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Standardsprache zwischen Norm und Praxis

2017
978-3-7720-5623-9
A. Francke Verlag 
Winifred V. Davies
Annelies Häcki Buhofer
Regula Schmidlin
Melanie Wagner
Eva Lia Wyss

Die Standardsprache, auch als Hochdeutsch bezeichnet, die im deutschen Sprachraum in der öffentlichen Kommunikation, in den Schulen und in der Politik verwendet wird, ist uneinheitlich. Die Variation der Standardsprache wird in der Linguistik gegenwärtig mit plurizentrischen und pluriarealen Konzepten erfasst. In diesem Band werden neue Ergebnisse aus Forschungsprojekten zum Gebrauch und zur Bewertung der Standardsprache in Österreich, Deutschland, Luxemburg, Südtirol und der Deutschschweiz diskutiert. Einen besonderen Fokus bilden dabei die schulischen Praktiken.

Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke ISBN 978-3-7720-8623-6 www.francke.de Die Standardsprache, auch als Hochdeutsch bezeichnet, die im deutschen Sprachraum in der öffentlichen Kommunikation, in den Schulen und in der Politik verwendet wird, ist uneinheitlich. Die Variation der Standardsprache wird in der Linguistik gegenwärtig mit plurizentrischen und pluriarealen Konzepten erfasst. In diesem Band werden neue Ergebnisse aus Forschungsprojekten zum Gebrauch und zur Bewertung der Standardsprache in Österreich, Deutschland, Luxemburg, Südtirol und der Deutschschweiz diskutiert. Einen besonderen Fokus bilden dabei die schulischen Praktiken. Davies et al. (Hrsg.) Standardsprache zwischen Norm und Praxis Standardsprache zwischen Norm und Praxis W. V. Davies, A. Häcki Buhofer, R. Schmidlin, M. Wagner, E. L. Wyss (Hrsg.) N° 99 N° 99 N° 99 Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke ISBN 978-3-7720-8623-6 www.francke.de Die Standardsprache, auch als Hochdeutsch bezeichnet, die im deutschen Sprachraum in der öffentlichen Kommunikation, in den Schulen und in der Politik verwendet wird, ist uneinheitlich. Die Variation der Standardsprache wird in der Linguistik gegenwärtig mit plurizentrischen und pluriarealen Konzepten erfasst. In diesem Band werden neue Ergebnisse aus Forschungsprojekten zum Gebrauch und zur Bewertung der Standardsprache in Österreich, Deutschland, Luxemburg, Südtirol und der Deutschschweiz diskutiert. Einen besonderen Fokus bilden dabei die schulischen Praktiken. Davies et al. (Hrsg.) Standardsprache zwischen Norm und Praxis Standardsprache zwischen Norm und Praxis W. V. Davies, A. Häcki Buhofer, R. Schmidlin, M. Wagner, E. L. Wyss (Hrsg.) N° 99 N° 99 N° 99 Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Heike Behrens, Nicola Gess, Alexander Honold, Martin Luginbühl und Ralf Simon Band 99 Winifred V. Davies, Annelies Häcki Buhofer, Regula Schmidlin, Melanie Wagner, Eva Lia Wyss (Hrsg.) Standardsprache zwischen Norm und Praxis Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0067-4508 ISBN 978-3-7720-5623-9 Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 5 Inhaltsverzeichnis Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies Plurizentrik revisited - aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Theoretische Betrachtungen Martin Durrell Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Regula Schmidlin Normwidrigkeit oder Variationsspielraum? Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Konstantin Niehaus Die Begrenztheit plurizentrischer Grenzen: Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Robert Möller Deutsch in Ostbelgien - ostbelgisches Deutsch? . . . . . . . . . . . . . . . . 89 II. Empirische Studien Winifred V. Davies Gymnasiallehrkräfte in Nordrhein-Westfalen als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten . . . . . . . 123 Eva L. Wyss Sprachnormurteile im Dilemma. Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer an Deutschschweizer Gymnasien beurteilen Sprachkompetenzen, Sprachgebrauch und Zweifelsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Melanie Wagner Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg . . . 189 6 Inhaltsverzeichnis Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen. Ergebnisse des Forschungsprojekts „Österreichisches Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Aivars Glaznieks & Andrea Abel „So einen Fehler wird einem das ganze Leben lang verfolgen.“ Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 III. Interdisziplinäre Zugänge Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle Der EVAMAR II -Deutschtest für GymnasiastInnen - Implikationen für die Plurizentrik-Debatte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Stefan Neuhaus Wertung mit Grenzen. Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 IV. Sprachdidaktische Ausblicke Klaus Peter Sprachwissen als Schlüsselfaktor beim Umgang mit sprachlicher Variation im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Adriana Gatta Untersuchung des Korrekturverhaltens von Lehrpersonen auf der Sekundarstufe II in Bezug auf nationale Varianten der Schweizer Standardsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Chiara Scanavino Die Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts. Aktueller Forschungsstand und Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . 393 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 7 Plurizentrik revisited-- aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies Im deutschen Sprachraum finden sich unterschiedliche Konstellationen von Standardvarietäten, Umgangssprachen und Dialekten. Diese bestehen aus mündlichen und schriftlichen Repertoires, welchen die Sprecherinnen und Sprecher bestimmte Einstellungen entgegenbringen. Im vorliegenden Band fokussieren wir die Standardsprache in ausgewählten Regionen Deutschlands, in der Deutschschweiz, in Österreich, Luxemburg, Südtirol und Ostbelgien. Diese weist auf allen linguistischen Ebenen Besonderheiten auf und unterliegt unterschiedlichen Verwendungsbedingungen. Die Diskussion, wie die Variation der Standardsprache in den deutschsprachigen Ländern theoretisch adäquat beschrieben werden kann, wird schon lange geführt. Sie intensivierte sich ein erstes Mal in den 1980er Jahren im Kontext der Plurizentrikdebatte 1 und wird seit dem Erscheinen des Variantenwörterbuchs des Deutschen (Ammon et al. 2004, Ammon et al. 2016) auch im Hinblick auf empirisch-lexikographische Fragestellungen in verschiedenen Expertenkreisen geführt. Der monozentrische Blick auf die deutsche Sprache, der von einer geographischen Lokalisierbarkeit der Standardsprache ausging, wich der Fokussierung auf verschiedene so genannte Zentren (Ammon 1995), die aufgrund politisch und historisch autonomer Entwicklung eigene Varietäten hervorbrachten. Dies ist auch daran ersichtlich, dass zumindest teilweise zentrumseigene Kodices aus dieser Entwicklung hervorgingen und es damit zur Endonormierung der Standardsprache in den jeweiligen Zentren kam. Dem plurizentrischen Konzept mit einer plurinationalen Ausprägung (z. B. Clyne 1995) wurde sodann das pluriareale Konzept (Scheuringer 1996) mit einer regionalen Ausprägung kritisch gegenübergestellt. Die Unterschiede zwischen diesen Konzepten lassen sich folgendermassen beschreiben: Das plurizentrische Konzept geht davon aus, dass es gleichwertige, von staatlichen Grenzen beeinflusste (nationale) Standardvarietäten des Deutschen gibt und auch in so genannten Halbzentren (Südtirol, Liechtenstein, Luxemburg und Belgien) standardsprachliche Besonderheiten der deutschen Sprache zu finden sind; Ammon (1995) entwickelte ein theoretisch und terminologisch differenziertes Modell, das neben dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004, 2016) 1 Für einen Überblick s. Schmidlin (2011: 71 ff.). 8 Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies eine Reihe von empirisch fundierten Arbeiten zur Folge hatte (z. B. Markhardt 2005, Ransmayr 2006, Schmidlin 2011, Wissik 2014). Das Variantenwörterbuch dokumentiert auch länderübergreifende und regionale Phänomene, wobei für den bundesdeutschen Raum gemeinhin sechs und für Österreich vier regionale Räume angenommen wurden. 2 Das pluriareale Konzept (vgl. Ammon 1998) hingegen wurde zunächst in den 1990er Jahren, bisweilen sehr emotional (vgl. Scheuringer 1996, Seifter & Seifter 2015), als eine konzeptuelle und sprachenpolitische Gegenposition vorgebracht, ohne dass eine weitergehende theoretische Ausarbeitung und ein systematisches Begriffsinventar zur Analyse entwickelt wurden (Glauninger 2015). Im Gegenzug zum plurizentrischen Zugang betont man aus pluriarealer Perspektive sprachliche Unterschiede gerade innerhalb Deutschlands zwischen Norden und Süden oder innerhalb Österreichs zwischen Osten und Westen und führt die zahlreichen grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten auf, z. B. Übereinstimmungen zwischen Süddeutschland, Österreich und der Schweiz oder zwischen Westösterreich und Südostdeutschland oder zwischen Vorarlberg, Liechtenstein und der Schweiz. Auf dieser Basis hat sich im Rahmen detaillierter empirischer linguistischer Analysen, auch im Zuge der Weiterentwicklung der Korpuslinguistik, eine neue Ausprägung des pluriarealen Ansatzes entwickelt, der zwar, soweit Publikationen vorliegen, theoretisch (noch) nicht so ausgebaut und terminologisch ausdifferenziert ist wie die plurizentrische Theorie, der aber gewichtige empirische Befunde für eine pluriareale Konzeptualisierung des Deutschen vorlegt (s. Elspaß & Niehaus 2014, Dürscheid, Elspaß & Ziegler 2015, Niehaus in diesem Band). Anhand konkreter empirischer Analysen zur Variation in der Grammatik des Standarddeutschen (z. B. dem Gebrauch des Adjektivs n-jährig oder diskontinuierlicher Richtungsadverbien) wird argumentiert, dass der pluriareale Zugang standardsprachliche Variation adäquater erfassen kann als der plurizentrische und auch die Dynamik der Variation besser zum Ausdruck bringt (Herrgen 2015, Niehaus in diesem Band). In diesem theoretischen Spannungsfeld - und darüber hinaus - widmet sich der vorliegende Band der vertieften Reflexion und theoretischen Weiterentwicklung des Begriffsinventars, der Untersuchung spezifischer soziolinguistischer Praktiken und Bewertungsmuster in Bezug auf die Varietäten der deutschen Standardsprache. Die Beitragssammlung gliedert sich in vier Teile mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Während im ersten Teil stärker theoretische Aspekte wie zum Beispiel die Frage nach der Bestimmung und Abgrenzung von 2 Bereits in diesem Zusammenhang könnte man von „regionaler Plurizentrizität“ sprechen (vgl. Reiffenstein 2001: 88), wie dies auch Dürscheid, Elspaß & Ziegler (2015: 213) zwar erwähnen, die aber „dem neutraleren Terminus ‚pluriareales Deutsch‘ den Vorzug“ geben. Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 9 Standardsprachen gegeneinander sowohl aus plurizentrischer als auch pluriarealer Perspektive diskutiert werden (Durrell, Schmidlin, Niehaus, Möller), gibt der zweite Teil Einblicke in neuere empirische Studien, die an der Schnittstelle zwischen Norm und schulischer Praxis zu Forschungsergebnissen zu den Standardvarietäten in Österreich, Deutschland, Luxemburg, Südtirol und der Deutschschweiz geführt haben (de Cillia, Fink & Ransmayr; Davies; Wagner; Wyss; Glaznieks & Abel). Im dritten Teil des Bandes wird die Diskussion sowohl in Richtung Bildungswissenschaft als auch in Richtung Literaturwissenschaft geöffnet: Darin werden Fragen zum schulischen Normvermittlungserfolg und zu geographisch-territorialen Aspekten literarischer Kanonisierung behandelt (Gehrer, Oepke & Eberle; Neuhaus). Im vierten Teil werden sprachdidaktisch relevante Überlegungen zur Bewertung von Varianten vorgestellt - in Abhängigkeit von Sprachbewusstheit und Sprachwissen sowie in Abhängigkeit weiterer, aussersprachlicher Faktoren (Peter, Gatta). Abgeschlossen wird der vierte Block mit einem Beitrag zur Thematisierung von Teutonismen in Lernerwörterbüchern (Scanavino). 3 Im Folgenden werden die Hauptargumentationslinien der Beiträge kurz skizziert. I. Theoretische Betrachtungen Im einleitenden Beitrag dieses Bandes stellt Martin Durrell zwei Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts zur Diskussion. Da ist zunächst die Annahme, dass die deutsche nationale Identität eine ethnolinguistische Basis hat und dann der daraus resultierende Topos, dass in Deutschland die sprachliche Einheit der politischen Einheit vorausging und die unabdingbare Voraussetzung für diese bildete. Durrell argumentiert, dass der Mythos einer grundlegenden, homogenen Sprache dazu beiträgt, dass die faktische Heterogenität der deutschen Sprache (vor allem auf mündlicher Ebene) ausser Acht gelassen wird und dass man sich auf die standardisierte schriftliche Varietät des Deutschen bezieht, wenn man die Sprache als Symbol der nationalen Identität instrumentalisiert. Dieser Mythos der einheitlichen Sprache hat auch die Perzeption des Deutschen als monozentrischer Sprache geprägt. Ferner zeigt Durrell mit Bezug auf neuere historische Untersuchungen des „Alten Reichs“, dass die sprachliche Einigung doch in einem Staatsgebilde stattfand, mit dem sich die Bildungselite 3 Zur diatopischen Variation in Wörterbüchern s. die soeben erschienene Monographie von Sutter 2017, die im vorliegenden Band leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte. 10 Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies identifizierte und das sich nicht so stark von einem modernen Nationalstaat unterschied, wie oft angenommen wird. Entlang von Kleins Modell zur Erfassung sprachlicher Zweifelsfälle (Klein 2003) zeigt Regula Schmidlin, dass die Varianten des Standarddeutschen als freie, graduelle und konditionierte Zweifelsfälle betrachtet werden können. Dabei erweitert sie Kleins Modell um die Sprecherperspektive, hängt doch die Beurteilung der Korrektheit von regionalen und nationalen Varianten des Standarddeutschen von der regionalen Herkunft des zweifelnden Subjekts ab. Schmidlin plädiert dafür, nicht nur der Dynamik der Varietäten selbst, sondern auch der Dynamik der Einschätzung der Varietäten in Lehr- und Lernkontexten vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Das Zweifeln über die Richtigkeit und Angemessenheit sprachlicher Varianten ist ein willkommener Anlass und Anfang von Sprachreflexion. Ein kompetenter Umgang mit lexikographischen und korpuslinguistischen Hilfsmitteln kann dabei Inkongruenzen zwischen subsistenten, statuierten und intuitiv vermuteten Normen aufzeigen. Konstantin Niehaus präsentiert Erkenntnisse aus dem österreichischschweizerischen Projekt „Variantengrammatik des Standarddeutschen“, das die grammatische Variabilität des Standarddeutschen untersucht. Der Autor fokussiert den Mehrwert der korpus- und systemlinguistischen Zugangsweise und zeigt anhand von exemplarischen Analysen einzelner Konstruktionen, dass verschiedene Teilbereiche der Grammatik des Standarddeutschen eine areale Variation aufweisen. Da diese Variation über Staatsgrenzen hinausgeht, wird sie - laut Niehaus - adäquater mit einem pluriarealen Modell als mit dem plurizentrischen erfasst. Der Autor geht auch auf sprachdidaktische Folgerungen für den Deutschunterricht ein und argumentiert für mehr Variationstoleranz, die man seiner Meinung nach eher durch das pluriareale Modell und die höhere theoretische Gewichtung relativer Varianten als durch das plurizentrische Modell erreichen kann. Die Eigenständigkeit der Standardsprache in Belgien stellt Robert Möller zur Diskussion, denn Deutsch ist in Belgien die Sprache einer kleinen Minderheit. Diese hat in den vergangenen Jahrzehnten zwar an Bedeutung gewonnen und spielt für die Identität der heutigen Ostbelgier eine wichtige Rolle. Die ostbelgischen Varianten werden aber explizit von der deutschen Standardsprache abgegrenzt (im Sinne von Varianten der „Regionalsprache“). In einem Überblick stellt Möller die Heterogenität der Konstellation in den Vordergrund, indem er den dialektalen Hintergrund der Region und ihre Teilung in das südliche Moselfränkisch und das nördliche Ripuarisch sowie die nachbarschaftliche Nähe zu Deutschland hervorhebt und dabei auch historische Entwicklungen in Verwaltung und Schulwesen identifiziert. Schliesslich weist er darauf hin, dass gerade die Identifikation mit Belgien dazu führt, dass die Pflege der Mehrsprachigkeit Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 11 zumeist einen höheren Stellenwert hat als die eingehende Beschäftigung mit dem Deutschen. II. Empirische Studien In den Beiträgen von Winifred V. Davies, Eva L. Wyss & Melanie Wagner werden die Ergebnisse der Studie „Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“ vorgelegt, die an den Universitäten Aberystwyth, Basel und Luxemburg durchgeführt wurde. Das Projekt untersucht das Normbewusstsein und -wissen von DeutschlehrerInnen an Gymnasien in Luxemburg, Deutschland (Nordrhein-Westfalen) und der deutschsprachigen Schweiz und beschäftigt sich mit ihrer Rolle als Sprachnormautoritäten. Anhand von Daten, die mit Hilfe von Fragebögen erhoben wurden, werden die Praktiken der Lehrenden in den drei verschiedenen Ländern beleuchtet, in denen die deutsche Sprache eine jeweils unterschiedliche Rolle spielt: Winifred V. Davies beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Rolle von DeutschlehrerInnen in einer bestimmten deutschen Region (Nordrhein-Westfalen) und untersucht, inwiefern das Plurizentrik-Modell, das in der Soziolinguistik bisher dominant war, den Lehrenden überhaupt bekannt ist und sich auf ihre Praxis auswirkt. Davies zeigt, dass das Modell in den Lehrplänen, die die Lehrenden befolgen sollen, nicht vorkommt und keine Relevanz für sie besitzt. Sie zeigt auch, dass die Meinungen der Lehrenden darüber, was als korrekt bzw. standardsprachlich gilt, nicht immer mit den Meinungen der Kodifizierer übereinstimmt, was das Konzept einer einheitlichen variationsfreien Standardsprache weiter in Frage stellt. Mit einem Fokus auf die Schweizer Sprachsituation zeigt Eva L. Wyss die Komplexität, die der Überlagerung von Diglossie und Plurizentrik in der Deutschschweiz erwächst. In einem ersten Teil werden die aktuellen Ergebnisse zu konstellativen, medialen, spracherwerbsbezogenen und unterrichtlichen Spezifika des deutschschweizerischen Raumes zusammengefasst, was in einer Kritik am weit verbreiteten Diglossiekonzept mündet, das gemäss Wyss durch eine differenzierte Sprachgebrauchsbeschreibung abgelöst werden sollte. Im zweiten Teil werden die Daten der erwähnten international vergleichenden Studie aus Deutschschweizer Perspektive ausgewertet. Hier finden sich bei den DeutschlehrerInnen sehr vage und variate Standardsprachkonzepte, die auch in den Curricula (vgl. Davies in diesem Band) nachgewiesen werden können. Darauf abgestützt erstaunt nicht weiter, dass auch die sprachdidaktische Situation von DeutschlehrerInnen nicht einhellig als muttersprachlich wahrgenommen 12 Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies wird. Schliesslich werden die divergierenden Einschätzungen der Sprachsituation und wenig loyale Bewertungen von deutschschweizerischen Standardkonstruktionen durch die Lehrenden in drei Typen unterschieden - einmal als Anpassung an die höher bewertete Sprachform, dann als Eigenständigkeit sowie als eine Lücke im Sprachwissen. Diese Sprachgebrauchsrealität wird im Anschluss mit der Metapher des „schielenden Blicks“ erläutert, durch die eine konzeptionelle Inkohärenz als eine Überlagerung der Eigen- und Fremdperspektive begriffen wird. Melanie Wagner widmet sich in ihrem Beitrag dem Status der deutschen Sprache im luxemburgischen Gymnasium. In einem ersten Schritt beleuchtet sie die Sprachensituation Luxemburgs sowie die aktuell angewandte Lehrmethode für das Fach Deutsch im luxemburgischen Schulsystem. Sodann stellt sie die Ergebnisse einer Befragung von DeutschlehrerInnen vor und liefert eine Analyse der Curricula des Fachs Deutsch im Gymnasium sowie von Leitlinien zur Sprachplanung und Sprachpolitik in Luxemburg. Anhand der Ergebnisse der Befragung und der Analyse der Dokumente zeigt sie, dass eine klare Kategorisierung der Lehrmethode für das Fach Deutsch (Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache) nicht möglich ist, was die Frage aufwirft, ob Luxemburg, wo Deutsch hauptsächlich Schulsprache, jedoch weder Umgangsnoch Erstsprache ist, heutzutage tatsächlich noch ein Halbzentrum im plurizentrischen Modell darstellt (vgl. Ammon 1995). Rudolf de Cillia, Ilona Fink & Jutta Ransmayr berichten über das FWF -Forschungsprojekt „Das österreichische Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“. Anhand einer Analyse von Lehrplänen, Studienplänen an Universitäten und pädagogischen Hochschulen, Lehrmitteln und einer Fragebogenerhebung bei Lehrpersonen und SchülerInnen aus ganz Österreich wird untersucht, ob das Konzept der Plurizentrik in der Ausbildung von Lehrenden bekannt ist, wie das Korrekturverhalten zur Sprachloyalität der eigenen Varietät in Beziehung gesetzt werden kann und ob eine Sensibilisierung der SchülerInnen für die Variation der deutschen Sprache stattfindet. Auch wenn das Konzept der Plurizentrik kaum bekannt ist, ist ein Bewusstsein für unterschiedliche Ausprägungen der deutschen Standardsprache durchaus vorhanden. Allerdings fallen die Einschätzungen der Varietäten unterschiedlich aus - beispielsweise je nach dem, ob man die Korrektheit oder Gleichwertigkeit von Varianten thematisiert. Es ergibt sich ein Komplex unterschiedlicher Variablen, die die Spracheinstellungen der Lehrkräfte beeinflussen, was wichtige Ansatzpunkte für künftige Vergleiche mit Lehrpersonen aus anderen Regionen des deutschen Sprachgebiets darstellt. Der Aufsatz von Aivars Glaznieks & Andrea Abel präsentiert Ergebnisse linguistischer Analysen zur grammatischen Kompetenz aus einem korpuslinguistischen Forschungsprojekt zum Thema „Bildungssprache im Vergleich“, in Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 13 dem auf der Basis von ca. 1300 Erörterungsaufsätzen aus Südtirol, Nordtirol und Thüringen die Schreibkompetenz von Oberschülerinnen und -schülern ein Jahr vor der Matura bzw. dem Abitur beschrieben wird. Interessant ist dabei die Tatsache, dass die Alltagssprache der meisten Schülerinnen und Schüler nicht mit der schulischen Varietät, der sogenannten Bildungssprache, gleichzusetzen ist, die im schulischen Kontext erwartet und schliesslich auch bewertet wird. Je nach Region kann die Alltagssprache mehr oder weniger grosse Unterschiede zur Standardsprache aufweisen und zudem durch regionale und nationale Varianten charakterisiert sein. In der Untersuchung gehen Glaznieks & Abel auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Schreibenden bei grammatischen Normverstössen ein. Dazu gehört die Frage, ob und gegebenenfalls welche regionalen Unterschiede bei Schreibenden im deutschen Sprachraum feststellbar sind, oder die Frage, inwiefern andere aussersprachliche Variablen wie Schultyp und Geschlecht in Bezug auf die Verteilung grammatischer Normverstösse eine Rolle spielen. Dabei stehen in der Darstellung der Ergebnisse Analysen zur Rektion im Mittelpunkt. Glaznieks & Abel interpretieren die meisten vorkommenden Rektionsfehler als Normunsicherheiten, die auf die gleichzeitige Beherrschung von verschiedenen Normen zurückzuführen sind. Bei Präpositionen mit Nebenkasus wird aber davon ausgegangen, dass sie als Zweifelsfälle beschrieben werden können, die vielen Deutschsprachigen Schwierigkeiten bereiten, egal, ob diese mehr als eine Norm beherrschen oder nicht. Es wird vorgeschlagen, authentische Beispiele für Zweifelsfälle, die in den Texten der Schülerinnen und Schüler vorkommen, im Unterricht zu verwenden, um eine Diskussion über angemessenen Sprachgebrauch anzuregen sowie die Lernenden unter Umständen auch auf Sprachwandelprozesse aufmerksam zu machen. III. Interdisziplinäre Zugänge Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle überprüfen, ob die für die Schweiz repräsentativen empirischen Daten der Studie EVAMAR II für die sprachwissenschaftliche Plurizentrik-Debatte innerhalb des Deutschen ein gewisses Analysepotenzial bieten und ob für sprachliche Leistungsunterschiede auf universitärem Niveau empirische Hinweise für den Einfluss der Familiensprache (bzw. der Familienvarietät) gefunden werden können. Es wird gezeigt, dass bei MaturandInnen aus einem Elternhaus mit Sozialisation in Schweizerdeutsch und Schweizer Standardsprache gegenüber MaturandInnen aus einem Elternhaus mit bundesdeutscher Standardsprache weder im Gesamttest noch in den einzelnen Subskalen (Grammatik / Orthographie, Leseverstehen, Wortschatz) signifikant voneinander abweichende Ergebnisse erzielt werden. Es existieren so- 14 Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies mit auf den ersten Blick keine auffälligen Sprachstandsunterschiede. Allerdings vermuten die AutorInnen, dass dies auch an den insgesamt hohen Hürden für das Gymnasium in der Schweiz liegt, die auf die Ausprägung der sprachlichen Fähigkeiten bereits selektiv wirken. Brisant sind dabei die grossen Unterschiede in den Leistungen zwischen den Schülerinnen und Schülern und das Defizit am unteren Ende der Leistungsskala. Die Literaturauswahl, kanonisiert in Literaturgeschichten, orientiert sich traditionell - wie Stefan Neuhaus zeigt - an den geographisch-territorialen Grenzen eines gesamtdeutschen Sprachraums. Weder die Betonung von Frauennoch von MigrantInnen-Literatur haben diese territoriale Dominanz der Kategorisierung brechen können. Neben nationalen (die Literatur von Österreich und der Schweiz ist von deutschen Literarhistorikern allzu gern zur ‚deutschen‘ Literatur gerechnet worden) sind regionale Perspektiven auf Literatur dazugekommen. Obschon aber nach 1945 die Nationalismen zurückgedrängt wurden und Literaturgeschichten dem Nationalismus abgeschworen haben, orientieren sich diese weitgehend an dem früheren, an staatlichen oder regionalen Grenzen orientierten Einteilungssystem. Die Literatur spielt im Identitätsdiskurs eines Landes nach wie vor eine zentrale Rolle. Neuhaus beschreibt eine seit dem 18. Jahrhundert laufende Entwicklung, die von der gewachsenen Bedeutung der Grenzen einer imaginären deutschen, österreich-ungarischen oder schweizerischen Nation über eine Auflösung des Nationalitätsdispositivs hin zu einer erneuten Stärkung der nationalen oder auch regionalen, in jedem Fall geographischen Komponente im gesellschaftlichen Diskurs führt. Dies sei z. B. an der gewachsenen Bedeutung von nationalen oder regionalen Literaturgeschichten, Literaturarchiven oder Literaturpreisen ablesbar. IV. Sprachdidaktische Ausblicke In seiner Pilotstudie zum deklarativen Wortwissen von Lehrpersonen zeigt Klaus Peter, welche Rolle Sprachbewusstheit und Sprachwissen der bewertenden oder korrigierenden Person beim Umgang mit sprachlicher Variation spielt. Das Sprachwissen ist einerseits als Bedeutungswissen und andererseits als enzyklopädisches Wissen konzeptualisiert. In Bezug auf die Erforschung von Bewertungen regionaler Varianten folgert Peter, dass eine umfassende Interpretation einer Variantenbewertung nur dann gelingen kann, wenn sowohl Daten zu den Spracheinstellungen als auch zum individuellen Sprachwissen (oder der individuellen Sprachbewusstheit) der bewertenden Person vorliegen. Seine Ausführungen zeigen somit einen Schwachpunkt vieler bisheriger Spracheinstellungsuntersuchungen auf; dass nämlich oft zu wenig unterschieden wird, ob Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 15 einer Gewährsperson eine Variante bekannt ist oder ob sie gerade im Bereich der Semantik über volle Kompetenz im Sinne von Besitz von enzyklopädischem Wissen zu einem Wort verfügt oder nicht. Einsichten in das Normverständnis von Schweizer Lehrkräften bietet der Beitrag von Adriana Gatta. Sie untersucht, wie Lehrpersonen auf der Sekundarstufe II mit Helvetismen in Aufsätzen verfahren, ob und wie die Lehrpersonen die Helvetismen korrigieren und wie sie diese bewerten. Die Auswertung erfolgt nach den aussersprachlichen Faktoren Alter, Ausbildung, Schulstufe und Unterrichtserfahrung der Lehrpersonen. Zwar zeigen sich jüngere Lehrpersonen etwas toleranter gegenüber Helvetismen als ältere, die anderen Faktoren scheinen auf die festgestellte Helvetismenskepsis jedoch keinen Einfluss zu haben (vgl. Davies in diesem Band, Wyss in diesem Band). Ein Effekt zeigt sich jedoch in Bezug auf die sprachliche Ebene der Variation; so wurden syntaktische Helvetismen am häufigsten korrigiert. Einen kritischen Blick auf die Lernerlexikographie wirft Chiara Scanavino. Zunächst thematisiert sie Missverständnisse, die sich aus der gängigen Terminologie zur Beschreibung der Varianten und ihrer Positionierung gegenüber den Nicht-Varianten ergeben können (vgl. dazu schon von Polenz 1988), und schlägt bspw. für letzteren Fall interdeutsch anstelle von gemeindeutsch vor. Es folgt ein Überblick über die Darstellungsweisen von Teutonismen in Lernerwörterbüchern, wobei die Auto-Kennzeichnungen sowohl der österreichischen und schweizerischen Varianten als auch der Varianten der Bundesrepublik Deutschland von Scanavino für die Angemessenheit der lexikographischen Darstellung als wichtiges Kriterium betrachtet wird. Insgesamt bezeichnet Scanavino die Darstellung von Varianten der Standardsprache in Lernerwörterbüchern als noch nicht zufriedenstellend. Sie plädiert für eine stärkere strukturelle Orientierung an enzyklopädischen Wörterbüchern und fordert eine nestalphabetische Darstellung der Lemmata, wobei auch deren Frequenz und kontextuelle Einbettung berücksichtigt werden sollen. Fazit und Ausblick Der Blick auf den Entwicklungszusammenhang der deutschen Standardsprache, der den Auftakt des vorliegenden Bandes bildet, weist auf die historische Verankerung der Plurizentrik des Deutschen. 4 Die deutsche Standardsprache wurde zwar als Kultursprache hypostasiert. Gleichzeitig kann ihre Einheitlichkeit für 4 Für einen Überblick über die historische Entwicklung nationaler Varietäten s. Kellermeier-Rehbein (2014: 137-158). Auer (2013: 18 f.) schätzt, dass die nationale Prägung des Begriffs der Plurizentrik erst auf die Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts zurückgeht, 16 Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies keine Epoche nachgewiesen werden. Welches Gewicht soll nun aber heute der nationalen Zugehörigkeit beigemessen werden, wenn es zur Kategorisierung der Varietäten der deutschen Standardsprache kommt? Die Beantwortung dieser Frage erweist sich deshalb als schwierig, weil erstens die nationale Zugehörigkeit historisch und kulturell zwar weiterhin sozial verankert ist, was sich etwa in der literarischen Kanonbildung noch immer nachweisen lässt, weil aber zweitens gleichzeitig Nationalismen als soziale Kategorien (zu Recht) hinterfragt werden und ihre Überwindung gefordert wird. Die soziokulturelle Wirkung national-territorialer politischer Grenzen bei der Beschreibung von Sprachvariation zu negieren, wäre unseres Erachtens aber der falsche Weg. Gerade in Bezug auf die Verwendung der deutschen Standardsprache zeigt sich die Wechselwirkung der statuierten und subsistenten Normen, die die Sprecherinnen und Sprecher nachweislich prägen, wodurch bestimmte Formen des Standardsprachgebrauchs weitertradiert werden, die sowohl national als auch regional erkennbar bleiben. Wenn nun Vertreterinnen und Vertreter des plurizentrischen Ansatzes, die biographisch meist selbst aus kleineren Zentren stammen, mit dieser Modellierung auch die ökonomische, sprachliche und diskursive Dominanz des bundesdeutschen Zentrums thematisieren, wird dies zuweilen als Aufbegehren der sprachlich Dominierten ausgelegt, das mit einem nationalistisch motivierten Variantenpurismus einhergehen kann. Dabei wird ausgeblendet, dass auch eine plurizentrische Modellierung der Sprachvariation Überlappungen von Merkmalen entlang verschiedener Kontaktzonen darstellen kann und die nationale Variationsdimension als eine neben anderen Variationsdimensionen verstanden werden kann. Ziel dieses Bandes war es nicht, sich zwischen der rege diskutierten, einer stärker der Dialektologie verpflichteten pluriarealen Modellierung einerseits und der soziolinguistisch-institutionell argumentierenden plurizentrischen Modellierung andererseits zu positionieren. Vielmehr können die hier vorliegenden Beiträge zeigen, dass mit den pluriarealen resp. plurizentrischen Modellen nicht die deutsche Standardsprache mit ihren Varietäten erschöpfend erfasst werden kann, sondern dass sie sich besser oder schlechter eignen können, um bestimmte Repräsentationsformen der deutschen Standardsprache darzustellen: mündlich, schriftlich; lexikalisch, lautlich, syntaktisch; in Bezug auf ihre (schulische) Bewertung; in Bezug auf regionale oder überregionale Pressetexte; in Bezug auf literarische Sprache oder Schulbuchtexte; in der Lernersprache; in Lernerwörterbüchern. Dazu kommt die Heterogenität der Areale selbst. So wird die deutsche Standardsprache in Luxemburg und Belgien unter ganz anderen wohingegen der historische regionale Plurizentrikbegriff noch auf dialektal geprägte Standardvarietäten Bezug nimmt. Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 17 Bedingungen verwendet als in den so genannten Vollzentren, was entsprechende theoretische Konsequenzen für die Beschreibung ihrer Variation nach sich zieht. Einige der hier versammelten Beiträge gehen insofern über die strukturelle Beschreibung der Varianten hinaus, als sie ihre kognitive Repräsentation zusätzlich begrifflich zu fassen versuchen, so etwa als Perspektivenüberlagerung (Wyss) oder als freie, graduelle oder konditionierte Zweifelsfälle im Urteil der Sprecherinnen und Sprecher (Schmidlin). Wie schon frühere Studien (Scharloth 2005, Schmidlin 2011), so zeigen auch einige der hier vorliegenden Beiträge, dass selbst unter den Vollzentren, die von Ammon als gleichrangig betrachtet werden, eine sprachmarktbedingte Asymmetrie besteht, die gerade von Deutschlehrerinnen und -lehrern verinnerlicht zu werden scheint und ihre Korrekturpraxis dahingehend prägt, dass die (nicht-bundesdeutschen) Standard-Varianten primär als Normabweichungen gesehen werden. Es ist zu vermuten, dass, nicht zuletzt aus arbeitsökonomischen Gründen im Schulalltag, die Lehrkräfte sich für ihre Beurteilung eher auf subsistente Normen stützen denn auf Kodices, wo die standardsprachlichen Varianten durchaus thematisiert würden. Besonders hingewiesen sei an dieser Stelle auf Peters berechtigte Forderung, Spracheinstellungserhebungen mit Sprachwissenserhebungen zu koppeln. Da wir diese Forderungen im Hinblick auf zukünftige Studien, die die Einstellungen von Sprecherinnen und Sprechern gegenüber den Varianten des Standarddeutschen thematisieren, für wichtig halten, seien sie an dieser Stelle wiederholt: 1. Die Bewertung von sprachlichen Varianten ist nicht nur Ausdruck der Spracheinstellungen, sondern immer auch Ausdruck der Sprachbewusstheit oder des Sprachwissens der bewertenden Person. 2. Eine umfassende Interpretation einer Variantenbewertung kann nur dann gelingen, wenn nicht nur Daten zu den Spracheinstellungen, sondern auch zum individuellen Sprachwissen (oder der individuellen Sprachbewusstheit) der bewertenden Person vorliegen. 3. Bei Untersuchungen zur Bewertung von Sprachvarianten sollte jeweils auch die Kenntnis der Variantenbedeutung kontrolliert werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Tatsache, dass Sprecherinnen und Sprechern ein Wort bekannt ist, noch wenig darüber aussagt, ob sie auch alle Verwendungsweisen des Wortes im aktuellen Sprachgebrauch kennen. (Peter in diesem Band, Kap. 5.) Welche Konsequenzen die schulische, asymmetrische Korrektur von Varianten des Standarddeutschen für den Erwerb von Schriftsprache und Textkompetenz in verschiedenen Regionen des deutschen Sprachgebiets hat, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschätzt werden. Die Frage, wie sich die eingangs des vorliegenden Kapitels erwähnten unterschiedlichen Varietäten-Konstellationen 18 Regula Schmidlin, Eva L. Wyss & Winifred V. Davies auf das schulische Schreiben und den Umgang mit Normen auswirken, und zwar sowohl auf die Textproduktion der SchülerInnen als auch auf die Textbewertung der LehrerInnen, ist bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Es wäre lohnenswert, hier korpusanalytisch zu untersuchen, worin sich unter einheitlichen Bedingungen erhobene Schülertexte aus den verschiedenen Regionen des deutschen Sprachraums auf verschiedenen sprachlichen Ebenen unterscheiden. Dabei könnte in variationstheoretischer Hinsicht geprüft werden, inwiefern sich die Konzepte der Plurizentrik bzw. der Pluriarealität der deutschen Standardsprache, wie sie für die Beschreibung lexikalischer und grammatischer Variation vornehmlich der geschriebenen Mediensprache im deutschen Sprachraum herangezogen werden können, für die Beschreibung der Sprachnormkonzepte eignen oder ob sich Struktur- und Diskursmuster in den Schülertexten (bspw. in argumentativen Texten) sowie die Bewertungsmuster räumlich entweder gar nicht oder dann abweichend von den Konzepten der Plurizentrik oder Pluriarealität fassen lassen. Daher wäre es wünschenswert, die Frage der Standardvarietäten im internationalen deutschsprachigen Raum in der Ausbildung von DeutschlehrerInnen stärker mitzuberücksichtigen und insbesondere auch bei der Schulbuchkonzeption (für alle Stufen und Schultypen) im Blick zu haben. Eine Erweiterung der Perspektive in kulturlinguistische Richtung könnte mit einer Verknüpfung bisheriger Ergebnisse mit diskurstheoretischen Untersuchungen zur Schulkultur erreicht werden, bei der die Art und Wirkung von auf- und abwertenden Kulturpraktiken in der schulischen Interaktion fokussiert werden. Dabei könnte untersucht werden, auf welche Weise diskursive Präferenzen zu einem Normalisierungsprozess im institutionellen Kontext der Schule führen. Gegenwärtig wird in einem Sprachkulturraum, in dem interkulturelle Begegnungen alltäglich sind, in vielen Kontexten sprachliche Flexibilität erwartet. Im deutschsprachigen Raum verwenden zahlreiche Sprecherinnen und Sprecher in ihrem Alltag mehrere Sprachen und Varietäten und partizipieren somit an verschiedenen Varietätenkulturen. Dennoch erleben sie ihre innere Mehrsprachigkeit oft nicht als Gewinn, sondern als Defizit. Die Varianten des Standarddeutschen, auch wenn diese als standardsprachlich kodifiziert und in der Schriftsprache belegbar sind, betrachten sie letztlich doch eher als Normabweichung denn als Bereicherung ihres sprachlichen Repertoires. Wir meinen, dass diese Problematik es verdient, in der DeutschlehrerInnenausbildung und im Deutschunterricht auf allen Stufen regelmässiger thematisiert zu werden. Aktuelle Perspektiven auf die Variation der deutschen Standardsprache 19 Dank Im Namen aller Herausgeberinnen sei den Kolleginnen und Kollegen herzlich gedankt, die die Beiträge in einem anonymen Peer-Review-Verfahren kritisch begutachtet und somit zur Qualität des vorliegenden Bandes beigetragen haben. Nadine Mathys, Regula Gschwend und Alexandra Schiesser, Universität Freiburg (Schweiz), danken wir für ihre grosse Hilfe bei der Einrichtung und Korrektur der Beiträge. Den Beiträgerinnen und Beiträgern selbst danken wir nicht nur für ihre Texte und die gute Zusammenarbeit, sondern auch für ihre Geduld. Literatur Ammon, Ulrich, Hans Bickel & Alexandra N. Lenz (2016) (Hrsg.): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie in Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. 2., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Berlin: de Gruyter. Ammon, Ulrich, Hans Bickel, Jakob Ebner, Ruth Esterhammer, Markus Gasser, Lorenz Hofer, Birte Kellermeier-Rehbein, Heinrich Löffler, Doris Mangott, Hans Moser, Robert Schläpfer, Michael Schlossmacher, Regula Schmidlin & Günter Vallaster (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. 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Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum In diesem Beitrag werden zwei Ansichten über das Verhältnis zwischen Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert zur Diskussion gestellt, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, die jedoch, wie hier gezeigt werden soll, eng miteinander verknüpft sind und auf Auffassungen über den Verlauf der deutschen Geschichte in dieser Zeit zurückzuführen sind, die die neueste historische Forschung in Frage gestellt hat. Als erstes geht es um die ethnolinguistische Grundlage des deutschen Nationalismus, m. a. W. um die Annahme, dass die deutsche nationale Identität in Ermangelung anderer signifikanter identitätsstiftender Merkmale, wie z. B. eines klar definierbaren Territoriums, allein auf der gemeinsamen Sprache basieren könnte. Daraus entstand der besonders im 19. Jahrhundert verbreitete Topos, dass in Deutschland die sprachliche Einheit der politischen Einheit vorausging und die unabdingbare Voraussetzung für diese bildete - in den von Meinecke (1908) geprägten Termini hatte nach der nationalistischen Ideologie der Zeit eine Sprachnation (und eventuell auch eine Kulturnation) schon lange be- 1 Frühere Fassungen dieses Beitrags wurden als Vorträge in Oxford, Leiden und Nottingham gehalten und ich muss hier den Gastgebern für ihre Einladungen danken sowie auch den Zuhörern, die sich bei diesen Anlässen freundlicherweise zu Wort gemeldet haben. Noch verbleibende Fehler fallen selbstverständlich dem Verfasser zu. 24 Martin Durrell standen, die die Bildung einer Staatsnation in der Gestalt des „kleindeutschen“ Reichs von 1871 rechtfertigte. Aus der Perspektive der Soziolinguistik erscheint der Begriff einer einheitlichen deutschen Sprache im frühen 19. Jahrhundert jedoch hoch problematisch, denn das Sprachgebiet bestand um diese Zeit aus einem äußerst heterogenen Dialektkontinuum, in dem Sprecher aus entfernten Gegenden sich nur mit großer Schwierigkeit verständlich machen konnten. Wie Barbour (1994: 332) sagt: „[…] probably no other European language is so diverse, and groups of dialects elsewhere which show a similar diversity are considered to be several languages“ (vgl. auch Durrell 2002). Dieser Topos trat in einer Rezension von Misha Glenny (2014) in der britischen Zeitung „The Observer“ neulich wieder auf, in der er anlässlich eines Buches über die ethnische und sprachliche Vielfalt Indonesiens schrieb: „What was it that bound Catholic Bavaria to Protestant Prussia? It clearly wasn’t religion, or language.“ Hier spielt er klar auf die alltägliche Beobachtung an, dass man in Berlin anders spricht als in München, aber in diesem Zusammenhang interessieren vor allem die Anspielungen auf die Mythen um die Bildung eines deutschen Nationalstaats. Diese sprachliche Heterogenität steht anscheinend in krassem Widerspruch zu der Annahme, dass sich die politische Einigung auf die Einheit der Sprache gründete und darin ihre Rechtfertigung fand. Diese Auffassung war jedoch im 19. Jahrhundert - vor allem im Nachhinein, nach der Reichsgründung 1871 - allgemein akzeptiert, und sie gilt auch heute noch als Gemeinplatz der Geschichte. In einer Rezension des Bandes, in dem Durrell (2002) erschien, schrieb Bonnell (2003: 146), dass Durrells Beitrag „challenges long-conventional assumptions about German linguistic unity preceding political unity“. An dieser Stelle möchte ich jedoch die in Durrell (2002) vertretenen Ansichten sowie auch den Topos der sprachlichen Einheit als Grundlage für die politische Einigung revidieren, denn erstens ist es klar, dass man trotz der eben besprochenen Vielfalt der Erscheinungsformen schon im ausgehenden 18. Jahrhundert von einer „deutschen Sprache“ in einem in diesem Zusammenhang relevanten Sinne sprechen kann. Und zweitens hat es um diese Zeit trotz der späteren Behauptungen einer nationalistischen Ideologie auch ein politisches Gebilde gegeben, das wir mit guten Gründen als einen „deutschen“ Staat bezeichnen dürfen und in dem die deutsche Sprache die wesentlichen Stadien im Prozess der Standardisierung durchmachte. Dieses Gebilde war dann ein wichtiger Fokus für die nationale Identität. Diese Erkenntnis ist m. E. eine klare Folgerung aus der neuen historischen Forschung, insbesondere Whaley (2012) und Wilson (2016), die die Geschichte des „Alten Reichs“ völlig neu evaluiert hat und Einsichten bietet, die eine Überprüfung der herkömmlichen Ansichten über das Verhältnis von Sprache und Nation im deutschsprachigen Raum in dieser Zeit notwendig machen. Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation 25 2. Der ethnolinguistische Nationalismus im 18. und 19. Jahrhundert Bei dem ersten der zu besprechenden Themen ist es aus der Perspektive der modernen Soziolinguistik klar, dass die Tatsache der sprachlichen Heterogenität für die Annahme einer vorwiegend ethnolinguistischen Grundlage für den deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert problematisch erscheinen dürfte. Jedoch erscheint diese Annahme durch die Aussagen zeitgenössischer Autoren als vollständig gerechtfertigt. Im 1785 erschienenen 2. Teil seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ hatte Herder die Ansicht vertreten, dass die Sprache die menschliche Natur widerspiegele und dass jede Sprache also der unverkennbare Ausdruck des Charakters eines besonderen Volkes in der menschlichen Gemeinschaft sei. Für ihn waren alle Sprachen gleichberechtigt und hatten jeweils das Wesentliche der Identität des Sprachvolks durch alle Zeiten gestiftet. So sei nach ihm der natürlichste Staat (Herder 1984: III / 1, 337) „also Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter“, denn die Sprache verbinde ein Volk mit seiner Vergangenheit und die Grenzen eines jeweiligen Staates sollten sich mit dem historischen Territorium des Sprachvolks decken. Herders Überlegungen zum Verhältnis von Volk, Sprache und Staat wurden während der traumatischen Jahre der napoleonischen Kriege und nach dem Ende des „Alten Reichs“ weiter ausgebaut zu einem klar artikulierten nationalistischen Diskurs. Dieser neue Nationalismus sah genau wie Herder die Sprache als bestimmendes Merkmal der deutschen Nation. Das dringendste Ziel war aber jetzt die Befreiung der deutschen Lande und der deutschen Kultur von der Bedrohung durch die fremde Herrschaft und so findet man etwa bei Fichte nicht mehr Herders Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit aller Sprachen, sondern die Vorstellung der grundlegenden Überlegenheit der deutschen Sprache insbesondere gegenüber der französischen. So liest man in den „Reden an die deutsche Nation“ (zit. nach Dieckmann 1989: 45): Das deutsche Volk ist das ursprüngliche, das unverfälschte Volk, das gegen die militärische wie kulturelle Unterjochung durch Frankreich um seine Freiheit und Identität kämpft und dabei im Dienste eines höheren geschichtlichen Auftrags handelt. […] Nach Jahrtausenden, und nach allen den Veränderungen, welche in ihnen die äußere Erscheinung der Sprache dieses Volks erfahren hat, bleibt es immer dieselbe Eine, ursprünglich also ausbrechenmüssende lebendige Sprachkraft der Natur, die ununterbrochen durch alle Bedingungen herab geflossen ist, und in jeder so werden mußte, wie sie ward, am Ende derselben so seyn mußte, wie sie jezt ist, und in einiger Zeit also seyn wird, wie sie sodann müssen wird. Die reinmenschliche Sprache zusammengenommen zuförderst mit dem Organe des Volks, als sein erster Laut ertönte; was 26 Martin Durrell hieraus sich ergiebt, ferner zusammengenommen mit allen Entwiklungen, die dieser erster Laut unter den gegebnen Umständen gewinnen mußte, giebt als letzte Folge die gegenwärtige Sprache des Volks. Darum bleibt auch die Sprache immer dieselbe Sprache. Hier findet man alle wesentlichen Bestandteile des ethnolinguistischen Nationalismus, so etwa den Begriff eines Volks, das durch seine einzigartige, überlegene Sprache gekennzeichnet ist. Der Charakter des Volks findet in dieser Sprache seinen unvergleichlichen Ausdruck; anders als die Franzosen, die ihr ursprüngliches Fränkisch gegen das Romanische getauscht haben, hat das deutsche Volk seine Sprache immer bewahrt, und zwar in einer Form, die trotz oberflächlicher Veränderungen immer gleich geblieben ist. Dieses Volk hat das Recht auf ein unabhängiges, einheitliches politisches Gebilde in seinem ererbten Territorium ohne Fremdherrschaft. Im 19. Jahrhundert wurde dann die Gleichsetzung von Sprache und Nation in Deutschland (wie auch oft anderswo) kaum hinterfragt. Für Hegel bildete der Volksgeist die Basis des Staats (vgl. Barnard 1965: 166-167) und für Jacob Grimm (1884: VII , 557) war bekanntlich „ein volk […] der inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden“, wie er in seiner berühmten Rede auf der Germanistenversammlung in Frankfurt im Jahre 1846 behauptete. Der britische Historiker Eric Hobsbawm (1992: 103) erklärte, dass man insbesondere in Bezug auf Deutschland nicht darüber staunen sollte, dass diese Ein-Volk-eine-Sprache- Ideologie vor allem dort verbreitet war, denn: For Germans […], their national language was not merely an administrative convenience or a means of unifying state-wide communication […]. It was more even than the vehicle of a distinguished literature and of universal intellectual expression. It was the only thing that made them Germans […], and consequently carried a far heavier charge of national identity than, say, English did for those who wrote and read that language. Am wichtigsten ist jedoch die Perzeption von gebildeten Deutschen im 19. Jahrhundert, dass für sie in erster Linie die Sprache identitätsstiftend war, dass dieses Identitätsgefühl das Streben nach einem einheitlichen Staat legitimierte und die Basis dafür bilden sollte. Der Topos, dass es allein die gemeinsame Sprache gewesen sei, die die Nation während der Jahre der politischen Fragmentierung nach dem Wiener Kongress zusammengehalten habe, sowie auch deren ideologische Bedeutung für die Reichsgründung 1871, kommt in einer Streitschrift von Emil du Bois Raymond vom Jahre 1874 sehr klar zum Ausdruck (zit. nach Dieckmann 1989: 348): „Die Sprache war lange beinahe das einzige Band, welches die jetzt das Reich ausmachenden deutschen Stämme zusammenhielt. Ihr Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation 27 verdankt das Reich seine Neuerstehung.“ Und in seinem großen Standardwerk zur Geschichte der deutschen Sprache akzeptiert von Polenz (2013: 10-11) sehr klar die Annahme, dass die politische Einigung auf der Basis der eher erfolgten identitätsstiftenden sprachlichen Einigung geschah: Im Laufe des 18. Jh.s hat die kulturpatriotische Bewegung - mehr als ein Jahrhundert vor der Gründung eines deutschen Nationalstaates - die Kodifizierung und gesellschaftliche Anerkennung der deutschen Schriftsprache als Kulturnationalsprache in den Oberschichten erreicht und auch in den deutschen Mittelschichten bis um 1800 eine mindestens passive deutsche Schriftsprachkompetenz und Sprachloyalität von der Nord- und Ostseeküste bis in die Alpenländer bewirkt. Sie stellt eine wichtige, aber noch rein kulturelle, noch nicht auf staatliche Macht hin orientierte Voraussetzung für die Entstehung des schwierigen, zwischen Kultur und Politik widersprüchlichen deutschen Nationalbewusstseins im 19. Jh. dar. 3. Die sprachliche Situation aus der Perspektive der Soziolinguistik 3.1. Zur Heterogenität des deutschen Sprachraums Wie Durrell (2002) zeigen wollte, muss diese Vorstellung von dem Verhältnis von Sprache und Nation im 19. Jahrhundert jedoch im Lichte der sprachlichen Vielfalt des deutschsprachigen Raumes hinterfragt werden, denn die Frage stellt sich, wie es angesichts der Heterogenität der damals existierenden Sprachformen zur Annahme einer einheitlichen „deutschen Sprache“ kommen konnte. Auch ist das von Herder, Fichte und nationalistischen Ideologen aufgestellte Postulat, dass eine solche grundlegende „deutsche“ Sprache seit Jahrhunderten (etwa seit dem Karolingerreich, wenn nicht noch früher) existiert habe, eine klare Fiktion. Dieses Postulat fußt jedoch auf verbreiteten Mythen über die Sprache, so wie sie Watts (2011, 2012) beschreibt, und zwar insbesondere auf dem „Mythos der grundlegenden homogenen Sprache“, dem „Mythos der unveränderlichen Sprache“ und dem „Mythos der althergebrachten Sprache“. Watts bezieht sich dabei in erster Linie auf das Englische, aber seine Einsichten lassen sich ohne grundsätzliche Änderungen auf das Deutsche übertragen, denn diese Mythen lassen sich ohne Weiteres im deutschsprachigen Raum belegen - nicht zuletzt weil sich die Skepsis gegenüber dem Konzept der Plurizentrizität letztendlich auf die Annahme des verbreiteten Mythos der grundlegenden homogenen Sprache zurückführen lässt. Auch ist es klar, dass die oben dargestellten Vorstellungen von Herder, Fichte und anderen über Sprache in solchen Mythen 28 Martin Durrell verankert sind. Dass sie grundlegende Probleme dieser Vorstellungen erkannt haben könnten, lässt sich gut aus Fichtes Versuch ersehen, die Tatsachen der beobachtbaren sprachlichen Änderungen zu verniedlichen und dadurch die Annahme einer seit Jahrhunderten bestehenden einheitlichen Sprache des Volks zu retten. Die in Durrell (2002) geäußerten Ansichten über die mit dem Versuch verbundenen Probleme, die Vorstellung einer einheitlichen „deutschen Sprache“ mit der Tatsache der Heterogenität der existierenden Sprachformen zu vereinbaren, liegt die Einsicht von Barbour (1991: 45) zugrunde, die „deutsche Sprache“ sei um 1800 „little more than a standard language spoken by a tiny minority of the population, superimposed on a group of related but highly divergent dialects with often almost no mutual comprehensibility“. Auch Mattheier (2000: 1951) schreibt, dass das Hochdeutsche um diese Zeit „eine minimale soziolinguistische Realität“ gehabt habe. Das „Hochdeutsche“ war nämlich Anfang des 19. Jahrhunderts eine fast ausschließlich in der Schrift verwendete Varietät, die im Laufe eines (zu dieser Zeit noch nicht vollständigen) schreibsprachlichen Standardisierungsvorgangs entstanden war. Sie wurde allein von einer bürgerlichen Elite verwendet und diese hatte sie nur im Bildungsprozess erwerben können, denn sie war keiner irgendwo gesprochenen Sprachform entstammt, sondern war das Ergebnis eines Selegierungsprozesses unter den regionalen Schreibsprachen der frühen Neuzeit. Haugen (1966) hat die europäischen Standardsprachen, die aus solchen Prozessen hervorgegangen sind, sehr treffend als „kulturelle Artefakte“ bezeichnet, und das gilt in sehr hohem Maße für das Hochdeutsche. Wie Barbour (1991, 1994) dargestellt hat, gibt es keinen rein linguistischen Grund, warum sich aus den regionalen Schreibsprachen der frühen Neuzeit nicht drei oder vier Standardsprachen entwickelten - und letztendlich lässt sich die heutige Plurizentrizität des Deutschen z. T. auf diese Unterschiede zurückführen. Im Hinblick auf die Vielfalt der gesprochenen Varietäten im deutschsprachigen Raum um 1800 und die Künstlichkeit und soziale Beschränktheit des Hochdeutschen muss gefragt werden, wie eine derartige sprachliche Einheitlichkeit vorausgesetzt werden konnte, die als ethnolinguistische Rechtfertigung für das Streben nach einem Nationalstaat im 19. Jahrhundert angesehen werden konnte. Trotz der oben angeführten Behauptungen von Herder, Fichte und anderen hat es im Karolingerreich natürlich kein einheitliches „deutsches“ Volk mit einer einheitlichen Sprache gegeben, der man dann eine ungebrochene Existenz bis in die Neuzeit zusprechen könnte. Diese Vorstellung war in den gebildeten Bevölkerungsschichten weit verbreitet, das lässt sich jedoch sehr klar auf die gängige Annahme einer (mythischen) grundsätzlich unveränderlichen, homogenen, althergebrachten Sprache zurückführen. Unter anderem Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation 29 widerspricht das Ablösen des Niederländischen aus dem westgermanischen Sprachkontinuum in der frühen Neuzeit und seine Entwicklung als selbstständige Standardsprache der These einer seit frühester Zeit erkennbaren und von den Sprachteilhabern selbst erkannten sprachlichen Einheit eines Volkes, das stets die gleiche „deutsche“ Sprache gesprochen habe (vgl. Durrell 2002, 2009). Mit der verbreiteten Akzeptanz dieser These kamen aber dann auch wissenschaftliche Bemühungen auf, die Geschichte dieser „Nationalsprache“ zu ergründen, die auf eine historisch basierte Legitimierung für einen Nationalstaat hinzielte, dessen Ursprung sich ebenfalls bis in früheste Zeiten zurückverfolgen ließe. Ähnliche Sprachgeschichten mit einer nationalistischen Zielsetzung entstanden zu dieser Zeit in anderen europäischen Ländern, z. B. in England (vgl. Crowley 2003). Die angeblich jahrhundertealte Einheit eines Volkes, das stets das gleiche „Deutsch“ gesprochen hätte, ist letztendlich ein Mythos der nationalistischen Sprachgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, die das Ziel hatte, die politische Einigung im Nachhinein zu rechtfertigen. Eine „Geschichte der deutschen Sprache“ wurde nämlich geschaffen, um zu beweisen, dass eine als „Deutsch“ erkennbare Sprache, und daher ein „deutsches“ Volk, mindestens seit der Gründung des Karolingerreichs existiert hätte. So gelang es den Sprachhistorikern, das ideologische Konstrukt von einem Volk zu etablieren, dessen Nationalbewusstsein sich bis zum Anfang seiner Geschichtsschreibung mit der Gründung seines ersten Staatsgebildes zurückverfolgen lässt. Dieses Nationalbewusstsein gründet sich seinerseits auf die Perzeption, dass die Mitglieder des Volks die gleiche Sprache redeten, die sie immer noch besitzen und nach der sie sich bezeichnet hatten (vgl. Durrell 2009), und nach der Auffassung der nationalistischen Sprachgeschichtsschreibung hätten sie dieses Bewusstsein einer grundlegenden ethnolinguistischen Einheit durch die Jahrhunderte der politischen Fragmentierung bewahrt. Dieses Konstrukt, das sich auch mit der gleichzeitig aufkommenden Vorstellung der „verspäteten Nation“ bzw. des deutschen „Sonderwegs“ (vgl. Wilson 2016: 3 u. 678) verbinden lässt, hatte einen außerordentlich kräftigen Symbolwert, vor allem weil es die Gründung eines neuen deutschen Nationalstaats durch den Bezug auf einen früheren legitimierte. Indem es auch auf andere gängige Vorstellungen über die deutsche Geschichte anspielt, hat es den Vorteil einer gewissen Plausibilität. Aber das Konstrukt ist letztendlich ein Mythos. 3.2. Zur sozialen Bedeutung von Standardsprachen An dieser Stelle müssen wir jedoch die Grenzen der soziolinguistischen Perspektive erkennen und uns vor deren Beschränktheit hüten. In den letzten 50 Jahren hat sich die relativ neue soziolinguistische Forschung darum bemüht, 30 Martin Durrell das ganze Spektrum der Variation in einer Sprachgemeinschaft und die Bedingungen des Gebrauchs von Varietäten und Varianten eingehend zu untersuchen und die Funktion der Variation in der Gesellschaft zu verstehen, neuerdings auch in einem historischen Kontext (vgl. u. a. Elspaß et al. 2007). Die Prestigebzw. Standardvarietät sollte nicht mehr den alleinigen Fokus der linguistischen Untersuchung bilden, wie es früher oft der Fall gewesen war, und Sprachwissenschaftler sind von den präskriptiven und normativen Traditionen der Vergangenheit abgekommen, die Milroy & Milroy (1999) treffend als die „Ideologie des Standards“ bezeichnet haben. Dazu gehört die Vorstellung, dass es nur eine gültige, bzw. „korrekte“ Form einer Sprache gebe und dass jede Abweichung von den Normen dieser Varietät als unrichtig oder schlecht zu betrachten sei. Auch wurde die Entstehung sowie auch der Status von Standardvarietäten in Sprachgemeinschaften eingehend untersucht, was zu der schon erwähnten Erkenntnis von Haugen (1966) führte, dass es sich bei diesen grundsätzlich um „kulturelle Artefakte“ handelt, die charakteristischerweise durch die häufig absichtlichen Bestrebungen einer Bildungselite entstehen, der es im Laufe der Zeit gelingt, die Sprachgemeinschaft zu überzeugen, dass nur die von ihr präferierten Sprachformen Gültigkeit besitzen und dass andere konkurrierende Formen nicht korrekt bzw. einfach schlecht seien (vgl. für das Deutsche Davies & Langer 2006). Dabei ist zu erkennen, dass diese Elite von dem Mythos einer grundsätzlich homogenen und unveränderlichen Sprache ausgeht und ihre Bemühungen als die Festlegung dieser Varietät für alle Zeiten versteht (vgl. Joseph 1987). Solche Standardsprachen sind dann typischerweise Sprachen der Macht, die ihr Prestige von der kulturellen Elite gewinnen, die sie geschaffen hat, und sie werden im Bildungswesen als die allein gültigen Formen aufgezwungen und des Öfteren mit dem Staat als „Nationalsprachen“ identifiziert. In diesem Fall entwickeln sie einen enormen Symbolwert als repräsentativ für die Einheit und Selbstständigkeit des Staates oder der Nation und können letztendlich als Legitimierung für die Existenz des Staates benutzt werden. Viele Staaten haben Maßnahmen ergriffen, um die Vorherrschaft einer solchen Sprache sicherzustellen und dabei eine Situation zu schaffen, die mit Herders Vorstellung übereinkommt, dass der ideale Staat ethnolinguistisch einheitlich sein sollte, mit einem einzigen Sprachvolk in dessen erblichem Territorium. Jedoch kann eine zu enge soziolinguistische Perspektive zu einer Unterschätzung der Funktion und des Status von Standardvarietäten und zu einer Überbewertung der Bedeutung der sprachlichen Variation führen. Auch heute wird diese Perspektive außerhalb der Sprachwissenschaft selten vollständig wahrgenommen, so dass die mit der „Ideologie des Standards“ verbundenen Mythen in weiten Kreisen der Bevölkerung häufig ohne Hinterfragung akzeptiert werden, insbesondere die Vorstellung, dass es eine einzig gültige, homogene Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation 31 Sprachvarietät gibt, so wie sie in den gängigen Standardwerken kodifiziert ist, und dass Abweichungen davon als Sprachverfall oder dgl. zu bewerten seien und von einem Mangel an Bildung, niedrigem sozialem Status, rustikaler Rückständigkeit oder sittlicher Verderbtheit zeugen. Diese Vorstellung herrschte aber schon Ende des 18. Jahrhunderts vor, zu einer Zeit, als Kompetenzen im Hochdeutschen ausschließlich im Bildungsprozess erworben werden konnten, weil es niemandes Primärsprache war. Für die Bildungselite galt aber diese Varietät als die „deutsche Sprache“ schlechthin. Für die Grammatiker des 17. und 18. Jahrhunderts, die die endgültige Form der Standardsprache kodifizierten, waren die Mythen einer homogenen, unabänderlichen Sprache eine Selbstverständlichkeit und sie stellten es sich als Ziel vor, die - in den Termini von Schottel (vgl. McLelland 2011) - grundrichtigen und somit für alle gebildeten Sprachteilhaber verbindlichen Formen dieser Sprache festzustellen. Wie Joseph (1987: 17) zu diesem Prozess schreibt: „There existed a general belief in an original God-given language, and in original, perfect and static forms of existing languages, from which actual usage could err“. Dialekte und andere gesprochene Varietäten wurden für korrupte Abweichungen von diesen festen Normen oder einen von Ungebildeten herrührenden Sprachverfall gehalten. Man nahm an, dass diese ursprüngliche, „echte“ Sprache mit Hilfe von Vernunft und Logik aufgedeckt und ihre Grammatik und Lexik dann für alle Zeiten in der Form von Präskriptionen kodifiziert werden konnte. Diese Schreibsprache war im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts weitgehend kodifiziert (vgl. von Polenz 2013: 144-192) und im ganzen Reich als verbindliche Form des geschriebenen Deutsch akzeptiert worden - auch im Norden trotz des großen Unterschieds zu den autochthonen niederdeutschen Mundarten und in Österreich, wo bis zur theresianischen Sprachreform etwas andere Normen gegolten hatten (vgl. Wiesinger 2000). Und dieses Hochdeutsch war es und nicht irgendwelche gesprochenen Varietäten, das den wichtigsten Fokus für die Bestrebungen nach der Gründung eines Nationalstaates im 19. Jahrhundert bildete. Typisch für allgemeine Vorstellungen über Sprache im 19. Jahrhundert - sowie oft noch heute - war die Tatsache, dass man die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache nicht zur Kenntnis nahm und dass man allein auf die geschriebene Sprache achtete. Wie Anderson (1991: 43-46) erkannt hat, genießen allein „print-languages“ Prestige, was sich auf drei Funktionen gründet. Erstens sind sie ein einheitliches Kommunikationsmittel für alle Sprecher der vielen Varietäten, die eine auch nur lose Verwandtschaft mit dieser Schriftsprache aufweisen. Dabei handelte es sich zunächst vielleicht um eine kleine Bildungsschicht, aber für diese bedeutete sie eine gemeinsame Kultur, die schon seit langem bestanden hatte, und für gebildete Deutsche im 19. Jahrhundert war die „Nation“ genau die durch diese Sprachform gestaltete Kul- 32 Martin Durrell turnation. Zweitens haben „print-languages“ den Anschein der Permanenz. Sie entsprechen dadurch dem Mythos der Homogenität und der Unabänderlichkeit und scheinen die Vorstellung zu bestätigen, dass sie die ursprüngliche, althergebrachte, „reine“ Sprache verkörpern. Diese ahistorische Betrachtungsweise, die Annahme, dass es diese Sprache in genau dieser Form (wie auch das dazu gehörige Sprachvolk) immer gegeben hat, ist wesentlich für die Vorstellungen des 18. Jahrhunderts über Sprache und liegt den Ansichten Herders über das Verhältnis von Sprache und Volk zugrunde, sowie auch Fichtes Ideen über die Ursprünglichkeit des deutschen Volks und seiner Sprache. Drittens sind „printlanguages“ die Sprachen von Herrschaft und Macht, sie wurden vornehmlich von einer Bildungselite geschaffen und deren Verbreitung ist ein Zeichen für die anhaltende kulturelle Dominanz dieser Elite. Abweichende Varietäten werden stigmatisiert und marginalisiert. Anderson (1991) verweist in diesem Kontext ausdrücklich auf das Beispiel des Niederdeutschen, und in der Tat stellt eine der bemerkenswertesten und zugleich wichtigsten Aspekte der deutschen Sprachgeschichte der Ersatz des Niederdeutschen als Schriftsprache in Norddeutschland nach 1600 dar (vgl. Sanders 1982 und von Polenz 2013: 234-240), denn dadurch sind die Einwohner des Nordens „Deutsche“ geworden (bzw. geblieben) und ihre angestammten Dialekte gelten als Varietäten der deutschen Sprache, obwohl sie linguistisch gesehen dem Niederländischen näher stehen. Ein besseres Verständnis der Entwicklung wird daher nur möglich, wenn wir die Sprache und insbesondere die sprachliche Variation aus der zeitgenössischen Perspektive betrachten und nicht aus dem heraus, was uns die moderne Soziolinguistik darüber gelehrt hat. Denn es ist letztendlich das standardisierte Hochdeutsch gewesen, das im 19. Jahrhundert zum zentralen Fokus der nationalistischen Ideologie wurde, obwohl es sich, wie oben ausgeführt, von allen gesprochenen Varietäten des Deutschen unterschied und fast ausschließlich in der Schrift von einer kleinen Bildungselite verwendet wurde, wie Heinrich Bauer im ersten Band seiner Vollständige[n] Grammatik der neuhochdeutschen Sprache bestätigte (1827: I, 146): „In keiner Provinz Deutschlands wurde Hochdeutsch je gesprochen“ (zit. nach Evans 2004: 21). Diese Unterschiede in den tatsächlich verwendeten gesprochenen Varietäten waren jedoch nicht relevant, denn diese wurden als ungebildete Abweichungen aufgefasst, da allein die homogene und kodifizierte schriftliche Varietät als das echte korrekte Deutsch galt. Wie Hobsbawm (1992: 113) schreibt, am wichtigsten ist „the written language, or the language spoken for public purposes “, denn „linguistic nationalism was the creation of people who wrote and read, not of people who spoke.“ Und diese Gruppe, das Bildungsbürgertum, war es, die im 19. Jahrhundert die Ideen von Herder, Fichte, Humboldt und anderen über die Einzigartigkeit von Sprachvölkern aufnahm: Die ethnolinguistische Einheit der Sprach- oder Kulturnation, Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation 33 so wie diese auf der Basis der in der Schrift verwendeten Varietät empfunden wurde, galt als Legitimierung für das Streben nach einer Staatsnation, einem Ziel, das dann durch die Reichsgründung 1871 erfüllt wurde - obwohl das kleindeutsche Reich keineswegs dem Herderschen Ideal eines ethnolinguistisch einheitlichen Staats entsprach, dem alle deutschen Muttersprachler, und nur diese, angehörten. 4. Zu einer Neuevaluierung der Bedeutung des „Alten Reichs“ im Standardisierungsprozess Mit der kleindeutschen Reichsgründung unter preußischer Führung wurde jedoch dann eine narrative Teleologie assoziiert, nach der sie als Endpunkt eines natürlichen und unabänderlichen geschichtlichen Prozesses aufgefasst wurde. Diese wurde schon in den 1840er Jahren von Droysen in seinen Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege suggeriert, wo er nach Sheehan (1989: 842-843) die Meinung vertrat, dass „it belonged to the true nature of the state to be national, and to the true nature of the Volk to have a state“, und sie kommt auch nach der Reichsgründung in Treitschkes Deutsche[r] Geschichte im neunzehnten Jahrhundert sehr klar zum Ausdruck. Diese These bezeichnet Hughes (1988: 150) als „a deliberate perversion of Germany’s history designed to present it as unbroken progress towards the Prussian-led creation of Kleindeutschland in 1871“. Allerdings lebe sie nach ihm immer noch im allgemeinen Bewusstsein weiter. Nach dieser Auffassung wurde durch die deutsche Einigung 1871 das natürliche Schicksal der Nation erfüllt, das im Mittelalter durch den Zerfall des Reichs nach der Stauferzeit und später durch die Einmischung fremder Mächte vereitelt worden war, was die ungerechte Verspätung der deutschen Nationsbildung zur Folge gehabt hatte. Dies war nun überwunden, und das deutsche Volk hatte nunmehr den Nationalstaat, der ihm immer zugestanden hatte. Diese Darstellung des Laufs der deutschen Geschichte gilt heute als vollkommen überholt, obwohl Wilson (2016: 3) schreibt, dass sie „still continues as the ‘basso continuo’ of German historical writing and perception, not least because it appears to make sense of an otherwise thoroughly confusing past“, aber ein Aspekt davon lebt immer noch weiter, und zwar die Vorstellung, dass das „Alte Reich“ ein im 18. Jahrhundert völlig überholtes Staatsgebilde gewesen sei, eine strukturlose Zusammensetzung von unbedeutenden Duodezfürstentümern und dgl., die keineswegs als nationaler Staat der Deutschen angesehen werden kann. Damit gelangen wir jedoch zur zweiten eingangs gestellten Frage, und zwar wie bzw. warum trotz der Vielfalt der sprachlichen Variation eine einzige standardisierte Varietät der deutschen Sprache in diesem zerbröckelnden Reich 34 Martin Durrell ohne Hauptstadt und ohne zentrale Machtbasis entstehen konnte. Eine Antwort lässt sich nur finden, wenn wir die heute noch verbreiteten Vorstellungen über das „Alte Reich“ und den Verlauf der deutschen Geschichte in der frühen Neuzeit hinterfragen sowie auch die damit verbundene These, dass die sprachliche Einigung der politischen Einigung vorausging und erst die Basis für diese schuf. Dazu ist eine grundsätzliche Neubewertung des herkömmlichen Bilds des Heiligen Römischen Reichs nötig, indem wir erkennen müssen, dass das traditionelle in der deutschen Geschichtsschreibung kolportierte Konstrukt auch zur besprochenen „deliberate perversion of German history“ (Hughes 1988: 150) beiträgt, und zwar zur Darstellung der Reichsgründung unter preußischer Führung als Überwindung des Partikularismus, unter dem die deutsche Nation nicht nur nach dem Wiener Kongress gelitten hatte, sondern auch während des ganzen Bestehens des „Alten Reichs“. Diese herkömmliche Darstellung des Verlaufs der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter wurde jedoch in letzter Zeit stark revidiert. In der einleitenden Zusammenfassung des Inhalts von Evans et al. (2011) heißt es: Over the last forty years or so, research on the history of the Holy Roman Empire of the German Nation (1495-1806) has been transformed almost beyond recognition. Once derided as a political non-entity, a chaotic assemblage of countless principalities and statelets that lacked coercive power and was stifled by encrusted structures and procedures, the Reich has been fully rehabilitated by more recent historiography. […] The multi-layered, federal structure of the old Empire and its system of collective decision-making have been held up as a model for a peace-loving, multi-ethnic Europe, a European Union avant la lettre. Other historians have described the Reich as the first German nation-state, a political configuration based not on power and expansion, but on rights and liberties, the rule of law and a structural lack of capacity for aggression. Ausführliche Darstellungen dieser Neubewertung findet man außer bei Evans et al. (2011) vor allem bei Schmidt (1999), Whaley (2012) und Wilson (2016). In diesen Arbeiten wird z. B. die Ansicht vertreten, dass das Reich genauso gut als ein zusammenhängender, kohärent organisierter Staat zu betrachten sei wie andere, die zu dieser Zeit in Europa existierten, insbesondere nach der Reichsreform am Wormser Reichstag 1495. Es war natürlich kein Staat im modernen Sinne, aber wir müssen uns davor hüten, geschichtliche Staatsgebilde nach modernen politologischen Kriterien zu beurteilen. Insbesondere sind die Bemerkungen von Whaley (2012: 650) für unsere Diskussion relevant: „The constructed memories after 1871 came to overlay any sense of the Reich as it had actually existed“ sowie (2012: 441): „Diversity and complexity was no obstacle to a sense of belonging to a larger system or to identifying this system with the wider national community of the Germans. […] the overwhelming majority of Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation 35 educated Germans seems to have associated the Reich with the ‚nation‘.“ Wilson (2016: 7) beurteilt die Situation ähnlich: „Germans already saw themselves as a political nation well before unification in 1871, identifying the Empire as their natural home“. Eine ausführlichere Darstellung der sprachlichen Verhältnisse im „Alten Reich“ bietet Wilson (2016: 259-262). Diese neuen Forschungsergebnisse führen unabdingbar zu dem Schluss, dass die These einer politischen Einigung auf der Basis einer schon vorhandenen sprachlichen Einigung auch ein ideologisches Konstrukt der nationalistischen Geschichtsschreibung um die Zeit der Reichsgründung war, mit dem Ziel, diese durch nicht-politische Argumente zu rechtfertigen. Die Neubewertung der Geschichte des „Alten Reichs“ lehrt uns aber, dass man sich als Deutscher vornehmlich durch die Identifizierung mit einem Territorium, und zwar mit dem des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, bezeichnete und letztendlich Untertan des Kaisers war, und nicht weil man Deutsch als Muttersprache hatte. Allerdings war, wie Abb. 1 zeigt, Deutsch die dominante Sprache innerhalb dieses Territoriums. Dann (1996: 45) behauptet zwar: Aufgrund seines universalen Charakters und seiner territorialen Dimension konnte dieses Reich nicht zum Nationalstaat eines einzigen Volkes werden; seine politischen Grenzen deckten sich fast nirgendwo mit den ethnischen Siedlungsgrenzen seiner Bevölkerung. Abb. 1: Reichsgrenze und Sprachgrenze 2 2 Auf diesem Abbild wird die Grenze des Reichs im Jahre 1792 nach Wilson (2016: Karte 11) eingezeichnet, die Sprachgrenze im 19. Jahrhundert nach König et al. (2015: 230-231). 36 Martin Durrell Bei näherem Hinsehen ist diese Ansicht aber keineswegs stichhaltig. Erstens gibt es kaum einen heutigen europäischen Nationalstaat, dessen politische Grenzen mit sprachlichen übereinstimmen und der somit ethnisch einheitlich wäre. Aus Abb. 1 lässt sich klar erkennen, dass das „Alte Reich“ in dieser Hinsicht viel einheitlicher war als das Deutsche Reich von 1871, denn es fanden sich verhältnismäßig wenige Deutschsprachige außerhalb seiner Grenzen - wir haben es vorwiegend mit den relativ neulich vom Reich abgespalteten Gebiete des Elsass und der Schweiz, sowie Gebieten, die nie zum Reich gehörten, wie Ostpreußen und den Sprachinseln im Osten zu tun - und innerhalb des Reichs waren verhältnismäßig wenige Nicht-Deutsche - vor allem in den südlichen Niederlanden, in Böhmen und Mähren, im Tirol und im heutigen Slowenien. In Preußen und dem Habsburger Reich waren natürlich sehr viele Angehörige anderer Volksgruppen, aber diese Gebiete lagen jenseits der eigentlichen Reichsgrenzen. Durch diese Schlussfolgerung wird natürlich die These, dass im deutschen Sprachgebiet vor allem die Sprache identitätsstiftend war, grundsätzlich in Frage gestellt. Wir können weiter daraus schließen, dass der Standardisierungsvorgang im Deutschen ebenso sehr mit einem Staatsterritorium verbunden war wie im Falle von ähnlichen Vorgängen bei den anderen größeren europäischen Sprachen und auf der Identifizierung mit diesem Territorium als Nationsstaat beruhte. Da dieser Staat kein politisches Zentrum und keine Hauptstadt hatte, entstand die Standardvarietät, anders als in Frankreich, England oder Spanien, nicht an einem königlichen Hof und hatte keine Verbindung mit einer gesprochenen Varietät (etwa an einem fürstlichen Hof). Sie entstammte einem relativ komplizierten und erst in letzter Zeit einigermaßen einwandfrei erforschten Selegierungsprozess unter regionalen Schreibvarietäten (vgl. z. B. von Polenz 2013: 144-192). Aber sie war nicht minder eine werdende National- und Staatssprache als die anderen europäischen Sprachen, und die kulturpatriotischen Grammatiker und Dichter, die sie pflegen wollten, haben sie explizit als solche betrachtet. Insbesondere sind Gottscheds Bemühungen in der Deutschen Gesellschaft so zu verstehen, denn sie bezeugen nach Whaley (2012: 342) „a growing identification with the Reich “ und stellten sich als Ziel vor, dass true patriots should seek to speak a common High German language free of dialect or provincial elements, and in this way the cultivation of the common language would be the first step towards the promotion of the ‚honour of the Germans‘. So entstand im 17. und 18. Jahrhundert eine standardisierte Sprache, die den zeitgenössischen Ansprüchen an eine homogene Kultursprache entsprach, in einem Staatsgebilde, mit dem sich die maßgeblich am Prozess der Standardisierung beteiligte Bildungselite identifizierte und die es als „Deutschland“ be- Die Rolle der deutschen Sprache in ideologischen Konstrukten der Nation 37 zeichnete. Auf diese Weise unterstützt der hier dargestellte Standardisierungsvorgang die von Schmidt (1999), Whaley (2012) und anderen vorgeschlagene Neubewertung des „Alten Reichs“ und widerlegt die traditionelle Annahme, dass in Deutschland die sprachliche Einigung vor der politischen Einigung erfolgte. Wir konnten zeigen, dass es sich bei dieser These um ein ideologisches Konstrukt handelt, das die Gründung des kleindeutschen Reichs 1871 unter preußischer Führung rechtfertigen und diese gleichzeitig als den lang ersehnten ersten echten deutschen Nationalstaat vorstellen sollte, der es eigentlich nicht war. Und auf dieser Basis lässt sich natürlich auch erklären, dass diese Sprache nach der modernen Etablierung unabhängiger Staaten mit Deutsch als offizieller Landessprache auch polyzentrisch geworden ist. 5. Literatur Anderson, Benedict (1991): I magined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism . London, New York: Verso. Barbour, J. Stephen (1991): Language and nationalism in the German-speaking countries. In: Meara, Paul & Ann Ryan (Hrsg.): Language and Nation . London: BAAL & CILT , 39-48. Barbour, J. Stephen (1994): Language and nationalism. Britain and Ireland, and the German-speaking area. In: Parry, Mair M. et al. (Hrsg.): The Changing Voices of Europe. Social and Political Changes and their Linguistic Repercussions, Past, Present and Future. Papers in Honour of Glanville Price . Cardiff: University of Wales Press, 325-335. Barnard, Frederick M. (1965): Herder’s Social and Political Thought. From Enlightenment to Nationalism. Oxford: Clarendon Press. 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Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle Regula Schmidlin 1. Einleitung 2. Varianten als Zweifelsfälle 3. Zur linguistischen Konzeptualisierung standardsprachlicher Variation 4. Zur Einschätzung standardsprachlicher Variation 5. Standardsprachliche Variation im Kräftefeld der Norminstanzen 6. Literatur 1. Einleitung Sprachliche Varianten werden dort besonders deutlich wahrgenommen, wo es ein erhöhtes Bedürfnis gibt, sprachlichen Normen gerecht zu werden. Dies ist beim Gebrauch der Standardsprache, ganz besonders in ihrer schriftlichen Form, sicherlich der Fall. Dass die Standardsprache kein homogenes Gebilde ist, sondern über unterschiedlich verbreitete, aber gleichermassen korrekte Varianten verfügt, deren Angemessenheit kontextuell bedingt sein kann, ist hinlänglich bekannt. Auf welche Weise wird die standardsprachliche Variation in der (germanistischen) Linguistik konzeptualisiert (Kap. 3)? Wie gehen Sprecherinnen und Schreiber damit um und wodurch werden ihre Auffassungen von Korrektheit und Standardsprachlichkeit geprägt (Kap. 4)? Wie stellen sich Normautoritäten dazu (Kap. 5)? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach und knüpft teilweise an die Beiträge von Gatta, Davies und Wyss in diesem Band an. Zunächst wird jedoch dafür argumentiert, dass die Varianten des Standarddeutschen als Zweifelsfälle betrachtet werden können. Dabei wird auf Kleins theoretisches Modell zur Erfassung sprachlicher Zweifelsfälle zurückgegriffen (Klein 2003), das insofern modifiziert wird, als unterschiedliche Sprecherperspektiven berücksichtigt werden (Kap. 2). 42 Regula Schmidlin 2. Varianten als Zweifelsfälle Varianten mit dem Potenzial, sprachliche Zweifelsfälle zu sein, können auf allen sprachlichen Systemebenen vorkommen und haben verschiedene Ursachen. Manchmal sind sie ein Begleitphänomen des sich durch den Sprachgebrauch allmählich ergebenden Sprachwandels. Wenn eine ältere Variante, z. B. sie gebiert , von der neueren Variante, sie gebärt , dabei ist, abgelöst zu werden, kommt es zu einer Überlappung der Geltung einer älteren und einer neueren Form. Dies fordert entsprechende metasprachliche Erklärungen in den Kodices. Neue oder alternative Formen lösen aber nicht nur Zweifel und Fragen aus - Was ist richtig? Wie soll es heissen? -, sondern unterliegen auch Wertungen, wenn auch zuweilen nur individuellen ästhetischen Präferenzen. Dies zeigen zahlreiche, aus der jüngsten Rechtschreibreform des Deutschen hervorgegangene Formen, die gleichermassen korrekt sind (Albtraum , Alptraum). Zudem kommt es bei jeder Form synchroner Variation innerhalb der Standardsprache, die teils subsistenter, teils aber statuierter und lexikographisch kodifizierter Normierung unterliegt, zu Wertungen. So kann man das Graphem <ß>, das im Schweizerhochdeutschen (ausser in der Schreibung von Eigennamen mit originärem <ß>) nicht praktiziert wird, schöner finden als <ss> und es in einem Text mit Deutschschweizer Autorschaft vermissen; oder man kann in Deutschland und Österreich bedauern, dass die ß-Schreibung neu geregelt worden ist. Mit genau demselben Recht kann man hingegen das <ß> umständlich finden, ja sogar störend beim elektronischen Datenaustausch. Sprachliche Varianten und somit potenzielle Zweifelsfälle entstehen nicht nur durch Sprach(normen)wandel und Sprachkontakt, sondern auch durch fachsprachliche Prägungen, unterschiedliche Stillagen und regionale sowie - vgl. das soeben erwähnte Beispiel des Graphems <ß> - nationale Variation. Gerade in Produktionssituationen mit hohen Normerwartungen, also in formellen beruflichen und schulischen Kontexten, im öffentlichen Sprachgebrauch und generell bei der schriftlichen Textproduktion, hat man auch als kompetente(r) L1-Sprecher(in) immer wieder Zweifel an der Korrektheit und Angemessenheit bestimmter sprachlicher Formen. Da in der gesprochenen Sprache eine höhere Normtoleranz und Variantenakzeptanz vorliegen, kommen Zweifelsfälle oft erst in der schriftlichen Sprachproduktion auf. Bereits die historische Betrachtung von Zweifelsfällen zeigt die Stigmatisierung sprachlicher Varianz auf. Die Herausbildung der deutschen Schriftsprache vom 18. Jahrhundert an bestand unter anderem gerade darin, Zweifelsfälle, die sich durch Doppelformen ergaben, zu beseitigen. Die Vorstellung, dass Kulturräume durch eine einheitliche Standardsprache zusammengehalten respektive gegeneinander abgegrenzt werden müssen, kulminierte in der Zeit der Herausbildung der Nationalstaaten zudem in der Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 43 Überzeugung, dass ein Staat im Idealfall durch eine Sprachnation gebildet werden soll, die von einer einheitlichen, „reinen“ Hochsprache umklammert wird. Konsequenterweise wird hier sprachliche Variation als Störfaktor empfunden. Dass nicht nur die Mundarten, sondern auch Standardsprachen dynamische Systeme sind, die keine vollständige Einheitlichkeit aufweisen und ebenfalls räumlich strukturiert sind, wurde unter dem Einfluss der (zunächst anglophon geprägten) Sozio- und Variationslinguistik von der Mitte des 20. Jahrhunderts an zunehmend thematisiert und erforscht. Was nun die sprachlichen Zweifelsfälle anbelangt, zu welchen die Dynamik von Sprachsystemen führt, so rückt damit der Sprecher selbst in den Fokus, d. h. der Prozess, den die Zweifelsfälle auslösen, nämlich das Zweifeln als Begleitprozess der Sprachproduktion oder der (bewertenden) Sprachrezeption. Gemäss Klein wurde die Erforschung von sprachlichen Zweifelsfällen lange marginalisiert (Klein 2009: 141). Er spricht dann von Zweifelsfällen, wenn eine Unsicherheit nicht partikulär ist, sondern ein kollektives Problem darstellt. Ein sprachlicher Zweifelsfall liege dann vor, wenn (kompetente) Sprecher kommunizieren, im Blick auf die eigene Sprachproduktion (plötzlich) über verschiedene sprachliche Möglichkeiten (Varianten) nachdenken und sich nicht (einfach) für eine der bewusst werdenden Möglichkeiten entscheiden können (Klein 2009: 142). An anderer Stelle sagt er: Ein sprachlicher Zweifelsfall ist eine sprachliche Einheit (Wort / Wortform / Satz), bei der kompetente Sprecher (a.) im Blick auf (mindestens) zwei Varianten (a, b…) in Zweifel geraten (b.) können, welche der beiden Formen (standardsprachlich) (c.) korrekt ist […] (Klein 2003: 2). Mit (a.), (b.) und (c.) spezifiziert Klein drei Bedingungen für Zweifelsfälle: dass es sich (a.) um kompetente Sprecher und nicht etwa um Lernende handelt, dass (b.) die Fähigkeit zu zweifeln ein metasprachliches Bewusstsein voraussetzt und dass (c.) die Existenz von Zweifelsfällen auf die Standardsprache beschränkt ist. Als Beispiele nennt Klein: Friede oder Frieden? , Kriegführung oder Kriegsführung? , des Kindes oder des Kinds? Klein fokussiert auf Zweifelsfälle, deren Varianten formseitig teilidentisch sind. Dies ist allerdings für das sprachliche Zweifeln keine Bedingung. Das zweifelnde Subjekt ist also der kompetente Sprecher. Varianten, die aufgrund mangelnden Wissens von Lernenden erzeugt werden, gelten in dieser Systematik folglich nicht als Zweifelsfälle. Klein (2003) unterscheidet deren drei Typen: Freie Variation: a und b sind ohne Restriktionen gebräuchlich, z. B. gern / gerne . Graduelle Variation: a ist gebräuchlicher als b, z. B. magrer / magerer . 44 Regula Schmidlin Nullvariation: a ist gebräuchlich und richtig, b ist ungebräuchlich und falsch, z. B. Felsblöcke / Felsblocks . Letzterer Typ, die Nullvariation, scheint zunächst mit der Kategorie Fehler zusammenzufallen. Den Unterschied zwischen Fehler und Zweifelsfall sieht Klein (2003: 8) darin, dass ein Fehler nachträglich als solcher erkannt und beurteilt wird. Beim Zweifelsfall hingegen bleibe auch rückblickend der Zweifel, welche der Formen, die zur Wahl stehen, die adäquate sei, bestehen. Weiter unterteilt Klein die Zweifelsfälle in konditionierte und unkonditionierte. Diese unterscheiden sich darin, dass die Varianten der konditionierten Zweifelsfälle zumindest teilweise in unterschiedlichen Kontexten verankert sind (Klein 2009: 150). Demnach lassen sich Voraussetzungen für die jeweilige Variante bestimmen, z. B. in Bezug auf ihre regionale oder nationale Geltung, die kommunikative Praktik (Fiehler 2000), in der sie geäussert wird, in Bezug auf die individuelle Kommunikationssituation oder die mediale Übertragungsform. Unkonditionierte Zweifelsfälle hingegen können nicht an einen Kontext oder an eine Bedingung gebunden werden. Ihr Gebrauch schwankt unabhängig vom Gebrauchskontext. Sie sind für Klein „Zweifelsfälle im engeren Sinn“ (Klein 2009: 151). In dieser Dichotomie figurieren die Nullvarianten offensichtlich nicht mehr. Versucht man nun, Varianten des Standarddeutschen nach Kleins Kategorien einzuteilen, zeigt sich, dass es freie Variation gibt, wenn in Österreich sowohl Vorrang als auch Vorfahrt für das ‚Recht, eine Kreuzung oder Einmündung zeitlich vor einem anderen herankommenden Fahrzeug zu passieren‘ verwendet wird; graduelle Variation, wenn die Pluralform Balkone im deutschen Sprachraum insgesamt gebräuchlicher ist als Balkons ; konditionierte Variation, wenn in bestimmten Gebieten des Deutschen Sprachraums das E-Mail häufiger vorkommt als die E-Mail (Näheres dazu s. Niehaus Kap. 4.2. in diesem Band) oder wenn die Bevorzugung einer Variante von einem bestimmten Verwendungszusammenhang abhängt. Dies ist beispielsweise bei der lexikalischen ost-österreichischen Variante Obers für ‚oben schwimmender, fetthaltiger Teil der Milch; flüssiger Süßrahm‘ der Fall, für die in Rezepten und in Fremdenverkehrsgebieten auch häufig Sahne gebraucht wird (s. Ammon et al. 2016: 612 f.). In Bezug auf die kognitive Verfügbarkeit von Variantenreihen gelingt die Übertragung von Kleins Zweifelsfallmodell, wonach kompetente Sprecher (plötzlich) über verschiedene sprachliche Möglichkeiten nachdenken, nicht in allen Fällen. Auch wenn z. B. für die Bedeutung ‚Recht, eine Kreuzung oder Einmündung zeitlich vor einem anderen herankommenden Fahrzeug zu passieren‘ die Sprecherinnen und Sprecher tatsächlich mehrere Varianten in ihrem mentalen Lexikon zur Verfügung haben dürften, trifft dies nicht bei allen Variantenreihen zu. Um der Dynamik der Variation auch innerhalb der Standardsprache gerecht zu werden, Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 45 gilt es, Kleins Typen von Zweifelsfällen jeweils mit der spezifischen Sprecherperspektive in Verbindungen zu bringen und zwischen der Eigen- und Fremdperspektive zu differenzieren. Ein Modell, das die Perspektivierung nicht nur im Hinblick auf unterschiedlich konditionierte Textprodukte, sondern auch im Hinblick auf das zweifelnde Subjekt berücksichtigt, ist die Konzeption der Plurizentrik bzw. Pluriarealität von Standardsprachen. 3. Zur linguistischen Konzeptualisierung standardsprachlicher Variation Das Modell der Plurizentrik von Standardsprachen trägt dem Umstand Rechnung, dass Standardsprachen überall dort, wo sie National- oder Amtssprachen sind, aufgrund politisch-historischer Eigenentwicklung der betreffenden Gebiete Besonderheiten aufweisen. Dass das Nebeneinander (und nicht hierarchische Übereinander) von Standardvarietäten nicht zum kommunikativen Chaos führt, zeigt uns die Anglophonie (Trudgill & Hannah 2008). Britizismen gelten nicht als korrektere Varianten als Varianten anderer englischer Varietäten. Umgekehrt halten bspw. Amerikaner Britizismen nicht für weniger korrekt als die Varianten des General American Standard, auf den man sich global zunehmend bezieht und der (in Bezug auf den kommunikativen Umsatz weltweit) deshalb als dominante Varietät gelten dürfte. Das Englische kann auch auf eine lange plurizentrische lexikographische Tradition zurückblicken - begünstigt durch seine globale Verbreitung und die geographische Abgrenzung der einzelnen Standardvarietäten. Auch die Varietäten der südlichen Hemisphäre sind Teile des englischen Standardvarietätenkonglomerats. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit der Plurizentrik des Deutschen? Die lexikalischen und semantischen nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen sind mittlerweile gut dokumentiert und lexikographiert (Ammon et al. 2004, Ammon et al. 2016.) Die Variation der Standardsprache wird nicht durch die Landesgrenzen allein strukturiert, sondern ist auch regional bedingt (vgl. dazu sowie zur theoretischen Debatte zur Plurizentrik und Pluriarealität des Deutschen Niehaus in diesem Band). Quantitativ von geringerer Bedeutung als lexikalische und semantische Varianten sind grammatische Formen, deren systematische Erforschung erst in jüngster Zeit eingesetzt hat. Allerdings ist auch dieser Bereich nicht zu unterschätzen, wie die aktuellen Ergebnisse des Projekts Variantengrammatik des Standarddeutschen zeigen (Dürscheid & Elspaß 2015). Nachfolgend werden einige Beispiele solcher grammatischen Formen genannt, die Anlass zum Zweifel geben könnten, wo jedoch mehrere Varianten als korrekte Standardsprache gelten. Ich stütze mich 46 Regula Schmidlin bei den Beispielen auf Götz (1995), Bickel & Landolt (2012), Elspaß, Engel & Niehaus (2013), Dürscheid, Elspaß & Ziegler (2011), Dürscheid & Sutter (2014), aber auch auf Material des Variantenwörterbuchs (Ammon et al. 2004, 2016). Um der Anschaulichkeit willen werden die genannten Fälle im Folgenden gleich in Sprechakten des Zweifelns formuliert: Wo sagt man bin gestanden und wo habe gestanden ? Darf man auch in einem formellen Text ich bin am Arbeiten schreiben, wenn man meint, dass man gerade dabei ist zu arbeiten? Was ist häufiger: Bestandesaufnahme oder Bestandsaufnahme, Mittelklass- oder Mittelklassehotel ? Ist die artikellose Konstruktion bei Anfang oder Ende plus Zeitangabe (Ende Jahr, Anfang Februar) korrekt, inkorrekt oder salopp? Heisst es gewoben oder gewebt, gespiesen oder gespeist ? Fragt man bei jemandem an oder jemanden an ? Nimmt man sich jemandem an oder jemandes an? Mit welchen Genera können diese Wörter vorkommen: Salami, Achtel, Radio, Spray, Kamin ? Welche Pluralformen haben Park und Bogen ? Heisst das Wetter ändert etwas anderes als das Wetter ändert sich ? Bereits sind die Professuren besetzt - ist an dieser Satzstellung etwas falsch? Vergleichbar selten, aber markant und lexikographisch bzw. grammatikographisch schwierig darstellbar sind pragmatische Unterschiede, also Unterschiede im Sprachgebrauch in bestimmten Situationen. Was sagt man nach einer kurzen Unterbrechung eines Telefongesprächs: Da bin ich wieder ? Sind Sie noch da ? Ebenfalls auf der Ebene der Sprachpragmatik anzusiedeln sind textuelle Unterschiede. In der geschäftlichen Brief- und Mailkorrespondenz zum Beispiel setzt man in der Deutschschweiz gewöhnlich nach der Anrede kein Komma und beginnt die erste Zeile der Nachricht mit Grossschreibung. Rechtfertigen es nun solche Beispiele, von der Plurizentrik des Deutschen zu sprechen? Dazu hat es in der Linguistik einige Diskussionen gegeben. Einwände gegenüber dem plurizentrischen Konzept der deutschen Standardsprache können in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Genannt sei als erstes die quantitative Argumentation. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei der plurizentrischen Variation um ein paar hundert lexikalische Besonderheiten, die nicht genügen, um von einer eigenen Varietät sprechen zu können - im Sinne Wardhaughs (1987), der in Bezug auf das Englische meinte, dass die Standardvariation eher eine Frage von flavor als von substance sei. Quantitativ argumentiert wird auch in Bezug auf die Lautung. So hat Besch (1990) vorgebracht, dass es die nationale und regionale Variation zwar gebe, dass sie sich aber auf die lautliche Ebene beschränke. Wer wesentliche Elemente nationaler Variation in der Schriftlichkeit suche, suche am falschen Platz, so Besch. Die Schrifteinheit , wie er es nennt, sei die Klammer der deutschen Sprachkultur. Weiter gibt es die Argumentation in Bezug auf die normative Geltung. Aus dieser Sicht gibt es zwar Varianten, diese seien aber dialektal. Konkrete Fälle standardsprachlicher Variation würden nicht nur von Laien, sondern auch von Sprachexperten Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 47 unterschiedlich eingeschätzt. Dadurch, dass man sich in bestimmten Fällen auch unter Modellsprechern, Kodifiziererinnen und Normautoritäten über den standardsprachlichen Status der Varianten uneinig ist, sei sowohl das Konzept der Plurizentrik als auch der Pluriarealität in Frage gestellt. Ein weiterer Einwand gegen das plurizentrische Sprachkonzept ist derjenige, dass die postulierten nationalen Varietäten zu wenig einheitlich seien und es bereits innerhalb dieser Nationalvarietäten grosse areale Unterschiede gebe (vgl. Greule 2002: 58). Hier wird die alte Gliederung des deutschen Sprachraums stärker gewichtet als es die heutigen Staatsgrenzen werden. Gegenüber dem plurizentrischen Modell von Standardsprachen werden ferner kulturpolitische Einwände geäussert. Aus dieser Sicht ist die sprachliche und kulturelle Einheit durch standardsprachliche Varietäten bedroht. Scharfe Kritik wird schliesslich an der Begrifflichkeit der Plurizentrik-Theorie geübt, namentlich am tatsächlich problematischen Begriff Teutonismus (Schmidlin 2011: 75). Was kann diesen Kritikpunkten entgegengehalten werden? Was die strukturlinguistisch und quantitativ orientierten Einwände anbelangt, ist auf den Unterschied zwischen Types und Tokens hinzuweisen. Gemessen an den Types, also am lexikalischen Inventar, betrifft die Variation der Standardsprache, wie bereits erwähnt, tatsächlich nur einen kleinen Teil des Wortschatzes. Je nach Textsorte kommen diese Wörter aber als Tokens recht oft vor und führen zu Differenzen in der Wahrnehmung von Texten (Schmidlin 2011: 177). Was die normative Geltung anbelangt, so trifft es zwar zu, dass die Einschätzung der Standardsprachlichkeit von Varianten divergieren kann, sogar unter Lexikographinnen und Lexikographen. Jedoch kommen Varianten auch in Qualitätszeitungen vor, welche in der modernen Lexikographie als Beleglieferanten eingesetzt werden, und ein deskriptiver lexikographische Ansatz fordert die Berücksichtigung dieser Varianten ein. Ferner kann das Argument, die Normautoritäten seien sich in Bezug auf die Beurteilung der Standardsprachlichkeit von Varianten des Standarddeutschen selbst nicht einig, dadurch entkräftet werden, dass dies bei anderen Variationsdimensionen, etwa der Stilebene, nicht anders ist. Zum areallinguistischen Einwand, wonach die nationalen Varietäten regional bereits sehr uneinheitlich seien, sei gesagt: Im plurizentrischen Konzept haben beide Variationstypen Platz. Die regionale und die nationale Variation schliessen einander nicht aus. So weist auch Reiffenstein (2001) auf die Durchkreuzung und Unterlagerung der nationalen Varietätsgrenzen durch regionale Variation hin. Niemand wird bestreiten, dass unspezifische Varianten - solche, die sich über die Regionen von mehr als einem Zentrum erstrecken (z. B. Bayern und Österreich) - ungleich häufiger sind als spezifische (z. B. nur in Österreich geltend). Dennoch gibt es sprachliche Bereiche, bei denen Staatsgrenzen kognitiv als Isoglossen wirken können. Mit den Staatsgrenzen 48 Regula Schmidlin gehen Sachspezifika und ein institutionell bedingter Wortschatz einher, wie etwa die Sprache der Gesetzgebung. Diese lexikalischen Spezifika wirken besonders auf die sprachliche Identitätsbildung und Identitätserkennung ein. Dem areallinguistischen Einwand kann also entgegengehalten werden, dass es die nationalen Varianten durchaus gibt, wenn auch viele davon Ausdrücke sind, die an nationale Sachspezifika gebunden sind, namentlich die politischen Systeme, das Schulwesen und das weite Feld der übrigen amtssprachlichen Bereiche. Was schliesslich die gefürchtete Bedrohung der sprachkulturellen Kohäsion betrifft: Die deutsche Sprache blickt auf eine lange plurizentrische Tradition zurück. Insgesamt war ihre Entwicklung seit der frühen Neuzeit eher eine Entwicklung der Konvergenz als der Divergenz. Beispiele für letztere (vgl. etwa DDR - Varianten) sind selten. Was für die Plurizentrik (unter Mitberücksichtigung der pluriarealen Variation) vor allem spricht, ist die sprachliche Realität selbst. Als Tokens lassen sich Varianten der Standardsprache besonders in alltäglichen und institutionellen Domänen in hoher Frequenz belegen, auch über Texte mit Lokalkolorit hinaus. Sie werden produziert und als solche von den Sprechern wahrgenommen. Das bedeutet nicht, dass die Varietäten des Deutschen als starre und klar definierte Konstrukte gesehen werden sollen; als System im System sind sie innerer und äusserer Dynamik unterworfen. Dass sich Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Standardvarietäten in der Interaktion einander anpassen können und exonormative Varianten übernehmen können, muss ebensowenig als Widerspruch gegenüber dem Modell der Plurizentrik gelten; die Möglichkeit der sprachlichen Akkommodation der Sprecherinnen und Sprecher spricht nicht per se gegen Varietäten, mit denen sich die Sprecherinnen und Sprecher identifizieren. Kommt dazu, dass man sich in einigen Fällen - das betrifft besonders die Lexik - für eine Variante aus einer Variantenreihe entscheiden muss , weil es keine überdachende gemeindeutsche Variante gibt. Dies zeigen z. B. die Variantenreihe Fleischer , Metzger , Fleischhauer , Schlachter etc. und Institutionalismen wie Matura , Matur und Abitur . Dies wird oft vergessen, wenn das monozentrische Modell (wonach die Standardsprache ein geographisch lokalisierbares Zentrum hat und eine Peripherie, die sich mit den Dialekten mischt) dem plurizentrischen Modell als das auch in der Didaktik einfacher handhabbare Modell gegenübergestellt wird mit dem Empfehlung, auf das Gemeindeutsche oder „Binnendeutsche“ (zur Problematik dieses Begriffs Schmidlin 2011: 87) zu fokussieren. Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 49 4. Zur Einschätzung standardsprachlicher Variation Wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe (Schmidlin 2011, Schmidlin 2013), gilt aus Sicht der Sozio- und Variationslinguistik das monozentrische Modell zwar als überholt, es ist jedoch dasjenige Modell, auf das im Zweifelsfall zurückgegriffen wird. Aus der Psychologie wissen wir, dass Einstellungen eine affektive, eine kognitive und eine konative Komponente haben. Mit konativ ist gemeint, dass Einstellungen handlungsleitend sind. Wenn wir davon ausgehen, dass das Zweifeln an der Korrektheit und Angemessenheit sprachlicher Varianten eine Form sprachlichen Handelns darstellt und dass dieses Handeln von Einstellungen geleitet wird, lohnt es sich zu fragen, welche Faktoren diese Handlung beeinflussen. In Schmidlin 2011 werden mittels eines Internetfragebogens bei über 900 Sprecherinnen und Sprechern aus dem ganzen deutschen Sprachraum Gebrauch und Einschätzung nationaler und regionaler Varianten des Standarddeutschen erhoben. Dabei wurde nicht nur die nationale, sondern auch die regionale Herkunft der Gewährspersonen als Einflussfaktoren erfasst, womit dem im vorliegenden Aufsatz vertretenen Postulat der Perspektivierung des Zweifelns entsprochen wird. U. a. wurden die Gewährspersonen gefragt, mit welchem Wort sie den Satz Er stolperte und bemerkte, dass seine … offen waren am ehesten ergänzen würden, wenn sie diesen in einem Brief oder einem Schulaufsatz schreiben müssten. Sie hatten Schuhbändel, Schuhbänder, Schnürsenkel und andere Varianten zur Auswahl. Als markanteste Variantenloyalitätsgrenze zeigte sich hier die Landesgrenze. Die Gewährspersonen aus Deutschland wählten am ehesten diejenige Variante, die gemäss areallinguistischen und lexikographischen Befunden „ihre“ eigene Variante ist - d. h. die Südwestdeutschen wählten Schuhbändel , die Nord- und Mitteldeutschen Schnürsenkel . Mittlere Loyalitätswerte wiesen Gewährpersonen aus Österreich auf: Sie wählten Schuhbänder neben Schnürsenkel . Die Deutschschweizer aber hielten in dieser Versuchsanlage jeweils Schnürsenkel für angemessener - sie wählten die „eigene“ Variante also eher ab. Auch bei der Beurteilung einer Serie von Varianten im Hinblick darauf, ob sie dialektal, eher dialektal, eher standardsprachlich oder standardsprachlich sind - z. B. einlangen , speditiv , Klassenfahrt , besammeln -, zeigt sich die Landesgrenze als kognitive Grenze, halten doch alle Gewährspersonen aus Deutschland die südlichen Varianten eher für dialektal (was aber die Südwestdeutschen interessanterweise nicht davon abhält, „ihre“ Variante im Lückentext zu wählen), während ihnen die Gewährspersonen aus der Schweiz und vor allem aus Österreich eher standardsprachlichen Status zuschreiben. Aber insgesamt zeigt sich, dass am standardsprachlichen Status der empirisch belegbaren und als standardsprachlich kodifizierten Varianten des Standard- 50 Regula Schmidlin deutschen in einer elizitierten Beurteilungssituation generell gezweifelt wird. Inwiefern sie sie für konditionierte Zweifelsfälle halten, konnte mit dem verwendeten Untersuchungsdesign allerdings nicht erhoben werden. Beim Befund, dass regionale und nationale Varianten trotz ihrer Belegbarkeit in der Mediensprache und trotz ihrer Aufnahme in die einschlägigen Kodices in den Augen der Sprecherinnen und Sprecher Zweifelsfälle sind, wenn sie einzeln und in eingeschränktem textuellen Kontext abgefragt werden, zeigt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit, wie sie die Kolleginnen und Kollegen aus Österreich bezogen auf die österreichische Standardvarietät immer wieder erwähnen (Wyss in diesem Band spricht vom „schielenden Blick auf die eigene Sprache“). Im elizitierten Zweifelsfall, in dem Varianten zur Auswahl gegeben werden, greift man offenbar auf ein Standardsprachenkonzept zurück, das auf die National- und Einheitssprachenideologie des 19. und 20. Jahrhunderts verweist (vgl. dazu Elspaß 2005). Warum tut man das? Die Soziolinguistik hat es vor langer Zeit gezeigt, und auch die Laienlinguistik oder Folk-Linguistik weist es nach: Spracheinstellungen beeinflussen das sprachliche Handeln massgeblich. Sie tun dies, weil sich Sprecherinnen und Sprecher über den Sprachgebrauch sozial nach verschiedenen Parametern gegenseitig bewerten. Man schliesst vom Sprachgebrauch auf persönliche und soziale Eigenschaften. Indem wir also aus der Fülle der stilistischen, fachsprachlichen oder auch regionalen Varietäten, die uns zur Verfügung stehen, auswählen, bestärken oder verhindern wir Bewertungen. Sprachbiographisch gesehen werden wir ja bei weitem nicht nur in Lern- und Lehrkontexten für die Art und Weise, wie wir uns sprachlich ausdrücken, bewertet; es ist ein soziolinguistischer Automatismus, den wir selber dauernd erfahren und den wir selber dauernd praktizieren. Dies könnte auch die Variantenskepsis beim schriftlichen Sprachgebrauch, welcher bei den in diesem Kapitel referierten Erhebungen mit ihrem metasprachlichen Fokus den Rahmen bildete, erklären. In der Meinung, gute Standardsprachkompetenz mit variantenfreien Texten nachweisen zu müssen, nimmt man bei der elizitierten Bewertung wenn immer möglich von Varianten Abstand - auch wenn es sich dabei aus linguistischer Sicht nicht um (gefürchtete) Dialektinterferenzen handelt. Der Widerspruch aber zum regelmässigen Vorkommen von Varianten 1 in Textsorten, die durchaus Vorbildcharakter haben, bleibt. 1 Während Schweizer Quellen durchschnittlich auf jeder Seite bis zu zwei Varianten enthalten, enthalten österreichische Quellen ungefähr eine Variante pro Seite und deutsche Quellen eine Variante auf jeder zweiten Seite (zur Berechnung s. Schmidlin 2011: 147, 152-179). Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 51 5. Standardsprachliche Variation im Kräftefeld der Norminstanzen Wie die in Kap. 3 erwähnte Internetbefragung von über 900 Gewährspersonen zeigt, ist das in der Variationslinguistik und Lexikographie gut etablierte Konzept der Plurizentrik, das auf einer soliden empirischen Basis fusst (vgl. z. B. Schmidlin 2011: 144-177), in den Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher kaum vorhanden (vgl. Schmidlin 2011: 179-281). Insbesondere den Varianten des südlichen deutschen Sprachgebiets wird der standardsprachliche Status nicht zugetraut, selbst wenn ebendiese Varianten in Qualitätszeitungen belegt werden können und in den Kodices als standardsprachlich ausgewiesen sind. Auch die Art und Weise, wie Lehrpersonen Sprachnormen vermitteln, wird von ihren eigenen Einstellungen gegenüber der Sprachvariation und ihrem theoretischen Konzept der Standardsprache geprägt. Lehrpersonen bilden einen Teil des Kräftefeldes, welches hinter der Standardisierung und Normierung von Sprachen steht: Sie werden als Normautoritäten wahrgenommen, die neben Lexikographinnen und Lexikographen, Modellsprechern und -schreiberinnen sowie Sprachexpertinnen und -experten das Kräftefeld der Sprachnormierung bilden (vgl. Ammon 1995: 80), auch wenn sie sich dieser Rolle möglicherweise nicht immer bewusst sind. Über die Gewichtung dieser einzelnen Akteure in Ammons Modell kann man diskutieren; unabhängig davon sind Normen nichts anderes als das Produkt sozialer Prozesse, in denen bestimmte sprachliche Phänomene einen normativen Status bekommen oder dabei sind, diesen zu bekommen, andere nicht oder noch nicht (vgl. Auer 2014). Normen sind nichts mehr als dies, aber auch nichts weniger. Wird jedoch verinnerlicht, in einer Sprachregion zu leben, wo nicht richtig Hochdeutsch gesprochen (oder sogar geschrieben) wird, kann sich dies negativ auf das Selbstbild in Bezug auf die standardsprachliche Kompetenz auswirken - zum Selbstbild der Standardsprachkompetenz bei Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern vgl. z. B. Schläpfer, Gutzwiller & Schmid (1991), Hägi & Scharloth (2005), Schmidlin (2011: 231 f) sowie Studler (2013). 2 Um dem negativen Selbstbild in Bezug auf die Standardsprachlichkeit entgegenzuarbeiten, sollen sprachliche Zweifelsfälle nicht als Kristallisationspunkt der eigenen vermuteten standardsprachlichen Defizite verstärkt werden - „weil ich in der Standardsprache unsicher bin, weiss ich nie, ob man Bahnhofbuffet oder Bahnhofsbuffet 2 In den genannten Studien wird allerdings teilweise deutlich, dass das negative Selbstbild in Bezug auf die Standardkompetenz von den Deutschschweizer Gewährspersonen nicht unbedingt auf sich selbst bezogen wird, wohl aber auf alle anderen Deutschschweizer Sprecherinnen und Sprecher, ganz im Sinne der Aussage: „Die Deutschschweizer haben Mühe mit dem Hochdeutschen - ich nicht.“ 52 Regula Schmidlin schreibt“ -, sondern als Zeichen der Dynamik des Sprachsystems betrachtet werden. Die innere Mehrsprachigkeit (de Cillia 2014) soll nicht in sprachliche Selbstzweifel münden („ich spreche verschiedene Varietäten des Deutschen, ich mische sie, ich fühle mich unsicher“), sondern als Ausgangspunkt für eine Form des Nachdenkens über Sprache dienen, das über die Dichotomie von korrekter vs. nicht korrekter Standardsprache hinausgeht (vgl. Rastner 1997, de Cillia 2014: 16) und vor der vielschichtigen Frage der situativen 3 , textuellen 4 und inhaltlichen Angemessenheit 5 bestimmter Varianten nicht zurückschreckt. 6 Man könnte jetzt den Standpunkt vertreten, dass bereits die nicht regional und national bedingten Zweifelsfälle (vgl. den „Zweifelsfälle-Duden“, DUDEN 2011) genug sprachdidaktische Arbeit verursachen, und dass man den schulischen Unterricht mit der Kategorie der Zweifelsfälle, die durch die plurizentrische Sprachvariation entstehen, nicht zusätzlich belasten möchte. Tatsächlich ist gemäss Dürscheid & Sutter (2014) der Anteil der Zweifelsfälle im Zweifelsfälle-Duden, die ganz explizit auf regionale und nationale Varianten zurückgeführt werden können, gering: Nur 348 Einträge enthalten einen expliziten Verweis auf ein Geltungsareal (nordd. 29, südd. 63, deutschl. 10, schweiz. 97, österr. 149). 7 Regional und national bedingte Zweifelsfälle nun aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl Types zu vernachlässigen, halte ich nicht für angemessen, da die Varianten als Tokens - z. B. bin gestanden und habe gestanden - durchaus häufig sind. Zudem sind im Korpus, das dem Zweifelsfälle-Duden zugrunde liegt, vor allem die „Süddeutsche Zeitung“, die „Frankfurter Rundschau“, „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ massgeblich. Dagegen wurden die überregionale Presse Österreichs und der Schweiz nur in sehr geringem Umfang berücksichtigt. Das Wörterbuch der Zweifelsfälle, von dem man ja annehmen könnte, es sei für alle Zweifelsfälle des Deutschen das einschlägige Referenzwerk, scheint in Bezug auf die regionale und nationale Variation des Standarddeutschen also nicht umfassend genug zu sein. Die Situation wird jedoch dadurch entschärft, dass man sich über die Standardsprachlichkeit von sehr vielen Varianten bereits in anderen Wörterbüchern ein Bild machen kann - oder könnte, wenn man wollte. 3 Wird jemand, den ich mit tschüss verabschiede, dadurch gleich geduzt? Wie wirkt es, wenn ein Österreicher in einem Berliner Café Schlagobers bestellt? 4 Vgl. das in Kap. 2 erwähnte Beispiel Obers vs . Sahne. 5 Einige Varianten nähern sich in ihrer Bedeutungsähnlichkeit nur an, z. B. Mutterschutz vs. Schwangerschaftsurlaub , s. Ammon et al. 2016. 6 Zum Spektrum von Erscheinungsweisen des Sprachbewusstseins als Wissen über die Sprache vgl. Häcki Buhofer 2002. 7 Hier wäre zusätzlich zu prüfen, welche Varianten mit der Markierung landsch . (für ‚landschaftlich‘) erfasst werden. Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 53 Es gibt verschiedene Studien, die nachweisen, dass Lehrkräfte in ihren Korrekturen sprachliche Formen und Ausdrucksweisen anstreichen, die von den Kodices eigentlich zugelassen werden (vgl. Davies 2000 und Davies in diesem Band), von den Lehrkräften dennoch mehrheitlich als falsch angestrichen werden - im Sinne von Klein 2003 also wie eine Nullvariante behandelt wird. Henggeler (2008) zeigte ebenfalls auf, dass einige Konstruktionen von Lehrerinnen und Lehramtsanwärtern als falsch angestrichen werden, obwohl die Kodizes die Formen ausdrücklich akzeptieren, wie z. B. der doppelte Akkusativ neben der ebenfalls standardsprachlich anerkannten Dativ-Akkusativ-Konstruktion (Dieses Abenteuer kostete mich / mir fast das Leben). Ferner sind Korrekturen von Lehrkräften heterogen und zuweilen widersprüchlich. Häcker (2009) (vgl. Dürscheid 2011: 163) konnte grosse Unterschiede in der Korrektur von Abiturarbeiten nachweisen. Die Fragilität des Fehlerbegriffs und die Varianz der Fehlerwahrnehmung und Fehlerkorrektur auch bei professionell mit Sprache umgehenden Personen zeigt eindrücklich Henning (2012) (vgl. Schneider 2013: 30). An dieser Stelle fragt man sich vielleicht, wie es zu diesen Divergenzen und teilweise ungerechtfertigten Korrekturen kommen kann, die doch durch den Blick in einschlägige Wörterbücher und Grammatiken hätten vermieden werden können. Es geht mir hier nicht etwa darum, Wörterbücher gegen die sprachliche Intuition der Lehrerinnen und Lehrer in Stellung zu bringen, sondern vielmehr um ein Plädoyer für die Differenzierung zwischen statuierten, subsistenten und individuell vermuteten Normen. Die vielfältigen lexikographischen und korpuslinguistischen Mittel, die aus variationslinguistischer Forschung hervorgegangen sind, können dabei hilfreich sein. Wie gut ist der Griff zum Wörterbuch oder zur Grammatik im Alltag von Lehrpersonen verankert? Wie bekannt sind die mittlerweile gut ausgebauten lexikographischen elektronischen Portale oder auch, für die explizite Thematisierung von Zweifelsfällen auf höheren Schulstufen, die durchsuchbaren Korpora wie DWDS 8 , OWID 9 und COSMAS 10 ? Auch zur im vorliegenden Aufsatz diskutierten standardsprachlichen Variation gibt es neben dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004, 2016) einige lexikographische Werke: Bickel & Landolt (2012), Meyer (2006), Ebner (2009), Österreichisches Wörterbuch (2012). Aber bereits in den Vollwörterbüchern ( DUDEN Deutsches Universalwörterbuch 2015, Wahrig 2006) und in Wörterbüchern für Deutsch als Fremdsprache (z. B. Langenscheidts Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache 2003) bekommt 8 http: / / www.dwds.de/ 9 http: / / www.owid.de/ 10 http: / / www.ids-mannheim.de/ cosmas2/ 54 Regula Schmidlin man Informationen zu nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen. Selbst die Aussprachevariation der Standardsprache ist dokumentiert - s. z. B. König (1989) und Krech et al. (2010). Die lexikographische Datenlage zu den regionalen und nationalen Varianten des Standarddeutschen kann also als gut bezeichnet werden. Dennoch: Einzelne Studien weisen darauf hin, dass generell nicht gern in Wörterbüchern nachgeschlagen wird (Engelberg & Lemnitzer 2009: 86) - lieber nehme man ein grosses Mass an Unsicherheit bei der Textproduktion in Kauf, als dass man ein Wörterbuch zurate ziehe. Eine gewisse Wörterbuchabstinenz ist auch in anderen so genannten Sprachberufen beobachtbar. So wies Markhardt (2005) darauf hin, dass professionelle Übersetzerinnen und Übersetzer Zweifelsfälle eher informell im Fachkollegium klären, als sie in Wörterbüchern nachzuschlagen. Inwiefern trifft dies auch für Lehrerinnen und Lehrer zu? De Cillia (2014: 17) zitiert eine Interviewerhebung des Klagenfurter Deutschdidaktikers Werner Wintersteiner, woraus hervorgehe, dass für die Beurteilung der standardsprachlichen Korrektheit letztendlich die individuellen Normvorstellungen der Lehrkräfte ausschlaggebend seien. Gerade die Varietätenfrage finde im Unterricht kaum Niederschlag. Empirische Untersuchungen zum Nachschlage-Verhalten von Lehrkräften zur Klärung von varietätenbedingten Zweifelsfällen liegen erst punktuell vor. So hat z. B. eine Befragung von Läubli (2006) von 15 Lehrpersonen ergeben, dass zwar der Rechtschreibduden neben einem Schülerwörterbuch regelmässig konsultiert wird, aber keine Varianten überprüft werden. Wie bereits erwähnt, gibt es eine Reihe von lexikographischen Werken, die Zweifelsfälle, die durch regionale und nationale Variation der Standardsprache entstehen können, zu klären helfen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Kodices selbst nicht immer konsistent sind. Dürscheid & Sutter (2014) zeigen auf, dass das Wörterbuch Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz (Bickel & Landolt 2012), das Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) und das Wörterbuch Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden 2011) Zweifelsfälle, die national und regional bedingt sind, teilweise unterschiedlich behandeln. Dies hänge einerseits damit zusammen, dass es keine klare Unterscheidung von standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Varianten gibt. Dürscheid & Sutter (2014) monieren zudem, dass das Variantenwörterbuch die Kategorie „Grenzfall des Standards“ in 10 % der Einträge vergibt. Dies trage nicht zur Klärung bei und sei für den Benutzer unbefriedigend. In einem Wörterbuch zur standardsprachlichen Variation erhoffe man sich eindeutige Aussagen zum Status einer Variante. Wo das nicht möglich sei, solle man besser auf einen Eintrag verzichten. Meines Erachtens handelt es sich bei diesen 10 % nicht um einen hohen, sondern im Gegenteil um einen geringen Anteil an Varianten, deren Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 55 standardsprachlicher Status als nicht eindeutig ausgewiesen ist. Und anders, als Dürscheid & Sutter (2014) dies sehen, erachte ich die Markierung „Grenzfall des Standards“ gerade als besonders hilfreich bei der Klärung von (in Kleins Begrifflichkeit) konditionierten Zweifelsfällen, also solchen, deren Standardsprachlichkeit je nach Verwendungszusammenhang unterschiedlich beurteilt wird. Gerade die Grenzfälle des Standards halte ich als Ausgangspunkt für die Sprachreflexion für besonders wichtig. Sowohl Lehrkräfte als auch Lernende müssen damit umgehen lernen - auch mit dem Umstand, dass Varianten ihren Status ändern können. Dürscheid & Sutter (2014) nennen dazu das Beispiel, dass die nicht-reflexive intransitive Verwendung von ändern bspw. in Das Wetter ändert erst seit 2013 im Rechtschreib-Duden figuriert, und selbst die Mitglieder des Schweizerischen Dudenausschusses seien sich über die Standardsprachlichkeit dieser Konstruktion nicht durchwegs einig. Widersprüche in den Kodices liegen in der Natur der Dynamik von Varietätensystemen. Widersprüche in den Kodices sollen keine Entschuldigung sein, Wörterbücher nicht zu verwenden. Bei der Vermittlung lexikographischer Kompetenzen sind die sprachwissenschaftliche Grundausbildung und die Fachdidaktik gleichermassen gefordert. Es geht nicht nur darum, dass Lehrkräfte Wörterbücher benutzen, sondern auch darum, das informative Potenzial von Wörterbüchern zu vermitteln und zu üben, wie man mit der Makro- und Mikrostruktur von Wörterbüchern umgeht. Gemäss Engelberg & Lemnitzer (2009) werden in Wörterbüchern generell vor allem die Rechtschreibung verifiziert sowie Bedeutungserklärungen nachgeschlagen. Andere Informationsangebote von Wörterbüchern werden ungleich seltener genutzt bzw. es wird nicht der für die spezifische Information vorgesehene lexikographische Slot verwendet. So würden Syntaxinformationen aus den Beispielen extrahiert anstatt aus dem grammatischen Apparat des Wörterbuchartikels (Engelberg & Lemnitzer 2009: 88). Die Umtexte von Wörterbüchern, welche explizite Erklärungen zur Lesart der Artikel liefern würden, werden selten zur Kenntnis genommen. Insgesamt konstatieren Engelberg & Lemnitzer (2009: 88-90) einen generellen Mangel in der Nachschlagkompetenz von Lernenden. Insbesondere in der muttersprachlichen Didaktik des Deutschen werde die Wörterbucharbeit nur unzureichend (sowie einseitig auf die Rechtschreibung fokussiert) berücksichtigt. Das Informationsangebot zur Angemessenheit der Lexik und Semantik und zu weiteren Sprachgebrauchsangaben wird offenbar zu wenig genutzt. Von zentraler Wichtigkeit im Zusammenhang mit regionalen und nationalen Zweifelsfällen scheint mir die Vermittlung des Stellenwerts arealer Markierungen zu sein. Möglicherweise kommt die Variantenskepsis dadurch zustande, dass die Markierungen schweiz. oder österr. nicht als Angabe zur Herkunftsregion einer standardsprachlichen Variante gelesen wird, sondern als Warnhinweis bei der Verwendung von Standardsprache - neben ei- 56 Regula Schmidlin nem weiteren, weit verbreiteten Missverständnis, wonach ein Helvetismus eine Dialektvariante sei, die bei der Redaktion standardsprachlicher Texte eliminiert werden müsse. 11 Dabei bräuchte es gerade für die Differenzierung zwischen Dialektalismen und standardsprachlichen Varianten - wahrscheinlich die grösste Herausforderung im Umgang mit variationsbedingten Zweifelsfällen - linguistisches Wissen und lexikographische Informiertheit. Die Variantentoleranz ist keineswegs ein Freipass für Dialektinterferenzen. Zum linguistisch-lexikographischen Wissen gehört, dass es keinen Grund gibt, das Poulet durch das Hähnchen oder das Trottoir durch den Bürgersteig zu ersetzen, aber dass gewunken als Partizip für winken standardsprachlich nicht korrekt ist, ebenso wie die einten und die andern anstatt die einen und die andern , anderst statt anders oder der ach- Laut anstelle des ich- Lauts bei der Aussprache, oder der ich- Laut anstelle des ach- Lauts . Es gilt, zwischen dem Zweifeln selbst und den Zweifelsfällen zu unterscheiden (Dürscheid 2011: 155). Das didaktisch Interessante scheint der Prozess des Zweifelns zu sein, das Abwägen von Korrektheit und Angemessenheit. Antos (2003: 43) (vgl. Dürscheid 2011: 161) bringt es so auf den Punkt: „Dumme, Ignoranten, Stolze können nicht zweifeln. Ihnen fehlt gerade jenes Wissen, das sie benötigten, um Lücken, Unklarheiten oder Grenzen überhaupt erst erkennen zu können.“ Bleibt zu hoffen, dass die digitalen Möglichkeiten, lexikographische und grammatikographische Mittel zu nutzen, sowie korpusgestützte Analysen von Zweifelsfällen (vgl. dazu Konopka 2011) vermehrt Einzug in die Lehrerausbildung halten. Nicht nur, um Korrektheit und Angemessenheit von Varianten gezielt zu überprüfen, sondern auch um damit umgehen zu lernen, dass Varianten ihren Status ändern können und ihre Angemessenheit an einen spezifischen Verwendungszusammenhang gebunden sein kann, aber nicht muss. 12 6. Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich, Hans Bickel, Jakob Ebner, Ruth Esterhammer, Markus Gasser, Lorenz Hofer, Birte Kellermeier-Rehbein, Heinrich Löffler, Doris Mangott, Hans Moser, Robert Schläpfer†, Michael Schlossmacher, Regula Schmidlin & Günter Vallaster 11 Der Berner Lehrplan formuliert die „Überwindung von Helvetismen“ als Lehrziel - mit etwas Wohlwollen kann man dahinter den Appell vermuten, Dialektinterferenzen in der Schriftsprache vermeiden zu lernen, was natürlich gerechtfertigt wäre, aber nichts daran ändert, dass der Begriff Helvetismus hier nicht im Sinne des linguistischen Fachbegriffs verwendet wird. Siehe auch Kap. 3.2. im Beitrag von Davies in diesem Band. 12 S. auch Fussnote 20 in Niehaus (in diesem Band). Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle 57 (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin, New York: de Gruyter. 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Die bisherige Forschung zur arealen Variation innerhalb des Standarddeutschen konzentriert sich ganz wesentlich auf die linguistischen Ebenen des Wortschatzes (vgl. ‚Variantenwörterbuch des Deutschen‘, Ammon et al. 2004 [im 1 Ich danke Andreas Gellan (Salzburg) für die Überprüfung von Projektergebnissen im empirischen Teil sowie Stefan Kleiner (Mannheim) für hilfreiche Hinweise zum Aufsatz allgemein und speziell zur Diskussion der Ergebnisse in Kleiner (2011 ff.) 2 Vgl. Dürscheid et al. (2015). Das Projekt ist ab 2011 als D-A-CH-Projekt in Graz vom Austrian Science Fund (FWF) (Projektnummer I 716-G18, Projektleiter Prof. Dr. Arne Ziegler), in Augsburg / Salzburg von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) (Projektnummer EL 500 / 3-1, Projektleiter Prof. Dr. Stephan Elspaß) und in Zürich vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) (Projektnummer 100 015L_134 895, Prof. Dr. Christa Dürscheid) gefördert worden. Es wird seit 2015 unter selber Leitung als A-CH-Projekt bis 2018 weitergeführt, in Graz und Salzburg gefördert vom FWF (Projektnummer I 2067- G23) und in Zürich vom SNF (Projektnummer 100 015L_156 613/ / 1). 62 Konstantin Niehaus Folgenden: VWB ]) und der Aussprache (‚Atlas zur Aussprache des Gebrauchsdeutschen‘, Kleiner 2011 ff.). Die areale Variation in der standarddeutschen Grammatik hingegen ist bislang nicht systematisch untersucht worden, obwohl doch ausgerechnet die Grammatik grundlegend für die Konstitution sprachlicher ‚Systeme‘ - wie ich sie für areale Varietäten hier annehmen will 3 - wäre. Zumindest aber sollte uns die grammatische Variabilität des Standarddeutschen etwas über die Stärke des Faktors Arealität für das Standarddeutsche, vielleicht sogar generell für die Sprache Deutsch, verraten. In Bezug auf das innere Varietätenspektrum des Deutschen würde eine Untersuchung der grammatischen Variation im Standarddeutschen Aufschluss darüber geben, ob denn tatsächlich die „neuhochdeutsche Standardsprache […] anders als die Dialekte kaum regionale syntaktische Variation“ (Fleischer & Schallert 2011: 29) zeigt - und in welchem quantitativen Rahmen sowie an welchen sprachgeografischen Unterschieden sich dies feststellen lässt. Und freilich wären aus einer etwaigen Arealität des Standarddeutschen auch sprachdidaktische Folgerungen für den Deutschunterricht zu ziehen, bedenkt man allein die national wie teilweise föderal geprägten Strukturen in den Bildungssystemen deutschsprachiger Länder. Alles in allem scheint es also dringend angeraten, die grammatische Variabilität im Standarddeutschen empirisch breit und systematisch zu erforschen. Ein erstes Ziel des folgenden Beitrags ist es, einen Einblick in die bisherige Erforschung dieser Variabilität durch das Projekt ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ zu geben. Hierzu werde ich einige grammatische Fallbeispiele präsentieren. Anhand dieser Beispiele soll illustriert werden, inwieweit das Standarddeutsche überhaupt über grammatische Variation verfügt und welche Bereiche der Grammatik überhaupt betroffen sind. Meine Darstellung verfolgt jedoch noch ein zweites Ziel: Das Projekt ‚Variantengrammatik‘ geht davon aus, dass es sich bei der deutschen Sprache nicht um eine plurizentrische, sondern vielmehr um eine pluriareale Sprache handelt. Obwohl das plurizentrische Modell heute in weiten Teilen der Germanistik als akzeptierte Lehrmeinung gelten kann, ist dieses mit einigen problematischen Grundannahmen behaftet. Demgegenüber bietet die pluriareale Sichtweise theoretische wie methodische Vorteile, die im Folgenden herausgestellt werden sollen. In einem abschließenden Punkt werde ich auch noch darauf eingehen, welche sprachdidaktischen (und sprachpolitischen) Vorteile ein pluriarealer Ansatz bietet. Dies ist das dritte und letzte Ziel des Beitrags. 3 Anders hat dies noch Peter von Polenz (1999: 124) gesehen: „Nationalvarietäten sind ‚Soziolekte‘ […], die ebenfalls [d. h. wie andere Soziolekte, K. N.] fast nur aus lexikalischen und phraseologischen Elementen, kaum grammatikalischen oder phonologischen bestehen […].“ Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 63 Zum Aufbau der folgenden Ausführungen: Ich werde mit einer knappen Darstellung der Diskussion um plurizentrische vs. pluriareale Forschungsmeinungen beginnen und dabei den Schwerpunkt bereits auf die erwähnten Vorteile des pluriarealen Modells legen. Hieran schließt sich eine genauere Darstellung des Projekts ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ an, das aufbauend auf ebenjenem pluriarealen Ansatz einige methodische Spezifika entwickelt hat. Diese gilt es darzustellen, um die dann folgenden Beispiele einordnen zu können: Einzelne grammatische Phänomene werden analysiert. Sie zeigen, dass grammatische Variation im Standarddeutschen in vielen Formen auftreten kann und durchaus nicht an nationalen Grenzen haltmacht. Überlegungen zu sprachdidaktischen Implikationen schließen diesen Teil ab. Diese Ausführungen werden mangels größerer sprachdidaktischer Forschungen eher knapp und vorläufig ausfallen müssen. Die Darstellung endet mit einem kleinen Fazit und einem Ausblick auf weitere Forschung. 2. Plurizentrisch oder pluriareal? 4 Vor ca. drei Jahrzehnten löste sich die Sprachgermanistik allmählich von der Vorstellung eines mehr oder weniger einheitlichen ‚Binnendeutschen‘ und forcierte plurizentrische Darstellungen zum Standarddeutschen. Wegweisend waren dabei die Arbeiten von Clyne (1992) und besonders Ammon (1995), letztere ist denn auch eingegangen in die Konzeption des VWB und ist von Schmidlin (2011) und Kellermeier-Rehbein (2014) fortgeführt und erweitert worden. Das plurizentrische Modell teilt das Standarddeutsche bzw. den Gebrauch des Standarddeutschen nach Nationen ein, die Deutsch als Amtssprache führen, mit Deutschland, Österreich und der Schweiz als Vollzentren sowie Ostbelgien, Luxemburg, Liechtenstein und Südtirol als Halbzentren (vgl. Ammon 1995: 96). Die deutschen Standardvarietäten fungieren dabei als kodifizierte, amtlich und schulisch institutionalisierte ‚Dachsprachen‘ (vgl. Ammon 1995: 2-4). Variation innerhalb einer Nation wird dabei als nicht varietätenkonstitutiv angesehen, d. h. es gibt nach plurizentrischer Vorstellung z. B. keine ‚bayerische‘ Standardvarietät, sondern „einfache unspezifisch nationale“ oder „sehr unspezifisch nationale“ Varianten innerhalb einer deutschländischen / bundesdeutschen Standardvarietät - dies im Gegensatz zu absolut „spezifisch nationalen“, ausschließlich in einem Land auftretenden Varianten (vgl. hierzu Ammon 1995: 106-110). Theoretisch bedeutet das, dass Mehrheitsvarianten ausschlaggebend für die Nomenklatur und bedeutsamer für das Modell insgesamt sind als Minderheitsvarianten. Das plurizentrische Modell versucht schließlich auch, politisch ‚up-to-date‘ zu bleiben, indem zum einen 4 Für eine detaillierte Darstellung des Forschungsdisputs vgl. Niehaus (2015). 64 Konstantin Niehaus die sprachgeschichtlich gewachsene Wichtigkeit nationaler Kommunikationsräume betont wird (vgl. von Polenz 1999: 125), zum anderen laut Plurizentrikern ehemalige politische Räume wie die DDR keine Grundlage für eine Varietät des Standarddeutschen (mehr) bilden können, ein Ausschluss, der mit politischen Argumenten (Übernahme der Zwei-Staaten-eine-Nation-Lehre der BRD , vgl. Ammon 1995: 386-389), nicht mit (sozio-)linguistischen begründet wird. Bereits ab den 1990er Jahren gab es starke Kritik am plurizentrischen Modell. Aus dieser Phase hervorzuheben sind dabei Wolf (1994), Scheuringer (1997), Koller (1999) und - in Reaktion auf Ammon (1995) und von Polenz (1999) - auch noch Reiffenstein (2001). Sie alle wandten sich auf der Basis der Lexik, die damals die bevorzugt beachtete linguistische Ebene war (auch in plurizentrischen Arbeiten), gegen eine rein nationale Gliederung des Deutschen: weil die Existenz des in vielen Fällen ‚grenzüberschreitenden‘ Wortschatzes der standardnahen Alltagssprache der postulierten nationalen Spezifik faktisch widerspreche, weil ein konkretes Zentrum pro Land im Sinne von pluri zentrisch nicht auszumachen sei (vgl. zu beidem Wolf 1994: 71-74), weil eine ‚nationale‘ Variante nur eine areale Form von vielen sei (vgl. Scheuringer 1997: 343) und weil kulturpolitisch eine (Über-)Betonung nationaler Spezifika ohnehin bedenklich sei (vgl. Koller 1999: 137). Reiffenstein (2001) nimmt eine Sonderstellung unter den Vertretern des pluriarealen Ansatzes ein: Er schlägt vielmehr ein ‚regio-plurizentrisches‘ Modell vor und betont den Aspekt, dass gerade historische Kontinuitäten in Sprache und Kultur einflussreicher seien als politische Konstrukte, wobei bei dieser historisch-kulturellen Raumkonzeption jedoch durchaus Kernräume und Zentren auszumachen seien (vgl. Reiffenstein 2001: 87-88). Alle oben genannten Kritikpunkte wurden in der Folge immer wieder von Vertretern pluriarealer Modelle aufgegriffen, darunter Eichinger (2005a, 2005b) und Elspaß (2005). Letzterer deutet z. B. an, dass der politisch statt empirisch motivierte, theoretische Ausschluss eines möglichen DDR-Standarddeutsch dem tatsächlichen Sprachgebrauch nicht notwendigerweise folgen muss (vgl. Elspaß 2005: 302-303). Ein aus heutiger Sicht theoretischer Vorteil des pluriarealen Modells ist es dagegen, über Aussehen und Stärke der Areale weniger strikte Vorannahmen zu tätigen bzw. generell schlicht mehr Möglichkeiten neben der derzeit gültigen nationalen Gliederung in Betracht zu ziehen. Nationale areale Varianten können im pluriarealen Modell immer noch ihren Platz finden, sie sollen ja gleichberechtigt neben arealen Varianten des Standarddeutschen bestehen statt durch diese ersetzt werden. 5 Bei Farø (2005) sowie in der jüngeren Dis- 5 Vgl. aber Dürscheid & Sutter (2014: 43-44), die im pluriarealen Ansatz einen Primat großdialektaler Grenzziehungen auch im Standarddeutschen suggerieren. Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 65 kussion (z. B. Dürscheid et al. 2015) wird ein weiteres Argument vorgebracht: Minderheitsvarianten sollten für eine möglichst exhaustive Beschreibung der Variabilität ebenso für die Konstitution von Varietäten berücksichtigt werden wie Mehrheitsvarianten, vgl. Abb. 1 (adaptiert nach Scherr & Niehaus 2013: 78). Abb. 1: relative Varianz, adaptiert nach Scherr & Niehaus (2013: 78) Modellhaft soll hier gezeigt werden, dass sich das Vorkommen einer Variante x und einer Variante y keineswegs auf ein Areal beschränken muss, wie dies hier nur für Variante z gilt. Relative Varianten, die mal Mehrheitsmal Minderheitsvariante sein können (z. B. x in Areal A mit 70 % gegenüber nur 30 % in Areal B), können neben absoluten bestehen. Methodisch soll deswegen die im plurizentrischen Ansatz oft fehlende oder mangelnde Betrachtung der relativen Varianz überwunden werden (vgl. z. B. Dürscheid et al. 2015: 218-219). Neu ist also, dass auch geringere Anteile als 50 % an einer Variable zur Charakterisierung eines Areals berücksichtigt werden können, d. h. auch Minderheitsvarianten eines bestimmten Areals ausdrücklich als dort in Verwendung stehend ausgewiesen werden. Wie eine Methodik nach dem pluriarealen Modell dabei konkret aussehen kann, werde ich im nächsten Punkt ausführen, und zwar an Beispielen aus dem Projekt ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘. 66 Konstantin Niehaus 3. Empirische Zugänge zur Pluriarealität-- das Projekt ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ 3.1. Gebrauchsstandard als Untersuchungsgrundlage Die Untersuchungsbasis der ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ - d. h. das, was man als Standarddeutsch ansehen kann - ist der sogenannte „Gebrauchsstandard“ (Ammon 1995: 88, 94), der auf standardsprachliche Kommunikation abzielende (aber [noch] nicht in Nachschlagewerken kodifizierte) Formen meint. Diese Formen sind pro Areal funktional äquivalent (vgl. Scherr & Niehaus 2013: 78-79), d. h. areal unterschiedliche Varianten haben die gleiche Funktion, der Kommunikation auf Standarddeutsch zu dienen, und befinden sich deshalb alle innerhalb des Standarddeutschen (das gilt nicht nur arealübergreifend, sondern auch für Mehrheits- und Minderheitsvarianten innerhalb eines Areals). Genau genommen gibt es also nicht den Gebrauchsstandard, sondern mehrere Gebrauchsstandards, wobei nach pluriarealer Vorstellung die Anzahl dieser nicht von vornherein fest ist (im Gegensatz zum nach Nationen einteilenden plurizentrischen Ansatz). Diese Definition von Standarddeutsch geht vom Sprecher und Schreiber, nicht vom Rezipienten aus. Die Vorgehensweise des Projekts ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘, die ich im Folgenden näher erläutere, beschränkt sich auf die geschriebenen Gebrauchsstandards des zusammenhängenden deutschsprachigen Raums. Ich gehe hier noch weiter auf die Eingrenzung geschriebener Gebrauchsstandards ein, indem ich die Quellenauswahl begründe. Die areale Zusammensetzung bzw. Sektoralisierung der Quellen beschreibe ich dann im folgenden Schritt, im Kapitel über das Korpusdesign. Es besteht mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass man das Deutsch, das in Zeitungen verwendet wird, als Standarddeutsch klassifizieren kann. Eisenberg (2007: 217) will dies noch auf überregionale Zeitungen beschränkt wissen. Diese Beschränkung scheint nicht ganz nachvollziehbar, wenn man der Definition des Gebrauchsstandards folgt, denn Eisenbergs Quellenauswahl suggeriert, der Sportteil der Frankfurter Allgemeinen wäre standarddeutsch, der Politikteil einer Regionalzeitung hingegen nicht unbedingt (vgl. Dürscheid et al. 2011: 126). Auch andere Gründe sprechen gegen die Beschränkung auf überregionale Zeitungen: So scheint es durchaus zulässig, nicht nur die relativ kleine schreibende Elite der Journalisten, sondern auch die große Menge regionaler Journalisten in den Blickpunkt einer Analyse zu rücken. Dass diese in Zeiten, da in der öffentlichen Kommunikation in Ländern mit Deutsch als Amtssprache kaum eine andere Varietät als Standarddeutsch akzeptiert wird, tatsächlich nicht standarddeutsch schrieben, erscheint äußerst unrealistisch (und entspricht außerdem wohl kaum ihren Intentionen). Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 67 Hinzu kommt noch ein weiterer Vorteil bei der Analyse von Regionalzeitungen: eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, überhaupt auf areale Varianten der deutschen Standardsprache zu stoßen. Denn, so meint etwa Hugo Moser, diese fänden sich „vor allem im Deutsch der Zeitungen, namentlich in den regionalen, viel weniger in den überregionalen und auch für Leser anderer Gebiete bestimmten Blättern wie im wissenschaftlichen und schönen Schrifttum“ (Moser 1982: 328). 6 Gerade also, wenn man Antworten auf die Frage nach der Arealität des Standarddeutschen sucht, sollte man sich auf die Regionalzeitungen konzentrieren - auch, um etwa Entscheidungen zugunsten eines arealen Modells (Plurizentrik vs. Pluriarealität) auf empirischer statt politischer Basis zu fällen. 3.2. Korpusdesign und korpuslinguistische Methodik Die ‚Variantengrammatik des Standarddeutschen‘ hat zum Ziel, eine Grammatik in Form eines stichwort-alphabetischen Nachschlagewerks vorzulegen, das für Laien wie für Forscher gleichermaßen verständlich und zugänglich ist. In einem ersten Schritt wird dazu zunächst online ein Wiki erstellt, das derzeit mit Lemmaeinträgen gefüllt wird 7 und bisher in geschlossener Form betrieben wird, schließlich aber öffentlich einsehbar sein soll. Eine Printversion ist ebenfalls angestrebt. Abb. 2: Screenshot des ‚Varianten-Wiki‘ 6 Ähnlich am Fall der Schweiz beschrieben bei Löffler (1988: 163). 7 Dabei wird prinzipiell unterschieden einerseits in übergeordnete Artikel, die Variablen (mit ihren einzelnen Varianten) zu grammatischen Einträgen bündeln, z. B. ‚Genus bei Anglizismen‘ (übergeordnete Beschreibung aller betroffenen Einzellexeme wie [ E- ] Mail , iPad , Laptop usw.), und andererseits in einzelne Lemmaeinträge, wie z. B. ( E- ) Mail (Genusvariation). 68 Konstantin Niehaus Die ‚Variantengrammatik‘ bezieht ihre Daten aus einem kompilierten Großkorpus, das Crawls aus 69 Online-Regionalzeitungen (ca. 600 Mio. Textwörter, 1699 115 einzelne Zeitungsartikel) der Zeit 2012-2013 umfasst. Dabei wurden die Regionalzeitungen nach einem Arealschlüssel gesammelt, der in Tab. 1 wiedergegeben ist. Diese Einteilung orientiert sich - mit einigen kleineren Abweichungen - am VWB (vgl. Ammon et al. 2004: XVIII - XIX ). Allerdings ist die Einteilung im ‚Variantengrammatik‘-Projekt datengesteuert und somit dynamisch handzuhaben, sowohl in ihrer grundsätzlichen Gliederung als auch im Einzelfall: So wird etwa die Schweiz nicht weiter in Kantone oder dialektale Kleinräume untergliedert. Eine dialektale Gliederung wurde zunächst im Korpusdesign des Projekts verankert, dann jedoch aufgegeben, weil eine solche Untergliederung nicht statistisch abgesichert nachgewiesen werden konnte. Arealbezeichnung Regionen Deutschland Nordwest Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen Deutschland Nordost Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg (ohne Region Niederlausitz), Berlin, Region Altmark (Sachsen-Anhalt), Region Magdeburger Börde (Sachsen-Anhalt), Landkreis Jerichower Land (Sachsen-Anhalt) Deutschland Mittelwest Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz (ohne Region Rheinpfalz), Hessen Deutschland Mittelost Region Harz (Sachsen-Anhalt), Region Halle (Saale) [Sachsen-Anhalt], Thüringen, Sachsen, Region Niederlausitz (Brandenburg) Deutschland Südwest Rheinpfalz (Rheinland-Pfalz), Saarland, Baden- Württemberg Deutschland Südost Bayern Österreich West Vorarlberg, Tirol (inkl. Osttirol), Bezirk Zell am See / „Pinzgau“ (Bundesland Salzburg) Österreich Mitte Bundesland Salzburg (ohne Bezirk Zell am See / „Pinzgau“), Oberösterreich Österreich Südost Kärnten, Steiermark Österreich Ost Wien, Niederösterreich, Burgenland Schweiz gesamt Ostbelgien gesamt Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 69 Liechtenstein gesamt Luxemburg gesamt Südtirol gesamt Tab. 1: (derzeitige) Einteilung der deutschsprachigen Regionen in Areale im ‚Variantengrammatik‘-Projekt Eine pluriareale innerschweizerische Gliederung kann bislang nicht (statistisch) bestätigt werden; 8 die areale Grundgliederung wurde entsprechend im Projektverlauf angepasst. Dadurch, dass die Sitze der jeweiligen Zeitungen als Metadaten erhoben wurden, sind von Fall zu Fall sogar noch kleinräumigere Einteilungen möglich (etwa, wenn die Zeitungen aus Altbayern - also nur einem Teil des Areals Deutschland Südost - und Österreich einen ähnlichen Sprachgebrauch aufwiesen). Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist evident: Nationale Grenzziehungen im plurizentrischen Sinne sind dank der Annotation der jeweiligen Ländernamen weiterhin möglich, aber solche Grenzziehungen sollen nur noch dort zum Einsatz kommen, wo sie tatsächlich quantitativ nachweisbar sind. Dass dabei bisher ‚nur‘ die Schweizer Areale (ursprünglich unterschied das Projektteam in West, Ost und Süd) wieder zusammengefasst worden sind, lässt an dieser Stelle bereits erahnen, dass die pluriareale Anlage für Deutschland und Österreich bisher der Empirie angemessener scheint. (Dazu gleich mehr, wenn es um einzelne Phänomene geht.) Abschließend hierzu sei noch thematisiert, dass auch die ‚regionalen‘ Einteilungen mehrheitlich geopolitische sind, sich nämlich an Bundesländern und Bezirken orientieren. Man kann dies mit einer radikalen Auslegung des pluriarealen Ansatzes durchaus kritisieren und stattdessen rigoros historische und dialektale Sprachräume als Areale fordern (wobei sich auch diese ja ebenfalls bereits in historischen politischen Einheiten ausgeprägt haben können). Bedenkt man jedoch, dass Standarddeutsch (v. a. in Deutschland) zu einem beträchtlichen Teil in föderalen Schulstrukturen vermittelt wird, sich zudem (v. a. in Österreich) kulturelle Schranken mit kleineren politischen decken können (z. B. im Falle des Salzburger Pinzgaus, der anders als das übrige Salzburger Land sprachlich-kulturell eher dem Westen Österreichs zuzuordnen ist) und außerdem die Verbreitung der Printversionen der herangezogenen Zeitungen mit kommunalen oder Landesgrenzen zusammenfallen kann (v. a. bei ehemaligen DDR-Bezirks-Zeitungen, die heute als Regional- 8 Obwohl sich bei einigen Phänomenen die Tendenz in absoluten Zahlen abzeichnet, innerhalb der Schweiz zwischen bspw. West und Ost zu unterscheiden, ließ sich diese statistisch nicht als signifikant bestätigen. 70 Konstantin Niehaus zeitungen weiterbestehen 9 ), macht eine Einteilung nach Bundesländern und Bezirken durchaus Sinn. Die Texte, einzelne Online-Zeitungsartikel, wurden sowohl nach den außersprachlichen Metadaten (Zeitung, Areal [‚Sektor‘], Land) wie auch linguistischen Aspekten (pos-Tagging, rfpos-Tagging, Satz- und Teilsatztagging, sowie Tagging nach dem topologischen Modell) automatisch annotiert. Mittels der Plattform CQP web kann nun das gesamte Datenmaterial digital per Suchmaschine durchsucht werden, als Suchsyntax dienen reguläre Ausdrücke (was auch Platzhalter- und Zeichenabstand-Operatoren miteinschließt). Abb. 3: Screenshot CQP web (Abfrage für feminines Genus bei [ E- ] Mail ) 10 Um areale Varianten identifizieren zu können, wurde eine Datenbank erstellt, in der Hinweise auf bestehende areale Variation aus Gegenwartsgrammatiken und Stilratgebern gesammelt wurden. Diese mutmaßlichen bestehenden arealen Varianten wurden zunächst per Suchsyntax gesucht. Die Belege für Varianten werden dabei strikt nach ihrer Frequenz beurteilt. Das heißt: Standarddeutsch definiert sich nach diesem Ansatz nicht explizit, aber faktisch vorrangig nach Frequenz - was nicht frequent genug ist, kann zwar auch standarddeutsch sein, wird jedoch nicht von der ‚Variantengrammatik‘ beschrieben. Da die ‚Variantengrammatik‘ nur areale Varianten beschreiben möchte, die häufig genug sind, um sich mit ihrer Verwendung in einem bestimmten Areal möglichst unauffällig 9 Vgl. hierzu Straßner (1999: 88) und Wilke (2009: 469-470). 10 Ein herzlicher Dank an Julia Engel (Salzburg) für die Abbildung. Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 71 zu äußern, fallen also niederfrequente Varianten einem Frequenz-Bias ‚zum Opfer‘. Die Festlegung beschreibenswerter Varianten fußt auf statistischen Tests wie dem Chi-Quadrat-Test. Bei hohen Belegzahlen (bei über 500 Belegen) werden bspw. Stichproben von 20 % der Belege gezogen und per Hand ausgezählt. Darüber hinaus berücksichtigt die ‚Variantengrammatik‘ Fehlerquoten beim Tagging (i. d. R. liegen diese bei 2 % und weniger). Für die folgende Darstellung sind v. a. die Verbalisierungen relevant, mit denen die ‚Variantengrammatik‘ für einzelne Varianten arbeitet: ‚mehrheitlich verwendet‘: 51 %+ der Variable ‚gebräuchlich‘: 21-50 % der Variable ‚kommt (selten) vor‘: 5-20 % der Variable ‚sporadisch‘: <5 % der Variable Dabei ist ein Punkt essenziell: Falls nicht genügend absolute Belege, nämlich mindestens 10, für die Varianten einer Variable (oder für eine Variante ohne klar zu benennende Gegenvariante[en]) innerhalb eines Sektors zu finden sind, oder falls sich die Gegenüberstellung der Varianten als statistisch nicht signifikant herausstellt, wird die gesamte Variable als nicht untersuchbar bzw. nicht darstellbar bewertet. Die absolute Marke der 10 Belege wird auch bei Phänomenen vermerkt, die in anderen Arealen genügend Belege erreichen. D. h., falls dennoch in einem bestimmten Sektor für die Varianten weniger als 10 Belege vorliegen, werden diese Ergebnisse mit ‚(u. S.)‘ (‚unter Schwellenwert‘) markiert. Ohne einen solchen Hinweis darf der Leser davon ausgehen, dass die absoluten Belegzahlen höher liegen. ‚(u. S.)‘-Ergebnisse werden zudem nur sekundär in die Interpretation arealer Gegebenheiten miteinbezogen. Die Angabe ‚(k. B.)‘ drückt aus, dass sich in einem Sektor ‚keine Belege‘ für die gesamte Variable finden, in anderen Arealen aber sehr wohl. Alle Tests, Schwellenwerte und Bezeichnungen wurden im Projektverlauf erarbeitet und anschließend in der Praxis erprobt, es handelt sich also nicht um vorher festgelegte Vorgaben. Die von der ‚Variantengrammatik‘ verfolgte quantitative Methodik zur Beschreibung des Standarddeutschen ist sicherlich diskutabel. Immerhin ist es jedoch die m. W. erste größere ihrer Art, die gänzlich auf statistisch-korpuslinguistischen Verfahren basiert und zudem nicht mit a-priori -Klassifizierungen arbeitet, sondern mit einer im Verlaufe des Projekts erarbeiteten und angepassten, darum hinreichend getesteten Methodik. 72 Konstantin Niehaus 4. Grammatische Fallbeispiele In diesem Kapitel präsentiere ich einige grammatische Phänomene, die areal im Standarddeutschen variieren. Ich habe diese zum einen danach ausgewählt, ob die Ergebnisse bereits hinreichend ausgewertet waren, zum anderen habe ich versucht, möglichst aus unterschiedlichen grammatischen Bereichen Beispiele zu zeigen: aus der Flexionsmorphologie (Pluralbildung mit e vs. s am Beispiel Balkon ), aus der Morphosyntax (Genusvariation am Beispiel [ E- ] Mail ), aus der Wortbildung (Adverbienbildung -Ø vs. -s am Beispiel durchweg- ) und nicht zuletzt aus der Syntax (Trennbarkeit von Verben, hier widerspiegeln ). Alle Ergebnisse sind als statistisch signifikant getestet. Die Treffer sind fast ausnahmslos grammatisch eindeutig, d. h. nicht ambig (mit einer durchschnittlichen Quote von ‚false positives‘ unter 2 %), die Treffer sind - wo dies vom Aufwand her möglich war - teilweise alle zusätzlich per Hand einzeln überprüft (z. B. sind bei 4.1 die Belege für Balkons so verifiziert), mindestens aber 20 % der Treffer. 4.1. Variation der Pluralbildung: Balkon Bei einigen Wörtern kann die Bildung des Plurals areal im Standarddeutschen variieren. Der Gebrauch des e -Plurals kann dabei dem des s -Plurals gegenüberstehen, so z. B. bei den aus dem Französischen entlehnten Substantiven Balkon , Ballon und Karton (vgl. auch im VWB , Ammon et al. 2004: 44-45). Ich behandle hier nur den Fall Balkon ; bei Ballon und Karton können areale Präferenzen zwar ähnlich, aber schwächer zum Vorschein kommen als bei Balkon . Die Beschreibung des VWB s lässt erwarten, dass der Plural Balkone eher im Süden des Sprachgebiets gebraucht wird, wohingegen Balkons eher im Norden verwendet wird, analog zu den Aussprachepräferenzen [bal’koːn] im Süden und [bal’kɔŋ] und [bal’kõː] im Norden (vgl. Ammon et al. 2004: 44-45). Für Balkon als Simplex wie als Grundwort (Determinativum) einer Komposition liegen 219 Fälle von Plural auf -s vor ( Balkons / balkons ) gegenüber 1824 Fällen von Plural auf -e ( Balkone / -balkone ). Die areale Verteilung zeigen Tab. 2 und Abb. 4. Areal Balkon-e Balkon-s Deutschland Nordwest 159 (94 %) 11 (6 %) Deutschland Nordost 431 (83 %) 90 (17 %) Deutschland Mittelwest 258 (93 %) 19 (7 %) Deutschland Mittelost 328 (82 %) 72 (18 %) Deutschland Südwest 171 (97 %) 5 (3 %) Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 73 Deutschland Südost 222 (93 %) 16 (7 %) Österreich West 51 (98 %) 1 (2 %) Österreich Mitte 49 (98 %) 1 (2 %) Österreich Südost 46 (92 %) 4 (8 %) Österreich Ost 5 (83 %, u. S.) 1 (17 %, u. S.) Schweiz 84 (100 %) 0 (0 %) Ostbelgien 4 (100 %, u. S.) 0 (0 %, u. S.) Liechtenstein 0 (0 %, k. B.) 0 (0 %, k. B.) Luxemburg 2 (67 %, u. S.) 1 (33 %, u. S.) Südtirol 14 (100 %) 0 (0 %) Tab. 2: relative Verteilung von Balkons vs. Balkone innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus 11 Zu erkennen ist, dass prinzipiell beide Pluralvarianten in fast allen untersuchten deutschsprachigen Regionen in Verwendung sind (wenn auch mit Werten u. S. 11 Folgende Angaben sind gültig für diese Tabelle und alle folgenden Tabellen: Relative Zahlen beziehen sich auf die Anteile einer Variante an der Variable (pro Sektor), die Größe der Sektor-Subkopora liegt jeweils bei 5000 000-8000 000 Textwörtern (je ca. 200 000 einzelne Zeitungsartikel). Prozentwerte sind auf Stellen vor dem Komma gerundet. Abb. 4: Relative Verteilung von Balkons vs. Balkone innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus 1 74 Konstantin Niehaus für Luxemburg, Ostbelgien und Ostösterreich und gar keinen für Liechtenstein), und sich dies für Deutschland und Österreich auf die jeweils gesamte Landesfläche aufteilt. D. h., weder kann man von einem Gegensatz ‚österreichisch‘ Balkone vs. ‚bundesdeutsch‘ Balkons sprechen noch von einem solchen ‚süddeutschösterreichisch-schweizerisch‘ Balkone vs. ‚norddeutsch‘ Balkons . Das mag etwas überraschen, hätte man ja auf der Basis unterschiedlicher Aussprachestandards, die der Duden online angibt, 12 vor allem letztere Verteilung erwartet. Vielmehr zeigt sich jedoch, dass die Variante mit Plural auf e , Balkone , stets die mehrheitlich bis ausschließlich verwendete Variante ist. Das VWB (Ammon et al. 2004: 44-45) suggeriert hier eine Zweiteilung des Sprachgebiets, die sich so nicht in den Daten bestätigt und die auch nicht so rigoros von der Aussprache abhängig gemacht werden kann. Letzteres zeigt sich erst bei der Betrachtung arealer Details: Im nord- und mittelöstlichen Deutschland häufen sich die Belege für den s -Plural. Balkons kommt dort also eher vor als in anderen Arealen Deutschlands. Dies lässt sich durchaus analog zu einer Aussprachevariante des Gebiets - der ehemaligen DDR - sehen: Nach dem ‚Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards‘ lässt sich der Nordosten und Mittelosten Deutschlands als Kerngebiet der Aussprachevariante [bal’kɔŋ] interpretieren (gegenüber eher westlich-südlichem [bal’koːn] und gelegentlichem [bal’kõː]). 14 So oder so lässt sich der relativ häufige Gebrauch des s -Plurals bei Balkon als spezifisch innerdeutsche Variation bezeichnen. Dies kann mit der pluriarealen Gliederung präzis beschrieben werden. 4.2. Genusvariation: (E-)Mail Für die Variation im Bereich des Genus wurde der Fall ( E- ) Mail herausgegriffen, nicht nur aufgrund seines Bearbeitungsstatus, sondern auch ob seiner Prominenz. In Elspaß et al. (2013: 50-51) konnten nach Auswertung von DeReKo- Daten prinzipiell die Angaben zur arealen Verteilung im VWB (Ammon et al. 2004: 48, 152) bestätigt werden: ( E- ) Mail als in Deutschland feminin, in Ös- 12 http: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Balkon, 24. 11. 2015. 13 Alle in diesem Beitrag verwendeten Karten stellen insignifikante Ergebnisse als kontrastärmere Torten dar, dies kann jedoch eventuell bei einer s-w-Abbildung nicht immer zu erkennen sein. Insignifikanzen sind aber in jedem Fall aus den korrespondierenden Tabellen ablesbar. 14 http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ AADG/ NasalierungOn, 24. 11. 2015. Die dortigen Erläuterungen zur Verteilung der Pluralformen beziehen sich wahrscheinlich nur auf die Aussprache. Andernfalls müsste dieser Beschreibung auf Basis unserer Ergebnisse widersprochen werden: Auch dort, wo man Balkone als Plural schreibt, existiert durchaus die - offenbar vom AADG nur im Singular abgefragte - Aussprache als [bal’kɔŋ] oder [bal’kɔ̃ ː]. Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 75 terreich neutral und in der Schweiz zwischen beidem variierend (vgl. Elspaß et al. 2013: 50-51). Allerdings ließe sich dabei nach der Untersuchung von Elspaß et al. weiter differenzieren: Erstens würden beide Genera in allen drei Ländern verwendet (über kleinere Regionen und Länder kann dabei aufgrund des zugrundeliegenden Korpus, dem DeReKo in damaliger Form, nichts ausgesagt werden), zweitens sei die Verwendung als Neutrum - das Mail o. Ä. - in Österreich nur knapp mehrheitlich (und schon gar nicht absolut) verwendet (vgl. Elspaß et al. 2013: 50-51). Und drittens zeige sich innerhalb Österreichs ein klarer Verwendungsanstieg neutraler Formen im Osten des Landes (vgl. Elspaß et al. 2013: 51). All dies lässt sich mit Hilfe des weitaus größeren und areal differenzierteren ‚Variantengrammatik‘-Korpus bestätigen und auch statistisch untermauern. Gesucht wurden sämtliche denkbaren Formen, von Simplizia wie E-Mail und Mail , über unterschiedliche (und generisch nicht ambige) Formen mit Artikeln und Attributen bis hin zum Gebrauch von . mail als Grundwort einer Komposition. Allgemein finden sich im ‚Variantengrammatik‘-Korpus 4415 Belege für eine Verwendung mit femininem Genus ( die E-Mail , eine Mail o. Ä.) gegenüber 589 Belegen für eine neutrale Verwendung ( das E-Mail , ein Mail o. Ä.). Die areale Distribution zeigen Tab. 3 und Abb. 5. In Deutschland, Ostbelgien und Luxemburg sowie in Südtirol wird mehrheitlich bis fast ausnahmslos die feminine Variante verwendet. Für Österreich und die Schweiz fallen die Ergebnisse anders und variabler aus: In der Schweiz wird mehrheitlich die neutrale Variante geschrieben, in Österreich ergibt sich eine aus den bisherigen Untersuchungen erwartbar knappe Mehrheit für das / ein ( E- ) Mail (o. ä. flexivisch eindeutige Formen). Allerdings zeigt sich hier wie schon bei Elspaß et al. (2013: 50-51) ein deutlicher Unterschied zwischen Westösterreich und den östlicheren Arealen Österreichs: In Westösterreich überwiegt sogar - wie im angrenzenden deutschen Südosten und in Südtirol, wenn auch nicht so deutlich - die feminine Variante die / eine ( E- ) Mail o. Ä. Diejenigen Areale, die also eigentlich das Bild einer ‚österreichischen‘ Präferenz des neutralen Genus bei ( E- ) Mail prägen, sind die übrigen, östlicheren Areale, und selbst dann ist noch auf den österreichischen Südosten hinzuweisen, bei dem das Verhältnis von femininem und neutralem Genus ausgeglichen ist. Keineswegs also ließe sich der Fall vereinfachen zu nationalen Varianten: das / ein ( E- ) Mail in Österreich, die / eine ( E- ) Mail in Deutschland - nicht unbedingt, weil in Deutschland das neutrale Genus so häufig wäre, sondern vielmehr weil umgekehrt das feminine Genus in Österreich fast die Hälfte des Gebrauchsstandards ausmacht. 76 Konstantin Niehaus Areal Neutrum - das ( E- ) Mail Femininum - die ( E- ) Mail Deutschland Nordwest 4 (1 %) 500 (99 %) Deutschland Nordost 7 (1 %) 593 (99 %) Deutschland Mittelwest 4 (1 %) 595 (99 %) Deutschland Mittelost 5 (1 %) 552 (99 %) Deutschland Südwest 13 (3 %) 472 (97 %) Deutschland Südost 19 (2 %) 884 (98 %) Österreich West 33 (37 %) 56 (63 %) Österreich Mitte 79 (55 %) 64 (45 %) Österreich Südost 148 (50 %) 147 (50 %) Österreich Ost 20 (69 %) 9 (31 %) Schweiz 155 (63 %) 91 (37 %) Ostbelgien 1 (2 %) 46 (98 %) Liechtenstein 2 (40 %, u. S.) 3 (60 %, u. S.) Luxemburg 1 (5 %) 19 (95 %) Südtirol 3 (14 %) 19 (86 %) Tab. 3: Verteilung von das / ein ( E- ) Mail vs. die / eine ( E- ) Mail innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus Abb. 5: relative Verteilung von das / ein ( E- ) Mail vs. die / eine ( E- ) Mail innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 77 Interessant ist dabei, dass die insgesamt überwiegend gebrauchte Variante mit femininem Genus der tendenziellen (und bisher ungeklärten) Bevorzugung des Neutrums bei Fremdwörtern - unabhängig von der Ursprungssprache - widerspricht (Schulte-Beckhausen 2002: 75). Da die Genuszuweisung für Fremdwörter nicht eindeutig geregelt (oder genormt) ist, können sich im Laufe der Zeit - und mit zunehmender Integration des Fremdworts in das grammatische System des Deutschen - Varianten ergeben (vgl. Gregor 1983: 170); d. h., die hier areal auftretende Variation könnte auch den gegenwärtigen Stand einer diachronen Entwicklung darstellen. Nichtsdestoweniger ist der areale Unterschied zwischen Österreich, Liechtenstein und der Schweiz zu den übrigen Sektoren erklärungsbedürftig. Durch eine Analyse der Genusvariation bei weiteren Anglizismen sollte es der ‚Variantengrammatik‘ jedoch möglich sein, den Einfluss der Arealität zu bestätigen oder zu widerlegen. Die bisherigen Ergebnisse hierzu, auf die ich im gegebenen Rahmen nicht weiter eingehen kann (z. B. zu die / das App und die / das SMS ), sprechen jedenfalls dafür, dass eher eine einzellexematische Variation vorliegt. 4.3. Variation bei der Adverbienbildung -Ø vs. -s: durchweg / durchwegs Das Adverb durchweg kann entweder mit einem Nullmorphem gebildet werden oder durch Anhängen eines s (weitere Fälle wären z. B. öfter / öfters und weiter / weiters ). Nach den Angaben des VWB s ist eine Verwendung von durchwegs in Südostdeutschland, Österreich und der Schweiz zu erwarten (vgl. Ammon et al. 2004: 138). Areal durchweg-Ø durchweg-s Deutschland Nordwest 705 (100 %) 3 (0 %) Deutschland Nordost 853 (100 %) 0 (0 %) Deutschland Mittelwest 762 (100 %) 3 (0 %) Deutschland Mittelost 811 (100 %) 3 (0 %) Deutschland Südwest 926 (97 %) 33 (3 %) Deutschland Südost 665 (51 %) 643 (49 %) Österreich West 9 (5 %) 167 (95 %) Österreich Mitte 7 (4 %) 155 (96 %) Österreich Südost 6 (2 %) 249 (98 %) Österreich Ost 1 (2 %) 56 (98 %) 78 Konstantin Niehaus Schweiz 17 (6 %) 269 (94 %) Ostbelgien 39 (98 %) 1 (2 %) Liechtenstein 1 (8 %) 11 (92 %) Luxemburg 12 (92 %) 1 (8 %) Südtirol 1 (2 %) 48 (98 %) Tab. 4: Verteilung von durchweg vs. durchwegs innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus Im ‚Variantengrammatik‘-Korpus ergeben sich für durchweg 4815 Belege und für durchwegs 1642 Belege. Dabei zeigt sich ein relativ klares Gebiet, in dem die Bildung auf s , durchwegs , mehrheitlich, ja oft fast ausschließlich verwendet wird (vgl. Tab. 4 und Abb. 6): Es umfasst (von Ost nach West) Österreich, Südtirol, Liechtenstein und die Schweiz. In den übrigen Regionen wird demgegenüber oft fast ausschließlich durchweg benutzt, mit einer hervorstechenden Ausnahme: der Südosten Deutschlands, also Bayern. In diesem - interessanterweise an das für durchwegs die höchste Verwendungsrate aufweisende Österreich angrenzenden - Gebiet werden beide Adverbvarianten zu fast gleichen Teilen verwendet. Abb. 6: Relative Verteilung von durchweg vs. durchwegs innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 79 Eine Deutung erscheint hierbei schwierig. Nimmt man die Werte für den deutschen Südwesten als Indiz hinzu, könnte man vielleicht von einer Tendenz sprechen, durchwegs generell eher in Süddeutschland und - mit noch höherer Wahrscheinlichkeit - in den südlichen deutschsprachigen Ländern inkl. der Region Südtirol anzutreffen. Eine Herleitung aus dialektalen, oberdeutschen Gegebenheiten erscheint mir ob des stark distanzsprachlichen Charakters des Lexems eher unwahrscheinlich; wenn überhaupt, müsste es durchwegs bereits in der historischen obd. Schreibsprache gegeben haben. Ob durchweg oder durchwegs - beides ist nach den vorliegenden Ergebnissen klar als standarddeutsch einzustufen. 15 4.4. Variation in der Trennbarkeit von Verben: widerspiegeln Dieser Fall wird ausführlich thematisiert in Niehaus (2015). Ich fasse mich deshalb hier etwas kürzer. Einige Verben lassen sich (in Hauptsätzen) trennbar und untrennbar gebrauchen, z. B. aberkennen , anerkennen , auferlegen und widerspiegeln . Für widerspiegeln ergeben sich also folgende Varianten: (1.) Die eingeladenen Mannschaften spiegeln die Handball-Weltklasse wider. (Kieler Nachrichten Online). (2.) Das hochkarätige Line-up der „Duette“-Tour widerspiegelt einen Ausschnitt daraus. (1815 - Das Oberwalliser Nachrichtenportal). Diese stark von der Syntax abhängige Variable ist im lexikalisch-semantisch vorgehenden VWB (mit Ausnahmen im Vorspann) nicht verzeichnet. Areal widerspiegeln trennbar widerspiegeln untrennbar Deutschland Nordwest 253 (100 %) 0 (0 %) Deutschland Nordost 256 (82 %) 56 (18 %) Deutschland Mittelwest 207 (100 %) 0 (0 %) 15 Vgl. aber: http: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ durchwegs. Hier wird durchwegs nur für Österreich und die Schweiz akzeptiert, „sonst umgangssprachlich“, eine Markierung, die nicht immer klar zu deuten ist. Obwohl die ‚Variantengrammatik‘ auf stilistische Wertungen verzichtet, sei zumindest an dieser Stelle angemerkt, dass sich eine Markierung als ‚umgangssprachlich‘ in vielen Kontexten von Belegen aus Deutschland nur schwer erkennen lässt, etwa in Bei der Scheinübergabe fielen die Beurteilungen der Fluglehrer durchwegs positiv aus. (Mittelbayerische Zeitung Online). Umgekehrt gibt es auch bei durchweg umgangssprachliche Kontexte, z. B.: Ein Ohrwurm, der durchweg in Verbindung mit Alkoholischem bei Partylaune gegrölt wird. (Neue Osnabrücker Zeitung Online). 80 Konstantin Niehaus Deutschland Mittelost 265 (83 %) 54 (17 %) Deutschland Südwest 239 (98 %) 6 (2 %) Deutschland Südost 391 (99 %) 5 (1 %) Österreich West 27 (84 %) 5 (16 %) Österreich Mitte 60 (92 %) 5 (8 %) Österreich Südost 60 (95 %) 3 (5 %) Österreich Ost 9 (90 %) 1 (10 %) Schweiz 18 (13 %) 119 (87 %) Ostbelgien 12 (100 %) 0 (0 %) Liechtenstein 0 (0 %, u. S.) 7 (100 %, u. S.) Luxemburg 13 (100 %) 0 (0 %) Südtirol 8 (80 %) 2 (20 %) Tab. 5: Verteilung von trennbarer Verwendungsweise / untrennbarer Verwendungsweise bei widerspiegeln innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus Im ‚Variantengrammatik‘-Korpus finden sich 1818 Belege für die trennbare Verwendung von widerspiegeln wie in (1) und 263 Belege für die untrennbare Verwendung wie in (2). 16 Daraus könnte man ein überregional starkes Übergewicht der Variante (1) ableiten, allerdings zeigt sich, dass der Blick auf die Areale ein anderes Bild ergibt (vgl. Tab. 5 und Abb. 7): Die Belege für die untrennbare Variante (2) sind stark konzentriert auf die Schweiz, wo sie sogar die große Mehrheit des Gebrauchsstandards (87 %) darstellen, auf Westösterreich mit 16 % der Variable sowie auf den Nordosten und Mittelosten Deutschlands - also wiederum auf die Gebiete der ehemaligen DDR - mit 18 % bzw. 17 % der Variable. Im an die Schweiz grenzenden Westösterreich und in den ‚neuen Bundesländern‘ Deutschlands kommt die untrennbare Variante also durchaus relativ häufig vor verglichen mit den übrigen Arealen des jeweiligen Landes. Zu revidieren ist die Annahme, die untrennbare Variante sei eine ausschließlich nationale, nämlich schweizerische Standardvariante (vgl. noch Dürscheid 16 Nochmals zur Klärung: Die Suchanfrage zielte dabei ausschließlich auf grammatisch eindeutige Fälle, wie sie in (1) und (2) gezeigt werden. Aufgrund der Möglichkeit, reguläre Ausdrücke einzusetzen und mehrere Taggings miteinander zu kombinieren, liegt die Fehlerquote der Treffer im konkreten Fall bei <0,5 % für trennbares widerspiegeln . Die Ergebnisse für untrennbares widerspiegeln habe ich per Hand durchgesehen. Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 81 & Hefti 2006: 139). 17 Eine weitergehende Erklärung steht hier noch aus, denkbar wären der Einfluss eines fachsprachlichen Registers 18 oder das Vorliegen tradierter Schriftsyntaxkonventionen, in Nordost- und Mittelost-Deutschland etwa durch den behörden- und obrigkeitsgeprägten Stil der DDR -Bezirkszeitungen, deren Nachfolger die heutigen Regionalzeitungen dieses Gebiets sind. 19 4.5. Zwischenfazit Die Ergebnisse zu den behandelten Phänomenen vermitteln einen klaren Eindruck: Relative Varianten sind offenbar in der Grammatik nicht unbedingt eine Randerscheinung. Absolut nationale Varianten kann es auch geben, aber - so viel sei vorweggenommen - die präsentierten Ergebnisse stehen in einer allgemeinen Tendenz, die das Projekt ‚Variantengrammatik‘ bisher festhalten kann: nämlich, dass grammatische Varianten in vielen Fällen Relativität statt Absolutheit zeigen. Es dürfte anhand dieses Befundes zumindest für die Gram- 17 Ausschließlich verwendet wird diese Variante nach den hier gezeigten Werten in Liechtenstein - bei einer Beleganzahl unter 10, also unter dem Schwellenwert für verlässliche Beschreibungen, wird dies in der Interpretation nicht berücksichtigt. 18 Vgl. Deutsches Wörterbuch, Lemmaeintrag anerkennen : http: / / woerterbuchnetz.de/ DWB/ ? lemid=GA03598 (13. 01. 2016). 19 Vgl. zum Stil der DDR-Zeitungen auch Schmidt (2000: 2024, 2029). Abb. 7: Relative Auftretenshäufigkeit von trennbarer Verwendungsweise / untrennbarer Verwendungsweise bei widerspiegeln innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus 82 Konstantin Niehaus matik des Standarddeutschen anzuzweifeln sein, ob absolute Varianten in der Mehrheit sind und ob sich überhaupt eine Legitimation ergibt, national-arealen Varianten schon rein theoretisch derart viel Raum in der Charakterisierung und Benennung von Varietäten zu gewähren, wie dies das plurizentrische Modell tut. Theoretisch präziser und exhaustiver sowie empirisch angemessener ist auf Basis der bisher vorgelegten Ergebnisse jedenfalls die Betrachtung des Gebrauchsstandards nach relativen Frequenzen, für die sich das pluriareale Modell sehr gut eignet. Dies führt nun zur Frage, ob nicht das plurizentrische Modell trotz allem sprachdidaktisch vorteilhaft ist im Vergleich zum durchaus komplex erscheinenden pluriarealen Modell, ob also die Vereinfachung auf nationale Varietäten durch den plurizentrischen Ansatz didaktisch zulässig ist (und wo dabei Sprachdidaktik aufhört, im Kern didaktisch zu sein und stattdessen politisch zu werden). 5. Sprachdidaktische Bedeutung der Pluriarealität Sprachdidaktik und Sprachpolitik scheinen in der Frage nach arealen Varietäten des Standarddeutschen besonders eng verwoben zu sein. Zur Klärung des genauen Zusammenhangs wie auch der Folgen plurizentrisch gegenüber pluriareal basierter Deutschdidaktik gibt es jedoch wenig Forschung. Insofern müssen alle folgenden Überlegungen als vorläufig gelten, bis empirisch weitreichende Untersuchungen unternommen worden sind. Dennoch will ich einige Punkte hervorheben, die zum einen als Einwände gegen eine plurizentrisch orientierte Didaktik gelten können, zum anderen als Anregung für sprachdidaktische Forschungsfragen dienen können. Das plurizentrische Modell hat zur Folge, dass auch Mehrheitsvarianten im Sinne einer didaktischen Komplexitätsreduktion zu absoluten Varianten uminterpretiert werden können. Ich verdeutliche das hieran Problematische am Fall Westösterreichs: Gehen wir nur einmal von der Annahme aus, dass bspw. in Österreich Deutschlehrer sich in der Praxis auf das plurizentrische Modell stützen würden. Auch im Unterricht wäre es dann nicht unproblematisch, Frequenzvarianten wie Neutrum bei ( E- ) Mail in Österreich zu absoluten nationalen Varianten zu erheben. Dadurch entsteht der Eindruck einer monolithischen Nationalvarietät, die durch den tatsächlichen Sprachgebrauch nicht gedeckt ist - in Westösterreich werden laut unseren Ergebnissen nicht nur wie im Rest Österreichs beide Varianten geschrieben, sondern die ‚deutsche‘ Variante mit femininem Genus sogar mehrheitlich. Im konkreten Fall würde dieses Übergewicht einer ostösterreichischen Variante (der Variante mit neutralem Genus) besonders in Westösterreich eine Deutschdidaktik bedeuten, die offenbar den Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 83 Schreibgewohnheiten nicht entspricht und wohl nicht zu kommunikativen Missverständnissen führen dürfte (anders als in der Lexik, vgl. Putz 2002: 71), aber zumindest Unverständnis unter den Schülern hervorrufen kann. D. h., es bliebe den Schülern unklar, warum man die E-Mail oder analoge Formen nicht verwenden sollte außer aus dem alleinigen Grund, es sei eine ‚deutsche‘ Variante, keine ‚österreichische‘. Und aus Sicht der österreichischen Lehrkräfte gefragt: Soll man die ‚deutsche‘ Variante dann korrigieren, obwohl ein großer Teil der Deutschsprachigen in Österreich die Variante geregelt als Standardvariante verwendet? 20 Dann würde der Deutschunterricht in Österreich vorrangig dem Patriotismus, d. h. der Hebung eines Nationalgefühls mit ostösterreichischer Prägung, dienen - was aber auch explizit so kommuniziert werden müsste. Wie kontraproduktiv eine solche Betonung eines vermeintlich gesamtösterreichischen Standarddeutschen sein kann, hat Putz (2002: 61) bereits für die DaF-Didaktik Österreichs aufgezeigt. Für die Betrachtung der Grammatik bleibt es nicht auf diesen einen Fall der Genusvariation bei E-Mail beschränkt, auch in anderen Bereichen weist Westösterreich deutlich andere Frequenzverhältnisse des Gebrauchsstandards auf als Ostösterreich, etwa wie schon gesehen teilweise in der Trennbarkeit von widerspiegeln oder nicht zuletzt auch in der Serialisierung in Verbalkomplexen (vgl. Niehaus 2014: 305-306). Es ist anzunehmen, dass sich durch die areale Vielfalt innerhalb Österreichs die frühere Problematik des einheitlichen Binnendeutschen nur umlegen würde auf ein vermeintlich einheitliches ‚österreichisches Standarddeutsch‘. Und hinzu kommt, selbst wenn man vom Fall Westösterreich absieht: Auch in anderen Teilen Österreichs sind häufig, so auch beim Genus von ( E -) Mail , mehrere Varianten als standarddeutsch hinreichend in Verwendung - und somit nach Argumentation 20 Komplexer wird der Fall freilich, wenn man fragt: Soll dann umgekehrt auch eine Lehrkraft in Nordwestdeutschland dort absolut unübliche ‚österreichische‘ Varianten als korrekt akzeptieren bzw. wo sind in den Frequenzen der Minderheitsvariante die Grenzen der Akzeptanz zu ziehen? Darf ein österreichischer Schüler in Nordwestdeutschland korrigiert werden, wenn er ‚seine‘ Variante verwendet? Und falls nein, gilt das nur für ihn oder auch für seinen norddeutschen Klassenkameraden, der die Variante vielleicht übernimmt oder ein Faible für ‚charmante‘ österreichische Varianten entwickelt? Diese Fragen müssten m. E. dringend umfassender untersucht werden. Einen Versuch einer noch recht theoretischen Antwort darf ich hier kurz wagen: Eine Kompromisslösung wäre, in den gerade geschilderten fiktiv auf Nordwestdeutschland bezogenen Fällen die Schüler nicht zu korrigieren, aber darauf hinzuweisen, dass eine im regionalen Gebrauchsstandard unübliche Form verwendet wird (ohne dabei die österreichische Variante als ‚Nonstandard‘ o. Ä. abzuqualifizieren bzw. eine Diskriminierung nahezulegen - hier müssen Lehrkräfte entsprechend sprachsensibel ausgebildet werden, auch in ihren Formulierungen). Im Falle des im Fließtext genannten Beispiels liegt der Fall anders: Insofern als beide Varianten in der Region, bspw. Westösterreich, als Gebrauchsstandard üblich sind, ist weder eine Korrektur noch ein gesonderter Hinweis erforderlich. 84 Konstantin Niehaus des Forschungsprojekts als korrekter Sprachgebrauch zu betrachten. Insgesamt besteht also sprachdidaktisch die Gefahr, dass ohne empirische Grundlage ein sprachmonomaner Variantenabbau ‚von oben‘ auf eine einheitliche nationale Norm hin betrieben wird, d. h. das wissenschaftliche Fundament des Deutschunterrichts von politischen Wunschvorstellungen unterlaufen wird. In einem letzten Punkt seien darum auch sprachpolitische Aspekte kurz diskutiert, wobei ich mich hier besonders auf Österreich und Deutschland konzentriere. Für Deutschland besteht die Gefahr, dass sich eine klischeehafte Metonymie ‚nord(west)deutsch = deutsch‘ (in Österreich auch: ‚deutsch = preußisch‘) ausbreitet - schon bei der Lexik konnte man feststellen, dass sogenannte ‚Teutonismen‘ „sofern sie nicht offizielle Amtswörter sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit norddeutsch geprägt“ sind (Eichinger 2005a: 157). Die große areale Vielfalt einer Nation wie Deutschland, die nicht nur im Wortschatz, sondern - wie die obigen Beispiele zeigen - durchaus auch innerhalb der Grammatik des Standarddeutschen bestehen kann, wird dadurch vernachlässigt. Für Österreich mag man Hoffnungen in das plurizentrische Modell dahingehend setzen, dass es bspw. den Österreichern durch die Vereinfachung auf nationale Varietäten die von Auer (2013: 41) sogenannte „asymmetrical pluricentricity“ gewissermaßen ‚austreibt‘, d. h. den ständigen Vergleich des eigenen Sprachgebrauchs mit dem der Bundesdeutschen (obwohl von letzteren kein solcher stattfindet) als müßig vermittelt wird. Letztlich soll das plurizentrische Modell also zu einem positiven sprachlichen Selbstbewusstsein in Österreich führen. Die Chance absoluter sprachpolitischer Gleichwertigkeit ist jedoch m. E. eher im pluriarealen Ansatz gegeben, und zwar aus folgendem Grund: In Österreich herrscht ein scheinbar widersprüchlich zwischen ‚österreichischer‘ und ‚deutscher‘ Variante schwankender Gebrauch des Standarddeutschen. Auf der Basis des pluriarealen Modells wird dies als Mythos entlarvt, weil solche nationalen Zuschreibungen im Regelfall nicht exakt oder gar nicht zutreffen und grundsätzlich beide Gruppen, Österreicher wie Deutsche, beide Varianten verwenden - nur eben auch innerstaatlich unterschiedlich häufig (ebenjene Häufigkeiten werden im Übrigen auch transparent gemacht). Ein Grundverständnis für solch frequenzielle Verhältnisse trägt zur Variationstoleranz bei. Und erst, wenn eine solche verinnerlicht wurde, mag man auch auf eine Identitätsbildung in Österreich hoffen, die die sprachgeschichtlich wie gegenwartssprachlich engen Querverbindungen zu Deutschland reflektiert und als Chance, nicht als Risiko, begreift. Grammatische Variation in der pluriarealen Sprache Deutsch 85 6. Fazit und Ausblick Die Einzelanalysen zeigen, dass in der Grammatik des Standarddeutschen areale Variation durchaus in unterschiedlichsten grammatischen Teilbereichen vorhanden ist und dass diese Arealität bislang als pluriareal einzustufen ist. Einige Vorteile des pluriarealen Ansatzes sind offensichtlich: die höhere theoretische Gewichtung relativer Varianten, die methodische Offenheit bezüglich der Stärke arealer Grenzen und die mit beidem einhergehende vergleichsweise hohe Flexibilität des Korpusdesigns wie generell Anpassungsfähigkeit des Modells an die Empirie. Zur Methodik ist noch zu sagen, dass diese außer den dargestellten Chancen freilich auch ein Risiko birgt: nämlich, einen Ansatz mittels digitaler Großkorpora nur mit linguistischer, nicht aber mathematischer Kritik zu hinterfragen. Bspw. könnte man einwenden, manches Auftreten einer Variante in bestimmten, eigentlich für sie ‚untypischen‘ Arealen komme einfach durch die schiere Masse der Texte zustande und ergebe sich aus reiner Wahrscheinlichkeit: Wenn ein Korpus groß genug ist, wird sich auch irgendwann eine bestimmte Form darin finden, so einflussreich außersprachliche Faktoren auch sein mögen. Hiergegen sind zwei Argumente vorzubringen: Erstens sprechen Fälle dagegen, in denen sehr wohl kein einziger Beleg für eine Variante zu finden ist, trotz der Masse an Texten (z. B. durchwegs im deutschen Nordosten). Und zweitens sind neben dem absoluten Auftreten immer die relativen Zahlen zu beachten - so gehen vereinzelte Belege als ‚statistisches Rauschen‘ sozusagen in der Masse an Belegen für die Gegenvariante unter (z. B. durchwegs im deutschen Nordwesten). Freilich löst das nicht das grundsätzliche Problem, aber es sind doch sehr bedenkenswerte Gegenbeispiele. Und im Grundsatz wäre immerhin noch darauf zu verweisen, dass die ‚Variantengrammatik‘ all diese Daten zugänglich macht, sodass man überhaupt darüber diskutieren kann - präzise Angaben zu Quantitäten bzw. ein zugrundeliegendes systematisch quantitatives Raster findet sich (teilweise auch aufgrund früherer eingeschränkter Möglichkeiten) bisher kaum in Wörterbüchern und Grammatiken, auch nicht in denen mit wissenschaftlichem Anspruch. Die Erforschung der arealen Variation des Standarddeutschen ist selbstverständlich nicht abgeschlossen, weder in der Grammatik noch in anderen Bereichen. Doch die bisherigen Befunde des Projekts ‚Variantengrammatik‘ zeigen, dass die Einstufung des Deutschen als pluriareale Sprache durchaus ihre empirische Berechtigung hat, wenn Sprachen (auch) über ihre (Standard-)Grammatik von anderen Sprachen abgegrenzt werden sollen. Sprachdidaktisch wurde dafür argumentiert, die Verzahnung von Sprachdidaktik und Sprachpolitik nicht zu eng zu führen und Variationstoleranz als Grundlage eines selbstbewussten arealen Sprachgebrauchs zu sehen. Aller- 86 Konstantin Niehaus dings muss abschließend darauf hingewiesen werden, dass für den schulischen Deutschunterricht - wie im Übrigen auch für die universitäre Germanistik - dringend systematisch in größerem Maßstab erforscht werden müsste, in welchem Umfang und mit welcher Methodik areale Varianten des Standarddeutschen überhaupt im Unterricht der deutschsprachigen Länder und Regionen behandelt bzw. allgemein gelehrt werden und welche Auswirkungen eine plurizentrische bzw. pluriareale Orientierung der jeweiligen Didaktik hat. Andernfalls werden Schlussfolgerungen bestenfalls heuristische ‚educated guesses‘ bleiben. 7. Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. 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Robert Möller 1. Einleitung 2. Deutsch in Ostbelgien 3. Die Position des Deutschen in Belgien heute 4. „Das“ ostbelgische Deutsch - Besonderheiten des Deutschen in Ostbelgien 5. Loyalität gegenüber den belgischen Varianten 6. Zur Bewertung der ostbelgischen Varianten 7. Zusammenfassung 8. Literatur 1. Einleitung Deutsch ist in Belgien die Sprache einer kleinen Minderheit, die Zahl der Sprecher in dem offiziell deutschsprachigen Landesteil liegt bei ca. 70 000, 1 das sind ca. 0,6 % der belgischen Bevölkerung. Aufgrund der in den vergangenen Jahrzehnten ständig gewachsenen Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist das Deutsche als Sprache der informellen wie formellen Kommunikation hier jedoch nicht im Geringsten gefährdet. Für die Identität der heutigen Ostbelgier spielen sowohl die deutsche Sprache als auch die belgische Nationalität eine wichtige Rolle, die meisten identifizieren sich klar mit einer durch beides zusammen definierten Heimat. 2 Differenzierter zu betrachten ist jedoch die Frage, 1 Vgl. zum Problem der Zählung Darquennes (2013: 357) - die Deutschsprachige Gemeinschaft hat heute 76 645 Einwohner (DGSTAT 2016), wenn der Anteil von 90 % Sprechern mit deutscher Muttersprache seit der Befragung von sinus+polis (2011: 13) gleich geblieben ist, wäre es also knapp 69 000. 2 In der Befragung von sinus+polis (2011: 16 f.) war eine Frage: „Wenn Sie jemand fragt, in welcher Gegend Sie zuhause sind, was würden Sie da sagen? “ (nur 1 Antwort möglich); die häufigsten Antworten waren Ostbelgien (29 %) und Deutschsprachige Gemeinschaft (22 %), gefolgt von Belgien (15 %) und den spezifizierenden Angaben Eifel / Süden der DG (15 %) und Eupener Land / Norden der DG (14 %). Die Befragung bestätigte auch, dass die Bindung der Ostbelgier an ihre Region stark ist: 51 % der Befragten gaben an, sie wollten an keinem anderen Ort leben, weitere 45 % könnten sich auch vorstellen, woanders zu leben, aber wohnen gerne in Ostbelgien (ebd.: 26). 90 Robert Möller wie weit das belgische (Standard-)Deutsch sich durch die knapp hundertjährige politische Trennung des Gebiets von Deutschland zu einem besonderen ostbelgischen (Standard-)Deutsch entwickelt hat. Ammon (1995: 96, s. a. Ammon et al. 2004: XXXI ) stuft Belgien als „Halbzentrum“ ein, „halb“ wegen des Fehlens einer eigenen Kodifizierung, „Zentrum“ wegen der nationalen Eigenständigkeit. Will man nun nicht automatisch bei nationaler Eigenständigkeit (im Fall Ostbelgiens nicht im Sinn einer Eigenständigkeit des ganzen Gebiets, sondern einer Unabhängigkeit von anderen deutschsprachigen Ländern) immer von einem eigenen sprachlichen Zentrum ausgehen, ist zu prüfen, ob hier tatsächlich vorgefunden werden kann, was durch nationale Eigenständigkeit unzweifelhaft begünstigt wird: die Entwicklung einer spezifischen Varietät, etwa infolge eines vorwiegend im nationalen Rahmen stattfindenden Ausgleichs bei Neuerungen, einer Orientierung an nationalen Medien und Institutionen, einer bestimmten Sprachpolitik, einem an politischen Grenzen orientierten Umriss des „eigenen“ Sprachraums auf der mental map der Sprecher und entsprechender (Nicht-)Bereitschaft zur Übernahme von Neuem, einer spezifischen Sprachkontaktsituation o. ä. In den letzten Jahren sind jedenfalls Bemühungen um eine Bestandsaufnahme der eigenen Varianten und - in begrenztem Rahmen - auch Ansätze zu einer offiziellen Anerkennung spezifisch belgischer Ausdrücke zu beobachten. 2. Deutsch in Ostbelgien 2.1. Das deutschsprachige Gebiet Das offiziell deutschsprachige Gebiet in Belgien ( Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens , oft abgekürzt als DG , häufig auch als Ostbelgien bezeichnet) bildet einen in der Mitte unterbrochenen Streifen im Osten des Landes, zwischen dem französischsprachigen Teil und Deutschland, der im Norden an die Niederlande grenzt und im Süden an Luxemburg. 90 % der Bewohner der Deutschsprachigen Gemeinschaft bezeichnen Deutsch als ihre Erstsprache (weitere 7 % Französisch), insofern handelt es sich um eine sprachlich weitgehend homogene Region (polis+sinus 2011: 13). Die meisten Bewohner sind jedoch mindestens zweisprachig, mit Französisch als Zweitsprache. 57 % der von polis+sinus Befragten charakterisierten die Deutschsprachige Gemeinschaft als eine mehrsprachige Region (polis+sinus 2011: 18 f). In den letzten Jahrzehnten haben sich vor allem wegen der niedrigeren Immobilienpreise auch zahlreiche Deutsche hier angesiedelt. Nach der Umfrage von 2011 machten sie 18 % der DG -Bevölkerung aus, im Nordteil wegen der Nähe zu Aachen sogar 28 % (polis+sinus 2011: 1). Größ- Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 91 ter Ort der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist Eupen (ca. 19 000 Einwohner), dort ist der Sitz der Regierung und des Parlaments der DG , des Rundfunks, der Tageszeitung und der Autonomen Hochschule der DG . Allerdings ist nicht das ganze Gebiet gleichermaßen auf Eupen als nächstgelegenes Zentrum hin orientiert, sondern nur die Nordhälfte, das „Eupener Land“. Die Südhälfte, von Ostbelgiern meistens als „Eifel“ bezeichnet, mit dem eigenen Zentrum St. Vith (knapp 10 000 Einwohner), ist in verschiedener Hinsicht davon abgetrennt, in erster Linie verkehrstechnisch durch das fast unbesiedelte, jahrhundertelang unwegsame Hochmoorgebiet des Hohen Venns. Das Hohe Venn markiert aber auch einen historischen Gegensatz: Hier war die Grenze zwischen dem limburgischen und dem luxemburgischen Territorium, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das heutige Ostbelgien politisch teilte. Etwa hier verlaufen auch mehrere Isoglossen, die die nördlichen Dialekte deutlich von den südlichen unterscheiden - der Dialekt von Eupen ist südniederfränkisch, der von St. Vith moselfränkisch. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Teilen besteht schließlich nach wie vor darin, dass der Süden in erster Linie landwirtschaftlich und v. a. forstwirtschaftlich geprägt ist und abgelegen von den großen Verkehrsachsen, während der Norden stärker besiedelt und urbanisiert und stellenweise industrialisiert ist und von der Durchgangsstrecke Köln-Aachen-Brüssel / Paris durchquert wird. Diese Zweiteilung der Deutschsprachigen Gemeinschaft reflektieren schon die genannten unterschiedlichen Fremd- und Eigenbezeichnungen („Eupener Land“ vs. „Eifel“), sie ist auch sprachlich deutlich wahrzunehmen (s. u.) und in spottenden bzw. distanzierenden Äußerungen und Stereotypen greifbar. Riehl (2001: 42) weist sogar auf zwei verschiedene Jugendkulturen hin, die sich geographisch verteilen: „eine ländlich orientierte, deutschsprachige Jugendkultur, die vor allem in der Eifel gepflegt wird, und eine städtisch-moderne, französischsprachige Jugendkultur“. Die offizielle Deutschsprachige Gemeinschaft umfasst eigentlich nicht das gesamte belgische Gebiet, in dem germanische Dialekte gesprochen werden / wurden, die traditionell vom Gemeindeutschen als Schrift- und Kultursprache überdacht wurden: Dieses Gebiet reicht an mehreren Stellen noch weiter nach Westen (und Süden). Diese westlicheren Teile gehören jedoch schon seit der Staatsgründung 1830 zu Belgien (daher auch als „Altbelgien“ bezeichnet) und nicht erst, wie das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft („Neubelgien“), seit 1920. Da der Abbau der Dialekte auch in Altbelgien heute weit fortgeschritten ist und das Deutsche als überdachende Standardsprache hier eindeutig vom Französischen abgelöst worden ist, hängt es von der Perspektive ab, wie weit hier überhaupt noch von einer deutschsprachigen Minderheit die Rede sein 92 Robert Möller kann 3 - Deutsch als Standardsprache hat hier heute eigentlich nur noch eine etwas bevorzugte Position im Fremdsprachenunterricht. Diese Entwicklung hat mit der Praxis der belgischen Sprachen- und insbesondere Schulsprachenpolitik seit dem 19. Jahrhundert zu tun (vgl. z. B. Henkes 2012, Pabst 1979). Hintergrund dafür sind u. a. wiederum die geringe Sprecherzahl und auch die Diskussion um die Zuordnung der südniederfränkischen Ortsdialekte im Norden zum Deutschen oder zum Niederländischen (vgl. z. B. Henkes 2012: 6). Wesentlich hinzu kommt aber noch die politische bzw. patriotische Aufladung der Entscheidung zwischen Deutsch und Französisch vor allem durch den Ersten Weltkrieg, die eine bewusste Hinwendung der altbelgischen Bevölkerung zum Französischen mit sich brachte (während Neubelgien im Ersten Weltkrieg ja noch zum Deutschen Reich gehörte). Im Zweiten Weltkrieg kam es infolge der Annexion von Neubelgien und Teilen Altbelgiens durch Deutschland im altbelgischen Gebiet zu einer zweiten „romanisation patriotique“, die auch nach Kriegsende andauerte; nach dem Krieg wandten sich auch die Neubelgier teilweise bewusst dem Französischen zu (s. Pabst 1979: 30, Darquennes 2013: 345 f.). Ein besonderer Fall ist das altbelgische Gebiet um Arel / Arlon, das im Osten nicht an Deutschland, sondern an Luxemburg grenzt: Im Zuge des Ausbaus des Luxemburgischen zur Standardsprache ordnen die Dialektsprecher dieses Gebiets ihren Dialekt zunehmend dem Luxemburgischen zu (s. Darquennes 2013: 358 Anm. 4). Auch hier geht die Dialektkenntnis deutlich zurück, v. a. aus wirtschaftlichen Gründen gibt es aber ein neues Interesse am Erwerb des Luxemburgischen (ebd.: 358 f.). 2.2. Geschichtliche Entwicklung Das heutige Ostbelgien war nur von 1815 bis 1919 Teil eines (fast) rein deutschsprachigen Staats (zum Folgenden s. z. B. Pabst 1979); dass es jedoch heute eine eindeutig deutschsprachige Minderheit in Belgien gibt, geht vor allem auf diese Zeit zurück - zugespitzt: die Deutschsprachigkeit auf die Zugehörigkeit zu Preußen ab 1815 und die Minderheiten-Rolle auf die Abtrennung von Deutschland 1920. Vor der Angliederung an Frankreich 1794-1815 gehörte der Norden, das Eupener Land, zum Herzogtum Limburg, der Süden zum Herzogtum Luxemburg. Gesprochen wurden die jeweiligen Dialekte, als Schriftsprache wurde, nach der Ablösung der regionalen Schreibsprachen, im 17./ 18. Jh. im Eupener Land vorwiegend das Niederländische verwendet und nur im Süden die neu- 3 In der Studie Euromosaic der Europäischen Kommission (Euromosaic 1996) wurde das Deutsche in Neubelgien als „sehr lebendig“ eingestuft (Platz 1 von 48 untersuchten Gebieten mit deutscher Sprachminderheit), in Altbelgien dagegen schon als „stark bedroht“ (Platz 30), vgl. a. Nelde & Darquennes (2000), Darquennes (2013). Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 93 hochdeutsche Schriftsprache, daneben spielte in beiden Regionen auch das Französische eine Rolle. Auch im Norden war allerdings das (Hoch-)Deutsche Kirchen- und Schulsprache. Unter der französischen Herrschaft 1794-1815 wurde das gesamte Gebiet des heutigen Ostbelgien Teil des neuen Départements Ourthe, in dem als Verwaltungs- und Gerichtssprache nur noch Französisch anerkannt war (s. Ködel 2014: 162). Als Sprache in Kirche und Schule behielt das Neuhochdeutsche gleichwohl seine Position. Die endgültige Durchsetzung des Deutschen folgte dann auf die Angliederung (ungefähr) des Gebiets der heutigen DG an Preußen, im Wiener Kongress 1815. Hier kommt auch zum Tragen, dass die gut 100jährige Zugehörigkeit zu Preußen und dem Deutschen Reich, mit Deutsch als einziger Amts- und Unterrichtssprache, gleichzeitig die Phase war, in der infolge der zunehmenden Durchsetzung der Schulpflicht (1825 in der preußischen Rheinprovinz eingeführt) immer mehr Menschen die überregional einheitliche Schriftsprache beherrschten und diese auch zunehmend gesprochen wurde. So gehörte „Eupen-Malmedy“ dann - abgesehen von den immer schon französischbzw. wallonischsprachigen Ortschaften im Kreis Malmedy - ganz eindeutig zum deutschsprachigen Gebiet, als die beiden Kreise 1920 Belgien zugesprochen wurden. Die deutsche Sprache wurde dabei für die neuen Kantone zumindest theoretisch als gleichberechtigte Amtssprache neben dem Französischen anerkannt und blieb im Prinzip Schulsprache in der Primarschule; der Sekundarschul-Unterricht hingegen war französisch. Dieser Zustand wurde auch nach dem 2. Weltkrieg wieder hergestellt, das heißt: „die Unterrichtssprachenpolitik wurde zum Instrument der ‚Reassimilierung‘ der deutschsprachigen Belgier“ (Darquennes 2013: 356), bis zu den gesetzlichen Neuerungen ab den 1960er Jahren. 3. Die Position des Deutschen in Belgien heute Die heutige Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft hat sich schrittweise ab den 1960er Jahren entwickelt (s. genauer Brüll 2010). Sie hat mit der gewachsenen Rücksicht auf Sprachminderheiten in Europa zu tun, ist aber eigentlich nicht so sehr die Folge einer emanzipatorischen Bewegung der Ostbelgier, sondern eher ein Nebenprodukt des flämisch-wallonischen Konflikts: Bei der Föderalisierung Belgiens, die vor allem auf dessen Lösung abzielte, sind „die institutionellen Kompromisse […] relativ großzügig, dafür allerdings ziemlich undifferenziert auf die Deutschsprachige Gemeinschaft übertragen worden. Dies hat den Deutschsprachigen ein herausragendes Autonomiestatut und damit auch gelegentlich den Titel ‚bestgeschützte Minderheit Europas‘ beschert“ (Thomas 2010: 84, vgl. a. Minke 2010: 3, Brüll 2010: 45). 94 Robert Möller Das mehrsprachige Belgien wurde im Zuge mehrerer Staatsreformen ab den 1960er Jahren nach dem Territorialitätsprinzip in mehrere im Prinzip einsprachige Sprachgebiete aufgeteilt, ein französisches, ein niederländisches, ein deutsches und daneben das zweisprachige Brüsseler Gebiet. 4 Dies bedeutet, dass die jeweilige Sprache im entsprechenden Landesteil Amtssprache ist und in Verwaltung, Justiz und Schulwesen allein zu verwenden ist. Für eine festgelegte Reihe von Gemeinden sind allerdings in Schulwesen und Administration sprachliche Sonderrechte („Fazilitäten“ / „Spracherleichterungen“) zugunsten von Minderheiten vorgesehen, die eine der anderen beiden Sprachen sprechen; dazu gehören alle Gemeinden der Deutschsprachigen Gemeinschaft, wo hierdurch „de facto Französisch zweite Amtssprache ist“ (Kern 1999: 214); gewisse Rechte werden im Schulwesen auch Niederländischsprachigen zugestanden. Umgekehrt gelten in einigen französischsprachigen Gemeinden Sonderrechte für die deutschsprachigen Bewohner. Auf nationaler Ebene ist das Deutsche im Prinzip gleichrangige dritte Landessprache (vgl. Nelde 1987: 10). So ist der deutsche Text der Verfassung genauso verbindlich wie der französische und der niederländische (Henkes 2012: 16). Die Bewohner der DG haben das Recht, auf Deutsch mit der föderalen Verwaltung zu kommunizieren (und ebenso mit derjenigen der wallonischen Region), auch Gerichtssprache ist für sie Deutsch, jedenfalls in erster Instanz im Gerichtsbezirk Eupen, und auch bei Berufungsverfahren vor den höheren und den obersten Gerichten außerhalb der DG muss bei Bedarf das Deutsche zugelassen werden (s. genauer Henkes 2012 und Sommadossi 2013). Es gibt allerdings Klagen über eine unzureichende Beachtung der sprachengesetzlichen Regelungen in der Praxis (s. De Fijter 2012, Henkes 2012: 40), neben gelegentlichem Unwillen steht dahinter meist Mangel an finanziellen Mitteln und sprachkompetenten Personen. In jüngerer Zeit wird insbesondere kritisch konstatiert, dass Internetseiten zwar in englischer, aber nicht in deutscher Version zugänglich sind (De Fijter 2012: 69). Proteste gegen unzureichende Berücksichtigung des Deutschen durch Privatunternehmen verkennen allerdings oft, dass für diese keine entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen existierten, dass also z. B. Geschäftsbedingungen nicht auf Deutsch veröffentlicht werden müssen (Henkes 2012: 41). Infolge der Reformen ist der Föderalstaat heute in doppelter Weise (ohne Hierarchie) 5 untergliedert: Es gibt einerseits drei „Gemeinschaften“ (vormals „Kulturgemeinschaften“), in deren Kompetenz Kultur, Bildung und Teile der Sozialpolitik liegen: die Flämische Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft 4 Art. 4 der Verfassung, s. http: / / www.senate.be/ deutsch/ const_de.html (25. 8. 2016). 5 Die vom Föderalstaat, von den Gemeinschaften und von den Regionen verabschiedeten Rechtsnormen sind gleichrangig (Thomas 2010: 63). Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 95 und die Deutschsprachige Gemeinschaft. 6 Andererseits gibt es drei „Regionen“, die vor allem für die wirtschaftlichen und umweltbezogenen Belange zuständig sind: die (überwiegend frankophone) Wallonische Region, die (niederländischsprachige) Flämische Region und die (zweisprachige) Brüsseler Region. 7 Für das deutschsprachige Gebiet gilt also eine Asymmetrie: Auf der Ebene der Gemeinschaften steht es gleichberechtigt neben den beiden anderen Gemeinschaften, wie diese hat es eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament, auf der Ebene der Regionen jedoch nicht, da ist es Teil der Wallonie. Bestrebungen, dies zu ändern und - wie das niederländischsprachige Flandern - auch eine eigene Region zu bilden, haben sich bisher nicht durchsetzen können (vgl. z. B. Thomas 2010: 84 f., Reiter 2015, polis+sinus 2011: 68). Entscheidend für die Position der deutschen Sprache ist aber vor allem die eigenständige Regelung der Sprachenpolitik und des Unterrichtswesens (s. dazu Dries 2010), die seit den 1980er Jahren in der Kompetenz der DG liegt (seit 1989 eigene Lehrpläne), seit dieser Zeit verfügt die DG auch über eine Autonome Hochschule. Diese bietet allerdings nur die Ausbildung zum / zur Kindergärtner / in und Primarschullehrer / in sowie zum / zur Krankenpfleger / in an. Das bedeutet unter anderem, dass die in der DG tätigen Sekundarschullehrer sowohl die fachliche als auch die (theoretische) fachdidaktische Ausbildung normalerweise an einer der wallonischen Universitäten auf Französisch absolviert haben und die deutschen Fachterminologien außerhalb des Studiums oder erst in der Praxis erwerben müssen, sofern sie nicht überhaupt auf Französisch unterrichten (s. u.). Für das Fach Deutsch bedeutet es überdies, dass die fachdidaktische Vorbereitung sich weitgehend nicht auf die Anforderungen des muttersprachlichen Deutschunterrichts in der DG richtet (dessen Inhalte sich nach den Lehrplänen wenig von denen des Deutschunterrichts in deutschen Bundesländern unterscheiden), sondern auf die Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache. Immerhin ist für die Anstellung von Lehrern in der DG seit 2004 der Nachweis guter Deutschkenntnisse (mindestens Niveau B2 des Europäischen Referenzrahmens) obligatorisch. Gleichzeitig hat im Unterrichtswesen der DG jedoch der Erwerb des Französischen einen sehr hohen Stellenwert, er beginnt schon in der Vorschule und entspricht vom vorgesehenen Zeitumfang her in der Primar- und Sekundarschule fast oder ganz dem Deutschunterricht. In der Sekundarschule kann außerdem bis zu 50 % (oder sogar mehr) des Sachunterrichts in Französisch erteilt werden. 8 Die gesetzlichen Regelungen der DG hinsichtlich der Sprachen 6 Die von den Namen der anderen Gemeinschaften abweichende Spezifikation - sprachig ist kein Zufall, vgl. Brüll (2010: 33). 7 S. Verfassung Artikel 2 und 3. 8 S. das Dekret über die Vermittlung und den Gebrauch der Sprachen im Unterrichtswesen, 19. 4. 2004 unter http: / / www.pdg.be/ PortalData/ 4/ Resources/ downloads/ koor- 96 Robert Möller im Schulwesen weisen also immer auf ein doppeltes Ziel hin: Konsolidierung des Deutschen als Erstsprache bei gleichzeitiger massiver Förderung von Französisch als Fremdsprache. Neben dem Schulunterricht stützen auch die eigenen Medien das Deutsche in Ostbelgien. Es gibt eine viel gelesene deutschsprachige Tageszeitung, das 1927 gegründete Grenz-Echo mit einer Auflage von derzeit 11 500 Exemplaren, und einen eigenen Sender ( Belgischer Rundfunk - BRF ) mit zwei Radiokanälen und einem kleinen Fernsehprogramm, das auf Nachrichten konzentriert ist (das bundesdeutsche Fernsehen spielt daneben auch eine wichtige Rolle - die finanziell motivierte Entfernung der öffentlich-rechtlichen Programme aus Deutschland aus dem belgischen Kabelnetz 2013 führte zu starken Protesten. An ihre Stelle traten aber bundesdeutsche Privatsender). In naturgemäß bescheidenem Rahmen hat auch die ostbelgische Literatur seit den 1970er Jahren einen Aufschwung erlebt (vgl. Combüchen 2008: 57, Beck 2010). Die Lebendigkeit des Deutschen in Ostbelgien steht also völlig außer Frage. Im Folgenden ist nun näher zu betrachten, wie weit es sich dabei - nach fast 100 Jahren staatlicher Trennung von Deutschland - um ein bestimmtes ostbelgisches Deutsch handelt. 4. „Das“ ostbelgische Deutsch-- Besonderheiten des Deutschen in Ostbelgien Das Deutsche in Ostbelgien ist in den letzten 50 Jahren Gegenstand verschiedener Darstellungen und Untersuchungen gewesen (u. a. Magenau 1964, Nelde 1987, Nelde & Darquennes 2002, Heinen & Kremer 1986 u. ö., Kern 1999, Hladky 1999, Riehl 2001, Strothkämper 2012). Im Folgenden wird auf diese zurückgegriffen, besonders auf die extensivste jüngere Sammlung, die von Heinen & Kremer (2011 und 2015), die auf den Internetseiten der DG zu einer „Regionalsprachendatenbank der DG“ ausgeweitet worden ist. Die meisten der genannten Arbeiten beziehen sich auf den Wortschatz, z. B. bei Heinen & Kremer (1986) finden sich jedoch auch Hinweise auf „typische“ grammatische Varianten. Die Frage der Einstufung der belgischen Varianten als standardsprachlich oder nicht wird im Folgenden zunächst etwas zurückgestellt, weil die Basis dafür gerade bei einer kleinen Zahl von Sprechern und Texten noch unsicherer ist als sonst (zu den Schwierigkeiten vgl. a. Ammon 1995: 82). dek/ 2004-04-19-01.pdf. (14. 9. 2016). Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 97 4.1. Dialektbasierte Charakteristika 4.1.1. Dialektaler Hintergrund Die dialektalen Ausgangsbedingungen (s. dazu genauer Cajot & Beckers 1979 und Cajot 1989) begünstigen die Entwicklung einer spezifisch belgischen Varietät des Deutschen nicht: Das kleine Gebiet der deutschsprachigen Minderheit ist kein geschlossener Dialektraum, sondern ein Übergangsgebiet, dessen Pole sich sehr deutlich voneinander unterscheiden, dagegen kaum von den anschließenden deutschen, niederländischen und luxemburgischen Dialekten abheben. Mehrere wichtige Isoglossen durchschneiden Ostbelgien: Die Benrather Linie (2. Lautverschiebung: maken vs. machen etc.), die traditionelle Grenzlinie zwischen niederländischen / niederdeutschen und hochdeutschen Dialekten, trennt Eupen und sein nordwestliches Umland (südniederfränkische Dialekte wie im angrenzenden niederländischen Limburg) von den östlicheren Orten in Richtung Aachen sowie vom Süden der DG . Eine weitere Lautverschiebungsgrenze ( dorp vs. dorf ) sowie auch die Grenze zwischen Dialekten mit und ohne Diphthongierung von westgermanisch ī und ū ( iis vs. eis ) durchschneidet das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft knapp südlich des Hohen Venns. Nach der älteren, mit grenzmarkierenden Isoglossen arbeitenden Dialekteinteilung „zerfällt“ das ostbelgische Gebiet also in einen vorwiegend moselfränkischen Süden, der zum selben Dialektraum gehört wie das Luxemburgische und das deutsche Moselgebiet, einen kleineren Ausläufer des ripuarischen Dialektraums in der Mitte und ein Teilgebiet des Südniederfränkischen (ohne klare Grenze zu den niederländisch-limburgischen Dialekten und denen des deutschen Niederrheins) im Norden. Auch wenn eine solche auf einzelne Isoglossen fixierte Zerteilung dem Charakter von Übergangsgebieten nicht gerecht wird, lässt sie erkennen, dass hier kaum davon ausgegangen werden kann, dass die dialektale Grundlage dem ostbelgischen Deutsch einen bestimmten, einheitlichen Charakter verleiht. Die Nord-Süd-Teilung ist in den Dialekten auch auf lexikalischem Gebiet sehr deutlich (vgl. z. B. die Wortkarten des „Kleinen Dialektatlas von Ostbelgien und den angrenzenden Gebieten in Deutschland“, Möller & Weber (2014) - hier ist der häufigste großräumige Gegensatz der zwischen Eupener Land und Eifel, in über der Hälfte dieser Fälle stimmt das Wort in der Eifel dabei mit dem bundesdeutschen Standardwort überein). Dazu kommt noch, dass der Rückgang des Dialektgebrauchs sehr unterschiedlich ist: Im größten Teil des Eupener Lands, wo zum einen der Dialekt weiter von Standard entfernt ist und zum anderen die Urbanisierung weiter fortgeschritten ist als im Süden, ist Dialektkompetenz schon nur noch selten anzutreffen, in den Dörfern der Eifel ist der Dialekt dagegen auch unter jungen 98 Robert Möller Leuten häufig noch Alltagssprache. Auch hierin ist die Ähnlichkeit zwischen der jeweiligen ostbelgischen und der angrenzenden Region in Deutschland größer als die zwischen dem Norden und dem Süden von Ostbelgien (vgl. Weber 2009). 4.1.2. Regionale Lexik Die als „ostbelgisch“ angesehene (nichtdialektale) Lexik spiegelt diese Situation wider. Bei den lexikalischen Varianten, die bei Heinen & Kremer (2011) (bzw. in der Regionalsprachendatenbank ) als charakteristisch für die „besondere Regionalsprache“ Ostbelgiens (ebd. S. 5) aufgeführt sind, spielen indigene Varianten zwar zunächst einmal quantitativ eine erheblich größere Rolle als der französische Kontakteinfluss. 9 Eine Teilauswertung dieser Sammlung (Alphabetstrecke A-F, 362 Lemmata) ergibt einen Anteil von nur gut 15 % Lehnwörtern und knapp 2 % Lehnübersetzungen. Die übrigen sind jedoch in der großen Mehrzahl keine spezifisch belgischen Varianten, 10 sondern zu über 85 % auch für das deutsche Rheinland belegt, auch in deutlicher Entfernung zu Ostbelgien, im zentralen Rheinland, im Ruhrgebiet oder im Bergischen Land, oder noch über das Rheinland hinaus im deutschen Nordwesten. 11 Bei den restlichen, auf Belgien beschränkten, gilt wiederum die Mehrheit (78 %) nach den Angaben in der „Regionalsprachedatenbank“ nicht in ganz Ostbelgien, sondern nur in einem Teilgebiet - meistens entsprechend der erwähnten Nord-Süd-Teilung. Oft ist auch beides gleichzeitig der Fall, wie z. B. bei dem „typischen“ Merkmal holen statt nehmen (auch in zahlreichen Partikelverben wie abholen ‚abnehmen‘, mitholen etc.), das oft Gegenstand von (selbst-)ironischer Metakommunikation ist: Diese Variante ist nicht nur im Süden der DG üblich, sondern auch im angrenzenden Deutschland und in Luxemburg, 12 im Eupener Land dagegen ist sie ungebräuchlich. 9 Diese Unterscheidung ist zwar nicht völlig trennscharf, da der Kontakt zum Französischen diesen Raum ja durchgehend geprägt hat und damit auch nicht ohne Einfluss auf die Dialekte geblieben ist, jedoch wurde das Französische immer vorwiegend in formellen Kontexten (bzw. in der geschriebenen Sprache) verwendet. 10 Von den 101 spezifisch ostbelgischen Varianten in der untersuchten Teilstrecke aus Heinen & Kremer ist dagegen über die Hälfte entlehnt. 11 Geprüft in: Duden, Rheinisches Mitmachwörterbuch, Rheinisches Wörterbuch. Bei den Wörtern, die nur im Rheinischen Wörterbuch gefunden wurden, wäre im Prinzip natürlich nicht auszuschließen, dass sich der Gebrauch in jüngerer Zeit auf das ostbelgische Gebiet zurückgezogen und / oder dort generalisiert hat. Die Mehrheit der Einträge findet sich jedoch auch in dem rezenten, noch in Erweiterung begriffenen Rheinischen Mitmachwörterbuch. 12 S. die Karte im Atlas zur deutschen Alltagssprache , Elspaß & Möller (2003 ff.) (http: / / www. atlas-alltagssprache.de/ nehmen) (14. 9. 2016). Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 99 Auch im Wortatlas der deutschen Umgangssprachen in Belgien (Nelde 1987) schließt das Kartenbild für die DG sich in fast allen Fällen nahtlos an das entsprechende Kartenbild im Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (Eichhoff 1977-2000) an, die Ausnahmen hiervon gehen auf das Französische bzw. das Wallonische zurück ( kalt haben ‚frieren‘ Kt. 2, Makai ‚Quark‘, Kt. 40) zeigen auch innerhalb Ostbelgiens wieder den Nord-Süd-Kontrast (Kt. 34 ‚auf dem Eis entlangrutschen‘). Wenn Heinen & Kremer (2011) die von ihnen gesammelten Varianten grundsätzlich als „zwischen Dialekt und Standardsprache“, also als nicht standardsprachlich, einstufen, widerspricht das zwar der Tatsache, dass eine Reihe davon unmarkiert in standardsprachlichen Texten verwendet wird und einige sogar zur offiziell festgelegten belgischen Rechts- und Verwaltungsterminologie gehören (s. u.). Jedoch weist bei vielen Lemmata die Bedeutung darauf hin, dass der Ausdruck tatsächlich eher einem familiären Register angehört. Dies betrifft besonders die nicht entlehnten Wörter. So haben gerade diese oft eine bewertende oder bewertungsrelevante Komponente oder bezeichnen - teilweise onomatopoetisch - auffällige Bewegungen, Verhaltensweisen oder Lautproduktionen oder äußerlich auffällige Personen oder Gegenstände etc. (‚schlagen‘, ‚geräuschvoll kauen‘, ‚unruhig, zappelig‘, ‚Durcheinander‘, ‚sich beim Essen oder Trinken beschmutzen‘ u. ä.). Für die aus dem Französischen entlehnten Wörter gilt dies weniger (‚ LKW ‘, ‚ LKW -Plane‘, ‚Kugelschreiber‘, ‚Kanister‘ u. ä.). So ist es nicht überraschend, dass - entgegen den Gewichtsverhältnissen in der Sammlung von Heinen & Kremer (2011) - in dem ostbelgischen Zeitungskorpus, das Nelde (1974) untersucht hat, zwar diverse Besonderheiten in Form von Entlehnungen aus dem Französischen auftreten, dialektbasierte Varianten dagegen kaum eine Rolle spielen, genauer: nur in der Karnevalszeit vorkommen (ebd: 249). 4.1.3. Phonologische und grammatikalische Merkmale In der Phonologie ist es ähnlich: Die meisten (sekundären) Dialektmerkmale, die im ostbelgischen Regiolekt und regionalen Gebrauchsstandard eine Rolle spielen, sind auch in großen angrenzenden Gebieten in Deutschland und in Luxemburg verbreitet, aber umgekehrt oft nicht in ganz Ostbelgien. So ist z. B. die Koronalisierung von [ç] zu zu [ɕ] bzw. [ʃ], ein bekannter „rheinischer“ Marker und im Ripuarischen und Moselfränkischen eins der stabilsten regionalen Merkmale, zwar im Süden der DG geläufig und stereotypisiert, in Eupen dagegen nicht üblich (s. z. B. die Karte zu ig im Auslaut im Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards , Kleiner 2011 ff.). 13 Auch in der kurzen Aufzählung 13 http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ AADG/ IgAuslaut (18. 9. 2016). 100 Robert Möller phonologischer Erscheinungen, die „sehr deutlich die Alltagssprache prägen“, bei Heinen & Kremer (2011: 5) erscheinen nur Merkmale, die die „Eifler“ oder die „Eupener“ charakterisieren, nicht aber beide. Dementsprechend erwies sich in einem Test mit Personen aus Ostbelgien und aus dem deutschen Grenzgebiet, 14 dass sie in Sprachproben (Regiolekt bis Gebrauchsstandard) in erster Linie den Nord-Süd-Unterschied identifizierten. Jedoch gelang es auch vielen von ihnen, die ostbelgischen Sprecher von den deutschen zu unterscheiden - offenbar (meistens unbewusst) vor allem anhand eines einzigen spezifischen Merkmals: der fast systematisch konsonantischen Realisierung von auslautendem / r / nach Vokal ([χ]), im Gegensatz zu der Vokalisierung auf deutscher Seite. „Typische“ grammatische Varianten des ostbelgischen Deutschen, die auf den Dialekt zurückgehen, sind kaum anzutreffen. Die Liste ostbelgischer grammatischer „Abweichungen“ bei Heinen & Kremer (1986: 5-13) enthält jedenfalls außer Transferenzen aus dem Französischen (s. unten) vor allem großräumig bis überregional verbreitete als Non-Standard eingestufte Phänomene, teilweise Dauerbrenner der Sprachkritik: den am -Progressiv, wie oder als wie bei Komparativ, die tun -Periphrase, wo als Relativpartikel, hin statt her usw. Regionalspezifisch ist dagegen wohl die Umlautung der Konjunktiv-II-Formen von wollen ( wöllte ) auch außerhalb des Dialekts; der analytische Komparativ ( mehr groß ) ist dagegen heute weitgehend auf den Dialekt beschränkt und auch dort nicht durchgehend üblich (Theissen 2015). Kasusverwechslungen bei Wechselpräpositionen ( im Haus gehen, im Griff bekommen, an jdm. denken, s. Hladky 1999: 90) spielen vor allem im Nordteil der DG eine gewisse Rolle, was auf das Substrat der dortigen Dialekte ohne Dativ-Akkusativ-Differenzierung zurückgeht (s. Feyen 1999: 110). Insgesamt ist ein innerbelgischer Ausgleich zugunsten bestimmter regionaler (aus den Dialekten stammender) Varianten nicht erkennbar, die anzutreffenden Merkmale mit dialektalem Hintergrund spiegeln immer noch die dialektalen Raumstrukturen wider (und damit die dialektale Uneinheitlichkeit von Ostbelgien) und nicht die nationalen Grenzen. In einem pluriarealen Konzept kann Ostbelgien damit eigentlich nur einen kleinen Abschnitt des äußersten Westrands eines mittel-/ nordwestdeutschen Übergangsraums darstellen. Als nationale Besonderheit, die den Gebrauch im ganzen Gebiet verbindet und nach außen abgrenzt, erweist sich demgegenüber jedoch der französische (bzw. teilweise belgisch-französische oder wallonische) Kontakteinfluss. 14 Durchgeführt von Sandra Weber (2012/ 13), unpubl. Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 101 4.2. Der Kontakteinfluss aus dem Französischen Wenngleich in der Deutschsprachigen Gemeinschaft allgemein Deutsch die Verkehrssprache ist und auch Frankophone, die dort beschäftigt sind, das Deutsche soweit erlernt haben, dass sie auf Deutsch z. B. mit Kunden interagieren können, ist das Französische im Alltag in Ostbelgien omnipräsent. Werbung, Aufschriften aller Art, Hinweisschilder sind häufig zweisprachig oder auch einsprachig französisch, bei vorübergehend aufgestellten Verkehrsschildern wechseln Deutsch und Französisch offenbar frei, Produktbeschriftungen sind dreisprachig oder auch nur zweisprachig französisch-niederländisch, in Geschäften werden frankophone Kunden auf Französisch bedient. Im Berufsleben wird zumeist Zweisprachigkeit verlangt, auch bei einfachen Tätigkeiten (vgl. Riehl 2001: 40). Angesichts des eingeschränkten Angebots der Autonomen Hochschule setzt, wie schon gesagt, auch ein Hochschulstudium in Belgien gute Französisch- oder Niederländischkenntnisse voraus; die nächstgelegene belgische Universität ist die frankophone Universität Lüttich. Dank dem Stellenwert des Französischunterrichts im Schulwesen sind bei großen Teilen der Bevölkerung die entsprechenden Kenntnisse vorhanden (s. Dries 2010: 157 u. ö, Strothkämper 2012: 29). Viele Ostbelgier haben auch frankophone Elternteile oder Lebenspartner, und die Einstellung dem Französischen gegenüber ist zumeist positiv (s. a. Riehl 2001: 40), 15 wenngleich zumindest Teile der Bevölkerung heftig reagieren, wenn sie - z. B. von Seiten der Wallonischen Region - die Eigenständigkeit des deutschsprachigen Gebiets und / oder die Geltung der deutschen Sprache dort missachtet sehen. 16 Angesichts der weit verbreiteten Zweisprachigkeit und der starken Präsenz des Französischen in der Gegenwart und in der Geschichte Ostbelgiens drängt sich die Frage nach Kontakteinflüssen also auf. In einer Reihe von Studien ist allerdings immer wieder festgestellt worden, dass der Lehneinfluss weniger stark ist als erwartet (s. etwa Riehl 2001: 251, Strothkämper 2012: 72). Nach der Entlehnungsskala 17 von Thomason & Kaufman (1988: 74-76) entsprechen die 15 Riehl (ebd.) weist darauf hin, dass hierfür vorwiegend ökonomische und praktische Gründe genannt werden. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass diese Gründe nur im belgischen Kontext stichhaltig sind, das heißt, ihre Angabe impliziert schon, dass man sich als Belgier fühlt und in Belgien Erfolg haben will und nicht etwa im benachbarten Deutschland. 