der Theologie und Leiterin des Department of Religions and Theology, Trinity College Dublin und Mitglied des Internationalen Beirates des Tübinger Ethikzentrums. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Grundlagen philosophischer und theologischer Ethik, biomedizinische Ethik, Religion und öffentliche Vernunft, J. Habermas und P. Ricoeur, F. Schleiermachers Religionstheorie und Christologie, Bedingungen des Glaubens in der Moderne und Theologie an der Universität. Dr. Birgit Kröber , Humangeographin und Politikwissenschaftlerin, ist seit 2015 wissenschaftliche Koordinatorin des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der nachhaltigen Entwicklung und die Bioökonomie. Marco Krüger , Politikwissenschaftler, ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Projekten am Forschungsschwerpunkt Sicherheitsethik des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften. Seine Forschungsinteressen liegen in den kritischen Sicherheitsstudien und den Fragen nach gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Simon Ledder, Sozialwissenschaftler, ist derzeit im Projekt „Weiterbildung: Ethik in Organisationen: Bildung und Soziales“ am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften beschäftigt und zudem Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Universität Tübingen. Zu seinen Schwerpunkten gehören Gender Studies, Disability Studies, Bioethik sowie Medien- und Technikforschung. Dr. Matthias Leese, political science, is Senior Researcher for Technology and Security Governance at the Center for Security Studies, ETH Zurich. His research interests are primarily located within critical security studies, surveillance studies, and science and technology studies. More specifically, he is interested in the development and design of security technologies, as well as the wider Autor_innenverzeichnis 451 societal and normative consequences that emerge from the implementation of technologies in particular contexts. Prof. Dr. Christof Mandry , Theologe, ist seit 2015 Professor für Moraltheologie / Sozialethik am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Forschungsinteressen zählen politische Ethik (vor allem Europäische Union), Sozialethik (Migration, Bildung, soziale Sicherungssysteme) und Grundfragen der theologischen Ethik (Hermeneutik, Lebensführung). Dr. Tobias Matzner , Philosoph, ist Visiting Scholar an der New School for Social Research in New York. Seine Forschung bewegt sich an der Schnittstelle von politischer Theorie und Technikphilosophie. Schwerpunkte liegen dabei auf Fragen von Privatheit und Subjektivität, der Ethik von nicht-menschlichen Akteuren sowie Perspektiven aus den Queer- und Genderstudies. Dr. Simon Meisch , Ethiker und Politikwissenschaftler, leitet seit 2013 die Nachwuchsforschungsgruppe "Wissenschaftsethik der Forschung für Nachhaltige Entwicklung" am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Ethik, Theorie und Bildung für Nachhaltige Entwicklung, vor allem Ethik der Wassergovernance und -forschung, sowie die Rolle der Geisteswissenschaften in der Forschung für Nachhaltige Entwicklung. Prof. Dr. Dietmar Mieth ist emeritierter Professor für Theologische Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Gesellschaftswissenschaften. Er ist Gründungsdirektor des Ethikzentrums, war bis 2001 dessen Sprecher und ist weiterhin Mitglied des Wissenschaftlichen Rates. Seit 2009 ist er Fellow am Max Weber Kolleg der Universität Erfurt und dort Direktor der Forschungsstelle Meister Eckhart. Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse , theologische Sozialethik, ist seit 2011 Professor für theologische Ethik / Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Mitglied des Wissenschaftlichen Rates des IZEW . Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben der Sozial- und Arbeitspolitik Probleme der Gerechtigkeitstheorie sowie Grundlagenfragen der theologischen Sozialethik. Dr. Uta Müller ist Philosophin und arbeitet seit 2002 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Tübinger Ethikzentrum. Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen 452 Autor_innenverzeichnis Themen der Ethikvermittlung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern, außerdem Anwendungsfragen der Ethik in verschiedenen Bereichen, wie z. B. Medien, Körperlichkeit und Altern. Dr. Michael Nagenborg , Philosoph, ist seit 2013 Assistant Professor für Technikphilosophie an der Universität of Twente (NL) und dort seit 2014 auch geschäftsführender Direktor des 4 TU .Centre for Ethics and Technology. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in der Schnittmenge von Technikphilosophie, philosophischer Anthropologie und der Philosophie der Stadt. Dr. Sebastian Ostritsch , Philosoph, ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart; zudem ist er seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Seine Forschungsinteressen liegen in der Angewandten Ethik (derzeit v. a. Ethik der Computerspiele), Metaethik, Klassischen Deutschen Philosophie (insbesondere Hegel), Philosophie der Existenz sowie Philosophie der Zeit und Ewigkeit. Prof. Dr. Thomas Potthast , Biologe und Philosoph, ist Professor für Ethik, Theorie und Biowissenschaften und - zusammen mit Regina Ammicht Quinn - Leiter des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Er forscht und lehrt zu inter- und transdisziplinären Themen im Schnittfeld zwischen Wissenschaften und politischen Problemstellungen, u. a. zu ethischen Fragen gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Dr. Thomas Quinn studierte Philosophie an der Universität von Massachusetts / Boston und promovierte in Germanistik an der Universität von Kalifornien / Berkeley. Seine philosophisch-literarischen Hauptinteressen sind Goethe, Kleist, Nietzsche, Heidegger, Adorno, Habermas und Rosa. Er hat im Bereich der Kommunikation für internationale Unternehmen in Deutschland gearbeitet und zahlreiche Unternehmenspublikationen geleitet. Prof. Charles Raab is a political scientist and public policy specialist with research interests in privacy, data protection, surveillance, security, and in regulatory practices and ethics in these subjects. He is in the School of Social and Political Science at the University of Edinburgh, and is a Director of the Centre for Research into Information, Surveillance and Privacy (CRISP). He also chairs the Independent Digital Ethics Panel for Policing ( IDEPP ), established by the UK ’s National Police Chiefs’ Council in order to develop and apply ethical norms to digital practices in the field of law-enforcement and related matters. Autor_innenverzeichnis 453 Dr. Benjamin Rampp , Soziologe, ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Allgemeine Soziologie der Universität Trier und seit 2016 dort Postdoc im Projekt „Theorie der Resilienz“ der DFG -Forschergruppe „Resilienz. Gesellschaftliche Umbruchphasen im Dialog zwischen Mediävistik und Soziologie“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Soziologische Theorie, Resilienz, Politische Soziologie, Soziologie der Sicherheit, Gouvernementalität und die Soziologie des Vertrauens. Dr. Philipp Richter , Philosoph, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt und mit dem Internatnionalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften assoziierter Wissenschaftler. Zu seinen Forschungsgebieten zählen methodologische Fragen der Angewandten Ethik, die Didaktik der Philosophie / Ethik und transzendentale Argumentationen in der Metaethik. PD Dr. Margret Ruep , Erziehungswissenschaftlerin, Ministerialdirektorin a.D., ist Privatdozentin am Karlsruher Institut für Technologie ( KIT ). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Fragen der Organisationsentwicklung in Bildungssystemen, insbesondere mit Blick auf die Einflüsse der Globalisierung und der damit verbundenen Vielfalt kultureller Muster. Aktuell unterstützt sie den Schulentwicklungsprozess einer internationalen Schule in Kairo. Dr. Mone Spindler ist Soziologin und seit 2012 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen tätig. Sie arbeitet schwerpunktmäßig zum Thema Alter(n), zu medizin- und techniksoziologischen Fragen sowie zu Interdisziplinarität. Prof. Dr. Pawan Surana , emeritierte Professorin für Deutsche Sprache und Literatur der Universität von Rajasthan, Jaipur (Indien). Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Germanistik, Fremdsprachendidaktik, Frauenstudium. Derzeit ist sie Secretary General der Indo German Society, Jaipur und Präsidentin der Goethe Society of India. Prof. Dr. Rainer Treptow ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Tübingen. Er ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik und Sozialarbeit, den Formen Sozialer Hilfen, der Pädagogik der Frühen Kindheit und der kulturellen Bildung. 454 Autor_innenverzeichnis PD Dr. Dietmar J. Wetzel , Soziologe, ist seit 2016 Co-Leiter des SNF -Projektes „Transformative Gemeinschaften als innovative Lebensformen? “ am Seminar für Soziologie der Universität Basel. Zudem ist er Privatdozent an der Friedrich- Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorien, Kultur- und Wirtschaftssoziologie, insbesondere (Finanz-)Märkte und Gemeinschaften, Gedächtnis- und Resonanzsoziologie. Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing , Arzt und Philosoph, seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Ethik in der Medizin an der Universität Tübingen sowie Vorstandsmitglied des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen wissenschaftstheoretische Fragestellungen der Medizin und die ethischen Herausforderungen in der Medizin angesichts neuerer technischer Entwicklungen. Prof. Dr. Jean-Pierre Wils , Lehrstuhl für philosophische Ethik und Kulturphilosophie, Radboud Universität (Nijmegen, NL ). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Grundlagen der hermeneutischen Ethik, Ethik des Gesundheitswesens, Kunst- und Religionsphilosophie. Schriftenverzeichnis (Auswahl) Regina Ammicht Quinn 1. Monographien Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Paradigmawechsel in der Theodizeefrage. Freiburg i. Ue./ Freiburg / i.Br.: Universitätsverlag 1992. Körper, Religion und Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter (1999), Mainz: Matthias Grünewald 2004. Glück - der Ernst des Lebens, Freiburg i. Br.: Herder 2006. 2. Herausgeberschaften Gutachten für den 21. Deutschen Präventionstag am 6./ 7. Juni 2016 in Magdeburg. Prävention und Freiheit. Zur Notwendigkeit eines Ethik-Diskurses, Tübingen 2016. Abrufbar unter: http: / / www.praeventionstag.de/ html/ download.cms? id=500&datei=Gutachten_21DPT-500.pdf (Stand: 03. 11. 2016). Ethik in den Wissenschaften. 1 Konzept, 25 Jahre, 50 Perspektiven. Tübingen 2015 (mit Thomas Potthast). Religion und Identität in Post-Konflikt-Gesellschaften. Concilium 1, 2015 (mit Milan Babic / Zoran Grozdanov / Susan Ross / Marie-Theres Wacker). Theologie, Anthropologie und Neurowissenschaften. Concilium 4, 2015 (mit Thierry- Marie Courau / Hille Haker/ Marie-Theres Wacker). Korruption. Corruption. Concilium 5, 2014 (mit Lisa Cahill / Luiz Carlos Susin). Sicherheitsethik. Wiesbaden: Springer VS 2013. „Guter“ Sex. Moral, Moderne und die Katholische Kirche. Paderborn: Schöningh 2013. Schriftenreihe „Heimat und Identität“, 2010-2011. Evil Today and Struggles to be Human. Concilium 1, 2009 (mit Marie-Theres Wacker / Diego Irarrázabal / Felix Wilfred). Homosexualitäten / Homosexualities. Concilium 1, 2008 (mit Erik Borgman / Norbert Reck). Fremde / Werte. Der Ruf nach Werten in einer Welt interkultureller Begegnungen. Lehren und Lernen 1, 2007. Wert-loses Wissen? Über den Zusammenhang von Schule, Bildung und Ethik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007 (mit Gisela Badura-Lotter / Margarete Knödler- Pasch / Georg Mildenberger / Benjamin Rampp). AIDS . Concilium 3, 2007 (mit Hille Haker). A Structural Betrayal of Trust. Struktureller Vertrauensbruch. Über den Skandal des Missbrauchs in der Kirche. Concilium 2, 2004 (mit Hille Haker / Maureen Junker- Kenny). 456 Schriftenverzeichnis The Discourse of Human Dignity. Menschenwürde in der Debatte. Concilium 2, 2003 (mit Maureen Junker-Kenny / Elsa Tamez). The Body and Religion. Körper und Religion. Concilium 2, 2002 (mit Elsa Tamez). 3. Reihenherausgeberschaften mit Gregor Hoff, Andreas Nehring, Wolfgang Stegemann, Christian Strecker, Joachim Valentin: Reihe ReligionsKulturen, Stuttgart: Kohlhammer-Verlag. mit Cordula Brand, Birgit Kröber, Thomas Potthast, Urban Wiesing: Tübinger Studien zur Ethik. Tübingen: Narr / Francke / Attempto. 