16 So gab es Anfang 2015 eine lebhafte Diskussion um neu aufgestellte Begrüßungsschilder der Region „Wallonie“ (mit deren Wappen) hinter dem deutsch-belgischen Grenzübergang auf der Autobahn, auf denen Unbekannte „Wallonie“ schwarz übermalt hatten. Auch Autobahnschilder mit zweisprachiger Angabe von Ortsnamen aus der DG ( Amel / Amblève o. ä.) sind Gegenstand derartiger Aktionen. 17 Aufgrund der klaren Verteilung von Erst- und Zweitsprache ist im Deutschen in Ostbelgien nur mit dem Kontakttyp „Entlehnung“, nicht mit „unvollständigem Erwerb“ (bei 102 Robert Möller Entlehnungen nur einer geringen Kontaktintensität („gelegentlicher Kontakt“). So ist in erster Linie eine Reihe von entlehnten Inhaltswörtern anzutreffen, vor allem Substantive, seltener (über ier integrierte) Verben. In der Sammlung von Heinen & Kremer (2011) erscheinen als Entlehnungen einige Sachspezifika, aber auch eine Reihe von Bezeichnungen für Gegenstände, die im bundesdeutschen Gebrauch andere, indigene, Bezeichnungen haben ( Bic ‚Kugelschreiber‘, Mazout ‚Heizöl‘ , Makai ‚Quark‘, Farde ‚Ordner‘, Flic ‚Polizist‘, Frigo ‚Kühlschrank‘, Bidon ‚Kanister‘, Camion ‚Lastwagen‘, Garagist ‚Autohändler; Automechaniker‘, Dalle ‚Betonträger; Steinplatte, Deckstein‘, Bulle ‚Kugel‘, Cric ‚Wagenheber‘, Bigoudi ‚Lockenwickler‘ usw.). In einigen Fällen gibt es auch kein einfaches deutsches Äquivalent, wie bei den Verben affonieren ‚in einem Zug austrinken, auf Ex trinken‘, panikieren ‚in Panik geraten‘, depannieren ‚Pannenhilfe leisten‘ oder auch bei Bol ‚tiefe Schüssel oder Tasse ohne Henkel‘. Des Weiteren finden sich verschiedene Lehnbedeutungen bzw. Fälle von Übereinstimmung mit der französischen Verwendung bei Wörtern, die als Entlehnung aus dem Französischen oder Lateinischen auch in Deutschland existieren, aber in anderer Bedeutung, so z. B. Café ‚Wirtschaft, Kneipe‘, Garage ‚Autowerkstatt; Autohaus‘, Agenda ‚Terminkalender‘, Kompass ‚Zirkel‘ u. a. Auch bei indigenen Wörtern kann sich der semantische Einfluss der französischen (Teil-)Übersetzungsäquivalente zeigen, etwa im ostbelgischen Gebrauch von Wörtern wie etwas fragen ‚etwas verlangen, um etwas bitten‘, nach frz. demander, oder Akte ‚Sache, Fall, Projekt‘ nach frz. dossier, empfangen ‚Sprechstunde abhalten‘ nach frz. recevoir . In einzelnen Fällen kann auch die Veränderung grammatischer Eigenschaften von Einzellexemen beobachtet werden (vgl. Heinen & Kremer 1986, s. a. Nelde 1974: 243-247), allerdings eben nur im Hinblick auf den einzelnen Lexikoneintrag, nicht systematisch im Hinblick auf grammatische Regeln. Solche Fälle sind z. B. Reflexivität bei sich basieren auf , Nicht-Reflexivität bei intransitivem ändern - etwa Der Ablauf hat geändert , entsprechend frz. changer - , oder (seltener) an jemanden fragen , jemanden glauben . Auch Konstruktionen wie die zur Angabe des Alters (20 Jahre haben) oder des Temperaturempfindens ( warm haben ) zeigen französischen Einfluss. Heinen & Kremer (1986), Nelde (1974: 244) und Hladky (1999: 87) weisen ferner auf Fälle von „abweichendem“ Präpositionalgebrauch hin, die sich sehr wahrscheinlich nach französischem Vorbild richten ( Angst für statt um, in der Straße, zum Kino, am Fernsehen, für sich auszuruhen ), ferner auf den Gebrauch des Pronomens man für wir (wie frz. on ) und auch auf „unmotivierte“ Ausklammerungen von Thomason & Kaufman 1988: 20 noch „substratum interference“) zu rechnen, d. h. vorrangig mit lexikalischen, nicht mit phonologischen Kontaktfolgen. Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 103 Präpositionalphrasen, z. B. in Der Minister weist hin auf eine baldige europaweite Verbotsregelung (Hladky 1999: 92). Die Kontakteinflüsse aus dem Französischen, vor allem die häufigeren lexikalischen Entlehnungen, erscheinen auch in standardsprachlichen Kontexten und unterscheiden das Deutsch im Norden und Süden der DG insgesamt vom angrenzenden bundesdeutschen Deutsch. Es handelt sich zwar nicht durchgehend um spezifisch belgische Varianten, sondern derselbe französische Einfluss findet sich teilweise auch im Schweizer Standarddeutsch, so bei Camion oder Garage / Garagist. Aus belgischer Perspektive werden diese Entlehnungen trotzdem als typische Belgizismen wahrgenommen, da die Kontrastfolie schon aus Gründen der Geographie das angrenzende bundesdeutsche Deutsch ist. Cajot (1989), der die Rolle der neuen Staatsgrenzen für die Entwicklung der Lexik 18 im Grenzraum zwischen Belgien, den Niederlanden, Deutschland und Luxemburg untersucht, konzentriert auf neuere Begriffe, kommt zu dem Ergebnis: „Die Abweichungen [des ostbelgischen Deutschen] gegenüber dem Binnendeutschen bestehen hauptsächlich aus fr[anzösischen] Lehnwörtern“ (ebd.: 293). Allerdings wird auch noch bei den nach 1920 aufgekommenen Begriffen in Ostbelgien meistens doch dasselbe Wort verwendet wie in Deutschland ( Fernseher, Filzstift, Moped, Staubsauger, Strumpfhose, Tiefkühltruhe, Vollkaskoversicherung etc.), die Staatsgrenze erscheint also nicht als sehr trennend (anders als - auch im Dialekt - die ehemalige Staatsgrenze zwischen Alt- und Neubelgien). Auch Hladky (1999: 99) stellt fest, dass die Besonderheiten in den von ihr untersuchten Ausgaben des Grenz-Echos von 1997 „fast ausschließlich“ auf das Französische zurückzuführen sind (vgl. a. Nelde 1974). Es ist dabei allerdings oft nicht ganz klar, ob es sich um typische (übliche) ostbelgische Varianten handelt oder um gelegentlich anzutreffende Erscheinungen, die jeweils unmittelbar auf französischen Einfluss zurückgehen und von ostbelgischen Rezipienten selbst als Fehlleistung gewertet würden. 4.2.1. Okkasionelle Einflüsse und Übersetzungen Bei den Studien von Magenau (1964), Nelde (1974), Hladky (1999) und Strothkämper (2012), die jeweils deutschbelgische Zeitungskorpora auf Abweichungen vom bundesdeutschen Gebrauch bzw. speziell auf Transferenzen aus dem Französischen untersucht haben, reflektieren die aufgeführten Belege vielfach wohl nicht einen in Ostbelgien üblichen Gebrauch, sondern individuelle, punk- 18 Gefragt wurde dabei nach dem Gebrauch im Dialekt, aufgrund des vergleichsweise geringen Alters der erhobenen Begriffe ist aber zumeist der angegebene dialektale Gebrauch mit dem nichtdialektalen (Regiolekt bis regionaler Gebrauchsstandard) identisch. 104 Robert Möller tuelle Kontakteinflüsse. Solche unsystematisch auftretenden, aber sich aufgrund des Systemkontrasts doch in ähnlicher Weise wiederholenden französischen Interferenzen sind im Deutschen in Belgien häufig anzutreffen. Teilweise handelt es sich dabei um Produktionen von Ostbelgiern, die das Verfassen komplexerer Texte vor allem im Studium, d. h. auf Französisch, gelernt haben, und bestimmte Strukturen des elaborierten Französischen auf das Deutsche übertragen. Dazu kommt aber noch, dass zahlreiche offizielle und kommerzielle Texte von Nicht- Muttersprachlern und / oder unter Zeitdruck aus dem Französischen oder aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt werden. 19 Solche grammatikalischen Interferenzen sind z. B. die Nachstellung erweiterter adjektivischer Attribute, wie im folgenden Satz aus der offiziellen Übersetzung des Gesetzes über den Sprachengebrauch in Gerichtsangelegenheiten: Wenn im Bereich des Appellationshofes von Lüttich kein Richter des Strafvollstreckungsgerichts oder kein Staatsanwalt, spezialisiert in Strafvollstreckungssachen, die Kenntnis der deutschen Sprache nachweist, wird ein Dolmetscher hinzugezogen. 20 (Hervorhebung R. M.) oder die Trennung des Genitivattributs vom Bezugswort durch ein vorausgehendes Präpositionalattribut (entsprechend der Position des Attributs mit de im Frz.) im Titel des „Collas-Gesetzes“ von 2007: Gesetz zur Regelung der Veröffentlichung in deutscher Sprache der Gesetze, der Königlichen Erlasse und der Ministeriellen Erlasse föderalen Ursprungs. 21 (Hervorhebung R. M.) Hierbei handelt es sich nicht um spezifische Strukturen des belgischen Deutschen, sondern um kontaktinduzierte Abweichungen von grammatischen Regularitäten, die normalerweise auch dort gelten - Abweichungen, die in der gesprochenen Sprache ostbelgischer muttersprachlicher Deutschsprecher nicht zu beobachten sind. Da solche Texte mit Interferenzen im muttersprachlichen Input deutschsprachiger Belgier quantitativ nicht ganz zu vernachlässigen sind (hinzu kommt gelegentlich der mündliche Gebrauch z. B. von Lehrern, deren 19 Vgl. a. die Beispiele für „Übersetzungssprache“ bei Nelde (1974: 240 f.), vgl. a. Darquennes & Nelde (2002: 72): „Belgian firms with a more or less national monopoly still exist and foreign firms are still often represented by one central distributor or one central main importer […] these firms have not changed their translation policy“. Vgl. a. Riehl (2001: 45-47) und Henkes (2012: 26). 20 Frz.: […] substitut du procureur du Roi spécialisé en application des peines […] http: / / www. ejustice.just.fgov.be/ cgi_loi/ change_lg.pl? language=fr&la=F&cn=1935061501&table_name=loi (24. 8. 2016). 21 Frz.: Loi réglant la publication en langue allemande des lois et arrêtés royaux et ministériels d’origine fédérale […] http: / / www.etaamb.be/ fr/ loi-du-21-avril-2007_n2007000933.html (24. 8. 2016). Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 105 Muttersprache nicht das Deutsche ist, s. Dries 2010: 157), ist das bei Ostbelgiern häufig anzutreffende Gefühl der Unsicherheit im Deutschen (besonders im Vergleich zu Sprechern und Schreibern aus Deutschland - s. u. 6.1) wohl nicht allein nur auf einen „Minderheiten“-Komplex zurückzuführen, sondern teilweise auch damit zu erklären, dass Gelesenes und Gehörtes immer wieder das erworbene Sprachwissen in Frage stellt bzw. die Abgrenzung zwischen deutschen und französischen Strukturen in der bilingualen Kompetenz der Rezipienten nicht verfestigt, sondern unsicherer macht. Umgekehrt kann der ständige Umgang mit dem Französischen und mit französischen Transferenzen im Deutschen dann auch zu einem generellen Misstrauen gegenüber Gallizismen und Latinismen führen. So hat ein/ e Internet-Benutzer/ in eine Reihe von Zitaten aus dem Grenz-Echo ins Internet gestellt, um zu zeigen, dass die These, dass „belgisches Deutsch angeblich mehr und mehr von deutschem Deutsch abweicht“, sich bei näherem Hinsehen tatsächlich bestätige: „Hier sind einige Exempel von Ostbelgischem Hochdeutsch aus dem Grenz- Echo! “. 22 In den meisten Fällen 23 handelt es sich hier jedoch - soweit überhaupt erschlossen werden kann, welcher Ausdruck im angeführten Zitat gemeint ist - um Gallizismen und Latinismen, die auch in Deutschland völlig üblich sind, wie z. B. Kollision, Resultat, kontrovers, favorisieren, etablieren . Sicherlich spielt auch die Frequenz solcher Wörter in Texten eine Rolle (vgl. Nelde 1974: 239). Das Phänomen einer Übervorsicht bezüglich möglicher Kontakteinflüsse zeigt sich aber z. B. auch darin, dass die Ausklammerung von Präpositionalphrasen (s. o.) in Ostbelgien teilweise als grundsätzlich falsch gilt. 4.3. Terminologie in Administration, Recht und Bildungswesen Während die bisher besprochenen Varianten von vielen Sprechern und Normautoritäten als Fehler oder zumindest als umgangssprachlich beurteilt werden, ist die Anerkennung einer eigenen deutschen Fachterminologie in Recht und Administration seit einigen Jahren gesetzlich verankert. In Umsetzung des Dekrets zur Regelung der Rechtsterminologie in deutscher Sprache vom 19. 1. 2009 wurde ein Terminologieausschuss geschaffen, der für die Festlegung der deutschsprachigen belgischen Rechtsterminologie zuständig ist; diese Terminologie ist in der öffentlichen Verwaltung verbindlich 24 und in 22 http: / / wergosum.com/ press/ grenz-echo/ (15. 9. 2016) - Kursivierung original. 23 Ich danke Ralf Knöbl vom Institut für deutsche Sprache, Mannheim, für eine Durchsicht „mit bundesdeutschem Blick“ - lediglich in einem Viertel der Sätze fiel ihm etwas Ungewöhnliches auf. 24 Dekret von 19. 1. 2009 über die Regelung der Rechtsterminologie, Art. 2 § 1 Nr. 1 und § 2 (http: / / www.rechtsterminologie.be/ PortalData/ 30/ Resources/ dokumente/ rechtliche_ 106 Robert Möller Form der Datenbank Debeterm zusammen mit den französischen und niederländischen Äquivalenten im Internet zugänglich. Allerdings ist dieser Kodifikationsprozess noch im Gang (bislang 3000 Termini). Bis zur Einrichtung des Terminologieausschusses wurde nur - ohne kritische Diskussion - vom Zentralen Übersetzerdienst gesammelt, welche terminologischen Lösungen (oft ad hoc, vgl. z. B. Nelde 1974: 242) bei der Übersetzung von Gesetzestexten gewählt worden waren. 25 Die Existenz einer eigenständigen belgischen Rechts- und Verwaltungsterminologie auf Deutsch erklärt sich teilweise schon aus den unterschiedlichen Systemen und entsprechenden Sachspezifika, etwa Föderalstaat (nicht dasselbe wie Bundesstaat in Deutschland und Österreich) oder Schöffe („‚Ressortleiter‘ des Gemeinderats unter Leitung des Bürgermeisters“, s. Combüchen 2008: 55 f., vgl. a. weitere Beispiele bei Sommadossi 2013: 300-304). Über den Fall von Sachspezifika hinaus gibt es jedoch noch andere Gründe für die Festlegung einer spezifisch belgischen Terminologie, nämlich zum einen die Tradition einer engen Anlehnung an das dominierende Französische und zum anderen die enge Verwandtschaft zwischen Deutsch und Niederländisch, die oft eine Orientierung am Vorbild der niederländischen Termini nahelegt (vgl. Henkes 2012: 32). Ein Beispiel wie Zivilgesetzbuch zeigt das meistens stärkere Gewicht des Französischen hierbei ( Code civil - niederländisch Burgerlijk Wetboek entspräche dem deutschen Bürgerliches Gesetzbuch ). Die ältere Maxime war, „dass in jedem Zweifelsfall (und manchmal auch noch darüber hinaus) zunächst auf eine belgo-belgische Lösung hin zu arbeiten sei, notfalls durch Wortschöpfungen, die dem juristischen Laien, sprich dem Rechtsuchenden, nicht unbedingt einleuchten mussten“ (Henkes 2012: 32). Henkes (ebd. Anm. 102) führt dies an einigen Beispielen vor: Prokurator des Königs (nicht Leitender Oberstaatsanwalt ) oder Greffier (nicht Kanzler, Kanzleivorsteher bzw. Rechtspfleger, Gerichtsekretär oder Geschäftsstellenbeamter etc.) bzw. Chefgreffier , „in Gleichklang mit dem Französischen und dem Flämischen; dagegen wählte man jedoch Staatsanwalt (und nicht den im Nachkriegsostbelgien während der ‚Säuberung‘ sattsam bekannten Begriff ‚Substitut‘), um dem geschichtlichen und kulturellen Hintergrund der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Diese Begriffe haben sich durchgesetzt“ (ebd., Anm. 102, vgl. weitere Beispiele bei Sommadossi 2013: 300-304 und Combüchen 2008: 55 f.). Aus den aktuell geltenden Leitlinien des Terminologieausschusses geht jedoch hervor, dass bei neuen Festlegungen heute im Prinzip Konvergenz mit grundlagen/ Dekret_Regelung_Rechtsterminologie_2009.01.19.pdf) (19. 9. 2016). 25 Datenbank Semamdy, derzeit 46 010 Einträge (http: / / www.scta.be/ Terminologiedatenbanken.aspx) (19. 9. 2016). Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 107 anderen deutschsprachigen Ländern angestrebt ist, an erster Stelle mit Deutschland. Diese Leitlinien sehen folgendes Vorgehen vor: 26 Ausgangspunkt bei der Erarbeitung der deutschen Rechtsterminologie ist der bereits in der Vergangenheit vom Ausschuss festgelegte Wortschatz. Als erweiterte Grundlage wird die von der Zentralen Dienststelle für Deutsche Übersetzungen verwendete Terminologie herangezogen, die dabei einer kritischen Überprüfung unterzogen wird. Sind die beiden im vorherigen Absatz genannten Quellen erschöpft und es müssen neue Benennungen geschaffen werden, gilt folgende Prioritätsreihenfolge als Richtlinie: 1 . Anlehnung an die bundesdeutsche Rechtsterminologie; 2 . Anlehnung an die Rechtsterminologie anderer deutschsprachiger Länder; 3 . Anlehnung an die in der belgischen Rechtspraxis (Rechtsprechung am Gericht u. ä.) bereits verwendete deutsche Rechtsterminologie; 4 . Bildung von Wortneuschöpfungen in Anlehnung an die französische oder niederländische Ausgangsterminologie bzw. durch Vereinnahmung existenter deutscher Terminologie, die ggf. mit einem neuen Bedeutungsinhalt belegt wird. Die Kontinuität im belgischen Rahmen hat also, sofern eine eigene Tradition existiert, noch den Vorrang vor Konvergenz im deutschsprachigen Raum, aber bei Neubildungen steht das Bestreben nach Übereinstimmung speziell mit Deutschland explizit an erster Stelle. Auch im Bildungswesen hat - in vergleichsweise geringerem Umfang - die Autonomie der deutschsprachigen Gemeinschaft zusammen mit Einrichtungen und Traditionen, die dem frankophonen Belgien folgen, zu einer spezifischen Terminologie geführt. Auch hier gibt es Sachspezifika wie Schulnetz (frz. réseau scolaire, Schulen in einer der koexistierenden Trägerschaften, s. Dries 2010: 150 f.) oder Dispenz (Befreiung von einer Prüfung). Darüber hinaus werden im Rahmen dieser eigenen Tradition teilweise auch dann eigene, am Französischen orientierte Termini verwendet, wenn das Konzept kein belgisches Spezifikum ist, etwa bei Klassenrat für ein Gremium aus den Lehrern, die in einer Klasse unterrichten (frz. conseil de classe - bundesdeutsch Klassenkonferenz ) oder Rahmenplan (bundesdeutsch Lehrplan ). Umgekehrt haben Sachspezifika teilweise - in Übereinstimmung mit dem Französischen - Bezeichnungen, die in Deutschland in anderer Bedeutung verwendet werden, so bezeichnet (Klassen-)Tagebuch (frz. journal de classe ) ein Heft, in dem täglich Aufgaben und Bemerkungen eingetragen werden, Studienbörse (frz. bourse d’études ; ndl. studiebeurs ) ein Stipendium (und nicht eine 26 Mitteilung von Sandra Weber, Terminologin im Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft, per Mail. 108 Robert Möller Art ‚Bildungsmesse‘) (vgl. Combüchen 2008: 56), Schulprojekt die Leitlinien, die eine Schule im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums für sich festgelegt hat (und nicht eine bestimmte, von der Schule projektartig betriebene Aktivität). Eine Besonderheit ist schließlich auch der Plural des Worts Unterricht ( Unterrichte ), der in Deutschland unüblich, in Ostbelgien dagegen ganz geläufig ist. 5. Loyalität gegenüber den belgischen Varianten Für die normierten Rechtstermini sehen die rezenten gesetzlichen Regelungen wie gesagt vor, dass sie im offiziellen Gebrauch verwendet werden müssen. In diesem Bereich ist also abzusehen, dass belgische Varianten sich - sofern dies noch nicht der Fall ist - im Lauf der Zeit allgemein durchsetzen werden. Diese Varianten dürften dann nach der Terminologie von Ammon (1995: 104, s. a. 112) zumindest zukünftig irgendwann „nicht austauschbar“ sein. Für die übrigen ist dies unwahrscheinlich. Es kann jedoch die Frage gestellt werden, in welchem Maß sie heute wenigstens häufig, als in Belgien „normale“ Bezeichnung des entsprechenden Konzepts aufgefasst und verwendet werden oder nicht. Eine entsprechende größere Untersuchung der „Variantenloyalität“ (vgl. Schmidlin 2011, 2013) der Ostbelgier steht noch aus. Für einen kleinen aktuellen Eindruck von der Loyalität der Ostbelgier gegenüber „ihren“ Ausdrücken wurde daher im Internet die Häufigkeit einiger häufig erwähnter lexikalischer Varianten - darunter, mit Sternchen markiert, auch diejenigen aus der Liste bei Ammon (1995: 416), die nach den dortigen Angaben in Ostbelgien allgemein als „korrekt“ akzeptiert werden (s. u. 6.2) - geprüft und mit der Häufigkeit der bundesdeutschen 27 Äquivalente verglichen (Google-Suche, jeweils beschränkt auf Seiten auf Deutsch aus Belgien. Um zu verhindern, dass auch Belege in französischen Textpassagen auf deutschsprachigen Seiten gezählt werden, musste die Suche teilweise auf Kombinationen mit deutschen Artikeln oder Präpositionen oder bestimmte Komposita eingeschränkt werden). Die Ergebnisse sind: Bic / Kugelschreiber (Kombinationen mit IBAN wurden ausgeschlossen) mit Bic: 39 , den Bic: 9 , einen Bic: 3 (darunter viele Scanfehler und Abkürzungen) mit Kugelschreiber: 1180 , den Kugelschreiber: 148 , einen Kugelschreiber: 312 27 Da schon aus geographischen Gründen evident ist, dass diese die Alternative darstellen und nicht österreichische oder Schweizer Varianten, ist die Perspektive hier in dieser Weise eingeengt; ob die in Deutschland übliche Variante außerdem auch in Österreich und / oder der Schweiz üblich ist, wird nicht berücksichtigt. Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 109 Camion / Last(kraft)wagen, LKW : ein Camion : 3 (alle metasprachlich) , ein Kamion: 0 ein Lastwagen: 673 , ein Lastkraftwagen: 183 , ein LKW : 3020 Erstminister / Premierminister: der Erstminister: 8 , Erstminister Michel: 0 der Premierminister: 2000 , Premierminister Michel: 808 Farde* / Ordner (Kombinationen mit Datei oder Dateien wurden ausgeschlossen): in einer Farde: 4 in einem Ordner: 609 Frigo / Kühlschrank: im Frigo: 2 , in den Frigo: 2 im Kühlschrank: 3950 , in den Kühlschrank: 4080 Garagist* / Autohändler, Automechaniker - Garagist: 159 - Autohändler: 5460 - Automechaniker: 9860 großjährig* / volljährig großjährig: 610 volljährig: 2300 Hospital* / Krankenhaus im Hospital: 377 , ins Hospital: 55 im Krankenhaus: 10 300 , ins Krankenhaus: 6200 Mazout / (Heiz)öl: - Mazoutheizung: 5 , mit Mazout: 6 - Ölheizung: 746 , mit Heizöl: 754 Studienbörse / Stipendium: - Studienbörse: 308 (ohne Ausschluss der Verwendungen im Sinn von ‚Ausbildungsmesse‘) - Stipendium 4720 Telefonkabine* / Telefonzelle - Telefonkabine: 82 - Telefonzelle: 673 Trottoir* / Bürgersteig auf dem Trottoir 469 auf dem Bürgersteig 1170 110 Robert Möller Bis auf Trottoir mit knapp 30 %, großjährig mit gut 20 % und Telefonkabine mit gut 10 % der Treffer liegen also die belgischen Varianten hier im einstelligen Prozentbereich oder gar darunter; bei aller Unsicherheit der Zählung dürfte dieses Ergebnis eindeutig sein. Sichtet man die Treffer, wird außerdem deutlich, dass die Verwendung der bundesdeutschen Varianten kein Phänomen „übernational“ ausgerichteter Texte von privaten Schreibern ist, sondern dass sie oft auf Seiten von ostbelgischen Medien und Institutionen und in lokalen Kontexten erscheinen: Falls du volljährig bist (also über 18 Jahre) darfst du 3 gr. oder eine Pflanze besitzen. ( Jugendinformationszentren der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, 2010) 28 Die Übersicht über die Besuche sowie die Wochenpläne der einzelnen Studenten befinden sich in einem Ordner, der immer im Sekretariat steht (Autonome Hochschule der DG, Richtlinien für die Praktika- Studienjahr 2011-2012) 29 Als Erinnerung bekamen wir einen Kugelschreiber und einen Schlüsselanhänger. (Schule St. Vith, „Platz den Kindern“, 2. 6. 2015) 30 Kettenis: Telefonzelle fungiert als offener Bücherschrank. (Grenz-Echo, 29. 4. 2016) 31 Die Poteauer Straße in Recht erhält einen Bürgersteig und eine neue Wasserleitung. (Grenz-Echo, 29. 9. 2016) 32 Eupen: Bürgersteig verbreitern und Zebrastreifen verlegen. (BRF Regional, 18. 11. 2014) 33 Diesel und Heizöl werden am Dienstag teurer. 28 http: / / www.jugendinfo.be/ leben/ cannabis.php (14. 9. 2016). 29 http: / / www.ahs-dg.be/ PortalData/ 13/ Resources/ / Richtlinien_fuer_die_Praktika.pdf (14. 9. 2016). 30 http: / / www.st.vith.be/ gemeindeschulen/ neuigkeiten/ stvith/ detailansicht/ artikel/ schulestvith-platz-den-kindern-2852015/ / datum/ 2015/ 06/ 02/ (14. 9. 2016). 31 http: / / www.grenzecho.net/ region/ eupener-land/ eupen/ kettenins-telefonzelle-fungiertals-offener-buecherschrank (14. 9. 2016). 32 http: / / www.grenzecho.net/ region/ ein-buergersteig-fuer-die-poteauer-strasse (14. 9. 2016). 33 http: / / brf.be/ regional/ 820973/ (14. 9. 2016). Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 111 (BRF National, 29. 10. 2012) 34 Master-Absolventen aus der Deutschsprachigen Gemeinschaft können sich für ein Stipendium an einer flämischen Universität bewerben. (BRF Regional 12. 1. 2012) 35 Auf der Regionalseite des Belgischen Rundfunks wird nicht nur Stipendium statt Studienbörse verwendet, sondern darüber hinaus erscheint sogar auch Studienbörse in der bundesdeutschen Verwendungsweise (‚Informationsveranstaltung für potenzielle Studenten‘): Am Dienstagabend hat im Königlichen Athenäum Eupen erneut eine Studienbörse stattgefunden. Die Veranstaltung soll den Schülern Orientierungshilfe bieten […] . (BRF - Regional, 4. 2. 2015) 36 Die belgischen Varianten kommen auf solchen Seiten auch vor: Die Deutschsprachige Gemeinschaft stellt ebenfalls eine Studienbörse bereit. (Autonome Hochschule in der DG - Nationale und internationale Mobilitätsprogramme) 37 Studenten, die doppeln, haben fortan Anrecht auf Studienbörse (Grenz-Echo, 13. Juli 2016) 38 Aber die Beispiele und vor allem die Zahlen zeigen, dass die Loyalität zu ostbelgischen Varianten im geschriebenen Gebrauch offenbar recht gering ist; in den meisten Fällen wird die bundesdeutsche Variante bevorzugt. Die Popularität der in den letzten Jahren erschienenen Publikationen zum belgischen Deutsch, v. a. Heinen & Kremer (2011, 2015), und die Berichterstattung darüber haben daran offenbar nichts geändert. Im Gegenteil ist es sogar möglich, dass hierdurch allgemein bekannter und bewusster wird, dass bestimmte Varianten ostbelgische Besonderheiten sind, und diese dann im schriftlichen Gebrauch verstärkt gemieden werden. 34 http: / / brf.be/ national/ 491585/ (14. 9. 2016). 35 http: / / brf.be/ regional/ 320253/ (14. 9. 2016). 36 http: / / brf.be/ regional/ 851104/ (14. 9. 2016). 37 http: / / www.ahs-dg.be/ desktopdefault.aspx/ tabid-4115/ 7302_read-41773/ (14. 9. 2016). 38 http: / / www.grenzecho.net/ region/ inland/ studenten-die-durchgefallen-sind-haben-fortan-anrecht-auf-studienboerse (14. 9. 2016). 112 Robert Möller 6. Zur Bewertung der ostbelgischen Varianten 6.1. Einstellungen von Laien Bei der Sicht von ostbelgischen Laien auf ihr Deutsch macht sich der nationale Bezugsrahmen insofern bemerkbar, als allgemein-westmitteldeutsche Varianten oft als spezifische nationale Besonderheiten gelten (dass der Geltungsbereich bestimmter Phänomene auf den Norden oder den Süden der DG beschränkt ist, ist demgegenüber meistens bekannt und bewusst, oft auch mit gegenseitigem Spott verknüpft). Feyen (1999) hat in einer Diplomarbeit Schülern aus Ostbelgien und dem deutschen Rheinland Beispielsätze mit grammatikalischen und lexikalischen Merkmalen aus Heinen & Kremer (1986) zur Einschätzung und ggf. Korrektur vorgelegt und kommt mit einer gewissen Überraschung zu der Erkenntnis, dass viele der überprüften Phänomene, „die man oft als typisch für die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens ansieht“, auch von den Schülern aus dem deutschen Rheinland als üblich betrachtet bzw. nicht bemerkt wurden (Feyen 1999: 110). Auch Feyens Ergebnisse bestätigen darüber hinaus - nun aus der Perspektive der Akzeptanz - wieder die Feststellung, dass vor allem die Lehneinflüsse aus dem Französischen als spezifisch und einheitlich ostbelgisch gelten können (diese wurden von den belgischen Schülern nicht selten akzeptiert, von den deutschen nie), während die übrigen Varianten entweder über Ostbelgien hinaus oder nur in einem Teil Belgiens als normal gelten. Wie schon angesprochen, ist bei erwachsenen ostbelgischen Laien hinsichtlich der eigenen (individuellen und kollektiven) Sprachkompetenz oft ein gewisses Inferioritätsgefühl gegenüber Deutschen anzutreffen. Dies geht deutlich aus Äußerungen wie den folgenden 39 hervor, z. B.: Ja, in der Regel sprechen die Deutschen ein besseres Deutsch ((lacht)). Gewisse Worte kann ich jetzt nicht sagen, aber es ist ein feineres, besseres Deutsch als unser Deutsch, sag ich mal, hier in der Eifel. Also die Deutschen, die sprechen schon ein feineres, exakteres Deutsch als wir hier. Ich denke, dass man hier generell schlechtes Hochdeutsch spricht. Ich merk schon, wenn ich mit Deutschen zusammen bin, dass ich versuche, besser, also mehr Hochdeutsch zu reden, und eben versuche, solche Sachen wie „hamwer“ und „simmer“ nicht mehr zu machen. 39 Aussagen verschiedener Informanten aus Eupen und St. Vith, Material erhoben von Sandra Weber (2012 / 13), unpubl. Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 113 Dann [im BRF -Fernsehen] find ich das teilweise sehr schrecklich, wenn das im Kontrast steht zu nem Deutschen, der spricht. Also ich find, dann ist das schon sehr frappant und auch nicht sehr schön anzuhören, find ich. Die identitätsstiftende Rolle der Besonderheiten der eigenen Sprache („unser Deutsch“), die Riehl (2001: 40 f.) hervorhebt, ist demgegenüber eher vergleichbar mit derselben Rolle von Dialekten / Regiolekten. Zwar spielt der Aspekt der nationalen Abgrenzung (auch vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jhs.) hier auch mit (vgl. Riehl ebd.). Positiv hervorgehoben wird aber vor allem der Bezug zur engeren Heimat und der familiäre Charakter: „Camion“, „Mazout“, das sind so Sachen… Und soviel ich weiß sagen wir auch „Garage“ und in Deutschland sagen sie „Werkstatt“, und das sind Sachen, wo man nicht drüber nachdenkt. Und auf sowas bin ich stolz, damit identifizier ich mich. Ich finde, das macht gerade jeden einzelnen Bürger aus, und zeigt halt, woher er kommt, und ich mein, man ist ja auch ein bisschen stolz auf seine Herkunft. Ja, also ich find das gut, muss ich sagen ((lacht)). Ob der jetzt von Sankt Vith kommt oder Eupen oder egal wo. Ich find schon, wenn im Fernsehen ein Eifeler spricht, soll man merken, dass er aus der Eifel kommt. Ja, was mir besonders daran gefällt, das ist halt eben alles sehr beherzt und ausm Bauch raus, genau wie das Plattdeutsch. Ich find es familiär und - ich find’s nicht schlecht, mir gefällt es. Es ist einladend und - einladend, beruhigend und familiär. So steht denn auch bei dem negativen Stereotyp der Deutschen bei Ostbelgiern besonders „Arroganz“ im Vordergrund (s. a. ebd.: 41), also eine generell, auch in Deutschland, typischerweise mit dem Gebrauch der Standardsprache (im Gegensatz zu Dialekt / Regiolekt) assoziierte Eigenschaft. Dem „eigenen“ Deutsch, mit dem man sich im Nähebereich identifiziert, steht als formeller Gegenpol, als Ziel sprachlicher Bemühungen, dann nicht so sehr das bundesdeutsche Standarddeutsch gegenüber, auch wenn dies als „besseres“ Deutsch angesehen wird, sondern das „spezifisch belgische“ Ideal fließender Zwei- oder Mehrsprachigkeit. 40 Nach Dries (2010: 157) hat z. B. auch „in den Diskursen vieler Politiker in der DG “ die Zweisprachigkeit bzw. der Erwerb des Französischen einen erheblich höheren Stellenwert als die Qualität des Deutschunterrichts. 40 66 % der von polis-sinus (2011) Befragten fanden es „sehr wichtig“, „die Mehrsprachigkeit als Standortvorteil [zu] pflegen und aus[zu]bauen“, weitere 29 % fanden es „wichtig“ (polis-sinus 2011: 60). Beck (2010: 137) stellt fest, dass „die Mehrsprachigkeit der Bevölkerung auch innerhalb des Landes als konstitutiv für Ostbelgien betrachtet wird“. 114 Robert Möller Angesichts der Tatsache, dass die meisten prestigebesetzten Funktionen und Positionen in Ostbelgien mit der Beherrschung des Französischen verknüpft sind (angefangen in fast allen Disziplinen bei einer akademischen Ausbildung) und außerdem auch Niederländischkenntnisse von Vorteil sind, ist dies in der Praxis tatsächlich wertvoller als besondere Perfektion nur in der deutschen Muttersprache. Gleichzeitig ist damit aber auch eine gleichwertige Abgrenzung gegenüber den Deutschen möglich: Diese sprechen und schreiben zwar ein besseres Deutsch, dafür sind sie aber nicht mehrsprachig. 6.2. Die Frage der Standardsprachlichkeit Wenn Combüchen (2008: 59) schreibt: „Die Zeit scheint reif für eigene [= ostbelgische, R. M.] ein- und mehrsprachige deutsche Wörterbücher“, so kann sich dies auf die Bezeichnungen für Sachspezifika und auf die Ergebnisse der Arbeit des Terminologieausschusses (also vor allem die Rechts- und Verwaltungstermini) beziehen. Hier ist in der Tat eine Zusammenstellung (über die Datenbank hinaus) zu erwarten. Auch auf eine stärkere Aufnahme solcher belgischen Varianten in der Neubearbeitung des Variantenwörterbuchs ist zu hoffen; in der bisher erschienenen ersten Auflage von Ammon et al. (2004) ist Ostbelgien zwar gelegentlich berücksichtigt (z. B. bei den Lemmata Garage und Garagist erwähnt), aber z. B. unter Studienbörse im Sinn von Stipendium ist nur Südtirol angegeben und unter Zivilgesetzbuch nur die Schweiz und Südtirol, Einträge für Prokurator oder Greffier fehlen ebenso wie für Athenäum, Trottoir oder schließlich Farde . Abgesehen von den gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Rechts- und Verwaltungsterminologie, die sich vor allem mit praktischen Erfordernissen erklären, ist jedoch in Ostbelgien kaum Interesse an einer stärkeren Würdigung ostbelgischer Varianten in der Kodifikation der deutschen Sprache festzustellen. Die älteren Publikationen - auch ostbelgischer Autoren - zum Deutschen in Ostbelgien werten Unterschiede zum bundesdeutschen Gebrauch grundsätzlich als negativ, als Abweichungen vom „binnendeutschen“ Standard (vgl. Magenau 1964, Nelde 1974, Kern 1979). In einer ersten Publikation von Heinen & Kremer für den Gebrauch im Sekundarschulunterricht (Heinen & Kremer 1986 - herausgegeben von der „Pädagogischen Arbeitsgruppe Sekundarschulwesen“) unter dem Titel „Liste der regionalen und umgangssprachlichen Abweichungen im deutschsprachigen Gebiet Belgiens“ wird zwar im Vorwort darauf hingewiesen, dass es nicht darum geht, „Mundart oder Umgangssprache zu verdrängen oder lächerlich zu machen“, sondern darum, die Schüler „auf die verschiedenen Sprachebenen aufmerksam zu machen“ (ebd.: 1) bzw. „die Aufmerksamkeit auf Besonderheiten unserer Sprache [zu] richten, die so nicht überall verstanden werden“ (ebd.: 2, Hervorhebung or.). Im Text dieser älteren Sammlung ist aller- Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 115 dings unverkennbar, dass es in erster Linie darum geht, den Schülern - in ihrem standardsprachlichen Gebrauch - die aufgeführten belgischen Besonderheiten abzugewöhnen. So ist die Liste der lexikalischen und semantischen „Abweichungen“ in zwei Teile geteilt: „Fehlerhafte Wörter und Ausdrücke“ (S. 14) - hier erscheinen die bekanntesten belgischen Varianten wie Bic, Camionette, Erstminister, Farde oder sich vergönnen - und „Fehlerhaft angewandte Wörter und Ausdrücke“ (S. 18), und die Gegenüberstellung von belgischer und bundesdeutscher Variante ist nach dem Schema „x, nicht y“ angelegt: „Der Lieferwagen überschlug sich“ - NICHT „Die Camionette überschlug sich“ etc. Bei den jüngeren Publikationen von Heinen & Kremer und der damit verbundenen Regionalsprachendatenbank des Ministeriums der DG erscheint als Ziel nun eher die Sammlung der Besonderheiten als deren Bekämpfung. Wie schon erwähnt, werden die aufgeführten Ausdrücke aber explizit der „Regionalsprache (bzw. Alltagssprache) […], die zwischen Standardsprache und Mundart angesiedelt ist“, zugeordnet (Heinen & Kremer 2011: 5); eine Unterscheidung zwischen Ausdrücken, die in standardsprachlichen Kontexten anzutreffen sind ( Garage ‚Autowerkstatt‘) und anderen ( gebacken kriegen ‚schaffen‘, Gebröhsch ‚Lärm, Unruhe, Geräusch‘) wird nicht gemacht, auch der vom Terminologieausschuss festgelegte Terminus Prokurator des Königs wird seltsamerweise nicht hiervon abgehoben (andere solche Termini wie Greffier oder Magistrat fehlen dagegen). Bei Ammon (1995: 416) findet sich eine kleine Liste belgischer Varianten mit expliziten Vermerken bezüglich der standardsprachlichen Akzeptanz, die auf der vom Autor erbetenen Einschätzung durch Heinen und Kremer beruhen (Kriterium: ob die meisten Lehrer die enstsprechende Variante in Schultexten unbeanstandet lassen würden oder nicht). Danach wurden 11 der aufgeführten 19 belgischen Varianten als „nicht korrekt“ eingestuft, darunter Bic, Camion, Frigo und Makai , akzeptiert wurden Farde, Garagist, großjährig, Hospital, relax ‚entspannt‘ , Rollkuchen (bundesdeutsch Schnecke ) , Telefonkabine, Trottoir . Es dominiert offenbar auch in der Gegenwart weiterhin die Ansicht, dass ostbelgische Spezifika zur regionalen Alltagssprache gehören, aber im Standard zu vermeiden sind. Eine programmatische Zeichnung auf der Einladung zu einem Informationsabend unter dem Titel „Kleine Kosmopoliten. Mehrsprachigkeit in Kindergarten und Schule als Zukunftschance für unsere Kinder“ illustriert dies: Sie zeigt zwei Schulkinder mit Sprechblasen in unspezifischem Standarddeutsch und Französisch und einen Jugendlichen mit Skateboard und der Sprechblase: „Boah, da parkt wieder ’ne Camionette auf dem Trottoir“. 41 Das zeigt deutlich die Einstufung der ostbelgischen Spezifika im Sprachenkonzept der DG : Sie 41 Im Netz zugänglich unter http: / / www.kelmis.be/ de/ unsere-gemeinde/ mehrsprachigkeitin-den-schulen/ image/ image_view_fullscreen (15.9. 2016). 116 Robert Möller werden als Charakteristika eines regionalen Substandards betrachtet, der im entsprechenden soziopragmatischen Kontext auch seine Berechtigung hat, neben dem aber „reines“, nicht ostbelgisch geprägtes Standarddeutsch und Französisch beherrscht werden sollen. 7. Zusammenfassung Es weist bislang also wenig auf Bestrebungen zur Stabilisierung und Aufwertung der ostbelgischen sprachlichen Eigenheiten hin. Die rezenten Bemühungen um Erfassung der Besonderheiten haben eher folkloristischen Charakter, die ostbelgischen Varianten werden explizit von der Standardsprache abgegrenzt („Regionalsprache“). Es gibt zwar neuerdings eine eigene Kodifikation der offiziellen Rechts- und Verwaltungsterminologie, allerdings soll diese sich explizit am bundesdeutschen Gebrauch orientieren, wo es möglich ist. Die Gründe für diese Zurückhaltung sind nachvollziehbar: Vor allem ist die Zahl der Deutschsprachigen in Ostbelgien sowohl im national-belgischen Rahmen als auch bezogen auf das deutsche Sprachgebiet (zu) gering (vgl. a. Sommadossi 2013: 297 u. a.). Das bringt es auch mit sich, dass es nicht sehr viele Modelltexte in Standarddeutsch von ostbelgischen Verfassern gibt bzw. keine große Gruppe von Personen, die „ein bestimmtes Repertoire an Texten am oberen Ende der Skala von konzeptioneller Schriftlichkeit beherrschen könnte. Gerade in Ostbelgien [= im Vergleich zu Südtirol, R. M.] ist diese Sprachelite sehr dünn […] und wird durch die Studienmöglichkeiten nicht weiter gefördert“ (Riehl 2001: 285 f.); die Ausrichtung auf den nationalen Rahmen führt dazu, dass sprachliche Fähigkeiten nach der Sekundarschule zumeist nur auf Französisch weiterentwickelt werden. Hinzu kommt, dass das deutsche Sprachgebiet in Ostbelgien einerseits dialektal heterogen ist und sich andererseits direkt an Deutschland anschließt. Abgesehen vom französischen Lehneinfluss sind die alltagssprachlichen Unterschiede innerhalb Ostbelgiens größer als die zu den angrenzenden deutschen Gebieten (und Deutschland ist nie weiter als 50 km entfernt). Auch historisch ist Ostbelgien noch nicht sehr lange eigenständig, in zweierlei Hinsicht: Die Trennung von Deutschland ist noch nicht sehr alt, gerade in der Phase der allgemeinen Durchsetzung der Gemeinsprache, im 19. und frühen 20. Jahrhundert, gehörte das heutige Ostbelgien politisch noch zu Deutschland. Und innerhalb Belgiens erlangte es umgekehrt erst im Verlauf der letzten Jahrzehnte die heutige Autonomie in der Verwaltung und insbesondere im Unterrichtswesen, die eine eingehendere Bemühung um das eigene Deutsch erlauben würde. Ob außerdem aus den innerbelgischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit Deutsch in Ostbelgien-- ostbelgisches Deutsch? 117 um das Verhältnis der Neubelgier zur deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg auch heute noch ein Identitätsproblem bzw. eine Distanz gegenüber der eigenen Sprache resultiert (vgl. Sommadossi 2013: 297 und die dort angegebene Literatur), erscheint zwar etwas fraglich. Paradoxerweise führt aber gerade die Identifikation mit Belgien dazu, dass die Pflege der Mehrsprachigkeit zumeist einen höheren Stellenwert hat als die eingehende Beschäftigung mit dem Deutschen und dass schließlich auch deshalb die Referenz für „Standarddeutsch“ ohne weitere Diskussion und eigene Ambitionen in Deutschland gesehen wird. 8. 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Das Projekt „Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“ Gegenstand dieses Beitrags sind einige Ergebnisse einer von Melanie Wagner, Eva Wyss und mir durchgeführten Untersuchung, nämlich „Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“. Ein Ziel dieser Untersuchung war es, unser Verständnis der Rolle von Deutschlehrenden als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten in drei verschiedenen deutschsprachigen Ländern - Deutschland, Luxemburg und der deutschsprachigen Schweiz - zu vertiefen und in diesem Zusammenhang auch den Grad der Vertrautheit mit dem plurizentrischen Modell der Sprachvariation und dessen Akzeptanz unter nicht-SprachwissenschaftlerInnen zu untersuchen. Auch wenn dieses Modell, das die Existenz von mehr als einer nationalen Variante der deutschen Sprache postuliert (vgl. Clyne 1984: 1 f.), 1 inzwischen wissenschaftlich fest etabliert ist, ist es nicht ganz klar, wie re- 1 Das Adjektiv „plurizentrisch“ wird fast immer als synonym mit „plurinational“ bzw. „pluristaatlich“ verstanden. 124 Winifred V. Davies levant es für die jeweiligen Sprachgemeinschaften ist (vgl. Scharloth 2005) und welchen Einfluss es auf die Praxis der Deutschlehrenden ausübt - wenn es denn überhaupt einen gibt. In diesem Beitrag werde ich mich auf die Lage in Deutschland konzentrieren, während sich die Beiträge von Wagner und Wyss in diesem Band, die auch Daten aus dieser Untersuchung präsentieren, mit den Spezifika der luxemburgischen und schweizerischen Situationen beschäftigen. Die Ergebnisse, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, ruhen sowohl auf einer Analyse des Inhalts von schulischen Bildungsplänen als auch auf Daten, die mittels eines Fragebogens (siehe Anhang) von einem Sample von Lehrkräften in den drei Ländern erhoben wurden. Die Methoden werden weiter unten ausführlicher beschrieben. In unserem Projekt orientieren wir uns am Modell der Plurizentrik anstatt am neueren Modell der Pluriarealität, das von einigen SprachwissenschaftlerInnen (z. B. Niehaus in diesem Band) vorgezogen wird. Wie Spolsky sind wir der Meinung, dass die Nation im heutigen Europa immer noch ein wichtiges Ordnungsprinzip ist: „[N]ations have certainly not disappeared in the twenty-first century; in spite of globalization and the existence of supranational business and political unions, the pressure for symbolic identity controls their language policy, practices, beliefs, and management alike“ (Spolsky 2009: 257). Laut Bickel & Landolt (2012: 8) sind staatliche Grenzen auch sprachliche Grenzen, weil die BewohnerInnen eines Staates eine Kommunikationsgemeinschaft bilden. Für unser Projekt, in dem es um das Wissen und die Einstellungen von Lehrenden ging, war es relevant, dass die Bildungssysteme in Luxemburg, Deutschland und der Schweiz trotz der föderalistischen Strukturen der letzten zwei Staaten (auch) stark national geprägt sind. In Deutschland zum Beispiel soll die Kultusministerkonferenz 2 „für das notwendige Maß an Gemeinsamkeit in Bildung, Wissenschaft und Kultur“ sorgen. Auch in der Schweiz gibt es inzwischen wachsenden Druck vom Zentrum (vom Bund) auf die Kantone und einige Tests werden auf nationaler statt nur auf kantonaler Ebene ausgeführt (www.sbf.admin.ch/ evamar, Stand: 27. 09. 2010) (vgl. auch den Beitrag von Gehrer, Oepke & Eberle in diesem Band). 2 Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kurzform: Kultusministerkonferenz oder KMK) ist ein Zusammenschluss der für Bildung und Erziehung, Hochschulen und Forschung sowie kulturelle Angelegenheiten zuständigen MinisterInnen der Bundesländer. Sie ist verantwortlich für Belange, die von länderübergreifender Bedeutung sind, und versucht ein bestimmtes Maß an Gemeinsamkeit in Bildung, Wissenschaft und Kultur zu sichern. (www.kmk.org/ wir-ueber-uns/ aufgaben-der-kmk.html, Stand: 02. 01. 2016). Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 125 2. Lehrende als Sprachnormautoritäten und SprachnormvermittlerInnen In Anlehnung an die Definition in Ammons Modell des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät (Ammon 2003) bezeichnen wir als Sprachnormautoritäten Menschen, die das Recht und die Pflicht haben, die sprachlichen Produkte von anderen zu korrigieren, manchmal auch zu benoten. Auch wenn Ammon dies nicht explizit bei der Definition erwähnt, legt die Bezeichnung meiner Ansicht nach nahe, dass diese Menschen genau wissen, was „richtig“ ist und was nicht, und dass wir von ihnen dann logischerweise auch einen hohen Grad an Normwissen erwarten dürfen. Im Kontext des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät wird der Begriff „Norm“ (Sprach norm autoritäten, Norm vermittler) üblicherweise als Synonym für Standardsprache benutzt, also die Varietät, die in Deutschland wohl die unumstrittene Prestigevarietät 3 ist, während ihr Status in Luxemburg und der Schweiz weniger eindeutig ist, wie wir in den Beiträgen von Wagner und Wyss in diesem Band deutlich sehen können. 4 In diesen drei Ländern wird Standarddeutsch unter sehr unterschiedlichen soziolinguistischen Bedingungen erworben bzw. gelernt und gelehrt und es gehört zu den Zielen unseres Projekts, das Wechselspiel zwischen diesen Bedingungen und der Praxis der Sprachnormautoritäten näher zu untersuchen. Folgendes Zitat bringt die Erwartungen an die Deutschlehrenden im Muttersprachunterricht deutlich auf den Punkt: […] die normative Vermittlung jeweiliger Gegenwartssprache, war und ist zu allen Zeiten das oberste Lernziel des deutschen Sprachunterrichts. Alle Schüler sollten von jeher gut und richtig reden, schreiben und lesen lernen. (Naumann 1986: 93) Dreizehn Jahre später (1999) zeigten die Ergebnisse einer von Stickel und Volz ausgeführten Umfrage, dass es immer noch solche Erwartungen seitens der Gesellschaft bzw. seitens einiger Teile der Gesellschaft gab. In dieser Umfrage waren 83.6 % der Befragten der Meinung, dass die Schule sich um die zukünftige Entwicklung der deutschen Sprache kümmern sollte. In einer späteren Umfrage, die vom Institut für Deutsche Sprache ( IDS ) ausgeführt wurde (Eichinger et al. 2009), meinten 78 %, dass mehr für die deutsche Sprache getan werden 3 Auf jeden Fall, wenn es um „overt prestige“ geht (siehe Trudgill 1972 für eine Diskussion der Termini „covert prestige“ und „overt prestige“). 4 In seinem ursprünglichen Diglossie-Modell beschreibt Ferguson (1959) die Standardvarietät der deutschen Sprache in der Schweiz als „High Variety“, wobei ein Kriterium dafür sei, dass diese Varietät die prestigereichste sei. Inzwischen wurde aber die Adäquatheit dieses Diglossie-Modells für die deutschsprachige Schweiz mehrmals in Frage gestellt (vgl. zum Beispiel Berthele 2004). 126 Winifred V. Davies sollte; 73 % von diesen 78 % sagten, Lehrende und Schulen seien diejenigen, die sich um die deutsche Sprache kümmern sollten. Als deutsche SchülerInnen in verschiedenen PISA -Erhebungen 5 schlechter als erwartet abschnitten (u. a. bei der Messung der Lesekompetenz), wurden die Lehrenden von vielen PolitikerInnen und weiteren KommentatorInnen gleich als Hauptverantwortliche bzw. Hauptschuldige angeprangert. 6 Auch wenn in den Bildungsplänen und Curricula heutzutage eher von situativer Angemessenheit und situationsgerechtem Sprachgebrauch die Rede ist als von gutem und richtigem Deutsch, wird die Vermittlung der Standardsprache immer noch als wichtige Aufgabe der Deutschlehrenden angesehen (vgl. Davies & Langer 2014). Das Projekt „Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“ baut teilweise auf früheren Studien zur Normvermittlung an deutschen Schulen und zum Normwissen von Deutschlehrenden auf, z. B. Davies (2005), Davies & Langer (2006) und Wagner (2009). Diese Studien zeigen, dass in Deutschland das Verhältnis zwischen (i) dem Normwissen von Sprachnormautoritäten, speziell Lehrenden, (ii) präskriptiven Werken, in denen die Regeln für Standarddeutsch kodifiziert sind und (iii) dem tatsächlichen Gebrauch nicht eindeutig ist. Manchmal sind sich die Lehrenden und die Nachschlagewerke (der Kodex) darüber einig, was als richtig bzw. standardsprachlich gilt, gelegentlich aber gehen die Meinungen der Lehrenden und des Kodex auseinander. Das kann anhand von zwei Bespielen veranschaulicht werden. Das erste Beispiel ist die Partikel wo . Im heutigen Deutsch wird wo sowohl als lokale als auch temporale Relativpartikel verwendet, z. B. in den Sätzen (i) Ich sah ihn da, wo das Spiel stattfindet und (ii) Ich sah ihn an dem Tag, wo das Spiel stattfand. Viele SprecherInnen sind aber der Meinung, dass der temporale Gebrauch „schlecht“ sei, z. B. in Davies (2000) behaupteten 52 % der befragten Realschullehrer und -lehrerinnen in Süddeutschland, sie würden temporales wo immer korrigieren, wenn SchülerInnen es verwendeten, egal in welcher Textsorte oder Situation. In einer zweiten Untersuchung, diesmal mit Gymnasiallehrkräften in Süddeutschland, behaupteten 78 % der Informanten, temporales wo sei nicht standardsprachlich (Davies 2005). In einer im Rahmen der jetzigen Studie vor zwei Jahren in Nordrhein-Westfalen, Luxemburg und der deutschsprachigen Schweiz ausgeführten Umfrage behaupteten 78 % der befragten Gymnasiallehrkräfte, sie würden die Konstruktion immer korrigieren. 5 PISA = OECD Programme for International Student Assessment, ein großes Bildungsforschungsprogramm zur Erfassung und zum internationalen Vergleich der Grundkompetenzen von 15-jährigen SchülerInnen. Die Erhebungen finden alle drei Jahre statt. 6 Vgl. z. B. www.stern.de/ politik/ deutschland/ neue-pisa-studie-deutschland-braucht-bessere-lehrer-3873134.html, Stand: 30. 5. 2016. Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 127 Dieses negative Werturteil ist so weitverbreitet, dass es auch den VerfasserInnen von DaF-Lehrbüchern auffällt: The use of wo as a relative indicating time is common, especially in speech and it is also widely used in writing. However, many Germans consider it to be colloquial and prefer other alternatives in formal registers. (Durrell 2002: 102) Die Konstruktion wird in den vom Dudenverlag herausgegebenen Nachschlagewerken, d. h. in den Werken, die von vielen als Verkörperung der Norm der deutschen Standardsprache angesehen wird, ausdrücklich als standardsprachlich anerkannt: Sie [die Partikel wo : WD ] kann aber auch als relativischer Anschluss gebraucht werden, wenn es sich nicht um einen räumlichen, sondern um einen zeitlichen Bezug handelt: in dem Augenblick, wo … (ebenso korrekt als oder in dem …) oder zu dem Zeitpunkt, wo … (ebenso korrekt: als oder zu dem …). ( Duden. Richtiges und gutes Deutsch 2007: 1012) 7 Beim zweiten Beispiel handelt es sich um die Adjektivdeklination in Sätzen wie: (i) Die Geiseln waren erst nach groß em international em Druck freigelassen worden (www.abendzeitung-muenchen.de, 05. 05. 2014) und (ii) China hat seine Währung nach groß em international en Druck erneut aufgewertet (www.welt. de, 28. 06. 2010). In allen modernen Regelwerken wird die Parallelflexion wie in Beispiel (i) als die richtige angeführt (vgl. dazu Moulin 2000; Davies & Langer 2006: 169-184; Nübling 2011). Trotz dieser klaren Regel gibt es aber in einem bestimmten Fall immer noch Varianz, und zwar wenn die Adjektive vor einem Neutrum oder einem Maskulinum im Dativ stehen. In der Tat lehnten ganze 40 % der Gymnasiallehrkräfte in Süddeutschland in einer früheren Umfrage (Davies 2005) die Parallelbeugung als nicht standardsprachlich ab und bevorzugten (ii). Diese Ergebnisse werfen einige Fragen auf, z. B. was es bedeuten soll, wenn in den Lehrplänen 8 für das Fach Deutsch in Deutschland gefordert wird, dass Standard deutsch unterrichtet wird. Was für eine Varietät sollen die Leh- 7 Die Einstellungen scheinen den Gebrauch zu beeinflussen, vgl. folgende Informationen auf der Webseite von grammis 2.0, dem grammatischen Informationssystem des IDS: „Bevorzugt werden an dem / in dem und als zur Einleitung temporaler Attributsätze verwendet. Tendenziell scheinen als und wo näher an der Alltagssprache zu liegen“ (http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ call/ public/ fragen.ansicht? v_typ=f&v_id=3209&v_wort=- $wo, Stand: 01. 01. 2016). Vgl. auch: „Als temporaler Subjunktor kommt wo im heutigen Deutsch allenfalls im Substandard und gesprochensprachlich vor […]“ (Breindl et al. 2015: 311). 8 Wir sprechen von Lehrplänen in der Mehrzahl, weil die Zuständigkeit für das Bildungswesen und die Kultur in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen bei den einzelnen Bundesländern liegt. 128 Winifred V. Davies renden vermitteln und welche einzelnen Varianten sollen sie anstreichen bzw. korrigieren und welche nicht? Die Lehrpläne geben keine Auskunft darüber: Sie schreiben zwar den Gebrauch und die Vermittlung der Standardsprache im Unterricht vor (die Begriffe „Hochdeutsch“ und „Hochsprache“ kommen auch in den Dokumenten vor), es wird aber selten explizit erklärt, was ganz konkret unter diesen Begriffen zu verstehen ist (vgl. Davies & Langer 2014). Da die deutsche Standardsprache - zumindest die deutschländische Variante 9 - ausführlich kodifiziert ist, 10 läge es eigentlich auf der Hand, dass die Lehrenden die kodifizierte Norm vermitteln sollten. Da es in Deutschland keine staatlich autorisierten Werke gibt, ist es aber leider nicht immer ganz klar, welche Werke zum Kodex gehören und welche in der Tat von den SprecherInnen benutzt werden, d. h. als Kodex behandelt werden. 11 Außerdem sind sich verschiedene Regelwerke manchmal nicht einig, was als standardsprachlich gilt und was nicht (vgl. Davies & Langer 2014). Dazu kommt, dass sich die kodifizierte Norm der deutschen Sprache nur langsam von einer zu starken Orientierung an formellen schriftnahen Sprachformen gelöst hat und dass Lehrende Gefahr laufen, wenn sie sich an diese enge und rigide Norm halten, eine wirklichkeitsferne und variantenfreie Varietät, die nur für die Schule gilt, zu vermitteln. Eine realistische Standardnorm müsste aber elastischer sein und diastratische, diatopische und diaphasische Varianten umfassen, wenn sie sich nicht als ganz irrelevant erweisen sollte (vgl. Eichinger 2005: 363). 12 Aus dem Vorhergehenden sieht man, dass es nicht immer leicht ist für Lehrende, die von ihnen erwartete Funktion als SprachnormvermittlerInnen kompetent auszuüben und alle Erwartungen seitens der Gesellschaft zu erfüllen. 9 Wie Ammon (1995b) zeigt, werden spezifisch deutsche Formen in den endonormativen Regelwerken des Dudenverlags nicht als solche markiert, obwohl diese Werke den Anspruch erheben, nicht nur für Deutschland zu gelten. 10 In vielen deutschsprachigen Werken zur Standardisierung (z. B. Ammon 1995a; Löffler 2005) wird die Existenz eines Kodex als eines der konstitutiven Merkmale einer Standardvarietät angeführt. 11 Zur Frage, welche Werke Teil des Kodex sind vgl. Klein (2014), der zwischen einem Kernkodex (z. B. der Duden-Grammatik ) und einem Parakodex (z. B. Texten wie Bastian Sicks Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod ) unterscheidet. Ein Aspekt unseres Projekts, der in einem anderen Aufsatz ausführlicher behandelt werden soll, war die Frage, welche normierenden Regelwerke von den Lehrenden verwendet werden (vgl. Hennigs (2010) Plädoyer für eine Grammatikbenutzungsforschung). Diese Forschungsfrage wird auch von Klein (2014: 29) angesprochen: „Die Erforschung von Standardsprachlichkeit besitzt demnach nicht nur eine usus-orientierte, objektsprachliche Dimension, sondern auch eine kodex-orientierte, metasprachliche Komponente.“ 12 In Bezug auf den DaF-Unterricht hat Durrell öfter für einen registersensiblen Sprachunterricht mit einer wirklichkeitsnäheren Zielnorm plädiert, vgl. Durrell (2003; 2012). Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 129 3. Das plurizentrische Modell in der Alltagspraxis Ein Ziel der hier vorgestellten Studie ist es, Licht auf die Frage der Relevanz der Plurizentrik für verschiedene Gruppen von SprachbenutzerInnen zu werfen. SoziolinguistInnen mochten das plurizentrische Modell, weil es verwendet werden konnte, um den Status von anderen Standardvarietäten im Vergleich zum deutschländischen Standard anzuheben und die ehemalige Unterscheidung zwischen Binnen- und Außendeutsch abzuschaffen (Elspaß 2005; Niehaus in diesem Band). Da das Bildungssystem bei der Legitimation von bestimmten Varietäten und der Stigmatisierung von anderen eine wesentliche Rolle spielt, kann dieses Ziel in der Praxis aber nur erreicht werden, wenn es von den Deutschlehrenden als Sprachnormautoritäten und auch von den VerfasserInnen von Bildungsplänen und Curricula unterstützt wird. Diese Gruppen spielen eine Vermittlerrolle zwischen der soziolinguistischen Theoriebildung und der Alltagspraxis. Deshalb wollten wir diese beiden Gruppen untersuchen und ihre Einstellungen mit denen von SprachwissenschaftlerInnen vergleichen. Bei den DeutschlehrerInnen gehen wir davon aus, dass diese im Lauf ihres Studiums an einer Universität durch den Besuch von Einführungskursen oder speziellen Seminaren eine gewisse sprachwissenschaftliche Expertise erworben haben, die aber trotzdem nicht mit der Expertise von professionellen SprachwissenschaftlerInnen gleichgesetzt werden kann. 3.1. Das plurizentrische Konzept und Deutsch als Fremdsprache (DaF) Das plurizentrische Konzept, d. h. die Annahme, dass es verschiedene nationale Varianten der deutschen Sprache gibt, scheint schon zu einer größeren Sensibilisierung für diese Dimension der Variation in der DaF-Branche geführt zu haben, auch wenn das Konzept vielleicht nicht so weitverbreitet ist, wie man angesichts der umfänglichen Literatur zum Thema erwartet hätte. Zum Beispiel meint Hägi (2006: 270), dass „in Lehr- und Lernmaterialien nach wie vor ein erkennbares linguistisches Konzept hinsichtlich der nationalen Varietäten des Deutschen“ fehle. Durrell & Langer (2005) ihrerseits stellen fest, dass Theorie und Praxis nicht immer einhergehen. Die DaF-Lehrenden an britischen und irischen Universitäten, die von den zwei Autoren befragt wurden, akzeptieren zwar prinzipiell das plurizentrische Modell, wissen aber oft nicht, welche konkreten Varianten in welchem deutschsprachigen Land als standardsprachlich gelten und markieren einige trotz bester Vorsätze doch als falsch (Beispiele sind Trottoir , vergessen auf und ist gelegen ). Die Spracheinstellungen von den Deutschlehrenden und -lernenden im Ausland in Ransmayrs Untersuchung (Ransmayr 2006) sind hingegen weniger positiv und die Autorin stellt fest, dass 130 Winifred V. Davies das österreichische Standarddeutsch vielfach nicht als Standardvarietät wahrgenommen wird, sondern oft als Substandard- oder Nonstandard-Varietät gilt (Ransmayr 2006: 274). 3.2. Der plurizentrische Ansatz und der Muttersprachunterricht: Lehrpläne Auch wenn inzwischen einige Studien zur Relevanz der Plurizentrik für den DaF-Unterricht vorliegen, wissen wir immer noch relativ wenig darüber, welche Relevanz das Modell für den Erstsprachunterricht hat, zum Beispiel haben wir bei einer Durchforstung der deutschen und luxemburgischen Lehrpläne gar keine Hinweise auf dieses Modell gefunden. Als wir dann die Lehrpläne für die Deutschschweiz untersuchten, fanden wir in den Plänen für Fribourg / Freiburg 13 und Sankt Gallen 14 einige relativ vage Hinweise auf „die charakteristischen Merkmale der Schweizer Sprachsituation“. In Sankt Gallen wird gefordert, dass SchülerInnen „über Besonderheiten der schweizerischen Sprachsituation Bescheid wissen“ sollten, doch es gibt keine konkreten Informationen darüber, welche Besonderheiten hier gemeint sind. Zudem sprechen die meisten Lehrpläne - wie in Deutschland - nur von „Standardsprache“ oder „Hochdeutsch“ ohne nähere Spezifizierung. Im Berner Lehrplan 15 wird ausnahmsweise davon gesprochen, dass die SchülerInnen „korrekt Schweizer Standarddeutsch“ verwenden sollten, doch es ist nicht klar, wie Lehrende diese Forderung mit einer anderen Forderung in demselben Lehrplan in Einklang bringen sollen, dass Helvetismen 16 zu erkennen und zu überwinden seien. Der Lehrplan für die Zentralschweiz 17 ist nicht viel aufschlussreicher. Darin liest man, dass „man ab und zu Situationen begegnen wird, welche eine gepflegte Standardsprache erfordern, ohne dass dabei die deutschschweizerische Herkunft verleugnet werden müsse.“ Es bleibt aber unklar, was unter „gepflegter Standardsprache“ konkret verstanden wird und welche Konsequenzen Lehrende aus dieser Aussage ziehen sollten. 13 www.fr.ch/ s2/ files/ pdf17/ deutsch_-_version_2006.pdf (Stand: 24. 07. 2012). 14 www.ksbg.ch/ fileadmin/ Lehrplaene/ Lehrplan_Gymnasium.pdf (Stand: 24. 07. 2012). 15 www.erz.be.ch/ erz/ de/ index/ mittelschule/ mittelschule/ gymnasium/ lehrplan_maturitaetsausbildung.assetref/ content/ dam/ documents/ ERZ/ MBA/ de/ AMS/ ams_klm_ deutsch.pdf (Stand: 24. 07. 2012). 16 In der Sprachwissenschaft wird der Terminus „Helvetismus“ normalerweise für eine Sprachform verwendet, die typisch für die Schweiz ist und in der Schweiz auch als standardsprachlich angesehen wird (Ammon 1995a: 54-60). 17 www.zebis.ch/ Unterricht/ schublade/ 9L6zXgh2WNmrv6JcpevBZy2TtMbWfM/ docs/ lp_ deutsch_sek02_va.pdf (Stand: 24. 07. 2012). Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 131 4. Deutschland Wie schon gesagt, der soziolinguistische Kontext in den drei Ländern, die den Gegenstand der hier beschriebenen Studie bilden, unterscheidet sich stark. Im Folgenden werden einige Hintergrundinformationen zur Situation in Deutschland präsentiert und anschließend einige Sprachdaten vorgestellt, die in Deutschland gesammelt wurden. Im plurizentrischen Modell wird Deutschland immer als Vollzentrum angesehen, u. a. weil es viele endonormative Nachschlagewerke gibt, d. h. Werke, die in dem Land erarbeitet und veröffentlicht werden (Ammon 1995a: 96). Zu den bekanntesten gehören wohl die Werke, die vom privaten Dudenverlag herausgegeben werden, auch wenn sie keinen besonderen amtlichen Status haben. Was die sprachlichen Einstellungen angeht: Ammon (2004: 12) wird sicher Recht haben, wenn er schreibt, dass unter den BewohnerInnen Deutschlands die Vorstellung von der Einheitlichkeit des Standarddeutschen weit verbreitet sei. In der Praxis hat dies dann zur Folge, dass es vielen Deutschen einfach nicht bewusst ist, dass es „deutschländische“ Varianten gibt, die in anderen deutschsprachigen Ländern nicht gebräuchlich sind (Ammon 1995a nennt sie „Teutonismen“), 18 d. h. Deutsche tendieren dazu, (Standard)Deutsch mit deutschländischem Standarddeutsch gleichzusetzen (Ammon 1994: 51; Elspaß 2005: 300). Diese Einstellung wird dadurch gefördert, dass es zwar seit einiger Zeit spezielle Wörterbücher zum österreichischen und schweizerischen Deutsch gibt (z. B. Ebner 1980; Meyer 1989), aber vor der Veröffentlichung des Variantenwörterbuchs des Deutschen (Ammon et al. 2004) gab es kein Wörterbuch, das die Besonderheiten des deutschländischen Standarddeutsch dokumentierte (Ammon 1994). Werke wie das Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011) enthalten viele Varianten, die als schweizerisch oder österreichisch markiert sind, was naheliegt, dass solche Werke den Anspruch erheben, für Gegenden jenseits der Grenzen der Bundesrepublik zu gelten. Das Vorwort des Universalwörterbuchs (2011) behauptet, dass der Band „seit seiner ersten Auflage 1983 eine umfassende und kompakte Darstellung des allgemeinen Wortschatzes der deutschen Gegenwartssprache“ biete. In den Anleitungen zum Gebrauch des Wörterbuchs findet man Hinweise auf regionale Varianten ( Duden Universalwörterbuch 2011: 16), die Angaben beschränken sich aber auf deutsche Regionen und Österreich und die Schweiz, und es gibt kein Etikett für „Teutonismen“. Die VerfasserInnen des Wörterbuchs scheinen davon auszugehen, dass Varianten, die nicht als österreichisch oder schweizerisch, als nord- oder süddeutsch (zum Beispiel) markiert 18 Beispiele für „Teutonismen“ wären laut Ammon (1995a: 339) Abendbrot, Hähnchen, Pellkartoffeln . Andere Autoren, z. B. de Cillia (2006), bevorzugen die Bezeichnung „Deutschlandismen“. Siehe auch Ammon (1995b). 132 Winifred V. Davies sind, in jedem Teil der deutschsprachigen Welt als standardsprachlich gelten und akzeptiert sind, während andere nationale Varianten einen beschränkten kommunikativen Radius haben. 4.1. Nordrhein-Westfalen Die Daten, die hier präsentiert werden, wurden in Nordrhein-Westfalen ( NRW ) erhoben. 19 NRW wurde gewählt, weil die soziolinguistische Literatur zur Region (z. B. Menge 2000; Cornelissen 2005) darauf hinweist, dass die Region ein anderes Sprachwertsystem hat als die Trierer Gegend, wo Wagner eine frühere Studie ausführte (Wagner 2009), und als die Pfalz und Baden-Württemberg, wo die Studien von Davies (Davies 2000; 2005) ausgeführt wurden. Dies soll uns ermöglichen, die Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Die Anforderungen an Lehrkräfte in Deutschland haben sich im Lauf der letzten paar Jahrzehnte auf dem Papier wahrscheinlich wenig geändert (vgl. das Zitat von Naumann in Kap. 2 des vorliegenden Beitrags), im Gegensatz dazu hat sich aber der soziale Kontext, in dem sie agieren und diesen Anforderungen gerecht zu werden versuchen, wesentlich geändert, vor allem dadurch, dass die Schulen immer heterogener geworden sind. Im Schuljahr 2010-2011 sprachen 15 % aller SchülerInnen in NRW eine andere Sprache als Deutsch zu Hause (was nicht bedeutet, dass sie nicht auch Deutsch sprachen), obwohl die Zahl viel niedriger war bei den Familien von Gymnasiasten (5 %). 20 Was sich hingegen im Lauf der Jahre kaum geändert hat, ist das selektive Schulsystem in Deutschland, wie auch in der Schweiz und Luxemburg. Um einen Vergleich zu ermöglichen, beschlossen wir, in allen drei Ländern nur GymnasiallehrerInnen als Gewährspersonen heranzuziehen. In einer vom Allensbacher Institut durchgeführten Umfrage aus dem Jahr 1998 (Allensbach 1998) behaupteten 35 % der Befragten in NRW , sie könnten „die Mundart hier aus der Gegend“ sprechen (die niedrigste Zahl für alle deutschen Regionen), und zehn Jahre später (Allensbach 2008) stimmten nur 10 % der Befragten in NRW mit der Aussage überein: „Ich spreche eigentlich immer Dialekt / Mundart“. In einer neueren Umfrage, die vom IDS ausgeführt wurde (Eichinger et al. 2009), bejahten 44 % der Befragten in NRW die Frage „Können Sie einen deutschen Dialekt oder Platt? “ Diese Zahlen sollten wir aber mit Vorsicht behandeln, da es nicht klar ist, was die Befragten unter den Bezeichnungen „Mundart“, „Dialekt“ und „Platt“ verstanden haben. 19 Wir haben vor, in einer zweiten Phase, die Datensammlung auf andere Bundesländer auszuweiten. 20 http: / / www.migazin.de/ 2012/ 05/ 18/ sprache-zu-hause-entscheidet-uber-bildungserfolg (Stand: 27. 10. 2014). Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 133 NRW ist kein sehr homogenes Land, weder kulturell noch konfessionell noch sprachlich (vgl. Cornelissen 2004). Es gibt viele verschiedene Dialekte, doch der Einfluss des Dialektsubstrats variiert heute stark je nach Region und Altersgruppe. Es wird im Rheinland südlich von Düsseldorf mehr Dialekt gesprochen als im Norden am Niederrhein (Cornelissen 2005: 30) und die Dialekte spielen seit langem in den Großstädten im westlichen Ruhrgebiet (zum Beispiel Duisburg oder Essen) nur eine sehr kleine Rolle (Cornelissen 2004: 180-181). Der Rückgang des Dialekts bedeutet aber nicht, dass jede Spur von regionaler Färbung verschwunden wäre. In ihrer Studie an einer Grundschule in Duisburg stellten Ammon & Kellermeier (1997) fest, dass sogar die ViertklässlerInnen, die sie als StandardsprecherInnen einstuften, Fehler in ihren Aufsätzen machten, die die Autoren als „dialektbedingt“ beschrieben. Eine zweite Gruppe von SchülerInnen, die als „Nurruhrdeutschsprecher“ eingestuft wurden, machten ungefähr dreimal so viele „dialektbedingte“ Fehler. 4.2. Lehrpläne Beim Schulministerium in NRW findet man Aussagen, die auf positiven Einstellungen gegenüber der bestehenden sprachlichen Variation zu fußen scheinen. In den Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe lesen wir zum Beispiel: Die Schüler sollen lernen, eine voreilige Diskriminierung ungewohnter Sprachverwendungsweisen zu vermeiden, die Vielfalt der sprachlichen Umwelt zu respektieren und als Farbigkeit und Reichtum zu bejahen. […] Die durch normative Grammatiken bewirkte bzw. verstärkte Vorstellung eines einheitlichen, situations-, rollen- und funktionsunabhängigen „richtigen“ Deutsch soll überwunden werden zugunsten eines Sprachbewußtseins, das der realen Differenzierung der Sprache und des Sprachverhaltens gerecht wird. (zitiert in Volmert 1997: 69) Andererseits steht auch in den Richtlinien und Lehrplänen für die Sekundarstufe 2 Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen (1999: 67), dass: „Besonderes Gewicht für die Bewertung der Darstellungsleistung haben […] Berücksichtigung standardsprachlicher Normen“. Außer den Lehrplänen und Richtlinien, die von den einzelnen Bundesländern erarbeitet werden, gibt es auch von der Kultusministerkonferenz vereinbarten Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss ( Beschlüsse 2003), die sich u. a. auf sprachliche Variation beziehen: Die Schülerinnen und Schüler bewältigen kommunikative Situationen in persönlichen, beruflichen und öffentlichen Zusammenhängen situationsangemessen und adressatengerecht. Sie benutzen die Standardsprache. 134 Winifred V. Davies Diese Aussagen beruhen auf dem Modell der situativen Adäquatheit bzw. kommunikativer Angemessenheit: Es wird davon ausgegangen, dass der Sprachgebrauch je nach Situation variiert bzw. variieren soll, aber trotzdem wird relativ viel Wert auf die Beherrschung der Standardsprache und auf sprachliche Korrektheit gelegt. 5. Methoden und Ergebnisse Zusätzlich zu einer Analyse und Auswertung von Lehrplänen und Dokumenten zur Sprachpolitik in den Bildungssystemen der drei Länder haben wir 50 Deutschlehrende in jedem Land per Fragebogen befragt, um Informationen über ihre Praxis, ihre Einstellungen und ihre Einschätzung der jeweiligen aktuellen soziolinguistischen Lage zu sammeln. 21 Alle unterrichten an Gymnasien. Wir sind uns der Probleme, die mit Fragebogenerhebungen verbunden sind, durchaus bewusst, es lässt sich aber trotzdem auf diese Weise am ehesten eine vergleichbare und standardisierbare Auswertung durchführen. Wir hätten auch lieber ein größeres und repräsentativeres Sample gehabt, da wir aber aus früheren Untersuchungen wussten, dass Lehrende nicht immer bereit sind, an soziolinguistischen Untersuchungen teilzunehmen, hatten wir uns von Anfang an auf 50 Gewährspersonen pro Land geeinigt (die Zahl hing auch mit der niedrigeren Anzahl von Gymnasien in Luxemburg zusammen). In der Tat war es in keinem der drei Länder besonders einfach, Lehrende zur Teilnahme zu bewegen, was sich möglicherweise durch schlechte Erfahrungen mit den Pisa-Untersuchungen erklären lässt bzw. auf die Befürchtung zurückgeht, die Ergebnisse der Untersuchung könnten weitere Kritik an den Kompetenzen und Kenntnissen der Lehrenden anfachen (siehe oben). Ungefähr die Hälfte der Fragebogen wurde über persönliche Kontakte an Schulen verteilt („friend of a friend“, vgl. Milroy 1987), die anderen kamen von Lehrenden, die auf Briefe, die ich „kalt“ an Schulen schickte, reagierten. Die 50 Fragebogen stammen von Lehrenden an zehn Schulen an neun Orten. Diese indirekte Methode erlaubt uns, wie gesagt, die Antworten von allen Gewährspersonen relativ einfach zu vergleichen, bedeutet aber auch, dass ich als Projektleiterin wenig Einfluss auf die Zusammensetzung des Samples hatte und dass wir die Tatsache nicht ignorieren können, dass diese Lehrenden eventuell einer Untergruppe der Bevölkerung gehören, die sich besonders für sprachliche Fragen interessiert. Der Fragebogen gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil folgen nach einigen demografischen Angaben Fragen zur Einschätzung der Sprachsituation vor Ort, 21 Der Fragebogen findet sich im Anhang. Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 135 dann kommen Fragen zur Nutzung der Kodizes und im letzten Teil haben wir den Lehrenden 27 Konstruktionen vorgelegt, damit sie deren grammatische Richtigkeit bzw. deren Akzeptabilität in spezifischen Kontexten oder Textsorten einschätzen konnten. Bei diesen Konstruktionen ging es nicht nur darum festzustellen, ob nationale Varianten aus anderen Staaten akzeptiert wurden, sondern auch darum, inwiefern dialektale bzw. regionale Einflüsse akzeptiert wurden. 5.1. Einige Ergebnisse Ich werde ein paar Ergebnisse besprechen, um zu zeigen, (i) dass das Verhältnis zwischen dem Kodex und den Sprachnormautoritäten auch hier kein eindeutiges ist, und (ii) dass die Lehrenden in Deutschland wenig über Varianten aus anderen deutschsprachigen Ländern wissen. 5.1.1. Die Verlaufsform mit am : Sie war am Bügeln, als ich das Zimmer betrat Laut Duden. Richtiges und gutes Deutsch (2011: 66) würden am, beim und im mit dem Infinitiv als Verlaufsform verwendet, in der Schriftsprache aber seien nur beim und im „üblich“: „Dagegen gehört die Verlaufsform mit am vorwiegend der gesprochenen Sprache an. Am + Infinitiv breitet sich gegenwärtig rasch aus und wird teilweise schon als standardsprachlich angesehen.“ Der Eintrag in der neuesten Auflage der Duden-Grammatik (2009: 427) ist ähnlich, macht aber klar, dass die Form schon in der Schriftsprache vorkommt: „Sie wird vorzugsweise bei Tätigkeitsverben ohne Ergänzungen verwendet und ist in der gesprochenen Sprache weiter verbreitet als in der Standardschriftsprache.“ Auer (2004: 83-84) schreibt, dass die Konstruktion in der überregionalen gesprochenen Sprache vorkomme und dass sie zum Teil auch in der Schrift akzeptiert werde. Pottelberge (2004) führt dahingegen die Verwendung von am mit Infinitiv auch in der geschriebenen deutschen Standardsprache an (er untersuchte das Zeitungskorpus am IDS ), während Gárgyán die Ergebnisse ihrer korpusbasierten Untersuchung so zusammenfasst: „[…] der am -Progressiv ist in allen Schichten der Sprache und in allen Textsorten vorhanden. Meine Zählungen zur Frequenz der verschiedenen Progressivkonstruktionen zeigten, dass die am -Form von allen Konstruktionen die häufigste ist“ (Gárgyán 2011: 183). Im Atlas der deutschen Alltagssprache von Elspaß und Möller lesen wir, dass die Konstruktion „Sie ist noch am Schlafen“ in der Schweiz und in dem größten Teil Deutschlands, vor allem im Westen, vorkommt (http: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-2/ f18a-b/ , Stand: 29. 10. 2014). Der Atlas zeigt auch, dass der Akzeptanzgrad der Konstruktion mit Akkusativobjekt - „Er ist gerade die Uhr am Reparieren“ - niedriger ist und nur in einem kleineren Areal im Westen ge- 136 Winifred V. Davies läufig zu schein scheint (loc. cit.). Diese Ergebnisse kongruieren mit denjenigen von Pottelberge (2004: 205) und widersprechen der Behauptung Bastian Sicks in einer seiner Zwiebelfischkolumnen aus dem Jahr 2005 - „Wie die Sprache am Rhein am Verlaufen ist“ 22 -, dass beide Konstruktionen umgangssprachlich, d. h. nicht standardsprachlich, seien. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Nachschlagewerke und die SprachwissenschaftlerInnen, die sich zu dieser Konstruktion geäußert haben, sich darüber einig sind, dass die Konstruktion am mit Infinitiv in der gesprochenen Sprache weitverbreitet ist und auch in bestimmten Formen (ohne Akkusativobjekt) in der Schrift vorkommt, obwohl deren Status als geschriebenes Standarddeutsch nicht ganz unangefochten ist. In NRW lehnten 72 % (36 / 50) der Lehrenden die Form am Bügeln sein ab und markierten sie als „Generell verbesserungswürdig, ich würde immer korrigieren, der Fehler beeinflusst die Note negativ“. Nicht alle Lehrenden haben ihre Antwort begründet, aber bei denjenigen, die das machten, kommt sechsmal der Kommentar „Erzählung“ vor und dreimal der Kommentar „mündlich“. 23 Nur drei Lehrende weisen darauf hin, dass die Konstruktion regional markiert sei (trotz der geläufigen Bezeichnung „rheinische Verlaufsform“). 5.1.2. Temporales wo : Es war wieder der Tag, wo das Hockeyspiel der Kinder stattfand In NRW , wie in den früheren Studien in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg (vgl. Davies 2000 und 2005), war eine klare Mehrheit (68 %) der Lehrenden der Meinung, dass der temporale Gebrauch von wo in der Schriftsprache immer falsch sei, obwohl der Duden ihn ausdrücklich akzeptiert. (In Luxemburg und der Schweiz ist der Akzeptanzgrad noch niedriger: 82 % und 82 % lehnen ihn total ab.) 5.1.3. Der Entscheid oder die Entscheidung? Der Entscheid ist mir nicht leicht gefallen Laut Ammon et al. (2004) ist der Entscheid eine schweizerische Variante, die in der Schweiz viel öfter vorkommt als die Entscheidung . 60 % der deutschen Lehrenden sind aber der Meinung, dass der Entscheid generell verbesserungs- 22 http: / / www.spiegel.de/ kultur/ zwiebelfisch/ zwiebelfisch-wie-die-sprache-am-rhein-amverlaufen-ist-a-350958.html (Stand: 05. 11. 2014). 23 Für Luxemburg sind die Zahlen 22 % und auch für die Schweiz. Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 137 würdig sei. Es gibt keine einzige Bemerkung, woraus man schließen könnte, dass der Status der Variante als schweizerisches Standarddeutsch bekannt wäre. Interessanterweise - obwohl der Entscheid oft in Listen von Helvetismen vorkommt, z. B. in Wicki (2012: 43) - wird die Variante weder im Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011) noch auf der Webseite www.duden.de als solcher etikettiert. 24 6. Fazit Im vorliegenden Beitrag sollte anhand der Analyse von Lehrplänen und einigen ausgewählten Daten aus einer Fragebogenerhebung gezeigt werden, wie relevant das Plurizentrik-Modell für Theorie und Praxis der Deutschlehrenden in einer deutschen Region ist. Weiter sollte die Rolle von Deutschlehrenden allgemein (z. B. als Sprachnormautoritäten) erörtert werden. Die Antworten der Lehrenden auf die Frage, wie sie eine Reihe von sprachlichen Varianten bewerten würden, geben uns Auskunft über ihr Normwissen und ihre Normvorstellungen, die für ihre Praxis wohl relevant sein dürften, obwohl der Zusammenhang zwischen Praxis und Einstellungen noch empirisch zu untersuchen ist. 1. Am Bügeln sein: Bei dieser Variante scheinen die ablehnenden Einstellungen der Lehrenden dazu beizutragen, dass die Akzeptabilität dieser Konstruktion in der geschriebenen Standardsprache noch umstritten ist. 25 2. Der Entscheid: Der Status von Entscheid als schweizerische Entsprechung für Entscheidung scheint den deutschen Lehrenden unbekannt zu sein, wobei sich die Frage stellt, woher sie das hätten wissen sollen, wenn die Variante in bundesdeutschen Nachschlagewerken nicht als Helvetismus markiert ist. Obwohl die Existenz von normierenden Regelwerken als typisch für eine Standardvarietät betrachtet wird, wissen wir immer noch relativ wenig darüber, welche Nachschlagewerke von Lehrenden in der Praxis benutzt werden, wenn sie Entscheidungen über richtigen und falschen bzw. standardsprachlichen und nichtstandardsprachlichen Gebrauch treffen müssen, gehen aber davon aus, dass sie eine Rolle spielen, wenn nicht unbedingt die alleinige. 26 Weiter stellt 24 Bei der schweizerischen Genusvariante das Kamin (Deutschland meist der Kamin , vgl. www.duden.de: „schweizerisch: meist das Kamin“) liegt der Akzeptanzgrad der deutschen Lehrenden ein wenig höher bei 86 % (siehe auch Wyss in diesem Band). 25 Vgl. auch http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ call/ public/ fragen.ansicht? v_kat=&v_ id=4551 (Stand: 24. 02. 2017). 26 12 % der von mir in Nordrhein-Westfalen befragten Lehrenden gaben sogar an, kein Nachschlagewerk zu Rate zu ziehen, wenn sie einen Zweifelsfall lösen mussten (einer gab z. B. an, Unterlagen aus dem Studium zu benutzen). Der Duden wurde 41 Mal erwähnt, viele Befragte gaben aber nicht an, welches Dudenwerk gemeint war. 138 Winifred V. Davies sich folgende Frage: Wenn man das plurizentrische Modell akzeptiert, soll das bedeuten, dass in jedem Zentrum alle nationalen Varianten als gleich korrekt gelten sollen? Ist das ein realistisches Ziel, vor allem in Deutschland, wo man mit Clyne (1992: 459) von einer dominanten Varietät 27 sprechen kann? Es wäre interessant zu erfahren, was in Deutschland passierte, wenn eine zugezogene Schülerin die Korrekturpraxis einer Lehrkraft anfechten würde, die die Variante Entscheid als falsch angestrichen hätte. 3. Temporales wo ist für diese Lehrenden genauso eindeutig inakzeptabel wie für die Lehrenden in den früheren Studien. Der temporale Gebrauch wird als inkorrekt angesehen, zumindest in der Schriftsprache. Ihre Normvorstellungen divergieren vom Inhalt des Kodex. 28 Was das Plurizentrik-Modell angeht: Es wurde festgestellt, dass das Modell in den Lehrplänen in allen drei von uns untersuchten Ländern (Deutschland, Luxemburg und der deutschsprachigen Schweiz) keine Beachtung findet. Also wird es trotz seiner Dominanz im sprachwissenschaftlichen Diskurs in der Bildungspolitik mehr oder weniger ignoriert und die Lehrenden bekommen wenig Unterstützung bei der Identifizierung und dem Lehren von (nationalen) Varietäten des Deutschen. Der Muttersprachunterricht könnte eventuell vom DaF-Unterricht lernen, der - zumindest prinzipiell - eher bereit zu sein scheint, die Implikationen des Plurizentrik-Modells für die Praxis zu akzeptieren. Auf der internationalen Deutschlehrertagung 1986 in Bern wurde beschlossen, dass Lehrbücher die Plurizentrik der deutschen Sprache berücksichtigen sollten, „um der sprachlichen Wirklichkeit gerecht zu werden, allerdings mit unterschiedlichen Prioritäten je nach sprachlicher Ebene“. In der Praxis bedeutet dies nicht, dass jede / r Lernende mit jeder nationalen Variante vertraut sein bzw. sie aktiv beherrschen müsse (Clalüna et al. 2007: 45), demonstriert aber eine Bereitschaft, mit der Variation bewusster umzugehen. 7. Literatur Allensbach (1998): Bayerisch hören viele gern. In: Allensbacher Berichte 22, 1-5. Allensbach (2008): Auch außerhalb von Bayern wird Bayerisch gern gehört. Die beliebtesten und unbeliebtesten Dialekte. 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Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik 9, 35-55. Anhang Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich. In diesem Projekt, das von den Universitäten X, Y und Z getragen wird, führen wir eine vergleichende Studie zum gymnasialen Deutschunterricht in drei deutschsprachigen Ländern durch. Da Sie an einem Gymnasium in NRW Deutsch unterrichten, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diesen Fragebogen ausfüllen. Bitte beantworten Sie alle Fragen, auch wenn Sie meinen, einige sind irrelevant für Ihre Situation. a. Alter: unter 30 ( ); 30-39 ( ); 40-49 ( ); 50-65 ( ) b. weiblich ( ); männlich ( ) c. Name des Orts, wo Sie unterrichten: ................................................................……. d. An welcher Universität haben Sie Germanistik studiert? ….............................…. e. Haben Sie das Studium abgeschlossen? Erstes Staatsexamen: ja ( ), nein ( ); Zweites Staatsexamen: ja ( ); nein ( ) f. Wie würden Sie die Sprachen und / oder Dialekte bezeichnen, die Sie sprechen? g. Bitte geben Sie alle an ...........................................................................................……. Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 143 h. Welche Sprache oder welchen Dialekt würden Sie als Ihre Erstbzw. Muttersprache bezeichnen? .............................................................................................……. i. Hat die aktuelle heterogene und mehrsprachige Situation in den Schulklassen zu einer Veränderung des Deutschunterrichts geführt? j. ( ) Nein; ( ) Ja (Begründung) ….................................................................................…. k. Wenn Sie einen grammatischen Zweifelsfall vorliegen haben, wie gehen Sie damit um? 1. Ich schlage in einem Nachschlagewerk nach ( ); Wenn (1), welche Nachschlagewerke benutzen Sie (bitte geben Sie die Ausgabe bzw. das Jahr an)? …......................................................................…. 2. Ich frage jemanden ( ); Wenn (2), wen fragen Sie? ….........................................................................…. 3. Ich mache etwas anderes ( ); Wenn (3), was tun Sie? …..............................................................................…. j. An welchen grammatischen Zweifelsfall haben Sie gedacht? ....................……. k. Welche Grammatiken würden Sie Ihren Schülern und Schülerinnen empfehlen? Bitte schreiben Sie alle auf: ……. l. Meinen Sie, dass es Auffälligkeiten und typische Schwierigkeiten gibt für den Deutschunterricht an dem Ort, wo Sie unterrichten? Nein ( ); Ja ( ). Wenn JA , könnten Sie ein paar Beispiele nennen? ……. m. Konstruktionen Stellen Sie sich bitte vor, die folgenden Sätze würden in verschiedenen schriftlichen Texten von Schülern und Schülerinnen vorkommen. Lesen Sie sie und korrigieren Sie sie, wenn Sie das für nötig halten, indem Sie die Fehler unterstreichen und verbessern. Geben Sie bitte an, ob Sie die Fehler generell oder nur in bestimmten Textsorten verbesserungswürdig finden. Geben Sie bitte den Grad der Korrektheit der Konstruktion mit der folgenden Skala an: 1 = generell verbesserungswürdig; Sie würden immer korrigieren; der Fehler beeinflusst die Note negativ. 2 = völlig akzeptabel, egal in welcher Textsorte. 3 = die Konstruktion ist akzeptabel in bestimmten geschriebenen Textsorten, könnte aber die Note negativ beeinflussen, wenn sie unangemessen verwendet würde. 144 Winifred V. Davies Wenn Sie sich für 3 entscheiden, geben Sie bitte ein paar Beispiele für Textsorten an, in denen die Konstruktion akzeptabel wäre, z. B. Aufsatz, Erzählung, Diktat, Grammatikprüfung 1. Heute Nachmittag bin ich auf dem Bett gelegen. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 2. Sie war am Bügeln, als ich das Zimmer betrat. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 3. Der Entscheid ist mir nicht leicht gefallen. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 4. Wenn ich das Buch nicht bräuchte, gäbe ich es dir. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 5. In 1996 besuchte ich Deutschland zum ersten Mal. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 6. Wegen dem Ärger rauchte er eine Zigarette. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 7. Ich rufe den Polizist. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 8. Sie nimmt sich den Gästen an. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 9. Es lohnt einfach nicht, für zwei Tage in die USA zu fahren. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 10. Der Mann, der wo mir half, liegt im Krankenhaus. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 11. Die Bögen wurden endlich restauriert. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 12. Das Auto, wo ich gekauft habe, ist blau. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 13. Ich ging in die Stadt, weil ich wollte einkaufen. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 14. Der Mann, welcher mich für die Stelle empfahl, ist inzwischen in eine andere Stadt gezogen. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. Gymnasiallehrkräfte als SprachnormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten 145 15. Das Kamin verbreitet eine angenehme Wärme. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 16. Es sind richtige Monsters, die bei einem Unfall alle plattwalzen. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 17. Sie tut viel schwimmen, anstatt zu lernen. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 18. Es war wieder der Tag, wo das Hockeyspiel der Kinder stattfand. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 19. Wir rufen meiner Schwester an. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 20. Die Regierung belohnte den Autoren. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 21. Ich brachte die Kinder bei die Tante. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 22. Nachdem sie kein Geld hat, kann sie nicht ins Kino gehen. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 23. Trotz dem schönen Wetter ging er nicht spazieren und sah fern. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 24. Die Beobachtungen, die Klaus Müller machte, flechtete er gekonnt in seine Geschichten ein. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 25. Die Gewerkschaft hatte eine Massendemonstration geplant gehabt, aber in letzter Minute gaben die Arbeitgeber nach. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 26. Du brauchst nicht gehen, wenn du keine Lust dazu hast. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 27. Der Wahlkampfverlierer focht das Ergebnis an. 1 2 3, welche zum Beispiel: ..........................................................……. 146 Winifred V. Davies n. Möchten Sie, dass Ihre Schülerinnen und Schüler ein Deutsch lernen, das man regional nicht zuordnen kann? Ja ( ); Nein ( ) Weshalb? ……. VIELEN DANK FÜR IHRE MITARBEIT ! Wenn Sie Interesse an den Ergebnissen haben, geben Sie mir Ihre Kontaktinformationen (z. B. E-Mail-Adresse) an und teilen Sie mir bitte mit, ob ich Sie eventuell für ein Interview kontaktieren dürfte. E-Mail-Adresse: ……. ( ) Ich bin bereit, an einem Interview teilzunehmen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch Ihre Kolleginnen und Kollegen zur Mitarbeit anregen könnten. Ich schicke Ihnen gern den Fragebogen zu. Sie erreichen mich per E-Mail: XXX @ XXX Oder auf dem Postweg: Dr. AB , usw. Oder Sie können den Fragebogen hier selber herunterladen: http: / / www.xxx. xxx Sprachnormurteile im Dilemma 147 Sprachnormurteile im Dilemma. Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer an Deutschschweizer Gymnasien beurteilen Sprachkompetenzen, Sprachgebrauch und Zweifelsfälle Eva L. Wyss 1. Ein schielender Blick auf die eigene Sprache 2. Sprachgebrauch in der Deutschschweiz 3. Ergebnisse der Befragung mit Fokus auf die Deutschschweiz 4. Standard und Norm aus der Perspektive von DeutschlehrerInnen des Gymnasiums 5. Literatur 1. Ein schielender Blick auf die eigene Sprache Die Sprachkultur der Deutschschweiz verbindet sich im internationalen Feld mit den deutschen Standardsprachen (Christen 2001) sowie national mit den drei weiteren Amtssprachen. Wie auch das Französische in der Frankophonie kommt das Schweizerhochdeutsche im deutschen Sprachraum - neben den Standardsprachen Deutschlands, Österreichs, Belgiens, Luxemburgs, des Südtirols etc. - zu stehen (vgl. Ammon 1995). Da endonormative Kodizes greifbar sind, gilt die Deutschschweiz mit Deutschland und Österreich als ein Vollzentrum, während die anderen als Halbzentren bezeichnet werden. Doch auch die Ergebnisse dieser Untersuchung machen deutlich, dass die endonormativen Kodizes die Geltungskraft der lokalen Standardsprache im Deutschschweizer Raum nicht effektiv stützen: Bei der Frage, inwieweit die eigene Sprache als Standard anerkannt wird und inwiefern die in den Kodizes abgebildeten Normen auch von den SprecherInnen geteilt und bestätigt werden, klassifizieren DeutschlehrerInnen des Gymnasiums (als Gewährspersonen, GP ) einen beachtlichen Teil der in Kodizes als Standardvarianten angeführten Lexeme und Konstruktionen, 148 Eva L. Wyss die in der Regel als Helvetismen 1 bezeichnet werden, gerade nicht als standardsprachlich und distanzieren sich bisweilen aus stilistischen Gründen davon. Dies wurde für das gesprochene Schweizerhochdeutsch bereits von Scharloth (2005) in einem ausgeklügelten Testverfahren nachgewiesen. Auch Schmidlin (2011a) beobachtet bei den DeutschschweizerInnen eine signifikant schlechtere Zustimmung zu ‚eigenen‘ Varianten als bei deutschen und österreichischen GP , die sie begrifflich als Variantenloyalität fasst. Im Unterschied zu diesen Studien lassen sich hier durch die Fokussierung auf Lehrpersonen des Gymnasiums und den Miteinbezug curricularer und didaktischer Rahmenbedingungen weitere Ambivalenzen feststellen. Besonders deutlich wird die konzeptuelle Verstrickung, wenn sich die Einschätzung standardsprachlicher Konstruktionen einmal als starke Zurückweisung, dann aber wieder als eher undeutliche Ablehnung äussert. Eine solch zweigeteilte Bewertung der eigenen 2 Standardsprache kann kulturtheoretisch als schielender Blick (Wyss 2014, Weigel 1983: 105) gefasst werden, als ein Blick in abweichenden Gesichtslinien beider Augen, die man theoretisch als eine Zwischenphase beschreibt, in der das Objekt nicht fokussiert werden kann und darum doppelt gesehen wird: Diese Zwischenphase einer wohl unbewussten Praxis befähigt dazu, als obsolet erkannte althergebrachte Ordnungsmuster und noch nicht erreichte neue Strukturen gleichzeitig zu etablieren, anerkennen und realisieren. Dabei ist aus heutiger Sicht nicht festzustellen, ob es sich um das Eigene und Fremde handelt oder um das Schwächere und Stärkere, die hier interagieren und eine Unsicherheit in der Einschätzung von (standard)sprachlichen Konstruktionen hervorrufen. Damit verbindet sich ein kultur- und soziolinguistischer Fokus, der für das Projekt „Deutsch im gymna- 1 Obschon der Terminus Helvetismus im Feld der Sprachwissenschaft für die Bezeichnung von Deutschschweizer Standardvarianten definiert wird, gibt es eine Abweichung durch die Tatsache, dass in Helvetismen-Wörterbüchern (wie z. B. bei Meyer 1989, 2006) Konstruktionen aufgeführt werden, die nicht zweifelsfrei als standardsprachlich anerkannt sind (vgl. Wicki 2012, Ehrsam-Neff 2006, 165, Baigger & Sutter 2006). In Kenntnis dieser Problematik schlägt Ammon (1995: 103-109) eine komplexe Untergliederung der Standardvarianten in kodifizierte und nicht kodifizierte, nach der Geltung oder Bekanntheit (auch nach Teilregion oder Gesamtregion), nach Situationsabhängigkeit oder -unabhängigkeit, nach austauschbaren oder nicht austauschbaren bzw. zentrumsintern variablen oder invariablen, spezifischen oder unspezifischen nationalen Varianten vor. Schmidlin (2011a: 78) weist richtigerweise darauf hin, dass das Dialekt-Standard-Kontinuum und der Sprachwandel dazu führen, dass die Zuschreibung von Standardsprachlichkeit bei Helvetismen schwankt. Problematisch ist der Terminus des Helvetismus ausserdem, da er in nichtfachlichen Kreisen für die Bezeichnung von Dialektismen, d. h. nonstandardsprachlichen Konstruktionen, verwendet wird (vgl. Davies in diesem Band). 2 Die Unterscheidung zwischen eigener und fremder Sprache verwendet Böhler (1991) bei der Analyse des literarischen Selbstverständnisses Schweizer AutorInnen. Sprachnormurteile im Dilemma 149 sialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“ (siehe Davies und Wagner in diesem Band) leitend war, 3 die hier nun vorgestellt werden soll. Vor dem Hintergrund der je spezifischen Sprachgebrauchssituationen (Kapitel 2) werden in den drei Regionen vergleichend ausgewählte Parameter des Deutschunterrichts und der DeutschlehrerInnen untersucht: die selbstgewählten Bezeichnung der Sprachkompetenzen der DeutschlehrerInnen (Kapitel 3.1), die sprachdidaktischen Konzepte der DeutschlehrerInnen (Kapitel 3.2) sowie deren Umgang mit Zweifelsfällen beziehungsweise deren Einschätzung einiger in den verschiedenen Regionen je als standardsprachlich eingestufter Konstruktionen (Kapitel 3.3). Während die Kolleginnen Winifred V. Davies und Melanie M. Wagner in diesem Band die Auswertungen für Nordrhein-Westfalen ( NRW ) und Luxemburg ( LUX ) vornehmen, wird hier die Deutschschweizer Situation ( DCH ) mit dem Fokus auf die Frage von unklaren Strukturelementen, heterogenen Bewertungspraktiken und unsicherem Sprachbewusstsein dargestellt und ausgewertet. 2. Sprachgebrauch in der Deutschschweiz Deutsch ist in der viersprachigen Schweiz die Sprache der Mehrheit, 60 % der Bevölkerung sprechen Deutsch. Sie sprechen in der Regel auch die schweizerische Standardvarietät, doch meist ihre lokale Mundart. Damit kommt die Standardvarietät in einem Spannungsfeld mit den autochthon gewachsenen Mundarten zu stehen, die - wie Schmidlin (2011a: 104) beschreibt - für den Einzelnen nicht selten ein Sozialsymbol darstellen und dadurch eine andere konnotative Wertigkeit entfalten. 2.1. Komplexe Diglossie Für den Deutschschweizer Sprachgebrauch ist die Diglossie ebenso zentral wie umstritten. Es handelt sich um einen Begriff, der als gesellschaftliche Zweisprachigkeit definiert wurde, bei der nach Ferguson (1959) eine klare funktionale Differenzierung in eine standardsprachliche H-(high)- und eine dialektale L- (low)-Varietät zwischen zwei genetisch verwandten Varietäten vorliegt. Da im Schweizer Kontext die kleinräumigen Dialekte gerade nicht als low-Varietäten 3 Die Forscherinnengruppe setzt sich zusammen aus Prof. Davies (Universität Aberystwyth), Dr. Wagner (Universität Luxemburg) und Prof. Wyss (Universität Koblenz-Landau, Standort Koblenz). Das Schweizer Teilprojekt war 2010-2012 am Lehrstuhl von Prof. Häcki Buhofer (Universität Basel) angesiedelt. 150 Eva L. Wyss und die überregionale und üblicherweise sozial höherwertige Standardsprache ebenso wenig als high-Varietät verstanden wird, birgt die Zuschreibung einer Diglossie für die Deutschschweiz einen systematischen Widerspruch. Ungewöhnlich ist zudem der volle Ausbau 4 des Dialekts, der für diglossische Verhältnisse üblicherweise schwächeren (regionalen) Varietät. 5 So erstaunt es in der Deutschschweiz niemanden, wenn die Mitglieder der studentischen Arbeitsgruppe Hegels Phänomenologie in ihren angestammten Dialekten diskutieren oder wenn die HochschulrektorInnen bei geschäftlichen Treffen die Traktanden (die Tagesordnungspunkte) in Dialekt behandeln, sofern die Beteiligten Dialekt verstehen. Denn der Ausbau ist an eine Höflichkeitsnorm gebunden, die in der Schweiz spezifisch ist: Man ist grundsätzlich geneigt, möglichst lange einen Zustand der Interkomprehensivität zu wahren und handelt dabei durchaus komplexe parallel-multilinguale 6 Sprachverhältnisse aus, bevor in eine Verkehrssprache z. B. in eine Standardsprache, hier in das Schweizerhochdeutsch, gewechselt wird. 7 Diskutiert wird im Kontext der Diglossie der Terminus der Funktionalität , der bei Ferguson (1959) eine Aufspaltung bedeutet in einen informellen Code der low-Varietät , prototypisch für die Mündlichkeit, und einen formellen Code der high-Varietät , der prototypisch durch die Schriftlichkeit dargestellt wird. Eine solche Aufgliederung der Varietäten ist in der Deutschschweiz ebenso wenig möglich, weil die bei Ferguson (1959) vorgesehene funktionale Entsprechung zwischen Informalität vs. Formalität nicht durch die Aufgliederung in Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit zu Stande kommt. Auch die Ersetzung der Funktionalität durch die Medialität, die Kolde (1981) mit dem Konzept der medialen Diglossie 8 4 Der volle Ausbau gilt für sämtliche Domänen, Themen und Situationen, in denen der Dialekt unmarkiert verwendbar ist oder wäre (wenn alle Beteiligten Dialekt verstehen würden). Der volle Ausbau gilt aber nicht für die Schrift, die in dialektologischen Diskursen und Fachbegriffen aus durchaus nachvollziehbaren Gründen ausgeschlossen wird. 5 Bemerkenswert ist dabei die Abwertung, die auch das Schweizerdeutsche, die Deutschschweizer Umgangssprache, betrifft, denn bei DeutschschweizerInnen gilt der Dialekt - wie Cuonz (2010) zeigt - anscheinend als hässliche Sprache. 6 Doyé (2005: 7) definiert Intercomprehension als eine „form of communication in which each person uses his or her own language and understands that of the other“. Dies gilt in sprachübergreifenden (institutionellen) Arbeitsgruppen. 7 Die Norm der Durchsetzung interkomprehensiver Kommunikationssituationen stellt eine Erweiterung sprachlicher Höflichkeitspraktiken dar, die den Anderen als Anderssprachigen nicht dazu drängen möchte, seine angestammte Sprache zu wechseln, obschon es üblicherweise ein Gebot der Anpassung an die Gesprächssprache des Gegenübers gibt. Diese Norm ist daher in der Deutschschweiz durch die Norm der Interkomprehensivität ausser Kraft gesetzt. 8 Kolde (1981) prägt den Begriff der medialen Diglossie . Fasold (1984) nennt die mediale Diglossie „leaking“, Ramseier (1988) überlappend , die nun nach Steiner (2008: 178) mehr Sprachnormurteile im Dilemma 151 vorschlägt, kann nicht stringent durchgeführt werden, da weder das Medium der Schrift die Standardsprache, noch das Medium der gesprochenen Sprache ausnahmslos den Dialekt nach sich ziehen. Da die Verwandtschaft der beiden Varietäten zentral ist, wird aber auch der Begriff der Zweisprachigkeit vermieden, auch wenn dies bisweilen - wenn es um die Unterscheidung von sprachlichen Praktiken geht - sicher sinnvoll wäre, wie dies Berthele (2004: 131) vorschlägt. Zu weiteren Komplikationen für die Modellierung führt die pluridialektale Situation der Deutschschweiz, die als Nebeneinander eines Fächers hoch- und höchstalemannischer Dialekte beschrieben werden kann, die meist im Sammelbegriff des Schweizerdeutschen zusammengefasst werden. Auch für die Standardvarietät ist eine Differenzierung angebracht, da in der Mündlichkeit die Deutschschweizer Standardsprache bei zu starker lokaler oder dialektaler Prägung bisweilen auch als rustikales Hochdeutsch oder als Deutsch mit Lokalkolorit 9 von bundesdeutschem Standard unterschieden wird. Die bundesdeutsche gesprochene Standardsprache wird hingegen bisweilen auch abwertend als Fernsehdeutsch 10 bezeichnet. Es handelt sich dabei um diejenige Varietät, die im Spracherwerb von Kindern oft bereits vor Schulbeginn im Medienkontakt erworben wird, die aber bei Schulbeginn durch das Schweizerhochdeutsche 11 als in der Schule durchgesetzte Standard- und Bildungssprache ersetzt wird und mehr in eine funktionale Diglossie übergehen soll. Christen (2001) weist zudem auf die noch weitgehend unerforschte Rezeptionsseite der Sprachverwendung hin. 9 Siebenhaar (1994) führt an, dass kontaktsprachliche Transfererscheinungen bei der Aussprache dazu führen, dass der Standard mit Akzent gesprochen wird. Bei der Lexik wird für die Helvetismen eine Prozentzahl zwischen 7 % und 10 % Types angegeben. Die Tokenzahl kommt jedoch weitaus höher zu liegen, so dass das Hochdeutsche im Gebrauchskontext durch Konstruktionsvarianten stark regional gefärbt ist. Sonderegger (2003) spricht hier von Lokalkolorit . Der Chefredaktor des Tages-Anzeiger (vgl. Strehle 2012) nennt in einer Glosse des Tages-Anzeigers drei Gründe, weswegen Bundesrätin Leuthard in ihren standardsprachlichen Verlautbarungen nicht von ihrem rustikalen Hochdeutsch abkommt: (1) Sie möchte damit explizit und deutlich ihre Schweizer Mittellandidentität bekräftigen; (2) Sie protestiere höflich und undeklariert gegen eine zahlenmässig zu grosse deutsche Einwanderung und das sich ausbreitende gepflegte Hochdeutsch im öffentlichen Raum; (3) Sie bemerkt es selbst nicht und wird als Bundesrätin auch nicht darauf hingewiesen. 10 Die Bezeichnung wird hier nicht im Sinne von Glahn (2002) verwendet, der damit den Einfluss des Englischen thematisiert, sondern im Sinne der gesprochenen Standardsprache, wie sie in bundesdeutschen Fernseh- und Werbeformaten verwendet wird. 11 Dies bedeutet, dass die Vokale in <Jagd> und <Vogel> kurz realisiert werden, in <Hochzeit> hingegen lang. Chemie wird mit / x/ ausgesprochen. Das <v> in Pulver als / f/ , das <r> in Berg nicht vokalisiert. Glänzig wird als / ik/ oder / ig/ realisiert. Es gibt zudem eine Tendenz zu Erstsilbenbetonung und grundsätzlich eine eher buchstabengetreue Aussprache (vgl. Hove 2002). 152 Eva L. Wyss (Burger & Häcki Buhofer 1998). Dieser Wechsel drückt eine Wertschätzung aus, bedeutet aber gleichzeitig eine enge Verbindung zur Schule, die die Wahrnehmung der sprachlichen Formulierung hinsichtlich Kompetenz, Zensuren und Selektion befördern dürfte. Die Zuschreibung von Deutschschweizer Typik gestaltet sich in der Schriftlichkeit durch die fehlende phonetische Markierung komplizierter. Abgesehen von der Doppel-S-Schreibung sowie einer teilweise originalgetreuen Schreibung von Lehnwörtern ( Réception/ Rezeption oder Apéro/ Aperitiv) und einer Tendenz zu historischer Namenschreibung (Schwyzerörgeli, Wyrsch), ist in der Schriftlichkeit der Dialekt bisweilen nicht von Standard zu unterscheiden, da auch Dialekt durchaus standardnah verschriftet wird. 12 Umgekehrt kann diese Undeutlichkeit dazu verleiten, Standardausdrücke, die dialektal wirken, wie Caramelköpfli (Caramelpudding) , Dachkännel (Dachrinne) und plätteln (fliesen) fälschlicherweise tatsächlich als Dialekt 13 zu identifizieren. Wohingegen Wortschatz, der aus regional unverdächtiger gesamtdeutscher Morphologie gebildet und typischerweise in der Deutschschweiz verwendet wird, wie Kartonschachtel oder Leerschlag (für Leerzeichen ), eher übersehen wird. Dies gilt auch für die üblichen und unspezifisch scheinenden Konstruktionen wie innert (statt innerhalb ) oder fertig (für aufgebraucht ), die gerade nicht als Helvetismen erkannt werden. Ein weiterer Aspekt der diglossischen Komplexität zeigt sich in der öffentlichen Schriftlichkeit, beispielsweise in Texten von Printmedien, die bei Dialektschreibung eine gewisse Offenheit und einen Formenpluralismus aufweisen: So wird der dialektale Ausdruck Zibelimärit oder Zibeli-Märit beispielsweise im Fliesstext in verschiedenen Schreibungen unmarkiert 14 verwendet. Bisweilen ist er als Dialektzitat in Anführungszeichen 15 abgesetzt oder wird gar in einer 12 Von Matt (2011) zeigt an einem Beispiel eines literarischen Textes von Hebel eine Rezeptionserfahrung, die er als ablehnende Irritation beschreibt. Der Text Das Gewitter setzt in der ersten Zeile ein mit: „Der Vogel schwankt so tief und still (…)“ um in der zweiten Zeile dann fortzufahren mit: „er weiß nit, woner ane will“, womit - wie von Matt dies interpretiert - auch der erste Teil als dialektal zu verstehen ist. 13 Hohl (2013) findet in 20minuten und in der Boulevardzeitung Blick mundartliche Eigennamen wie Züri-Fäscht, Schellen-Ursli oder Songtitel Süessi Tropfä (std. Süsse Tropfen), dialektale Interjektionen in der Überschrift ohalätz (std. oha falsch, äquivalent: Sapperlot, Interjektion i. S. von missmutigem Erstaunen) sowie einen Kolumnentitel fadegrad (std. fadengerade i. S. v. ohne Umschweife). Weiter finden sich in den Texten Moderationschärtli (std. Moderationskärtchen) oder Bschiss (std. Beschiss). 14 „Am Montagmorgen [sic! ] ist in Bern der traditionelle Zibelemärit gestartet.“ Vgl. SRFonline (2012), „Fahrt nach Bern mit Besuch Zibelemäret.“ 15 Dabei gibt es grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Blättern. So werden beispielsweise bei sämtlichen Presseerzeugnissen des TA-Media-Hauses bei gesprochensprachlichen Konstruktionen keine Anführungszeichen gesetzt (Wyss 2015: 406). Sprachnormurteile im Dilemma 153 nachgestellten Klammer übersetzt ( Zwiebelmarkt ) 16 und damit als Nonstandard gekennzeichnet. Es zeigt sich in verschiedenen journalistischen Genres, dass die pragmatische Funktion eine nicht unwesentliche Rolle spielt. So ist es in Titeln üblich, den Blick erhaschende auffällige Schreibungen zu verwenden. 17 Ob aber ein Deutschlehrer oder eine Deutschlehrerin den Ausdruck Zibelemärit ohne Anführungszeichen tolerieren oder nicht doch als Fehler anstreichen würde? 18 Auch der Standardgebrauch in mündlicher Kommunikation kann in verschiedene funktionale Typen unterschieden werden: eine situationsinduzierte und eine adressateninduzierte Verwendung (Christen & Ziegler 2006). Je nach produktiver oder rezeptiver Sprachkompetenzeinschätzung der Personen werden die Aussprache, Prosodie, Lexik, Syntax und die Interaktionsformen (Wiederholungen, Code-Switchings) variiert. Bei spontaner Verwendung zeigt sich dabei eine grössere lautliche Nähe zum Dialekt. Dies verleiht der Standardsprache eine informelle stilistische Gestaltung, die „in Bezug auf ihre Realisierung (nicht aber in Bezug auf ihre Verwendung) einen vergleichbaren Stellenwert hat wie die standardnahen Umgangssprachen in den übrigen deutschen Regionen, bei denen ebenfalls die Herkunft der Sprechenden erkennbar ist“ (Christen et al. 2010). Zudem kommt es zu neuen Formen eines Mischcodes zwischen Dialekt und Standard, „der nicht mehr als funktionales Hin und Her zwischen zwei Sprachformen beschrieben werden kann […], der […] gegen die Regeln der Diglossie [verstösst]“ (Christen et al. 2010 und auch Petkova 2016). Dies verdeutlicht, dass das Sprachhandeln der DeutschschweizerInnen in zunehmendem Masse weder nach den Kriterien der Schriftlichkeit und Mündlichkeit noch als standardsprachlich oder dialektal gegliedert werden kann, wie dies auch von Hägi und Scharloth (2005: 40) mit der Forderung nach einer kategorialen Neuausrichtung betont wird. Das Konzept der Diglossie erfüllt (wie auch das Konzept der Mehrsprachigkeit ) kaum mehr die Anforderung der Beschreibungsadäquatheit, denn sie kann nur mit einem umfassenden Ausnahmenregister noch als solche begriffen werden. 