4. Beiträge in Büchern und Zeitschriften Fundamente und feste Burgen: Fragen nach einer sicheren Religionsarchitektur. In: Goertz, Stephan / Hein, Rudolf B./ Klöcker, Katharina (Hrsg.) Fluchtpunkt Fundamentalismus? Gegenwartsdiagnosen katholischer Moral. Freiburg / Basel / Wien 2016, 283-304. Sicherheitspraktiken und Säkularisierungsdiskurse: Versuch über Schutzmantelmadonnen, Körperscanner und die Notwendigkeit einer Sicherheitsethik, die auch verunsichert. In: Fischer, Susanne / Masala, Carlo (Hrsg.) Innere Sicherheit nach 9 / 11. Sicherheitsbedrohungen und (immer) neue Sicherheitsmaßnahmen? Wiesbaden 2016, 61-81. Leben im Niemandsland. In: Religion und Identität in Post-Konflikt-Gesellschaften. Concilium 1, 2015, 27-35. Alter, Technik, Ethik. Ein Fragen- und Kriterienkatalog. Tübingen 2015, (mit Maria Beimborn / Selma Kadi / Nina Köberer / Mara Mühleck / Kaja Tulatz / Mone Spindler). Abrufbar unter: http: / / hdl.handle.net/ 10900/ 67562 (Stand: 04. 11. 2016). Der Frauenkörper als Aushandlungsort: Vom nötigen neuen theologischen Sprechen über Schwangerschaftsabbrüche. In: Bucher, Rainer / Oxenknecht-Witzsch, Renate (Hrsg.) Was fehlt? Leerstellen der katholischen Theologie in spätmodernen Zeiten: Ein Experiment. Würzburg 2015, 169-192. Trust Generating Security Generating Trust: An Ethical Perspective on a Secularized Discourse. In: Rampp, Benjamin / Endreß, Martin (Hrsg.) Behemoth. A Journal on Civilization 8: 1, 2015. Abrufbar unter: http: / / ojs.ub.uni-freiburg.de/ behemoth/ article/ view/ 855 (Stand: 03. 11. 2016). „Sie und andere Ihres Geschlechts wollen in Kutschen fahren“: Ethik und gender / queer. In: Ammicht Quinn, Regina / Potthast, Thomas (Hrsg.) Ethik in den Wissenschaften. 1 Konzept, 25 Jahre, 50 Perspektiven. Tübingen 2015, 129-137. Corpus Delicti: Körper - Religion - Sexualität. In: Steinplatz, Anna u. a. (Hrsg.) KATHARINA feier. Kritisch - theologisch - feministisch. Eine Nachlese. Salzburger interdisziplinäre Diskurse Bd. 6. Frankfurt 2015, 159-174. Schriftenverzeichnis 457 Sicherheitsethik in der Anwendung: Ein Praxistest gesellschaftlicher Begleitforschung. In: Zoche, Peter / Kaufmann, Stefan / Arnold, Harald (Hrsg.) Sichere Zeiten? Gesellschaftliche Dimensionen der Sicherheitsforschung. Münster 2015, 219-234 (mit Tobias Matzner). Mit der Biologie allein kann man nicht argumentieren - Genderfragen und Sexualethik. Ein Gespräch mit Regina Ammicht Quinn. In: Bünker, Arndt / Schmitt, Hans- Peter (Hrsg.) Familienvielfalt in der katholischen Kirche. Zürich 2015, 103-111. Severing a Relationship of Trust: Ubiquitous Corruption. In: Ammicht Quinn, Regina / Susin, Luiz Carlos / Cahill, Lisa (Hrsg.) Corruption. Concilium 5, 2014, 3-11. „No Soul to Damn, No Body to Kick“: Fragen nach Verantwortung im Kontext der Herstellung von Sicherheit. In: Daase, Christopher / Engert, Stefan / Kolliarakis, Georgios (Hrsg.) Politik und Unsicherheit. Strategien einer sich wandelnden Sicherheitskultur. Frankfurt / New York 2014, 119-134. Kultivirati Ljudsko: Politika, Etika i Religija. In: Franjevacki Institut Za Kulturu Mira: Bosna I Hercegovina - Europska Zemlja Bez Ustava. Znanstveni, Etivki I Pliticki Izazov. Sarajevo / Zagreb 2014, 46-57. Vulnérabilité et honte. Essai éthique à propos des corps „non-approprieés“. In: Thiel, Marie-Jo (Hrsg.) Les Enjeux Éthiques Du Handicap. Strasbourg 2014, 121-134. Verletzbarkeit und Scham. Ein ethischer Versuch über „unpassende Körper“. In: Thiel, Marie-Jo (Hrsg.) Ethische Fragen der „Behinderung“. Ethical Challenges of Disability (deutsch-englische Ausgabe). Berlin / Wien 2014, 87-100. Überlegungen zum Scheitern von Integration. In: Lefebvre, Solange / Couture, Denise / Chakravarty, K. Gandhar (Hrsg.) Mit Unterschieden leben. Living with Diversity. Concilium 2, 2014, 18-28. Keuschheit. Ein Versuch über ein merkwürdiges Möbelstück. FAMA 30: 3, 2014, 9-11. Sicherheitsethik. Eine Einführung. In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) Sicherheitsethik. Wiesbaden 2013, 15-49. Was ist „zivile“ Sicherheit? In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) Sicherheitsethik. Wiesbaden 2013, 253-265 (mit Michael Nagenborg). Politikberatung in der Sicherheitsethik. Für ein gesellschaftliches Unsicherheitsmanagement. In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) Sicherheitsethik. Wiesbaden 