16 Vgl. Bern-Tourismus online (2016). 17 Dialekt wird als Eye-Catcher im Titel, als Lokalkolorit in direkter Rede oder im Text bzw. in Anführungszeichen als Code-Switching angeführt und im Fliesstext unmarkiert - als Zitat sozusagen - erwähnt. 18 Auch Sonderegger (2003: 2863) sieht in der mundartlichen Färbung ein stilistisches Problem, das einer Rechtfertigung bedarf: „Dadurch wird es verständlich, daß sich selbst bei Keller bisweilen eine mundartliche Färbung der Erzählsprache findet, die oft zur Trägerin des schweiz. Lokalkolorits wird.“ 154 Eva L. Wyss 2.2. Standard und Dialekt im Mediensprachgebrauch Im Internet und in den Neuen Medien 19 etabliert sich eine unmarkierte öff entliche Verschriftung von Dialekten, 20 die - wie Christen (2004) vorschlägt - für die Deutschschweizer Situation als Zweischriftlichkeit beschrieben werden kann. In welchem Umfang dies geschieht, ermittelt Siebenhaar (2003) mit einer Zählung anhand der Variantenschreibungen der Perfektpartizipien von haben und sein , also ghaa + gsi, gha + gsii, gha + gsy, ghaa + gsy, gha + gsyy sowie ghaa + gsyy auf der Schweizer Domain (.ch), die im Verhältnis von 4,6: 1 (Standard- Dialekt) beziff ert werden kann. Wie Tabelle 1 zeigt, kann kaum zehn Jahre später ein markanter Anstieg der Dialektverwendung um den Faktor 56,5 verzeichnet werden (Wyss 2014: 396). Die Standardsprache bleibt allerdings mit viermal mehr Zählern am häufi gsten. Dies gilt nicht für die Medienportale, hier zeigt sich eine im Vergleich zum Standard kaum merkliche Dialektverwendung in Online-Zeitungstexten, wie dies auch in Zeitungen beobachtbar ist (Wyss 2014: 396). Tab. 1: Deutschschweizerische Dialektschreibung im Internet 2002 und 2011 im Vergleich (vgl. Wyss 2015: 396) In Zeitungen wird erwartungsgemäss in erster Linie die Standardsprache verwendet. Der Dialekt ist ausschliesslich an ausgewählten Stellen in sozialsemiotischer Funktion vertreten. Doch verwendet man nicht nur in Schweizer Zeitungen, sondern in der Presse aller deutschsprachigen Länder „regionale Besonderheiten der Standardsprache“ (Burger 2005: 362). Dies gilt nicht nur für den Boulevard, auch in anderen Redaktionen verwendet man Nonstandardschreibungen wie zum Beispiel gehn (gehen), hats (hat es), nen (einen), rein (für 19 Das Medium der SMS lässt aber beide Sprachformen zu. Die Herausbildung von Praktiken sind kaum mehr nachbild- oder nachvollziehbare Entscheidungsprozesse von (situierten) KommunikationsteilnehmerInnen. So ist im Nachhinein nicht zu entscheiden, ob der geschriebene Dialekt in der SMS oder im Chat sich als die Sprachform des SMS-Gesprächs etabliert oder in der SMS sich gesprächshafte Kommunikationen führen lassen (Aschwanden 2001, Christen 2004, Siebenhaar 2005, Wyss 2015). 20 Kilian (2011) stellt dies auch für Deutschland fest. Sprachnormurteile im Dilemma 155 herein) (vgl. Wyss 2015: 402 f.). Doch verwenden sowohl die regionalen als auch die überregionalen Zeitungen beachtliche Häufigkeiten an bundesdeutschem Nonstandard (Wyss 2015), da dieser eine Möglichkeit darstellt, stilistische Kolloquialität zu erzeugen, ohne Dialekt zu verwenden, der in den Zeitungen als Marker für Emotionalität und Volkstümlichkeit belegt ist. Im Fernsehen hingegen ist ein deutlicher Rückgang des Standards zu beobachten sowie ein Ausbau von sprachlich gemischten Sendungen. Burger (1984) beziffert das Verhältnis von Dialektzu Standardsendungen noch mit einer Verteilung von 31 zu 69 Prozenten. 21 Drei Jahrzehnte später weist Luginbühl (2010) ein Anwachsen des Dialektanteils nach, denn dialektale, standardsprachliche und gemischtsprachige Sendungen stehen mit den Werten 29: 45 : 26 Prozentanteilen. Steinegger (2013) untersucht die aktuelle Sprachwahl mit einem Fokus auf plurizentrische Kategorien und quantifiziert einmal die Varietäten nach Sendezeit und vergleicht diese zudem mit dem Varietätenvorkommen nach Sendungen. Er findet dabei die Werte (hier gerundet) 36 : 12 : 11: 41 (dialektale zu standardsprachlichen Sendungen, die dem Schweizer Standard folgen, zu Sendungen in bundesdeutschem Standard zu gemischtsprachigen Sendungen) und kann damit zeigen, dass die Dialektverwendung in TV -Sendungen noch weiter angestiegen ist. Interessant ist hier die Beobachtung, dass der Schweizer Standard (in Informationssendungen und filmischen Eigenproduktionen) fast die Hälfte der Sendungen ausmacht, während gemischte Sendungen in der Mehrzahl sind. Mit dem Instrument der Sendezeit ergeben sich allerdings andere Werte. Hier finden sich höhere Werte für Standardsprachen, die zusammengefasst über die Hälfte der Sendezeit ausmachen (51,4 %). Werden Standardsprachen in eine Schweizer und eine bundesdeutsche Varietät geteilt, findet sich der grössere Teil (28,5 %) beim bundesdeutschen Standard, während der Schweizer Standard 22,9 % ausmacht. Dialekt kommt mit 45,9 % nahezu hälftig vor. Bundesdeutscher Nonstandard liegt bei marginalen 0,5 %, weitere Sprachen finden sich zu 3,5 %. Es lässt sich zeigen, dass die Verknüpfung zwischen Medium, Situation und Wahl der Sprachform in ihrer Variabilität in erster Linie medienkulturell geprägt ist (Luginbühl 2014). 21 Burger (1984) zählt die gemischtsprachigen Sendungen je hälftig zu Dialektbzw. Standardgebrauch. 156 Eva L. Wyss 2.3. Standard und Dialekt im gymnasialen Unterricht Für den Gebrauch von Standard und Dialekt im schulischen Kontext liegt eine aktuelle Studie von Steiner (2008) vor, die im Gymnasium (vier) Mathematiklektionen als Untersuchungsgrundlage wählt. Für die Untersuchung der Verwendungsweisen von Standard und Mundart fokussiert Steiner (2008) nicht schulische Gattungen (Aufgabe stellen / lösen, Lehrervortrag, Begründen, etc.), sondern das unterrichtliche Turn-taking , bei dem LehrerInnen das Rederecht erteilen, womit sie auch SchülerInnen zum Sprechen auffordern, bisweilen auch gegen deren Willen. Während für die Volksschulen der deutschsprachigen Kantone der Gebrauch von Hochdeutsch ab der 1. Klasse vorgeschrieben wird, gibt es für die kantonalen Gymnasien keine klar geregelten Vorgaben, die die Unterrichtssprache betreffen. Die Regulierung wird den einzelnen Kantonsschulen überlassen, die diese durch einen verbindlichen Lehrplan festlegen. Somit unterscheidet sich diese von Schule zu Schule (vgl. Steiner 2008: 190). Dennoch ist die Verwendung der Standardsprache am Gymnasium zentral, so führt das überkantonale Gremium der eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz ( EDK ) solide Kenntnisse der Standardsprache in der Ausführung der allgemeinen Bildungsziele 22 auf, die zwar den einzelnen Lehrpersonen überlassen werden, aber wohl durch die Verwendung von Standardsprache als einer subsistenten Norm (Gloy 2010), einer Norm die nicht kodifiziert ist, von der man allerdings denkt, dass sie gelten würde und von der man davon ausgeht, dass sie umgesetzt wird (Steiner 2008: 200). Daher erstaunt eine über alle Erwartungen breite Präsenz von Mundart in den Unterrichtsgesprächen. In allen Unterrichtsverläufen der vier verschiedenen Schulklassen finden sich längere und insbesondere kontinuierlich in der Mundart gehaltene Äusserungsfolgen, die in jeder Lektion zwischen 22 % und 38 % der gesamten Unterrichtszeit ausmachen (Steiner 2008: 244). Die ausschliesslich in Mundart realisierten Kommunikationssituationen bezeichnet Steiner in Anlehnung an Kropf (1986) als Dialekt-Reviere (Steiner 22 „Die Jugendlichen lernen, dass Kommunikation immer in einem kulturellen Umfeld stattfindet und Gewohnheiten, Werte und ästhetische Kriterien vermittelt. Letzten Endes beruht Kommunikation auch auf kultureller Entdeckungsfreude. […] Ergänzende Kompetenzen: Kommunikation wird in erster Linie durch erweiterte Sprachkenntnisse möglich. Der Schwerpunkt des Sprachunterrichts liegt deshalb vorab beim korrekten Verstehen, später aber bei einer adäquaten, differenzierten und vor allem situations- und normengerechten Ausdrucksweise und Begrifflichkeit. Das Beherrschen all dieser Aspekte ist Teil eines vertieften Sprachstudiums. […] Die Schülerinnen und Schüler lernen verstehen, dass ihnen die Konfrontation mit anderen Sprachen und kulturellen Werten nicht nur die Tür zu fremden Kulturen öffnet, sondern sie auch ihr eigenes kulturelles Umfeld aus einem anderen Blickwinkel erkennen lässt.“ (EDK 1994: 17 f.) Sprachnormurteile im Dilemma 157 2008: 239). Die Funktion dieser Reviere bleibt jedoch im Gymnasium unterbestimmt. Doch zeigen sich interessante Wechsel von Standard und Mundart, die an Äusserungs-, Satz- und Wortgrenzen und sogar innerhalb von Wörtern vorkommen. Steiner (2008: 251) führt in ihrer Studie die rollenbezogenen Funktionen auf, die typisch für den Lehrer sind, wie zum Beispiel die Start-, die Schlusssignal-, die Zuwendungs- und die Disziplinierungsfunktion Lob / Tadel sowie gewisse Funktionen, die ausschliesslich auf Schülerseite vorkommen, wie z. B. die Intensivierungs-, Einbezugs-, Rückzugs-, Korrektur- / Widerspruchs-, Rechtfertigungs- / Entschuldigungs- und Hilfe-Funktion. Interessant ist dabei, dass LehrerInnen auch dann in die Mundart wechseln, wenn SchülerInnen ein individuelles Gespräch standardsprachlich einleiten (Steiner 2008: 247). Gerade diese unspezifischen Codemischungen weisen darauf hin, dass die schulische Sprachrealität wohl eher mit der Begrifflichkeit des Translanguaging (vgl. García 2009: 78) beschrieben werden kann, bei der die (mehrsprachigen) Lehrpersonen und SchülerInnen ihr gesamtes Repertoire verwenden, ohne die Verwendung der einen oder anderen Sprache bewusst zu markieren, wie dies beim Codeswitching üblicherweise geschieht. Die Praxis des Translanguaging entwickelt sich v. a. dann sehr gut, wenn die Lehrpersonen derselben Minderheitensprachengruppe angehören wie die SchülerInnen. Einige Sprachwechsel in die Standardsprache werden als gesprächsorganisatorische Switchings verstanden, durch die ein Einstieg und der Abschluss einer Lektion als Lerneinheit gekennzeichnet wird. Die Codeswitchings in Richtung Dialekt werden allerdings für die Verständnissicherung als Abschluss eines kleineren Lernschrittes verwendet, die jedoch zugleich eine gesprächsorganisierende Markierungsfunktion übernehmen, wie zum Beispiel den Hinweis auf etwas Wichtiges. Gleichzeitig findet sich ein Codeswitching in den Dialekt, das den Wechsel in eine metadiskursive Ebene anzeigt, eine Praxis, die in den Schulstunden bisweilen auch von SchülerInnen verwendet wird. Dabei werden immer auch schulbezogene Kommunikationsebenen (als Haupt- und Nebenkommunikationsebenen) angezeigt. So kann eine subsistente Norm, wonach im Unterricht die Standardsprache zu sprechen sei, mit nicht-kodifizierten, interaktionell gebildeten Normen in Konkurrenz stehen, welche allein im Einverständnis der SprechpartnerInnen begründet liegen (Steiner 2008: 250). Steiner (2008: 207) geht davon aus, dass die Wahl der nicht frontalen Unterrichtsform zum Switching in die Mundart führt. Dadurch entstehen vermutlich sprachdidaktische - vielleicht sogar sprachpolitische - Dilemmata, auf die Schmidlin (2011b) hinweist: Denn es ist paradox, dass gerade die für den Aufbau der Standardsprachkompetenz wichtigen informellen Gespräche und dia- 158 Eva L. Wyss logischen Gesprächssituationen im Unterricht zur Wahl von Mundart führen. Darüber hinaus könnte gerade ein differenzierter Umgang mit Codeswitching durchaus als erstrebenswert gesehen werden, weil er das Variationsbewusstsein und die sprachliche Variationskompetenz der SchülerInnen ausbildet und fördert (Schmidlin 2011b: 129). Im Gegensatz dazu stehen die Empfehlungen der Autorin selbst (2008: 264 u. 290), die auf Sieber und Sitta (1986: 171) verweist, die davon ausgehen, dass mündliche Fähigkeiten in der Standardsprache besser gedeihen würden, wenn die Anbindung der Sprachform an einzelne Fächer und Situationen durchbrochen würde. Gegen ein solches Vorgehen spricht allerdings die im Deutschschweizer Kontext interaktional gebildete Norm bzw. das Tabu von standardsprachlichen Äusserungen im schulinternen, nicht-didaktischen Gespräch (Steiner 2008: 241). Damit stehen bildungspolitische und sprachdidaktisch forcierte Leitlinien im Widerspruch zu (authentischen) interaktionalen sprachlichen Prinzipien, die als Gebrauchslogiken jedes Gesprächs wohl unhintergehbar sind (Steiner 2008: 250). Man möchte nicht in eine Form der Künstlichkeit geraten. Es fragt sich sodann, ob die Sprachverhältnisse im Alltag, in den Medien und im gymnasialen Schulunterricht in ihrer Komplexität dazu beitragen, dass sich konzeptionelle Überlagerungen zwischen Standard und Dialekt herausbilden, die zu Unklarheiten bei der Zuordnung sprachlicher Phänomene zu einer bestimmten Varietät führen. 2.4. Deutsch in den Deutschschweizer Curricula für Lang- und Kurzgymnasien 23 Diese Uneinigkeit findet sich auch in den Curricula wieder, wie Davies (in diesem Band) darstellt und auf die ich mich hier beziehe. Wenn auch durch die nationale Maturitätsreform 1995 eine Bündelung der didaktischen Konzepte angestrebt wurde, kann auf institutioneller Ebene zwischen eidgenössischen, kantonalen und schuleigenen 24 Curricula unterschieden werden. 23 Während in Langgymnasien eine 6-jährige gymnasiale Bildung angeboten wird, die an eine 6-jährige Primarbzw. Grundschulzeit anschliesst, wechseln SchülerInnen nach absolvierter Primarschule sowie einem 2bis 3-jährigen Besuch der Sekundarschule für eine 4-jährige Schulzeit (mit Profilwahl) in ein Kurzgymnasium. 24 Die Kantonsschulen sind institutionell für die Führung von gymnasialen Schultypen zuständig. Oft werden kantonsschulspezifische (beispielsweise bei Zürcher Kantonsschulen auf der Webseite publizierte) Leitlinien fomuliert, über die sich die DeutschlehrerInnen in ihrer schuleigenen Fachgruppe mehr oder weniger autonom über die Ziele ihres Deutschunterrichts verständigen. Sprachnormurteile im Dilemma 159 So formulieren auf der einen Seite manche deutschsprachige 25 Kantone - zum Beispiel Basel-Land, Solothurn, Schaffhausen, Appenzell - keine eigenen Ziele. Andere Kantone wiederum werden aktiv und fassen eigene Leitlinien ab: Während in Fribourg und St. Gallen der Erwerb der Besonderheiten der kantonalen oder schweizerischen Sprachsituation ein Ziel darstellt, sollte man in der Zentralschweiz im Gymnasium darauf vorbereitet werden, „Grundfertigkeiten: sich mit Anderssprachigen in einem gepflegten Schweizerhochdeutsch verständigen“ (Curriculum Zentralschweiz, darunter fallen Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Zug und das deutschsprachige Wallis). Es scheint, als ob man davon ausgehen würde, dass Hochdeutsch in der Schweiz einzig als Verkehrssprache Verwendung findet. Auch wird dort betont, dass der „Vorrang des Dialekts im Mündlichen bewirkt, dass die Standardsprache mehr und mehr als Fremdsprache empfunden wird“ (Curriculum Zentralschweiz). In diesem Lehrplan für das 7. bis 9. Schuljahr wird ein Unterschied der schweizerischen Standardsprache explizit genannt, der nicht dazu führen sollte, dass man Standard als Fremdsprache auffassen sollte. Auch in den Curricula findet sich terminologisch kein einheitlicher Ausdruck für das Deutsch in der Schweiz, Dialekte nennt man Schweizerdeutsch (St. Gallen) oder Mundart (St. Gallen). Im zweisprachigen Bern wird von Schweizerstandarddeutsch und Schweizerhochdeutsch gesprochen, doch sollen dabei auch Helvetismen erkannt und überwunden werden. Im Mündlichen sollte eine gemässigte Hochlautung angestrebt werden. In keiner dieser didaktischen Ausführungen geht man darauf ein, was unter der schweizerischen Ausprägung des Hochdeutschen zu verstehen sei, und weswegen diese Unterscheidung sinnvoll wäre. Der Ausdruck nationale Varietät , der im Kontext plurizentrischer Argumentationen vorkommt, findet sich ebenso wenig wie der Ausdruck Plurizentrik oder plurizentrisches Deutsch . Vielmehr scheint eine implizite Theorie der Verschiedenheit des schweizerischen Deutschen auf. Dabei geht man bisweilen auch davon aus, dass diese Variante nicht besonders gepflegt sei und den Anforderungen nicht genüge, dass man aber gleichzeitig seine Herkunft nicht verleugnen solle, so im Zentralschweizer Curriculum: „Die schweizerische Standardsprache unterscheidet sich von derjenigen anderer Regionen des deutschsprachigen Raumes“ und „Obwohl im täglichen Leben weitgehend in Mundart gesprochen wird, begegnet man ab und zu 25 Deutschsprachig sind die folgenden Kantone: Zürich, Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Zug, Solothurn, Baselstadt, Baselland, Schaffhausen, Appenzell-Ausserrhoden, Appenzell-Innerrhoden, St. Gallen, Aargau, Thurgau. Zwei- oder dreisprachig sind das Wallis (französisch und deutsch), der Kanton Bern (französisch und deutsch), Freiburg / Fribourg (französisch und deutsch) und Graubünden (rätoromanisch, italienisch und deutsch). 160 Eva L. Wyss Situationen, welche eine gepflegte Standardsprache erfordern, ohne dass dabei die deutschschweizerische Herkunft verleugnet werden müsste“ (Curriculum Zentralschweiz). Welche Konsequenzen dies für den Unterricht haben dürfte, wird nicht weiter erörtert. 3. Ergebnisse der Befragung mit Fokus auf die Deutschschweiz Das Ziel des Forschungsprojekts „Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich“ war es, sowohl die Rolle von GymnasiallehrerInnen als NormvermittlerInnen und Sprachnormautoritäten in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg zu beleuchten und zu vergleichen als auch, Informationen über die Kenntnis standardisierter und stigmatisierter Sprachformen von Sprachnormautoritäten zu sammeln. Dabei wurden verschiedene Daten erhoben, die die Einschätzung der GP zur Sprachgebrauchs- und Vermittlungssituation, deren Sprachwerte und -einstellungen zur Darstellung bringen. Das Projekt baut zudem teilweise auf frühere Studien zur Normvermittlung an deutschen Schulen und Normwissen von Lehrkräften auf. 26 Die Wahl fiel auf DeutschlehrerInnen des Gymnasiums, weil sie die professionelle Kompetenz und Pflicht mitbringen, Spracherzeugnisse zu korrigieren und zu benoten und weil durch ihre akademische Ausbildung ein hohes Normwissen erwartbar ist. Für die Untersuchung wurde die Methode der Fragebogenbefragung gewählt, da auf diese Weise eine standardisierte Auswertung möglich ist. Die Befragung wurde im Jahr 2011 zeitgleich in der Deutschschweiz, in Nordrhein-Westfalen und in Luxemburg mit einem geplanten Rücklauf von je 50 Fragebogen durchgeführt. 27 Der Fragebogen gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werden Fragen zur Sprachbiografie, zur Einschätzung der Sprachsituation vor Ort und zu den didaktischen Spezifika erfragt. Im mittleren Teil werden in allen drei Gebieten dieselben ausgewählten 27 Konstruktionen auf drei Dimensionen hin befragt: (1) die Frage der Einschätzung nach deren grammatischer Richtigkeit, (2) der Akzeptabilität sowie (3) der Akzeptabilität für einen spezifischen zu nennenden Kontext oder eine spezifische Textsorte. Im dritten Teil wird eine abschliessende 26 Zu stigmatisierten Formen legt Davies (2000) Ergebnisse zur Pfalz und zu Baden-Württemberg vor; Wagner folgt (2009) mit einer Untersuchung zur Gegend um Trier. 27 In NRW und LUX wurden die Fragebogen an verschiedene Schulen und interessierte Gate-Keeper / Verteiler verteilt, in der DCH wurde per E-Mail an sämtliche Gymnasien der Deutschschweiz eine Einladung mit Link zum online-Fragebogen verschickt. Sprachnormurteile im Dilemma 161 Frage zur Erwünschtheit von Regionalität des Deutschen gestellt. Die qualitative Auswertung erfolgte in numerischer und relativer Form. Zudem wurde für jede Konstruktion die Signifikanz durch eine statistische Analyse mit Chi-Quadrat-Test ( SPSS 12.0) gemessen. An der Befragung nahmen je 50 im Schuldienst tätige DeutschlehrerInnen aus NRW, Luxemburg und der Deutschschweiz teil (vgl. die Beiträge von Davies und Wagner in diesem Band). In der Schweiz beteiligten sich Lehrpersonen aus den Kantonen Basel (Stadt / Land), Aarau, Zürich, Zug, Thurgau, Solothurn, Bern und St. Gallen, die ihr Studium an den Universitäten Bern, Basel und Zürich absolvierten (vier GP nannten diese in Kombination mit einmal Bochum, Mannheim bzw. zweimal Tübingen). Während die Verteilung der Geschlechter in NRW und der Schweiz relativ ausgeglichen war, wurden für Luxemburg doppelt so viele Frauen wie Männer befragt. In der Altersverteilung lagen die GP in allen drei Ländern im mittleren bis höheren Bereich. Man kann daher davon ausgehen, dass es sich demnach zu grossen Teilen um DeutschlehrerInnen mit einer gewissen Berufserfahrung handelt. <30 30-39 40-49 50-59 k. A. m f Total NRW 8 16 10 15 1 25 25 50 LUX 6 15 14 13 2 16 34 50 DCH 3 17 14 16 0 22 28 50 Total 17 48 38 44 3 81 69 150 Tab. 2: Alter und Geschlecht der Gewährspersonen in NRW , LUX und DCH 3.1. Sprachkompetenz und Erstsprache Im ersten Teil des Fragebogens wurden Fragen zur allgemeinen Sprachkompetenz, zur Erstsprache und zur Vermittlungssituation im Deutschunterricht gestellt. Zur Frage zur eigenen Sprachkompetenz nannten die Deutschschweizer GP meist zwei oder mehrere Sprachen, dabei zogen sie mehr als doppelt so häufig eine lokale Dialektkategorie (35-mal) dem Sammelbegriff des Schweizerdeutschen (14-mal) vor. Insgesamt wird Dialekt bei einer Anzahl von 50 GP somit 49-mal genannt. Die Standardvarietät hingegen erscheint nur 12-mal, drei Mal verweisen die GP dabei auf die plurizentrische Situation, indem sie das Schweizerhochdeutsche als schweizerdeutsche Standardsprache oder als Standardsprache mit schweizerischer Prägung bezeichnen. 162 Eva L. Wyss Besonders erstaunt hier, dass nicht alle GP neben Dialekt auch die Standardvarietät anführen, und damit die Sprache, die sie unterrichten, nicht als eine weitere Fähigkeit dazuzählen. In NRW wurde hingegen Deutsch (14-mal) oder Hochdeutsch (11-mal) genannt, viermal nannten die GP eine regionalsprachliche Färbung des Hochdeutschen und 24-mal wird ein Dialekt oder eine regionalsprachliche Varietät genannt. Somit geht die Hälfte davon aus, Hochdeutsch ohne regionale Färbung zu sprechen, aber auch 50 %, die von einer dialektalen oder regionalen Prägung ausgehen. Im Unterschied zur Deutschschweiz mit 16 Nennungen, finden sich in NRW keine GP , die sich als mehrsprachig im traditionellen Sinn bezeichnen. Hier wird ein Vergleich mit Tabelle 4 interessant, aus der hervorgeht, dass bei den Deutschschweizern drei GP nicht Deutsch als Erstsprache nennen und einmal von Bilingualität, als simultanem bilingualen Erwerb auszugehen ist. Sprachen der GP Frage f: Wie würden Sie die Sprachen und / oder Dialekte bezeichnen, die Sie sprechen? Bitte geben Sie alle an. Sprachen GP Nennungen (Frage f) DCH NRW 1 Deutsch 5 14 2 Hochdeutsch ( DCH : „Hochdeutsch, da Mutter dt.“) 1 11 3 Deutsch / Hochdeutsch (Standarddeutsch) 3 - 4 Standardsprache 5 - 5 schweizerdeutsche Standardsprache, Standardsprache schweizerischer Prägung, schweizerisch geprägtes Standarddeutsch 3 - 6 NRW : Hochdeutsch mit leichter rheinischer Einfärbung, Hochdeutsch mit Ruhrgebietsfärbung, Hochdeutsch mit ostwestfälischem Einschlag, Hochdeutsch mit leichter Einfärbung mit Ruhrgebietsdialekt und rheinischem Einschlag; DCH : Hochdeutsch mit Berliner Akzent, Hochdeutsch mit süddeutscher Färbung 2 4 7 Schweizerdeutsch (= Schweizer Dialekt) 14 - Sprachnormurteile im Dilemma 163 8 Dialekt: Aargauerdeutsch, Aargauerisch, Schweizerdeutsch im Aargauer Dialekt, Baseldeutsch, Badisch, Bayrisch, Berndeutsch (3) Luzerner Dialekt, St. Galler Deutsch, Zürichdeutsch (14, Schreibungen: „züritüütsch“, „Züridütsch“, „Züritüütsch“, „Zürichdüütsch“, „ ZH -er Dialekt“) Mischung aus Thurgauer- und Zürcher Mundart, Schweizerresp. Zürichdeutsch, Gemisch zwischen Ostschweiz und Zürich, eher Zürich, kein sauberer Dialekt, eine Mischung aus Zürich- und Luzerndeutsch, Dialekt: Mischung Basel / Solothurn, Schweizerdeutsch (Mischung St. Gallen / Appenzell), St. Galler Deutsch (als eine Ausprägung des Alemannischen), österr. Mischmundart 35 - 9 Dialekt oder regionale Färbung: rheinischer Dialekt (3) Ruhrgebietsdeutsch (2), Niederrheinisch (2), Plattdeutsch (2), Pfälzisch (2), Ruhrpott-Dialekt, Ruhrpott-Deutsch, Ruhrpottplatt, Ruhrgebietsgefärbter Dialekt, Ruhr-Westfälisch, Sächsisch, Westfälisch, Wuppertaler Platt, Koelsch, Badisch, Moselfränkisch, Thüringerisch, etwas Berlinerisch - 24 10 Fremdsprachen (allgemein als „Fremdsprache“ bezeichnet 3), Arabisch, Dänisch, Englisch und Italienisch, Englisch (amerikanischer Akzent), Flämisch, Französisch, Finnisch, Latein (passiv), 28 Portugiesisch, Russisch, Schwedisch, Spanisch 16 - 11 Total 84 53 Tab. 3: Sprachkompetenz DCH und NRW (Frage f) Bei der Erhebung der Erstsprachen (s. Tabelle 4) nennen die DeutschschweizerInnen - wie es nicht anders zu erwarten ist - in erster Linie den Dialekt. Dabei wird der allgemeine Ausdruck Schweizerdeutsch 14-mal verwendet, etwas häufiger (19-mal) wird die Ortsmundart präzise genannt. In NRW hingegen nennen die GP 37-mal Deutsch oder Hochdeutsch als Erstsprache, während bloss 9-mal ein Dialekt oder Regiolekt bzw. eine Dialektmischung erwähnt wird. Man darf annehmen, dass die ersten davon ausgehen, Deutsch ohne regionale Färbung zu sprechen. 28 Da Latein im Gymnasium zwar als erste - allerdings passiv erworbene - Fremdsprache angeboten wird, führt eine GP den Zusatz passiv an, wodurch auf den Kompetenzunterschied zwischen Latein und anderen gesprochenen Fremdsprachen hingewiesen wird. 164 Eva L. Wyss Auch die Deutschschweizer GP nennen 5-mal Deutsch . Es wird aber als Zürichdeutsch dann als Aargauerdeutsch präzisiert und damit als dialektal disambiguiert. In der unten stehenden Tabelle 4 wird ferner auch Zweisprachigkeit erwähnt: 6-mal als eine Kombination von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch, 4-mal werden Sprachen genannt, die mit dem Deutschen keine enge Verwandtschaft aufweisen. Erstsprache (L1) der GP Frage g: Welche Sprache oder welchen Dialekt würden Sie als Ihre Erstbzw. Muttersprache bezeichnen? Erstsprache (L1) Nennungen (Frage g) DCH NRW 1 Deutsch 5 25 2 Hochdeutsch - 12 3 Kombination: Deutsch (Hochdeutsch), Deutsch / Hochdeutsch - 2 4 Kombination Schweizerdeutsch u. Hochdeutsch 6 - 5 Kombination Dialekt / Hochdeutsch: Schweizerdeutsch u. Hochdeutsch (6-mal), Hochdeutsch u. rheinischer Dialekt 6 1 6 Schweizerdeutsch (in drei Fällen: Schweizerdeutsch? Bütschwilerdeutsch? ; Schweizerdeutsch (St. Gallen / Appenzell); Schweizer Mundart) 14 - 7 Dialekt GP - DCH : (Aargauerisch, Badisch, Baseldeutsch, Berndeutsch (3-mal), Zürichdeutsch diesmal in derselben Schreibung (14-mal), St. Galler Deutsch) 19 - 8 Dialekt GP - NRW : Ruhrpott-Dialekt, Pfälzisch 2 9 Regionale Färbung: Norddeutsch, Deutsch mit westfälischer Färbung, Deutsch / Niederrheinisch, Hochdeutsch mit Ruhrgebietsfärbung, Deutsch (ruhrgebietsgefärbt), Ruhrgebietsdeutsch - 6 10 Finnisch, Französisch (2-mal) 3 - 11 Zweisprachigkeit (italienisch, deutsch) 1 - 12 Keine Angabe 1 13 Total 54 49 Tab. 4: Erstsprache der GP ( DCH und NRW , Frage g) Sprachnormurteile im Dilemma 165 3.2. Didaktische Vermittlungsform aus der Sicht der Lehrpersonen In den Fragebogen der Deutschschweiz und von Luxemburg wurde mit der Meinung der LehrerInnen über die Vermittlungsform des Deutschen ein weiterer Aspekt beleuchtet. Es interessierte hier, mit welchem Konzept - ob DaM (Deutsch als Muttersprache), DaZ (Deutsch als Zweitsprache) oder DaF (Deutsch als Fremdsprache) - gearbeitet wird. Wie bereits in Davies, Wagner & Wyss (2014) und Wyss, Davies & Wagner (2017) dargestellt wird, geht in der Deutschschweiz eine grosse Mehrheit (82 %) der GP davon aus, dass Deutsch im Gymnasium als Erstsprache vermittelt wird. Diese Aussage deckt sich teilweise mit der bildungspolitischen Forderung, Deutsch in der Deutschschweiz nicht als Fremdsprache zu unterrichten (Steiner 2008: 197). Dennoch findet sich eine beachtliche Minderheit von fast 20 % (9 = 18 %), die die deutsche Sprache als Zweitsprache oder als etwas Anderes unterrichtet sehen möchte. 29 Didaktische Vermittlungsform für den Deutschunterricht (DaM, DaZ, DaF) Frage h: Wie wird Deutsch Ihrer Meinung nach an deutschschweizer Gymnasien unterrichtet? ( ) als Fremdsprache; ( ) als Erstsprache; (2) ( ) als Zweitsprache; ( ) anders: wie …? Erstsprache (L1) Zweitsprache (L2) Fremdsprache Anderes Total DCH 41 5 0 4 50 LUX 17 11 11 11 50 Total 58 16 11 15 Tab. 5: Anzahlen L1, L2, FL oder etwas Anderes für DCH und LUX (Frage h) Besonders interessant sind dabei die ergänzenden Bemerkungen. Zum Item Erstsprache wird hervorgehoben, dass der Spracherwerb bei den GymnasiastInnen abgeschlossen sei, demnach keine Sprachvermittlung vorgesehen sei; im Deutschunterricht stehe der Umgang mit Literatur im Zentrum. Auch finden sich Bezüge zu Lehrplänen oder Lehrmitteln, in denen Deutsch als Erstsprache vorgesehen sei. 29 Zuweilen wird von einigen Autoren ohne hinreichenden empirischen Befund behauptet, die Mehrheit der Deutschschweizer empfinde Standarddeutsch als eine Fremdsprache (Koller 1999, Koller & Hänger 1992: 41-51; Sieber & Sitta 1986: 33; Sieber 2001: 498 f. und zuletzt Berthele 2004: 127) vgl. Scharloth (2005: 5). 166 Eva L. Wyss Bei den Bemerkungen zu den Items Zweitsprache bzw. etwas Anderes wird in Formulierungen hingegen gerade versucht, die Ungewöhnlichkeit der Vermittlungssituation zum Ausdruck zu bringen: „Wir tun so, als ob Hochdeutsch die Muttersprache der SchülerInnen wäre, obschon die Schüler sich nicht als Muttersprachler fühlen“, ich unterrichte Deutsch als „eine von zwei Erstsprachen“, als „Erst- und Zweitsprache“, als „fast-Erstsprache“, als „ungeliebte Erstsprache“ oder auch als „Bankert“. Dabei wird deutlich, dass auch für die DeutschlehrerInnen der Ausdruck der Diglossie keine befriedigende Darstellung der Deutschschweizer Situation leistet. Aber die Modellierung als Zweisprachigkeit 30 wird als nicht passend verworfen. 3.3. Umgang mit Zweifelsfällen und Stellenwert der Kodizes 31 Auf die Frage, welche Kodizes bei Zweifelsfällen genutzt werden, kommen die Dudenbände an erster Stelle zu stehen. Vielfach erscheint hier der Firmenname ohne weitere Angabe (12-mal), häufiger noch wird aber die Duden Grammatik (Band 4) oder die Duden Rechtschreibung (je 15-mal) jedoch ohne Angabe des Erscheinungsjahres genannt. An prominenter Stelle steht auch ein endozentrischer Kodex: Heuer. Richtiges Deutsch des NZZ -Verlags wird ohne genauere Bezeichnung 11-mal erwähnt. Erst nach diesem rangiert der Zweifelsfälle-Duden (Band 9 der Duden Reihe), der ebenfalls ohne Präzisierung der Ausgabe 6-mal genannt wird. In Einzelnennungen tauchen jeweils ohne ausdrückliche Nennung der Ausgabe zudem das Duden Universalwörterbuch (3-mal), Das Grosse Duden Wörterbuch in 10 Bänden 30 Werlen (1998) und Berthele (2004) favorisieren für die Charakterisierung der Deutschschweizer Sprachsituation das Zweisprachigkeitskonzept . Werlen (1998) gibt zu bedenken, dass beide Varietäten zwar Unterschiede hinsichtlich Produktion und Rezeption, Literalität und Oralität, massenmedialer und persönlicher Gebrauchssituation, sowie ihrer Verwendung in In- und Outgroup-Kommunikation aufweisen, doch seien beide Varietäten voll ausgebaut (Kloss 1976: 311). Deshalb beschreibe asymmetrische Zweisprachigkeit die Situation adäquater. Berthele (2004) weist hingegen auf das psycholinguistische Argument hin, dass die Mehrheit der Deutschschweizer Hochdeutsch als Fremdsprache empfinde. Aus dieser Sprachbewusstseinslage und dem soziolinguistischen Befund, dass die Diglossie die Sprachsituation nur unzulänglich beschreiben würde, sei es sinnvoller und produktiver, die Deutschschweiz als bilingual zu konzeptualisieren. 31 Frage i): Wenn Sie einen grammatischen Zweifelsfall vorliegen haben, wie gehen Sie damit um? 1. Ich schlage in einem Nachschlagewerk nach ( ); Wenn (1), welche Nachschlagewerke benutzen Sie (bitte geben Sie die Ausgabe bzw. das Jahr an)? …….2. Ich frage jemanden ( ); Wenn (2), wen fragen Sie? ……. 3. Ich mache etwas anderes ( ); Wenn (3), was tun Sie? …… Frage j): An welchen grammatischen Zweifelsfall haben Sie gedacht? …. Sprachnormurteile im Dilemma 167 (2-mal), der Schülerduden 32 (2-mal), der Schülerduden Grammatik 33 (3-mal), Wahrig (2-mal), Hentschel (1-mal), das Variantenwörterbuch (1-mal), eine Schulgrammatik (1-mal), eine historische Grammatik (1-mal), allgemeine Fachbücher (1-mal), kleine oder grosse Grammatik (1-mal) auf. Bei der Beantwortung dieser Frage wird einige Male auf das Internet oder Google (2-mal) verwiesen, auf konkretere Webseiten, z. B. jene der Uni Leipzig, womit wohl das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gemeint ist. Dabei werden einige Links explizit aufgeführt: http: / / de.wiktionary.org/ , http: / / www. dwds.de/ und korrekturen.de. Ferner werden Kolleginnen und Kollegen des schulischen Fachgremiums genannt oder weitere Personen, die sich durch Expertise auszeichnen „mein Mann, der aus Deutschland kommt und Lateinlehrer ist“, der „Grammatikguru der Schule“, „Fachpersonen oder Kollegen an Unis“. 34 Sprachliche Expertise wird damit als eine Dimension von Herkunft, als Grammatikexpertise oder als professioneller Handlungsbereich dargestellt. Nach einer Konkretisierung der Zweifelsfälle gefragt, antworteten die GP zumeist, sie hätten an keinen bestimmten (13-mal) gedacht. Explizit genannt wurden folgende Fälle: Helvetismen und Kasus nach Präpositionen / Genitiv oder Dativ (je 6-mal); starke / schwache Verbform, Konjunktivverwendung, Deklination und Genus (je 3-mal), Zeitfolge, Wortarten, Pluralformen, Konjunktivbildung und Adjektivflexion (je 2-mal) sowie die Satzgliedbestimmung, grammatikalische Bezüge, Kongruenz und Partizipbildung mit je einem Mal. Obschon bei der Frage nach der Art der didaktischen Vermittlung von den GP s verschiedentlich erläutert wurde, dass die SchülerInnen die Sprache beherrschen würden, werden einige Punkte genannt, die deutlich machen, dass Deutsch offensichtlich auch als Sprache unterrichtet wird: dabei steht die Orthografie mit insgesamt 15 Nennungen an erster Stelle (5-mal generell, zudem spezifisch als Getrennt- / Zusammenschreibung (5-mal), Gross- / Kleinschreibung (4-mal) und Kommasetzung (1-mal) spezifiziert). Über orthografische Schwierigkeiten hinweg werden gewisse stufenbedingte Themen wenn nicht als Zweifelsfälle , so doch als häufige Fehler besprochen (Bredel 2006; Klein 2003). In einem weiteren Punkt wurde nach den Kodizes gefragt, die man SchülerInnen empfehlen könnte. Dabei ergab sich ein deutliches, aber jeweils ohne weitere Angaben formuliertes Votum für die Schülerduden Grammatik (32-mal), 32 Bei der Nennung Schülerduden ist nicht klar, auf welche Version (Schülerduden oder Schweizer Schülerduden), welchen Typus des Schülerdudens (Rechtschreibung, Grammatik oder Rechtschreibung und Grammatik) oder auf welche Ausgabe verwiesen wird. 33 Auch die Bezeichnung Schülerduden Grammatik ist nicht exakt, da hier weder die Version und noch die Ausgabe bezeichnet werden. 34 Die Antwort (3) etwas anderes wurde nicht angekreuzt. 168 Eva L. Wyss die vor der Duden Grammatik (17-mal) und vor den beiden mit je 16 Nennungen erwähnten endonormativen Werken, einmal der Grammatik von Sitta / Gallmann des Lehrmittelverlags Zürich und der oben bereits genannten (je 16-mal) zu stehen kommen. Auf diese folgen Orthogramm von Kolb & Wyss (8-mal), Kletts Übungsgrammatik (7-mal), die Glinz-Grammatik (3-mal), Welt der Wörter (2mal) und mit mehreren Einzelnennungen Wahrig, (Rutz: ) Deutsch, eine Sprachschulung , Villiger: Gutes Deutsch , Hofer & Nef: Verstehen - Reden - Schreiben , Konzett & Merki: Fokus Sprache , Bertelsmann: Grammatik der deutschen Sprache sowie andere (2-mal). 35 Die Hintergrundinformationen über die Sprachkompetenzen der GP , deren Einschätzung der Vermittlungssituation und die Angaben zur Nutzung der Kodizes bei Zweifelsfällen klärt die Lage. Es zeigt sich eine Perspektive auf Sprache, die auf unvollständigen oder undeutlichen akademischen Kategorien basiert und die eigenen Sprachkompetenzen eher unterals überschätzt, da vielleicht zu stark von einem monozentrischen Sprachkonzept ausgegangen wird. Dabei etablieren sich Widersprüche auf verschiedenen Ebenen. Einmal entsteht ein heterogenes Vermittlungskonzept, das durch die Beschreibung der Deutschschweizer Situation als einer diglossischen Situation keine weiterführenden, vertiefenden und erklärenden Konstrukte zur Verfügung stellt, die der Entwicklung von professioneller Handlungskompetenz für den gymnasialen Deutschunterricht förderlich wären. Hier sieht es so aus, als ob die DeutschlehrerInnen von der Germanistik oder der Deutschdidaktik unzureichend unterstützt werden. Ein weiterer Widerspruch liegt in der - über lange Jahre tradierten - Wahrnehmung des gymnasialen Deutschunterrichts als Literaturunterricht, in dem kein Sprachunterricht erfolgt, da davon ausgegangen wird, die SchülerInnen würden mit einer ausgebildeten Sprachkompetenz ins Gymnasium aufgenommen. Hier wird klar, dass ein differenzierter Sprachunterricht auf der Basis von erklärungsadäquaten Kriterien wichtig ist. 3.4. Bewertungen von DeutschlehrerInnen des Gymnasiums im Dilemma (zwischen Anpassung und Eigenständigkeit) In einem weiteren Teil des Fragebogens wurden vergleichbare Informationen über die Einschätzung von 27 sprachlichen Konstruktionsformen gesammelt, die den GP in NRW , LUX und DCH in Beispielsätzen vorgelegt wurden (s. An- 35 Diese Standardwerke und weitere, die in den Fragebögen ohne genaue Angaben genannt wurden, werden im Literaturverzeichnis in den Erstausgaben und in ihren Kurzbezeichnungen aufgeführt. Sprachnormurteile im Dilemma 169 hang). Die GP sollten diese Konstruktionen sowohl auf grammatikalische Richtigkeit als auch auf deren Akzeptabilität in spezifischen Kontexten oder Textsorten beurteilen, indem sie eine Einschätzung der Grammatizität sowie eine Korrekturabsicht angaben. Dabei wurde in drei Dimensionen unterschieden, ob eine Konstruktion (1) stets korrigiert werden muss; (2) stets uneingeschränkt akzeptierbar ist; (3) teilweise akzeptierbar (d. h. für gewisse Konstellationen oder Textsorten), die Note aber negativ beeinflussen könnte. Frage m: Stellen Sie sich bitte vor, die folgenden Sätze würden in verschiedenen schriftlichen Texten von Schülern und Schülerinnen vorkommen. Lesen Sie sie und korrigieren Sie sie, wenn Sie das für nötig halten, indem Sie die Fehler unterstreichen und verbessern. Geben Sie bitte an, ob Sie die Fehler generell oder nur in bestimmten Textsorten verbesserungswürdig finden. Geben Sie bitte den Grad der Korrektheit der Konstruktion mit der folgenden Skala an: 1 = generell verbesserungswürdig; Sie würden immer korrigieren; der Fehler beeinflusst die Note negativ. 2 = völlig akzeptabel, egal in welcher Textsorte. 3 = die Konstruktion ist akzeptabel in bestimmten geschriebenen Textsorten, könnte aber die Note negativ beeinflussen, wenn sie unangemessen verwendet würde. Wenn Sie sich für 3 entscheiden, geben Sie bitte ein paar Beispiele für Textsorten an, in denen die Konstruktion akzeptabel wäre, z. B. Aufsatz, Erzählung, Diktat, Grammatikprüfung Bei den getesteten Beispielen ( bin gelegen; am Bügeln; in 1996; den Polizist; den Autoren; es lohnt nicht; der Tag, wo; das Auto, wo; der Mann, der wo; weil + V2; anrufen + DAT ; nachdem CAUS ; flechtete; brauchen + INF ohne ZU ; es lohnt nicht X; produktive Nutzung des s-Plural; vgl. Anhang) handelt es sich um standardnahe und standardisierte Konstruktionen, die in der Literatur unter dem Aspekt (1) des Übergangs von Nonstandard zu Standard beschrieben werden (Elspaß 2015), eine grammatisch unklare Position hinsichtlich der Zuordnung zu Schriftlichkeit oder Mündlichkeit einnehmen (Günthner 2011) oder die hinsichtlich der diatopischen Ausdehnung in der Forschungsliteratur als über- oder grossregional (Ágel & Hennig 2010) diskutiert werden. Getestet wurden zudem (2) grammatikhistorisch als stigmatisierte Konstruktionen bekannte Fälle (wie wegen + DAT ; trotz + DAT ; kausales nachdem; temporales wo; tun + INF ; doppelte Perfektform; am-Progressiv; vgl. Davies & Langer 2006) sowie (5) Varianten der plurizentrischen Standardvarietäten wie z. B. Helvetismen ( der Entscheid; das Kamin; bräuchte; sich den Gästen annehmen; Bögen; der Mann, welcher; focht (vgl. Meyer 2006, Bickel & Landolt 2012) sowie ein Luxemburgismus (bei die Tante bringen). 170 Eva L. Wyss Die Auswertung der Fragebogen aus drei deutschsprachigen Regionen zeigt keine einheitliche Bewertung der Konstruktionen: Die GP orientieren sich in ihrer Korrekturpraxis nicht an einer homogenen überregionalen Norm, dennoch war bei einigen Konstruktionen eine relativ grosse Einigkeit zu beobachten: So wurden die Konstruktionen den Polizist, das Auto, wo, der Mann, der wo und weil + V2 mit Werten zwischen 86 und 100 % über die plurizentrischen Räume hinweg von NRW , LUX und CH als nichtgrammatisch und damit stets zu korrigieren angesehen. Umgekehrt gab es erstaunlicherweise keine durchgängige Bewertung bei regionalspezifischen Konstruktionen. So wurden Helvetismen , die in den einschlägigen Kodizes als standardsprachlich definiert sind, durch Deutschschweizer GP als nicht korrekt angesehen (vgl. auch Davies in diesem Band). Über die gesamten Konstruktionen hinweg weisen NRW und LUX bei einigen Konstruktionen Gemeinsamkeiten auf, aber DCH weicht ab. Umgekehrt gibt es aber keine Konstruktion, bei welcher DCH und NRW zusammengehen und LUX abweicht. Zudem lassen sich aus der Perspektive von DCH drei Muster erkennen, die eine weitergehende Interpretation erlauben: Im Vergleich mit NRW und LUX zeigt sich (1.) eine stärkere Ablehnung der in der eigenen Region üblichen Konstruktionen, (2.) eine schwächere Ablehnung von regional üblichen Konstruktionen sowie (3.) eine stärkere Ablehnung von regional unüblichen Konstruktionen. 3.4.1. Stärkere Ablehnung von regional üblichen Standardkonstruktionen Frage m: Stellen Sie sich bitte vor, die folgenden Sätze würden in verschiedenen schriftlichen Texten von Schülern und Schülerinnen vorkommen. Lesen Sie sie und korrigieren Sie sie, wenn Sie das für nötig halten, indem Sie die Fehler unterstreichen und verbessern. (s. oben Kap. 3.4.) Stets korrigiert (1) Uneingeschränkt akzeptierbar (2) Teilweise akzeptierbar (3) NRW LUX DCH NRW LUX DCH NRW LUX DCH welcher 10 % 38 % 46 % 62 % 34 % 28 % 24 % 22 % 20 % Bögen 14 % 14 % 24 % 70 % 70 % 60 % 10 % 6 % 14 % Tab. 6: Konstruktionen „der Mann, welcher“ und „Bögen“ im Vergleich (Frage m) Bei zwei getesteten Konstruktionen, „der Mann, welcher“ und dem Umlaut beim Plural von Bogen „Bögen“, findet sich überraschenderweise in DCH eine stärkere Ablehnung als in NRW und LUX . Sprachnormurteile im Dilemma 171 Die Verwendung des Interrogativpronomens als Relativpronomen im Beispielsatz „Der Mann, welcher mich für die Stelle empfahl, ist inzwischen in eine andere Stadt gezogen.“ wird in der Deutschschweiz häufiger verwendet (Rimensberger 2013: 107). 36 Es handelt sich hierbei jedoch um eine bekannte und umstrittene Konstruktion, die laut Zweifelsfälle-Duden „häufig schwerfällig“ wirke, und nur dann verwendet werden sollte, „wenn der, die, das vermieden werden soll“ (Berger & Drosdowski 2007: 1000). Doch ist die Substitution laut Kodex nicht einmal zwingend, denn selbst wenn - bei häufigem Auftreten von Relativpronomen - eine Variation erwünscht wäre oder wenn vermieden werden soll, dass das Relativpronomen mit demselben Artikel zusammentrifft, würden dennoch die Relativpronomina „häufig […]… vorgezogen“ (Berger & Drosdowski 2007: 1000 und 765). Somit steht die in der Deutschschweiz favorisierte Konstruktion als stilistische Strategie zur Vermeidung von Wortwiederholungen in Gegensatz zur Behauptung des Zweifelsfälle-Duden und auch zu den Bewertungen der SprachnormvermittlerInnen, die mit dem Zweifelsfall-Duden gehen. Denn im Vergleich mit NRW lehnen die GP in DCH diese Konstruktion nicht nur stärker ab (46 %: 10 %), sondern sie erteilen ihr auch eine schwächere Zustimmung (28 %: 62 %). Die Verwendung des Umlauts bei Bogen im Beispiel „Die Bögen wurden endlich restauriert.“, wird in der Duden Rechtschreibung (2009: 286) wie auch in der Duden Grammatik (2009: Abs. 282, 345) als „schwankender Plural“ und regionale Variante „besonders süddeutsch, österreichisch und schweizerisch“ dargestellt. 37 Bickel & Landolt (2012: 91) bezeichnen die Pluralbildung mit Umlaut sogar als typisch für die schweizerischen Abweichungen der Standardsprache, als grammatische Helvetismen , von denen „manche Substantive […] eine vom Dtl. [i. e. Deutschländischen] abweichende Pluralbildung, z. B. Bogen (Bögen, dtl. Bogen)“ aufweisen. Hier lehnen nun aber die Deutschschweizer GP diese Form zu 24 % ab, während sie in Deutschland und Luxemburg, obschon sie dort nicht gebräuchlich ist, mit je 14 % eine schwächere Ablehnung und zugleich eine höhere Zustimmung (je 70 %) als in der Deutschschweiz (mit 60 %) erhält. 36 Rimensberger (2013: 107) referiert Studien des Variantengrammatikprojekts und verweist ohne nähere Angaben auf eine „entsprechende Korpusabfrage“, die diese Annahme stützen würde und die darüber hinaus zeigen würde, „dass wie in der Schweiz auch in Liechtenstein und Südtirol die Relativpronomen welcher / welche / welches in vielen Fällen den Vorzug erhalten, wogegen in Deutschland und Österreich sehr viel häufiger auf die Relativpronomen der / die / das zurückgegriffen wird.“ 37 Davies & Langer (2006) erwähnen, dass „ältere endozentrische Kodizes“ wie beispielsweise von Greyerz (1946: 261) […] im Beispiel Bogen / Bögen ebenfalls von Schwankungen im Sprachgebrauch und berechtigten Doppelformen ohne Bedeutungsunterschied [sprechen]. Doch sie präzisieren, dass die als stilistisch besser geltende Form in der Regel vorangestellt wird. 172 Eva L. Wyss 3.4.2. Stärkerer Zuspruch zu regional üblichen Standardkonstruktionen Frage m: Stellen Sie sich bitte vor, die folgenden Sätze würden in verschiedenen schriftlichen Texten von Schülern und Schülerinnen vorkommen. Lesen Sie sie und korrigieren Sie sie, wenn Sie das für nötig halten, indem Sie die Fehler unterstreichen und verbessern. (s. oben Kap. 3.4.) Stets korrigiert (1) Uneingeschränkt akzeptierbar (2) Teilweise akzeptierbar (3) NRW LUX DCH NRW LUX DCH NRW LUX DCH Bin gelegen 70 % 70 % 44 % 2 % 8 % 18 % 26 % 20 % 36 % Am Bügeln 72 % 22 % 22 % 2 % 54 % 46 % 24 % 22 % 30 % Entscheid 60 % 62 % 18 % 20 % 18 % 64 % 18 % 16 % 18 % Tab. 7: Konstruktionen „bin gelegen“, „am Bügeln“, „Entscheid“ im Vergleich (Frage m) Im Unterschied zum ersten Muster gibt es aber - wie es generell zu erwarten wäre - einige Konstruktionen, die in der Deutschschweiz üblich sind und von Deutschschweizer GP etwas Zuspruch beziehungsweise eine weniger starke Ablehnung erfahren. Sie weisen im Beispiel der Perfektbildung mit „sein“ Werte auf, die deutlich unter denjenigen von NRW und LUX zu liegen kommen, bei der Verlaufsform steht es 22 % DCH zu 72 % NRW und bei „der Entscheid“ liegt das Verhältnis zwischen DCH und NRW bei 18 %zu 60 %-Punkten. 38 Im ersten Beispiel „Heute Nachmittag bin ich auf dem Bett gelegen.“ erstaunt die Stärke der Ablehnung (44 %) der Perfektbildung mit sein, da sie im oberdeutschen Raum - also in Süddeutschland, der Schweiz und in Österreich - als gebräuchlich gilt, wie dies in den exo- und endozentrischen Kodizes (vgl. Heuer et al. 2010: 63, Duden Rechtschreibung: 688) explizit gemacht wird. Ähnlich verhält es sich im Beispiel „Sie war am Bügeln, als ich das Zimmer betrat.“, denn auch für den am-Progressiv wird nachgewiesen (van Pottelberge 2004), dass er in der Schweiz häufiger Verwendung findet. Elspaß (2015: 409) betont auf der Grundlage der Auswertungen des Variantengrammatik-Projekts 38 Eine mehr oder weniger starke Ablehnung (die aber ebenso stark ausfällt wie in NRW und LUX) gibt es auch bei einigen Helvetismen (nach Meyer 2006): das Kamin, sich den Gästen annehmen. Sprachnormurteile im Dilemma 173 sogar, dass „die einfache am-Konstruktion inzwischen auch standardsprachlich im gesamten Sprachgebiet verbreitet“ sei. 39 Der dritte Musterfall, der Ausdruck „der Entscheid“, wird in den einschlägigen Werken (bei Meyer 2006) als Helvetismus und damit als standardsprachlich eingestuft, da die Konstruktion in DCH im Vergleich zum gemeindeutschen Wort Entscheidung häufiger gebraucht wird (vgl. Davies in diesem Band, Davies, Wagner & Wyss 2014). 40 Auch wenn eine eigenständige Beurteilung zu beobachten ist, spielt das Konzept der Plurizentrik nur ansatzweise eine Rolle: Es zeigt sich bloss eine gewisse Akzeptanz für die regionale Standardvarietät, die zwar in einer Differenz zum Standard wahrgenommen und vielleicht gar als normbildend respektiert wird, aber trotz allem nicht vollumfänglich als Standard anerkannt wird. 3.4.3. Ablehnung von regional unüblichen Standardkonstruktionen Frage m: Stellen Sie sich bitte vor, die folgenden Sätze würden in verschiedenen schriftlichen Texten von Schülern und Schülerinnen vorkommen. Lesen Sie sie und korrigieren Sie sie, wenn Sie das für nötig halten, indem Sie die Fehler unterstreichen und verbessern. (s. oben Kap. 3.4.) Eine weitere Auffälligkeit zeigt sich bei Konstruktionen, die im Kontext des bundesdeutschen Gebrauchsstandards beschrieben werden. So wird in einschlägigen Dudenwerken (Rechtschreibung, S. 695, Zweifelsfälle, S. 607) „es lohnt nicht“, also „lohnen“ ohne Reflexivum, zwar als Standard beschrieben, 41 aber 54 % der GP aus der DCH würden die Konstruktion in jedem Fall korrigieren (im Gegensatz zu den GP aus NRW , welche die Konstruktion nur zu 18 % korrigieren). Ein ähnlicher Fall liegt bei 39 Elspaß (2015: 409) erläutert: „Insgesamt scheint dies einen gemeinsamen Befund verschiedener Arbeiten der letzten 16 Jahre (Reimann 1998, Glück 2001, Van Pottelberge 2004, Gárgyán 2013 u. a.) zu stützen, so dass die am-Konstruktion „teilweise schon als standardsprachlich angesehen“ wird (so der Zweifelsfälle-Duden 2011: 66).“ Im Gegensatz dazu formuliert Hall (2010: 553): „In der deutschen Umgangssprache gewinnt eine am-Progressiv-Form an Boden: Wir sind am Überlegen. Diese Form gehört aber noch nicht zur Standardsprache.“ Wenn Sprachexperten in ihrem Urteil auseinanderdriften, gibt es weiteren Diskussionsbedarf zur Frage der Plausibilisierung von Sprachnormen. 40 Es fragt sich, wie es dazu kommt, dass, entgegen den Ausführungen von Ammon et al. (2004), der Entscheid als einen Helvetismus bezeichnet, der in der Schweiz gebräuchlicher sei als die Entscheidung , bloss 66 % der Deutschschweizer LehrerInnen die Variante nie korrigieren würden. Noch deutlicher zeigt sich eine Diskrepanz bei einem anderen Helvetismus (das Kamin), den nur 24 % der Lehrenden in der Deutschschweiz immer unkorrigiert stehen lassen würden (vgl. Davies, Wagner & Wyss 2014). 41 Dabei wird nicht die Frage der reflexiven Verwendung fokussiert, sondern die Frage der Kasusbindung. Hier wird der Konstruktion mit Akkusativ vor dem Genetiv den Vorzug gegeben (Bsp.: Es lohnt die Mühe nicht./ Es lohnt der Mühe nicht). 174 Eva L. Wyss „Du brauchst nicht gehen, wenn du keine Lust dazu hast.“ vor. Auch hier korrigieren die GP aus DCH zu 60 %, die GP aus NRW nur zu 46 %. Im Zweifelsfälle-Duden (2007: 185) wird darauf hingewiesen, dass bei verneintem oder mit eingeschränkter Gültigkeit verwendetem „brauchen“ das „zu“ vor dem Infinitiv oft weggelassen werde. Dies wird dort aber mit der Einschränkung - „besonders in der gesprochenen Sprache“ - versehen. Beide Konstruktionen werden im Kontext des Gebrauchsstandards beschrieben, aber von den GP aus DCH stärker abgelehnt als von den GP aus NRW . Stets korrigiert (1) Uneingeschränkt akzeptierbar (2) Teilweise akzeptierbar (3) NRW LUX DCH NRW LUX DCH NRW LUX DCH es lohnt nicht 18 % 56 % 54 % 38 % 16 % 28 % 38 % 28 % 14 % brauchst nicht gehen 46 % 68 % 60 % 18 % 4 % 12 % 28 % 24 % 28 % Tab. 8: Konstruktionen „es lohnt nicht“ und „du brauchst nicht gehen“ im Vergleich (Frage m) 3.4.4. Bewertungsverhalten im Dilemma Im ersten Fall (vgl. 3.4.1.: „der Mann, welcher“; „Bögen“) werden regional übliche und als solche kodifizierte Konstruktionen von den für diese eine Region zuständigen SprachnormvermittlerInnen deutlicher abgelehnt als von SprachnormvermittlerInnen aus NRW , aus einer Region, in der diese Formen nicht üblich sind. Dabei wird von den GP aus der DCH die sprachliche Gebrauchsnorm anscheinend nicht als eine Normvariante wahrgenommen und zugunsten einer ebenfalls kodifizierten, aber prestigereicheren Variante verworfen. Auf diese Weise geschieht eine mehr oder weniger bewusste Anpassung an eine höherwertige, aus der Sicht der GP über dem regionalen Standard stehende Norm. Man könnte dies als Umsetzung der Standardideologie sehen, die auf dem monozentrischen Standardkonzept basiert. Im Unterschied zur Mündlichkeit, wo - wie Ziegler (2011) ausführt - subsistente Gebrauchsnormen den schriftbezogenen statuierten Normen gegenüberstehen, besteht hier eine Konkurrenz zwischen zwei gleichermassen statuierten Normen, einer lokal begrenzten und einer lokal nicht exakt begrenzten Norm. Sprachnormurteile im Dilemma 175 Aus soziolinguistischer Sicht entsteht hier eine Konkurrenz zwischen regional üblichen und überregionalen Konstruktionen, die in der Folge favorisiert werden: Doch das Prestige ist nicht durchgehend gleich verteilt. Die Konstruktionen werden einmal stärker, dann wieder schwächer abgelehnt. Aber es erstaunt nicht, denn in den Kodizes wird diese Anpassung empfohlen, da explizit vermerkt wird, dass die überregionale Variante als stilistisch höherwertig gilt und demnach über overtes Prestige verfügt. Eine Korrektur sollte SchülerInnen somit zu einem sprachlich anspruchsvolleren Stil zu führen. Dabei übernehmen die SprachnormvermittlerInnen hinsichtlich des Standards eine klare Aussenperspektive auf die eigene Standardsprache. Bei dem zweiten Konstruktionenbündel (vgl. 3.4.2.: bei „bin gelegen“, „am Bügeln“, „der Entscheid“) liegt der entgegengesetzte Fall vor. Die GP aus der DCH zeigen eine schwächere Ablehnung von (eigenen) regional üblichen Konstruktionen. Damit kann eine leicht stärkere Eigenständigkeit und Varianten- Loyalität (Schmidlin 2011a: 296) ausgewiesen werden, wie dies für DCH generell eher unüblich ist. Da auch diese Konstruktionen des regionalen Standards kodifiziert sind, fragt sich, weswegen sie sich hier besser durchsetzen, so dass hier eher eine plurizentrische Sichtweise auf das Deutsche festgestellt werden kann. Obschon es gleichzeitig erstaunt, dass die Konstruktionen nicht höhere Werte der Akzeptanz erhalten, werden sie in endozentrischen Kodizes doch als typisch für die Deutschschweiz bzw. typisch für den Süden markiert. 42 Offensichtlich sind für die weitere Ausdifferenzierung Studien zu unternehmen, die mit verschiedenen Hypothesen prüfen, aus welchen Gründen die Bewertungen erfolgen (vgl. weiterführend Peter in diesem Band), denn es ist hoch relevant, ob die Ablehnung wegen Unkenntnis, Unsicherheit oder mit dem Ziel eines zu vermeidenden Lokalkolorits zusammenhängt. Das dritte Bewertungsmuster zeigt sich bei zwei Konstruktionen (vgl. 3.4.3. „es lohnt nicht“, „du brauchst nicht gehen“). Hier kommt es zu einer stärkeren Ablehnung von Konstruktionen, die in einschlägigen Kodizes als mehr oder weniger standardsprachlich beschrieben werden und von den GP in NRW tatsächlich auch stärker akzeptiert werden. Die Interpretation dieser Daten fällt nicht leicht, denn es bleibt unklar, ob die Standardkonstruktionen nicht bekannt oder ob die Konstruktionen bekannt sind, aber als nicht standardsprachlich beurteilt werden. Da es sich um Konstruktionen handelt, die im gesprochenen (bundesdeutschen) Standard, nicht aber in der Deutschschweizer Mündlichkeit verbreitet sind, kann man von einer Lücke sprechen, die nicht eigentlich 42 Schmidlin (2011: 296) zeigt in ihrer Untersuchung, dass nicht die Standardsprachlichkeit allein, sondern die Einschätzung der Dialektalität von Konstruktionen im Süden höher ist und die GP dort tendenziell ihre eigenen Varianten als dialektaler und damit als standardferner einschätzen. 176 Eva L. Wyss eine Kompetenzproblematik darstellt, sondern sich vielmehr als eine Leerstelle bemerkbar macht, die sich durch die plurizentrische Anlage der deutschen Zentren und ihrer spezifischen Konstellationen ergibt. Hier stellt sich die Frage, weswegen die beiden Varianten in den einschlägigen Kodizes in ihrer Typik nicht als bundesdeutsch also mit regional eingeschränkter Gültigkeit ausgezeichnet werden. Dabei wird deutlich, dass eine im Grammatikduden sehr häufig verwendete Auszeichnung der „regional eingeschränkten Gültigkeit“, die jedoch bei der Frage nach Standardsprachlichkeit meist bloss vage zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch unterscheidet, den regionalen Geltungsbereich für mündlichen Standard offen lässt. Bei einem Variationsspielraum der Standardsprachen im überregionalen oder plurizentrischen Kontext besteht offensichtlich nicht ein Kodifizierungsproblem, sondern es zeigt sich - auch für SprachnormvermittlerInnen - eine Schwierigkeit im Umgang mit regionalem schriftbezogenen Standard. Unklar ist dabei der Einfluss der Deutschschweizer Regionalität, die einmal mehr und einmal weniger deutlich abgelehnt wird. 4. Standard und Norm aus der Perspektive von DeutschlehrerInnen des Gymnasiums Bei der Frage nach sprachlicher Norm spielt die Kodifizierung nach wie vor eine wichtige Rolle. Doch die Kodizes bieten eine Formuliertheit (Gloy 2010: 29) der Norm an, die für die SprachnormvermittlerInnen nicht in jedem Fall relevant zu sein scheint. Gerade im schulischen Bereich, bei der Korrektur, ist der Kodex als festgeschriebene Norm nur dann wirksam, wenn seine Inhalte als Wissen von den SprachnormvermittlerInnen geteilt werden und im Moment der Korrektur verfügbar sind. Dies ist dann umso wichtiger, wenn die Kennzeichen der Norm - im Fall der Deutschschweiz - teilweise nicht oder nur unsystematisch mit einem Codex abgeglichen werden können. Denn eine Prüfung am Sprachgebrauch, aus der die aus dem Sprachgebrauch rekonstruierbaren Regeln (Hundt 2009: 121) gewonnen werden könnten, etabliert sich für die Deutschschweiz in einem komplexen Feld von Varietäten, Sprachurteilen oder Sprachwerten, die miteinander in Konkurrenz stehen. Wenn die Rekonstruktion mit einer Prozedur erfolgt, die als eine Antwort auf die Frage „Kann man das so sagen? “ oder „Habe ich das auch schon gehört? “ vorstellbar ist, so kann in einem widersprüchlichen sprachlichen Umfeld eine bloss unzureichende Unterstützung durch sprachliches Wissen über Konstruktionen geleistet werden, so dass eine Rekonstruktion scheitert und in der Folge gar nicht erst durchgeführt oder gar vermieden wird. Sprachnormurteile im Dilemma 177 Eine erste Widersprüchlichkeit zeigt sich schon bei der Frage nach der Sprachkompetenz der GP . Diese führen nämlich die Sprache, die sie vermitteln, nicht eigens als Kompetenz auf. Man fragt sich weshalb? Ist es möglich, dass die GP im Umgang mit der eigenen individuellen Sprachkompetenz ein landläufiges - monolingualistisches - Konstrukt (Riehl 2004) projizieren. Gehen sie vielleicht davon aus, dass man einzig in der ersten erworbenen Sprache als umfassend kompetent anzusehen ist und bei den später erworbenen Sprachen zu befürchten ist, dass die Kompetenz als lückenhaft eingestuft werden muss, was in der Befragung allerdings nicht erwähnt wurde? Weiter sollte untersucht werden, ob sie vermuten, dass die im schulischen Kontext erworbene Sprache, wie das Hochdeutsche in der Deutschschweiz, im Vergleich zur L1 defizitär sei. Eine weitere beachtenswerte Unklarheit, die an den vorhergehenden Punkt anschliesst, etabliert sich mit der Einschätzung der Sprachvermittlungssituation, die nicht von allen Befragten einhellig als L1-Situation interpretiert wird, obschon viele curriculare Richtlinien von einer Erstsprachvermittlungssituation ausgehen. Die GP folgen dieser Einschätzung nicht, weil sich in der Deutschschweizer Sprachgebrauchssituation ein Nebeneinander und ein Wechsel von dialektalen und standardsprachlichen Varietäten etabliert, der weder mit dem Diglossiekonzept noch mit einer gesellschaftlichen Zweisprachigkeit adäquat modelliert werden kann. Für die Vermittlung wäre es zentral, eine beschreibungsadäquate und stabile linguistische Modellierung zu erreichen, auf deren Grundlage der Theorie von Vermittlung und Wissenstransfer eine Ausgangslage geboten würde. Schliesslich zeigt sich auch bei der Bewertung der Konstruktionen kein einheitliches Bild. Es sind vielmehr drei Bewertungsmuster zu erkennen, die als Anpassung, dann als Eigenheit und als Lücke interpretiert werden. Doch grundsätzlich stellt sich die Frage, ob nicht transparente Kriterien gefunden werden können, die anzeigen würden, wann DCH Varianten positiv und wann sie negativ bewertet werden oder werden müssten. Die wechselnde Beurteilung hebt sich im Ergebnis von einer älteren Studie (Scharloth 2005), die eine summarische Negativbewertung ausweist, ab. Doch die GP zeigen eine ähnliche Unklarheit, die auch Schmidlin (2011a: 299) nachweist: Deutschschweizer GP mit einer hohen Standardkompetenz passen sich einmal an die dominierende Varietät an (was auch Clyne (1992: 459) beobachtet), sie wählen allerdings auch - je gebildeter sie sind - eher Eigenvarianten. Offen bleibt bislang, aufgrund welcher Motivation die Konstruktionen eher akzeptiert oder eher zurückgewiesen werden. Wichtig scheint zudem das dritte Muster, das auf eine Lücke im Bereich des gesprochenen Standards verweist, die für den Aufbau von sprachlicher Standardkompetenz im deutschen Raum kaum thematisiert wird, die aber gerade 178 Eva L. Wyss in den wichtigen Kodizes - in der Duden Grammatik und im Zweifelsfälle- Duden - zu einer fehlenden Präzision führt, wenn man denkt, dass es ausreicht die Angemessenheit von Konstruktionen nach mündlicher und schriftlicher Verwendung zu unterscheiden, die für eine Deutschschweizer GP nicht nachvollziehbar ist. Für die Ausbildung von DeutschlehrerInnen werden mit dieser Studie einige Desiderata deutlich, die den Umgang mit Varianten betreffen. Ein besonderes Augenmerk verdienen die komplexen Sprachverhältnisse im Alltag, in den Medien und im gymnasialen Schulunterricht, die vermutlich dazu beitragen, dass sich konzeptionelle Überlagerungen zwischen Standard und Dialekt herausbilden, die zu Unklarheiten bei der Zuordnung sprachlicher Phänomene zu einer bestimmten Varietät führen. Dabei fragt es sich, ob und auch auf welche Weise sich DeutschlehrerInnen über die Standardvarianten ins Bild setzen, denn die standardsprachlichen Helvetismen streuen über die orthografische, morphologische, phraseologische, syntaktische, semantische oder pragmatische Ebene. Zu betonen ist hier, dass die Lehrenden in anderen plurizentrischen Regionen wie beispielsweise in Deutschland „wenig über Varianten aus anderen deutschsprachigen Ländern wissen“ (Davies in diesem Band). Es sind zudem von eigentlichen Helvetismen die Frequenzhelvetismen zu unterscheiden, die nicht spezifisch, aber doch häufiger in der Deutschschweiz verwendet werden (wie beispielsweise selber, anfällig, angriffig ) sowie viele Regionalismen , die auch im süddeutschen Raum oder in Österreich Verwendung finden (wie laufen vs. gehen , Bub vs. Junge ). Bislang gibt es dazu weder schulische Lehrmittel noch Lerneinheiten in der Hochschule. Eine nicht unerhebliche Schwierigkeit stellen zudem Konstruktionen dar, die am Übergang stehen oder die eine Standardisierung erfahren. Lehrpersonen sind im Feld der Konstruktion und Dekonstruktion von Standardsprachlichkeit zentrale Akteure, da sie als SprachnormvermittlerInnen nicht nur das Recht haben, sprachliche Produkte nach der Norm zu korrigieren, sondern überdies verpflichtet sind, diese Normen durchzusetzen und entsprechend den Leistungen ihrer SchülerInnen die Befolgung der Norm zu benoten. Somit ist der schulische Bereich zentral für die reflektierte und strukturierte Vermittlung von sprachlichen Normen, die die Fehleridentifikation beeinflussen (vgl. auch weiterführend dazu Peter in diesem Band). Gleichzeitig fragt es sich, ob es nicht möglich wäre oder gar anzustreben sei, in der Deutschschweiz den schielenden Blick zugunsten eines Sprach-Pluralismus (Maitz & Elspaß 2012) zu überwinden. Denn ein pluralistischer Umgang mit Variation könnte dazu führen, dass sich eine grössere Sprachbewusstheit ausbildet und in diesem Kontext nicht mehr länger nur das richtige und gute Deutsch gelehrt und gelernt wird, sondern auch Neugierde und Freude an dem Sprachnormurteile im Dilemma 179 Variantenreichtum gelebt wird, der im aktuellen Nebeneinander von subsistenten Normen und dem tatsächlichen Sprachgebrauch längst angezeigt wird, im schulischen Bereich aber noch nicht umgesetzt werden kann. 5. Literatur Ágel, Vilmos & Mathilde Hennig (2010) (Hrsg.): Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung . Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich et al. (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen . Berlin, New York: de Gruyter. 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Der Mann, welcher mich für die Stelle empfahl, ist inzwischen in eine andere Stadt gezogen. 15. Das Kamin verbreitet eine angenehme Wärme. 16. Es sind richtige Monsters, die bei einem Unfall alle plattwalzen. 17. Sie tut viel schwimmen, anstatt zu lernen. 18. Es war wieder der Tag, wo das Hockeyspiel der Kinder stattfand. 19. Wir rufen meiner Schwester an. 20. Die Regierung belohnte den Autoren. 21. Ich brachte die Kinder bei die Tante. 22. Nachdem sie kein Geld hat, kann sie nicht ins Kino gehen. 23. Trotz dem schönen Wetter ging er nicht spazieren und sah fern. 24. Die Beobachtungen, die Klaus Müller machte, flechtete er gekonnt in seine Geschichten ein. 25. Die Gewerkschaft hatte eine Massendemonstration geplant gehabt, aber in letzter Minute gaben die Arbeitgeber nach. 26. Du brauchst nicht gehen, wenn du keine Lust dazu hast. 27. Der Wahlkampfverlierer focht das Ergebnis an. Sprachnormurteile im Dilemma 187 Konstruktionen 1 -- NRW 1 -- LUX 1 -- DCH 2 -- NRW 2 -- LUX 2 -- DCH 3 -- NRW 3 -- LUX 3 -- DCH k. Ang. NRW k. Ang. LUX k. Ang. DCH bin gelegen 35: 70 % 35: 70 % 22: 44 % 1: 2 % 4: 8 % 9: 18 % 13: 26 % 10: 20 % 18: 36 % 1 1 0 am Bügeln 36: 72 % 11: 22 % 11: 22 % 1: 2 % 27: 54 % 23: 46 % 12: 24 % 11: 22 % 15: 30 % 1 1 1 der Entscheid 30: 60 % 31: 62 % 9: 18 % 10: 20 % 9: 18 % 32: 64 % 9: 18 % 8: 16 % 9: 18 % 1 2 0 bräuchte 6: 12 % 8: 16 % 9: 18 % 33: 66 % 28: 56 % 27: 54 % 9: 18 % 12: 24 % 12: 24 % 2 2 2 in 1996 36: 72 % 48: 96 % 45: 90 % 1: 2 % 0 1: 2 % 11: 22 % 2: 4 % 3: 6 % 2 0 1 wegen dem 32: 64 % 24: 48 % 21: 42 % 7: 14 % 12: 24 % 11: 22 % 11: 22 % 13: 26 % 17: 34 % 0 1 1 den Polizist 43: 86 % 48: 96 % 43: 86 % 3: 6 % 0 3: 6 % 3: 6 % 2: 4 % 4: 8 % 1 0 0 sich den Gästen annehmen 36: 72 % 33: 66 % 38: 76 % 10: 20 % 11: 22 % 9: 18 % 3: 6 % 5: 10 % 3: 6 % 1 1 0 es lohnt nicht 9: 18 % 28: 56 % 27: 54 % 19: 38 % 8: 16 % 15: 28 % 19: 38 % 14: 28 % 7: 14 % 3 0 1 der Mann, der wo 46: 92 % 49: 98 % 48: 96 % 1: 2 % 1: 2 % 0 1: 2 % 0 1: 2 % 2 0 1 Bögen 7: 14 % 7: 14 % 12: 24 % 35: 70 % 35: 70 % 30: 60 % 5: 10 % 3: 6 % 7: 14 % 3 5 1 das Auto, wo 49: 98 % 48: 96 % 49: 98 % 1: 2 % 1: 2 % 0 0 0 1: 2 % 0 1 0 weil + V2 45: 90 % 44: 88 % 44: 88 % 0 2: 4 % 1: 2 % 5: 10 % 3: 6 % 5: 10 % 0 1 0 der Mann, welcher 5: 10 % 19: 38 % 23: 46 % 31: 62 % 17: 34 % 14: 28 % 12: 24 % 11: 22 % 10: 20 % 2 3 3 das Kamin 43: 86 % 46: 92 % 34: 68 % 6: 12 % 2: 4 % 12: 24 % 0 2: 4 % 4: 8 % 1 0 0 Monsters 44: 88 % 48: 96 % 42: 84 % 0 0 1: 2 % 5: 10 % 2: 4 % 7: 14 % 1 0 0 188 Eva L. Wyss Konstruktionen 1 -- NRW 1 -- LUX 1 -- DCH 2 -- NRW 2 -- LUX 2 -- DCH 3 -- NRW 3 -- LUX 3 -- DCH k. Ang. NRW k. Ang. LUX k. Ang. DCH sie tut schwimmen 48: 96 % 43: 86 % 45: 90 % 0 0 1: 2 % 1: 2 % 7: 14 % 4: 8 % 1 0 0 der Tag, wo 34: 68 % 41: 82 % 41: 82 % 4: 8 % 2: 4 % 4: 8 % 12: 24 % 7: 14 % 5: 10 % 0 0 0 anrufen + DAT 50: 100 % 38: 76 % 43: 86 % 0 4: 8 % 5: 10 % 0 6: 12 % 2: 4 % 0 2 0 den Autoren ( AKK ) 35: 70 % 37: 74 % 32: 64 % 12: 24 % 10: 20 % 14: 28 % 3: 6 % 2: 4 % 4: 8 % 0 1 0 bei die Tante bringen 50: 100 % 46: 92 % 49: 98 % 0 1: 2 % 1: 2 % 0 3: 6 % 0 0 0 0 nachdem ( CAUS ) 44: 88 % 46: 92 % 46: 92 % 2: 4 % 3: 6 % 1: 2 % 4: 8 % 1: 2 % 3: 6 % 0 0 1 trotz dem 36: 72 % 28: 56 % 17: 34 % 7: 14 % 12: 24 % 20: 40 % 6: 12 % 10: 20 % 13: 26 % 1 0 0 flechtete 35: 70 % 35: 70 % 42: 84 % 8: 16 % 9: 18 % 5: 10 % 6: 12 % 4: 8 % 3: 6 % 1 2 0 hatte geplant gehabt 38: 76 % 39: 78 % 38: 76 % 4: 8 % 4: 8 % 4: 8 % 8: 16 % 6: 12 % 8: 16 % 0 1 0 du brauchst nicht gehen 23: 46 % 34: 68 % 30: 60 % 9: 18 % 2: 4 % 6: 12 % 14: 28 % 12: 24 % 14: 28 % 4 2 0 er focht an 10: 20 % 12: 24 % 8: 16 % 32: 64 % 26: 52 % 36: 72 % 6: 12 % 1: 2 % 5: 10 % 2 11 1 (1) die Konstruktion muss stets korrigiert werden; (2) die Konstruktion ist stets uneingeschränkt akzeptierbar; (3) die Konstruktion ist teilweise akzeptierbar (d. h. für gewisse Konstellationen oder Textsorten), könnte aber die Note negativ beeinflussen, wenn sie unangemessen verwendet würde. Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 189 Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg Melanie Wagner 1. Das Projekt 2. Deutsch als plurizentrische Sprache 3. Das Beispiel Luxemburg 4. Die Situation in der Schule 5. Deutsch in Luxemburg 6. Rolle und Sicht der LehrerInnen 7. Fazit 8. Literatur 1. Das Projekt Dieser Beitrag widmet sich dem Status der deutschen Sprache im luxemburgischen Gymnasium. Die hier vorgestellten Daten wurden im Rahmen eines größeren Projekts - Deutsch im gymnasialen Unterricht: Deutschland, Luxemburg und die deutschsprachige Schweiz im Vergleich - erhoben. Das Projekt untersucht das Normbewusstsein und -wissen von Deutschlehrenden an Gymnasien in Luxemburg, Deutschland (Nordrhein-Westfalen) und der deutschsprachigen Schweiz und beschäftigt sich mit ihrer Rolle als Sprachnormautoritäten. Anhand von Daten, die mit Hilfe von Fragebögen erhoben wurden, möchten die Projektteilnehmenden die Praktiken der Lehrenden in den drei verschiedenen Ländern, in denen die deutsche Sprache jeweils eine wichtige, wenn auch unterschiedliche Rolle im Kerncurriculum spielt, beleuchten. In diesem Kapitel werde ich mich mit der Sprachensituation Luxemburgs und mit dem Status der deutschen Sprache im luxemburgischen Schulsystem auseinandersetzen. Aufschluss über die Situation der deutschen Sprache an luxemburgischen Schulen soll eine Analyse der Curricula des Fachs Deutsch im Gymnasium, der Dokumente zur Sprachplanung und Sprachpolitik sowie einer LehrerInnenbefragung geben. 190 Melanie Wagner 2. Deutsch als plurizentrische Sprache Clyne (1984: 1) war einer der ersten Sprachwissenschaftler, der argumentierte, dass die deutsche Sprache ein Beispiel für eine plurizentrische Sprache darstelle. Nach Clyne werden plurizentrische Sprachen definiert als: „languages with several interacting centres, each providing a national variety with at least some of its own (codified) norms“. 1 Mittlerweile ist dieses Modell die gängigste Sichtweise - zumindest unter Sprachwissenschaftlern - um auch den deutschen Sprachraum begrifflich zu fassen. Clynes (1984: 1) Bezug auf eine nationale Varietät mit eigenen (kodifizierten) Normen verdeutlicht, dass hier von nationalen Standardvarietäten einer Sprache die Rede ist. Da Deutsch eine plurizentrische Sprache mit mehr als einer nationalen Norm darstellt (Ammon et al. 2004), ist sie in jedem Land Teil einer sehr unterschiedlichen soziolinguistischen Konstellation, wobei ich mich in diesem Kapitel auf die Situation des Deutschen in Luxemburg beschränken werde, spezifischer in luxemburgischen Gymnasien. Luxemburg wird im plurizentrischen Modell nicht als Vollzentrum (Ammon et al. 2004: XXXIV ), sondern als Halbzentrum ohne anerkannte nationale Varietät angesehen (Ammon et al. 2004: XLVIII ). Im Sprachengesetz von 1984 2 wird Deutsch als eine der drei anerkannten Sprachen Luxemburgs angeführt, neben Luxemburgisch als Nationalsprache und Französisch mit den Rollen als Justiz- und Amtssprache. Deutsch gilt wie Luxemburgisch und Französisch als Amtssprache und ist Alphabetisierungssowie Unterrichtssprache (Wagner 2010: 120) - wegen seiner vorherrschenden Rolle in der Schule beherrschen die meisten Luxemburger Deutsch in Wort und Schrift. LinguistInnen haben erst vor kurzem damit angefangen, die Einstellungen und Wahrnehmungen von Laien zu untersuchen (vgl. Scharloth 2005), um zu ergründen, inwiefern ihnen die Plurizentrik des Deutschen bekannt ist und wie sie die verschiedenen nationalen Varietäten, die von SprachwissenschaftlerInnen beschrieben und definiert werden, bewerten. Man weiß auch bisher wenig darüber, ob die Curricula in verschiedenen Ländern auf das Thema der Plurizentrik eingehen und es als Unterrichtsthema vorsehen und wie die Ausbildung beziehungsweise das Verhalten der LehrerInnen aussieht. Im Rahmen dieser und früherer Studien (Davies 1995, Wagner 2009) werden LehrerInnen trotz ihrer akademischen und teilweise auch sprachwissenschaftlichen Ausbildung als Laien verstanden, da sie keine professionellen LinguistInnen sind und sich selten mit der professionellen Untersuchung von Sprache oder Sprachvariation beschäftigen. Die Wahl der DeutschlehrerInnen als Untersuchungssubjekt kann damit gerechtfertigt werden, dass LehrerInnen oft als Experten der Sprachnorm 1 Clyne zitiert Kloss (1978) als Quelle für den Begriff ‚plurizentrische Sprache‘. 2 Legilux : Loi du 24 février 1984 sur le régime des langues. Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 191 (Ammon 1995: 75) beziehungsweise als SprachnormbeherrscherInnen ( Jäger 1981: 162) dargestellt werden. Da LehrerInnen zu den Bevölkerungsgruppen zählen, von denen man erwartet, dass sie die Sprachnorm hochhalten und weitervermitteln (Hannappel & Herold 1985: 55), ist es Ziel der vorliegenden Studie zu untersuchen, inwiefern sie einerseits die Normen der jeweiligen nationalen Varietät beherrschen und vermitteln (Ammon 1995: 75) und andererseits inwiefern sie mit dem Konzept der Plurizentrik vertraut sind und ein Bewusstsein für dieses vermitteln. Hier zu beleuchtende Aspekte sind, ob das plurizentrische Modell überhaupt von Relevanz für luxemburgische DeutschlehrerInnen ist und wie ihre Wahrnehmung des Status der deutschen Sprache in Luxemburg und im luxemburgischen Klassenzimmer ist. 3. Das Beispiel Luxemburg Mit einer Einwohnerzahl 3 von 524 900 und einer geographischen Fläche von 2586 km 2 liegt das Großherzogtum Luxemburg zwischen den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Belgien und ist eines der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Union. Das im Jahr 963 gegründete Luxemburg war aufgrund der geographischen Grenzlage bereits früh durch anhaltenden kulturellen und politischen Einfluss aus dem germanischen und romanischen Sprachraum geprägt. So entstand schon bald eine multilinguale Situation (Gilles & Moulin 2003), die bis heute anhält. Offiziell betrachtete man die Sprachensituation in der Mitte des 19. Jahrhunderts als bilingual mit den Amtssprachen Deutsch und Französisch. Die Verfassung von 1848 schrieb die fakultative Verwendung des Französischen und des Deutschen in diesem Sinne fest (Kramer 1994: 130). Da die lokale Sprachvarietät als eine Variante des Deutschen angesehen wurde, vertrat man allgemein noch die Auffassung, sie könne nicht den Status einer eigenen (Schrift-)Sprache für sich beanspruchen (Gilles & Moulin 2003: 4). Die Ereignisse im 19. und 20. Jahrhundert, besonders der Erste und Zweite Weltkrieg, die demographischen Veränderungen der 1970er Jahre und die wachsende Anzahl der Grenzgänger, hatten eine Aufwertung der lokalen Sprachvarietät Luxemburgisch zur Folge (Horner & Weber 2008). Die Anerkennung der multilingualen Situation Luxemburgs führte zur Verabschiedung des Gesetzes ‚Loi sur le régime des langues‘ (1984) und zur offiziellen Aufwertung des Luxemburgischen als Nationalsprache. In dem genannten Gesetz wurden zunächst alle drei gebräuchlichen Varietäten Luxemburgs als Sprachen der Verwaltung anerkannt, wobei dem Französischen der zentrale Status als Sprache der Gesetz- 3 Statec: Le Luxembourg en Chiffres (2012). 192 Melanie Wagner gebung zukam. Luxemburgisch wurde gleichzeitig in Artikel 1 als alleinige Nationalsprache der Luxemburger festgelegt und sein besonderer Status somit hervorgehoben: „La langue nationale des Luxembourgeois est le luxembourgeois“ 4 (Gilles & Moulin 2003: 6). Grundsätzlich fällt die französische Form des Gesetzes im Rahmen einer juristischen Aufwertung des Luxemburgischen als Paradoxon auf. Zwar legt das Gesetz das Luxemburgische als Nationalsprache fest, belässt es allerdings, den öffentlichen Status betreffend, in der Rangfolge hinter dem Französischen und dem Deutschen an letzter Stelle. Ein zentrales Ziel dieser vornehmlich politischen Aufwertung war die Verbesserung des soziolinguistischen Status des Luxemburgischen gegenüber dem Französischen und dem Deutschen (Naglo 2007). Jedoch hatte diese Erhebung zur Nationalsprache bislang kaum praktische Konsequenzen, und zwar weder hinsichtlich einer weiteren Standardisierung noch bezüglich eines vermehrten Gebrauchs im Schulsystem, in dem das Luxemburgische lediglich als Hilfssprache im Unterricht dient (Gilles 1999: 9; Kraemer 1993). Vielmehr wurde die Sprache politisch und juristisch als Symbol und Ausdruck einer nationalen luxemburgischen Identität festgelegt. Hoffmann (1988) weist darauf hin, dass die Erhebung des Luxemburgischen zur Nationalsprache sowie die auch immer weiter fortschreitende Kodifizierung des Luxemburgischen den Status des Deutschen in Luxemburg geschwächt haben, da in verschiedenen Bereichen (z. B. persönlicher Schriftverkehr, neue Medien) das Luxemburgische die deutsche Sprache verdrängt. Das deutschländische Standarddeutsch ist und war in Luxemburg nie gesprochene Sprache (Clyne 1992: 122); und auch wenn (bundes) deutsches Standarddeutsch in der Schule als Norm angesehen wird, wird es in keinen Bereichen genutzt, die mit der nationalen oder persönlichen Identität in Verbindung gebracht werden. 4. Die Situation in der Schule Ein Gesetz von 1843 schrieb die Zweisprachigkeit (Französisch und Standarddeutsch) bereits für die Primarschulen fest und die Unterrichtspraktiken in staatlichen Schulen förderten diese Zweisprachigkeit sowie das Erlernen und Beherrschen der deutschen und französischen Standardsprache (Davis 1994). Luxemburgisch wurde im Jahr 1912 als Unterrichtsfach eingeführt. Als Lehrbuch setzte man das Buch von Nikolaus Welter Das Luxemburgische und sein Schrifttum (1914) ein. Es enthielt eine Einführung in die Geschichte des Luxem- 4 „Die Nationalsprache der Luxemburger ist das Luxemburgische.“ Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 193 burgischen, eine Literaturgeschichte, eine Auswahl luxemburgischer Texte und eine kurze Beschreibung der Rechtschreibung. Aus Tabelle 1 wird ersichtlich, dass der Sprachenunterricht in luxemburgischen Schulen auch heute eine große Rolle spielt. Horaire Répartition des leçons par année d’études 1ere 2e 2e 3e 4e 5e 6e 1er semestre 2e semestre Langue allemande 8 9 8 5 5 5 5 Langue française - - 3 7 7 7 7 Mathématiques 6 6 6 5 5 5 5 Éveil aux sciences 3 4 2 2 2 - - Sciences naturelles - - - - - 1 1 Géographie - - - - - 1 1 Histoire - - - - - 1 1 Langue luxembourgeoise 1 1 1 1 1 1 1 Éducation morale et sociale/ 2 2 2 2 2 2 2 Instruction religieuse et morale Activités créatrices 1 1 1 1 1 1 1 Éducation artistique 1 1 1 1 1 1 1 Éducation musicale 1 1 1 1 1 1 1 Éducation physique et sportive 3 3 3 3 3 2 2 Activités dirigées 2 - - - - - - 28 28 28 28 28 28 28 Tab. 1: Aufteilung der Unterrichtsstunden nach Schuljahr (Berg & Weis 2005: 64) Im Durchschnitt sieht der Lehrplan der Grundschule in jedem Unterrichtsjahr ungefähr ein Drittel der Gesamtunterrichtszeit für den Sprachenunterricht 194 Melanie Wagner vor. Deutsch wird von Anfang an in der Schule gelehrt. Die Kinder werden in deutscher Sprache alphabetisiert, die gleichzeitig auch als Unterrichtssprache dient (u. a. Berg & Weis 2005). Im zweiten Grundschuljahr kommt im zweiten Halbjahr Französisch als zweite Fremdsprache hinzu. Luxemburgisch wird sowohl in der Grundschule als auch im ersten Jahr des Gymnasiums nur während einer Stunde pro Woche unterrichtet. Dies hat sich seit der Einführung als Unterrichtsfach im Jahr 1912 nicht geändert. Berg & Weis (2005: 76) führen verschiedene Gründe für die niedrige Stellung des Luxemburgischen in der Schule auf. Sie erläutern, dass Luxemburgisch nie als Unterrichtssprache in Erwägung gezogen wurde, da diese Sprache lange als „Dialekt“ angesehen wurde; da Luxemburgisch außerdem fast ausschließlich als mündliches Kommunikationsmittel genutzt würde, sei diese Sprache lange nicht als adäquates Unterrichtsmittel gewertet worden (ebd.). Auch im Gymnasium nimmt der Sprachenunterricht einen Großteil der Unterrichtszeit in Anspruch. Überdies verändert sich die Situation bezüglich der Unterrichtssprache, die bisher ja hauptsächlich Deutsch war. Im ersten Jahr des Gymnasiums wird Französisch Unterrichtssprache für das Fach Mathematik, einige Jahre später wird diese Sprache Unterrichtsprache für alle Sach- und Nebenfächer. Englisch kommt im zweiten Jahr des Gymnasiums als dritte Fremdsprache (ebd.) hinzu. 5. Deutsch in Luxemburg Nach einer kurzen Einführung in die Rolle, den Status und die Funktion(en) der deutschen Sprache an luxemburgischen Schulen werde ich zu einer Analyse einer Auswahl von Dokumenten und Aussagen zur Sprachplanung und -politik übergehen. Wie schon in Kapitel 3 erwähnt wurde, spielt Deutsch an luxemburgischen Schulen eine sehr wichtige Rolle, da es als Alphabetisierungssprache dient, auch wenn es für den Großteil der SchülerInnen nicht die erste Sprache ist. Hoffmann (1979: 41) schreibt: Ein Luxemburger Sechsjähriger, der eingeschult wird, spricht und denkt ausschließlich auf Lëtzebuergesch. Indessen ist die Sprache, in der er unterrichtet wird, von der ersten Stunde an das Hochdeutsche und zwar nicht eine standardisierte Umgangssprache, sondern das Schriftdeutsche. Immer noch dient Deutsch während der ersten neun Schuljahre als Unterrichtssprache in anderen Fächern wie Mathematik oder Geschichte. Das Argument für Deutsch als Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache liegt bei der linguistischen Nähe zwischen Luxemburgisch und Deutsch (Weber & Horner 2012: Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 195 4, vgl. Berg & Weis 2005: 76). Mit diesen Hintergrundinformationen über die Rollen und Funktionen der deutschen Sprache im luxemburgischen Schulwesen im Hinterkopf ist eine der Fragen, die in diesem Kapitel beantwortet werden sollen, jene nach der Unterrichtsmethode: Wird Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache unterrichtet? Eine Analyse der Lehrpläne, der vom Bildungsministerium veröffentlichten Dokumente zum Sprachenunterricht in Luxemburg sowie der Aussagen von einer Schulinspektorin und von Lehrkräften sollen Einblick in die Art und Weise, wie Deutsch (als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache) in Luxemburg unterrichtet wird, liefern und zeigen, ob etwaige Widersprüchlichkeiten zwischen den Vorgaben des Bildungsministeriums und der Handhabung im Unterricht bestehen. Außerdem soll untersucht werden, inwiefern der Begriff der Plurizentrik in diesen Dokumenten aufgegriffen wird und in den Deutschunterricht einfließt. 5.1. Die Lehrpläne Auf der Internetseite des Luxemburgischen Bildungsministeriums 5 findet man unter der Rubrik horaires et programmes für die ersten drei Schulstufen im Gymnasium einen Lehrplan für ein Fach namens ALLEM - Allemand 6 (Deutsch) und einen für ein Fach namens ALLET - Allemand langue étrangère 7 (Deutsch als Fremdsprache). Bei genauerer Betrachtung der beiden Lehrpläne stellt sich heraus, dass das Fach ALLET - Allemand langue étrangère nicht von allen SchülerInnenn belegt wird, sondern sich nur an „lernwillige und wissbegierige“ 8 SchülerInnen richtet, deren Leistungen im Deutschunterricht aus unterschiedlichsten Gründen als defizitär gewertet werden. Hier wird im Gegensatz zum Lehrplan ALLEM - Allemand auch auf die Unterrichtsmethode eingegangen und erklärt, es handele sich um eine Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache. Dies lässt darauf schließen, dass sich der „normale“ Deutschunterricht nicht als 5 www.men.lu 6 Ministère de l’éducation nationale et de la Formation professionnelle (Version 2011-2012) Enseignement secondaire. Division inférieure. ALLEM-Allemand. 7 Ministère de l’éducation nationale et de la Formation professionnelle (Version 2011-2012) Enseignement secondaire. Division inférieure. ALLET-Allemand langue étrangère. 8 Das Kürzel ALLET steht für al lemand l angue ét rangère. Damit ist eine andere als die übliche Herangehensweise des Faches Deutsch gemeint. Sie wird in der division inférieure classique (das heißt von VIIe - Ve) SchülerInnen unterrichtet, die Defizite im Deutschen (und nur im Deutschen! ) aufweisen. Es handelt sich nicht um einen vereinfachten Deutschunterricht oder gar um einen Förderunterricht (cours d’appui). ALLET versteht sich als eine Vermittlung des Faches Deutsch in Form von „Deutsch als Fremdsprache“ (und nicht als Deutsch als Muttersprache) und richtet sich an lernwillige, wissbegierige Kinder, die gute Kenntnisse in Französisch und Mathematik mitbringen und sich durch Freude am Lesen auszeichnen. (Markierung im Original) 196 Melanie Wagner Fremdsprachenunterricht versteht. Ziel des Fachs ALLET ist es, SchülerInnen, die Schwierigkeiten im Deutschen haben, durch individuelle Unterstützung und gezielten Sprachenunterricht innerhalb von drei Jahren eine Integration in den normalen Deutschunterricht zu ermöglichen. Eine Analyse des Lehrplans des Fachs ALLEM macht nicht nur deutlich, dass dies das Curriculum ist, das SchülerInnen im Deutschunterricht im Laufe ihrer Gymnasialzeit normalerweise behandeln, sondern auch, dass sich das Programm hauptsächlich auf den Inhalt des Lernens und Lehrens während der einzelnen Schulstufen beschränkt. Der Lehrplan gibt keinen Aufschluss über die angewandte Methode des Sprachenunterrichts und es wird nicht klar, ob Deutsch hier als Erst- oder Zweitsprache unterrichtet werden soll. Des Weiteren wird im Lehrplan auch nicht auf die Varietät der zu unterrichtenden Sprache eingegangen - es scheint offensichtlich zu sein, dass es sich hier um deutschländisches Standarddeutsch handelt. Die Hauptidee, die in der Einleitung des Lehrplans des Faches Deutsch für die ersten vier Gymnasialjahre vermittelt wird, ist die der luxemburgischen Sprachensituation und -tradition, also der Dreisprachigkeit und der fundamentalen Rolle, die Deutsch und Französisch in den Bereichen Kommunikation, Lernen, Auseinandersetzung mit der Umwelt und Schulung des Verstandes spielen. Darüber hinaus wird die Wichtigkeit der deutschen Sprache dadurch verdeutlicht, dass sie Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache ist und für viele SchülerInnen die erste Sprache, in der sie (Welt-) Literatur und Medien begegnen. Außerdem fungiert Deutsch während der ersten drei Jahre des Gymnasiums als Unterrichtssprache, was dazu führt, dass die sprachliche Kompetenz der SchülerInnen es ihnen erlaubt, sich angemessen in Wort und Schrift auszudrücken sowie Lehrwerke und -materialien produktiv zu nutzen. 9 Neben dem Erlernen der kommunikativen Kompetenzen wird auch verdeutlicht, wie wichtig der Erwerb von interkulturellen Kompetenzen ist und dass die deutsche Sprache nicht nur im „Hinblick auf ihren reinen Gebrauchswert gelernt und gelehrt werden darf “ ( MEN 2013: 2). In den „Leitgedanken zum Kompetenzerwerb in den Klassen 7e bis 4e“ liest man des Weiteren, dass moderner Deutschunterricht sich um drei Achsen gruppieren muss: 9 Deutsch ist in den ersten neun Schuljahren - also auch in den Klassen 7 (7e O), 8 (6e) und 9 (5e) des Gymnasiums - die grundlegende Unterrichtssprache , in der die Lerninhalte der anderen Fächer (= Nicht-Sprachenfächer, mit Ausnahme der Mathematik) vermittelt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die SchülerInnen / innen im Deutschen möglichst rasch an ein sprachliches Niveau heranzuführen, das es ihnen ermöglicht, produktiv mit den Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien in den Nicht-Sprachenfächern umzugehen und auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen und mündlich wie schriftlich angemessen und korrekt darzustellen (ibid.) (Markierung im Original). Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 197 • systematisches und vernetztes Lernen der Einzelelemente der Sprache (Wortschatz, Grammatik, Orthographie, Satzbau und Satzzeichen), da letztere erst dann erfolgreich als Kommunikationsmedium eingesetzt werden kann, wenn ein Großteil ihrer Elemente in vernetzter und geordneter Weise 10 zur Verfügung steht; • Erwerb kommunikativer und interkultureller Kompetenzen in den drei Bereichen Deutsch als Alltagssprache, Deutsch als Mediensprache, Deutsch als Kultursprache; • Aufbau einer umfassenden Methodenkompetenz, die lebenslanges Lernen im fremdsprachlichen Bereich 11 ermöglicht. ( MEN 2013: 2) Wie Deutsch in luxemburgischen Gymnasien unterrichtet werden soll, wird in diesem Leitfaden nicht angesprochen - es gibt lediglich einen Hinweis auf die Tatsache, dass der Unterricht meist nicht in der Erstsprache stattfindet, da der Unterricht weder in der Nationalsprache Luxemburgisch noch in den Erstsprachen der Nicht-Luxemburger stattfindet. Nach der allgemeinen Einführung in das Fach ALLEM -Allemand und einer Aufzählung der verschiedenen Funktionen, die die deutsche Sprache an luxemburgischen Schulen einnimmt, wird der Lehrplan für die einzelnen Schuljahre vorgestellt. Hier wird großer Wert auf den Ausbau der verschiedenen Kompetenzen (Sprechen, Hörverstehen, Schreiben und Lesen) sowie auf den Unterricht von Rechtschreibung und Grammatik gelegt. In diesem Lehrplan gibt es keinen Hinweis auf die Plurizentrik der deutschen Sprache, auch Sprachvariation wird kaum erwähnt. Variation wird zum ersten Mal im Lehrplan für die dritte Stufe (cinquième) des Gymnasiums angeführt - unter den Lernzielen findet man: Der Schüler / Die Schülerin […] kann Sprachvarianten identifizieren: Standardsprache, Umgangssprache, Dialekt, Gruppen-/ Jugendsprache, Fachsprache (z. B. Anglizismen im Fachvokabular), gesprochene und geschriebene Sprache. ( MEN 2013: 22) Dieses Lernziel, dass SchülerInnen verschiedene Varietäten der deutschen Sprache erkennen sollen, wird von dieser Schulstufe an in jedem Jahr aufgeführt - es bleibt jedoch bei dieser Erwähnung und Sprachvariation wird nicht weiter im Lehrplan behandelt. Der Lehrplan gibt auch keine Erklärungen dafür, was unter den verschiedenen Kategorien zu verstehen ist: Der Begriff Standardsprache wird benutzt, da dieser jedoch weder genau definiert, noch deutlich gemacht wird, in welchen Referenzwerken oder Situationen Standardsprache zu finden 10 D. h. Sprache soll nicht in einzelnen voneinander isolierten Elementen beherrscht werden, sondern als komplettes Paket. 11 Gemeint ist hier ein Transfer auf das Lernen weiterer Fremdsprachen. 198 Melanie Wagner ist, scheint dies als Alltagsbegriff verstanden zu werden. Es bleibt zu vermuten, dass man sich auf deutschländisches Standarddeutsch bezieht. Nach dieser Analyse des Lehrplans für das Fach Deutsch im Gymnasium werde ich nun zu einer Studie der Veröffentlichungen übergehen, die sich auf den Sprachenunterricht an luxemburgischen Schulen beziehen und die von Didaktikern, Pädagogen und Sprachwissenschaftlern in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium veröffentlich wurden. 5.2. Bildungsstandards Sprachen: Leitfaden für den kompetenzorientierten Sprachenunterricht an Luxemburger Schulen Bei der ersten Veröffentlichung, die ich vorstellen möchte, handelt es sich um Bildungsstandards Sprachen: Leitfaden für den kompetenzorientierten Sprachenunterricht an Luxemburger Schulen (Kühn 2008). Im Vorwort dieser Publikation schreibt die damalige Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres, dass es Ziel dieses Leitfadens sei, den Sprachenunterricht in Luxemburg kompetenzorientiert und zielgerichtet zu beschreiben. Sie führt weiter an, dass die in der Veröffentlichung präsentierten Ansätze sich auf das Konzept der Mehrsprachigkeit beziehen und die neusten didaktischen und methodischen Vorgehensweisen, die in internationalen Studien wie PISA oder PIRLS gefordert werden, aufgreifen würden. Peter Kühn, Leiter des Instituts Deutsch als Fremdsprache an der Universität Trier erklärt (2008: 16-18), dass [a]uf Grund der besonderen Sprachensituation in Luxemburg ist es müßig und vergebliche Liebesmüh, die verschiedenen Sprachen mit linguistischen Begriffen wie „Muttersprache“, „Fremdsprache“, „Erstsprache“, „Zweitsprache“, „Herkunftssprache“, „Familiensprache“, „Begegnungssprache“, „Partnersprache“, „Umgebungssprache“ usw. „einfangen“ zu wollen. Dies gilt besonders auch für das Deutsche, das auf Grund der Sprachverwandtschaft zum Luxemburgischen keine Fremdsprache ist. Es ist jedoch auch keine Zweitsprache, da das Deutsche in Luxemburg nicht als kommunikative Verkehrssprache gebraucht wird. Allerdings wird das Deutsche via Medien stark rezipiert. Seine besondere Bedeutung hat das Deutsche als Alphabetisierungssprache und als Kommunikationssprache in der Schule, besonders auch in den Sachfächern. Dem Deutschunterricht fällt bis zur neunten Klasse die Aufgabe zu, Kompetenzen zu vermitteln, die normalerweise im Muttersprachenunterricht erworben werden. Im Deutschen werden zum einen sprachliche Handlungskompetenzen vermittelt, zum anderen hat das Deutsche auch grundlegende Bedeutung für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder. Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 199 In diesem Abschnitt verdeutlicht Peter Kühn die Komplexität der luxemburgischen Sprachensituation und insbesondere die der deutschen Sprache in Luxemburg. Er behauptet, dass es fast unmöglich sei, den Status und die Rolle der deutschen Sprache in Luxemburg zu kategorisieren. Nach Kühn (2008: 16-18) stellt Deutsch in Luxemburg durch seine Nähe zum Luxemburgischen keine Fremdsprache dar. Da es als Unterrichts- und beliebte Mediensprache benutzt wird, aber in der Alltagskommunikation nicht als lingua franca fungiert, sieht er es auch nicht als Zweitsprache an. Da Deutsch für den Großteil der Luxemburger auch nicht die Sprache von Zuhause darstellt, kann es auch nicht als Erstsprache angesehen werden. Kühn (2008: 16-18) zählt alle verschiedenen Funktionen des Deutschen in Luxemburg auf und erklärt, dass man Deutsch in Luxemburg nicht kategorisieren kann. Des Weiteren zeigt er auf, dass die Kategorien, mit denen gemeinhin das Nebeneinander und Nacheinander von Sprachen und Sprachenunterricht gefasst werden, untauglich sind, um die Luxemburger Situation zu erfassen. 5.3. Charles Berg & Christiane Weis (2005): Sociologie de l’enseignement des langues dans un environnement multilingue Die zweite Veröffentlichung, die ich in diesem Kapitel vorstellen möchte, ist jene von Charles Berg und Christiane Weis (2005) Sociologie de l’enseignement des langues dans un environnement multilingue . In dieser gemeinsamen Veröffentlichung des Unterrichtsministeriums mit dem Zentrum für Studien über Jugendliche CESIJE stellen die zwei Wissenschaftler den nationalen Bericht zur Ausarbeitung von Luxemburgs Sprachenunterricht vor. Ziel dieses Berichts war es, dem Europarat die damalige Situation Luxemburgs vorzustellen, die sprachliche Zusammenstellung des Landes zu beleuchten sowie die Unterrichtspolitik zu erläutern (Berg & Weis 2005: 7). In diesem Bericht beziehen beide Wissenschaftler keine klare Stellung in Bezug auf den Sprachenunterricht in Luxemburg. In der Sektion „Sprachen und Mehrsprachigkeit in Lehrplanausarbeitung“ (Berg & Weis 2005: 74) sprechen sie bei der Behandlung des Themas Sprachenunterricht in Luxemburg von Zweitspracherwerb, sowohl für Deutsch wie Französisch. Sie führen aus, dass Zweitsprachen in der Grundschule eingeführt werden - dies lässt darauf schließen, dass die Erstsprache vor dem Schuleintritt erworben wird: In der Grundschule werden die Zweitsprachen eingeführt. Deutsch ist die Sprache, in der Kinder eingeschult werden. Das Erlernen des Französischen beginnt im zweiten Grundschuljahr. (Berg & Weis 2005: 74-75) 200 Melanie Wagner Nach dieser kurzen Einführung, in der erklärt wird, dass Deutsch Alphabetisierungssprache ist und Französisch im zweiten Grundschuljahr eingeführt wird, stellen sie die Art und Weise vor, wie die Sprachen gelehrt werden: Deutsch Deutsch ist die Sprache, in der SchülerInnen unterrichtet werden. Der Kontakt mit der deutschen Sprache wird auf progressive Art und Weise eingeführt. Die Lehrperson muss sich die unterschiedlichen Kompetenzen der SchülerInnen vor Augen halten. In dieser ersten Phase sind SchülerInnen ständig hin- und hergerissen zwischen ihren sprachlichen Bedürfnissen und ihrer Fähigkeit sich auszudrücken. Auf der einen Seite erlaubt die deutsche Sprache SchülerInnen Kontakt mit einer Fremdsprache, auf der anderen fungiert Deutsch als Unterrichtssprache zum Lesen und Schreiben. Deutsch ist nicht nur Alphabetisierungssprache, es ist auch noch Unterrichtssprache für eine Reihe anderer Fächer. (Berg & Weis 2005: 74-75) 12 In diesem Absatz erklären die Autoren die doppelte Funktion der deutschen Sprache in luxemburgischen Schulen: Deutsch ermöglich den Kontakt mit einer Fremdsprache, ist jedoch auch Alphabetisierungssprache. Diese Idee, dass Deutsch eine Fremdsprache sei, wird auch im Text über Französisch weitergeführt, wo die Autoren schreiben, dass im zweiten Grundschuljahr die zweite Fremdsprache Französisch eingeführt werde (Berg & Weis 2005: 74-75). Die Tatsache, dass die beiden Autoren im nationalen Bericht über Sprachpolitik im Unterricht erst von Zweitspracherwerb sprechen und später dann im Fall der gleichen Sprachen von Fremdsprachenerwerb, zeigt, wie schwierig es zu sein scheint, Sprachen in Luxemburg zu kategorisieren und somit auch klare Methoden für den Sprachenunterricht zu definieren. 5.4. Kloertext / 03 / 04 / 2011: Villsproochegkeet zu Lëtzebuerg Diese Hypothese der schwierigen Klassifikation der Sprachen in Luxemburg wird nochmals bei der Fernsehdiskussionsrunde Kloertext 13 um das Thema „Mehrsprachigkeit in Luxemburg“, ausgestrahlt am 3. April 2011 im nationalen Fernsehen, bestätigt. Eine der Gäste war die Schulinspektorin Jeanne Letsch, die die Frage der Moderatorin Caroline Mart nach der Beschaffenheit des Deutschunterrichts wie folgt beantwortete: C. M.: Wie wird Deutsch unterrichtet? Als Fremdsprache, oder etwas dazwischen, so wie Französisch oder trotzdem anders? Wie kann man das definieren? 12 Originaltext auf Französisch. Übersetzung M. W. 13 Kloertext: Villsproochegkeet zu Lëtzebuerg (gesendet am / 03 / 04 / 2011 auf dem nationalen Fernsehsender RTL). Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 201 J. L.: Es ist nicht mehr so wie früher, früher sind wir davon ausgegangen, dass wir fast alle Luxemburgisch konnten und Deutsch per se eigentlich verstanden und auch recht schnell nachsprechen konnten. Heutzutage wird es als Zweitsprache unterrichtet, aber nicht als Fremdsprache. Französisch wird als Fremdsprache unterrichtet. Zweitsprache auch dadurch, und das dürfen wir nicht vergessen, dass es bei uns Alphabetisierungssprache ist. Wir haben ja nicht unsere Muttersprache als Alphabetisierungssprache. Laut Jeanne Letsch wird Deutsch in Luxemburg als Zweit- und nicht als Fremdsprache unterrichtet, da es Alphabetisierungssprache ist - es bleibt jedoch Zweitsprache, da es nicht die Erstsprache der meisten SchülerInnen ist. Die Schulinspektorin differenziert zwischen Deutsch und Französisch und unterstreicht, dass Französisch, anders als Deutsch, als Fremdsprache unterrichtet würde. 6. Rolle und Sicht der LehrerInnen Nach der vorangegangenen Analyse verschiedener Textquellen, die allesamt wenig Aufschluss über die Methodik des Deutschunterrichts in Luxemburg geben, möchte ich nun zu der Analyse der bei der LehrerInnenumfrage gesammelten Daten übergehen. 6.1. Datenanalyse Da der methodische Teil im Kapitel von Davies behandelt wird, werde ich in diesem Kapitel nur ein paar Informationen über die Informanten liefern. In Luxemburg wurden zum Zweck der Fragebogenerhebung alle Gymnasien angeschrieben und die Fragebogen an diese verschickt. Im Jahr der Datenerhebung (2011) gab es in Luxemburg 35 Gymnasien 14 und 50 LehrerInnen schickten den Fragebogen ausgefüllt zurück. Details über die Informanten finden sich in Tabelle 2: Männer Frauen Unter 30 30-39 40-49 50-65 Keine Angabe 16 34 6 15 14 13 2 Tab. 2: Informationen zu den LehrerInnen 14 MEN (2011) Liste der luxemburgischen Gymnasien, http: / / www.men.public.lu/ ministere/ ecoles_services_externes/ 110504_lycees_publics.pdf. 202 Melanie Wagner Um einen Eindruck in die Sicht der LehrerInnen über die Art des Deutschunterrichts in Luxemburg zu bekommen, wurde ihnen folgende Frage gestellt: Wie wird Deutsch Ihrer Meinung nach an luxemburgischen Gymnasien unterrichtet? ( ) als Fremdsprache; ( ) als Erstsprache; ( ) als Zweitsprache; ( ) anders. Die Uneinigkeit darüber, wie Deutsch in Luxemburg unterrichtet werde und zu kategorisieren sei, die sich bereits nach der Dokumentenanalyse herauskristallisiert hat, spiegelt sich in den Resultaten der LehrerInnenbefragung wider. Anzahl der LehrerInnen Prozentsatz Fremdsprache 11 22 % Erstsprache 17 34 % Zweitsprache 11 22 % Anders 11 22 % Total 50 100 % Tab. 3: Kategorisierung der deutschen Sprache in Luxemburg durch die LehrerInnen Wie man aus Tabelle 3 herauslesen kann, behaupten 11 LehrerInnen (22 %) Deutsch werde in Luxemburg als Fremdsprache unterrichtet, 17 LehrerInnen (34 %) sehen den Unterricht als Erstsprachenunterricht und 11 LehrerInnen (22 %) sind eher der Meinung, Deutsch würde als Zweitsprache unterrichtet. Für 11 LehrerInnen (22 %) jedoch hat der Deutschunterricht eine noch andere Form, die entweder eine Mischung aus den eben genannten Formen ist oder sich an der SchülerInnengruppe orientiert. In Tabelle 4 wurden die von den LehrerInnen gegebenen Begründungen für ihre Kategorisierung des Deutschen an luxemburgischen Schulen gruppiert. Anhand dieser sieht man, dass für LehrerInnen, die den Deutschunterricht als Fremdsprachenunterricht sehen, die Tatsache, dass Deutsch nicht DIE Sprache ist, mit der SchülerInnen Zuhause aufwachsen, von Relevanz ist. Außerdem weisen die LehrerInnen darauf hin, dass viele SchülerInnen das angestrebte „Muttersprachlerniveau“ nie erreichen, da Deutsch eben nicht ihre Muttersprache sei, auch wenn sie Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache ist. Für die LehrerInnen, die den Deutschunterricht als Erstsprachenunterricht sehen, spielt gerade die Tatsache, dass Deutsch Alphabetisierungssprache ist, eine Rolle in der Kategorisierung sowie die in ihren Augen klare vorhandene Vorgabe in den Lehrplänen. Die LehrerInnen, die eine Kategorisierung schwierig fanden, machten dies teilweise am Publikum fest und erklärten, dass ihr Unterricht Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 203 adressatenspezifisch sei und von SchülerInnengruppe zu SchülerInnengruppe angepasst würde. Für andere war es von Relevanz, dass Teile des Unterrichts (wie Grammatik) eher wie bei einer Fremdsprache, und andere (wie Wortschatz und Satzbau) wie bei einer Erstsprache vermittelt würden. Fremdsprache Erstsprache Zweitsprache Anders Großteil der SchülerInnen erlangt „Muttersprachniveau“ nicht in der Grundschule Deutsch ist nicht die Muttersprache Deutsch ist die erste Sprache, die SchülerInnen in der Schule lernen, doch mussten viele schon vorher Luxemburgisch lernen Alphabetisierungssprache Erlernen der Sprache auf Muttersprachlerniveau Vieles muss nach „Sprachgefühl“ erarbeitet werden klare Vorgabe der Lehrpläne, dass Deutsch als Erstsprache zu unterrichten ist traditionsbedingt Muttersprache ist selten Deutsch Deutsch ist Alphabetisierungs- und Unterrichtssprache hoher Medienkonsum auf Deutsch unterschiedlicher Unterricht nach Schulart Mischung zwischen Erstsprache und Fremdsprache: Grammatik teilweise wie bei einer Fremdsprache, Wortschatz und Satzbau oft als bekannt vorausgesetzt adressatenspezifisch Tab. 4: Begründungen für die Kategorisierung des Deutschen an luxemburgischen Schulen Dies leitet dann auch zu einem letzten Punkt über, den ich in diesem Kapitel ausführen möchte. 6.2. Sprachbuch und Arbeitsheft für den Deutschunterricht in Luxemburg Im Jahr 1984 wurde das Sprachbuch und Arbeitsheft für den Deutschunterricht in Luxemburg von einer Gruppe von DeutschlehrerInnen an luxemburgischen Gymnasien ausgearbeitet und herausgegeben - 2005 wurde eine Neuauflage veröffentlicht. In ihrem Vorwort weisen die AutorInnen darauf hin, dass es dem Deutschunterricht in Luxemburg an einem Lehrwerk fehlt, das speziell für den luxemburgischen Markt konzipiert wurde und nicht für den Deutschunterricht in Deutschland. Doemer et al. (2005: III ) erklären, dass 204 Melanie Wagner die selbstverständliche Voraussetzung dieser (deutschen) Lehrbücher, Deutsch als „Muttersprache“ zu unterrichten, für Luxemburg ebenso wenig zutreffend [sei]. Die Voraussetzungen, die ein Luxemburger Kind in den postprimären Unterricht mitbringt, können nur von einem Luxemburger Schulbuch berücksichtigt werden, das auf langjähriger Unterrichtspraxis gründet. In diesem, für Luxemburg konzipierten, Lehrwerk soll vor allem grammatisches Wissen kontrastiv zum Luxemburgischen vermittelt und geübt werden. Die Autoren weisen darauf hin, und dies bestätigt den vorher gewonnenen Eindruck einer Orientierung an der deutschländischen Standardsprache, dass als Grundlage der Grammatik die Dudengrammatik als Norm gedient habe. Zusätzlich dazu sollen luxemburgisch-deutsche Interferenzen korrigiert und das Sprachbewusstsein gefördert werden. Auch in diesem Lehrwerk wird der Begriff der Plurizentrik nicht aufgegriffen und es wird in keiner Weise auf eine mögliche Varietät des luxemburgischen Standarddeutschen eingegangen. Im Gegenteil - Einflüsse des Luxemburgischen ins Deutsche werden als Interferenzen und diese als Fehler gesehen, da sie nicht der deutschländischen Standardnorm entsprechen (vgl. Clyne 1992: 132). 7. Fazit In diesem Kapitel habe ich versucht, die Natur des Deutschsprachenunterrichts in Luxemburg zu beleuchten. Nach der Analyse der Lehrpläne, einer Auswahl von Dokumenten zur Unterrichtsplanung und -politik sowie einer LehrerInnenbefragung hat sich herauskristallisiert, dass es keinen Konsens bzw. keine eindeutige Antwort auf die Frage des didaktischen Ansatzes oder der Methode des Deutschunterrichts gibt. Es ist nicht klar, ob Deutsch in Luxemburg als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache unterrichtet werden soll. Die Beantwortung dieser Frage wird einerseits durch die unterschiedlichen Rollen und Funktionen, die der deutschen Sprache im luxemburgischen Klassenzimmer zuteilwerden, erschwert. Andererseits beeinträchtigt diese Unklarheit aber auch den Deutschunterricht. LehrerInnen sind bzgl. dieser Frage geteilter Meinung und wählen teilweise den methodischen Ansatz nach der Zusammensetzung der zu unterrichtenden Klasse aus oder kombinieren verschiedene Ansätze. Die disparaten Lehrereinschätzungen geben Zeugnis dieser „verzwickten“ Situation. Die angeführten Argumente für „Erstsprache“, „Zweitsprache“, usw. dokumentieren jene unterschiedlichen soziolinguistischen resp. spracherwerbsbezogenen Sachverhalte, die für die einzelnen LehrerInnen in der Luxemburger Konstellation (unterschiedlich) relevant sind. Von Lehrplänen oder Dokumenten zur Unterrichtsplanung und -politik werden sie in ihrem Handeln wenig unterstützt. Deutsch im gymnasialen Unterricht: Das Beispiel Luxemburg 205 Diese bestehende Unklarheit bzw. Uneinigkeit bzgl. der Lehrmethode zeigt vor allem, dass die gängigen Kategorisierungen von „Erst-“, „Zweit-“ und „Fremdsprache“ in Luxemburg nicht greifen und in diesem Kontext überdacht werden müssen. Diese komplexe Problematik des Status des Deutschen in Luxemburg führt außerdem dazu, dass Luxemburgs Konzeptualisierung als Halbzentrum überdacht werden sollte - stellt Luxemburg, wo Deutsch hauptsächlich Schuljedoch weder Gesellschaftsnoch Erstsprache ist, heutzutage tatsächlich noch ein Halbzentrum im plurizentrischen Modell dar? 8. Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich et al. (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin: de Gruyter. Berg, Charles & Christiane Weis (2005): Sociologie de l’enseignement de langues dans un environnement multilingue. Rapport national en vue de l’élaboration du profil des politiques linguistiques éducatives luxembourgeoises. 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Entdeckungszusammenhang und theoretische Positionierung Der vorliegende Beitrag berichtet über das Forschungsprojekt „Das österreichische Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“, das vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert (Projekt Nr. P 23 913-G18) und von September 2012 bis April 2015 durchgeführt wurde. Der folgende Bericht gibt - der Logik des Forschungsprozesses folgend - zunächst eine Darstellung des Entdeckungszusammenhangs der Studie. Dem folgt eine explizite Formulierung der im Projekt verfolgten Forschungsfragen und des Forschungsdesigns, eine Darstellung der im Projekt verwendeten triangulierend eingesetzten Forschungsmethoden sowie der im Projekt erhobenen Datensätze. Schließlich folgt eine Präsentation eines Ausschnitts der bisher vorliegenden Ergebnisse. Ein Anlass für das Projekt war die Tatsache, dass die deutsche Sprache seit mehr als einem Vierteljahrhundert als plurizentrische Sprache konzeptualisiert wird (Kloss 1978, Clyne 1995a, 2005, Ammon 1995, 2005, Ammon et al. 2004) und dass dieses Konzept im Bereich DaF mittlerweile weit verbreitet ist, auch wenn die Umsetzung in die Praxis noch zu wünschen lässt. Gleichzeitig weiß man wenig darüber, inwiefern dieses Konzept im Muttersprachenunterricht 208 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr für Deutsch, oder präziser gesagt im Unterricht des Deutschen als Unterrichts- und Bildungssprache, Beachtung findet und umgesetzt wird und, allgemeiner formuliert, wie innersprachliche Variation im Unterricht thematisiert wird (z. B. Elspass 2006). Befunde zum Prestige des österreichischen Deutsch in der Auslandsgermanistik / im Deutsch-als-Fremdsprache (DaF)-Bereich zeigen zudem (Ransmayr 2006), dass die österreichische Varietät im Ausland häufig nicht als gleichwertig mit dem deutschländischen Deutsch, sondern vielmehr als Nonstandard- und dialektale Varietät wahrgenommen wird. Ein zweiter Zugang zum Thema führt über die Identitätsforschung: Eine Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Literatur sowie auch des politischen Alltags zeigt, dass der österreichischen Varietät der deutschen Sprache - dem „österreichischen Deutsch“ - eine zentrale Rolle für die Konstruktion österreichischer Identität / en 1 zukommt. Das so genannte Protokoll Nr. 10, durch das beim EU -Beitritt Österreichs 1995 23 Austriazismen im EU -Grundrecht den 23 bundesdeutschen Entsprechungen gleichgestellt wurden, oder der „Marmeladekrieg“, in dem 2003 eine große Tageszeitung dagegen kampagnisierte, dass durch die Marmelade-Konfitüre-Verordnung der EU die Warenbezeichnung „Marmelade“ in Österreich verboten wurde, mögen als Beispiele aus der (Identitäts)Politik dafür genannt werden (für Details siehe de Cillia 1998, de Cillia 2006, de Cillia & Wodak 2006, Wodak et al. 2009, de Cillia 2015). Auf der anderen Seite gibt es Hinweise in der wissenschaftlichen Literatur auf ambivalente Einstellungen der ÖsterreicherInnen gegenüber dem österreichischen Deutsch bzw. auf sprachliche Minderwertigkeitsgefühle der ÖsterreicherInnen (Clyne 1995b, Moser 1999, Muhr 1989) sowie Hinweise auf eine Exonormorientierung von PädagogInnen bei der Korrektur von Schülertexten (Ammon 1995, Heinrich 2010, Legenstein 2008). Diese Ambivalenz der Spracheinstellungen könnte - angesichts der zentralen Rolle der Schule und der Lehrpersonen bei der Vermittlung von Sprachnormen, Spracheinstellungen und Varietätenwissen (Ammon 2005) - ihren Grund in einer mangelhaften Thematisierung der Varietätenfrage in den Schulen und in den an der Außennorm orientierten Lehrerurteilen haben. Darüber Aussagen zu treffen, war allerdings bisher nicht möglich, da es außer einer kleinen Studie von Rastner (1997) und zwei Diplomarbeiten (Legenstein 2008 und Heinrich 2010) kaum Studien zur Rolle des österreichischen Deutsch und zum Umgang mit Varietäten des Deutschen in den österreichischen Schulen gab. 1 Identitäten wird im Plural verwendet, da die nationale Identitätszugehörigkeit nach sozialen, regionalen, individuellen etc. Faktoren unterschiedlich konstruiert wird (vgl. de Cillia 2015, Wodak et al. 2009). Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 209 In der Theoriebildung positioniert sich das Projekt einerseits varietätenlinguistisch in der Theorie der plurizentrischen Sprachen. Wir gehen davon aus, dass es für die vorliegende Fragestellung sinnvoll ist, Deutsch als plurizentrische Sprache mit drei gleichwertigen Varietäten „österreichisches Deutsch“, „deutsch(ländisch)es Deutsch“ und „Schweizer Standarddeutsch“ zu konzeptualisieren (Clyne 1995a, 2005, Ammon 1995) und dass sich dieser Zugang als beschreibungs- und auch erklärungsadäquat für unsere Fragen erweist. Es geht in erster Linie um die Standardsprache und um den schulischen Kontext, dessen Rahmenbedingungen staatliche Regelungen abstecken (Lehrpläne, Studienpläne, staatlich approbierte Lehrmaterialien etc.). Andererseits positionieren wir uns in einer einem integrativen Konzept von Sprach / en / unterricht verpflichteten Mehrsprachigkeitsforschung, die innere Mehrsprachigkeit inkludiert (de Cillia 2013): Die Unterrichtssprache Deutsch ist nicht nur Erstsprache von SchülerInnen, sondern für ca. ein Viertel der SchülerInnen in Österreich, für mehr als die Hälfte in der Bundeshauptstadt Wien L2 oder L3 (Prozentsatz der SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch in Pflichtschulen 2012 / 13: Österreich 25,2 %; Wien 58,4 %). Der Deutschunterricht ist demgemäß auch Zweit- oder Drittsprachenunterricht, was sich in didaktischen Konzepten, zumindest aber in der Analyse von Unterricht und Unterrichtsmaterialien niederschlagen sollte. 2. Bestandsaufnahme, Forschungsfragen und Hypothesen Ausgehend von einer umfassenden Analyse der bereits oben erwähnten wissenschaftlichen Literatur zum Thema Plurizentrik und 11 Interviews mit ExpertInnen der Deutschdidaktik, die als Vorstudie durchgeführt wurden, wurden Forschungslücken identifiziert bzw. Forschungsfragen und Hypothesen formuliert. Es ging beim Literaturstudium zunächst um Arbeiten, die sprachliche Normen, Normkonzepte, Plurizentrik und soziolinguistische Variation in Lehrplänen, in der PädagogInnenaus- und Weiterbildung und in der Unterrichtspraxis bzw. in Lehrwerken für Deutsch als Muttersprache / Bildungssprache thematisierten. Diese erste Bestandsaufnahme zeigte: Was den DaF-Unterricht betrifft, diagnostiziert Hägi (2006) eine meist noch unzulängliche Umsetzung des plurizentrischen Konzepts in den DaF-Lehrbüchern und Ransmayr (2006), dass das österreichische Deutsch vielfach nicht als Standardvarietät wahrgenommen wird. Zwei vorliegende Diplomarbeiten zum Deutschunterricht an österreichischen Schulen ergaben, dass viele Lehrende die Meinung vertreten, dass es kein österreichisches Deutsch gäbe (Legenstein 2008) und dass eine Unsicherheit bei den Lehrenden in Bezug auf die eigene Varietät besteht (Heinrich 2010). Aus der Bestandsaufnahme und der ExpertInnen-Befragung wurde die Hypothese abge- 210 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr leitet, dass die gängigen Lehrwerke für den DaF- / Deutsch-als-Zweitsprache- (DaZ)-Unterricht weitgehend monozentrisch konzipiert sind, was ebenso für den Deutsch-als-Muttersprache-(DaM)-Bereich vermutet werden konnte. Eine Analyse der gängigen Lehrwerke sollte diese Frage beantworten bzw. diese Hypothese überprüfen. Vor dem Projekt lag keine Analyse des Aspekts der sprachlichen Variation (österreichisches Deutsch / Varietätenbewusstsein / soziolinguistische Variation) in den österreichischen Lehr- und Studienplänen vor. Die Bestandsaufnahme legte die Hypothese nahe, dass Sprachreflexion und Sprachbewusstsein hinsichtlich plurizentrischer und anderer soziolinguistischer Variation in den Lehrplänen für österreichische Schulen nicht eindeutig festgehalten sind. Eine Analyse der Lehrpläne der in Frage kommenden Schultypen sollte daher die Forschungsfrage beantworten, ob sprachliche Variation (unterschiedliche Normkonzepte, plurizentrische / plurinationale und andere soziolinguistische Varietäten) in den Lehr- und Studienplänen berücksichtigt wird. Ähnliche Forschungsfragen (Fragen wie die nach der Konzeptualisierung des Deutschen, nach den zugrundeliegenden Normkonzepten, nach der Repräsentation und Thematisierung von Varietäten) stellten sich für den Bereich der PädagogInnenaus- und -weiterbildung und für die Unterrichtspraxis des Deutschen als Muttersprache / Bildungssprachenunterrichts. Zu Beginn des Projekts lagen hierzu ebenfalls noch keine Daten vor. In einem zweiten Teil des Forschungsprojekts wurden Daten mittels unterschiedlicher Methoden der Befragung erhoben. Die dort gestellten Fragen bezogen sich auf die Konzeptualisierung von Variation im Deutschen und die von LehrerInnen und SchülerInnen vertretenen Normkonzepte, das Wissen über Plurizentrik bei LehrerInnen / SchülerInnen, Spracheinstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen und Sprachloyalität der eigenen Varietät gegenüber, und schließlich die Verwendung von Austriazismen / Deutschlandismen in der Eigenwahrnehmung der Befragten. Das sollte der Überprüfung der Hypothese dienen, ÖsterreicherInnen würden die eigene Varietät nicht als vollwertig einschätzen. 3. Forschungsdesign, Forschungsmethoden und Datencorpora Um einen möglichst umfassenden Blick auf das untersuchte Forschungsfeld zu bekommen, wurden im Sinne einer Daten- und Methodentriangulierung unterschiedliche Datenerhebungs- und dementsprechende Auswertungsmethoden eingesetzt (siehe Tab. 1). Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 211 Datenerhebung • Daten- und Methodentriangulation Datenmaterial • Quellenstudium • Qualitative und quantitative Methoden der Befragung (Fragebogen, Interview, Gruppendiskussion) • Teilnehmende Unterrichtsbeobachtung Datenauswertung • Statistische Auswertung ( SPSS ) • Inhaltliche und diskursanalytische / gesprächsanalytische Interpretation Tab. 1: Empirische Erhebung Für die Analyse von Lehrplänen, Studienplänen und Lehrveranstaltungen in den Institutionen der LehrerInnenausbildung wurde das Studium der entsprechenden Quellen gewählt, die diskursanalytisch ausgewertet wurden. Ebenso wurde mit den Lehrbüchern verfahren, bei denen auf Methoden zur Lehrbuchanalyse zurückgegriffen wurde bzw. solche erst entwickelt werden mussten. Weitere große Untersuchungsfelder betrafen Wissen und Einstellungen zur sprachlichen Variation sowie die Selbstwahrnehmung der Sprachverwendung unter LehrerInnen und SchülerInnen. Auch Fragen des Umgangs mit Variation in der deutschen Sprache in der Unterrichtspraxis (Unterrichtskonzepte zu sprachlicher Variation, Umgang mit dem Kodex im Unterricht, Korrekturverhalten der LehrerInnen) und in der Lehrerausbildung waren dabei von Interesse. Für diese großen Fragenkomplexe kamen unterschiedliche Methoden der Befragung zum Einsatz: eine große quantitative Fragebogenerhebung bei LehrerInnen und SchülerInnen in ganz Österreich (s. u.), die deskriptiv und inferenzstatistisch (Berechnung von Korrelationen, Mittelwertvergleiche mit chi2-Tests, T-Tests, U-Tests, Kruskal Wallis-Tests) ausgewertet wurde, sowie Interviews mit LehrerInnen und je eine Gruppendiskussion mit LehrerInnen und SchülerInnen (im Sinne einer kommunikativen Validierung nach Vorliegen der ersten Ergebnisse der quantitativen Befragung eingesetzt), die diskursanalytisch und gesprächsanalytisch ausgewertet wurden. Teilnehmende Beobachtung in Schulen ergänzte den qualitativen Datensatz. Die einzelnen Datensätze wurden am Ende des Projekts im Sinne der Triangulation aufeinander bezogen und auf Übereinstimmungen und Widersprüche, offene Fragen hin abgeglichen. Die erhobenen Datensätze (siehe Tab. 2) umfassen also die Deutsch-Lehrpläne von Volksschule, Sekundarstufe I und II , die Studienpläne für die LehrerInnenausbildung Deutsch der Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, die je drei am häufigsten verwendeten Deutschlehrbücher auf Grundstufe, Sekundarstufe I und II , eine große Fragebogenerhebung bei SchülerInnen (Sek. II , 212 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr n=1253) und LehrerInnen ( GS , Sek. I+ II , n=164) in allen Bundesländern, 21 Interviews mit LehrerInnen aller Schultypen aller Bundesländer, teilnehmende Beobachtung in 7 Schulklassen und je eine Gruppendiskussion mit LehrerInnen und SchülerInnen. Lehrpläne Volksschule, Sekundarstufe I und II Studienpläne (LehrerInnenausbildung Deutsch) der Universitäten und Pädagogischen Hochschulen Lehrveranstaltungen exemplarisch an PH s und Universitäten im Studienjahr 2012 / 2013 Deutschlehrbücher Grundstufe, Sekundarstufe I und II Fragebögen SchülerInnen (Sek. II ), n=1253 und LehrerInnen ( GS , Sek. I+ II ), n=164 aller Bundesländer Interviews 21 mit LehrerInnen aller Schultypen aller Bundesländer Teiln. Beobachtung 7 Schulklassen Gruppendiskussion 1 LehrerInnengruppe, 1 SchülerInnengruppe Tab. 2: Analysierte Datensätze Im vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse der Lehrplananalyse, der Analyse von Studienplänen und Lehrbüchern präsentiert sowie ein Ausschnitt der Fragebogenerhebung, der durch Daten aus den Gruppendiskussionen und Interviews ergänzt wird. Eine ausführliche Darstellung der Projektergebnisse wird voraussichtlich 2018 in einer Buchpublikation vorliegen. 4. Dokumentenanalyse: Lehrpläne, Studienpläne und Lehrbücher Im Projekt wurden zunächst die zum Zeitpunkt des Projektbeginns gültigen Lehrpläne für die Volksschule, die Sek. I (Hauptschule, Neue Mittelschule (NMS), AHS Unterstufe), die Sek. II ( AHS Oberstufe Pflichtfach Deutsch, Wahlpflichtfach Deutsch und DaZ), der BAKIP (Bundeslehranstalt für Kindergartenpädagogik) und der Bildungsplan-Anteil Sprache des Bildungsplans für elementare Bildungseinrichtungen analysiert. Weiters wurden die Studienpläne für Deutsch und exemplarisch Lehrveranstaltungen zum Thema sprachliche Variation des SS 2012 und WS 2012 / 13 in den Institutionen der LehrerInnenbildung einer Analyse unterzogen. Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 213 4.1. Lehrplananalyse Ausgehend von der Hypothese, dass Sprachreflexion und Sprachbewusstsein hinsichtlich plurizentrischer und anderer soziolinguistischer Variation in den Lehrplänen für österreichische Schulen nicht eindeutig festgehalten sind, wurden nach Sichtung der zum Thema Lehrplananalyse bereits vorhandenen Literatur (u. a. Griesmayer 2004, Legenstein 2008, Heinrich 2010) die Lehrpläne systematisch analysiert. Dabei sollten lehrplanspezifische Forschungsfragen beantwortet werden, wie z. B., ob Fragen sprachlicher Standards und Normen bzw. die Kenntnis der länderspezifischen Varietät(en) als Lehrziel in den Lehrplänen verankert sind, welche Sprachauffassung den Lehrplänen zugrunde liegt, ob soziolinguistische Variation als Lehrziel in den Lehrplänen verankert ist, ob das österreichische Deutsch oder andere nationale Varietäten der deutschen Sprache implizit oder explizit erwähnt werden und Begriffe wie „Varietät“, „Variante“, „Plurizentrik“, „Austriazismus“ etc. Erwähnung finden. Im Lehrplan der Volksschule für das Fach Deutsch (Stand Juni 2003 2 ) finden sich weder Bezüge zum österreichischen Deutsch oder anderen Standardvarietäten der deutschen Sprache noch zur Thematik der Plurizentrik. In allen drei Lehrplänen der Sek. I ( HS , NMS , AHS ) ist der Umgang mit Varietäten unsystematisch: Es ist von Standardsprache, Herkunftssprache, Muttersprache die Rede, diese werden jedoch nicht definiert. Wenn in den Lehrplänen von Normen die Rede ist - meist werden die Ausdrücke „Sprach- und Schreibnormen“, „Sprach- und Schreibrichtigkeit“, „richtig“, und „sprachrichtig“ (Lehrplan VS : 1, 2, 4, 9, 10, 11, 14, 19, 20, 24, 26, Lehrplan HS : 1, 2, 3, 4, 5, 10, Lehrplan NMS : 24, 25, 26, 27, 28, 33, Lehrplan AHS Sek. I: 1, 2, 3, 4, 8, Lehrplan AHS Sek. II : 1, 2, 4, 6, Lehrplan AHS Sek. II , Lehrplan BAKIP : 35, 38, 81) gebraucht - ist es unklar, worauf sie sich beziehen. So wird z. B. im Abschnitt „Besondere didaktische Grundsätze, wenn Deutsch Zweitsprache ist“ vorgeschrieben, dass Schülerinnen und Schüler „bestimmte Sprachnormen“ (Lehrplan AHS Sek. I: 3) einzuhalten haben, was eine sehr vage und daher eine eigentlich sehr unbestimmte Anweisung ist; ähnlich verhält es sich mit „der richtigen Aussprache“, die im selben Kapitel zu finden ist. Es wird an keiner Stelle erläutert, welche Norm gemeint ist; so bleibt es letztlich den Lehrenden selbst überlassen, eine Norm zu erfinden. Immer wieder wird die Standardsprache genannt, jedoch ohne, dass dabei Bezug auf den Kodex genommen wird. Die österreichische Standardvarietät sowie das plurizentrische Konzept oder ähnliche, diesem Thema verwandte Begrifflichkeiten werden nicht genannt. 2 Der VS-Lehrplan aus dem Jahr 2003 war der zum Zeitpunkt der Durchführung des Projekts gültige und heute noch aktuelle Lehrplan. 214 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr Der Lehrplan für den Gegenstand Deutsch AHS Oberstufe (Stand 2008 3 ) erwähnt zwar an einer Stelle explizit „österreichische Standardsprache“ („verschiedene sprachliche Register einschließlich der - österreichischen - Standardsprache beherrschen“, Lehrstoff/ mündliche Kompetenz / Sprechsituationen und Sprechanlässe / 7. und 8. Klasse: 3). Abgesehen von diesem Hinweis bleibt aber auch dieser Lehrplan eher vage: Weder andere Standardvarietäten noch das Konzept der Plurizentrik des Deutschen werden erwähnt, noch werden nicht-standardsprachliche Varietäten näher erläutert. Die Lehrpläne der Sek. II bieten ebenfalls weder ein theoretisches noch ein praktisches richtungsweisendes Arbeitsgerüst zur Orientierung. Ein ähnliches Bild ergibt im Übrigen der BAKIP -Lehrplan. Der Bildungsplan-Anteil zur sprachlichen Förderung in elementaren Bildungseinrichtungen schließlich legt großen Wert auf Respekt gegenüber und Förderung von Erstsprachen von Kindern, was sowohl andere Erstsprachen als Deutsch, als auch Dialekt und Umgangssprache betrifft. Der plurizentrische Aspekt von Variation wird auch hier nicht thematisiert. Zusammenfassend ist festzustellen, dass den Deutsch-Lehrplänen an österreichischen Schulen ein monozentrisches Konzept zugrunde liegt, eine plurizentrische Sichtweise fremd ist und der Terminus „plurizentrisch“ nicht einmal bekannt sein dürfte. Varietäten werden zwar thematisiert (als Mundart ( VS ), Dialekt und Umgangssprache) - allerdings unsystematisch. Der starken Betonung und häufigen Erwähnung des Normbegriffs („Sprach- und Schreibnormen“, „Sprach- und Schreibrichtigkeit“, „richtig“, „sprachrichtig“) auf der einen Seite stehen besonders vage Aussagen über das Bezugssystem dieser Norm, den Kodex, gegenüber - wenn von „bestimmten Sprachnormen“ die Rede ist, dann bleiben diese eben genau unbestimmt. 4.2. Analyse von Studienplänen Die Analyse der Literatur zu Deutsch als Bildungssprache in Österreich deutet darauf hin, dass das Thema der Plurizentrik bzw. des österreichischen Deutsch auch in den Studienplänen keine große Rolle spielt. Um unsere Hypothese, dass das Konzept von Deutsch als plurizentrischer Sprache im DaM-Unterricht sich auch in den Studienplänen kaum widerspiegelt, zu überprüfen, wurde auch hier ein Raster für die Analyse der Studienpläne für das Unterrichtsfach Deutsch ausgearbeitet, und es wurden die Studienpläne der Universitäten sowie der Volks- und Hauptschul-Curricula der Pädagogischen Hochschulen analysiert. Folgende Fragen waren von Interesse: Ist der Umgang mit divergierenden na- 3 Der AHS-Lehrplan aus dem Jahr 2008 war der zum Zeitpunkt der Durchführung des Projekts gültige und heute noch aktuelle Lehrplan. Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 215 tionalen Normen ein Thema in der Lehreraus- und Fortbildung? Wie wird der Umgang mit Dialekt / Umgangssprache / Standardsprache in der Lehrerausbildung berücksichtigt? Werden das österreichische Deutsch, Plurizentrik, Variation / Varietäten implizit oder explizit erwähnt? Als Ergebnis für die VS -LehrerInnen-Ausbildung lässt sich festhalten, dass in sämtlichen von uns analysierten Curricula für den Studiengang Volksschule sprachliche Variation nicht thematisiert wird. In einzelnen Curricula für den Studiengang Hauptschule finden sich Termini wie „österreichisches Deutsch“ und „Varietäten des Deutschen“ (Curriculum HS der PH Salzburg), wobei es sich in den meisten Fällen vermutlich um Nonstandardvarietäten handelt. Ebenfalls im Hauptschul-Curriculum der PH Salzburg wird auch die „Problematik von Dialekt (Herkunftssprache) und Standard“ erwähnt. Auch im Curriculum für den Studiengang Hauptschule der Pädagogischen Hochschulen Kärnten und Tirol werden Begriffe wie „Varietäten der deutschen Sprache“, „innere Mehrsprachigkeit“ und „deutsche Sprachvarietäten“ gebraucht; jedoch finden sich in den Curricula andererseits auch Textstellen, die darauf hindeuten, dass von der Existenz nur einer Standardsprache ausgegangen wird, weshalb nicht anzunehmen ist, dass den Curricula eine plurizentrische Sichtweise zugrunde liegt. In den Studienplänen für das Fach Deutsch (Lehramt) der Universitäten Wien, Graz, Innsbruck, Klagenfurt und Salzburg wird zwar auf nationale Varietäten hingewiesen, das Thema „österreichisches Deutsch“ sowie das plurizentrische Konzept werden aber ausgespart. Im analysierten Studienplan der Universität Salzburg wird von „ der deutschen Standardsprache“ (Herv. von den Verf.) ausgegangen, was ein Hinweis darauf ist, dass dieser Studienplan monozentrisch ausgerichtet ist. Der Umgang mit divergierenden nationalen Normen und mit Dialekt / Umgangssprache / Standardsprache sowie das österreichische Deutsch, Plurizentrik und Variation / Varietät sind also in der Lehreraus- und Fortbildung kaum ein Thema. Als Erweiterung der Studienplananalyse wurden im Rahmen dieses Projekts die Lehrveranstaltungen je zweier Semester der Universitäten Wien, Graz, Klagenfurt, Salzburg und Innsbruck dahingehend untersucht, ob Lehrveranstaltungen zu Plurizentrik bzw. zu österreichischem Deutsch angeboten werden. Es wurden jeweils die beiden aktuellsten Semester untersucht, je nach Verfügbarkeit im Internet entweder Sommer- und Wintersemester 2012 (Wien, Innsbruck), oder das Studienjahr 2012 / 2013 (Graz, Klagenfurt, Salzburg), wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht. Die Analyse der Lehrveranstaltungen ergab, dass das österreichische Deutsch und das plurizentrische Konzept nur in wenigen Ausnahmefällen thematisiert werden, so z. B.in einer einführenden Übung an der Universität Wien zum Thema „Sprache: Regionale Standardspra- 216 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr chen“. Bei den meisten Beschreibungen bzw. Titeln von Lehrveranstaltungen war das jedoch nicht der Fall. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Begriffe „österreichisches Deutsch“ und „Plurizentrik“ zum Teil geradezu ausgespart bzw. bewusst vermieden werden - an Stellen, an denen sie eigentlich zu erwarten wären. Das könnte darauf hindeuten, dass die Vortragenden dieser Lehrveranstaltungen zu einer monozentrischen Sichtweise tendieren. Andererseits beschäftigen sich viele Lehrveranstaltungen mit empirischer Dialektforschung; eine nicht unbedingt nachvollziehbare Tendenz angesichts der Tatsache, dass für die zukünftigen Deutschlehrenden die Frage des zu unterrichtenden Standards zentral ist. Ist von diesem aber die Rede, so wird in den meisten Lehrveranstaltungsbeschreibungen nicht klargestellt, um welchen Standard es sich handelt, auch ein Bezug zu einem Kodex fehlt im Normalfall. Also auch im Lehrveranstaltungsangebot der Pädagogischen Hochschulen und Universitäten findet sich - so wie in den Studienplänen - kaum etwas zur Plurizentrik und zur länderspezifischen Variation auf der standardsprachlichen Ebene, und wenn doch, so handelt es sich nicht zwingend um Pflichtlehrveranstaltungen, so dass Lehramtsstudierende der Germanistik nicht zwangsläufig mit dem Konzept der Plurizentrik und dem Thema der nationalen Varietäten konfrontiert werden. 4.3. Analyse von Lehrbüchern Da weder in den Lehrplänen noch in den Studienplänen soziolinguistische sprachliche Variation des Deutschen und das Konzept der Plurizentrik eine nennenswerte Rolle spielen, war anzunehmen, dass das auch für österreichische Lehrmaterialien zutrifft. Im Analyseraster waren u. a. folgende Fragen enthalten: Werden Varietäten der deutschen Sprache explizit erwähnt? Wenn ja, welche Ebenen werden angesprochen? Werden Vorschläge zum Umgang mit Varietäten oder Dialekten gemacht? Wird das österreichische Deutsch als fehlerhaft dargestellt? Werden Wörterbücher empfohlen? Welche? Gibt es Texte, die von ihrer Varietät her als bundesdeutsche, österreichische oder Schweizer Texte explizit deklariert werden? Gibt es in Lehrerhandbüchern zusätzliche Informationen zu Grammatik, Orthographie oder Wortschatz des österreichischen Deutsch, zur Variation der deutschen Sprache? Weitere Fragen bei der Analyse waren, welche Wichtigkeit dem österreichischen Deutsch insgesamt beigemessen wird und welches Normkonzept im Lehrbuch / Lehrerhandbuch transportiert wird. Für die Analyse wurden je drei der in Österreich am häufigsten verwendeten Lehrbuchserien ausgewählt, und zwar die Lehrbücher, Übungsbücher und Lehrerhandbücher der ausgewählten Serien für die 4., die 8. und die 12. Schul- Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 217 stufe. 4 Als Referenzwerke für den Kodex zum österreichischen Deutsch dienten uns bei der Analyse das Österreichische Wörterbuch (2012), Ebner (2008) und Ebner (2009), das Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) und das große österreichische Schulwörterbuch von Duden (Duden 2008). Fallweise wurde auch auf Wiesinger (1988), zur Morphologie auf Tatzreiter (1988) zurückgegriffen. Über die meisten Lehr-, Übungs- und Lehrerhandbücher lässt sich feststellen, dass weder die österreichische Standardvarietät der deutschen Sprache noch das plurizentrische Konzept thematisiert werden. Meist scheint nur von einer Standardsprache ausgegangen zu werden. Zentrale Termini wie Dialekt, Mundart, Standard, Jugendsprache usw. werden oft unzureichend definiert bzw. erklärt. Lediglich im Lehrbuch der Serie „Treffpunkt Deutsch“ für die 8. Schulstufe wird die österreichische Standardsprache explizit benannt; an anderen Stellen wird wiederum nur von einer Standardsprache ausgegangen. Normbegriffe wie „sprachrichtig“ und „normgerecht“ kommen in einigen der analysierten Lehrwerke und Lehrerhandbücher ebenso wie in den Lehr- und Studienplänen vor, und auch hier unkommentiert. Diese Parallelität bzw. Intertextualität zwischen diesen Dokumenten fällt auf, ist aber nachvollziehbar, weil Lehrbücher in Österreich von einer Lehrbuchkommission approbiert werden müssen, die sich wiederum an den Lehrplänen orientiert. In keinem der analysierten Lehrwerke werden die Termini „plurizentrisch“, „plurinational“, „nationale Varianten“, „österreichisches Deutsch“, „Schweizer Deutsch“, „deutsch(ländisch)es Deutsch“, „Austriazismus“, „Helvetismus“, „Deutschlandismus / Teutonismus“ verwendet, weder in den für die Schüler bestimmten Materialien, noch in den Lehrerbegleitheften. Dabei werden andere Aspekte der Variation der deutschen Sprache (Standard vs. Dialekt / Mundart; Jugendsprache; Fachsprache u. ä.) - lehrplangemäß - immer wieder thematisiert. Die Frage stellt sich hier, ob den LehrbuchautorInnen das Konzept der Plurizentrizität nicht bekannt ist, oder ob es bewusst ausgespart wird. An den Stellen, an denen man auf das österreichische Deutsch und das plurizentrische Konzept hinweisen hätte können, wurde diese Möglichkeit nicht aufgegriffen. 4 Folgende Lehrwerke wurden im Rahmen dieses Projekts analysiert: Grundstufe: Funkelsteine 4. Schulstufe: Sprachbuch, Arbeitsblätter, Serviceteil; Sprachlichter 4. Schulstufe : Teil 1, Teil 2, Serviceteil, 2. Aufl. 2012; Lilos 4. Schulstufe: Sprachbuch, Übungsheft, Lesewelt, Serviceteil. Sekundarstufe I: Treffpunkt Deutsch 8. Schulstufe: Sprachbuch, Arbeitsheft, Leseheft, Serviceteil 1. Aufl. 2007; Deutschstunde 8. Schulstufe : Basisteil Standard, Basisteil Plus, Serviceteil; Ganz klar Deutsch 8. Schulstufe : Sprachbuch, Sprachbuch leicht, Fit und kompetent Beiheft, Fit und kompetent Beiheft leicht, Übungsbuch A und B, Serviceteil, 1. Auflage 2011. Sekundarstufe II: Aktion Sprache 11./ 12. Schulstufe: Sprachbuch 3-4, Serviceteil; Das Sprachbuch 11./ 12. Schulstufe : Sprachbuch 3 bis zur Matura, Serviceteil, 2. Aufl. 2012; Klartext Deutsch 11./ 12. Schulstufe : Sprachbuch 7 / 8, Serviceteil, 1. Aufl. 2011. 218 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr Es findet also keine Sensibilisierung der SchülerInnen in Bezug auf die staatliche Variation der deutschen Sprache statt, obwohl andererseits diese für nationale Identitätskonstruktionen der ÖsterreicherInnen und für Identitätspolitik eine wichtige Rolle spielt. 5 Zur Darstellung des österreichischen Deutsch findet sich dementsprechend nicht viel: Im Basisteil plus der Serie „Deutschstunde“ gibt es ein Kapitel zum Thema Sprachvergleich Österreich - Deutschland, das jedoch keine sachliche Information bietet und in welchem die Standardmit der Dialektebene vermischt wird. Die Anweisung lautet: „Versuche einem Deutschen das „österreichische Deutsch“ Schritt für Schritt beizubringen“. Als Beispiele für Doubletten finden sich u. a. „Gschlader“ - „ungenießbares Getränk“; „Gstätten“ - „ungepflegtes Grundstück“; „Gschrapp“ - „Kind“; „Dippel“ - „Beule“ und „Jauckerl“ - „Injektion“, wobei diese 5 Beispiele dialektal sind oder Grenzfälle des Standards darstellen. Zusätzliche Informationen zu Grammatik, Orthographie oder Wortschatz des österreichischen Deutsch gibt es weder in den Lehrbüchern noch in den Lehrerhandbüchern. Vorschläge zum Umgang mit Varietäten oder Dialekten gibt es in den analysierten Lehrwerken nur andeutungsweise. Begriffe wie Standardsprache, Umgangssprache, Dialekt, Jugendsprache etc. werden unzureichend erklärt. Auch hier bestätigt sich letztlich unsere Annahme, dass das Konzept von Deutsch als plurizentrischer Sprache in den Lehrmaterialien kaum eine bzw. keine Rolle spielt. Die analysierten Lehrbücher sind im Übrigen durchgängig als Bücher für Deutsch als Muttersprache konzipiert. Die Tatsache, dass Deutsch für einen großen Teil (ca. ein Viertel) der SchülerInnen Zweitsprache ist, kommt nicht zum Tragen, und auch der bildungssprachliche Aspekt wird nicht explizit thematisiert. So entsteht der Eindruck, dass sich die Entwicklung der Sprachdidaktik in den letzten 10 bis 15 Jahren in Richtung eines integrativen Sprach / en / unterrichts (vgl. de Cillia 2013, Reich & Krumm 2013) (noch) nicht in den Lehrwerken niederschlägt. 5. Quantitative und qualitative Befragung Wie oben dargestellt, wurden im Rahmen der Studie drei unterschiedliche Methoden der Befragung eingesetzt: Zunächst wurde eine große Fragebogenerhebung unter 1253 SchülerInnen der AHS Oberstufe an 27 Schulen in ganz 5 Mögliche Anlässe zur Sprachreflexion über die Rolle der Sprachvarietäten für nationale Identitätskonstruktionen könnten die Entstehung des Österreichischen Wörterbuchs, das Protokoll Nr. 10 oder die Auseinandersetzung mit der EU um die Bezeichnung „Marmelade“ sein (vgl. de Cillia 2006). Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 219 Österreich (2-4 Schulen pro Bundesland) durchgeführt, wobei 85,3 % der SchülerInnen Deutsch als Erstsprache angaben, 3,4 % BKS , 2,5 % Türkisch und 8,8 % andere Sprachen. Gleichzeitig wurde eine Fragebogen-Erhebung unter 164 LehrerInnen verschiedener Schultypen ( VS , HS / NMS , AHS Sekundarstufe I und II , BHS ) aus allen Bundesländern gemacht. Des Weiteren wurden 21 Einzelinterviews mit Lehrpersonen und 2 Gruppendiskussionen durchgeführt (eine mit 10 LehrerInnen im Juni 2014 in Graz, eine mit 14 SchülerInnen im Juni 2014 in Wien). 5.1. Fragebogenerhebung Der SchülerInnen-Fragebogen 6 enthält 47 Items, der LehrerInnen-Fragebogen 65 Items, wobei sich die Fragen zum Teil decken, bei den Lehrpersonen aber einige zusätzliche Fragen gestellt wurden. Insbesondere wurde den LehrerInnen ein Musteraufsatz vorgelegt, der Austriazismen und Deutschlandismen enthielt und den sie gebeten wurden zu korrigieren. Die Fragebogenerhebung wurde in den Monaten September und Oktober 2013, die Interviews von September bis Dezember 2013 durchgeführt. Die Gruppendiskussionen fanden, nach dem Vorliegen der ersten Ergebnisse der statistischen Auswertung, am 5. Juni (SchülerInnen) in Wien bzw. 16. Juni 2014 (LehrerInnen) in Graz statt. Die Fragen der Fragebögen betreffen die Konzeptualisierung der sprachlichen Variation im deutschsprachigen Raum und innerhalb Österreichs und die Spracheinstellungen von LehrerInnen und SchülerInnen gegenüber den nationalen Varietäten des Deutschen und speziell gegenüber dem österreichischen Deutsch. So stellt sich die Frage, wie die ProbandInnen die in Österreich verwendete Varietät des Deutschen benennen (Deutsch? Österreichisches Deutsch? Österreichisch? ) und die Frage nach einer monozentrischen oder plurizentrischen Konzeptualisierung der deutschen Standardsprache bei LehrerInnen und SchülerInnen, d. h. ob sie die deutsche Sprache als einheitliche Sprache wahrnehmen oder von drei gleichwertigen Varietäten des Deutschen ausgehen (deutschländisches Deutsch, Schweizer Deutsch, österreichisches Deutsch) und weiters, welche Vorstellungen konkret mit dem österreichischen Deutsch assoziiert werden (standardnahe Varietäten, Umgangssprache, dialektale Varietäten? ). Eine häufig geäußerte Annahme ist die von wesentlichen Unterschieden zwischen Ost- und Westösterreich, die es nicht erlauben würden, von einem einheitlichen österreichischen Deutsch zu sprechen. Auch hier haben wir nachgefragt. Eine wichtige, immer wieder in der Literatur formulierte Hypothese (Muhr 1989, 6 Der LehrerInnen- und der SchülerInnen-Fragebogen werden in einem Buch, das zum Projekt voraussichtlich 2018 erscheinen wird, zu finden sein. 220 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr Moser 1999, Clyne 1995b) ist die, dass ÖsterreicherInnen eine geringe Sprachloyalität gegenüber der eigenen Varietät aufweisen, die eigene Varietät nicht als gleichwertig betrachten bzw. nicht als gleich korrekt, ja dass österreichische LehrerInnen exonormorientiert korrigieren würden. Eine Reihe von Items im Fragebogen (aber auch in den Interviews und Gruppendiskussionen) und die Korrektur eines exemplarischen Schüleraufsatzes durch LehrerInnen widmen sich diesen Fragestellungen. Auch die Frage von österreichischem Deutsch und nationaler Identitätskonstruktion wurde in diesem Kontext gestellt. Ein weiterer Teil der Befragung befasst sich mit der Selbstwahrnehmung der Sprachverwendung von unterschiedlichen Varietäten (Standard, Umgangssprache, Dialekt) von LehrerInnen und SchülerInnen, und zwar nicht nur in der Schule, sondern auch im Kontext Familie / Freundschaft, und von einzelnen dem Kodex nach ausgewiesenen / präsumptiven Austriazismen (s. u.). An externen Variablen wurden folgende Informationen erhoben: Alter (die LehrerInnen streuten von 22 bis 63 Jahren, wobei mehr als zwei Drittel (70 %) über 41 Jahre alt waren, die SchülerInnen waren zwischen 13 und 25 Jahre alt), Geschlecht (von den Lehrpersonen waren 79,3 % Frauen und 20,7 % Männer, bei den SchülerInnen war das Verhältnis ausgeglichener: 42,4 % männlich, 57,6 % weiblich), Erstsprache / n, Sprachkenntnisse, Geburtstort und Wohnort (in der Kindheit, der Jugend, aktuell), Auslandsaufenthalte, Medien- und insbesondere Fernsehverhalten, ob das Konzept der Plurizentrik bekannt ist, Varietätenverwendung nach der Selbsteinschätzung mit unterschiedlichen GesprächspartnerInnen (Gleichaltrigen, Kindern, Eltern, Großeltern, KollegInnen) und ob das Thema österreichisches Deutsch für den / die Betreffende / n interessant bzw. wichtig ist. Bei den LehrerInnen wurden zusätzlich Daten zur Ausbildung erhoben (z. B. PH [46,6 %] oder Uni [53,4 %]), der höchste Bildungsabschluss, ob - und wenn ja in welcher Form - sprachliche Variation, DaF und DaZ in der Ausbildung thematisiert wurden, die unterrichteten Fächer, die Dauer der Berufstätigkeit als LehrerInnen, Schulort und Schulform (AHS 54 %, HS / NMS 13 %, VS 33 %). Bei SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch wurde noch gefragt, wo und in welcher Form sie Deutsch gelernt hatten, ob sie Schwierigkeiten mit dem Dialekt gehabt hätten und ob sie als außerordentliche SchülerInnen eingeschult worden waren. 7 Im Folgenden sollen (ausgehend von den Fragebogenergebnissen, aber punktuell ergänzt durch Daten aus den Gruppendiskussionen und Interviews) exemplarisch Ergebnisse zu zwei Themenbereichen dargestellt werden: die Konzeptualisierung der deutschen Sprache und die Variation des Deutschen in 7 Die Ergebnisse im Detail werden im o. g. Buch zum Projekt voraussichtlich 2018 publiziert. Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 221 Österreich sowie die Präferenz von Deutschlandismen oder Austriazismen nach Selbsteinschätzung der Befragten. 5.2. Konzeptualisierung der Variation des Deutschen in Österreich Wie aus der Literatur geht auch aus unseren Daten hervor, dass nicht nur die Standardsprache, sondern alle diatopischen Varietäten im Alltag der ÖsterreicherInnen und auch in der Schule eine wichtige Rolle spielen (vgl. auch Ender & Kaiser 2009, Rastner 1997, Neuland 2006, Steiner 2008). Folgende Antworten lieferte die offene Frage „Wie würden Sie die Sprache, die die Mehrheit der Österreicher / innen als Muttersprache spricht, nennen? “ bei den LehrerInnen. 0 10 20 30 40 50 60 Anderes 5,2% Deutsch und Österreichisch 2,6% Deutsch mit Dialekt/ Mundart 4,6% Deutsch mit österr.Färbung 5,2% Dialekt/ Mundart 5,2 % Österreichisch 5,9% Österreichisches Deutsch 19,6% Deutsch 51,6% Wie würden Sie die Sprache, die die Mehrheit der Österreicher/ innen als Muttersprache spricht, nennen? (Antworten LehrerInnen) Abb. 1: Bezeichnung für Sprache (N=164) Auf die Nachfrage, ob sie Deutsch als „einheitliche Sprache mit einer einzigen standardsprachlichen (hochdeutschen) Form, die in allen deutschsprachigen Ländern gilt“ oder als „Sprache mit Unterschieden in der Standardsprache (im Hochdeutschen) zwischen den einzelnen Ländern“ sehen würden, wählten ca. 90 % der LehrerInnen und 79,2 % der SchülerInnen die zweite Antwort: 222 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr 10,4 89,6 Wie sehen Sie Deutsch? (%) einheitliche Sprache mit einer einzigen standardsprachlichen Form, die in allen deutschsprachigen Ländern gilt Sprache mit Unterschieden in der Standardsprache zwischen den einzelnen Ländern Abb. 2: Wie sehen Sie Deutsch (N=164)? Antworten LehrerInnen in %. Und auf die Frage: „Glauben Sie, dass es ein österreichisches Standarddeutsch (Hochdeutsch) gibt? “ antworteten 80,5 % der LehrerInnen und 59,4 % der SchülerInnen mit Ja, 12,8 % der LehrerInnen und 24 % der SchülerInnen mit Nein und 6,7 % der LehrerInnen bzw. 16,6 % der SchülerInnen mit „Weiß nicht“: Glauben Sie, dass es ein österreichisches Standarddeutsch (Hochdeutsch) gibt? 80,5% ja 12,8% nein 6,7% weiß nicht Abb. 3: Gibt es ein österreichisches Standarddeutsch (N=164)? Antworten LehrerInnen in %. Das legt jedenfalls eine plurizentrische Sicht des Deutschen nahe, obwohl auf die explizite Nachfrage nur 14,7 % der LehrerInnen und gar nur 8,1 % der SchülerInnen angeben, das Konzept der plurizentrischen Sprachen sei ihnen bekannt. Andererseits wurde die Behauptung „Innerhalb Österreichs gibt es zu große regionale sprachliche Unterschiede (z. B. zwischen Ost- und Westösterreich), als Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 223 dass es ein eigenes österreichisches Standarddeutsch geben kann.“ von 81,6 % der LehrerInnen und 57,4 % der SchülerInnen abgelehnt, d. h. die häufig geäußerte Behauptung, man könne wegen zu großer regionaler Unterschiede nicht von einem österreichischen Deutsch sprechen, die auf eher pluriareale 8 Konzeptualisierungen hinweisen würde, findet keine Bestätigung in unserem Sample. Fragt man nach, mit welcher Varietät dieses österreichische Deutsch in erster Linie verbunden wird, so wird am häufigsten (Mehrfachantworten waren möglich) die Umgangssprache („das, was man in Österreich im Alltag spricht“) genannt (69,5 % der LehrerInnen und 72,5 % der SchülerInnen), gefolgt von den „verschiedenen Dialekten in Österreich“ (43,9 % der LehrerInnen und 70,2 % der SchülerInnen) und der standardnahen Mediensprache („das, was man in Österreich in TV - und Radionachrichten spricht“: 47,6 % der LehrerInnen und 20,5 % der SchülerInnen): 8 Manche Wissenschaftler (z. B. Wolf 1994, Scheuringer 1996, Pohl 1998) bevorzugen aufgrund der dialektalen Großräume, die viele sprachliche Gemeinsamkeiten aufweisen und zudem die Staatsgrenzen auch überschreiten, eine Beschreibung des Deutschen als pluriareale Sprache. Scheuringer (1996: 151-152) wendet beispielsweise gegen das plurizentrische Konzept ein, dass dieses staatlich einheitliche Varietäten suggeriere, „die es so nicht gibt“. Pohl (1998: 24) ist der Ansicht, dass die vorhandenen Austriazismen nicht ausreichen, um von einer einheitlichen nationalen Varietät sprechen zu können. Muhr (1998: 49) entgegnet dem jedoch, dass durch staatliche Rahmenbedingungen bestimmte sprachliche Eigenentwicklungen entstehen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der nationalen Zentren als spezifisch wahrgenommen werden. Das plurizentrische ist mit dem pluriarealen Konzept durchaus vereinbar (vgl. de Cillia 2009: 126), jedoch muss auch der Status der jeweiligen Variante berücksichtigt werden; so gelten manche Varianten in Bayern beispielsweise als dialektal, in Österreich jedoch als standardsprachlich (Pfrehm 2007; Muhr 1997: 56). 224 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr 43,9% 69,5% 47,6% 70,2% 72,5% 20,5% 0 10 20 30 40 50 60 70 80 die verschiedenen DIALEKTE in Österreich das, was man in Österreich im Alltag spricht (UMGANGSSPRACHE) das, was man in österreichischen TV- und RADIONACHRICHTEN spricht Was ist Ihrer Meinung nach österreichisches Deutsch? SchülerInnen LehrerInnen Abb. 4: Was ist österreichisches Deutsch (LehrerInnen N=164, SchülerInnen N=1253)? Die qualitativen Befragungen bestätigen diesen Befund. V. a. die Diskussionen in den Gruppen zeigen, dass es letztlich für die SprecherInnen sehr schwierig ist, die Variation des Deutschen in Österreich und das Dialekt-Standard-Kontinuum zu konzeptualisieren, wie folgende Äußerung in der Gruppendiskussion der SchülerInnen zeigt: „Ja es is irgendwie schwer da eine / eine / eine Linie zu ziehen und zu sagen, das is jetzt Hochdeutsch und das is Umgangssprache, weil es bewegt sich immer irgendwie dazwischen, finde ich.“ 9 Mit Blick auf die „Sprachloyalität“ der eigenen Varietät gegenüber und den in der Literatur behaupteten Minderwertigkeitskomplex der ÖsterrreicherInnen (sie würden die eigene Varietät des Deutschen nicht für gleichwertig halten), haben wir auch nach der Korrektheit des österreichischen Deutsch gefragt („Halten Sie das Standarddeutsch (Hochdeutsch), das in Österreich verwendet wird, für genauso korrekt wie das in Deutschland? “) und zunächst auf diese einfache Frage eine sozial erwünschte, „politisch korrekte“ Antwort erhalten: 86 % der LehrerInnen und 67,7 % der SchülerInnen gaben die sozial erwünschte Antwort Ja, 8,5 % der LehrerInnen bzw. 22,7 % der SchülerInnen antworteten mit Nein und 5,5 % der LehrerInnen bzw. 9,6 % der SchülerInnen mit „weiß nicht“. 9 Die Gruppendiskussionen wurden nach HIAT grob transkribiert. Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 225 Halten Sie das Standarddeutsch (Hochdeutsch), das in Österreich verwendet wird, für genauso korrekt wie das in Deutschland? 86% ja 8,5% nein 5,5% weiß nicht Abb. 5: Korrektheit des österreichischen Standarddeutsch (N=164) Aber die Antworten auf eine ähnlich gestellte Kontrollfrage ergeben ein differenzierteres Ergebnis. Eingebettet in den Kontext des Vergleichs mit britischem / amerikanischem Englisch und Französisch in Frankreich / in der Schweiz sollten die Befragten auf einer vierteiligen Skala angeben, wie sehr sie der Aussage zustimmen: „Deutsches Deutsch ist korrekter als österreichisches Deutsch“. Nun lehnen nur mehr 44,1 % der LehrerInnen und 31,9 % der SchülerInnen diese Aussage dezidiert ab und 16,1 % der LehrerInnen bzw. 33,3 % der SchülerInnen stimmen der Aussage sogar sehr stark oder stark zu, d. h. halten das deutsche Deutsch für korrekter. Die TeilnehmerInnen der Gruppendiskussionen wurden mit diesen widersprüchlichen Ergebnissen konfrontiert, und in beiden Gruppen gab es lebhafte Diskussionen dazu, die im Prinzip diese ambivalente und widersprüchliche Einstellung der eigenen Varietät gegenüber bestätigen. So meint eine Schülerin: „Also grammatisch würd ich fast sagen, dass die Österreicher inkorrekt sind, aber sonst eigentlich gar nicht.“ (F1) Auch bei den LehrerInnen gibt es die Ansicht, „die Deutschen“ hielten sich mehr an die Grammatikregeln (F8): Ah, ich glaub des / das hat ein, ein wenig auch damit zu tun, dass es manchmal zu beobachten ist, dass, äh, Menschen in Deutschland, äh, sich eventuell ein: w: enig stärker an die Grammatikregeln halten. Aso, ich denk jetzt an Satzbau, ah Nebensatz, der mit weil beginnt ((F7 grinst, nickt )), ich glaub, dass ein Österreicher oder eine Österreicherin den eher folsch baut. Sozusogen nicht grammatikalisch korrekt. 226 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr 5.3. Sprachverwendung: Präferenz von Deutschlandismen / Austriazismen Das unterschiedliche Antwortverhalten der SchülerInnen und LehrerInnen weist einerseits auf unterschiedliche Einstellungen von „Laien“ (die die SchülerInnen ja sind) und „ExpertInnen“ für Sprachenfragen, die die LehrerInnen als Sprachnormautoritäten (vgl. Ammon 1995) darstellen, hin, andererseits aber auch auf altersspezifische Spracheinstellungen. Dazu sei ein zweiter Ausschnitt aus den Befragungsergebnissen kurz berichtet. Den ProbandInnen wurden 24 Sätze vorgelegt, die Wahlmöglichkeiten zwischen je zwei (nach dem Kodex als Austriazismen / Deutschlandismen eingestuften) Varianten enthielten und sie wurden gebeten, anzugeben, welche Form sie in schriftlicher Kommunikation eher verwenden würden. Es handelte sich um lexikalische Varianten (z. B. der Junge / der Bub), Perfektgebrauch bei Erzählungen, Artikelgebrauch vor Eigennamen, Gebrauch von Präpositionen, Substantivgenus, Fugenmorpheme etc. Ein Item fragte nach der Verwendung von fünf Abschiedsgrußformeln im mündlichen Sprachgebrauch (Tschüss, Baba, Pfiati, Ciao, Servus; Mehrfachantworten möglich). Als Referenzkodex hatten wir dafür das Österreichische Wörterbuch, das Variantenwörterbuch und Jakob Ebners Arbeiten (Ebner 2008, 2009) herangezogen. Nur durchschnittlich 46 % der von uns in den Beispielsätzen zur Auswahl angeführten Austriazismen wurden von SchülerInnen gewählt, aber 61,2 % dieser Austriazismen von LehrerInnen. So wurde z. B. von 91 % der SchülerInnen und 60,5 % der LehrerInnen „die E-Mail“ und 52,6 % der SchülerInnen und 21,5 % der LehrerInnen „die Cola“ angegeben. Andererseits wurden Austriazismen wie „Jänner“ (89,4 % bzw. 96,9 %) oder „bin gestanden“ (97 % bzw. 89 %) von der überwiegenden Mehrheit gewählt. Bei den vorgelegten Doubletten waren die am häufigsten gewählten Austriazismen Jänner / Januar (LehrerInnen 96,9 %, SchülerInnen 89,4 %); bin gestanden / habe gestanden (LehrerInnen 97 %, SchülerInnen 89 %), Schweinsbraten / Schweinebraten (LehrerInnen 84 %, SchülerInnen 81,5 %), schmeckt sehr gut / ist sehr lecker (LehrerInnen 95,7 %, SchülerInnen 81,6 %); 10 dag / 100 g (LehrerInnen 90,2 %, SchülerInnen 64,7 %). Die am häufigsten gewählten Deutschlandismen waren eine Cola / ein Cola (LehrerInnen 21,5 %, SchülerInnen 52,4 %); der Junge / der Bub (LehrerInnen 34,6 %, SchülerInnen 68,7 %); eine Email / ein Email (LehrerInnen 42,5 %, SchülerInnen 82,1 %); Pickel / Wimmerl (LehrerInnen 56,8 %, SchülerInnen 78,9 %); die SMS / das SMS (LehrerInnen 60,25 %, SchülerInnen 90,9 %). Was die Verwendung der Grußformeln betrifft, ergibt sich folgendes Bild: Am häufigsten wurde „Tschüss“ angegeben (LehrerInnen 59,5 %, SchülerInnen 79,3 %) vor Servus (LehrerInnen 49,7 %, SchülerInnen 22,1 %), Ciao (LehrerInnen 23,3 %, SchülerInnen 31,5 %), Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 227 Pfiati (LehrerInnen 31,3 %, SchülerInnen 10,1 %) und Baba (LehrerInnen 21,5 %, SchülerInnen 10,4 %): 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Tschüss Baba Pfiati Ciao Servus % LehrerInnen % SchülerInnen Abb. 6: Abschiedsgrußformel (LehrerInnen N=164, SchülerInnen N=1253) Sieht man sich den Mittelwert der Verwendung von Austriazismen / Deutschlandismen nach dem Alter (SchülerInnen und LehrerInnen gemeinsam) an, dann ergibt sich folgendes Bild (Abb. 7): Je älter, desto eher werden Austriazismen bevorzugt, je jünger, desto eher werden Deutschlandismen bevorzugt. Die jüngste Kohorte (13-21 Jahre) wählte zu 46 % Austriazismen und zu 54 % Deutschlandismen, die älteste (52-63 Jahre) zu 65 % Austriazismen und nur zu 35 % Deutschlandismen. Diese Ergebnisse sind zunächst in zweierlei Art zu interpretieren: Die Daten weisen in die Richtung eines altersspezifischen Sprachwandels der Form, dass die jüngere Generation stärker zur Verwendung von Deutschlandismen tendiert. Auch innerhalb der Gruppe der LehrerInnen zeigt sich diese Tendenz. Eine weitere mögliche Interpretation dieser Unterschiede ist, dass LehrerInnen als normsetzende Instanzen mehr zu Austriazismen tendieren, weil sie auf Grund ihres Alters und ihres berufsbedingten Blicks auf Sprachverwendung diverse Sprachwandelphänomene bewusster wahrnehmen. 228 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr 46 55 54 63 65 54 45 46 37 35 0 10 20 30 40 50 60 70 13-21 Jahre 22-31 Jahre 32-41 Jahre 42-51 Jahre 52-63 Jahre % Austriazismen % Deutschlandismen Abb. 7: Verwendung von Varianten nach Alter (LehrerInnen und SchülerInnen kombiniert: N= 1417) Um eine Interpretation dieser Ergebnisse in einer kommunikativen Validierung in den Gruppendiskussionen gebeten, gaben beide Gruppen übereinstimmend das Medienverhalten, insbesondere den Konsum von Kabel- TV und bundesdeutsch synchronisierten Filmen als mögliche Ursache an, z. B.: „…jo, wenn ma überlegt, ahm mit / oder wieviel Zeit die Jugendlichen mit / vor Medien sitzen und eben im nicht österreichischen Deutsch beschallt werden, dann is das ganz klar, dass der Einfluss sich niederschlägt.“ (Interview mit Lehrerin aus der Steiermark). Dem entsprechen auch die Antworten auf Fragen nach dem Fernsehverhalten, v. a. der SchülerInnen: SchülerInnen, die angeben, nur deutsche Kanäle zu schauen, verwenden statistisch signifikant mehr Deutschlandismen als jene, die angeben, nur österreichische Kanäle zu sehen. Dass dabei diese altersspezifische unterschiedliche Verwendung von Austriazismen / Deutschlandismen nicht konfliktfrei ist, zeigen mehrere Passagen in den Gruppendiskussionen (wie auch schon in älteren Erhebungen). So erzählt eine SchülerIn in der Gruppendiskussion (F3): Ich weiß nur, da war ich kleiner noch, da war ich mit meiner Mutter einmal beim Arzt und hab ich dann auch irgendwann gsagt „Tschüss“. […] nein mit meiner Oma war ich, und die hat dann auch gsagt, „du darfst jetzt aber nicht Tschüss zu dem Herren sagen da musst du schon Auf Wiedersehen sagen, weil das is ja unhöflich“. Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 229 6. Zusammenfassung der Ergebnisse Die hier vorgestellte Untersuchung stellte sich zunächst folgende Fragen: Wie wird mit sprachlicher Variation an der österreichischen Schule auf der Ebene der Lehrpläne, Studienpläne, Lehrbücher umgegangen? Wie kommt die Standardvarietät des österreichischen Deutsch in diesen Dokumenten vor? Welche Normkonzepte in Bezug auf die Standardsprache (plurizentrisch / monozentrisch) liegen ihnen zugrunde? Und wie wird mit Nonstandardvarietäten umgegangen? Die Behandlung der Varietäten (Standard, Umgangssprache, Dialekt) erfolgt relativ zufällig, willkürlich und nicht systematisch. Wenn es um die Norm geht, wird häufig von Norm, richtig, sprachrichtig gesprochen, werden bestimmte Normen genannt, die aber völlig unbestimmt bleiben. In keinem der analysierten Dokumente wird explizit darauf Bezug genommen, schon gar nicht auf eine Kodifizierung der deutschen Sprache in Österreich. Sowohl in Lehrplänen als auch Studienplänen, Lehrbüchern und in ausgewählten Lehrveranstaltungen werden tendenziell monozentrische Normkonzepte vertreten. Das Konzept und der Terminus der Plurizentrik kommen in keinem einzigen Dokument vor (nicht in Lehrplänen, nicht in Studienplänen, nicht in Lehrwerken, nicht in Lehrerhandbüchern, nur ganz vereinzelt in Lehrveranstaltungsbeschreibungen). Eine großangelegte Befragung von Lehrpersonen und SchülerInnen fokussierte auf: Spracheinstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen, insbesondere dem österreichischen Deutsch gegenüber („Sprachloyalität“), Konzeptualisierung der Variation des Deutschen in Österreich, Verwendung von Austriazismen / Deutschlandismen in der Eigenwahrnehmung, Wissen über Plurizentrik und Bekanntheit des Konzepts bei LehrerInnen und SchülerInnen und Korrekturverhalten von Lehrpersonen (vgl. dazu Fink 2014). Ein Anliegen der Untersuchung war, zu überprüfen, ob oder inwiefern der in der Literatur behauptete „Minderwertigkeitskomplex“ (s. o.) österreichischer SprecherInnen der eigenen Varietät gegenüber nachgewiesen werden kann. Die Befragung der LehrerInnen (Fragebogenerhebung, Gruppendiskussionen, Interviews) ergab einerseits, dass die große Mehrheit der LehrerInnen (sowie auch der SchülerInnen) davon ausgehen, dass es gleichwertige Varietäten der deutschen Sprache in Österreich, Deutschland und der Schweiz gibt, dass also implizit plurizentrische Vorstellungen existieren, obwohl nur 14,7 % der LehrerInnen angeben, dass ihnen das Konzept bekannt ist. Fragt man danach, ob das österreichische Deutsch ebenso korrekt ist wie das deutsche Deutsch, antworten zunächst die überwiegende Mehrheit der LehrerInnen und ein Großteil der SchülerInnen mit Ja . Eine differenzierte Nachfrage ergibt allerdings eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die Gleichwertigkeit der beiden Varietäten: Nur mehr ca. 45 % der LehrerInnen und ca. ein Drittel 230 Rudolf de Cillia, Ilona E. Fink & Jutta Ransmayr der SchülerInnen sind der Meinung, dass die beiden Varietäten absolut gleich korrekt sind. Die Erhebung zur Sprachverwendung zeigt, dass von älteren Lehrpersonen mehr Austriazismen verwendet werden als von jüngeren LehrerInnen und SchülerInnen, die wiederum häufiger zur Verwendung von Deutschlandismen tendieren. Offensichtlich existiert eine Dynamik des Sprachwandels, der zufolge manche nach dem Kodex als Austriazismen eingestufte sprachliche Merkmale (z. B. das E-Mail, das Cola) tendenziell durch Deutschlandismen (die E-Mail, die Cola) ersetzt werden. Sowohl die ambivalente Einstellung zur Korrektheit des österreichischen Deutsch als auch die Sprachwandeltendenzen mögen als Erklärung für die in der Literatur behauptete geringere Sprachloyalität dienen, sodass diese Annahme zum Teil bestätigt werden kann. Auch der Widerspruch zwischen der wichtigen Bedeutung und der emotionalen Besetztheit des österreichischen Deutsch für Identitätskonstruktionen (vgl. de Cillia 1998, 2006, 2015, Wodak & de Cillia 2006), und dem ambivalenten und widersprüchlichen Umgang mit der eigenen Varietät findet sich in unseren Daten. Die Korrektur eines Beispielaufsatzes, die aus Gründen des Umfangs hier nicht thematisiert werden konnte, ergibt einen differenzierteren Befund und bestätigt nur bedingt die in der Literatur vorhandene Hypothese von der Exonormorientierheit der österreichischen LehrerInnen. Bei bestimmten Merkmalen des österreichischen Deutsch, z. B. Perfekt als Erzählzeit, Artikel mit Eigennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen und bei Grenzfällen des Standards (z. B. Wimmerl) wird häufig korrigiert, andere Austriazismen werden eindeutig den entsprechenden Deutschlandismen vorgezogen. Eine mögliche Erklärung dafür ist auch die schwache Absicherung des österreichischen Kodex, die sich auch für das Forschungsteam bei der Lehrbuchanalyse und der Fragebogenerstellung sehr deutlich zeigte. Vermutlich beeinflusst ein Komplex unterschiedlicher Variablen diese Spracheinstellungen der LehrerInnen: Das Wissen über die Varietäten und die explizite Konzeptualisierung der Varietäten, die bewusste Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Varietäten in der deutschen Sprache, die Rolle als SprachexpertIn / Laie und der Einfluss externer Variablen wie z. B. Medienkonsum. Eine wichtige Schlussfolgerung aus dem Projekt ist: eine bewusste Thematisierung der Varietäten im Sprachunterricht in den für den Unterricht relevanten gesetzlichen Grundlagen (Lehrpläne, Studienpläne) und approbierten Unterrichtsmaterialien sowie ein reflexiver Umgang mit sprachlichen Unterschieden könnte die Wahrnehmung schärfen und zu einem bewussteren Umgang mit sprachlichen Varietäten führen, der sich wiederum in einer stärkeren Identifikation mit der eigenen (in diesem Falle: österreichischen) Varietät äußern könnte. Varietäten des Deutschen an österreichischen Schulen 231 In diesem Sinne und auch im Sinne der Dissemination der Projektergebnisse hat das Projektteam an Weiterbildungsseminaren zur Sensibilisierung für LehrerInnen (Welches Deutsch an Schulen? Österreichisches Deutsch und Plurizentrik) und an der Erstellung von Unterrichtsmaterialien mitgearbeitet (Gilly & Zhao-Heissenberger 2014) sowie ein Themenheft der didaktischen Fachzeitschrift ide zum Thema „Österreichisches Deutsch und Plurizentrik“ (Ransmayr, Moser-Pacher & Fink 2014) mit herausgegeben. 7. Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin etc.: de Gruyter. Ammon, Ulrich, Hans Bickel, Jakob Ebner, Ruth Esterhammer, Markus Gasser, Lorenz Hofer, Birte Kellermeier-Rehbein, Heinrich Löffler, Doris Mangott, Hans Moser, Robert Schläpfer, Michael Schlossmacher, Regula Schmidlin & Günter Vallaster (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen . Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich (2005): Standard und Variation. Norm, Autorität, Legitimation. In: Eichinger, Ludwig M. & Werner Kallmeyer (Hrsg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? 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Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 235 „So einen Fehler wird einem das ganze Leben lang verfolgen.“ Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule Aivars Glaznieks & Andrea Abel 1. Einleitung 2. Wie unsere Schüler schreiben - und wie sie bewertet werden 3. Definitionen 4. Methode und Daten: das KoKo-Korpus 5. Ergebnisse 6. Diskussion und Fazit 7. Literatur 1. Einleitung Gute Sprachkompetenzen in der Standardsprache sind alles andere als selbstverständlich. Sie können nur durch viel Übung erlangt werden. Dass der Weg zur guten sprachlichen Kompetenz oftmals recht weit ist, liegt vielfach daran, dass die Alltagssprache der meisten Schüler 1 nicht mit der schulischen Varietät, der sogenannten Bildungssprache, gleichzusetzen ist, die im schulischen Kontext erwartet und schließlich auch bewertet wird (Neuland & Hochholzer 2006: 175). Je nach Region kann die Alltagssprache mehr oder weniger große Unterschiede zur Standardsprache aufweisen und zudem durch regionale und nationale Varianten charakterisiert sein; in jedem Fall aber werden bildungssprachliche Kompetenzen überwiegend innerhalb der Institution Schule erworben. Die Vermittlung bildungssprachlicher Kompetenzen in der Schule erfolgt unter anderem über die intensive Auseinandersetzung mit Texten - produktiv wie rezeptiv. 1 Wir verzichten in diesem Aufsatz aufgrund einer besseren Lesbarkeit auf eine explizite Nennung beider Geschlechter, wo dies inhaltlich nicht relevant ist. Mit dem maskulinen Genus sind dann sowohl männliche als auch weibliche Personen gemeint. 236 Aivars Glaznieks & Andrea Abel Dieser Aufsatz stellt aktuelle Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zum Thema „Bildungssprache im Vergleich“ vor, in dem auf der Basis von ca. 1300 Erörterungsaufsätzen aus Südtirol, Nordtirol und Thüringen die Schreibkompetenz von Oberschülern ein Jahr vor der Matura bzw. dem Abitur beschrieben wird. Der Aufsatz präsentiert Ergebnisse linguistischer Analysen zur grammatischen Kompetenz und geht auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Schreibenden bei grammatischen Normverstößen ein. Er wird insbesondere der Frage nachgehen, ob und gegebenenfalls welche regionalen Unterschiede bei Schreibenden im deutschen Sprachraum feststellbar sind und inwiefern andere außersprachliche Variablen wie Schultyp und Geschlecht in Bezug auf die Verteilung grammatischer Normverstöße eine Rolle spielen. Bei der Darstellung der Ergebnisse werden Analysen zur Rektion im Mittelpunkt stehen. 2. Wie unsere Schüler schreiben-- und wie sie bewertet werden Das Zitat, das diesem Beitrag den Titel gibt, stammt aus einem Schüleraufsatz einer 18-jährigen Schülerin mit deutscher Erstsprache (L1) einer Fachoberschule in Südtirol. Bei der Teilnahme an der Studie „Bildungssprache im Vergleich“, die vom Institut für Angewandte Sprachforschung 2 von Eurac Research von 2010 bis 2015 durchgeführt wurde, stand sie ein Jahr vor dem Maturaabschluss. Offensichtlich stimmt an dem zitierten Satz die Zuweisung des vom Verb verfolgen geforderten Kasus nicht: Das Subjekt steht im Akkusativ ( So einen Fehler ) statt im Nominativ ( So ein Fehler ), das Objekt des Satzes steht im Dativ ( einem ) statt im Akkusativ ( einen ). Der zitierte Satz weist also zwei grammatische Fehler auf. Grammatisch korrekt müsste der Satz folgendermaßen lauten: So ein Fehler wird einen das ganze Leben lang verfolgen. Das angeführte Beispiel zeigt, dass grammatische Fehler in Schüleraufsätzen auch bei Schülern vorkommen, die in ihrer L1 schreiben. Diese Erkenntnis ist nicht neu (u. a. Hanser, Nussbaumer & Sieber 1994, DESI -Konsortium 2008) und wird wohl auch von allen Deutschlehrpersonen bestätigt werden, die in ihrer täglichen Arbeit unter anderem auch grammatische Fehler in schulischen Texten korrigieren. Besorgniserregend ist diese Feststellung zunächst nicht, da ja die Vermittlung von standardsprachlichen Kompetenzen Teil der schulischen Richtlinien und Lehrpläne bzw. der festgelegten Bildungsstandards mit jeweils nationaler oder regionaler Reichweite ist (z. B. Autonome Provinz Bozen - Südtirol 2010, Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2016, 2013, Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich 2004, Bundesministerium 2 Mit 2017 hat das Institut für Fachkommunikation und Mehrsprachigkeit seinen Namen in Institut für Angewandte Sprachforschung geändert. Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 237 für Unterricht, Kunst und Kultur 2012a, 2012b). Es sind Kompetenzen, die mit dem Erwerb des Schreibens ausgebildet werden. Fehler sind hierbei Bestandteil des Lernens. Diskutiert werden muss jedoch, welche grammatischen Fehler in Schüleraufsätzen vorkommen und welche Phänomene von Lehrpersonen als grammatische Fehler korrigiert werden - und welche nicht. Denn die Beurteilung dessen, was im gegenwärtigen Deutsch ein Fehler ist und was nicht, ist selbst für sprachlich geschulte Personen nicht immer ganz einfach (Davies & Langer 2014). Auch die Frage, woran sich Lehrende beim Korrigieren orientieren sollen, ist schwierig zu beantworten, da es laut Klein (2014) keine verlässliche Beschreibung in den vorhandenen Sprachkodizes gibt. Schließlich vertreten Kodizes oftmals widersprüchliche (Davies & Langer 2014: 310) oder nicht eindeutige Aussagen über standardsprachliche und nicht-standardsprachliche Verwendungsweisen, gerade auch bezüglich regionaler und nationaler Varianten. 3 In Sprachratgebern und Sprachlehrwerken bzw. Nachschlagewerken für Lehrende und Lernende lassen sich zudem immer wieder Präferenzen für die bundesdeutsche Standardvarietät feststellen, was außerhalb Deutschlands zu einem asymmetrischen Korrekturverhalten zugunsten der prestigereicheren Varietät (meist der bundesdeutschen) und somit auch zu einer monozentrischen Normauffassung führen kann (Hägi 2015: 114, 124, Scanavino 2015: 96, 99, 102, Ransmayr & Fink 2014: 46, Dürscheid & Sutter 2014: 42, 52-53, Maitz & Elspaß 2007: 519-520). In den letzten Jahren ist man nicht nur im Bereich Deutsch als Fremdsprache (Ransmayr 2006, Rykalová 2013, Čermáková 2013, Scanavino 2015), sondern auch in Studien zum Unterricht in Deutsch als Schulsprache sensibler für einen plurizentrischen Ansatz geworden (z. B. Ransmayr & Fink 2014). Neben eindeutigen grammatischen Fehlern wie der im Titel dieses Aufsatzes finden sich in Schüleraufsätzen auch grammatische Auffälligkeiten, deren Bewertung nach grammatischer Korrektheit weit weniger einfach und eindeutig ist. Dabei handelt es sich häufig um grammatische Zweifelsfälle, die per definitionem Unsicherheiten bei den meisten Sprechern hervorrufen (Klein 2003, Duden 2011). In einigen Untersuchungen konnte zudem gezeigt werden, dass diese Unsicherheiten auch bei Lehrpersonen auftreten und zu Uneinigkeit in den Bewertungen von (angehenden) Lehrern führen (vgl. Davies 2001, Hennig 2012). Sprachwandelphänomene, die meist ein Grund für sprachliche Zweifelsfälle sind, sowie der Einfluss anderer Sprachen und Varietäten auf das Standarddeutsche werden von weiten Teilen der Lehrerschaft - zumindest in Österreich und Deutschland - wie im Allgemeinen in der Bevölkerung eher negativ angesehen (Lenz 2014). Zu vermuten ist, dass die Auffassung davon, welche 3 Für eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Themenbereich siehe u. a. Ammon 1995, Schmidlin 2011, Pfrehm 2014, Dürscheid & Sutter 2014. 238 Aivars Glaznieks & Andrea Abel sprachlichen Phänomene grammatische Fehler sind und welche nicht, nicht nur unter Lehrern, sondern auch zwischen Lehrpersonen auf der einen und Linguisten auf der anderen Seite unterschiedlich ist. Lehrpersonen legen dabei oft ein strengeres Normenverständnis an den Tag als Linguisten (vgl. Hennig 2012: 126). Sicherlich sind wissenschaftliche Bestandsaufnahmen (Duden 2011, 2016, Wahrig 2003) und eine damit verbundene Klärung dessen, welche sprachlichen Phänomene zum Standard gehören, besonders im schulischen Kontext nützlich, da sie Lehrpersonen wie Schülern das Leben in der standardsprachlichen Varietät erleichtern sollten (Klein 2013). In jedem Fall sind sowohl die Kenntnis gegenwärtiger Sprachwandelphänomene und Zweifelsfälle als auch eine Sensibilität für verschiedene Varietäten des Deutschen für einen sicheren Umgang mit standardsprachlichen Texten besonders hilfreich. Der gegenwärtige Grammatikunterricht, so wird in der linguistischen Fachliteratur gern konstatiert, verfehlt oft diese Ziele: Er ist geprägt von der bequemen Orientierung an der schriftstandardsprachlichen Norm und nutzt unkritisch und ohne zu hinterfragen ein feststehendes externes kategorielles Beschreibungsgerüst. Er ist grundsätzlich synchron ausgerichtet und vermittelt den Eindruck, Sprache sei etwas Statisches, Invariables. Das widerspricht nicht nur den sprachlichen Erfahrungen der Lerner. (Bittner 2013: 84) Vielmehr sollte ein reflektierter Umgang mit grammatischen Normen unter Einbezug von unterschiedlichen Varietäten und Sprachwandelphänomenen das Ziel für den Deutschunterricht sein. Die Reflexion grammatischer Fehler und Zweifelsfälle ist das Anliegen dieses Artikels. Anhand der empirischen Untersuchung von Schülertexten soll der Frage nachgegangen werden, welche grammatischen Schwierigkeiten mit der deutschen Standardsprache bei Schülern der Oberschule existieren. Die abschließende Diskussion grammatischer Probleme und sprachlicher Normen soll den Blick für den Umgang mit sprachlichen Auffälligkeiten im Schulkontext schärfen helfen, um grammatische Fehler besser zu verstehen und unter Berücksichtigung sprachlicher Varietäten zu interpretieren, so dass auch die Schüler ein besseres Verständnis von angemessenem Sprachgebrauch im geschriebenen wie im gesprochenen Standard entwickeln können. 3. Definitionen Für unser Vorhaben ist es zweckmäßig, vorab einige linguistische Fachtermini zu definieren. In diesem Abschnitt werden wir daher auf die Begriffe Sprachsystem, Sprachnorm, Standardsprache, Fehler und Zweifelsfall eingehen. Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 239 3.1. Sprachsystem, Sprachnorm und Standardsprache Zentral ist in der zeitgenössischen linguistischen Literatur zur Beschreibung aktueller grammatischer Phänomene die Unterscheidung von System und Norm (z. B. Ágel 2008: 64-69). Diese Unterscheidung geht auf Eugenio Coseriu zurück und trägt der Beobachtung Rechnung, dass in einer Sprachgemeinschaft nicht alles, was vom Sprachsystem (i. e. nach den Regeln einer jeweiligen Sprache) möglich ist, auch von den Sprechern dieser Sprache (in der Rede) realisiert wird. Vielmehr werden die möglichen Realisierungen von der Norm eingeschränkt, die die üblichen, traditionellen Realisierungen vorgibt. In den Worten Coserius (1988: 52-53): System ist das, was in einer Sprache möglich ist, aufgrund der Unterscheidungen, die diese Sprache macht, und aufgrund der Verfahren, die sie zum Ausdruck der entsprechenden Unterscheidungen hat. System ist also das, was aufgrund der Regeln einer Sprache möglich ist. Norm ist hingegen das, was tatsächlich realisiert wird und realisiert worden ist. Die Norm ist eine Einschränkung des Systems, weil gerade nicht alle Möglichkeiten des Systems realisiert werden. Es handelt sich bei Coserius Norm also nicht um eine präskriptive Norm, also um eine normative Einschränkung des Systems, sondern um eine Konzeption dessen, was in einer Sprache üblich, d. h. normal ist (vgl. auch Coseriu 1979). Wer sich nach dieser Konzeption sprachlich normgerecht (normal) verhalten will, verwendet Sprache so, wie die meisten anderen Mitglieder der Sprachgemeinschaft Sprache gebrauchen. Verwendet man Coserius Begriff der sprachlichen Norm , tritt eine andere Konzeption von Norm in den Hintergrund, nämlich diejenige, in der Norm im Sinne von Handlungserwartungen verstanden wird. Diese widerspiegeln, welche sprachlichen Handlungen von einer sprachlichen Gemeinschaft gewollt und daher Teil ihrer normativen Erwartungen an andere Sprecher sind (vgl. Gloy 2012: 31-34). Da normative Erwartungen von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft wechselseitig aneinander gestellt werden, bilden sich „Strukturen reziproker Erwartenserwartungen normativer Art“ (Gloy 2012: 32) heraus, die letztlich die eigentliche Norm konstituieren. Wer sich sprachlich normgerecht verhalten will, folgt den Erwartungen der Sprachgemeinschaft. Auch wenn in den meisten Fällen der normale Sprachgebrauch auch dem erwarteten Sprachgebrauch entspricht, ist es für die wissenschaftliche Betrachtung grammatischer Auffälligkeiten in Schülertexten wichtig, beide Konzeptionen von Sprachnormen zu berücksichtigen und auseinanderzuhalten. Wir folgen daher Dürscheid (2012) und unterscheiden Norm 1 (i. S. v. Coseriu 1988), die die 240 Aivars Glaznieks & Andrea Abel tatsächlichen Realisierungen fokussiert, von Norm 2 (i. S. v. Gloy 2012), die die Erwartungen der Sprecher widerspiegelt. 4 Will man die Normen einer Sprache, egal welcher Konzeption man dabei folgt, näher betrachten, muss zunächst klar sein, zu welcher Sprache bzw. Varietät einer Sprache Aussagen gemacht werden sollen. Im Allgemeinen ist das die Standardvarietät, wie sie in Wörterbüchern und Grammatiken kodifiziert und beschrieben ist. ‚Standard‘ wird geschrieben, er ist schriftlich kodifiziert (System von Vorschriften), besitzt überregionale Reichweite und Gültigkeit, wird vorzugsweise in institutionellen Kontexten und offiziellen Kommunikationssituationen benutzt und erscheint in der Alltagssprache (= Summe der Varietäten in einem bestimmten Varietätenraum) niemals in ihrer idealtypisch kodifizierten Norm. (Dittmar 1997: 201) Wer bestimmt aber die Normen einer Sprache? Nach Ammon (2005) gibt es neben den Verfassern von Wörterbüchern und Grammatiken, den sogenannten „Kodifizierern“, weitere Instanzen, die wesentlich zur Bestimmung und Legitimation von Normen beitragen. Sie bilden gemeinsam das „soziale Kräftefeld einer Standardvarietät“ (Ammon 2005: 33). Hierzu gehören Sprachnormautoritäten wie Lehrer, Verlagslektoren oder Redakteure, die direkt das Sprachhandeln anderer Personen (sogenannter Normsubjekte) beeinflussen und gegebenenfalls die Einhaltung von Normen durchsetzen, Sprachexperten, i. e. vor allem Sprachwissenschaftler, die im Zweifelsfall angerufen werden können, und schließlich Modellsprecher (z. B. Nachrichtensprecher) und -schreiber ( Journalisten, Schriftsteller). Ihre Texte dienen als Orientierungshilfe und können als Berufungsinstanz fungieren. Die aufgeführten Norminstanzen sind gemeinsam für die Ausprägung und Bestätigung normativer Erwartungen (Norm 2 ) in der Sprechergemeinschaft verantwortlich. Dabei müssen sie sich keineswegs immer in ihren Ansichten einig sein. Sprachexperten beispielsweise können bestehende Kodizes kritisieren; diese Kritik kann dann entweder angenommen oder abgewiesen werden. Im Grunde wirken alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft bei der Aushandlung dessen, welche sprachlichen Erscheinungen als Standard oder Nonstandard definiert werden, in einem Bottom-up-Prozess zwar indirekt, aber dennoch aktiv mit, auch wenn die Autorität einseitig auf die Seite der Norminstanzen verteilt ist. 5 Durch ihren Sprachgebrauch, durch das Hinterfragen, Ignorieren und Infrage-Stellen von Normen hinterlassen alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft auf der Mikroebene Spuren, die auf Normautoritäten, 4 Eine ausführliche Diskussion des Normbegriffs und weitere Definitionen finden sich z. B. in Dovalil (2006: 12-36). 5 Das gilt besonders für den Unterricht in der Schulsprache sowie für den Fremdsprachenunterricht. Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 241 Sprachexperten, Kodifizierer und Modellsprecher einwirken können. Was letztlich zur Standardvarietät gehört und was nicht, ist daher auch nicht fest, sondern wird ausgehandelt und ist damit dynamisch und veränderbar (Dovalil 2013a, b). Grammatiken und Wörterbücher für das heutige Deutsch sind vor allem deskriptiv und beschreiben den gegenwärtigen Sprachgebrauch. Allerdings hinken sie der Sprachwirklichkeit immer etwas hinterher. Deutlich wird das bei Sprachwandelphänomenen, denn die Grammatik bzw. das Wörterbuch reagiert auf sprachliche Veränderungen, die aus der Sprachgemeinschaft kommen, sie bzw. es initiiert sie nicht. Will man im Zweifelsfall beurteilen, ob ein Phänomen (schon) zum Standard gehört oder (noch) nicht, ist es nützlich, den tatsächlichen Sprachgebrauch, und zwar ein „prototypisches Kommunikationsverhalten“, wie es sich in umfangreichen Sammlungen geschriebener Sprache der Gegenwart widerspiegelt, zu analysieren (vgl. Günthner et al. 2012: 4). Dieser in der neueren Grammatiko- und Lexikographie verbreitete Ansatz gibt dem gegenwärtigen Sprachgebrauch bei der Bestimmung dessen, was zum Standard gehört und was nicht, ein stärkeres Gewicht im Vergleich zu den anderen Akteuren im Gefüge der normsetzenden Instanzen. In einem solchen empirisch begründeten Zugang ist der geschriebene Standard frequenzbasiert auf der Grundlage umfassender digitaler Korpora zu ermitteln (vgl. Eisenberg 2007: 217; vgl. zu einem solchen Vorgehen u. a. Eichinger 2013, Eichinger & Rothe 2014). Vielfach wird dabei der gegenwärtige Sprachgebrauch als „Sprachgebrauch der überregionalen Presse“ (Eisenberg 2007: 217) interpretiert, wobei der Einbezug weiterer Textgenres (vgl. Geyken 2007) und auch eine ausgeglichene regionale Verteilung der Textgrundlagen (vgl. Dürscheid & Sutter 2014) ebenfalls berücksichtigt werden können. Auch wir folgen einer solchen gebrauchsbzw. korpusorientierten Definition von Standardsprache, die im Übrigen kompatibel ist mit einer plurizentrischen oder pluriarealen Konzeption der deutschen Sprache, die Variation zwischen den nationalen bzw. regionalen Standardvarietäten anerkennt. 3.2. Fehler und Zweifelsfälle Für die Bestimmung von sprachlichen, z. B. grammatischen Fehlern ist es erforderlich, die eben vorgestellte Unterscheidung von Sprachsystem , Norm 1 und Norm 2 im Kopf zu behalten. Zwar mögen bei den meisten sprachlichen Realisierungen die Vorgaben des Systems mit den von den Sprechern realisierten ( Norm 1 ) und erwarteten Normen ( Norm 2 ) zusammentreffen. Allerdings werden auch Formulierungen gewählt, bei denen es keine Einheit zwischen System und Norm gibt (vgl. Ágel 2008: 68). Ein grammatisches Phänomen kann eine Erscheinung sein, die eigentlich nicht vom System vorgesehen wird, jedoch normgerecht im Sinne von Norm 1 und Norm 2 ist (z. B. eines Nachts ) oder zumindest 242 Aivars Glaznieks & Andrea Abel relativ häufig auftritt (normgerecht i. S. v. Norm 1 ), aber nicht akzeptiert ist (i. S. v. Norm 2 ) (z. B. meines Erachtens nach ). Nur bei letzterem spricht man von einem sprachlichen Fehler und würde erwarten, dass er etwa in einem Schulaufsatz korrigiert wird, obwohl beide Phänomene nach Ágel (2008) auf der Systemebene Fehler darstellen. Es lohnt sich also bei der Korrektur sprachlicher Phänomene genauer zu differenzieren, welche Art von Fehler eigentlich vorliegt, i. e. ob es sich um einen System- oder Normfehler handelt. Ein Systemfehler ist, wie Eisenberg (2007: 212) feststellt, unter allen Umständen ein Fehler, ein „Normfehler [i. S. v. Norm 2 , AG / AA ] nur unter bestimmten“. Der Systemfehler liegt außerhalb dessen, was im Sprachsystem möglich ist, der Normfehler bedient sich einer sprachlichen Alternative innerhalb des Systems und widerspricht einer impliziten Übereinkunft der Sprechergemeinschaft. Normfehler können daher nicht nach Korrektheitskriterien beurteilt werden, sondern nur nach solchen der Angemessenheit (vgl. auch Schneider 2013). So ist es beispielsweise im Schüleraufsatz (noch) nicht akzeptabel, über ein * rosanes oder * lilanes Kleid zu schreiben, auch wenn die flektierten Formen dieser nicht-deklinierbaren Adjektive in der gesprochenen Sprache „normal“ (zumindest i. S. v. Norm 1 ) sind. Deutlicher wird das Gefüge zwischen System und Norm, wenn man solche sprachlichen Phänomene betrachtet, bei denen unter den Benutzern einer Sprache - oder genauer: einer Varietät (z. B. des geschriebenen Standards) - Uneinigkeit darüber besteht, ob etwas richtig oder falsch ist - ob es sich also um einen sprachlichen Fehler handelt oder nicht. Man spricht dann von einem sprachlichen Zweifelsfall. Nach Klein (2003: 7, Hervorhebungen im Original) ist ein sprachlicher Zweifelsfall eine sprachliche Einheit (Wort / Wortform / Satz), bei der kompetente Sprecher (a.) im Blick auf (mindestens) zwei Varianten (a, b…) in Zweifel geraten (b.) können, welche der beiden Formen (standardsprachlich) (c.) korrekt ist (vgl. Sprachschwankung, Doppelform, Dublette). Die beiden Varianten eines Zweifelsfalls sind formseitig oft teilidentisch (d.) (z. B. dubios / dubiös, lösbar / löslich, des Automat / des Automaten, Rad fahren / rad fahren / radfahren, Staub gesaugt / staubgesaugt / gestaubsaugt). Der Begriff Zweifelsfall lässt sich laut Ágel (2008: 68) auf folgende Konstellationen 6 von sprachlichen Phänomen hinsichtlich Sprachsystem und -norm beziehen: 6 Folgende Konstellationen kreieren hingegen keinen Zweifelsfall (Ágel 2008: 67): - „ein reiner Systemfehler […], der (mittlerweile) zur Norm avanciert ist (Typ: eines Nachts ).“ - „ein Normfehler […], dessen Quelle konfligierende Teilsysteme sind und der (mittlerweile) zur Norm avanciert ist (Typ: frohen Mutes ).“ Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 243 - „Systemfehler, der nicht zur Norm avanciert ist, sich jedoch im Sprachgebrauch hartnäckig hält (Typ: meines Erachtens nach )“ - „Normfehler […], dessen Quelle konfligierende Teilsysteme sind und der (mittlerweile) die alte Norm streitig macht. Die alte Norm ist noch nicht verdrängt, die neue ist noch nicht voll etabliert. Es entsteht eine Normvarianz (Typ: Du brauchst nicht zu kommen vs. Du brauchst nicht kommen oder Ich frage dir / dich die Vokabeln ab )“ - „Normfehler […], dessen Quelle der periphere Systemstatus des Elements oder der Konstruktion ist, der nicht zur Norm avanciert ist, sich jedoch im Sprachgebrauch hartnäckig hält (Typ: einen klassen Kaffee oder ein lilanes / beiges Kleid )“ Sprachliche Zweifelsfälle zeugen in erster Linie von sprachlicher Variation in einer Sprachgemeinschaft, die unterschiedliche, teilweise kaum voneinander trennbare diasystematische Ebenen betreffen kann. Sie weisen darüber hinaus auch auf den dynamischen Aspekt von Sprache hin. Sprachwandelphänomene gehen oft auf Fehler zurück, die dann zur Norm 7 werden und schließlich nicht mehr als Fehler wahrgenommen werden. Aus diesem Grund eignet sich die Thematisierung von sprachlichen Zweifelsfällen hervorragend für den Sprachunterricht in der Schule (Klein 2003). Gerade für die Didaktisierung grammatischer Auffälligkeiten, besonders von Zweifelsfällen, scheint es vorteilhaft, diese im Hinblick auf Unterschiede zwischen Norm 1 und Norm 2 zu diskutieren. Dadurch könnten Lehrpersonen eventuell dem von Kellermeier-Rehbein (2013: 14) beschriebenen Dilemma entgehen, in dem sie sich befinden, wenn sie sich ausschließlich an vorhandenen Kodizes orientieren, nämlich dass sie im Zweifelsfall korrigieren müssen, was üblich in der Bevölkerungsmehrheit ist, von Modellsprechern/ -schreibern verwendet wird und von vielen Sprachexperten akzeptiert wird. 8 Anhand von Zweifelsfällen lässt sich verdeutlichen, welche sprachlichen Schwierigkeiten bestehen, was die Gründe für die Schwierigkeiten sind und wie die Schüler damit umgehen können, wenn sie sich kompetent und sicher in der Standardvarietät und angemessen in bildungssprachlichen Kontexten bewegen wollen. Bildungssprachliche Kompetenzen sind ein Ziel schulischer Ausbildung, die erfolgreiche Vermittlung dieser Kompetenzen hat somit auch gesellschaftliche Auswirkungen. - „ein Normfehler sein, dessen Quelle der periphere Systemstatus des Elements oder der Konstruktion ist und der (mittlerweile) zur Norm avanciert ist (Typ: bekommen -Passiv mit Verben des Nehmens).“ 7 Und zwar erst i. S. v. Norm 1 , dann i. S. v. Norm 2 . 8 Beispiele für Zweifelsfälle in der Substantivdeklination und Rektion von Präpositionen werden u. a. in Thieroff (2003), Köpcke (2005), Eichinger (2013), Eichinger & Rothe (2014) und Dürscheid (2007, 2012) diskutiert. 244 Aivars Glaznieks & Andrea Abel 3.3. Bildungssprache Die wissenschaftliche - und außerwissenschaftliche - Diskussion um sprachliche Kompetenzen und deren soziale Auswirkungen ist nicht neu (z. B. Neuland 1978, Bourdieu 1992) und hat in seiner gegenwärtigen Diskussion im Bildungsdiskurs eine Renaissance erfahren, die fest mit dem Terminus Bildungssprache verknüpft ist. 9 Als erste Annäherung an den Begriff soll zunächst die Definition von Gogolin & Lange (2011: 111) dienen: Bildungssprache ist den Autorinnen folgend ein bestimmter Ausschnitt sprachlicher Kompetenz […]. Gemeint ist ein formelles Sprachregister, d. h. eine Art und Weise Sprache zu verwenden, die bestimmte formale Anforderungen beachtet. Sehr grob charakterisiert, kann man sagen, dass Bildungssprache auch dann, wenn sie im Mündlichen vorkommt, an den Regeln des Schriftsprachgebrauchs orientiert ist. Entscheidend ist nun, dass das bildungssprachliche Register im Bildungskontext eine wesentliche Rolle spielt: „Es wird bei Lernaufgaben, in Lehrwerken und anderem Unterrichtsmaterial verwendet; es wird in Prüfungen und vielen Unterrichtsgesprächen eingesetzt“ (Gogolin & Lange 2011: 111). Bildungssprachliche Kompetenzen werden mit dem Fortschreiten der Bildungslaufbahn, in der das vermittelte Wissen abstrakter und spezifischer wird, notwendiger und stärker eingefordert, so dass sich der erfolgreiche Schüler letztendlich auch durch das Beherrschen dieses Registers auszeichnet. In dieser ersten Annäherung sind unterschiedliche Facetten von Bildungssprache enthalten, die im gegenwärtigen Diskurs mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung behandelt werden. Morek & Heller (2012) haben diese Facetten herausgearbeitet und folgendermaßen kategorisiert: (i) Bildungssprache als Medium der Wissenschaft, (ii) Bildungssprache als Werkzeug des Denkens und (iii) Bildungssprache als Eintritts- und Visitenkarte. Als (i) Medium der Wissenschaft kommt der Bildungssprache vor allem eine kommunikative Funktion zu: „Diese Funktion bestehe im Kern in der Vermittlung kognitiv anspruchsvoller Informationen in sog. dekontextualisierten Kontexten an eine fremde Zuhörer- oder Leserschaft, die Genauigkeit, Expertenschaft und Autorität erwarte“ (Morek & Heller 2012: 71). Aus dieser Perspektive heraus lassen sich auch die spezifischen sprachlichen Merkmale der Bildungssprache beschreiben. Im Allgemeinen weist sie eine bestimmte Qualität in der Lexik auf: Diese eignet sich besonders für differenzierende und spezifizierende 9 Auch dann, wenn der Terminus als wissenschaftlicher Begriff als ungeeignet angesehen wird, muss selbstverständlich darauf verwiesen werden, vgl. Uesseler, Runge & Redder (2013) und Redder (2014). Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 245 Darstellungen und weist eine hohe lexikalische Dichte auf. Sie zeigt auch Besonderheiten im syntaktischen Bereich, die sich besonders am Modus der Repräsentation (z. B. Konjunktivgebrauch, unpersönliche Konstruktionen) und an der Herstellung lokaler Kohärenz zeigen. Schließlich werden diskursive Merkmale beschrieben, die die Bildungssprache auszeichnen; darunter finden sich stilistische Konventionen (Sachlichkeit, logische Gliederung) ebenso wie das Vorherrschen bestimmter Textsorten (z. B. Protokoll, Bericht, Erörterung), die auch die Dominanz monologischer Formen widerspiegeln (z. B. Aufsatz, Vortrag, Referat) (vgl. auch Gogolin & Lange 2011: 113-114, Schleppegrell 2001, 2004). Mit ihrer (ii) epistemischen Funktion kann Bildungssprache als Werkzeug des Denkens betrachtet werden, das zu Bildungszwecken von Lehrern und Schülern verwendet wird. Sie eignet sich besonders gut dafür, abstraktes Wissen zu vermitteln, und ermöglicht es Lernenden, ein Verständnis für abstrakte Vorgänge und Ideen zu entwickeln; sprachliche und konzeptuelle Entwicklung sind eng miteinander verbunden (Feilke 2012a). Bildungssprache ist das Medium, in dem Wissen in Büchern und Institutionen vermittelt wird. Somit sind Kenntnisse in der Bildungssprache für den Wissens- und Erkenntnisgewinn in unserer Gesellschaft unerlässlich. 10 11 Verbunden mit der epistemischen Funktion erhält die Bildungssprache auch eine (iii) sozialsymbolische Funktion und fungiert als persönliche Visitenkarte und letztendlich als Eintrittskarte zu bestimmten gesellschaftlichen Positionen. Wer ‚Bildungssprache‘ verwendet, gibt sich als member einer ‚bildungsnahen‘ akademisch orientierten community (zu erkennen), und definiert die vorliegende Kommunikationssituation als eine, in der man sich auf ‚gebildete‘ Weise an der Darlegung oder Diskussion eines Sachverhaltes beteiligt (Morek & Heller 2012: 79, Kursivierungen im Original). Bildungssprache ist demzufolge Teil des Habitus im bourdieuschen Sinn und reflektiert und reproduziert gesellschaftliche Klassenunterschiede. Da in der Schule nicht nur Bildungsinhalte überprüft werden, sondern auch die Präsentation von Bildungsinhalten in die Benotungen einfließt, 12 haben solche Schüler 10 Umgekehrt können Formulierungen von Novizen auch auf Unzulänglichkeiten hinweisen, die weniger in stilistischen Unsicherheiten begründet sind, als vielmehr von Unzulänglichkeiten im Wissenserwerb zeugen (vgl. Ortner 2009). 11 Zur weiteren Differenzierung zwischen Bildungssprache und Schulsprache vgl. Feilke (2012a, b). 12 Kritisiert wird, dass die Erwartung an die Beherrschung von Bildungssprache von Lehrerseite meist implizit bleibt und nicht im Unterricht expliziert wird, wie adäquate Sprachhandlungen auszusehen haben. So wird manchmal Bildungssprache als „‚Geheimsprache‘ der Bildungs- und Lebenschancen zuteilenden Institution Schule“ bzw. als „geheimes Curriculum“ bezeichnet, das „kaum transparent und eindeutig kodifiziert ist und 246 Aivars Glaznieks & Andrea Abel einen Vorteil, die bildungssprachliche Kompetenzen bereits über das Elternhaus erworben haben. Wer Bildungssprache beherrscht, hat somit höhere Chancen auf einen guten Bildungsabschluss und später auch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Zusammenfassend lässt sich mit Uesseler, Runge & Redder (2013: 49) Bildungssprache folgendermaßen definieren: „Bildungssprache ist also sprachliches Handeln, welches als Methode der Gewinnung und Umsetzung von Bildung dient, genauer: von institutionell selektiertem gesellschaftlichen Wissen, um an einer Gesellschaft angemessen partizipieren zu können.“ 3.4. Zusammenfassung und Fragestellung Die Aneignung bildungssprachlicher Kompetenzen in der Standardsprache ist ein grundlegendes Ziel der schulischen Laufbahn. Sprachliche Fehler kommen während des Erwerbs dieser Kompetenzen vor und sind Teil des Schriftspracherwerbs. In dem nun folgenden empirischen Teil dieses Aufsatzes wollen wir uns auf grammatische Fehler in Schüleraufsätzen konzentrieren. Allgemein werden wir der Frage nachgehen, welche grammatischen Fehler sich in bildungssprachlichen Texten von Schülern finden lassen. Des Weiteren werden wir diskutieren, wie sich die festgestellten grammatischen Fehler hinsichtlich des oben vorgestellten Verhältnisses zwischen System und Norm einordnen lassen und ob diese Einordnung auch diatopische Variation berücksichtigen muss. Im Folgenden werden wir uns auf die ausführliche Analyse von Rektionsfehlern in Präpositionalphrasen einschränken. Bei der Einteilung der Präpositionen folgen wir der Einteilung des Duden (2016: 612), der zunächst einfache oder primäre Präpositionen ( in, auf, mit, nach, um, vor, hinter, statt, … ) von komplexen oder sekundären ( mithilfe, zufolge, anhand, anstelle, aufgrund, anstatt, … ) und präpositionsartigen Wortverbindungen (auch: tertiäre Präpositionen: im Verlauf, in Bezug auf, in Anbetracht, im Gefolge, an Stelle, … ) unterscheidet. Bezüglich der Rektion können Präpositionen, die sowohl Akkusativ als auch Dativ regieren (sog. Wechselpräpositionen ), von solchen unterschieden werden, die einen festen Kasus (meist Genitiv oder Dativ, seltener auch Akkusativ) regieren. Die Kasusrektion ist bei primären Präpositionen normalerweise eindeutig. Allerdings gibt es vor allem bei Dativ und Genitiv regierenden sekundären Präpositionen relativ häufig Kasusschwankungen, das heißt, die Sprecher verwenden einige dieser Präpositionen mit unterschiedlichen Kasus und unterschiedlicher Präferenz für einen davon, ohne dass damit ein Bedeutungsunterschied verbunden wäre. Man kann in einem solchen Fall von Präpositionen mit Nebenkasus sprechen (vgl. an dem sich viele Lernende mächtig reiben oder gar scheitern“ (Vollmer & Thürmann 2010: 109). Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 247 Helbig & Buscha 2001: 358-359, Duden 2016: 618). Die Wahl des angemesseneren Kasus hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, z. B. von der Position (z. B. entlang ), der Eindeutigkeit der Kasusmarkierung oder der Wahl des Registers. Für die Auseinandersetzung mit Rektionsfehlern in Präpositionalphrasen sind einige Erkenntnisse über den Erwerb und Schwierigkeiten im Gebrauch von Präpositionen hilfreich. So berichtet Becker (2011) von mehreren Untersuchungen zum Erwerb von Präpositionen bei monolingualen Kindern mit der L1 Deutsch im Vergleich zu Kindern mit einer Sprachentwicklungsverzögerung sowie im Vergleich zu Kindern mit der L1 Türkisch, die Deutsch als L2 lernen. Kinder mit der L1 Deutsch machen noch im Grundschulalter relativ viele Fehler bei sogenannten primären Präpositionen, darunter falsche Kasusmarkierungen sowie die Verwendung falscher Präpositionen oder das Auslassen dieser. Aus den vorhandenen Untersuchungen kann leider nicht geschlossen werden, wann diese Schwierigkeiten überwunden werden, Becker vermutet aber, dass besonders sekundäre und tertiäre Präpositionen einen längeren Erwerbsverlauf aufweisen, der bis ins Erwachsenenalter dauert; auch Erwachsene haben häufig Schwierigkeiten mit der korrekten Anwendung und Kasuszuweisung der nominalen Ergänzung. Da Wechselpräpositionen normalerweise keine Probleme bei Erwachsenen verursachen, werden eventuelle Schwierigkeiten bei dieser Art von Präpositionen vermutlich während der Adoleszenz überwunden. Problematisch scheinen besonders Präpositionen zu sein, die in der Kasusrektion schwanken, die also einen Nebenkasus aufweisen. Die Wahl des angemessenen Kasus hängt bei dieser Gruppe von Präpositionen meist von stilistischen Faktoren, also vom gewählten Register bzw. der gewählten Varietät ab. Für standardsprachliche Texte lassen sich mehr oder weniger starke Präferenzen für einen Kasus ausmachen, so wird im kausalen Bereich in standardsprachlichen Texten meist der Genitiv dem Dativ vorgezogen, während die gleichen Präpositionen außerhalb der Schriftsprache eher den Dativ regieren (vgl. dank, trotz, wegen , Eichinger 2013: 156-159, Eichinger & Rothe 2014: 90-95). Für die vorliegende Untersuchung der Rektionsfehler in Präpositionalphrasen bei deutschsprachigen Oberschülern sollen folgende Fragen forschungsleitend sein: a. Welche grammatischen Auffälligkeiten (Normfehler, Systemfehler) in der Kasusrektion in Präpositionalphrasen weisen Schülertexte im bildungssprachlichen Kontext auf ? Die analysierten Daten stammen aus dem Projekt KoKo (Projektdetails siehe im nächsten Abschnitt), das sich der Beurteilung von Schreibkompetenzen am Ende der Oberschule gewidmet hat. Der Fokus der Untersuchungen lag daher auf kompetenzbedingten sprachlichen Merkmalen in Schulaufsätzen. 248 Aivars Glaznieks & Andrea Abel Außerdem besteht das Untersuchungskorpus aus Texten von Schreibern mit unterschiedlichen soziolinguistisch relevanten Merkmalen, sodass auch diese für die Analyse von Fehlern berücksichtigt werden müssen: b. Wie verteilen sich grammatische Auffälligkeiten in Bezug auf ausgewählte außersprachliche Variablen (im Folgenden mit Fokus auf: Geschlecht, Schultyp, Region)? Ergebnisse aus der internationalen pädagogisch-psychologischen Forschung zeigen einen seit einigen Jahrzehnten deutlichen, steigenden Bildungserfolg bei Mädchen im Unterschied zu Buben. Mädchen schneiden im Schulsystem insgesamt besser ab, insbesondere in Bezug auf sprachliche Kompetenzen. Bei letzteren manifestieren sich die Unterschiede bereits in der Grundschule, vor allem in den Bereichen Lesen und Rechtschreibung (vgl. Helbig 2012: 12, 46 ff., NCES 2012: 2, DESI -Konsortium 2008: 20). Über Leistungsunterschiede in der Textproduktion im Fach Deutsch (9. Jahrgangsstufe) nach verschiedenen Teilkompetenzen berichtet die DESI -Studie. Demnach bestehen die größten Unterschiede zu Gunsten der Mädchen in den Bereichen Textproduktion (inklusive sprachsystematischer Aspekte), Argumentation, Rechtschreibung sowie Sprachbewusstheit, während die Unterschiede in den Bereichen Lesekompetenz und Wortschatz geringer sind ( DESI -Konsortium 2008: 20, Hartig & Jude 2008: 203). Auch institutionelle Bedingungen des Sprachunterrichts spielen bekanntlich eine Rolle im Hinblick auf die Ausprägung sprachlicher Kompetenzen. In der DESI -Studie beispielsweise lagen die Schülerleistungen in allen erfassten Kompetenzbereichen, d. h. auch im Deutschen, im gymnasialen Bildungsgang vorn ( DESI -Konsortium 2008: 53, Steinert, Hartig & Klieme 2008: 411). Für die Sprachkompetenzen im Deutschen ist mehr als die Hälfte der Gesamtvariation auf Unterschiede zwischen Schultypen zurückzuführen, während Unterschiede zwischen einzelnen Schulen oder individuelle Komponenten weniger stark ins Gewicht fallen (Steinert, Hartig & Klieme 2008: 414). Die Verteilung von Sprachkompetenzen in Abhängigkeit von Bildungsgängen bzw. Schularten ist schulpolitisch relevant. Diesbezüglich sind die jeweiligen Lernziele für das Fach Deutsch, die Anzahl von Unterrichtsstunden, Schwerpunktsetzungen in verschiedenen Fächern u. Ä. zu berücksichtigen. Eine Analyse der in Südtirol (Italien), Tirol (Österreich) und Thüringen (Deutschland) geltenden Lehrpläne bzw. Rahmenrichtlinien und Bildungsstandards im Zuge des Projekts KoKo ergab, dass in den am Projekt beteiligten Schultypen (Gymnasien und Fachoberschulen) gleichermaßen hohe Ansprüche an die Schreibkompetenzen im Fach Deutsch gestellt werden (s. Autonome Provinz Bozen - Südtirol 2010, Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2013, 2016, Bundesgesetz- Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 249 blatt für die Republik Österreich 2004, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur 2012a, 2012b) 13 . Die Variable Region ist für den vorliegenden Band sicherlich die interessanteste. Bezüglich der Kasusrektion von Präpositionen sind aus plurizentrischer Sicht keine Auffälligkeiten im Sinne von nationaler Variation beschrieben, weder hinsichtlich der Normerwartung ( Norm 2 , vgl. z. B. Duden 2011: 779) noch hinsichtlich des präferierten Sprachgebrauchs ( Norm 1 , vgl. Duden 2016: 618-627) 14 ; die nationalen Standardvarietäten des Deutschen verhalten sich hier alle wie oben beschrieben 15 . Jedoch scheint es bei der Kasusrektion in Präpositionalphrasen areale Variation im Substandard zu geben. Petig (1997) hat eine regionale Verteilung für die Kasusrektion bei Präpositionen mit Nebenkasus in zwei Korpora gesprochener Sprache festgestellt ( statt, trotz, wegen und während ), wobei Sprecher aus dem südlichen Sprachgebiet (Süddeutschland, Österreich und Schweiz) tendenziell den Dativ bevorzugen, Sprecher aus dem Norden den Genitiv. Variation kann auch in Bezug auf dialektale Varietäten festgestellt werden: Einige dieser Varietäten zeigen Abweichungen vom Standard, die bei einer Interpretation von Rektionsfehlern bei Schreibnovizen aus den entsprechenden Gebieten berücksichtigt werden müssen. Die dialektale Kasusrektion bei Präpositionen weist normalerweise keine registerbedingten Schwankungen auf; hier gibt es auch meist keinen Genitiv 16 , Präpositionen regieren dann entweder den Akkusativ oder den Dativ 17 , in manchen Dialekten einheitlich den Dativ 18 . Hinzu kommt, dass Synkretismus in der Substantivdeklination zwischen Akkusativ und Dativ auftreten kann, der bei Wechselpräpositionen die Unterscheidung zwischen direktionalem Akkusativ und lokalem Dativ erschwert. In solchen Fällen können Richtungs- oder Ortsadverbien zur 13 Für die Studie wurden die jeweils zum Erhebungszeitpunkt (2011) geltenden Unterlagen verwendet, d. h. anders als oben zitiert für die Gymnasien und Fachoberschulen in Thüringen die Lehrpläne von 1999 und für die Fachoberschulen in Österreich die Pilotversion der Bildungsstandards von 2010. 14 Eichinger & Rothe (2014: 93) merken lediglich in einer Fußnote an, dass in „Schweizer Quellen“ der IDS-Korpora die Präposition trotz eine stärkere Neigung zum Dativ aufweist im Gegensatz zu den Quellen des übrigen deutschen Sprachgebiets. Jedoch wird auch in den Schweizer Quellen überwiegend der Genitiv verwendet. 15 Zum Zeitpunkt der Erstellung des vorliegenden Beitrags liegen aus dem Projekt „Variantengrammatik des Standarddeutschen“ in Bezug auf die areale Variation bei der Kasusrektion in der geschriebenen Standardsprache noch keine Ergebnisse vor. 16 Siehe z. B. für mitteldeutsche Dialekte u. a. Spangenberg 1990, für oberdeutsche Dialekte u. a. Wiesinger 1990 und für Südtiroler Dialekte Lanthaler 2012. 17 Oder, wenn wie in schwäbisch-alemannischen Dialekten Akkusativ durch Nominativ ersetzt wird, den Nominativ (vgl. Mikosch 1987: 55). 18 Zum Beispiel in einigen südbairischen Dialekten wie im Südtiroler Unterland (vgl. Giacomozzi 1982: 88-95) oder oberfränkischen Dialekten (vgl. Rowley 1989: 371-372). 250 Aivars Glaznieks & Andrea Abel Herstellung von Eindeutigkeit verwendet werden. 19 Sprecher solcher Varietäten könnten bei der Anwendung des standarddeutschen Systems Transferfehler aus der gesprochenen Varietät zeigen. 20 Im Folgenden sollen die analysierten Daten und die angewandte Methode der Korpusanalyse erläutert werden. 4. Methode und Daten: das KoKo-Korpus 4.1. Das Korpus: Zahlen und Fakten Das L1-Lernerkorpus „KoKo“ ist aus dem Projekt „KoKo: Bildungssprache im Vergleich: korpusunterstützte Analyse der Sprachkompetenz bei Lernenden im deutschen Sprachraum (KoKo)“ entstanden. 21 Das Projekt ist Teil der Initiative „Korpus Südtirol“, in der Südtiroler Texte gesammelt und in einem Korpus abgefragt werden können (siehe z. B. Anstein et al. 2011, Abel & Anstein 2011). 22 Die Ziele des Projekts „KoKo“ liegen darin, anhand von Textproduktionen Aussagen über die Schreibkompetenzen (im bildungssprachlichen Kontext Schule) von Schülern am Ende der schulischen Laufbahn zu treffen und die Distribution sprachlicher Merkmale vor dem Hintergrund außersprachlicher Kontextvariablen zu interpretieren. Darüber hinaus befasst es sich mit dem Aufbau eines digitalen Lernerkorpus als Basis für die Erfassung und Analyse schriftlicher Sprachprodukte sowie der Entwicklung und Anpassung von Instrumenten zu deren Analyse (Abel et al. 2014). Das gesamte Lernerkorpus „KoKo“ umfasst 1503 Texte und hat eine Größe von 812 721 Tokens (ohne Satzzeichen, Stand: Dezember 2015). Davon stammen 1319 Texte von Schülern mit der L1 Deutsch. 23 Alle Texte wurden unter ver- 19 Diese können schließlich die eigentliche Präposition ersetzen, woraus neue Präpositionen hervorgehen können (vgl. nei die Stadt vs. drin der Stadt oder sogar nei der Stadt vs. drin der Stadt aus in die Stadt hinein bzw. in der Stadt drinnen in ostfränkischen und südthüringischen Dialekten) (Harnisch 2004). 20 Denkbar ist auch die Existenz regionaler Gebrauchsstandards, die die Verhältnisse der dialektalen Basen reflektieren. Solche Erscheinungen dürften dann aus pluriarealer Sicht nicht als Fehler interpretiert werden (vgl. Niehaus i. d. B.). Niehaus (2016: 157-159) weist auf einen solchen Zusammenhang bei der arealen Verteilung der Stellung des Finitums in komplexen Nebensatzprädikaten hin. 21 Siehe http: / / www.korpus-suedtirol.it/ KoKo. 22 Siehe http: / / www.korpus-suedtirol.it. 23 Unter den 1319 Schülern mit der L1 Deutsch befanden sich 39 Schüler, die angaben, neben Deutsch eine weitere L1 zu haben. Davon stammen 20 Schüler aus Südtirol (13 Mal bilingual Deutsch-Italienisch, 6 Mal Deutsch-Ladinisch, 1 Mal Deutsch-Albanisch), 13 Schüler aus Nordtirol (3 Mal bilingual Deutsch-Englisch, 2 Mal Deutsch-Bos- Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 251 gleichbaren Rahmenbedingungen erstellt: Sie wurden während des Unterrichts verfasst und als Mittel der Motivation konnten die Lehrerkräfte gelungene Texte positiv in die Leistungsbewertung einfließen lassen. Die Aufgabenstellung war für alle teilnehmenden Klassen dieselbe: Die Schüler sollten zu einem Zitat von Hans Magnus Enzensberger, in dem er sich über die Jugend äußert, einen Erörterungsaufsatz verfassen, in dem auch zum Thema persönlich Stellung genommen werden sollte. Die Schüler hatten 120 Minuten Zeit für die Bearbeitung der Aufgabe; als Hilfsmittel waren Wörterbücher zugelassen. Die Texte wurden ein Jahr vor der Hochschulreife geschrieben. 89 % der Oberschüler waren zum Erhebungszeitpunkt zwischen 17 und 19 Jahre alt, 7 % gaben an, älter als 19 Jahre zu sein, von etwa 4 % fehlt diese Angabe. Die Texte wurden sowohl an allgemeinbildenden als auch an berufsqualifizierenden Oberschulen in drei Regionen des deutschen Sprachraums, und zwar in Nordtirol (Österreich), Südtirol (Italien) und Thüringen (Deutschland), erhoben. 24 An nisch, jeweils 1 Mal Deutsch-Französisch, Deutsch-Niederländisch, Deutsch-Italienisch, Deutsch-Japanisch, Deutsch-Tagalog, Deutsch-Spanisch, Deutsch-Türkisch, Deutsch- Finnisch) und 6 Schüler aus Thüringen (3 Mal bilingual Deutsch-Englisch, jeweils 1 Mal Deutsch-Albanisch, Deutsch-Chinesisch, Deutsch-Spanisch). Die bilingualen Schüler mit Deutsch als einer L1 wurden den monolingualen Schülern gleichgestellt. 24 Sprachliche und demographische Merkmale bestimmten die Auswahl von Nordtirol (Anmerkung: In Absprache mit dem Landesschulrat für Tirol wurde beschlossen, aus logistisch-organisatorischen Gründen vom österreichischen Bundesland Tirol nur Nordtirol, nicht hingegen Osttirol in das Projekt einzubinden.) und Thüringen neben Südtirol, wo das Projekt „Bildungssprache im Vergleich“ durchgeführt wurde. Sprachlich gesehen unterscheiden sich die drei Regionen in folgenden Merkmalen: Südtirol ist eine stark dialektgeprägte Region, in der die Standardsprache fast ausschließlich in den Medien, in Bildungsinstitutionen und in geschriebener Form verwendet wird. Überall sonst ist der Dialekt die bevorzugte Varietät (zuletzt Ciccolone & Franceschini 2015). Die mediale Diglossie wird in jüngster Zeit in den neuen Medien aufgeweicht, wo zu einem sehr großen Anteil auch Dialekt geschrieben wird. Südtirol ist darüber hinaus ein mehrsprachiges Gebiet am Rande des deutschen Sprachraums, in dem neben Deutsch Italienisch und gebietsweise auch Ladinisch als offizielle Amtssprache verwendet werden. Auch Nordtirol ist ein stark dialektgeprägtes Gebiet, ist aber im Gegensatz zu Südtirol offiziell einsprachig. Thüringen ist wie Nordtirol einsprachig, im Gegensatz zu Südtirol und Nordtirol wird der Dialekt vor allem unter Jugendlichen kaum mehr verwendet (Lösch 1993). Jugendliche verwenden eine Art regional gefärbter Umgangssprache (Wiegand 1993). Lediglich im südthüringischen Gebiet (hennebergischer und südostthüringischer Sprachraum) scheint der lokale Dialekt auch unter Jugendlichen noch gebräuchlich (Spangenberg 1990); doch auch in diesem Gebiet sind standardnahe Varietäten verbreitet (Fritz-Scheuplein 2004). Demographisch eignen sich die drei Gebiete relativ gut für einen Vergleich: Südtirol und Nordtirol haben etwa die gleiche Anzahl an Einwohnern, die in etwa gleich über städtische und ländliche Siedlungen verteilt sind (jeweils eine Großstadt mit über 100 000 Einwohnern - Bozen bzw. Innsbruck - hoher Anteil an ländlicher Bevölkerung in Ortschaften unter 10 000 Einwohnern - Südtirol ca. 56 %, Nordtirol ca. 66 %). Thüringen ist größer und stärker bzw. dichter besiedelt als Südtirol und Nord- 252 Aivars Glaznieks & Andrea Abel der Erhebung nahmen ausgewählte Schulklassen im Klassenverbund teil. Die Auswahl der Schulklassen erfolgte pro Region über eine stratifizierte Zufallsstichprobe mit den Schichtungsmerkmalen Schultyp und Gemeindegröße . Die Zusammensetzung des Korpus ist in Tabelle 1 wiedergegeben. Subkorpus (nach Region) Gesamtanzahl L1 Deutsch Nordtirol ( NT ): 232 990 Tokens (457 Texte) 206 293 Tokens (404 Texte) Südtirol ( ST ): 222 512 Tokens (520 Texte) 193 089 Tokens (451 Texte) Thüringen ( TH ): 352 744 Tokens (521 Texte) 316 156 Tokens (464 Texte) ohne Angabe 2121 Tokens (5 Texte) --gesamt 812 721 Tokens (1503 Texte) 715 538 Tokens (1319 Texte) Tab. 1: Zusammensetzung des Lernerkorpus „KoKo“ (Version KoKo4, Stand: Dezember 2015) Zusätzlich zu den Texten ist eine Reihe von Informationen über die Verfasser bekannt, die über einen Fragebogen erfasst und teilweise als Metadaten in das Korpus aufgenommen wurden. Im Korpus (Stand Dezember 2015) befinden sich Informationen zur L1, zum Geschlecht, zur Region, zum Schultyp (allgemeinbildend vs. berufsbildend), zur Deutschnote des letzten abgeschlossenen Schuljahrs vor der Erhebung und zur Gemeindegröße. Alle Texte wurden korpuslinguistisch aufbereitet und abfragbar gemacht. Hierfür wurden sie strukturell und linguistisch annotieret, i. e. tokenisiert, lemmatisiert und mit Wortarten annotiert (Treetagger, Schmid 1994). Falls nötig, wurden manuelle Korrekturen durchgeführt. Das Korpus wird über eine benutzerfreundliche Abfrageoberfläche (ANNIS3, Zeldes 2015) frei zugänglich und abfragbar gemacht (www.korpus-suedtirol.it/ koko). 25 Im Rahmen des Projekts werden die Texte in einer Kombination aus quantitativen, (halb-)automatischen korpuslinguistischen und qualitativen linguistischen Methoden nach orthographischen, grammatischen, lexikalischen und textuellen Merkmalen analysiert und miteinander verglichen. Die Metadaten werden in die Interpretation einbezogen und ermöglichen Aussagen darüber, welche Faktoren die Verteilung sprachlicher Merkmale (mit-)bestimmen. tirol. Es besitzt allerdings auch nur eine geringe Anzahl an Großstädten (Erfurt, Jena und Gera mit 200 000 bzw. knapp 100 000 Einwohnern) und einen relativ hohen Anteil an ländlicher Bevölkerung (49 %). 25 Für eine detaillierte Beschreibung der Korpuserstellung s. Glaznieks et al. (2014) und Abel et al. (2014). Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 253 4.2. Methode der Korpusanalyse In einem Subkorpus von 596 Texten (324 898 Tokens) wurden grammatische Fehler manuell annotiert. Die Texte für das Subkorpus wurden nach denselben Kriterien wie für das Gesamtsample ausgewählt und richteten sich pro Erhebungsregion nach den Schichtungsmerkmalen Schultyp und Gemeindegröße . Sie stammen alle von Schülern mit der L1 Deutsch. 26 Bei der Annotation wurden alle Grammatikfehler mit einem Annotationstag versehen, das den Fehler einer vorgegebenen Fehlerkategorie zuordnet. Das Annotationsschema für Grammatikfehler wurde auf den Regeln der deutschen Standardvarietät (Fokus: geschriebener Standard) erstellt, wie sie in aktuellen deskriptiven Grammatiken beschrieben werden (Duden 2009, Zifonun et al. 1997). Das Schema für die Einteilung grammatischer Fehler sieht sieben Kategorien vor, die mithilfe von acht verschiedenen Tags annotiert werden können: • Fehler bezüglich Korrespondenz-Relationen, i. e. Rektions- und Kongruenzbeziehungen (z. B. Rektionsfehler: Mir stellt sich die Frage, ob ich, wo ich gerade mitten in diese Phase stecke, das später auch so sehen werde . ID 1063; Kongruenzfehler: Alles in allem, glaube ich, ist diese Entwicklungsphase eine der wichtigsten Zeitpunkte im Leben jedes Einzelnen. ID 1637), wurden mithilfe zweier voneinander abhängiger Tags annotiert: - gram_corr markiert das regierte Wort in einer Korrespondenz-Relation, das einen Fehler hinsichtlich der Auswahl des richtigen Kasus, Numerus, Genus bzw. der richtigen Person aufweist (Fehler in der Wahl der richtigen Kasus-, Numerus-, Genus- oder Personenkategorie). - gram_corr_ref markiert das regierende Wort (bei phorischer Kongruenz: die regierende Phrase) in einer Korrespondenz-Relation bei Verstoß gegen die geforderte Kasuszuweisung oder Kongruenz von Numerus, Genus bzw. Person. • Flexionsfehler ( inflection ), die die korrekte Markierung grammatischer Kategorien betreffen, typischerweise Verwechslungen des Flexionsparadigmas (schwache statt starke Verb-, Substantiv- oder Adjektivflexion), werden mit gram_infl markiert (Fehler in der richtigen Wahl der Kasus- oder Tempusform, z. B.: Dieses Zitat giltet aber nicht für früher, wo Jugendliche viel braver gewesen sind als heute und auch nicht so draufgängerisch wie heute. ID 1492). • Unvollständigkeit ( incompleteness ) von Sätzen und Phrasen sowie der fehlerhafte Gebrauch von Ellipsen werden mit gram_inco markiert. Dazu zählen 26 Darunter 12 bilinguale Schüler. Davon stammen 7 Schüler aus Südtirol (5 Mal Deutsch- Italienisch, jeweils 1 Mal Deutsch-Ladinisch und Deutsch-Albanisch), 4 Schüler aus Nordtirol (jeweils 1 Mal Deutsch-Niederländisch, Deutsch-Englisch, Deutsch-Japanisch und Deutsch-Finnisch) und 1 Schüler aus Thüringen (Deutsch-Englisch). 254 Aivars Glaznieks & Andrea Abel fehlende obligatorische Satzglieder ( Der 17-jährige entwendete aus dem Waffenschrank seines Vaters und nahm 6 Mitschülern und anschließend sich selbst das Leben . ID 2110), ungrammatische Ellipsen ( Sie haben keine Manieren und Respekt Jugendlichen und Erwachsenen gegenüber . ID1170) und unvollständige Satzglieder ( Heute hingegen ist die Jugend ziemlich faul, faul zu arbeiten und faul Schule zu gehen . ID 1078). • Wiederholungen ( redundancy ) von Wörtern und Satzteilen, die einen Satz ungrammatisch werden lassen, werden mit gram_redu markiert. ( Das Leben ist in der Jugend ist am wertvollsten, den in dieser Zeit entwickelt man seinen eigen Charakter, welcher dann ein Leben lang halt. ID 1181). • Anakoluthe werden mit gram_anak markiert. ( Meiner Meinung nach ist Enzensbergers Ansicht ziemlich widersprüchlich weil er von Erwachsenen, im Gegensatz zu den beschriebenen Jugendlichen stehen also sicher und fest im Leben stehen . ID 1017). • Verstöße gegen Beschränkungen der Wortbzw. Satzgliedstellung werden mit gram_woor markiert. ( In der Jugend entdeckt man dann, welche Kleidung passt zu dir . ID 1181). • Grammatische Fehler, die nicht eindeutig in eine Kategorie eingeordnet werden können, werden als nicht-klassifizierbare grammatische Fehler gram_uncl markiert. Alle Annotationskategorien bestehen aus Unterkategorien, die hinsichtlich Anzahl und weiterer Unterkategorien variieren. Zum Beispiel enthält die Kategorie Anakoluth nur zwei Unterkategorien: Retraktion und Umstieg (vgl. Zifonun et al. 1997: 449-466). Korrespondenz-Fehler hingegen werden bezüglich Wortarten und anschließend nach der Fehlerart unterkategorisiert. Dadurch entsteht ein weit und tief verzweigtes Schema, das der Komplexität der Korrespondenzfehler gerecht wird. So können etwa Korrespondenzfehler bei Adjektiven, Artikelwörtern, Verben, usw. auftreten, die dann wieder nach Kasus-, Numerus-, Genus- und anderen Fehlern kategorisiert werden. Die Annotationen wurden detailliert in einem Annotationsschema 27 beschrieben. Für die Annotation der grammatischen Fehler wurde das Stand-off-Annotationsprogramm MMAX 2 (Müller & Strube 2006) verwendet. Die Annotationen wurden nach einer Testphase von mehreren Wochen von einer dafür eingearbeiteten Projektmitarbeiterin durchgeführt. Zusätzlich wurde eine Auswahl von 61 der 596 Texte des Subkorpus (~10 %) von einem anderen Mitarbeiter gegenannotiert, ohne die Annotationen der ersten Annotatorin eingesehen zu haben. 27 Das Annotationsschema wird auf der Projekt-Webseite www.korpus-suedtirol.it/ KoKo zur Verfügung gestellt. Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 255 Die Annotationen wurden quantitativ analysiert und die Ergebnisse bezüglich möglicher Zusammenhänge mit den im Korpus befindlichen Metadaten der Schüler überprüft. 5. Ergebnisse Zu Beginn der Ergebnispräsentation soll allgemein die Frage beantwortet werden, welche grammatischen Fehler im Korpus vorkommen und wie häufig. Dies dient zur Beantwortung der forschungsleitenden Frage a. Tabelle 2 zeigt, dass grammatische Fehler der Kategorie Korrespondenzfehler die häufigste Fehlerquelle darstellen. In dieser Fehlerkategorie sind sowohl Rektionsals auch Kongruenzfehler enthalten. Fehlerkategorie Anzahl der Fehler gram_corr 28 1678 gram_infl 240 gram_inco 379 gram_redu 43 gram_anak 129 gram_woor 92 gram_uncl 110 Tab. 2: Gesamtzahl der grammatischen Annotationen im Lernerkorpus „KoKo“ (Version KoKo4, Stand: Dezember 2015) Betrachtet man nur die Kasusrektionsfehler im Korpus, so fällt auf, dass diese Fehler in etwa 60 % der Fälle in von Präpositionen regierten Phrasen auftreten (vgl. Tabelle 3). Rektionsfehler bei Präpositionen kommen auch mehr als doppelt so häufig vor als bei Verben; in geringer Anzahl sind auch Fehler bei Nominalrektion (v. a. Genitivattribution), Adjektiven, und Determinierern im Subkorpus zu finden. 28 In Tabelle 2 sind die Annotationen der Kategorie gram_corr_ref nicht aufgeführt, da sie immer mit mindestens einer Annotation der Kategorie gram_corr korrespondieren und Teil desselben Fehlers sind. Die exakte Anzahl an Annotationen der Kategorie gram_corr_ref ist 1551. Der Unterschied in der Anzahl der Annotationen zwischen gram_corr_ref und gram_corr liegt darin, dass ein Element mehrere Elemente (in einer oder mehreren Phrasen, z. B. Determinierer und Substantiv) regieren kann. Fehlerhafte Korrespondenzmarkierungen wurden in gram_corr einzeln gezählt. 256 Aivars Glaznieks & Andrea Abel gram_corr_ref Korrespondensfehler bzgl. Kasus Präpositionen 366 Verben 175 Nominalphrasen 38 Adjektive 16 Determinierer 6 Nomina 5 other 1 Total 607 Tab. 3: Alle Korrespondenzfehler im Lernerkorpus „KoKo“ (Version KoKo4, Stand: Dezember 2015), die aufgrund eines Kasusrektionsfehlers annotiert wurden Für weitere Analysen wurden alle Präpositionen im Subkorpus basierend auf der Einteilung in Helbig & Buscha (2001: 357-359) und unter Berücksichtigung der Anmerkungen in Duden (2009), Ágel (2008), Eichinger (2013) sowie Eichinger & Rothe (2014) einer der folgenden Kategorien zugeordnet: • Wechselpräpositionen: in, an, auf, hinter, neben, über, unter, vor, zwischen • Präpositionen mit einem festen Kasus: abseits, anhand, anstelle, aufgrund, aus, außerhalb, bei, bezüglich, bis, durch, für, gegen, gegenüber, gleich, hinsichtlich, inklusive, mit, mithilfe, nach, ohne, seit, um, voll, von, zu, zufolge KoKo4 Grammatik / Präpositionen Wechselpräpositionen Präpositionen mit Nebenkasus Präpositionen mit festem Kasus AP .* gesamt 11 184 336 13 272 Fehler absolut 125 44 197 Fehler / Text 0,21 0,07 0,33 Fehler / 100 AP .* der jeweiligen Analysekategorie 1,12 13,10 1,48 Tab. 4: Übersicht über das Gesamtvorkommen von Präpositionen aller Art ( AP .*) 29 und Anzahl der Fehler pro Analysekategorie (Wechselpräpositionen, Präpositionen mit Nebenkasus, Präpositionen mit festem Kasus) 29 Die Abkürzung AP.* gibt die Suche mit Hilfe der automatischen Wortarten-Annotation nach dem Stuttgart-Tübingen-TagSet (STTS, vgl. Schiller et al. 1999) wieder und beinhaltet Präpositionen und Zirkumpositionen links ( APPR ), Präpositionen mit Artikel ( APPR- ART ), Postpositionen ( APPO ) und Zirkumpositionen rechts ( APZR ). Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 257 Tabelle 4 zeigt die Häufigkeit von Fehlern bezüglich der einzelnen Kategorien von Präpositionen. Auf das gesamte Subkorpus gesehen kommen diese Fehler nicht sehr häufig vor, durchschnittlich findet sich weniger als 1 Fehler pro Text. Auch die Fehleranzahl pro 100 Präpositionen der jeweiligen Kategorie ist nicht hoch, bei Wechselpräpositionen und Präpositionen mit einem festen Kasus liegt die Fehlerrate bei knapp über 1 bzw. bei knapp 1,5. Lediglich bei den Präpositionen mit Nebenkasus ist diese Rate relativ hoch: Hier können 13 Fehler auf 100 Präpositionen gezählt werden. Diesbezüglich muss auch darauf hingewiesen werden, dass sie die Kategorie mit den wenigsten Vorkommnissen im Korpus ist. Um einen Eindruck von den Fehlern zu vermitteln, seien an dieser Stelle einige Beispiele für Rektionsfehler für jede Präpositionskategorie angegeben: Rektionsfehler bei Wechselpräpositionen: • Viele Eltern und ältere Menschen wünschen sich in ihrer Jugendzeit zurück. ( ST ID 1215) 30 • Meine Mutter hat mindestens doppelt so viel Gewand in ihren Kleiderschrank, als wie ich! ( ST ID 2105) • Manche übertreiben und bekommen in diesen Alter ein Kind […] (NT ID1405) • Man erfährt das eine neue Konsole auf dem Markt kommt […] ( TH ID 1087) • Die meisten von ihnen haben nur Dummheiten im Kopf und hören oft auch nicht auf der Mutter oder dem Vater. ( ST ID 2030) Rektionsfehler bei Präpositionen mit Nebenkasus: • Er betont dabei vor allem die negativen Aspekte die während diesen Jahren auftreten. ( ST ID 1355) • Viele Mädchen jammern wegen ihren zu breiten Hüften oder wegen den zu kleinen Busen. ( ST ID 1355) • Betrachtet man das Verhalten der Jugend, inklusive regelmäßigen Diskothekbesuchen, kann man immer wieder den Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit erkennen. ( NT ID 1193) Rektionsfehler bei Präpositionen mit einem festen Kasus: • Freunde unterstützen ihm und sind für ihm da. ( ST ID 2745) 30 Die Kürzel in der Klammer nach jedem Beispiel geben zuerst die Herkunftsregion des Textes an (ST = Südtirol, NT = Nordtirol, TH = Thüringen), anschließend wird die Identifikationsnummer des Verfassers angegeben. Die jeweilige Präpositionalphrase mit Rektionsfehler wurde unterstrichen; Annotationen von orthographischen, anderen grammatischen und lexikalischen Fehlern werden hier nicht wiedergegeben. 258 Aivars Glaznieks & Andrea Abel • „Jugend“ ist im Allgemeinen die Zeit nach der Geburt, (…), bis zum erreichen eines gewissen Standes der geistigen und sozialen Entwicklung, z. B. durch das Gründen einer Familie oder das ergreifen eines Berufes in einer Machtposition, sowie des Erreichens einer Altersgrenze, die irgendwo zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr angesiedelt ist. ( TH ID 2875) • (…) doch ohne dieser Erfahrung, wäre er heute nicht zu dem geworden, der er heute ist. ( NT ID 1475) • Aber nicht nur zum Wohl sondern auch zu ihren eigenen Wohl, denn so treffen sie neue Leute und lernen neue Freunde kennen. ( ST ID 1133) • Weiters finde ich, dass die Zeit der Jugend eindeutig Vorteile hat gegenüber die eines Erwachsenen. ( NT ID 2708) Um die forschungsleitende Frage b zur Verteilung von Rektionsfehlern innerhalb von Präpositionalphrasen zu beantworten, sollen folgende außersprachliche Faktoren, die als Metadaten in das Korpus aufgenommen wurden, berücksichtigt werden: Geschlecht (männlich vs. weiblich), Region (Thüringen ( TH ) vs. Südtirol ( ST ) vs. Nordtirol ( NT )), Schultyp (allgemeinbildend ( AHS ) vs. berufsbildend ( BHS )). Die Rektionsfehler in Präpositionalphrasen sind im Korpus nicht normal, d. h. über alle Texte gleichermaßen, verteilt. 31 Vielmehr treten nur in 218 Texten (36 %) Fehler auf. Aus diesem Grund können die Gruppenvergleiche nicht auf der Basis von Mittelwerten erfolgen; es werden ausschließlich die Verteilungen der Fehlervorkommen in verschiedenen Subkorpora miteinander verglichen. 32 5.1. Variable: Geschlecht Die Variable Geschlecht zeigt keine signifikante Fehlerverteilung (vgl. Tabelle 5): Männliche Schüler machen zwar mehr Fehler als weibliche, die Unterschiede sind jedoch nicht signifikant. Vergleicht man allerdings nur die Texte im Korpus, die Fehler aufweisen, so zeigt sich, dass davon die Texte, die von Schülern geschrieben wurden, bei Präpositionen mit festem Kasus signifikant mehr Fehler aufweisen als die von den Schülerinnen (χ 2 (1) = 5696; p=.017) 33 . 31 Dies wurde mit dem Kolmogorov-Smirnov-Test überprüft. 32 Als Signifikanztest wurde der Kruskal-Wallis-Test angewandt. 33 Alle in den folgenden Tabellen mit einem Stern markierten Werte geben an, dass der Unterschied zwischen den angegebenen Vorkommen in den verglichenen Subkorpora signifikant ist, und zwar: * bei p < 0.05, ** bei p < 0.01, *** bei p < 0.001. Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 259 KoKo4 Kruskal-Wallis- Test p Grammatik: Rektion / Präpositionen Subkorpus weiblich männlich unknown total nur Texte mit Fehlern Texte 596 328 256 12 Tokens 324 898 194 866 124 264 5768 Rektionsfehler pro 100 AP .* der jeweiligen Analysekategorie total 1,47 1,32 1,66 2,03 0.603 0.180 Wechselpräpositionen 1,12 0,97 1,30 2,21 0.360 0.071 Präpositionen mit Nebenkasus 13,10 14,36 11,81 0,00 † 34 † Präpositionen mit festem Kasus 1,48 1,33 1,70 1,97 0.988 0.017* Zielkasus Nominativ † 0,00 0,01 0,00 0,00 † † Zielkasus Dativ 0,98 0,83 1,17 1,81 0.113 0.099 Zielkasus Akkusativ 0,30 0,31 0,30 0,23 † 0.060 Zielkasus Genitiv † 0,18 0,18 0,19 0,00 † † Tab. 5: Übersicht über die Kasusrektionsfehler bei Präpositionen im Subkorpus (n=596 Texte, Version KoKo4 Stand Dezember 2015), gruppiert nach dem Faktor Geschlecht 34 Für die mit einem † markierten Kategorien sind die Vorkommnisse zu gering, um statistisch relevante Aussagen bezüglich der Verteilung treffen zu können. 260 Aivars Glaznieks & Andrea Abel 5.2. Variable: Region Die Variable Region zeigt einige interessante Unterschiede in der Verteilung von Rektionsfehlern bei Präpositionen (vgl. Tabelle 6). Betrachtet man ausschließlich Texte mit Fehlervorkommen, dann gibt es in den Texten der Südtiroler insgesamt signifikant mehr Fehler als in denen der Thüringer (χ 2 (1) = 10 622; p=.005). Besonders starke Unterschiede sind bei der Präposition zu festzustellen. Bei Schülern aller Regionen treten insbesondere Fehler bei den Präpositionen in und mit auf. Folgt man der Einteilung der Präpositionen in Wechselpräpositionen , Präpositionen mit Nebenkasus und in solche, die einen festen Kasus regieren, dann zeigt sich ein regionaler Unterschied bei den Wechselpräpositionen (χ 2 (1) = 7532; p=.023) und bei Präpositionen mit festem Kasus (χ 2 (1) = 8972; p=.011). Betrachtet man alle Analysekategorien, so zeigen sich insgesamt die größten Abweichungen zwischen Südtirol und Thüringen. Auffallend sind vor allem die Unterschiede bei der Präposition auf , die in Südtiroler Texten am häufigsten mit dem falschen Kasus vorkommt. Es finden sich aber in Texten aus allen Regionen Fehler bei Präpositionen, egal welchen Kasus sie regieren. Am häufigsten kommen Dativ-Fehler vor, gefolgt von Akkusativ- und schließlich Genitiv-Fehlern. Zu den Präpositionen mit Nebenkasus kann aufgrund der geringen Vorkommnisse im Korpus keine Aussage getroffen werden. 35 Für diejenigen Analysekategorien, bei denen signifikante Unterschiede in den Verteilungen festgestellt wurden, wurden Post-Hoc-Tests durchgeführt, um durch paarweise Gruppenvergleiche zu prüfen, welche Unterschiede die Ergebnisse signifikant gemacht haben, u. z.: Rektionsfehler total - nur Texte mit Fehlern: ST-TH p=0.004, TH-NT p=0.117, ST-NT p= 1.000, Rektionsfehler Wechselpräpositionen - total: NT-TH p=0.577, NT-ST p=0.036, TH-ST p=0.679, Rektionsfehler Wechselpräpositionen - nur Texte mit Fehlern: TH-ST p=0.028, TH-NT p=1.000, NT-ST p=0.187, Präpositionen mit festem Kasus - nur Texte mit Fehlern: TH-NT p=0.083, TH-NT p=0.016, NT-ST p=1.000, Zielkasus Dativ - nur Texte mit Fehlern: TH-NT p=0.307, TH-ST p=0.001, NT-ST p=0.211. Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 261 KoKo4 Kruskal-Wallis- Test p Grammatik: Rektion / Präpositionen Subkorpus TH ST NT total nur Texte mit Fehlern Texte 596 198 199 199 Tokens 324 898 138 738 84 653 101 507 Rektionsfehler pro 100 AP .* der jeweiligen Analysekategorie total 1,47 1,36 1,93 1,23 0.107 0.005** 35 Wechselpräpositionen 1,12 0,95 1,76 0,81 0.042* 0.023* Präpositionen mit Nebenkasus 13,10 10,95 21,69 9,48 † † Präpositionen mit festem Kasus 1,48 1,49 1,61 1,37 0.531 0.011* Zielkasus Nominativ 0,00 0,00 0,02 0,00 † † Zielkasus Dativ 0,98 0,96 1,18 0,85 0.623 0.002** Zielkasus Akkusativ 0,30 0,24 0,44 0,28 † 0.063 Zielkasus Genitiv 0,18 0,16 0,30 0,10 † † Tab. 6: Übersicht über die Kasusrektionsfehler bei Präpositionen im Subkorpus (n=596 Texte, Version KoKo4 Stand Dezember 2015), gruppiert nach dem Faktor Region 5.3. Variable: Schultyp Auch hinsichtlich der Variable Schultyp zeigt sich eine signifikante Verteilung der Rektionsfehler bei Präpositionen, wenn nur die Texte berücksichtigt werden, in denen auch Fehler auftreten (vgl. Tabelle 7). BHS -Schüler machen dann signifikant mehr Fehler (χ 2 (1) = 15 786; p=.000), besonders bei Präpositionen mit einem festen Kasus, die häufiger in Texten aus BHS vorkommen (χ 2 (1) = 15 857; p=.000). Zusätzlich zeigt sich, dass Präpositionen mit Dativ und Akkusativ BHS -Schülern mehr Schwierigkeiten bereiten als AHS -Schülern (χ 2 (1) = 18 250; p=.000 bzw. χ 2 (1) = 9867; p=.002). Die Fehlerzahlen für Präpositionen mit Dativ sind in beiden Schultypen höher als in den anderen Kasus. 262 Aivars Glaznieks & Andrea Abel KoKo4 Kruskal-Wallis- Test p Grammatik: Rektion / Präpositionen Subkorpus BHS AHS total nur Texte mit Fehlern Texte 596 291 305 Tokens 324 898 136 269 188 629 Rektionsfehler pro 100 AP .* der jeweiligen Analysekategorie total 1,47 1,71 1,29 0.650 0.000*** Wechselpräpositionen 1,12 1,31 0,98 0.738 0.003** Präpositionen mit Nebenkasus 13,10 11,11 14,58 † † Präpositionen mit festem Kasus 1,48 1,83 1,24 0.527 0.000*** Zielkasus Nominativ 0,00 0,01 0,00 † † Zielkasus Dativ 0,98 1,20 0,82 0.791 0.000*** Zielkasus Akkusativ 0,30 0,37 0,25 † 0.002** Zielkasus Genitiv 0,18 0,12 0,21 † † Tab. 7: Übersicht über die Kasusrektionsfehler bei Präpositionen im Subkorpus (n=596 Texte, Version KoKo4 Stand Dezember 2015), gruppiert nach dem Faktor Schultyp 5.4. Zusammenfassung Rektionsfehler kommen, wenngleich insgesamt in geringer Anzahl, auch in Texten vor, die von Schülern in ihrer Erstsprache geschrieben wurden. Die Analyse von Schülertexten aus dem KoKo-Korpus hat gezeigt, dass die häufigsten Rektionsfehler bei Präpositionen auftreten. Die Wahl des richtigen Kasus bei Präpositionen ist bei Oberschülern noch immer fehleranfällig. Die vorgestellten Ergebnisse deuten zudem darauf hin, dass in diesem Bereich auftretende Fehler nicht alle gleich distribuiert sind. Zwar sind die meisten Fehler wohl typisch für Texte auf diesem Sprach- und Bildungsniveau, einige hingegen scheinen einer regionalen Verteilung zu folgen und deuten auf eine Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 263 spezifische Schwierigkeit für Schüler aus Südtirol hin. Eine diatopische Fehlerverteilung zeigt sich bei der Kasusrektion von Wechselpräpositionen, also bei solchen Präpositionen, die über die Wahl des Kasus vorwiegend einen semantischen Unterschied ausdrücken. Hier finden sich in den Südtiroler Texten mehr Fehler als in den Texten aus Thüringen. Die Analysen haben gezeigt, dass Gruppenunterschiede vor allem dann signifikant sind, wenn ausschließlich Texte mit Fehlervorkommen in den Blick genommen werden, nicht hingegen in Bezug auf das gesamte untersuchte Subkorpus. Eine weitere Variable, die bei der Verteilung der Rektionsfehler bei Präpositionen eine Rolle spielt, ist der Schultyp. Schüler aus allgemeinbildenden Oberschulen (Gymnasien) unterscheiden sich positiv von Schülern fachlicher Oberschulen im Hinblick auf die korrekte Verwendung von Präpositionen, die nur einen festen Kasus regieren und eigentlich keine Variation zulassen, sowie bei Wechselpräpositionen. Bei Präpositionen mit festem Kasus machen darüber hinaus Schüler signifikant mehr Fehler als Schülerinnen. Die Unterschiede bzgl. Schultyp und Geschlecht widerspiegeln im Wesentlichen Ergebnisse von Leistungstests wie der DESI -Studie (s. oben), wobei ein direkter Vergleich freilich nicht möglich ist, da nicht dieselben sprachlichen Detailkategorien Gegenstand der Untersuchung waren. Schließlich zeigt sich, dass keine statistisch relevanten Ergebnisse für die Verteilung der Fehler, die bei Präpositionen mit Nebenkasus auftreten, berechnet werden können. Hierfür sind die Fehlervorkommnisse zu gering. Präpositionen dieser Kategorie kommen insgesamt vergleichsweise selten im untersuchten Korpus vor; die Fehlerfrequenz ist dabei allerdings relativ hoch. Präpositionen mit Nebenkasus regieren einen Hauptkasus und können unter bestimmten Umständen (z. B. bei nicht eindeutiger Kasusmarkierung) standardsprachlich einen Nebenkasus erlauben. Darüber hinaus regieren sie häufig in nicht-standardsprachlichen Varietäten den Nebenkasus. Für das Schreiben in der Standardvarietät gilt dieser Gebrauch jedoch als stilistisch markiert und nicht korrekt. Fehler bei Präpositionen mit Nebenkasus deuten also auf eine stilistische Unsicherheit bei der Verwendung der Präpositionen dieser Kategorie hin. 6. Diskussion und Fazit Im abschließenden Teil dieses Artikels wenden wir uns der Frage nach der Art der Fehler in den eben vorgestellten linguistischen Analysen zu. Dabei nehmen wir Bezug auf die anfangs vorgestellte Unterscheidung von System- und Normfehler. 264 Aivars Glaznieks & Andrea Abel Die beschriebenen Fehler bei der Auswahl der Kasuskategorie bei Wechselpräpositionen sind standardsprachlich betrachtet eindeutig Systemfehler. Das gilt für alle an der Untersuchung beteiligten Standardvarietäten. Innerhalb des Systems ist die Auswahl des Kasus (Akkusativ oder Dativ) im Wesentlichen funktional motiviert; der Akkusativ ist vorwiegend für direktionale Angaben reserviert, der Dativ für lokale. Im Hinblick auf die regionalen Unterschiede bei diesen Fehlern, die eine besondere Schwierigkeit für Südtiroler Schüler darstellen, können diese Fehler mit Ágel (2008) als Normunsicherheiten interpretiert werden, „deren Quelle die gleichzeitige Beherrschung von mehreren Normen ist, die in verschiedenen [Kursivierung im Original, AG / AA] funktionellen Sprachen verankert sind“ (Ágel 2008: 68). Da in einigen Dialekten Südtirols alle Präpositionen mit Dativ verwendet werden 36 und der semantische Unterschied zwischen Richtung und Ort in diesem Fall über Orts- und Richtungsadverbien ausgedrückt wird, könnten solche als Transferfehler aus dem Dialekt interpretiert werden. Von ähnlichen Eigenschaften berichtet Harnisch (2004) allerdings auch in Bezug auf ostfränkische-vogtländische Dialekte. Da sich die beschriebenen Eigenschaften nur auf das Südwestthüringische (Vogtländische) beziehen, fallen eventuelle Probleme, die sich daraus ergeben können, in unserer Untersuchung wohl nicht ins Gewicht. Wie bereits erwähnt gehen außerdem in Gesamtthüringen die aktiven Dialektsprecher zurück; lediglich in Südthüringen gibt es noch einen beträchtlichen Anteil selbst unter Jugendlichen (vgl. Fritz-Scheuplein 2004). Die Tatsache, dass sowohl Akkusativ-Dativ-Vertauschungen als auch Dativ-Akkusativ-Vertauschungen vorkommen, unterstützt die Interpretation dieser Fehler als Normunsicherheiten bei Dialektsprechern. 37 Die signifikante Fehlerverteilung nach Schultyp deutet darüber hinaus auf Sprachkompetenzunterschiede zwischen den Schülern der verschiedenen Schulformen hin. Eindeutige Schlüsse auf die Fehlerursache sind aufgrund der Datenlage nicht möglich. Die Fehler bei Präpositionen mit festen Kasus sind ebenfalls als Systemfehler zu werten (vgl. Ágel 2008: 67); sie sind in den beteiligten Varietätenräumen standardsprachlich immer falsch. Von den getesteten Variablen haben sich der Schultyp, die Region und das Geschlecht als Faktoren gezeigt, nach denen sich 36 Vgl. zum Beispiel für die Dialekte des Unterlands Giacomozzi (1982: 88) und für den Ortsdialekt von Laurein Kollmann (2012: 262). 37 Neben Rektionsunterschieden bei Präpositionen bestehen noch weitere grammatische Unterschiede zwischen Dialekten und Standardsprache, die für Dialektsprecher zu Normunsicherheiten bei der korrekten Realisierung von Präpositionalphrasen in der Standardvarietät führen können. In südbairischen Dialekten fällt beispielsweise die Kasusmarkierung von Akkusativ und Dativ bei Artikeln und Artikelwörtern im Maskulinum zusammen und wird - wie der Dativ Neutrum - mit einer n-Markierung gebildet. Unter bestimmten phonetischen Umständen können diese n-Formen allerding wieder als m-Markierung realisiert werden, wenn das anschließende Wort mit einem labialen, velaren oder nasalen Laut beginnt (ɐm buɐm für den, dem Buben ), vgl. Wiesinger (1990: 487-492). Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 265 signifikante Unterschiede in der Verteilung der Fehler zeigen. Diese Fehler können wieder auf Normunsicherheiten aufgrund von konkurrierender Nicht- Standardvarietäten zurückgehen. Die Verteilung der Fehler nach den beiden weiteren berücksichtigten außersprachlichen Variablen deutet auf Sprachkompetenzunterschiede in der Standardsprache zwischen Schülern allgemeinbildender und fachlicher Oberschulen sowie zwischen Schülerinnen und Schülern hin. Die Fehler bei Präpositionen mit Nebenkasus hingegen sind klassische Normfehler (vgl. Ágel 2008: 74), und zwar sowohl im Sinne von Norm 1 als im Sinne von Norm 2 . Bei einigen Fällen könnte man sogar infrage stellen, ob es sich um einen Normfehler im Sinne von Norm 1 handelt, z. B. wenn dank im heutigen Deutsch als ursprüngliche Dativpräposition überwiegend den Genitiv regiert (vgl. Ágel 2008: 73, Eichinger 2013: 156-157, Eichinger & Rothe 2014: 93-94). Die Präpositionen dieser Gruppe konstituieren typischerweise Zweifelsfälle, können also für die meisten Sprecher des Deutschen Schwierigkeiten verursachen. 38 Zweifelsfälle sind Bestandteil lebendiger Sprachen. Sie gehören daher auch in den Deutschbzw. Grammatikunterricht. Die aktuellen Bildungsstandards, Rahmenrichtlinien bzw. Lehrpläne der an der Erhebung beteiligten Gebiete enthalten zum Fach Deutsch in der Oberstufe in Abschnitten wie „schriftliche Produktion“, „Sprachreflexion“ oder „Sprachbewusstsein“ durchwegs Hinweise zum Umgang mit grammatischen Strukturen und zur Richtigkeit und Angemessenheit des Sprachgebrauchs, wobei überhaupt nicht (z. B. in Südtirol) oder kaum zwischen Schultypen unterschieden wird. Der Begriff des Zweifelsfalls kommt in keinem der Dokumente vor, sehr wohl werden allerdings Normen der Sprachrichtigkeit bzw. der Standardsprache thematisiert. Während beispielsweise der funktionale, kontextadäquate Einsatz von Sprache, Unterschiede zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch, Aspekte des Sprach- und Normenwandels sowie der Umgang mit Sprachvarietäten 39 explizit erwähnt werden, gibt keines der Dokumente Auskunft über den Normenbezugsstandard oder über Referenzkodizes bezüglich Sprachrichtigkeit. In neueren didaktischen Arbeiten zum Grammatikunterricht wird die Thematisierung von Zweifelsfällen und grammatischen Problemen explizit als Unterrichtsstrategie gefordert (u. a. Köpcke 2011, Köpcke & Noack 2011, Dürscheid 38 Hier müssen noch weitere Ergebnisse aus dem Projekt „Variantengrammatik des Standarddeutschen“, in dem die relative Verteilung von grammatischen Varianten erhoben wird, abgewartet werden. Darin werden auch areale Verteilungen der Kasusrektion in Präpositionalphrasen sichtbar gemacht. Ob der Nebenkasus bei einigen Präpositionen die Mehrheitsvariante im Gebrauchsstandard in einigen Regionen des deutschen Sprachraums darstellt, muss noch unbeantwortet bleiben (s. dazu auch Fußnote 14 oben). 39 Der Begriff „Sprachvarietät“ wird insbesondere in Zusammenhang mit Soziolekten oder dialektalen bzw. umgangssprachlichen Varietäten verwendet, nicht jedoch in Bezug auf standardsprachliche Variation. 266 Aivars Glaznieks & Andrea Abel 2012), da sie eine Ressource für das induktive Lernen darstellen. Lässt man Schüler Kriterien für die angemessene Anwendung der den Zweifelsfall konstituierenden Varianten erarbeiten, sollte diese Unterrichtstätigkeit zu einem „aktiven Auseinandersetzungsprozess mit beiden zur Diskussion stehenden Alternativen“ (Köpcke & Noack 2011: 7) führen. Gerade bei den Präpositionen mit Nebenkasus ist dieses didaktische Vorgehen auch in der Oberschule noch ratsam. Diese Gruppe von Präpositionen ist für die Diskussion der Frage „Fehler oder nicht? “ auch im Klassenzimmer sehr ergiebig. Zum einen können anhand einzelner Präpositionen dieser Klasse Sprachwandelprozesse angesprochen und didaktisch nutzbar gemacht werden, die sich im angemessenen Sprachgebrauch widerspiegeln können: Anzustreben ist also Sensibilität den Erscheinungsformen (Varietäten) und Textsorten gegenüber, nach dem Motto: Ich chatte über das Internet mit spezifischen Mitteln mit meinen Freunden, ich benötige aber andere sprachliche Mittel, wenn ich einen Behördenbrief schreibe, und wiederum andere, wenn ich meiner Freundin einen Liebesbrief schreibe usw. usf. (Bittner & Köpcke 2008: 77). Becker (2011) verweist zudem darauf, dass Präpositionen in den späteren Schuljahren, d. h. nach Altersstufe 10-12, nicht mehr in den von ihr analysierten Sprachbüchern thematisiert werden. Der adäquate Gebrauch konkurrierender Kasus bei Präpositionen mit Nebenkasus könnte daher auch explizit mit Fokus auf den Ausbau schriftsprachlicher, insbesondere bildungssprachlicher Fähigkeiten in den Unterricht für höhere Altersstufen im Hinblick auf die Ausbildung eines kommunikativ angemessenen Sprachgebrauchs integriert werden. Diese Anregung gilt nicht nur für den Deutschunterricht, sondern gerade auch für den Fachunterricht, in dem eventuell ein spezifischer sprachlicher Stil gefordert wird (vgl. Becker 2011: 214-215) 40 : Sowohl im rezeptiven als auch im produktiven Bereich müssen in den letzten Schuljahren die schriftsprachlichen Fähigkeiten insgesamt noch entscheidend ausgebaut werden, um zu einem kommunikativ angemessenen Sprachgebrauch zu führen. […] Vor allem der Auf- und Ausbau von hiermit verbundenen Problemlösestrategien kann nur basierend auf einer differenzierten Sprachbewusstheit bezüglich morphologischsyntaktischer Zusammenhänge und varietätenbedingter, kontextsensibler Sprachnutzung geschehen. (Becker 2011: 215) 40 Becker (2011: 215) spricht beispielsweise vom Nominalstil, der „zu einem großen Teil aus Präpositionalphrasen besteht“. Empirische Untersuchung grammatischer Kompetenzen am Ende der Oberschule 267 Der Hinweis auf „varietätenbedingte Sprachnutzung“ könnte dann auch als didaktische Maßnahme die Alltagswirklichkeit der Schüler und ihre jeweiligen Varietäten in außerschulischer Kommunikation (vgl. Ziegler 2010) bzgl. aller Arten von Präpositionen hilfreich sein. Dabei lassen sich sowohl diatopische Eigenschaften der eigenen Standardvarietät als auch der dialektalen Varietäten thematisieren. Vor allem mit Nord- und Südtiroler Schülern könnte im Sinne eines „dialektorientierten Grammatikunterrichts“ (vgl. Glantschnig 2011) mit von den Schülern geschriebenen Dialekttexten gearbeitet werden. Eignen würden sich dazu z. B. authentische Texte aus der eigenen schriftlichen Internetkommunikation, die unter Tiroler Jugendlichen häufig im Dialekt stattfindet (vgl. Huber 2013, Glaznieks & Frey in Vorb.). Eigene authentische Chatbeiträge könnten dabei Texten aus Zeitschriften, Zeitungen und Schulbüchern gegenübergestellt werden. Mithilfe einer Übung, in der die unterschiedlich verwendeten Kasus in den Texten ausgetauscht und die Texte hinsichtlich Veränderungen in der Wirkung verglichen werden, 41 könnte auf eine Sensibilisierung für einen angemessenen Sprachgebrauch hingearbeitet werden. Dieser Vorschlag betrifft in erster Linie die oben skizzierten Normfehler; Systemfehler könnten dabei selbstverständlich ebenso thematisiert und diskutiert werden. Die Verwendung von authentischen Beispielen ist dabei wichtig für die Vermittlung der Lebendigkeit von Sprache in seiner Varietätenbreite, in der das Vorkommen von Zweifelsfällen normal ist und nicht die Ausnahme darstellt (Köpcke & Noack 2011: 7). Ein solches didaktisches Verfahren sollte natürlich nicht nur auf grammatische Übungen im Bereich der Kasusrektion bei Präpositionen beschränkt bleiben, sondern eignet sich auch für andere grammatische Zweifelsfälle (vgl. zur Kasusmarkierung bei Substantiven Dürscheid 2007, 2012, Peschel 2009). 7. Literatur Abel, Andrea et al. (2014): KoKo: an L1 Learner Corpus for German. In: Proceedings of the 9th International Conference on Language Resources and Evaluation ( LREC 2014), Reykjavik, 26-31 May, 2014 , 2414-2421. http: / / www.lrec-conf.org/ proceedings/ lrec2014/ pdf/ 934_Paper.pdf, 22. 12. 2015. Abel, Andrea & Stefanie Anstein (2011): Korpus Südtirol - Varietätenlinguistische Untersuchungen. 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Interdisziplinäre Zugänge Der EVAMAR II -Deutschtest für GymnasiastInnen-- Implikationen für die Plurizentrik-Debatte? Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle 1. Zusammenfassung 2. EVAMAR und Plurizentrik 3. Die EVAMAR -Studien 4. Empirischer Teil 5. Diskussion 6. Literatur 1. Zusammenfassung Mit dem folgenden Beitrag wollen wir, angeregt durch die Basler Podiumsdiskussion (am Workshop „Plurizentrik des Deutschen zwischen Norm und Praxis“ vom 27. Juni 2014 an der Universität Basel) zum Spannungsfeld der verschiedenen nationalen Varietäten der deutschen Sprache (Ammon 1995; zur Gegenposition Koller 1999), der Frage nachgehen, ob die für die Schweiz repräsentativen empirischen Daten der Studie EVAMAR II (Eberle et al. 2008) für die sprachwissenschaftliche Plurizentrik-Debatte innerhalb des Deutschen ein gewisses Analysepotenzial bieten und überprüfen, ob wir für sprachliche Leistungsunterschiede auf universitärem Niveau empirische Hinweise auf den Einfluss der Familiensprache finden. Seit der Maturitätsevaluation EVAMAR II wissen wir empirisch gesichert, dass die Schweizer Maturandinnen und Maturanden an der Schnittstelle Gymnasium - Universität eine auffallend breite Streuung der getesteten Leistungen und Fähigkeiten aufweisen, mit teilweise beachtlichen Defiziten (Eberle et al. 2008: 16). Die Studie EVAMAR II belegte für die Deutschschweiz und die Romandie 1 an für den Matura-Abschlussjahrgang 2007 repräsentativen Ziel- 1 Das italienischsprachige Tessin wies leider aus verschiedenen Gründen eine niedrig ausgefallene Beteiligungsquote der Schulen an der Kompetenzmessung auf. Die Ergebnisse des Tessins konnten somit nicht in die Auswertungen dieses Teilprojektes einbezogen werden (Eberle et al. 2008: 374). 280 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle personen, dass diese eine ausgesprochen breite Varianz von Kompetenzen in den getesteten Bereichen Mathematik, Biologie und Deutsch bzw. Französisch aufwiesen. Diese stark unterschiedlichen Leistungen spiegeln die heterogenen Oberstufencurricula und unterschiedlichen gymnasialen Prüfungsanforderungen, gegebenenfalls auch die Stadt-Land- oder Kantonsgrößenunterschiede innerhalb der Bildungslandschaft Schweiz wider. Auch in dem uns hier in diesem Sammelband ausschließlich interessierenden Sprachbereich des Deutschen zeigten die Ergebnisse des EVAMAR II -Tests, obwohl die Resultate etwas besser waren als in Mathematik und Biologie, sowohl zwischen den Personen als auch zwischen den Klassen eine auffallend breite Streuung der Leistungen und Fähigkeiten. Daraus lässt sich folgern, dass ein gewisser Teil der möglichen StudienanfängerInnen für ein künftiges Studium an den Universitäten nicht die notwendigen sprachlichen Eingangskompetenzen mitbringt (vgl. Eberle et al 2008: 374, 383-384). Wenn man dann sieht, dass die Mehrheit der längsschnittlich befragten Studierenden das Wissen und Können aus dem gymnasialen Fach Deutsch für ihr im Studium derzeit gewähltes Hauptfach als „eher wichtig“ einstufen (vgl. das Nachfolgeprojekt von EVAMAR II , Oepke & Eberle 2014), könnten uns diese sprachlichen Lücken eher beunruhigen. Vor dem Hintergrund der Plurizentrik-Debatte möchten wir diese sprachlichen Leistungsunterschiede nun im Folgenden daraufhin prüfen, ob sie gegebenenfalls von der Zugehörigkeit zu der einen oder anderen „Sprachgruppe“ abhängig oder beeinflusst sind. Mittels im Fragebogen erfragter Variablen zur Familiensprache und dem Geburtsland der Eltern hofften wir, dass es möglich sei, mehrere vergleichbare Gruppen innerhalb der für die Schweiz großen Gesamtstichprobe ( N = 3800) zu identifizieren, die bezüglich ihrer Sprachverwendung bzw. Sprachherkunft unterschiedlich sind. Die Fragestellung, ob zwischen der Gruppe der MaturandInnen mit Schweizerdeutsch bzw. Schweizerdeutscher Standardsprache (Gruppe 1) und den Gruppen der MaturandInnen mit Bundesdeutscher Standardsprache eines Elternteils (Gruppe 2) respektive beider Eltern (Gruppe 3) beim Ablegen einer Kompetenztestung in Deutsch auf dem Niveau von universitären Anforderungen starke Leistungsunterschiede auftreten oder nicht, bildete den Fokus unserer Untersuchung. Die Analysen ergeben das Bild, dass die vermuteten Gruppen relativ klein und (leider) nur unter gewissen Annahmen interpretierbar sind. Unter diesem Vorbehalt zeigen die Ergebnisse, dass die Leistungen der drei gebildeten sprachlichen Gruppen weder im Gesamttest noch in den einzelnen Subskalen (Grammatik / Orthographie, Leseverstehen, Wortschatz) signifikant voneinander abweichen. Somit existieren auf den ersten Blick innerhalb der Schweizer Bevölkerung anscheinend keine auffälligen Sprachstandsunterschie- Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 281 de bei MaturandInnen aus einem Elternhaus mit Sozialisation in Schweizerdeutsch und Schweizerdeutscher Standardsprache gegenüber MaturandInnen aus einem Elternhaus mit Bundesdeutscher Standardsprache. Inwiefern diese Ergebnisse unter welchen Annahmen belastbar sind oder nicht, diskutieren wir im Folgenden. 2. EVAMAR und Plurizentrik Die Frage, die im Rahmen der Tagung zur Plurizentrik in Basel an uns herangetragen wurde, ist folgende: Was können wir mit der Studie EVAMAR II und deren Ergebnissen zu den Erstsprachekompetenzen von Maturandinnen und Maturanden bezüglich des Forschungsgedanken der Plurizentrik des Deutschen beitragen? Breiter gefasst meint dies vielleicht auch den grundsätzlicheren Gedanken, was und wie Large-Scale-Assessments ( LSA ), bzw. empirische Erhebungen von Sprachfähigkeiten, zur Thematik der Plurizentrik beitragen könnten, auch wenn sie nicht eigens für die Untersuchung dieser speziellen Fragen ausgerichtet wurden. Es ist - dankenswerterweise nicht zuletzt auf löblichen Wunsch der Herausgeberinnen dieses Bandes - im Rahmen von wissenschaftlicher Öffentlichkeit und vernetzter Ressourcennutzung einige Gedanken wert, sich zu überlegen, wie breit angelegte, qualitativ hochwertige vorhandene Daten der Schweizerischen Eidgenossenschaft genutzt werden könnten, sich der Beantwortung von Plurizentrikfragen auf empirischem Wege anzunähern. Gerade LSA -Daten bieten mit ihren für die Grundgesamtheit repräsentativen großen Fallzahlen eine mächtige Aussagekraft, welche kleiner angelegte Studien in einem engeren Forschungsrahmen so nicht aufbringen können. Empirische Kompetenzmessungen zum Bereich Deutsch beziehen sich auf die normierten Standardvorgaben von Deutsch als erster Schulsprache (L1), erhoben in standardisierter Weise, meist im Gruppenkontext. An der Pyramidenspitze der Sprachnorm 2 der deutschen Standardsprache, wie sie insbesondere an Gymnasien und Universitäten gelehrt und verwendet wird, werden die ermittelten Personenfähigkeiten gemessen und die erfassten Sprach- oder Kompetenzniveaus entlang einer vertikalen Messlatte unterteilt. Ob innerhalb einer solchen normierten Erhebung bezüglich der Standardsprache Deutsch empirisch begründete und verlässliche Aussagen zum Einfluss von plurizentrischen Faktoren auf den Kompetenzerwerb gemacht 2 Neuland verwendet das eingängige Bild einer „Stilpyramide“ des Deutschen, mit der „Hochsprache als selbstevidenter Zielnorm an der Spitze und den Dialekten als historische Sprachformen an der Basis“ (Neuland 2004: 3). 282 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle werden könnten, wollen wir im Folgenden anhand von einigen Überlegungen und ausgewählten Analysen versuchsweise nachgehen. Wir nähern uns der Thematik an, indem wir zuerst zur Verständlichkeit und Einbettung der Studie einen allgemeinen Überblick über die EVAMAR -Projekte geben, gefolgt von einer Beschreibung der eingesetzten Testinstrumente und einem kurzen Einblick in die querschnittlichen Gesamtergebnisse des Bereichs Deutsch, kurz vor dem Abschluss der Schweizerischen Maturitätsprüfung und dem damit verbundenen Erreichen der Studierfähigkeit (ausführlich dazu der Schlussbericht: Eberle et al. 2008). In dem anschließenden empirischen Teil berichten wir von einer Analyse, die wir basierend auf den vorhandenen EVAMAR II -Daten zur Thematik Plurizentrik vorgenommen haben. Da wir unseren Artikel als einen interdisziplinären Beitrag verstehen, verzichten wir darauf, uns vertieft in die sprachwissenschaftlichen Richtungen und Begriffsklärungen einzubringen. Wir sind uns jedoch bewusst, dass das Forschungsgebiet der Deutschschweizer Sprachlandschaft herausfordernd ist mit seinem „Nebeneinander von Mundarten und Standardsprache“ (Sieber & Sitta 1986: 16; für einen einfachen Überblick: Siebenhaar & Wyler 1997). Die Besonderheit der deutschsprachigen Schweiz ist unseres Wissens konzeptionell noch nicht einheitlich gefasst (Christen 2004: 13-14). So wird dieses Phänomen von den einen als mediale Diglossie gesehen - i. S. v. „man schreibt Standardsprache, man spricht Mundart“ (Sieber & Sitta 1986: 20). Von anderen wird es weiterhin als „kanonische“ Diglossie von genetisch verwandten Sprachformen bzw. zwei Varietäten der gleichen Sprache klassisch nach Ferguson verteidigt (Haas 2004: 83), und in Gegenpositionen u. a. diskutiert als ein „besondere[r] Fall der Zweisprachigkeit“ (Berthele 2004: 131), bei der die Steuerungsfaktoren von Nähe und Distanz, von Informalität und Formalität entscheidend sind für die Wahl der jeweiligen sprachlichen Varietät (Berthele 2004: 85). Im Unterschied zu Deutschland mit seinen ebenfalls vielen Dialekten kann in der Schweiz ein Zuwachs an Prestige nicht einfach über die Verwendung des Standarddeutschen erreicht werden 3 , weil die Mundarten in der Schweiz die Umgangssprache sind und meist eine hohe Wertschätzung besitzen (Sieber & Sitta 1986: 169), und somit ist „jemand, der in einer Alltagssituation (Hoch-)Deutsch spricht , gerade kein (Deutsch-)Schweizer“ (Koller 1999: 139). Für den Spracherwerb der Schweizerischen Standardsprache, des Hochdeutschen 4 , sprechen wichtige empirische 3 „Während man die H-Varietät [=Standardsprache, Anm.d.V.] in Fergusons Paradigma braucht, um sozial auf zusteigen, braucht man in der deutschen Schweiz L [= Dialekt], um überhaupt sozial ein zusteigen.“ (Berthele 2004: 119) 4 Da in der Schweiz die Begrifflichkeit „Hochdeutsch“ für den Gebrauch der schweizerdeutschen Standardsprache in Abgrenzung zu den schweizerdeutschen Dialekten / Mundarten gebräuchlich ist, und teilweise auch von SprachwissenschaftlerInnen durchaus wei- Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 283 Studien von einem „erweiterten Erstspracherwerb“ 5 (Häcki Buhofer & Burger 1998: 137), wobei beim vorschulischen Lernprozess auch einige Züge von Zweitspracherwerb 6 zu beobachten sind (Häcki Buhofer & Burger 1998: 89; qualitativ u. a. auch Schneider 1998). Für die muttersprachlich schweizerdeutschen Kinder fängt vor- und außerschulisch meist über den Kontakt mit dem Medium Fernsehen ein frühes Annähern an die Standardsprache an (Häcki Buhofer & Burger 1998: 42-51). Die professionelle Sozialisierung in die Standardsprache erfolgt für die meisten schweizerdeutschen Kinder erst mit dem Eintritt in die Grundschule. Es gibt inzwischen jedoch empirische Hinweise für positive Effekte zugunsten des Standarddeutschen, wenn die sprachliche Sozialisation früher, also bereits in der Kindergartenstufe, beginnt (Landert Born 2011). Nicht zuletzt die schlechten PISA -Ergebnisse der Schweiz in Deutsch / Lesen im Jahr 2000 veranlassten einige Kantone dazu, zugunsten eines verbesserten frühen Spracherwerbs der Standardsprache bereits im Kindergarten das „Hochdeutsche“ als gesprochene Sprache einzuführen. Für diesen Sammelband zur Plurizentrik sind jedoch nicht die Fragen nach dem Spannungsfeld zwischen Standarddeutsch und Dialekt(en) wesentlich, sondern vielmehr das Spannungsfeld zwischen den nationalen Standard-Varietäten des Deutschen im Sinne Ammons (1995), also hier zwischen bundesdeutschem Standarddeutsch (mit seinen Teutonismen) und Schweizerischem Standarddeutsch (mit seinen Helvetismen) 7 . In diesem Zusammenhang wollen wir hier bereits kritisch darauf hinweisen, dass die bei EVAMAR erhobenen Daten nicht auf sprachwissenschaftliche Forschungsfragen, sondern auf Kompetenzmessungen und bildungspolitisch relevante Informationen bezüglich Schnittstellenpassung ausgerichtet waren; nichtsdestotrotz soll ein Versuch gewagt werden, zu prüfen, ob die EVAMAR II -Daten darüber hinaus gewisse erste empirische Hinweise innerhalb der sprachwissenschaftlichen Plurizentrik-Debatte anbieten können. terhin verwendet wird (bspw. auch in Häcki Buhofer 2000; Landert Born 2011), möchten wir uns vorbehalten, deutsche Standardsprache und Hochdeutsch in diesem Bericht teilweise oszillierend zu verwenden. Da, wo die konkrete nationale Varietät der deutschen Sprache angesprochen wird, sprechen wir innerhalb der deutschen Standardsprachen von schweizerdeutscher Standardbzw. bundesdeutscher Standardsprache. 5 Formen aus der Mundart werden im ungesteuerten Spracherwerb in einem direkten Transfer oder über Transferregeln ins Hochdeutsche der Lernersprache aufgenommen (Häcki Buhofer & Burger 1998: 88-89). 6 Zweitsprachliche Differenzierungsstrategien insbesondere bei der Verwendung des Präteritums (Häcki Buhofer & Burger 1998: 88-89). 7 Koller spricht in diesem Zusammenhang etwas ironisch von einer Verschärfung der Diglossie hin zu einer „Triglossie Schweizerdeutsch / schweizerische nationale Varietät des Deutschen / (bundes-)deutsche Standardsprache“ (1999: 152). 284 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle 3. Die EVAMAR-Studien 3.1. Allgemeines Im Dezember 2004 wurden in der Schweiz die Ergebnisse der ersten Phase der Evaluation der Maturitäts-Reform von 1995 ( EVAMAR I; vgl. Ramseier et al. 2005) vorgestellt. Ziel dieser ersten Untersuchung war, das Gelingen der schweizerischen Gymnasialreform von 1995, welche die Wahlmöglichkeiten erweitert und die Maturarbeit eingeführt hatte, mittels Befragungen der Schülerschaft, von Lehrpersonen und Schulleitungsmitgliedern zu begutachten. Von März bis August 2003 wurden über 21 000 GymnasiastInnen, 2300 Lehrpersonen sowie Schulleitungen von 148 Gymnasien in drei Landessprachen der Schweiz befragt (Ramseier et al. 2005: 5). Die Bilanz dieser Untersuchung ist insgesamt positiv ausgefallen; unter anderem fühlten sich 76 % der MaturandInnen generell (eher) gut auf ein Hochschulstudium vorbereitet (Ramseier et al. 2005: 122, 145). Die daraufhin folgende EVAMAR II -Studie (vgl. Eberle et al. 2008) hatte die Überprüfung des gymnasialen Bildungsziels der allgemeinen Studierfähigkeit zum Ziel und damit eine Einschätzung der Passgenauigkeit der Schnittstelle zwischen Gymnasium und Universitäten bzw. Hochschulen. Allgemeine Studierfähigkeit im Sinne der Ziele des Maturitätsreglements von 1995 meint dabei, dass das Schweizer Gymnasium für jedes Studium zu qualifizieren hat. Im ersten Teil der verschiedenen Teilprojekte wurden einerseits die Anforderungen von Dozierenden erfragt und andererseits die universitären Lehrmittel sowie Prüfungen für Erst- und Zweitsemestrige der 16 gemessen an den Studierendenzahlen größten universitären Studienfächer der Schweiz analysiert, um damit die Anforderungen an den Eintritt in ein Studium bzw. an das Konstrukt allgemeine Studierfähigkeit empirisch zu bestimmen. Die Entwicklung von Tests aufgrund dieser Ergebnisse wird im folgenden Abschnitt näher beschrieben. Den zweiten zentralen Teil bildeten die schweizweit bei einer Stichprobe von rund 3800 MaturandInnen im Jahr 2007 durchgeführten Tests, welche zum Ziel hatten, den Ausbildungsstand der Maturandinnen und Maturanden am Ende des schweizerischen Gymnasiums im Hinblick auf die Anforderungen verschiedener Studien zu erheben, und damit deren allgemeine Studierfähigkeit zu validieren. Untersucht wurde der Stand in der jeweiligen Landessprache, in Mathematik und Biologie, sowie die überfachlichen Fähigkeiten anhand von Aufgaben aus der (naturwissenschaftlich orientierten) Eignungsprüfung für das Fach Medizin. Der Sprachtest war territorial definiert, d. h. es wurde der Sprachstand Deutsch getestet in den deutschsprachigen resp. Französisch in den französischsprachigen und Italienisch in den italienisch- oder rätoromanischsprachigen Ge- Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 285 bieten. Jeder Test dauerte 45 Minuten. Das Hauptgewicht des Sprachtests lag auf übergreifenden, für alle Studienrichtungen wesentlichen Sprachkompetenzen, und er beinhaltete sowohl rezeptive Teile (Textverstehen, Wortschatz) als auch produktive bzw. reflexive Anteile (Grammatik, Orthographie). Das Ergebnis war insgesamt zufriedenstellend (Eberle et al. 2008: 383). Aber es zeigten sich auch große Leistungsunterschiede sowohl zwischen Einzelnen als auch zwischen Klassen und Profilen und zwischen Kantonen mit unterschiedlichen Maturitätsquoten (Eberle et al. 2008: 372-379). So konstatierte abschließend der Projektleiter Prof. Dr. Franz Eberle: „Die Auswertung der Testergebnisse offenbart in allen Bereichen eine erstaunlich breite Streuung, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler kurz vor der Verleihung der für alle Studienfächer geltenden, universalen Qualifikation ‚Hochschulreife‘ standen. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass nicht alle Maturandinnen und Maturanden in allen drei getesteten Fachbereichen über Kompetenzen verfügen, die den universitären Anforderungen aller Studienfächer entsprechen“ (Eberle et al. 2008: 374). „Die gefundene breite Streuung der Testresultate bedeutet gleichzeitig auch, dass die Gymnasien nicht alle ihre Maturandinnen und Maturanden mit Kompetenzen entlassen, die in der ganzen Breite als mindestens genügend eingeschätzt werden können“ (Eberle et al. 2008: 383). Zusätzliche Analysen der Notendaten zeigten, dass im Bereich Sprache 4,7 % der Maturandinnen und Maturanden als insgesamt ungenügend qualifiziert wurden (Gesamt-Maturanote 3.9 oder tiefer 8 ) (Eberle et al. 2008: 170). In der schriftlichen Abschlussprüfung Sprache (meist in Form eines Aufsatzes) waren sogar 19,6 % der Maturandinnen und Maturanden ungenügend (Eberle et al. 2008: 170, 375). Wie wichtig gute Deutschkompetenzen für die allgemeine Studierfähigkeit und für den Studienerfolg sind, wurde unter anderem in einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Längsschnitt-Nachfolgestudie untersucht, mit welcher von Januar 2011 bis März 2013 die deutschsprachige Teilstichprobe der EVAMAR II -Stichprobe weiter begleitet wurde. Neben den weiteren Wegen der ehemaligen GymnasiastInnen wurde auch die Bedeutung der bei der Matura erhobenen Kompetenzen auf den späteren Studienerfolg und damit die Passung des hinter dem heterogenen Konstrukt der allgemeinen Studierfähigkeit steckenden Wissens und Könnens mit den Anforderungen der verschiedenen Studienrichtungen analysiert (vgl. Oepke & Eberle 2010; 2014: 189). Dabei zeigte sich unter anderem, dass insbesondere zum Zeitpunkt der Matura gute Deutschkompetenzen zum späteren Studienerfolg beitragen können und dies auch in 8 In der Schweiz ist die Note 6 die beste, die Note 1 die schlechteste. Noten unter 4.0 gelten als ungenügende Qualifikation. 286 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle Studienfachgruppen, die als eher „mathematiklastig“ gelten (Oepke & Eberle 2016). 3.2. Der Sprachtest Im Projekt EVAMAR II wurde zur Kompetenzmessung der schriftsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Studierenden auf der Grundlage eines theoretisch fundierten Kompetenzrasters ein umfassender Sprachtest entwickelt 9 . Das EVAMAR -Kompetenzraster, auf dem der Test beruht, wurde in Anlehnung an den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen ( GER ) von der Germanistin im Kernteam konzipiert und versteht sich als eine für die Textsorte „universitäre Fachtexte“ auf dem Niveau von kompetenter Sprachverwendung eigenständige Erweiterung (Eberle et al. 2008: 81-85). GER bietet in Europa einen umfassenden, transparenten und kohärenten Referenzrahmen für das Erlernen und Lehren von Sprachen, seine Kompetenzniveaus sind von A1 bis C2 für lebenslanges Lernen definiert und empirisch kalibriert (Europarat 2001). Die Bedeutung spezifischer Textsorten für die Testkonstruktion ist im internationalen Rahmen von Kompetenzmessung in Large-Scale-Assessments ( LSA ) anerkannt; es werden literarische Texte, Sachtexte, aber auch Anweisungen, argumentative Texte und diskontinuierliche Texte eingesetzt, um verschiedene Anforderungen an die sprachlichen Kompetenzen erfassen zu können (vgl. bspw. Gehrer et al. 2013: 57-58). Da jede Textsorte andere spezifische Anforderungen stellt (vgl. bspw. Gehrer & Artelt 2013: 172-173, 175-183), ist es wesentlich, für die valide Erfassung von Kompetenzen der Ziel- und Altersgruppe angemessene Textsorten zu wählen. Für die Überprüfung der Studierfähigkeit im sprachlichen Bereich bei EVAMAR II stellt die gewählte Textsorte „universitäre Fachtexte“ den passenden validen Texttyp dar. Der EVAMAR II -Sprachtest umfasst die beiden ausgewählten großen Bereiche Verstehen und Sprachreflexion (siehe Abbildung 1), wobei im rezeptiven Bereich Verstehen die Subskala ‚Allgemeines Leseverstehen‘ im Sinne eines Lesens zur Orientierung sowie die Subskala ‚Detailliertes Leseverstehen‘ im Sinne von Informationen und Argumentation verstehen eingesetzt wurden. Im Bereich Sprachreflexion wurden in der Subskala ‚Wortschatz‘ einerseits rezeptive Testaufgaben zum Wortschatz-Spektrum und zur Wortschatz-Beherrschung kon- 9 Die Entwicklung des Sprachtests erfolgte in Deutsch; die Übersetzung in die zwei anderen Landessprachen erfolgte durch je zwei Personen und wurde durch die zweisprachigen Sprachexpertinnen der Projektpartner Romandie und Tessin feinübersetzt und gemeinsam mit der Testentwicklerin justiert (Eberle et al. 2008: 128). Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 287 struiert, andererseits auch sprachproduktionsnahe Aufgabenstellungen entwickelt (siehe Abbildung 2). In der Subskala ‚Grammatische Kompetenz‘ und ‚Orthographie‘ wurden mittels überwiegend offenen Formaten ebenfalls produktionsorientierte Aufgabenstellungen generiert (siehe Abbildung 3). Die Studie und die damit verknüpften Testentwicklungen konzentrierten sich wie beschrieben auf die grundlegenden Kompetenzen, welche wesentlich sind, um die Anforderungen der ersten Semester an einer Universität zu erfüllen. Damit wurde innerhalb des Bereiches der Bildungsbzw. Wissenschafts- (oder Fach-)sprache neben Teilaspekten von produktionsorientierter reflexiver Sprachkompetenz wie Grammatik und Orthographie großes Gewicht auf Teil- Kompetenzen gelegt, welche das Lesen und Textverstehen betreffen, davon ausgehend, dass Lesen sowohl „die Basiskompetenz [bildet], mithilfe derer neues Wissen angeeignet wird“ (Eberle et al 2008: 83), als auch, dass mit dieser grundlegenden rezeptiven Tätigkeit viel Zeit innerhalb eines universitären Studiums verbracht wird. Die im Hinblick auf das spätere Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten - und für die Forschungsfragen der Plurizentrik-Debatte - bedeutungsvolle Kompetenz der schriftlichen Sprachproduktion als auch die Teilkompetenz „Sprechen“ konnte aus Ressourcengründen leider nicht in das Untersuchungsfeld einbezogen werden. 10 Teile produktiver Sprachkompetenzen lassen sich hingegen in den offenen Formaten finden, die vorwiegend in den Grammatik- und Orthographie-Subskalen Verwendung fanden (Eberle et al 2008: 82-83). 10 Ebenso musste die rezeptive Hörkompetenz aus dem Design entfallen (Eberle et al 2008: 83). 288 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle Textsorten-Orientierung Universitäre Textsorte VERSTEHEN Lesen Allgemeines Leseverstehen (Zur Orientierung lesen) Kann alle Arten geschriebener Texte verstehen und kritisch interpretieren (einschliesslich abstrakter, strukturell komplexer, nicht-literarischer Texte). Kann ein breites Spektrum langer und komplexer Texte, auch wissenschaftliche Texte, verstehen und dabei feine stilistische Unterschiede und implizite Bedeutungen erfassen. Kann lange und komplexe Texte, auch wissenschaftliche Texte, rasch durchsuchen. Kann rasch den Inhalt und die Bedeutung von Artikeln und Texten zu einem breiten Spektrum wissenschaftlicher Themen erfassen und entscheiden, ob sich ein genaueres Lesen lohnt. Detailliertes Leseverstehen: Information & Argumentation verstehen Kann ein weites Spektrum langer, komplexer Texte, denen Studierende im ersten Studienjahr an der Universität begegnen , verstehen und dabei feinere Nuancen auch von explizit oder implizit angesprochenen Einstellungen und Meinungen erfassen. Kann wichtige Einzelinformationen auffinden. 11 SPRACH- REFLEXION Wortschatz Beherrscht einen sehr reichen Wortschatz und ist sich der jeweiligen Konnotation bewusst. Durchgängig korrekte und angemessene Verwendung des Wortschatzes. Grammatische Kompetenz Zeigt auch bei der Verwendung komplexer Sprachmittel eine durchgehende Beherrschung der Grammatik. Orthographie Die schriftlichen Texte sind frei von orthographischen Fehlern. Abb. 1: Kompetenzraster für die EVAMAR II -Sprachsubskalen (mit Kann-Beschreibungen) (Aus: Eberle et al. 2008: 85) 3.3. Das Instrument Die Entwicklung der konkreten Testaufgaben (Items) zur Überprüfung des Textverstehens, des Wortschatzes, der Grammatik und Orthographie erfolgte in einem aufwändigen mehrstufigen Verfahren anhand authentischen Textmaterials (Vorlesungen, Skripte, universitäre Lehrbücher) der 16 gemessen an den Studierendenzahlen größten universitären Studienfächer der Schweiz. Durch die Inhaltsanalysen der von den Universitäten zur Verfügung gestellten Studien- 11 „Die [GER-]Teilkompetenz „wichtige Einzelinformationen auffinden“ wurde für EVA- MAR II aus inhaltlichen Gründen aus dem Bereich des Allgemeinen zum Detaillierten Leseverstehen umgeordnet.“ (Eberle et al. 2008: 85) Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 289 materialien wurden Sinneinheiten 12 identifiziert, die nicht im entsprechenden Lehrmaterial vermittelt, sondern aufgrund des Besuchs gymnasialen Unterrichts als vorhanden vorausgesetzt wurden und somit als ‚Eingangswissen‘ gelten (Eberle et al 2008: ausführlich zur Methode des Eingangswissen Identifizierens 36-44). Jedes Test-Item bezieht sich auf eine Textstelle / Sinneinheit der authentischen Studienmaterialien und wurde „konstruiert mit dem Ziel zu messen, ob eine Maturandin oder ein Maturand eine Sinneinheit in einer gewissen Tiefe verstanden hat“ (Eberle et al 2008: 120) bzw. damit auch produktiv umzugehen weiß. Zusätzlich zu den allgemein gültigen Leitlinien für die Konstruktion von Testaufgaben wurde die Vorgabe umgesetzt, dass die Items „so realistisch wie möglich die konkreten kognitiven Anforderungen widerspiegeln, mit denen die Studentin beziehungsweise der Student im ersten Semester konfrontiert ist. Alle Items beziehen sich [deshalb] auf die Situation des Lesens und Verstehens [und Sich-Aneignens] von Studienunterlagen (Skripte und Bücher)“ (Eberle et al. 2008: 120). Für die Sprachitems wurde ein Verfahren gewählt, welches innerhalb der zugrunde gelegten Fachbücher die jeweils ersten Kapitel favorisierte, welche chronologisch entlang des Vorlesungsverlaufes von den Erstsemester- Studierenden zu bearbeiten waren (Eberle et al. 2008: 123). Für die Items im Kompetenzbereich ‚Wortschatz‘ wurden häufig kodierte Sinneinheiten ausgewählt; diese repräsentieren vorausgesetztes Wortschatzwissen, welches in Bezug zum engen Lesekontext des Studienmaterials abgefragt werden konnte. Um erhöhten Korrekturaufwand zu vermeiden, wurden die Wortschatzitems meist im Multiple-Choice-Format entwickelt (Beispiel siehe Abbildung 2). Für die Entwicklung von Testaufgaben zur Überprüfung der grammatikalischen und orthographischen Fähigkeiten wurden ebenfalls mittels der beschriebenen Inhaltsanalysen identifizierte Stellen authentischen Studienmaterials ausgewählt und vorwiegend über offene Formate beispielsweise die Produktion von Satzbauveränderungen eingefordert. Als Beispiel einer Aufgabenstellung in Grammatik gilt folgendes: „Verkürzen Sie die folgenden Sätze so, dass sie formal keinen Nebensatz mehr aufweisen, aber weiterhin alle Informationen vorhanden sind.“ Und eine weitere Aufgabenstellung im Grammatikteil: „Formen Sie in den folgenden Sätzen die unterstrichenen Satzteile zu Nebensätzen um.“ Nebst den offenen Formaten wurden auch produktionsnahe Grammatikitems im MC -Format konstruiert (siehe Abbildung 3). 12 „Sinneinheiten können Fachausdrücke, Kategorien, Klassifikationen, Prinzipien bis hin zu einer ganzen Theorie beziehungsweise einem ganzen Modell sein.“ (Eberle et al. 2008: 120) 290 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle Offene Formate wurden auch im Bereich der Orthographie eingesetzt, wie beispielsweise die Aufgabenstellung „Unterstreichen Sie alle Fehler im folgenden Text und schreiben Sie die Verbesserung des betreffenden Wortes oder des Satzteiles daneben. Korrigieren Sie auch stilistische Fehler.“ Die Grundlage der Items für das allgemeine und detaillierte Leseverstehen bildeten ebenfalls häufig codierte Sinneinheiten bzw. Sinneinheiten-Häufungen; teilweise musste hier (insbesondere um Schwierigkeit zu generieren) der Bezug erweitert werden auf einen größeren Textzusammenhang (Eberle et al. 2008: 123; zur Veranschaulichung des Verfahrens ‚vom Lehrbuch zur konkreten Aufgabe‘ anhand der Sinneinheiten siehe insbesondere: 124-127). Die Items in den Bereichen der Leseverstehensaufgaben wurden sowohl im geschlossenen als auch im offenen Format (siehe Abbildung 4) konstruiert. Aufgabe 1.2 Welches Substantiv ersetzt in folgendem Kontext inhaltlich am besten das Fremdwort „...repertoire“? Vernachlässigen Sie die dadurch erforderlichen Beugungen. „Wir können sagen, dass diese Reaktion zu den ursprünglichen und natürlichen Verhaltensmöglichkeiten gehört; sie ist Bestandteil eines zumindest in seinem Grundbestand angeborenen Verhaltensrepertoires.“ (Steiner [2001], S. 16) 1  ...mechanismus 2  ...vorrat 3  ...instinkt 4  ...weise D_W_12 Abb. 2: Beispiel einer sprachproduktionsnahen Wortschatz-Aufgabe (Aus: Eberle et al. 2008: 125) Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 291 Textauszug 8.1 (…) Ein weiteres Beispiel für eine Theorie ist die Rezeptortheorie. Die Zuckerkrankheit, der Diabetes mellitus, ist eine schon seit langem bekannte Erkrankung und wurde früher als Ausscheidung honigsüssen Urins bezeichnet. Frerichs, ein Berliner Pathologe, beobachtete im vorletzten Jahrhundert bei Patienten mit einem Diabetes mellitus, dass die Bauchspeicheldrüse dieser Patienten unter dem Mikroskop anders aussah als bei Gesunden und damit der Diabetes eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse ist. Claude Bernard, der berühmte französische Physiologe und Gründervater der experimentellen Medizin, wies nach, dass Zucker in der Leber produziert wird, und so zählte man den Diabetes zu den Lebererkrankungen. (...) (Steurer [2005]. Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Medizin , Skript zur Vorlesung, OLAT-pdf, S. 7-9) Aufgabe 8.6 Sie finden in oben stehendem Text 8.1 mehrere Sätze, in denen „Diabetes“ vorkommt. Welches grammatikalische Geschlecht hat dort dieses Wort? Kreuzen Sie die richtige Antwort an. 1  femininum 2  neutrum 3  maskulinum 4  keines D_G_86 Abb. 3: Beispiel einer leichten produktionsnahen Grammatikaufgabe (Aus: Eberle et al. 2008: 149) Abb. 4: Beispiel einer Aufgabe im offenen Format 13 (Aus: Eberle et al. 2008: 153) 13 Weitere exemplarische Beispiele des Sprachtests siehe Eberle et al. 2008: 146-154. 292 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle 3.4. Die Items Nach der qualitativen Beurteilung der Sprachaufgaben durch einen professoralen Experten wurden in zwei Runden Vortests in Abschlussklassen an ausgewählten Gymnasien ( n = 65; bzw. n = 180) durchgeführt, beide Pretests dienten der Optimierung der Testitems. Nach Pretests in allen drei Sprachregionen erfolgte eine weitere, dieses Mal gemeinsame Optimierung. Die Überprüfung und allfällige Revision der Items bzw. Auswahl für die Haupterhebung erfolgte aufgrund der Kriterien Rasch-Modellpassung „Infit“ (zwischen 0.8 und 1.2), Trennschärfekoeffizient der Einzel-Items (>0.2), ausgewogener Distraktorenverteilung und Rasch-konformem Verlauf der „Item Characteristic Curve“ (ICC) (Eberle et al. 2008: 121-122). Insgesamt wurden 77 ‚übergreifende‘ Items in die Hauptauswertung aufgenommen, diese waren sowohl für Deutsch als auch für Französisch valide und reliabel. Für Deutsch konnten zusätzlich 47 Items aus dem Grammatikteil ergänzt werden. In die Hauptauswertung gingen für Deutsch somit 124 Test-Items mit zufriedenstellenden Testcharakteristika ein. Sie verteilen sich wie folgt auf die Kategorien des oben beschriebenen Kompetenzrasters: • Allgemeines Leseverstehen (Zur Orientierung lesen): 19 Items • Detailliertes Leseverstehen (Information und Argumentation verstehen): 40 Items • Wortschatz: 19 Items • Grammatische Kompetenz: 17 Items • Orthografie: 29 Items In die beiden Oberformate ‚offen‘ und ‚geschlossen‘ lassen sich die Aufgaben wie folgt einteilen: Knapp 60 Prozent aller Sprachitems wurden im offenen Format konstruiert (insgesamt 74 Items), währenddem rund 40 Prozent der Aufgaben (50 Items) im geschlossenen Format gehalten wurden; davon gut zwei Drittel im klassischen Multiple-Choice-Format ( MC ; Ankreuzen der richtigen Antwort aus mehreren Optionen). Etwa ein Drittel der weiteren geschlossenen Aufgabenformate waren Variationen wie etwa Zuordnungsaufgaben (z. B. Zuordnung von vorgegebenen Titeln zu Textabschnitten) oder die Setzung von Marginalien. ‚Offen lang‘ waren 14 anspruchsvolle Aufgabenstellungen (18.6 % aller offenen Aufgaben), bei denen beispielsweise mehrere Zwischentitel für längere Abschnitte wissenschaftlicher Texte formuliert werden mussten. Im Bereich Grammatik mussten im offenen Format bspw. vorgegebene komplexe Satzbauten in grammatikalisch richtige bzw. einfachere umgeschrieben werden. Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 293 Im Format ‚offen kurz‘ musste bspw. in einen Lückentext ein fehlendes Wort hineingeschrieben oder eine fehlende Endung eingepasst werden (vgl. Eberle et al. 2008: 129). Die Kodierung der offenen Antworten in Deutsch erfolgte jeweils durch zwei durch die Testentwicklerin geschulte Korrektorinnen. Die Intercoder-Reliabilitäts-Prüfung mit dem IRC-Koeffizienten von Früh (2004: 179) führte bei lediglich einem Item zu einem nur genügenden Wert und sonst zu guten bis hervorragenden Ergebnissen (Eberle et al. 2008: 142). 3.5. Die Methode Der Sprachtest wurde in Papierform vorgegeben. In der ursprünglichen Langversion für EVAMAR II standen 45 Minuten für jeden Test zur Verfügung. Es wurde ein anerkanntes Multi-Matrix-Design verwendet, bei dem die Testhefte über gleiche Aufgabenblöcke miteinander verknüpft werden. Dadurch werden die Fähigkeitsparameter der Personen auf der Basis der Gesamtzahl des eingesetzten Itempools geschätzt. Ermittelt wurden Rasch-skalierte Personenfähigkeiten, die über die Gesamtstichprobe von EVAMAR auf jeweils eine Skala mit einem Mittelwert von M = 500 und einer Standardabweichung SD = 100 transformiert wurden. Berichtet wurden sowohl die Ergebnisse des Gesamttests Sprache als auch die Mittelwerte der Subskalen Allgemeines Leseverstehen, Detailliertes Leseverstehen und Wortschatz. Die sprachreflexiven Teilbereiche Grammatik und Orthografie konnten aus konstruktionstechnischen Gründen nur in der Deutschschweiz eingesetzt werden und wurden zu einer gemeinsamen Subskala zusammengezogen (Eberle et al. 2008: 145). Für Deutsch wurden 168 Test-Items in der Haupterhebung eingesetzt und fünf verschiedene Testhefte erstellt, wovon jede Person zwei bearbeitete. Positions- und Reihenfolgeeffekte wurden ausgeglichen (vgl. Eberle et al. 2008: 128). Die unterschiedlichen Testhefte wurden zufällig auf die Maturandinnen und Maturanden verteilt, so dass jede Aufgabe jeweils von ähnlich vielen Zielpersonen bearbeitet wurde (Eberle et al. 2008: 120). Die Erhebungen wurden in einem für alle Schulen vergleichbaren Zeitraum von Ende April bis Anfang Juli 2007 durchgeführt (maximal drei Wochen vor Ende des regulären Unterrichts vor den Maturaprüfungen). Die Testdurchführung fand durch die Schulen selbst auf der Grundlage einer genauen Anleitung statt. 294 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle 3.6. Die Stichprobe Die GymnasiastInnen der Schweiz, die im Sommer 2007 die Maturitätsprüfungen ablegten, bildeten die Zielpopulation 14 , auf deren Grundlage die Auswahl der Stichprobe erfolgte (Eberle et al. 2008: 373). Mittels eines einstufigen Verfahrens wurden proportional zu ihren Größen 260 Klassen ausgewählt, aus denen jeweils sämtliche SchülerInnen zur Teilnahme eingeladen wurden (vgl. Cochran 1977: 150; Kish 1965: 182; Lehtonen & Pahkinen, 1995: 7; [single-stage cluster sampling with probability proportional to size] zitiert nach Eberle et al. 2008: 141). Erfreulich hoch lag die Rücklaufquote bei 91 % auf Klassenebene bzw. 85 % auf Personenebene (siehe Tabelle 1), so dass von rund 3800 MaturandInnen auswertbare Daten vorhanden sind (Eberle et al. 2008: 143). Stratum Stichprobe Klassen Teilnahme Rücklaufquote Klassen Stichprobe Personen Teilnahme Rücklaufquote Personen 1 Zürich 75 67 89 % 1439 1204 84 % 2 Deutschschweiz MD 3 15 30 27 90 % 587 496 84 % 3 Deutschschweiz klein 16 30 25 83 % 578 459 79 % 4 Deutschschweiz groß 17 30 29 97 % 590 560 95 % 5 Romandie I ( MD 3) 30 27 90 % 636 509 80 % 6 Romandie II 30 30 100 % 612 545 89 % Total 225 205 91 % 4442 3773 85 % Tab. 1: Anzahl teilnehmende Klassen sowie MaturandInnen nach Regionen bzw. Straten; mit Rücklaufquoten (Eberle et al. 2008: 142, hier ohne Tessin, ‚Total‘ angepasst) 14 Ausnahme: Der Kanton Basel-Landschaft war aufgrund von späteren Prüfungen nicht in der Grundgesamtheit enthalten. Der Kanton Genf verzichtete auf eine Teilnahme an der Studie (Eberle et al. 2008: 373). 15 MD3: nur 3 Mindest-Jahre am Gymnasium nötig (erstes Oberstufen-Jahr an Sek II-Schule möglich): BE 16 Kleine Kantone (Klassenzahl <= 15): AI, NW, OW, GL, UR, AR, SH, ZG 17 Große Kantone (Klassenzahl > 15): SZ, SO, TG, GR, BS, AG, SG, LU Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 295 Die Vergleiche erfolgten nach Regionen bzw. Straten, wobei ‚kleine‘ Kantone mit wenigen Maturaklassen bzw. ‚große‘ Kantone mit mehr als 15 Maturaklassen zusammengefasst wurden, andererseits zwei Straten diejenigen Gymnasialklassen zweier Regionen umfassen, in welchen nur 3 Mindest-Jahre am Gymnasium besucht wurden (Eberle et al. 2008: 376). 3.7. Ergebnisse Deutsch Für die Aufgaben des Sprachtests konnte gezeigt werden, dass die Schweizer MaturandInnen sie im Mittel zu etwas mehr als die Hälfte richtig lösen konnten. Im Bereich Grammatik und Orthographie konnten im Mittel deutlich mehr Aufgaben als die Hälfte richtig bewältigt werden, wobei hier die maximalen Punktzahlen nicht erreicht wurden. Damit lagen die ermittelten Personenfähigkeiten im Durchschnitt auf einem Anforderungsniveau von Aufgaben oberhalb des mittleren Schwierigkeitsgrades, wobei die Streuung sowohl auf der Klassenebene als auch der Personen „beachtlich“ war (Eberle et al. 2008: 374). 4. Empirischer Teil 4.1. Analysen und Forschungsfrage Vor dem Hintergrund einer im Sinne dieses Sammelbandes als plurizentrisch begriffenen Sprachlandschaft des Deutschen möchten wir mittels des beschriebenen Tests und dem Datensatz einer der größten schweizerischen Erhebungen an der Schnittstelle von Gymnasium - Universität folgende Frage empirisch prüfen: Zeigen sich Unterschiede in den Leistungstestergebnissen im Bereich Sprache in Abhängigkeit davon, ob Schülerinnen und Schüler in einer Deutschschweizer Familie mit einem Schweizer Sprachhintergrund mit den Sprachformen (dialektales) Schweizerdeutsch und Schweizer Standarddeutsch oder einem bundesdeutschen familiären Sprachkontext aufgewachsen sind? Diese Forschungsfrage begreifen wir als Annäherung an die Thematik der Plurizentrik des Deutschen, im Bewusstsein, dass wir aufgrund des Hineinspielens von dialektalen Ausprägungen sowohl des Schweizerdeutschen als auch des Bundesdeutschen sprachwissenschaftlich gesehen keine trennscharfen Aussagen bezüglich des Effektes des Schweizer Standarddeutschen versus des Bundesdeutschen Standarddeutschen machen können. Die Hypothese zur genannten Forschungsfrage könnte lauten, dass SchülerInnen, welche im deutschsprachigen Teil der Schweiz meist über die Familiensprache in einem der schweizerdeutschen Dialekte (dem Schweizerdeutschen) 296 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle und danach in der Schule 18 in der Schweizer Standardsprache sozialisiert werden, gegenüber SchülerInnen, welche in Deutschland oder mit einem oder zwei bundesdeutschen Elternteilen sozialisiert und damit vermutlich näher der bundesdeutschen Standardsprache / der deutschen Hochsprache sozialisiert sind, benachteiligt sind, weil sie durch ihre mündliche dialektale Familiensprache in einer Form sozialisiert werden, die nicht der universitären Sprachnorm entspricht. Die Vermutung wäre also, dass bei einer Kompetenzmessung mittels eines Sprachtests Deutsch, der wie beschrieben bei universitären Fachtextsorten 19 sowohl das allgemeine Textverständnis als auch das detaillierte Leseverständnis, sowie Wortschatz, Grammatik und Orthografie prüft, die Leistungsergebnisse von im Schweizerdeutschen sozialisierten Gymnasiastinnen und Gymnasiasten niedriger ausfallen als die ihrer Hochdeutsch nahen Schulkameradinnen und -kameraden. Da sowohl der Wortschatzals auch der Grammatik- und Orthographieteil im EVAMAR -Sprachtest sehr produktionsnahe konstruiert sind, könnten sich vielleicht in diesen Subskalen vermutete Auffälligkeiten in Richtung der Plurizentrik-Debatte zeigen. 4.2. Methode In den Befragungsdaten von EVAMAR stehen keine direkten Variablen zur Fragestellung der Sozialisierung in Schweizer Standardsprache oder in bundesdeutscher Standardsprache zur Verfügung. Deshalb müssen, um die Fragestellung annähernd operationalisieren zu können, Hilfsvariablen herangezogen werden, welche sich auf die vorhandenen Befragungsdaten stützen. Es können Angaben zur Familiensprache kombiniert werden mit Auskünften zu den Geburtsländern der Familienmitglieder, um möglichst homogene Subgruppen zu bilden, welche sich in ihrem Sprachgebrauch unterscheiden. Das Verfahren wird kurz beschrieben und anschließend kritisch diskutiert. Die Familiensprache muss mittels zwei Variablen erschlossen werden aus Selbstauskünften zu a) der Sprache mit der Mutter und b) der Sprache mit dem Vater. In der Erhebung wurde im Fragebogen gefragt, „welche Sprache [man] überwiegend … mit der Mutter“ bzw. „… mit dem Vater“ spreche (siehe Ab- 18 Versuche mit „Hochdeutsch im Kindergarten“ sind in der Zwischenzeit erfolgreich (vgl. Landert Born 2011), jedoch für unsere untersuchten Maturajahrgänge noch nicht relevant. 19 Es wird nicht davon ausgegangen, dass die Fachtexte, die an schweizerischen Universitäten verwendet und für EVAMAR II untersucht wurden, sich von Fachtexten an deutschen Universitäten stark unterscheiden. Bei deren Inhaltsanalyse (Teilprojekt A1) wurden zwar weder bei der Feinrasterung noch bei der Grobkodierung auffällige Teutonismen bzw. Helvetismen explizit erfasst, jedoch wären solche Sinneinheiten über die Wissenskategorie AA „Wissen über Terminologien“ als vorausgesetztes Eingangswissen kodiert worden (Eberle et al. 2008: 37-41). Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 297 bildung 5). Es standen auf einer Likert-Skala von 1-4 folgende vier Antwortkategorien zur Verfügung: (1) „nur Deutsch / Schweizerdeutsch“; (2) „meistens Deutsch / Schweizerdeutsch, aber manchmal auch eine andere Sprache“; (3) „meistens eine andere Sprache, aber manchmal auch Deutsch / Schweizerdeutsch“; (4) „nur eine andere Sprache“. Bei diesen Sprachverwendungsitems muss in Bezug auf ihre Verwendung in der sprachwissenschaftlichen Plurizentrik-Debatte an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass in der Befragung (leider) nicht fein differenziert wurde zwischen Deutsch im Sinne eines bundesdeutschen Standarddeutsch oder schweizerischen Standarddeutsch versus Schweizerdeutsch im Sinne von regionalen alemannischen Dialekten innerhalb des Gebietes der Deutschschweiz. Dadurch wird bei einer gewünschten Stichprobenaufteilung in unterschiedliche Sprachgruppen die Trennung allein aufgrund dieser Items bzw. Variablen nicht möglich. 4 . Welche Sprache sprechen Sie überwiegend…? Falls Sie nur noch einen Elternteil haben, beantworten Sie die Frage nur für diese Person. … mit Ihrer Mutter … mit Ihrem Vater … mit Ihren Freunden a) nur Deutsch / Schweizerdeutsch ❑ ❑ ❑ b) meistens Deutsch / Schweizerdeutsch, aber manchmal auch eine andere Sprache ❑ ❑ ❑ c) meistens in einer anderen Sprache, aber manchmal auch Deutsch / Schweizerdeutsch ❑ ❑ ❑ d) nur eine andere Sprache ❑ ❑ ❑ Abb. 5 Fragebogenitems zur Sprachverwendung Für die Gruppeneinteilung in Schweizerdeutsch vs. Standarddeutsch sprechende bzw. gemischtsprachige Familien wurde somit zusätzlich die Angabe der Geburtsländer der Familienmitglieder hinzugezogen: Auf die Fragen „Wo wurden Sie geboren? Wo wurden Ihre Eltern geboren? “ konnte mit den beiden Antwortkategorien „in der Schweiz“ oder „in einem anderen Land als in der Schweiz“ geantwortet werden (siehe Abbildung 6). 298 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle 2 . Wo wurden Sie geboren? Wo wurden Ihre Eltern geboren? Bitte machen Sie in jeder Spalte ein Kreuz! Sie Mutter Vater a) in der Schweiz ❑ ❑ ❑ b) in einem anderen Land als in der Schweiz ❑ ❑ ❑ Abb. 6 Fragebogenitems zum Geburtsland Mit diesem Umweg über die Abfrage nach den Herkunftsländern der Familienmitglieder kann ermittelt werden, welche Personen mit welchen Eltern in der Schweiz geboren und vermutlich in der Schweiz aufgewachsen sind, und somit vermutlich Schweizerdeutsch (im Sinne von regionalen mündlichen Dialekten) sprechen, und andererseits welche Personen mit welchen Eltern nicht in der Schweiz geboren / aufgewachsen sind, die dann vermutlich eher Deutsch im Sinne von Hochdeutsch (bundesdeutsche Standardsprache) verwenden. Aufgrund der Kombination der beschriebenen Variablen Sprache und Geburtsland wurden drei Gruppen mit unterschiedlichen Eltern-Kind-Konstellationen im Hinblick auf den familiären Sprachgebrauch Schweizerdeutsch vs. Hochdeutsch gebildet. Die erste Gruppe umfasst die „nur Schweizerdeutsch sprechenden“ Familien, die zweite Gruppe Maturandinnen und Maturanden mit einem schweizerdeutschen und einem hochdeutschsprachigen Elternteil, die dritte Gruppe jene mit zwei hochdeutschsprachigen Elternteilen. Betrachtet wurden nur Maturandinnen und Maturanden aus den deutschsprachigen Kantonen ( N = 2719 Versuchspersonen), für die Angaben zu beiden Elternteilen und gleichzeitig Testergebnisse vorliegen ( N = 2351). Zur ersten Gruppe der „Schweizerdeutschen Familien“ gehören demnach Maturandinnen und Maturanden, die selbst in der Schweiz geboren sind, deren Elternteile beide in der Schweiz geboren sind, und die mit beiden Elternteilen „nur Deutsch / Schweizerdeutsch“ reden, unter der begründeten Annahme, dass es sich um alemannisches Schweizerdeutsch (Dialekt) handelt. Dieser deutlich größten Gruppe gehören insgesamt n = 1527 Maturandinnen und Maturanden an. In der zweiten Gruppe befinden sich Maturandinnen und Maturanden, deren eines der beiden Elternteile im Ausland geboren ist und die sich mit beiden Elternteilen „nur auf Deutsch / Schweizerdeutsch“ unterhalten ( n = 188). Die im Vergleich mit den beiden anderen Gruppen sehr kleine dritte Gruppe beinhaltet Schülerinnen und Schüler, deren beide Elternteile im Ausland geboren sind und bei denen die Kommunikation mit Mutter und Vater „nur auf Deutsch / Schweizerdeutsch“ erfolgt ( n = 44). Hier bewegt sich die Annahme in der Richtung, Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 299 dass in der Familie Hochdeutsch / Bundesdeutsche Standardsprache gesprochen wird. Maturandinnen und Maturanden, die mit ihren Eltern nicht „nur auf Deutsch / Schweizerdeutsch“ (Item 4a, siehe Abbildung 5) sprechen, sondern „manchmal“ bis „nur“ eine andere Sprache (Items 4b-d) verwenden, wurden in den Analysen nicht berücksichtigt ( n = 592), da es nur um den Vergleich des Schweizerdeutschen mit einem hochdeutschen Sprachhintergrund der Schülerinnen und Schüler gehen soll, aber nicht um den Vergleich mit Deutsch als Fremdsprache. Kritisch anzumerken ist, dass dieser Strategie des Auseinanderdividierens der Sprachgruppen einige Annahmen zugrunde liegen und dass Ausreißer 20 vermutlich nicht vermieden werden können. So müsste beispielsweise die Annahme, dass in der Schweiz geborene Personen, welche mit ihren ebenfalls in der Schweiz geborenen Eltern „nur Deutsch / Schweizerdeutsch“ sprechen, vermutlich „Einheimische“ und nicht MigrantInnen sind und somit vermutlich einen Schweizerdeutschen Dialekt sprechen, bis mindestens in die dritte Generation geprüft werden (für die Sprachvariable im Zusammenhang mit der Bestimmung von Migrationsgruppen vgl. bspw. NEPS (National Educational Panel Study), Kristen, Olczyk & Will 2016). Speziell für das Thema der verschiedenen Plurizentren des Deutschen kann hinsichtlich der Kombination von „nur Deutsch / Schweizerdeutsch in der Familie“ mit dem Geburtsland Nicht-Schweiz (leider) nicht eindeutig bestimmt werden, ob es sich in diesem Fall um bundesdeutsches Standarddeutsch oder um österreichisches Standarddeutsch handelt. Zur Prüfung der oben beschriebenen inhaltlichen Hypothese wurden univariate Varianzanalysen mit dem Faktor „Gruppenzugehörigkeit“ und den unabhängigen Variablen der Leistungstestergebnisse durchgeführt. Anschließend wurde zur Kontrolle von Drittvariablen die „berufliche Stellung der Eltern“ als zusätzlicher Faktor in die Varianzanalysen mitaufgenommen. 4.3. Ergebnisse In Tabelle 2 sind die Mittelwerte, Standardabweichungen und Standardfehler der einzelnen Testergebnisse (in Form der Rasch-skalierten Personenfähigkeiten) für die verschiedenen Gruppen aufgeführt. Der Mittelwert der Personenfähigkeiten des Deutsch-Gesamttests der vorliegenden Stichprobe entspricht mit 501 Punkten gerade dem Mittelwert der gesamten EVAMAR II -Stichprobe 20 Beispielsweise könnte die Mutter aus einem asiatischen Land stammen, der Vater aber vielleicht aus einem osteuropäischen Land und die nun in der Schweiz lebende Familie hätte sich auf Deutsch als (einzige) Familiensprache geeinigt. Leider konnte die Geburtslandfrage aus Ressourcengründen nicht offen abgefragt werden, so dass über das Herkunftsland nicht Eineindeutigkeit besteht. 300 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle für Erstsprache. Des Weiteren ist auch in der vorliegenden EVAMAR II-Substichprobe die bereits im theoretischen Teil beschriebene breite Streuung der Personenfähigkeiten erkennbar, die für den Gesamttest hier von 187 bis 780 Punkten reichen (siehe Tabelle 2). Die nahe beieinanderliegenden Mittelwerte der Personenfähigkeiten der einzelnen Gruppen deuten bereits an, dass sich die Maturandinnen und Maturanden mit unterschiedlichen Sprachhintergründen in ihren Ergebnissen des Deutschtests nicht unterscheiden. Über alle drei Gruppen hinweg gesehen ergeben sich für die Ergebnisse des Gesamtsprachtests keine signifikanten Effekte der Gruppenzugehörigkeit ( F -Wert (2, 1756) = .515, Irrtumswahrscheinlichkeit p = .598, Effektstärke partielles Eta-Quadrat η p 2 = .001). Dies gilt ebenso für die Teilergebnisse der rezeptiven Fähigkeiten ‚Detail-Leseverständnis‘ ( F 2, 1756) = .465, p = .628, η p 2 = .001) und ‚Allgemeines Leseverständnis‘ ( F (2,1756) = 1.165, p = .312, η p 2 = .001) als auch für die produktionsnäheren Subskalen ‚Wortschatz‘ ( F (2, 1756) = .266, p = .767, η p 2 = .000) und ‚Grammatik‘ ( F (2, 1756) = .028, p = .973, η p 2 = .000). Für alle diese sprachlichen Subskalen zeigen sich ebenso wie beim Gesamttest keine signifikanten Effekte der Gruppenzugehörigkeit aufgrund der unterschiedlichen Familiensprachen (dialektales) Schweizerdeutsch versus Hochdeutsch bzw. gemischtsprachig. Darüber hinaus zeigen auch die einzeln durchgeführten Gruppenvergleiche (Post hoc-Tests nach Bonferroni zur Korrektur der Potenzierung des statistischen Alpha-Fehlers), dass sich die MaturandInnen der sprachlichen drei Gruppen untereinander statistisch nicht signifikant in ihren Testleistungen unterscheiden. Lediglich für die Gruppe der MaturandInnen mit zwei bundesdeutschen Elternteilen erweist sich beim ‚Allgemeinen Leseverständnis‘ ( M = 518) der Unterschied zu den beiden anderen Gruppen ( M = 501 bzw. 499) auf der Basis von zwei T-Tests zwischen Gruppe 1 bzw. 2 und 3 als praktisch bedeutsam (Effektgröße Cohens d = -0.23 bzw. -0.25) bei ansonsten aufgrund der Gruppengröße statistisch nicht signifikanten Werten ( t (1569) = -1.489, p = .137 im Vergleich mit der Gruppe der Schweizerdeutschen; bzw. im Vergleich mit der gemischten Gruppe 2: t (230) = -1.475, p = .142). Weitere Varianzanalysen zeigen jedoch, dass diese beiden Effekte kleiner Größenordnung auf Bildungsunterschiede zwischen den drei Gruppen zurückzuführen sind: Da vor allem in der Gruppe der Familien mit zwei bundesdeutschen Elternteilen überzufällig häufig Mütter und Väter mit Hochschulabschluss anzutreffen sind, wurde die berufliche Stellung der Eltern kontrolliert; unter Kontrolle dieser Drittvariablen gehen die Effektstärken des Faktors sprachliche Gruppenzugehörigkeit beider Gruppenunterschiede auf nicht mehr bedeutsame Niveaus zurück (von F (1, 1569) = 2.218, p = .137, η p 2 = .001 auf F (1, 1323) = .597, p = .440, η p 2 = .000 im Vergleich mit der Gruppe der Schweizerdeutschen; bzw. im Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 301 Vergleich mit Gruppe 2: von F (1, 230) = 2.175, p = .142, η p 2 = .009 auf F (1, 164) = .457, p = .500, η p 2 = .003). Maturandinnen und Maturanden mit zwei vermuteten bundesdeutschen Elternteilen weisen demzufolge ein schwach bedeutsam besseres allgemeines Leseverständnis als ihre schweizerdeutschen SchulkollegInnen der anderen beiden Gruppen auf, da ihre Eltern über ein besonders hohes Bildungsniveau verfügen. N Mittelwert Standardabweichung Minimum Maximum Standardfehler Gesamtergebnis Erstsprache beide Eltern Schweizerdeutsch 1527 501 83 187 780 2.13 ein Elternteil Hochdeutsch 188 495 81 246 663 5.93 beide Eltern Hochdeutsch 44 503 94 224 676 14.10 Gesamt 1759 501 83 187 780 1.99 Ergebnisse Wortschatz beide Eltern Schweizerdeutsch 1527 497 72 237 735 1.84 ein Elternteil Hochdeutsch 188 493 70 312 713 5.08 beide Eltern Hochdeutsch 44 496 83 349 715 12.51 Gesamt 1759 496 72 237 735 1.72 Ergebnisse Grammatik und Orthographie beide Eltern Schweizerdeutsch 1527 503 76 192 861 1.94 ein Elternteil Hochdeutsch 188 502 79 201 695 5.76 beide Eltern Hochdeutsch 44 501 79 282 683 11.98 Gesamt 1759 502 76 192 861 1.82 302 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle N Mittelwert Standardabweichung Minimum Maximum Standardfehler Ergebnisse Detail- Leseverständnis beide Eltern Schweizerdeutsch 1527 505 82 163 729 2.11 ein Elternteil Hochdeutsch 188 500 79 209 675 5.75 beide Eltern Hochdeutsch 44 498 109 195 701 16.40 Gesamt 1759 504 83 163 729 1.97 Ergebnisse Allgemeines Leseverständnis beide Eltern Schweizerdeutsch 1527 501 76 185 700 1.94 ein Elternteil Hochdeutsch 188 499 76 284 704 5.57 beide Eltern Hochdeutsch 44 518 75 321 747 11.28 Gesamt 1759 501 76 185 747 1.81 Tab. 2: Leistungstestergebnisse über die drei Sprach-Gruppen Für alle anderen Gruppenunterschiedsanalysen ergaben sich bei einer Kontrolle der beruflichen Stellung der beiden Elternteile auch weiterhin keine Effekte der Gruppenzugehörigkeiten auf die Ergebnisse des Deutschleistungstests (ohne Tabelle). Unter der Annahme, dass die Gruppenzugehörigkeit die Sprachgewohnheiten Schweizerdeutsch (Dialekt) vs. Hochdeutsch / Standarddeutsch in den Familien adäquat widerspiegeln, spielt es unseren Ergebnissen zufolge für das Abschneiden der Maturandinnen und Maturanden beim Deutsch-Leistungstest keine Rolle, ob in den Familien überwiegend Hochdeutsch / Standarddeutsch oder Schweizerdeutsch gesprochen wird. 5. Diskussion Auf dem Hintergrund der bereits im Methodenteil geäußerten kritischen Anmerkungen zu unserer Differenzierung der Sprachgruppen anhand der im Datensatz von EVAMAR II vorhandenen Sprach- und Geburtslandvariablen wollen wir unsere Ergebnisse einer versuchsweisen Analyse von Sprachstandsunter- Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 303 schieden von Maturandinnen und Maturanden im EVAMAR-Sprachtest Deutsch und deren empirische Bedeutung für die sprachwissenschaftliche Plurizentrik- Debatte im europäischen Raum im Folgenden kurz diskutieren. Unsere Ergebnisse zum Vergleich der drei angenommenen Schülergruppen „Schweizerdeutsch(Dialekt-)Sprechende“ vs. „Hochdeutsch(Standarddeutsch-) Sprechende“ vs. „Schülerinnen und Schüler mit gemischter Familiensprache Hochdeutsch / Schweizerdeutsch“, zeigen keine erwarteten signifikanten Unterschiede in den Leistungen im Deutschtest. Unter dem Vorbehalt von nicht eineindeutiger Identifizierung von Gruppenangehörigen 21 konnte empirisch gezeigt werden, dass innerhalb des Plurizentrums des Schweizer Standarddeutschen sozialisierte Schülerinnen und Schüler mit der Muttersprache Schweizerdeutsch gegenüber den (vermutlich) näher am Hochdeutschen sozialisierten Maturandinnen und Maturanden 22 in einem auf universitärer Sprachnorm ausgerichteten Deutsch-Kompetenztest weder schlechtere noch bessere Ergebnisse zeigten. Darüber hinaus ist insbesondere die Gruppe der Familien mit zwei (mutmaßlich) hochdeutschen Elternteilen sehr klein, die Gruppengrößen sind sehr unterschiedlich. Dies birgt die Gefahr, dass die sehr große Vergleichsgruppe der Schweizerdeutschen sehr heterogen sein könnte und damit nicht kontrollierte Drittvariablen das Ergebnis verzerren. Auch in den die Plurizentrik-Debatte interessierenden sprachproduktionsnahen Subskalen Grammatik und Orthografie sowie Wortschatz konnten - vorbehältlich der erwähnten Einschränkungen - keine empirisch signifikanten Leistungsunterschiede zwischen den drei Sprachgruppen nachgewiesen werden. Offensichtlich gelingt es entweder den Gymnasien, die Norm der deutschen Standardsprache für alle gleichermaßen als Orientierungspunkt gut zu vermitteln, so dass die sprachliche familiäre (dialektale) Alltagsgewohnheit weder eine hinderliche noch eine förderliche Rolle zu spielen scheint, oder es gelingt den im dialektalen Schweizerdeutsch aufgewachsenen Jugendlichen insgesamt 21 Einschränkend zur vorliegenden Studie muss gesagt werden, dass bei der Erfragung der Sprachverwendung in den Familien nicht direkt zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch unterschieden wurde (siehe Abbildung 5). Die Unterscheidung der Gruppen erfolgte daher auf Basis der Annahme, dass MaturandInnen, deren Eltern im Ausland geboren sind und mit denen „nur Deutsch / Schweizerdeutsch“ gesprochen wurde, tatsächlich einerseits aus Deutschland stammen und zum zweiten Hochdeutsch verwenden. In Deutschland findet sich jedoch auch heute noch eine Vielfalt an Dialekten in Gebrauch (vgl. bspw. die empirische Arbeit von Huesmann 1998), wobei vermutet werden kann, dass die Familien mit Hochschulabschluss sich eher um eine standardorientierte Familiensprache bemühen (Koller 1992). 22 Dabei konnte der Einfluss bundesdeutscher Dialekte nicht nachverfolgt oder eindeutig ausgeschlossen werden. 304 Karin Gehrer, Maren Oepke & Franz Eberle als Gruppe, ohne Leistungseinbußen gegenüber anderen Sprachgruppen, die Sprachanforderungen des universitären Standarddeutschen zu erfüllen. Empirisch zu überprüfen wäre, ob dieses Resultat erst in den späteren Jahren der schulischen Sozialisation auftritt, also vielleicht auch eine Frage der Schuldauer oder der Schulform ist, so dass sich in unteren Klassen vielleicht noch größere Unterschiede in der Sprachleistung als zum Zeitpunkt des Übergangs an die Hochschulen zeigen. Hinweise darauf geben bspw. qualitative Ergebnisse von Koller (1992), dass die zuhause Hochdeutsch sprechenden Jugendlichen bundesdeutscher Familien nach eigener Einschätzung teilweise besser die Standardsprache verwenden als ihre schweizerdeutschen SchulkollegInnen und ihnen ihre familiäre Sprachsituation vor allem in der Primarstufe gewisse Vorteile verschafft habe (317-318). Auch müsste vermutlich der Einfluss des Mediums Fernsehen neben der familiären Sprachsituation darüber hinaus noch empirisch miteinbezogen werden (vgl. Landert Born, 2011: 186; Häcki Buhofer & Burger 1998); diese Daten standen uns bei EVAMAR II retrospektiv nicht zur Verfügung. Wir vermuten insgesamt, dass die hohen Hürden in der Schweiz, an ein Gymnasium aufgenommen zu werden (schweizweit liegt die Maturitätsquote bei lediglich ca. 20 %), auch im Hinblick auf das Vorliegen der sprachlichen Fähigkeiten bereits sehr selektiv wirken, so dass sich durch diese Selektion in der Schulform bereits keine Unterschiede mehr zwischen den Gruppen zeigen. Interessant wäre es daher, auch an nicht-gymnasialen Schulen ähnliche Gruppenuntersuchungen vorzunehmen, um diese Vermutung ausschließen zu können. Das Resultat nicht vorhandener Unterschiede in den Sprachleistungen der angenommenen Sprachgruppen könnte man als weiteres Zeichen für eine gelingende Vorbereitung der Gymnasien auf die Hochschulen bezeichnen, wie sie die EVAMAR II-Analysen insgesamt zum Ergebnis haben. Dennoch bleibt der grundsätzlich auch hier gezeigte Befund der großen Unterschiede in den Leistungen zwischen den Personen und des Defizits am unteren Ende der Leistungsskala. Dieses Ergebnis sprachlicher Lücken bestätigt sich ebenfalls für die AbgängerInnen der schweizerischen Berufsmaturitätsschulen (vgl. Studie OEKOMA , u. a. Eberle & Schumann 2013). Die Befunde der vorliegenden Studie bestätigen im Kleinen diejenige der großen EVAMAR -Studie, dass die Bemühungen zur Verbesserung der sprachlichen Fähigkeiten wie die aktuell in der Schweiz auf bildungspolitischer Ebene unternommenen Anstrengungen zur besseren Förderung der Sprachkompetenzen im Gymnasium weiter vorangetrieben werden sollten. Diese Förderung soll nicht zulasten anderer Fachinhalte gehen, sondern mittels rechtzeitiger, ergänzender und individueller Förderung der in diesen Bereichen schlechten Schülerinnen und Schüler (Eberle et al. 2015). Der EVAMAR II-Deutschtest für GymnasiastInnen 305 Bezüglich der eingangs gestellten Fragestellung, ob mithilfe der EVAMAR II-Daten es möglich ist, empirisch gesicherte Antworten für das Feld der sprachwissenschaftlichen Plurizentrik-Debatte zu liefern, müssen wir nach eingehender Beschäftigung mit dem Datenmaterial uns einerseits mit dem Verweis zufriedengeben, dass eine exakte Aufteilung nach plurizentrisch definierten Sprachgruppen innerhalb der deutschen Sprachverwendung nahezu unmöglich ist, dürfen aber andererseits darauf verweisen, dass unter bestmöglicher Verwendung des Datenmaterials sich im EVAMAR -Sprachtest auf universitärem Niveau keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen Gruppen von GymnasiastInnen mit unterschiedlichen Varietäten deutscher Familiensprache zeigen, auch nicht in Subskalen, die der Sprachproduktion (und damit der Plurizentrik-Debatte) nahe sind. Mit diesem eingeschränkten Befund können wir nur darauf hoffen, dass in nächster Zeit es mit sprachwissenschaftlich ausgerichteten empirischen Studien möglich sein wird, ein feineres Ergebnisbild für die Plurizentrik-Thematik zu zeichnen. 6. Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter. Berthele, Raphael (2004): Vor lauter Linguisten die Sprache nicht mehr sehen - Diglossie und Ideologie in der deutschsprachigen Schweiz. In: Christen, Helen (Hrsg.): Dialekt, Regiolekt und Standardsprache im sozialen und zeitlichen Raum. Beiträge zum 1. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen. Marburg an der Lahn. Wien: Edition Praesens, 111-136. Christen, Helen (2004): Vorwort: Vom Wissen um die soziale Komponente arealer Sprachvariation zu ihrer Erforschung. 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Neue Grenzziehungen nach der Postmoderne? 8. Ausblick: Dialektliteratur als wieder neu zu entdeckende Gattung? 9. Literatur 1. Wertung als (gesellschaftlicher) Prozess In dem sehr komplexen Prozess von literarischer Wertung und Kanonisierung (Rippl & Winko 2013) spielen einige Institutionen und deren Produktionen eine entscheidende Rolle. Renate von Heydebrand und Simone Winko (1996: 222-223) haben den Kanon als Prozess, seine Instanzen und die Art und Weise, wie der Kanon sich materialisiert, wie folgt beschrieben: Ein „literarischer Kanon“ ist die Summe literarischer Texte (und zugehöriger Autorennamen), die in einer Gesellschaft durch folgende (Wertungs-)Handlungen tradiert werden: - dauerhafte Präsenz im Druck, am Markt; Aufnahme in Klassikerreihen - Gesamtausgabe(n), insbesondere Kritische Ausgaben - anhaltende Pflege in literaturvermittelnden Institutionen (Schule, Universität, Literaturkritik, literarische Gesellschaften u. a.) - regelmäßige und ausführliche Behandlung in Literaturgeschichten, Lexika u. a. - wiederholte Verarbeitung durch nachfolgende Autoren. 310 Stefan Neuhaus […] Kanonisierung ist […] ein Ergebnis vieler, einander stützender Wertungshandlungen, häufig nicht-sprachlicher Art. Wertungen einzelner Personen spielen dabei wohl eher eine vorbereitende Rolle. Es sind vor allem die Massenmedien und andere Institutionen der Literaturvermittlung, deren Wertungen schließlich Kanonisierung bewirken. (Heydebrand & Winko 1996: 222 f.) Der größte Teil der hier genannten Institutionen und ihrer Produktionen ist, zumindest bisher, an eine, weitgehend einheitlich verwendete Sprache gebunden; so ist es die gemeinsame Sprache, die fundierend für den literarischen Kanon wirkt. Und diese Sprache wirkt doppelt - in der Sprache des literarischen Texts, um den es geht, und in der Sprache, in der über diesen Text gesprochen wird. Das zentrale Beispiel hierfür sind Literaturgeschichten, die selten über die Literatur einer Sprachgemeinschaft hinausgehen. An ihnen lassen sich aber auch noch andere Voraussetzungen erkennen, die sehr wichtig sind und die ich etwas näher betrachten möchte. 2. Die Notwendigkeit zur Selektion Wenn man die Texte, auf die Literaturgeschichten eingehen, mit der gesamten Produktion von Literatur vergleicht, dann ist das Verhältnis das einer Handvoll Sandkörner zu einem Strand. Simone Winko (2002: 12) hat bereits folgende Formel gefunden: „Die allgemeinen Prämissen jeder Kanonbildung sind schlicht: (1) Kein Mensch kann alle literarischen Texte lesen. (2) Menschen tendieren zu sinnbesetztem Handeln.“ Gerade die Vielzahl an Neuerscheinungen macht eine radikale Selektion unvermeidlich. Seit über zwei Jahrzehnten sind es rund 100 000 Bücher (zunehmend allerdings in digitaler Form), die jedes Jahr in deutscher Sprache erscheinen, davon etwa 80 000 Neuerscheinungen und 20 000 Neuauflagen. Der Anteil der Belletristik schwankt, er ist allerdings mit einem Viertel, in das die Kinder- und Jugendliteratur noch gar nicht eingerechnet ist, erheblich. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Versuch gestartet, alle belletristischen Neuerscheinungen erst zu rezensieren und schließlich nur noch zu verzeichnen, doch auch dies war bald nicht mehr möglich. Der Versuch ist verbunden mit dem Namen Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811): Seit 1765 war Nicolai in Personalunion Verleger und Herausgeber der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“, des bedeutendsten Rezensionsorgans der Aufklärung, das in einer Auflage bis zu 2500 Exemplaren mit universellem Anspruch die gesamte wissenschaftliche wie belletristische Buchproduktion deutscher Sprache kritisch durchmusterte. Mit den insgesamt 256 Bänden der AdB, die bis 1805 erschien, wurde Nicolai Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 311 zum bewunderten und umschmeichelten, aber auch geschmähten und verhöhnten Präzeptor und Papst der Berliner Aufklärung, und zur kritischen Instanz mit Unfehlbarkeitsanspruch. (Wittmann 1999: 148) Angesichts der immer weiter zunehmenden Produktion war es aber schließlich nicht mehr möglich, die Neuerscheinungen auch nur zu verzeichnen; ein solcher Versuch wird erst ein Jahrhundert nach dem Ende der AdB mit der Gründung der Deutschen Bücherei im Jahr 1912 in Leipzig gestartet (Deutsche Nationalbibliothek 2014). 1 Im 19. Jahrhundert, so hat Rudolf Schenda (1977: 34-35) geschätzt, „[…] werkten in der Tat mehr Autoren, als eine Normal-Literaturgeschichte ahnen läßt: Deutschland besaß nicht nur tausend ‚Dichter‘, sondern mindestens 100 000 Männer und Frauen der Feder. Mindestens 99 % dieser Schriftsteller fallen für die Literaturgeschichtsschreibung aus“ (Schenda 1977: 34 f.), vor allem, weil sie den ästhetischen Ansprüchen der Literaturexperten nicht genügten, als trivial eingestuft und daher nicht mittel- oder längerfristig beachtet wurden. 3. Die Selektion nach Sprache und Nationalität Die Geschichte der Normierung von Sprache können Sprachhistoriker viel besser erzählen, sie führt von Martin Luther über die Brüder Grimm und den Duden bis zur Einrichtung von Expertenkommissionen, die Reformen für die öffentliche Verwaltung beschließen können und stark normierend wirken, weil die öffentliche Hand die beschlossenen Regeln auch für Schulen verbindlich macht. Diese Normierungsbestrebungen gehören aber in den größeren Zusammenhang der Formierung einer Ordnungsgröße namens ‚Nation‘, die nach dem Ende des Kalten Krieges als überholt galt und jetzt überall in der Welt wieder aufersteht. Wie für die Orientierung an Sprache kann auch für die Orientierung an staatlichen Grenzen zunächst die Menge der Literaturproduktion als ein Grund genannt werden - Sprache und Staat sind einfache Kategorien, die helfen, den Strand zu parzellieren und nicht jedes Sandkorn prüfen zu müssen. Kaum zu überschätzen ist aber die Verbindung zwischen der Entstehung moderner Gesellschaftsstrukturen und der Konzentration auf eine ‚Nation‘ genannte Gemeinschaftsform. Während der Begriff Staat „allgemein für den mit oberster Gewalt ausgestatteten Herrschaftsverband verwendet“ wird und meint, „daß eine Mehrzahl von 1 Vgl. die Informationen auf den Webseiten der Deutschen Nationalbibliothek, URL: http: / / www.dnb.de/ DE/ Wir/ wir_node.html; jsessionid=91FE38DCD008BDC13F26A007B590BB 8F.prod-worker2 (abgerufen am 12. 06. 2014). 312 Stefan Neuhaus Menschen ihr Handeln nach bestimmten Verhaltensnormen aufeinander“ abstimmen (vgl. Zippelius 1986: 490-494), und zwar durch geschriebene (Verfassung, Gesetze) und ungeschriebene Regeln, schließt der Begriff der Nation ein „Loyalitäts- und Zugehörigkeitsgefühl“, ein „Identitätsgefühl“ mit ein. „Es hebt das Selbstbewußtsein und stärkt das Identitätsgefühl, wenn mit dem Solidarverband, dem man angehört, außer Schutz und Hilfe auch Ansehen und Geltung verbunden sind.“ (Wehler 2001: 16) Die Entstehung der modernen Nationen 2 hat durchgreifende Veränderungen für die Produktion und Rezeption von Literatur zur Folge gehabt, von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit ‚nationalen‘ Stoffen und Figuren (z. B. Wallenstein, Barbarossa, Arminius alias Hermann, der Cherusker) über die Zuschreibung spezifischer ‚nationaler‘ Eigenheiten bis zur Entwicklung eigener, auf den eigenen Sprachraum begrenzter Paradigmen literarischer Wertung. ‚Nationale‘ Eigenheiten von Literatur können besonderen historischen Bedingungen geschuldet sein, meint etwa Hans-Dieter Gelfert (2006: 187): „Betrachtet man die deutsche Literatur aus großer Distanz und vergleicht sie mit der englischen, französischen oder russischen, fällt als erstes das nahezu völlige Fehlen von Urbanität auf.“ Hier ist man versucht zu fragen, inwiefern ein solches Merkmal Relevanz für die Qualität von Texten beanspruchen kann. Ein berühmter Titel (eine Erzählsammlung und eine Binnenerzählung) Franz Kafkas heißt Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande , ein berühmter Roman Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz , doch würde keiner auf die Idee kommen, die beiden gegeneinander auszuspielen. Eher bedeutsam sind die Folgen der Entwicklung von Ökonomie, Bildungssystem und politischem System für die Konzeption von Wertmaßstäben innerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft. Aufschlussreich ist, dass die Rekonzeptualisierung ‚deutscher‘ Wertmaßstäbe in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Rezeption internationaler Kunst und Literatur zurückgeht, insbesondere der griechischen und römischen Antike, aber auch des italienischen (z. B. Boccaccios Decamerone ) und des arabischen (v. a. die Erzählungen aus tausendundein Nächten ) Mittelalters sowie der englischen Renaissance (v. a. die Dramen und Lyrik Shakespeares). Ausgesprochen folgenreich war beispielsweise Johann Joachim Winckelmanns Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst , in der es heißt: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, 2 Siehe dazu weiter unten die Ausführungen in Anlehnung an den Nationen-Begriff von Anderson. Vgl. hierzu auch den instruktiven Aufsatz von Berger (1997: 7-21). Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 313 ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. (Winckelmann 1995: 20) Mit dem Begriffspaar der ‚edlen Einfalt‘ und der ‚stillen Größe‘ konnten Produktion und Wirkung von Literatur miteinander verknüpft und als Leistung eines individuellen, kreativen Schöpfers ausgewiesen werden. Friedrich Schillers Aufsatz Über Bürgers Gedichte in der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 15. und 17. Januar 1791 kann als paradigmatischer Text gelten, weil Schiller hier sein unter anderem auf Winckelmann zurückgehendes Konzept einer ästhetischen Bildung am konkreten Beispiel erläutert und Wertmaßstäbe definiert, die bis heute weitgehend Gültigkeit beanspruchen können. Auch Schillers Unterscheidung zwischen qualitätvoller Literatur und Unterhaltungsliteratur hat prägende Wirkung: Ein Volksdichter für unsere Zeiten hätte also bloß zwischen dem Allerleichtesten und dem Allerschwersten die Wahl; entweder sich ausschließend der Fassungskraft des großen Haufens zu bequemen und auf den Beifall der gebildeten Klasse Verzicht zu tun - oder den ungeheuern Abstand, der zwischen beiden sich befindet, durch die Größe seiner Kunst aufzuheben und beide Zwecke vereinigt zu verfolgen. (Schiller 1993: 973-974) Selbst wenn Schiller ein spezifisches Programm für die deutschsprachige Literatur entwirft, entkoppelt er es zugleich von einer möglichen Festlegung auf eine Nation. Um diese komplexe Operation verstehen zu können, muss zunächst noch weiter auf die negativen Folgen der Entwicklung von Nationen und Nationalliteraturen für die allgemeinen Werte und die diesen Werten folgenden, praktischen Handlungen eingegangen werden. Im Zuge der Entwicklung des Konzepts ‚Nation‘ wurde der Staat als durch Gesetze geregelte Ordnungsgröße begrifflich von einer ‚Nation‘ genannten Vorstellung eines Ideals menschlichen Zusammenlebens getrennt. Benedict Anderson ist der Entwicklung des Konzepts von ‚Nation‘ nachgegangen, er hat in den 1980-er Jahren eine bahnbrechende Studie darüber vorgelegt und festgestellt, die Nation sei „eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän“. (Anderson 1998: 14) Er betont dabei besonders: „ Vorgestellt ist sie deswegen, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“ (Anderson 1998: 14-15) Nation ist also die Bezeichnung für eine Konstruktion, die ihren Konstruktionscharakter weitgehend zum Verschwinden bringt. Mit Roland Barthes (1964) könnte man auch von einem Mythos sprechen. Dazu passt Andersons Befund: „Der ‚politischen‘ Macht des Nationalismus steht seine philosophische Armut oder gar 314 Stefan Neuhaus Widersprüchlichkeit gegenüber. Mit anderen Worten: Anders als andere Ismen hat der Nationalismus nie große Denker hervorgebracht […].“ (Anderson 1998: 14)Dennoch haben gerade die Schriftsteller das ‚Narrativ‘ (Anderson 1998: 176) der Nation befördert (Neuhaus 2002). Rudolf Schenda weist den von ihm so genannten ‚populären Lesestoffen‘ eine Mitschuld an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu: Die Resultate der gesamten Entwicklung des 19. Jahrhunderts sind bekannt. Die Konsumenten populärer Lesestoffe haben dabei eine ebenso klägliche wie anklagende Rolle gespielt. In zwei Weltkriegen haben Millionen von Lesern - manipuliert, willfährig, gedankenlos, blind - der Tradition getraut, der Autorität zugestimmt, auf alte Werte hingewiesen, der verlogenen Fiktion falscher Berichte geglaubt, Abenteuer auf dem Felde der Ehre gesucht, vom großen Vaterland oder von der großen Nation bramarbasiert und vom idyllischen Frieden geträumt. (Schenda 1977: 494) Schillers Operation, nur jene Literatur gelten zu lassen, die spezifischen ästhetischen Maßstäben verpflichtet ist und sich nicht „der Fassungskraft des großen Haufens“ andient, imprägniert die von ihm gemeinte Literatur gegen eine Festlegung auf eine ‚nationale‘ Perspektive. Wie gerade die Rezeption der Werke Schillers gezeigt hat, ist dies allerdings kein Schutz vor der ideologischen Indienstnahme solcher Literatur gewesen, so dass auch krasse, durch den Text selbst in keiner Weise mehr gedeckte Fehlinterpretationen formuliert werden mussten, beispielsweise in der NS -Zeit: Im Goethejahr 1932 erschien das Buch eines Juristen namens Hans Fabricius, führendes Mitglied der NSDAP : „Schiller als Kampfgenosse Hitlers. Nationalsozialismus in Schillers Dramen“. So einfach war das. Kaum war ein Begriff zum politischen Programm geworden, kämmte man das Werk eines Dichters durch, um den Beweis anzutreten, dass sich die irrationalen Thesen der eigenen Partei darin finden ließen. (Carbe 2005: 110) Die Rezeptionsgeschichte der Literatur ist, das kann hier nur am Beispiel Schillers angedeutet werden, nicht zuletzt eine Geschichte der Instrumentalisierungen von Texten und Autoren, um eigene Machtinteressen zu stützen oder durchzusetzen. Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 315 4. Nationale und regionale Literaturgeschichtsschreibung im deutschen Sprachraum Die Veränderung in der Literaturgeschichtsschreibung kann hier nur benannt und nicht nachgezeichnet werden, sie reicht von den dezidiert nationalen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts über die nationalistisch-rassistischen Literaturgeschichten (etwa die Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften von Josef Nadler) (Nadler 1978) bis zu den vielbändigen Sozialgeschichten von Rolf Grimminger einerseits und Horst Albert Glaser andererseits (Glaser 1980-1994; Grimminger 1980-2009). Literaturgeschichte wird zum Vehikel erst nationaler und dann nationalistischer Vorstellungen, die geographische, also an bestimmte (teils historische oder imaginäre) Grenzen gebundene Zuordnungen mit einer ideologischen Bedeutung aufladen, um für einen möglichst großen Teil der Bewohner eines solchen Raumes identitätsstiftend wirken zu können. Nationalismus meint hier […] das Ideensystem, die Doktrin, das Weltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft dient. Daher wird der Nationalstaat mit einer möglichst homogenen Nation zum Kardinalproblem des Nationalismus. (Wehler 2001: 13) Die Zäsur von 1945 hat zwar den Nationalismus zurückgedrängt, aber keineswegs beseitigt, wie gegenwärtige politische Entwicklungen (etwa die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ von 2015 / 16) nur allzu deutlich zeigen. Literaturgeschichten haben dem Nationalismus abgeschworen, sind aber weitgehend bei dem früheren, an staatlichen oder regionalen Grenzen orientierten Kategoriensystem geblieben. Durch den Zerfall des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, durch den Krieg Preußens gegen Österreich mit der Folge der erneuten Reichsgründung unter Ausschluss Österreichs und durch die zunehmende Neutralität der Schweiz in allen auf Konflikte zwischen den ‚Nationen‘ zurückgehenden Krisenzeiten hat sich die Perspektive verschoben, es haben zunehmend auch national begrenzte (Österreich, Schweiz) und regionale Literaturgeschichten (z. B. Bayern) an Bedeutung gewonnen. Die insbesondere in den letzten Jahrzehnten eindrucksvolle Produktion spricht für sich, ihre Ausgangslage wird etwa in der von Pezold herausgegebenen Schweizer Literaturgeschichte so benannt: „Die deutschsprachige Literatur aus der Schweiz hatte in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend Beachtung gefunden.“ (Pezold 2007: 10) An diesem auf die deutschsprachige Literatur der Schweiz konzentrierten Band wird auch 316 Stefan Neuhaus das Sonderproblem deutlich, die Schweiz als einheitliches Territorium zu verstehen, das eine mehrsprachige Bevölkerung hat. Im Positiven bedeutet der mikrokosmologische Blick, dass die geographische, an bestimmte regionale Grenzen gebundene Herkunft als ausschlaggebendes Kriterium benutzt wird, um bisher weniger beachtete AutorInnen und ihre Werke diskutieren und ihren Beitrag im literarhistorischen Prozess beleuchten zu können. Dieses zweifellos legitime Anliegen hat etwa Hans Pörnbacher so formuliert: „Jede Region, also auch Schwaben, […] hat aber auch Anteil am Ganzen der deutschsprachigen Literatur.“ (Pörnbacher 2002: 17) Dennoch bedeutet ein solches Herkunftsprinzip eine relativ willkürliche Beschränkung, die schon in den Anfängen regionaler Literaturgeschichtsschreibung ein großes Problem war. In den treuherzigen Worten von Wilhelm Schoof aus dem Jahr 1901: Bezüglich der räumlichen Abgrenzung meiner Studien begegnete ich zuweilen nicht geringen Schwierigkeiten. […] Bezüglich einiger nicht in Hessen geborener, aber zur hessischen Literatur zu zählender Persönlichkeiten erfolgte die Entscheidung nach Maßgabe ihrer dichterischen Entwicklung, die sie in Hessen empfangen haben. (Schoof 1901: V- VI ) Dass die vorübergehende Absenz solcher mikrokosmologischen Studien viel mit der Erfahrung des Nationalsozialismus zu tun hatte, lässt sich einem Beitrag von Brigitte Tontsch zur ‚siebenbürgisch-deutschen Literatur‘ entnehmen: Die deutsche Literatur, die in den Provinzen innerhalb oder außerhalb staatssprachlicher Grenzen entstanden ist und entsteht, ist seit dem Beginn der 80er Jahre zunehmend wieder Gegenstand germanistischer Forschung. Das Tabu, das nach 1945 auf dem literarischen Regionalismus lag, konnte nur schrittweise durchbrochen werden. (Tontsch 1993: IX ) In den ‚Bausteinen‘ zu einer österreichischen Literaturgeschichte von Fackelmann und Kriegleder aus dem Jahr 2011, (konzipiert als Sammelband und Festschrift, vgl. Fackelmann & Kriegleder 2011) wird ganz explizit auf die neuere gesellschaftspolitische Motivierung der jüngeren nationalen oder regionalen Literaturgeschichtsschreibung hingewiesen: Eine Geschichte der Literatur Österreichs, Fragen ihrer Berechtigung und Ermöglichung wurden in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts recht eindringlich diskutiert. Das hat gerade auch damit zu tun, dass die kleine Republik sich damals nach innen und außen gefestigt hatte und ihr modernes Selbstverständnis auf eine entsprechende Vergewisserung der Landesgeschichte zu stützen suchte. (Fackelmann & Kriegleder 2011: XIV ) Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 317 Dabei ist in der Regel aber das Bewusstsein vorhanden, mit der Hervorhebung der nationalen Grenze eine zumindest potentiell problematische Kategorie als Grundlage zu verwenden (Berger 1997). In der österreichischen Literaturgeschichte von Zeyringer und Gollner wird daher relativierend von einer „soziokulturell belegbaren Eigenart unserer Literatur“ (Zeyringer & Gollner 2012: 13) gesprochen. Auf der anderen Seite hat das gewachsene Problembewusstsein dazu geführt, geographische Fixierungen ausgesprochen kritisch zu reflektieren, etwa in dem Projekt, die Literatur in Österreich 1938-1945 in Regionen (ausgewählt wurden Kärnten und die Steiermark) aufgeteilt zu untersuchen und so die Folgen einer verordneten nationalistischen Politik mit ihrer Aufwertung des geographischen Bezugs für die Produktion von Literatur beispielhaft herauszuarbeiten. (Vgl. Baur & Gradwohl-Schlacher 2008) 5. Der Gegenentwurf: Das Konzept der Weltliteratur Literaturgeschichte wird aus den genannten Gründen mit staatlichen oder regionalen Grenzen konzipiert, lässt sich aber eigentlich nur sinnvoll ohne Grenzen denken: Literaturgeschichten widmen sich in der Regel einer Nationalphilologie (ein eingeführter, aber irreführender Begriff, zumal der deutsche Sprachraum aus verschiedenen Nationen besteht), obwohl es zahlreiche Beziehungen zwischen den Autoren und Texten über Sprachgrenzen hinweg gibt. Ohne die klassische griechische Literatur und ihre Theorie - etwa die Schriften des Aristoteles - gäbe es die deutschsprachige Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts in der vorliegenden Form nicht. Für das 18. und 19. Jahrhundert lässt sich der Einfluss Shakespeares auf die Dramenproduktion gar nicht überschätzen. Lord Byron wurde für viele deutschsprachige Lyriker des 19. Jahrhunderts zum Vorbild. Die Literatur des deutschsprachigen Naturalismus wäre ohne den Einfluss von Emile Zola (Frankreich) und Henrik Ibsen (Norwegen) nicht zu denken. Die Popliteraten der 1990er Jahre ließen sich von US -amerikanischer Literatur anregen, beispielsweise von Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho . Und so weiter, und so fort. Dazu kommen komplizierte Wechselwirkungen. Sir Walter Scott, der ‚Erfinder‘ des Historischen Romans am Anfang des 19. Jahrhunderts, hat mit Begeisterung Goethe gelesen und ist durch dessen Drama Götz von Berlichingen zur Darstellung historischer Ereignisse in literarischen Texten angeregt worden. Scott wiederum hat wegen seines großen Erfolges zahlreiche Epigonen in Deutschland gehabt und er hat sogar Autoren wie Theodor Fontane stark beeinflusst. (Neuhaus 2014: 129) 318 Stefan Neuhaus Aufbauend auf dem von Goethe geprägten Begriff einer ‚Weltliteratur‘ hat Dieter Lamping festgestellt: Danach [nach dem Konzept der Weltliteratur] ist Literatur ein komplexes Beziehungssystem von Texten, das durch zahllose Verweise und Verknüpfungen zusammengehalten wird. Die Besonderheit der Literatur macht dabei weniger ihre Bindung an eine Sprache als ihre poetische Verfasstheit aus, insbesondere ein gemeinsamer Bestand an Formen, Verfahren, Themen und Motiven, an dem grundsätzlich alle Literaturen teilhaben. (Lamping 2010: 62) Es überrascht dabei nicht, dass (wie etwa Schiller) auch Goethe die Konzeptionalisierung von Nation und Literatur getrennt sehen möchte: Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist, und das er ergreift und bildet wo er es findet. (Lamping 2010: 77) Die Sprachbarriere bleibt allerdings erhalten, deshalb betont David Damrosch die Bedeutung von Übersetzungen für den Vermittlungsprozess. Für Damrosch ist Weltliteratur, losgelöst von geographischen Grenzen, „not an infinite, ungraspable canon of works but rather a mode of circulation and of reading, a mode that is as applicable to individual works as to bodies of material, available for reading established classics and new discoveries alike“ (Damrosch 2003: 5). Damit widersprechen Goethe, Lamping und Damrosch dem Konzept einer „Geographie der Literatur“, wie es Franco Moretti (1999: 13) geprägt hat. Allerdings legt Morettis Auffassung von der „ Ortsgebundenheit der Literatur“ (Moretti 1999: 15) den Fokus auf die Produzenten, während es Damrosch mit seinem Konzept des „mode of reading“ erkennbar um die Rezeption geht. Freilich ist die Produktion von Literatur stets von spezifischen Voraussetzungen abhängig, sie ist von den Orten und Erlebnissen der AutorInnen geprägt. Andererseits zeichnet es Literatur ja gerade aus, dass sie, unabhängig von diesen Voraussetzungen, in anderen historischen, nationalen und kulturellen Kontexten rezipiert werden kann. Morettis eindrucksvoller Atlas lädt zum Nachdenken darüber ein, wo AutorInnen aus welchen Gründen besonders gute oder weniger gute Rahmenbedingungen hatten und welche Rolle die individuelle Begabung dabei spielt. Andererseits ist auffällig, dass jemand zum wichtigsten Autor der Weltliteratur werden konnte, über den so gut wie nichts bekannt ist - William Shakespeare, oder dass es Autorenkollektive gibt, von denen man nicht einmal die Namen weiß - etwa bei den Erzählungen aus den tausendundein Nächten . Für die Wirkung von Literatur spielt die Geographie offenbar nur eine sehr eingeschränkte Rolle, eben soweit die Texte die Relevanz ihrer Entstehungsbedingungen selbst Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 319 betonen, indem sie auf spezifische geographische Besonderheiten Rücksicht nehmen. Und selbst dann können sie eine Rezeption entfalten, die sie von dem Ursprungsort oder Ursprungsland emanzipiert; man denke an Erich Kästners Roman Emil und die Detektive , der überwiegend in Berlin spielt und den Berliner Soziolekt verwendet, der zugleich aber bis heute auch in Südkorea und Israel eines der beliebtesten Kinderbücher überhaupt ist. Peter von Matt hat im März 2014 am Beispiel der Literatur der Schweiz auf die Problematik geographischer Grenzziehungen hingewiesen und versucht, ein Missverständnis aufzuklären: Die innige Überzeugung, es gebe ein Wesen der österreichischen oder der Prager oder der Schweizer Literatur, hängt damit zusammen, dass die Literatur immer eine Funktion hat im Identitätsdiskurs eines Landes. Man braucht die Stimmen der Dichter, um sich des Eigenen zu versichern. Daraus schließt man zurück auf eine unverwechselbare Prägung auch der Literatur. […] Wirklich landesspezifisch wird eine Literatur nur im politischen Blick auf den eigenen Staat, die eigene Gesellschaft. (von Matt 2014: 41) Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame spiele zwar in der Schweiz und habe deren damalige Zustände zum Anlass, doch die Wirkung sei keineswegs auf die Schweiz beschränkt gewesen. Das Drama wurde […] in jedem Land auf je eigene, je angemessene Weise verstanden. Die Verankerung im spießig Schweizerischen war offenbar die Voraussetzung für die globale Wirkungskraft. Diese Dialektik zwischen dem penetrant Lokalen und dem Universalen gehört zu den irritierenden, bis heute nicht ganz durchschauten Gesetzen der Literatur. (von Matt 2014: 40) Von Peter von Matt stammt auch eine Literaturgeschichte der Schweiz, die mit einer Formulierung programmatischer Skepsis beginnt: Die Geschichte ist ein Rauschmittel. Sie gehört zu den großen Drogen der Menschheit. An der eigenen Geschichte berauschen sich die Völker nicht erst, seit es den Nationalismus der Nationalstaaten gibt. Sie haben es immer schon getan. Das auszusprechen gilt allerdings als unpassend. Zu viel Elend und praktizierte Niedertracht ist aus dem Nationalismus der letzten zweihundert Jahre hervorgegangen, als daß man heute anders als mit strafender Empörung davon reden dürfte. (von Matt 2001: 9) Dem ist wenig hinzuzufügen. 320 Stefan Neuhaus 6. Grenzprobleme von Kunst und Gesellschaft Neben dem deutschen Soziologen Niklas Luhmann hat auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu eine Theorie des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft vorgelegt. Beide sind sich in vielen Punkten durchaus einig, auch wenn sie von jeweils eigenen, sehr unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Gesellschaft ausgehen. Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft von 1995 beschreibt Kunst und Literatur als Teilsystem des Gesamtsystems Gesellschaft. Die Ausdifferenzierung beginnt im 18. Jahrhundert im Übergang zur modernen Gesellschaft. Wie fast alle Begründer neuerer Theorien ist Luhmann Konstruktivist durch und durch: „Alles, was in der Welt ist oder gemacht wird, ist auch anders möglich“ (Luhmann 1997: 151), bereits Wahrnehmung wird für ihn „vom Gehirn konstruiert“ (Luhmann 1997: 16). Kunst verdoppelt diesen Konstruktionsprozess mit den ihr eigenen Regeln. Daher „kann man an Kunstwerken das Beobachten lernen“ (Luhmann 1997: 90). Beim Betrachten von Kunstwerken sind „Was-Fragen durch Wie- Fragen zu ersetzen“ (Luhmann 1997: 147), denn Kunst und Literatur bieten keine Informationen wie die Alltagskommunikation: „Ihre Formen werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann.“ (Luhmann 1997: 39) Deshalb kann man Kunstwerke auch „im Bewußtsein ihrer ‚Einmaligkeit‘ immer wieder anders wahrnehmen“, dies ist sogar ein „Qualitätstest“ - wenn ein Kunstwerk diesen Test nicht erfüllt, dann ist es kein Kunstwerk (Luhmann 1997: 69). Aus der Feststellung, dass „Kunst zur Artikulation ihrer Selbstreferenz“ wird (Luhmann 1997: 75), folgt für Luhmann: „Kunstwerke haben keinen externen Nutzen […]“, oder ein solcher ‚externer Nutzen‘ ist für ihre Qualität als Kunstwerke irrelevant (Luhmann 1997: 77). Damit Kunst aber, die von der Neuheit lebt, überhaupt als Kunst erkannt werden kann, gibt es „[…] einen Kunstbetrieb. Das Kunstsystem stellt Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen - etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw.“ (Luhmann 1997: 249) Anders als im System Wirtschaft wird im System Kunst „Knappheit“ genutzt, „um Preise sicherzustellen“ (Luhmann 1997: 265). Pierre Bourdieu betont die Gegenläufigkeit der Kunst zur Ökonomie, die er aber als Strategie beschreibt, abseits der Massenproduktion von Gütern Erfolg zu haben und letztlich auch ökonomisch erfolgreich zu sein. In seiner Studie Die Regeln der Kunst von 1992 (dt. 1999) unterteilt Bourdieu die Gesellschaft in Felder, die nach eigenen Regeln funktionieren. (Bourdieu 2001: 427) Allen Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 321 gemeinsam sind Verteilungskämpfe um verschiedene Kapitalsorten, hier unterscheidet Bourdieu neben ökonomischem Kapital symbolisches und kulturelles Kapital bzw. ökonomische, symbolische und kulturelle Profite (Bourdieu 2001: 227-229). Das „Feld der kulturellen Produktion“ ist für ihn ein „Machtfeld“ (Bourdieu 2001: 203), in dem stets ein „Kampf “ um „Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes“ stattfindet (Bourdieu 2001: 368). Die „Erfindung einer ‚reinen‘ Ästhetik“ (Bourdieu 2001: 174) ermöglicht, dass nur ein kleiner Kreis von Experten den besonderen Wert eines Texts erkennen kann, wobei diese Erkenntnis in einem Akt der Zuschreibung von Wert geschieht. Zur Ausbildung einer Gegenläufigkeit von literarischem und ökonomischem Feld gehört auch der Habitus, der KünstlerInnen von der „‚bürgerlichen‘ Welt“ unterscheidet, also ihr Auftreten, ihr Aussehen und ihr Verhalten (Bourdieu 2001: 100 u. 428). Die „Paradoxie des literarischen Feldes“ besteht darin, dass der Rezeptionsprozess zwar zunächst den größten Teil des Publikums ausschließt, aber in langfristiger Perspektive ebenfalls auf ökonomischen Erfolg abzielt, wenn auch die symbolischen und kulturellen Profite demonstrativ den ökonomischen übergeordnet werden. Gerade weil Bourdieu in seiner Theorie über die selbstreferenzielle Funktion hinausgeht, kann er deutlicher als Luhmann die „Produktion des Werts der Werke oder, was auf dasselbe hinausläuft, die des Glaubens an den Wert der Werke“ hinterfragen (Bourdieu 2001: 326). Die Konstruktion eines ‚nationalen‘ Gehalts von Kunst und Literatur wird auf diese Weise als Zuschreibung eines spezifischen Werts aus politischen, zugleich kulturell akzeptierten Gründen erkennbar. Das kann nur auf zwei Arten geschehen: 1. Die traditionelle immer noch gültige Autonomie-Ästhetik (Welsch 2010), wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat und wie sie unter anderem den Theorien von Luhmann und Bourdieu zugrunde liegt, wird weitestgehend ignoriert und Literatur auf ihre gesellschaftspolitische Bedeutung reduziert. Dies konnte im Kaiserreich, im Nationalsozialismus und im Sozialismus mit Hilfe der Zensur zumindest in der jeweils herrschenden Doktrin verankert werden und so haben Autoren von Heinrich Heine bis Wolf Biermann eine, wenn auch heterogene, literarische Gegenöffentlichkeit mit subversiven Texten versorgen können. Im System selbst wurden Texte kanonisierter Autoren wie Schiller nach Möglichkeit so umcodiert, dass sie die gewünschten fremdreferenziellen Funktionen erfüllen konnten. 2. Es wird versucht, den eigentlich externen Nutzen von Literatur zu einem internen umzucodieren, das heißt: Fremdreferenz als Selbstreferenz auszugeben. Deshalb konnte ein Autor wie Gustav Freytag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis ins 20. Jahrhundert hinein als Autor ernstzunehmender literarischer Werke gefeiert werden. 322 Stefan Neuhaus Beide Verfahren haben gemeinsam, dass sie - über sogenannte Experten - mit öffentlicher Macht ausgestattet werden und dass sie mythologisierend wirken, d. h. dass sie kein kritisches Hinterfragen zulassen können, mit dem die willkürlichen und gewaltsamen Verfahren der Umcodierung zum Vorschein kämen. 7. Neue Grenzziehungen nach der Postmoderne? Wolfgang Welsch stellt für die Postmoderne das Folgende fest und weist der Kunst und Literatur dabei eine ganz besondere Rolle zu: „Das Bewertungsraster hat sich geändert. Der Wechsel von der Einheitssehnsucht zum Vielheitsplädoyer ist die einschneidendste dieser Veränderungen“ (Welsch 2010: 94). Wenn Peter von Matt konstatiert, „dass die Literatur immer eine Funktion hat im Identitätsdiskurs eines Landes“ (von Matt 2014: 41) und zugleich kritisiert, dass die Schweiz den Zuzug von Nicht-Schweizern reglementiert, dann lässt sich hier beispielhaft eine seit dem 18. Jahrhundert laufende Entwicklung erkennen, die von der gewachsenen Bedeutung der Grenzen einer imaginären deutschen, österreich-ungarischen oder schweizerischen Nation über eine Auflösung des Nationalitätsdispositivs hin zu einer erneuten Stärkung der ‚nationalen‘ oder auch regionalen, in jedem Fall geographischen Komponente im gesellschaftlichen Diskurs führt. Dies gilt auch für die Literatur und ist an der gewachsenen Bedeutung von nationalen oder regionalen Literaturgeschichten, Literaturarchiven oder Literaturpreisen ablesbar. Das Thema Literaturpreise kann hier nur mit wenigen Beispielen Erwähnung finden. Österreich verleiht bereits seit 1934 den „Großen Österreichischen Staatspreis“, zunächst nur für Literatur bzw. 1936 auch für Bildende Kunst, seit 1950 dann in den Sparten Architektur, Bildende Kunst, Literatur, Musik und seit 2001 für Künstlerische Fotografie (Großer Österreichischer Staatspreis 2014). 3 Für die Schweiz können beispielsweise die relativ neuen, 2012 als Nachfolge der früheren „Schillerpreise“ geschaffenen „Schweizer Literaturpreise“ als Beiträge zu einer geographisch begrenzten kollektiven, kulturellen Identität genannt werden: „Das Bundesamt für Kultur verleiht im Bereich Literatur jährlich ein bis zwei Schweizer Grand Prix Literatur und fünf bis sieben Schweizer Literaturpreise. Hinzu kommt alle zwei Jahre ein Spezialpreis Übersetzung alternierend mit dem Spezialpreis Vermittlung“ (Literaturpreise 2014). 4 Einige Jahre älter (seit 2005), aber auch im neuen Jahrtausend geschaffen präsentiert sich der Deutsche Buchpreis als Auszeichnung für deutschsprachige Literatur: „Mit dem Deut- 3 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Großer_Österreichischer_Staatspreis (abgerufen am 31. 3. 2014). 4 Vgl. http: / / www.literaturpreise.ch/ de/ infos (abgerufen am 31. 3. 2014). Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 323 schen Buchpreis zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten Roman in deutscher Sprache aus“ (Deutscher Buchpreis 2014). 5 Der Preis trägt der Dominanz der deutschen Verlage und deren deutschsprachigem Autorenstamm Rechnung. Auch in den Regionen sind Literaturpreise wichtig und, das müsste ein eigener Beitrag zeigen, immer wichtiger geworden. Allerdings gibt es auch zahlreiche Preise, die - trotz immer wieder zu hörender, gegenteiliger Mahnungen - sich an keine Grenzen halten, von den insbesondere für junge AutorInnen ganz zentralen Preisen der Tage der deutschen Literatur in Klagenfurt (der frühere Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb) bis hin zu regionalen Preisverleihungen an überregionale AutorInnen wie beim Meraner Lyrikpreis (vgl. Klettenhammer & Wiesmüller 2010: 167-184 und Klettenhammer & Wiesmüller 2011: 115-132). Ursula März hat, am Beispiel Deutschlands, die Bedeutung der Preise nachdrücklich hervorgehoben: Es gibt in Deutschland fast 500 Literaturpreise, gestaffelt vom Büchner-Preis, der mit 50 000 Euro dotiert ist, bis zu Nachwuchspreisen. Es gibt kleinste, kleine, mittlere, große Stipendien kommunaler, föderaler, staatlicher und anderer Institutionen in nach wie vor sagenhafter Fülle. Wer sich die Mühe macht, die Lebensläufe von rund hundert Schriftstellern jungen oder mittleren Alters zu studieren, weiß sofort, dass ein beträchtlicher Teil dieses Geldes in Autoren investiert wird, deren Titelliste über ein, zwei Erzählbände nicht hinausgehen wird. Das liegt im Wesen des demokratischen Gießkannenprinzips, das quartalsmäßig für zu viel literarisches Mittelmaß und eine zu hohe Buchproduktion verantwortlich gemacht wird. Aber: Es gibt kein besseres Prinzip. (März 2013) Diese Preise kommen aber nicht nur deutschen, sondern deutschsprachigen AutorInnen zugute, so wie österreichische und schweizerische Preise oft auch an deutschsprachige AutorInnen der Nachbarländer verliehen werden. Hervorzuheben ist auch die gewachsene Bedeutung der Sammeltätigkeit von regionalen und nationalen Literaturarchiven, die ja grundsätzlich sehr zu begrüßen ist, aber mit Grenzziehungen einhergeht, die eine regionale oder nationale Verankerung von Literatur suggerieren, die im Widerspruch steht zu ihrem Anspruch und zu ihrem Erfolg weit über diese Grenzen hinaus. Vor dem Hintergrund des skizzierten Diskurses kann als ein Beleg der erneuten Stärkung des Nationalitätsdispositivs die Umbenennung der Deutschen Bibliothek in Deutsche Nationalbibliothek im Jahr 2006 gewertet werden. Die trotz einiger gegenläufiger Tendenzen wieder gewachsene Bedeutung von Grenzen im gesellschaftlichen Diskurs auch über Literatur kann mit Ri- 5 Vgl. http: / / www.deutscher-buchpreis.de/ de/ 692946 (abgerufen am 31. 3. 2014). 324 Stefan Neuhaus chard Sennett als ein Effekt der Globalisierung gesehen werden: „Heute, unter dem neuen Regime der Zeit, ist dieser Gebrauch des ‚Wir‘ zu einem Akt des Selbstschutzes geworden. Die Sehnsucht einer Gemeinschaft ist defensiv, sie drückt sich oft in der Ablehnung von Immigranten oder anderer Außenseiter aus […].“ (Sennett 2010: 190) Es bleibt zu hoffen, dass die neueren Grenzziehungen funktional sind und bleiben, indem sie der Notwendigkeit zur Selektion gehorchen und durch regionale oder nationale Förderung die Produktionsbedingungen erleichtern. Ob Literatur wieder, wie vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert, politisch instrumentalisiert wird, mit negativen Effekten wie Affirmation nationaler Ideologeme oder Ausgrenzung von Menschen aus ideologischen Gründen, wäre näher zu untersuchen. 8. Ausblick: Dialektliteratur als wieder neu zu entdeckende Gattung? An dieser Stelle konnte nur ein Überblick über das Thema versucht werden. Im Kontext einer Beschäftigung mit plurizentrischer Sprachverwendung wäre insbesondere zu fragen, inwieweit Varietäten in der Literatur eine Rolle spielen und welche Rolle sie spielen. Ich bin sicher, dass es solche Literatur in jeder Region geben dürfte - eine systematische Suche danach hat aber meines Wissens noch nicht stattgefunden, auch wenn es durchaus Ansätze dafür gibt. Anzuknüpfen wäre beispielsweise an die ‚Zehn vorläufigen Thesen zur Dialektliteratur‘ aus der Tübinger Literaturzeitschrift Exempla von 1976, Autor ist ein G. Holzwarth. Er unterscheidet zwei Arten von Dialektliteratur und möchte für solche Texte mehr Aufmerksamkeit wecken, die „kritische Dichtung im Gegensatz zur affirmativen konventionellen Dialektdichtung“ sind (Holzwarth 1979: 34). Eine Reduzierung von Dialektliteratur auf Sprachpflege lehnt er ab: „Der Dialekt selbst ist viel robuster, als seine selbsternannten Bewahrer zu hoffen wagen.“ Die Funktion von fiktionalen Texten im Dialekt sieht er eher darin, „Menschen an Dichtung heranzuführen, die von der hochdeutschen Dichtung nicht erreicht werden“ (Holzwarth 1979: 34). Auch wenn nicht alles, was sich in den zehn Thesen findet, die Zeit überdauert hat, so entsprechen Holzwarths Wertungskategorien jenen der fiktionalen Höhenkamm-Literatur allgemein, insofern ist zu fragen, weshalb Texten der Mundartdichtung oder Dialektliteratur im literaturwissenschaftlichen Diskurs nicht mehr Beachtung geschenkt wird. Ein historischer Grund dürfte mit dem ausführlich besprochenen Nationalismus-Problem von die Geographie betonender Literatur zu tun haben: „So wird Mundartlyrik häufig mit naiver Idyllik und wirklichkeitsferner Heimattümelei Das Zusammenspiel von literarischem Kanon und Geographie 325 in Verbindung gebracht; eine Wolke von ‚Blut-und-Boden-Dämpfen‘ scheint sie zu umgeben.“ Abgesehen von diesem Vorurteil und tatsächlich existierender epigonaler „Heimat- und Gelegenheitsgedichte“ gibt es aber seit der Zeit der Studentenrevolution die sogenannte „Neue Deutsche Mundartdichtung“, die etwa von der „sprachexperimentellen Wiener Gruppe“ (De Winde 2007: 191) beeinflusst wurde. 6 Ohne hier auf das Thema Dialektliteratur genauer eingehen zu können, 7 lässt sich feststellen: Aus Sicht etablierter Bewertungsmuster kann der Dialekt zunächst weder ein besonderer Vorzug noch ein Nachteil von Literatur sein, allerdings kann die Verwendung von Texten im Dialekt sinnvoll erscheinen, wenn eben auch Varietäten thematisiert und vermittelt werden sollen; und zwar durchaus Texte im Sinne Holzwarths, die eine Beschäftigung lohnen. (De Winde 2007: 191) Gerade Texte, die im Dialekt eine Vereinnahmung für (lokal-)patriotische Zwecke bereits subversiv unterlaufen, könnten dafür geeignet sein, um das skizzierte Paradox der geographischen Grenzziehungen im Feld der Literatur auch bei der Selektion von Literatur transparent zu machen. In meiner alten Wahlheimat Franken gab und gibt es Mundartdichter, die einen kritischen Diskurs mit ihrer Region pflegen, etwa der Bamberger Gerhard C. Krischker oder der Nürnberger Fitzgerald Kusz. Geht man von einem weiteren Literaturbegriff aus, wären auch Kabarettisten wie Frank Markus Barwasser (bekannt unter seinem Pseudonym Erwin Pelzig) oder Urban Priol zu nennen. Solche Literatur ist gegen jede Art von mythologischer Überhöhung der Region imprägniert und mit ihr ließe sich auch die Dialekt-Sprache in der Schule verwenden, ohne Gefahr zu laufen, an problematische Traditionen anzuknüpfen. Ich möchte mit einem Beispiel für das schließen, was ich meine - ein Gedicht Krischkers auf seine Heimatstadt: Bambärch deä oilnschbiigl woä doo deä fausd woä doo deä dürä 6 De Winde bezieht sich hier auch auf Arbeiten von Fernand Hoffmann und Josef Berlinger, es wird an dieser Stelle aber aus Platzgründen darauf verzichtet, den Diskurs über die Dialektliteratur in der Forschung genauer nachzuzeichnen. Auf De Windes Aufsatz folgt ein Beitrag von Kusz selbst (vgl. Kusz 2007). 7 Eine historische Perspektive ließe sich etwa aus Gräfe (2004) gewinnen. 326 Stefan Neuhaus woä doo deä göde woä doo deä hegl woä doo deä hoffmoo woä doo obbä gäbliim is kannä (Krischker 1998: 214) 9. Literatur Anderson, Benedict (1998): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Engl. v. Benedikt Burkard und Christoph Münz. Erw. Ausg. Berlin: Ullstein. Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags. Übersetzt von Helmut Scheffel. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 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Die Rolle der Sprachbewusstheit und des Sprachwissens bei der Bewertung sprachlicher Variation 4. Bewertung von Wortbildungsvarianten: eine Pilotstudie 5. Schlussfolgerungen für die weitere Erforschung des Umgangs mit regionaler Variation 6. Literatur 1. Einleitung Das Sprachsystem stellt für die Formulierung einer bestimmten Äußerung häufig mehrere Varianten zur Verfügung. Diese sprachlichen Varianten sind in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung für den Deutschunterricht: Für Schülerinnen und Schüler sind sie das insofern, als sie diejenigen sind, die sich beim Verfassen von Texten für die eine oder andere Variante entscheiden müssen. Lehrpersonen müssen bei der Korrektur von Aufsätzen entscheiden, ob die eine, die andere oder alle Varianten als richtig oder falsch zu beurteilen sind, und sie müssen begründen können, wie sie zu dieser Entscheidung kommen. Der Linguistik kommt in diesem Zusammenhang die nicht immer leichte Aufgabe zu, zu erklären, welche Variante in welcher Situation die angemessene ist. Schließlich stellt sich der Sprachdidaktik, die sich u. a. auch für das Korrekturverhalten von Lehrpersonen im Deutschunterricht interessiert, bezüglich der Erhebung und Beschreibung des Umgangs mit sprachlicher Variation in methodischer Hinsicht eine Reihe von Fragen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich insbesondere mit diesem letzten Aspekt. Konkret wird im Folgenden der Frage nachgegangen, welche Rolle die Sprachbewusstheit oder das Sprachwissen der bewertenden oder korrigierenden Person beim Umgang mit sprachlicher 334 Klaus Peter Variation spielt und welche Schlussfolgerungen daraus für die Erforschung von Bewertungen regionaler Varianten zu ziehen sind. In Abschnitt 2 wird dementsprechend zunächst auf die Frage eingegangen, welche Faktoren die Bewertung sprachlicher Variationsphänomene im Allgemeinen beeinflussen können, während in Abschnitt 3 erörtert wird, welche Rolle hierbei das Sprachwissen und die Sprachbewusstheit im Speziellen spielt. Vor diesem Hintergrund wird in Abschnitt 4 eine kleine Pilotstudie zum deklarativen Wortwissen von angehenden Lehrpersonen vorgestellt. Die Ergebnisse der Pilotstudie bilden die Grundlage für den Abschnitt 5, in dem Schlussfolgerungen für die weitere Untersuchung und Erforschung von sprachlichen Bewertungshandlungen gezogen werden. 2. Zentrale Faktoren für die Klärung und Bewertung sprachlicher Variationsphänomene Nicht nur Sprecherinnen und Sprecher stehen regelmäßig vor der Herausforderung, sprachliche Varianten zu bewerten, um sich im Zuge des Sprachproduktionsprozesses für die eine oder andere Variante entscheiden zu können, auch die deskriptiv orientierte Linguistik kommt mitunter nicht umhin, sprachliche Phänomene normierend zu beurteilen - sofern dieser Bewertungsprozess nicht explizit und direkt erfolgt, erfolgt er zumindest indirekt und implizit. Dies geschieht beispielsweise immer dann, wenn sich Sprecherinnen und Sprecher ratsuchend an eine Sprachberatungsstelle wenden, um Auskunft über die korrekte Verwendung eines sprachlichen Phänomens zu erhalten. Auslöser für die Ratsuche ist die Unsicherheit von Sprecherinnen und Sprechern, wie oder in welcher Kommunikationssituation ein sprachliches Zeichen zu verwenden ist. Zu den Ursachen für dieses sprachliche Zweifeln zählt u. a. sprachliche Variation (vgl. Klein 2009: 143 f.). Gerade die Varietätenvielfalt von Sprachen kann dazu führen, dass Sprecherinnen und Sprecher die zur Verfügung stehenden sprachlichen Varianten rezeptiv zwar kennen, dass sie gleichzeitig aber unsicher sind, wie die Varianten aktiv verwendet werden (vgl. ebd.; siehe konkret zu regionalen Varianten als Zweifelsfall auch Schmidlin in diesem Band). Der Zweifel ist in dieser Situation häufig mit der Frage verknüpft, ob eine Variante als standardsprachlich einzustufen ist oder nicht. Zur Klärung der Frage, ob einzelne sprachliche Varianten als sprachliche Zweifelsfälle zu klassifizieren sind, richtet die Linguistik ihren Blick zunächst auf das zweifelnde Individuum. In der Zweifelsfalldefinition von Klein (2003) wird der Kreis der Personen, deren Intuition bei der Eruierung von möglichen Zweifelsfällen überhaupt berücksichtigt wird, auf „kompetente Sprecher“ eingegrenzt: Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 335 Ein sprachlicher Zweifelsfall (Zf) ist eine sprachliche Einheit (Wort / Wortform / Satz), bei der kompetente Sprecher (a.) im Blick auf (mindestens) zwei Varianten (a, b…) in Zweifel geraten (b.) können, welche der beiden Formen (standardsprachlich) (c.) korrekt ist (vgl. Sprachschwankung, Doppelform, Dublette). Die beiden Varianten eines Zweifelsfalls sind formseitig oft teilidentisch (d.) (z. B. dubios / dubiös , lösbar / löslich , des Automat / des Automaten, Rad fahren / rad fahren / radfahren , Staub gesaugt / staubgesaugt / gestaubsaugt ). (Klein 2003: 7 [Hervorh. i. O., KP ]) An anderer Stelle weist Klein (2009: 143) darauf hin, dass ein sprachlicher Zweifelsfall nur dann vorliegen kann, wenn nicht nur ein einzelner, sondern mehrere Sprecher bei der Entscheidung zwischen zwei Varianten unsicher sind. Die Identifikation eines Zweifelfalls erfolgt zunächst also durch (mehrere) kompetente Sprecher selbst, die eigentliche (linguistische) Klärung des Zweifelfalls wird dann allerdings sprecherabgewandt durch die Analyse des effektiven Sprachgebrauchs vollzogen. Letztlich wird die Entscheidung darüber, ob ein Zweifelsfall bzw. welcher Zweifelsfalltypus vorliegt, ausschließlich unter Rückgriff auf den aktuellen Sprachgebrauch getroffen (vgl. ebd., 154 f.). Aus einer sprachsystematischen Perspektive ist der Zweifel gewissermaßen systemimmanent und im sprachlichen System zu suchen. Durch den Verzicht auf intuitive Sprecherbewertungen bei der Klärung des Zweifelsfalls wird sichergestellt, dass das Ergebnis des Klärungsprozesses nicht auf die (mangelnde) Sprachkompetenz einzelner Sprecherinnen und Sprecher zurückzuführen ist. Auch wenn die genauere Analyse von Sprecherintuitionen bei der Klärung eines Zweifelfalles nicht notwendig und u. U. kontraindiziert ist, ist es legitim und aus unterschiedlichen Gründen lohnend, die Bewertung sprachlicher Variation selbst zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Bewertungen von sprachlichen Varianten durch Sprecherinnen und Sprecher lassen im Gegensatz zu Korpusanalysen zwar tatsächlich nur eingeschränkt Rückschlüsse auf den effektiven Sprachgebrauch zu, sie geben aber Aufschluss über die Normvorstellungen von Sprecherinnen und Sprechern bezüglich mehrerer Varianten. Die Bewertung eines sprachlichen Phänomens durch Sprecherinnen und Sprecher wird immer durch mehrere Faktoren beeinflusst. Als zentrale Einflussfaktoren sind zu nennen: • die Wahrnehmung der sprachlichen Variation durch die bewertende Person während des Bewertungsprozesses, • die Spracheinstellungen der bewertenden Person sowie • die Sprachbewusstheit im weiteren Sinne (zu der auch das Sprachwissen der bewertenden Person zu zählen ist). 336 Klaus Peter Arbeiten zu Fehlerkorrekturen von Lehrpersonen im Deutschunterricht widmen sich häufig auch der Frage, unter welchen Bedingungen ein sprachliches Phänomen überhaupt als Fehler wahrgenommen wird und welche Faktoren die Wahrnehmung von Fehlern beeinflussen. Hennig (2012: 128 f.) stellt den Bewertungsprozess von sprachlichen Abweichungen unter Rückgriff auf Ramge (1980) in einem „Fehlerkreislauf “ dar. Für die Fehlerkorrektur ist die Wahrnehmung der Abweichung der erste, zugleich aber der zentrale Teilschritt. Ob eine Abweichung als solche wahrgenommen wird, hängt einerseits von der Verfassung der bewertenden Person im Moment der Bewertungshandlung (Aufmerksamkeit, Konzentration etc.) ab, andererseits vom Bezugsrahmen, mit dem die bewertende Person das zu bewertende Objekt vergleicht. Jede Bewertung von Objekten - seien es sprachliche oder nicht-sprachliche - setzt den Vergleich zwischen dem Objekt und einem Bezugsrahmen voraus. Bei der Bewertung von sprachlichen Phänomenen entspricht der Bezugsrahmen jeweils sprachlichen Normen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Für die Isolation eines sprachlichen Fehlers oder auch einer abweichenden sprachlichen Variante sind im Bewertungsprozess selbst zunächst ausschließlich die Normvorstellungen der bewertenden Person relevant - Häfele & Zillig (2008: 59) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „vorbewussten Normeninventar“. Kodifizierte Normen, wie sie in Nachschlagewerken zu finden sind, können erst dann eine Rolle spielen, wenn eine Abweichung als solche identifiziert wurde. Der Bezugsrahmen der Bewertung ist auch für den im Fehlerkreislauf folgenden Schritt, die „Fehlerhypothese“ (Hennig 2012: 130), relevant. In diesem Prozessschritt bildet die bewertende Person Hypothesen über die intendierte Äußerung. Erst wenn die bewertende Person eine Hypothese darüber gebildet hat, was das Gegenüber mit der Äußerung beabsichtigt hat, kann die Äußerung als Fehler klassifiziert werden. Hennig (2012: 130) illustriert dies anhand der nicht normgerechten Äußerung * Es handelt sich um ein Unfall . Ob der Fehler in diesem Satz als Grammatik- oder als Wortwahlfehler ( Es handelt sich um einen Unfall vs. Es handelt sich um ein Unglück ) klassifiziert wird, hängt von der Abweichungshypothese der bewertenden Person ab. Sowohl die Fehlerwahrnehmung als auch die Fehlerklassifikation lassen sich idealerweise aus der abschließenden Fehlerkorrektur durch die Lehrperson rekonstruieren (vgl. ebd., 129 f.). In der Einstellungsforschung wird davon ausgegangen, dass Bewertungen von Objekten grundsätzlich unter Bezugnahme auf die Einstellungen der bewertenden Person erfolgen (vgl. für einen Überblick Haddock & Maio 2014). Eine der Grundlagen für die Bildung der Fehler- oder Abweichungshypothese der Lehrperson sind dementsprechend auch deren Spracheinstellungen. Einstellungen gelten als komplexe Konstrukte, die sich aus unterschiedlichen Komponenten zusammensetzen: einer affektiven, einer konativen (auf der Grundlage Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 337 des eigenen Handelns beruhenden) sowie einer kognitiven Komponente, die das Wissen über den zu bewertenden Gegenstand umfasst (vgl. Rosenberg & Hovland 1960). Übertragen auf die Bewertungen von sprachlichen Phänomenen lassen sich diese Einstellungskomponenten mit den Fragen „Welche Emotionen löst das sprachliche Element in mir aus? “ (affektive Komponente), „Entspricht das Element der Norm? Was weiß ich darüber? “ (kognitive Komponente) und „Sage ich das selbst so? “ (konative Komponente) konkretisieren (vgl. Peter 2011: 64). Die Bewertung einer einzelnen sprachlichen Variante wird schließlich aber immer auch durch die Sprachbewusstheit oder das individuelle Sprachwissen der bewertenden Person beeinflusst (vgl. ebd., 19-23). Unter Sprachbewusstheit im weiteren Sinne versteht man die Fähigkeit einer Sprecherin oder eines Sprechers, unter Zuhilfenahme aller ihm oder ihr zur Verfügung stehenden sprachlichen (expliziten und impliziten) Wissenskomponenten über ein sprachliches Phänomen zu reflektieren (vgl. zur Abgrenzung zu ähnlichen Termini wie Sprachwissen oder Sprachkompetenz auch Klein 2014: 20 f. und Peter 2011: 33). In den letzten Jahren sind sowohl Untersuchungen zum Korrekturverhalten von (angehenden) Lehrpersonen als auch zur Bewertung von regionaler Variation durch Sprecherinnen und Sprecher entstanden. Das Hauptaugenmerk in ersteren Untersuchungen liegt darauf, zu ermitteln, inwiefern die Normvorstellungen von Lehrpersonen einerseits mit kodifizierten Normen und andererseits mit dem beobachtbaren Sprachgebrauch übereinstimmen. Arbeiten zur Bewertung von regionalen Varianten verfolgen hingegen in der Regel das Ziel, Einstellungen von Sprechern gegenüber einzelnen Varietäten sichtbar zu machen. In beiden Untersuchungsarten wird - vermutlich aus pragmatischen und nachvollziehbaren Gründen - in der Regel darauf verzichtet, die jeweils andere Einflussvariable (Sprachbewusstheit und Sprachwissen bzw. Spracheinstellungen zu einzelnen Varietäten) zu kontrollieren. Im Folgenden wird gezeigt, warum es durch dieses Vorgehen nur begrenzt möglich ist, ein umfassendes Bild der Faktoren, die zur Bewertung selbst geführt haben können, zu erhalten. 3. Die Rolle der Sprachbewusstheit und des Sprachwissens bei der Bewertung sprachlicher Variation Dass sich die Normvorstellungen von Sprecherinnen und Sprechern nicht mit dem Sprachgebrauch und / oder den kodifizierten Normen decken müssen, wurde bereits in mehreren Untersuchungen nachgewiesen. Untersuchungen zu Fehlerkorrekturen von Lehrerinnen und Lehrern zeigen, dass Lehrerkorrekturen häufig rigidere Normvorstellungen zu Grunde liegen als den Normkodizes selbst. Lehr- 338 Klaus Peter personen tendieren ferner dazu, sprachliche Phänomene als Fehler zu sanktionieren, die im Gebrauchsstandard durchaus üblich sind (vgl. Hennig 2012: 125 f.). Umgekehrt lässt sich wenig überraschend beobachten, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht alle sprachlichen Phänomene, die nicht den kodifizierten Normen entsprechen, sanktionieren. Die Diskrepanz zwischen den Normvorstellungen der Lehrpersonen und den Normkodizes ist mitunter allerdings überraschend groß: Ágel (2008: 67 f.) unterscheidet unter Rückgriff auf die Konzepte System und Norm im Sinne Coserius bei der Beschreibung von sprachlichen Zweifelsfällen bzw. sprachlichen Fehlern zwischen System- und Normfehlern. Systemfehler sind sprachliche Konstruktionen, die in einem sprachlichen System nicht vorkommen können (z. B. * meines Erachtens nach ); die Ursache für Normfehler hingegen sind entweder „konfligierende Teilsysteme“ (beispielsweise durch Sprachwandel, z. B. Ich frage dir / dich die Vokabeln ab ) oder der „periphere Systemstatus“ der sprachlichen Konstruktion selbst ( lilanes / beiges Kleid ) (ebd.). Auf dieser Grundlage führt Hennig (2012) zur Bewertung sprachlicher Konstruktionen wie meines Erachtens nach (Systemfehler), lilanes Handtuch (Normfehler) oder gewunken (kein Fehler) eine Studie durch, in der ein Text mit insgesamt 23 nicht-normgerechten Konstruktionen 15 Lehrern, 2 Referendaren und 23 Germanistikstudierenden zur Korrektur vorgelegt wird. Wie zu erwarten, zeigt sich, dass es Systemfehler gibt, die von nahezu allen Probanden als Fehler markiert werden (z. B. der Moment, wo alles noch *aufregende war , vgl. ebd., 142, 151). Andere Systemfehler wie * meines Erachtens nach hingegen werden von weniger als einem Drittel der Bewertenden korrigiert (vgl. ebd.). Grundsätzlich geringe Übereinstimmungen zeigen sich indessen bei Normfehlern. Mit einem Anteil von 52,5 % an Markierungen ist die Übereinstimmung bei der Konstruktion lilanes Handtuch am größten (vgl. ebd., 143). Ganz ähnlich ergibt eine weitere Untersuchung von Hennig (2015) mit 459 Germanistikstudierenden ohne grammatisch-linguistische Vorkenntnisse, dass die Fehlerwahrnehmung von komplexen grammatischen Phänomenen stark schwankt (siehe für ähnliche Untersuchungen zum Englischen z. B. Dąbrowska 1997 oder Dąbrowska 2010). Der Großteil der in der Studie von Hennig (2015) vorgelegten nicht-normgerechten Konstruktionen wird von nur rund 20 % als Fehler wahrgenommen, einzig die Nominalgruppenflexion in Der Traum von einem gemütlichen, modernen und obendrein noch praktischem Zuhause steckt wohl in jedem von uns wird von knapp über 65 % der Befragten als Fehler identifiziert (ebd., 47-49). Dass das Normwissen von Lehrpersonen insbesondere nicht mit kodifizierten Normen übereinstimmt, zeigt sich auch in der Untersuchung von Davies (2000), in der über die Hälfte der befragten 43 Realschullehrpersonen und 121 Lehramtsstudierenden temporales wo in Relativsätzen entgegen der Angaben in Normkodizes als nichtakzeptabel einstuft (ebd., 140 f; siehe hierzu auch Davies 2007). Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 339 Diese Diskrepanz zwischen dem Sprachwissen der bewertenden Person und dem aktuellen Sprachgebrauch ist auch im lexikalischen Bereich zu beobachten. Das deklarative Wortbedeutungswissen kann auch unter erwachsenen L1-Sprecherinnen und -Sprechern stark variieren: In den Untersuchungen von Mulder & Hulstijn (2011: 483-485) und Hulstijn (2015: 76-79) schneiden ältere Sprecherinnen und Sprecher bei Wortergänzungs- und Wortwissenstests besser ab als jüngere Probanden; Sprecherinnen und Sprecher mit einem vergleichsweise hohen Bildungsgrad erzielen ebenfalls bessere Ergebnisse als solche mit einem geringeren Bildungsgrad. Die Tatsache, dass L1-Sprecherinnen und -Sprecher nicht über dasselbe lexikalische Wissen verfügen, ist gerade im Zusammenhang mit Untersuchungen zum Umgang mit regionaler Variation nicht trivial. So ist davon auszugehen, dass Sprecherinnen und Sprecher einer bestimmten Varietät sowohl regionale Eigenvarianten als auch regionale Fremdvarianten nicht zwingend als solche wahrnehmen. Hägi (2014) stellt die unterschiedlichen Bewusstheitsgrade von Eigenvarianten in einem Johari-Fenster dar. Das Johari-Fenster ist ein in den 1950er Jahren von Joseph Luft und Harry Ingham entwickeltes Modell zur Darstellung der Beziehung von Selbst- und Fremdwahrnehmung (vgl. Luft 1972: 22 f.). Grundgedanke des Modells ist, dass sich die Selbst- und Fremdwahrnehmung in einzelnen Bereichen decken, in anderen hingegen nicht. So gibt es Teile des Selbst, die von mir nicht wahrgenommen werden, von anderen hingegen sehr wohl („blinder Fleck“), umgekehrt gibt es Teile des Selbst, die mir zugänglich sind, die ich anderen aber nicht offenbare (z. B. Geheimnisse). Umgelegt auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von regionalen Eigenvarianten ergibt sich dadurch nach Hägi (2014) das folgende Bild: mir bekannt mir unbekannt anderen bekannt Abewusste Varianten, Demonstrationszentrismen (z. B. Servus ) Cunbewusste Varianten, Schibboleths (z. B. würklich ) anderen unbekannt Bauf die eigene Varietät begrenzter Verständlichkeitsradius von Varianten; Strategie im Umgang: vermeiden bzw. erläutern (z. B. Übergewand ) Dunbewusste Varianten, die auch von anderen nicht als Varianten erkannt werden Abb. 1: Johari-Fenster übertragen auf Eigenvarianten (Hägi 2014: 74) [Bewertende Person ist Sprecherin der bewerteten Varietät, KP ] 340 Klaus Peter In Feld A des Johari-Fensters sind so genannte „Demonstrationszentrismen“ (Terminus von Ammon 1995: 204) verortet, die von Sprecherinnen und Sprechern „demonstrativ zur Kennzeichnung der eigenen nationalen Zugehörigkeit eingesetzt“ (ebd.) werden. Eine nationale Variante kann selbstverständlich nur dann „demonstrativ“ eingesetzt werden, wenn sie allen Sprechern und damit auch mir als Sprecher einer bestimmten Varietät als solche bekannt ist (vgl. ebd.). Feld C werden Varianten zugeordnet, die ich selbst nicht als solche erkenne, durch deren Verwendung mich andere aber als Sprecher meiner Varietät erkennen können („Schibboleth“, siehe auch Ammon 1995: 204). Schließlich sind in Feld B jene Varianten zu finden, von denen ich weiß, dass sie andere nicht kennen (und die ich deshalb im Umgang mit anderen eventuell vermeide), in Feld D hingegen jene Varianten, die weder ich noch die anderen als regionale Varianten identifizieren (vgl. Hägi 2014: 72-74). Im Johari-Fenster in Abbildung 1 ist dargestellt, inwiefern Sprecher / innen Eigenvarianten bewusst als solche wahrnehmen. Für die Zwecke dieses Beitrags ist umgekehrt besonders interessant, wie andere, also Sprecher / innen einer Fremdvarietät, nationale Varianten der Eigenvarietät wahrnehmen und bewerten. Aus der Außenperspektive ist Abbildung 1 wie folgt zu lesen: Die Varianten in Feld A und C werden von Sprecher / innen einer Fremdvarietät als solche identifiziert. Anders verhält es sich hingegen mit den Varianten in den Feldern B und D: Die Varianten in Feld B sind zwar den Sprechern der bewerteten Varietät als solche bekannt (und werden deshalb bewusst verwendet oder nicht verwendet), der bewertenden Person sind diese Varianten allerdings unbekannt. Dies bedeutet, dass die Rezipient / innen mit einer Variante (beispielsweise mit einem Wort) konfrontiert werden, die sie nicht zwingend als nationale Variante identifizieren. In Feld D fallen die Eigen- und Fremdperspektive zusammen. Unbewusste Varianten werden weder von Sprechern der Eigennoch von jenen der Fremdvarietät als Varianten wahrgenommen. Die Varianten in den Feldern B und D spielen für Untersuchungen der Bewertung von Fremdvarianten insofern eine zentrale Rolle, als davon auszugehen ist, dass besonders bei Varianten in diesen Feldern von den Sprecherinnen und Sprechern im Bewertungsprozess Abweichungshypothesen gebildet werden, die auch auf die Unkenntnis der Variante zurückzuführen sind. Die negative Bewertung einer regionalen Variante aus den Feldern B und D sagt also nicht per se etwas über die Einstellungen der bewertenden Person zur bewerteten Variante aus. Erst durch die Überprüfung der Abweichungshypothese, die die bewertende Person zur Variante gebildet hat, ist zu klären, ob die Bewertung auf positive oder negative Einstellungen oder auf die Unkenntnis der Variante zurückzuführen ist. Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 341 Wie die (vermutete) Unkenntnis einer Variante zu überraschenden Bewertungen von Varianten führen kann, kann an dieser Stelle anhand von Einzelergebnissen aus anderen Untersuchungen nur angedeutet werden: Die umfangreiche Befragung von Schmidlin (2011: 254-256) zu einzelnen regionalen Varianten ergibt u. a., dass der Helvetismus speditiv nicht nur von Schweizer Sprecherinnen und Sprechern, sondern auch von österreichischen Sprecherinnen und Sprechern signifikant stärker als standardsprachlich eingestuft wird als von bundesdeutschen Sprecherinnen und Sprechern. Dieser Befund ist insofern interessant, als davon auszugehen ist, dass der Helvetismus speditiv in Österreich nicht oder kaum bekannt ist. Überraschend in diesem konkreten Fall ist, dass die fremde (und vermutlich unbekannte) Variante ähnlich wie von den Sprecherinnen und Sprechern der bewerteten Varietät positiv bewertet wird. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass das Wort als Latinismus / Italianismus als bildungssprachlich wahrgenommen wird (vgl. ebd., 256). Für die Bewertung dieser konkreten Variante sind also nicht unbedingt die Spracheinstellungen, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit die Unbekanntheit des Wortes verantwortlich (vgl. hierzu auch Peter 2015). Ebenfalls denkbar ist umgekehrt auch die negative Bewertung von Varianten aufgrund von Unkenntnis: In einer Studie von Fink (2014) zum Korrekturverhalten von Lehrpersonen, in der 164 österreichischen Lehrerinnen und Lehrern ein Text mit 33 Austriazismen und 18 Teutonismen zur Korrektur vorgelegt wurde, zählen die nationalen Varianten Schlachter , Aprikosenkonfitüre , An Weihnachten , Plätzchen , Sahne und Jungs zu den am häufigsten korrigierten Teutonismen (vgl. ebd., 82). Die Anmerkungen und Korrekturvorschläge der Lehrpersonen lassen allerdings darauf schließen, dass nicht alle Varianten aus denselben Gründen markiert werden: Beim Großteil der Teutonismen werden tatsächlich Austriazismen wie Buben , Burschen , Schlagrahm , Schlagobers oder Fleischer und Metzger als Alternative vorgeschlagen. Bei An Weihnachten ist aufgrund der Korrekturvorschläge wie Am Weihnachtstag oder aufgrund von Kommentaren wie „Ausdruck! “ hingegen davon auszugehen, dass der Korrektur hier unterschiedliche Abweichungshypothesen zugrunde liegen: einerseits tatsächlich regional bedingte (die im Zuge der Studie von Fink auch erfasst werden sollten), andererseits aber auch Abweichungshypothesen, die darauf beruhen, dass die Akzeptabilität der verwendeten Konstruktion grundsätzlich in Frage gestellt wird. Voraussetzung dafür, dass die von unterschiedlichen Personen im Zuge des Bewertungsprozesses gebildeten Abweichungshypothesen ausschließlich auf die Spracheinstellungen zur regionalen Variante oder Varietät zurückgeführt werden können, ist allerdings, dass das Sprachwissen der bewertenden Personen vergleichbar ist. Oder anders ausgedrückt: Nur wenn sichergestellt ist, 342 Klaus Peter dass es sich bei den bewertenden Personen um Sprecherinnen und Sprecher mit gleichermaßen „voller“ Kompetenz handelt, ist die Rückführung der Bewertung auf Spracheinstellungen zur Varietät naheliegend. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden eine Pilotstudie zum Umfang des deklarativen lexikalischen Wissens von angehenden Lehrpersonen vorgestellt. 4. Bewertung von Wortbildungsvarianten: eine Pilotstudie Ausgangspunkt für die hier vorgestellte Pilotstudie war die Frage, inwiefern angehende Lehrpersonen - eine bezüglich Sprachbildung vergleichsweise homogene Gruppe - bei Bewertungsaufgaben auf ähnliches Sprachwissen zurückgreifen können. Als Bewertungsobjekt, also als sprachliche Einheiten, die den Probandinnen und Probanden im Rahmen der Pilotstudie vorgelegt wurden, wurde mit so genannten Wortbildungsdubletten ein sprachliches Phänomen gewählt, dessen Gebrauch u. a. auch durch areale Variation bedingt ist. 4.1. Das bewertete Phänomen: Wortbildungsdubletten Wortbildungsdubletten sind Konkurrenzbildungen wie • Dümm-ling - Dumm-kopf (Ableitung vs. Komposition) • steuer-fähig - steuer-bar (Kompositionsglied vs. Suffix) • Ge-schrei - Schrei-erei (Präfix vs. Suffix) • Quatsch-meier - Quatsch-maul (Suffixoid vs. Suffixoid) Wie schon diese kleine Auswahl an Beispielen zeigt, sind Wortbildungsdubletten keine seltene Erscheinung, sie sind auch sehr unterschiedlicher Natur. So konkurrieren beispielsweise Ableitungen mit Komposita, Kompositionsglieder mit Suffixen, Präfixe mit Suffixen oder auch Suffixoide untereinander usw. Wortbildungsdubletten sind immer Teil der gleichen Wortfamilie, sie haben das gleiche Grundmorphem und zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie funktional äquivalent, also weitgehend bedeutungsgleich sind. Fleischer (1977) bezeichnet solche Wortbildungsdubletten auch als „Wortbildungssynonyme“, wobei in Fleischer & Barz (2012: 100) Beispiele wie fehlerfrei und fehlerlos , aber auch Bedeutung und Bedeutsamkeit genannt werden. Gerade bei diesem zweiten Wortpaar zeigt sich, dass es sich bei den Bildungen nicht zwingend um absolute Synonyme handeln muss; die beiden Bildungen weisen aber normalerweise zumindest Überschneidungen im Verwendungsbereich auf. Zwischen quasisynonymen Dubletten wie fehlerfrei und fehlerlos und Wortpaaren, die nichtsynonym, aber Mitglieder derselben Wortfamilie sind wie z. B. anziehen und Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 343 ausziehen , gibt es eine Reihe von Wortpaaren, deren Status als Wortbildungssynonyme oder als einfache Mitglieder einer Wortfamilie nicht eindeutig auszumachen ist. Wortbildungsdubletten sind ähnlich wie die in Abschnitt 3 genannten sprachlichen Konstruktionen an der Peripherie des Sprachsystems anzusiedeln: Sie unterliegen arealer Variation und sind prädestiniert für Sprachwandelprozesse. So gibt es eine Reihe von Wortbildungen, die hauptsächlich im Geltungsbereich einer bestimmten nationalen Varietät verwendet werden, während in anderen Varietäten eine entsprechende Variante davon gebraucht wird (z. B. Unterbrechung in A, D vs. Unterbruch in CH ). In Hinblick auf die areale Variation unterscheidet Kellermeier-Rehbein (2005) auf der Grundlage einer Analyse von Wortbildungsvarianten im Variantenwörterbuch von Ammon et al. (2004) die folgenden Dublettentypen: • gleichartige Wortbildungsvarianten: gleiches Grundmorphem, gleiche Bildungsweise, aber unterschiedliche Derivationsmorpheme wie z. B. atom-ar (A und D) vs. atom-isch in ( CH ) (vgl. Kellermeier-Rehbein 2005: 64) • ungleichartige Wortbildungsvarianten: synonym, gemeinsames Grundmorphem, verschiedene Wortbildungsverfahren, z. B. Bräu (A und D) vs. Brauhaus (gemeindeutsch) (vgl. ebd., 190) • isolierte Wortbildungsprodukte: keine Wortbildungsdublette in einer anderen Varietät; zur Bezeichnung des Denotats werden in den Standardvarietäten unterschiedliche Basismorpheme verwendet, z. B. tachinieren (A) vs. faulenzen ( CH , D) (vgl. ebd., 202 f.). Insgesamt ist zu beobachten, dass die in allen Varietäten auftretenden Basismorpheme häufig mithilfe derselben Bildungsverfahren modifiziert werden, dass sich die dafür verwendeten Bildungsmittel in den einzelnen Varietäten allerdings voneinander unterscheiden (vgl. ebd., 284). Hinsichtlich der bereits erwähnten Sprachwandelprozesse ist bei Dubletten die Tendenz zu beobachten, dass die zwei konkurrierenden Wörter im Laufe der Zeit zunehmend unterschiedlich gebraucht werden, wodurch sich auch ein Bedeutungsunterschied ergibt. Zu diesem Ergebnis kommt Stricker (2002), in deren Untersuchung u. a. analysiert wird, wie sich die Bedeutung von Wortbildungsdubletten, die im Goethe-Korpus zu finden sind, von der Zeit um 1800 bis zur Gegenwart verändert haben. Im Goethe-Korpus sind insgesamt 199 Konkurrenzbildungen zu finden. Betrachtet man nun, wie diese Dubletten heute verwendet werden, so lassen sich drei Entwicklungslinien ausmachen: 344 Klaus Peter 1. Eine Alternativbildung hat sich durchgesetzt (ca. 67 %), die zweite Form ist heute also nicht mehr gebräuchlich. 2. Keine der beiden Bildungen, die bei Goethe noch vorhanden ist, ist heute noch gebräuchlich (ca. 15 %). 3. Beide Bildungen sind noch vorhanden (ca. 18 %), aber nicht mehr in derselben Bedeutung (vgl. ebd., 328 f.). Voraussetzung dafür, dass Dubletten nebeneinander existieren, scheint also nach einer bestimmten Zeit, in der die beiden Formen als Varianten koexistieren, die Bedeutungsdifferenzierung zu sein. Sofern die beiden Wörter im aktuellen Sprachgebrauch auch durchgehend in unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden, ist der Terminus Dublette oder Wortbildungssynonym im Grunde genommen nur noch historisierend adäquat. Nun ist es allerdings so, dass diese Bedeutungsunterschiede, die sich im Laufe der Zeit herausbilden, oft sehr gering sind. Hinzu kommt, dass sich beispielsweise durch die Wahl des einen oder anderen Affixes zwar ein Bedeutungsunterschied ergeben kann, dass das aber nicht so sein muss, wie der Vergleich der Wortpaare abergläubig - abergläubisch , Musikant - Musiker , emotionell - emotional oder rational - rationell zeigt. Dies in Kombination mit der Tatsache, dass die Verwendung von Dubletten nicht zwingend semantisch, sondern bisweilen areal bedingt ist, macht Dubletten zu typischen sprachlichen Zweifelsfällen der Gegenwartssprache. Aufgrund der mitunter geringen Bedeutungsunterschiede, die in Normkodizes für Wortbildungsdubletten postuliert werden, ist darüber hinaus davon auszugehen, dass das Wissen, das Sprecherinnen und Sprecher über diese sprachlichen Elemente haben, nur eingeschränkt mit dem kodifizierten Wissen über Dubletten übereinstimmt. Nicht zuletzt deshalb werden Wortbildungsvarianten häufig zum Gegenstand laienlinguistischer Sprachkritik, wobei in der Linguistik mitunter bezweifelt wird, inwiefern diese Diskrepanz in alltäglichen Kommunikationssituationen ins Gewicht fällt. Schneider (2005: 164-166) zeigt anhand der Dublette scheinbar / anscheinend , wie für dieses Wortpaar von der laienlinguistischen Sprachkritik ein „invarianter Bedeutungsunterschied postuliert“ (ebd., 164) wird, der insofern dem aktuellen Sprachgebrauch nicht gerecht wird, als die Unterscheidung nur in ganz bestimmten Kontexten (z. B. in juristischen Schriftstücken) relevant ist: Auch die Differenzierung zwischen scheinbar und anscheinend ist hier manchmal zweckmäßig […] Über solche Bedeutungsnuancen im Alltagsgespräch belehrt zu werden, ist hingegen schwer erträglich und in kommunikationstheoretischer Perspektive völlig unnötig. Stets und überall ein Höchstmaß an Genauigkeit einzufordern ist ‚unökonomisch‘ und zeugt nicht von hoher Urteilskraft (ebd., 165). Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 345 Diese Kritik ist berechtigt und trifft insbesondere auf Wortbildungsdubletten wie scheinbar / anscheinend zu, die (je nach Kontext) synonym gebraucht werden können. Bei anderen Dubletten wie launig / launisch ist hingegen unabhängig vom Kontext ein Bedeutungsunterschied gegeben. In der hier vorgestellten Pilotstudie wurden deshalb unterschiedliche Typen von Wortbildungsvarianten berücksichtigt. 4.2. Bewertete Wortbildungsvarianten Für die Pilotstudie wurden insgesamt neun Wortpaare ausgewählt: Analyst / Analytiker , launig / launisch , scheinbar / anscheinend , Musikant / Musiker , Galaxis / Galaxie , abergläubig / abergläubisch , emotional / emotionell , Nachkömmling / Nachkomme , Baronesse / Baronin . Diese kleine Auswahl an Dubletten ist selbstverständlich nicht repräsentativ. Als Referenzwerk für die Bedeutungsbeschreibung der Varianten dient im Folgenden das Duden Universalwörterbuch (2015). Die Dubletten unterscheiden sich hinsichtlich der Semantik schon allein dadurch, dass bei einzelnen Wortpaaren ein zumindest auf den ersten Blick eindeutiger Bedeutungsunterschied besteht; diese können also im Grunde genommen nicht als Wortbildungssynonyme bezeichnet werden (siehe Abschnitt 4.1.). Bei anderen hingegen überschneidet sich die Bedeutung weitgehend, sofern der Unterschied überhaupt erkennbar ist. Man kann die abgefragten Wortpaare nach ihrer Bedeutung auf einem Kontinuum anordnen, wobei am einen Ende des Kontinuums Wortpaare angesiedelt sind, bei denen ein recht deutlicher Bedeutungsunterschied auszumachen ist. Das gilt beispielsweise für Wortpaare wie launig (‚von guter Laune zeugend‘; ‚witzig‘, ‚humorvoll‘, Duden 2015, s. v. launig ) und launisch (‚wechselnden Stimmungen unterworfen und ihnen nachgebend‘; ‚häufig von schlechter Laune beherrscht‘, ebd., s. v. launisch ) oder Nachkömmling (‚lange nach den Geschwistern geborenes Kind‘, ebd., s. v. Nachkömmling ) und Nachkomme (‚Lebewesen (besonders Mensch), das in gerader Linie von einem anderen Lebewesen abstammt‘, ebd., s. v. Nachkomme ). Auch Analyst und Analytiker weisen laut Duden (2015) unterschiedliche Bedeutung auf: Der Analyst bezeichnet einen „Fachmann, der das Geschehen an der Börse, auf den Finanzmärkten u. a. beobachtet und analysiert“ (ebd., s. v. Analyst ), während Analytiker in der Bedeutung von ‚jemand, der [in seinem Fachgebiet, besonders in der Psychoanalyse] nach der analytischen Methode vorgeht‘ (vgl. ebd., s. v. Analytiker ) verwendet wird. Musiker ist laut Duden eine „Berufsbezeichnung“ (ebd., s. v. Musiker ), mit Musikant hingegen wird „ein Instrumentalist, der zu bestimmten Gelegenheiten, besonders zum Tanz, bei Umzügen, spielt“ (ebd., s. v. Musikant ), bezeichnet. Schließlich 346 Klaus Peter wird Baronesse in der Bedeutung von ‚Tochter eines Barons‘, ‚Freifräulein‘ (ebd., s. v. Baronesse ) gebraucht, Baronin hingegen ist die „weibliche Form zu Baron“ (ebd., s. v. Baronin ). Am anderen Ende des Kontinuums sind Wortpaare wie abergläubig und abergläubisch oder auch emotional und emotionell anzuordnen, da sich die beiden Wörter jeweils kaum in der Bedeutung unterscheiden (vgl. ebd., s. v. abergläubig / abergläubisch sowie emotional / emotionell ). Zwischen den beiden Polen des Kontinuums sind Wortpaare zu verorten, die laut Normkodizes zwar einen Bedeutungsunterschied aufweisen, zu denen sich in den Nachschlagewerken aber auch Hinweise darauf finden, dass die beiden Wörter in der Umgangssprache synonym verwendet werden. Das sind Wortpaare wie scheinbar (‚aufgrund einer Täuschung wirklich, als Tatsache erscheinend, aber in Wahrheit nicht wirklich gegeben‘, ebd., s. v. scheinbar ) und anscheinend (‚wie es scheint‘; ‚dem Augenschein, Anschein nach‘; ‚offenbar‘, ebd., s. v. anscheinend ). Ähnlich verhält es sich mit Galaxis (‚Milchstraße‘, ebd., s. v. Galaxis ) und Galaxie (‚großes Sternsystem außerhalb der Milchstraße‘, ebd., s. v. Galaxie ). 4.3. Erhebungsmethode und Erhebungsinstrument Die Erhebung der Daten erfolgte im Rahmen von zwei germanistischen Lehrveranstaltungen, die im Sommersemester 2014 an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg abgehalten wurden. Da kontextfreie Bedeutungsangaben die konkreten Verwendungsweisen einzelner sprachlicher Elemente immer nur bedingt abbilden können (vgl. hierzu auch Schneider 2005: 164 f.), wurden die Studierenden auch jeweils nach konkreten Verwendungsweisen der Wortbildungspaare gefragt. Wenn in der hier vorgestellten Pilotstudie das Wissen zu einzelnen Lexemen abgefragt wird, so geschieht das im Bewusstsein, dass durch diese Form der Befragung nicht erhoben werden kann, wie die Befragten die einzelnen Wortbildungsvarianten in einer Korrektursituation, in der die Varianten in einen Kontext eingebettet sind, bewerten würden. Die Erhebung erfolgte mithilfe des folgenden Erhebungsbogens: Sie finden im Folgenden eine Reihe von Wortpaaren. 1. Bitte geben Sie zunächst an, ob Ihnen beide Wörter bekannt sind oder nicht (Antwort a oder b). 2. Wenn Ihnen beide Wörter bekannt sind, geben Sie bitte an, ob die Bedeutung der beiden Wörter gleich oder unterschiedlich ist (Antwort c oder d). 3. Sofern kein Bedeutungsunterschied besteht (Antwort c), geben Sie bitte zunächst die Wortbedeutung an. Bilden Sie dann einen Satz, in dem klar ersichtlich ist, wie das Wort Ihrer Meinung nach verwendet wird. Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 347 4. Wenn die Bedeutung der Wörter unterschiedlich ist (Antwort d), geben Sie bitte die Bedeutung für beide Wörter getrennt an. Bilden Sie dann jeweils wieder einen Satz, in dem klar ersichtlich ist, wie die beiden Wörter Ihrer Meinung nach verwendet werden. [Beispiel für Formular zu Dublette Analyst / Analytikerin ] Analyst / Analytiker a □ mir sind beide Wörter bekannt ( ⇨ weiter unter c bzw. d) b □ eines der beiden Wörter ist mir nicht bekannt, nämlich: _______________ Bedeutung des mir bekannten Wortes: Beispielsatz: c □ beide Wörter haben dieselbe Bedeutung: Bedeutung: Beispielsatz: d □ die beiden Wörter haben unterschiedliche Bedeutung: Bedeutung Analyst: Beispielsatz: Bedeutung Analytiker: Beispielsatz: 4.4. Befragte Personen Für die Pilotstudie wurden insgesamt 29 Studierende des Studiengangs Lehramt an Mittelschulen in Österreich mit Erstfach Deutsch befragt. Die Studierenden befanden sich zum Zeitpunkt der Befragung im vierten Semester des sechssemestrigen Bachelorstudiums, dessen erfolgreicher Abschluss zum Unterricht an Neuen Mittelschulen (Sekundarstufe I) in Österreich berechtigt. Von den 29 Befragten machten 6 keine soziographischen Angaben. Die restlichen Befragten waren überwiegend weiblich (22 w, 1 m) und zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 19 und 43 Jahre alt. Eine Informantin gab Türkisch als Erstsprache an, alle anderen Deutsch. Die Antworten der Informantin mit nichtdeutscher Erstsprache wurden bei der weiteren Analyse nicht berücksichtigt. 348 Klaus Peter 4.5. Ergebnisse Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die quantitativen Ergebnisse der Befragung gegeben. Abbildung 2 ist der Bekanntheitsgrad der Wortbildungsdubletten unter den befragten Personen zu entnehmen: 1 3 17 2 4 13 18 8 5 28 25 24 15 10 28 20 20 11 0 10 20 30 A: Musikant, B: Musiker A: Nachkömmling, B: Nachkomme A: Baronesse, B: Baronin A: launig, B: launisch A: Analyst, B: Analytiker A: scheinbar, B: anscheinend A: Galaxis, B: Galaxie A: abergläubig, B: abergläubisch A: emotional, B: emotionell nicht synonym gebraucht (auch) synonym gebraucht A und B bekannt A nicht bekannt B nicht bekannt Abb. 2: Bekanntheitsgrad der Wortbildungspaare unter den befragten Personen Im oberen Teil der Abbildung 2 sind Wortbildungsvarianten mit (teil-)synonymer Bedeutung angeführt, die Dubletten im unteren Teil der Grafik werden laut Duden (2015) nicht synonym verwendet. Wie aus der Abbildung hervorgeht, sind die Dubletten Musiker / Musikant sowie scheinbar / anscheinend allen Befragten bekannt. Die Dubletten Nachkömmling / Nachkomme , Baronesse / Baronin , Galaxis / Galaxie und abergläubig / abergläubisch sind jeweils mindestens zwei Drittel der Befragten bekannt. Bemerkenswert schließlich sind die Werte für unbekannte Varianten bei den Wortpaaren Analyst / Analytiker ( Analyst : 18 unbekannt), launig / launisch ( launig : 13 unbekannt) und emotional / emotionell ( emotionell : 17 unbekannt). In Abbildung 3 sind die Angaben der Probanden und Probandinnen zur (Nicht-)Synonymie der einzelnen Varianten dargestellt: Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 349 20 8 13 9 3 4 2 2 4 7 17 11 5 7 24 17 18 7 0 10 20 30 A: Musikant, B: Musiker A: Nachkömmling, B: Nachkomme A: Baronesse, B: Baronin A: launig, B: launisch A: Analyst, B: Analytiker A: scheinbar, B: anscheinend A: Galaxis, B: Galaxie A: abergläubig, B: abergläubisch A: emotional, B: emotionell nicht synonym gebraucht (auch) synonym gebraucht A = B A ≠ B Abb. 3: Angaben der befragten Personen zur (Nicht-)Synonymie der einzelnen Wortpaare Bemerkenswert in Abbildung 3 sind die Angaben der Befragten bei Varianten, die laut Duden (2015) nicht synonym gebraucht werden. Bei einigen dieser Varianten gibt ein großer Teil der Befragten an, dass es sich um Synonyme handle. Besonders hoch fällt dieser Anteil bei der Dublette Analyst / Analytiker aus, auch Nachkömmling / Nachkomme wird von mehr als der Hälfte als Synonym eingestuft; Baronesse / Baronin von knapp weniger als der Hälfte, bei launig / launisch liegt der Anteil immer noch bei einem Drittel. Besonders aufschlussreich ist schließlich ein Blick auf die Angaben zur Bedeutung, die die Befragten zu einzelnen Dubletten machen. Für die Zwecke des vorliegenden Beitrags wurden hierfür zwei Dubletten aus der Gruppe der nichtsynonymen Wortbildungsvarianten ausgewählt: Mit Musikant / Musiker wurde als erstes Wortpaar jenes mit dem höchsten Bekanntheitsgrad ausgewählt. Als zweites Wortpaar sollte eine Dublette mit vergleichsweise geringen Bekanntheitswerten genauer betrachtet werden. Da eine der Varianten der Dublette Analyst / Analytiker der Fachsprache zuzurechnen ist, wird im Folgenden neben Musikant / Musiker auch das Wortpaar launig / launisch , deren Varianten rund der Hälfte der Befragten bekannt sind, genauer analysiert. Betrachtet man die Angaben der Befragten zur Dublette Musikant / Musiker , so fällt zunächst auf, dass ein Viertel der Befragten angeben, dass es sich bei Musiker und Musikant um Synonyme handelt. Die 20 Befragten, die für die beiden Varianten unterschiedliche Bedeutungen angeben, machen die Bedeutungsunterschiede sodann an unterschiedlichen Kriterien fest: Zehn Befragte unterscheiden die Bedeutung weitgehend kodexkonform ( Musiker / Musikant ). 350 Klaus Peter Von den restlichen zehn Befragten machen drei den Bedeutungsunterschied am Musikgenre, mit dem sich die Person beschäftigt, fest: Musikant Musiker wird jemand genannt, der Blasmusik bzw. Volksmusik spielt wird jemand genannt, der klassische Musik, Pop, Rock, Jazz usw. spielt Der Musikant erschien in seiner schmucken Tracht. Die Musiker der Band haben die Bühne betreten. Tab. 1: Angaben der Bewertungsperson a6 zu Musikant / Musiker . Weitere drei Befragte geben als Unterscheidungskriterium die Formation, in der die musizierende Person auftritt, an. Im unten angeführten Beleg zeigt sich ferner durch die Gleichsetzung von Musiker und Hobbymusiker , dass dabei das eigentliche Unterscheidungskriterium (Beruf / Freizeit) gerade nicht als solches genannt wird: Musikant Musiker spielt Musik in einer Gruppe z. B. Bürgermusik jemand, der nicht unbedingt in einer Gruppe / Band spielt, ev. Hobbymusiker Heinrich ist einer der besten Musikanten der Bürgermusik. Elvis ist ein begeisterter Musiker, der gerne auf privaten Feiern musiziert. Tab. 2: Angaben der Bewertungsperson a3 zu Musikant / Musiker. Zwei weitere Befragte geben an, dass Musiker als Bezeichnung für Personen verwendet wird, die nicht nur ein Instrument spielen, sondern die dargebotene Musik auch selbst schreiben: Musikant Musiker spielt ein Instrument, singt u. schreibt aber nicht spielt Instrumente, singt u. schreibt Das Musikantenstadel läuft heute auf ORF . John Lennon war ein fantastischer Musiker. Tab. 3: Angaben der Bewertungsperson z10 zu Musikant / Musiker. Schließlich wird der Unterschied von zwei Befragten auch daran festgemacht, dass der Musikant ein Instrument spielt, der Musiker hingegen jemand ist, der kein Instrument spielt, sondern allgemein musikalisch ist oder singt: Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 351 Musikant Musiker jemand, der ein Instrument spielt jemand, der musikalisch ist Der Musikant spielt seit Jahren Gitarre. Der Musiker liebt den neuen Song. Tab. 4: Angaben der Bewertungsperson z4 zu Musikant / Musiker. Obwohl Musiker und Musikant zu jenen Wortbildungsvarianten zählen, die von allen Befragten als bekannt eingestuft werden, zeigt die Analyse der Bedeutungsangaben, dass nur rund ein Drittel der Befragten die unterschiedlichen Verwendungsweisen auf Bedeutungsunterschiede zurückführen, die in dieser Form auch in Normkodizes zu finden sind. Ähnlich verhält es sich mit der Dublette launig / launisch , bei der die Variante launig nur rund der Hälfte der Befragten bekannt ist. Fünf Befragte geben an, dass es sich bei den beiden Wörtern um Synonyme handelt. Von den neun Bedeutungsbeschreibungen, in denen launig und launisch unterschieden wird, stimmen fünf mit dem überein, was in den Normkodizes als Bedeutungsangabe zu finden ist. Bei vier von den neun Antworten (also ungefähr der Hälfte) werden hingegen wieder Bedeutungsunterschiede konstatiert, die in dieser Form nicht vorliegen. So wird der Bedeutungsunterschied etwa daran festgemacht, ob sich das Adjektiv auf eine konkrete Stimmung oder auf das Gefühlsleben einer Person grundsätzlich bezieht: launig launisch übellaunig, betrifft eine konkrete Stimmung bezeichnet das unstete Gefühlsleben, den Wechsel bzw. die Person, die Stimmungsschwankungen hat So launig habe ich dich noch nie erlebt. Du bist furchtbar launisch heute. Tab. 5: Angaben der Bewertungsperson z6 zu launig / launisch. 352 Klaus Peter Eine zweite Informantin geht davon aus, dass sich das eine Wort auf das Wetter, das andere auf Personen bezieht: launig launisch wird im Zusammenhang mit dem Wetter gebraucht / wechselhaft im Zusammenhang mit der Stimmung von Personen (wechselhaft) Heute ist das Wetter sehr launig Diese Person ist sehr launisch. Tab. 6: Angaben der Bewertungsperson a6 zu launig / launisch. Eine dritte Probandin macht den Unterschied daran fest, ob eine Person wechselnde Meinungen vertritt oder unstete Stimmungen hat: launig launisch Meinungsschwankungen haben Stimmungsschwankungen haben Er ist launig. Die Schwangere ist launisch. Tab. 7: Angaben der Bewertungsperson a12 zu launig / launisch. Und schließlich wird der Unterschied auf die syntaktischen Verwendungsmöglichkeiten zurückgeführt: launig kann laut einer Informantin nur attributiv verwendet werden, launisch wird von ihr als Adjektiv bezeichnet (wobei aus dem Beispiel zu erschließen ist, dass hier vermutlich der prädikative Gebrauch des Adjektivs gemeint ist): launig launisch Attribut Adjektiv [prädikativer Gebrauch? , KP ] Die launige Gruppe unterhält sich. Sie ist heute sehr launisch, besser nicht ansprechen. Tab. 8: Angaben der Bewertungsperson a13 zu launig / launisch. 4.6. Diskussion Die hier vorgestellte kleine Pilotstudie kann aufgrund der geringen Anzahl an Probanden und auch aufgrund der Anzahl an berücksichtigten Dubletten nur einen ersten und oberflächlichen Einblick in das lexikalische Wissen von angehenden Lehrpersonen hinsichtlich Wortbildungsvarianten geben. Insgesamt Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 353 lässt sich allerdings auch in dieser kleinen Pilotstudie ähnlich wie in Untersuchungen zum Korrekturverhalten von (angehenden) Lehrpersonen beobachten, dass das sprachhandlungsleitende Sprachwissen unter den befragten Personen erstens stark variiert und zweitens nur beschränkt mit dem kodifizierten Sprachwissen übereinstimmt. 1 Es zeigt sich recht deutlich, dass nicht grundsätzlich davon auszugehen ist, dass den Befragten a. die ihnen zur Einschätzung vorgelegten Varianten überhaupt bekannt sind und dass sie b. die Bedeutung der von ihnen als bekannt eingestuften Varianten im Detail kennen. Sowohl (a) als auch (b) sind allerdings Voraussetzungen dafür, dass die Bewertung von sprachlicher Variation als Ausdruck von Spracheinstellungen interpretiert werden können. Ortner (2008: 103) unterscheidet im Zusammenhang mit der Wortschatzkenntnis von Schreiberinnen und Schreibern zwischen drei Ebenen des Bedeutungswissens: • „Die (bloße) Verstehensbedeutung“ (ebd.): Das Wort ist für die Schreibenden ein passives Wortschatzelement, es stört in einer rezipierten Äußerung nicht. Der oder die Schreibende versteht ungefähr, was gemeint ist, die Schreibenden wären aber nicht in der Lage, zu erklären, was das Wort im Detail bedeutet. • „Bedeutungswissen für den aktiven Wortgebrauch in (alltagssprachlichen) Aussagen“ (ebd., 104): Die Bedeutung eines Wortes setzt sich aus unterschiedlichen Komponenten zusammen. Dem oder der Schreibenden sind jene wichtigen Bedeutungskomponenten bekannt, die für den aktiven Einsatz des Wortes in alltagssprachlichen Situationen ausreichen. Auf die weniger wichtigen Bedeutungskomponenten hat der Scheiber oder die Schreiberin keinen Zugriff. • „Enzyklopädisches Wissen für die Textproduktion“ (ebd.): Der oder die Schreibende verfügt über enzyklopädisches Wissen zu einem einzelnen Wort. Das enzyklopädische Wissen umfasst alle Wissenselemente, die in einem Wort gespeichert sind. Der oder die Schreibende hat die Möglichkeit, während des Schreibprozesses aktiv jene Bedeutungselemente auszuwählen, die für die Bearbeitung des Themas notwendig sind, andere können zurückgestellt werden. Die Durchdringung der Wortbedeutung auf 1 Zu überprüfen wäre allenfalls, ob die Befragten bei der Konfrontation mit einzelnen Lexemen in einer realen Korrektursituation auf Nachschlagewerke zurückgegriffen hätten. Dieser Aspekt war allerdings nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. 354 Klaus Peter dieser Ebene geht immer mit Sachwissen über das durch das Wort Bezeichnete einher. Lernende durchdringen im Laufe des Spracherwerbsprozesses die Bedeutung eines Wortes idealerweise sukzessive so, dass sie am Ende des Erwerbsprozesses zu einem Wort über Kenntnisse auf allen drei Ebenen verfügen - mitunter beschränkt sich das Wortwissen aber auch nur auf die erste oder die ersten beiden Ebenen. Umgelegt auf die Bewertung von regionalen lexikalischen Varianten würde dies bedeuten: Für Sprecherinnen und Sprecher, die ausschließlich über die Verstehensbedeutung der fremden regionalen Variante verfügen, ist es nicht möglich, Aussagen über den Gebrauch und damit auch nicht über die Standardsprachlichkeit des bewertenden Wortes zu machen. Die Bewertung sprachlicher Varianten setzt nämlich nicht nur die Verstehensbedeutung und das Bedeutungswissen für den aktiven Wortgebrauch, sondern letztlich enzyklopädisches Wissen über die Varianten selbst voraus. 5. Schlussfolgerungen für die weitere Erforschung des Umgangs mit regionaler Variation Sofern man sich mit der Frage auseinandersetzt, wie Lehrpersonen im Deutschunterricht mit sprachlicher Variation umgehen, kommt man nicht umhin, sich zunächst grundsätzlich mit dem Korrekturverhalten von Lehrpersonen zu beschäftigen. Die Bewertung regionaler Varianten ist nicht nur Ausdruck von Spracheinstellungen gegenüber der Varietät, der eine bestimmte Variante zuzuordnen ist, sie ist immer auch das Ergebnis des grundsätzlichen Umgangs der Lehrperson mit sprachlichen Auffälligkeiten, Normabweichungen oder Fehlern. Untersuchungen zum Korrekturverhalten von Lehrpersonen zeigen durchgängig, dass es erstens bezüglich der Wahrnehmung von Fehlern große interindividuelle Unterschiede gibt und dass sich zweitens die Normvorstellungen von Lehrpersonen nicht mit den kodifizierten Sprachnormen decken. Die in diesem Beitrag skizzierte Pilotstudie zum Bedeutungswissen von Wortbildungsvarianten deutet darauf hin, dass gerade im Bereich der Semantik volle Kompetenz im Sinne von Besitz von enzyklopädischem Wissen zu einem Wort nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden kann. Zusammenfassend lassen sich für die weitere Erforschung von Bewertungen regionaler Varianten die folgenden Schlüsse ziehen: 1. Die Bewertung von sprachlichen Varianten ist nicht nur Ausdruck der Spracheinstellungen, sondern immer auch Ausdruck der Sprachbewusstheit oder des Sprachwissens der bewertenden Person. Sprachwissen und sprachliche Variation im Deutschunterricht 355 2. Eine umfassende Interpretation einer Variantenbewertung kann nur dann gelingen, wenn nicht nur Daten zu den Spracheinstellungen, sondern auch zum individuellen Sprachwissen (oder der individuellen Sprachbewusstheit) der bewertenden Person vorliegen. 3. Bei Untersuchungen zur Bewertung von Sprachvarianten sollte jeweils auch die Kenntnis der Variantenbedeutung kontrolliert werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Tatsache, dass Sprecherinnen und Sprechern ein Wort bekannt ist, noch wenig darüber aussagt, ob sie auch alle Verwendungsweisen des Wortes im aktuellen Sprachgebrauch kennen. 6. Literatur Ágel, Vilmos (2008): Bastian Sick und die Grammatik. Ein ungleiches Duell. In: InfoDaF 35 / 1, 64-84. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten . Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich et al. (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol . Berlin, New York: de Gruyter. Dąbrowska, Ewa (1997): The LAD goes to school. A cautionary tale for nativists. In: Linguistics 35 / 4, 735-766. Dąbrowska, Ewa (2010): Naive v. expert intuitions. 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Die Varianten des Standarddeutschen als sprachliche Zweifelsfälle . Schneider, Jan Georg (2005): Was ist ein sprachlicher Fehler? Anmerkungen zu populärer Sprachkritik am Beispiel der Kolumnensammlung von Bastian Sick. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 1 / 2, 154-177. Stricker, Stefanie (2002): Konkurrenzen im Wortbildungssystem um 1800. Aufgezeigt an der Wortbildung Goethes. In: Habermann, Mechthild, Peter O. Müller & Horst Haider Munske (Hrsg.): Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen: Niemeyer, 315-339. Untersuchung des Korrekturverhaltens von Lehrpersonen auf der Sekundarstufe II in Bezug auf nationale Varianten der Schweizer Standardsprache Adriana Gatta 1. Einleitung 2. Nationale Varianten der Schweiz 3. Unterrichtssprache in den Rahmenlehrplänen 4. Thesen und Hypothesen 5. Methodisches Vorgehen 6. Datenerhebung 7. Untersuchungsergebnisse 8. Fazit 9. Ausblick 10. Literatur 1. Einleitung In der Fachliteratur wird diskutiert, ob für Schweizer die Standardsprache eine Fremdsprache darstellt. Oft wird Schweizerhochdeutsch als minderwertiges oder schlechtes Deutsch angesehen. Diese Meinung wird nicht nur von Deutschen vertreten, sondern die Schweizer selbst sind im Gebrauch der Standardsprache unsicher und halten ihren Schweizer Standard für unzureichend (vgl. Scharloth 2006: 93). Das Verhältnis Dialekt-Standard ist Thema unzähliger politscher Debatten. Mich interessiert, was für den Deutschunterricht an Schweizer Schulen gilt. Es wird untersucht, wie Lehrpersonen auf der Sekundarstufe II mit Helvetismen in Aufsätzen verfahren. Es wird aufgezeigt, ob und wie die Lehrpersonen Helvetismen korrigieren und wie sie diese bewerten. Dafür wurde ein Fragebogen mit einem Beispielaufsatz und Beispielsätzen konstruiert, die von den Lehrpersonen korrigiert wurden. Die Auswertung erfolgt nach den aussersprachlichen Faktoren Alter, Ausbildung, Schulstufe und Unterrichtserfahrung der Lehrpersonen. 360 Adriana Gatta Den theoretischen Hintergrund der Arbeit bildet das Konzept der Plurizentrik des Deutschen. Ein wichtiger Punkt des Plurizentrikkonzeptes ist, dass nationale Besonderheiten der nationalen Zentren Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht als Abweichung von einer über die Staaten hinweg bestehenden deutschen Standardsprache gelten, sondern gleichberechtigt nebeneinander stehen (vgl. VWB 2004: XXXII ). Bickel (2001: 22) weist darauf hin, dass aus wissenschaftlicher Sicht die verschiedenen nationalen Varietäten gleichwertig sind. Schmidlin (2011: 72) spricht bei der Plurizentrik von einer Ko-Existenz der Varietäten im Vergleich zur Standardideologie, bei der eine Varietät alle anderen überlagert. Obwohl alle Varietäten des Deutschen als gleichberechtigt gelten, werden heute noch die österreichische und vor allem die schweizerische Varietät als mangelhaft angesehen (vgl. Scharloth 2006: 93). Varianten kleinerer Zentren werden als mangelhaft betrachtet, weil die Plurizentrizität der deutschen Sprache asymmetrisch ist. Ammon (1997: 9) begründet dies nicht nur mit dem Grössenunterschied der Staaten, sondern auch mit der Anzahl der Sprecher. Auch Schmidlin (2011: 80) sieht die Sprecherzahl als wichtigsten Faktor der Asymmetrie. Hägi (2006: 19) weist darauf hin, dass die deutschländische Varietät gegenüber der österreichischen und der schweizerischen dominant ist. Sie begründet dies nicht nur mit der Grösse, sondern auch mit der wirtschaftlichen Stärke und der politischen Bedeutung Deutschlands. Der räumliche Faktor spielt ebenfalls eine Rolle, weshalb die Varietät Deutschlands als die bessere angesehen wird. Das amerikanische und britische Englisch konnten sich aufgrund ihrer Distanz fast unabhängig voneinander entwickeln. Durch die vorherrschende Distanz sind die jeweiligen Varietäten nicht ständig miteinander konfrontiert. So stellt sich gar nicht erst die Frage, welche Varietät die bessere ist. Im deutschen Sprachraum zeigt sich ein gegenteiliges Bild. Die nationalen Varietäten stehen in ständigem Austausch. Vor allem in Österreich und der Schweiz ist man über die Medien hauptsächlich mit der deutschen Varietät in Kontakt. Auf Grund seiner Grösse und Bedeutung hat Deutschland die besten Mittel, um seine Varietät weiträumig zu etablieren. 2. Nationale Varianten der Schweiz Die folgenden Definitionen nationaler Varianten richten sich nach Ulrich Ammons Terminologie in der 1997 erschienen Monographie „Nationale Varietäten des Deutschen“. Varianten, die Bestandteil der Standardvarietät einer bestimmten Nation, aber nicht aller Nationen sind, werden als nationale Varianten bezeichnet. Nationale Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 361 Varianten können als Spezialfälle von Varianten innerhalb einer Sprache betrachtet werden. Zusätzlich müssen die nationalen Varianten Entsprechungen in den anderen Nationen haben. Des Weiteren können die nationalen Varianten als spezifische oder unspezifische nationale Varianten differenziert werden. Spezifische nationale Varianten gelten dabei nur in einer einzigen Nation, während unspezifische Varianten, im Falle des Deutschen, in zwei Nationen gelten. Nach Ammon (1997: 6) werden lediglich spezifische nationale Varianten der Schweiz als Helvetismen bezeichnet. In der Theorie der Plurizentrik besteht keine Einigkeit über die Termini. So werden auch unspezifische nationale Varianten der Schweiz als Helvetismen bezeichnet. Zudem gestaltet sich die Zuordnung spezifischer oder unspezifischer Helvetismus im Allgemeinen als schwierig. Während einige Kodizes lediglich eine Unterscheidung nach Ländern vornehmen, berücksichtigt beispielsweise das Variantenwörterbuch des Deutschen viele sehr kleine Regionen. Eine genaue Unterscheidung zwischen spezifischen und unspezifischen Helvetismen ist aus diesen Gründen nicht gewährleistet. Einigkeit besteht über den Umgang mit „Sachspezifika“ 1 . Sowohl Ammon (1997: 10) wie auch Haas (2000: 103) bezeichnen Wörter, die ausschliesslich schweizerische Spezifika bezeichnen und keine Entsprechung in den anderen deutschsprachigen Ländern haben, nicht als Helvetismen. Für den vorliegenden Beitrag ist zu beachten, dass sowohl spezifische als auch unspezifische Varianten, die nicht nur für die Schweiz gelten, als Helvetismen definiert werden. 2.1. Entstehung und Abgrenzung von Helvetismen Viele Helvetismen stammen aus den schweizerdeutschen Mundarten. Die Mundartausdrücke haben durch ihre häufige Verwendung eine schriftsprachliche Geltung erlangt und gehören mittlerweile zum Standard (vgl. Haas 2000: 102). Es gibt Wörter, die früher in allen deutschsprachigen Ländern standardsprachlich waren, heute jedoch dort als veraltet gelten. Schläpfer (1983: 46) bezeichnet diese Wörter, die früher auch im binnendeutschen Raum gebräuchlich waren, als Reliktwörter. Bickel & Landolt (2012: 6) weisen darauf hin, dass die Dialekte bei der Entstehung von Helvetismen eine wichtige Rolle spielen. Die Dialekte und die Standardsprache stehen in einer Wechselbeziehung und beeinflussen sich gegenseitig. Aus diesem Grund sind die diversen Dialekte bis zu einem gewissen 1 Vgl. Ammon (1997: 10): Für die schweizerische Sportart Hornussen gibt es in den anderen deutschsprachigen Nationen keinen anderen Ausdruck, also keine Entsprechung. Somit gilt Hornussen nicht als Helvetismus sondern als Sachspezifikum, obwohl Hornussen ein schweizerisches Wort ist. Weitere Beispiele sind Rösti oder Müesli , wobei in Deutschland die Schreibweise zu Müsli angepasst wurde. 362 Adriana Gatta Grad in der Standardsprache erkennbar. Bickel & Hofer (2013: 94) nennen drei weitere Kriterien, die zur Entstehung von Helvetismen beitragen. Zum einen spielen Medien wie Radio und Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften eine wichtige Rolle, die eine Vorbildfunktion für die jeweilige Sprachgemeinschaft haben. Zum anderen haben Schulen eine grosse Bedeutung. Die Lehrmittel werden von kantonalen Lehrmittelverlagen oder von schweizerischen Schulbuchverlagen hergestellt. Dadurch entsteht eine schweizerische Schultradition, die den schweizerischen Standard weitervermittelt. Des Weiteren nimmt der Staat selbst eine wichtige Rolle ein. Die Schweiz hat einen eigenen Sprachdienst, der eine einheitliche Terminologie aufrechterhält (vgl. Bickel & Hofer 2013: 94). Laut Haas (2000: 103) kann der Staat dadurch nationalstandardisierend wirken. Jedoch ist die Nationalstandardisierung in der Schweiz mit dem Problem der Mehrsprachigkeit verbunden. Staatliche Begriffe müssen in den übrigen Amtssprachen als Entsprechungen erkennbar sein 2 . Dadurch können nationale Varianten entstehen, die in anderen deutschsprachigen Ländern unbekannt oder nicht gebräuchlich sind. Hägi (2006: 49) weist darauf hin, dass es immer wieder Abgrenzungsprobleme bei der Festlegung einer nationalen Variante gibt. Einerseits besteht ein Problem bei der Abgrenzung zum Nonstandard, also zu den Dialekten, andererseits gestaltet sich die Abgrenzung zu fremdnationalen Varianten als schwierig. Ammon (1995: 89) bezeichnet die Abgrenzung Standard / Nonstandard als eine „nach innen“ gerichtete Differenzierung, während die Abgrenzung der eigenen nationalen Variante „nach aussen“ gerichtet ist. Standard oder Nonstandard von Helvetismen, also die Abgrenzung „nach innen“, kann analog zu Standardvarietät und Nonstandardvarietät vollzogen werden. Nach Ammon (1995: 74) gilt die Standardvarietät, im Gegensatz zu einer Nonstandardvarietät, für die gesamte Nation oder für eine Sprachgemeinschaft in einer Nation und bildet in öffentlichen Situationen die sprachliche Norm. Dies zeigt sich daran, dass sie amtlich institutionalisiert ist und in Schulen gelehrt wird. Zudem ist die Standardvarietät in Wörterbüchern und Grammatiken 3 kodifiziert, so dass im Zweifelsfall in diesen Sprachkodizes die richtige Form nachgeschlagen werden kann. Durch die Aufnahme in die Kodizes gelten die Ausdrücke als standardsprachlich. Ausgenommen vom Standard sind in die Kodizes aufgenommene Wörter, die mit mundartlich , umgangssprachlich u.dgl. markiert sind. Die Orientierung 2 Vgl. Haas (2000): Als Beispiel nennt Haas (2000: 104) die Identitätskarte. In allen Amtssprachen der Schweiz besitzt die Identitätskarte eine erkennbare Entsprechung. Die Identitätskarte ist jedoch sowohl in Deutschland (Personalausweis) sowie in Österreich (Identitätsausweis) unbekannt. 3 Vgl. Kellermeier-Rehbein (2013: 5): Kellermeier-Rehbein weist darauf hin, dass oft nur die Orthographie kodifiziert ist und andere Systeme keine Norm aufweisen. Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 363 am Kodex einer Standardvarietät ist vorgeschrieben, denn dadurch ist definiert, welche Sprachform als korrekt akzeptiert wird. Nun ergibt sich das Problem, dass die Schweiz über keinen eigenen Binnenkodex verfügt (vgl. Kapitel 5.2.1). Um die Gesamtheit der schweizerischen Varietät abbilden zu können, müssen verschiedene Kodizes verwendet werden. Dies ist in der Praxis kaum umsetzbar. Die Abgrenzung der eigennationalen Varianten „nach aussen“ ist schwieriger vorzunehmen. Das Erkennen der eigennationalen Varianten ist laut Bickel und Hofer (2013: 88) mit zwei verschiedenen Ansätzen möglich. Zum einen werden Texte, die schweizerdeutsche Wörter enthalten, von Personen aus den anderen deutschsprachigen Nationen gelesen. Alle Wörter, die nicht gekannt oder selbst verwendet werden, müssen markiert werden. Zum anderen wird eine grosse Menge an Texten, die aus dem Internet und digitalen Textarchiven stammen, durchgearbeitet. Damit schweizerhochdeutsche Wörter nachgewiesen werden können, muss eine Liste mit möglichen Helvetismen vorhanden sein. Zur Überprüfung, ob es sich bei den Wörtern um Helvetismen handelt, müssen diese mit deutschländischen und österreichischen Texten verglichen werden. 2.2. Wahrnehmung und Bewertung von Helvetismen Das Deutsch der Deutschen, besonders der Norddeutschen 4 , wird weitverbreitet als „gutes“ Deutsch angesehen. Hannover gilt als Zentrum der besten Standardbeherrschung. Je weiter weg von diesem Zentrum, desto „unreiner“ und „schlechter“ wird das verwendete Deutsch. Aus diesem Grund werden besonders das österreichische und das schweizerische Deutsch als fehlerhaft angesehen (vgl. Bickel 2001: 19). Während es für Österreich und die Schweiz Spezialwörterbücher zu nationalen Besonderheiten gibt, existiert für Deutschland nichts Vergleichbares. Dies lässt vermuten, dass das deutsche Deutsch als „richtig“ angesehen wird und das österreichische und schweizerische Standarddeutsch lediglich eine Abweichung der Norm darstellen. Infolgedessen werden die Besonderheiten der schweizerischen Standardsprache von Schweizern oft als Fehler gesehen oder als schlechtes Deutsch bewertet (vgl. Bickel 2001: 23). In den Studien von Scharloth (2006: 84) und Schmidlin (2013: 34) konnte empirisch nachgewiesen werden, dass in der Schweiz eine allgemein geringe Akzeptanz gegenüber Helvetismen besteht. Scharloth (2006: 84) führte ein Wahrnehmungsexperiment durch, das die Einstellung von Deutschschweizern zum Schweizerhochdeutsch messen sollte. Es wurden Sätze mit Helvetismen 4 Vgl. Bickel (2001: 19): Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand eine Aussprachenormierung statt. Diese wurde von Theodor Siebs vorgenommen, der selber aus Norddeutschland stammte. So nahm Siebs die Aussprachegewohnheiten der Norddeutschen als Vorbild. 364 Adriana Gatta auf lexikalischer sowie syntaktischer Ebene aufgenommen. Insgesamt wurden 72 % der Sätze als schlechtes oder fehlerhaftes Standarddeutsch beurteilt. Nach Scharloth spricht dieses Resultat dafür, dass die schweizerischen Varianten unter den Sprechern kein hohes Prestige besitzen. Schmidlin führte eine Umfrage zum Gebrauch und zur Einschätzung nationaler und regionaler Varianten des Standarddeutschen durch. Die Studie umfasste Sprecher und Sprecherinnen aus dem ganzen deutschen Sprachraum. Die Schweiz zeigte weitaus die tiefste Loyalität gegenüber ihren nationalen Varianten. Die Probanden aus der Schweiz hielten Helvetismen fast durchwegs für dialektal, während sowohl deutsche wie auch österreichische Gewährspersonen Helvetismen eher als standardsprachlich einschätzten (vgl. Schmidlin 2011: 298). Als möglichen Grund für die geringe Akzeptanz der Helvetismen nennt Schmidlin (2013: 39) die Benutzung von Wörterbüchern. Wörterbücher würden im Alltag eher wenig zur Kenntnis genommen. Folglich findet keine Absicherung über die Richtigkeit der verwendeten Helvetismen statt. Daraus lässt sich schliessen, dass in der Bevölkerung wenig Bewusstsein für die Plurizentrik des Deutschen vorhanden ist. Von besonderem Interesse für meine Fragestellung ist, wie mit Helvetismen in der Schule verfahren wird. Bereits 1979 befasste sich Schläpfer (1979: 156) mit der Problematik, wie mit Helvetismen im Deutschunterricht umgegangen werden soll. Schläpfer (1983: 47) betont, dass bei Lehrpersonen auf allen Stufen eine grosse Unsicherheit herrsche, wie und was sie in Schülertexten als „richtiges“ Deutsch gelten lassen sollen und was als Umgangssprache oder Dialekt. Schläpfer (1983: 48) kam zum Schluss, dass eine Unsicherheit und Widersprüchlichkeit bei der Beurteilung und Bewertung von nationalen Varianten herrsche. Ammon (1995: 43) untersuchte, wie Lehrpersonen der 4. Primarstufe mit nationalen Varianten umgehen. Lehrpersonen aus der Schweiz sowie aus Österreich korrigierten ihre eigenen nationalen Varianten, während Deutsche Lehrpersonen keine eigennationalen Varianten korrigierten. Auch Häcki Buhofer (2011: 78) weist darauf hin, dass Lehrpersonen kein einheitliches Korrekturverhalten gegenüber Helvetismen aufweisen würden. Es scheint, als ob das Bewusstsein für die Plurizentrik des Deutschen nicht nur in der Bevölkerung nicht vorhanden, sondern auch in den Schulen kaum präsent sei. 3. Unterrichtssprache in den Rahmenlehrplänen Wie in Kapitel 2.2. angesprochen, zeigen Lehrpersonen aller Schulstufen Unsicherheiten bei der Korrektur von Helvetismen. Für Lehrpersonen ist es wichtig zu wissen, woran sie sich bei Korrekturen im Allgemeinen halten müssen. Die Behörden nehmen durch Lehrpläne und Weisungen einen grossen Einfluss auf Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 365 die Entscheidung der Sprachform im Unterricht. Dies geschieht mit der Festlegung der Unterrichtssprache in den kantonalen Lehrplänen (vgl. Sieber & Sitta 1986: 35). Es gibt für jede Schulstufe Rahmenlehrpläne, welche die grundlegenden Regeln und die Bildungsziele vorgeben. Der Rahmenlehrplan regelt die Ziele und Vorgaben für die Schullehrpläne (vgl. RLP - BG 2003: 26). Es wurde überprüft, ob die Rahmenlehrpläne bezüglich der Korrektur von Helvetismen Vorgaben machen. Dazu wurde in den Rahmenlehrplänen für alle Schultypen der Sekundarschule II die Unterrichtssprache betrachtet. Im Rahmenlehrplan für die Berufliche Grundbildung wird die Unterrichtssprache folgendermassen definiert: „Unterrichtsprache im allgemeinbildenden Unterricht ist die Standardform der regional verwendeten Landessprache“ (vgl. RLP - BG 2003: 10). Folglich gilt für die deutschsprachige Schweiz die Standardform Deutsch als Unterrichtssprache. Es stellt sich die Frage, was unter Standardform Deutsch verstanden wird. Zudem ist nicht geklärt, ob sich die Unterrichtssprache nur auf die mündliche Kommunikation im Unterricht bezieht oder auch auf den schriftlichen Bereich. Im Rahmenlehrplan für die Berufsmaturität wird das Fach Deutsch als solches nicht erwähnt. Es gibt lediglich Bildungsziele für die erste Landessprache, was in der Deutschschweiz Deutsch ist. Es findet sich folgender Abschnitt im Rahmenlehrplan: „Der überlegte und versierte Gebrauch der Sprache einerseits, die intensive Auseinandersetzung mit ihren Normen und Möglichkeiten […] andererseits […]“ (vgl. RLP - BM 2013: 17). Die Unterrichtssprache als solche wird im Rahmenlehrplan nicht angesprochen. Wie bereits im RLP - BG ist auch hier nicht vom Fach Deutsch die Rede, sondern von der Erstsprache bzw. der ersten Landessprache. Als allgemeines Bildungsziel gilt: „die Muttersprache im mündlichen und schriftlichen Gebrauch beherrschen“ (vgl. Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren RLP - FMS 2004: 18). Es wird weder definiert, was unter Muttersprache zu verstehen ist, noch ist im Rahmenlehrplan von einer Unterrichtssprache die Rede. Im Rahmenlehrplan für die Maturitätsschule wird zwar auf die Thematik der Varietät eingegangen, jedoch lediglich im Zusammenhang mit Mundart und Standardsprache. In der Deutschschweiz haben wir nicht nur an einer sich stark wandelnden Standardsprache teil, wir sind auch konfrontiert mit einer veränderten Aufgabenteilung zwischen Mundart und Standardsprache. Die Gebrauchsnormen für die beiden Varianten müssen von Fall zu Fall neu gesetzt und begründet werden, und der Vorrang des Dialekts im Mündlichen bewirkt, dass die Standardsprache mehr und mehr als Fremdsprache empfunden wird (vgl. RLP - MS 1994: 32). In den Richtzielen für das Fach Deutsch ist von Muttersprache die Rede. Es ist nicht definiert, was mit Standardsprache oder Muttersprache gemeint ist. Die 366 Adriana Gatta Unterrichtssprache an sich wird auch im RLP - MS nicht erwähnt. Für die RLP der Sekundarstufe II konnte nicht geklärt werden, was in Aufsätzen als korrekt angesehen werden muss. Mit der Überlegung, dass eventuell die Unterrichtssprache bereits in den unteren Stufen definiert wird, wurden auch der Lehrplan21 und HarmoS berücksichtigt. In der interkantonalen Vereinbarung zur Harmonisierung der obligatorischen Schule ist in Bezug auf die Unterrichtssprache folgendes zu lesen: „Sprachen: eine umfassende Grundbildung in der lokalen Standardsprache (mündliche und schriftliche Sprachbeherrschung) […]“ (vgl. HarmoS 2007: 2). Was unter lokaler Standardsprache zu verstehen ist, wird nicht ausgeführt. Der Lehrplan 21 setzt für das 11. Schuljahr das Ziel, dass sich Schülerinnen und Schüler in der Regel auf Hochdeutsch ausdrücken können. Auch hier fehlt eine Definition, was mit Hochdeutsch gemeint ist. Im Lehrplan 21 wird auf den Umgang mit Varietäten hingewiesen, dies allerdings lediglich im Zusammenhang mit dem Fremdsprachenunterricht. Die Beherrschung von Mundart und Standardsprache ist wichtig für die gesellschaftliche Integration und berufsspezifische Profilierung in der deutschsprachigen Schweiz. Auch Englisch und Französisch werden in verschiedenen Varietäten gesprochen. Fremdsprachenunterricht richtet sich nach einer Standardsprache, ermöglicht aber auch Begegnungen mit verschiedenen Varietäten (vgl. LP 21 2015: 4). Der Begriff „Varietät“ bezieht sich nur auf die gesprochene Sprache. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass nur zwischen Dialekten und Standard unterschieden wird und nicht wie im Konzept der Plurizentrik zwischen Varietäten, die standardsprachlich sind. In einem Dossier des Informations-und Dokumentationszentrum IDES 5 zur Unterrichtssprache in der Primarschule wird unter anderem von Standardsprache, Hochdeutsch, deutschem Standard, Standarddeutsch und Schweizer Hochdeutsch gesprochen (vgl. Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren IDES -Dossier 2011: 2). Es scheint, als würden diese Begriffe synonym verwendet werden. All diese Bestimmungen gelten für die Unterrichtssprache im mündlichen Bereich. Laut Frau Fuchs 6 von der EDK ist „Schweizer Hochdeutsch“ die geläufige Unterrichtssprache. Es wird nirgends geklärt, was im schriftlichen Bereich gilt. Wenn jedoch unter Standard im mündlichen Bereich die schweizerische Varietät gemeint ist, wäre es nur logisch, dass dies auch im Schriftlichen gilt. Demzufolge dürfen Helvetismen in Aufsätzen, unabhängig von der Schulstufe, nicht korrigiert werden. 5 IDES ist dem Generalsekretariat der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) angegliedert. Es sammelt systematisch Informationen und Dokumente zum Bildungssystem Schweiz. 6 Aussage in einer E-Mail vom 6. August 2015. Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 367 Es zeigt sich, dass in den Rahmenlehrplänen keine eindeutigen Regelungen bezüglich der Korrektur von Helvetismen verankert sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Lehrpersonen weiterhin Unsicherheiten bei der Korrektur von Helvetismen zeigen. 4. Thesen und Hypothesen Die aufgestellten Thesen haben unterschiedliche Ursprünge. Drei der aufgestellten Thesen haben einen direkten Bezug zu Annahmen oder durchgeführten Studien anderer Autoren. Die weiteren Thesen beruhen hauptsächlich auf der Aussage von Scharloth (2006: 84), dass die Einschätzung der Wahrnehmung und Einstellung der Schweizer betreffend des Schweizerhochdeutschen, bis auf wenige Ausnahmen, hauptsächlich auf persönlichen Beobachtungen von Autoren beruhen und es an empirischen Studien zu diesem Thema fehlen würde. Mein Interesse an der Thematik galt nicht der gesamten Bevölkerung der Schweiz, sondern nur den Deutschlehrpersonen auf der Sekundarstufe II . Diese gelten als Normautoritäten und besitzen somit einen wesentlichen Einfluss auf die Sprache und deren Entwicklung. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass, wenn Deutschlehrpersonen viele Helvetismen korrigieren, die Akzeptanz der Helvetismen in der Bevölkerung abnimmt. Ziel der Arbeit war es, empirisch abgesicherte Aussagen zum Korrekturverhalten von Deutschlehrpersonen auf der Sekundarstufe II machen zu können. Die These, dass Helvetismen korrigiert werden, obwohl die sprachlichen Besonderheiten aller nationalen Varianten des Deutschen als gleichwertig gelten, bezieht sich auf eine Aussage von Ulrich Ammon im Variantenwörterbuch des Deutschen (vgl. VWB 2004: XXXII ). Ammon (1995: 437) untersuchte, wie Lehrpersonen der 4. Primarstufe mit nationalen Varianten umgehen (vgl. Kapitel 2.2.). Das Resultat war, dass viele Lehrpersonen Helvetismen durch gemeindeutsche Ausdrücke ersetzt haben. In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob dies auch für Deutschlehrpersonen auf der Sekundarstufe II gilt. Die These, dass sich Lehrpersonen bei der Beurteilung von Helvetismen unsicher sind, geht auf einen Aufsatz von Robert Schläpfer über das Schweizerhochdeutsche in einem hochdeutschen Wörterbuch zurück (vgl. Schläpfer 1983: 47). Da es sich lediglich um Beobachtungen handelt, soll die vorliegende Arbeit genauere Daten zu dieser Aussage liefern. Schmidlin (2013: 39) weist darauf hin, dass im Schreib- und Lesealltag Wörterbücher selbst von Lehrpersonen kaum gebraucht werden. Läubli (2000: 128) belegte in einer Umfrage bezüglich des Umgangs mit Wörterbüchern in der Schule, dass lediglich ein Drittel der Lehrpersonen bei der Korrektur überhaupt Wörterbücher verwendet. Daraus ergaben sich 368 Adriana Gatta für mich die Frage, welche Wörterbücher die Lehrpersonen verwenden, und die Annahme, dass sie zur Korrektur kaum unterschiedliche Wörterbücher benutzen. Da die Schweiz über keinen eigenen Binnenkodex verfügt, müssten zur Korrektur von Helvetismen mehrere Wörterbücher konsultiert werden (vgl. Kapitel 5.2.1.). Bei der These, dass Helvetismen auf der lexikalischen Ebene häufiger korrigiert werden als Helvetismen auf den anderen Ebenen, wurde davon ausgegangen, dass überwiegend lexikalische Helvetismen im Bewusstsein vorhanden sind, denn der Begriff „Helvetismus“ wird laut Rash (2002: 135) am häufigsten auf den schweizerdeutschen Wortschatz bezogen. Zudem bestehen die meisten sprachlichen Unterschiede zwischen der schweizerischen und der deutschen Varietät auf der lexikalischen Ebene (Schläpfer 1979: 153). Bei den übrigen Thesen spielten aussersprachliche Faktoren eine wichtige Rolle, denn diese beeinflussen das Sprachverständnis massgebend. Ein wichtiger Faktor ist das Alter der Lehrpersonen. Es wurde vermutet, dass jüngere Lehrpersonen weniger Helvetismen korrigieren, da eventuell das Konzept der Plurizentrik des Deutschen bekannter ist. Bei Lehrpersonen spielt nicht nur das Alter für die Korrektur eine Rolle, sondern auch die Unterrichtsdauer und damit die Unterrichtserfahrung. Zusätzlich wurde nach dem höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss gefragt. Die Abschlüsse variieren je nach Alter der Lehrpersonen, da das Schulsystem mehrfach reformiert wurde. Es wurde angenommen, dass Lehrpersonen mit höheren Schulabschlüssen weniger tolerant gegenüber Helvetismen sind und diese darum öfter korrigieren. Diese These geht auf die Annahme zurück, dass auf den höheren Schulstufen mehr Wert auf eine „korrekte“ Sprache gelegt wird. 5. Methodisches Vorgehen 5.1. Konzipierung des Fragebogens Um die Fragestellung, wie Lehrpersonen auf Sekundarstufe II mit nationalen Varianten der Schweiz umgehen, untersuchen zu können, wurde ein Fragebogen konzipiert. Damit keine Beeinflussung der Probanden stattfinden kann, ist der Titel des Fragebogens möglichst neutral: „Umfrage über das Korrekturverhalten von Deutschlehrpersonen“: Die Termini Helvetismus, nationale Varianten der Schweiz sowie nationale Besonderheiten der Schweiz werden im Fragebogen bewusst nicht erwähnt. Der Fragebogen besteht insgesamt aus drei Teilen. Der erste Teil enthält einen entworfenen Beispielaufsatz, in dem Helvetismen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen enthalten sind. Es werden keine Angaben darüber gemacht, wie Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 369 der Aufsatz zu korrigieren ist. Dadurch soll gewährleistet werden, dass die Lehrpersonen den Beispielaufsatz wie im normalen Schulalltag üblich korrigieren. Der zweite Teil des Fragebogens enthält Beispielsätze mit Helvetismen, die ebenfalls aus verschiedenen sprachlichen Ebenen stammen. Pro untersuchtem Helvetismus sind jeweils zwei Beispielsätze vorhanden. Ein Satz enthält einen Helvetismus, der andere das österreichische oder deutsche Pendant 7 dazu. Es wird darauf hingewiesen, dass die Lehrpersonen ohne die Verwendung von Hilfsmitteln wie Wörterbüchern spontan entscheiden sollen, welchen Satz sie als stilistisch korrekt empfinden. Mehrfachantworten sind möglich. Die letzten Fragen beziehen sich auf die Verwendung von Wörterbüchern. Es wird gefragt, welche Wörterbücher die Lehrpersonen und die Schüler während des Unterrichts verwenden und wozu diese gebraucht werden. Zudem wird konkret danach gefragt, welche Wörterbücher bei der Korrekturarbeit der Lehrpersonen zum Einsatz kommen. Im letzten Teil des Fragebogens werden persönliche Angaben der Befragten wie Alter, Staatsangehörigkeit, Schulabschluss, Unterrichtsstufe und Unterrichtsjahre erhoben, um die Ergebnisse auch nach aussersprachlichen Faktoren auswerten zu können. 7 Es ist wichtig, dass die Beispielsätze gut durchmischt sind. Wenn der Helvetismus immer im ersten Satz vorhanden wäre, könnte eine Beeinflussung der Versuchspersonen herbeigeführt werden, da bewusst oder auch unbewusst eine Ordnung zu erkennen ist. 370 Adriana Gatta Ein verrückter Tag Gestern war defi nitiv nicht mein Tag. Als ich am Morgen mit dem Velo in die Schule fahren wollte, war die Velo kette defekt. Also musste ich das Tram nehmen. Ich war spät dran. Als ich über den Fussgängerstreifen rannte, verlor ich einen Turnschuh. Der Schuhbändel war gerissen und mein Turnschuh lag mitten auf dem Fussgängerstreifen . Ich ging zurück, um meinen Schuh zu holen und wäre beinahe auf dem Trottoir gestolpert. Nur ganz knapp erwischte ich noch das Tram . Kaum bin ich hingesessen , sah ich den Kondukteur . Wie konnte es auch anders sein, mein Billet lag zu Hause auf dem Pult. Doch ich hatte Glück, der Kondukteur stieg mit einem jungen Mann an der nächsten Haltestelle aus. Abgeschlagen kam ich in der Schule an. Das Mittagessen sah vielversprechend aus. In der Mensa gab es zur Vorspeise Nüsslisalat , auf Wunsch mit Ei und Speck. Der Hauptgang bestand aus einem Umfrage über das Korrekturverhalten von Deutschlehrpersonen Im Rahmen meiner Masterarbeit im Fachbereich der Sprachwissenschaft an der Universität Basel untersuche ich das Korrekturverhalten von Deutschlehrpersonen auf Sek II Niveau. Der Fragebogen beinhaltet einen Aufsatz, einige spezifi sche Fragen zum Thema und Angaben zu Ihrer Person. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sich ein wenig Zeit nehmen könnten, um den folgenden Aufsatz zu korrigieren und die anschliessenden Fragen spontan und ohne lange zu überlegen zu beantworten. Die persönlichen Angaben sind notwendig, um den Fragebogen auswerten zu können. Alle Angaben bleiben anonym. Falls Sie sich entschliessen, an der Umfrage teilzunehmen, bitte ich Sie, den Fragebogen bis spätestens Mitte Mai an mich zurückzusenden. Das frankierte Antwortcouvert liegt bei. Herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit Freundliche Grüsse Adriana Gatta Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 371 Fleischvogel mit Rüebli und Kartoffelstock . Beim Dessert konnte man wählen zwischen einer Glace , verschiedenen Guetzli oder einer Fotzelschnitte . Ich entschied mich für die Fotzelschnitte . Für eine Glace war es mir zu kalt und die Guetzli sahen trocken aus. Meine Entscheidung war richtig, denn die Fotzelschnitte war sehr lecker. Meine Freundin Linda tönte an , dass sie den Unterricht am Nachmittag nicht besuchen werde. Sie wolle noch in die Stadt fahren und so fragte sie mich, ob ich nicht Lust hätte, mit zu gehen. Eigentlich getraute ich mich nicht richtig, der Schule fern zu bleiben. Doch nach dem hektischen Morgen entschloss ich mich, mit Linda in die Stadt zu gehen. Direkt nach dem Mittagessen machten wir uns auf den Weg in die Stadt. Wir gingen zu Fuss, da das Wetter herrlich war. Wir liefen an zwei eindrücklichen Pärken vorbei, die voller Blumen waren. Ennet dem kleinen Park befindet sich ein kleiner See, indem wir im Sommer oft schwimmen gehen. An den Wochenenden parkieren die Besucher bis hin zur Schule, weil der See so beliebt ist. Wenn es lange warm ist, fängt der See an zu fischeln , aber das Baden macht dennoch Spass. In der Stadt angekommen, liefen wir am Geschäft von Lindas Vater vorbei. Er ist Coiffeur und besitzt ein grosses Coiffeur geschäft mitten in der Stadt. Ein Praktikant wischte gerade die Treppen vor dem Geschäft. Lindas älterer Bruder zügelte an diesem Tag in eine neue Wohnung und der Vater half ihm dabei. Folglich war er nicht im Geschäft und so konnten wir ohne Probleme vorbei laufen . Wir gingen in das neu eröffnete Tea-Room , denn wir hatten Durst. Das Tea-Room war sehr chic . Ich zückte mein Portemonnaie und zahlte unsere Getränke. Anschliessend gingen wir in ein Kleidergeschäft. Linda wollte unbedingt ein neues Bikini . Sie ging in die Umkleidekabine und probierte drei verschiedene Bikinis an. Sie kaufte das Bikini welches Aktion war. Ich probierte einen Jupe , der gefiel mir jedoch nicht. Wir waren schon fast aus dem Geschäft raus, da sah ich ein blaues Pyjama . Das musste ich einfach haben. Als wir aus dem Kleidergeschäft kamen, sahen wir Mike, einen Freund von Lindas Bruder. Er kam aufgestellt auf uns zu und fragte, ob wir am Abend auch an dem Fussballmatch sein würden. Er meinte, da so schönes Wetter sei, würden sie nach dem Match grillieren . Wir erwähnten, dass wir uns das noch überlegen würden und verabschiedeten uns von Mike. Es war spät geworden und wir machten uns auf den Heimweg. Im Tram hatte es viele Mütter mit ihren zwängelnden Kindern. Linda und ich waren froh, als wir endlich aussteigen konnten. Zu Hause angekommen, erwartete mich schon meine Mutter. Ich sah an ihrem Gesicht, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie wusste, dass ich am Nachmittag nicht in der Schule war. Als Strafe musste ich das Badzimmer putzen. Als wäre das nicht genug, verdonnerte sie mich auch noch dazu, den Estrich aufräumen. Das war ein verrückter Tag. 372 Adriana Gatta Nr.: Fragen 1 Welche der folgenden Varianten würden Sie in einem Aufsatz als (stilistisch) korrekt markieren? (spontan, ohne nachzuschlagen, Mehrfachantwort möglich) □ Lukas geht mit dem Einzahlungsschein auf die Post. □ Lukas geht mit dem Zahlschein auf die Post. □ Die Salami kostet 5 Franken. □ Der Salami kostet 5 Franken. □ Skijacken sind jetzt in Aktion. □ Skijacken sind jetzt Aktion. □ Innerhalb eines Jahres ist er verstorben. □ Innert eines Jahres ist er verstorben. □ Ich muss am Abend an eine Sitzung . □ Ich muss am Abend zu einer Sitzung. □ Der Lehrer las das Tageblatt. □ Der Lehrer las das Tagblatt . □ Im Sommer werde ich campieren. □ Im Sommer werde ich campen. □ Ich habe an der Bushaltestelle gestanden. □ Ich bin an der Bushaltestelle gestanden. □ Die Fragebogen kamen rechtzeitig zurück. □ Die Fragebögen kamen rechtzeitig zurück. 2 Welche Wörterbücher benützen Sie und Ihre Lernenden im Unterricht? ……...............................................................................................................................…… 3 Wozu benützen Sie das Wörterbuch / Was schlagen Sie nach? ……...............................................................................................................................…… 4 Welche Wörterbücher verwenden Sie bei Ihrer Vorbereitungs-und Korrekturarbeit? ……...............................................................................................................................…… Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 373 Nr.: Persönliche Angaben 5 Nennen Sie bitte Ihr Geschlecht: Männlich □ Weiblich □ 6 Die Ergebnisse dieser Befragung werden für unterschiedliche Altersgruppen ausgewertet. Bitte nennen Sie dazu Ihr Geburtsjahr. 7 Nennen Sie bitte Ihren Geburtsort ……...............................................................................................................................…… 8 Nennen Sie bitte Ihren aktuellen Wohnort ……...............................................................................................................................…… 9 Nennen Sie bitte Ihre Staatsangehörigkeit ……...............................................................................................................................…… 10 Welchen höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss haben Sie? …….................................................................................................................................…. 11 In welcher Schule unterrichten Sie? (Name der Schule und Kanton) …….................................................................................................................................…. 12 Welche Schulstufe(n) unterrichten Sie? □ Berufliche Grundbildung EBA □ Berufliche Grundbildung EFZ □ Berufsmatur -> □ BM 1 □ BM 2 □ Gymnasiale Matur □ Erwachsenenbildung Andere: ……...............................................................................................................................…… 13 Wie lange unterrichten Sie auf dieser Stufe? ……...............................................................................................................................…… 374 Adriana Gatta 5.2. Auswahl der Helvetismen Die Entscheidung, welche Helvetismen untersucht werden, gestaltete sich als schwierig. Es stand jedoch fest, dass Helvetismen aus allen sprachlichen Ebenen untersucht werden sollen. Die von Rash (2002: 135-140) vorgenommene Einteilung der Sprachebenen schien am besten geeignet zu sein. Rash (2002: 135-140) unterscheidet zwischen Orthographie, Phonologie, Morphologie, Syntax, Wortschatz und semantischen Merkmalen. Die phonologischen Merkmale der nationalen Varianten der Schweiz wurden nicht berücksichtigt, da diese anhand eines Fragebogens nicht untersucht werden können. Die Wortschatzhelvetismen 8 , die untersucht wurden, liegen einer Wortschatzliste von Ammon (1995: 260) zugrunde. Den Wortschatz betreffend wurden Helvetismen aus den Bereichen Essen und Verkehr, sowie aus der Domäne „menschliches Verhalten“ ausgesucht. Dies hatte verschiedene Gründe. Zum einen sollten allgemein bekannte Helvetismen abgefragt werden, zum anderen solche, die eher weniger geläufig sind. Im Bereich Verkehr kommen viele bekannte Helvetismen vor, die als Lehnwörter in den schweizerischen Standard aufgenommen wurden. In der Domäne „menschliches Verhalten“ gibt es viele Helvetismen, die nicht oft gebraucht werden. Im Bereich Essen sind die meisten Helvetismen mundartlich geprägt, da sich diese aus den Dialekten entwickelt haben. Mittlerweile gehören diese zum Standard und sind kodifiziert. Da lexikalische Helvetismen am häufigsten vorkommen, sollten diese einen möglichst differenzierten Hintergrund haben. Die grammatischen Helvetismen im Fragebogen wurden nach der Einteilung und den Beispielen von Rash (2002: 135-140) ausgewählt. Im Bereich der Morphologie 9 wurden Helvetismen mit verschiedenen Ableitungssuffixen und unterschiedlicher Wortbildung ausgewählt. Unterschiede im Genus, bei Präpositionen und Verbformen werden zu den syntaktischen 10 Merkmalen gezählt. Die Zuteilung der Helvetismen in Orthographie 11 und semantische 12 Merkmale wurde von mir vorgenommen. Schlussendlich wurden insgesamt 49 Wörter zur Untersuchung in den Fragebogen aufgenommen. Bei der Suche nach geeigneten Helvetismen wurde 8 Lexikalische Helvetismen: Velo , Fussgängerstreifen , Schuhbändel , Kondukteur , abgeschlagen , Nüsslisalat , Fleischvogel , Rüebli , Kartoffelstock , Glace , Guetzli , Fotzelschnitte , antönen , getrauen , eindrücklich , zügeln , aufgestellt , zwängeln . 9 Morphologiehelvetismen (Verbalsuffix -ieren ): parkieren , grillieren , campieren ; (ohne Fugen -e ): Badzimmer , Tagblatt ; (Pluralumlaut): Pärke , Fragebögen ; (Suffix -eln ): fischeln . 10 Syntaxhelvetismen (Genusunterschied): das Bikini , das Pyjama , der Salami , das Tram , das Tea-Room ; (Präpositionen): innert + Akk., ennet + Dat., an + Akk. für einen Termin, an + Dat. für einen Sportanlass; (Verbvergangenheit sein ): sitzen , stehen . 11 Orthographiehelvetismen: Billet , Coiffeur , Portemonnaie , chic , Jupe , Trottoir , Dessert . 12 Semantische Helvetismen: Aktion , Estrich , Einzahlungsschein , wischen , laufen . Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 375 auf bereits vorhandene Listen anderer Autoren zurückgegriffen. So sollte sichergestellt werden, dass es sich bei den ausgesuchten Wörtern tatsächlich um Helvetismen handelt. So musste zur Überprüfung, ob es sich bei den Wörtern um Helvetismen handelt, lediglich die vorgefertigte Liste anhand von Kodizes überprüft werden. Die Frequenz der Helvetismen wurde ausser Acht gelassen. Um ein möglichst differenziertes Korrekturbild der Lehrpersonen zu erhalten wurden auch selten verwendete Helvetismen untersucht. 5.2.1. Wörterbücher Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland verfügt die Schweiz über keinen eigenen Binnenkodex. Die Standardsprache der deutschsprachigen Schweiz wird durch einen Aussenkodex bestimmt, der in Deutschland hergestellt wird. Dies hat zur Folge, dass die schweizerische Standardsprache nirgendwo als Ganzes erfasst, dokumentiert und kodifiziert ist. Um die Gesamtheit der schweizerischen Varietät abbilden zu können, müssen demnach verschiedene Kodizes verwendet werden. Zur Bestimmung der Helvetismen wurden in meiner Arbeit sechs verschiedene Kodizes verwendet. Tabelle 1 zeigt einerseits die zur Bestimmung der Helvetismen verwendeten Kodizes, andererseits wie viele der im Fragebogen verwendeten Helvetismen in den verschiedenen Wörterbüchern vorkommen. Es zeigt sich, dass bezüglich der Helvetismen ein enormer Unterschied zwischen den einzelnen Wörterbüchern besteht. Das Vorkommen von Helvetismen in den Kodizes reicht von 60 %-94 %. Um die Ergebnisse interpretieren zu können, ist es wichtig zu wissen, welche methodische und lexikographische Orientierung die verschiedenen Kodizes haben. Grundsätzlich kann zwischen drei verschiedenen Ausrichtungen unterschieden werden: • Die Wörterbücher unterscheiden nicht zwischen dem Grundwortschatz und den Helvetismen. (Schweizer Schülerduden) • Die Wörterbücher zeigen hauptsächlich den standardsprachlichen Grundwortschatz, berücksichtigen jedoch zusätzlich Helvetismen 13 . (Duden online, Unser Wortschatz) • Die Wörterbücher berücksichtigen nur Helvetismen. (Duden Schweizerhochdeutsch, Schweizer Wörterbuch) 13 Die in den Wörterbüchern vorkommenden Helvetismen werden mit „schweiz.“ oder „schweizerisch“ markiert. So kann zwischen Helvetismen und dem allgemeingültigen Grundwortschatz unterschieden werden. 376 Adriana Gatta Stichwörter Prozent % Unser Wortschatz 29 60 Duden online 31 65 Schweizer Schülerduden 32 67 Duden Schweizerhochdeutsch 38 79 Schweizer Wörterbuch 42 88 Variantenwörterbuch 45 94 Tab. 1: Verzeichnete Helvetismen in den Wörterbüchern in % (n=48) Das Variantenwörterbuch bildet eine Ausnahme, indem es zwar nur nationale oder regionale Besonderheiten aufzeigt, jedoch aus allen drei Vollzentren der deutschen Sprache, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Ergebnisse des Schweizer Schülerdudens und des Duden online müssen genauer ausgeführt werden. Der Schweizer Schülerduden umfasst über 25 000 Stichwörter (vgl. Sturm 2006: 5). Die Wörter besitzen keinerlei Markierungen. Folglich ist es nicht möglich, zu bestimmen, wie viel der im Wörterbuch vorkommenden Wörter Helvetismen sind. Somit kann keine Aussage darüber gemacht werden, ob es sich bei den 67 % in Tabelle 1 wirklich um Helvetismen handelt oder ob einige dem gesamtdeutschen Wortgut zuzurechnen sind. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass sich der Schweizer Schülerduden nicht als Kodex eignet. Im Duden online kann bei den untersuchten Wörtern unterschieden werden zwischen nicht enthalten, als mundartlich markiert, als schweizerisch markiert oder gar nicht markiert. Ein Grossteil der 48 untersuchten Wörter kommen bei Duden online als nicht markierte Beiträge vor und gelten somit nicht als Helvetismen, sondern haben eine gesamtdeutsche Bedeutung. Wie in Tabelle 1 sichtbar, enthält kein Wörterbuch 100 Prozent der untersuchten Helvetismen. Diese Tatsache zeigt, dass ein Wörterbuch alleine nicht ausreicht, um die Richtigkeit der nationalen Varianten der Schweiz zu bestimmen. 5.2.2. Helvetismen im Fragebogen Wie bereits erwähnt, wurden insgesamt 49 Wörter, die von anderen Autoren als Helvetismen definiert wurden, in den Fragebogen aufgenommen. Nach der Überprüfung in den vorgestellten Wörterbüchern zeigte sich, dass die Helve- Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 377 tismen nicht eindeutig definiert sind. Beispielsweise wird das Wort ‚aufgestellt‘ im Sinne von ‚munter‘, ‚fröhlich‘ nur im Variantenwörterbuch als Helvetismus aufgeführt. Im Duden Schweizerhochdeutsch ist das Wort zwar verzeichnet, jedoch mit der Markierung „mundartnah“. Somit zählt es nicht zur Standardsprache und kann nicht berücksichtigt werden. In allen anderen Wörterbüchern ist das Wort nicht zu finden. Durch das heterogene Vorkommen in den Kodizes und die uneinheitliche Definition von Helvetismen muss definiert werden, was in diesem Bericht als Helvetismus gilt. Es gilt alles als Helvetismus, was in den Wörterbüchern nicht als umgangssprachlich, mundartnah oder gemeindeutsch definiert ist oder klar als schweiz. oder schweizerisch markiert ist. Es spielt keine Rolle, ob der Ausdruck auch in einem anderen deutschsprachigen Raum gebräuchlich ist, sofern er nicht in allen deutschsprachigen Ländern verwendet wird. In der Literatur besteht Uneinigkeit darin, ob lediglich spezifische Varianten oder auch unspezifische Varianten als Helvetismen definiert werden. Im vorliegenden Bericht gelten sowohl spezifische wie auch unspezifische Varianten als Helvetismen. Sachspezifika gelten nicht als Helvetismen, da diese ausschliesslich schweizerische Sachen und Gegenstände beschreiben und keine Entsprechungen in den anderen deutschsprachigen Ländern besitzen. Nach der aufgestellten Definition für meine Arbeit wurden die 49 ausgewählten Wörter erneut überprüft. Es stellte sich heraus, dass ein Wort 14 in keinem der Wörterbücher eindeutig bestimmt ist. Aus diesem Grund konnte es in meiner Arbeit nicht als Helvetismus definiert werden. Es ist zu erwähnen, dass im zweiten Teil des Fragebogens, bei den Beispielsätzen, unbemerkt ein dialektaler Ausdruck 15 von mir verwendet wurde. Schlussendlich untersuchte ich in meiner Arbeit insgesamt 48 Helvetismen, die durch die unterschiedlichen Wörterbücher als solche definiert werden und zwei Mundartausdrücke. 14 Bei dem Wort handelt es sich um laufen im Sinne von ‚gehen‘. Dieses kommt lediglich im Wörterbuch Unser Wortschatz von Bigler vor. Bigler gibt keine genaue Definition wie laufen zu verstehen ist. Als Beispiel wird angefügt: „das Kind kann schon laufen“. Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, in welchen Sinn laufen zu verstehen ist. Im Variantenwörterbuch wird laufen im Sinne von ‚gehen‘ als Grenzfall des Standards bezeichnet. 15 Beim Ausdruck handelt es sich um die Präposition auf anstelle von zu . Der Beispielsatz lautet: „Lukas geht mit dem Einzahlungsschein auf die Post.“ Als Standard wird sowohl in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Präposition zu verwendet. Laut dem Duden Schweizerhochdeutsch und dem Variantenwörterbuch des Deutschen kann auf + Dat. statt in in der Schweiz in Verbindung mit öffentlichem Grund und Boden ( auf dem Stadtgebiet ) oder in übertragener räumlicher Verwendung ( auf dem Büro ) benutzt werden. auf + Akk. anstelle von zu wie im Beispielaufsatz ist in keinem Wörterbuch zu finden. Aus diesem Grund muss angenommen werden, dass dieser Ausdruck lediglich mundartlich verwendet wird. 378 Adriana Gatta 6. Datenerhebung In meiner Arbeit wurden ausschliesslich Lehrpersonen der Sekundarstufe II berücksichtigt. Diese Schulstufe eignet sich gut, um die Korrektur von Helvetismen in Aufsätzen zu untersuchen, da auf dieser Schulstufe häufig Aufsätze geschrieben werden. In der Schweiz zählen die gymnasiale Maturität, die Fachmittelschule und die Fachmatur sowie die Berufliche Grundbildung 16 und Berufsmatur zur Sekundarstufe II . Die Berufliche Grundbildung und die Berufsmaturität wird an Berufsschulen, Berufsbildungszentren oder anderen Bildungszentren angeboten (vgl. educa 2015: Berufliche Grundbildung). Die Lernenden sind meistens lediglich zwei Tage in der Schule und die restlichen Tage im Betrieb. Dadurch ist die Anzahl der Deutschstunden gering und die Deutschlehrpersonen unterrichten nicht nur mehrere Klassen, sondern auch auf verschiedenen Stufen innerhalb der Schule. Die gymnasiale Maturität wird an Kantonsschulen angeboten und vermittelt in Vollzeit eine schulische Ausbildung. Die Anzahl der Deutschstunden ist bei diesem Schultyp wesentlich höher. Die Fachmittelschulen, ehemals Diplommittelschulen, befinden sich ebenfalls in den Gebäuden der Kantonsschulen. So unterrichten die Deutschlehrpersonen ebenfalls verschiedene Klassen und Stufen. Der Niveauunterschied zwischen Gymnasium und Fachmittelschule ist wesentlich geringer als bei den verschiedenen Typen der Beruflichen Grundbildung. 6.1. Auswahl der Schulen Ziel meiner Umfrage war es, Deutschlehrpersonen auf allen Stufen der Sekundarstufe II zu befragen. Berücksichtigt wurde dabei nur die deutschsprachige Schweiz. Von der Umfrage ausgeschlossen wurden daher alle Kantone, die Deutsch nicht als Amtssprache besitzen und alle Kantone, in denen Deutsch zwar Amtssprache ist, jedoch eine andere Landessprache als Amtssprache überwiegt. Nicht berücksichtigt wurde der Kanton Appenzell Innerrhoden, da dieser nicht alle zu untersuchenden Schulstufen besitzt. Kantone, die sich an einer Landesgrenze 17 mit deutschsprachigen Nachbarländern befinden, wurden 16 Die Berufliche Grundbildung ist in drei Sektoren unterteilt: zweijährige Lehre mit eidgenössischen Berufsattest (EBA); drei- oder vierjährige Lehre mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ); Berufsmatur lehrbegleitend (BM1); Berufsmatur nach der Lehre (BM2). Vgl. Bundesamt für Statistik (BFS)(2015): Das Bildungswesen in der Schweiz. 17 Es wurden nur Kantone mit über 15 % Gesamtgrenze berücksichtigt: Aargau (AG), Basel- Stadt (BS), Graubünden (GR), St. Gallen (SG). Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 379 gezielt für die Umfrage ausgewählt. Aus den restlichen 13 deutschsprachigen Kantonen wurden zufällig 9 18 Kantone ausgewählt. In der Umfrage wurden nur öffentliche Schulen berücksichtigt. Je nach Kanton variieren die Anzahl der verschiedenen Schultypen der Sekundarstufe II . Viele Kantone besitzen lediglich eine Berufsschule oder ein grosses Berufsbildungszentrum. Daher wurden alle in den Kantonen vorhandenen beruflichen Bildungszentren angeschrieben. Bezüglich der Schulstufe gymnasiale Maturität bietet sich ein ähnliches Bild. Viele Kantone haben lediglich eine Kantonsschule. Falls die Kantone über mehrere Kantonsschulen verfügen, wurden bei Kantonen mit einer Landesgrenze vier Schulen angefragt, bei den restlichen Kantonen jeweils 3 Schulen. Abbildung 1 zeigt die Anzahl der angefragten Schulen, unterteilt in Kantonsschulen und Berufsschulen in den ausgesuchten Kantonen. 0 1 2 3 4 5 6 7 AG AR BL BS BE GR LU SG SH SO SZ UR ZH Angefragte Schulen je ausgewähltem Kanton Angefragte Schulen Kantonsschule Berufsschule n=49 Abb. 1: Angefragte Schulen je ausgewältem Kanton 6.2. Auswahl der Lehrpersonen Um die erstellten Fragebögen an die Lehrer der ausgewählten Schulen zu bringen, wurde immer nach demselben Schema vorgegangen. Zunächst wurde die E-Mailadresse des Sekretariats der ausgewählten Schulen gesucht. Dabei ergaben sich bereits erste Schwierigkeiten. Viele Schulen haben keine öffentliche 18 Appenzell Ausserrhoden (AR), Bern (BE), Basel-Landschaft (BL), Luzern (LU), Solothurn (SO), Schaffhausen (SH), Schwyz (SZ), Uri (UR), Zürich (ZH). 380 Adriana Gatta E-Mailadresse. Es konnte nur via Onlineformular Kontakt hergestellt werden. Einige Schulen geben auf ihren Homepages lediglich die E-Mailadresse der Rektoren an. Die in Abbildung 1 ausgesuchten 49 Schulen konnten schlussendlich alle mit einer E-Mail angeschrieben werden. Von insgesamt 19 angeschrieben Schulen kamen keine Rückmeldungen. An 10 Schulen wurde die E-Mail an die Fachverantwortlichen weitergeleitet, jedoch ohne weiteren Erfolg. 5 Schulen sagten offiziell ab. Alle anderen Schulen sagten ohne Angabe von Gründen ab. Mit insgesamt 15 Schulen konnte mit den Fachverantwortlichen für das Fach Deutsch via E-Mail Kontakt aufgenommen werden. Die Fachverantwortlichen fragten in den Fachsitzungen nach, wie viele Deutschlehrpersonen Interesse hätten, an der Umfrage teilzunehmen. Das Resultat leiteten sie an mich weiter. Damit die Lehrpersonen möglichst wenig Aufwand mit der Retournierung der Fragebögen auf sich nehmen mussten und ihnen keine zusätzlichen Kosten für die Teilnahme entstanden, wurde die verlangte Anzahl der Fragebögen ausgedruckt und inklusive frankierten Antwortcouverts an die Fachverantwortlichen versendet. Diese leiteten die Fragebögen an die Fachschaft weiter. Schlussendlich wurden 180 Fragebögen an 16 Schulen in 9 Kantonen versendet. In der Fachliteratur wird bei einer schriftlichen Befragung von einer Rücklaufquote um die 20 % ausgegangen (vgl. Albert & Marx 2010: 61). Von den 180 versendeten Fragebögen wurden 65 retourniert. Davon waren jedoch nur 54 korrekt und vollständig ausgefüllt, obwohl auf der ersten Seite genau beschrieben wurde, was im Fragebogen zu beachten ist. In den meisten unvollständig ausgefüllten Fragebögen wurde keine Aufsatzkorrektur vorgenommen 19 , sondern nur die Fragen beantwortet. Es kann angenommen werden, dass der Zeitaufwand für die Korrektur des Aufsatzes zu gross war und nur der Teil ausgefüllt wurde, bei dem die Befragten lediglich ankreuzen konnten. Ein Fragebogen war zwar komplett ausgefüllt aber leider unleserlich. Die Rücklaufquote der korrekt ausgefüllten Fragebögen belief sich auf 30 % und liegt somit über dem Durchschnitt. Abbildung 2 zeigt die Verteilung der korrekt und vollständig ausgefüllten Fragebögen je Kanton und Schule. Mit insgesamt 12 retournierten Fragebögen füllte der Kanton Basel-Stadt die meisten Fragebögen aus. Die Kantonsschule Zürcher Oberland füllte mit 8 retournierten Fragebögen die meisten Fragebögen pro Schule aus. Im Kanton Schaffhausen füllte lediglich der Fachverantwort- 19 Es besteht die Möglichkeit, dass die Lehrpersonen am Aufsatz einfach nichts zu bemängeln hatten. Neben den Helvetismen befanden sich jedoch zwei weitere Fehler im Fragebogen. In der Mitte wurde „indem“ statt „in dem“ geschrieben und ganz zum Schluss „aufräume“ statt „aufzuräumen“. Wenn diese Fehler nicht verbessert wurden, kann davon ausgegangen werden, dass gar keine Korrektur stattgefunden hat. Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 381 liche den Fragebogen aus. Schlussendlich nahmen 54 Deutschlehrpersonen aus 9 Kantonen und 16 Schulen an der Umfrage teil. 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Kantonsschule Baden Kantonsschule Zofingen Freies Gymnasium Bern Gymnasium Münchenstein Bildungszentrum KvBL Beurfsfachschule Basel Freies Gymnasium Basel Handelsschule KV Basel Wirtschaftsschule KV Chur Bündner Kantonnsschule Kantonsschule Alpenquai Kantonsschule Sursee Beurfsbildungszentrum Olten Kantonsschule Olten Kantonsschule Schaffhausen Kantonsschule Zürcher Oberland AG BE BL BS GR LU SO SH ZH Anzahl ausgefüllter Fragebögen pro Kanton und Schule Anzahl korrekt und vollständig ausgefüllter Fragebögen n=54 Abb. 2: Anzahl ausgefüllter Fragebögen pro Kanton und Schule 7. Untersuchungsergebnisse Die Ergebnisse der vorliegenden Auswertung zeigen auf, wie die 54 teilnehmenden Lehrpersonen der Sekundarstufe II Helvetismen in Aufsätzen korrigieren und wie sie diese bewerten. Jede Lehrperson hat ihre eigenen Methoden, um Aufsätze zu korrigieren. Dennoch stellen die durch die Umfrage gewonnenen Daten klare Korrekturtendenzen dar. Die Untersuchung erbringt durch empirisch abgesicherte Aussagen zum Korrekturverhalten von Lehrpersonen neue Erkenntnisse. 382 Adriana Gatta An der Umfrage nahmen 25 männliche und 29 weibliche Deutschlehrpersonen 20 (LPs) auf Sekundarstufe II teil. Wie in Abbildung 3 sichtbar, sind die meisten LPs (23) zwischen 50 und 59 Jahre alt. Lediglich 5 LP s sind über 60 Jahre alt. 23 der teilnehmenden Personen gaben an, einen Universitätsabschluss zu haben. 16 LP s besitzen ein Abitur oder eine Matur. 8 LP s haben zusätzlich zu einem universitären Abschluss die Ausbildung zum höheren Lehramt absolviert. 5 LPs besitzen einen Doktortitel und 2 schlossen an einer Universität mit dem Bachelor ab. Die LP s unterrichten in allen Bereichen der Sekundarstufe II . Die meisten LP s (12) haben eine Unterrichtserfahrung von 6-10 Jahren, gefolgt von 10 LP s mit 11-15 Jahren Berufserfahrung. Nur eine LP hat eine Unterrichtserfahrung von 31-35 Jahren und 2 LP s unterrichten schon seit mehr als 36 Jahren. 10 16 23 5 0 5 10 15 20 25 30-39 40-49 50-59 60-69 Altersverteilung der LPs (n=54) Abb. 3: Altersverteilung der LP s 20 Für die Auswertung werden die Deutschlehrpersonen der Sekundarstufe II mit LP abgekürzt. Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 383 30,6 69,4 Anzahl korrigierter Helvetismen in % korrigierte Helvetismen nicht korrigierte Helvetismen Abb. 4: Anzahl korrigierter Helvetismen im Beispielaufsatz Wie in Abbildung 4 zu sehen ist, korrigierten die LP s, die an der Umfrage teilnahmen, 30.6 % der im Beispielaufsatz vorkommenden Helvetismen. Am häufigsten, mit 41 Korrekturen, wurde ennet verbessert. Abgeschlagen und fischeln belegen mit jeweils 38 Korrekturen den zweiten Platz. An dritter Stelle liegt zügeln mit 33 Korrekturen. Laufen an Stelle von gehen wurde von 54 möglichen Korrekturen nur 8-mal verbessert, obwohl es sich hierbei laut Definition nicht um einen Helvetismus handelt und korrigiert werden müsste. Am seltensten korrigiert wurde Fussgängerstreifen mit 2 Verbesserungen. Alle Helvetismen wurden ausnahmslos mindestens einmal korrigiert, obwohl diese laut der Theorie der Plurizentrik nicht verbessert werden dürfen. Somit kann Ammons Aussage, dass Helvetismen korrigiert werden, obwohl sie als gleichwertig mit der deutschen Varietät gelten, bestätigt werden (vgl. VWB 2004: XXXII ). Es scheint so, dass den LP s auf Sekundarstufe II das Konzept der Plurizentrik des Deutschen nicht bekannt ist, oder sie dieses nicht anwenden. Um eine mögliche Unsicherheit bei der Bewertung und Korrektur der Helvetismen aufzuzeigen, wurde untersucht, ob LP s die Morphologiehelvetismen -ieren , Fugen -e , Pluralumlaut und der Syntaxhelvetismus Verbplural in den Aufsätzen korrigieren. Die Ergebnisse wurden mit der Bewertung der Beispielsätze verglichen. Wenn nun also eine LP im Aufsatz einen der genannten Helvetismen korrigiert, jedoch in den Beispielsätzen diesen als korrekt ansieht oder wenn die LP einen Helvetismus im Aufsatz nicht korrigiert, ihn aber in den Beispielsätzen als stilistisch falsch markiert, kann davon ausgegangen werden, dass eine Unsicherheit bezüglich Korrektur und Bewertung von nationalen Varianten der Schweiz vorhanden ist. Die meisten Unsicherheiten zeigten sich bei der Ver- 384 Adriana Gatta wendung des Pluralumlauts. 28-mal waren sich die LP s unsicher, ob Fragebogen oder Fragebögen bzw. Park oder Pärke korrekt ist. Die Verbvergangenheit mit sein statt haben bei sitzen und stehen weist eine Unsicherheit von 26 auf. Das Weglassen des - e - bei Tagblatt wurde von allen 54 Teilnehmern als stilistisch korrekt empfunden, während Badzimmer von 22 LP s korrigiert wurde. Es zeigt sich, dass auch heute noch Unsicherheiten bei der Korrektur und Bewertung von Helvetismen vorhanden sind, nachdem Schläpfer bereits vor über 30 Jahren auf diese Problematik hingewiesen hat (vgl. Schläpfer 1983: 47). Orthographische Helvetismen 12 Semantische Helvetismen 19 Lexikalische Helvetismen 30 Morphologische Helvetismen 37 Syntaktische Helvetismen 47 Tab. 2: Korrigierte Helvetismen nach Ebenen in % Die These, dass Helvetismen auf der lexikalischen Ebene am häufigsten korrigiert werden, kann nicht bestätigt werden. In Tabelle 2 wird sichtbar, dass die syntaktischen schweizerischen Varianten mit 47 % weitaus am häufigsten korrigiert wurden, gefolgt von den Morphologiehelvetismen (37 %). Die lexikalischen Helvetismen liegen mit 30 % Korrekturanteil lediglich an dritter Stelle. Mit 12 % wurden die Orthographiehelvetismen weitaus am wenigsten verbessert. Bei den Syntaxhelvetismen wurde ennet am häufigsten bemängelt mit Aussagen wie Ausdruck, Stil, altertümlich, umgangssprachlich usw. Es wurde nur in 9 Fällen als Dialekt oder Schweizerdeutsch korrigiert. Gleich dahinter wurde das Bikini als falsch markiert, meistens mit der Bemerkung Grammatik. Lediglich 2 LP s schrieben bei der Korrektur, dass das Bikini schweizerdeutsch sei. Bei den Syntaxhelvetismen nach Präposition wurde hauptsächlich der Stil bzw. der Ausdruck bemängelt (21) gefolgt von Schweizerdeutsch (11). Die Syntaxhelvetismen nach Genusunterschied wurden insgesamt 32-mal als grammatische Fehler markiert, 9-mal als Dialekt und lediglich 4-mal als Helvetismus. Bei den Morphologiehelvetismen wurde fischeln 38-mal korrigiert gefolgt vom Fugen -e bei Badzimmer . Da lexikalische Helvetismen gängig sind und oft verwendet werden, ist die Toleranz ihnen gegenüber höher. Dies könnte ein Grund dafür sein, warum diese eher weniger korrigiert werden. Wie gezeigt werden konnte, werden die Syntaxhelvetismen hauptsächlich nicht deshalb korrigiert, weil sie als dialektal angesehen werden, sondern aus stilistischen Gründen. Bei den semantischen Helvetismen wurde Estrich in 2 Fällen durch Dachboden ersetzt Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 385 und 2mal als CH bezeichnet. Die 4 LP s die diese Korrekturen vorgenommen haben, sind entweder deutsche Staatsbürger oder besitzen sowohl die deutsche wie auch die schweizerische Staatsbürgerschaft. Die geringen Korrekturraten bei den semantischen und orthographischen Helvetismen könnten deshalb zustande kommen, weil nicht bemerkt wird, dass es sich um Helvetismen handelt und sie somit auch nicht als schlechtes Deutsch angesehen werden. LP s, die promoviert haben, korrigierten im Beispielaufsatz durchschnittlich 15 Helvetismen, während die an der Umfrage teilnehmenden LP s mit Bachelorabschluss im Durchschnitt 18 Korrekturen vornahmen. Die wenigsten Verbesserungen nahmen LPs mit Universitätsbildung und zusätzlichem HLA Abschluss vor (9). Die LP s mit einer absolvierten Matur oder einem Abitur korrigierten im Schnitt 13 schweizerische Varianten, während LP s mit Master oder Lizenziat durchschnittlich 11 Helvetismen als falsch markierten. Die These, dass LP s mit einem höheren Bildungsabschluss Helvetismen öfter korrigieren, kann anhand der vorliegenden Daten nicht verifiziert werden. Das Korrekturverhalten wird durch die Bildungsstufe nicht beeinflusst. Es zeigt sich eine leichte Tendenz, dass die jüngsten LPs am tolerantesten beim Korrigieren von Helvetismen sind. Die 30-39-Jährigen, die jüngste Altersklasse, korrigierten im Durchschnitt 10 Helvetismen. Während die 40-49-Jährigen LP s mit durchschnittlich 13 Korrekturen gleichauf mit den 60-69-Jährigen liegen, zeigt sich bei den 50-59-Järigen ein leichter Rückgang auf 12 Korrekturen. 12 12 17 7 11 12 9 12 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Gymnasium Gymnasium, WMS, FMS Gymnasium, BM1+2, EFZ, EBA BM2 BM1+2, EFZ BM1, EFZ EFZ EFZ, EBA Durchschnittlich korrigierte Helvetismen nach Schulstufen Abb. 5: Durchschnittlich korrigierte Helvetismen nach Schulstufen 386 Adriana Gatta LP s unterrichten oft mehrere Schulstufen. Die niedrigsten Stufen, auf welchen die an der Umfrage teilgenommenen LP s unterrichten, sind EFZ und EBA . Durchschnittlich korrigierten die LP s auf dieser Schulstufe 12 Helvetismen. Die LP s, die nur auf der EFZ -Stufe Unterricht erteilen, korrigierten im Schnitt 9 Helvetismen, weniger also als die niedrigere Stufe. Auf der Schulstufe BM 2 wurden mit durchschnittlich nur 7 verbesserten schweizerischen Varianten die wenigsten Korrekturen vorgenommen. LP s, die auf der gymnasialen Schulstufe unterrichten, korrigierten 12 Helvetismen, genauso viele wie diejenigen, die zusätzlich zum Gymnasium an FMS oder WMS Klassen Unterricht erteilen. Diese LPs liegen mit durchschnittlich 12 Korrekturen gleichauf mit BM1, EFZ und EFZ, EBA . Die Hypothese, je niedriger die unterrichtete Schulstufe, desto weniger Helvetismen werden korrigiert, kann anhand der Daten nicht bestätigt werden. Die Auswertung zeigt auch auf, dass die LP s am Gymnasium die Helvetismen nicht am häufigsten korrigieren. Bei der Gesamtauswertung wurde zusätzlich eine Auswertung der Daten bezüglich der Nationalität vorgenommen. An der Umfrage haben überwiegend LP s teilgenommen, die ausschliesslich die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzen (45). Sechs LP s sind Doppelbürger und besitzen sowohl den schweizerischen als auch den deutschen Pass. Zwei LP s besitzen ausschliesslich den deutschen Pass. LPs mit deutscher Staatsbürgerschaft nahmen mit durchschnittlich 19 Korrekturen die meisten Korrekturen von Helvetismen vor. Die LP s mit Schweizer Pass sowie die mit einer deutsch-schweizerischen Doppelbürgerschaft korrigierten jeweils 12 nationale Besonderheiten der Schweiz. 8. Fazit Es konnte gezeigt werden, dass Helvetismen korrigiert werden, obwohl in der Theorie der Plurizentrik die nationalen Varianten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz als gleichberechtigt gelten. Dennoch ersetzen viele Lehrerinnen und Lehrer bei ihren Korrekturen Helvetismen durch allgemeindeutsche Wörter. Die meisten Korrekturen wurden durch Vermerke wie Ausdruck, Wort oder Stil ergänzt. Dies lässt darauf schliessen, dass Deutschlehrpersonen Helvetismen als unangemessen empfinden. Helvetismen können eine stilistische Markierung tragen und aus diesem Grund von Lehrpersonen auch als unpassend angesehen werden. Oft werden Helvetismen mit dialektalen oder mundartlichen Ausdrücken gleichgesetzt und deshalb abgelehnt. Helvetismen sind per Definition standardsprachlich und zählen somit nicht zu einem Dialekt oder einer Mundart. Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 387 Die Analyse der Daten ergab, dass sich die Lehrpersonen bei der Korrektur und Bewertung der schweizerischen Varianten unsicher sind. Dies zeigen sie durch ein widersprüchliches Korrekturverhalten. Lehrpersonen müssen sich bei Bewertungen und Korrekturen an die Vorgaben der eidgenössischen oder kantonalen Lehrpläne halten. Es konnte aufgezeigt werden, dass in den Rahmenlehrplänen für die Sekundarstufe II nicht geregelt ist, in welcher Sprachform geschrieben werden muss. Allgemein enthalten die Rahmenlehrpläne der Sek II kaum Informationen und Richtlinien zur schriftlichen Sprache. Was die Unterrichtssprache anbelangt, gibt es keine Einigkeit. Viele Begriffe werden synonym verwendet und selbst die für die Lehrpläne verantwortlichen Behörden können diese nicht immer erläutern. Kein einziger Rahmenlehrplan, weder auf der obligatorischen Schulstufe, noch auf der Sekundarstufe II , behandelt die Verwendung von Helvetismen in schriftlichen Texten. Aus diesem Grund ist es auch nicht verwunderlich, dass Deutschlehrpersonen bei der Korrektur von Helvetismen in Aufsätzen Probleme haben und Unsicherheiten aufweisen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Lehrpersonen bei der Korrektur auf ihre eigene Sprachkompetenz vertrauen. Helvetismen auf der lexikalischen Ebene sind nicht nur besonders häufig, sie fallen auch auf. Aus diesem Grund wurde vermutet, dass diese am meisten korrigiert werden. Die Auswertung der Daten ergab jedoch, dass vor allem Syntaxhelvetismen verbessert wurden. Die Korrekturen wurden aber nicht vorgenommen, weil es sich bei den Wörtern um Helvetismen handelt, sondern weil überwiegend grammatikalische Fehler darin gesehen wurden oder der Stil bemängelt wurde. Vor allem die unterschiedlichen Genera wurden bis auf wenige Ausnahmen als Grammatikfehler markiert. Es kann davon ausgegangen werden, dass den LP s nicht bewusst ist, dass die unterschiedlichen Genera nationale Varianten sind. Die korrigierten morphologischen Helvetismen wurden sehr oft als Dialekt oder Mundart bezeichnet und aus diesem Grund verbessert. Dies könnte daran liegen, dass diese Abweichungen im Gemeindeutschen absolut fremd sind. Weder der Pluralumlaut -änoch das Verbalaffix eln kommen in Deutschland vor. Durch den engen Kontakt mit der deutschen Varietät infolge des deutschen Medienkonsums kann es sein, dass die morphologischen Helvetismen als besonders mundartnah aufgefasst werden. Es kann daraus geschlossen werden, dass die lexikalischen Helvetismen auf Grund der Häufigkeit wohl mehr Akzeptanz erfahren als seltene oder „mundartnahe“. Es wurde angenommen, dass Deutschlehrpersonen mit einem höheren Schulabschluss mehr Wert auf eine „korrekte“ Sprache legen und aufgrund dessen Helvetismen, die oft als unschön oder dialektal bezeichnet werden, häufiger korrigieren. Es konnte festgestellt werden, dass kein Zusammenhang zwischen der Korrekturrate und dem Abschluss der LP s besteht. 388 Adriana Gatta Der Vermutung, dass jüngere Lehrerinnen und Lehrer toleranter gegenüber Helvetismen sind, liegt zu Grunde, dass diesen das Konzept der Plurizentrik durch das Studium bekannt ist. Die Auswertung zeigt nur eine geringe Tendenz dahingehend auf, dass jüngere Lehrpersonen gegenüber schweizerischen Varianten mehr Toleranz haben. Ob dies jedoch auf die Kenntnis der Plurizentrik zurückgeht, konnte nicht geklärt werden. Was die Korrektur bezüglich der Schulstufe betrifft, kann kein Zusammenhang nachgewiesen werden. Die Annahme, dass Lehrpersonen auf den Stufen EFZ und EBA weniger streng korrigieren, weil mehr Wert auf den Inhalt als auf die Sprache gelegt wird, kann nicht bestätigt werden. Da im Deutschunterricht auf der gymnasialen Stufe viele literarische Texte gelesen und rezipiert werden, bestand die Annahme, dass die Lehrpersonen mehr Wert auf eine „korrekte“ Sprache legen und aus diesem Grund Helvetismen öfter ablehnen. Die Daten weisen keinen Zusammenhang zwischen Schulstufe und der Korrektur von Helvetismen auf. Die vorliegende Arbeit hat klar aufgezeigt, dass Lehrpersonen, falls sie überhaupt von Wörterbüchern Gebrauch machen, überwiegend den Duden-Rechtschreibung oder allgemein die gesamte Duden-Reihe benutzen. Der Duden- Rechtschreibung dient auch heute noch als Standardwerk, obwohl er seit der Rechtschreibreform nicht mehr als amtliches Regelwerk gilt. Einige Lehrpersonen nutzen keine Wörterbücher und erklären den Lernenden unbekannte Wörter auf Grund ihres eigenen Sprachbewusstseins. Die Auswertung ergab, dass einige Deutschlehrpersonen Korrekturen vornahmen, die nicht sinngemäss 21 waren. Teilweise waren die vorgenommenen Korrekturen falsch geschrieben 22 . Wird die korrekte Schreibweise nicht eingehalten, kann dies zu Problemen für die Lernenden führen, falls andere Lehrpersonen wie beispielsweise Experten an einer Abschlussprüfung die Texte korrigieren. Neben Wörterbüchern in Buchform schlagen viele Lehrpersonen bei Unsicherheiten in Onlinewörterbüchern nach. An erster Stelle steht Duden online. Daneben wird aber auch in anderen Onlinewörterbüchern wie beispielsweise canoo.net nachgeschlagen. Eine Lehrperson nutzt bei Unsicherheiten auf Seiten der Lernenden gemeinsam mit den Schülern Wikipedia als Nachschlagewerk. Was die Frage nach der Verwendung unterschiedlicher Wörterbücher betrifft, zeigen die Daten klar auf, dass die Deutschlehrpersonen kaum unterschiedliche Wörterbücher für Vorbereitungs- oder Korrekturarbeiten verwenden. 21 Beispielsweise wurde fischeln zu ist voller Fische korrigiert und ennet zu unweit . Diese Korrekturen verändern den Sinn des Satzes. 22 Beispielsweise wurde ein Begriff als mundard bezeichnet statt mundart . Korrekturverhalten von Lehrpersonen bei Varianten der Schweizer Standardsprache 389 Es kann festgehalten werden, dass die Frage, ob Deutschlehrpersonen Helvetismen korrigieren, klar mit ja beantwortet werden muss. Dies kann verschiedene Gründe haben. Zum einen scheint den Lehrerinnen und Lehrern auf der Sekundarstufe II das Konzept der Plurizentrik nicht bekannt zu sein, das klar davon ausgeht, dass die nationalen Varianten der Schweiz zum Standard gehören. Zum anderen konnte aufgezeigt werden, dass die Lehrpersonen kaum Wörterbücher nutzen. Dies könnte ein weiterer Grund für die vorgenommenen Korrekturen sein. Abschliessend kann gesagt werden, dass kein Zusammenhang zwischen der Korrekturrate von Helvetismen und dem Abschluss der Lehrpersonen besteht. Jüngere Deutschlehrpersonen zeigen eine leichte Tendenz toleranter gegenüber Helvetismen zu sein als ältere. Ob dies jedoch auf die Kenntnis des Plurizentrikkonzeptes zurückzuführen ist, kann nicht geklärt werden. Dass Lehrpersonen, die auf niedrigeren Schulstufen unterrichten, weniger Helvetismen korrigieren, weil sie mehr Wert auf den Inhalt als auf die Sprache legen, kann nicht bestätigt werden. Auch die Annahme, dass lexikalische Helvetismen auf Grund ihres häufigen Vorkommens und ihrer Bekanntheit am häufigsten korrigiert werden, konnte nicht nachgewiesen werden. Die häufigsten Korrekturen wurden bei syntaktischen Helvetismen vorgenommen. 9. Ausblick Ziel der Arbeit war es aufzuzeigen, wie Deutschlehrpersonen auf der Sekundarstufe II mit nationalen Varianten der Schweiz umgehen. Im erstellten Fragebogen, mit welchem die Daten zur Fragestellung erhoben wurden, wurde absichtlich auf die Termini Helvetismus, nationale Varianten der Schweiz sowie nationale Besonderheiten der Schweiz verzichtet. Dadurch sollte die interne Validität gegeben sein und die erhaltenen Daten sollten dadurch ohne eine Beeinflussung der Versuchspersonen erhoben werden. Daher war es wichtig, dass die Versuchspersonen nicht wissen, worum es in der Befragung geht. Die Probanden dachten, dass lediglich das Korrekturverhalten von Deutschlehrpersonen auf der Sekundarstufe II untersucht wird. Nach der Auswertung der Ergebnisse hat sich gezeigt, dass viele Helvetismen korrigiert wurden, jedoch nicht, weil es sich um Helvetismen handelt, sondern weil die Lehrpersonen diese als allgemeine Fehler ansehen. Am häufigsten wurden Helvetismen auf der syntaktischen Ebene korrigiert mit der Begründung, es handle sich um grammatische Fehler. Des Weiteren werden Helvetismen oft mit Vermerken wie Ausdruck, Wort oder Stil versehen. Daraus lässt sich schliessen, dass die vorgenommenen Korrekturen nicht stattgefunden haben, weil es sich bei den 390 Adriana Gatta Wörtern um Helvetismen handelt. Hier stellt sich nun die Frage, ob die Deutschlehrpersonen die Helvetismen überhaupt erkennen. An dieser Stelle könnte untersucht werden, inwiefern die Deutschlehrpersonen Helvetismen erkennen und ob sie wissen, dass Helvetismen auf allen sprachlichen Ebenen vorkommen können. Dazu könnte mittels persönlichen Befragungen oder Fragebogen gezielt nach Helvetismen in einem Text gefragt werden. Die Lehrpersonen müssten alle ihnen bekannte Helvetismen markieren. Mit dieser Methode könnte untersucht werden, wie viele Wörter die Deutschlehrpersonen als Helvetismen erkennen. In der vorliegenden Arbeit wurden insgesamt 48 Helvetismen zur Untersuchung ausgewählt. Jedes der Wörter wurde mindestens einmal von den Deutschlehrpersonen der Sekundarstufe II korrigiert. Es gab keinen Helvetismus, der nie korrigiert wurde. Es scheint, als wüssten viele Lehrpersonen nicht, dass Helvetismen laut der Theorie der Plurizentrik nicht korrigiert werden dürften. Hier müsste untersucht werden, ob den Lehrerinnen und Lehrern die Plurizentriktheorie überhaupt bekannt ist und sie somit Einzug in die Klassenzimmer der Sekundarstufe II gehalten hat, oder ob sie lediglich an Hochschulen thematisiert wird. 10. Literatur Albert, Ruth & Nicole Marx (2010): Empirisches Arbeiten in Linguistik und Sprachlehrforschung. Anleitung zu quantitativen Studien von der Planung bis zum Forschungsbericht . Tübingen: Narr Francke Attempto. Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietät. Berlin: de Gruyter. 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Einleitung Seit dem Jahr 1995, in dem Österreich der Europäischen Union beitrat und infolgedessen einige typisch österreichische Ausdrücke offiziell anerkannt wurden, hat sich das Interesse der Germanisten für die Plurizentrik 1 intensiviert: In jenem Jahr publizierte Ulrich Ammon sein bekanntestes Buch Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und in der Schweiz (Ammon 1995), im Anschluss folgten weiteren Studien wie z. B. Muhr (1995), Ammon (1997), Ammon et al. (2004), Schmidlin (2011) und Schneider-Wiejowski et al. (2013). Wie Michael Clyne es einige Jahre zuvor in seinem Buch Language and Society in the German-Speaking Countries (Clyne 1984) und vor allem in Pluricentric Languages: Differing Norms in Different Nations (Clyne 1992) darstellte, ist die deutsche Sprache eine plurizentrische Sprache. Das bedeutet, dass die Sprache in mehreren Zentren, die von politischen, ökonomischen, militärischen und demographischen Faktoren bestimmt werden, kodifiziert wird. 1 Ammon spricht seit 1997 von plurinationalen Sprachen (Ammon 1997). Andere Autoren wie Wolff (2012) reden hingegen von pluriarealen Sprachen . Für den vorliegenden Aufsatz wird die Terminologie von Kloss (1978) verwendet und dementsprechend wird der Ausdruck plurizentrische Sprache benutzt. 394 Chiara Scanavino Das Wort Zentrum bezieht sich in diesem Aufsatz nicht auf den geographischen Mittelpunkt, sondern meint vielmehr die „zentrale Stelle, die Ausgangs- und Zielpunkt ist; [der] Bereich, der in bestimmter Beziehung eine Konzentration aufweist und daher von erstrangiger Bedeutung ist“ (Duden Online-Wörterbuch - Zugriff am 08. 12. 2015). In diesem Sinne sind Deutschland, Österreich und die Schweiz drei Kodifikationszentren der deutschen Sprache, weil es drei Länder mit eigenen Varietäten sind. Darüber hinaus gibt es unter den Zentren ein asymmetrisches Verhältnis, da die Varianten aus Deutschland für formaler und die österreichischen bzw. schweizerischen Varianten für dialektaler gehalten werden. Die Deutschen sind also davon überzeugt, Deutschland habe keine eigene Standardvarietät, und die Sprecher und Sprecherinnen aus Österreich und der Schweiz fühlen sich diskriminiert, wenn sie ihre eigene Sprache in formellen Situationen verwenden. Daher passen sie sich an die Standardvarietät Deutschlands an. Aus diesem Grund sprechen Martin (1995: 140), Clyne (1995: 65) und Muhr (1995: 82-86) von sprachlicher Schizophrenie . Bei den plurizentrischen Sprachen wird die Kodifizierung lediglich dezentralisiert und die Sprache selbst, die hier als Dachsprache im Sinne von Kloss (1978) zu verstehen ist, leidet nicht unter einem Destandardisierungsprozess (vgl. Schmidlin 2011: 10, 63-69). Im Gegensatz zu Dialekten wie Schwäbisch oder Bairisch, 2 die von derselben Dachsprache (d. h. der deutschen Sprache insgesamt) überdacht werden, sind die österreichische und schweizerische Standardvarietät keine dialektalen Varietäten der deutschen Sprache, sondern zwei gleichberechtigte Standardvarietäten. Dialekte sind aus diesem Grund nicht Thema des vorliegenden Aufsatzes. Wie Ammon (2004), Hägi (2013) und Scanavino (in Vorbereitung) zeigen, beachten die heutigen Lehrwerke die Plurizentrik zu wenig und sie orientieren sich meistens an der Standardvarietät Deutschlands. 3 Konsequenterweise werden die österreichischen (z. B. Marille und Erdapfel ) und schweizerischen Varianten (z. B. Aperó oder Matur ) oft ignoriert und sind so für die Lernenden schwerer zu verstehen. Der vorliegende Aufsatz besteht aus drei Teilen: Der erste Teil enthält eine kurze Erläuterung des Begriffs Teutonismus , der zweite einen Ausblick über die jetzigen Lernerwörterbücher und der dritte einige Verbesserungsvorschläge für zukünftige Lernerwörterbücher. Nachdem die Hauptmerkmale der Lerner- 2 Nach Labov (1966) sind Schwäbisch und Bairisch als eigenständige Sprachen zu betrachten. 3 Da es wichtig ist, zwischen der Ebene des Sprachsystems (z. B. die bürokoratische Sprache , vgl. Anm. 16) und den einzelnen sprachlichen Formen (z. B. Matura, Apéro, Apfelsine usw.) zu unterscheiden, wird im vorliegenden Aufsatz auf Ammons Definitionen von Variante und Varietät verwiesen (vgl. Ammon 1995: 61-72 und Ammon 2015: 107-148). Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 395 wörterbücher genannt werden, werden das LGWD aF (Götz et al. 2010), das De Gruyter Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Kempcke et al. 2000) und pons. eu Deutsch als Fremdsprache (2001-2015) quantitativ untersucht, um die Stärken und Schwächen der heutigen Nachschlagewerke zu bestimmen. Die Arbeit schließt mit einigen kommentierten Beispielen zur Darstellung von Teutonismen in zukünftigen Lernerwörterbüchern. Ich bedanke mich besonders bei Frau Prof. Dr. Regula Schmidlin, die mir die Möglichkeit gegeben hat, den vorliegenden Artikel zu publizieren, meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Ulrich Ammon, und Herrn Prof. Dr. Elmar Schafroth, der am LGWD aF mitgearbeitet hat. Ich bedanke mich außerdem bei allen, die den Originaltext auf Italienisch oder den Entwurf meiner Arbeit auf Deutsch gelesen und so zur Veröffentlichung des vorliegenden Artikels beigetragen haben. 2. Teutonismen / Deutschlandismen: Erläuterung und Zuordnungskriterien Um das Thema des vorliegenden Artikels besser zu verstehen, sind zunächst folgende Fragen zu beantworten: 1. Wie können die Varianten der Standardsprache in Deutschland am besten bezeichnet werden? 2. Mit welchen Kriterien können sie erkannt werden? Da sich die Deutschen aus politischen und historischen Gründen der Existenz einer eigenen Standardvarietät nicht bewusst sind (vgl. Ammon 1995: 317-325), fehlt ein passender Name zur Bezeichnung der Varianten, die typisch für die Standardvarietät des Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland sind. Aus diesem Grund zählen Ammon & Schneider-Wiejowski (2013) alle Vorschläge der letzten Tagungen, Konferenzen und der jüngeren Fachliteratur auf ( Teutonismen, Deutschlandismen, Germanizismen, Niemetzkismen, Allemandismen, Borussianismen, Bundesrepublikanismen, D-Lektismus, D-Variante, Diutismen, Theodiszismen, Teutismen , vgl. Ammon & Schneider-Wiejoswski 2013: 52). Darauf folgte sowohl eine linguistische Analyse des Wortes Teutonismus als auch eine Umfrage, die mit 30 Sprachexperten aus allen Vollzentren 4 und mit 95 Laien deutscher Staatsbürgerschaft durchgeführt wurde 5 . 4 Für die Definition von Vollzentrum vgl. Ammon (2000) und Scanavino (2015: 11). 5 Weitere Informationen zur Untersuchung in Ammon & Schneider-Wiejowski (2013: 57-65). 396 Chiara Scanavino Nach ihren Untersuchungsergebnissen kommen die Autoren zur Schlussfolgerung, dass die Menge der Varianten der Standardvarietät Deutschlands Teutonismen heißen soll. Gründe dafür sind folgende (vgl. Ammon & Schneider- Wiejowski 2013: 56-57): 1. Das Substantiv [Deutschlandismus] wird zumindest von Fachleuten, vermutlich aber auch von Laien, mehrheitlich abgelehnt, offenbar wegen der Hybridisierung […]. Dieser Umstand lässt sich nicht einfach übergehen, indem man so die Urteilenden abkanzelt als puristisch, pseudowissenschaftlich, ewiggestrig oder dergleichen. 2. Dieses Substantiv durchbricht die angestrebte Parallelität der Terminologie bezüglich der drei Vollzentren der deutschen Sprache. Wollten wir aber diese Parallelität wiederherstellen, so müssten wir Österreichismus und Schweizerismus hinzunehmen, Ausdrücke, die - wie unsere Umfrage gezeigt hat […] - keine Aussicht auf Akzeptanz haben. 3. Hinzu kommt ein formaler Vorteil: Die Substantive Teutonismus , Austriazismus und Helvetismus lassen sich leicht kombinieren, nämlich zu Austro-Teutonismus , Helveto-Teutonismus oder bei Bedarf auch Teuto-Austriazismen und Teuto-Helvetismen usw. Damit lassen sich unspezifische nationale Varianten bezeichnen, die in Österreich und in Deutschland bzw. in der Schweiz und in Deutschland gelten; sie sind im Deutschen sehr zahlreich (vgl. Ammon 1995: 106-107, 142-178). Der Terminus Deutschlandismus wäre dagegen nicht für solche Kombinationen zu gebrauchen. Auch wenn die Ergebnisse der Umfrage von Ammon & Schneider-Wiejowski (2013) einige Nachteile beinhalten 6 , werden die Varianten der Standardsprache in Deutschland Teutonismen genannt. Dieser Terminus muss aber als perfektes Synonym zum Terminus Deutschlandismus betrachtet werden, weil die terminologische Diskussion nicht zum Sprachpurismus führen soll (vgl. Polenz 1999: 422). Zur Vertiefung vgl. auch Ammon (1995: bes. 317-324), Ammon (1998) und Polenz (1999: 422). Ammon (1995: 331-333) definiert die Teutonismen mithilfe eines Vergleichs von Wörterbüchern aus allen Vollzentren des Deutschen, insbesondere verwendet er den Duden: Deutsche Rechtschreibung , das Österreichische Wörterbuch (Back et al. 2012) und die Bände Wie sagt man in Österreich? (Ebner 1980) und Wie sagt man in der Schweiz? (Meyer 1989). Daneben verwendet Ammon auch Grammatiken und ein Korpus von Zeitungsartikeln, das von Kurt Meyer inner- 6 Wie die Autoren selbst bekennen, ist die rein linguistische Untersuchung des Terminus Teutonismus sehr begrenzt (vgl. Ammon & Schneider-Wiejowski 2013: 53). Darüber hinaus wäre es auch interessant gewesen zu untersuchen, wie die österreichischen und schweizerischen Laien mit deutscher Muttersprache die typischen Merkmale der Standardvarietät Deutschland nennen. Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 397 halb von vierzig Jahren gesammelt wurde. Da im Jahr 1995 jedoch Computer noch nicht weit verbreitet waren und es dementsprechend noch keine digitalen Korpora wie das Corpus Search and Analysis System ( COSMAS II ) gab, müssen die Ergebnisse von Ammon (1995) eher kritisch betrachten werden, da sie möglicherweise nicht mit der sprachlichen Realität übereinstimmen. Dieser Nachteil wurde auch von Ammon implizit erkannt. Deswegen wurde für die Redaktion des Variantenwörterbuchs des Standarddeutschen (Ammon et al. 2004) auch eine Korpusanalyse mithilfe von Internet-Suchmaschinen als Kontrollkorpus (vgl. Schmidlin 2011: 293) durchgeführt. Scanavino (2015: 80) hat ebenfalls COSMAS II zur Überprüfung der Druckquellen verwendet. Die Ergebnisse der Analyse sind beschränkt (der Terminus Teutonismus wurde im engeren Sinne berücksichtigt, auch wenn die Varianten oft in mehr als nur einem Zentrum verbreitet sind), dennoch definiert sie Teutonismen wie folgt: 1. Wörter, die in Ammon (1995), Ammon et al. (2004), in der 11. Auflage von Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011) und in König (2011) für typisch deutsch gehalten werden. D. h., dass sie in der Liste von Ammon (1995) enthalten sind, in Ammon et al. (2004) die Bezeichnung „D“ tragen, und im Duden nicht als JU- GENDSPR., LANDSCH. (landschaftlich), FAM., MDARTL. (mundartlich), SCHERZH. (scherzhaft) markiert werden. Zur Kontrolle wurden COSMAS II und Meyer (2006) hinzugezogen: Wenn bei der „Länderansicht“ auch viele Treffer in Österreich und in der Schweiz gefunden werden, und in Meyer (2006) registriert sind, handelt es sich um unspezifische Deutschlandismen [Teutonismen]; 2. Ausdrücke aus Ammon (1995), die in Ammon et al. (2004) und im Österreichischen Wörterbuch (Back et al. 2012) als typisch für das deutsche Standarddeutsch gelten. Zur Überprüfung wurden hier COSMAS II und König (2011) aufgenommen: Wenn bei der „Länderansicht“ in COSMAS II viele Treffer auch in den anderen Vollzentren gefunden werden, gelten diese Termini als unspezifische Deutschlandismen [Teutonismen]. 3. Formen aus Ammon (1995), die in Ammon et al. (2004) und Meyer (2006) als Teutonismen markiert werden. Außerdem sollten sie die Mehrheit der Treffer in Deutschland haben. Ist dies nicht der Fall und wenn sie im ÖWB (Back et al. 2012) sternmarkiert sind, handelt es sich um unspezifische Deutschlandismen [Teutonismen]. 4. Wörter, die in den obengenannten Quellen als typisch des deutschen Standarddeutschen betrachtet werden. (Aus: Scanavino 2015: 80). Nach den oben genannten Kriterien sind die nachstehenden Wörter als Teutonismen zu betrachten: 398 Chiara Scanavino Teutonismen im engeren Sinne das Abendbrot das Abitur die Apfelsine der Bundestag dröge sich högen die Kabbelei der Landesminister die Möhre der Mülleimer plätten das Plätzchen (Weihnachtsgebäck) der Sessel der Sonnabend die Zicke Weitere Beispiele finden sich in Scanavino (2015). Neben den formalen sind auch inhaltliche Abgrenzungskriterien zu klären. Dabei ist zunächst wichtig, sich zu fragen, ob die Wörter der ehemaligen DDR und die Wörter des Jahres 7 zu den Teutonismen zählen sollen. Weder die Spuren der DDR -Sprache 8 noch die Wörter des Jahres 9 sind als Teutonismen zu bezeichnen. Erstere werden immer seltener, sodass es sich nicht lohnt, sie bei der Kompilierung eines Allgemeinwörterbuchs (vor allem für die Deutschlerner) zu berücksichtigen. Letztere hingegen sind Okkasionalismen, die oft nicht überleben. Aus diesen Gründen ist es auch nicht möglich, ihre Frequenz in der Alltagssprache richtig zu messen. 10 Schließlich ist noch folgende Frage zu beantworten: Wovon unterscheiden sich die Teutonismen von der Dachsprache Deutsch und den sonstigen Varietäten? Zunächst grenzen sie sich von den Austriazismen (= die nationalen Varianten aus Österreich) und den Helvetismen (= die nationalen Varianten aus der Schweiz) ab. Allerdings sind sich nicht alle Experten einig, ob die Schweiz ein Vollzentrum der deutschen Sprache ist, weil der Dialekt in diesem Land eine viel größere Rolle als in Deutschland oder in Österreich spielt (vgl. Scanavino 2015: 83-84). Beim Feststellen der Existenz der Teutonismen und ihrer Abgrenzung von den anderen nationalen Varianten (inklusive der unspezifischen Varianten) kommt man zu einem Standarddeutschen, das aus sprachlichen Formen aus allen Sprachzentren besteht. Diese Termini gehören nicht unbedingt zu allen 7 Die Wörter des Jahres werden seit 1972 am Ende eines jeden Jahres mit einer Umfrage der Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS) von der deutschen Öffentlichkeit gewählt. Beispiele dafür sind aufmüpfig , Wende , Groko , Lichtgrenze und Flüchtlinge . 8 Zum Wortschatz in der DDR vgl. Schmitt (2009), Fraas & Steyer (2008), Schröder & Fix (1997) und Ihlenburg (1964). 9 Zu den Wörtern des Jahres vgl. auch Bär (2003) und http: / / gfds.de/ aktionen/ wort-desjahres/ (Zugriff am 30. 11. 2015). 10 Zur Vertiefung vgl. Scanavino (2015: 81-83). Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 399 Standardvarietäten der deutschen Sprache; die meisten Muttersprachler kennen sie aber, auch wenn sie sie nicht aktiv verwenden. Die Experten nennen die Menge dieser Varianten gemeindeutsch . Allerdings wäre es besser, sie als interdeutsch zu bezeichnen. Das Wort gemeindeutsch kann tatsächlich die Varianten, die von allen sozialen Schichten oder von allen Generationen verwendet werden, bezeichnen. Daher kann dieser Terminus (sowie das Wort gesamtdeutsch von Polenz 1999: 445) missverstanden werden. Dieses Problem wird hingegen vom Wort interdeutsch behoben, da die lateinische Präposition inter normalerweise eine räumliche Bedeutung hat. Das Interdeutsch besteht also vorwiegend aus Konstanten, wie z. B. den Internationalismen Pizza, Pasta, Sudoku oder Wörtern wie Haus, Tisch, Stift usw. Durch die aktuellen Softwares und Korpora ist es noch nicht möglich, die absolute Frequenz einer sprachlichen Form zu bestimmen. Aus diesem Grund muss die nähere Beschreibung des Interdeutschen als Forschungsdesideratum bestehen bleiben. 3. Die Teutonismen in den Lernerwörterbüchern: Blick auf die aktuellen Nachschlagewerke 3.1. Die Methode und die analysierten Wörterbücher Im Folgenden soll den Fragen nachgegangen werden, ob die aktuellen Wörterbücher den Anforderungen der DaF-Lerner entsprechen und ob sie Teutonismen berücksichtigen. Dazu wurden verschiedene Typen von Korpora verwendet. Glaboniat et al. (2013) und Studer et al. (1999) bilden die Datensammlung, die drei analysierten Lernerwörterbücher ( LGWD aF 2010 (Götz et al.), Kempcke et al. 2000 und das Online-Wörterbuch pons.eu Deutsch als Fremdsprache ) das Zielkorpus und das Variantenwörterbuch , mit dem die Datensammlung überprüft wurde, ist das Kontrollkorpus. Die Liste der Datensammlung (die teilweise schon einige Varianten signalisiert) wurde zunächst mit dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) überprüft, um zu kontrollieren, ob alle Varianten berücksichtigt wurden. Danach wurde das Ausgangskorpus mit den oben genannten Wörterbüchern überprüft, um herauszufinden, welche Varianten von den Wörterbüchern berücksichtigt und / oder markiert werden. Am Ende wurde eine Tabelle mit fünf Spalten erstellt, deren Details in den nachfolgenden Abschnitten beschrieben werden. 11 Zur besseren Klärung muss darauf hingewiesen werden, dass die Lernerwörter- 11 Vgl. Abschnitt 3.4. 400 Chiara Scanavino bücher nichts mit den pädagogischen (auch Lernwörterbüchern) zu tun haben, weil letztere die Bedürfnisse der Muttersprachler berücksichtigen. Daher sind sie für die Lernenden des Deutschen als Fremdsprache nicht passend. Aus diesem Grund wird hier der Terminus Lernerwörterbuch anstelle von Lernwörterbuch verwendet (vgl. Schafroth 2011). 12 Berücksichtigt wurden hier die Wörter des Grundwortschatzes des Deutschen, da zu diesem Niveau viele Wörter gehören, die in der Alltagskommunikation verwendet werden. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Untersuchung das Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen ( GERRS ) analysiert. Allerdings muss daran erinnert werden, dass das Niveau B1 auf die Niveaus A1 und A2 folgt, und dass die Lernenden schon in den früheren Stufen des Deutschlernens Varianten hätten lernen können. Es ist jedoch nicht klar, wann das Erlernen der nationalen Varietäten anfängt, weil es oft von den einzelnen Entscheidungen der Autoren abhängt: Es gibt also Lehrwerke, die die Plurizentrik schon auf Niveau A1 vorstellen, und andere, die sie erst am Ende des Niveaus A2 einführen. Im Niveau B1 wurden höchstwahrscheinlich schon einigen Varianten gelernt und daher wurde entschieden, sich ausschließlich mit diesem Niveau des GERRS zu beschäftigen. Die Texte des Zielkorpus wurden aus den folgenden Gründen gewählt: 1. Das LGWD aF (2010) ist das einzige Wörterbuch auf dem jetzigen Markt, das auch die Teutonismen signalisiert; 2. Nach den Printwörterbüchern sind die Onlinewörterbücher sehr verbreitet. Schließlich war es aus persönlichen Gründen für die Autorin einfacher, auf Kempcke et al. (2000) als auf andere Wörterbücher zuzugreifen. Im weiteren Verlauf werden die analysierten Wörterbücher kurz vorgestellt. Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (LGWDaF) 13 Das populärste Lernerwörterbuch der deutschen Sprache ist zurzeit das Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache, das zum ersten Mal 1993 herausgegeben wurde, und vor kurzem in einer neuen Auflage mit einem Onlinewörterbuch erschienen ist. 14 Wie von Götz (1999) und anderen Studien aufmerksam gemacht wurde, folgt das LGWD aF dem Modell der learner’s dictionaries des Englischen, vor allem 12 Zur Vertiefung s. auch Abschnitt 4.1. in diesem Aufsatz. 13 Weitere Informationen über das LGWDaF in Götz (1999), Wellmann (2004), Rothenhöfer (2004), Scanavino (2015) und LGWDaF (2010: Einleitung). 14 https: / / www.langenscheidt.de/ Langenscheidt-Grosswoerterbuch-Deutsch-als-Fremdsprache-Buch-mit-Online-Anbindung/ 978-3-468-49039-2 (Zugriff am 06. 12. 2015). Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 401 dem Oxford Advanced Learner’s Dictionary (Hornby et al. 2005). Daher gibt das LGWDaF sowohl die Phonetik als auch die Satzkonstruktion der einzelnen Lemmata an, damit die Lernenden sofort erkennen können, wie ein Wort ausgesprochen und im richtigen Kontext verwendet wird. Allerdings enthält das LGWDaF nach Götz (1999: 221-228) weniger Fachtermini als die Lernerwörterbücher des Englischen, da das LGWD aF viele Komposita der Alltagssprache aufgenommen hat, um den Lernenden zu helfen. Daraus folgt, dass das LGWD aF für manche beruflichen Felder wie z. B. Chemie beschränkt ist, da dieses Wörterbuch Termini wie Atom, Proton, Molekül, Anion, Kation, Periodensystem oder Ion enthält, aber Ausdrücke wie Neutron, Elektron, Isomerie, Isomer, Orbital, Lythium, Beryllium, Oxygenium 15 , Fluor, Silicium, Argon, Scandium usw. nicht erfasst werden. Hinsichtlich der Makrostruktur sind die Lemmata im LGWD aF nestalphabetisch sortiert. Daraus folgt, dass z. B. das Wort Taschenrechner unter dem Lemma Rechner steht, da die semantischen Verbindungen unter den Lemmata berücksichtigt werden. Polysemische Wörter werden hingegen hinsichtlich der Etymologie angeordnet. Im Fall des Wortes Bank kommt die Bedeutung von Bank als „ein länglicher Sitz (meist auf Holz) […]“ ( LGWD aF 2010) (Götz et al.) vor Bank als „Kreditinstitut“ (ebd.). Dieses Wörterbuch erfüllt also die Erwartungen der Lernenden nicht ganz, weil diese zunächst wissen möchten, welche Bedeutung häufiger (und dementsprechend wichtiger) ist. Das LGWD aF ist das einzige Wörterbuch auf dem jetzigen Markt, das - zumindest indirekt - die Plurizentrik des Deutschen anhand der Autokennzeichnungen D, A und CH berücksichtigt. Diese Abkürzungen werden aber meistens für die bürokratische Sprache 16 verwendet, die Varianten der anderen semantischen Felder (z. B. Essen und Trinken ) bleiben meist unberücksichtigt (vgl. dazu Scanavino 2015). Darüber hinaus wurden die Wörter anhand der persönlichen Erfahrung und der Mitteilungen von anderen Wissenschaftlern markiert 17 . Auch wenn es natürlich positiv ist, dass dieses Wörterbuch nicht immer nur die Varianten aus Österreich und aus der Schweiz markiert, ist die Darstellung der Plurizentrik des Deutschen ungenügend: Einerseits unterscheidet sich die deutsche Standardvarietät von der Standardvarietät Österreichs und der Schweiz nicht nur in der bürokratischen Sprache, andererseits fehlt bei der 15 Angegeben wird nur sein Synonym Sauerstoff . 16 Mit der Bezeichnung bürokratische Sprache ist in diesem Aufsatz nicht der eng auszulegende Begriff der Amtssprache oder des Beamtendeutsch zu verstehen. Vielmehr umfasst der Begriff solche Wörter, die im Zusammenhang mit dem Staat stehen oder eher in formalen Situationen verwendet werden, z. B. Abitur , Dax und Rundfunkbeitrag . Diese Wörter stehen nicht nur in Gesetzen und behördlichen Schriften, sondern werden auch in der Alltagsprache benutzt. Für den vorliegenden Beitrag wird daher die Unterscheidung zwischen formal und formell verwendet. 17 Persönliche Mittelung von Elmar Schafroth am 30. 01. 2013 in Düsseldorf. 402 Chiara Scanavino Kompilierung des LGWDaFs ein wissenschaftliches Kriterium, um die Varianten den zugehörigen Varietäten zuordnen zu können. Aus diesem Grund wird anhand des LGWD aFs in der vorliegenden Arbeit gezeigt, wie die Darstellung der Plurizentrik optimiert werden kann. Pons.eu Deutsch als Fremdsprache Pons.eu, die Webseite des gleichnamigen Verlages aus Stuttgart, enthält viele Dienste, darunter einen Online-Shop, einen maschinellen Übersetzer und eine Reihe von zweisprachigen Wörterbüchern. Daneben wurden vor kurzem auch die Optionen Rechtschreibung und Fremdwörter und Deutsch als Fremdsprache eingefügt. Die Optionen Bildwörterbuch Deutsch / Englisch und Bildwörterbuch Englisch / Deutsch , die in Scanavino (2015: 76) erwähnt wurden, wurden dahingegen deaktiviert, sehr wahrscheinlich weil die Anzahl der Nutzer sehr gering war. Die Lemmata in pons.eu Deutsch als Fremdsprache werden glattalphabetisch angeordnet, weil es für den Computer einfacher ist, die Wörter zu verarbeiten, wenn sie in einer streng geordneten Reihenfolge auftauchen. Polysemische Wörter werden jedoch wie im Duden und im LGWD aF etymologisch gelistet. Anhand schweizerischer und österreichischer Fähnchen signalisiert pons.eu Deutsch als Fremdsprache nur die Varianten aus Österreich und aus der Schweiz. Die Teutonismen bleiben unmarkiert, was die Idee erweckt, Deutschland habe keine nationale Standardvarietät. Allerdings ist die Sprache in pons.eu Deutsch als Fremdsprache für die Lernenden leicht verständlich und es gibt die Möglichkeit, verständliche Synonyme zu den Lemmata zu finden. 18 De Gruyter Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache (Kempcke et al. 2000) 19 Aus eigener Erfahrung ist das De Gruyter Wörterbuch Deutsch als Fremdsprache , das von Günter Kempcke et al. im Jahre 2000 herausgegeben wurde, unter den Studierenden weniger bekannt. In der Einleitung dieses Wörterbuchs heißt es, dass sein Ziel die Sprachproduktion sei, ohne dabei die rezeptive Ebene zu vergessen und somit Rücksicht auf die Verständlichkeit für die Lernenden zu nehmen (vgl. Kempcke et al. 2000: VII ). Allerdings erreicht Kempcke et al. (2000) seine Ziele nicht ganz, da 18 Zur Vertiefung vgl. http: / / de.pons.com/ \%C3\%BCbersetzung/ deutsch-als-fremdsprache (Zugriff am 10. 12. 2015). 19 Zur Vertiefung vgl. auch Rothenhöfer (2004) und Kempcke et al. (2000: VII ff.). Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 403 die Bedürfnisse der Lernenden zu wenig erfüllt werden. Die Lemmata werden nischenalphabetisch angeordnet und die Teutonismen bleiben unmarkiert; nur die Austriazismen und Helvetismen weisen räumliche Markierungen auf. Cwiklinski (2001) weist darauf hin, dass Kempcke et al. (2000) einen Grundwortschatz von 20 000 Wörtern berücksichtig und dass versucht wird, in der Zielsprache Deutsch die standardsprachliche Norm dieser Sprache einfach zu vermitteln. Da sich dieses Wörterbuch prinzipiell mit der geschriebenen Sprache beschäftigt, bleibt die gesprochene Sprache weit unterrepräsentiert (vgl. Cwiklinski 2001). 3.2. Die Hauptthese Aus der vorliegenden Untersuchung und nach Scanavino (2015: 99-103) wird deutlich, dass die heutigen Lernerwörterbücher die Teutonismen nicht gut darstellen: Sie werden zwar berücksichtigt, bleiben aber oft unmarkiert. Gründe, warum die Teutonismen nicht markiert werden, sind meiner Meinung nach folgende: 1. Das LGWDaF dient als Beispiel für die meisten Lernerwörterbücher der deutschen Sprache. Modelle für die Kompilierung des LGWDaFs waren aber nicht nur die Lernerwörterbücher des Englischen, sondern auch die Dudenbände, die keine Teutonismen markieren, weil sie in Deutschland herausgegeben werden. 2. Die meisten Lernerwörterbücher werden in Deutschland von Deutschen publiziert. 3. Da die Variation zwischen der deutschen Sprache in Deutschland, Österreich und in der Schweiz erst bei den höheren Niveaus des GERRS wichtiger wird, kennzeichnet Kempcke et al. (2000) wenige Varianten. Bis dato ist das Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache das einzige Nachschlagewerk, das durch die Auto-Kennzeichnungen sowohl die österreichischen und schweizerischen Varianten als auch die Varianten der Bundesrepublik Deutschland markiert. Hierbei ist allerdings anzumerken, dass es sich bei der Mehrzahl dieser Markierungen um Teutonismen handelt, die der sogenannten „bürokratischen Sprache“ 20 angehören. Auch wenn die Unterschiede in der bürokratischen Sprache leicht zu erkennen sind, ist sie nicht das einzige Problem eines Lernenden: Ein Beispiel dafür ist der Bereich „Essen und Trinken“, weil auch in diesem semantischen Feld viele Varianten existieren, 20 Zur Definition s. Anm. 16. 404 Chiara Scanavino die häufig vorkommen und die für die Lernenden unverständlich sein können. Dennoch erscheint das LGWDaF als das Beste der heutigen Lernerwörterbücher. Die Lexikographen müssen also versuchen sich in die Situationen, in die die Lernenden gelangen könnten, hineinzuversetzen. Nur so können sie das Lernerwörterbuch optimieren und benutzerfreundlich gestalten. Dass dieses Problem nicht zu unterschätzen ist, liegt auf der Hand, denn wenn der Inhalt der Lernerwörterbücher nicht objektiv genug betrachtet wird, kann es passieren, dass die Lernenden mit Wörtern konfrontiert werden, die sie weder aktiv noch passiv benötigen. Das größte Problem ist es nicht, zu bestimmen, welche Wörter zum Grundwortschatz gehören und welche nicht (anhand der digitalen Korpora ist es möglich, diese Frage zu beantworten), sondern die Auswahl der Termini, die den Lernenden beigebracht werden sollten, weil die Auswahl der Texte des Korpus’ die Ergebnisse der Untersuchung fälschen kann. Dies wird vor allem in Kilgariff (1997: 147-151) bewiesen: Bei einem Vergleich zwischen dem Longman Dictionary of Contemporary English ( LDOCE ) (Summers & Gadsby 1995) und dem Collins COBUILD English Language Dictionary (Rammels 1996) haben die Frequenzangaben in beiden Wörterbüchern nicht koinzidiert, weil „even on the basis of very large corpora, word counts for all but the few most frequent words are highly unstable“ (Kilgariff 1997: 149). Die Erstellung einer universal akzeptierten Liste jener Wörter, die in jedem Niveau des GERRS bekannt sein sollten, würde also die Arbeit der Lexikographen enorm erleichtern. Leider ist dies bisher ein Forschungsdesideratum. Die Kennzeichnung der Teutonismen neben den Austriazismen und den Helvetismen sollte den Lernenden nicht die Idee vermitteln, dass es eine edlere und idealere Varietät gibt, sondern ihnen bewusstmachen, dass auch die Standardsprache innerhalb der Vollzentren variieren kann. Die Kennzeichnung „D“, um die Teutonismen zu markieren, sollte nicht als Berichtigung der Austriazismen oder der Helvetismen dienen, sondern lediglich eine enzyklopädische Funktion haben. Im Gegensatz zu Ammon (1995: 67), der die Kulturspezifika von seiner Untersuchung ausschließt, weil „[es] für solche Sachspezifika […] keine sprachlichen Varianten in den verschiedenen deutschsprachigen Ländern [gibt]“ (ebd.), sollten die Lernerwörterbücher auch einige Kulturspezifika berücksichtigen, weil die Lernenden nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch etwas über die deutsche Kultur lernen möchten. Aus diesem Grund wäre auch die Veröffentlichung von enzyklopädischen Lernerwörterbüchern am Beispiel des Oxford Advanced Learner’s Dictionary Encyclopedic Edition ( OALED ) (Hornby & Cowie Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 405 1992) oder des Longman Dictionary of English Language and Culture ( LDELC , Summer 1992) Summers 1992 wünschenswert. 21 3.3. Quantitative Analyse Vor der Diskussion über die Darstellung der Teutonismen in den Lernerwörterbüchern ist es notwendig zu untersuchen, welche und wie viele Teutonismen schon berücksichtigt werden. Voraussetzung für die Optimierung der Lernerwörterbücher ist die Analyse der heutigen Probleme, um sie in Zukunft lösen zu können. Daher wurde eine Tabelle mit fünf Spalten erstellt: Die erste Spalte enthält die analysierten Varianten; die zweite die regionale Verbreitung laut dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) und die letzten drei Spalten stellen die Befunde der drei analysierten Wörterbücher dar. Wenn eine Variante in einem Wörterbuch markiert vorkommt, wurde im betroffenen Feld ein X geschrieben. Wenn eine Variante gar nicht registriert wird, wurde im betroffenen Feld ein / eingesetzt. Schließlich wurde das Zeichen - verwendet, um zu signalisieren, dass die Variante im Wörterbuch ohne Markierungen vorkommt. Um die Daten vergleichen zu können, wurde die Anzahl der X und der - in jeder Spalte gezählt. Anhand dieser Kriterien wurden für das Niveau B1 des GERRS folgende Teutonismen in den Lernerwörterbüchern erkannt: Variante Räumliche Verbreitung (Ammon et al. 2004 ) LGWDaF ( 2010 ) Pons.eu DaF Kempcke et al. ( 2000 ) das Abonnement D, A - - das Altenheim D - / / die Aprikose D, CH - - der Backofen CH , D - - der Bahnsteig D, A - - das Brötchen D nord / mittel - - der Bürgermeister A, D, LIE - - der Bürgersteig D X - die Cola D - - - 21 Vgl. auch Scanavino (2015: Teil F). 406 Chiara Scanavino Variante Räumliche Verbreitung (Ammon et al. 2004 ) LGWDaF ( 2010 ) Pons.eu DaF Kempcke et al. ( 2000 ) das Dessert D, CH - - die Ecke D - - das Eis D, A - - die E-Mail D - - der Fasching A, D-nordwest / mittelost / süd - - der Flur D - - der Friseur A, D - - der Führerschein A, D - - der Gang A-west, CH , D - - der Gehsteig A, D-südost - - / der Geldautomat D - - / gucken D (ohne südost) - - X das Hackfleisch CH , D - - der Hausmeister D, A - - / das Hörnchen A, D (ohne südwest) - - der Imbiss A, D - - / der Junge D-nord / mittel - X der Karneval D-nord / mittelwest - X die Kasse CH , D - - der Kasten D - - das Kaufhaus D - - das Kissen CH , D - - die Kiste D, CH - - die Klassenarbeit D (ohne südost) - - der Kloß D (ohne südost) - - - Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 407 Variante Räumliche Verbreitung (Ammon et al. 2004 ) LGWDaF ( 2010 ) Pons.eu DaF Kempcke et al. ( 2000 ) der Knödel A, D X X X der Korridor CH , D (ohne südwest) - - kosten (Essen) A, D - - das Krankenhaus A, D - - der Lastkraftwagen ( LKW ) A, D - - die Marmelade A, D - - der Metzger A-west, CH , Dmittelwest / süd X X X die Möhre D-mittel - - der Mülleimer D - - / der Nachtisch D (ohne südost) - - der Ober A, D - - das Obst A, D - - die Orange A, CH , D-süd - - parken A, D - - das Portemonnaie CH , D (ohne südost) - - das Portmonee D (ohne südost) - - - Prost (zum Wohl! ) D - - / das Rad (Fahrrad) A, D - - die Rente D, CH - - der Rentner D, CH - - der Rock (Kleidung für Frauen) A, D - - die Sahne D (ohne südost) - - die Schlagsahne D (ohne südost) - - der Schrank D, CH - - - 408 Chiara Scanavino Variante Räumliche Verbreitung (Ammon et al. 2004 ) LGWDaF ( 2010 ) Pons.eu DaF Kempcke et al. ( 2000 ) der Sessel D, CH - - die Straßenbahn A, D - - der Topf D-nord / mittelwest / / / die Treppe CH , D - - das Treppenhaus D - - / das Viertel A, D - - / Total 66 64 (davon 4 mit räumlicher Markierung) 63 (davon 6 mit räumlicher Markierung) 60 (davon 3 mit räumlicher Markierung) Tabelle 1: Die Plurizentrik des Deutschen in den heutigen Lernerwörterbüchern 3.4. Auswertung der Ergebnisse Die quantitative Analyse im Abschnitt oben hat gezeigt, dass die Teutonismen zwar berücksichtigt werden, die Lernerwörterbücher sie aber nicht angemessen darstellen. Einzige Ausnahme unter den analysierten Wörterbüchern ist das LGWD aF (2010), das die Auto-Kennzeichnung D für Wörter wie Dax , Dienstleistungsabend usw. und die Abkürzungen „bes. südd.“ und „bes. nordd.“ für Wörter wie Knödel, Metzger, Fasching und Bürgersteig verwendet. Aus einer ersten Analyse könnte man meinen, das beste Wörterbuch sei pons. eu Deutsch als Fremdsprache , da es mehrere Varianten explizit markiert. Allerdings stimmt das nicht, weil pons.eu Deutsch als Fremdsprache (sowie Kempcke et al. 2000) keine Teutonismen markiert und lediglich die Abkürzung „bes. südd.“ oder „bes. nordd.“ für die Teutonismen verwendet. Das ist jedoch problematisch. Zunächst ist nicht klar, ob sich diese Abkürzungen auf die deutsche Standardvarietät in Nord- / Süddeutschland beziehen oder ob sie lediglich auf die regionale Verbreitung (besonders Süddeutschland / besonders Norddeutschland) hinweisen. Außerdem vermitteln diese Abkürzungen den Eindruck, dass die oben genannten Varianten regional sind, auch wenn sie in Wahrheit zur Standardvarietät Deutschlands gehören. Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 409 Aus diesem Grund ist die aktuelle Darstellung der Teutonismen in den Lernerwörterbüchern ungenügend und die Wörterbücher erfüllen die Erwartungen der Lernenden nicht optimal. 4. Die Teutonismen in den Lernerwörterbüchern des 21. Jahrhunderts Da die heutigen Lernerwörterbücher die Teutonismen nicht den Bedürfnissen der Lernenden entsprechend darstellen, stellt sich die Frage, wie sie verbessert werden können. In diesem letzten Abschnitt werden die praktischen Probleme, die bei der Kompilierung eines Wörterbuchs auftreten, erläutert und anschließend anhand von Beispielen Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen. 4.1. Merkmale der Lernerwörterbücher Um ein gutes Lernerwörterbuch zu schaffen, ist es zunächst notwendig zu erklären, welche Merkmale ein Wörterbuch aufweisen muss, das für die Lernenden einer Fremdsprache gedacht ist. Daher ist es hier wichtig, die Merkmale eines learner’s dictionary zu präsentieren. Die Merkmale eines Lernerwörterbuchs wurden in Schafroth (2011) und Scanavino (2015: 71-73) beschrieben. Für die Berücksichtigung der nationalen Varianten in den Lernerwörterbüchern sind allerdings die nachstehenden Merkmale sehr wichtig: 1. grammatische Angaben, wie die Formen des Plurals oder die der Paradigmen der unregelmäßigen Verben; 2. Synonyme und Antonyme; 3. diasystematische Markierungen, d. h. es wird erklärt, in welchen Kontexten ein Lemma verwendet werden kann; 4. Bilder, Karten oder Tafeln für die Erklärungen der Fachtermini oder um pragmatische Aspekte einer Sprache zu unterstreichen; 5. Kasten, um potenzielle Schwierigkeiten der Lerner im grammatischen oder semantischen Bereich klar zu machen; 6. die Phonetik der Wörter; Neben diesen allgemeinen Merkmalen ist auch das Medium zu berücksichtigen. D. h. also, dass Printwörterbücher und elektronische Wörterbücher unterschiedlich gestaltet werden können. Ein Online-Wörterbuch - oder die elektronische Version eines Lernerwörterbuches in Druckform - kann tatsächlich viel mehr Bilder und Farben beinhalten, da der Druck nicht mehr notwendig ist und daher die Herstellungskosten sinken. Darüber hinaus kann die Flexibilität des Medi- 410 Chiara Scanavino ums (im Gegensatz zum Papier, das eine nachträgliche Veränderung des Inhalts ohne einen erneuten Druckprozess nicht erlaubt) viele Vorteile mit sich bringen: 1. Der Text wird einfacher zu lesen, da es möglich ist, die Schriftgröße und / oder den Schriftstil zu verändern; 2. Das gesamte Wörterbuch wird noch benutzerfreundlicher, weil die Benutzer z. B. durch interne Verlinkungen die semantischen Beziehungen zwischen den Wörtern besser verstehen können; 3. Das Wörterbuch kann ständig überarbeitet und ergänzt werden, ohne dass neue Zusatzkosten entstehen. Im Falle eines Lernerwörterbuchs in Printform sollten folgende Kriterien berücksichtigt werden: 1. Es muss ergonomisch sein, d. h. nicht zu klein und nicht zu groß; 2. Es darf weder zu dick noch zu dünn sein. Daraus folgt auch, dass das Wörterbuch nicht zu viele oder zu wenige Lemmata enthalten darf: Im ersten Fall wären die Lerner überfordert, da sie zu viele Stichwörter hätten, die sie nie finden und benutzen würden. Im zweiten Fall wäre das Wörterbuch zu begrenzt, und es würde den Lernern nicht helfen; 3. […]; 4. die Kompilierung des Wörterbuchs darf weder zu lange dauern noch zu teuer sein, sonst würde es unverkauft bleiben. Diese zwei Punkte sind inzwischen miteinander verbunden, da ein Wörterbuchverlag nie Mitarbeiter eines Wörterbuches bezahlen würde, wenn sie zu langsam arbeiten: Es wäre zu teuer, dies zu unterstützen und andere Verlage könnten Vorteile aus der Verspätung ziehen. Ebenfalls würden mögliche Kunden nie ein Wörterbuch kaufen, das zu teuer ist; 5. das Wörterbuch muss lesbar sein, d. h. es muss eine überschaubare Struktur haben: Laut den jüngeren Ergebnissen des japanischen Forschers Tono (2011) wollen die meisten Benutzer die Definitionen in kürzester Zeit lesen. Wenn das Wörterbuch keine überschaubare Struktur hat, wäre es nicht benutzer- und benutzungsfreundlich und die Benutzer würden die erwünschten Informationen nicht finden; […] (Scanavino 2015: 80). Auf der Ebene der Makrostruktur sollten die Lemmata in einem Lernerwörterbuch in Printform nestalphabetisch angeordnet werden, damit die Lernenden die semantischen Beziehungen zwischen den Wörtern lernen können. Im Falle der Homonyme sollten zunächst die Lemmata und / oder die Bedeutungen, die am häufigsten auftreten, erscheinen, da die Lernenden an der häufigsten Bedeutung interessiert sind. Auf der Ebene der Mikrostruktur sollte das Wörterbuch wie im nachstehenden Beispiel aussehen (nach Scanavino 2015: 71-73): Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 411 Haifisch [hai’fiʃ] der , - e GEFÄHRLICHER FISCH mit SPITZEN Zähnen, der in den OZEANEN lebt. KOLL : weißer Hai(fisch) . Es wird garantiert, dass die Fische kein Antibiotikum bekommen. Ebenso werden sie mit Soja- und Getreidemehl anstelle von Fischmehl gefüttert. Die beliebte Seezunge, die im „Haus zur Eintracht“ serviert wird, kommt ebenfalls aus kontrollierter Zucht. Allerdings muss man auf Thon, Seeteufel, Haifisch, Rochen, Schwertfisch, Red Snapper und andere verzichten. ( St. Galler Tagblatt 03. 04. 2009, S. 55) Abb. 1 : Beispiel für einen Artikel in einem Lernerwörterbuch Schließlich sollten die Wörterbücher viele Abbildungen (am besten in Farbe, da man sie sich so besser einprägen kann) und Kästen mit Erklärungen zu bestimmten grammatischen / kulturellen Aspekten enthalten. Abkürzungen hingegen sollten so weit wie möglich vermieden werden, da die Benutzer häufig die Einleitung nicht lesen und die Abkürzungen somit nicht entschlüsseln können. Ein besonderer Typ von Lernerwörterbüchern sind die enzyklopädischen Lernerwörterbücher, die als eine „allgemeinspezifische Enzyklopädie“ in einer leicht verständlichen Sprache dienen sollten (vgl. Heat & Herbst 1994: 2, zit. in Scanavino 2015: 125). Wie alle Lernerwörterbücher sollten die enzyklopädischen Lernerwörterbücher auch die oben genannten Kriterien berücksichtigen. Allerdings unterscheiden sie sich von den normalen Lernerwörterbüchern, indem sie noch folgende Punkte berücksichtigen: 1. […]; 2. Die Lemmata dürfen weder zu enzyklopädisch noch zu allgemein sein. Daraus folgt, dass Stichwörter so wie in Abbildung 1, 4 und 5 [Anpassung vom Zitat, C. S.] gestaltet werden sollten und dass enzyklopädische Lernerwörterbücher primär die Zielkultur (in diesem Fall die der deutschsprachigen Ländern) erklären sollten. Dabei sollten z. B. landeskundliche Elemente, Erläuterungen von Eigennamen, Abkürzungen, Marken, Kulturspezifika und alles, was mit der deutschen Kultur zu tun hat, vorkommen. Konsequenterweise sollten in einem enzyklopädischen Lernerwörterbuch Stichwörter wie Bescherung, Fachwerkhaus, Backsteinbau, Lebkuchen, Wurst, NSDAP , CDU , Angela Merkel, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Sebastian Bach, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Adolf Hitler, Immanuel Kant, Platon, Gorbatschow, Berliner Mauer, Erich Honecker, usw. erwähnt werden. Dahingegen sollten z. B. Johanna Kathleen Rowling oder Harry Potter nicht enthalten sein, weil sie nicht zur deutschen Kultur gehören und keine Rolle dabei 412 Chiara Scanavino spielen, auch wenn sie in den deutschsprachigen Ländern bekannt sind und Harry Potter auch ins Deutsche übersetzt wurde. 3. Das Wörterbuch sollte auf den Ergebnissen einer korpusanalytischen Untersuchung basieren, um überprüfen zu können, wie häufi g dieses Nachschlagewerk aktualisiert werden sollte. Im Gegensatz zu einem normalen Lernerwörterbuch lohnt es sich nach Heat und Herbst (1994: 156 ff .) nicht, ein enzyklopädisches Lernerwörterbuch ständig zu überarbeiten. Auch wenn man in „[…] eine[r] überarbeitete[n] Version auch nur einen geringen Prozentsatz der Einträge neugestaltet hätte, [muss] man auch viel „Unverändertes“ mitbezahlen und mitkaufen […]“ (ebd.: 157). Alles hängt aber meiner Ansicht nach vom Medium ab: Ist es ein Printwörterbuch, dann sollte es alle 20 Jahre aktualisiert werden. Im Fall eines elektronischen enzyklopädischen Lernerwörterbuch könnte es ständig überarbeitet werden. 4. Es müsste Bilder und Kasten enthalten - besonders für solche Lemmata, die nicht durch eine leicht verständliche Sprache erklärbar sind. (Aus: Scanavino 2015: 127-128). 4.2. Die Teutonismen in den Lernerwörterbüchern des 21. Jahrhunderts: Merkmale und kommentierte Beispiele Im letzten Abschnitt wurden die Kriterien besprochen, die bei der Kompilierung eines Lernerwörterbuchs beachtet werden sollten. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie die Varianten in den Lernerwörterbüchern dargestellt werden können. Mögliche Antworten auf diese Fragen bieten die folgenden Abbildungen. Abb. 2: Die Verwendung von Bildern und Abkürzungen in einem enzyklopädischen Lernerwörterbuch am Beispiel des Wortes „Fahrrad“ D+A = das Fahrrad, die Fahrräder CH = das Velo, die Velos D+A+ CH = das Rad, die Räder D+A+ CH = der Drahtesel, die Drahtesel CH +D = das Stahlross, die Stahlrosse Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 413 Abb. 3: Die Verwendung von Bildern und Kasten zur Erklärung der Plurizentrik am Beispiel des Wortes „Kartoffel“ Wie aus den Beispielen zu erkennen ist, werden die Lernenden nicht überfordert, wenn die Plurizentrik durch Bilder und Kasten vorgestellt wird. Das Bild des Fahrrads mit den unterschiedlichen Bezeichnungen (Abbildung 2) hilft den Lernenden, die semantischen Beziehungen zwischen den Begriffen und den Bedeutungen zu etablieren. Gleichzeitig wird der Wortschatz des Lerners erweitert und es wird - auf eine einfache und verständliche Weise - erklärt, dass es nicht nur ein Wort für das Fahrrad gibt. Ein Kasten wie in Abbildung 3 sollte in den höheren Stufen (d. h. Mittelstufe und Oberstufe) für die Erklärung von bestimmten grammatischen oder kulturellen Aspekten verwendet werden, während Abkürzungen möglichst vermieden werden sollten, auch wenn sie platzsparend sind. Allerdings sollten die verwendeten Abkürzungen im Duden kodifiziert werden. Zugelassen wären also Abkürzungen wie usw., u. a., z. B. aber beispielsweise nicht bes. südd. oder bes. nordd. Im Falle eines Lernerwörterbuches sollten die Teutonismen wie in den nachstehenden Beispielen dargestellt werden: Heine, Heinrich n. m. [’hainrich ’haine] (Düsseldorf 1797-Paris 1856). Deutscher Dichter, Schriftsteller und Journalist der Romantik jüdischer Herkunft. Er studierte in Bonn, Göttingen und Berlin. Er besuchte Kurse über die Geschichte der deutsche Sprache und Poesie und kannte AUGUST WILHELM SCHLEGEL und GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL . 1824 PROMOVIERTE er in Göttingen und das folgende Jahr liess er sich protes- 414 Chiara Scanavino tantisch taufen. In diesem Jahr schrieb er sein berühmtestes Gedicht, das LIED DER LORELEY. Da er jüdischer Herkunft war und später seine Werke in Deutschland verboten wurden, ging er ins Exil nach Paris. Hier starb er am 17. Februar 1856. Kohl, Helmut J. M. n. m. [’hεlmu: t ’ko: l] (Ludwigshafen am Rhein 03. 04. 1930-16. 06. 2017 ebenda). Deutscher Politiker der CDU (= Christlich Demokratische Union). Zwischen 1982 und 1998 war er der sechste BUNDESKANZLER der BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND . Da er den Wiedervereinigungsprozess nach dem MAUERFALL koordiniert hat, ist K. auch als VATER DER EINHEIT bekannt. Abb. 4 : Beispiel für Einträge in einem enzyklopädischen Lernerwörterbuch. Nach: Scanavino ( 2015 : 127 ). Lebkuchen, der, [’le: pku: xn], D, deutsches Weihnachtsgebäck, das aus Schokolade, Gewürzen und Orangenmarmelade besteht. Es ist für die Städte Nürnberg und Lübeck besonders typisch. Abb. 5: Die Plurizentrik des Deutschen in den enzyklopädischen Lernerwörterbüchern am Beispiel des Wortes „Lebkuchen“. Nach: Scanavino (2015: 129). Zwar ist das Wort „Lebkuchen“ gemeindeutsch, aber es bezeichnet Süßigkeiten, die typisch für Deutschland sind. Es kann kulturell als Teutonismus betrachtet werden. Teutonismen in der Lernerlexikographie des 21. Jahrhunderts 415 Abb. 6: Die Plurizentrik des Deutschen in den enzyklopädischen Lernerwörterbüchern am Beispiel der Wörter „Kiosk“ und „Trafi k“. Aus: Scanavino (2015: 129). 5. Zusammenfassung und Ausblick Auch wenn sich die Publikationen über die Plurizentrik vermehrt haben, und obwohl das Variantenwörterbuch eine große Hilfe bei der Kompilierung eines Lernerwörterbuchs und im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache sein könnte, hat sich die Lernerlexikographie diesbezüglich nicht genügend weiterentwickelt. Da die Lernerwörterbücher für die deutsche Sprache im Vergleich zu denen des Englischen noch relativ neu sind (die erste Aufl age des OALD s erschien im Jahre 1948, die des LGWD aF dahingegen im Jahre 1993! ) und da die Dudentradition noch eine wichtige Rolle bei der Kompilierung der Lernerwörterbücher des Deutschen spielt, erfüllen die heutigen Wörterbücher die Bedürfnisse der Lernenden nicht ganz. Die Lemmata sollten nestalphabetisch und mit Berücksichtigung auf ihre Frequenz angeordnet werden. Konsequenterweise sollte eine korpusanalytische Untersuchung durch die Korpora der deutschen Sprache wie z. B. COSMAS II durchgeführt werden. Jede Bedeutungserläuterung sollte Beispiele aus den Korpora enthalten, um den Lernenden zu zeigen, in welchem Kontext der gewünschte Terminus richtig verwendet wird. Das ist vor allem für die Lernerwörterbücher wichtig, weil die Lernenden häufi g nicht in der Lage sind, die Wörter im richtigen Kontext zu verwenden. Die Kennzeichnung „D“ für die Teutonismen sollte schließlich nicht als ein Zeichen betrachtet werden, um die „besseren“ Varianten zu erkennen, sondern als eine Kennzeichnung mit enzyklopädischem Charakter. Dadurch sollen sich die Lernenden darüber bewusst werden, dass sich die deutsche Sprache in Deutschland von der in Österreich oder in der Schweiz nicht nur hinsichtlich der bürokratischen Ebene unterscheidet. Aus diesem Grund wären eine bessere Berücksichtigung des Variantenwörterbuchs und die Veröff entlichung von enzyklopädischen Lernerwörterbüchern am Beispiel des Oxford Advanced Learner’s Encyclopedic Dictionary ( OALED ) (Hornby & Cowie 1992) oder des 416 Chiara Scanavino Longman Dictionary of English Language and Culture ( LDELC ) (Summers 1992) wünschenswert. 6. Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und in der Schweiz . Berlin, New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich (1997): Deutsch als plurinationale Sprache mit sprachdidaktischen Ausblicken. In: Ö-Daf-Mitteilungen 12, 14-15. Ammon, Ulrich (1998): Plurinationalität oder Pluriarealität? Begriffliche und terminologische Präzisierungsvorschläge zur Plurizentrizität des Deutschen - mit einem Ausblick auf ein Wörterbuchprojekt. In: Ernst, Peter & Franz Patocka (Hrsg.): Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Wien: Edition Praesens, 313-322. 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NEPS -Kompetenzen Wilhelmsplatz 3 D-96047 Bamberg karin.gehrer@lifbi.de Dr. Aivars Glaznieks Eurac Research Institut für angewandte Sprachforschung Drususallee 1 I-39100 Bozen aivars.glaznieks@eurac.edu Prof. Dr. Robert Möller Université de Liège Centre d’études allemandes Bât. A2 - place Cockerill 3-5 B-4000 Liège Belgique r.moller@ulg.ac.be Prof. Dr. Stefan Neuhaus Universität Koblenz-Landau, Standort Koblenz Universitätsstr. 1 D-56070 Koblenz neuhaus@uni-koblenz.de Univ.-Ass. Dr. Konstantin Niehaus Universität Innsbruck Institut für Germanistik Innrain 52 A-6020 Innsbruck konstantin.niehaus@uibk.ac.at Dr. Maren Oepke Universität Zürich Institut für Erziehungswissenschaft Abteilung Lehrerinnen- und Lehrerbildung Maturitätsschulen Kantonsschulstrasse 3 422 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren CH -8001 Zürich maren.oepke@ife.uzh.ch Dr. Klaus Peter Pädagogische Hochschule Vorarlberg Liechtensteinerstr. 33-37 A-6800 Feldkirch klaus.peter@ph-vorarlberg.ac.at Mag. a Dr. in Jutta Ransmayr Austrian Centre for Digital Humanities ( ACDH ) Österreichische Akademie der Wissenschaften, 2. Stock Sonnenfelsgasse 19 A-1010 Wien jutta.ransmayr@univie.ac.at Dott.essa mag.le Chiara Scanavino Görlinger-Zentrum 14 D-50829 Köln chiara.scanavino@gmail.com Prof. Dr. Regula Schmidlin Universität Freiburg Germanistische Linguistik Miséricorde, Büro MIS 2229 Av. de l’Europe 20 CH -1700 Freiburg regula.schmidlin@unifr.ch Dr. Melanie Wagner Université du Luxembourg Institut de linguistique et de littératures luxembourgeoises Maison des Sciences Humaines, Campus Belval 11, porte des Sciences L-4366 Esch-sur-Alzette melanie.wagner@uni.lu Prof. Dr. Eva L. Wyss Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz Fachbereich 2: Institut für Germanistik Universitätsstr. 1, D-56070 Koblenz wyss@uni-koblenz.de Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke ISBN 978-3-7720-8623-6 www.francke.de Die Standardsprache, auch als Hochdeutsch bezeichnet, die im deutschen Sprachraum in der öffentlichen Kommunikation, in den Schulen und in der Politik verwendet wird, ist uneinheitlich. Die Variation der Standardsprache wird in der Linguistik gegenwärtig mit plurizentrischen und pluriarealen Konzepten erfasst. In diesem Band werden neue Ergebnisse aus Forschungsprojekten zum Gebrauch und zur Bewertung der Standardsprache in Österreich, Deutschland, Luxemburg, Südtirol und der Deutschschweiz diskutiert. Einen besonderen Fokus bilden dabei die schulischen Praktiken. Davies et al. (Hrsg.) Standardsprache zwischen Norm und Praxis Standardsprache zwischen Norm und Praxis W. V. Davies, A. Häcki Buhofer, R. Schmidlin, M. Wagner, E. L. Wyss (Hrsg.) N° 99 N° 99 N° 99 Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke ISBN 978-3-7720-8623-6 www.francke.de Die Standardsprache, auch als Hochdeutsch bezeichnet, die im deutschen Sprachraum in der öffentlichen Kommunikation, in den Schulen und in der Politik verwendet wird, ist uneinheitlich. Die Variation der Standardsprache wird in der Linguistik gegenwärtig mit plurizentrischen und pluriarealen Konzepten erfasst. In diesem Band werden neue Ergebnisse aus Forschungsprojekten zum Gebrauch und zur Bewertung der Standardsprache in Österreich, Deutschland, Luxemburg, Südtirol und der Deutschschweiz diskutiert. Einen besonderen Fokus bilden dabei die schulischen Praktiken. Davies et al. (Hrsg.) Standardsprache zwischen Norm und Praxis Standardsprache zwischen Norm und Praxis W. V. Davies, A. Häcki Buhofer, R. Schmidlin, M. Wagner, E. L. Wyss (Hrsg.) N° 99 N° 99 N° 99