2013, 267-276 (mit Jessica Heesen). Ethik und Sicherheitstechnik. Eine Handreichung. In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) Sicherheitsethik. Wiesbaden 2013, 277-296 (mit Michael Nagenborg / Benjamin Rampp / Andreas F. X. Wolkenstein). Einführung. In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) „Guter“ Sex. Moral, Moderne und die Katholische Kirche. Paderborn u. a. 2013, 7-13. Sexualität und Moral: A Marriage Made in Heaven? In: Ammicht Quinn, Regina (Hrsg.) „Guter“ Sex. Moral, Moderne und die Katholische Kirche. Paderborn u. a. 2013, 196-210. Fundamente und feste Burgen: Fragen nach einer „sicheren“ Religionsarchitektur. In: Goertz, Stephan / Hein, Rudolf B. / Klöcker, Katharina (Hrsg.) Fluchtpunkt Fundamentalismus? Gegenwartsdiagnosen katholischer Moral. Freiburg 2013, 283-304. 458 Schriftenverzeichnis Die Innenseite der Außenseite der Innenseite. Die zwei Körper des Königs und die Frage der Gewalt. In: Glavac, Monika / Höpflinger, Anna-Katharina / Pezzolo-Olgiati, Daria (Hrsg.) Second Skin. Körper, Kleidung, Religion. Göttingen 2013, 237-250. Sind interreligiöse Bewegungen politisch relevant? In: Zimmermann, Olaf / Geißler, Theo (Hrsg.) Islam - Kultur - Politik. Aus Politik und Kultur 11 (Deutscher Kulturrat e. V.), 2012, 200-203. Sei denn behutsam! Furcht gibt Sicherheit (Hamlet): Fragen nach einer Ethik der Sicherheit. In: Hoff, Gregor Maria (Hrsg.) Sicher - unsicher. Salzburger Hochschulwochen, 2011, Innsbruck 2012, 121-144. Zwischen Angstdiskursen und Akzeptanzfragen: Grundlagen einer Sicherheitsethik. In: Würtenberger, Thomas (Hrsg.) Innere Sicherheit im europäischen Vergleich (Zivile Sicherheit. Schriften zum Fachdialog Sicherheitsforschung, Bd. 1). Berlin 2012, 217-230. Fahrradbremse oder Navigationssystem: Was ist, will und kann eine Ethik der Sicherheit? In: Gerhold, Lars / Schiller, Jochen (Hrsg.) Perspektiven der Sicherheitsforschung. Beiträge aus dem Forschungsforum Öffentliche Sicherheit. Frankfurt 2012, 55-76. Vom Sinn des Überflüssigen. Politische Ethik im Kontext der Geisteswissenschaften. In: Mittelstrass, Jürgen / Rüdiger, Ulrich (Hrsg.) Die Zukunft der Geisteswissenschaften in einer multipolaren Welt (Reihe Konstanzer Wissenschaftsforum, Bd. 5). Konstanz 2012, 73-88. Ethik der Integration. In: Ariens, Elke u. a. (Hrsg.) Multikulturalität in Europa. Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft. Bielefeld 2012, 109-124. Integration und Identität. Irritatio. Forum Hochschule & Kirche, 2012, 5-8. Wert und Würde der Verunsicherung. Schlangenbrut 30: 2, Band 117, 2012, 16. Wissen, was man tut - Ethische Perspektiven auf Fragen ziviler Sicherheit und auf die Sicherheitsforschung in Deutschland. In: Nielebock, Thomas / Meisch, Simon / Harms, Volker (Hrsg.) Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Baden-Baden 2012, 255-269 (mit Michael Nagenborg). Dangerous Thinking: Gefährliches denken / gefährliches Denken. Gender and Theology. Concilium 4, 2012, 13-25. Ethik und Sicherheit. In: Rothfuß, Andreas / Universität Tübingen (Hrsg.) Hochschulsicherheit. Dokumentation eines Symposiums. Tübingen 2012, 91-101. Foreword. In: Baptist, Anthony John: Together as Sisters. Hagar and Dalit Women. New Delhi 2012, XIII - XVI . Die Würde des Menschen ist antastbar. Versuch über eine solidarische Gesellschaft. Vortrag in der Heimstatt Esslingen, 2012. Abrufbar unter: http: / / www.heimstatt-esslingen.de/ data/ files/ 144/ Vortrag_AmmichtQuinn_26.10.2012.pdf (Stand: 03. 11. 2016). Schriftenreihe „Heimat und Identität“. Beiträge zum Dialog: Stadt und Land im Fluss: Integration und Ländliche Räume 2, 2011. Schriftenreihe „Heimat und Identität“. Beiträge zum Dialog: Heimat im Netz? Web 2.0, Identitäten und Integration 3, 2011. Schriftenverzeichnis 459 Offene Gesellschaft, religiöse Vielfalt: Sind interreligiöse Bewegungen politisch relevant? politik & kultur. Zeitschrift des Deutschen Kulturrats. Dossier: Islam - Politik - Kultur 1: 11, 2011, 9. Menschenwürde - auch für die „Anderen“? Zwischen Normalität, Perfektion und Angewiesensein. In: Wuckelt, Agnes / Pithan, Annebelle / Beuers, Christoph (Hrsg.) „Und schuf dem Menschen ein Gegenüber …“ - Im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesensein (Forum für Heil- und Religionspädagogik Bd. 6), Münster 2011, 19-31. Living with Losses: The Crisis in the „Christian West“. In: Keenan, James F. (Hrsg.) Catholic Theological Ethics: Past, Present, and Future. The Trento Conference. New York 2011, 60-69. The Ground is moving under our Feet: The Crisis in the „Christian West“. Doctrine and Life 61: 6, 2011, 3-15. Von Origenes bis American Pie II : Sexualität und Moral. Katechetische Blätter 136: 5, 2011, 325-331. Glück als Ernst des Lebens. In: Reusch, Siegfried (Hrsg.) Glück. Ein philosophischer Streifzug. Stuttgart 2011, 71-86. Versuch über eine Ethik der Scham. Mediation, Themenheft „Scham“, 3, 2011, 13-19. Wenn der Boden unter den Füßen schwankt. Die Theodizeefrage im Kontext von Katastrophen. Diakonia 4, 2011, 223-229. An Ethics of Body Scanners: Requirements and Future Challenges from an Ethical Point of View. In: Wikner, David A. / Luukanen, Arttu R. (Hrsg.) Passive Millimeter Wave Imagining Technology XIV . SPIE Proceedings, Volume 8022, 2011 (mit Benjamin Rampp / Andreas F. X. Wolkenstein). „It’ll turn your heart black you can trust“: Angst, Sicherheit und Ethik. Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, Vol. 78, Ökonomie der Sicherheit, 136-149 (mit Benjamin Rampp). Körperscanner - Sicherheiten und Unsicherheiten. Forum Kriminalprävention 10 (1), 2010, 14-20 (mit Andreas Traut / Michael Nagenborg / Benjamin Rampp). Sicherheit, Sicherheitsethik, Gerechtigkeit. In: Sicherer als sicher? Recht, Wahrnehmung und Wirklichkeit in der staatlichen Risikovorsorge. Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), 2010, 45-52. Körperscanner. Information Philosophie 38 (5), 2010, 60-66 (mit Benjamin Rampp / Andreas Traut). Integration und Identität. Das „christliche Abendland“ und die religiöse Vielfalt. Herder Korrespondenz Spezial: Konflikt und Kooperation: Können die Religionen zusammenfinden? 64: 2, 2010, 42-47. Von Hühnern und Kamelen: Deutschland und „der Islam“. Frankfurter Rundschau, 19. 10. 2010. Über die Notwendigkeit narrativer Identitäten. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 32: 2, 2010, 126-130. 460 Schriftenverzeichnis Das Andere der Vollkommenheit: Stigma und Scham. In: Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hrsg.) Vollkommenheit. Archäologie der literarischen Kommunikation X, München, 2010, 41-52. Fleisch werden. Wort und Antwort 50, 2010, 155-160. Blut Christi und christliches Blut. Der Apfel 92: 1, 2010, 10. Abrufbar unter: http: / / documentslide.com/ documents/ nr-92.html (Stand: 03. 11. 2016). Rendere „queer“ la teologia morale: de-moralizzare e ri-moralizzare la sessualità. In: Auiero, Antonia / Knauss, Stefanie (Hrsg.) L’Enigma Corporeità: Sessualità e Religione, Bologna 2010, 271-283. Schriftenreihe „Heimat und Identität“. Beiträge zum Dialog. Staatsministerium Stuttgart, 1 / 2010. Cult, Culture and Ambivalence: Images and Imaginations of the Body in Christian Traditions and Contemporary Lifestyles. In: Baert, Barbara (Hrsg.) Fluid Flesh. The Body, Religion and the Visual Arts. Leuven 2009, 67-82. Der Wert des eigenen Nachthemds. Bürgerinnen zweiter Klasse und die Demokratisierung der Demokratie. In: Azcuy, Virginia R./ Eckholt, Margit (Hrsg.) Citizenship - Biografien - Institutionen. Perspektiven lateinamerikanischer und deutscher Theologinnen auf Kirche und Gesellschaft. Münster / Berlin 2009, 69-80. Fleisch werden. Kult und Kultur des Körpers in Geschichte und Gegenwart. In: Valentin, Joachim (Hrsg.) Wie kommt Gott in die Welt? Fremde Blicke auf den Leib Christi. Frankfurt / Leipzig 2009, 70-95. Sexuelle, moralische, religiöse Identitäten: Annäherung an ein gelingendes Leben. In: Baron, Anna Maria / Bauer, Ilse / Weinkamm, Max (Hrsg.) Präventionsarbeit in der Schwangerenberatung. München 2009, 41-49. Bekenntnis: Die Außenseite der Identität. Versuch über J. M. Coetzees Roman „Schande. Liturgisches Jahrbuch, 59: 2, 2009, 113-124. Sexualität und Sünde. Moralische Körper-Fragen. In: Orth, Stefan (Hrsg.) Eros - Körper - Christentum. Freiburg 2009, 64-81. Vom Schrecken der Vielstimmigkeit. In: Bucher, Rainer / Heil, Christoph / Larcher, Gerhard / Sohn-Kronthaler, Michaela (Hrsg.) Blick zurück im Zorn? Kreative Potentiale des Modernismusstreits. Innsbruck 2009, 233-240. The Ethical Dimension of Terahertz and Millimeter-Wave Imaging Technologies - Security, Privacy and Acceptability. SPIE Proceedings: Defense, Security, and Sensing, 2009, Conference: Optics and Photonics in Global Homeland Security V, Orlando, SPIE (mit Benjamin Rampp). “Naked Machines“: Wirkung und Wirkungslosigkeit von Ethik und Recht im Angesicht neuer Techniken - (In)effectiveness of ethics and law in the face of new technologies. In: Estermann, Josef (Hrsg.) Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung. Beiträge zum Kongress "Wie wirkt Recht? " Bern und Beckenried 2009, 171-179 (mit Ari Ofengenden). Zeugenschaft oder „schmutzige Hände“? Nachdenken über eine ethische Neubewertung strategischen Handelns. In: Hafner, Johann Ev. (Hrsg.) Takt und Tacheles ( FS Hanspeter Heinz). München 2009, 37-52. Schriftenverzeichnis 461 „Wir“ und „die anderen“. In: Homosexualitäten. Concilium 1, 2008, 1-7. Die Natur und das Widernatürliche. Schlangenbrut 101, 2008, 5-8. Crossing Borders: Cultures, Identities, and the Ginkgo Tree. In: Gnanapragasam, Patrick / Schuessler Fiorenza, Elisabeth (Hrsg.) Negotiating Borders. Theological Exploration in the Global Era ( FS Felix Wilfred, Madras). New Delhi 2008, 33-44. Risiken und Nebenwirkungen: Wann sind Vorbilder “gut”? In: Bizer, Christoph u. a. (Hrsg.) Jahrbuch der Religionspädagogik. Neukirchen-Vluyn 2008, 65-78. Vater - Mutter - Mensch. Räume des Christlichen in der Rückkehr der Religionen. In: Andreas Nehring / Joachim Valentin (Hrsg.) Religious Turns - Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse, neue religiöse Wissensformen, Stuttgart 2008, 120-134. Feministische Ethik und die anthropologische Grundkategorie der Körperlichkeit. In: Spieß, Christian / Winkler, Katja (Hrsg.) Feministische Ethik und christliche Sozialethik, Münster 2008, 145-184. Asymmetrie in pädagogischen Beziehungen. In: Heimbach-Steins, Marianne / Kruip, Gerhard / Neuhoff, Katja (Hrsg.) Bildungswege als Hindernisläufe. Zum Menschenrecht auf Bildung in Deutschland, Bielefeld 2008, 111-118. Liebe - Lust - Moral. Sexualpädagogische Arbeit auf dem Hintergrund christlicher Sexualmoral. Schriften der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg, 2007, 11-26. Wertewandel - Konsequenzen für die Bildung. Lehren und Lernen 1, 2007, 4-10. Vrouwen in de medische praktijk van de voortplanting en het spreken over bio-ethiek. Een standpuntbepaling. In: Theologie en bio-ethiek: ervaring, lichamelijkheid, autonomie, handicap. 47: 2, 2007, 116-135 (mit Monika Bobbert, Hille Haker, Marianne Heimbach-Steins, Ulrike Kostka, Dagmar Mensing, Mechthild Schmedders, Susanna Schmidt, Marlies Schneider). Blut Christi und christliches Blut. Über die Verfestigung einer Kategorie der christlichen Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte. In: Braun, Christina von / Wulf, Christoph (Hrsg.) Mythen des Blutes, Frankfurt 2007, 43-61. Strategien im Berufsfeld Universität: Fallstricke, Fußangeln und neue Chancen. FAMA 3, 2007, 5-7. Kampf um Anerkennung und soziale Scham. Zur Diskussion um die moralische und soziale Dynamik gesellschaftlicher Konflikte. In: Beck, Christian / Fischer, Wolfgang (Hrsg.) Damit alle leben können. Plädoyer für eine menschenfreundliche Ethik ( FS Johannes Hoffmann), Erkelenz 2007, 39-50. Scham und Ehrfurcht. Eröffnungsvortrag der Lindauer Psychotherapiewochen 2007. auditorium-netzwerk, 2007, ( DVD ). Moralisierungsversuche. Grenzen des ethischen Diskurses über Sexualität. In: Pethes, Nicolas / Schicktanz, Silke (Hrsg.) Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction, Frankfurt 2008, 221-236. Körper-Kult. Eine christliche Perspektive. Insicht. Bildung - Wissenschaft - Kultur im Raum der Kirche 2, 2006, 14-15. Das Glück, die Sorge und die Seligkeit. Christ in der Gegenwart 10, 2006, 157-158. 462 Schriftenverzeichnis Nicht lachen - die Kirche kann sich verändern. In: Ein neues Pontifikat: Zeit für Veränderungen? Concilium 3, 2006, 8-11. Was hat Eva mit Maria zu tun? Theologie, Ethik und die Kategorie Geschlecht. In: Konnertz, Ursula / Haker, Hille / Mieth, Dietmar (Hrsg.) Ethik - Geschlecht - Wissenschaft. Der ethical turn als Herausforderung für die interdisziplinären Geschlechterstudien, Paderborn 2006, 165-179. Von der Scham, im Leibe zu sein. Aufbruch. Zeitung für Religion und Gesellschaft 4, Basel 2006, 2. Ein Lehrstück in Widersprüchen: Homosexualität und Moraltheologie. Diakonia 37, 2006, 340-347. Diskurs, Praxis, Bewegung. Warum feministische Theologie notwendig ist. Herder Korrespondenz 7, 2006. Glück und Gnade. Versuch über Nancy Bedfords „Gnaden-Räume“. In: Eckholt, Margit / Pemsel-Maier, Sabine (Hrsg.) Räume der Gnade. Interkulturelle Perspektiven auf die christliche Erlösungsbotschaft. Stuttgart 2006, 87-96. Dialogfähige Identitäten. Das „christliche Abendland“ und die Frage nach dem interreligiösen Dialog. In: Heimbach-Steins, Marianne / Wielandt, Rotraud / Zintl, Reinhard (Hrsg.) Religiöse Identität(en) und gemeinsame Religionsfreiheit. Eine Herausforderung pluraler Gesellschaften. Würzburg 2006, 157-165. Die Frage nach Gott und dem Bösen im Horizont (un)bewältigter Vergangenheit. In: Klosinski, Gunther (Hrsg.) Über Gut und Böse. Wissenschaftliche Blicke auf die gesellschaftliche Moral, Tübingen 2006, 111-130. Frauen in der Praxis der Reproduktionsmedizin und im bioethischen Diskurs - eine Intervention. In: Hilpert, Konrad / Mieth, Dietmar (Hrsg.) Kriterien biomedizinischer Ethik. Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs, Freiburg / Basel / Wien 2006, 444-470 (mit Marianne Heimbach-Steins). Body Culture. In: Schweiker, William (Hrsg.) The Blackwell Companion to Religious Ethics, Malden, MA 2005, 527-535. Jung, schön, fit - und glücklich? In: Lederhilger, Severin (Hrsg.) Gott, Glück und Gesundheit. Erwartungen an ein gelungenes Leben, Frankfurt 2005, 72-88. Aus der Gnade gefallen. J. M.Coetzee’s „Disgrace“ und der ethische ‚Mehrwert’ des Ästhetischen. In: Garhammer, Erich / Langenhorst, Georg (Hrsg.) Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur. Würzburg 2005, 116-132. Das Innere des Körpers - das Andere des Körpers. Körper-Denken, Körper-Praxis und die Frage nach Heil. Wort und Antwort 46: 2, 2005, 64-79. Theologie. Re-Vision von Wissenschaft und Glaube: Zur Geschlechterdifferenz in der Theologie. In: Bußmann, Hadumod / Hof, Renate (Hrsg.) Genus. Geschlechterforschung / Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, 558-594. Körperkult und Körperverachtung. Blickpunkt Religionsunterricht 9, 2005, 5-15. Ein gebrochenes Herz? Die Frage nach dem Geschlecht des Christentums. In: Uhl, Florian / Boelderl, Artur R. (Hrsg.) Das Geschlecht der Religion. Berlin 2005, 229-254. Schriftenverzeichnis 463 Religiöse Formen, religiöse Inhalte und der Hunger nach Religion. In: Riedel-Spangenberger, Ilona / Zenger, Erich (Hrsg.) „Gott bin ich, kein Mann“. Beiträge zur Hermeneutik der biblischen Gottesrede. Paderborn u. a. 2005, 63-72. Von Menschen und Maschinen. Ethische Überlegungen zu einem dominanten Diskurs der Popularkultur. In: Mandry, Christof (Hrsg.) Kultur, Pluralität und Ethik. Perspektiven in Sozialwissenschaften und Ethik. Münster 2004, 137-150. Würde als Verletzbarkeit. 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Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 8 TSE 8 Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 8 Ethik als die Suche nach der Begründung des Guten und des Gerechten ist Teil jeder Kultur; umgekehrt weisen auch Ethiken verschiedene Kulturen ihrer Praxis auf. Die in diesem Band versammelten Beiträge nehmen unterschiedliche Blickwinkel ein, ohne dabei die Verbindung zu anderen Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. So bietet das Buch einen breiten Überblick über das Spektrum moderner ethischer Diskurse, von Grundfragen der Ethik über die Aspekte Politik, Religion, Gender, Körper, Technik, digitale Medien, Sicherheit bis zur Literatur. Bei aller Pluralität verbindet die Beiträge das Bemühen um eine Auseinandersetzung über Fachgrenzen hinweg und innerhalb der Diskussionsräume einer Gesellschaft, die sich immer wieder über ethische Orientierungen verständigen muss. ISBN 978-3-7720-8611-3 Brand et al. (Hrsg.) Ethik in den Kulturen Cordula Brand/ Jessica Heesen/ Birgit Kröber/ Uta Müller/ Thomas Potthast (Hrsg.) Ethik in den Kulturen ‒ Kulturen in der Ethik Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn