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Transformationen des dû im Text

2018
978-3-7720-5633-8
A. Francke Verlag 
Ramona Raab

Die deutschen Predigten Meister Eckharts sind ein herausragendes Dokument der spätmittelalterlichen religiösen Literatur. Auf die Frage nach ihrem historischen Publikum hat die Forschung bislang keine befriedigenden Antworten finden können, nicht zuletzt deshalb, weil die Texte selbst sich gegen eine konkrete Verortung sperren. Im Kontext einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft schlägt die vorliegende Arbeit deshalb einen Paradigmenwechsel vor. Mit der Figur des impliziten Adressaten verlagert sie den Blick vom historischen Ort der Predigt auf das in den Texten entworfene Bild ihres Adressaten. In exemplarischen Analysen zeigt sich, dass die Texte in ihrer kommunikativen Dynamik ihr Gegenüber einerseits voraussetzen, andererseits selbst erst hervorbringen. Eckharts Predigten erörtern ihre Lehre nicht nur diskursiv, sondern beziehen sie im Akt der Predigt auf ihren impliziten Adressaten, der mitvollzieht, wovon die Predigt handelt, und sich so selbst als Figur performativer Transformation erweist.

Die deutschen Predigten Meister Eckharts sind ein herausragendes Dokument der spätmittelalterlichen religiösen Literatur. Auf die Frage nach ihrem historischen Publikum hat die Forschung bislang keine befriedigenden Antworten finden können, nicht zuletzt deshalb, weil die Texte selbst sich gegen eine konkrete Verortung sperren. Im Kontext einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft schlägt die vorliegende Arbeit deshalb einen Paradigmenwechsel vor. Mit der Figur des impliziten Adressaten verlagert sie den Blick vom historischen Ort der Predigt auf das in den Texten entworfene Bild ihres Adressaten. In exemplarischen Analysen zeigt sich, dass die Texte in ihrer kommunikativen Dynamik ihr Gegenüber einerseits voraussetzen, andererseits selbst erst hervorbringen. Eckharts Predigten erörtern ihre Lehre nicht nur diskursiv, sondern beziehen sie im Akt der Predigt auf ihren impliziten Adressaten, der mitvollzieht, wovon die Predigt handelt, und sich so selbst als Figur performativer Transformation erweist. ISBN 978-3-7720-8633-5 Raab Transformationen des dû im Text BIBL. GERM. 69 Ramona Raab Transformationen des dû im Text Predigten Meister Eckharts und ihr impliziter Adressat {Titelei_S1.pdf} Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, BURKHARD HASEBRINK UND SUSANNE KÖBELE 69 Ramona Raab Transformationen des dû im Text Predigten Meister Eckharts und ihr impliziter Adressat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Zugleich Dissertation, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2016 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-5633-8 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten. Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Im Spannungsfeld von historischer Situation und literarischem Entwurf. Konturen der Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Von der cura monialium zur Predigt vor den liuten . Historische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3. Vom Publikum im Text zum Adressaten als textuellem Entwurf. Literarische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur. Modelle impliziter Textadressaten in der Erzählforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 I.3 Spielräume des Impliziten. Der implizite Adressat als Analysekategorie für die deutschen Predigten Meister Eckharts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Vom Erzähltext zur Predigt, vom Leser zum Adressaten. Zum Verhältnis von Modellbildung und Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Spielräume des Impliziten. Die Predigt und ihr Adressat im Spannungsfeld von Aufführung und Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. Deixis und Adressierung. Zu Vorgehen und Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 II. Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Predigt Quint Nr. 4 und ihr impliziter Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Predigt Quint Nr. 14 und ihr impliziter Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Predigt Quint Nr. 6 und ihr impliziter Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Transformationen des dû im Text. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6 Inhaltsverzeichnis Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Wörterbücher und Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 7 Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2015 / 16 von der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen; für den Druck wurde sie überarbeitet. Ich freue mich, vielen Menschen danken zu können. Prof. Dr. Burkhard Hasebrink hat die Arbeit angeregt und mit Geduld, Beständigkeit und Zutrauen die Bedingungen dafür geschaffen, dass sie gedeihen konnte. Dafür, für alle Gespräche und die entscheidenden Denkanstöße gilt ihm mein größter Dank. Dass Prof. Dr. René Wetzel in Genf bereit war, das Zweitgutachten zu übernehmen, hat mich besonders gefreut. Für kritische Anmerkungen im Rahmen der Gutachten danke ich ihm ebenso wie Prof. Dr. Peter Philipp Riedl in Freiburg. Die Arbeit ist in engem Zusammenhang mit dem Projekt ›Transformation der Abgeschiedenheit. Die dominikanische Predigt des 14. Jahrhunderts im Kontext urbaner Kultur‹ entstanden, für dessen Förderung von 2012 bis 2015 sich mein Dank an die Deutsche Forschungsgemeinschaft richtet. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für einen Druckkostenzuschuss und den Herausgebern der Reihe für das freundliche Angebot, die Arbeit in die ›Bibliotheca Germanica‹ aufzunehmen. Ohne vielfältigen Austausch und Zuspruch gäbe es die Arbeit in dieser Form nicht. Den Teilnehmern und Betreuern des internationalen Graduiertentreffens Oxford - Freiburg i. Br. - Freiburg / Fribourg - Genf danke ich für die Möglichkeit zur Diskussion, für Gespräche und Unterstützung den Mitarbeitern und Kollegen aus der Zeit am Lehrstuhl in Freiburg, ganz besonders Nadine Krolla für mehr als die Hilfe bei der Korrektur des Textes: für Freundschaft und Rat. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, denen ich wie meinen Geschwistern für ihr Interesse, ihre Anteilnahme und die unerschütterliche Unterstützung von Herzen danke. Julia Rasch für alles. Freiburg, im Mai 2018 Ramona Raab Einleitung 9 Einleitung Philosophische und poetische Texte stellen an den Leser, könnte man sagen, eine doppelte Bitte: Lies mich, sagen sie, als sei ich soeben vom Himmel gefallen, ohne Vorgeschichte, ohne Nachwirkung. Nimm mich auf, als sei ich nur für dich geschrieben und alles komme darauf an, daß du erkennst, daß ich dich betreffe, daß ich dir dein Leben erkläre und erzähle, was dazugehört; ich stelle es dar als manchmal befremdliches Bild. Du lernst etwas über dich. - Aber gleichzeitig sagt der Text: Analysiere mich als Produkt abgelebter Zeiten, denn ich bin durchsetzt von allen möglichen geschichtlichen, sozialen, intellektuellen und psychologischen Bedingtheiten. Behandle mich, in zweiter Phase, versteht sich, als sei ich ein angeschwemmtes Produkt der Geschichte. Stell dich mir als ein Anderer gegenüber. 1 Kurt Flasch, dessen jüngster Eckhart-Monographie ich diesen Abschnitt entnommen habe, formuliert eine hermeneutische Spannung, die im Prinzip für jede historische Textinterpretation gilt, die den Balanceakt zwischen der Fremdheit des Gegenstands und der Aneignung des Fremden in der Interpretation vollzieht. Wenn Flasch so seinen »Versuch eines Gesamtbildes« 2 des Werkes Meister Eckharts einführt, ist damit eine Positionierung des Eckhart-Interpreten verbunden, der die Notwendigkeit betont, die Texte Eckharts in ihrem historischen Kontext zu verorten. Nicht nur jenen »großstadtmüden Ruhe- und Gottsuchern« 3 , die Eckharts Lehre unmittelbar auf ihre eigene Lebenswelt beziehen, hält er programmatisch entgegen, »daß Eckhart ein Philosoph war, der unter ganz andersartigen Voraussetzungen gedacht hat.« 4 Zu Recht plädiert Flasch dafür, dass hinter eine historische Lektüre der Texte Eckharts nichts zurückführt. Ich habe diese Passage jedoch nicht nur deshalb so ausführlich zitiert, weil damit grundlegende Parameter jeder Eckhart-Interpretation im Spannungsfeld von Kontextualisierung und Aktualisierung betroffen sind. Indem Flasch an dieser Stelle die Texte selbst zu Wort kommen und ihren Leser ansprechen lässt, berührt er en passant ein weiteres Thema, das unmittelbar auf meine Fragestellung hinführt: das Verhältnis von Text und Leser. In Kurt Flaschs Darstellung ist der Bezug des Textes zu seinem Leser ambivalent, zwischen der Forderung nach unmittelbarer, aktualisierender Rezeption auf der einen, nach distanzierter, kontextualisierender Interpretation auf der anderen Seite changierend. Die kleine Szene, die Flasch entwirft, ist deshalb so eingängig, weil sie den Appellcharakter, mit dem sich jeder Text an seinen Leser richtet, unmittelbar ins Bild setzt: Der Text spricht den Leser an und fordert ihn auf, die richtige Lektürehaltung einzunehmen. Welche der beiden Seiten der Haltung des Texts seinem Leser gegenüber man auch betont - »Nimm mich 1 Kurt Flasch, Meister Eckhart. Philosoph des Christentums, München 3 2011, S. 66. 2 Ebd., S. 12. 3 Ebd., S. 190. 4 Ebd. »Er hatte die philosophisch-theologische Ausbildung eines Dominikaners der Zeit; er griff die intellektuellen Gewißheiten und Verfahren seiner Zeit auf, er formte sie um und setzte seine philosophische Reform voraus, als er daranging, die Hauptinhalte der christlichen Glaubens- und Lebenslehre für seine Zeit neu zu fassen und für Gelehrte und Laien verständlich zu machen. Es ist hermeneutische Gewalttat, ihn aus dieser Situation herauszunehmen und als Heilmittel gegen die Gebresten der Gegenwart zu verwenden.« Ebd., S. 190 f. 10 Einleitung auf, als sei ich nur für dich geschrieben«; »Stell dich mir als ein Anderer gegenüber« -, so beruht die Darstellung doch maßgeblich auf der Differenz von Text und Leser. Der Text richtet sich nach außen und spricht seinen Leser an; Text und Leser stehen sich als zwei getrennte Entitäten gegenüber. Mit der Frage nach dem impliziten Adressaten der Predigt Meister Eckharts greife ich die Frage nach dem Verhältnis von Text und Leser auf, die texttheoretisch deshalb so spannend ist, weil sie sich in dem basalen Modell literarischer Kommunikation, in dem ein Text sich nach außen an seinen Leser richtet, nicht erschöpft. Unabhängig von seiner Rezeption durch einen konkreten Leser ist jedem Text ein Bild seines möglichen Lesers immer schon eingeschrieben. Dieser Entwurf eines Lesers im Text wird in komplexeren Modellen literarischer Kommunikation als impliziter Leser oder Adressat des Textes bezeichnet. Damit aber wird das Verhältnis von Text und Leser komplexer, als es Kurt Flaschs Inszenierung auf den ersten Blick suggeriert. Text und Leser stehen sich nicht wie ›Andere‹ gegenüber, sondern der Leser wird zum integralen Bestandteil des Textes selbst, der den Bezug auf seinen Leser nicht als etwas Fremdes, sondern als sein Eigenstes mitführt. Dieses Modell literarischer Inklusion wiederum verspricht aufschlussreich zu sein für Texte, die sich nicht nur - wie die Predigt - unmittelbar durch ihren Adressatenbezug auszeichnen, sondern sich von Grund auf in einer Kultur vormoderner Textualität verorten, für die traditionelle Beschreibungskategorien wie die Abgeschlossenheit des Texts brüchig geworden sind. 5 Das bildet den Ansatzpunkt für meine Frage nach dem impliziten Adressaten der Predigt Meister Eckharts. Den impliziten Adressaten verstehe ich als den textintern fundierten, wiewohl nicht im Textinternen aufgehenden Entwurf eines Gegenübers, den die Predigten unabhängig von ihrer Rezeption durch ein konkretes Publikum immer schon mit sich führen. Damit verschiebt sich das Frageinteresse vom historischen Predigtpublikum, das die Eckhartforschung lange bestimmt hat, hin dazu, wie die Predigttexte sich ihren impliziten Adressaten im Gang der Rede performativ je neu entwerfen. So bietet sich die Möglichkeit, den Adressatenbezug der Predigten neu zu perspektivieren und die unbefriedigend offen bleibende Frage danach, wie es ›wirklich‹ war, umzukehren hin dazu, welche Wirklichkeiten die Predigttexte selbst erzeugen, wenn sie sich an ihren Adressaten wenden. 6 Die deutschen Predigten Meister Eckharts stellen an ihren modernen Leser, so ließe sich die oben zitierte Passage aus der Eckhart-Monographie Kurt Flaschs fortschreiben, ebenso wie an ihren historischen Hörer hohe Ansprüche. 7 Um die Wende vom 13. zum 5 Vgl. dazu exemplarisch Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt am Main 2003. 6 Zu dieser Fragestellung vgl. Burkhard Hasebrink, Die Anthropologie der Abgeschiedenheit. Urbane Ortlosigkeit bei Meister Eckkhart, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 7 (2014), S. 139-154 [zit.]. Wieder in: Anthropologie der Theorie, hg. von Thomas Jürgasch und Tobias Keiling, Tübingen 2017 (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 6), S. 191-208, bes. S. 141-144; vgl. auch Burkhard Hasebrink, mitewürker gotes . Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin / New York 2009, S. 62-88, bes. S. 66 f. 7 Ich lege die ›Stuttgarter Ausgabe‹ der Texte Eckharts zugrunde: Meister Eckhart, Die deutschen und die lateinischen Werke, hg. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke [zit.: DW], Bd I-III und V, hg. und übers. von Josef Quint, Bd. IV,1 hg. von Georg Steer, Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Bd. IV,2, hg. von Georg Steer und Wolfgang Klimanek, Stuttgart 1958 ff. Die lateinischen Werke [zit.: LW], Bd. I hg. von Konrad Weiß, Bd. I,2 hg. von Loris Sturlese, Bd. II hg. und übers. von Josef Koch und Heribert Fischer, Bd. III hg. und übers. von Karl Christ [u. a.], Bd. IV hg. Einleitung 11 14. Jahrhundert im Kontext der gelehrten Kultur des Predigerordens entstanden, sind sie mit dem Wirken Eckharts als Theologe, Philosoph und Prediger eng verbunden; sie stehen spannungsvoll neben seinem lateinischen Werk. Nicht zuletzt der Inquisitionsprozess, der in den letzten Lebensjahren Eckharts einsetzt und mit der Verurteilung einzelner Lehrsätze in der päpstlichen Bulle In agro dominico gipfelt, zeugt von der Sprengkraft ihrer Lehre, die auf die Einheit von Mensch und Gott im Grund der Seele zielt. Eckharts Predigten sind fest in der religiösen Kultur des Mittelalters verankert, deren Anliegen sie aufgreifen und verhandeln. Leitend wird damit das Thema, auf dem die religiöse Kultur aufruht: die Frage nach dem Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, nach ihrer wechselseitigen Durchdringung im ›Hereinbrechen‹ der Transzendenz in die Immanenz, das heißt: nach der Präsenz Gottes in der Welt. 8 Diese Frage bestimmt die mittelalterliche Klosterkultur, die ganz darauf ausgerichtet ist, die Differenz zur Transzendenz in der Welt zu überwinden: in der üebunge aszetischer Praktiken oder im Rückzug aus der Welt in die Abgeschiedenheit des Klosters. 9 Eckharts Predigten beziehen sich in pointierter Weise auf jenen Kontext einer auf Heilsgewinnung zielenden religiös-aszetischen Praxis, deren aporetische Strukturen sie aufzeigen und zu überwinden suchen. 10 Sie stellen dem mit der Vorstellung des lâzens das Konzept einer umfassenden Aufgabe des Selbstbezugs entgegen, das es der Seele ermöglicht, zum eigenen göttlichen Grund ›durchzubrechen‹. 11 So wird die Leitdifferenz, über die sich die mittelalterliche religiöse Kultur bestimmt, selbst überstiegen. 12 In dieser Auseinandersetzung mit der religiösen Kultur ihrer Zeit greifen Eckharts Predigten auf eine breite Basis theologischer und philosophischer Tradition zurück, die sie einerseits theoretisch weiterführen, 13 andererseits immer wieder in ihrer Bedeutung für und übers. von Ernst Benz, Bruno Decker und Josef Koch, Bd. V hg. und übers. von Bernhard Geyer, Josef Koch und Erich Seeberg. Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis. Acta Echardiana, hg. und komment. von Loris Sturlese, Stuttgart 1956 ff. - Zum Folgenden vgl. auch die fundierte Darstellung von Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. III: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 216-353. 8 Vgl. dazu Niklas Luhmann und Peter Fuchs, Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität? , in: Dies., Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 1989 (stw 848), S. 70-100. 9 Zu den Grundstrukturen der mittelalterlichen vita religiosa vgl. Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster, München 2012, S. 271-318. 10 Vgl. dazu Burkhard Hasebrink, sich erbilden . Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ›Rede der underscheidunge‹ Meister Eckharts, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener, Berlin / New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 122-136, und Burkhard Hasebrink, Diesseits? Eucharistie bei Meister Eckhart im Kontext der Debatte um ›Präsenzkultur‹, in: Mediale Gegenwärtigkeit, hg. von Christian Kiening, Zürich 2007 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 1), S. 193-205. 11 Vgl. Hasebrink, mitewürker gotes , S. 64. Zu der komplexen Verbindung von üebunge und lâzen bei Eckhart vgl. auch die kurze, aber präzise Skizze bei Bent Gebert, Technik und Ereignis. ›Gelassenheit‹ in Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann , in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 288-319, hier S. 290. 12 »Transzendenz bricht nicht in Immanenz ein, sondern ist in überzeitlicher Gegenwärtigkeit ihr alles hervorbringender Grund.« Hasebrink, mitewürker gotes , S. 65. Vgl. dazu auch Burkhard Hasebrink, Selbstüberschreitung der Religion in der Mystik. ›Höchste Armut‹ bei Meister Eckhart, in: PBB 137 (2015), S. 446-460. 13 Kurt Flasch listet die philosophischen Konzepte, die Eckhart präge, eindrücklich auf: »[d]ie Lehre von den Erstbegriffen, die Metaphysik des Erkenntnisseins, die Eliminierung der Effizienz- und Finalkau- 12 Einleitung den Menschen ausloten, der in der Welt nach Heiligung strebt. 14 Dabei sprengen sie die Grenzen von akademischer Kultur und Laienkultur, indem sie unterschiedliche Wissensansprüche integrieren und elaborierte Fragen einer Klerikerkultur entscheidend auch auf die Laien hinwenden. 15 Indem sie Bildstrukturen aufbrechen, einfache Aussagen übersteigen oder Bezüge instabil und mehrdeutig werden lassen, führen die Predigten immer wieder auch die Sprache an ihre Grenzen, sodass sich Sinn auf einer Ebene einstellt, die sich nicht in der propositionalen Aussage erschöpft. Mir geht es nicht darum, die Frage nach einer ›Sprache der Mystik‹ aufzugreifen, sondern um das transgressive Potential, das Eckharts Predigten in sich bergen, wenn sich die Auslegung des Schriftworts als ein »Zerbrechen, bei dem die Auslegung zum Sinn der Begriffe ›durchbricht‹«, 16 gestaltet. Das wiederum berührt die Hermeneutik der Predigt. Viele Texte changieren zwischen der Exklusivität einer Lehre, die sie herausstellen, dem Anspruch, diese Lehre zu vermitteln, und der Absage an die Medialisierung, die in der Vermittlungsleistung der Predigt steckt: Heiligkeit kann die Predigt nicht vermitteln; sie kann dem Menschen nur die unmittelbare Wahrheit der Schrift vor Augen stellen oder ihn auf den göttlichen Grund verweisen, den er immer schon in sich birgt. Die Texte führen so das Kommunikationsmodell der Predigt, das auf die Vermittlung von Gottes Wort durch den Prediger an seine Zuhörer setzt, an seine Grenzen. 17 salität aus der Metaphysik, die Neufassung des Verhältnisses von Substanz und Akzidens, die nichtthomistische Konzeption der Analogie, die Bedeutung des ›Sofern‹, die naturkundlichen Interessen, die Eigenart der parabolischen Schriftauslegung.« Flasch, Meister Eckhart, S. 189. 14 Vgl. Hasebrink, mitewürker gotes , S. 64 f. 15 »Es ist der irritierende Befund (in den Augen der Inquisition das eigentliche Scandalon), daß Eckhart die konkurrierenden Interpretationsansprüche von Laientheologie und lateinischer Klerikerkultur zu integrieren sucht.« Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen / Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 123. 16 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 67. Diese Sprengkraft bildet einen Fluchtpunkt der Arbeiten Susanne Köbeles zur Transgression relationierender Strukturen in der Bildrede (vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit) ebenso wie zur locutio emphatica als religiöser und ästhetischer »Grenzkategorie« bei Eckhart. Susanne Köbele, Emphasis , überswanc , underscheit . Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse), in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. von Peter Strohschneider, Berlin / New York 2009, S. 969-1002, hier S. 976. 17 »Wenn die Wahrheit für alle auszulegenden Schriftstellen immer dieselbe ist und wenn sie ebenso unverhüllt zugänglich wie hermetisch verborgen ist, dann muß der Anspruch einer gestuften Schriftauslegung […] seine Grenze ebenso erfahren wie das Kommunikationsmodell der Predigt. Das traditionelle Exegesebzw. Predigtmodell, das zwischen göttlichem und menschlichem Wort vermitteln und den Bibeltext als gleichnuß nach und nach transparent machen will, zerbricht notwendig.« Susanne Köbele, Primo aspectu monstruosa . Schriftauslegung bei Meister Eckhart, in: ZfdA 122 (1993), S. 62-81, hier S. 67; vgl. auch Hasebrink, mitewürker gotes . - Man könnte dieser Skizze leicht noch die Herausforderung beiordnen, die für den modernen Leser im Umgang mit einer Vielzahl von Textzeugen besteht, die für eine Predigt nicht nur z. T. stark divergierende Versionen bieten, sondern in einer Form extremer Streuüberlieferung die Grenzen dessen ins Wanken geraten lassen, was der Text einer Predigt ist. Vgl. zur Frage der Textgestalt ausführlich Freimut Löser, Eckhart im Original? Überlegungen zum Stand der Eckhart-Philologie heute, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 7 (2014), S. 45-87; vgl. auch Georg Steer, Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters, in: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 6.-8. April 2000, hg. von Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann, Tübingen 2002, S. 209-302. Einleitung 13 Sich auf einen Adressaten zu beziehen, gehört zu den zentralen Gattungsmerkmalen der Predigt, die als appellative Rede ohne ein Gegenüber kommunikativ kaum vorstellbar ist. 18 Wie wichtig der Adressatenbezug für Eckharts deutsche Predigten ist, wird in der Forschung seit längerem betont. 19 Dazu trägt die literarisch-rhetorische Faktur der Texte, die sich über die Ansprache an ein Gegenüber bestimmen, ebenso bei wie das skizzierte transgressive Potential der Predigten, die die Trennung unterschiedlicher Wissens- und Publikumsbereiche überschreiten. An wen richtet sich eine Lehre, die sich programmatisch als Lehre für die Ungelehrten 20 versteht, die darauf zielt, die Unterschiede von Kanzel und Universität zu unterlaufen, 21 und die dabei ein extrem hohes philosophisch-theologisches Niveau erreicht? Entsprechend ist die Frage nach dem Publikum von Eckharts deutschen Predigten fest in der Forschungstradition verankert, für die die historische Situation der Predigt einen Fluchtpunkt der Auseinandersetzung mit Eckharts Werk bildet. Neben dem Gesagten verleiht auch die Figur Eckharts selbst der Frage nach dem Publikum der Predigten Strahlkraft. 22 So auratisiert schon die Verurteilungsbulle, die den Inquisitionsprozess abschließt, die Predigt Eckharts ›vor dem einfachen Volk‹ ( coram vulgo simplici ) 23 und lädt so die Figur des Predigers über die Assoziierung mit einem bestimmten 18 Vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 139: »kaum jemand wird eine Predigt für ein Selbstgespräch halten wollen - selbst dann nicht, wenn die Predigt bloß einen Opferstock als Empfänger hätte.« 19 Vgl. z. B. Hans-Jochen Schiewer, German Sermons in the Middle Ages, in: The Sermon, hg. von Beverly Mayne Kienzle, Turnhout 2000 (Typologie des sources du moyen âge occidental 81-83), S. 861-961, hier S. 906: »Eckhart’s sermons seem to focus more on his audience than on theological content«. Unter dem Stichwort ›inzitative Rede‹ hat Burkhard Hasebrink den Adressatenbezug der Predigt Eckharts in ihrer literarischen Faktur systematisch und grundlegend untersucht. Burkhard Hasebrink, Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992 (Texte und Textgeschichte 32). 20 So der Kommentar am Ende des ›Trostbuchs‹: ensol man niht lêren ungelêrte liute, sô enwirt niemer nieman gelêret, sô enmac nieman lêren noch schrîben. Wan dar umbe lêret man die ungelêrten, daz sie werden von ungelêret gelêret (BgT, DW V, S. 60,28-61,1). Vgl. dazu im Zusammenhang mit »Eckharts Reflexion der je verschiedenen Wissensbzw. Verstehensbedingungen«, die an die Lehre auf Latein oder in der Volkssprache geknüpft sind, Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit, S. 40. 21 Pr. 16b, DW I, S. 270,6-8: Diz enist niht gesprochen von den dingen, diu man sol reden in der schuole; sunder man mac sie wol gesprechen ûf dem stuole ze einer lêre . Vgl. dazu Susanne Köbele, Predigt 16b ›Quasi vas auri solidum‹, in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. I, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 1998, S. 43-74, hier S. 52. 22 Wenn ich von der ›Figur‹ Eckhart spreche, dann, um sichtbar zu machen, wie auch diese ihre Identität erst durch die Zuschreibungen erhält, für die sie den Fluchtpunkt bildet. Vgl. dazu für die mittelalterliche Überlieferung Freimut Löser, Unser Eckhart. Eckhart-Texte als Konstrukte mittelalterlicher Eckhartrezipienten, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 11 (2017), S. 1-28. - Wie sich die Eckhartforschung selbst aufs engste über diese Figur bestimmt, veranschaulicht paradigmatisch die Forschungsdiskussion darum, ob Eckhart als Philosoph oder als Mystiker zu verstehen sei. Die Eckpunkte der Diskussion markieren die Titel der beiden Eckhartmonographien Kurt Ruhs (»Theologe, Prediger, Mystiker«) und Kurt Flaschs (»Philosoph des Christentums«); vgl. Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 2 1989, und Flasch, Meister Eckhart. Nur punktuell bricht die Diskussion auf die gewinnbringendere Frage um, welche Kriterien für das, was ›mystisch‹ bzw. ›philosophisch‹ ist, jeweils in Anschlag gebracht werden, und in welchem Verhältnis diese Elemente in den Texten zueinander stehen. Ich führe diese Diskussion nicht fort, sondern halte im Rahmen meiner Fragestellung am Erklärungswert des Mystikbegriffs fest, den Susanne Köbele fundiert herausgearbeitet hat, und der in keinem Widerspruch zu den philosophischen Themen und Argumentationsformen steht, die die Predigten Eckharts durchziehen. Vgl. dazu Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit, S. 22-30. 23 Acta Echardiana, LW V, S. 597,16. 14 Einleitung Publikum auf. Diese Linie setzt sich in der modernen Forschungsgeschichte fort - bis hin zu der engen Verbindung der Predigt Eckharts mit der Frauenseelsorge, wie sie in dem Konzept der cura monialium lange Zeit eine Grundannahme der Eckhartforschung gebildet hat. Eckharts Predigten rufen so einerseits die Frage nach ihrem Publikum unmittelbar auf, andererseits aber scheinen sich die Predigttexte auf erstaunliche Weise gegen die Verbindung mit einer konkreten historischen Situation zu sperren. 24 Die fragile interne Chronologie des Predigtwerks, soweit sie sich rekonstruieren lässt, beruht auf Rückverweisen, das heißt auf Selbstzitaten des Predigers, mit denen er anzeigt, das Gleiche schon an anderem Ort gesagt zu haben, und auf der Verortung einzelner Predigten in ihrem liturgischen Kontext im Kirchenjahr. Bei den weitaus meisten Predigten, die die Forschung seit langem kennt und zugänglich gemacht hat, bleibt offen, wann und an welchem konkreten Ort sie entstanden sind. Nur im Rahmen der Reihe ›Kölner Predigten‹, die über mehrere Ortsangaben auf zwei (gerade nicht dem Dominikanerorden zugehörende) Kölner Frauenkonvente verweisen, lassen sich einzelne Predigten genauer mit einem historischen Ort und einem entsprechenden Publikum in Verbindung bringen. 25 Zu weiteren Predigtorten schweigen die Texte ebenso wie zu der Frage, wie ihr historisches Publikum genau ausgesehen haben mag. Denn anders als beispielsweise Standespredigten (Predigten ad status ) setzen die Predigten Eckharts auch nicht auf eine interne Differenzierung ihrer Zuhörer, sondern zielen von ihrem Anspruch her grundsätzlich darauf, alle Menschen anzusprechen, 26 sodass die Texte in dieser Hinsicht offenbleiben. 27 24 Vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 141: »[S]o interessant die Frage danach, ›wem‹ Eckhart gepredigt hat, auch ist, so auffällig hermetisch verhalten sich die Predigten selbst gegenüber dieser empirischen Frage, ja sie scheinen diese gezielt zu ignorieren.« 25 Es handelt sich um die Predigt 22, die im Kölner Zisterzienserinnenkloster Mariengarten gehalten worden sein könnte, und die Predigt 15, die Rückverweise mit dem Kloster der Benediktinerinnen St. Machabaeorum in Verbindung bringen. Vgl. dazu unten, Kap. II.2.1, S. 101 mit Anm. 107. 26 Vgl. dazu mit dem Hinweis, dass dieser »oft postulierte allgemeine Anspruch […] aus zweierlei Gründen zu modifizieren« sei, Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 142. 27 Diese Skizze ließe sich um die prekäre Frage nach dem Status der Texte ergänzen. Handelt es sich um für bestimmte Zwecke oder auf ein bestimmtes Publikum hin konzipierte Lesepredigten? Sind die Predigten ursprünglich mündlich entstanden und auf diese Situation wieder transparent zu machen? Welche Transformationen haben die Predigttexte selbst mit Blick auf ein bestimmtes Publikum im Zuge ihrer Überlieferung erfahren? Dass es sich bei den schriftlich fixierten Predigttexten nicht um Hörernachschriften handelt, haben Kurt Ruh (vgl. Ruh, Geschichte, S. 224 f.) und später Georg Steer geklärt. Vgl. Georg Steer, Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts. Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer kritischen Edition, in: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, hg. von Georg Stötzel, 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur, Berlin / New York 1985, S. 41-50, und Georg Steer, Zur Authentizität der deutschen Predigten Meister Eckharts, in: Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister Eckhart, hg. von Heinrich Stirnimann in Zusammenarbeit mit Ruedi Imbach, Freiburg / Schw. 1992, S. 127-168; vgl. auch Löser, Eckhart im Original, S. 55 f. Die wichtige Frage nach der Textgeschichte kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht einholen. Das Interesse der Forschung verschiebt sich zunehmend von dem Wunsch nach einem ›Original‹ der Predigten hin dazu, die komplexen Tradierungswege sichtbar zu machen, auf denen die Texte im Lauf ihrer Geschichte bearbeitet und verändert wurden. Vgl. dazu exemplarisch Balázs J. Nemes, Der ›entstellte‹ Eckhart. Eckhart-Handschriften im Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis, in: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Straßburg, hg. von Felix Heinzer, Stephen Mossman und Nigel F. Palmer, Berlin / Boston 2012 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 4), S. 39-98. Zum medialen Status der Predigttexte in der Form, in der wir sie heute lesen, vgl. unten, Kap. I.3.1. Einleitung 15 Entsprechend bleiben die Ergebnisse der Forschung zur historischen Situation von Eckharts Predigt insgesamt eher unbefriedigend. So hat zwar Loris Sturlese 2006 in bahnbrechender Weise das Konzept einer cura monialium für die Eckhartforschung entmythifiziert und gezeigt, dass die ordensgeschichtlichen Quellen nicht hinreichen, um zu belegen, dass Eckhart in den Frauenkonventen gepredigt habe. 28 Eckharts Predigten seien, so das Ergebnis Sturleses, das den bisherigen Endpunkt der Forschung bildet, stattdessen »der normalen Predigttätigkeit zu[zu]weisen, d. h. jener für einen Dominikaner typischen, nämlich in der Kirche des eigenen städtischen Konvents.« 29 Genauer zu bestimmen vermag indes auch Sturlese das Predigtpublikum nicht, sodass sich die Frage danach, wen die Predigten ansprechen, im Grunde genommen nur umso stärker stellt. 30 Wenn Sturlese Eckharts Predigt programmatisch vor den ›Leuten‹ verortet, 31 die in den Texten immer wieder aufgerufen werden, deutet sich ein weiteres, nicht minder wichtiges Moment an: der Rückgriff auf die Predigttexte selbst. Denn diese sperren sich nicht nur, wie angedeutet, dagegen, sich historisch verorten zu lassen, sondern zeichnen sich andererseits auch durch eine Fülle von eigenen Entwürfen eines möglichen Publikums aus, die zunehmend in den Fokus der Forschung rücken. Was so als Forschungsstand hinsichtlich des historischen Publikums der Predigten enttäuschen mag, eröffnet bei näherer Betrachtung neue Anschlussmöglichkeiten mit eigenen Erkenntnispotentialen, einen Wechsel der Perspektive vorausgesetzt. So hat etwa Lydia Wegener mit einem Argument, das konzeptionell ins Zentrum von Eckharts Lehre zielt, deutlich gemacht, dass die deutschen Predigten nicht auf den exklusiven Bezug auf ein weibliches Publikum setzen, wie es das Konzept einer cura monialium suggeriert. 32 Blickt man nicht von einer unterstellten Predigtsituation her auf die Texte, sondern umgekehrt zunächst auf die Texte selbst, so zeigt sich, wie Eckharts Predigten auch die Differenzierung nach Geschlechtern sprengen. Sie setzen nicht an einer spezifisch weiblichen Frömmigkeit an, sondern zielen generell darauf, die Aporien einer religiösen Praxis offenzulegen, die die Entfernung zu Gott im Bemühen, sie zu überwinden, nur verstetigt. Damit richten sie sich auf etwas, das Männer wie Frauen betrifft. 33 Solche gender -Konzepte seien, so Wegener, für Eckhart daher irrelevant: »His doctrine of a rigid internalization, which is focused on 28 Loris Sturlese, Meister Eckhart e la cura monialium . Osservazioni critiche su un mito storiografico, in: Ad ingenii acuitionem - Studies in Honour of Alfonso Maierù, hg. von Stefano Caroti [u. a.], Louvainla-Neuve 2006, S. 463-481. Die deutschsprachige Fassung eröffnet das Meister-Eckhart-Jahrbuch von 2008: Loris Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium : Kritische Anmerkungen zu einem forschungsgeschichtlichen Mythos, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2 (2008), S. 1-16. Die dort entfaltete Perspektive klingt bereits in früheren Arbeiten Sturleses an, vgl. Loris Sturlese, Meister Eckhart. Ein Porträt, Regensburg 1993 (Eichstätter Hochschulreden 90), S. 26 mit Anm. 84. Vgl. dazu unten, Kap. I.1.2. Vgl. zu diesem Problemkomplex zuletzt ausführlich Freimut Löser, Des témoignages de la prédication de Maître Eckhart à Strasbourg? Gertrud von Ortenberg, les Sermons 25-27, et les Sermons 63 et 64, in: Meister Eckhart in Paris and Strasbourg, hg. von Dietmar Mieth [u. a.], Leuven 2017 (Eckhart: Texts and Studies 4), S. 401-432. 29 Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium , S. 14. 30 Vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 143. 31 Vgl. Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium , S. 15. 32 Vgl. Lydia Wegener, Eckhart and the World of Women’s Spirituality in the Context of the »Free Spirit« and Marguerite Porete, in: A Companion to Meister Eckhart, hg. von Jeremiah M. Hackett, Leiden / Boston 2013 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 36), S. 415-443. 33 »[I]t is quite astonishing that modern research has applied Eckhart’s warnings almost exclusively to women, though he never indicates such a gender-restricted point of view […]. [H]e does not oppose an exclusively female spirituality, but an extreme form of affective mysticism that was otherwise 16 Einleitung the uncreated ground of the soul, transgresses such categories.« 34 Was ich oben als ein ›Sperren‹ der Predigttexte bezeichnet habe, wird zum Problem, wenn man darauf zielt, die Predigten historisch zu referentialisieren. Positiv gewendet, ist es Ausdruck des transgressiven Potentials der Texte, die die Geschlechtergrenzen ebenso sprengen wie die Ordnungen nach Stand oder Ordenszugehörigkeit, indem sie »auf die Heiligung eines jeden Menschen [zielen] und […] ihn auf die Göttlichkeit seines eigenen, innersten Seelengrundes [verweisen].« 35 Diese Haltung wertet die Texte so auf, dass sich das, was in historischer Sicht als Defizit erscheinen mag, neu und positiv fassen lässt. Sie liegt meiner Frage nach dem impliziten Adressaten zugrunde. Mein Ziel ist jedoch nicht, darzustellen, welche Entwürfe eines möglichen Publikums die Texte bereithalten, denn die Predigten bleiben in dieser Hinsicht wie angedeutet offen. Es würde zu kurz greifen, Eckharts Predigten jede Differenzierung ihres Publikums abzusprechen, denn die Texte arbeiten in gewisser Weise durchaus mit internen Abgrenzungen verschiedener Typen von Rezipienten, 36 aber sie entfalten ihre Wirkung auf einen Adressaten auf einer anderen Ebene. Wenn ich vom impliziten Adressaten der Predigt spreche, geht es mir also weniger um die textinterne Repräsentation eines möglichen Publikums als darum, wie die Predigten die »universale Anthropologie«, 37 auf die sie zielen, je neu auf ihr Gegenüber hin beziehen. Die Frage lautet dann nicht, wen sie im Einzelnen ansprechen, sondern wie die Predigten ihren umfassenden Entwurf einer Anthropologie, die auf die Präsenz Gottes im Seelengrund jedes Menschen setzt, für ihren impliziten Adressaten je neu aktuell werden lassen. Dabei entwickeln die Texte, wie im Einzelnen zu zeigen sein wird, eine ganz eigene Dynamik, in und mit der der implizite Adressat in den Vermittlungsprozess, von dem die Predigt spricht und den sie sprechend vollzieht, selbst hineingezogen wird. Die Predigten setzen ihren impliziten Adressaten insofern einerseits voraus und entwerfen ihn andererseits im Gang der Rede erst je neu. Die Figur des impliziten Adressaten weist so auf eine Beschreibungsebene, die sich weder in historischer Referenz noch in der textinternen Repräsentation eines möglichen Predigtpublikums erschöpft. Die Frage nach der historischen Performanz der Predigt verschiebt sich zu den performativen Potentialen der Predigttexte. Ich setze daran an, dass Eckharts deutsche Predigten fest in der religiösen wie in der literarischen Kultur des Mittelalters verankert sind. Denn die Predigten beziehen sich nicht nur diskursiv auf die religiöse Kultur ihrer Zeit, sondern partizipieren in ihrer literarischen Verfasstheit auch an einer Kultur vormoderner Textualität, die sich (wie die religiöse Kultur selbst) im Diskursiven gerade nicht erschöpft. Sie thematisieren, erörtern und verhandeln so Fragen religiöser Praxis, die sie aufgreifen und übersteigen, und sie tun das in einer Weise, die selbst ein transgressives Potential aufweist. Was die jüngere literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung mit Stichworten wie ›Performativität‹, ›Präsenz‹ oder ›Ereignis‹ umreißt, weist auf diese Dimension vormoderner Textualität, in der Vollzüge recommended by some preachers and which was practiced by some men and women.« Ebd., S. 421 und S. 423 [Herv. im Orig.]. 34 Ebd., S. 423. 35 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 65. Zu Eckharts Anthropologie vgl. den Überblick von Udo Kern, Eckhart’s Anthropology, in: A Companion to Meister Eckhart, hg. von Jeremiah M. Hackett, Leiden / Boston 2013 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 36), S. 237-251. 36 Vgl. dazu am Beispiel der Kategorie der liute unten, Kap. II.3.3. 37 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 65. Einleitung 17 wichtiger sein können als diskursive Repräsentation, und für die Verstehen nicht auf hermeneutischer Differenz beruhen muss, sondern als Partizipation an der Wahrheit (oder als Identifizierung mit ihr) gedacht sein kann. Wenn ich nach dem impliziten Adressaten von Eckharts Predigten frage, ziele ich - und darin liegt der Reiz wie das Erkenntnispotential der Fragestellung - in das Schnittfeld von religiöser und literarischer Kultur, die in diesem Sinn das Profil von Eckharts Predigten bestimmen, und das heißt: auf den Punkt, in dem die historische Situation der Predigt und die literarische Faktur der Predigttexte zusammenlaufen. Mit der Figur des impliziten Adressaten greife ich auf ein Theorieangebot zurück, das aus der narratologischen Modellbildung stammt: das Konzept eines impliziten Lesers. Wie eingangs angedeutet, ist damit jenes Bild eines Lesers bezeichnet, das jedem Text unabhängig von, quer zu oder jenseits von seiner konkreten Rezeption durch einen Leser immer schon eingeschrieben ist. In der Differenzierung unterschiedlicher Kommunikationsebenen im Erzähltext ist der implizite Leser weder auf der Ebene der erzählten Welt noch auf der Ebene der realen Welt verortet, sondern als Spur dessen verstanden, wie der Autor sich seinen Leser vorstellt, die sich im Text niederschlägt. 38 Auch wenn dieses Konzept auf den ersten Blick nicht nur denkbar weit von meinem Gegenstand entfernt, sondern auch innerhalb der narratologischen Modellbildung nicht unumstritten ist, macht es einen ausschlaggebenden Punkt deutlich, auf den ich ziele, wenn ich den Transfer dieser Kategorie in die Predigtforschung vorschlage: Es greift zu kurz, das Verhältnis von Text und Leser nur losgelöst voneinander auf den Ebenen historischer Realität einerseits, textinterner Inszenierung andererseits zu betrachten. Diesem komplexen Verhältnis davon, dass etwas ›im‹ Text enthalten sein kann, ohne sich dabei im Textinternen zu erschöpfen, spüren die einzelnen Konzepte impliziter Textadressaten, die die Erzählforschung kennt, auf je eigene Weise nach. In dem, was das Konzept in einer Hinsicht so prekär macht, liegt im gleichen Moment das Potential, das diese Kategorie bietet, um jene Ebene ›dazwischen‹ in den Blick zu fassen, auf der im Text etwas Wirklichkeit gewinnt. In diesem Sinn bilden Eckharts Predigten weder ein bestimmtes historisches Publikum einfach ab, noch entwerfen sie ›nur‹ textinterne Repräsentationen eines möglichen Publikums, sondern sie entwickeln im Gang der Rede eine Dynamik, die den impliziten Adressaten der Predigt als Gegenüber dieser Bewegung erst hervorbringt. Eine solche Lektüre, die auf die performative Dimension der Texte zielt, ist ihrerseits, soweit ich sehe, in der erzähltheoretischen Modellbildung ursprünglich nicht angelegt. 39 Den engen narratologischen Kontext zu überschreiten, könnte so neue Erkenntnispotentiale generieren und aufschlussreich in beide Richtungen sein. Es könnte helfen, jene Ebene besser zu beschreiben, auf der in den Predigten ganz eigene Dynamiken der Adressierung zur Geltung kommen. In umgekehrter Richtung könnte die Arbeit an Texten, die dem Entstehungszusammenhang des Konzepts eines impliziten Lesers denkbar fern stehen, aber auch dazu beitragen, den Blick für das komplexe Wechselspiel von Inszenierung und Performierung 40 zu schärfen, in und mit dem der implizite Adressat möglicherweise auch 38 Vgl. dazu ausführlich unten, Kap. I.2. 39 Vgl. dazu jetzt aber Alexandra Strohmaier, Zur Performativität des Narrativen: Vorüberlegungen zu einer performativen Narratologie, in: Language and World. Part Two: Signs, Minds and Actions, hg. von Volker Munz, Klaus Puhl und Joseph Wang, Frankfurt [usw.] 2010, S. 77-93. 40 Damit greife ich Burkhard Hasebrinks Formulierung auf, dass sich in Eckharts Predigten Theoretisierung und Performierung durchdringen, vgl. Hasebrink, mitewürker gotes , S. 67. 18 Einleitung in anderen Texten erst Kontur gewinnt. Die deutschen Predigten Eckharts könnten dann aufgrund ihres Profils ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand dazu sein. Die Frage nach dem impliziten Adressaten der Predigt Meister Eckharts verspricht so in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich zu sein. Sie bringt die Wende von einer sozialgeschichtlich orientierten Fragerichtung hin zu der Vorstellung einer textuellen Performativität für die Predigten Eckharts in Anschlag. Zugleich zielt sie darauf, den Adressatenbezug, der die Predigten auszeichnet, als zentrale Dimension der Gattung (neu) zu fokussieren. Wenn ich vom impliziten Adressaten spreche, dann auch, um sichtbar zu machen, dass der Adressat der Texte in diesen angelegt ist, sodass die Anrede im Grunde genommen nur etwas ausfaltet, das in gewisser Weise immer schon da ist. 41 Ließe sich beschreiben, wie der implizite Adressat vom und im Text als Figur entworfen wird, die in der Anrede, im Gang der Rede, in der Wiederholung ihre Identität gewinnt, dabei aber auch auf spezifische Weise je neu dynamisiert werden kann, so ließe sich auf der Ebene des Adressatenbezugs der Predigt etwas sichtbar machen, das die Texte thematisch immer wieder umkreisen: das Freilegen der Präsenz Gottes im Seelengrund, die für jeden Menschen immer schon gegeben ist, dem Menschen in seinem Selbstbezug aber so lange verstellt ist, wie er nicht zum eigenen göttlichen Grund durchbricht. In dem Fluchtpunkt, engzuführen, wie die Predigten diese Bewegung nicht bloß diskursiv erörtern, sondern in und mit der Bewegung ihres impliziten Adressaten selbst vollziehen, liegt der spezifische Reiz der Frage nach dem impliziten Adressaten. Diese Bewegung bezieht sich zunächst auf jede einzelne Predigt für sich. Erst im Textverlauf wird sichtbar, wie die Predigten je unterschiedliche Dynamiken entwickeln, die ihren impliziten Adressaten affizieren. Methodisch stelle ich deshalb Einzelinterpretationen ausgewählter Predigten in den Mittelpunkt, die ich in Form eines close reading in einem ersten Schritt möglichst genau beschreibe. Meine Textlektüren zielen deutend auf Exemplarizität, nicht quantifizierend auf Vollständigkeit. Ich setze an den Predigten mit den Nummern 4, 14 und 6 in der Edition Josef Quints an, weil sie je etwas auf besondere Weise sichtbar werden lassen, das zum Teil auch für andere, aber nicht für alle Predigten gilt. Die prinzipielle hermeneutische Spannung, schon in und mit der Fragerichtung etwas vorauszusetzen, das erst die Textanalysen aufweisen können, prägt auch diese Arbeit. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Prämissen der Beschreibung und Deutung so deutlich wie möglich mitlaufen zu lassen. Ich trage dem Rechnung, indem ich auf die Textanalysen im zweiten Teil der Arbeit mit einem ersten Teil hinführe, in dem ich genauer darlege, was ich hier zunächst nur angerissen habe. Im folgenden ersten Teil der Arbeit entwickele ich meine Fragerichtung in Auseinandersetzung mit Perspektiven der Forschung, erläutere den Kontext, dem das Modell eines impliziten Adressaten im Text entstammt, und reflektiere den Transfer dieses Modells als Analysekategorie für die deutschen Predigten Eckharts. Hierbei kläre ich auch die zentrale Frage nach dem genauen methodischen Vorgehen. In diesem Sinn versuche ich, vor allem der zweiten Bitte (der nach distanzierter, kontextualisierender Interpretation) 41 Ähnlich wie die Metapher im rhetorischen Sinn ein implikativer Ausdruck ist, wäre der implizite Adressat in diesem Sinn im Text immer schon angelegt, auch wenn er seine Wirklichkeit erst jenseits des Textes erhält. Zu der Bezeichnung ›implikativer Ausdruck‹ in diesem Zusammenhang vgl. Susanne Köbele, Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds Tristan , in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Udo Friedrich und Bruno Quast, Berlin / New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 219-246, hier S. 224. Einleitung 19 nachzukommen, die Kurt Flasch im Eingangszitat den Texten in den Mund legt. Wie sich aus dem Vorangegangenen ergibt, besteht mein Ziel jedoch nicht darin, die Texte umfassend in ihrem historischen Kontext zu verorten, sondern darin, so methodisch kontrolliert wie möglich zu beschreiben, welche Signatur die Texte mit ihren jeweiligen Strategien und Dynamiken der Adressierung in diesem Kontext erhalten. Die anschließenden Analysen im zweiten Teil der Arbeit sind in sich geschlossen, bauen aber inhaltlich aufeinander auf. Die Predigttexte erörtern nicht nur ihre jeweiligen Themen diskursiv, deuten sie um und transformieren sie auf diese Weise, sondern streben auf einer anderen Ebene grundsätzlich das Überformtwerden durch Gott im Sinn einer umfassenden transformatio des Menschen an. Dabei involvieren und dynamisieren sie ihren impliziten Adressaten so, dass sie die transformatio an ihm selbst vollziehen. Dies in den Lektüren dreier unterschiedlicher Predigten je für sich und ebenso im Ganzen sichtbar werden zu lassen, ist das Ziel dieser Arbeit. I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten. Forschungsperspektiven 21 I. Grundlegung I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten. Forschungsperspektiven 1. Im Spannungsfeld von historischer Situation und literarischem Entwurf. Konturen der Forschungsfrage Der Bezug auf einen Adressaten ist der Predigt von Grund auf eingeschrieben. Das betrifft ihren ›Sitz im Leben‹, ihre historische Situation vor Publikum ebenso wie ihre literarischrhetorische Dimension als Rede, die sich immer schon an ein Gegenüber richtet. Wenn ich auf der einen Seite vom Publikum, auf der anderen Seite vom Adressaten der Predigt spreche, unterscheide ich zwischen den konkreten Rezipienten der Predigt in ihrer historischen Situation und der Instanz, an die der Prediger seine Botschaft richtet. Adressat und Rezipient einer Botschaft können zusammenfallen, sind aber funktional klar zu trennen. 1 Von ihrem Anspruch her, eine religiöse Heilsbotschaft zu verkünden, 2 ist die Predigt zentral an ihrem Publikum ausgerichtet, das sie anspricht, um es im Licht der verkündeten Botschaft zu verändern. Als situationsgebundene, persuasive Rede ist sie aufs engste mit dem Vortrag vor Publikum verknüpft. Im Predigttext ist das Publikum jedoch immer nur mittelbar präsent; der Adressat der Rede ist im Text nur als literarisch-rhetorischer Entwurf greifbar. Wenn ich die Forschungsfrage nach den Adressaten von Eckharts deutschen Predigten in einem Spannungsfeld von historischer Situation und literarischem Entwurf verorte, geht es mir darum, diesen doppelten Bezug sichtbar werden zu lassen, den die Predigt systematisch schon in sich birgt - und der freilich komplexer wird, wenn die konkrete Situation der Predigt und der Predigttext auseinandertreten. So kommt die historische Situation der Predigt vor Publikum nicht ohne den Predigttext aus, und der Text mit seinem literarisch-rhetorischen Entwurf eines Adressaten ist nicht zuletzt seinerseits Bestandteil eines bestimmten geschichtlichen Kontexts, den er mit prägt. Zu der konkreten historischen Situation der Predigten Eckharts vor Publikum haben wir heute keinen Zugang mehr. Dennoch rufen die Texte diese Situation in gewisser Weise immer mit auf - nicht ohne sich in ihrer literarisch-rhetorischen Faktur auch quer dazu zu stellen. Insofern zielt 1 »Der Empfänger zerfällt […] in zwei Instanzen, die funktional oder intensional zu scheiden sind, auch wenn sie material oder extensional zusammenfallen: in den Adressaten und den Rezipienten . Der Adressat ist der vom Sender unterstellte oder intendierte Empfänger, derjenige, an den der Sender seine Nachricht schickt, den er beim Verfassen als vorausgesetzte oder gewünschte Instanz im Auge hatte, der Rezipient ist der faktische Empfänger, von dem der Sender möglicherweise […] nur eine allgemeine Vorstellung hat.« Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin / New York 2 2008, S. 43 [Herv. im Orig.] - Ich spreche vom Publikum, nicht von den Rezipienten der Predigt, um jene Dimension von Aufführung mit in den Blick zu rücken, die die Vorstellung vom Publikum als einer »an einer Kommunikationssituation partizipierende[n] Gruppe von Rezipienten« (Sylvia Usener, Art. ›Publikum‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik VII (2005), Sp. 452-474, hier Sp. 452) anzeigt. 2 Vgl. Burkhard Hasebrink und Hans-Jochen Schiewer, Art. ›Predigt‹, in: RLW III (2003), S. 151-156, hier S. 151. Vgl. zur Predigt als Textsorte in systematischer Hinsicht daneben auch Albrecht Beutel, Art. ›Predigt (A.)‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik VII (2005), Sp. 45-51. Zur historischen Gattungsproblematik der mittelalterlichen Predigt vgl. unten, Kap. I.3.1, S. 49 f. mit Anm. 151. 22 I. Grundlegung die Frage nach den Adressaten der Predigt Eckharts immer schon in ein Spannungsfeld, in dem sich ihre konkrete geschichtliche Situation als Rede vor Publikum und ihre literarischrhetorische Faktur überlagern. Wenn ich im Folgenden historische und literarische Perspektiven unterscheide, soll kein Gegensatz indiziert, sondern auf zwei Pole verwiesen sein, zwischen denen sich ein Spektrum von Forschungsperspektiven öffnet. Dabei muss ein historischer Zugang nicht ausschließen, auch die Predigttexte in ihrer literarisch-rhetorischen Faktur zu berücksichtigen, und literarische Perspektiven sind ihrerseits auch historisch orientiert. Historisch nenne ich in der Abgrenzung die Sicht, für die die Frage nach den Adressaten vor der Folie der historischen Situation von Eckharts Predigt steht, der es also um den ›Sitz im Leben‹ der Predigten geht; literarisch die, die aus predigtinterner Sicht nach Entwürfen eines Adressaten im Text fragt. Beide Perspektiven sind fest in der Forschungstradition verankert. Sie lassen sich, systematisch gesehen, rückbinden an die Form von Adressatenbezug, die der Predigt schon von ihrer Gattung her eingeschrieben ist (der Adressat als Gegenüber rhetorischpersuasiver Rede bzw. als literarischer Entwurf; die Predigt als situationsgebundene Rede vor konkret-historischem Publikum), ohne darin aufzugehen. Damit, dass ich die historischen vor die literarischen Perspektiven stelle, ist keine chronologische Aussage verbunden; beides steht nebeneinander und greift wie angedeutet ineinander. Insgesamt jedoch spiegelt die Art und Weise, wie die Frage nach den Adressaten der deutschen Predigten je neu gestellt und beantwortet wird, auch den Wandel von Forschungsparadigmen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Eckharts Werk. Während die ältere Forschung dazu tendiert hat, historische Kontexte als Bedingung oder Erklärung für die Predigten heranzuziehen (und die Frage nach dem Predigtpublikum in diesem Sinn als Frage historischer Referenz zu stellen), hat sich das Interesse in den letzten Jahrzehnten stärker zu den Texten selbst verlagert, die auf ihre jeweiligen Inszenierungsformen hin untersucht werden. Im Zuge dessen zeichnet sich schließlich die Möglichkeit ab, aus literarischer Perspektive die Frage nach der historischen Situation der Predigten neu zu stellen. Liest man die Predigten nicht nur auf eine historische Kommunikationssituation hin, sondern fasst stattdessen ihre kommunikativen, performativen Potentiale in den Blick, so können an die Stelle der Frage nach historischer Realität Lektüren treten, die auf das wirklichkeitsschaffende Potential der Predigttexte gerichtet sind. Diese Sichtweise fortzuschreiben, ist das Ziel dieser Arbeit. 2. Von der cura monialium zur Predigt vor den liuten. Historische Perspektiven Gerade für die ältere Forschung bildet das Publikum einen wichtigen Deutungsfaktor, der die Lektüre von Eckharts Predigten mit bestimmt. Dabei wird ein möglicher Wirkungskreis Eckharts als Interpretament für die Textlektüre herangezogen, und die Predigttexte selbst werden als historische Quellen funktionalisiert, um ihren ›Sitz im Leben‹ zu rekonstruieren. Die Frage nach Eckharts Predigtpublikum führt in dieser Linie unmittelbar in den Problemkomplex einer cura monialium hinein, der die Forschung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geprägt hat. I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten 23 Ihren Ausgang nimmt die Assoziation von Eckharts deutschen Predigten mit der zeitgenössischen Frauenspiritualität in einer kurzen Studie Heinrich Denifles. 3 Denifle entwickelt den Gedanken, dass im Rahmen der Umstrukturierung der dominikanischen Frauenkonvente Ende des 13. Jahrhunderts ›gelehrte Brüder‹ ( fratres docti ) des Ordens zunehmend mit der geistlichen Betreuung der Schwestern beauftragt worden seien; der Predigtauftrag erkläre zugleich die ›mystische‹ Predigtweise des Ordens. 4 Denifles These geht ein in die Arbeiten Herbert Grundmanns, der seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts den Gedanken, die Predigttätigkeit der dominikanischen Mystiker sei in der Betreuung von mulieres religiosae verankert, in umfangreichen historischen Studien zu plausibilisieren versucht hat. 5 Trotz der problematischen, weil ebenso voraussetzungsreichen wie aus heutiger Sicht sorglosen Argumentation, auf der insbesondere die Arbeit Denifles beruht, 6 hat sich der dort angelegte Grundgedanke als wirkmächtig erwiesen. Auch wenn weder Denifle noch Grundmann speziell über Eckhart sprechen, sondern die ›mystischen‹ Prediger insgesamt in den Blick fassen, bildet die Figur Eckharts doch als herausragender Vertreter dieser ansonsten nicht genauer bestimmten Gruppe einen Fluchtpunkt ihrer Argumentation. Beide stellen nicht in Frage, dass eine so verstandene cura monialium in den Frauenkonventen des Predigerordens (Denifle) bzw. für religios lebende Frauen überhaupt (Grundmann) zentrale Aufgabe auch des Predigers Eckhart gewesen sei. Es ist Kurt Ruh, der anschließend den Gedanken der Frauenseelsorge als Interpretament für die deutschen Predigten innerhalb der germanistischen Eckhartforschung entscheidend fort- und festschreibt. Für Ruh steht fest, dass »die Begegnung der Predigermönche mit der Welt der dominikanischen Klosterfrauen […] der sozialgeschichtliche Ort der spezifischen Ordensmystik« 7 ist. Indem er Eckharts Predigt in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Frömmigkeitsformen wie der Beginenspiritualität verortet, leistet Ruh einen grundlegenden Beitrag zur Historisierung der Predigt, und er verleiht der Figur Eckharts als Prediger Profil. Aus seinen Arbeiten spricht ein emphatischer Mystik-Begriff, der entscheidend von der entworfenen historischen Situation der deutschen Predigten zehrt, 8 forschungsgeschichtlich aber von zunehmender Differenzierung abgelöst wird. Paradigmatisch trägt in diesem Sinn Otto Langer seit den späten 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dazu bei, die Predigten Eckharts im Dialog mit der ›Frauenfrömmigkeit 3 Heinrich Denifle, Über die Anfänge der Predigtweise der deutschen Mystiker, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2 (1886), S. 641-652. 4 Vgl. ebd., S. 645-647. 5 Herbert Grundmann, Die geschichtlichen Grundlagen der Deutschen Mystik, in: DVjs 12 (1934), S. 400-429, und Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Darmstadt 2 1961. Marie-Luise Ehrenschwendtner zitiert die Arbeiten Grundmanns aus historischer Perspektive immer noch als »[g]rundlegend für die Untersuchungen zur religiösen Literatur in der Volkssprache«. Marie-Luise Ehrenschwendtner, Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 43. 6 Denifle stützt seine These auf den Wortlaut einer Admonitio Hermanns von Minden, die anmahnt, dass den Schwestern von ›gelehrten Brüdern‹ gepredigt werden solle. Diese fratres docti setzt Denifle im Anschluss mit den »Magistri und […] Lectoren der Theologie« (Denifle, Anfänge der Predigtweise, S. 645) des Ordens gleich, denen er wiederum Eckhart zuordnet, vgl. ebd., S. 645-647. 7 Ruh, Meister Eckhart, S. 111; vgl. ebenso Ruh, Geschichte, S. 242. 8 »Was aber die mystische Spiritualität dieser Predigten betrifft, so trat sie nur ins Leben, weil Vertreter einer mystisch-spekulativen Theologie Klosterfrauen zu predigen hatten, die bereits in einer Aura mystischer Vorstellungen lebten.« Ruh, Meister Eckhart, S. 111 f. 24 I. Grundlegung seiner Zeit‹ historisch zu verorten. 9 Ausgehend von der Annahme, dass Texte »angemessen nur verstanden werden [können], wenn sie von ihrem ursprünglichen ›Sitz im Leben‹ aus interpretiert werden«, 10 versucht Langer, »die Predigten Eckharts als historisch bedingte Antwort auf Fragen zu verstehen, wie sie innerhalb der zeitgenössischen Armutsbewegung und insbesondere in Eckharts Wirkungsbereich diskutiert wurden.« 11 Um die »in den Frauenkonventen geltende Lebenslehre« 12 zu rekonstruieren, greift er auf die den Konventen entstammende Vitenliteratur zurück. Im Vergleich zu den Nonnenviten, aus denen sich eine »charismatische Spiritualität« 13 erschließen lasse, sieht Langer Eckharts Predigten grundsätzlich durch die kritische Tendenz einer »ethisch-religiöse[n] Rationalisierung« geprägt. 14 Wenn Langer die Nonnenviten als Interpretament für die Predigten heranzieht, wäre deren Status genauer zu klären, vor allem aber der Schluss von den spezifischen Inszenierungsformen von Frömmigkeitspraktiken auf die Ebene gelebter Realität zum einen, 15 die einseitige Auffassung der Predigten als Reaktion auf weibliche Frömmigkeitsformen zum anderen deutlich zu problematisieren. 16 In seiner jüngeren Mystik-Geschichte beschreibt Langer Eckharts Verhältnis zur Frauenmystik weniger hierarchisierend. Beides, Eckharts Texte und die Texte der Frauenmystik, fasst Langer treffend als »verschiedene Ausdrucksformen und Gestaltungen der religiösen Armutsbewegungen« 17 auf, in die auch Eckhart involviert war. Die Perspektive, in der die Predigten als Korrektiv für weibliche Frömmigkeitsformen erscheinen, schreibt sich in dieser Arbeit jedoch fort. 18 An die Linie von Kurt Ruh und Otto Langer schließen zahlreiche Arbeiten an, die, sozialgeschichtlich orientiert, das Verhältnis Eckharts zu der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit für das Verständnis der deutschen Predigten fruchtbar machen möchten. 19 Die Stoßrichtung 9 Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München / Zürich 1987 (MTU 91); Otto Langer, Meister Eckhart und sein Publikum am Oberrhein. Zur Anwendung rezeptionstheoretischer Ansätze in der Meister-Eckhart-Forschung, in: Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen, hg. von Klaus Jacobi, Berlin 1997 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 7), S. 175-192. 10 Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie, S. 6. 11 Ebd., S. 18. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Langer zieht die Viten explizit als »Grundlage für die Rekonstruktion der Normen und Ideale des Nonnenlebens zur Zeit Eckharts« (ebd., S. 48) heran. Vgl. zu diesem Kritikpunkt auch Niklaus Largier, Meister Eckhart. Perspektiven der Forschung, 1980-1993, in: ZfdPh 114 (1995), S. 29-98, hier S. 47. 16 »Es bleibt fraglich, wie weit Eckharts Werk, das sich an Mitbrüder, an theologisch geschulte Menschen, zweifellos aber auch an Laien und Nonnen wandte, in seinem Kern als ›Auseinandersetzung‹ mit zeitgenössischen Formen volkssprachlicher Spiritualität zu bezeichnen ist«. Largier, Perspektiven der Forschung, S. 46 f. Wenn Niklaus Largier an diese Stelle die Vorstellung dialogischer Beziehungen setzt, weist er den Weg zu einer differenzierteren Sicht. Er spricht selbst von einer »Auseinandersetzung […] im Sinne einer Gegenseitigkeit, in der Eckhart auf eine Spiritualität reagiert haben wird, die theologisch und konzeptuell einiges zu bieten hatte«. Ebd., S. 47. 17 Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung - Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, S. 307. 18 So diagnostiziert Langer in den Predigten Eckharts eine »Tendenz zur Ethisierung, Spiritualisierung und ontologischen Fundierung seiner Lebenslehre«, die »nicht zuletzt aus seinem Versuch [resultiere], eine charismatische Religiösität in orthodoxen Bahnen zu halten, ohne ihre Spontaneität zu brechen.« Ebd., S. 307. 19 Vgl. zusammenfassend zur älteren Forschung die Forschungsberichte von Niklaus Largier, Perspektiven der Forschung, und Niklaus Largier, Recent Work on Meister Eckhart. Positions, Problems, New Perspectives, 1990-1997, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 65 (1998), S. 147-167. I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten 25 der Argumentation verändert sich nicht: Eckhart habe, wie es seiner Profession als Prediger entspreche, auf die spezifischen Bedürfnisse seines weiblichen, an Fragen religiöser Lebensführung interessierten Publikums reagiert, was sich in seinen Predigten im Hinblick auf ihre Thematik wie ihre Form niederschlage. 20 Die problematischen Implikationen des Konzepts einer cura monialium werden erst in jüngerer Zeit sichtbar gemacht. 21 Sie betreffen die Gruppe jener mulieres religiosae , die abzugrenzen und in sich genauer zu fassen schwierig ist. 22 Problematisch sind vor allem die undifferenzierten Bilder, die damit zum Bildungsstand der ›frommen Frauen‹ transportiert werden, sowie die Frage, was Betreuung in diesem Zusammenhang genau bedeutet. In der Verbindung aus der relativen Offenheit eines Konzepts, das unscharf bleibt, und den markanten gender -Stereotypien, die in die Vorstellung einer Predigt ›vor den Frauen‹ einfließen, entwickelt die cura monialium eine ganz eigene Suggestivkraft, die sich nicht in der Beschreibung historischer Realität erschöpft. Welche problematischen Implikationen in diesem Konzept stecken, zeigen die Beispiele für die ältere Forschung überdeutlich, in der die cura emphatisch aufgeladen als Korrektiv für eine Mischung aus weiblich konnotierter Unbedarftheit und einem Übermaß an ekstatischer Frömmigkeit verstanden ist. 23 Reflexe dieser Sicht lassen sich in nuancierter Form bis in jüngere Arbeiten hinein aufspüren. 24 Zum jüngeren Forschungsstand vgl. Dagmar Gottschall, Nikolaus von Straßburg, Meister Eckhart und die cura monialium , in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2 (2008), S. 95-118, und Wegener, Eckhart and the World of Women’s Spirituality. 20 Ein Reflex einer solchen Verbindung von Thema, Form und einem Predigtpublikum »largely composed of Dominican nuns and Beguines« als Zuhörerinnen, deren Interesse sich primär auf »union with God and ecstatic, visionary experiences« gerichtet hätte, findet sich z. B. bei Bruce Milem, Meister Eckhart’s Vernacular Preaching, in: A Companion to Meister Eckhart, hg. von Jeremiah M. Hackett, Leiden / Boston 2013 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 36), S. 337-358, hier S. 339. 21 Vgl. zusammenfassend Wegener, Eckhart and the World of Women’s Spirituality, S. 417-424. Vgl. auch Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium . 22 So suggeriert die Vorstellung einer cura monialium eine Homogenität eine solchen Gruppe von mulieres religiosae , die in ihrem Verhältnis zur historischen Vielfalt von Lebensformen zumindest zu hinterfragen wäre. Es geht um Mitglieder der Frauenkonvente des Prediger-, aber auch anderer Orden oder um Beginen, deren Lebensform sich »zwischen klösterlichem Ordo und frommem Laienleben« (Ruh, Meister Eckhart, S. 97) verortet. 23 In der älteren Forschung zeigt sich für die cura ein Spektrum, das von einem problematischen Begriff von Bildung ( eruditio als Unterricht? , Ausbildung? , Erziehung? ) bis zur Vorstellung einer Kanalisierung exzessiver Frömmigkeit reicht (Grundmann, Die geschichtlichen Grundlagen, S. 429: Aufgabe der Prediger sei es gewesen, »dem religiösen Erleben, Fühlen und Denken und der mystischen Frömmigkeit der ihrer Leitung anvertrauten Kreise eine geistige Form zu geben«). Auch für ein neutrales Konzept einer cura im Sinn pastoraler Betreuung (Lydia Wegener paraphrasiert: »spiritual guidance for monastic women«, Wegener, Eckhart and the World of Women’s Spirituality, S. 419) ist zu klären, welche Aspekte die Betreuung genau umfasst. Zu einer historisch differenzierteren Perspektive vgl. Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen 1999 (Bibliotheca Germanica 38), Ehrenschwendtner, Die Bildung der Dominikanerinnen, und Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium . 24 So zieht z. B. Dietmar Mieth mit Blick auf das Verhältnis Eckharts zu Marguerite Porete zwar ohne die Emphase älterer Forschung, aber doch aufs Neue ›religiöse Bedürfnisse‹ auf der einen, eine ›spekulative Kraft‹ auf der anderen Seite als Erklärungsmodell für die beobachteten Textparallelen heran. Marguerite figuriere, so Mieth, als »›Spiegelung‹ religiöser Bedürfnisse […], an denen Meister Eckhart, der Prediger, nicht vorbeigehen durfte und wollte. Er nahm diese Bedürfnisse ernst und hat sie in den Rahmen seiner eigenen spekulativen Kraft einbezogen, er hat sie teils bestätigt, teils kritisiert.« Dietmar Mieth, Meister Eckhart, München 2014, S. 139. Anders (»Marguerite Porete und Meister Eckhart im Gespräch«) jetzt in Dietmar Mieth, Geflügelte Motive und Leitbilder: Meister Eckhart liest 26 I. Grundlegung Unabhängig von der Frage, wie man Eckharts Verhältnis zur ›Frauenfrömmigkeit seiner Zeit‹ (Langer) historisch je genau aufschlüsselt, erweist sich die Vorstellung einer cura monialium letztlich weniger als differenzierte Beschreibung einer historischen Situation denn als wirkmächtiges Deutungsmuster für die damit assoziierten Predigttexte. 25 Das Prekäre an einem solchen Deutungsmuster ist nicht, dass Eckharts Predigten überhaupt in Verbindung mit der ›Frauenfrömmigkeit seiner Zeit‹ gebracht werden. Wie Lydia Wegener zu Recht betont, wäre eine Lehre, die sich gegen falsch verstandene Frömmigkeitspraktiken wendet, »[w]ithout any reference to the living conditions of his listeners […] utterly pointless«; 26 und es spricht nichts dagegen, Frauen in diesem Sinn auch zu Eckharts Zuhörern zu zählen. 27 Schwierig ist jedoch, dass das Konzept einer cura monialium seinen Konstruktionscharakter verbirgt: Mit der ihr eigenen Suggestivkraft ruft die Vorstellung einer cura monialium Bilder historischer Situationen wie die Predigt vor den unbedarften, ekstatisch-frommen Frauen, die sie als Realität zu beschreiben vorgibt, eigentlich erst hervor und schreibt sie fest. So findet man sich schließlich auf elementare Fragen des Verhältnisses von Text und Kontext verwiesen, die den engen Problembereich des Konzepts einer (wie auch immer genauer zu konkretisierenden) Frauenseelsorge überschreiten. Gerade für Texte, die wie die von Langer herangezogenen Viten mit vielfältigen literarischen Inszenierungsformen arbeiten, die möglicherweise eigene Wirklichkeiten generieren, ist die Trennlinie zwischen Text und Kontext vielleicht nicht so scharf zu ziehen, wie es das sozialgeschichtliche Projekt suggeriert, Texte unmittelbar in ihrer geschichtlichen Situation zu verorten. Die Frage nach dem historischen Publikum von Eckharts Predigten führt so bei genauer Betrachtung auf Aporien ›einfacher‹ historischer Verortung überhaupt. Die Sicht, in der die Predigt als Ergebnis einer Beeinflussung durch die Erfordernisse ihrer Zeit erscheint, wird von den komplexen kulturellen Kontexten, in denen sich die Texte verorten und die sie mit prägen, relativiert. Von den sich im Umfeld neuerer literatur- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen abzeichnenden Bemühungen, die »Verkürzungen einer Literatursoziologie« 28 zugunsten einer historisch differenzierteren Sicht zu überschreiten, könnte so auch die Eckhartforschung noch wichtige Impulse beziehen. Es ginge dann weniger um eine Lektüre im Paradigma von Einflüssen, sondern darum, den Blick zu schärfen für die Verflechtungen der Texte in den Diskursen, deren Teil sie jeweils sind - Marguerite Porete, in: Meister Eckhart in Paris and Strasbourg, hg. von dems. [u. a.], Leuven 2017 (Eckhart: Texts and Studies 4), S. 23-50, hier S. 48. 25 Wenn ich von einem Deutungsmuster spreche, lehne ich mich Armin Schulz’ Verwendung des Begriffs an, der mit Blick auf den Umgang der älteren Forschung mit mittelalterlichen Erzähltexten von Deutungsmustern wie z. B. dem ›Stoffzwang‹ spricht. Vgl. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller, Berlin / New York 2012, S. 6. Ähnlich akzentuiert Lydia Wegener, wenn sie mit Blick auf die Kenntnis des Mirouer Marguerite Poretes, die die Forschung Eckhart zuschreibt, festhält, diese sei »more a historiographical concept than a historical fact.« Wegener, Eckhart and the World of Women’s Spirituality, S. 441. 26 Wegener, Eckhart and the World of Women’s Spirituality, S. 421. 27 Im Gegenteil verorten die einzigen Rückverweise, die sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit konkret lokalisieren lassen, zwei Predigten Eckharts gerade in Frauenkonventen. Vgl. dazu oben, Einleitung, S. 14; vgl. auch Wegener, Eckhart and the World of Women’s Spirituality, S. 419 mit Anm. 16, und Irmgard Kampmann, Eckhart und die Frauen, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 7 (2014), S. 123-137, hier S. 132. 28 Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Einleitung, in: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. von dens., Zürich 2008 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 3), S. 9-21, hier S. 15. I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten 27 im Sinn des Imaginären einer Kultur, für die das Beobachten, Verhandeln und Reflektieren ihrer eigenen Ordnungsmuster konstitutiv ist. 29 Es ist Loris Sturlese, der in einem zentralen Aufsatz nicht nur auf die kritischen Implikationen der Vorstellung einer cura monialium aufmerksam gemacht hat, sondern die enge Verbindung von Eckharts Predigttätigkeit mit der pastoralen Betreuung ›frommer Frauen‹ überhaupt grundsätzlich und nachhaltig in Frage gestellt hat. 30 Seine Ergebnisse markieren einen Wendepunkt der Forschung; ich gehe auf seine Argumentation deshalb ausführlicher ein. Im Fokus von Sturleses Untersuchung steht Eckharts ›Straßburger Jahrzehnt‹. 31 Für die Grundannahme bisheriger Forschung, dass Eckhart in dieser Zeit in einer cura monialium tätig gewesen sei, gebe es, so das Ergebnis Sturleses, keine hinreichenden historischen Beweise. Nur eines der drei in der Forschung angeführten Dokumente bringe Eckhart überhaupt »mit Sicherheit […] zu einem Frauenkonvent in Beziehung«. 32 Dieses Dokument - ein Brief, der im Dezember 1322 die Verfügungen bestätigt, die zwei als Vikare geschickte Visitatoren für das Kloster Unterlinden erlassen haben 33 - habe entscheidend dazu beigetragen, dass »die Forschung die Idee [entwickelte], Eckhart sei Vikar gewesen mit Verantwortung für elsässische Frauenkonvente während der gesamten in Frage kommenden Periode«. 34 Bei der in diesem Zusammenhang geübten cura handele es sich jedoch, ziemlich verschieden von dem, was die mystische Geschichtsschreibung suggeriert […], weder um begeisterte Predigten noch um mystische Erfahrungen, [noch] um die Begegnung von fratres docti mit der ›Erlebniswelt der Klosterfrauen‹, sondern um Bestimmungen über den Kaplan, über die Zahl der Beichtiger und über die Disziplin der Dienstleute. Es sind Verfügungen, die […] weit mehr als hohe Fragen der Spiritualität den Alltag der Rechtskonflikte betreffen […]. 35 Selbstverständlich habe Eckhart gepredigt; »er war Dominikaner, Predigen war sein Beruf.« 36 Der Ort seiner Predigt jedoch sei bis auf wenige Ausnahmen nicht in Frauenkonventen, sondern der der »normalen Predigttätigkeit« eines Dominikaners gewesen, »nämlich in der Kirche des eigenen städtischen Konvents.« 37 Um diese Sicht zu stützen, zieht Sturlese seinerseits drei Belege heran: die ›Verteidigungsschrift‹ Eckharts, in der dieser von seinem Ruf in populo spricht, die päpstliche Verurteilungsbulle, die Eckharts Predigt programmatisch coram vulgo simplici verortet, sowie eine mit Blick auf Eckhart 29 Damit greife ich den Begriff des Imaginären von Cornelius Castoriadis in der Form auf, in der Jan-Dirk Müller ihn zur Beschreibung des Verhältnisses literarischer Texte zu ihren kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten geprägt hat, vgl. Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, bes. S. 9-17. Müllers Auseinandersetzung mit der Dichotomie von Text und Kontext ist auf literarische, d. h. in Müllers Perspektive fiktionale Texte ausgerichtet. Für die Predigt, die gerade nicht »von pragmatischen Bedingungen dispensiert ist« (ebd., S. 7), wären seine Überlegungen im Einzelnen sicher zu modifizieren. Die Dichotomie von Text und Kontext in diesem Sinn zu überschreiten, wäre aber ausschlaggebend dafür, kulturwissenschaftlich fundiert beschreiben zu können, wie die Predigt auf ihre historische Situation Bezug nimmt und diese zugleich mit prägt. 30 Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium . 31 Ruh, Meister Eckhart, S. 136. Vgl. Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium , S. 3. 32 Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium , S. 13. 33 Vgl. ebd., S. 11. 34 Ebd., S. 12. 35 Ebd., S. 12 f. 36 Ebd., S. 13. 37 Ebd., S. 14. 28 I. Grundlegung ausgesprochene Warnung des Ordensgenerals aus dem Jahr 1328, subtile Lehrmeinungen ad populum zu predigen. 38 »Jedenfalls«, so bringt Sturlese sein Ergebnis auf den Punkt, predigte Eckhart für diu liute , und für die Leute konstruierte er sein Lehrgebäude. […] Es besteht kein Grund zu bezweifeln, dass Eckhart dieselben Ideen auch den Nonnen predigte und auch den Beginen, in Straßburg und anderswo […], und dass Nonnen und Beginen seine Predigten gelesen haben […]. Aber dass Nonnen und Beginen das Publikum darstellten, vor dem Eckhart in den letzten 15 Jahren seines Lebens predigte […], oder dass er an dieses im Besonderen seine Schriften richtete […] - das ist eine Hypothese, die heute noch darauf wartet, überzeugend bewiesen zu werden. 39 Mit dem Plädoyer für ein kritisches Studium der ordensgeschichtlichen Quellen spiegelt Sturleses Ansatz eine wesentliche Tendenz jüngerer Forschung, die die Konzentration der älteren Forschung auf ein weibliches Publikum im Sinn einer emphatisch aufgeladenen cura monialium nachhaltig in Frage stellt, ohne dass damit über Eckharts Predigttätigkeit positiv Genaueres ausgesagt wäre. Ich habe die Studie Sturleses jedoch nicht nur deshalb so ausführlich dargestellt, weil man hinter seine ›Entmystifizierung‹ von Eckharts Predigttätigkeit nicht mehr zurückgehen kann. Es ist charakteristisch, dass auch für Sturlese in seiner programmatischen Rückkehr zur Faktizität letztlich die Rekonstruktion des historischen Ortes der Predigten Eckharts den Fluchtpunkt der Untersuchung bildet. Auch wenn er zu Recht deren unreflektiertes Vorgehen kritisiert, scheint Sturlese damit noch in der Negation die für die ältere Forschung leitende Perspektive fortzuschreiben. So bleibt die lebensweltliche Verortung ausschlaggebend dafür, wie die deutschen Predigten Eckharts verstanden werden - mit ihren Erkenntnispotentialen, die nicht zuletzt mit Kurt Flasch 40 ausdrücklich zu betonen sind, aber auch mit den Aporien historischer Verkürzung, für die die Frage einer cura monialium nur ein zugespitztes Beispiel darstellt. 41 3. Vom Publikum im Text zum Adressaten als textuellem Entwurf. Literarische Perspektiven Wenn Sturlese von Eckharts Predigt vor den liuten spricht, 42 bringt er an einer Stelle seiner Argumentation eine Dimension mit ins Spiel, auf die er sonst nicht weiter eingeht: die Predigttexte selbst. Damit deutet sich eine Wende an, mit der die Frage nach historischer Referenz in eine texthistorische Perspektive umschlägt, in der mit anderem Erkenntnisinteresse die Texte im Mittelpunkt stehen. Diese Entwicklung schreibt sich in jenen turn ein, 38 Vgl. ebd., S. 15. 39 Ebd., S. 15 f. 40 Zu Flaschs Eckhart-Lektüre vgl. oben, Einleitung. 41 So wirft Sturleses Ansatz Anschlussfragen auf, die genauer auf das von ihm mit den liuten anvisierte Umfeld eines städtischen Publikums zielen. Jenseits des Forschungsfelds der Geschichtswissenschaften zum Wirken der Mendikanten in der Stadt wären mit Blick auf Eckhart auch die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem urbanen Raum und der Predigt, die sich in diesem Raum situiert, auf dessen spezifische Anforderungen reagiert und diesen so ihrerseits prägt, aus historischer Perspektive weiter zu untersuchen. Wie sich aufschlussreiche Erkenntnisse aus den Predigten Eckharts ergeben können, wenn man nicht nach konkreten Wirkungsstätten, sondern eher nach den Bedingungen von Urbanität fragt, deutet sich bezeichnenderweise in Arbeiten an, die den engen Horizont der Frage danach, wie es ›wirklich‹ war, wieder überschreiten - ohne dabei die historische Orientierung abzuweisen. Vgl. dazu Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit. 42 Vgl. Sturlese, Meister Eckhart und die cura monialium , S. 15. I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten 29 im Zuge dessen sich das Interesse von einem eindimensionalen Verständnis historischer Realität als Kontext, vor dem oder auf den hin ein Text zu lesen sei, grundlegend dazu verschiebt, die Texte selbst mit ihren spezifischen Inszenierungsformen und performativen Potentialen neu zum Ausgangspunkt von Lektüren zu machen, die ihrerseits durchaus historisch orientiert sind. 43 Wenn Sturlese die liute als Adressaten von Eckharts Predigten ins Spiel bringt, schreitet er diesen Weg nicht aus. Wohl aber deutet er an, dass die Predigttexte selbst Repräsentationen ihrer Adressaten in sich bergen. Einem solchen Entwurf ihrer Adressaten, den die Predigten »immer bereits mit sich [führen] und […] rhetorisch und literarisch aus[gestalten]«, 44 hat die Eckhartforschung bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder nachgespürt. Auch hier sind unterschiedliche Perspektiven zu unterscheiden je nachdem, ob der Text auf ein mögliches Publikum hin befragt wird, ob man den Text also auf eine ›dahinter‹ liegende historische Realität hin liest, oder ob es um den Adressaten als textuellen Entwurf geht, ob man dem Text also, zugespitzt formuliert, das Potential zuspricht, eigene Wirklichkeiten zu schaffen. Abermals schließen sich beide Perspektiven nicht aus, setzen aber mit divergierendem Erkenntnisinteresse an je unterschiedlichen Momenten an. Wenn ich die Umorientierung von der Frage nach einem Publikum im Text zum Adressaten als textuellem Entwurf vorschlage, ziele ich auf diese zweite Perspektive. Ich gliedere meine Skizze der Forschungspositionen nicht wie oben chronologisch, sondern nun systematisch so, dass sie auf meine Fragestellung hinführt. Allen Ansätzen, die ich herausgreife, ist gemeinsam, dass sie aus unterschiedlichen Perspektiven den Blick dafür öffnen, dass das, was in den Predigten angelegt sein kann, sich nicht in historischer Referenz erschöpfen muss. Der Ansatz, aus den Texten selbst heraus zu beschreiben, an wen die Predigten sich richten, ist nicht neu. Die Perspektive liegt nahe, insofern viele Predigten Eckharts Aussagen über ihre Verstehensbedingungen mit sich führen und so die Modalitäten ihrer Kommunikation auf charakteristische Weise je neu ausstellen, inszenieren und reflektieren. In diesem Sinn hält Kurt Ruh z. B. fest, dass Eckharts Predigten »als solche für alle bestimmt sind, die sich in der Gottesliebe und der Weltüberwindung verbunden wissen.« 45 Ruh macht dabei auf verschiedene Verständnisebenen in den Predigten aufmerksam, 43 Für die geistliche Literatur, die in der Forschung lange Zeit kaum von einem ›Sitz im Leben‹ losgelöst denkbar schien, wird jener Paradigmenwechsel besonders deutlich sichtbar, der sich seit den 80er Jahren abzeichnet. Wenn Ursula Peters herausarbeitet, wie religiöse Erfahrung selbst in den frauenmystischen Texten immer schon literarisch vermittelt und hagiographisch codiert ist, deutet sie jenen turn an, der die Auseinandersetzung der Forschung mit der geistlichen Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts bis heute prägt. Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea NF). 44 Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 142. 45 Ruh, Meister Eckhart, S. 191. Wenn die »Wahrheit der mystischen Gotteserfahrung«, so Ruh, auch grundsätzlich unvermittelbar »jenseits des Predigerwortes in der Gemeinsamkeit dieser Erfahrung« liege, so sei dies »nicht so aufzufassen, als hätte Eckhart ›eigentlich‹ nur zu denen gesprochen, die in derselben Wahrheit standen« (ebd.). 30 I. Grundlegung die man mit verschiedenen Gruppen von Hörern gleichsetzen mag: eine für die in der göttlichen Wahrheit Stehenden, eine andere für diejenigen, die an dieser Wahrheit teilhaben möchten, und eine weitere für Hörer, die ein wahres Christentum in der Nachfolge Christi erstreben. 46 In die gleiche Richtung zielt die Skizze zu den Adressaten von Eckharts Predigten, die Karl Heinz Witte in seiner Eckhart-Monographie entwirft: Eckhart spricht und schreibt nicht für den ›gewöhnlichen Christen‹. Eckhart nennt sie grobe liute , das heißt ›gedankenlose Menschen, die den allgemeinen Meinungen anhängen‹. Er adressiert seine Predigt an denjenigen, der über die gewohnte Christenlehre hinaus spirituell und philosophisch in das Geheimnis Gottes einzudringen versucht, 47 und bei Kurt Flasch liest man: Eckhart will das Wissen wissend in die Dunkelheit des Nichtwissens treiben, und dies hält nicht ›jeder‹ aus. Eckhart, der sonst die Allgemeinheit des Wissens ausspricht, schränkt hier [d. h. in den Predigten des Gottesgeburts-Zyklus, R. R.] die Zugänglichkeit seiner Reden erheblich ein: Er wende sich nur an gute, vollkommene Menschen. 48 Solche Aussagen, die übergreifend auf die Ebene textinterner Repräsentation zielen, sind offenkundig nicht auf ein historisches Predigtpublikum ausgerichtet, sondern darauf, wie in den Predigttexten entworfen ist, an wen sie sich wenden bzw. welche Verstehensbedingungen sie mit sich führen. Den Kommentaren, die ich zitiert habe, ließen sich viele weitere zur Seite stellen, die je eines der beiden Momente besonders akzentuieren, die in ihrem Wechselspiel das Profil von Eckharts Predigt mit bestimmen: die Universalität einer Predigt, die in gewisser Weise ›jeden‹ anspricht, und die Exklusivität einer Lehre, die nicht für alle zugänglich ist. In ihrer Allgemeinheit bleiben solche Aussagen letztlich unbefriedigend. 49 Gleichfalls auf die Ebene textinterner Repräsentation zielen Ansätze, die punktuell oder im Zusammenhang der Analyse einer Einzelpredigt auf die Frage eingehen, welche Schlüsse einzelne Predigtpassagen, Aussagen oder Anspielungen auf das im Text inszenierte Predigtpublikum zulassen. So hat sich auch in der Eckhartforschung seit langem die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Ebene textintern inszenierter Kommunikation von der realen Kommunikation des Predigers mit seinen Zuhörern systematisch zu trennen ist. Auf dieser Ebene ist der Kommunikationspartner des Predigers grundsätzlich der Adressat der Rede im Text. In diesem Sinn spricht z. B. Freimut Löser in einer Predigtinterpretation von einem ›impliziten Hörer / Leser‹ im Text. 50 Löser trennt dabei zu Recht methodisch die beiden Doppelinstanzen ›Eckhart und sein Publikum‹ sowie ›das Prediger-Ich und der 46 Ebd.; vgl. auch Kurt Ruh, Predigt 4 ›Omne datum optimum‹, in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. I, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 1998, S. 1-23, hier S. 12. 47 Karl Heinz Witte, Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung, Freiburg / München 2013, S. 75. 48 Flasch, Meister Eckhart, S. 84. 49 Vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 142 f. 50 Freimut Löser, Predigt 19 ›Sta in porta domus domini‹, in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. I, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 1998, S. 117-149, hier S. 129 und S. 136. In vergleichbarer Weise greift Dietmar Mieth auf den Begriff ›implizierter Hörer oder Leser‹ zurück, vgl. Dietmar Mieth, Predigt 86 ›Intravit Iesus in quoddam castellum‹, in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten 31 implizite Hörer / Leser‹; die Frage, in welchem Verhältnis die Instanzen zueinander stehen, vertieft er nicht. Der ›implizite Hörer / Leser‹ bezeichnet in Lösers Predigtinterpretation die Idealvorstellung eines Rezipienten der Predigt, der hinreichend informiert ist, um Eckharts Lehre in der präsentierten Form zu verstehen. 51 Löser zielt damit vordergründig auf einen textinternen Entwurf eines Adressaten der Predigt, auf den deren sprachliche Struktur (er verzeichnet das Fehlen appellativer Strukturen und die Verwendung der Pronominalform ›wir‹) wie ihr propositionaler Gehalt schließen lasse. Den Fluchtpunkt scheint indes auch für Löser die Frage zu bilden, welches historische Publikum Eckharts Predigt voraussetzt. 52 In die gleiche Richtung weist Lydia Wegeners Rekurs auf den Begriff eines ›impliziten Adressaten‹ von Eckharts ›Erfurter Reden‹, den Rede der underscheidunge . 53 Was sich auf dieser Ebene nicht abbilden lässt, sind Momente, die darauf hindeuten, dass Predigten, die das Verstehen immer wieder problematisieren, auf die Spitze treiben und übersteigen, in einfachen, linearen Modellen von Kommunikation nicht aufgehen müssen. 54 Ein solches, tendenziell ›einfaches‹ Modell scheint mir bei Löser indirekt vorausgesetzt, der Kommunikation ganz im Horizont von Appell, Information und Verständnis verortet. Aufschlussreich könnte es deshalb sein, den Blick umzulenken hin dazu, wie die Predigten sich ihren Adressaten jeweils entwerfen. Damit tritt an die Stelle der Frage nach textinterner Repräsentation ein Interesse für die performativen Dimensionen der Predigttexte selbst, die eigene Entwürfe ihrer Adressaten in sich bergen. So rückt schließlich der Grenzverlauf zwischen Text und Welt in den Blick, den die beschriebenen Modelle textinterner Repräsentationen nicht antasten. Solche Dynamiken einer sich selbst immer wieder überbietenden Rede, in und mit der das Kommunikationsmodell der Predigt seine Grenze erfährt, 55 treten zunehmend in den Fokus der jüngeren germanistischen Eckhartforschung. Das transgressive Potential von Eckharts Predigten bildet einen Fluchtpunkt der Arbeiten von Burkhard Hasebrink und Susanne Köbele, die aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder grundlegend jene Dimension von Eckharts Predigten anvisieren, die sich nicht in Repräsentation erschöpft. Susanne Köbele hat in diesem Sinn das transgressive Potential von Eckharts Predigten gedeutet, Bd. II, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 2003, S. 139-175, hier S. 166: »innere[r] Dialog der Predigt mit einem widerspruchsbereiten implizierten Hörer oder Leser«. 51 »Der Text läßt […] zahlreiche ›Leerstellen‹, die nur ein informierter Hörer / Leser füllen kann. Eckhart scheint sich an ein vertrautes Publikum zu wenden, dem er seine Eigenlehre nicht mehr prononciert darlegen, und an das er nicht eigens appellieren muß.« Löser, Predigt 19, S. 129. Indem Löser explizit auf die Terminologie Wolfgang Isers zurückgreift, rückt sein Entwurf eines ›impliziten Hörer / Lesers‹ deutlich in die Nähe von Isers ›implizitem Leser‹. 52 »Das Verfahren der ›abgekürzten Interpretation‹ kann er [d. h. der Prediger, R. R.] deshalb anwenden, weil er sich an anderen Stellen […] ausführlich mit dem hier nur Angedeuteten befaßt hat. Damit läßt sich Eckharts Verhältnis zu seinem Publikum, ähnlich wie es die Beobachtungen zur Rolle des Prediger-Ichs und zum impliziten Hörer / Leser ergaben, bestätigen […].« Ebd., S. 136. 53 Vgl. Lydia Wegener, Wie der mensche sîniu werk sol würken - Meister Eckharts ›Rede der underscheidunge‹ als Anleitung zum Heilserwerb im Lebensraum Stadt, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 6 (2013), S. 97-130. Wegener unterscheidet die ›impliziten‹ von den ›historisch nachweisbaren‹ Adressaten der ›Erfurter Reden‹, zielt damit jedoch explizit abermals auf deren »intendierte[s] Publikum« (S. 104). Dieses sei über den primären Adressatenkreis der Rede , Eckharts Erfurter Ordensbrüder, hinaus im städtischen Umfeld zu verorten, worauf die Verwendung der Volkssprache ebenso wie der Gebrauch »wirtschaftsbezogener Metaphern« (S. 106) hinweise. 54 Vgl. auch Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit, S. 63: »Die mystische Sprengmetapher erzwingt einen nicht mehr linearen, sondern simultanen Verstehensakt.« 55 Vgl. Köbele, Primo aspectu monstruosa , S. 67. 32 I. Grundlegung als Sprengen relationierender Bildlichkeit beschrieben, die das innovatorische Potential der Volkssprache umsetzt, 56 oder als emphatische Rede charakterisiert, die zum Signum einer spezifischen Ästhetik religiöser Rede wird. 57 Burkhard Hasebrink lenkt den Blick immer wieder auf die »Durchdringung von Theoretisierung und Performierung« 58 in den Predigten Eckharts und damit auf jene Momente, die sich nicht im propositionalen Gehalt der Predigt erschöpfen. Auf dieser Ebene vollziehen die Predigten das, wovon sie sprechen, ohne dass die Rede dabei autonom würde. Wenn der Prediger sich als mitewürker Gottes bezeichnet, ist damit jene Spannung indiziert, die eine ›absolute Performanz‹, in der Sprechen und Wirken identisch sind, dem Göttlichen vorbehält, nicht ohne jedoch in der Rede des Predigers »etwas davon zur Geltung [zu] bringen«. 59 Mit der Frage nach dem impliziten Adressaten schließe ich an diese Sicht auf die Predigten an. Aufschlussreich könnte es sein, nicht statisch nach textinternen Repräsentationen der Adressaten, sondern nach den Effekten zu fragen, die sich aus jenem transgressiven Potential der Predigttexte für die Kommunikation selbst ergeben, die mit der Unterscheidung von Sender, Botschaft und Empfänger ebenso elementar auf die Differenz der einzelnen Instanzen setzt, wie es für die Relation von Bild und Bedeutung der Fall ist. 60 Schließlich rücken so auch die Dynamiken in den Blick, die sich für eine Predigtrede ergeben, die in der Vermittlung an einen Adressaten darauf zielt, die Dimension der Vermittlung ihrerseits zu übersteigen. Heiligkeit können die Predigten nicht vermitteln, sondern nur aufscheinen lassen, indem sie den Menschen auf den göttlichen Grund verweisen, den dieser immer schon in sich birgt. 61 Auch der Prediger ist in dieser Perspektive spannungsvoll gebunden, indem er sich auf diesen Grund bezieht »und ihn erzeugend zugleich bezeugt.« 62 In einem solchen Modell ist ›Verstehen‹ weniger als schrittweiser Nachvollzug einer gegebenen Lehre gedacht denn als Partizipation an oder Identifizierung mit der Wahrheit selbst. Die Grenze von Predigt und Adressat gerät ins Wanken. Den Ansatz, nicht von der historischen Situation her, sondern aus den Predigttexten heraus danach zu fragen, wie diese sich ihr Gegenüber entwerfen, schreibt die vorliegende Arbeit fort. Mit der Figur des impliziten Adressaten möchte ich dazu in den folgenden beiden Kapiteln jene Analysekategorie systematisch in die Diskussion einführen, deren Bedeutung vor kurzem Burkhard Hasebrink in Abkehr von der Frage nach der historischen 56 Vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. 57 Vgl. Susanne Köbele, Vom ›Schrumpfen‹ der Rede auf dem Weg zu Gott. Aporien christlicher Ästhetik (Meister Eckhart und das Granum sinapis - Michel Beheim - Sebastian Franck), in: Poetica 36 (2004), S. 119-147, Susanne Köbele, ›Ausdruck‹ im Mittelalter? Zur Geschichte eines übersehenen Begriffs. Mit Überlegungen zu einer ›emphatischen Ästhetik‹ der Mystik, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. von Manuel Braun und Christopher Young, Berlin / New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 61-90, und Köbele, Emphasis , überswanc , underscheit . 58 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 67. 59 Ebd., S. 88. 60 »Wenn Mystik […] nichts anderes heißt als Vereinigung mit dem Einen, andererseits Bildlichkeit mit der Relation von Bild und Bedeutung ein prinzipielles Differenzphänomen ist, müsste diese, wo sie die Einheit und absolute Relationslosigkeit intendiert, notwendig ihre relationierenden Grenzen verlieren. Ein statisches Verhältnis von Bild und Bedeutung […] müsste gesprengt erscheinen.« Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit, S. 9. 61 Vgl. Hasebrink, mitewürker gotes , S. 64 f. 62 Ebd., S. 88. I.1 Meister Eckharts deutsche Predigten und ihre Adressaten 33 Vortragssituation für die Predigten Eckharts herausgestellt hat. 63 Wenn ich vom impliziten Adressaten spreche, geht es mir jedoch - leicht anders akzentuiert - weniger um die grundsätzliche »Semantisierung eines anthropologischen Modells«, 64 wie es sich mit der Kategorie der liute in Eckharts Predigten abzeichnet. Es geht mir darum, wie die Evokation eines Adressaten selbst in einzelnen Predigten textuell greifbar zu werden scheint auf einer Ebene, die sich über die des propositionalen Gehalts der Predigt legt - in der Erzeugung eines Sogs, der den Adressaten affiziert; in der Öffnung des Textes zum Raum, in dem der Adressat situiert und bewegt wird; in der Überblendung der Sprechebenen, die Referenzen instabil werden lässt. Damit perspektiviere ich die Frage nach den Adressaten der Predigt anders als Dietmar Mieth, der gleichfalls Eckharts Wendung an die ›Leute‹ nachgeht. 65 Mieths rhetorisch orientierte Lektüre fasst die Texte als kommunikatives Handeln von Sender und Empfänger, von Redner und Publikum auf und verortet sie im Spannungsfeld von (Selbst-)Aussprache des Redners und Ansprache an das Publikum. 66 In den Texten ließen sich, so Mieth, zwei verschiedene Aussage-Modi unterscheiden: ein ›expressives‹ 67 und ein ›spirituell-diskursives‹ Genre, in dem Eckhart die Menschen direkt anspreche und von ihren Fragen ausgehe. 68 Mit den Polen ›Selbstaussage‹, ›Meister-Gespräch‹ und ›Leute-Lehre‹ visiert Mieth eine »Typologie der Predigten nach den Inszenierungsmerkmalen« 69 an. Was dabei jedoch weniger in den Blick geraten kann, ist das, was »über die rhetorische Bindung an die Zuhörer« 70 hinausgeht. Für den Prediger ist der Rekurs auf die Wahrheit mehr als die Aussprache des Zertums des Redners, 71 und die performativen Potentiale, die die Texte entfalten, erschöpfen sich in linear gedachter Wirkung, wie sie die Vorstellung rhetorischpersuasiver Rede aufruft, vielleicht gerade nicht. 72 63 Vgl. dazu Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit. 64 Ebd., S. 144. 65 Mieth, Dietmar: »Die Meister sagen« - die »Leute« fragen. Meister Eckharts rhetorische Brückenbildung zwischen Meister-Diskurs, persönlicher Gewissheit und Mystagogie, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 6 (2012), S. 325-346. Der Aufsatz entspricht weitgehend Mieth, Meister Eckhart, S. 140-152. 66 Vgl. Mieth, »Die Meister sagen« - die »Leute« fragen, S. 326. 67 Darunter versteht Mieth »Texte, die von Eckharts eigener intellektueller Aufregung und Anstrengung bestimmt sind«, und in denen er »sich selbst in seinem ›Zertum‹ aus[spricht]«, ebd., S. 338. 68 Vgl. ebd., S. 339. Das »Meister-Gespräch«, das die Texte ebenso wie die »Leute-Lehre« präge, finde sich dabei »öfter in dem inszenierten Diskurs, der mit expressiven Botschaften endet, als in dem pastoral-spirituellen Diskurs […].« Die Grundlage dafür sei gleichwohl, dass Eckhart »unterstellt, dass seine intellektuellen zugleich als existenzielle Fragen eigentlich jeden angehen und interessieren müssten.« Ebd. 69 Ebd., S. 344. 70 Ebd., S. 345. 71 Das klingt durchaus an, wenn Mieth festhält, dass ein solches Zertum »auch die Möglichkeiten der Rezipienten [umschließe], die diese Wahrheit bereits in sich tragen und nur, anlässlich der Predigt, in sich suchen, aus sich herausholen müssen.« Ebd., S. 336. 72 Auch der Status der ›Leute‹ bleibt bei Mieth seltsam ungeklärt. Einerseits referentialisiert er den Verweis auf die liute bzw. menschen je unterschiedlich historisch und spricht z. B. mit Blick auf Eckharts Publikum von Leuten, die bei dem Wort eigenschaft »immer auch die soziale Bedeutung des Wortes als ›Leibeigenschaft‹ mit[hören]« (ebd., S. 328). Andererseits betont er gegenüber der Übersetzung Quints von mhd. menschen mit ›Leute‹ den »viel allgemeineren Anspruch dieser Ansprache« (S. 329) und streift schließlich den Gedanken, dass der Redner sich in einem »interaktiven Spiel« »mithilfe eigener projektiver Vernunft in sein Gegenüber hinein phantasieren« könne (S. 328). Die ›Leute‹ scheinen so zwischen einer konkret-historischen und einer rhetorischen Figur zu oszillieren. 34 I. Grundlegung Ich stelle im Folgenden mit dem impliziten Leser gezielt eine Kategorie der Narratologie in den Mittelpunkt. Diese bietet den Anknüpfungspunkt dafür, die maßgebende kommunikationspragmatische Einsicht, dass jede sprachliche Mitteilung einen Entwurf ihres Empfängers enthält, auf Textstrukturen und deren Wirkung zu übertragen. Ein möglicher Bezug zur Rhetorik ist damit nicht grundsätzlich ausgeschlossen, die in den einzelnen Analysen auf der Ebene der elocutio für die konkrete Textgestaltung durchaus eine wichtige Rolle spielt. Sie steht als solche aber in dem Maß nicht im Zentrum, in dem es nicht um den Adressatenbezug der Predigt als situationsgebundene Rede, sondern um die Vorstellung einer vom Text hervorgebrachten Adressatenfigur jenseits eines konkreten Publikums geht, die sich im Grunde genommen unabhängig von dem einstellen kann, was ein Redner erreichen möchte - auch wenn diese Wirkung selbst wieder ›rhetorisch‹ genannt werden kann. Einen weiteren systematischen Bezugspunkt zur Rhetorik, der auf der Gattungsebene ansetzt, scheinen Eckharts Predigten selbst auszuschließen. So wäre es denkbar, der Frage nach dem textintern evozierten Adressatenbild vor dem Hintergrund dessen nachzugehen, was die zeitgenössischen artes praedicandi darüber sagen, an wen die Predigt sich richten soll. Eckharts Predigten setzen aber im Gegensatz zur normativen Literatur der artes praedicandi nicht auf Differenzierung unterschiedlicher Rezipienten, sondern pointiert auf Entdifferenzierung, insofern sie nicht bestimmte Hörerschichten, sondern jeden Menschen ansprechen, den sie weitgehend jenseits konkreter Bezüge auf unterschiedliche Lebenssituationen fundamental auf die Göttlichkeit des eigenen inneren Grundes verweisen. 73 I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur. Modelle impliziter Textadressaten in der Erzählforschung Wenn ich mit Blick auf Eckharts Predigten vom impliziten Adressaten spreche, schließe ich an ein Konzept an, das in der Erzählforschung der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts geprägt worden ist: das Konzept eines impliziten Lesers. 74 Damit wird eine 73 Ein Beispiel für diese Differenzierung unterschiedlicher Predigtweisen je nach Hörerschicht in den artes praedicandi bietet eine Passage aus der Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen Summa de arte praedicatoria Alains de Lille, die erklärt, dass der Prediger seine Predigt den Bedürfnissen unterschiedlicher Hörergruppen so anpassen solle, wie ein Arzt je nach Krankheit unterschiedliche Heilmittel wählen müsse: Pertinet ad praedicatorem gerere statum materialis physici, vel medici. Sicut enim materialis medicus pro diversitate morborum, variat genera remediorum; sic praedicor debet adhibere remedia admonitionum. Ut, si luxuriosis praedicat, contra luxuriam auctoritates afferat, rationes inducat […] . Simili modo contra alia vitia disputet, secundum quod auditores viderit variis vitiis irretitos. Si pauperibus praedicat, de paupertate disserat, comniendans paupertatem, exemplum sumens a capite nostro Jesu Christo. […] Si divitibus praedicat, invitet eos ad eleemosynam […] . Si militibus praedicat, moveat eos ut propriis contenti sint stipendiis, non imminentes alienis […] . Si oratoribus, moneat eos, ne injustam causam foveant pro munere […] . Si doctoribus praedicat, moneat eos ut intuitu Dei doceant […] . Si ad praelatos sermonem dirigit, hortetur eos de regimine subditorum […] . Si praedicat principibus terrarum, moneat eos ut sectentur prudentiam […] . Si loquitur viris claustralibus, et religiosis, afferat ad eorum instructionem, exempla antiquorum Patrum, qui vitam praesentem duxerunt in nimia corporis castigatione […] . Si conjugatis proponat sermonem, commendentur status conjugii […] . Si viduis, demonstretur onera conjugii […] . Si virginibus, commendentur a munditia corporis, a puritate mentis, […] . Alani de Insulis Summa de arte praedicatoria, in: PL 210, Sp. 111-197, hier Sp. 184 f. 74 Für einen ersten Überblick zu diesem Konzept vgl. Wolf Schmid, Textadressat, in: Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, hg. von Thomas Anz, Stuttgart / Weimar 2007, S. 171-181, Erich Schön, Art. ›Leser‹, in: RLW II (2000), S. 410-413, und Meinhard Winkgens, Art. ›Le- I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur 35 Instanz in den Blick gefasst, die im Kommunikationsmodell des Erzähltextes weder mit dem realen Leser der Erzählung noch mit dem fiktiven Leser als Gegenüber des Erzählers gleichzusetzen ist, sondern als im Text enthaltenes bzw. vom Text entworfenes Bild eines Lesers gerade zwischen jenen beiden Instanzen steht. Die Debatte, die das Konzept eines impliziten Lesers begleitet, zeugt von der Schwierigkeit, jenes ›Zwischen‹ theoretisch zu konturieren. Zugleich lässt die Auseinandersetzung darum aber auch die Attraktivität eines Modells aufscheinen, das versucht, etwas zu greifen, das sich weder im Fiktiven erschöpft noch völlig auf die Ebene des Realen zurückzuführen ist. Nicht zuletzt im Kontext der unter den Schlagworten ›Tod‹ und ›Rückkehr‹ des Autors geführten Debatte ist die Frage möglicher Differenzierungen zwischen realen Instanzen literarischer Kommunikation und textuellen Inszenierungen, die ihrerseits wirklichkeitsschaffende Potentiale generieren können, neu in den Fokus literaturtheoretischer Arbeiten getreten. 75 Vor diesem Hintergrund das Konzept des impliziten Lesers mit Blick auf meine Fragestellung neu zu beleuchten, ist das Ziel der folgenden beiden Kapitel. In diesem Kapitel greife ich in einem ersten Schritt exemplarisch vier unterschiedliche Ansätze auf, um sichtbar werden zu lassen, aus welchem Kontext das Konzept stammt, wie sich aber auch verschiedene Modelle impliziter Textadressaten in der Erzählforschung selbst überlagern. In einem zweiten Schritt skizziere ich die wesentlichen Einwände gegen das Konzept, bevor ich zu dem Potential überleite, das ich quer zu den unterschiedlichen Ausprägungen einzelner Theoriemodelle in der Figur eines impliziten Lesers für meine Fragestellung sehe. Damit verlasse ich also zunächst den Bereich meines Gegenstandes und wende mich Fragen zu, die ausgehend von und für erzählende Texte der Moderne entwickelt worden sind. 76 1. Modelle Von Beginn an ist die Vorstellung eines Lesers ›im‹ Text eng mit dem impliziten Autor verbunden. Wayne Booth, der in seiner Rhetoric of Fiction den Begriff des implied author prägt, spricht in diesem Zusammenhang auch erstmals indirekt von einem korrespondierenden impliziten Leser. 77 Wie das Konzept des impliziten Autors bei Booth dazu dient, die Präsenz ser, impliziter‹, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart / Weimar 2004, S. 381 f. Vgl. zum Rückgriff auf dieses Konzept im Zusammenhang mit der Predigt Meister Eckharts Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 141-144. 75 Vgl. z. B. Ansgar Nünning, Totgesagte leben länger: Anmerkungen zur Rückkehr des Autors und zu Wiederbelebungsversuchen des ›impliziten Autors‹, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 42 (2001), S. 353-385, hier S. 365, oder auch den Ansatz von Sandra Heinen, Das Bild des Autors. Überlegungen zum Begriff des »impliziten Autors« und seines Potentials zur kulturwissenschaftlichen Beschreibung von inszenierter Autorschaft, in: Sprachkunst 33 (2002), S. 327-343. 76 Ungeachtet der spezifischen medialen Bedingungen vormoderner Texte spreche ich also im Folgenden von Autor und Leser; wenn ich von fiktiven und realen Instanzen spreche, beziehe ich mich auf die Modellierung der Kommunikationsebenen im Erzähltext, wie sie Wolf Schmid zusammenfasst. Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 43 f. 77 Wayne Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago / London 2 1983 [ 1 1961]; deutsche Übersetzung: Wayne Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst, Heidelberg 1974. Anders als es Überblicksdarstellungen nahelegen (vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 65, und Schmid, Textadressat, S. 171), findet der Begriff ›impliziter Leser‹ bei Booth selbst keine Verwendung. Auch im Nachwort der 2. Auflage von 1983 spricht Booth nur dort von einem implied reader , wo er sich mit anderen Konzeptionen auseinandersetzt, denen er den Begriff zuweist; vgl. Booth, The Rhetoric of Fiction, S. 361, 371 und 442, Anm. 11. - Da sich die Begriffe ›impliziter Autor‹ und ›impliziter Leser‹ im deutschsprachigen Theorieraum 36 I. Grundlegung des Autors als moralischer, das heißt normengebender Instanz in seinem Werk beschreiben zu können, ohne sich dem Vorwurf einer intentional fallacy auszusetzen, 78 wird auch der implizite Leser als textinterne Leser-Repräsentation konzeptualisiert, deren Überzeugungen mit denen des Autors übereinstimmen müssen, damit die Lektüre gelingen könne. Booth definiert den implied author als vom realen Autor geschaffenes ›zweites Selbst‹ ( second self ), als Bild des Autors als Autor, das jeder Text enthalte. Der Autor schafft, kurz gesagt, ein Bild von sich selbst und ein anderes Bild von seinem Leser; er schafft seinen Leser, während er sein zweites Selbst schafft, und optimales Lesen ist dann gegeben, wenn die geschaffenen Selbst - Autor und Leser - zu einer völligen Übereinstimmung gelangen können. 79 In dieser Definition hat der implizite Leser eine markante Doppelposition inne. Als vom Autor geschaffenes Leserbild ist er als Teil des literarischen Werks in seiner ästhetischen Faktur verstanden. Insofern Booth aber davon spricht, die gleiche Unterscheidung von realem und impliziten Autor müsse auch »zwischen mir selbst als Leser und dem oft ganz anderen Selbst gemacht werden, das gerade Rechnungen bezahlt, undichte Hähne repariert und dem es an Großmut und Weisheit mangelt«, 80 scheint der implizite Leser gleichermaßen eine dem realen Leser zugedachte Rolle mit normativen Zügen zu sein: »Erst während des Lesens werde ich das Selbst, dessen Überzeugungen sich mit denen des Autors decken müssen.« 81 Die Unterscheidung zwischen dem Autor als realer Person und der Repräsentation einer mit Autor-Zügen ausgestatteten Instanz als Inferenz des Lesers, die Booth über die Einführung jener impliziten Ebene trifft, wird leitend für die Rezeption des Konzepts des implied author . So wird beschreibbar, dass Autor- und Erzählerposition divergieren können, und es wird zugleich der Stimme des Autors ein Platz im Text gesichert. Weiter ausgefaltet wird das Konzept eines impliziten Lesers bei Booth nicht. etabliert haben, spreche ich im Folgenden durchgehend vom impliziten Autor bzw. Leser. Alexander Polzin gibt in seiner Übersetzung von Booth’ Arbeit das englische implied mit ›impliziert‹ wieder; vgl. z. B. Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst, S. 77. Zur Problematik der Übersetzung von implied mit dem deutschen Adjektiv ›implizit‹ vgl. unten, Kap. I.2.2. 78 Vgl. zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der Position Booth’ im akademischen Kontext der Auseinandersetzung mit dem New Criticism die sorgfältige Analyse von Tom Kindt und Hans-Harald Müller, The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin / New York 2006 (Narratologia 9) [Kurzfassung: Tom Kindt und Hans-Harald Müller, Der implizite Autor. Zur Karriere und Kritik eines Begriffs zwischen Narratologie und Interpretationstheorie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 48 (2006), S. 163-190]. Vgl. auch Tom Kindt und Hans-Harald Müller, Der ›implizite Autor‹. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. von Fotis Jannidis [u. a.], Tübingen 1999, S. 273-288, und Heinen, Das Bild des Autors, S. 329. 79 Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst, S. 142. »The author creates, in short, an image of himself and another image of his reader; he makes his reader, as he makes his second self, and the most successful reading is one in which the created selves, author and reader, can find complete agreement.« Booth, The Rhetoric of Fiction, S. 138. 80 Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst, S. 142. »Of course, the same distinction must be made between myself as reader and the often very different self who goes about paying bills, repairing leaky faucets, and failing in generosity and wisdom.« Booth, The Rhetoric of Fiction, S. 137 f. 81 Booth, Die Rhetorik der Erzählkunst, S. 142. »It is only as I read that I become the self whose beliefs must coincide with the author’s.« Booth, The Rhetoric of Fiction, S. 138. I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur 37 Erst im Kontext rezeptionsästhetischer Theoriebildung wird das Konzept entscheidend aufgewertet. 82 Aus der Fülle der Arbeiten, die seit den sechziger Jahren die Rolle des Lesers in literarischen Texten und für den Prozess der Lektüre neu beleuchtet haben, greife ich den Ansatz Wolfgang Isers heraus, der das Konzept des impliziten Lesers theoretisch neu fundiert und terminologisch auf entscheidende Weise geprägt hat. 83 Iser schließt locker an Booth’ Konzeptualisierung eines impliziten Lesers als »Rollenangebot des Textes« 84 an, verleiht dem impliziten Leser aber eine neue, eigene Bedeutung im Rahmen seiner Theorie literarischer Wirkung. Die aus der für fiktionale Texte charakteristischen Differenz zur Wirklichkeit resultierende Unbestimmtheit, die als ›Leerstelle‹ strukturell im Text vorgezeichnet ist, macht dabei das Konzept des impliziten Lesers notwendig. Es benennt im Rahmen dieses Modells jene Struktur, die beschreibt, wie im Text angelegte Rezeptionsmöglichkeiten je neu im Rezeptionsvorgang aktualisiert werden, und vermittelt so gleichsam zwischen den beiden Polen von Text und Leser, zwischen denen sich die literarische Kommunikation aufspannt. 85 Iser definiert den impliziten Leser als »transzendentales Modell, durch das sich allgemeine Wirkungsstrukturen fiktionaler Texte beschreiben lassen. Es meint die im Text ausmachbare Leserrolle, die aus einer Textstruktur und einer Aktstruktur besteht.« 86 Damit ist der implizite Leser kategorial unterschieden von anderen Leserkonzepten, die auf historische, mögliche oder intendierte Leser abzielen. Im Unterschied zu den besprochenen Lesertypen besitzt der implizite Leser keine reale Existenz; denn er verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der implizite Leser nicht in einem empirischen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert. 87 Dieser implizite Leser ist kein im Text enthaltenes Leserbild oder eine dem realen Leser vom Text dargebotene Rolle, wie es in Booth’ Konzeption angelegt ist. Der Begriff bezeichnet vielmehr eine dynamisch verstandene Struktur, die im Sinn eines prozessualen Textbegriffs 88 auf das Moment der Sinnkonstitution »im Bewusstsein des Lesers« 89 zielt. Isers Begriff des impliziten Lesers ist durchaus, wie Wolf Schmid kritisch anmerkt, »in seiner Extension nicht ganz eindeutig definiert[]«. 90 Anders als Schmid nahelegt, schwankt 82 An der Schwelle zu der Konjunktur, die der implizite Leser in der rezeptionsästhetischen Theoriebildung erfährt, steht die Beschreibung einer im Text vorgezeichneten Empfängerrolle, wie sie der polnische Literaturwissenschaftler Michal Glowinski zuerst systematisch ausgearbeitet hat. Diese in der Textstruktur angelegte Rolle, die im engeren Sinn unmittelbar, z. B. durch pronominale Anreden, im Text markiert, im weiteren Sinn allgemein über den Appellcharakter eines Textes gegeben sei, der seinen Rezipienten fordere, im Rezeptionsprozess aktiv an der Sinngebung mitzuwirken, bezeichnet Glowinski als den ›virtuellen Empfänger‹ eines literarischen Werks. Michal Glowinski, Der virtuelle Empfänger in der Struktur des poetischen Werks, in: Literarische Kommunikation, hg. von Rolf Fieguth, Kronberg 1975 [ 1 1967], S. 93-126. Auf diesen im westlichen Raum wenig beachteten Ansatz macht Wolf Schmid aufmerksam, vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 65 f. 83 Wolfgang Iser, Der implizite Leser: Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1994 [ 1 1972]; Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1994 [ 1 1976]. 84 Iser, Der Akt des Lesens, S. 64. 85 Vgl. ebd., S. 7. 86 Ebd., S. 66. 87 Ebd., S. 60. 88 Zum Text als Prozess vgl. ebd., S. VII. 89 Ebd., S. 39. 90 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 66. 38 I. Grundlegung der Begriff in meinem Verständnis jedoch nicht »zwischen dem Adressaten des Werks und dem Adressaten der Narration«, 91 sondern zwischen dem Werk und seinem Adressaten. Im Letzten ist es jenes Schwanken, mit dem Iser theoretisch operiert. Wenn der implizite Leser die Struktur eines Werks bezeichnet, die notwendig einen Leser fordert, ist die Grenze zwischen Text und Leser, wie sie für Modelle literarischer Kommunikation zentral ist, möglicherweise nicht mehr so trennscharf zu ziehen. Der Text wäre so letztlich ohne den Bezug auf einen Leser gar nicht zu denken, ebenso wie der Leser nicht ohne Bezug auf den Text, sodass der Begriff des impliziten Lesers in diesem Sinn auf das Zusammenfallen von Text und Leser hinwiese. 92 In dem Maß, in dem es Iser weniger um die spezifischen kommunikativen Bedingungen narrativer Texte als um die Bedingung der Möglichkeit der Wirkung fiktionaler Texte geht, ragt seine Begriffsbildung aus der narratologischen Theoriebildung heraus. Wenn ich im Folgenden nachzeichne, welche Rolle einem impliziten Leser in den narratologischen Modellen Gérard Genettes und Wolf Schmids zukommt, greife ich exemplarisch zwei Sichtweisen auf, die noch im Dissens - für Genette ist der implizite Leser keine narrative Instanz; für Schmid figuriert er dagegen als wesentlicher Bestandteil eines Modells von Erzählkommunikation - darin übereinkommen, dass ein im Text enthaltenes Bild von einem Leser konstitutiver Bestandteil jedes Textes ist. In einem Abschnitt des Nouveau discours du récit setzt Gérard Genette sich eingehender auch mit einem impliziten Autor bzw. Leser ( auteur bzw. lecteur impliqué ) auseinander. 93 Seine Argumentation läuft darauf hinaus, dass es überflüssig sei, einen impliziten Autor als narrative Instanz anzunehmen. Was Befürworter des Begriffs so bezeichneten, sei identisch entweder mit dem Erzähler oder mit dem Autor, sodass keine Notwendigkeit bestehe, eine implizite Instanz dafür anzusetzen. 94 Das gleiche gelte für den impliziten Leser, der zusammenfalle mit dem Adressaten der Narration: »Der extradiegetische Adressat ist eins mit dem implizierten oder virtuellen Leser.« 95 Wolf Schmid macht zu Recht darauf aufmerksam, dass diese »Ökonomie […] nur auf der Grundlage des Genette-Systems möglich [ist], wo der narrateur extradiégétique nicht als fiktive Instanz figuriert«. 96 Auch wenn Genette es ablehnt, den impliziten Leser als narrative Instanz aufzufassen, stellt er doch deutlich heraus, dass ein Leser in jedem Text »in einem mehr oder weniger hohen Maße impliziert« 97 sei. Im Sinne eines mentalen Konstrukts, das nicht nur auf dem Text im Ganzen, 91 Ebd, S. 66 f. 92 Insofern die Struktur, die Iser mit dem impliziten Leser benennt, gerade Text und Leser zusammenschließt, ist für mich auch die Parallelisierung fragwürdig, die Tom Kindt und Hans-Harald Müller zwischen Isers implizitem Leser und dem impliziten Autor vornehmen. Vgl. Kindt und Müller, The Implied Author, S. 136-143. 93 Gérard Genette, Nouveau discours du récit, Paris 1983 (collection Poétique), S. 93-107; deutsche Übersetzung: Gérard Genette, Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. von Jochen Vogt, München 1998 (UTB für Wissenschaft), S. 195-289 (S. 283-295 zum impliziten Autor bzw. Leser). 94 »Il y a dans le récit, ou plutôt derrière ou devant lui, quelqu’un qui raconte, c’est le narrateur. Au-delà du narrateur, il y a quelqu’un qui écrit, et qui est responsable de tout son en deça. Celui-ci […] c’est l’auteur (tout court), et il me semble […], que cela suffit.« Genette, Nouveau discours, S. 102. 95 Genette, Die Erzählung, S. 285. »[L]e narrataire extradiégétique se confond avec le lecteur impliqué ou virtuel.« Genette, Nouveau discours, S. 95. 96 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 67 f. 97 Genette, Die Erzählung, S. 291. »[U]n lecteur est plus ou moins impliqué dans le texte […].« Genette, Nouveau discours, S. 103. I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur 39 sondern »mindestens ebensosehr auf einem Netz punktueller und lokalisierter Indizien zu basieren« 98 scheine, sei ein impliziter Leser in jedem Text präsent. »Sicher handelt es sich nicht, wie beim Erzähler, um eine Stimme , wohl aber um ein Ohr, das manchmal mit großer Liebe und Genauigkeit skizziert wird.« 99 Ganz ähnlich insistiert auch Wolf Schmid darauf, dass ein impliziter Leser, den er den ›abstrakten Leser‹ nennt, notwendig in jedem Text gegeben sei. »Jede beliebige sprachliche Äußerung enthält ein implizites Bild ihres Urhebers und auch ihres Adressaten.« 100 Mit dieser Abstraktion von den spezifischen Bedingungen narrativer Kommunikation macht Schmid explizit, was auch in Genettes Diskussion des impliziten Lesers angeklungen war: Jede sprachliche Äußerung verweist nicht nur zurück auf den Sprecher, sondern auch auf die Vorstellung, die dieser sich von seinem Gegenüber macht. Damit ist eine kommunikationspragmatische Grundeinsicht formuliert. 101 Die implizite Präsenz des Sprechers in der Äußerung führt Schmid auf die Ausdrucksfunktion der Sprache im Sinn Karl Bühlers zurück und spricht von »indizialen Zeichen«, die als Verweis auf den »Selbstausdruck« des Sprechers zu verstehen seien. 102 Der abstrakte Leser selbst figuriert als Attribut des abstrakten Autors. 103 In diesem Sinn definiert Schmid den abstrakten Leser als den Inhalt jenes Bildes vom Empfänger […], das der Autor beim Schreiben vor sich hatte oder - genauer - de[n] Inhalt jener Vorstellung des Autors vom Empfänger, die im Text durch bestimmte indiziale Zeichen fixiert ist. 104 Folglich handelt es sich bei dem abstrakten Leser nicht um eine »pragmatische Kommunikationsinstanz«, sondern um ein »semantisches Rekonstrukt«, 105 das heißt um eine Rekonstruktion des realen Lesers, die dieser seinerseits dem abstrakten Autor zuschreibt. Wolf Schmids Modell der Kommunikationsebenen im Erzähltext, das er seit den siebziger Jahren entwickelt hat, liegt seiner Einführung in die Elemente der Narratologie zugrunde; in einem Handbuchartikel verbreitet, spiegelt es in Auseinandersetzung mit anderen Positionen den jüngeren Forschungs- und Diskussionsstand. 106 Schmid führt den abstrakten Leser 98 Genette, Die Erzählung, S. 285. »[E]lle [la construction mentale, R. R.] me semble au moins autant fondée sur un réseau d’indices ponctuels et localisés […].« Genette, Nouveau discours, S. 95 (in Auseinandersetzung mit Shlomith Rimmon). 99 Genette, Die Erzählung, S. 285 [Herv. im Orig.]. »Il ne s’agit pas, comme pour le narrateur, d’une voix ; mais d’une oreille parfois dessinée avec précision, et complaisance.« Genette, Nouveau discours, S. 95 [Herv. im Orig.]. 100 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 45. 101 Vgl. auch Roland Bernecker, Art. ›Adressant / Adressat‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik I (1992), Sp. 119-130, hier Sp. 122: »Jede Kommunikation enthält auch das Angebot eines Selbstbegriffs von seiten des Adressanten [d. h. des Senders, R. R.], der zugleich ein entsprechendes Fremdbild offeriert.« 102 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 46. Was bei Wayne Booth’ implied author unspezifisch geblieben war - die Frage, ob das second self des Autors von diesem selbst willentlich geschaffen worden sei -, wird damit theoretisch fundiert: jede Äußerung weist zurück auf ihren Sprecher, ob dieser es beabsichtigt oder nicht. Das sieht Schmid wiederum schon bei Booth selbst angelegt, vgl. ebd., S. 51, Anm. 10. 103 »Die Vorstellung vom Gegenüber ist eine der Eigenschaften, die der rekonstruierende konkrete Leser dem abstrakten Autor zuschreibt.« Ebd., S. 65. 104 Ebd., S. 68. Vgl. auch Schmid, Textadressat, S. 171: »jenes Bild des Autors von seinen Rezipienten, das im Text durch bestimmte indiziale Zeichen mehr oder weniger deutlich objektiviert ist.« 105 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 64. 106 Schmid, Elemente der Narratologie; Schmid, Textadressat. 40 I. Grundlegung präzise als gedoppelte mentale Repräsentation ein, das heißt erstens als Bild des Autors von seinem möglichen Leser, zweitens als Bild, das der reale Leser sich wiederum von diesem Bild macht. Auch für Schmids abstrakten Leser ergibt sich bei genauer Überlegung jedoch ein ambivalentes Bild. Einerseits als mentale Repräsentation des realen Lesers verstanden, andererseits aber als über indiziale Zeichen im Text verankert gedacht, hat der abstrakte Leser eine eigentümliche Doppelrolle inne. 107 Schmids Modell macht überzeugend deutlich, dass es notwendig ist, eine implizite (›abstrakte‹) Instanz anzunehmen, die theoretisch auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als das der fiktiven Welt angehörende Gegenüber des Erzählers, 108 die aber auch nicht identisch ist mit dem konkreten Leser. Zugleich führt diese Unterscheidung zwischen der fiktiven Welt und der Ebene des literarischen Werks, der der abstrakte Autor und Leser angehören, ohne doch ganz in ihr aufzugehen, in die schwierige Lage, diese Figuren analytisch kaum greifen zu können, obwohl sie doch im Text verankert gedacht sind. Analytisch greifbar wird das, was im Text dargestellt ist; das ist in diesem Modell jedoch der fiktive, nicht der abstrakte Leser. Entsprechend sind Schmids Ausführungen zur expliziten und impliziten Darstellung des Lesers im Text schließlich auch rein auf den fiktiven Leser bezogen; vom abstrakten Leser ist in diesem Zusammenhang keine Rede mehr. 109 Den Ansätzen, die ich herausgestellt habe, könnte man leicht weitere Modelle impliziter Leser zur Seite stellen. 110 Sie divergieren offensichtlich nicht nur in der Terminologie, sondern fassen mit variierendem Erkenntnisinteresse auch etwas je Unterschiedliches in den Blick. Während bei Booth die Leserseite nur als Pendant zum Autor von Interesse ist (und sie insofern mit der gleichen Intention behandelt wird, nämlich Produzenten und Rezipienten - wieder - einen Platz in der Literaturtheorie und Textanalyse zu sichern, ohne dabei auf die Intention des Autors als Interpretament zurückzufallen), wertet Iser die Leserperspektive entscheidend auf. Vergleicht man jedoch sein Modell des impliziten Lesers mit dem, was in der anschließenden narratologischen Theoriebildung mit dem Oberbegriff ›impliziter Leser‹ bezeichnet wird - ein im skizzierten Sinn semantisches oder mentales (Re-) Konstrukt -, so ist die Diskrepanz zwischen dem titelgebenden Begriff bei Iser und seiner späteren inhaltlichen Füllung nicht zu übersehen. Es greift daher meines Erachtens zu kurz, den Begriff des impliziten Lesers einfach als »auf Iser zurückgehend« 111 zu beschreiben. 107 Für den abstrakten Autor macht Wolf Schmid selbst diese Doppelrolle explizit, wenn er von diesem als einem Bild spricht, »das eine zweifache, objektive und subjektive Grundlage hat, d. h. im Werk enthalten ist und durch den Leser rekonstruiert wird«, Schmid, Elemente der Narratologie, S. 46. Die gleiche Ambivalenz ist für den impliziten Autor in Anschlag gebracht worden, vgl. Kindt und Müller, Der implizite Autor, und Heinen, Das Bild des Autors, S. 329. 108 »Die Grenze zwischen der fiktiven Welt, zu der jeder Erzähler gehört […], und der Wirklichkeit, zu der bei all seiner Virtualität der abstrakte Leser gehört, lässt sich nicht überschreiten - es sei denn in einer narrativen Paradoxie.« Schmid, Elemente der Narratologie, S. 68. 109 Vgl. Schmid, Textadressat, S. 178 f. 110 Zu denken ist z. B. an Umberto Ecos Modell-Leser, vgl. Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990 [ 1 1979]. Zur Vielzahl an Typologien möglicher, intendierter oder ähnlicher Leser vgl. exemplarisch Erwin Wolff, Der intendierte Leser. Überlegungen und Beispiele zur Einführung eines literaturwissenschaftlichen Begriffs, in: Poetica 4 (1971), S. 140-166, Susan R. Suleiman, Introduction. Varieties of Audience-Oriented Criticism, in: The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, hg. von ders., Princeton 1980, S. 3-45, W. Daniel Wilson, Readers in Texts, in: PMLA 96 (1981), S. 848-863, sowie Paul Goetsch, Leserfiguren in der Erzählkunst, in: GRM 64, NF 33 (1983), S. 199-215. 111 Ansgar Nünning, Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phänomen? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des implied author , in: I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur 41 Stattdessen wären im Rahmen einer kritisch-wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion, wie sie Tom Kindt und Hans-Harald Müller für den Begriff des impliziten Autors geleistet haben, 112 auch und gerade für den impliziten Leser die Wechselwirkungen noch genauer in den Blick zu fassen, die sich in dieser konzeptionellen wie terminologischen Gemengelage ergeben, die charakteristisch für den impliziten Leser ist. Auch die kommunikationspragmatisch ausgerichteten Entwürfe eines impliziten Lesers in den Modellen Gérard Genettes und Wolf Schmids scheinen von dem Modell einer literarischen Wirkung, wie es Iser entwirft, zumindest noch indirekt zu zehren. Bei allen konzeptionellen Divergenzen im Detail ist es das, was die Figur eines impliziten Lesers auszeichnet und kategorial von Typologien möglicher, intendierter o. ä. Leser unterscheidet: Mit jener impliziten Ebene wird eine Dimension anvisiert, die, wiewohl textintern fundiert, im Textinternen doch nicht aufgeht. 2. Probleme Am Konzept des impliziten Autors hat sich in der Erzählforschung eine anhaltende Debatte entzündet. Vor allem Ansgar Nünning hat dieses Konzept scharf kritisiert: Der Begriff des impliziten Autors sei terminologisch uneindeutig, insofern er eine abstrakte Instanz anthropomorphisiere, und das Konzept sei in theoretischer Hinsicht problematisch, da eine Instanz kommunikationspragmatisch als Senderinstanz konzeptualisiert werde, die keine Senderinstanz sei. Es handele sich bei dem impliziten Autor, so das Verdikt Nünnings, um eine »Verlegenheitsformel«. 113 In einem jüngeren Aufsatz hat Nünning zwar seinen Vorschlag, das Konzept zu ersetzen, revidiert, die von ihm zuvor genannten Kritikpunkte jedoch grundsätzlich erneuert. 114 Die Einwände, die gegen den impliziten Autor geltend gemacht werden, treffen gleichermaßen den impliziten Leser. Greift man diese Debatte auf, so lassen sich drei größere Problemkomplexe benennen: erstens die Frage, ob damit eine abstrakte Entität fälschlich personal konzeptualisiert werde, zweitens die Konzeptualisierung des impliziten Lesers als Bild oder Vorstellung vom Leser ›im‹ Text, sowie drittens die zentrale methodologische Frage danach, wie ein impliziter Leser überhaupt analytisch rekonstruiert werden kann. Schon der Begriff eines impliziten Lesers führt bei näherer Betrachtung unmittelbar ins Zentrum konzeptioneller Schwierigkeiten. Gerade an dem Wort ›implizit‹ wird mit einer Übersetzungsauch eine Sachfrage diskutiert. Während das englische implied (Booth’ implied author wie der später in der englischsprachigen Erzählforschung geprägte Begriff des implied reader ) und das französische impliqué (Genettes lecteur impliqué ) rein als Partizipien verwendet werden, suggeriere, so der kritische Einwand, das deutsche Adjektiv ›implizit‹ eine ontologische Dimension, die bei dem, was der Begriff bezeichnen solle, gar nicht mitgedacht sei. Es liege daher näher, von einem implizierten Leser zu sprechen. 115 Dass die DVjs 67 (1993), S. 1-25, hier S. 8, Anm. 23. 112 Vgl. Kindt und Müller, Explikation und Verwendung, Kindt und Müller, Der implizite Autor, und Kindt und Müller, The Implied Author. 113 Nünning, Renaissance, S. 25. 114 Vgl. Nünning, Totgesagte leben länger, S. 366-381 (vgl. zu Nünnings eigener Position S. 376 mit Anm. 59). Vgl. zum Folgenden ebenfalls die von Wolf Schmid gebündelten Argumente gegen das Konzept des impliziten Autors: Schmid, Elemente der Narratologie, S. 54. 115 Der Unterschied wird deutlich, wenn Genette moniert, die englische Form implied author sei »im Französischen zu Unrecht mit ›auteur implicite‹ wiedergegeben [worden], da das Adjektiv die Tendenz hat, etwas zu fixieren und zu hypostasieren, was im Englischen nur ein Partizip war.« Genette, Die 42 I. Grundlegung Bezeichnung als impliziter Leser im deutschen Sprachraum terminologisch geworden ist, überrascht, hält man den spannungsvollen Bezug zwischen der jüngeren narratologischen Theoriebildung und dem Modell Wolfgang Isers präsent, der den Begriff geprägt hat. Je nach Perspektive lässt sich darin eine terminologische Vereinfachung, 116 zu der die Analogie zum Begriff des impliziten Autors beigetragen haben mag, oder eine Steigerung der Komplexität eines Begriffs sehen, der extensional nicht mehr eindeutig definiert ist. Wenn ich vom impliziten Adressaten der Predigt Meister Eckharts spreche, schließe ich an den (geläufigeren) Begriff des impliziten Lesers an, auch wenn die jeweiligen Implikationen der beiden terminologischen Varianten, ›implizit‹ und ›impliziert‹, vielleicht gar nicht strikt zu trennen sind, sondern in der Begriffsverwendung ineinander nachklingen und fließend ineinander übergehen mögen. Eine solche terminologische Polyphonie kann man als Nachteil sehen, sie lässt sich vielleicht aber auch - explizit gemacht - als Chance begreifen. 117 Was terminologisch diskutiert wird, zielt sachlich, das ist der zweite Punkt, auf den Status der als impliziter Leser bezeichneten Instanz. Ein maßgeblicher Kritikpunkt betrifft dabei die Tatsache, dass in der Bezeichnung eine Personalisierung bzw. Anthropomorphisierung mitschwinge, die der Sache nicht gerecht werde. 118 Ist damit gemeint, dass es irreführend sei, von einem Leser zu sprechen, wo ein Bild oder eine Vorstellung von einem Leser gemeint ist, so trifft der Vorwurf zwar, bezeichnet aber letztlich nur eine verkürzte Sprechweise. Problematischer wird es, wenn argumentiert wird, dass damit fälschlich eine abstrakte Entität als handelnde, rezipierende Größe verstanden werde, das heißt also, wenn es um den Ort des impliziten Lesers in literarischer Kommunikation geht. Ansgar Nünning hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass eine abstrakte Größe nicht als Kommunikationspartner konzipiert werden könne. 119 Als solcher aber ist grundsätzlich weder der implizite Leser noch der implizite Autor gedacht. Wolf Schmid beispielsweise legt Wert darauf, herauszustellen, dass diese beiden Figuren, wiewohl im Modell der Kom- Erzählung, S. 285. In die gleiche Richtung zielt Wolf Schmid, vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 50, Anm. 8. Die Übersetzer der Arbeiten von Booth und Genette geben die Termini konsequent im Deutschen mit ›implizierter‹ Autor bzw. Leser wieder. 116 Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 50, Anm. 8. 117 Die Partizipialkonstruktion ›impliziert‹ weist weniger auf ein Gegebenals deutlicher auf ein Gemachtsein jener Figur hin, die sie bezeichnet. Sie ruft jedoch ihrerseits unmittelbar die Frage nach dem Subjekt der Handlung auf (wer impliziert? ). Ein implizierter Leser rückt in den Gegenstandsbereich einer Sprechakttheorie, die Verfahren sprachlicher Implikaturen beschreibt. Es bietet sich an, die Vorstellung, wie ein Text ein Bild von seinem Leser nahelegt, damit engzuführen, wie eine Aussage eine andere sprachhandelnd nahelegt, indem sie sie transportiert, ohne sie explizit zu machen. Wie die Sprechakttheorie jedoch dort an ihre Grenzen gerät, wo Phänomene zu beschreiben sind, die nicht in einem linearen, intentional-gerichteten Handeln aufgehen, sondern je spezifische Überschüsse erzeugen, so ist auch diese Vorstellung eines implizierten Lesers nicht frei von Verkürzungen und führt so aus der Problematik nicht hinaus. Von einem impliziten Leser zu sprechen, verweist dagegen eher auf ein Potential, das in den Texten angelegt sein und in je neuer Form zum Austrag kommen kann. Hier käme die Begriffsverwendung Wolfgang Isers wieder mit ins Spiel. Implizit wäre ein solcher Leser zugleich immer schon gegeben und auf spezifische Weise entzogen; er wiese gleichsam den Weg zu einer ›verborgenen‹ Ebene textueller Wirkung, die nicht mehr linear gedacht sein müsste. Vgl. dazu insgesamt unten, Kap. I.3. 118 Vgl. Nünning, Renaissance, und Nünning, Totgesagte leben länger. 119 So kritisiert beispielsweise Ansgar Nünning die Konzeptualisierung des impliziten Autors als »›stimmenlose‹ Senderinstanz« scharf. Nünning, Totgesagte leben länger, S. 369. I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur 43 munikationsebenen verortet, selbst keine »pragmatische[n] Kommunikationsinstanzen« 120 seien; sie liegen gleichsam hinter jedem konkreten Kommunikationsprozess. Bleibt man bei der Auffassung, der implizite Leser sei als Bild oder Vorstellung vom Leser ›im‹ Text zu verstehen, so schreibt man ihm eine auf den ersten Blick nicht unproblematische Doppelrolle zu: einerseits als im Text verankert gedacht (Schmids Rede von indizialen Zeichen, aber auch Isers Vorstellung einer Textstruktur), andererseits als Inferenz eines realen Lesers begriffen (Schmids Bezeichnung als semantisches Rekonstrukt, Genettes Darstellung als mentales Konstrukt), oszilliert der Begriff des impliziten Lesers zwischen diesen beiden Ebenen. Das muss aber weder auf begriffliche Unschärfe noch auf ein konzeptionelles Problem hinweisen; die beiden Seiten interagieren und ergänzen sich komplementär. Dass ein Bild von einem Leser im Text sich als Konstruktion eines realen, interpretierenden Lesers erweist, heißt nicht, dass es keine Anhaltspunkte im Text geben kann, die dieses Bild hervorrufen. Im Gegenteil: statt von einem textintern repräsentierten Bild auf der einen und einem mentalen Konstrukt auf der anderen Seite könnte man in diesem Sinn vom impliziten Leser möglicherweise präziser als textuell evoziertem Bild eines Lesers sprechen. Betrachtet man die Modelle eines impliziten Lesers, die ich oben exemplarisch skizziert habe, so fällt ein Moment besonders ins Auge: methodologische Hinweise darauf, wie solch ein impliziter Leser analytisch rekonstruiert werden könne, fehlen auffällig. Das ist der dritte zentrale Kritikpunkt, der das Konzept eines impliziten Lesers trifft. In dem Modell Gérard Genettes ist das insofern schlüssig, als Genette ja die Existenz eines impliziten Autors und Lesers zwar zugestanden, sie aus dem Gegenstandsbereich einer Narratologie, wie er sie versteht, jedoch ausgeschlossen hatte. Bei Wayne Booth war der implizite Leser ohnehin nur am Rand in den Blick geraten. Wenn sowohl Wolfgang Iser als auch Wolf Schmid auf je unterschiedliche Weise jedoch grundsätzlich darauf abzielen, einen impliziten Leser auch als Interpretament narrativer Texte zu etablieren, stellt sich die Frage nach dem methodischen Vorgehen in aller Schärfe. 121 Tatsächlich bleibt, soweit ich sehe, in den Arbeiten Isers und Schmids die Figur eines impliziten Lesers auffällig unterbelichtet. Während sich bei Iser das Ineinander von Konkretem und Abstraktem, das sich in der Figur des impliziten Lesers überlagert, dem analytischen Zugriff entzieht, 122 bleibt Wolf 120 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 64. 121 Einen »neglect of methodological considerations« stellen hierzu auch Tom Kindt und Hans-Harald Müller heraus. Kindt und Müller, The Implied Author, S. 135. 122 Überblickt man die Einzelstudien, die Iser in Der implizite Leser zusammenfasst, so fällt auf, dass er kaum von einem impliziten Leser, sondern stattdessen von der ›Leserrolle‹ spricht, die er als »Bedingung möglicher Wirkung« versteht. Exemplarisch für das Folgende: Iser, Die Leserrolle in Fieldings Joseph Andrews und Tom Jones, in: Ders., Der implizite Leser, S. 57-93, hier S. 92. Um diese Leserrolle zu bestimmen, zieht Iser Apostrophen an den Leser (S. 57), Aussagen über die notwendige Aktivität des Lesers im Roman selbst oder in theoretischen Schriften des Autors heran (S. 59), geht dann vor allem aber auf »Strategien« (S. 67) der Leserlenkung ein, worunter er zentral die Negation möglicher Erwartungen des Lesers fasst (ebd.). Die Leserrolle hat so wiederum eine Doppelfunktion inne. Die Beispiele zeigen, dass das, was Iser analytisch beschreibt, auf die Lenkung eines konkreten Lesers in seinem Lektüreprozess zielt. Insofern er aber die Leserrolle auch als Bedingung der Möglichkeit einer Sinnkonstitution auffasst, weist er ihr eine diesem Prozess vorgelagerte Bedeutung zu. So bleibt auch die Leserrolle, die Iser für den Roman Joseph Andrews bestimmt, letztlich vage: »Sich eine Gestalt von Ereignissen zu bilden, die sich nicht am Augenschein orientiert, sondern hinter diesen zurückgeht, um ihn schließlich durchbrechen zu können, erweist sich als der konkrete Inhalt der Leserrolle in diesem Roman« (S. 72). 44 I. Grundlegung Schmids abstrakter Leser nicht zuletzt deswegen schwer greifbar, weil Schmid für den Erzähltext auf der »Grenze zwischen der fiktiven Welt, zu der jeder Erzähler gehört […], und der Wirklichkeit, zu der bei all seiner Virtualität der abstrakte Leser gehört«, 123 insistiert. Daraus folgt, dass alles, was die Darstellung eines Adressaten betrifft, insofern sie im Text explizit, »mit Hilfe der Pronomina und grammatischen Formen der zweiten Person oder der bekannten Anredeformeln wie ›der geneigte Leser‹ usw.«, 124 oder implizit gegeben ist (über die beiden Operationen ›Appell‹ und ›Orientierung‹, die die Ausrichtung des Erzählers an seinem Adressaten beschreiben), 125 in seinem Modell gerade nicht dem abstrakten, sondern dem fiktiven Leser gilt. Darauf, wie jene die Präsenz des Sprechers und seines Adressaten im Text anzeigenden indizialen Zeichen analytisch greifbar sein können, gibt Schmid keinen Hinweis. Die Frage nach dem methodischen Vorgehen führt für den impliziten Leser unmittelbar in den Problemkomplex der ›interpretatorischen Nützlichkeit‹ 126 hinein. Das greife ich im folgenden Kapitel unter dem Stichwort ›Spielräume des Impliziten‹ auf. 127 Zuvor geht es aber darum, das Potential sichtbar werden zu lassen, das ich trotz der damit verbundenen Probleme in dem Konzept eines impliziten Lesers für meine Fragestellung sehe. Zum einen wegen der verschiedenen Theorieanteile, die sich darin überlagern, zum anderen aufgrund der Möglichkeiten, die sich in der jüngeren narratologischen Figurenforschung abzeichnen, ist die Vorstellung eines Lesers als virtueller Figur ›im‹ Text immer noch attraktiv. 3. Perspektiven Für den impliziten Autor hat Sandra Heinen herausgestellt, wie die »definitorische und theoretische Uneindeutigkeit« 128 des Konzepts die literaturwissenschaftliche Rezeption entscheidend fördern konnte. Ähnliches ließe sich auch für den impliziten Leser aufweisen. Begriff und Konzept stehen, das hat der Durchgang durch die verschiedenen Modellbildungen gezeigt, in einem Spannungsfeld, in dem sich unterschiedliche Perspektiven überlagern: der Entwurf Wolfgang Isers vom impliziten Leser als Bedingung der Möglichkeit für die Wirkung fiktionaler Texte, als Rolle im Text vorgezeichnet und im Rezeptionsvorgang je neu aktualisiert, die pragmatische Einsicht von der Indirektheit aller Kommunikation, die darin sichtbar wird, dass in den Modellen Gérard Genettes und Wolf Schmids der implizite Leser als vom realen Leser unabhängiges ›Bild‹ verstanden ist, bis hin zu den Anklängen an ein Sprachhandlungskonzept, wie es die sprechakttheoretische Implikatur mit sich bringt. Quer zu diesen unterschiedlichen Perspektiven tritt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Wenn Sandra Heinen davon spricht, dass der implizite Autor im forschungsgeschichtlich gesehen bisher vernachlässigten Sinn als ein »im Zuge der Lektüre konstruiertes Autor- 123 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 68. 124 Schmid, Textadressat, S. 178. 125 Vgl. ebd., S. 178 f. 126 Damit greife ich eine Formulierung Ansgar Nünnings auf, demzufolge es bei der Diskussion um den impliziten Autor »nicht mehr um dessen ›Existenz‹ […], sondern um Fragen der heuristischen Ergiebigkeit und interpretatorischen Nützlichkeit« gehe. Nünning, Totgesagte leben länger, S. 366. 127 Zur Metapher des Spielraums in diesem Zusammenhang vgl. unten, Kap. I.3.2. Damit verbindet sich an dieser Stelle kein Bezug auf das, was Susanne Köbele unter dem gleichen Stichwort zur poetischen Gestalt des Granum sinapis erarbeitet hat, vgl. Köbele, Vom ›Schrumpfen‹ der Rede, S. 123 und S. 134. 128 Heinen, Das Bild des Autors, S. 329. I.2 Vom ›impliziten Leser‹ (Iser) zur Figur 45 bild« 129 zu verstehen sei, weist sie auf die Nähe einer solchen kognitiven Konstruktion »zum Prozess der Figurenkonstruktion« 130 explizit hin. Heinen lotet Möglichkeiten aus, das Konzept des impliziten Autors für eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen. Wollte man das Konzept eines impliziten Lesers in eine ähnliche Richtung bewegen, so wäre dieses vor allem weiter in der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Figuren-Begriff innerhalb der Narratologie zu verorten. Denn auch bei dem impliziten Leser handelt es sich um eine kognitive Konstruktion im Sinn eines Bildes von dem Leser eines Texts, das sich ein konkreter, realer, interpretierender Leser ausgehend von dem Text macht. Die Vorstellung, den impliziten Leser so auch terminologisch als Figur bezeichnen zu können, ist verlockend. 131 Wenn ich im Folgenden von der Figur des impliziten Adressaten spreche, denke ich diese Dimension mit. Ein weiteres Moment kommt hinzu, das die Texte in ihrer Performativität betrifft. In vielen Predigten Eckharts durchzieht ein dichtes Netz pronominaler Anreden den Text, mit denen der Bezug auf den Adressaten immer wieder erneuert und verstärkt wird, so dass dieser in und mit der wiederholten Anrede erst performativ hervorgebracht zu werden scheint. Der Adressat ist nicht statisch als Gegenüber des Textes immer schon gegeben, sondern erhält in und mit solchen Formen intensivierender Anrede eine ›performative Identität‹, die ihn als Figur bestimmt. 132 Die konzeptionelle Vielfalt, die aus den unterschiedlichen Modellen spricht, ist kaum auf ein einheitliches Konzept hin aufzulösen; vollständig muss sie vielleicht auch gar nicht aufgelöst werden. Im Ganzen zeigt sich darin der Wunsch danach, der Einsicht, dass jeder Text nicht ohne den Bezug auf einen Adressaten zu denken ist, auf einer Ebene nachzuspüren, die sich nicht in dem erschöpft, was sich auf der Oberfläche des Textes manifestiert. In diesem Sinn könnte das Konzept eines impliziten Textadressaten geeignet sein, eine Dimension des Textes aufzuschließen, die an der Schnittstelle von Textinternem und Textexternem verläuft: Als gleichermaßen im Text angelegt und über diesen hinausweisend gedacht, zielt die Kategorie des impliziten Lesers ins Zentrum der Potentiale textueller Wirkung, ohne diese doch auf konkrete Rezipienten hin zu verkürzen. Dabei könnte schließlich ein bestimmtes Moment eines impliziten Lesers besonders zur Geltung kommen: der virtuelle Charakter dieser Figur. Schon in Isers Modell ist die Vorstellung einer Virtualität des literarischen Werks konstitutiv. Damit tritt eine spezifische Spannung zutage: die Spannung zwischen einer als strukturell im Text verankert gedachten Anlage und ihrer Aktualisierung, die auf das im Text Angelegte zurückgeht, ohne doch vollständig darauf zurückzuführen zu sein. 133 Das Moment einer Vorgängigkeit, das darin 129 Ebd., S. 334. 130 Ebd., S. 337 (im Anschluss an Arbeiten von Fotis Jannidis). 131 Zum Prozess der Figurenkonstruktion vgl. zentral Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin / New York 2004 (Narratologia 3). 132 Zum Begriff der performativen Identität vgl. Burkhard Hasebrink, Elsbeth von Oye: Offenbarungen (um 1340), in: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, hg. von Cornelia Herberichs und Christian Kiening, Zürich 2008 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 3), S. 259-279. Zum Prozess der performativen Figurenkonstruktion im Kontext in der geistlichen Literatur vgl. jetzt Susanne Bernhardt, Figur im Vollzug. Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses, Tübingen 2016 (Bibliotheca Germanica 64). 133 »Dort also, wo Text und Leser zur Konvergenz gelangen, liegt der Ort des literarischen Werks, und dieser hat zwangsläufig einen virtuellen Charakter, da er weder auf die Realität des Textes noch auf die den Leser kennzeichnenden Dispositionen reduziert werden kann.« Iser, Der Akt des Lesens, S. 38. 46 I. Grundlegung steckt, dass jeder Autor bzw. Sprecher sich an einen Leser bzw. Adressaten wendet, »den es in dem Moment, wo er sich an ihn wendet, noch nicht gibt und vielleicht nie geben wird«, 134 macht Genette explizit. Er spricht in diesem Zusammenhang von der ›Vektorialität‹ der narrativen Kommunikation und schlägt vor, statt vom impliziten oder implizierten Leser ( lecteur implicite oder impliqué ) lieber vom virtuellen Leser ( lecteur virtuel ) zu sprechen. 135 Dahinter steht die Einsicht, dass auch für den Sprecher selbst das Gegenüber seiner Rede nur mittelbar präsent ist. Wenn er sich an sein Gegenüber wendet, führt nichts hinter die Vorstellung, die er sich von diesem macht, zurück; er mag den anderen wahrnehmen, bleibt aber stets an seine eigene Wahrnehmung von ihm gebunden. Zieht man dazu in Betracht, dass der Sprecher ja in und mit der Anrede gerade auf sein Gegenüber zielt, so zeigt sich deutlich die Spannung, die einer solchen Form von Adressierung innewohnt. Dieses Moment einer Vorgängigkeit ist nicht allein literarischer, sondern im Grunde genommen jeder Form von Kommunikation eingeschrieben, in der der Angesprochene sich als der Andere erweist, den ich als anderen doch nie zu fassen bekomme. Daraus ergibt sich eine ganz eigene Spannung, in der der Angesprochene dauerhaft präsent ist, insofern jede Rede einen Adressaten braucht, und in der er sich aber zugleich beständig entzieht, insofern er als der (immer) Andere eben nicht zu fassen ist. Ein solcher impliziter Leser wäre dann nicht einfach als statisches mentales Modell eines konkreten Lesers zu verstehen. Der Figur wäre vielmehr jene agonale Struktur im Wechselspiel von Entzug und Konstitution notwendig eingeschrieben. Möglicherweise gehören solche Spannungen konstitutiv mit zu der Figur eines impliziten Lesers. So ist in Isers Modell die Spannung zwischen einer Anlage im Text und ihrer Aktualisierung im Rezeptionsvorgang entscheidend, und Genettes Rede vom virtuellen Leser zielt maßgeblich auf die Spannung zwischen der Vorstellung eines Autors von seinem Leser und seinem realen Leser. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die Figur des impliziten Adressaten, wie ich sie in Anlehnung an das Konzept eines impliziten Lesers verstehe, Anschlussmöglichkeiten auch außerhalb des engeren Bereichs der Erzählforschung bietet. Sie könnte sich, so die Hypothese, eignen, um eine spezifische Dimension der Predigten Eckharts in den Blick zu fassen, nämlich die Art, wie solche Texte sich denjenigen, an den sie sich richten, im Gang der Rede erst dynamisch entwerfen. Ein solcher impliziter Adressat wäre dann weder als ›nur‹ inszeniertes, fiktives Gegenüber der Rede zu verstehen noch unmittelbar mit dem realen Publikum der Predigten Eckharts gleichzusetzen. Vielmehr zielte die so verstandene Figur auf eine Dimension mittelalterlicher Textualität, die in der Kommunikation einzelner Lehrinhalte in der Predigt nicht aufgeht, sondern in der die Anrede selbst zum Ereignis wird. Damit perspektiviere ich das Konzept eines impliziten Lesers anders, als es Volker Mertens und Otto Langer tun, deren Studien die einzigen Versuche der älteren Forschung darstellen, dieses Konzept explizit in die Predigtforschung zu übertragen. 136 Mertens’ Interesse 134 Genette, Die Erzählung, S. 291. 135 Ebd. »La grande dissymétrie, dans tout cela, tient à la vectorialité de la communication narrative: l’auteur d’un récit, comme tout auteur, s’adresse à un lecteur qui n’est pas encore au moment où il s’adresse à lui, et qui ne sera peut-être jamais. Contrairement à l’auteur impliqué, qui est, dans la tête du lecteur, l’idée d’un auteur réel, le lecteur impliqué, dans la tête de l’auteur réel, est l’idée d’un lecteur possible . […] Peut-être donc vaudrait-il décidément mieux rebaptiser le ›lecteur impliqué‹ lecteur virtuel .« Genette, Nouveau discours, S. 103 [Herv. im Orig.]. 136 Volker Mertens, »Der implizierte Sünder«. Prediger, Hörer und Leser in Predigten des 14. Jahrhunderts. Mit einer Textpublikation aus den ›Berliner Predigten‹, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, hg. von Walter Haug, Timothy R. Jackson und Johan- I.3 Spielräume des Impliziten 47 beim Transfer von »Kategorien der Leserforschung […] auf die Eigenart der Predigtüberlieferung des Mittelalters« 137 liegt auf der »aus den Texten erschließbare[n] mögliche[n] Gebrauchssituation«. 138 Im Rückgriff auf die Arbeiten Wolfgang Isers 139 fragt er danach, welche Rückschlüsse unterschiedlich komplex gezeichnete Adressatenrollen auf mögliche Rezeptionskontexte der Predigten erlauben, und stellt fest, dass in den Predigten das Verhältnis von ›intendierten‹ und ›tatsächlichen‹ Hörern bzw. Lesern auseinandertrete. 140 Langer fragt vor dem gleichen Hintergrund nach dem »Erwartungshorizont des Publikums«, 141 den er ausgehend von den Nonnenviten zu rekonstruieren versucht, die die Folie seiner Eckhart-Lektüre bilden. 142 I.3 Spielräume des Impliziten. Der implizite Adressat als Analysekategorie für die deutschen Predigten Meister Eckharts 1. Vom Erzähltext zur Predigt, vom Leser zum Adressaten. Zum Verhältnis von Modellbildung und Gegenstand Das Konzept eines impliziten Lesers, das ich im vorangegangenen Kapitel vorgestellt habe, ist von den Bedingungen narrativer Kommunikation her gedacht, nicht von der Kommunikationssituation der Predigt. Wenn ich vom impliziten Adressaten spreche, schließe ich an dieses Konzept an, perspektiviere es jedoch vor dem Hintergrund meiner Fragestellung neu. Damit verbindet sich ein doppeltes Ziel. Zum ersten kann das Konzept einer Instanz textueller Adressierung dazu beitragen, die Frage nach den Adressaten von Eckharts Predigten mit anderen Erkenntnispotentialen neu zu stellen. Das bildet meinen vordergründigen Ansatzpunkt. Zum anderen jedoch könnte in umgekehrter Richtung die Arbeit an Texten, die den Referenztexten der Erzählforschung denkbar fern stehen, ihrerseits Wege aufzeigen, wie man mit dem Konzept eines impliziten Adressaten des Texts interpretatorisch arbeiten kann. Damit greife ich die Frage nach der ›interpretatorischen Nützlichkeit‹ dieses Konzepts auf, die Ansgar Nünning formuliert hat. 143 Unter dem Stichwort ›Spielräume des Impliziten‹ möchte ich vorschlagen, das Konzept eines impliziten Textadressaten variabler aufzufassen, als es die narratologische Modellbildung nahelegt. Der implizite Adressat bewegt sich für mich somit von einer statischen Kategorie hin zu einer dynamischen Figur textueller Adressierung, deren Beschreibung von der Interpretation der Predigten nicht zu trennen ist. Diese Bewegung möchte ich im Folgenden sichtbar werden lassen. Dazu fasse ich kurz zusammen, was ich aus der Erzähltheorie aufgreife, nes Janota, Heidelberg 1983 (Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London 29), S. 76-114; Langer, Meister Eckhart und sein Publikum. 137 Mertens, »Der implizierte Sünder«, S. 76. 138 Ebd. 139 Vgl. ebd. 140 Vgl. ebd., S. 81. Die »deutliche Ausprägung implizierter Sünderrollen in ihrer Spannung zur allgemeinen Adressatenrolle« (ebd., S. 90) liest Mertens im Sinn gesteigerter Komplexität als Marker für die Literarizität der Texte wie als Signum der Predigten Bertholds. Damit weist Mertens den Weg dazu, stärker die Texte selbst in ihrer literarischen Faktur in den Blick zu fassen. Darauf, woher er das Wissen über die ›tatsächlich‹ angesprochenen Hörer nimmt, gibt er keine Hinweise. 141 Langer, Meister Eckhart und sein Publikum, S. 180. 142 Vgl. ebd., S. 184-192. 143 Nünning, Totgesagte leben länger, S. 366. 48 I. Grundlegung wenn ich vom impliziten Adressaten spreche, und gehe dann ausführlicher auf das Verhältnis von narratologischer Modellbildung und meinem Gegenstand ein. Vom Erzähltext zur Predigt, vom Leser zum Adressaten sind mehrere Formen von Differenz mitzudenken: eine Differenz mit Blick auf die Textsorte, die historische Differenz von modernen und mittelalterlichen Texten, quer zu beidem schließlich eine Differenz, die den medialen Status der jeweiligen Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit betrifft. An das Ende meines Problemaufrisses stelle ich die hermeneutisch-methodische Frage nach dem interpretatorischen Umgang mit einem Modell, das sich primär durch seinen deskriptiven Anspruch auszeichnet. Im vorangegangenen Kapitel hat sich gezeigt, wie verschiedene Konzepte eines impliziten Lesers in der narratologischen Modellbildung interagieren. Ich schließe eng an das Modell Wolf Schmids an, das auf der kommunikationspragmatischen Einsicht beruht, dass grundsätzlich jede sprachliche Mitteilung Spuren davon in sich trägt, wie der Sprecher sich seinen Adressaten vorstellt. Auf dieser Ebene ist der implizite Adressat eines Textes bestimmt als »Inhalt jener Vorstellung des Autors vom Empfänger, die im Text durch bestimmte indiziale Zeichen fixiert ist.« 144 Dieser implizite Adressat hat eine Doppelrolle inne: er ist einerseits als textinterne Repräsentation eines Bildes des Autors von seinem Adressaten verstanden, die aber andererseits nur als Rekonstrukt greifbar ist, das der reale Leser sich im Zuge der Lektüre macht. Was in Schmids Modell theoretisch exakt definiert ist, ist analytisch schwierig zu greifen und interpretatorisch nur eingeschränkt fruchtbar zu machen. Aufschlussreicher könnte es sein, genauer zu betrachten, wie ein solches Bild von einem Adressaten vom Text jeweils hervorgerufen wird - und damit den Blick auf genau jene Schnittstelle zwischen Textinternem und Textexternem zu richten, auf deren kategorialer Unterschiedenheit Schmid insistiert. Wenn ich auf das Konzept eines impliziten Adressaten zurückgreife, dann bildet das meinen Fluchtpunkt: die Vorstellung eines Adressaten des Textes, die sich nicht in textinterner Repräsentation erschöpft, aber auch nicht verkürzend mit den realen Rezipienten eines Textes gleichzusetzen ist, sondern die im Ausgang von Textstrukturen ihre eigene Wirklichkeit erst gewinnt. 145 Zeichnen sich Erzähler wie Prediger grundsätzlich durch ihre vermittelnde Funktion aus, so steht ihre jeweilige Rolle als Vermittler doch in unterschiedlichen Kontexten, und entsprechend differieren die Strategien und Bezugspunkte, mit und vor denen ihre Rede sich legitimiert und autorisiert. Ein Predigttext unterscheidet sich hinsichtlich seines kommunikativen Anspruchs offensichtlich von Grund auf von einem fiktionalen Erzähltext. Wo fiktionales Erzählen auf der Suspension des Wahrheitsanspruchs beruht, baut die Predigt neben ihrem didaktischen Anspruch darauf auf, dass sich »in dem horizontalen Sprechakt der Predigt zugleich ein […] vertikales Kommunikationsgeschehen« 146 verortet: das Verkünden von Gottes Wort. Das Konzept eines impliziten Adressaten ist von solchen textsortenspezifischen Differenzen im Kern nicht betroffen. Auch wenn der implizite Leser in der spezifischen Ausprägung, die das Konzept in der Erzählforschung gewonnen hat, deutlich vor der Folie des Modells gedoppelter Kommunikation im Erzähltext steht, das die Unterscheidung fiktiver und realer Kommunikationsinstanzen voraussetzt, so ist das Kon- 144 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 68. 145 So spielt Wolfgang Isers Konzept des impliziten Lesers, das ich zunächst systematisch von den späteren Modellen impliziter Textadressaten in der Erzählforschung getrennt habe, latent doch wieder mit in die Theoriebildung hinein. 146 Beutel, Art. ›Predigt (A.)‹, Sp. 46. I.3 Spielräume des Impliziten 49 zept an sich doch weder an erzählende Texte noch an ein spezifisches Verständnis von Fiktionalität gebunden. Es beruht auf der kommunikationspragmatischen Einsicht, dass jede sprachliche Mitteilung ein implizites Bild des Sprechers und ihres Adressaten enthält. 147 Auch die historische Differenz zwischen den modernen Referenztexten der Erzählforschung und den mittelalterlichen Predigten Eckharts schließt die Möglichkeit nicht aus, mit einem narratologischen Modell zu arbeiten. Im Gegenteil: wie die Arbeit an vormodernen Texten in und mit der kritischen Reflexion aus der historischen Distanz heraus auch helfen kann, moderne Beobachtungsbegriffe zu schärfen, wird in der Forschung seit längerem gesehen und betont. 148 Lässt man die historische Differenz mitlaufen, so könnten sich in dieser Perspektive spannende Einblicke in beide Richtungen ergeben: mit Blick auf die Dynamiken, die Eckharts Predigten in ihrem Adressatenbezug entwickeln, ebenso wie für das Konzept eines impliziten Adressaten des Texts. Quer zu den systematischen wie historischen Unterschieden der beiden Textsorten steht die Frage nach dem medialen Status von Predigt und Erzähltext. Was für den modernen Erzähltext eingängig ist - wir lesen einen schriftlich konzipierten und tradierten Text, der sich an einen Leser richtet -, weist für die mittelalterliche Predigt unmittelbar in das Problemfeld ihres Textstatus im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hinein. Wenn ich nicht vom Leser der Predigt, sondern von ihrem Adressaten spreche, geht es mir nicht darum, einer mündlich vorgetragenen Predigt in Abgrenzung zur schriftlichen Form der Lesepredigt nachzuspüren, sondern darum, den Perspektivwechsel vom faktischen Rezipienten zu dem Entwurf eines Empfängers zu markieren, den die Predigt in sich birgt. Eine ursprünglich mündlich vorgetragene Predigt, auf die die ältere Forschung noch den Text der Predigt rückbeziehen wollte, ist für uns nicht mehr greifbar. Hatte ein möglicher Umgang mit dieser Problematik zunächst darin bestanden, die »Inszenierung […] von Mündlichkeit unter den Bedingungen der Schriftlichkeit« 149 neu zum Gegenstand zu machen, so zeichnet sich im Kontext neuerer Forschungsansätze die Einsicht ab, dass die Dichotomie von mündlicher Kanzelpredigt und schriftlicher Lesepredigt zu kurz greift, um die spezifische Medialität der Predigt zu fassen. 150 Infolgedessen sind nicht mehr nur Mündlichkeitssignale im Text von Bedeutung, die zentral auch als Gattungsindikator für die mittelalterliche Predigt gewertet wurden, 151 sondern das Frageinteresse verlagert sich 147 Vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 142: beim impliziten Adressaten handele es sich »um eine Instanz […], die grundsätzlich mit der rhetorischen Anlage eines Textes verknüpft ist, insofern eine im weitesten Sinne appellative Textfunktion immer schon Vorannahmen über Erwartungen, Wissen und Dispositionen des impliziten Adressaten mit sich führt«. 148 Vgl. dazu paradigmatisch Christian Kiening, Alterität und Methode. Begründungsmöglichkeiten fachlicher Identität, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52 (2005), S. 150-167. 149 René Wetzel und Fabrice Flückiger, Einleitung. Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit, in: Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit. La prédication au Moyen Age entre oralité, visualité et écriture, hg. von dens., Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 13), S. 13-23, hier S. 14. 150 Vgl. dazu den Sammelband Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit. La prédication au Moyen Age entre oralité, visualité et écriture, hg. von René Wetzel und Fabrice Flückiger, Zürich 2010 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 13); vgl. auch Hasebrink und Schiewer, Art. ›Predigt‹. 151 Vgl. Schiewer, German Sermons, S. 863. Wenn es um die Predigt als literarisches Genre gehe, sei egal, ob es sich um Spuren einer aktuellen Aufführungssituation handele (»the signals can be derived from an actual ›performance situation‹«) oder ob die Situation fiktiv sei (»the situation is fictitious«) (ebd.). - Die Frage danach, wie die mittelalterliche Predigt als Textsorte exakt einzugrenzen sei, kann ich hier nicht einholen. Vgl. zu den Versuchen, das »fluid genre« (Beverly Mayne Kienzle, The Typo- 50 I. Grundlegung dazu, die Opposition von mündlichem Vortrag und schriftlicher Fixierung der Predigt hin zur Performativität der Predigttexte zu überschreiten. Von dieser Neuausrichtung, die auf die performativen Potentiale der Texte jenseits ihrer konkreten Performanz zielt, könnte unter Umständen auch die Erzählforschung profitieren. Wenn ich das Konzept eines impliziten Adressaten des Texts hin zu einer dynamischen Figur bewegen möchte, die eng mit der Textinterpretation verbunden ist, ist schließlich eine prinzipielle, hermeneutisch-methodische Frage berührt, die den Umgang mit einem deskriptiven Modell im Kontext der Interpretation betrifft. So besteht (neben den zuvor genannten) ein weiteres Problem des Konzepts eines impliziten Autors darin, dass es eine synthetisierende Rezeptionsstrategie ermöglicht, die ihre eigene Syntheseleistung verbirgt: Durch den impliziten Autor wird der Übergang von der Deskription zur Interpretation erleichtert, die Schwelle des Übergangs jedoch gleichzeitig unsichtbar gemacht. Indem der implizite Autor vom Literaturwissenschaftler als Textphänomen behandelt wird, kann der Interpret das, was bereits Interpretation ist, als objektives Faktum des Textes ausgeben. 152 Eine ähnliche Problematik betrifft die Figur des impliziten Adressaten. Wenn in jedem Text, wie Wolf Schmid formuliert, das »Bild des Autors von seinen Rezipienten […] durch bestimmte indiziale Zeichen mehr oder weniger deutlich objektiviert ist«, 153 wirkt diese Beschreibung so, als müsse der Interpret die Zeichen nur genau genug lesen, um zu jenem objektiven Bild vorzustoßen. An welchen Textphänomenen auch immer der Interpret jedoch ansetzt, so führt hinter seinen eigenen Zugang letztlich nichts zurück. Auf das Bild des Autors von seinen Adressaten kann höchstens der Autor selbst zugreifen; objektiv beschreibbar ist es nicht. Was theoretisch präzise benannt werden kann - es stimmt, dass jeder Sprecher sich ein Bild von seinem Gegenüber macht, und es stimmt, dass dieses Bild sich in seiner Rede niederschlägt -, entzieht sich in diesem Sinn zugleich auch dem Zugriff. Möglicherweise liegt eine Crux, die die narratologische Modellbildung begleitet, in der Ambivalenz einer Figur, die auf der einen Seite eine elementare und objektiv gültige komlogy of the Medieval Sermon and its Development in the Middle Ages: Report on Work in Progress, in: De l’homélie au sermon. Histoire de la prédication médiévale. Actes du Colloque international de Louvain-la-Neuve [9-11 juillet 1992], hg. von Jacqueline Hamesse und Xavier Hermand, Louvain-la- Neuve 1993 [Université Catholique de Louvain. Publications de l’Institut d’études médiévales. Textes, Études, Congrès 14], S. 83-101, hier S. 86) der Predigt historisch genauer zu bestimmen, exemplarisch die Einleitungen in die Sammelbände von Beverly Maine Kienzle, Introduction, in: The Sermon, hg. von Beverly Mayne Kienzle, Turnhout 2000 (Typologie des sources du moyen âge occidental 81-83), S. 143-174, und Carolyn Muessig, Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages: An Introduction, in: Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, hg. von ders., Leiden / Boston / Köln 2002, S. 3-9; vgl. auch Volker Mertens, Predigt oder Traktat? Thesen zur Textdynamik mittelhochdeutscher geistlicher Prosa, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 24 (1992), S. 41-43, Uta Störmer, Möglichkeiten der Gattungsabgrenzung bei auslegenden katechetischen Texten, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 3.-6. Oktober 1989, hg. von Volker Mertens und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1992, S. 333-351, Hans-Jochen Schiewer, Predigt als Textsorte. Bettelorden und volkssprachige Prosa im 13. Jahrhundert, in: Textsorten deutscher Prosa vom 12./ 13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum internationalen Kongress in Berlin, 20. bis 22. September 1999, hg. von Franz Simmler, Bern [usw.] 2002 ( Jahrbuch für internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte 67), S. 275-287, sowie den Sammelband Predigt im Kontext, hg. von Volker Mertens [u. a.], Berlin / Boston 2013. 152 Heinen, Das Bild des Autors, S. 330 (im Rückgriff auf Kindt und Müller, Explikation und Verwendung). 153 Schmid, Textadressat, S. 171. I.3 Spielräume des Impliziten 51 munikationspragmatische Einsicht beschreibt, auf der anderen Seite aber immer schon das Ergebnis eines Interpretationsvorgangs ist. Im Letzten gilt das auch für das, was Wolf Schmid als impliziten Adressaten eines Texts bestimmt: die Vorstellung eines Adressaten, der die ›Codes‹ beherrschen müsse, die zum Verständnis des Textes nötig seien. Selbst wenn man diesem Modell folgt, lässt sich die Frage nach der ›interpretatorischen Nützlichkeit‹ (Nünning) einer solchen Figur zu Recht mit aller Schärfe stellen. 154 Wenn ich in den Textanalysen versuche, sichtbar werden zu lassen, wie Eckharts Predigten sich ihren impliziten Adressaten entwerfen und ihn bewegen, bildet diese Figur für mich deshalb eine interpretatorische Kategorie in einem starken Sinn. Mein Anspruch ist weder, das Bild zu rekonstruieren, das der historische Eckhart im Moment der Predigt von seinen anwesenden Zuhörern gehabt haben mag, noch, meine Vorstellung von dem Bild zu beschreiben, das ich dem Prediger zuschreibe, oder die ›Codes‹ zu rekonstruieren, die zum Verständnis einer Predigt nötig sind. Ich greife auf die Figur des impliziten Adressaten zurück, um über diese Ebene textinterner Repräsentation hinaus eine spezifische Bewegung sichtbar werden zu lassen, die die Predigttexte in ihrer Ausrichtung auf ihren Adressaten vollziehen. Den impliziten Adressaten verstehe ich als das Gegenüber jener Bewegung, die die Predigttexte vollziehen. Er erhält seine Identität als Figur im Textverlauf der Predigt, und er kann dabei dynamisiert und bewegt werden. Als ebenso im Text angelegt wie über diesen hinausweisend gedacht, zielt die Figur des impliziten Adressaten ins Zentrum der Potentiale textueller Wirkung, ohne diese auf konkrete Adressaten bzw. ein historisches Publikum zu verkürzen. Den Kontext, vor dem sich damit meine Frage nach dem impliziten Adressaten verortet, skizziere ich im folgenden Unterkapitel. Abschließend stelle ich dar, woran ich ansetze, um zu beschreiben, wie Eckharts Predigten sich ihren impliziten Adressaten entwerfen. 2. Spielräume des Impliziten. Die Predigt und ihr Adressat im Spannungsfeld von Aufführung und Performativität Der turn , den ich für die Figur des impliziten Adressaten vorschlagen möchte, setzt an einem spezifischen Moment der Predigten Eckharts an: ihrem performativen Charakter. Wie diese Texte in ihrem Wechselspiel von »Theoretisierung und Performierung« 155 eine ganz eigene Signatur erzeugen, wird im Licht neuerer Forschungsansätze erst sichtbar. Wenn ich vom impliziten Adressaten spreche, ziele ich darauf, eine Bewegung in den Blick zu fassen, in und mit der die Texte ihre Lehre nicht nur diskursiv erörtern, sondern dynamisch entfalten und sie auf ihre Adressaten hin beziehen. Statt der historischen Performanz der Predigt rückt damit die Performativität der Predigttexte in den Fokus. Wie die Texte sich auf dieser Ebene ihren impliziten Adressaten entwerfen, ihn bewegen und an ihm das vollziehen, wovon sie sprechen, kann sich erst aus den Analysen ergeben. Ich skizziere 154 Nünning, Totgesagte leben länger, S. 366. Deutlich zeigt sich das Problem beispielsweise, wenn Wolf Schmid für das Spätwerk Tolstojs konkret von einem unterstellten Adressaten spricht, der »nur mit ganz allgemeinen Zügen entworfen« werde »wie der Beherrschung der russischen Sprache, der Kenntnis der gesellschaftlichen Normen des späten 19. Jahrhunderts und der Fähigkeit, ein literarisches Werk zu lesen«. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 70. 155 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 67. Zu Eckharts Predigten im Paradigma des Performativen vgl. auch Marie-Luise Sessler, Philosophie unter den Aspekten Mündlichkeit, Klang, Performativität und Präsenz. Eine Untersuchung zu den deutschen Predigten Meister Eckharts, Hamburg 2015 (Schriften zur Mediävistik 23). 52 I. Grundlegung deshalb im Folgenden nur in groben Zügen das komplexe, in sich heterogene Forschungsparadigma, innerhalb dessen sich meine Reformulierung der Frage nach den Adressaten der Predigten Eckharts bewegt. An die Stelle eines statischen Adressatenbildes treten folglich, so möchte ich vorschlagen, ›Spielräume des Impliziten‹, in und mit denen die Texte sich ihren Adressaten im Gang der Rede je neu entwerfen. Die Begriffe ›Performanz‹ und ›Performativität‹ zielen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit wechselnden Akzentuierungen z. B. in den Sprach- oder Theaterwissenschaften auf jenen Handlungs- und Ereignischarakter, den die jüngere literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung auch Sprache bzw. Texten zuschreibt. Während Performanz ein kulturelles Ereignis - wie die Aufführung oder Lektüre eines literarischen Werks - bezeichnet, das sich situational und je einmalig vollzieht, lässt sich mit der Kategorie Performativität erfassen, wie etwas durch Handlungen und Interaktionen vollzogen, vergegenwärtigt oder auch erzeugt wird. 156 Die Aufführung als zentralen Bestandteil mittelalterlicher Texte zu betrachten und diese auf die ihnen eingeschriebenen Aufführungssituationen hin zu untersuchen, hat sich seit langem in der mediävistischen Fachdiskussion etabliert. 157 Für jene Texte, deren ›Sitz im Leben‹ in einer historischen Aufführungssituation liegt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von ›Aufführung und Schrift‹ in besonderer Weise. 158 Neben den zwei naheliegenden Antworten - der Text spiegelt Aufführung wider und ist insofern als Zeugnis seiner historischen Performanz lesbar; der Text ist gegenüber seiner Aufführung immer schon defizitär, die historische Performanz in diesem Sinn verloren - zeichnet sich in der jüngeren literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung deutlich ein dritter Weg ab. Während in der älteren Forschung insgesamt die Stoßrichtung dahin ging, Texte auf ihre konkreten Kontexte, Funktionen und Gebrauchssituationen, das heißt auf ihre Performanz hin zu befragen, rücken in neueren Ansätzen wieder vermehrt die Texte selbst in den Blick. Die Aufführung wird dabei nicht länger als eine zum Text hinzutretende Komponente, deren Fehlen den Text defizitär erscheinen lässt, sondern als grundlegende Dimension mittelalterlicher Textualität selbst verstanden. Was für den Bereich der weltlich-höfischen Literatur seit längerem Beachtung findet - paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang die Minnesang-Forschung zu nennen 159 -, 156 Ingrid Kasten, Einleitung, in: Codierung von Emotionen im Mittelalter, hg. von ders. und C. Stephen Jaeger, Berlin / New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. XIII-XXVIII, hier S. XVIIIf. (zit. nach Herberichs und Kiening, Einleitung, S. 20, Anm. 5). 157 Zum Begriff der Aufführungssituation vgl. Peter Strohschneider, Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung, in: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991, Bd. 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, hg. von Johannes Janota, Tübingen 1993, S. 56-71. Wenn ich in diesem Zusammenhang von der Aufführung oder der Aufführungssituation der Predigt spreche, geht es mir nicht darum, die Predigt in das Paradigma des Theaters zu rücken. Das würde den spezifischen Charakter der Texte verkennen, die gerade nicht ›spielen‹, sondern darauf zielen, das Wort Gottes zu vermitteln. Von einer Aufführung spreche ich mit Blick auf die Predigt als Vortrag vor Publikum, was sie mit anderen Gattungen mittelalterlicher Literatur verbindet. 158 Zu diesem Verhältnis vgl. zentral den Sammelband ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart / Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17). 159 Vgl. dazu exemplarisch Helmut Tervooren, Die ›Aufführung‹ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Stutt- I.3 Spielräume des Impliziten 53 rückt erst in jüngerer Zeit auch für andere Texte in den Blick. Das gilt besonders für solche Texte, die lange Gegenstand ganz anders gelagerter Fragestellungen waren, die eng an der lebensweltlichen Verortung festhielten. Zu denken ist im Paradigma der Aufführung z. B. an das geistliche Spiel, das Christian Kiening exemplarisch neu perspektiviert hat, 160 aber eben auch an Predigten, für die sich gleichfalls die Einsicht nur langsam durchgesetzt hat, dass man die Texte in ihrer spezifischen Medialität entscheidend verkürzt, wenn man an der Dichotomie von Aufführung und Schrift festhält. Mit Blick auf das Überschreiten dieser Dichotomie spricht Christian Kiening, an dessen Performativitätsbegriff ich im Folgenden anschließe, programmatisch von einer ›textuellen Performativität‹. 161 In der Predigtforschung war die Orientierung an der historischen Performanz der Predigt lange Zeit weit verbreitet; sie ist bisweilen heute noch erkenntnisleitend. Weniger auf ein bestimmtes Publikum als grundsätzlich auf die Predigt als soziales und kulturelles Ereignis zielend, wird deren konkrete Performanz insbesondere im anglo-amerikanischen Raum in den Blick gefasst. Am Paradigma des Theaters ausgerichtet, werden Prediger und Publikum als Akteure konzipiert, von deren Handeln auf der ›Bühne‹ der Kanzel die Predigttexte noch zeugen. 162 Auch dieser Zugang bildet einen Ansatzpunkt, die Predigt als Text auf ihre historische Situation hin zu befragen. Die Lücke zwischen Text und Aufführung schließt sich damit jedoch nicht, sondern verfestigt sich eher noch. Liest man beispielsweise Dialogpassagen, Formen direkter Rede, Publikumsapostrophen oder deiktische Elemente in den Predigttexten unmittelbar als performance indicators , 163 so ist der direkte Schluss vom Text auf eine historische Aufführungssituation methodisch hochgradig problematisch. Das Verhältnis von Text und Aufführung wird entscheidend verkürzt, wenn man es entweder unidirektional im Sinn einer direkten Widerspiegelung betrachtet (›der Text spiegelt Aufführung wider‹), oder in umgekehrter Richtung den Text als reine Inszenierung auffasst (›der Text simuliert Aufführung‹). 164 Es verstellt sich dabei der Blick dafür, dass die Texte gart / Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 48-66. 160 Vgl. Christian Kiening, Präsenz - Memoria - Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, in: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel, hg. von Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte, Berlin / New York 2007 (Trends in Medieval Philology 11), S. 139-168. 161 »Die Kategorie der Aufführung muss zum Problem werden, wenn man die Überlieferung primär als unzureichende Aufzeichnung umfassender, aber verlorener Sinnzusammenhänge begreift […]. Sie kann zur Chance werden, wenn die historische Rekonstruktion den Blick auf die Faktizität und Materialität der Überlieferung nicht preisgibt. Dann eröffnet sich in dem, was sich theatergeschichtlich verschließt, schrift- und textgeschichtlich ein Feld, auf dem die Bedingungen der Möglichkeit von textueller Performativität verfolgt werden können.« Ebd., S. 147 f. 162 Vgl. z. B. Beverly Mayne Kienzle, Medieval Sermons and their Performance: Theory and Record, in: Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, hg. von Carolyn Muessig, Leiden / Boston / Köln 2002, S. 89-124, und Augustine Thompson, From Texts to Preaching: Retrieving the Medieval Sermon as an Event, in: Preacher, Sermon and Audience in the Middle Ages, hg. von Carolyn Muessig, Leiden / Boston / Köln 2002, S. 13-37. Im deutschen Sprachraum bildet der Ansatz von Volker Mertens ein Beispiel für diese Fragerichtung: Volker Mertens, Meistergesang und Predigt. Formen der Performanz als Legitimationsstrategien im späten Mittelalter, in: Sangspruchtradition. Aufführung - Geltungsstrategien - Spannungsfelder, hg. von Margreth Egidi, Volker Mertens und Nine Miedema, Frankfurt am Main [usw.] 2004, S. 125-142. Zur Abgrenzung dieser Orientierung am »preaching event« mit der Hinwendung zur Predigt als literarischer Form vgl. auch Wetzel und Flückiger, Einleitung, S. 14. 163 Vgl. Valentina Berardini, Discovering Performance Indicators in Late Medieval Sermons, in: Medieval Sermon Studies 54 (2010), S. 75-86. 164 Bernd Häsner [u. a.] sprechen in diesem Zusammenhang pointiert von einem ›theatralisierten‹ Text, der »weniger in seiner Referenzfunktion gesehen als vielmehr auf seine Simulationsfunktion hin 54 I. Grundlegung selbst eine Dimension in sich bergen, die in ihrer konkreten Aufführung nicht aufgehen muss, die aber auch nicht die einer im Text ›nur‹ inszenierten Aufführung ist. Auf diese Dimension zielt das Konzept einer textuellen Performativität, die Christian Kiening als »nicht identisch mit der rein sprachlich-semiotischen Dimension von Performativa im Sinne der älteren Sprechakttheorie«, 165 »aber auch nicht identisch mit der konkreten (mimischen oder korporalisierenden) Performanz der jüngeren Kultur- und Theaterwissenschaften« 166 umreißt. Sie beträfe eher die prinzipielle Ereignishaftigkeit eines Vollzugs, der dem Text eingeschrieben ist: in seinen sprachlichen, dialogischen und szenischen Dynamiken, seinen präsentativen, evokativen und signifikativen Dimensionen, seinen syntagmatischen und paradigmatischen Spannungen. 167 Das Konzept einer textuellen Performativität hilft sichtbarzumachen, inwiefern die Texte »nicht einfach ein lebensweltliches Agieren, Spielen oder Vorführen abbilden, sondern spezifische mediale Formen und Zeichengefüge sind, in denen Dynamiken und Vollzüge sich auf je eigene Weise ereignen.« 168 Wie auf dieser Ebene der Bezug auf einen Adressaten zum integralen Bestandteil der Predigten wird, die ihre Lehre nicht bloß diskursiv erörtern, sondern für diesen aktuell werden lassen, bildet den Fluchtpunkt meiner Textlektüren in den folgenden Analysen. Cornelia Herberichs und Christian Kiening nennen drei Aspekte, mit denen das performative Potential literarischer Texte beschrieben werden könne: ›Sagen als Tun‹, ›Wiederholung / Wiederholbarkeit‹ sowie den Aspekt der ›Rahmung‹. 169 Der erste Aspekt, der das Handeln fokussiert, das in und mit den Texten stattfindet, zielt auf die Geltung, aus der sich die Wirkmacht der Rede ergibt. Das betrifft die Frage nach der Wirkmacht des Predigtworts, das seine Geltung gattungskonstitutiv aus dem Rückbezug auf die Transzendenz bezieht, in das sich aber auch die Stimme des Predigers mischt. 170 Der zweite Aspekt, der den iterativen Charakter performativer Akte in den Mittelpunkt stellt, bietet die Anschlussmöglichkeit, zu beschreiben, wie über Wiederholungsstrukturen der Adressat der Predigt als solcher erst seine Identität gewinnt, wie also beispielsweise in der wiederholten Anrede Identität konstituiert werden kann, aber auch, wie über variierende Wiederholung Dynamisierungen erzeugt werden können. Das Moment der Wiederholung schlägt sich syntaktisch beispielsweise in Verfahren der pronominalen Ersetzung nieder. Auf dieser Ebene lässt sich beobachten, wie im Text Kohärenz hergestellt wird, 171 aber auch, wie über solche Verfahren Überschüsse erzeugt werden, die selbst Ereignischarakter gewinnen können. Der Aspekt der Rahmung schließlich erweist sich als bedeutsam, wenn es um den spezifischen befragt« werde. Bernd Häsner [u. a.], Text und Performativität, in: Theorien des Performativen. Sprache - Wissen - Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, hg. von Klaus W. Hempfer und Jörg Volbers, Bielefeld 2011, S. 69-96, hier S. 76. 165 Kiening, Präsenz - Memoria - Performativität, S. 147. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Herberichs und Kiening, Einleitung, S. 12. 169 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 13-16. 170 Eckharts Rede vom Prediger als mitewürker gotes (Pr. 81, DW III, S. 398,13) bringt diese Spannung in der Zusammenfügung des Kompositums auch sprachlich auf den Punkt. Vgl. dazu Hasebrink, mitewürker gotes . 171 Vgl. dazu Hasebrink, Formen inzitativer Rede. I.3 Spielräume des Impliziten 55 Situationsbezug der Predigt geht; die Predigt als Textsorte zeichnet sich ja durch ihren Bezug auf eine konkrete Kommunikationssituation aus. In diesem Sinn sind Texte […] nicht einfach das ›Innere‹, das sich von einem ›Äußeren‹ her bestimmt, sie sind vielmehr ein ›Inneres‹, in dem das ›Äußere‹ seinerseits enthalten ist - aber eben nur im Modus des ›Inneren‹, […] also unter den Gegebenheiten von (literarischer) Textualität. 172 Ich setze im Folgenden deshalb an der deiktischen Dimension der Sprache an, die zentral für das Verhältnis von Innen und Außen ist. Wendet man im Kontext dieses Forschungsparadigmas die Fragerichtung von der Performanz der Predigt hin dazu, welche performativen Dimensionen die Texte in sich bergen, so verschiebt sich der Blick vom historischen Predigtpublikum hin zum Adressaten als textuellem Entwurf. In dieser Perspektive werden Spielräume des Impliziten sichtbar, in und mit denen, so meine Vermutung, der implizite Adressat der Predigt schließlich erst Kontur gewinnt. Was sich nicht eindeutig bestimmen lässt, weist so auf die konstitutive Offenheit einer Figur, die sich erst als Gegenüber der Bewegungen ergibt, die der Predigttext vollzieht - und die sich so gleichsam erst im Hin- und Her-Spielen der Rede um ihren Adressaten und auf diesen hin ergibt. Implizit ist der Adressat im Text immer schon enthalten als dessen notwendiger Bezugspunkt, aber er ist eben auch erst das Ergebnis der argumentativen wie sprachlichen Bewegungen, die der Text auf ihn hin vollzieht. Im Spiel dieser beiden Dimension erhält der implizite Adressat der Predigt erst seine Kontur. Habe ich oben in methodischer Hinsicht auf Spielräume gezielt, die nötig sind, um mit einem narratologischen Modell an den Predigten Eckharts zu arbeiten, so ist mit dem Spiel von Konstituierung und Entzug in der Figur des impliziten Adressaten selbst eine zweite Dimension von Spielräumen angesprochen. In einer dritten Hinsicht schließlich werde ich im folgenden Kapitel dort auf Spielräume eingehen, wo es um das Vorgehen in den Textanalysen geht. Die hermeneutische Spannung, die damit gegeben ist, dass ich mit der Figur des impliziten Adressaten etwas voraussetze, das sich im Letzen aus den Analysen erst ergibt, erfordert in diesem Sinn immer auch ein gewisses ›Spiel‹ zwischen den Analysekategorien und einer offenen Begegnung mit dem Text. 3. Deixis und Adressierung. Zu Vorgehen und Textauswahl Als Aufgabe, die ein Sprecher lösen muss, damit »sich das Gegenüber angesprochen […] fühlt«, 173 bildet die Adressierung einen Grundbestandteil jeder Rede. Neben der Körperorientierung der Kommunikationspartner - ich wende mich demjenigen zu, mit dem ich spreche - unterscheidet Martin Hartung für die Face-to-Face-Kommunikation zwei weitere Ebenen sprachlicher Adressierung: »[s]prachliche Adressierungsformen […], mit denen eine anwesende Person direkt als Adressat bezeichnet werden kann«, 174 und im weiteren Sinn die Gestaltung der Äußerung überhaupt. Während zu den sprachlichen Adressierungs- 172 Herberichs und Kiening, Einleitung, S. 15. »Damit entfernen sich performativ orientierte Untersuchungen ebenso von den Einschränkungen der Sprechakttheorie wie von den Verkürzungen einer Literatursoziologie (die auf historisch-faktische Aufführungs- und Vollzugsbedingungen zielte).« Ebd. 173 Martin Hartung, Formen der Adressiertheit der Rede, in: Text- und Gesprächslinguistik / Linguistics of Text and Conversation, hg. von Klaus Brinker [u. a.], Berlin / New York 2001 (HSK 16.2), S. 1348-1355, hier S. 1348. 174 Ebd., S. 1349. 56 I. Grundlegung formen »vor allem nominale Benennungen (Namen oder Titel) und die Personalpronomen« 175 zählen, bezieht sich die Äußerungsgestaltung darauf, dass »ein Sprecher […] seiner Äußerung nur dann die maximale Verständlichkeit [sichert], wenn er die Voraussetzungen seiner Rezipienten berücksichtigt.« 176 Diese Grundannahme linguistischer Gesprächsforschung stößt jedoch schnell an Grenzen, wenn man Texte betrachtet, die weder Faceto-Face-Kommunikation sind noch eine direkte Kommunikationssituation abbilden oder reflektieren. Vergleichbares gilt für eine normative Rhetorik, die ihrerseits Anredeformen »überall dort [behandelt], wo es um die Publikumszugewandtheit geht.« 177 Ich lese das, was man als Formen der Adressiertheit der Rede in den Predigttexten bezeichnen könnte, das heißt z. B. pronominale Anreden, nicht auf eine mögliche reale Kommunikationssituation der Predigt hin, die uns verschlossen bleibt. Wenn es mir um die performativen Potentiale der Texte, nicht um ihre historische Performanz geht, setze ich an einem anderen Moment an, das unmittelbar auf die Schnittstelle von Text und Kontext verweist: der deiktischen Dimension der Sprache, die seit den sprachtheoretischen Studien Karl Bühlers 178 im Schnittpunkt des Interesses von Linguistik, Literaturwissenschaft und Sprachphilosophie steht. 179 »[N]icht nur sagend, auch zeigend kann man Welt erschaffen«: 180 Deiktische Ausdrücke, die unter dem Stichwort des Indexikalischen auch das Interesse jüngerer literaturtheoretischer Forschung wieder auf sich ziehen, 181 sind nicht zuletzt deshalb für die performativen Dimensionen von Texten so wichtig, weil sie an der Schnittstelle von Text und Kontext eigene Wirklichkeit stiften. 182 Deixis ist insofern ein grundlegendes »Merkmal von Performativität«. 183 Wenn ich mit dem impliziten Adressaten auf jene Figur ziele, die gewissermaßen 175 Ebd. 176 Ebd. »Besonders offensichtlich wird das beispielsweise, wenn der Sprecher eigens die Sprache, den Dialekt oder den Stil wechselt, um einen bestimmten Rezipienten zu erreichen.« Ebd. 177 Friederike Braun, Franz Lebsanft und Klaus Schöpsdau: Art. ›Anrede‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik I (1992), Sp. 637-650, hier Sp. 637. 178 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1965 [ 1 1934]. 179 Vgl. dazu exemplarisch Marcel Vuillaume, Hier und Jetzt : Deixis und Anapher, in: Pro-Formen des Deutschen, hg. von Marie-Hélène Pérennec, Tübingen 1996 (Eurogermanistik 10), S. 211-222, Heide Richter, Indexikalität. Ihre Behandlung in Philosophie und Sprachwissenschaft, Tübingen 1988 (Linguistische Arbeiten 217), Sibylle Krämer, Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren, in: Zeitschrift für Germanistik NF 13 (2003), S. 509-519, Stephen R. Anderson und Edward L. Keenan, Deixis, in: Language typology and syntactic description, Bd. III: Grammatical categories and the lexicon, hg. von Timothy Shopen, Cambridge [usw.] 2007, S. 259-308, sowie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Dietrich Krusche, Zeigen im Text. Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen von Welt, Würzburg 2001. 180 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main 1984 [ 1 1978], S. 32 (zit. nach Christian Kiening, Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen - Semantiken - Effekte, in: Mediale Gegenwärtigkeit, hg. von dems., Zürich 2007 [Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 1], S. 9-70, hier S. 15). 181 Vgl. Häsner [u. a.], Text und Performativität, und Bernd Häsner, Indexikalität und Indexikalisierung. Überlegungen zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines sprach-philosophischen Konzepts, in: Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, hg. von Irina O. Rajewsky und Ulrike Schneider, Stuttgart 2008, S. 67-84. 182 Entsprechend situieren Bernd Häsner [u. a.] deiktische Phänomene unter dem Stichwort der Indexikalisierung im Schnittfeld der beiden von ihnen unterschiedenen Performativitätsbegriffe, d. h. im Bereich der Interdependenz ›struktureller‹ (d. h. auf der Ebene der Textstruktur zu beschreibender) und ›funktionaler Performativität‹, die auf »die Wirkungen und Dynamiken« abziele, »die ein Text an der Schnittstelle mit seinen Rezipienten entfaltet«. Häsner [u. a.], Text und Performativität, S. 84. 183 Ebd., S. 76. I.3 Spielräume des Impliziten 57 immer schon im Predigttext angelegt ist, ihre Wirklichkeit aber jenseits des Textes hat, bildet die deiktische Dimension der Texte mit Pronomina und adverbialen Wendungen wie ›ich‹, ›du‹, ›hier‹, ›dort‹ oder ›jetzt‹, deren Referenz abhängig vom Kontext der jeweiligen Äußerung ist, einen zentralen Ansatzpunkt. Auf dieser Ebene lässt sich nicht nur textintern beschreiben, wie der Prediger seinen Adressaten und sich selbst in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum situiert, sondern auch, wie an entscheidenden Punkten im Predigtverlauf die Rede ›aufbricht‹ und auf das Hier und Jetzt der Predigtsituation transparent wird. Ich gehe zunächst kurz auf die Grundlegung des Zeigfelds der Sprache bei Karl Bühler ein, was deshalb aufschlussreich ist, weil Bühler den deiktischen Ausdrücken selbst schon Appellcharakter zuspricht. Drei Deiktika bilden laut Bühler die Origo des Zeigfelds der Sprache: ›hier‹, ›jetzt‹ und ›ich‹. 184 In diesem Koordinatensystem, das über die personale, lokale und temporale Deixis definiert ist, spannt sich die subjektive Orientierung auf. 185 Es bildet den Raum, in dem der Sprecher mit ›ich‹ seine Position markiert und alle anderen Objekte zu dieser Position in Beziehung setzt. Das sprachliche Verweisen in diesem Feld ist durch die Operation des Zeigens geprägt. Je nach dem Grad an Direktheit der Kommunikation unterscheidet Bühler die demonstratio ad oculos als »ursprüngliche Art« 186 sprachlichen Zeigens, die sich in der Kommunikation unter Anwesenden vollziehe, von dem anaphorischen Gebrauch der Deiktika, der sich auf »ein Zeigen auf Plätze im Aufbau der Rede« 187 beziehe, und einer Deixis am Phantasma, die sich auf den Bereich »der ausgewachsenen Erinnerungen und konstruktiven Phantasie « 188 erstrecke. Mit der Deixis am Phantasma überträgt Bühler die Vorstellung von einem »gemeinsamen Wahrnehmungsraum als einer Ordnung, in welcher alles beisammen ist: Zeigobjekte, Sender und Empfänger der Zeiganweisungen«, 189 der die Kommunikation unter Anwesenden bestimmt, auf ein »Zeigen am Abwesenden«, 190 das heißt paradigmatisch auf literarische Rede, die ebenfalls einen Orientierungsraum entwirft, in dem der Sprecher im Text sich und sein Gegenüber verortet. Der Leser folge den im Text gesetzten Orientierungsmarken so, dass er sich räumlich in Relation zu diesen Marken orientiere, an denen sich sein ›Körpertastbild‹ ausrichte. Dabei verstehe er, so Bühler, »die Positionszeigwörter hier , da , dort und die Richtungsangaben vorn , hinten , rechts , links genau so am Phantasma wie in der primären Wahrnehmungssituation«, 191 »wenn er selbst in ähnlicher Weise [wie der Sprecher, R. R.] ›versetzt‹ ist, d. h. wenn sein eigenes präsentes Körpertastbild mit einer korrespondierenden optischen Phantasieszene verknüpft« 192 sei. Mit der Beschreibung des Zeigfelds der Sprache hat Bühler die Grundlage dafür gelegt, den dynamischen Verweischarakter von sprachlichen Zeichen jenseits der Vorstellung einer sich gleichbleibenden Referenz zu beschreiben.Damit tritt der Handlungscharakter ebenso wie eine quasi-räumliche Organisation der Sprache in den Blick, die in der Meta- 184 Vgl. Bühler, Sprachtheorie, S. 102. Das ›Zeigfeld‹, in dem die Deiktika ihre »Bedeutungserfüllung und Bedeutungspräzision von Fall zu Fall« (ebd., S. 80) erfahren, stellt Bühler dem ›Symbolfeld‹ der Sprache gegenüber. 185 Vgl. ebd., S. 102. 186 Ebd., S. 106. 187 Ebd., S. 121. 188 Ebd., S. 123 [Herv. im Orig.]. 189 Ebd., S. 125. 190 Ebd. 191 Ebd., S. 137. 192 Ebd. 58 I. Grundlegung phorik Bühlers zum Handlungsfeld gerät, in dem sich Kommunikation unter Anwesenden vollzieht. Zwei Momente machen dieses Modell anschlussfähig, um zu beschreiben, wie ein Text sich in und mit der Anrede seinen Adressaten entwirft: zum einen der Appellcharakter, den Bühler den Deiktika zuspricht, 193 und der in einer strukturellen Beschreibung - deiktische Wendungen als sprachliche Ausdrücke, deren »Referenz systematisch abhängig ist von den zentralen Variationsdimensionen der jeweiligen Äußerungssituation« 194 - nicht sichtbar wird; zum anderen der Gedanke einer Origo-Versetzung. Dazu kommt die enge Verbindung von Sagen und Zeigen, die, wie Sybille Krämer herausgestellt hat, maßgeblich auf die Vollzugsdimension der Sprache weist. 195 In diesem Sinn hat Horst Wenzel im Rückgriff auf das Konzept einer demonstratio ad oculos den engen Zusammenhang von Sagen und Zeigen für die Wahrnehmungslenkung in der höfischen Literatur ausgelotet. 196 Am Beispiel des Parzival zeigt Wenzel, wie der Text, strukturiert über »Wörter [wie] ›hier‹ und ›dort‹ oder ›jetzt‹ und ›dann‹«, 197 sich zu einem Orientierungsraum für seinen Leser öffne, der die dort angelegten Blick- und Bewegungsrichtungen mitvollziehe. Der Text nehme in dieser Form »performativer Adressierung«, 198 so Wenzel, den Leser gleichsam in sich auf. 199 Dieses Modell literarischer Inklusion klingt verheißungsvoll, gerade auch für den Bereich religiöser Kommunikation, der bei Wenzel keine Rolle spielt. Für die Predigt könnten Bewegungen ähnlich denen, die Wenzel beschreibt, charakteristisch sein: So wie Wenzel die Öffnung des narrativen Texts zum Schauraum beschreibt, der seinen Betrachter zum Eintritt einlädt, scheint sich der Predigttext zuweilen förmlich zur Bühne zu öffnen, die von der Kopräsenz von Sprecher und Angesprochenen bestimmt ist. Offen bleibt allerdings bei Wenzel, wie es genau gemeint ist, dass der Leser »zu einer Funktion des Textes« 200 werde. Auch wenn Wenzel für die Figur, die durch die »imaginativen Schauräume erzählender Literatur« 201 navigiere, von einem impliziten Leser spricht, scheint er doch einen konkreten Betrachter im Blick zu haben, der so geleitet werde, »dass sein eigenes ›Körpertastbild‹ in den Schauraum der 193 Bühler spricht den Zeigwörtern eine strukturierende, Orientierung bietende und die Aufmerksamkeit lenkende Funktion zu. Das ergibt sich nicht zuletzt aus der Metaphorik, auf die er zurückgreift, wenn er die Zeigegeste mit dem »ausgestreckten ›Arm‹ der Wegweiser« (ebd., S. 79) assoziiert, die den »Sprechverkehr« (ebd., S. 102) lenken. 194 Lexikon der Sprachwissenschaft, hg. von Hadumod Bußmann, 3., aktual. und erw. Aufl., Stuttgart 2002, S. 149 (s. v. ›Deiktischer Ausdruck‹). 195 »Der Vollzug von Sprache kommt also ohne Deixis nicht aus.« Krämer, Sagen und Zeigen, S. 512. Ein solches Zeigen nimmt, so Krämer, »die ›Körperlichkeit‹ der Sprache selbst nicht einfach nur in Anspruch […], vielmehr [bringt es sie] in gewisser Hinsicht erst hervor […]. In der Deixis zeigt sich die Sprache als eine verkörperte Sprache.« Ebd., S. 513. 196 Horst Wenzel, Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in der höfischen Literatur, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hg. von dems. und C. Stephen Jaeger, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 17-43. 197 Ebd., S. 26. 198 Ebd., S. 27. 199 »Der Leser […] wird geführt auf Wegen oder Bahnungen, die der Text ihm vorgibt und wird in den Schauraum von Szenen versetzt, um dort schauend zu verweilen oder seine Blicke zu dynamisieren. In literarischen Topographien werden Verortungen, Bahnungen und Richtungsräumlichkeiten kulturell semiotisiert und medialisiert, um den Leser in sie aufzunehmen.« Ebd. 200 Ebd. 201 Ebd., S. 19. I.3 Spielräume des Impliziten 59 gelesenen / betrachteten Szene übertragen werden« 202 könne. Horst Wenzel richtet damit letztlich, ganz ähnlich wie Bühler selbst, den Blick auf die mentalen Vorgänge, die sich ›im Kopf‹ desjenigen abspielen, der der Führung am Phantasma folgt. Wenn ich nach dem impliziten Adressaten der Predigt frage, geht es mir darum nicht. Es ist, wie Bühler selbst formuliert, schließlich immer eine andere Frage, »[o]b jeder Leser die sprachlichen Anweisungen exakt befolgt oder nicht«. 203 Wohl aber lässt sich im Ausgang von der deiktischen Dimension des Texts beschreiben, wie der Sprecher im Text sich ein Gegenüber entwirft, indem er es in der beschriebenen Weise positioniert. Es geht mir also nicht um für einen konkreten Rezipienten bereitgehaltene ›Wegmarken‹, die Bühlers deiktische Ausdrücke darstellen, sondern darum, die Vorstellung eines rezipierenden Gegenübers als über solche Wegmarken erst evozierte zu begreifen. So gewendet, erweisen sich die deiktischen Ausdrücke mit ihrem appellativen Charakter als immens relevant, um zu beschreiben, wie die Predigt auf der einen Seite ihren Adressaten immer schon voraussetzt, den sie zugleich aber im Gang der Rede auch je neu entwirft. Die deiktischen Elemente in den Predigten bilden daher einen zentralen Ansatzpunkt für die Textanalyse. Aus dem, was ich oben ausgeführt habe, ergibt sich aber auch, dass es kaum auf die Figur hinführt, auf die der Predigttext im Ganzen ausgerichtet ist, deiktische Pronomina und Adverbien bloß beschreibend zu registrieren. Wenn ich in den folgenden Analysen Deiktika im Text, aber auch darüber hinausgehende Strukturen und Strategien textueller Adressierung unter der Leitfrage betrachte, wie die Predigt sich damit ihren Adressaten selbst erst entwirft, sind Deskription und Interpretation im oben skizzierten Sinn eng verknüpft. ›Beschreibung‹ und ›Lektüre‹ greifen ineinander. 204 Aus dem, was die narratologische Theoriebildung bereithält, lassen sich verschiedene Figuren impliziter Adressierung ableiten. Neben dem impliziten Adressaten gehe ich in den Analysen auch auf den unterstellten Adressaten und den idealen Rezipienten der Predigt ein. Damit greife ich die Terminologie Wolf Schmids auf. 205 Der unterstellte Adressat bezeichnet das vom Autor erwartete Gegenüber; er ist derjenige, »an den das Werk gerichtet ist und dessen sprachliche Kodes, ideologische Normen und ästhetische Vorstellungen so berücksichtigt werden, dass das Werk verstehbar wird.« 206 Der ideale Rezipient dagegen fasst das Werk auf die bestmögliche Weise auf; er ist derjenige, »der das Werk auf eine der 202 Ebd., S. 21. Zur Kritik der impliziten Widerspiegelungsthese zwischen einer körpergebundenen Kommunikation im Kontext höfischer Kultur und ihrer literarischen Inszenierung, die dem Ansatz Wenzels zugrundeliegt, vgl. Timo Reuvekamp-Felber, Mittelalterliche Literatur als Schauraum einer performanzbestimmten Laienkultur? Visualisierungstechniken als Grundlagen des Erzählens in Vormoderne und Moderne, in: Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität, hg. von Manuel Braun, Göttingen 2013 (Aventiuren 9), S. 161-180, hier S. 166. 203 Bühler, Sprachtheorie, S. 138. 204 Mit ›Beschreibung‹ und ›Lektüre‹ benennen Cornelia Herberichs und Christian Kiening zwei Verfahren, um »die historischen Dynamiken von Texten als zugleich kulturellen und prozesshaften Gebilden« zu erfassen. Beschreibung meint im Zuge dessen »eine genaue Registratur von Semantiken und Pragmatiken«, die Lektüre zielt dagegen auf ein »Zur-Geltung-Kommen-lassen des Materials als eines hermeneutisch Unverfügbaren«. Herberichs und Kiening, Einleitung, S. 15. »Performativ gesehen hieße ›Lektüre‹: genauer Blick auf die in und von Texten entworfenen Bedingungen der Möglichkeit von Ausführungen, die spezifischen Konstellationstypen und Interaktionsrahmen, die wirklichkeitskonstituierenden Potentiale schriftlicher Sprachhandlungen, die transgressiven Momente der Zeichenverwendung, das Verhältnis von Setzungen und Überschreitungen«. Ebd., S. 16. 205 Vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 68-70. 206 Ebd., S. 68. 60 I. Grundlegung Faktur optimal entsprechende Weise versteht und jene Rezeptionshaltung und Sinnposition einnimmt, die das Werk ihm nahe legt.« 207 Dadurch, dass ich mit dem impliziten Adressaten als dynamischer, performativ hervorgebrachter Figur einen anderen Akzent als Schmid setze, bei dem der abstrakte Leser im Ganzen als Bild des Autors von seinem Adressaten verstanden ist, verschiebt sich die Perspektive leicht. Während unterstellter Adressat und idealer Rezipient bei Schmid als zwei verschiedene Erscheinungsformen (»Hypostasen«) des (einen) abstrakten Lesers fungieren, 208 unterscheide ich für Eckharts Predigten systematisch zwischen dem unterstellten und dem impliziten Adressaten, auch wenn beide Instanzen in gewisser Weise ›implizit‹, das heißt indirekt im Text präsent sind. 209 Auf den unterstellten Adressaten verweist das Bild, das der Prediger von seinem Publikum entwirft, so zum Beispiel, wenn er diejenigen anspricht, die zu Gott gelangen möchten, aber noch nicht bereit sind, dafür die eigenen Wünsche aufzugeben. Den impliziten Adressaten dagegen bringt die Predigt in ihrer performativen Dynamik als ihr Gegenüber letztlich erst hervor. Anders als der unterstellte Adressat überschreitet er folglich die Ebene textinterner Repräsentation. Der ideale Rezipient lässt sich grundsätzlich ähnlich wie der unterstellte Adressat als textintern entworfenes Bild nicht eines angenommenen, sondern eines bestmöglichen Rezipienten der Predigt verstehen. Als solcher aber wird in den Predigten der implizite Adressat stellenweise selbst zur Figuration eines idealen Rezipienten, den die Predigt mitvollziehen lässt, wovon sie handelt, und ihn so auch in die richtige Haltung versetzt, um die Predigt auf die beste Weise aufzunehmen. 210 In diesem Sinn gehe ich neben dem impliziten Adressaten auch auf den unterstellten Adressaten bzw. auf den idealen Rezipienten der Predigt ein. Wenn es um die Kommunikation geht, die im Predigttext inszeniert wird, spreche ich schlicht vom Prediger und seinen Zuhörern. Der Prediger spricht also textintern seinen Zuhörer an, die Predigt setzt einen unterstellten Adressaten voraus, entwirft möglicherweise einen idealen Rezipienten und bringt in ihrer Dynamik die Figur erst hervor, die gleichermaßen immer schon in ihr angelegt ist: ihren impliziten Adressaten. In der Analyse folge ich zunächst jeweils eng dem Textverlauf der Predigt, der sich am Leitzitat orientiert. Abschnittweise versuche ich zu erfassen, wie sich der Text genau organisiert: welche expliziten Formen des Adressatenbezugs (personale, lokale, temporale Deixis; Formen pronominaler Anrede oder Aufforderungen zur Aufmerksamkeit), aber auch: welche darüber hinausgehenden, den Adressaten affizierenden ›Bewegungen‹ lassen sich auch in syntaktischen und argumentativen Strukturen oder semantischen Umwertungen erkennen? Mein methodischer Schwerpunkt liegt damit auf einem close reading der Predigttexte, das ich in einem zweiten Schritt jeweils konzentriert auf die Frage zuführe, wie die einzelne Predigt sich ihren impliziten Adressaten entwirft. Die Arbeitsgrundlage bildet der jeweilige Predigttext in der Form, die die ›Stuttgarter Ausgabe‹ der Texte Eckharts bietet ( DW ). Zwar stellt sich die Forderung nach einer Aus- 207 Ebd., S. 69. 208 Ebd., S. 68. 209 Es wäre insofern denkbar, den Begriff des impliziten Adressaten weiter zu fassen im Sinn einer übergeordneten Figur, die als solche verschiedene Formen textueller Adressierung in sich integriert. Weil sich in den Predigten aber die Rollen von (durch den Prediger) unterstelltem und (durch die Predigt erst hervorgebrachtem) implizitem Adressaten bisweilen deutlich unterscheiden, führe ich an dieser Stelle die begriffliche Unterscheidung der beiden Instanzen ein. 210 Vgl. dazu ausführlicher unten, Kap. II.1.3. I.3 Spielräume des Impliziten 61 gabe, die nicht auf Quints Echtheitskriterien beruht, umso dringender, als in der gegenwärtigen Eckhartforschung nicht nur die problematischen Implikationen von Quints Kriterien zur Auswahl und Anordnung der Predigten gesehen werden, sondern sich grundsätzlich die Einsicht durchgesetzt hat, dass wir weit davon entfernt sind, »die heile, die ganze, die unversehrte Schrift« 211 zu erreichen. »Erst wer die Schreiber und Redaktoren kennt, kennt Eckhart«, 212 hat Freimut Löser diesen Sachverhalt vor kurzem pointiert zusammengefasst. Für die ›Stuttgarter Ausgabe‹ spricht jedoch nicht nur, dass eine Neuedition der Texte Eckharts vor dem Hintergrund eines gewandelten Textverständnisses bis heute noch nicht vorliegt, sondern positiv gewendet wiederum Quints Editionsprinzipien selbst. So macht Quints Variantenapparat den Text im Ganzen zuverlässig auf seine unterschiedlichen ›Ursprünge‹ in der Überlieferung hin transparent. 213 In diesem Sinn greife ich auf die Predigttexte in der Textgestalt zurück, die in der Forschung bis heute maßgeblich ist und die im Anschluss an die ›Stuttgarter Ausgabe‹ durch die kommentierte Ausgabe Niklaus Largiers 214 und die Reihe Lectura Eckhardi 215 festgeschrieben worden ist. 216 Die drei Predigten Quint Nr. 4, 14 und 6, die Gegenstand der folgenden Analysen sind, sind fest im Predigtwerk Eckharts verankert. Dazu hat Quints Edition innerhalb der ersten Abteilung der ›deutschen Werke‹ beigetragen; alle drei Predigten enthalten prominente Aussagen, die im Prozess gegen Eckharts Lehre inkriminiert wurden. Ich wähle sie jedoch nicht aus, weil sie in gewisser Weise prägend für unser Eckhart-Bild sind, sondern weil sich an ihnen je ein bestimmtes Moment exemplarisch veranschaulichen lässt, das charakteristisch dafür ist, wie einzelne Predigten sich ihren impliziten Adressaten entwerfen. Die etwa 150 Predigten, die Eckhart zuzuweisen sind, unterscheiden sich z. T. deutlich im Hinblick auf ihre Themen, ihren Abstraktionsgrad oder ihren Sprechgestus bzw. die jeweilige ›Inszenierungsform‹ der Rede. 217 Meine Auswahl der Predigten zielt deshalb auf drei verschiedene Verfahren bzw. Strategien, die zentral dafür sind, wie die Texte mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ihren impliziten Adressaten performativ hervor- 211 Löser, Eckhart im Original, S. 45. 212 Ebd., S. 60. 213 Vgl. auch Georg Steer, Die Interpretation der deutschen und lateinischen Predigten Meister Eckharts - eine unendliche Aufgabe, in: Per perscrutationem philosophicam. Neue Perspektiven der mittelalterlichen Forschung. Loris Sturlese zum 60. Geburtstag gewidmet, hg. von Alessandra Beccarisi, Ruedi Imbach und Pasquale Porro, Hamburg 2008 (Corpus philosophorum teutonicorum medii aevi. Beihefte 4), S. 184-203, hier S. 193: »Quint gibt dem heutigen Leser nie die Sicherheit, er hätte im sog. kritischen Text den Text Eckharts vor sich.« 214 Meister Eckhart, Werke I: Predigten, Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hg. und komment. von Niklaus Largier. Werke II: Predigten, Traktate, lateinische Werke, Texte und Übersetzungen von Ernst Benz [u. a.], hg. und komment. von Niklaus Largier, Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20-21). 215 Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. I-IV, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 1998-2017 [zit.: LE]. 216 Damit, dass ich mich auf die Textgestalt der Edition Quints beschränke, ist eine überlieferungsgeschichtliche Fragestellung nicht abgewiesen. Im Gegenteil: Es könnte aufschlussreich sein, der Bewegung, der ich in den Texten nachspüre, in den einzelnen Versionen, in denen die Predigten in den Handschriften leben, genauer nachzugehen. Soweit ich sehe, sind beispielsweise die Anredewechsel, mit denen die Predigtrede in ein personales dû umschwingt, in den handschriftlichen Fassungen der Predigt 4 relativ konstant. Damit ist noch nichts darüber gesagt, welche Dynamisierung des impliziten Adressaten sich in den einzelnen Textversionen genau ergibt, vor allem aber ist die wichtige Anschlussfrage danach, welche Tendenzen sich mit Blick auf einzelne Handschriften im Ganzen und deren implizite Adressaten abzeichnen, noch gar nicht gestellt. 217 Vgl. dazu auch Mieth, »Die Meister sagen« - die »Leute« fragen, S. 344. 62 I. Grundlegung bringen und bewegen. In diesem Sinn lassen sich die Ergebnisse der einzelnen Textanalysen auch nicht unmittelbar auf das gesamte Predigtcorpus übertragen. Wohl aber zeichnet die Bewegung, die sich in allen Analysen zeigt, neben diesen auch andere Predigten Eckharts aus, wenn sich auch die Intensität, mit der sich die Predigten auf ihren Adressaten ausrichten, im Einzelnen stark unterscheiden mag. 218 Die Predigt 4 ( Omne datum optimum ) ist besonders reich an Elementen der Deixis im Text. Sie repräsentiert jenen Typ von Predigt, der eher praktisch ausgerichtet ist und unmittelbar auf die Anliegen möglicher Zuhörer eingeht. An ihr lässt sich beobachten, wie die Predigt sich in Abgrenzung von ihren unterstellten Adressaten schrittweise ihren impliziten Adressaten herausbildet, indem sie das dû in ihrem Verlauf immer weiter in den Mittelpunkt rückt. Sie zeigt dabei eine Bewegung der Intensivierung, die sich sprachlich in performativ aufgeladenen Anredewechseln niederschlägt. Diese Anredewechsel, mit denen die Rede an Scharnierstellen der Predigt in ein personales dû umschwingt, zeichnen auffällig viele Predigten Eckharts aus; sie lassen sich für sich genommen neben der Predigt 4 etwa auch in den Predigten 1, 2, 5a, 5b, 11, 13, 16b, 22, 24-30, 39, 46, 48, 49, 76 oder 77 beobachten. Der Wendung, die Eckhart dem Thema der Gabe in dieser Predigt gibt, indem er es auf die Selbstmitteilung des Einen hin transparent macht, korrespondiert hier ein Umschwung, mit und in dem die Predigt die angesprochene Identifizierung mit dem Sohn für ihren impliziten Adressaten performativ aktuell werden lässt. Wenn auch ein solcher Umschwung nicht in allen diesen Predigten unmittelbar mit dem Anredewechsel einhergeht, so bildet der Wechsel der Anrede doch eine Voraussetzung dafür, dass die Predigt sich ganz auf das dû hin ausrichten kann. Insofern steht die Predigt 4 im weiteren Sinn exemplarisch für das (literarische, predigtrhetorische) Verfahren des Anredewechsels, das eine Konkretisierung und Intensivierung auf das Gegenüber hin bewirkt. Damit verbindet sich im engeren Sinn eine Bewegung, mit der sie sich ihren impliziten Adressaten performativ herausbildet und ihn in die angesprochene Dynamik hineinnimmt - eine Bewegung, die sich in allen drei analysierten Predigten auf je unterschiedliche Weise abzeichnet. Die Predigt 14 ( Surge illuminare Iherusalem ) setzt dabei weniger wie die Predigt 4 auf eine Reihung iterativer Anredestrukturen als auf regelrechte Kreisbewegungen, in denen die Perspektiven von Sprecher und Angesprochenem ebenso überblendet werden, wie die räumlichen Kategorien von ›oben‹ und ›unten‹ auf ein Innen hin überstiegen werden. Sie lässt ihren impliziten Adressaten eine solche Bewegung der ›Innigung‹ mitvollziehen, indem sie einen Sog entwickelt, der den Adressaten affiziert. Die Predigt ist wesentlich abstrakter als die Predigt 4; auch hier aber spielt die Deixis in der Inszenierung von Räumlichkeit eine wichtige Rolle. Sie steht exemplarisch dafür, wie sich die Dynamisierung des impliziten Adressaten bis ins Kleinste auf der sprachlich-syntaktischen Ebene nachverfolgen lässt, wo Pronomina kunstvoll ineinander verschränkt und klanglich überblendet werden. Auch das ist ein Verfahren, das sich an anderen Stellen im Predigtwerk Eckharts findet, etwa in der Predigt 83, ohne dass sich zwangsläufig die gleiche Wirkung für den impliziten Adressaten ergeben muss. Ans Ende meiner Analysen stelle ich die Predigt 6 ( Iusti vivent in aeternum ), die in der Eckhartforschung eine besonders prominente Stellung innehat. Sie bildet sich ihren impliziten Adressaten auf ähnliche Weise heraus wie die Predigt 4. Zum Predigtende hin dominieren jedoch Formen einer Überblendung verschiedener Referenzebenen in der 218 Vgl. zur Reichweite der Ergebnisse auch unten, Fazit, v. a. S. 167-169. I.3 Spielräume des Impliziten 63 Zitation; Pronomina werden ambivalent. Damit wird der implizite Adressat entscheidend dynamisiert. Er geht am Predigtschluss in einer Vielzahl von Stimmen regelrecht auf, sodass sich das auf der Inhaltsebene angesprochene Moment eines Überformtwerdens in Gott im Sinn einer umfassenden transformatio des Menschen auch performativ ereignet. Die Predigt steht als Beispiel dafür, wie sich innerhalb eines Texts die Kommunikation von ausgeprägter rhetorischer Emphase auf einen anderen Modus umstellen kann, sodass sich ›Abgeschiedenheit‹ gleichsam auch sprachlich ereignet. Auch diese Bewegung beschränkt sich nicht auf diese konkrete Predigt; im Kleinen ist sie noch in der Rücknahme der Stimme des Predigers greifbar, die viele Predigten mit der formelhaften Schlussbitte vollziehen. Zugleich aber steht diese Predigt mit der Wendung, die sie zu ihrem Ende hin nimmt, auch dafür, dass in dem, was mit dem impliziten Adressaten geschieht, ein Moment des Unverfügbaren aufscheinen kann, das über das hinausgeht, was sich in Kategorien literarischer oder predigtrhetorischer Verfahren und Strategien beschreiben lässt, wie sie mit den anderen beiden Predigten aufgerufen waren. Jede der drei Predigten zeigt eigene Dynamiken, mit denen sie ihren impliziten Adressaten affiziert, ihn bewegt und so in gewisser Weise transformiert. Mit der hier vorgenommenen Anordnung soll keine Kohärenz suggeriert sein, die den ganz unterschiedlichen Zusammenhängen (liturgischen wie überlieferungsgeschichtlichen Kontexten) entstammenden Predigten historisch nicht zukommt. Stattdessen soll das Ergebnis eines Interpretationsprozesses zur Geltung kommen, in dessen Zentrum die Transformation des impliziten Adressaten steht. Ich habe die Texte so ausgewählt und angeordnet, dass die Reihenfolge, in der die Analysen aufeinander folgen, eine Bewegung abbildet, die den einzelnen Predigten je für sich unterlegt ist. Sie führt von einer Intensivierung (›Umschwung‹) über eine Spiritualisierung (›Innigung‹) auf die transformatio zu, in und mit der sich der Durchbruch zu Gott vollzieht. II.1 Umschwung ins dû. Predigt Quint Nr. 4 65 II. Analysen II.1 Umschwung ins dû. Predigt Quint Nr. 4 1. Einführung Die Predigt Omne datum optimum (Quint Nr. 4) greift die Thematik des Gebens und der Gabe aus dem Leitzitat auf und entfaltet sie mit Blick auf das Verhältnis von Mensch und Gott. 1 Sie berührt Kernthemen der Lehre Eckharts: die Umwertung des Leids zur Lust für den, dessen Wille dem Willen Gottes gleichförmig geworden ist; die Absage daran, Gott im Streben nach individuellem Heil als Mittel zu verwenden; die Vorstellung, derjenige, der sîn selbes ûzgegangen sei, empfange von Gott glîch ; schließlich das Thema der Gottesgeburt. Dabei zeichnet sich im Predigtverlauf eine spezifische Bewegung ab, mit und in der der implizite Adressat der Predigt Kontur gewinnt. Den impliziten Adressaten als den Fluchtpunkt auszuweisen, auf den die Predigt sich im Ganzen ausrichtet, um am Ende die angesprochene Identifizierung mit dem Sohn für ihn performativ aktuell werden zu lassen, ist das Ziel der folgenden Lektüre. Die relativ breit überlieferte Predigt 2 lässt sich liturgisch gut verorten: Das Leitzitat aus dem Jakobusbrief, omne datum optimum et omne donum perfectum desursum est descendens a Patre luminum (Iac 1,17), entstammt der Epistel des dritten Sonntags nach der Osteroktav. 3 Mehrere Handschriften weisen die Predigt diesem Termin zu, unter anderem Quints Leithandschrift G2: disse predig ist an dem dritten sunentag nach ostren . 4 Damit erhält die Predigt eine eigene textuelle Rahmung, in der, ganz im Gegensatz zum Forschungswunsch nach einer konkreten Verortung, gerade nicht relevant ist, wann und wo die Predigt gehalten wurde. Neben dem liturgischen Kontext ist nur die Zuschreibung an den Prediger Eckhart wichtig; G2 weist die Predigt ausdrücklich Maister egckart predigerorden zu. 5 Die Frage nach der historischen Datierung und Lokalisierung der Predigt führt dagegen über das Thema der Rückverweise unmittelbar in das Problemfeld historischer 1 DW I, S. 58-74. Wie sich im Begriff der Gabe in dieser Predigt Eckharts Vorstellungen vom Verhältnis von Mensch und Gott konzentrieren, hat Volker Leppin eindrücklich herausgearbeitet. Vgl. Volker Leppin, »die aller beste gâbe … von oben her abe«. Zur Auslegung von Jak 1,17 bei Meister Eckhart, in: Jahrbuch für biblische Theologie 27 (2012), S. 229-239, hier S. 230. 2 Insgesamt 15 Handschriften überliefern die Predigt z. T. fragmentarisch, z. T. doppelt innerhalb einer Handschrift; sie ist in die Tauler-Drucke eingegangen. Vgl. zur Überlieferung DW I, S. 58 f. 3 Zu den Rahmendaten zur Predigt vgl. den Kommentar Niklaus Largiers, in: Meister Eckhart, Werke I: Predigten, Texte und Übersetzungen von Josef Quint, hg. und komment. von Niklaus Largier, Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20), S. 713-1106, hier S. 777 f., die Lektüre Kurt Ruhs zur Predigt (Ruh, Predigt 4, hier S. 10) sowie die Ergebnisse Joachim Theisens zu deren liturgischer Verortung: Joachim Theisen, Predigt und Gottesdienst. Liturgische Strukturen in den Predigten Meister Eckharts, Frankfurt am Main [usw.] 1990 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1 1169), S. 144-148. 4 DW I, S. 60 (Variantenapparat). 5 Ebd. Zur Namensnennung des Predigers als Autorisierungsstrategie schriftlicher Überlieferung vgl. Rüdiger Schnell, Von der Rede zur Schrift: Konstituierung von Autorität in Predigt und Predigtüberlieferung, in: The Construction of Textual Authority in German Literature of the Medieval and Early Modern Periods, hg. von James F. Poag und Claire Baldwin, Chapel Hill / London 2001, S. 91-134, hier S. 99 f. 66 II. Analysen Referentialisierung hinein. So nennt Niklaus Largier Erfurt als möglichen Entstehungsort, ohne diese Lokalisierung festzuschreiben; 6 Kurt Ruh dagegen bringt die ›Straßburger Jahre‹ Eckharts als möglichen Entstehungskontext ins Spiel. 7 Die Disposition der Predigt orientiert sich am Leitzitat, in dem, wie Joachim Theisen herausgearbeitet hat, »die Quintessenz des ganzen Meßformulars konzentriert [ist]: das Geben und Wirken Gottes, das in nahezu allen Meßtexten in unterschiedlichen Aspekten artikuliert ist.« 8 Das Schriftwort von der besten Gabe, die von oben herab vom Vater der Lichter kommt, gliedert der Prediger in einzelne Teile auf, die er im Hauptteil in vier großen Schritten auslegt; Kurt Ruh hat das Stichwort litteram punctare zur Beschreibung dieser exegetischen Technik geprägt. 9 Der erste Dispositionsabschnitt ( DW I, S. 61,1-64,11) stellt die ›beste Gabe‹ in den Mittelpunkt. Nur der Mensch, der in allem, was Gott ihm gebe, den Willen Gottes erkenne, könne es als das Beste für sich annehmen und Frieden finden. Im zweiten Abschnitt ( DW I, S. 65,1-72,5) wendet sich der Prediger der ›Größe‹ der Gabe zu. Er bezieht die Gabe nun maßgeblich auf die Selbstmitteilung Gottes, von dessen gegenwerticheit das Sein aller Kreaturen abhängt, und lotet die ethischen Implikationen dieser ontologischen Grundposition aus. Im dritten Abschnitt ( DW I, S. 72,6-73,5) rückt der Prediger das Wort ›Vater‹ in den Fokus und lässt vor diesem Hintergrund Gottes Gabe an den Menschen transparent werden hin auf die Gottesgeburt im Seelengrund. Der letzte Predigtabschnitt ( DW I, S. 73,6-74,10) thematisiert die Demut, die notwendig ist, um den Sohn ›von oben herab‹ zu empfangen. Die folgenden Gliederungspunkte der Analyse bilden diesen Aufbau der Predigt ab. Ich folge damit in einem ersten Schritt dem Textverlauf eng, bevor ich in einem zweiten Schritt übergreifend auf die Predigt und ihren impliziten Adressaten eingehe. Wenn ich zunächst nicht vom impliziten Adressaten, sondern vom Prediger und seinen Zuhörern spreche, dann, um die Ebene textintern inszenierter Kommunikation zu markieren, auf der der Prediger sich immer wieder an seine Zuhörer wendet. Wie die Anrede im Textverlauf 6 Vgl. Largier, Kommentar, S. 777. Die Überlegung, die Predigt Eckharts Erfurter Zeit zuzuschreiben, bezieht die Aussage des Predigers Ich sprach einest an dirre stat, daz got joch gerner vergibet grôze sünden dan kleine (DW I, S. 65,3 f.) zurück auf eine Parallelstelle in den Rede der underscheidunge : ie die sünde grœzer und mêrer sint, ie sie got âne mâze gerner vergibet und belder , RdU, DW V, S. 238,2 f. Vgl. auch den Kommentar Quints zur Stelle, DW V, S. 341, Anm. 210: »Ich vermag […] keine Stelle in den deutschen Werken Eckharts anzugeben, auf die sich der Rv. der Predigt 4 besser beziehen ließe als auf die vorliegende Stelle der RdU.« 7 Für die Erwägung, die Predigt könnte in Straßburg entstanden sein, bezieht Ruh den Verweis Ich pflige dicke ein wörtlîn ze sprechenne (DW I, S. 64,3) auf die Predigt Quint Nr. 25 (DW II, S. 9,3-5) sowie auf eine Stelle in Eckharts Johanneskommentar (LW III, S. 527,10-12) zurück, »mithin [auf] Texte[], auf die sich Pr. 4 als Predigt der Erfurter Zeit nicht beziehen kann, nur als Ansprache der Straßburger Jahre.« Ruh, Predigt 4, S. 10 mit Anm. 5. - Zu den Rückverweisen vgl. Dagmar Gottschall, Eckhart’s German Works, in: A Companion to Meister Eckhart, hg. von Jeremiah M. Hackett, Leiden / Boston 2013 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 36), S. 137-184, hier S. 141 f., sowie grundlegend zur Bewertung der Rückverweise Burkhard Hasebrink, Dialog der Varianten. Untersuchungen zur Textdifferenz der Eckhartpredigten aus dem ›Paradisus anime intelligentis‹, in: Paradisus anime intelligentis. Studien zu einer dominikanischen Predigtsammlung aus dem Umkreis Meister Eckharts, hg. von dems., Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2009, S. 133-182, bes. S. 143 f. mit Anm. 35 (dort auch die ältere Literatur). 8 Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 144. 9 Vgl. Ruh, Meister Eckhart, S. 20; Ruh, Predigt 4, S. 10. Ruh greift damit auf eine Stelle in Eckharts Kommentar zu Jesus Sirach zurück (In Eccli., LW II, S. 247,11). - Vgl. zum Aufbau der Predigt Ruh, Predigt 4, und Largier, Kommentar, S. 778 f. (zu Predigt 4) sowie S. 740 f. (übergreifend zur Form der Predigten). II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 67 sprachlich eine eigene Dynamik entwickelt, möchte ich am ersten Abschnitt der Predigt exemplarisch aufzeigen; in den weiteren Predigtabschnitten lässt sich diese Bewegung verfolgen. Zunehmend rückt dabei das dû in den Fokus. Der implizite Adressat vollzieht - ganz im Gegensatz zu den als möglichen Zuhörern der Predigt unterstellten Adressaten - die Rede von der Identität mit dem göttlichen Sohn mit, identifiziert sich mit dem Sohn und erfährt so schließlich die Predigt selbst als ›beste Gabe‹. 2. Analyse 2.1 Die beste Gabe. Dynamisierung der Anrede Bevor der Prediger den ersten Gliederungspunkt thematisch entfaltet, leitet seine Übersetzung des Leitzitats die Predigt ein. Sie ist von zentraler Bedeutung, weil sie nicht nur den lateinischen Text der Vulgata in die Volkssprache der Predigt überführt, sondern den Text des Leitzitats und damit auch dessen anschließende Auslegung bereits spannungsvoll perspektiviert. 10 Wenn der Prediger übersetzt: Sant Jâcob sprichet in der epistel: ›diu aller beste gâbe und volkomenheit koment von oben her abe von dem vater der liehte‹ ( DW I, S. 60,3 f.), so fällt eine kleine Verschiebung auf. Die Übersetzung folgt dem Vulgata-Text eng, schmilzt die beiden Glieder des Subjekts jedoch zusammen, sodass die Parallelität der syntaktischen Konstruktion aufgebrochen wird: aus omne datum optimum et omne donum perfectum wird diu aller beste gâbe und volkomenheit . Wo im lateinischen Text zwischen datum und donum , optimus und perfectus unterschieden ist (und so die semantische Nuancierung zum Effekt der Steigerung beiträgt), übersetzt der Prediger mit einer Nominalphrase, in der nur noch ein verstärktes Adjektiv, aller beste , zwei Substantive qualifiziert: gâbe und volkomenheit . Wenn der Prediger das Moment der volkomenheit im weiteren Predigtverlauf nicht wieder aufgreift, so ist gerade die Aussparung signifikant, denn auf die Vorstellung einer religiösen Vervollkommnung, die über Stufungen einer vita religiosa erreicht werden kann, wie sie das Stichwort volkomenheit ( perfectio ) aufruft, geht der Prediger nicht ein. Die Predigt greift zwar die Anliegen einer an Praktiken der Vervollkommnung orientierten monastischen Kultur auf, deutet diese jedoch von Grund auf um: der Mensch soll in keiner Hinsicht nach Eigenem suchen, sondern in jeder Hinsicht das nehmen, was Gott gibt. Der Prediger konzentriert sich damit ganz auf die Vollkommenheit der gâbe , wenn er das Leitzitat mit Blick auf das Verhältnis von Gott und Mensch auslegt, und so loten dann auch der erste und der zweite Dispositionsabschnitt der Predigt Dimensionen der Vollkommenheit von Gottes Gabe, nicht der Vervollkommnung des Menschen aus. Der Gedanke, dass alles, was Gott dem Menschen gibt, die beste Gabe sei, wird im ersten Dispositionsabschnitt der Predigt zunächst in drei Schritten erörtert: Für den, der in allen Dingen nur die Ehre Gottes im Sinn hat, ist, was immer Gott ihm gibt, das Beste ( DW I, 10 Zur produktiven Aneignung des Bibeltexts in der Übersetzung vgl. übergreifend Köbele, Primo aspectu monstruosa , Freimut Löser, Lateinische Bibel und volkssprachliche Predigt. Meister Eckhart als Übersetzer von Bibelstellen, in: Metamorphosen der Bibel. Beiträge zur Tagung ›Wirkungsgeschichte der Bibel im deutschsprachigen Mittelalter‹ vom 4. bis 6. September 2000 in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier, hg. von Ralf Plate und Andrea Rapp, Bern [usw.] 2004 (Vestigia Bibliae 24 / 25), S. 209-227, und Nadia Bray, Deutsche Bibelzitate in den Predigten Meister Eckharts, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener, Berlin / New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 409-426. 68 II. Analysen S. 61,1-62,4); weil es Gottes Wille ist, sollte der Mensch alles, was Gott gibt, auch freudig annehmen ( DW I, S. 62,5-64,2); das ist es, was auch die Vaterunser-Bitte meint ( DW I, S. 64,3-11). Schon die ersten Sätze lassen zutage treten, wie die Ausrichtung des Predigers an seinen Zuhörern auch sprachlich Form gewinnt. Wie sich dabei in und mit der pronominalen Anrede eine ganz eigene Dynamik entfaltet, wird am Beginn der Predigt sichtbar. N û m e r k e t ! I r sult daz wizzen: d i e m e n s c h e n , die sich ze gote lâzent und sînen willen aleine suochent mit allem vlîze, swaz got d e m m e n s c h e n gibet, d a z i s t d a z b e s t e ; d û sîst des gewis als daz got lebet, daz ez von nôt daz aller beste muoz sîn und daz kein wîse anders möhte gesîn, diu bezzer wære. Swie daz sî, daz doch ein anderz bezzer schîne, sô enwære ez d i r doch niht als guot, wan got wil d i s e w î s e und niht ein ander wîse, und d i s i u w î s e muoz von nôt d i r diu beste wîse sîn. E z s î siechtage o d e r armuot o d e r hunger o d e r durst o d e r s w a z e z s î , waz got über dich v e r h e n g e t o d e r n i h t v e r h e n g e t , oder s w a z dir got g i b e t o d e r n i h t e n g i b e t , daz ist dir allez daz beste; e z s î andâht o d e r innicheit, daz dû der beider niht enhâst, und s w a z dû h â s t o d e r n i h t e n h â s t : s e t z e eht dû dich rehte dar în, daz dû gotes êre meinest in allen dingen, und s w a z e r d i r d e n n e t u o t , d a z i s t d a z b e s t e . ( DW I, S. 61,1-62,4) Der Eingang der Predigt vermittelt einen Eindruck von der Faktur des Textes, der Kommunikation unter Anwesenden zu inszenieren scheint; die Deiktika im Text zeigen an, wie der Prediger seine Zuhörer und sich selbst in einem geteilten Wahrnehmungsraum situiert, innerhalb dessen er ihre Aufmerksamkeit lenkt. Dieser Raum konstituiert sich in und mit der pronominalen Anrede ( ir ; dû ), aber auch, indem der Prediger deiktisch auf das geteilte Jetzt der Predigtsituation verweist ( nû ) oder den Blick des Zuhörers demonstrativ darauf lenkt, dass Gott diese Lebensweise ( dise wîse ), nicht eine andere von ihm wolle. Die direkte Anrede im Plural der zweiten Person ( ir ) markiert den Neueinsatz der Rede; sie setzt den Beginn der Predigt von der Übersetzung des Leitzitats ab. Der Prediger fordert seine Zuhörer auf, aufmerksam zu sein ( nû merket ), präsentiert die folgende Rede als etwas, das sie wizzen sollen, und inszeniert sich so - ganz im Rahmen der Gattungskonvention - selbst als Lehrenden, der in einem asymmetrischen Verhältnis zu seinen Zuhörern steht. Indem er seine Autorität ausstellt, distanziert er sich von seinen Zuhörern (und diese von sich), bindet sie zugleich aber auch an sich, indem er ihre Aufmerksamkeit für den präsentierten Sachverhalt einfordert. 11 Mehrfach spielt der Prediger im Anschluss die Aussage durch, dass für den Menschen, der sich ganz Gott überlassen hat und nur dessen Willen sucht, alles, was Gott gibt, das Beste ist; er wiederholt sie steigernd: Es müsse notwendig das Beste sein, es gebe keine wîse , die besser wäre. Es kommt mir dabei auf eine Verschiebung im Textverlauf an. Während der Prediger zunächst generalisierend von all den Menschen spricht, die sich ganz Gott überlassen und nur seinen Willen suchen ( die menschen ), 12 wechselt er anschließend in 11 In Dietmar Mieths Unterscheidung zweier Genres in den Predigten bildet diese Konstruktion ein Beispiel für den pastoral-spirituellen Redemodus: »Im pastoral-spirituellen Verfahren ist […] die Verteilung asymmetrisch, ein vorausgesetztes Gefälle zwischen belehrendem Prior und eingewiesenen Zuhörern.« Mieth, Meister Eckhart, S. 151. 12 Der Satz ist syntaktisch schwierig zu bestimmen. Ich lese den einleitenden Teil ( die menschen, die ), der grammatisch inkongruent mit dem menschen wieder aufgegriffen wird, als verkürzten Relativsatz mit konditionaler Bedeutung: ›Wenn sich Menschen ganz Gott überlassen, [gilt: ]‹, oder: ›Für die Menschen, die sich ganz Gott überlassen, [gilt: ]‹. Vgl. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik. 25. Aufl., neu bearb. von Thomas Klein, Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 69 den Singular ( dem menschen ), sodass sich die Perspektive verengt. 13 Weiter noch geht diese Verschiebung, wenn die Rede in die Anrede in der zweiten Person Singular ( dû ) wechselt. Die erste Du-Anrede verstehe ich eher als allgemeine Bekräftigung im Sinn eines ›du kannst gewiss sein‹ oder ›sei dessen gewiss‹, die sich auf die Aussage zurückbezieht, dass für diejenigen, die sich ganz Gott überlassen, alles, was er ihnen gibt, das Beste ist. Mit dem zweiten Satz, in dem der Prediger die Du-Anrede fortführt, ist dagegen der Perspektivwechsel vollzogen: Das, was der Prediger als allgemeine Aussage präsentiert hatte, spricht er nun in seiner Bedeutung für den einzelnen Zuhörer an. Durch die syntaktisch markante Verschiebung wird dieses dû in die Position der Menschen, die sich ze gote lâzent , überführt. Hierbei wird das, was einleitend als Bedingung in einem trennenden Sinn eingeführt worden war, überspielt: Hatte der Prediger zunächst herausgestellt, dass nur für die Menschen, die sich ganz Gott überlassen, das, was Gott ihnen gibt, das Beste sei, so setzt er nun den mit dû angesprochenen einzelnen Zuhörer unmittelbar in diese Position ein. Die Position der Menschen, die sich ze gote lâzent , öffnet sich damit entscheidend auf den einzelnen Zuhörer hin. Die Konkretisierung, die der Prediger vornimmt, wenn er die allgemeine Aussage auf den Zuhörer zuführt, schlägt sich so als sprachliche Bewegung nieder, die den Angesprochenen in jene Position überführt, die zuvor aufgebaut worden war. Auch der zweite Teil der Passage, der diesen Gedanken weiter ausführt, ist syntaktisch auffällig gestaltet. Die Generalisierung, die der Prediger thematisch in Anschlag bringt, wenn er betont, dass alles, was Gott gibt, das Beste sei, scheint sich über die sich weit aufspannende Syntax auch sprachlich zu vollziehen. Dabei bestimmen zunächst variierendparallel strukturierte Satzteile die syntaktische Einheit, die das Kippen aus der polysyndetisch-gereihten Aufzählung adjunktiv verbundener Glieder ( siechtage oder armuot oder hunger oder durst ; andâht oder innicheit ) in die generalisierende Aussage ( swaz ez sî ; swaz dir got gibet ; swaz dû hâst ) inszenieren. Wenn die Satzfolge schließlich durchbrochen wird durch die imperativische Anrede in der zweiten Person Singular ( setze ), wird argumentativ der Schlusspunkt zu dieser Passage gesetzt. Desweiteren wird nun das explizit als Handlungsaufforderung formuliert, was ich zuvor als sprachliche Bewegung beschrieben habe: das Einsetzen des Zuhörers in die Position, in der in allen Dingen nur die êre Gottes zählt. Der verallgemeinernde Relativsatz ( swaz er dir denne tuot ) greift im Anschluss die zuvor entfaltete syntaktische Struktur wieder auf, ohne dabei die Alternative ›oder was er dir nicht tut‹ zu eröffnen. Hatte die Rede zuvor die Vielzahl von Möglichkeiten, was Gott geben oder nicht geben kann, in der Wiederholung mit dem Zusatz oder niht durchgespielt, so ist die Vielzahl von Optionen nun in eine eindeutige Sicht überführt. Nicht das eine oder das andere, sondern alles, was Gott gibt, ist das Beste. Überblickt man die Textpassage im Ganzen, so fällt auf, dass der letzte Teilsatz ein Stück vom Beginn der Passage wiederholt. Während der Prediger einleitend generalisierend von dem gesprochen hatte, was Gott dem Menschen gebe, hat sich zum Ende hin die Sicht zur Syntax von Ingeborg Schöbler, neubearb. und erw. von Heinz-Peter Prell, Tübingen 2007 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte), S. 410 (§ S 168). 13 Der Numeruswechsel sollte allerdings nicht überinterpretiert werden, zieht man in Betracht, dass nur drei Textzeugen den Wortlaut in dieser Form überliefern. Der Nasalstrich, der in den meisten Handschriften den bestimmten Artikel abkürzt, lässt die Auflösung als Singular ( dem menschen ) oder Plural ( den menschen ) offen, vgl. DW I, S. 61 (Variantenapparat). Die lateinische Übersetzung der Stelle in der Responsio ist durchgehend im Singular gehalten: Ille homo, qui se deo committit […] , quidquid deus illi homini dat, hoc est optimum (Proc. Col. II, LW V, S. 342,21-343,1). 70 II. Analysen personalen Perspektive verschoben. An die Stelle von swaz got dem menschen gibet, daz ist daz beste , tritt nun: swaz er dir denne tuot, daz ist daz beste . Auch auf dieser Ebene verschiebt sich die Ausrichtung des Predigers hin auf den einzelnen Zuhörer. Was ich oben als syntaktische Bewegung beschrieben habe, in der und über die der mit dû angesprochene Zuhörer in eine zuvor eröffnete Perspektive überführt wird, lässt sich so auch satzübergreifend beobachten: Was Gott ›dem Menschen‹ gibt, wird im Verlauf der Predigt hin auf das überführt, was er ›dir‹ gibt. Der Prediger funktionalisiert so nicht nur den Wechsel der Anrede vom ir zum dû im Sinn einer Konkretisierung auf den einzelnen Zuhörer hin. Der Anredewechsel ist in eine übergreifende Bewegung integriert, in und mit der sich das, was der Prediger thematisch ausführt, zugleich performativ vollzieht. Die Anrede wird folglich im Textverlauf entscheidend dynamisiert. Wenn der Prediger im Anschluss betont, dass man das, was Gott gibt, auch im Besten von Gott hinnehmen solle, richtet er das Augenmerk auf das rechte Empfangen dessen, was Gott gibt. Damit wird die ethische Perspektive fortgeschrieben, die im Textverlauf schließlich in eine ontologische Aussage überführt wird. N û m ö h t e s t d û v i l l î h t e s p r e c h e n : waz weiz i c h , ob ez sî der wille gotes oder niht? D a z w i z z e t : enwære ez gotes wille niht, sô enwære ez ouch niht. D û enhâst noch siechtage noch nihtes niht, got enwelle ez. Und w a n dû denne weist, daz ez gotes wille ist, sô s ö l t e s t d û als vil w o l l u s t dar inne hân und g e n ü e g e d e , daz dû keiner p î n e ahtest als p î n e ; nochdenne kæme ez ûf daz aller hœhste der p î n e , enpfündest dû dekeiner p î n e oder lîdens, dannoch sô ist im unreht alzemâle; w a n dû solt ez nemen von gote in dem aller besten, w a n ez muoz von nôt dîn aller bestez sîn. W a n gotes wesen swebet dar an, daz er daz beste welle. ( DW I, S. 62,5-63,4) In einem Frage- und Antwortspiel greift der Prediger zunächst einen möglichen Einwand seines Zuhörers auf. Eingesetzt ist die rhetorische Figur eines fingierten Dialogs ( subiectio ) mit dem argumentativen Ziel, den möglichen Einwand zu widerlegen ( refutatio ). 14 In der Inszenierung der Redesequenz gewinnt die Predigt an dieser Stelle dialogische Qualität. Interessant zu beobachten ist, wie sich in der inszenierten Rede in dem deiktischen Pronomen ich die Referenzen überblenden. Der Prediger spricht hier mit der Stimme seines Zuhörers, die er gleichsam in die eigene Rede einschreibt. Damit geht ein Perspektivwechsel einher, über den sich die Predigt erneut auf den Angesprochenen hin öffnet. Das Argument, das mit der Möglichkeit spielt, das Verb ›sein‹ prädikativ wie absolut zu verwenden, ist einfach: Wenn es nicht Gottes Wille wäre, so wäre es auch nicht. Deshalb, so schließt der Prediger an seinen Zuhörer gerichtet an, der weiterhin mit dû direkt angesprochen wird, solle man in allem, was geschieht, Freude haben ( wollust ) und Befriedigung ( genüegede ) finden. So betrachtet, sei dann das Leid ( pîne ) auch nicht mehr als Leid anzusehen, mehr noch: es als Leid zu empfinden, sei unrecht, denn man solle das, was kommt, von Gott in dem aller besten nehmen. Er deutet dabei den Begriff der pîne in einer Weise um, die an die Neusemantisierung des lîdens erinnert, die das ›Trostbuch‹ vornimmt, ohne an dieser Stelle jedoch das Leiden als eigentliche sælicheit des Menschen neu zu bestimmen. 15 Der distanzierende Konjunktiv sölltest dû rückt die Perspektive, in der das Leid 14 Zur Figur der subiectio vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. mit einem Vorwort von Arnold Arens, Stuttgart 1990, S. 381-383 (§§ 771-775). 15 Vgl. dazu BgT, DW V, S. 39,18-40,6: Alliu ir [der tugent , R. R.] sælicheit ist lîden […] durch got. Und dar umbe sprichet unser herre […] : ›sælic sint, die dâ lîdent durch die gerehticheit‹. […] Ein solich mensche II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 71 zur Freude wird, vom unterstellten Adressaten der Predigt ab, der das Leid eben noch nicht im rechten Sinn als ›Lust‹ zu verstehen weiß. Dass der Prediger auch hier mit der Stimme desjenigen spricht, dessen Aufgabe es ist, die Linie zwischen ›recht‹ und ›unrecht‹ zu ziehen, fügt sich dazu, wie er sich insgesamt in diesem ersten Predigtabschnitt gegenüber seinen Zuhörern in die Rolle des Lehrenden stilisiert. Hierbei wird in dieser kurzen Textpassage der Gestus des Argumentierens regelrecht in Szene gesetzt: Mehrfach wiederholt, strukturiert die Konjunktion wan den Textverlauf steigernd und lässt ihn so auf die Aussage zulaufen, in der die Passage kulminiert: Gottes Sein hängt daran, dass er das Beste wolle. Die ontologische Aussage liefert an dieser Stelle die Begründung für das nach, was der Prediger zuvor dargelegt hatte, denn Gott kann gar nicht anders, als das Beste zu wollen. In diesem Sinn ist alles, was geschieht, Gottes Wille und infolgedessen auch das Beste. Vor diesem Hintergrund kann der Prediger resümierend fortfahren: Dar umbe sol i c h z ouch wellen noch ensol mir dekein dinc baz behagen. Wære ein mensche, dem ich mit allem vlîze wolte gevallen, wiste ich denne vür wâr, daz ich dem menschen baz geviele in einem grâwen kleide dan in keinem andern, swie guot ez joch wære, des ist kein zwîvel, mir enwære daz kleit lüstlîcher und lieber dan kein anderz, swie guot ez joch wære. Wære denne, daz ich einem ieglîchen wölte gevallen, swaz ich denne wiste, daz er gerne hæte, ez wære an worten oder an werken, daz tæte ich und niht ein anderz. ( DW I, S. 63,4-11) Wenn ich Gott gefallen möchte, muss ich meinen Willen seinem Willen gleichförmig machen: Damit, dass der Prediger sich das erste Mal im Textverlauf mit dem Pronomen der ersten Person ( ich ) einbringt, wechselt erneut die Perspektive. Das Beispiel, das der Prediger in einem ersten Schritt aufbaut (wenn ich wüsste, dass ich demjenigen, dem ich gefallen möchte, im ›grauen Kleid‹ am besten gefalle, trage ich die unscheinbare Kleidung lieber als alles andere), verallgemeinert er in einem zweiten Schritt: ich täte immer lieber das, von dem ich wüsste, dass es derjenige am liebsten hat, dem ich gefallen möchte. Das Pronomen ich hat an dieser Stelle exemplarische Qualität; man könnte es mit ›man‹ wiedergeben. Es erschöpft sich darin jedoch nicht. Die Stimme, die spricht, inszeniert sich als die des Predigers und wird in gleichem Maße transparent hin auf die Perspektive der Zuhörer. Dieses ›ich‹, das sich deiktisch auf den Sprecher bezieht, gewinnt seine Kraft aus seiner referentiellen Offenheit, deren konkrete Füllung sich in der Kommunikationssituation je neu ergibt. In und mit diesem ›ich‹ öffnet sich die Rede auch auf ihren Adressaten hin, der die Perspektive des Sprechers einnehmen und sich in dieses ›ich‹ einsetzen kann. 16 hazzet geliten-hân, wan geliten-hân enist niht lîden, daz er minnet; ez ist […] ein verlust lîdennes durch got, daz er aleine minnet. Und dar umbe spriche ich, daz ein solich mensche ouch hazzet noch-lîden-suln, wan daz ouch niht lîden enist. Doch hazzet er minner lîden-suln dan geliten-hân, wan geliten-hân ist verrer und unglîcher lîdenne, wan ez zemâle vergangen ist. Daz man aber lîden sol, daz enbenimet niht alzemâle lîden, daz er minnet. 16 An anderen Stellen ist die Ich-Rede wesentlich stärker aufgeladen als in diesem Zusammenhang, wo argumentativ die Veranschaulichung im Zentrum steht. Lässt sich das Pronomen ›ich‹ hier als ›exemplarisches Ich‹ bezeichnen, so kommt später ein ›ich‹ zum Tragen, das seinen Effekt entscheidend aus der Unmittelbarkeit der Rede bezieht. Zur Ich-Rede in Eckharts Predigten vgl. P[äivi] M. Mehtonen, The Apophatic First-Person Speaker in Eckhart’s Sermons, in: Modes of Authorship in the Middle Ages, hg. von Slavica Rankovic, Toronto 2012 (Papers in Mediaeval Studies 22), S. 79-96. Päivi Methonen entwickelt in Anlehnung an die Unterscheidung verschiedener Ich-Sprecher in narrativen Texten eine Typologie von Formen der Ich-Rede bei Eckhart, die zwischen dem Ich als Kommentator (»commentator-I«), dem Ich auf einer Figurenebene (»character-I«), dem Wort ›ich‹ als Gegenstand 72 II. Analysen Im Anschluss an diese Passage wendet der Prediger sich abermals mit der direkten Anrede im Plural der zweiten Person an seine Zuhörer und fordert sie vor diesem Hintergrund auf, ihre Gottesliebe auf den Prüfstand zu stellen. Rhetorisch ist diese Aufforderung als exclamatio gestaltet: 17 E y â , n û m e r k e t i u c h s e l b e r , w i e i u w e r m i n n e g e s t a l t s î ! Mintet ir got, sô enmöhte iu kein dinc lüstlîcher gesîn, dan daz im aller beste geviele und sîn wille an uns allermeist volbrâht würde. Swie swære diu pîne schîne oder daz ungemach, h â s t û niht dar inne als grôzen wollust, sô ist im unreht. ( DW I, S. 63,11-64,2) Inhaltlich wiederholt der Prediger die vorangegangene Kernaussage, dass alles, was geschieht, Gottes Wille ist, sodass es für denjenigen, der Gott liebt, keinen Grund gibt, etwas anderes zu wollen; er bringt die Passage so bilanzierend zum Abschluss. Entscheidend ist für mich an dieser Stelle erneut der Wechsel der Anredeform: Auch hier wechselt der Prediger unvermittelt und pointiert aus der Anrede in der zweiten Person Plural in die Du-Anrede. Damit wird noch einmal der Blick auf den mit dû angesprochenen einzelnen Zuhörer gelenkt, dieser von der Gruppe der angesprochenen Zuhörer abgesetzt und die Kernaussage der Textpassage auf ihn hin konkretisierend zur Anwendung gebracht. Auf dieses dû , das ihren Abschluss bildet, läuft die Textpassage im Ganzen zu. Auch der letzte Teil des ersten Dispositionsabschnitts, in dem der Prediger schließlich auf die Vaterunser-Bitte eingeht, lässt erkennen, wie die Anrede im Textverlauf immer wieder dynamisiert wird. Erneut schwingt die Rede konkretisierend in die Anrede im personalen dû um, und auch hier lese ich den Wechsel der Form pronominaler Anrede im Kontext einer Bewegung, mit der sich eine weitere Ebene gleichsam über die Anrede legt. I c h p f l i g e d i c k e e i n w ö r t e l î n z e s p r e c h e n n e und i s t o u c h w â r : w i r ruofen alle tage und schrîen in dem Pater noster: ›herre, dîn wille werde! ‹ Sô denne sîn wille wirt, sô wellen wir zürnen und genüeget uns niht an sînem willen. Und swaz er tæte, daz solte uns aller beste gevallen. D i e ez alsus nement in dem besten, d i e blîbent aller dinge in einem ganzen vride. N û d ü n k e t i u c h u n d e r w î l e n u n d s p r e c h e t : ›ach, und wære ez anders komen, sô wære ez bezzer‹, oder ›wære ez niht alsô komen, sô wære ez vil lîhte baz komen‹. A l s l a n g e s ô d i c h d e s d ü n k e t , sô gewinnest dû niemer vride. D û solt ez nemen in dem aller besten. Diz ist der êrste sin von disem worte. ( DW I, S. 64,3-11) Wenn der Prediger diesen Passus als Selbstzitat einleitet (›ich sage häufig‹), dessen Wahrheit er in einem zweiten Schritt bekräftigt (›was auch wahr ist‹), ist ein für Eckharts Predigten zentrales Thema berührt: das der sogenannten Rückverweise. Liest man die Rückverweise nicht als historische Referenzen, sondern fragt man nach ihrer jeweiligen Funktion im Textverlauf, so treten diese grundlegend als literarische Strategie einer Selbstautorisierung des Predigers in den Blick. 18 An dieser Stelle sichert die Stimme des Predigers damit ihre der Reflexion (»object-I«) und schließlich dem »epistemological I«, das »not actually the speaker of the sentences, but rather an abstract faculty of mind« (ebd., S. 85) sei, unterscheidet. Es ist dieses Ich, das in der Gegenwart der Predigt denkt, reflektiert und versteht (vgl. ebd.); das Pronomen ›ich‹ an dieser Stelle fällt beispielhaft in diese Kategorie. Was in Methonens Typologie jedoch nicht sichtbar wird, ist die performative Kraft, die die Ich-Rede in Eckharts Predigten immer wieder entfaltet, die auf unmittelbare Evidenz setzt. 17 Zur Figur der exclamatio vgl. Lausberg, Handbuch, S. 399 (§ 809). 18 Diesen Perspektivwechsel hat Burkhard Hasebrink am Beispiel der ›Paradisus‹-Predigten deutlich gemacht, vgl. Hasebrink, Dialog der Varianten (S. 143 zum Selbstzitat als Autorisierungsstrategie). II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 73 Autorität nicht nur im Rekurs auf das ›allgemeinste‹ Gebetswort überhaupt, das Vaterunser, sondern auch, indem sie sich auf sich selbst zurückwendet. Der Wechsel der Anrede in ein inklusives wir geht in eins mit der Sprechhaltung des Vaterunser, das der Prediger zitiert. 19 Erneut scheint das Argument einfach: wir bitten darum, dass Gottes Wille geschehe, und sollten uns deshalb freuen, wenn sein Wille geschieht, was auch immer dieser Wille ist. 20 So betrachtet, erweist sich das Ungenügen des Menschen an dem, was Gott ihm gibt, als Ergebnis der falschen Perspektive, denn sieht man nur ein, dass alles, was geschieht, Gottes Wille ist, so gibt es keinen Grund, unzufrieden zu sein. Diese Frage der Perspektive ist gemeint, wenn der Prediger festhält, dass man das, was Gott gibt, auch ›im besten‹ hinnehmen solle. Dann erst gewinne der Mensch wahren Frieden. 21 Im zweiten Teil der Textpassage korrespondiert aufs Neue der inhaltlichen Pointierung der Aussage ein Umschwung der Rede in die direkte Du-Anrede. Der erste Satz ist allgemein gehalten: ›diejenigen, die es so im besten hinnehmen, bleiben in allen Dingen in wahrem Frieden‹. Dabei scheint die demonstrative Wiederholung des bestimmten Artikels im Relativpronomen ( die, die ) den hinweisenden Gestus der Rede auszustellen - und so den Bogen erst aufzuspannen, in dem der Prediger auf ›diese‹ Menschen zeigt. 22 Dass diese Menschen mit seinen Zuhörern nicht identisch sind, macht der folgende Satz deutlich, in dem der Prediger sich direkt an diese wendet und (ironisch-distanziert? ) deren Gedanken und Stimme zu Wort kommen lässt ( nû dünket iuch underwîlen und sprechet ). Noch einmal öffnet sich die Predigt damit auf die Stimme der Zuhörer hin; und es ist verlockend, den kleinen Dialog als literarische Inszenierung jenes Denkens in Alternativen zu lesen, das die Predigt an dieser Stelle abweist. Auffällig ist, wie sich mit der Anrede im Plural der zweiten Person ( ir ) die Perspektive verschiebt: hatte die Wir-Form der Rede zuvor Sprecher und Angesprochene zusammengeschlossen, distanziert sich der Prediger nun wieder deutlich von seinen Zuhörern. Mir kommt es jedoch auch hier auf die Bewegung an, die in der Struktur pronominaler Ersetzung sichtbar wird. Dabei wird nicht nur im skizzierten Sinn eine Spannung aufgebaut zwischen denjenigen, die ez alsus nement , und den unterstellten Adressaten der Rede ( nû dünket iuch ), sondern in einem zweiten Schritt das, was mit Blick auf die Gruppe der Zuhörer formuliert worden war, in die personale Perspektive überführt: die Rede schwingt um in die direkte Anrede im personalen dû . Dazu, diesen Umschwung zu pointieren, trägt an dieser Stelle schließlich neben dem pronominalen Wechsel auch die Anders wertet die Rückverweise z. B. Dagmar Gottschall, die im Einklang mit der Forschungstradition zwei Typen von Rückverweisen unterscheidet: »general references such as als ich mê gesprochen hân and als ich niuwelîche sprach on the one hand, and concrete references to a place and time such as als ich sprach an dem ôsterâbende […] or als ich ê sprach ze sant Magfire « (Gottschall, Eckhart’s German Works, S. 141 f.), und dazu auffordert, bei den Rückverweisen zwischen »rhetorical decoration and autobiographical statement« zu unterscheiden (ebd., S. 141). 19 Susanne Köbele spricht in diesem Zusammenhang von dem »Pluralpronomen, das das Sprecher-Ich mit einer Gebetsgemeinschaft zusammenschließt«. Köbele, Primo aspectu monstruosa , S. 73. 20 Vergleichbar spielt Eckhart mit der Vaterunserbitte in Predigt 30, dreht die Perspektive jedoch um: Daz mîn wille sîn wille werde, daz ich er werde: daz meinet daz pater noster (DW II, S. 99,3). Vgl. dazu Köbele, Primo aspectu monstruosa , S. 68-73, sowie Löser, Lateinische Bibel und volkssprachliche Predigt, S. 225. 21 Zum Begriff des Friedens, der auf die Ruhe zielt, die in der Abkehr von den Dingen gefunden werden kann, vgl. Largier, Kommentar, S. 782 f. 22 Der Nebensatz ist grammatisch als Relativsatz aufzufassen (›diejenigen, die‹), bringt aber eine konditionale Bedeutungsnuance mit zum Ausdruck (›wenn jemand‹), vgl. Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, S. 410 (§ S 168). 74 II. Analysen implizite Zeitstruktur bei, die die Temporaladverbien anzeigen, und bei der unbestimmte Fortdauer ( underwîlen ) auf pointierte Weise so in konditional konnotierte temporale Begrenzung ( als lange sô ) überführt wird, dass darüber eine ganz eigene Intensität erzeugt wird. Mit wörtlichen Wiederaufnahmen aus dem gesamten Komparationsparadigma des Wortes guot ( baz , daz beste , daz aller beste ) umkreist der erste Dispositionsabschnitt der Predigt so das Thema der besten Gabe, das seine Dichte im Textverlauf insgesamt erst in der beständigen Iteration gewinnt. Immer wieder fokussiert der Prediger das Thema entschieden mit Blick auf seine Zuhörer, die mit den Anliegen und Einwänden, die er ihnen zuschreibt, den Fluchtpunkt seiner Rede bilden. So bietet dieser Textabschnitt viele Ansatzpunkte, um den unterstellten Adressaten der Predigt genauer in den Blick zu fassen. Dieser wird als Mensch entworfen, der in der Erwartungshaltung gefangen ist, dass Gott ihm etwas geben möge. Dabei denkt er die Gabe inhaltlich bestimmt, als ob Gott wahlweise das eine oder das andere gäbe; er erwartet von Gott, dass dieser ihm gibt, was ihm, dem Menschen, selbst am besten scheint. Dieser Sicht stellt der Prediger das absolute Aufgehen im Willen Gottes gegenüber, in dem alles, was Gott gibt, lüstlîch ist - nicht, weil es die Wünsche des Menschen bedient, sondern bedingungslos deshalb, weil Gott es gibt. Dass der Prediger seinen Zuhörern gerade das Fehlen von andâht und innicheit als charakteristische Sorge unterstellt, ruft abbreviaturhaft Kennwörter einer Klosterkultur auf, die sich über solche Formen meditativer contemplatio bestimmt. Zieht man die Rede der underscheidunge vergleichend heran, so stößt man in diesem Sinn auf einen zentralen Intertext zu dieser Predigt. 23 In den ›Erfurter Reden‹ setzt sich Eckhart explizit mit den Aporien auseinander, denen jene Menschen begegnen, die sprechent: ›eyâ, herre, ich wölte gerne, daz mir alsô wol mit gote wære und alsô vil andâht hæte und vride mit gote, als ander liute hânt, und wölte, daz mir alsô wære oder ich alsô arm sî‹, oder: ›mir enwirt niemer reht, ich ensî denne dâ oder dâ und tuo sus oder sô […] ‹. (RdU, DW V, S. 191,6-192,1) Im dritten Kapitel bringt Eckhart auf den Punkt, wie sich in solchem Streben die Differenz zum Gesuchten nur verfestigt: Sie suochent alles unrehte, die alsô suochent: ie verrer sie ûzgânt, ie minner sie vindent, daz sie suochent (RdU, DW V, S. 194,1 f.). Damit klingt in diesem Text die Umwertung des Suchens an, wie sie der zweite Dispositionsabschnitt der Predigt vorführen wird. Auch wenn der Bezug zu diesem Kontext für das Verständnis der Predigt im Ganzen wichtig ist, erschöpft sich meine Frage nach dem impliziten Adressaten darin nicht. Ich bin den ersten Predigtabschnitt deshalb so kleinschrittig durchgegangen, um sichtbar werden zu lassen, wie der Text auf der Ebene pronominaler Ersetzung eine ganz eigene Dichte erzeugt. Wenn ich von einer Dynamisierung der Anrede spreche, ziele ich auf jene sprachlichen Bewegungen, die sich im Textverlauf deutlich abzeichnen: im schrittweisen Einsetzen des mit dû angesprochenen Zuhörers in die Position derjenigen Menschen, die sich ze gote lâzent , aber auch im bilanzierenden Umschwung in die Du-Anrede als Abschluss einer Gedankenfolge, über die der einzelne Zuhörer nicht nur von der Gruppe der Zuhörer abgesetzt, sondern das Gesagte auf ihn hin entscheidend zur Anwendung gebracht wird. Diese 23 Vgl. zur Lektüre der Rede der underscheidunge als Auseinandersetzung mit dem paradoxen Effekt einer monastischen Weltabkehr, die indes ›Welt‹ nur umso stärker produziert, Hasebrink, sich erbilden , und Hasebrink, Diesseits? . Auf die thematische Nähe der Predigt 4 zu den ›Erfurter Reden‹ weisen sowohl Largier, Kommentar, S. 777, als auch Ruh, Predigt 4, S. 10 hin. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 75 Wechsel der Anrede haben textstrukturierende Funktion; der Effekt, der damit verbunden ist, geht darüber jedoch hinaus. Sie setzen die Perspektive, die der Prediger entwickelt, auf je eigene Weise sprachlich um - und erzeugen dabei eine Intensivierung, die ihrerseits in ein spannungsvolles Verhältnis zu dem tritt, was dieser Predigtabschnitt thematisch auslotet: das Aufgehen des eigen willen des Menschen im Willen Gottes. Es ist diese Ebene iterierender Anrede, auf der der implizite Adressat der Predigt seine Wirklichkeit gewinnt. 2.2 Alle Gabe. Umwertung des Suchens Im zweiten Dispositionsabschnitt, der den langen Mittelteil der Predigt bildet ( DW I, S. 65,1-72,5), setzt der Prediger an dem Wort ›alle Gabe‹ an. Das Thema der Gabe ist in diesem Predigtabschnitt auf unterschiedlichen Ebenen präsent. So spricht der Prediger auch Gaben, die der Mensch gibt, an (und erläutert, ob es gut sei, wenn jemand tausend Mark Goldes spenden wolle, um Kirchen und Klöster bauen zu lassen), stellt ansonsten aber entschieden Gottes Gabe an den Menschen in den Mittelpunkt. Gott kann nicht anders, als sich ganz zu geben; wenn er sich im Innersten der Seele dem Menschen gibt, ist dieses Geben nicht als Veräußerung, sondern als Selbstbezug gedacht. Mit der Vorstellung einer Gabe Gottes, die weder einer Logik der Verausgabung noch der des Gabentausches folgt, ist das Thema der ›absoluten Gabe‹ berührt. 24 Ich folge auch hier schrittweise dem Textverlauf, um das Profil dieses Abschnitts sichtbar werden zu lassen. Dabei konzentriere ich mich zum einen weiterhin auf das, was ich oben als Dynamisierung der Anrede bezeichnet habe, und greife die Anredewechsel in ihrem Kontext heraus. Zum anderen aber setze ich in diesem Abschnitt einen thematischen Akzent und stelle heraus, wie der Prediger ein Suchen umwertet, das Gott nur als Mittel verwendet und damit die Differenz zu Gott verfestigt, statt sie zu überwinden. Im Wunsch nach nutz , lôn oder innerkeit wird die Predigt erneut auf die Sicht ihrer unterstellten Adressaten hin transparent. Der Prediger greift diesen Wunsch auf, um vor diesem Hintergrund die Suche nach etwas, das nicht Gott selbst ist, umzudeuten. Wer Gott instrumentalisiert, um mit Gott etwas anderes zu suchen, verfehlt Gott ebenso, wie sich im Geben, um dafür etwas anderes zu empfangen, die Gabe selbst ausstreicht. Der Beginn des zweiten Dispositionsabschnitts ist textintern deutlich markiert. Noch einmal spricht der Prediger seine Zuhörer direkt an und fordert sie zur Aufmerksamkeit auf; er greift gliedernd auf das Leitzitat zurück. Noch ist ein a n d e r s i n , den m e r k e t mit vlîze! Er sprichet: › a l l e g â b e ‹ . Waz daz aller beste ist und daz aller hœhste, daz sint e i g e n l î c h e gâbe und i n d e m a l l e r e i g e n s t e n . Got engibet niht sô gerne sô grôze gâbe. I c h s p r a c h e i n e s t a n d i r r e s t a t , daz got joch gerner vergibet grôze sünde dan kleine. Und s ô sie ie grœzer sint, s ô er sie ie gerner vergibet und sneller. Und alsô ist ez umbe die gnâde und gâbe und tugent: s ô sie ie grœzer sint, s ô er sie ie gerner gibet; wan sîn natûre swebet dar an, daz er grôziu dinc gebe. Und dar umbe, s ô diu dinc ie bezzer sint, s ô ir ie mê ist. Die edelsten crêatûren daz sint die engel und sint zemâle vernünftic und enhânt niht lîplicheit an in, und der ist allermeist und ir ist mêr dan aller lîplîcher dinge zal sî. Grôziu dinc heizent e i g e n l i c h gâbe und sint im a l l e r e i g e n s t und a l l e r i n n i g e s t . ( DW I, S. 65,1-66,2) 24 Damit beziehe ich mich auf die Beschreibung der aporetischen Struktur der Gabe, die Jacques Derrida geprägt hat: Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit Geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993. Vgl. dazu ausführlicher unten, Kap. II.1.3. 76 II. Analysen Von der betonten Anrede mit dû , die den Abschluss des vorangegangenen Abschnitts gebildet hatte, springt die Rede zurück in den kollektiven Plural. Auch hier wird über die ausdrückliche Aufforderung zur Aufmerksamkeit ( merket mit vlîze ) der Gestus der Lehre ausgestellt. Verglichen mit dem ersten Predigtabschnitt tritt die praktische Ausrichtung zunächst zurück; das Niveau, auf dem die Argumentation sich bewegt, wird abstrakter. Der Prediger greift das Wort ›alle Gabe‹ aus dem Leitzitat heraus und fasst ausgehend davon zuerst das Thema der ›großen‹ Gaben in den Blick. 25 Dass er die Aussage, Gott vergebe lieber große Sünden als kleine, als Selbstzitat einleitet (er habe das einmal an diesem Ort gesagt), 26 ist wiederum nicht nur für die Autorisierung der Rede signifikant, sondern lässt auch das im Text inszenierte Verhältnis von Prediger und Zuhörern in einem ganz eigenen Licht erscheinen. Im Rückverweis tritt der Prediger, wie Karl Heinz Witte in anderem Zusammenhang herausgestellt hat, »selbst als Person in Raum und Zeit unter die Menschen; durch die Personalisierung holt er die Zuhörer in einen Kreis von Mitwissern herein.« 27 Auch hier verweist der Prediger so nicht nur deiktisch auf einen Wahrnehmungsraum, den er und seine Zuhörer teilen ( dirre stat ), sondern bezieht seine Zuhörer darüber auch »als Kenner« 28 mit ein. Je größer die Gabe ist, umso lieber gibt Gott: spannungsvoll treten an dieser Stelle die Relationierung ( sô , sô ) und der Überstieg über jede relationale Kategorie nebeneinander, denn Gottes Geben lässt sich eigentlich nicht steigern. Gott, dessen Natur Selbstmitteilung ist, ist ein Geben eigen, das sich nicht erschöpft. 29 So kann der Prediger die Gabe als Gottes Eigenstes festschreiben. Während im ersten Dispositionsabschnitt die Gabe als das, was Gott dem Menschen zuteilwerden lässt, thematisch geworden war, tritt damit nun in den Blick, dass das Geben Gott selbst eigen ist. Es ist nichts, das äußerlich zu ihm gehörte, sodass man sich Gott sowohl gebend als auch nicht gebend vorstellen könnte. Ebenso ist das, was er gibt, nichts Zufälliges oder Unbedeutendes, sondern das, was ihm aller innigest ist. Folglich wird die Größe der Gabe nicht quantifizierend bestimmt, sondern, wie Niklaus 25 Die Einleitung mit alle gâbe lässt sich sowohl auf das lateinische omne donum des Schrifttexts (so in der Gliederung Kurt Ruhs, vgl. Ruh, Predigt 4, S. 10) als auch erneut auf omne datum beziehen. Die Transformation des Schriftworts in die Volkssprache der Predigt erzeugt offensichtlich eigene Bedeutungsspielräume, die nicht in dem Text der Vulgata aufgehen; datum und donum überlagern sich semantisch. 26 Die mit Ich sprach einest an dirre stat eingeleitete Aussage des Predigers, Gott vergebe lieber große Sünden als kleine, hat als möglicher Verweis auf die ›Erfurter Reden‹ in der Forschung zur Datierung und Lokalisierung der Predigt eine prominente Rolle gespielt. »Sollte sich« - ich greife den Konjunktiv Niklaus Largiers auf - »der Rückverweis […] tatsächlich auf die RdU beziehen, wäre die Predigt in Erfurt gehalten worden.« Largier, Kommentar, S. 777. Liest man die Rückverweise nicht als historische Referenzen, sondern als Öffnung der Einzelpredigt hin auf einen »übergeordneten Intertext[], der nicht mit der Summe aller Predigten identisch ist, sondern sich erst über die Dialogizität der Texte konstituiert« (Hasebrink, Dialog der Varianten, S. 143), so begründet es sich noch einmal auf einer anderen Ebene, die ›Erfurter Reden‹ vergleichend zu dieser Predigt heranzuziehen, wie ich es oben getan habe. Mit dem Verweis Ich sprach einest an dirre stat öffnet sich die Rede des Predigers auf Eckharts Rede der underscheidunge , ohne dass der Bezug in einem unidirektionalen Verweis aufginge. Burkhard Hasebrink spricht von einer »Funktion der Vergegenwärtigung«, die die Rückverweise in den Predigten übernehmen: »In der jeweiligen Predigt verdichten sich übergreifende Themen und Gedankengänge, werden diese variiert und aktualisiert.« Ebd. 27 Karl Heinz Witte, Predigt 14 ›Surge illuminare Iherusalem‹, in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. III, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 2008, S. 1-31, hier S. 13. 28 Ebd. 29 Vgl. auch Largier, Kommentar, S. 783-785. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 77 Largier zusammenfasst, »als Intensität, als Innigkeit gefaßt« 30 - und so die Vorstellung der Gabe auf die Spitze getrieben. Das ist deshalb so zentral, weil damit an die Stelle einer Veräußerung in der Gabe, die in ihrer ternären Struktur auf der Differenz zwischen Geber und Empfänger beruht, die Vorstellung tritt, dass die Gabe sich erst im innigsten, dynamischen und wechselseitigen Bezug von Gebendem und Empfangendem ergibt. Im Innersten der Seele, das die folgende Textpassage aufruft, ist dieser Bezug letztlich nur als Selbstbezug zu denken. 31 Wenn der Prediger anschließend das innerste der sêle als Grund aller Dinge in den Blick fasst, wechselt die Perspektive, aus der dieses Innigkeitsverhältnis beschrieben wird, von Gott auf die Seele. Mir geht es nicht darum, die worttheologischen Implikationen auszuloten, die an dieser Stelle mitschwingen, sondern um die Intensität, die die Predigtrede erzeugt, wenn sie auch in diesem Zusammenhang wieder unvermittelt in die Du-Anrede umschwingt. Ich sprach einest: swaz eigenlich gewortet mac werden, daz muoz von innen her ûz komen und sich bewegen von innerer forme und niht von ûzen her în komen, mêr: von inwendic sol ez her ûz komen. Daz lebet e i g e n l î c h e in dem i n n e r s t e n d e r s ê l e . D â sint d i r alliu dinc g e g e n w e r t i c und inner lebende und suochende und sint an dem besten und sint an dem hœhsten. War umbe bevindest dû des niht? D â enbist dû d â h e i m e niht. ( DW I, S. 66,3-8) Der Prediger spricht seinen Zuhörer mit dû erneut direkt an und scheint ihn in einem geteilten Wahrnehmungsraum direktional zu lenken. Das erste, schon durch die syntaktische Stellung hervorgehobene Adverb dâ weist textintern anaphorisch zurück auf das innerste der sêle . Zugleich aber weist der Prediger seinen Zuhörer mit dem deiktischen Lokaladverb ›dort‹ aus dem geteilten Hier und Jetzt der Kommunikationssituation hinaus. Das Innerste der Seele verortet er nicht im Zentrum des Wahrnehmungsraums (›hier‹), sondern außerhalb (›dort‹) - und stellt damit die Abgeschlossenheit jenes Innersten heraus, das sich dem suchenden Zugang entzieht. ›Dort‹, im eigenen Innersten der Seele, das als intim-vertrauter Ort semantisiert wird ( dâ heime ), sind die Dinge als höchste Gabe gerade nicht für jeden gegenwertic , sondern nur für ›dich‹. Solange man ›dort‹ jedoch nicht ist, kann man auch die Präsenz Gottes nicht wahrnehmen, der eigenlîche immer schon da ist. Wenn der Prediger im Anschluss eine Stufenfolge zunehmender Allgemeinheit erläutert, steht die Vorstellung von Gott als dem Prinzip aller Dinge im Hintergrund, das sich in die Dinge ebenso gibt wie in das Innerste der Seele. Noch einmal spricht der Prediger dabei mit einem ›ich‹, das exemplarische Qualität hat. Sô daz dinc ie edeler ist, sô ez ie gemeiner ist. Den sin hân i c h gemeine mit den tieren und daz leben ist mir gemeine mit den boumen. Daz wesen ist mir noch inner, daz hân ich gemeine mit allen crêatûren. Der himel ist mêrer dan allez, daz under im ist; dar umbe ist er ouch edeler. Ie diu dinc edeler sint, ie mêrer und ie gemeiner sie sint. Diu m i n n e ist edel, wan si gemeine ist. ( DW I, S. 66,8-67,4) Umso allgemeiner sie ist, umso mehr wird die Vielheit der Dinge durchlässig hin auf Gott als ihr eines Prinzip, das in der Vielheit der Dinge nur schwer als Eines in den Blick treten 30 Ebd., S. 778. 31 So betrachtet, wird das Thema der Gabe transparent auf die Frage nach der Art des Bezugs der Seele auf das göttliche Sein, die für Eckharts Einheitskonzeption zentral ist. Zur Univozität als Korrelationsprinzip bei Eckhart vgl. grundlegend Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983. 78 II. Analysen kann. Umso mehr die Differenzierung zurücktritt, umso mehr wird aber »die in der Vielheit entfaltete Welt der Dinge auf Gott zurück[ge]führt.« 32 Niklaus Largier macht deutlich, warum deshalb auch hier die Liebe ( minne ) den Abschluss der Stufenfolge bildet: »Das Allgemeinste ist die Liebe, denn sie hebt alle Differenz, alle Abgrenzung des Besonderen gegenüber dem Einen auf«. 33 Dieses Moment der Allgemeinheit der Liebe bildet den Anschlusspunkt für die nächste Textpassage des Abschnitts, in der der Prediger auf die Nächstenliebe zu sprechen kommt. Ich gehe genauer auf diese Passage ein, um den Umbruch hervortreten zu lassen, der sich zum Ende hin abzeichnet, wenn sich erneut ein bedeutsamer Umschwung der Rede in die Du-Anrede vollzieht. Auch hier scheint sich im Fortschreiten der Rede ein Bogen über den Text zu legen, der auf den abschließenden Umschwung in die Du-Anrede zuführt. E z s c h î n e t s w æ r e , daz unser herre geboten hât, daz man den ebenkristen minnen sol als sich selben. Diz sprechent gemeinlîche g r o b e l i u t e , ez süle alsô sîn: man süle sie ze dem guote minnen, dâ man sich selber zuo minnet. Nein, ez enist niht alsô. Man sol sie als sêre minnen als sich selber, und d a z i s t n i h t s w æ r e . W e l l e t i r z eben m e r k e n , sô ist minne mê lônes wert dan ein gebot. Daz gebot schînet swære, und der lôn ist begirlich. S w e r got minnet, a l s e r i n m i n n e n s o l u n d o u c h m i n n e n m u o z , er welle oder enwelle, und als in alle crêatûren minnent, d e r muoz sînen ebenmenschen minnen als sich selben und s i c h s î n e r v r ö u d e n v r ö u w e n a l s s î n e r e i g e n e n v r ö u d e n u n d s î n e r ê r e n a l s s ê r e b e g e r n a l s s î n e r e i g e n e r ê r e n , und den vremden als den sînen. Und alsô ist d e r m e n s c h e alle zît i n v r ö u d e n , i n ê r e n u n d i n n u t z e , sô ist er r e h t e a l s i n h i m e l r î c h e , und alsô hât er dicker v r ö u d e n dan ob er sich aleine sînes guotes v r ö u w e t e . Und w i z z e t in der wârheit: ist d i r genühticlîcher dîn eigen êre dan eines andern, sô ist im unreht. ( DW I, S. 67,5-68,8) Abermals entwickelt sich der Gedankengang schrittweise, wobei sich im zweiten Teil der Textpassage an die Stelle der argumentativen Erörterung, auf die der Prediger zunächst abhebt, ein anderer Redemodus schiebt. In einem ersten argumentativen Schritt wird die These gesetzt: Den Mitchristen soll man lieben wie sich selbst. Den anschließenden Einwurf, dass man seinen Nächsten »auf ein gemeinsames Gut hin, also intentional zu lieben habe«, 34 weist der Prediger groben liuten zu; Karl Heinz Witte paraphrasiert treffend: »gedankenlose Menschen, die den allgemeinen Meinungen anhängen«. 35 Über die Figur der groben liute distanziert der Prediger sich von der zitierten Sicht; der Konjunktiv schreibt diese Distanzierung fort. Im Wechsel von Zitat und Erwiderung, die sich anschließt, inszeniert die Rede den Umschwung in der Perspektive, den der Prediger vollzieht, wenn er im Anschluss den Kern des Gebots zur Nächstenliebe darlegt, von dem er behauptet, dass es nicht swære sei, auch wenn es so scheinen möge. Dazu wendet er sich anschließend zunächst direkt im Plural der zweiten Person an seine Zuhörer, die er noch einmal zur Aufmerksamkeit auffordert: Wellet irz […] merken . Er setzt den Begriff der Liebe entschieden ab von dem Gedanken der Pflicht, der mit der Vorstellung eines Gebots verbunden ist; sein Begriff der Nächstenliebe fasst diese minne 32 Largier, Kommentar, S. 787. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 788. 35 Witte, Meister Eckhart, S. 75. Vgl. dazu auch Rolf Schönberger, Wer sind »grobe liute«? Eckharts Reflexion des Verstehens, in: Meister Eckhart: Lebensstationen - Redesituationen, hg. von Klaus Jacobi, Berlin 1997 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens NF 7), S. 239-259. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 79 mit Blick auf den gemeinsamen Grund, den alle Menschen jenseits individueller Entfaltung teilen, insofern sie eins mit der Liebe Gottes sind. 36 Damit wird die in der vorangegangenen Passage entwickelte Stufung zunehmender Allgemeinheit fortgeführt. »Diese Liebe ist nicht intentional, kennt also kein ›Warum‹, da sie aus der Selbstmitteilung Gottes unmittelbar erwächst und sich aus der Gegenwart Gottes in der Kreatur entfaltet.« 37 Wer Gott in diesem Sinn liebt, muss den Mitmenschen wie sich selbst lieben: Es liegt nahe, die sich weit aufspannende Syntax an dieser Stelle als Spiegelung der Kraft zu lesen, als die die minne gedacht ist, in und mit der der Mensch Gott minnen sol und ouch minnen muoz , ob er es will oder nicht. Vom einleitenden verallgemeinernden Relativpronomen an ( swer ) spannt der Satz einen Bogen auf, bis er in der polysyndetischen Reihung paralleler Infinitivkonstruktionen ausläuft, die ausbreiten, was damit verbunden ist, den Mitmenschen wie sich selbst zu lieben. Im Spiel mit dem Klang der Worte ( sich sîner vröuden vröuwen als sîner eigenen vröuden , sîner êren als sêre begern als sîner eigener êren ) setzt sich die Intensivierung sprachlich fort. Wenn der Prediger betont, dass der Mensch, der Gott und den Mitmenschen auf diesen gemeinsamen Grund hin lieben könne, beständig in vröuden, in êren und in nutze , rehte als in himelrîche stehe, führt er nicht nur das Klangspiel von vröude und vröuwen fort. Auch hier zeichnet sich ab, wie die zuvor eröffnete weitere Perspektive schrittweise in die Konkretion überführt wird: An die Stelle der swer der -Formulierung, die zuvor die Perspektive generalisierend aufgespannt hatte, tritt nun die Verengung des Blicks hin auf ›den Menschen‹ ( der mensche ). Mit der direkten Anrede im Plural der zweiten Person ( wizzet ) rücken anschließend die Zuhörer in den Fokus des Predigers - der, wenn er das Gesagte auf sie hin zur Anwendung bringt, noch einen Schritt weiter geht und pointierend in die Du-Anrede wechselt. Auch hier scheint sich die Übertragung, die der Prediger vornimmt, in und mit der Bewegung, die die Textpassage an dieser Stelle ausgestaltet, selbst zu vollziehen. Wenn Gott nicht nur im innersten des Menschen lebt, sondern überhaupt als Prinzip in allen Kreaturen ist, dann muss jedes Suchen nach etwas, das nicht Gott ist, ihn selbst immer schon verfehlen: Diesen Grundgedanken entwickelt die nächste Textpassage, und der Prediger fasst die ›Instrumentalisierung‹ Gottes, die er kritisiert, in ein prägnantes Bild. W i z z e s t daz, s w e n n e dû iht suochest des dînen, s ô envindest dû got niemer, wan dû got niht lûterlîchen suochest. D û suochest etwaz mit gote und tuost rehte als dû von gote eine kerzen machtest, daz m a n etwaz dâ mite suoche; und sô man diu dinc vindet, diu man suochet, sô wirfet man die kerzen enwec. A l s ô t u o s t d û : swaz dû mit gote suochest, daz enist niht, s w a z e z j o c h s î , ez sî nutz o d e r lôn o d e r innerkeit o d e r s w a z e z j o c h s î ; dû suochest n i h t , dar umbe envindest dû ouch n i h t . Daz dû n i h t envindest, daz enist kein sache anders, wan daz dû n i h t ensuochest. ( DW I, S. 69,1-8) Konstant bleibt die Rede im personalen dû . 38 Der argumentative Aufbau der Stelle läuft auf die Pointierung zu, die in den letzten Sätzen erzielt wird. Er entfaltet sich im Ausgang 36 Vgl. Largier, Kommentar, S. 788. 37 Ebd. 38 Es ist die einzige Stelle im Predigtverlauf, an der eine der formelhaften Aufforderungen zur Aufmerksamkeit, die den Text strukturieren, sich an die zweite Person Singular richtet ( wizzest ). Vgl. dagegen: Nû merket! Ir sult daz wizzen (DW I, S. 61,1); Eyâ, nû merket iuch selber (DW I, S. 63,11); merket mit vlîze! (DW I, S. 65,1); Wellet irz eben merken (DW I, S. 67,9); Eyâ, nû merket ein wâr wort! (DW I, S. 71,1); Nû merket daz wort (DW I, S. 73,6); und wizzet daz in der wârheit (DW I, S. 73,8). 80 II. Analysen von der allgemeinen Behauptung (›solange du das Eigene suchst, findest du Gott nicht‹) über den konkreten Vergleich, der fließend in die generalisierende Perspektive mit ›man‹ übergeht (›das ist, wie wenn man Gott als Kerze verwenden würde, mit der man etwas anderes sucht; anschließend wirft man sie weg‹), um dann erneut und verstärkend auf das dû hin zur Anwendung gebracht zu werden (›das machst du‹). Auch hier trägt die Syntax, die in der durch swaz ez joch sî gerahmten, reihenden Aufzählung die Verallgemeinerung inszeniert, dazu bei, den Umbruch nur stärker hervortreten zu lassen, der den Schlusspunkt des Satzes bildet. Die Semantik des Wortes niht ausreizend, das als Negationsadverb ›nicht‹, substantivisch verwendet ›Nichts‹ bedeuten kann, spielen die beiden letzten Sätze dann die tautologisch klingende Aussage, wer ›nichts‹ suche, finde auch ›nichts‹, zweifach durch. Die Ambiguität des niht , verbunden mit den beiden Verben, die transitiv oder intransitiv verwendet werden können, hält die Aussage an dieser Stelle jeweils noch offen für beide möglichen Aktualisierungen, 39 sodass die Predigt wirklich im Sinn einer rhetorischen Pointe ihren Zuhörer zu eigener Gedankenarbeit provoziert. 40 Auf der Inhaltsebene korrespondiert dem so rhetorisch inszenierten Umschwung die radikale Umwertung eines Strebens nach nutz oder lôn oder innerkeit , das der Prediger als von Grund auf falsch verstandene Suche nach Gott ausweist. 41 Die Folie dafür bildet die Vorstellung, dass alles, was nicht Gott selbst ist, sein Sein nur von und durch Gott hat, was die folgenden Sätze der Predigt verdeutlichen. A l l e c r ê a t û r e n s i n t e i n l û t e r n i h t . Ich spriche niht, daz sie kleine sîn oder iht sîn: sie sint ein lûter niht. Swaz niht wesens enhât, daz enist niht. Alle crêatûren hânt kein wesen, wan ir wesen swebet an der gegenwerticheit gotes. Kêrte sich got ab allen crêatûren einen ougenblik, sô würden sie ze nihte. I c h s p r a c h e t w e n n e u n d i s t o u c h w â r : der alle die werlt næme mit gote, der enhæte niht mê, dan ob er got aleine hæte. Alle crêatûren hânt niht mê âne got, dan ein mücke hæte âne got, rehte glîch noch minner noch mê. ( DW I, S. 69,8-70,7) Alle Geschöpfe sind für sich genommen ein reines Nichts: Welche Sprengkraft die Ausführungen zu den Kreaturen als ein lûter niht haben, spiegeln die Prozessakten wider. 42 Damit wird, wie Volker Leppin bemerkt hat, in dieser Predigt auch die Schöpfung als Gabe Gottes perspektiviert, in der die Grenzen von Geber, Gabe und Empfänger aufgehoben sind. 43 Mit dem nun wieder steigenden Abstraktionsniveau ist auch die Du-Anrede zurückgenommen, 39 Quint weist in der Anmerkung darauf hin, dass die niht »alle substantivisch« seien und entsprechend »durch ›das Nichts‹ oder ›ein Nichts‹ übersetzt werden« müssten, DW I, S. 69, Anm. 1. Im Text eindeutig substantivisch verwendet wird niht jedoch erst im Anschluss, wenn der Prediger darauf zu sprechen kommt, dass alle Kreaturen, sofern sie ihr Sein nur von und durch Gott haben, für sich genommen ein lûter niht seien: DW I, S. 69,8. 40 Vgl. Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, Ismaning 1990, S. 62 (§ 166), zur Pointierung als »Provokation des Zuhörers zu eigener Gedankenarbeit«. 41 Vgl. auch Pr. 26, DW II, S. 26,6 f.: Suochest dû got und suochest dû got umbe dînen eigenen nutz oder umbe dîne eigene sælicheit, in der wârheit, sô ensuochest dû got nicht. 42 So verurteilt der 26. Artikel der Bulle auch diesen Satz: Vicesimussextus articulus: »Omnes creature sunt unum purum nichil. Non dico quod sint quid modicum vel aliquid, sed quod sint unum purum nichil.« Acta Echardiana, LW V, S. 599,23 f. Es ist auffällig, wie die brisante Aussage in der Predigt an dieser Stelle abgesichert wird, indem der Prediger sie als syllogistischen Beweis inszeniert: Alles, was kein Sein hat, ist ein Nichts; alle Kreaturen haben kein Sein - daraus folgt (in dieser schematisierten Form): alle Kreaturen sind ein Nichts. In der Predigt ist die Konklusion vorangestellt. 43 Vgl. Leppin, »die aller beste gâbe«, S. 233 f. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 81 und die Stimme des Predigers bestimmt sich nicht über die Anrede, sondern bezieht sich erneut auf sich selbst und auf die Wahrheit zurück. Erst zum Abschluss dieser Textpassage hin bricht die Redehaltung noch einmal um. Eyâ, nû m e r k e t ein wâr wort! Gæbe e i n m e n s c h e tûsent mark goldes, daz man dâ mite kirchen und klœster machte, daz wære ein grôz dinc. Nochdenne hæte d e r vil mê geben, der tûsent mark vür niht geahten künde; der hæte verre mê getân dan jener. ( DW I, S. 71,1-4) Mit der direkten Anrede im Plural der zweiten Person setzt der Prediger neu an; wieder werden die Zuhörer mit der Aufforderung, auf das Folgende zu achten ( merken ), zur Aufmerksamkeit gemahnt. Wenn der Prediger das Beispiel einführt, dass derjenige, der tausend Mark Goldes als nichtig ansehen könne, viel mehr gegeben habe als der, der den gleichen Betrag hingäbe, um Kirchen und Klöster bauen zu lassen, zeichnet sich ab, welche Transformation das Thema der Gabe im Lauf der Predigt bis hierher erfahren hat. Vor der absoluten Perspektive von Gottes Gabe an den Menschen, der dem Menschen alles gibt und ohne dessen Sein alle Kreaturen überhaupt ein Nichts sind, ist die Perspektive menschlicher Gabe ( tûsent mark goldes für Kirchen und Klöster geben) nicht beschränkt, sondern nichtig. Der Prediger hat offengelegt, wie alles Streben nach Eigenem die Differenz zu Gott nur verfestigt. In der Verlängerung dieser Perspektive verfehlt alles Geben, insofern es zweckgerichtet ist, im eigentlichen Sinn Gott. So tritt dann für den Menschen gerade der Verzicht zu geben neu als Gabe in den Blick. Zugleich wird das Verhältnis von Mensch und Gott auf den Grund hin transparent gemacht, in dem Gott sich der Seele mitteilt, die er sich gleich gemacht habe. D ô got alle crêatûren geschuof, d ô wâren sie sô snœde und sô enge, daz er sich niht dar inne beregen mohte. Doch machte er im die sêle sô glîch und sô ebenmæzic, ûf daz er sich der sêle gegeben möhte; wan swaz er ir anders gæbe, des enahtet si niht. Got m u o z m i r sich selber geben als eigen, als er sîn selbes ist, oder mir enwirt niht noch ensmecket mir niht. S w e r in alsus zemâle enpfâhen sol, d e r muoz zemâle sich selben ergeben hân und sîn selbes ûzgegangen sîn; d e r enpfæhet glîch von gote allez, daz er hât, als eigen als erz selber hât und unser vrouwe und alle, die im himelrîche sint: daz ist disen als glîch und als eigen. D i e alsô glîch ûzgegangen sint und sich selben ergeben hânt, d i e sulen ouch glîch enpfâhen und niht minner. ( DW I, S. 71,4-72,5) Wenn der Prediger betont, dass Gott sich geben müsse, ist der plötzliche Wechsel in die Ich- Form der Rede auffällig, und wieder scheint die Predigt die Intensität, die aus ihr spricht, in und mit einem solchen Umschlagsmoment erst zu erzeugen. Die Ich-Rede entwickelt an dieser Stelle eine Kraft, die über das hinausgeht, was ich oben als exemplarisches Ich bezeichnet habe. Die Ich-Rede erzeugt hier unmittelbare Evidenz. 44 Sie bezieht ihre Kraft daraus, dass sie die generalisierende Rede durchbricht, aber auch im Umbrechen aus der Narration in die präsentische Form der Rede - ein Präsens, in dem sich überzeitliche Aktualität (die Aussage: Gott muss sich geben) und das Hier und Jetzt der Predigtsituation (die Konkretisierung hin auf den Sprecher, angezeigt im deiktischen Pronomen: Gott muss 44 Mit ›Evidenz‹ beziehe ich mich nicht auf die detaillierte Schilderung einer evidentia , mit der ein Redner seinem Publikum einen Gegenstand vor Augen stellt (vgl. Lausberg, Handbuch, S. 400 [§ 810]), wohl aber auf den Gebrauch des Präsens (Lausberg, Handbuch, S. 404-406 [§ 814]) und den »Gebrauch der die Anwesenheit ausdrückenden Ortsadverbien und Pronominalstämme« (Lausberg, Handbuch, S. 406 [§ 815]), die Teil des rhetorischen Evidenz-Begriffs sind. Zur »Evidenz der Ich-Rede« vgl. auch Hasebrink, Diesseits? , S. 200. 82 II. Analysen sich ›mir‹ geben) übereinanderlegen. Eine solche Ich-Rede zielt indes, wie Päivi Mehtonen zu Recht herausstellt hat, nicht auf Individualität, sondern im Grunde genommen darauf, von Eigenem freizuwerden, das heißt auf »liberation from the trappings of individual subjectivity«. 45 Mit dem Wechsel in die Ich-Rede geht daher eine Spannung von Abstraktion (dem Freiwerden von Eigenem) und Konkretion (›ich‹) einher - wie sie im Letzten dem Pronomen selbst eigen ist, dessen Referenz sich im Hier und Jetzt der Predigt erfüllt, ohne sich im Bezug auf den Sprecher der Rede zu erschöpfen. In dieses ›ich‹ kann sich jeder einsetzen, der den Weg mitgeht, auf den die Predigt ihn weist. Diesen Weg deutet der Abschluss des Abschnitts an. S w e r in a l s u s zemâle enpfâhen sol, d e r muoz zemâle sich selben ergeben hân und sîn selbes ûzgegangen sîn; d e r enpfæhet glîch von gote allez, daz er hât, als eigen als erz selber hât und unser vrouwe und alle, die im himelrîche sint: daz ist d i s e n als glîch und als eigen. D i e alsô glîch ûzgegangen sint und sich selben ergeben hânt, d i e sulen ouch glîch enpfâhen und niht minner. ( DW I, S. 71,9-72,5) Auch hier zeichnet sich im Textverlauf eine Bewegung ab. Verglichen mit der vorangegangenen Ich-Rede, auf die mit alsus anaphorisch rückverwiesen wird, öffnet sich nun die Perspektive, angezeigt im verallgemeinernden Relativsatz ( swer , der ). Wer Gott so empfangen wolle, müsse den Bezug auf alles Eigene aufgeben haben. Wer frei von allem Eigenen sei, der empfange von Gott allez, daz er hât, als eigen als erz selber hât , so faltet der Prediger aus - um anschließend den Blick zurückzulenken, nun aber nicht mehr in der weiteren, generalisierenden Perspektive, sondern im Modus unmittelbaren Zeigens ( disen ; die , die ). Dadurch, dass der letzte Satz, chiastisch verschränkt, die Glieder des ersten wieder aufgreift, wird die generelle Perspektive gleichsam in eine Zeigegeste überführt. Der Prediger variiert in diesem Dispositionsabschnitt insgesamt nicht mehr den Gedanken, dass alles, was Gott gebe, das Beste für den Menschen sei, sondern lotet die Implikationen der beständigen Selbstmitteilung Gottes im Innersten der Seele aus. Damit tritt an die Stelle der praktischen Ausrichtung des ersten Abschnitts ein deutlich höheres Abstraktionsniveau. Gleichwohl bleibt die Ausrichtung der Predigt an ihren unterstellten Adressaten auch in diesem Abschnitt unverkennbar, wenn der Prediger wiederholt die ontologische Dimension auf ihre ethischen Implikationen hin transparent macht. Vor dem Hintergrund von Gottes Gabe an die Seele, in der »das Individuelle und Besondere überwunden [ist] auf das Sein hin, das allem gemein ist«, 46 wird das Gebot der Nächstenliebe neu perspektiviert. Die Abhängigkeit aller Geschöpfe vom Sein Gottes bildet die Folie, vor der der Prediger ausweist, wie alles Streben nach etwas, das nicht Gott ist, ins Leere läuft und die Differenz zur Transzendenz nur verfestigt, statt sie zu überwinden. Darin, dass Gott nicht etwas Beliebiges gibt, sondern sich selbst mitteilt, ist die Umwertung des Suchens begründet, die dieser Abschnitt vornimmt: Wer irgendetwas außer Gott sucht, sucht (und findet) nicht (und nichts). Mit dieser prägnanten Umwertung weist der Prediger grundlegend auf die strukturelle Aporie eines Strebens nach nutz oder lôn oder innerkeit . Wer Gott als Mittel verwendet, um etwas anderes zu bekommen, verfehlt ihn, gleich ob das, was gesucht wird, vordergründig auf den eigenen Nutzen zielt ( nutz oder lôn ) oder auf den Weg zu Gott führen soll ( innerkeit ). 45 Mehtonen, The Apophatic First-Person Speaker, S. 87. 46 Largier, Kommentar, S. 778. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 83 Die Struktur ist die gleiche: Diese Form des Suchens verfestigt das Eigene; Gott verfehlt sie. Der Prediger spricht damit diejenigen an, die noch an ihrer eigenen êre festhalten - und für die vor diesem Hintergrund nicht nur die Vorstellung swære erscheint, den Mitmenschen in Eckharts Sinn wie sich selbst zu lieben, sondern die eben auch die skizzierte Struktur instrumentalisierenden Denkens noch nicht überwunden haben, und das heißt zugespitzt: die den Grund in sich nicht bevinden . Dieser Position der unterstellten Adressaten der Predigt entgegengesetzt ist die Perspektive, die der Prediger am Ende dieses Abschnitts andeutet, wenn er betont, dass nur diejenigen von Gott glîch empfangen, die alsô glîch ûzgegangen sint und sich selben ergeben hânt . Er öffnet so den Weg, den der letzte Abschnitt der Predigt ausschreiten wird, der das Empfangen von Gott entschieden als Aufgeben des Eigenen umdeuten wird. Damit, wie der Prediger das Suchen umwertet, kehrt er die Perspektive um, in der in der Klosterkultur innerkeit als Form innerer Weltabkehr in der Kontemplation als Weg zu Gott gedacht ist. Hier wie im vorangegangenen Predigtabschnitt weist er auf die Spannung hin, mit der diese Form von Selbstbezug die Differenz zur Transzendenz nicht überwindet, sondern nur verfestigt. Ganz ähnlich wie in den Rede der underscheidunge , die folglich wirklich zu einem engen Bezugstext für diese Predigt werden, stellt Eckhart dieser Sicht hier (noch) nicht das radikale Modell geistlicher Armut entgegen, das am deutlichsten wohl die ›Armutspredigt‹ entwickeln wird. 47 Wenn der Prediger betont, dass derjenige von Gott empfange, der sîn selbes ûzgegangen sei, so weist auch er - um die Nähe zu den Rede der underscheidunge zu betonen - seinen Zuhörer auf einen Weg, »der sich, obwohl er doch gerade die Paradoxie der Weltverneinung überwinden wollte, selbst in paradoxer Weise als ›wegloser Weg‹ erweis[t]«. 48 Neben dieser thematischen Umwertung lässt sich auch in diesem Predigtabschnitt weiter verfolgen, was ich oben als Dynamisierung der Anrede beschrieben habe. Auch hier schwingt an zwei Stellen im Textverlauf die Rede so auffällig in die Du-Anrede um, dass sich damit ein ganz eigener Effekt verbindet. Der erste Umschwung korrespondiert der Hinwendung zum innersten der sêle . Die Rede gewinnt an dieser Stelle eine Wirkkraft, in und mit der sich das Zeigen auf das Innerste der Seele in der Hinwendung an das Gegenüber der Rede vollzieht, sodass der angesprochenen Innigung der Gestus der Rede zu korrespondieren scheint. An der zweiten Stelle geht der Wechsel der Anrede damit einher, dass der Prediger die Ausführungen zur Nächstenliebe in ihrer Bedeutung für den Einzelnen zusammenfasst und dabei regelrecht auf ihn zulaufen lässt. Im Ganzen organisiert sich die Predigt nun jedoch weniger als zu Beginn über solche Formen intensivierender Anrede, sondern mehr über die erörternde Entfaltung einzelner Argumente. Ein Moment kommt hierbei besonders zum Tragen: das Hin-und-Her-Spielen der Rede zwischen Konkretion und Abstraktion, das sich textuell in unterschiedlicher Weise niederschlägt - im Wechsel von abstrakter Argumentation und konkreter Bildlichkeit ( dû […] tuost rehte, als dû von got eine kerzen machtest ), auf der Ebene der Syntax, wenn die generalisierende in eine demonstrative Perspektive überführt wird ( swer , der ; die , die ), schließlich zentral auf der Ebene personaler Deixis, wenn die Rede dort, wo es um die Unmittelbarkeit von Gottes Geben geht, in die Ich-Form umschwingt und ein ›ich‹ aufruft, das seine Kraft daraus zu beziehen scheint, dass es im Hier und Jetzt der Predigt dieses Hier und Jetzt 47 Zu dieser Abgrenzung vgl. Hasebrink, sich erbilden , S. 134 f. 48 Ebd., S. 135. 84 II. Analysen transgrediert. Ein solches ›ich‹, zugleich maximal konkret, wäre selbst eine Figur der Abstraktion, insofern es sich nicht in der individuellen Referenz auf den Sprecher erschöpft, sondern die Rede nach außen hin öffnet auf jeden, der sich in die Position dieses ›ich‹ einsetzen kann. Schrittweise überführt der Prediger im Verlauf dieses Dispositionsabschnitts die Idee, dass Gott dem Menschen etwas geben könnte, in die Vorstellung einer absoluten Gabe. Geben und Empfangen werden dabei zu einer dynamischen Einheit, in der das eine nicht ohne das andere zu denken ist und in der sich Geber und Empfänger nur in der Perspektive unterscheiden. Der Prediger ist damit bei dem Thema angelangt, auf das die Predigt im Ganzen hinführt 49 und das der nächste Abschnitt weiter ausgestalten wird: die Gottesgeburt in der Seele. 2.3 Vom Vater der Lichter. Identifizierung im Vollzug Der dritte, verhältnismäßig kurze Dispositionsabschnitt ( DW I, S. 72,6-73,5) bildet eine Scharnierstelle für die Predigt im Ganzen, die sich in diesem Abschnitt gleichsam auf ihr Zentrum ausrichtet. Das zeigt sich schon daran, dass der Prediger erstmals nicht mehr der linearen Ordnung des Schrifttexts folgt, sondern die Reihenfolge der Elemente ›von oben herab‹ und ›vom Vater der Lichter‹ umkehrt. Die Predigt schafft sich so ihre eigene Ordnung, in der dieser Abschnitt mit dem Thema der Gottesgeburt zur entscheidenden Umschlagstelle wird. D a z d r i t t e w o r t i s t › v o n d e m v a t e r d e r l i e h t e ‹ . An dem w o r t e › v a t e r ‹ verstât man sunlicheit, und daz w o r t › v a t e r ‹ liutet ein l û t e r g e b e r n und ist ein l e b e n a l l e r d i n g e . Der vater gebirt sînen sun in dem êwigen verstantnisse, und alsô gebirt der vater sînen sun in der sêle als in sîner eigenen natûre und gebirt in der sêle ze eigen, und sîn wesen hanget dar an, daz er in der sêle gebere sînen sun, ez sî im liep oder leit. ( DW I, S. 72,6-11) Abermals leitet der Prediger den neuen thematischen Abschnitt ein, indem er den entsprechenden Teil des Schriftworts gliedernd wiederholt, um sofort das Wort herauszugreifen, um das es ihm geht. Mit dem Wort ›Vater‹, so beginnt der Prediger, sei ›Sohnschaft‹ 50 verbunden: Vater ist jemand nur, insofern er ein Kind hervorbringt; das Wort schon impliziert das Gebären des Sohns und ist insofern Quelle allen Lebens. So wie der Vater den Sohn in dem êwigen verstantnisse gebäre, genauso gebäre der Vater den Sohn in der Seele wie in seiner eigenen Natur; er gebäre ihn der Seele zu eigen; und sein Sein hänge daran, dass er den Sohn in der Seele gebäre, ez sî im liep oder leit : Wir bewegen uns damit im Bereich der Trinitätslehre Eckharts, in der es um den »Hervorgang […] des Sohnes aus dem Vater als […] Akt des Erkennens« 51 geht. Der Prediger setzt die Gottesgeburt in der Seele mit dem trinitarischen Hervorgehen des Sohns aus dem Vater gleich. Betont wird aufs Neue, dass die Geburt sich notwendig und unmittelbar vollziehe. Hatte der Prediger zuvor darauf insistiert, dass Gott nicht umhin könne zu geben und sich mitzuteilen, so wird die gleiche Notwendigkeit nun aus dieser Perspektive in den Blick gefasst. Wieder ließe sich ausführlicher beschreiben, wie sich auch hier die Innigkeit des beschriebenen Vollzugs auf der Textoberfläche in der variierend-parallel geführten Reihung syntaktischer Glieder nieder- 49 Vgl. Ruh, Predigt 4, S. 13. 50 So die Übersetzung Quints, DW I, S. 444. 51 Ruh, Predigt 4, S. 17. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 85 schlägt, die ineinandergreifen und sich steigern. Zentral für meine Fragestellung ist jedoch der weitere Verlauf der Predigt, in dem die Rede wiederum eine eigene Form von Evidenz erzeugt. Der Prediger schließt an die Ausführungen zur Sohnesgeburt noch einen Fortsatz an, der noch einmal als Selbstzitat eingeleitet wird. Ich wart einest gevrâget, waz der vater tæte in dem himel? Dô sprach ich: er gebirt sînen sun, und das werk ist im sô lüstlich und gevellet im sô wol, daz er niemer anders getuot dan gebern sînen sun, und sie beide blüejent ûz den heiligen geist. ( DW I, S. 72,11-14) Anders als in anderen Rückverweisen, die nur minimal narrativen Charakter haben, ist der Verweis hier zu einer kleinen Erzählsequenz ausgearbeitet. 52 Was er beschreibt, greift das zuvor angesprochene Thema der Sohnesgeburt im trinitarischen Geschehen auf und semantisiert es als ›Lust‹ für Gott. 53 Im Folgenden bricht die Perspektive um, und zwar nicht nur von der Betrachtung des trinitarischen Geschehens auf die Gottesgeburt in der Seele, sondern auch mit Blick auf die Sprechhaltung, in der mehrere Ebenen überblendet werden. Es kommt mir auf diese Sätze an: D â der vater sînen sun i n m i r gebirt , d â b i n i c h d e r s e l b e s u n u n d n i h t e i n a n d e r ; w i r sîn wol ein ander an menscheit, aber d â b i n i c h d e r s e l b e s u n u n d n i h t e i n a n d e r . ›Dâ wir süne sîn, dâ sîn wir rehte erben‹. Der die wârheit bekennet, der weiz wol, daz daz wort ›vater‹ treit in sich ein lûter gebern und süne ze habenne. Dar umbe sîn w i r hie in disem sun u n d s î n d e r s e l b e s u n . ( DW I, S. 72,14-73,5) Der Blick des Predigers richtet sich nun nicht mehr auf das werk des Vaters im Himmel, sondern auf das Werk in ›mir‹. 54 Auffällig schwingt die Rede in die Ich-Form um; in der Wiederholung in mir , ich , ich verdichtet sich die Rede zu Beginn der Passage. Das ›ich‹, mit dem der Prediger spricht, ist wiederum entschieden mehr als die individuelle Stimme des Predigers. 55 Man könnte ihm exemplarische Qualität zusprechen, insofern das, was der Prediger ausführt, in gewisser Weise für jeden Menschen gilt. Das greift aber zu kurz, denn es ist auffällig, wie häufig in den Predigten die Rede in die Ich-Form wechselt, wenn es um die Geburt des Sohnes in ›mir‹ geht. 56 Die Ich-Form der Rede gewinnt an Stellen wie dieser eine ganz eigene performative Kraft, die die Aktualität der Geburt in ›mir‹ (wie in jedem 52 Die indirekte Redewiedergabe bei der Frage nimmt freilich mit dem distanzierenden Konjunktiv den Eindruck erzählender Vergegenwärtigung wieder ein Stück zurück. 53 Vgl. auch Leppin, »die aller beste gâbe«, S. 232: »Gott verflüchtigt sich […] nicht in eine abstrakte Benennung der Gottheit, sondern erscheint als personal verfasste Trinität, deren Personen […] auch Lust zugesprochen werden kann«. 54 Im Text ist nicht markiert, wie weit das zuvor eingeleitete Selbstzitat reicht. Formal betrachtet läuft die Ich-Rede fort, sodass nicht erkennbar ist, wo das Zitat endet und die aktuelle Rede des Predigers beginnt. Der syntaktische wie perspektivische Neueinsatz an dieser Stelle legt es jedoch nahe, das Selbstzitat als abgeschlossen zu betrachten. 55 Auch das spricht dagegen, diese Stelle als Fortsatz des Selbstzitats von oben zu betrachten. Im Selbstzitat stilisiert sich der Sprecher in eine Rolle, die ihre Kraft daraus gewinnt, dass sie sich als individuell, d. h. als ›Eckhart‹ markiert. Das ist hier entschieden überschritten. 56 Vgl. dazu auch Flasch, Meister Eckhart, S. 83: »Eckhart erklärt, alles liege daran, daß die ewige Geburt in mir geschieht. Er sagt nicht: In dir oder in jedem Menschen. Er bezieht die Aussage auf sich, damit jeder sie auf sich beziehe, und er fügt hinzu: Es ist dieselbe Geburt im ewigen Sohn wie in ›uns‹. Eckhart spitzt diesen Gedanken noch zu: Gott gebiert seinen Sohn in uns genau so, exakt in derselben Weise, wie er es in der Ewigkeit tut«. 86 II. Analysen Menschen) unmittelbar umzusetzen scheint. Die Kraft der Ich-Rede an dieser Stelle legt es nahe, von einem ›performativen Ich‹ zu sprechen. Gleich dreimal lenkt im ersten Satz dieser Passage ein demonstratives dâ die Aufmerksamkeit und verweist den Zuhörer zeigend auf den Ort der Sohnesgeburt in ›mir‹. Damit ist räumlich formuliert, was den Überstieg über räumliche Kategorien markiert. An diesem Ort wird nicht nur der Sohn in mir geboren, sondern dort bin ich der Sohn: Das Zugeständnis wir sîn wol ein ander an menscheit betont zwar die zugleich auch geltende Differenz, 57 die verstärkende Wiederholung der Aussage dâ bin ich der selbe sun und niht ein ander , die den Hinweis auf die Differenz geradezu syntaktisch einklammert, rückt die Identitätsaussage jedoch in den Fokus. Mit der dreifachen Betonung des dâ macht der Text sinnfällig deutlich, dass es dabei um die Perspektive geht. Denn der Sohn und ich sind unterschieden im Hinblick auf das trennende Moment der menscheit , das heißt: »Wir sind nicht dem in die Welt geborenen Jesus Christus gleich«, 58 in dem Grund aber, in dem die Geburt geschieht, bin ich der Sohn. 59 Die Identitätsaussage dâ bin ich der selbe sun und niht ein ander besitzt Sprengkraft. Kurt Ruh fasst sie pointiert zusammen: »Hier wird die Identität des Gottessohns mit dem in der Seele geborenen Sohn ohne analogische Absicherung ausgesprochen. […] Diese Univozität ist heterodox«. 60 Die Aussage in ihrer Schärfe stützt der Prediger im Anschluss auf zweifache Weise ab: über ein Schriftzitat und über den Verweis auf die Wahrheit; wer diese kenne, wisse, dass das Wort ›Vater‹ die Sohnschaft in sich trage. Für das Schriftzitat, das uneingeleitet in die Rede des Predigers inseriert ist, verschärft sich die Diagnose überblendeter Referenzen: Indem der Predigttext sich intertextuell auf einen weiteren Text hin öffnet, legt sich mit der Paulus-Stimme eine weitere Stimme über die des Predigers. 61 Dadurch wird erneut der Bezug des Personalpronomens ambivalent: wir lässt sich beziehen auf die Gemeinschaft von Prediger und Zuhörern, auf Paulus und seine Zuhörer, schließlich aber auch auf alle Menschen, die das Paulus-Wort ja anvisiert. Die Ebenen sind aufeinander durchlässig. 57 Wie die Referenz der deiktischem Pronomina mehrdeutig wird, lässt sich an dieser Stelle auch an dem Pronomen wir beobachten, das zwei Lesbzw. Verständnisarten möglich macht: wir sîn […] ein ander an menschheit lässt sich auffassen als inklusives ›wir‹, mit dem der Prediger sich und seine Zuhörerschaft zusammenschließt (›wir alle sind von ihm unterschieden‹), kann aber auch mit Blick auf das Ich der Rede und den Sohn verstanden werden (›er und ich sind unterschieden im Hinblick auf die menschheit ‹). Die Referenzen werden überblendet. 58 Ruh, Predigt 4, S. 19. 59 Wenn ich das dâ auf den Grund der Seele beziehe, in dem Gott und ›ich‹ immer schon eins sind, lese ich die Stelle leicht anders als Volker Leppin, der dâ als Verweis »auf eine jenseits der irdischen Realität […] gegebene Identitätsexistenz« (Leppin, »die aller beste gâbe«, S. 232) auffasst, mit der der Mensch antizipierend in die Trinität hineingenommen werde. 60 Ruh, Predigt 4, S. 19. 61 Dâ wir süne sîn, dâ sîn wir rehte erben ; der Passus aus dem Römerbrief führt den Gedanken der Sohnschaft stützend fort. In der zitierten Form passt der Text nicht ganz zu Eckharts Modell der Identität mit dem Sohn; erwartbar wäre eher der Singular als der Plural (›insofern wir Sohn sind‹). Vgl. zu diesem textkritischen Problem, das sich im Zusammenspiel lateinischer Parallelstellen in der Responsio , des Vulgata-Texts sowie einzelner Textfassungen dieser Predigt ergibt, die Übersicht bei Ruh, Predigt 4, S. 19. Die Spannung zwischen Singular und Plural lässt sich im weiteren Sinn als intertextueller Effekt einer Überblendung der Stimmen lesen, mit der die Plural-Form, wie sie in der Vulgata angelegt ist, so in den Text eingeschrieben wird, dass sie auf dessen Aussage, die auf den Singular zielt, hin transparent wird. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 87 Der Verweis auf die Wahrheit rahmt diesen Abschnitt und hebt ihn auf eine neue Stufe. Der Prediger kehrt zurück zu dem Wort Vater und betont, dass dieses ein lûter gebern bedeute. Indem er auf die wârheit als den Grund der Rede verweist und herausstellt, dass das richtige Verständnis des Wortes Vater sich für den ergebe, der die Wahrheit erkennen könne, fordert er implizit dazu auf, genau diesem Verständnis zu folgen. Damit ist die Passage jedoch noch nicht beendet, denn der Prediger schließt noch einen weiteren Satz an, der das Kernstück der Predigt im Ganzen bildet: Dar umbe sîn wir hie in disem sun und sîn der selbe sun . Die Stelle macht paradigmatisch deutlich, wie Eckharts Predigten die Aktualität der Sohnesgeburt nicht an bestimmte Räume der Heiligung binden, wie Burkhard Hasebrink betont hat. »Vielmehr verweisen sie auf die Gegenwart der Sohnschaft im Kommunikationsereignis der Predigt«. 62 Sie bietet ein gutes Beispiel für Eckharts Predigtverfahren, das, wie Susanne Köbele herausgearbeitet hat, immer wieder auf »Scheinbegründungen, Scheinschlüsse, […] interferierende, zirkuläre Argumentationsgänge« 63 setzt, die die Grenzen des Verstehens ausreizen. Die sprachliche Struktur, die Susanne Köbele und Burkhard Hasebrink aus wechselnden Perspektiven in den Blick gefasst haben als eine, in der die Aussagen über solche Verfahren »ins Oszillieren geraten«, 64 lässt auch an dieser Stelle die Konturen zwischen einer Argumentation, die den Zuhörer leitet, und einer Desorientierung des Zuhörers verschwimmen. Die Konjunktion dar umbe signalisiert ein Folgeverhältnis; was präsentiert wird, ist jedoch keine Folge, sondern variierende Wiederholung einer vorangegangenen Aussage. Zugleich aber geschieht an dieser Stelle mehr, als dass die angesprochene Identität mit dem Sohn nur noch einmal bekräftigend wiederholt würde. Wieder springt die Rede in ein inklusives wir , mit dem der Sprecher nun sich und seine Zuhörer zusammenschließt. Dabei gilt das, was der Prediger sagt, gerade nicht nur für eine bestimmte Gruppe von Rezipienten, sondern für alle Menschen, insofern Gott sich jedem Menschen im Grund der Seele ganz mitteilt. Wie sehr die Rede sich an dieser Stelle auf ihre Gegenwart zentriert, macht auch der Wechsel in der Zeigerichtung deutlich, den die lokalen Adverbien anzeigen. Hatte der Sprecher zuvor gleich dreifach mit dem Verweis auf das dâ der Geburt den Blick ›dort‹ hingelenkt, insistiert er nun auf dem ›Hier‹, in dem wir Sohn seien, mit einem gleich doppelten deiktischen Verweis ( hie , in disem ). Wollte man den Perspektivwechsel, wie er über die lokale Deixis angezeigt ist, mit den Kategorien beschreiben, mit denen Karl Bühler die drei Hauptfälle einer Deixis am Phantasma unterscheidet, so bräche hier der Fall einer distanzierten Fernschau vom eigenen Wahrnehmungsort aus um in eine Versetzung in der eigenen Vorstellung an einen anderen Ort. 65 Was Bühler beschreibt, indiziert auf anderer Ebene eine Bewegung im Text, in und mit der die Perspektive von einem distanzierenden Verweis ( dâ der vater sînen sun in mir gebirt ) an dieser Stelle um- und aufbricht hin auf die Gegenwart der Rede, in die der Zuhörer mit hineingenommen wird ( sîn wir hie in disem sun ). Ihre Fortsetzung und ihren Endpunkt findet diese Bewegung in der spannungsvollen Engführung der beiden parataktisch mit und verbundenen Satzteile, das hier als »jenes 62 Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 150. 63 Köbele, Predigt 16b, S. 64. 64 Ebd., S. 62. Ich stütze mich im Folgenden auf Susanne Köbeles Beschreibung jener Satzstruktur einer Einheitsaussage, in der ein vordergründig korrelierendes ›und‹ eine Sprengkraft entwickelt, die die Linearität der Aussage aufhebt, vgl. ebd., S. 62-64. 65 Vgl. Bühler, Sprachtheorie, S. 134 f. 88 II. Analysen harmlos beiordnende, doch über die Alternativen hinausgreifende ›und‹« 66 fungiert, das Susanne Köbele am Beispiel der Predigt 16b beschrieben hat. Schon der erste Teil des Satzes, dar umbe sîn wir hie in disem sun , lässt sich nicht eindeutig auflösen; worauf sich das deiktische Demonstrativpronomen ( in disem ) genau bezieht, bleibt offen. 67 Der Kontrast der beiden mit und korrelierten Satzteile und damit der Effekt, den der Umbruch erzielt, ist am größten, wenn man den ersten Satzteil auf ›hier in diesem Leben‹ bezieht. Das, was als bedingtes Verhältnis eingeführt worden ist, wird über das beiordnende ›und‹ in eine absolute Einheitsaussage überführt. Auch hier ist so »der letzte Satz nicht die lineare Fortsetzung, sondern radikale Überbietung des ersten.« 68 Liest man dieses Kippmoment mit Susanne Köbele als textuelle Praxis einer paradoxen Selbstaufhebung der Aussage, die eine ganz eigene Dynamik freisetzt, 69 so verschiebt sich der Fokus von dem, was an dieser Stelle propositional ausgesagt wird, zu der Performativität der Predigt. Dabei wird hier die Identität mit dem Sohn so ausgesagt, dass die Identitätsaussage als Prozess der Identifizierung aktuell wird. In der Struktur pronominaler Ersetzung wird der Angesprochene mit dem Kippen in die Wir-Form der Rede geradezu hineingenommen in diesen Prozess. So aktualisiert sich die Identifizierung mit dem Sohn für den impliziten Adressaten der Predigt im performativen Mitvollzug jener Bewegung selbst. Das Thema der Gottesgeburt, dessen philosophische Grundlage Eckharts Metaphysik des Seelengrundes bildet, 70 wird in diesem Predigtabschnitt nicht nur theoretisch erörtert, sondern die Predigt setzt die Bewegung, die damit verbunden ist, um. Insgesamt lässt sich an diesem Abschnitt beobachten, wie die Rede sich schrittweise steigert: von der erklärenden Auslegung des Wortes vater über das Selbstzitat, mit dem sich die Stimme des Predigers einbringt, das dann übergeht in die performativ aufgeladene Ich-Rede ( dâ der vater sînen sun in mir gebirt ), um schließlich in die Wir-Form umzuschlagen und dabei den angesprochenen Prozess der Identifizierung aktuell werden zu lassen. In dieser schrittweisen Intensivierung, die einen eigenen Sog erzeugt, schlägt sich das dynamische Moment der Geburt textuell nieder. Was ich im Ausgang von der Pronominalstruktur, der lokalen Deixis und jener Dynamik, die hier über die paradoxe Selbstaufhebung der Aussage freigesetzt wird (Köbele), als Prozess einer Identifizierung beschrieben habe, liegt auf einer anderen Ebene als der textinterner Repräsentation möglicher Adressatenbilder. Ließ sich in den vorangegangenen Predigtabschnitten noch in Umrissen greifen, was der Prediger bei seinen unterstellten Adressaten voraussetzt und aufgreift (der Wunsch nach andâht und innicheit ; ein Denken, das Alternativen abwägt, statt alles, was geschieht, als Gottes Willen anzunehmen), so bleibt die Rede in dieser Hinsicht nun vollkommen abstrakt. Es ist der implizite Adressat der 66 Köbele, Predigt 16b, S. 63. 67 Gemeint ist nicht, dass wir ›in diesem Sohn‹ seien (wir sind nicht ›im‹ Sohn, sondern wir sind der Sohn: disem verweist nicht auf sun ). Naheliegend ist es, hie in disem als ›hier in diesem Leben‹ zu verstehen (so Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 150, Anm. 32). Der demonstrative Gestus, mit dem im mhd. Text mit hie und in disem gleich doppelt auf das Hier und Jetzt der Rede verwiesen wird, geht in der kürzenden Übersetzung Quints, »Darum sind wir hierin Sohn« (DW I, S. 445), ein Stück weit verloren. Kurt Ruh dagegen übersetzt: »Darum sind wir hier in diesem Sinne Sohn«, Ruh, Predigt 4, S. 9. 68 Köbele, Predigt 16b, S. 64. 69 Vgl. ebd., S. 52. 70 Vgl. Flasch, Meister Eckhart, S. 241. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 89 Predigt, den die skizzierte Bewegung affiziert, den sie bewegt und in den angesprochenen Prozess hineinnimmt. Auf dieser Ebene - sie ist es, auf die ich auch mit der Beschreibung jener Umschwungsmomente der Anrede gezielt habe - erreicht die Predigt eine Wirkung, die sich nicht in textinternen Repräsentationen eines möglichen Publikums erschöpft, sondern sich erst in der performativen Öffnung des Textes, an der Schnittstelle zwischen Textinternem und Textexternem, ergibt. Es ist auffällig, dass genau diese Scharnierstelle der Predigt in zwei Handschriften fehlt. Die Berliner Handschrift B12 endet zuvor (vgl. DW I, S. 58); der Sankt Galler Codex 1066, dem Quint die Sigle G2 verliehen hat, spart jedoch genau diese Stelle aus. 71 Damit wird die Predigt in dieser Hinsicht entscheidend entschärft. 2.4 Von oben herab. Transformation des Gebens Die Worte ›von oben herab‹ fasst der Prediger im letzten Dispositionsabschnitt ( DW I, S. 73,6-74,10) schließlich daraufhin auf, dass derjenige, der von oben etwas empfangen wolle, selbst ›unten‹ sein müsse. Damit geht es thematisch darum, was der Einzelne tun muss, um Gott zu empfangen; zum Ende der Predigt hin tritt deren paränetische Funktion in den Blick. 72 Der Prediger gibt dem Thema an dieser Stelle jedoch nicht nur eine moralische Wendung im Sinne einer admonitio an die Zuhörer am Predigtschluss, sondern perspektiviert es noch einmal neu. Dabei verschiebt sich der Blick von dem, was Gott dem Menschen gibt, in einer letzten Wendung hin dazu, wie der Mensch selbst Gott alles geben möge. Die Vorstellung der Gabe wird folglich hin zum Aufgeben transformiert. Unvermittelt bricht die Predigt zu Beginn des Abschnitts wieder in den belehrenden Modus um, in dem der Prediger sich schon zuvor an seine Zuhörer gewendet hatte; die zugrundeliegende Sequenz aus dem Leitzitat wird erneut einleitend wiederholt. Nû m e r k e t daz wort: ›sie koment von oben her abe‹. N û s e i t e i c h i u g a r e b e n v o r : s w e r von oben wil enpfâhen, d e r muoz von nôt unden sîn in rehter dêmüeticheit. Und w i z z e t daz in der wârheit: d e r alzemâle niht unden ist, d e m enwirt ouch nihtes niht noch enpfæhet ouch niht, swie kleine ez joch iemer müge gesîn. B i s t û iht sehende ûf dich oder ûf kein dinc oder ûf ieman, s ô e n b i s t û n i h t unden und enpfæhest ouch niht; mêr: b i s t û zemâle unden, s ô enpfæhestû zemâle und volkomenlîche. ( DW I, S. 73,6-12) Die Argumentation setzt an der allgemeinen Aussage an, dass nur derjenige überhaupt etwas von oben empfangen könne, der in rechter Demut unten sei. Noch einmal ist die Aussage als Selbstzitat des Predigers eingeleitet; auch dieser Rückverweis lässt sich referentiell nicht eindeutig auflösen. Der Verweis auf die gemeinsame vergangene Predigtsituation ( nû seite ich iu gar eben vor ) schließt den Prediger eng mit der Gruppe seiner Zuhörer zusammen. Zu Beginn der Argumentation wird damit das Gesagte als bekannt etabliert, bevor der Prediger steigernd fortfahren und den Rekurs auf die wârheit als Autorisierungsinstanz an die Stelle rücken kann, die zuvor das Selbstzitat besetzt hatte. Die swer der -Konstruktion, die variierend wiederholt wird, spiegelt auf der Ebene der Syntax die Abstraktionsbewegung der Rede, vor der der folgende Umschwung in die personale Sicht umso stärker 71 Vgl. DW I, S. 72 (Variantenapparat). Zum Sankt Galler Codex 1066 vgl. Balázs J. Nemes, Re-Skript und Re-Text - Wertlos und entstellt? Oder: Über die guten Seiten einer ›schlechten‹ Eckhart-Handschrift (Ein Fundbericht), in: ZfdPh 131 (2012), S. 73-102. 72 »Der Schlussteil der Predigt […] entspricht dem Anfang; es ist hier wie dort der Seelsorger, der spricht, und er spricht mit spürbarem Charisma.« Ruh, Predigt 4, S. 23. 90 II. Analysen hervortritt. Abermals korrespondieren Anredewechsel und Konkretisierung; wieder wird die Rede im Umschwung aus der generalisierenden Perspektive im impliziten Konditionalsatz ( swer , der ; der , der ) in die unmittelbare Du-Anrede dynamisiert. Die Erststellung des Verbs im Gefüge des Konditionalsatzes trägt zur Eindringlichkeit bei; der Satz öffnet sich damit auf die Perspektive des Adressaten. Die syntaktische Parallelführung der beiden aneinandergereihten Konditionalsätze, die chiastisch verschränkt und steigernd verbunden sind ( bistû […] , sô enbistû niht unden ; mêr: bistû […] unden, sô ), setzt die Bewegung des Umschwungs, auf den die Rede zielt, um. ›Unten sein‹ bildet dabei die Scharnierstelle, über die das Verhaftetsein am Eigenen in die Verheißung, von Gott volkomenlîche zu empfangen, überführt wird. Mir kommt es auf diese Bewegung an; sie schlägt sich syntaktisch wie in der Struktur pronominaler Ersetzung nieder. Wenn der Prediger im Folgenden wiederholt, dass es Gottes Natur sei zu geben und dass sein Sein daran hänge, uns zu geben, ist die direkte Du-Anrede kurz zugunsten der Wir- Form zurückgenommen, in der Prediger und Zuhörer zusammengeschlossen sind. Auch hier lenkt die variierende Wiederholung den Blick, in der das Pronomen uns in die Aussage eingeschoben wird. Gotes natûre ist, d a z e r g e b e , und sîn wesen swebet dar an, daz er u n s gebe, ob wir unden sîn. Sîn wirs niht noch enpfâhen wir niht, sô tuon wir im gewalt und tœten in. Enmügen wirs niht an im getuon, sô tuon wirz doch an uns, und als verre ez an uns ist. Daz d û ez im allez gebest eigenlîche, sô luoge, daz dû dich under tuost in rehter dêmüeticheit under got und got erhebest in dînem herzen und in dînem bekantnisse . ( DW I, S. 73,12-74,5) Vor dieser Folie kann der Prediger anschließen, dass wir Gott Gewalt antun, wenn wir nicht bereit sind, ihn zu empfangen, und - so wechselt die Perspektive im unmittelbaren Anschluss an die drastische Formulierung, dass wir Gott so töten - wenn wir auch ihm keine Gewalt antun können, sô tuon wirz doch an uns . Die direkte Anrede im personalen dû überführt die Predigt zum Schluss in eine Handlungsmaxime, mit der sie, predigtrhetorisch gesehen, den moralischen Sinn des Schriftworts bzw. die Anwendung für die Zuhörer auf den Punkt bringt. Hatte der Prediger zuvor Gottes Gabe als das Höchste bezeichnet, so wird nun komplementär das Erniedrigen des Menschen als dessen Gabe an Gott thematisch. 73 Es ist auffällig, wie sich damit nun insgesamt der Blick des Predigers auf sein Gegenüber verschoben hat, denn im Fokus steht nicht mehr wie zuvor der Zuhörer, dessen (aktuell) falsche Einstellung der Prediger herausstellt, sondern sein Blick wendet sich in die Zukunft. Der vorangestellte daz -Satz, in dem der Konjunktiv des Verbs den Wunsch zum Ausdruck bringt, dass ›du‹ Gott alles geben mögest, nimmt in seiner Struktur fast die Schlussbitte der Predigt vorweg. Wenn der Prediger dann dazu auffordert, sich in rechter Demut unter Gott zu begeben und ihn im Herzen und im Erkennen zu erheben - dass die eine Verbform in der anderen noch nachklingt ( gebest , erhebest ), führt auf der Textoberfläche vor, wie eng die beiden Vorgänge ineinander verschränkt sind -, legt er nahe, dass sein Zuhörer gerade diesen Wunsch hegt. War zuvor als unterstellter Adressat der Predigt derjenige in den Blick geraten, der einem 73 So lässt sich das Aufgeben alles Eigenen auch als Gabe des Menschen an Gott verstehen, die freilich darauf zielt, selbst die Gabe Gottes empfangen zu können. Voraussetzung dafür »ist die pure Passivität«. Leppin, »die aller beste gâbe«, S. 235. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 91 Denken in Alternativen verhaftet bleibt, so setzt der Prediger an dieser Stelle einen Zuhörer voraus, der ganz fokussiert auf eine einzige Sache blickt: Gott alles eigenlîche 74 zu geben. Man könnte erwarten, dass die Predigt an dieser Stelle endet. Es schließt jedoch noch ein kurzer Abschnitt an, in dem die Predigt eine letzte Wendung vollzieht. › G o t u n s e r h e r r e s a n t e s î n e n s u n i n d i e w e r l t ‹ . Ich sprach einest alhie: g o t s a n t e s î n e n s u n i n d e r v ü l l e d e r z î t d e r s ê l e , sô si alle zît vürgangen hât. Sô diu sêle der zît und der stat ledic ist, s ô s e n d e t d e r v a t e r s î n e n s u n i n d i e s ê l e . N û d i z i s t d a z w o r t : › d i u a l l e r b e s t e g â b e u n d v o l k o m e n h e i t k o m e n t v o n o b e n h e r a b e v o n d e m v a t e r d e r l i e h t e ‹ . Daz wir bereitet werden, die besten gâbe ze enpfâhenne, des helfe uns got der vater der liehte. Âmen. ( DW I, S. 74,5-10) Wieder kreuzen sich die Stimmen, wenn der Prediger uneingeleitet ein Schriftzitat in die eigene Rede inseriert. Zugleich wird die Predigt durchlässig auf das Thema, das zuvor mit Blick auf die praktisch geforderte rechte Demut zurückgetreten war: die Sohnesgeburt. Vergleichbar der Anlage des vorangegangenen Predigtabschnitts führt der Prediger auch hier die inkarnationstheologische Perspektive und die Geburt des Sohnes in der Seele eng. Die syntaktische Parallelführung mit wörtlichen Wiederaufnahmen lässt die Verschiebungen dabei nur umso deutlicher hervortreten: die Seele tritt an die Stelle der Welt, und die Gegenwart der Fülle der Zeit spiegelt sich im Präsens der Verbform, das das mit Blick auf die Inkarnation Christi verwendete Präteritum ablöst. Als würde die Rede die Bewegung einer Vergegenwärtigung noch einen Schritt weiter drehen, springt sie mit dem folgenden Satz ins Hier und Jetzt der Predigtsituation, angezeigt im deiktischen Verweis ( nû diz ). Damit ist der Bezug des Leitzitats auf die Gottesgeburt in der Seele überführt, und es ergibt sich eine Linie, auf die die Predigt im Ganzen hinführt. Darin erfüllt sich das wort , das in der abschließenden Wiederholung des Leitzitats die Predigt rahmend umschließt. Hatte der Prediger zuvor formuliert, von Gott glîch empfangen könne nur der, der sich selben ergeben habe und sîn selbes ûzgegangen sei, also das Aufgeben allen Selbstbezugs aus ethischer Perspektive als Voraussetzung für das Aufdecken der glîchheit mit Gott genannt, so richtet sich mit der Geburt in der Fülle der Zeit nun der Blick auf die Erfüllung, »in der das zeitlich entfaltete Seiende die Vollendung seines Daseins erlangt.« 75 Fülle der Zeit - ich greife an dieser Stelle auf die Erläuterungen Niklaus Largiers zurück - bezieht Eckhart auf »die gnadenhafte Gottesgeburt im Menschen […]: Insofern Gott im Menschen geboren wird, ist die Zeit erfüllt, das heißt zu ihrem Ende gekommen.« 76 ›Fülle‹ ist hierbei als Überwindung der Zeit gedacht. Dies setzt voraus, daß die Seele nicht nur alles Zeitliche, Kreaturhafte und Mannigfaltige hinter sich läßt, sondern in ihrer Selbstvernichtung selbst ganz zeitlos wird, indem sie ihren Bezug zur Welt unterläuft, durch den sich Kreaturhaftigkeit, Mannigfaltigkeit und Zeitlichkeit überhaupt erst konstituieren. 77 Wenn die Seele ledic ist von zît und stat - in dieser Perspektive ist keine Rede mehr von einem Abstieg in dêmüeticheit , in dem Gott erhöht würde -, erfüllt sich die Geburt, in der 74 ›Zu eigen‹ in der Übersetzung Quints, DW I, S. 445. 75 Largier, Kommentar, S. 1001 (vgl. zur Fülle der Zeit insgesamt S. 999-1004). 76 Ebd., S. 999. 77 Ebd., S. 999 f. 92 II. Analysen die Seele sich zurückbezieht auf ihren Ursprung - auf den sie immer schon ausgerichtet ist und von dem ihr Sein abhängt, wie der Prediger eindringlich deutlich gemacht hat. Mir geht es weniger darum, wie sich in Eckharts Konzept der Fülle der Zeit ›vollendete Gegenwart aller Dinge‹ und ›absolute göttliche Präsenz‹ 78 treffen. Interessant ist, dass der Prediger jenes Moment der »Transformation der menschlichen Existenz im Blick auf deren Transparenz dem Göttlichen gegenüber«, das mit dem »Überschreiten der zeitlichen Verfaßtheit menschlichen Daseins« angedeutet ist, 79 an genau dieser Stelle einspielt. Der Sohn kommt ›erst dann‹, wenn die Seele ihre kreatürliche Bindung an Raum und Zeit überschritten hat: damit ist die Geburt auf einer Verständnisebene in distanzierte Ferne gerückt; die unmittelbare Identifizierung mit dem Sohn zurückgenommen. Im gleichen Moment aber wird die Rede im Selbstzitat des Predigers transparent auf die Geburt in der Fülle der Zeit, die eben nicht zeitlich verstanden ist im Sinn eines ›erst dann‹, sondern auf das immer schon gegebene Bezogensein der Seele auf ihren Ursprung verweist. Auf dieser Ebene schließt sich der Kreis: Der Prediger hat das Schriftwort auf die höchste Ebene gehoben. Daraus, dass die Rede unmittelbar im Anschluss an das Sprechen von der Überzeitlichkeit ( sô , sô ) wieder umbricht in das Hier und Jetzt der Predigtsituation ( nû diz ist ), ergibt sich der Eindruck jener Bewegung, die auf das Hier und Jetzt der Predigtsituation zuläuft und regelrecht darin kulminiert. Die Zeit der Predigt und der zeitlose Moment der Geburt werden überblendet. Der deiktische Verweis auf das Hier und Jetzt der Predigt, der das die Predigt rahmende Schriftwort einleitet ( nû diz ist ), lässt mehrere Verständnismöglichkeiten offen. In jedem Fall erschöpft er sich an dieser Stelle nicht in einer rein argumentativ-gliedernden Funktion (›nun, das bedeutet‹). Nû diz ist daz wort lässt sich zum einen auf die Predigt im Ganzen zurückbeziehen. Dann scheint es, als ob so mit dem vorangegangenen Predigtverlauf das Schriftwort selbst zum Austrag gekommen sei und sich erfüllt habe. So gesehen, wendet sich die Predigt an dieser Stelle in der expliziten Aktualisierung des Leitzitats zugleich auch auf sich selbst zurück - hatte doch der ganze vorangegangene Predigtverlauf darauf gezielt, das Leitzitat zu vermitteln und so im Medium der Predigt für die Zuhörer aktuell werden zu lassen. Bezieht man die Stelle dagegen unmittelbar auf das zuvor behandelte Thema - Gott sendet seinen Sohn in der Fülle der Zeit -, so schieben sich im skizzierten Sinn die Zeit der Predigt und die Zeit der Geburt übereinander. Den Reiz der Stelle macht es aus, dass diese Verständnismöglichkeiten sich überlagern, ohne dass man sie eindeutig trennen könnte. Die beste Gabe, die vom Vater von oben herab kommt, ist zum einen offensichtlich mit dem Sohn assoziiert. Zum anderen jedoch wird in der aktualisierenden Lesart (›dies alles [was die vorangegangene Predigt ausgefaltet hatte] ist in dem Wort enthalten‹) im Letzten die Predigt selbst zur Gabe - die das Schriftwort in der Aneignung und Aktualisierung durch den Prediger ihren Zuhörern ›gibt‹. Das Schriftwort erfüllt sich in diesem Sinn im geteilten Hier und Jetzt von Prediger und Zuhörern: in der Predigt selbst. Genau diese Aktualisierung nimmt die Einsiedler Handschrift mit Quints Sigle E1 zurück, die auch ansonsten alle Rückverweise tilgt (vgl. DW I, S. 58). Dort heißt es dann nicht mehr: Nû diz ist daz wort , sondern: Nû ist diz wort berihtet ( DW I, S. 74, Variantenapparat). Damit hat sich die Perspektive entscheidend verschoben. 78 Vgl. ebd., S. 1000. 79 Ebd., S. 1003. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 93 Im Textverlauf folgt nur noch die Schlussbitte: Daz wir bereitet werden, die besten gâbe ze enpfâhenne, des helfe uns got der vater der liehte ( DW I, S. 74,9 f.). Wieder schließt der Prediger seine Zuhörer und sich selbst im Pronomen der ersten Person Plural zusammen. Anders als im Mittelteil der Predigt verbindet sich damit aber keine emphatische Identifizierung von Prediger, Zuhörer und dem göttlichen Sohn, sondern eine konventionelle Schlussformel, mit der die Predigt an ihrem Ende zu den Regeln der Gattung zurückzukehren scheint. Die passiv formulierte Gebetsbitte zielt darauf, erst bereit gemacht zu werden dafür, Gottes Gabe zu empfangen, und öffnet so den Blick für das, was allem Empfangen vorausliegt: das Überformtwerden durch Gott. Auch in der Schlussbitte bleibt der genaue Bezug dessen, was mit der besten Gabe gemeint ist, für die wir bereitet werden mögen, offen. Aufs Neue lässt sich, und das ist sicher der stärkste Bezug, die beste Gabe auf den Sohn beziehen, den der Vater in die Seele gibt, wie es das Leitzitat anlegt. Ebenso aber ist es auch hier nicht ausgeschlossen, die beste gâbe auch zumindest mit wieder zurück auf das Leitzitat zu beziehen, das der Prediger unmittelbar zuvor ja noch wiederholt hatte - oder aber gleich auf die Predigt im Ganzen. So betrachtet, würde sich die Rede an dieser Stelle erneut auf sich selbst zurückwenden in der Bitte, dass Prediger und Zuhörer bereit gemacht werden, die Predigt selbst - als Gabe - erst zu empfangen. 3. Predigt Quint Nr. 4 und ihr impliziter Adressat Wenn Eckhart das Thema der Gabe in den Blick fasst, gibt es einen Zielpunkt, auf den die Predigt im Ganzen zuläuft: die Geburt des Sohnes in ›mir‹. Daneben ist die Predigt jedoch unverkennbar praktisch ausgerichtet. Der Prediger antizipiert die Anliegen, Wünsche und Verständnisschwierigkeiten seiner Zuhörer; er spricht sie immer wieder direkt an, lenkt die Aufmerksamkeit, lässt den Gang der Argumentation gliedernd sichtbar werden oder pointiert abstrakte Sachverhalte in konkret-anschaulichen Bildern. Es ist die Verbindung aus dieser praktischen Ausrichtung und der Zentrierung auf eine Ontologie, die die menschliche Seele in ihrem Grund als univok bezogen auf das göttliche Sein denkt, die diese Predigt so spannend wie aussagekräftig für die Frage nach dem impliziten Adressaten macht. So zeigt die Predigt schon auf der Inhaltsebene, wie sich der implizite Adressat als derjenige, der das Streben nach Eigenem aufgegeben hat und frei ist, Gott in sich zu finden und die Predigt als Gabe zu empfangen, deutlich von den unterstellten Adressaten des Texts unterscheidet, die noch ganz dem Eigenen verhaftet sind. Zugleich entwickelt der Text in seiner sprachlichen Faktur eine Dynamik, in und mit der das dû nicht nur mit Bedeutung aufgeladen, sondern regelrecht zur Figur aufgebaut wird. Ich fasse zunächst meine Überlegungen zu den unterstellten Adressaten der Predigt zusammen, bevor ich jene Figur in den Fokus rücke, auf die das Pronomen gleichsam als sprachliche Spur im Text hinweist: ihren impliziten Adressaten. Immer wieder bezieht der Prediger im Lauf der Predigt die Sicht seiner Zuhörer ein, deren Klage über Krankheit, Armut, Hunger und Durst er ebenso aufgreift wie den Wunsch nach andâht oder innicheit . Er legt die Verkürzungen eines solchen Verständnisses der Gabe offen, deutet das Empfangen dessen, was Gott gibt, als Aufgeben des Eigenen um und überführt so ein falsches Festhalten am Eigenen in ein Verständnis rechter Demut. Vor allem zu Beginn entwirft die Predigt in ihrer praktischen Orientierung an dem, was der Prediger bei seinen Zuhörern voraussetzt und erwartet, ein deutliches Bild ihrer unterstellten Ad- 94 II. Analysen ressaten. Was der Prediger aufgreift und umdeutet, verweist auf einen Adressaten, dem es schwerfällt, in seiner Lebenswelt auch in dem, was aus seiner Perspektive als Mangel erscheint ( siechtage oder armuot oder hunger oder durst oder swaz ez sî ), den Willen Gottes zu erkennen und das, was Gott gibt, deshalb freudig anzunehmen. Dahinter steht, so wird im Lauf der Predigt deutlich, ein Verständnis, das überhaupt noch in Alternativen denkt. Es ist nicht unbedingt nötig, Eckharts Umdeutung der wîse als Verständnishintergrund heranzuziehen, 80 um die Abwertung eines solchen Denkens in Alternativen zu sehen, das darin steckt, wenn der Prediger seinen Zuhörer förmlich darauf stößt, dass Gott dise wîse und niht ein ander wîse von ihm wolle. Der unterstellte Adressat der Predigt ist so als Mensch entworfen, der den Weg zu Gott sucht, insofern er aber auf die falsche Weise sucht, das heißt Gott in irgendetwas sucht, das nicht Gott selbst ist, in diesem Suchen die Differenz zu Gott letztlich nur verfestigt. Wenn der Prediger die Stichworte andâht und innicheit in die Aufzählung dessen einflicht, wonach seine Zuhörer streben, weisen diese abbreviaturhaft auf den Kontext einer auf Kontemplation gerichteten monastischen Kultur. Wie sehr solche Praktiken in sich aporetisch sind, die in der Hinwendung auf das Eigene die Differenz, die sie zu überwinden bestrebt sind, nur verhärten, diagnostiziert Eckhart immer wieder. Insofern fügt sich das Bild des unterstellten Adressaten in dieser Predigt zu dem, was auch für viele andere Predigten Eckharts gilt, in denen der Prediger jene problematischen Strukturen herausgreift, die er in der monastischen Kultur seiner Zeit sieht, die auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Praktiken Heiligung in dieser Welt erreichen möchte. Er stellt dem ein auf Entdifferenzierung zielendes Modell entgegen, in dem es nicht um die Art und Weise geht, wie man jeweils zu Gott gelangt. Denn für denjenigen, der den Grund, in dem er immer schon auf Gott bezogen ist, in sich freigelegt hat, ist es gleichgültig, ob er die stete und die liute und die wîse oder diu menige oder diu werk (RdU, DW V, S. 192,7 f.) flieht oder sucht. 81 Solange der Mensch diese Umwendung noch nicht vollzogen hat, ist es, wie Burkhard Mojsisch formuliert hat, in allem sein Selbstbezug, der ihn hindert. 82 Dû bist ez in den dingen selber, daz dich hindert (RdU, DW V, S. 193,1 f.), sagt Eckhart schon in den Rede der underscheidunge . Wenn ich auf diesen Kontext eingehe, dann nicht, um Eckharts Predigt mit der ›Frauenfrömmigkeit seiner Zeit‹ (Langer) in Verbindung zu bringen, sondern um sichtbar werden zu lassen, wie Eckhart eine umfassende Haltung aufgreift (und umdeutet), die keinen Anlass bietet, sie als Bezugnahme auf ein spezifisch weibliches Publikum zu verkürzen, auch wenn sie ein solches mit betreffen mag. 83 Der unterstellte Adressat der Predigt bleibt in dieser Hinsicht entschieden abstrakt. Angesprochen sind all diejenigen, die den Wunsch nach andâht und innicheit haben; diejenigen, denen es schwer fällt, zu wissen, ob ez sî der wille gotes oder niht ; diejenigen, die sprechen : ›ach, und wære ez anders komen, sô wære ez bezzer‹, oder ›wære ez niht alsô komen, sô wære ez vil lîhte baz komen‹ ; diejenigen, für die 80 Vgl. prominent z. B. Pr. 9, DW I, S. 144,8-145,3: Sant Bernhart sprichet: got ze minnenne daz ist wîse âne wîse. […] Wie liep wir got suln hân, daz enhât niht wîse; als liep, als wir iemer mugen, daz ist âne wîse. Zur ›Weiselosigkeit‹ bei Eckhart vgl. auch Largier, Kommentar, S. 779-782. 81 Vgl. dazu Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, und Hasebrink, Diesseits? ; vgl. auch Wegener, Wie der mensche sîniu werk sol würken . 82 Vgl. Mojsisch, Analogie, Univozität und Einheit, S. 136. 83 Zu einer möglichen Verbindung von Eckharts Kritik an andâht und innicheit in den ›Erfurter Reden‹ mit dem religiösen Leben in den Frauenklöstern vgl. auch Hasebrink, sich erbilden , S. 125. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 95 es swære scheint, daz unser herre geboten hât, daz man den ebenkristen minnen sol als sich selben , insofern ihnen die eigen êre wichtiger ist als die eines andern; diejenigen, die etwaz mit gote suochen und Gott dabei wie eine Kerze verwenden wollen, die man wegwirft, nachdem man das gesuchte Objekt im Licht gefunden hat - und die in diesem Sinn, so das umfassende Urteil das Predigers, weder Frieden noch Gott finden. Folgt man der Predigt in ihrem Verlauf, so wird sichtbar, wie demgegenüber Schritt für Schritt eine andere Position aufgebaut wird. Diejenigen, denen er die skizzierte Haltung unterstellt, spricht der Prediger vornehmlich im Plural der zweiten Person an. Zu ihnen spricht er distanziert-belehrend, er stellt die Autorität des Predigers aus und fordert die Zuhörer immer wieder auf, die dargebotene Lehre aufmerksam aufzunehmen; die Verben merken und wizzen fungieren als Schlüsselwörter für diese (konventionalisierte) Aufmerksamkeitslenkung im Text. Diesem asymmetrischen Verhältnis von Prediger und Zuhörern steht die Anrede an das dû im Text gegenüber, das im Lauf der Predigt zunehmend in den Fokus des Predigers rückt. Damit wird nicht nur die textintern inszenierte Kommunikation auf ein Nahverhältnis umgestellt, sondern der als defizitär ausgewiesenen Position der unterstellten Adressaten eine grundsätzlich andere Haltung entgegenstellt. Denn dieses dû zeichnet sich dadurch aus, dass es im Gegensatz zu denen, die Gott noch als Mittel suchen, um Eigenes zu finden, die Suche aufgegeben hat und so zemâle und volkomenlîche ( DW I, S. 73,12) empfangen kann, was Gott gibt - den göttlichen Sohn ebenso wie die Predigt selbst. Insgesamt zeichnet sich diese Predigt durch eine hohe Dichte vor allem personaler Deixis, direkter Anreden und rhetorischer Fragen aus. Von ihrem ganzen Redegestus her, der in der von Dietmar Mieth entworfenen Typologie als expressiv zu bezeichnen wäre, 84 steht sie damit einer mündlichen Kommunikationssituation sehr nahe. Wollte man diesen Befund auf die Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit beziehen, könnte man von einer ›inszenierten Mündlichkeit‹ der Predigt sprechen - der Prediger scheint als Anwesender unter und mit Anwesenden zu kommunizieren, die er immer wieder anspricht und im geteilten Wahrnehmungsraum orientiert. Die Wechsel der Anrede lenken die Aufmerksamkeit und tragen dazu bei, den Text zu gliedern; sie erzeugen dabei aber eine Dynamik, die über diese strukturierende Funktion hinaus das dû performativ auflädt. Sprachlich arbeitet die Predigt auf unterschiedlichen Ebenen damit, dass im Verlauf der Rede zunächst eine abstrakte, allgemeine Perspektive aufgebaut wird, in die das dû dann in und mit dem Umschwung der Rede eingesetzt wird. Das lässt sich an der syntaktischen Struktur der Predigt beobachten (verallgemeinernde Relativsätze nach dem Muster swer , der ) oder daran, wie der Prediger bisweilen abstrakt von den Menschen ( die menschen ) spricht, die etwas tun oder nicht - und so eine Kontrastposition aufruft, vor der und auf die hin das dû dann konkret perspektiviert wird. Insgesamt zieht sich auf dieser Ebene eine Dynamik durch die Predigt, die im Textverlauf über solche Momente des Umschwingens der Rede den Eindruck eines Sogs erzeugt, mit dem die Predigt progressiv fortschreitet und punktuell immer wieder auf das Hier und Jetzt der Rede hin aufbricht. Folgt man der Predigt in ihrem Verlauf, so werden Textbewegungen sichtbar, mit und in denen die Predigt ihren Adressaten beständig zu umkreisen scheint - indem sie ihn anspricht und orientiert, diese Orientierung zugleich aber auch unterläuft; indem sie für ihn gleichsam 84 Vgl. Mieth, »Die Meister sagen« - die »Leute« fragen, S. 339. 96 II. Analysen einen Rahmen öffnet, in dem sie ihn von einer Position auf die andere bewegt; indem sie ihn in die Bewegung, die der Text erzeugt, mit hineinzieht. Damit gewinnt der implizite Adressat der Predigt Kontur. Denn in dieser Dynamik, die der Text sprachlich-performativ entwickelt, bezieht er sich mit dem Pronomen der zweiten Person nicht nur auf einen möglichen Zuhörer, noch wird auf diese Weise nur eine Rolle im Text inszeniert. Wenn die Predigt im Textverlauf von der asymmetrischen Rollenkonstellation zwischen Prediger und Zuhörern zunehmend in einen anderen Redemodus umschwenkt, rückt das dû in den Fokus. In und mit der sprachlich-performativen Dynamik der Predigt wird der implizite Adressat gleichsam schrittweise als Figur aufgebaut, bevor er sich an der zentralen Scharnierstelle der Predigt im performativen Mitvollzug der Rede mit dem göttlichen Sohn identifiziert. Diese Identifizierung lässt sich an der Struktur pronominaler Ersetzung ablesen, indem der Angesprochene mit dem Kippen in die Wir-Form der Rede hineingenommen wird in den Prozess, sodass die Identitätsaussage für ihn als Prozess der Identifizierung aktuell wird. Für die Predigt und ihren impliziten Adressaten werden so das kommunizierte Ereignis (Gott gibt seinen Sohn als beste Gabe) und das Kommunikationsereignis der Predigt (der Adressat erfährt die Predigt selbst als beste Gabe) aufeinander durchlässig. Denkt man in diesem Zusammenhang an den liturgischen Kontext der Predigt zurück, in dem das Geben Gottes eine bedeutende Rolle spielt, 85 so wird deutlich, wie sehr die Predigt neben ihrer thematischen Entfaltung auch in den Vollzug der Liturgie integriert ist. Ihre Dynamik fügt sich in diesem Sinn in die Dynamik der Messe ein, indem sie das Ereignis des Predigtdatums in den Vollzug der Predigt umsetzt. 86 Das Pronomen dû wird dabei gleichsam zur sprachlichen Spur im Text, die über den Bezug auf mögliche konkrete Rezipienten (wie über die Inszenierung einer textinternen Rolle) hinaus auf den impliziten Adressaten der Predigt verweist. Dieser bildet den Fluchtpunkt, auf den die Rede zuläuft; und er wird in ihrem Verlauf insofern erst dynamisch konstituiert, als er seine Identität performativ in und mit solchen wiederholten Figuren der Anrede erhält, die den Text durchziehen. Der implizite Adressat ist insofern im Text fundiert und weist im gleichen Moment über den Text hinaus - so wie sich das Pronomen dû zugleich auf jeden einzelnen Zuhörer im Hier und Jetzt der Predigt und im abstrakten Sinn auf jeden Menschen beziehen kann, der Gott im Grund seiner Seele findet, und so als Pronomen seine Bedeutung im Text gerade aus jener Spannung bezieht, die den Text selbst transgrediert. Die Bewegung, in die die Predigt ihren impliziten Adressaten versetzt, lässt sich wiederum rückbinden an das philosophisch-theologische Grundthema der Predigt. Eckhart verschränkt die Thematik der Gabe aufs engste mit der des Aufgebens: Gott kann nicht anders, als zu geben, also sich selbst mitzuteilen, und alle Geschöpfe sind nur, insofern sie am Sein Gottes partizipieren. Nur wer jedoch alles Verlangen und allen Selbstbezug aufgibt, kann das immer schon gegebene Bezogensein auf Gott in sich aufdecken. Dann empfängt - ich greife auf die Überlegungen Burkhard Mojsischs zurück - der Mensch ganz, was Gott gibt, und hat nicht nur als Geschöpf Teil am Sein Gottes, sondern findet den Grund in sich, der es ihm ermöglicht, das Verhaftetsein am Kreatürlichen zu übersteigen: Der Gedanke der univoken Bezogenheit des Seelengrundes auf das transzendentale Sein läßt erkennbar werden, was Eckhart zu erweisen stets bestrebt war: Das, was in der menschlichen Seele 85 Vgl. Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 144. 86 So ließe sich die These Joachim Theisens auf diese Predigt hin konkretisieren, vgl. ebd., S. 416 und S. 332. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 97 jenseits ihrer geschaffenen Natur als Ungeschaffenes und Unerschaffbares ist, dem Menschen in seinem Selbstbezug jedoch verdeckt ist, eröffnet eben diesem Menschen als einem, der zur Umkehr bereit ist, die Möglichkeit des Vollzugs der Umwendung. 87 In der Identifizierung mit dem Sohn lässt die Predigt ihren impliziten Adressaten eine solche ›Umwendung‹ mit vollziehen. Die Predigt selbst wäre in dieser Perspektive dann wieder als das zu lesen, was zur Umwendung erst anleitet - sodass sich philosophisch-theologische Thematik und die Selbstbezüglichkeit der Rede im Thema der Gabe spannungvoll durchdringen. Die Ebene einer Wirkkraft der Predigt, auf die ich mit der Figur des impliziten Adressaten ziele, erschöpft sich weder in ihrem propositionalen Gehalt noch - und das macht sie meines Erachtens so attraktiv wie schwierig zu greifen - in einer rein rhetorischen Dimension, wie sie Dietmar Mieth für Eckharts Predigten in Anschlag gebracht hat. 88 Denn was ich mit Stichworten wie ›Dynamisierung‹ oder ›Intensivierung‹ zu umreißen versucht habe, lässt sich auf der Ebene rhetorischer Inszenierung nicht beschreiben: das Umschwingen der Perspektive, das den impliziten Adressaten in die beschriebene wie vollzogene Bewegung mit hineinnimmt, oder der Effekt, der mit einer Du-Anrede einhergeht, die Unmittelbarkeit nicht nur inszeniert, sondern erst herzustellen scheint. Um solche Effekte zu beschreiben, kann man an Textstrukturen ansetzen und muss zugleich über diese hinausweisen. Die sprachlichen Strukturen, die sich im Textverlauf beschreiben lassen, lassen sich immer nur ansatzweise auf jene Dynamiken beziehen, die sich erst übergreifend ergeben. Vollständig auflösen lässt sich diese methodische Spannung nicht. Damit läuft die Schwierigkeit beständig mit, dass sich die Figur des impliziten Adressaten selbst der Beschreibung letztlich entzieht. Die theoretischen Vorüberlegungen zum Wechselspiel von Entzug und Konstitution in der Struktur der Figur finden hierin einen Widerhall. 89 Mit der Figur des impliziten Adressaten, der sich mit dem göttlichen Sohn identifiziert und die Predigt als beste Gabe empfängt, ist schließlich auch die Frage nach der idealen Rezeption der Predigt berührt. Denn wer wie die unterstellten Adressaten der Predigt noch nach Eigenem sucht, ist noch nicht frei geworden, um von Gott alles zu empfangen und auch nicht bereit, das Predigtwort richtig aufzunehmen. Der Predigtverlauf im Ganzen lässt sich als Abstraktionsbewegung lesen. Diese führt vom konkreten Wunsch, von Gott überhaupt etwas empfangen zu wollen, in eine Haltung rechter Demut, in der der Zuhörer den Bezug auf alles Eigene aufgibt, um von Gott ganz überformt zu werden. Eine Scharnierstelle bildet der Gedanke, dass nur der, der sich selbst ergeben habe und sîn selbes ûzgegangen sî , von Gott glîch empfange. Damit aber wäre nicht nur die richtige Ausrichtung auf Gott hin gegeben, sondern der Zuhörer in die richtige Disposition zum Empfangen der Predigt versetzt: Wer sich nicht mehr an der Vielfalt der Dinge aufhält, sondern bereit ist, sich ganz auf das hin auszurichten, »was in der menschlichen Seele jenseits ihrer geschaffenen Natur als Ungeschaffenes und Unerschaffbares ist, dem Menschen in seinem Selbstbezug jedoch verdeckt ist«, 90 der kann auch die Predigtrede richtig aufnehmen, sich von ihr affizieren - und schließlich transformieren lassen. 87 Mojsisch, Analogie, Univozität und Einheit, S. 136. 88 Vgl. Mieth, »Die Meister sagen« - die »Leute« fragen. 89 Vgl. dazu oben, Kap. I.2.3, S. 46. 90 Mojsisch, Analogie, Univozität und Einheit, S. 136. 98 II. Analysen Der implizite Adressat übernimmt damit in der Predigt die Funktion eines idealen Rezipienten in dem Sinn, den Wolf Schmid der Kategorie in seinem erzähltheoretischen Modell zuschreibt. 91 Schmid versteht beide Instanzen, den unterstellten Adressat wie den idealen Rezipient, als zwei unterschiedliche »Funktionsrollen« des in seiner Terminologie abstrakten Lesers und folglich als verschiedene Repräsentationen eines Leserbilds im Text. 92 Insofern der implizite Adressat der Predigt sich mit dem göttlichen Sohn identifiziert, fungiert er hier wirklich als ein idealer Rezipient, der »das Werk auf eine der Faktur optimal entsprechende Weise versteht und jene Rezeptionshaltung und Sinnposition einnimmt, die das Werk ihm nahe legt«, 93 denn idealer als das Modell, das die Predigt entwirft, lässt sich Rezeption kaum konzipieren. Zugleich aber weist das Modell, das die Predigt entwirft, auch auf die Grenzen eines theoretischen Konzepts, das den idealen Rezipienten (statisch) als textintern repräsentiertes Leserbzw. Adressatenbild auffasst. 94 Terminologisch sind also folgende Instanzen der Adressierung für die Predigt zu unterscheiden: die Ebene ihrer unterstellten Adressaten, auf der diejenigen angesprochen sind, die zu Gott gelangen wollen, ohne dabei ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse aufzugeben, und ihr impliziter Adressat, der im Predigtverlauf mit dem Sohn identifiziert wird und insofern auch als idealer Rezipient der Predigt betrachtet werden kann. Während die Instanz des unterstellten Adressaten (mit Schmid) hinreichend als textinterne Repräsentation eines Adressatenbildes beschrieben werden kann, das in vergleichbarer Form diese wie andere Predigten Eckharts prägt, gewinnt der implizite Adressat performativ seine Identität als Figur, die in den Vollzug der Predigt involviert ist (über Schmids Konzept hinaus). Insofern der implizite Adressat gleichermaßen als idealer Rezipient der Predigt fungieren kann (mit Schmid), zeigt die Predigt auf, dass die vom Text entworfene ideale Rezeption eine statisch gedachte Haltung übersteigen kann (über Schmids Konzept hinaus). Damit sind im Letzten die Grenzen eines Modells berührt, das Rezeption überhaupt noch als Vermittlung denkt, die auf der Differenz von Prediger, Predigt und Rezipienten beruht. In dem, was die Predigt vorführt, tritt an ihre Stelle die unmittelbare Identifizierung mit dem göttlichen Sohn, an die Stelle hermeneutischer Vermittlung die über eine partielle Teilhabe hinausgehende absolute Identität. Das wiederum betrifft die Predigt als solche, die in der Konsequenz eines solchen Modells als Form appellativer Rede selbst überstiegen ist: 91 Vgl. dazu oben, Kap. I.3.3, S. 59 f. 92 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 70. 93 Ebd., S. 69. 94 Die Predigt weist stattdessen ihren impliziten Adressaten bzw. idealen Rezipienten im skizzierten Sinn als Figur aus, die sich im Textverlauf bewegen und wandeln kann. Diese dynamischere Sichtweise ist in Schmids Konzept eines Adressatenbilds im Text nicht angelegt, auch wenn sein Modell sie nicht ausschließt. Es handelt sich eher um einen Unterschied in der Perspektive der Betrachtung, mit der je verschiedene Implikationen einhergehen: Geht man von einem textinern repräsentierten Bild eines Adressaten aus, liegt es näher, unterschiedliche Züge dieses Adressaten gleichsam übergreifend zu einem Bild zusammenzufügen, das sich aus dem Text im Ganzen ergibt. Die Vorstellung einer dynamisch-performativ vom Text hervorgebrachten Figur weist dagegen stärker auf diese Wandelbarkeit des impliziten Adressaten bzw. idealen Rezipienten hin, der als Figur eben zugleich eine Identität besitzt und auf je spezifische Weise bewegt werden kann. Diese Dynamik ist grundsätzlich auch für den unterstellten Adressaten der Predigt denkbar, der gleichfalls zu Beginn ein anderer sein kann als zum Ende der Predigt hin. II.1 Umschwung ins dû . Predigt Quint Nr. 4 99 Wer der Sohn ist, braucht keine vermittelnde Predigt mehr, die einen Weg zu Gott höchstens aufscheinen lassen könnte. 95 Auch vor diesem Hintergrund bietet es sich an, Eckharts Deutung der Gabe in dieser Predigt mit der Vorstellung einer absoluten Gabe engzuführen, deren aporetische Struktur Jacques Derrida beschrieben hat. Die Gabe, so Derrida, streicht sich in dem Moment, in dem sie als Gabe anerkannt wird, selbst aus; deshalb muss sie von Geber und Empfänger absolut vergessen werden: Sobald die Gabe als Gabe erschiene […], wäre sie auch schon eingebunden in eine symbolische Struktur des Opfers oder der Ökonomie, die die Gabe im rituellen Zirkel der Schuld annulieren würde. 96 Das bedeutet: »Die Gabe erweist sich als unmöglich, indem sie als Tausch konzipiert und praktiziert wird.« 97 Die Predigt im Ganzen scheint um diese Figur zu kreisen, in und mit der der Prediger die ternäre Struktur der Gabe, die auf der Unterscheidung von Geber, Gabe und Empfänger beruht, in eine andere Struktur überführt: die Vorstellung der Selbstmitteilung Gottes im Sinn einer »Selbstvermittlung des Absoluten«, 98 die die ternäre Struktur der Gabe überschreitet - und so zu einer Denkfigur wird, in der eine absolute Gabe denkbar wäre. Wenn die Predigt sich für ihren impliziten Adressaten am Ende selbst zur Gabe macht, scheint diese Spannung erneut auf, nun aber auf die Kommunikationsstruktur der Predigt bezogen. Die ternäre Struktur von Prediger, Predigt und Adressat wäre auf ein Modell umgestellt, das diese Struktur überschreitet - ohne den Adressaten doch ganz in der Rede aufgehen zu lassen, denn die Rede streicht sich gerade nicht aus, sondern läuft in der Intensivierung der Anrede beständig fort. So bleibt schließlich eine spezifische Spannung in der Rede bestehen. Was ich mit Blick auf den impliziten Adressaten der Predigt als Intensivierung beschrieben habe, steht in Kontrast zu dem, worauf der Prediger argumentativ zielt: die Aufgabe allen Selbstbezugs, um von Gott überformt zu werden. Dieses paradoxe Zugleich von Intensivierung und Selbstaufgabe ist ganz ähnlich dem, was P. M. Mehtonen für die Ich-Rede in Eckharts Predigten beschrieben hat. 99 In dieser Predigt bleibt die Spannung einer Rede bestehen, die auf Selbstaufgabe zielt, auf dass der Mensch von Gott überformt werde - und die dabei doch den Bezug auf ihren Adressaten immer weiter verstärkt. Diese Deutung der Predigt und ihres impliziten Adressaten ist denkbar weit von der Frage nach Eckharts konkretem historischem Predigtpublikum entfernt. Damit ist auch das Verhältnis des Predigttextes zu seinen Kontexten in ganz anderer Weise relevant, wie wenn 95 Zu dieser Struktur vgl. inhaltlich z. B. auch die bekannte Formulierung in Predigt 9 ( Quasi stella matutina ), wo der Prediger bemerkt, dass derjenige, der nur die Kreaturen richtig, d. h. in ihrer unmittelbaren Gottebenbildlichkeit, zu erkennen verstünde, keine Predigt mehr brauche. Pr. 9, DW I, S. 156,7-9: Der niht dan die crêatûren bekante, der endörfte niemer gedenken ûf keine predige, wan ein ieglîchiu crêatûre ist vol gotes und ist ein buoch. Vgl. außerdem zu Predigt 6 unten, Kap. II.3.3. 96 Derrida, Falschgeld, S. 36. 97 Bernhard Waldenfels, Das Un-ding der Gabe, in: Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, hg. von Hans-Dieter Gondek und Bernhard Waldenfels, Frankfurt am Main 1997 (stw 1336), S. 385-409, hier S. 389. 98 Mojsisch, Analogie, Univozität und Einheit, S. 67. 99 »The multitude of egos and ichs in these texts conveys, paradoxically, a poetics that aims at the final abandonment and non-representation of ›I‹ in the silence of transcendence«. Mehtonen, The Apophatic First-Person Speaker, S. 81. 100 II. Analysen man die Predigt mit dem Ziel konkret-historischer Referentialisierung liest. Dass sich die genaue historische Verortung von Rückverweisen so schwierig gestaltet - auch das lässt sich exemplarisch an dieser Predigt veranschaulichen -, weist nur umso dringender auf die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Texten anders als über unmittelbare Abhängigkeiten zu konzeptualisieren. Ich habe die ›Erfurter Reden‹ in diesem Sinn nicht als direkten Kontext der Predigt herangezogen, wie es im Zusammenhang mit der Frage ihrer Datierung und Lokalisierung in Erwägung gezogen worden ist, sondern als Text, mit dem die Predigt in einen Dialog zu treten scheint. 100 Denkt man dieses Verhältnis der Texte zueinander weiter, so stünde der implizite Adressat der Predigt gleichsam zwischen beiden Texten: für ihn würde sich im Selbstzitat des Predigers das intertextuelle Fenster öffnen, das ihm den Weg zu einem neuen (Text-)Raum wiese. Ähnliches ließe sich schließlich für das Verhältnis von Predigttext und Leitzitat sagen. Kurt Ruh hat einmal betont, dass bei Eckharts exegetischer Technik »kein Gesamtverständnis des Textwortes erstrebt« 101 werde. Ein solches ergibt sich aber durchaus, und es wäre unter intertextualitätstheoretischen Gesichtspunkten näher zu beschreiben. So ist in der Forschung zwar herausgearbeitet worden, wie Eckharts Predigten im Umgang mit dem Leitzitat immer wieder eigene Sinnpotentiale freisetzen, 102 ohne aber dieses spannungsvolle Verhältnis wieder zurück auf das Gegenüber jener beiden Texte, Predigt wie Leitzitat, zu beziehen. Versteht man die Predigt als Deutung und Anwendung, das heißt als Aktualisierung dessen, was das Leitzitat bereithält, für und auf ihren Adressaten hin, wie es die Dichotomie von explicatio und applicatio 103 nahelegt, so bildet dieser den Fluchtpunkt der Arbeit des Predigers am Leitzitat. Richtet man den Blick darauf, dass der Predigttext in diesem Spannungsfeld von Deutung und Anwendung erst seine Wirkung generiert, die sich eben nicht in Auslegung erschöpft, sondern im intertextuellen Dialog mit dem Leitzitat entfaltet, so öffnet sich mit diesem Intertext ein weiterer Raum für den impliziten Adressaten der Predigt. Die Präsenz des Leitzitats reichert den Predigttext (über die reine Gliederung hinaus) intertextuell an, indem aus dem Mund des Predigers zugleich dessen eigene und die Apostelstimme sprechen. Das gilt für alle Formen des Schriftzitats, über das sich einerseits der Predigttext autorisiert (und seiner Rede Kraft verleiht), und das andererseits über die Wiederholung in der Predigt selbst erst aktualisiert wird. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 1. Einführung Mit dem Thema der Demut greift die Predigt Surge illuminare Iherusalem (Quint Nr. 14) 104 ein zentrales Motiv der Klosterkultur auf. Sie stellt dabei einem verkürzten Verständnis von Demut als monastischer Tugend im Kontext einer imitatio Christi den fundamentalen Gedanken der Präsenz Gottes im Menschen entgegen. So findet der Mensch nicht über den Weg eines demütigen Lebens zu Gott, sondern derjenige, der das Wesen der Demut 100 Zu dieser Interpretation der Rückverweise vgl. Hasebrink, Dialog der Varianten. 101 Ruh, Meister Eckhart, S. 70. 102 Vgl. dazu exemplarisch Köbele, Primo aspectu monstruosa . 103 Zu den Begriffen vgl. Beutel, Art. ›Predigt (A.)‹, Sp. 47. 104 DW I, S. 227-241. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 101 richtig versteht, erkennt Gott in sich als seinen eigenen, innersten Grund. Dazu lotet der Prediger zunächst die räumlichen Kategorien von ›oben‹ und ›unten‹ aus, die er dem Leitzitat entnimmt. Das Schriftwort ›Steh auf, Jerusalem, und werde erleuchtet‹ (Is 60,1) bezieht er darauf, dass der Mensch, der sich in Demut erniedrige, durch den von oben herabkommenden Gott erfüllt werde, übersteigt diese Vorstellung in einem zweiten Schritt aber entschieden. Jenseits der relationalen Kategorien von Höhe und Tiefe weist die Predigt ihren Zuhörer auf ein »enträumlichte[s] Innen« 105 als absoluten Ort der Präsenz Gottes. Herauszuarbeiten, wie die Predigt ihren impliziten Adressaten diesen Überstieg mitvollziehen lässt, indem sie ihn in die Bewegung einer ›Innigung‹ mit hineinnimmt, von der sie spricht und die sie sprechend zugleich vollzieht, ist das Ziel dieser Lektüre. 106 Anders als die meisten Predigten Eckharts lässt sich diese Predigt etwas genauer historisch lokalisieren, denn sie ist über ein Netz von textinternen Rückverweisen in einer Gruppe von Predigten verankert, die die Forschung Eckharts später Kölner Zeit zuweisen konnte. 107 Während sich einige dieser ›Kölner Predigten‹ über Rückverweise mit konkreten Ortsangaben mit relativer Sicherheit bestimmten Kölner Konventen zuordnen lassen, bleibt der exakte Ort der Predigt 14 offen. 108 Das Leitzitat aus dem Buch Jesaja weist auf das Fest Epiphanie als liturgischen Kontext der Predigt; sie wurde also vermutlich an einem Dreikönigstag in Köln gehalten. Laut Josef Koch und Loris Sturlese kommen die Jahre 1324 bis 1326 in Frage; Joachim Theisen datiert die Predigt auf das Jahr 1326. 109 Damit hat sie einen relativ genau greifbaren historischen Ort. Folgt man der Spätdatierung, so ergibt sich aus der zeitlichen Nähe zum Prozess eine besondere Brisanz. 110 105 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 74. 106 Ich greife damit die Lektürerichtung auf, in die Karl Heinz Wittes Interpretation der Predigt weist (vgl. Witte, Predigt 14), und knüpfe eng an Burkhard Hasebrinks Hinweise zu dieser Predigt im Kontext einer ›Performativität der Umdeutung‹ an (vgl. Hasebrink, mitewürker gotes ). Wenn ich davon spreche, dass die Predigt ihren impliziten Adressaten die Bewegung einer ›Innigung‹ mitvollziehen lasse, steht im Hintergrund, wie Hasebrink die Kommunikationssituation von Eckharts deutschen Predigten beschreibt: »sie belehren nicht nur in ihrem theoretisch-rationalen Profil, sondern setzen in ihrer Deutungsarbeit das zentrale Thema der abegescheidenheit interaktiv um, indem sie den Rezipienten in die innicheit hineinführen, aus der sie gesprochen sind.« Hasebrink, mitewürker gotes , S. 66. 107 Die sogenannten ›Kölner Predigten‹, die Predigten Quint Nr. 10, 11, 12, 13, 14, 15, 22 und 51, schließen inhaltlich eng aneinander an. Sie sind über ein Netz von Rückverweisen miteinander verbunden, das mehrere Ortsangaben enthält, die in die Ordenslandschaft der Stadt Köln verweisen, ohne sich eindeutig auflösen zu lassen. Zu den Kölner Predigten vgl. Karl Heinz Witte, Von Straßburg nach Köln: Die Entwicklung der Gottesgeburtslehre Eckharts in den Kölner Predigten, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2 (2008), S. 65-94. Karl Heinz Witte fasst den Bezug der Texte aufeinander präzise zusammen: »Die Predigten 13 und 14 sagen, die Predigt 22 sei im Kölner Zisterzienserinnenkloster Mariengarten gehalten worden, und die Predigt 14 verweist die Predigt 15 ins Kloster der Benediktinerinnen St. Machabaeorum ( Merveren ).« Ebd., S. 93. Zur Zusammenfassung der Diskussion um die Auflösung der Ortsnamen vgl. ebd., S. 82-86. 108 Karl Heinz Witte argumentiert, dass innerhalb der Reihe Kölner Predigten möglicherweise gerade jene Predigten, in denen Eckhart Hinweise auf seine Predigtorte gebe, selbst in seinem Heimatkonvent der Kölner Zeit, also im Dominikanerkonvent, gehalten worden sein könnten: »In seiner Dominikanerkirche erinnert er also an Gastpredigten in nicht-dominikanischen Häusern.« Ebd., S. 93. Niklaus Largier dagegen kommentiert ohne nähere Erläuterungen, die Predigt 14 sei laut der Rückverweise »im Kölner Machabäerkloster gehalten« worden. Largier, Kommentar, S. 889. 109 Vgl. Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 120 f. Vgl. zu den Rahmendaten zu dieser Predigt Witte, Predigt 14, S. 9 f., und Largier, Kommentar, S. 889. 110 »Die Vorstellung, daß Eckhart seine Lehre so unverblümt vorträgt, obwohl unter seinen Zuhörern vermutlich Spitzel sitzen, verleiht dem Text eine besondere Brisanz.« Witte, Predigt 14, S. 10. 102 II. Analysen Für die Predigt 14 ist die Frage der Textgestalt von zentraler Bedeutung, denn sie ist nur in einer Handschrift vollständig, in einer weiteren fragmentarisch überliefert. Quints Text entspricht weitgehend dem der Berliner Handschrift B16, die den Text der Predigt vollständig überliefert. Den Text dieser Handschrift hat Quint jedoch »im Eingang mit Hilfe von Lo1 ergänzt und gebessert«. 111 Das entspricht den Editionsprinzipien Quints, die auch sonst die Textgestalt von Eckharts Predigten prägen. Am Beispiel dieser Predigt werden aber die problematischen Implikationen besonders sichtbar, die mit diesem Verfahren verbunden sind, liest und interpretiert man so doch weitgehend den Text einer einzelnen Handschrift, über den sich zum Beginn der Predigt jedoch der Text einer anderen Handschrift legt. Der Predigteingang zeigt, welche Bedeutungsverschiebungen sich damit verbinden können. In Quints Text, wie wir ihn lesen, verortet der Prediger das Leitzitat, noch bevor er es in die Volkssprache übersetzt, kurz im Messablauf: D i t w o r t , d a t i c h h a y n t g e s p r o c h e n i n d e m l a t i n e , D a t s t e i t g e s c h r e u e n i n d e r e p i s t e l e n , d e m a n l a s i n d e r m y s s e n . Der propphete ysaias spricht: ›stant vp jherosalem inde erheyff dich inde wirt erluchtet‹. Hye synt dry synne zo verstayn. Biddet got vmb genade. ( DW I, S. 230,2-5) Liest man die Predigt unter der Frage, wie sich im Text eine gemeinsame Kommunikationssituation von Prediger und Zuhörern erst herstellt, so ist es aufschlussreich, wie der Prediger sich hier auf das zuvor gemeinsam gehörte lateinische Leitzitat zurückbezieht. Dass er mit dit wort unmittelbar daran anschließt, verweist auf einen partiell geteilten Erfahrungsraum von Prediger und Zuhörern. Dadurch, dass der Bezug auf die vorangegangene Rede jedoch überhaupt erst explizit gemacht werden muss (und die Rede nicht einfach fortläuft), löst sich der Predigttext auch von seinem Kontext: Er referiert darauf. Die aktuelle Situation der Predigt als von Prediger und Zuhörern geteilte tritt neben die des Messablaufs, und es gibt einen Indikator dafür, wo die Grenze verläuft: die Differenz von Latein und Volkssprache. Genau diese Perspektivierung, die man als Inszenierung von Kontextualität lesen könnte, bietet die fragmentarische Londoner Handschrift Lo1; B16, deren Text wir bei Quint später durchgehend lesen, jedoch nicht. 112 Dazu kommt, dass an mehreren Stellen im Predigtverlauf die Textgestalt, der bald nach dem Eingang dann nur noch die Handschrift B16 zugrunde liegt, mit den Erwartungen an einen ›ursprünglichen‹ und kohärenten Text, wie sie Quints Editionsprinzipien spiegeln, bricht. Wenn Quint die »Richtigkeit und Ursprünglichkeit des uns erhaltenen Textes [als] im einzelnen sehr fragwürdig« 113 beurteilt, sind grundlegende methodische Fragen im Umgang mit der Varianz der Überlieferung betroffen, die sich für diese Predigt besonders deutlich stellen. Das gilt insbesondere auch für die Frage, in welchem Verhältnis der erste, kürzere Abschnitt der Predigt und ihr eigentlicher Hauptteil zueinander stehen. 111 DW I, S. 227. Der fragmentarische Text der Handschrift Lo1, die aus der Kölner Kartause St. Barbara stammt und so gleichfalls nach Köln verweist (vgl. Hasebrink, mitewürker gotes , S. 72), bricht bald nach dem Beginn der Predigt ab. Quint kommentiert: »Weshalb der Schreiber unseren Predigttext nicht zu Ende schrieb, sondern mit der neuen Spalte eine andere Predigt begann, ist nicht ersichtlich« (DW I, S. 227). Am Rand ist vermerkt: dit ensal man neit lesen , vgl. DW I, S. 230 (Variantenapparat). Auch der Überlieferungskontext weist so deutlich auf die Brisanz des Textes hin. 112 Auch die die Einleitung abschließende Aufforderung an die Zuhörer Biddet got vmb genade (DW I, S. 230,5) fehlt in B16. Da der Text nicht weiterläuft, wäre die interessante Frage nach weiteren Momenten eines solchen Situationsbezugs höchstens mit Blick auf die Handschrift Lo1 im Ganzen zu stellen. 113 DW I, S. 229. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 103 Die Predigt lässt sich in vier große thematische Abschnitte unterteilen. Der erste, in seinem Verhältnis zum Hauptteil problematische Abschnitt ( DW I, S. 230,6-232,8) setzt an den Kräften der Seele an, die der Prediger zunächst als Abbild der Dreifaltigkeit, dann in ihrem Streben nach ihrem je höchsten Ziel in den Blick fasst. Anschließend wird an zwei kosmologischen Beispielen dargelegt, wie das Hohe prinzipiell herab zum Niedrigen strebe, was, so überträgt der Prediger, auch für Gott und den Menschen gelte, der sich in Demut ganz erniedrige ( DW I, S. 233,1-235,3). Im dritten Abschnitt ( DW I, S. 235,4-237,12) richtet sich die Predigt gleichsam auf ihr Zentrum aus, in dem das Gottesverhältnis des demütigen Menschen in den Fokus rückt. In den Menschen, der wahrhaft demütig ist, muss Gott sich ganz ergießen; der demütige Mensch und Gott sind eins. Mit dem Gedanken vom ›enthöhten‹ Gott überführt der Prediger schließlich die Relationen von Höhe und Tiefe auf ein Innen hin, das frei von räumlichen Kategorien ist, in dem wir Gott nicht mehr oben suchen, sondern in uns finden sollen. Der letzte Abschnitt ( DW I, S. 238,1-240,10) schließt das Thema der Sohnesgeburt an, die der Prediger als wechselseitige Geburt begreift; in der Einheit sind Gott und Mensch dynamisch aufeinander bezogen. Ein Zitat aus dem Johannesevangelium leitet das Ende der Predigt ein ( DW I, S. 240,10-13). Während der argumentative Aufbau der Predigt 4 klar der divisio des Leitzitats folgt, das schrittweise ausgelegt wird, lassen sich hier die textintern angekündigte Disposition und der folgende Aufbau der Predigt nicht ohne weiteres ins Verhältnis zueinander setzen. Der Prediger kündigt an, dass das Leitzitat drei Bedeutungen ( synne ) bereithalte, es bleibt aber offen, worauf sich diese drei ›Sinne‹ beziehen. 114 Ich folge in dieser Frage der Gliederung von Karl Heinz Witte eng, die nicht auf der Dreiteiligkeit des Leitzitats beruht, sondern die drei angekündigten Gedankenschritte mit den auch textintern markierten Argumentationsschritten engführt. Die Dreiteilung, die Witte in der Predigt verwirklicht sieht, verbindet den ersten Punkt mit dem ersten Abschnitt des Teils zu den Seelenkräften, den zweiten Punkt mit dem zweiten Abschnitt dieses Teils. 115 Mit dem dritten Punkt schließt der Teil 114 Entsprechend variieren auch die Gliederungsvorschläge, die an die Predigt herangetragen werden. Während Quint festhält, »daß im Verlauf der Predigt nicht zu erkennen [sei], welches diese ›drei Sinne‹ sind und wo jeweils über den ersten, den zweiten und den dritten abgehandelt wird« (DW I, S. 229), gründen sowohl Joachim Theisen als auch Niklaus Largier ihre Gliederung auf der Dreiteilung von Aufstehen, Sich-Erheben und Erleuchtet-Werden, die die Übersetzung des Leitzitats vorgibt. Ihre Ergebnisse differieren im Detail: Während Theisen das Aufstehen auf den ersten Predigtteil mit den Seelenkräften (DW I, 230,6-S. 232,8), das Sich-Erheben auf einen längeren zweiten Teil (DW I, S. 233,1-237,12) und das Erleuchtet-Werden auf den dritten Predigtabschnitt bezieht (DW I, S. 238,1-240,13; vgl. Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 418-421), sieht Largier die Ausführungen über die Seelenkräfte noch vor der eigentlichen Auslegung des Leitzitats. So beginnt für ihn der Abschnitt, der dem Aufstehen gewidmet ist, erst im Anschluss (DW I, S. 233,1-235,3), gefolgt von dem Teil zum Sich-Erheben (DW I, S. 235,4-237,12) und dem der Erleuchtung (DW I, S. 238,1-240,13; vgl. Largier, Kommentar, S. 890). Völlig anders dagegen gliedert Karl Heinz Witte die Predigt (vgl. Witte, Predigt 14, S. 8 f.). - Diese Varianz in der Gliederung beruht auf divergierenden Ordnungskriterien. Während Theisen seine Unterteilung ›formal‹ auf die Dreigliedrigkeit des Leitzitats, ›semantisch‹ auf den liturgischen Kontext des Festes Epiphanie mit seinen drei zentralen Festinhalten stützt (vgl. Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 419), trennt Largier, wie Quint es schon andeutet, den Abschnitt zu den Seelenkräften vom Rest der Predigt. Bei ihm ist die Trias der Verben, mit denen das Leitzitat übersetzt wird und die sich mit den folgenden drei großen Predigtabschnitten assoziieren lassen, das entscheidende Ordnungskriterium (vgl. Largier, Kommentar, S. 890). 115 Der erste ›Sinn‹ entspricht so den Ausführungen zu den oberen Seelenkräften (DW I, S. 230,6-231,4), der zweite thematisiert die niederen Seelenkräfte (DW I, S. 231,5-232,8). Beide Abschnitte werden durch eine Wiederholung des Leitzitats eingeleitet (DW I, S. 230,6 und S. 231,5); der steigernde Übergang vom ersten zum zweiten ›Sinn‹ wird durch den Prediger explizit gemacht ( hey by in wylen wir 104 II. Analysen an, auf den die Predigt im Ganzen zielt: der ›Hauptgedanke‹ von Gottes Vereinigung mit dem demütigen Menschen. 116 Schon auf dieser Ebene zeigt sich, dass die Predigt 14 ein anderes Profil besitzt als die Predigt 4. Während letztere im Ganzen eher praktisch ausgerichtet ist, erörtert der Prediger das Thema der Demut hier auf deutlich abstrakterem Niveau. So spielen auch religiöse Praktiken einer contemplatio , wie Predigt 4 sie aufgegriffen hatte, in dieser Predigt keine Rolle. Der Prediger betrachtet die Demut gar nicht erst als eine Tugend unter anderen, sondern bezieht sie unmittelbar und grundlegend auf das Gottesverhältnis des Menschen. Auch ist die Dichte an Deiktika im Text insgesamt geringer als in Predigt 4, denn diese Predigt inszeniert weniger dialogische Kommunikation unter Anwesenden, sondern entwickelt ihr Thema, indem sie die Stimme des Predigers profiliert. Sie ist für meine Fragestellung deshalb relevant, weil auch sie im Gang der Rede eine ganz eigene Intensität erzeugt, mit der sie das Thema der Demut neu bestimmt und ihren impliziten Adressaten die angesprochene Umdeutung der Demut performativ mitvollziehen lässt. Weil es mir auf die Bewegung ankommt, die die Predigt im Ganzen inszeniert und vollzieht, bespreche ich die Predigt ausführlicher auch dort, wo sich der Bezug zu meiner Fragestellung vielleicht nicht unmittelbar erschließt. Ich folge erneut schrittweise dem Predigtverlauf und lege den Schwerpunkt der Analyse darauf, sichtbar werden zu lassen, wie dieser Text Raum- und Sprachordnungen ausreizt und dabei eine eigene Wirkkraft entwickelt. Es hängt mit dem Profil dieser Predigt zusammen, dass ich weniger als im vorangegangen Kapitel vom Prediger und seinen Zuhörern spreche; auch hier öffne ich die Textanalyse zunächst nur punktuell auf die Frage nach dem impliziten Adressaten. Im Anschluss an den Durchgang durch den Text ziehe ich die Ergebnisse zusammen und gehe übergreifend auf die Predigt und ihren impliziten Adressaten ein. 2. Analyse 2.1 Ausrichtung nach oben. Zu den Seelenkräften Auch in dieser Predigt fokussiert schon die deutsche Übersetzung des Leitzitats den Bibeltext auf spezifische Weise und gibt damit eine Richtung für den weiteren Predigtverlauf vor. 117 Wenn der Prediger die Worte surge illuminare Iherusalem (Is 60,1) übersetzt, erweitert er die zweigliedrige Form des Vulgata-Textes zu einer Dreierkette: Der propphete ysaias spricht: ›stant vp jherosalem inde erheyff dich inde wirt erluchtet‹ ( DW I, S. 230,3 f.). Indem er an die Stelle des lateinischen Imperativs surge die Doppelform stant vp […] inde erheyff dich setzt, schafft er, wie Freimut Löser bemerkt, die Grundlage dafür, im weiteren Predigtverlauf auch auf den Gedanken des Erhabenseins zurückgreifen zu können. 118 Das wird wichtig, weil es in der Predigt gerade nicht um einen Stufenweg des Aufsteigens geht, wie der Imperativ surge nahelegen könnte; die Dopplung in der Übersetzung trägt dazu bei, die Bewegungsrichtung nach oben zu verstärken, die später aufgegriffen und umgedeutet wird. Das dritte Glied der Kette, inde wirt erluchtet , erhält über die reihende Aufzählung stärkeres Gewicht, sodass die Kontrastierung von aktiver Aufwärtsbewegung und einem passivem neit bleuen , DW I, S. 231,3 f.). Zu beachten ist, dass das Leitzitat nur in der Handschrift Lo1 zweimal wiederholt wird; B16 wiederholt das Leitzitat nur einmal. 116 Vgl. Witte, Predigt 14, S. 9. 117 Vgl. auch Löser, Lateinische Bibel und volkssprachliche Predigt, S. 222. 118 Vgl. ebd. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 105 Erfülltwerden durch das Licht hervortritt. Desweiteren korrespondiert die dreiteilige Struktur, die das Leitzitat in dieser Übersetzung erhält, der Disposition der Predigt, für die der Prediger unmittelbar im Anschluss an die Übersetzung dry synne ankündigt. Im ersten Abschnitt der Predigt ( DW I, S. 230,6-232,8) stehen zwei verschiedene Arten von Seelenkräften im Fokus: zunächst die oberen ( DW I, S. 230,6-231,4), dann die niederen Kräfte der Seele ( DW I, S. 231,5-232,8), die jeweils deshalb in den Blick genommen werden, weil sie nach etwas Höherem streben. Den Prediger interessiert ihre Ausrichtung nach oben. 119 Damit schließt er an die Aufwärtsbewegung an, die das Leitzitat impliziert, und verbindet das Aufstehen mit der Ausrichtung der Seele nach oben, die zu Gott strebt. S t a n t v p i h e r u s a l e m i n d v e r h e i f f d i c h i n d w e r d e v e r l u c h t e t . D e m y s t e r i n d e d e h e y l g e n sprechent gemeynlichen, dat de sele haue dri creften, dar an sy gelich sy der dryueildicheit. De eirsten craft is g e h o c h n y s s e , de ment eyne heymeliche, verborgen konst; de nennet den vader. De ander craft heyscht i n t e l i g e n c i a , dat is eyne intgegenwordicheit, eyn bekennen, eyne wysheit. Dey dirde crafte de heysset w y l l e , eyn vloit des heylgen geistes. h e y b y i n w y l e n w i r n e i t b l e u e n , w a n t i t i n i s n e y t n u w e m a t e r i e . (DW I, S. 230,6-231,4) Das Leitzitat markiert den Neueinsatz der Rede, bevor der Prediger die Lehre von den drei Kräften der Seele skizziert, die im Anschluss an die Trinitätslehre Augustins die drei oberen Seelenkräfte in Analogie zu den drei trinitarischen Personen bzw. deren Appropriationen stellt. 120 Die Lehre von den drei Seelenkräften, die in der Terminologie der Predigt als gehochnysse , inteligencia und wylle bezeichnet werden, sichert der Prediger über die doppelte Autorität von Meistern und Heiligen ab, ohne Augustinus namentlich zu erwähnen; mit dem Hinweis, dies sei kein neuer Gegenstand, führt er die Lehre als bekannt ein. Die Bemerkung, es handele sich dabei nicht um nuwe materie , lässt sich in zwei Richtungen hin auffassen: in dem Sinn, dass der Prediger damit andeutet, »daß seine Zuhörer mit den Grundlagen zur Genüge vertraut sind«, 121 aber auch als Reflex dessen, dass die Zuhörer die Lehre nicht unmittelbar im Kontext der augustinischen Tradition zu verorten wissen, sodass er ihnen erst erklären muss, dass es sich um bekanntes Wissen handelt, bei dem er nicht stehenbleiben möchte. 122 Dass die oberen Seelenkräfte in ihrer inneren Struktur die Dreifaltigkeit in ihrer dynamischen Einheit spiegeln, weist die Einheit schon an dieser Stelle als Ursprung und Ziel aus. 119 Zu den Seelenkräften vgl. auch Largier, Kommentar, S. 890 f. 120 Vgl. ebd., S. 890 und S. 758. Zum Fest Ephiphanie als revelatio trinitatis vgl. auch Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 421-424. 121 Witte, Predigt 14, S. 11. 122 Der Hinweis trennt so gesehen Prediger und Zuhörer, von denen der eine darum weiß, dass die Lehre nicht neu ist, die anderen aber nicht, anstatt sie mit Blick auf einen gemeinsamen Horizont des Wissens zusammenzuschließen, wie Freimut Löser es für die Predigt 19 herausgearbeitet hat, vgl. Löser, Predigt 19, S. 136. Auch dass der Name Augustinus nicht fällt, sondern hier wie im folgenden Abschnitt anonym zitiert wird, lässt sich in beide Richtungen hin auffassen: sowohl dahingehend, dass die Predigt einen Adressaten unterstellt, der diese Zuordnung eigenständig vornehmen kann, als auch mit Blick darauf, dass diese Information für den unterstellten Adressaten der Predigt gar nicht relevant ist. Wichtiger als die namentliche Zuordnung wäre dann die Absicherung der Lehre darüber, dass sie von Meistern und Heiligen gleichermaßen autorisiert ist. - In der Abgrenzung des bekannten Wissens von der nuwen materie spiegelt sich die Profilierung der eigenen Lehre Eckharts, die auf den Reiz des Neuen setzt. Zu denken ist dazu an die prominente Stelle aus dem Prolog zum Opus tripartitum : dulcius irritant animum nova et rara quam usita (Prol. gen., LW I,2, S. 21,13 f.); vgl. dazu auch Köbele, emphasis , überswanc , underscheit , S. 976. 106 II. Analysen Der nächste Abschnitt der Predigt thematisiert weitere Seelenkräfte; erneut gliedert das Leitzitat den Text. 123 › S t a n t v p j h e r o s a l e m i n d e w i r t e r l u c h t e t ‹ . it sprechent de a n d e r m y s t e r , de och de sele an dry deylent: Sy nennent de ouerste craft e y n t z o r n e g e c r a f t ; de gelichent sy deme vader. Der hait alwege eynen kreich inde eynen tzornicheit weder dat boesse. der tzorn blendet dye sele inde mynne verwint de syne <…> D e e i r s t e k r a f t an gyt sych in der leueren, D e a n d e r an deme hertzen, D e d i r d e in den heirnen. Got der hait eynen < ge > gegen natoirlichen kreich, dat <…> ( DW I, S. 231,5-232,1). Ab dieser Stelle überliefert die Handschrift B16 allein die Predigt. Der Text wirkt lückenhaft: Von dem, was offensichtlich neuerlich als ein Ternar von Kräften gedacht ist - irascibilis , concupiscibilis , rationalis -, wird nur die tzornege craft angesprochen und kommentiert; unmittelbar im Anschluss wird im Text jedoch wieder explizit auf drei Kräfte referiert. 124 Eingeführt wird das, was Quint wie Largier in ihren Kommentaren als möglicherweise über Albertus Magnus vermittelte Lehre Galens ausweisen, 125 abermals als Meister-Zitat, das nun anderen Meistern als zuvor zugewiesen wird. Dabei scheint es nicht darum zu gehen, diese Lehre möglichst genau wiederzugeben, sondern bedeutend ist im Kontext der Predigt, wie die Seelenkräfte insgesamt perspektiviert werden. Sie »greifen […] die Aufwärtsbewegung auf: Jede dieser Kräfte zielt auf höchste Erfüllung. Sie geben keine Ruhe, bis sie im jeweils edelsten ihrer Ziele angekommen sind.« 126 In der Predigt liest sich das so: d e e i r s t e de in geruwet numer meir mey, sy en koeme in dat hoegeste; were eit hoeger dan got, sy in woilde gotzs neit. D e r a n d e r in genoeget neit dan an deme alre besten; were eit besser dan got, sy in wolde godes neit. D e r d i r d e r ingenoeget neyt dan an eynem goiden; were eit goiders dan got, sy in wolde godes neyt. s y i n r a s t e t n e i t dan an eynem steden goide, in deme alle goit besloissen is, d a t s y a n i n e i n n e w e s e n . G o t s e l u e r i n r a s t e t d a i r n e y t , dar hey is eyne begyn alles wesses. H e y r a s t e t , dair dar hey is eyn ende inde eyn begyn alles wessens. ( DW I, S. 232,1-8) Die strenge syntaktische Parallelführung verstärkt die Aussage; die intensivierende Wiederholung lässt die auf der Inhaltsebene angesprochene Steigerung auch sprachlich Gestalt gewinnen. Damit tritt der Umschwung umso pointierter hervor, mit dem in einem zweiten Schritt der Blick auf die Erfüllung gelenkt wird: sy in rastet neit dan an eynem steden goide, in deme alle goit besloissen is, dat sy an in einne wesen . Die Formulierung an in einne wesen , die die Handschrift bietet, ist schwierig zu verstehen. Quint paraphrasiert: »Der ganze Satz kann m. E. nur dies besagen: die Seele rastet nur in einem beständigen Gute, in dem 123 Dass das Leitzitat zumindest in der Textgestalt, wie wir sie bei Quint lesen, so dicht in den Text inseriert ist, ist auffällig. Die zweifache Wiederholung, mit der es insgesamt dreimal zu Beginn der Predigt auftaucht, lässt sich mit der die Predigt insgesamt prägenden ternären Struktur in Verbindung bringen. Während die Wiederholung des Leitzitats die Predigt 4 rahmend umschlossen hatte, steht es hier stufenförmig gereiht zu Beginn, sodass es den Auftakt der Predigt betont. Indem das Fortschreiten der Rede gleich mehrfach markiert wird, scheint die Predigt an dieser Stelle ihre eigene Initiation zu vollziehen. 124 Vgl. die Kommentare Quints (DW I, S. 231, Anm. 5) und Largiers zur Stelle (Largier, Kommentar, S. 890 f.). Vgl. auch Witte, Predigt 14, S. 11. 125 Vgl. DW I, S. 231 f., Anm. 6; Largier, Kommentar, S. 891. 126 Witte, Predigt 14, S. 8. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 107 alle ›Gut‹ beschlossen sind, so daß sie in ihm eins sind.« 127 Vielleicht muss man an dieser Stelle auch die handschriftliche Form nicht unbedingt als »irgendwie verderbt« 128 (Quint) auffassen, um die inhaltliche Aussage zu verstehen: Die Seele kommt erst dort zur Ruhe, wo alle guten Dinge eins sind, wo also die Einheit in der Vielheit zutage tritt. Die richtungsweisende Präposition an ließe sich dabei als grammatische Spiegelung einer dynamisch gedachten Konzeption verstehen, die noch auf der sprachlichen Ebene durchschlägt: ›auf dass 129 sie [ alle goit ] auf es [das eyne stede goit ] 130 hin eins sind‹. Die prominente Platzierung von einne wesen am Satzende würde ein solches Zulaufen auf die Einheit als Ursprung wie Ziel nur syntaktisch umsetzen. Damit wäre zum Ende dieses Abschnitts hin nicht nur das über die Seelenkräfte thematisierte Streben in die Ruhe überführt, sondern auch die Dreiheit auf die Einheit hin perspektiviert. Dass die so verstandene Ruhe nicht in der kontinuierlichen Entfaltung bzw. im Streben auf etwas hin, sondern erst in der Einheit von Ursprung ( begyn ) und Ziel ( ende ) besteht, macht der Prediger am Ende dieser Passage explizit, wenn er die Bewegung der Seele mit dem Streben Gottes engführt. So wie die Seele nur dort rastet, das heißt zur Ruhe kommt, wo alles Gute auf das eine Gut hin zentriert ist, dem es entspringt, so rastet Gott nur dort, wo er Ursprung und Ziel allen Seins ist. Auch hier trägt der syntaktische Parallelismus dazu bei, die aufeinanderfolgenden Sätze zu verklammern und so den Eindruck eines fließenden Fortschreitens der Rede zu erzeugen. In der syntaktischen Parallelführung tritt die Verschiebung zwischen den einzelnen Positionen nur umso stärker hervor. Dadurch wird die Bewegung dieser Satzfolge auf ihr Ende hin gelenkt, das die Zusammenführung von Ursprung und Ziel in ihrer dynamischen Einheit akzentuiert. Das wiederum kontrastiert mit dem Aufwärtsstreben, das zuvor im Fokus gestanden hatte. Die Bewegung des Strebens ist an dieser Stelle in den Punkt überführt, an dem sie Ruhe findet: in der Einheit von Ursprung und Ziel bei Gott, in der alles Streben aufgehoben ist. In gleichem Maße kommt an dieser Stelle auch die Argumentation, auf deren Fortschreiten der Prediger ja im Anschluss an die Präsentation des ersten Seelenternars noch insistiert hatte, nun zu einem Abschluss - und folglich selbst zur Ruhe. Die Auseinandersetzung des Predigers mit den Kräften der Seele am Beginn der Predigt wirft Fragen auf, da sie zum Fortgang des Texts nicht recht zu passen scheint. So nimmt schon Quint die Tatsache, dass der erste Abschnitt »von drei Kräften der Seele [handelt], ohne daß ein innerer oder auch nur äußerer Zusammenhang dieser Ausführungen mit dem eigentlichen Thema der Predigt […] ersichtlich« 131 sei, mit zum Anlass, am Text der Berliner Handschrift B16 zu zweifeln, und Niklaus Largier lässt die eigentliche Auslegung 127 DW I, S. 232, Anm. 1. 128 Ebd. 129 Ob der Nebensatz konsekutiv (Quints Paraphrase) oder final (meine zugespitzte Formulierung) aufzufassen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Wenn ich die finale Perspektive mehr betone, stütze ich mich vor allem auf den Konjunktiv der Verbform ( wesen ); beide Bedeutungsnuancen klingen an dieser Stelle mit. 130 Auch das setzt voraus, an der Stelle, wo im Text von B16 in steht, im zu lesen und damit implizit einen Schreibfehler o. ä. zu unterstellen - was bei der Alternanz von n / m, die ein Nasalstrich in einer möglichen Vorlage offengehalten haben könnte, nicht unbedingt fern liegt. Die grammatikalisch einzig mögliche Auflösung von in als Reflexivpronomen (›dass sie [ alle goit ] in sich eins sind‹) ist zwar auch denkbar, klammert aber jeden Bezug auf das eyne stede goit aus. 131 DW I, S. 229. 108 II. Analysen des Leitzitats erst hinter diesem Abschnitt »abrupt« 132 beginnen. Ob vielleicht wirklich, so die vorsichtige Formulierung Quints, »mit der Möglichkeit zu rechnen [ist], daß der Eingangsteil über die Seelenkräfte ursprünglich gar nicht in den Zusammenhang der vorliegenden Predigt hineingehörte«, 133 lässt sich zumindest auf der Grundlage der bekannten Überlieferung nicht mit Sicherheit sagen. Insofern bleibt der Textstatus an dieser Stelle problematisch. Inhaltlich-thematisch lässt sich die Auseinandersetzung mit den Seelenkräften, wie Karl Heinz Witte gezeigt hat, schlüssig im Gesamtkontext der Predigt verstehen, 134 als Auseinandersetzung mit der trinitarischen Struktur der Seele passt sie in den liturgischen Rahmen des Festes Epiphanie, 135 und die Handschrift B16 als einziger Textzeuge fügt die Abschnitte nahtlos aneinander. Im Predigtverlauf lässt sich der Wechsel zwischen diesem ersten Abschnitt zu den Seelenkräften und dem folgenden eigentlichen Hauptteil als Neuansatz der Rede verstehen, für die die konventionelle Thematik der Seelenkräfte als initiatives Moment fungiert. Der Abschnitt erscheint in dieser Lesart als Folie, vor der der Prediger die eigene Lehre umso stärker profilieren kann. Tatsächlich aber unterscheidet sich dieser Abschnitt zum Teil doch deutlich von der eindrücklichen performativen Dynamik, die die Predigt später entwickelt. So wechselt zum nächsten Abschnitt hin auch die Art, wie der Prediger mit seinen Zuhörern umgeht, diese anspricht und einbezieht, und damit die Inszenierungsform der Predigt im Ganzen merklich. An die Stelle der distanzierten Aufzählung von Wissensbeständen tritt die unmittelbare Entfaltung einer Lehre, die ihren Adressaten wie in einem Sog mit- und regelrecht in sich hineinnimmt. 2.2 Von oben nach unten zur Demut Je nachdem, wie man sich zu der Frage der Textkonstituierung stellt, beginnt mit dem Folgenden die eigentliche Auslegung des Schriftworts, die gleichsam den Kern der Predigt bildet. 136 Sie knüpft thematisch durchaus schlüssig an die Ausführungen zu den Seelenkräften an und löst sich zugleich davon, lässt sich also auch unabhängig davon lesen. Stand zuvor der Mensch mit seinen Kräften und seinem Streben im Fokus, so wechselt die Perspektive nun hin zum Wirken Gottes. 137 Das Ineinander von Auf- und Abwärtsbewegung, das im Leitzitat angelegt ist, wird in den folgenden Passagen der Predigt thematisch ausgefaltet und auf das Gottesverhältnis des Menschen übertragen. Dabei verschiebt sich zunächst der Blick: Ging es im vorangegangenen Abschnitt um die Aufwärtsbewegung im Streben der Seelenkräfte, so steht im nächsten Abschnitt ( DW I, S. 233,1-235,3) die Abwärtsbewegung des Hohen zum Niederen im Mittelpunkt. Thematisch bedeutet das: Wenn der Mensch sich in Demut nach unten bewegt, so kommt Gott von oben herab zu ihm. Damit wird explizit gemacht, was in der Skizzierung der Seelenkräfte, die nach oben streben, noch im Hintergrund geblieben war: die Dimensionen von Höhe und Tiefe und ihr Verhältnis zueinander. 132 Largier, Kommentar, S. 890. 133 DW I, S. 229. 134 Vgl. Witte, Predigt 14, S. 10-12. 135 Vgl. Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 422. Joachim Theisen interpretiert den Abschnitt zu den Seelenkräften in ihrem liturgischen Kontext überzeugend als »Ausgangspunkt« der Predigt, der »[m]it dem Aufweis der trinitarischen Struktur der Seele und ihrer dynamischen Hinordnung auf Gott […] im Zentrum des Festes ansetzt.« Ebd., S. 424. 136 Vgl. Witte, Predigt 14, S. 11. 137 Vgl. ebd., S. 12. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 109 Desweiteren wechselt die Rede in diesem Abschnitt auch das erste Mal im Predigtverlauf in die direkte Du-Anrede. In einem ersten Schritt greift der Prediger das Wort Jerusalem aus dem Leitzitat auf und deutet es als Höhe. 138 Damit ist der Anknüpfungspunkt gefunden, um zu erläutern, dass Gott von oben herunter zu dem Menschen komme, der sich in Demut erniedrige. j h e r o s a l e m spricht also vyl as e y n e h o e , a s i c h s p r a c h z o m e r g a r d e n : d a t h o e g e i s , zo deme spricht man: koyme heir neder. d a t n e d e r i s , zo deme spricht man: koime heire vp. B y s t u n e d e r inde were ich inbouen dir, so moyste ich heir neder zo dir. also deyt got; so w a n e d u d i c h o i t m o e d e g e s , s o k o m p t g o t v a n i n b o u e n h e i r n e d e r i n d e c o m p t i n d i c h . ( DW I, S. 233,1-5) Kein Meisterzitat, sondern ein Selbstzitat leitet den neuen Predigtabschnitt ein. Mit dem Rückverweis as ich sprach zo mergarden wird, wie Karl Heinz Witte treffend formuliert, an dieser Stelle die »Umkehr der Denkrichtung […] nicht thematisch oder thesenhaft eingeläutet, sondern […] inhaltlich fließend, aber persönlich pointiert« 139 vollzogen. Es liegt nahe, die Ortsangabe zo mergarden auf das Zisterzienserinnenkloster Mariengarten zu beziehen, das den Mittelpunkt der Kölner Predigten bildet. 140 So spannend die historische Verortung der Predigt ist, so lässt sich die Angabe doch nicht mit Gewissheit auflösen. Infolgedessen gewinnt die Frage nach der Funktion des Selbstzitats im Textverlauf Gewicht. Für das Verhältnis von Prediger und Zuhörern ist die konkrete Ortsangabe signifikant, denn der Prediger setzt damit offensichtlich voraus, dass seine Zuhörer den Namen Mariengarten als Predigtort einzuordnen wissen. 141 Das profiliert einerseits die Stimme des Predigers 142 und stiftet andererseits Gemeinschaft - der Prediger bezieht »die Zuhörer als Kenner ein.« 143 Wenn der Prediger anschließend den Gedanken ausbreitet, dass das Hohe und das Niedrige zueinander streben, wird »die statische Ortsbestimmung, die Höhe da oben, in eine Bewegungsrichtung umgeformt: hinauf und herab.« 144 Dabei ist die syntaktische Struktur besonders auffällig, mit der im Text der Blick so gelenkt wird, dass man die inszenierte Bewegung mitvollzieht. Die ersten beiden Sätze sind exakt parallel gebaut, sodass nur die Besetzung der Positionen ›hoch‹ und ›niedrig‹ wechselt: dat hoege is, zo deme spricht man: koyme heir neder. dat neder is, zo deme spricht man: koime heire vp . Die Parallelität 138 Vgl. Largier, Kommentar, S. 891: »Die vorliegende Deutung weicht von der gängigen ab, die ›Jerusalem‹ als ›Friede‹ deutet.« 139 Witte, Predigt 14, S. 13. 140 Vgl. dazu Witte, Von Straßburg nach Köln. In der Predigt 22, auf die sich dieser Rückverweis dann bezöge, perspektiviert der Prediger das Verhältnis von Höhe und Tiefe ganz ähnlich wie hier. Pr. 22, DW I, S. 385,5-9: Wære ich hie oben und spræche ich ze einem: ›kum her ûf! ‹ daz wære swære. Mêr: spræche ich: ›sitz hie nider! ‹ daz wære lîht. Alsô tuot got. Swenne sich der mensche dêmüetiget, sô enmac sich got niht enthalten von sîner eigenen güete, er enmüeze sich senken und giezen in den dêmüetigen menschen. 141 »Vielleicht erinnern sie sich selbst an das Thema aus seiner Predigt im Mariengarten. Wenn nicht, so setzt Eckhart doch voraus, daß sie von seinen Predigtauftritten an verschiedenen Orten wissen.« Witte, Predigt 14, S. 13. 142 »Wenn Eckhart später von seiner Lehrtätigkeit an der Schule in Paris sprechen wird, identifiziert er sich selbst als Fachtheologen. Hier identifiziert er sich als Prediger eigener Zuständigkeit, der seine Themen hat.« Ebd. [Herv. im Orig.]. 143 Ebd. 144 Ebd., S. 12. »Diese Umlenkung des Blicks ist für die vorliegende Predigt ausschlaggebend; sie enthält die ›Kehre‹ des Denkweges, von der diese Predigt handelt: vom Aufstieg der Seele zum Herabfließen Gottes.« Ebd. - Vgl. zur Stelle auch Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 425-430. 110 II. Analysen der Syntax spiegelt die Komplementarität der Bewegungsrichtungen nach oben und nach unten. Der nächste Satz durchbricht diese Konstruktion, und zugleich schwingt die Rede das erste Mal in die Anrede im personalen dû um: Bystu neder inde were ich inbouen dir, so moyste ich heir neder zo dir. Damit bringt der Prediger die allgemeine Aussage zur konkreten Anwendung. 145 Mit der Du-Anrede wird jeder einzelne Zuhörer aus der Gruppe unmittelbar angesprochen - und geradezu darauf festgeschrieben, ›unten‹ zu sein. Denn der Konditionalsatz mit der Erststellung des Verbs ist performativ hochgradig aufgeladen, insofern der Satz »das im Konditionalsatz Implizierte […] auf den möglichen Empfänger überträgt«. 146 Die Zeitenfolge im Konditionalsatz unterläuft auf den ersten Blick die Erwartung an grammatisch wohlgeformte Rede, die für beide Glieder des Konditionalsatzes die gleiche Zeit und den gleichen Modus voraussetzen würde. Dadurch wird die Position dieses dû weiter festgeschrieben. So macht der Prediger deutlich, dass das angesprochene dû niedrig ist, und setzt sich zudem selbst ins Verhältnis dazu: auch das ich ist nicht oben, sondern unten. Diese Positionierung zeigt sich schließlich auch in der Blickrichtung, die die Deiktika im Text indizieren. Die Richtungsangabe ›herunter‹ ( heir neder ) bringt zum Ausdruck, dass ›unten‹ die Origo des Sprechers ist. Diese Lenkung des Blicks setzt sich im nächsten Satz fort, der die Passage zum Abschluss bringt. Nach der ersten, konkretisierenden Verschiebung von man zu ich und dû zieht der Prediger mit dem vergleichenden also die explizite Parallele zum Handeln Gottes: also deyt got; so wane du dich oitmoedeges, so kompt got van inbouen heir neder inde compt in dich . Auch hier ist ein Dreischritt aufgerufen, von ›oben‹ über ›herunter‹ zu ›in dich‹. Damit erhält die Bewegung, die in den vorangegangenen Sätzen inszeniert wurde, eine letzte, entscheidende Wendung. Karl Heinz Witte macht zu Recht darauf aufmerksam, dass in diesem Predigtabsatz die aufwärts gerichtete Blickrichtung im Bibelvers umgekehrt werde. 147 Zugleich aber wird der Blick mit in dich auch hier schon nach innen gelenkt und so der Gegensatz von ›oben‹ und ›unten‹ ins Wanken gebracht. 148 Joachim Theisen hat die wichtige Beobachtung gemacht, dass schon in der Semantik des reflexiv verwendeten Verbs sich oitmoedegen diese Bewegung nach innen hin angelegt ist: Bei dieser reflexiven Bewegung, die das Subjekt ›du‹ mit sich selbst vollzieht, ist dieses Subjekt zudem, gemäß der spezifischen Bedeutung des Verbs, Ort seiner Bewegung. Die vertikale Raumvorstellung, die zuvor abstrakt erzeugt worden war, wird damit spezifiziert auf den Innenraum des ›du‹, des Menschen. 149 145 Vgl. auch Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 428: die »vorgestellte theoretische Allgemeingültigkeit« werde damit »personal konkretisiert«. 146 Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 149. 147 Vgl. Witte, Predigt 14, S. 8. Die Aufwärtsbewegung des Blicks ist nur eine der beiden räumlichen Implikationen des Leitzitats. Daneben tritt das Motiv des Erleuchtet-Werdens, das das Herabkommen des Lichts von oben impliziert. 148 Donata Schoeller Reischs präzise Beobachtungen zu Eckharts Umgang mit dem Thema der Demut sind auch für diese Predigt treffend. Vgl. zu dieser Stelle z. B. Donata Schoeller Reisch, Enthöhter Gott - vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme, Freiburg / München 1999, S. 59: »Wohingegen sich in der Demut üblicherweise ein statischer Unterschied zwischen mir und einem Anderen niederschlägt, so dass die Demut der Ausdruck einer fixierten Relation ist, vermag Meister Eckharts Demut die fixierte und statische Relation geradezu zu verflüssigen.« 149 Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 429. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 111 Die Bewegung nach innen setzt so die Abwärtsbewegung fort und überschreitet sie im gleichen Moment. ›Sich demütigen‹ impliziert in diesem Sinn eine grundlegende Rückwendung auf sich selbst, bei der die Bewegung nach innen an die Stelle der Opposition von Höhe und Tiefe tritt. Dabei ist auch die Verschiebung von heir neder zo dir im vorangegangenen Satz zu in dich an dieser Stelle signifikant. Abermals ist es der Parallelismus, so kompt got van inbouen heir neder inde compt in dich , der die beiden über die Konjunktion ›und‹ verbundenen Satzglieder über die Gleichsetzung in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander stellt. 150 So wird das Erfülltwerden des Menschen durch Gott nicht nur in räumlichen Kategorien beschrieben, sondern als Fortführung einer Abwärtsbewegung Gottes semantisiert, die schließlich auf das Innen hin überstiegen wird. Damit kommt auch der Satzfluss zur Ruhe; die Betonung liegt auf dem letzten Satzglied: in dich . 151 Spannungsvoll überlagern sich in dem Pronomen dû an dieser Stelle die Möglichlichkeiten der Referentialisierung. Im ersten Satz dominiert der konkrete Bezug auf den einzelnen Zuhörer: ›Wenn du unten bist und ich oberhalb von dir wäre, müsste ich zu dir herunterkommen‹ lässt sich unmittelbar auf die Predigtsituation beziehen, in der der Prediger in seiner Rolle den einzelnen Zuhörer anspricht, um ihm den Sachverhalt zu verdeutlichen. Dabei hat auch dieses dû eine abstrakt-exemplarische Qualität, die im zweiten Satz in den Vordergrund tritt. ›Wenn du dich erniedrigst, kommt Gott in dich‹ lässt sich auch auf den einzelnen Zuhörer beziehen, betrifft zugleich aber jeden Menschen, insofern er im richtigen Sinn demütig ist. Wer Demut nicht als Tugend versteht, die als Weg zu Gott führt, sondern in der radikalen Neudeutung der Predigt alles Geschaffene ›abgeworfen‹ hat, kann nicht anders, als Gott in sich zu finden. Dû changiert zwischen dem Bezug auf jeden einzelnen Zuhörer und dem Menschen, mit dem Gott sich in der Deutung der Predigt notwendig vereinigen muss. Auch hier zeigt sich also in der Referenz des Pronomens jene spezifische Spannung zwischen Abstraktion und Konkretion, in der die Predigtrede ihre Wirkkraft entfaltet. Betrachtet man diese Passage zusammen mit den vorangegangenen Ausführungen zu den Seelenkräften, die nach ihrer je höchsten Erfüllung streben, so fällt auf, wie der Blick sich vom Streben nach oben zum Herabkommen des Oberen nach unten umkehrt. Waren die ersten Absätze bestimmt von der numerisch-ordnenden Aufzählung der Kräfte, so scheint die Predigt nun auch insgesamt in einen anderen, persönlicheren, eindringlicheren und intensiveren Redemodus zu wechseln. Das lässt sich an der Art der Zitation mit der Einleitung des Selbstzitats ablesen, spiegelt sich aber auch auf der Ebene der Syntax, wenn die Tendenz zur parallelisierend-parataktischen Reihung, die mit der systematischen Aufzählung einhergeht, an dieser Stelle das erste Mal aufgebrochen wird: in der chiastischen Verschränkung, die den Abschnitt einleitet und Spannung aufbaut ( dat hoege is, zo deme spricht man: koyme heir neder. dat neder is, zo deme spricht man: koime heire vp ), dann vor allem im anschließenden Konditionalgefüge, das durch die zuvor aufgebaute Spannung wiederum nur noch mehr aufgeladen wird. 150 Zu diesem Verfahren der spannungsvollen Nebenordnung von Ungleichem vgl. Köbele, Predigt 16b. Vgl. dazu auch oben, Kap. II.1.2.3. 151 Joachim Theisen weist zu Recht auf die Nähe der Formulierung, dass Gott ›von oben herunter‹ und ›in dich‹ komme, zur Verkündigungsszene an Maria hin, die auch später im Verlauf dieser Predigt wieder aufgegriffen wird, wenn eine Reihe von Schriftzitaten den letzten größeren Abschnitt einleitet (DW I, S. 238,1-239,3; vgl. dazu unten, Kap. II.2.2.4). Vgl. Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 430. 112 II. Analysen Alles, was hoch ist, bewegt sich von Natur aus nach unten zu dem, was niedriger ist: zwei kosmologische Beispiele veranschaulichen im nächsten Predigtabschnitt die Abwärtsbewegung des Hohen zum Niederen als natürliches Phänomen, was als Einfließen semantisiert wird. 152 Das erste Beispiel setzt an der Bewegung des Himmels zur Erde an, der ihr nachjage, ohne dass sie ihm entfliehen könne; das zweite beschreibt, wie die Sonne ihre Leuchtkraft nicht aus sich selbst habe, sondern dass diese aus dem obersten Stern in die Sonne einfließe, sie durchfließe und sich in die Erde ergösse. 153 De erde is dat alre verste van dem hemele inde hait sych gecrumpene in eynen wynkele inde schampt sych inde solde gerne deme schonen hemel intflyn van eynem wynkel zo deme anderen. w a t w e r e d a n i r e i n t h a l t ? Vloet sy nederwert, sy komet zo deme hemele; vloet sy vpwartz, sy in mach eme doch neyt intflyn. hey jaget sy in eynen wynkel inde drocket syne craft in sy inde macht sy vrochtber, w a r o m b ? dat alre ouerste dat vloyst in dat nederste < Eyn > . Eyn sterne der is bouen der sonnen; dat is der ouerste sterne; der is edeler dan de sonne; der vloisset in de sonne inde verlochtet de sonne, inde alle den schyne, den de sonne hait, den hait sy van desseme sternen. w a t m e y n t d a n , d a t d e s o n n e n e i t i n s c h y n e t a l s o w a i l e d e s n a c h t e s a s d e s d a g e s ? dat meynt, dat de sonne altzomalle alyne neit creftich in is van ir seluer; dat etzwat gebrechafticheit is in der sonnen, dat seit i r e wayl, dat sy dunkel is an eyme ende, inde des nachtes < nachtes > nemet ir der mant inde de sternen eren schyne, inde de driuent sy anders wair; dan schynet sy anders wair in eyn ander lant. Der sterne in vloysset neit aleyne in de sonne, meir hey vlosset dorch de sonne inde dorch alle sternen inde vloisset in de erde inde macht sy vrochtber. ( DW I, S. 233,5-234,11) Beide Beispiele akzentuieren die Kraft, mit der das Hohe sich unausweichlich in das Niedere ergießt; der Fokus liegt auf der lebensspendenden Wirkung dieses Einfließens, das Fruchtbarkeit bringt. 154 Die angesprochene Kraft ist auf der Inhaltsebene präsent, spiegelt sich aber auch in der Syntax, die in der parataktischen Reihung inszeniert, wie die Rede voranschreitet, sodass das Fließen, das thematisch ist, syntaktisch umgesetzt wird. Mit dem Wechsel auf die Ebene naturphilosophischer Begründung bricht die Rede des Predigers von der intensivierenden Du-Anrede an dieser Stelle wieder zu einer abstrakteren diskursiven Erörterung um. Dabei wird kein einzelner Zuhörer angesprochen, sondern ein Kollektiv von zu belehrenden Zuhörern vorausgesetzt, an die der Prediger sich mit auffällig gehäuften rhetorischen Fragen, schließlich einmal mit der direkten Anrede im Plural der zweiten Person richtet. 152 Zur ›Metaphysik des Einflusses‹, die Eckhart hier im Rückgriff auf den Liber de causis und Avicenna gestalte, vgl. Alain de Libera, Denken im Mittelalter. Aus dem Französischen von Andreas Knop, München 2003, S. 239 f. 153 Während Quint die Frage danach offenhält, was mit diesem ›obersten Stern‹ gemeint ist und woher die zugrundeliegende Lehre stammen mag (DW I, S. 234, Anm. 2), interpretiert Joachim Theisen die Stelle im liturgischen Kontext der Predigt als Verweis auf den Stern von Bethlehem, dem die Magier gefolgt seien. In diesem Sinn ist der Stern »eines der Hauptmotive der Liturgie des Festes.« Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 439. 154 Karl Heinz Witte betont zu Recht die Gewalt, die das Bild vom Einfließen des Himmels in die Erde impliziert: »Man kann nicht übersehen, daß hier das Bild einer Vergewaltigung benützt wird, um die Zwangsläufigkeit der Gottesgeburt in der Seele zu demonstrieren. Diese Ausdrucksweise ist nicht allein wegen ihrer Grobheit befremdend, […] sondern vor allem weil sie […] aller spirituell-aszetischen Tugendfrömmigkeit ins Gesicht schlägt. Dieses Bild zeichnet das Gegenteil der frohen Bereitschaft für Gott, der unermüdlichen Anstrengung in der Selbstverleugnung und Annäherung an das Vollkommenheitsideal.« Witte, Predigt 14, S. 15. Vgl. auch Karl Heinz Witte, Der enthöhte Gott - Zur Demutslehre Meister Eckharts, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 1 (2007), S. 43-53, hier S. 45. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 113 Erst in der folgenden Passage, in der der Prediger das Gesagte explizit auf das Gottesverhältnis des demütigen Menschen überträgt, wechselt auch die Sprechhaltung wieder zur direkten Anrede im personalen dû . Zunächst jedoch macht der Prediger deutlich, dass sich Gott ebenso notwendig in den wahrhaft demütigen Menschen ergießen müsse, wie das Obere naturgesetzmäßig in das Niedere einfließen müsse. a l s o i s i t v m b d e n r e c h t e n o i t m o e d e g e n m y n s c h e n , der onder sych geworpen hait alle creatoren inde sych onder got drocket; dat in leist got neyt dorch synne goitheit, hey in gusset sych altzomaile in den mynschen; hey wirt getwongen dar zo, dat hey it van noit doyne mois. w o l t u n u h o e g e s y n inde verhauen syn, s o m o s t u n e d e r s y n van der vloit des blodes off des vlisches, want eynne voirtzele aller sunden inde aller vlecken dat is verborgen bedrogen houart, jnde in is neit dan leit inde weye nauolgende. Also is de oitmodicheit eyne wortzele alles goiden inde dar na volgende is. ( DW I, S. 234,11-235,3) Damit ist der Prediger bei dem Thema angelangt, auf das er die Dichotomie von Höhe und Tiefe, die er dem Leitzitat entnimmt, entscheidend hin bezieht: das Gottesverhältnis des wahrhaft demütigen Menschen. Er schließt mit also zunächst argumentativ an das Vorangegangene an, das er mit Blick auf den wahrhaft demütigen Menschen und Gott zur Anwendung bringt. Wenn die Rede im folgenden Satz zur Anrede im personalen dû wechselt, wird diese Anwendung weitergeführt - und das exemplarisch mit Blick auf den wahrhaft demütigen Menschen Formulierte in pointierter Weise auf den nun konkret angesprochenen einzelnen Zuhörer übertragen. Wieder erfolgt der Umschwung in die Du-Anrede im vorangestellten Konditionalsatz mit Verberststellung, sodass der Angesprochene in die Abfolge von Bedingung und Konsequenz förmlich hineingezogen wird. Im Verlauf der Stelle wird das angesprochene dû so in die Position eingesetzt, die die zuvor aufgerufene Figur des wahrhaft demütigen Menschen eröffnet hatte. Auch hier ist das Pronomen dû gleichermaßen konkrete Anrede an den einzelnen Zuhörer und selbst eine Abstraktionsfigur. Wenn der Prediger betont, dass man niedrig sein müsse, um hoch zu sein, stellt er die beiden Pole der Leitdifferenz von Höhe und Tiefe einander antithetisch gegenüber. Er erweitert sie, indem er auf der einen Seite die Höhe mit dem Erhabensein engführt, 155 auf der anderen Seite das Niedrigsein moralisch ausdeutet, indem er es über das Motiv von Fleisch und Blut daraufhin auslegt, dass der Mensch von allem Selbstbezug frei werden solle. Vor dem Hintergrund des radikalen Begriffs von Demut, den die Predigt bis hierher entwickelt hat, wirkt die Vorstellung, dass die Demut eine Wurzel alles Guten sei, die die Passage beschließt, fast schon befremdlich. Einen konventionellen Begriff von Demut als monastischer Tugend hat der Prediger nicht längst hinter sich gelassen, sondern gar nicht erst aufgerufen. Im zweiten Predigtabschnitt treten so verschiedene Inszenierungsformen der Rede nebeneinander. Der abstrakt gehaltene Mittelteil unterscheidet sich in seinem diskursiv-erörternden Aufbau deutlich vom Beginn wie vom Ende des Abschnitts, an denen die Rede unmittelbarer wirkt. Damit ist auch die Rollenkonstellation von Prediger und Zuhörern jeweils eine andere. So setzt der Mittelteil auf die Inszenierung einer Lehre, bei der Prediger und Zuhörer in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen. Davon unterscheidet 155 Vgl. schon zur Übersetzung des Leitzitats mit der Doppelform vom Aufstehen und Sich-Erheben, die darauf angelegt sei, dass der Prediger auf das Moment des Erhaben-Seins zurückgreifen könne, Löser, Lateinische Bibel und volkssprachliche Predigt, S. 222. 114 II. Analysen sich das dû , das zu Beginn und am Ende des Abschnitts angesprochen wird, maßgeblich. Zugleich führt der Prediger in diesem Zusammenhang am Ende des Abschnitts erstmals die Figur ein, die er im folgenden dritten großen Predigtabschnitt verdichten und einschleifen wird: die Figur des ›demütigen Menschen‹, des oitmoedegen mynschen . 2.3 ›Innigung‹. Zur Transgression von ›oben‹ und ›unten‹ in der Figur des oitmoedegen mynschen Hatte der vorangegangene Abschnitt noch auf Höhe und Tiefe als Leitdifferenz zurückgegriffen, um das Verhältnis von Mensch und Gott zu bestimmen, so wird diese Ordnung im Folgenden bis an die Grenzen geführt und überschritten. Die räumlichen Kategorien von ›oben‹ und ›unten‹ werden destabilisiert; der Prediger stellt ihnen eine neue Dimension entgegen, wenn er Höhe und Tiefe auf ein Innen hin zusammenführt, das jenseits dieser Kategorien steht. Dass dabei die Rede im Fortgang der Predigt einen Sog erzeugt, der die angesprochene Dynamik der ›Innigung‹ literarisch umsetzt und performativ erfahrbar macht, wird zum Signum dieser Predigt, die ihren impliziten Adressaten in den angesprochenen Prozess hineinzieht. Der Prediger begründet in diesem dritten großen Abschnitt ( DW I, S. 235,4-237,12), warum Gott nicht anders kann, als sich in den wahrhaft demütigen Menschen zu ergießen: Der demütige Mensch und Gott sind eins im Leben, Wirken und Sein. 156 Diese Begründung wird aber nicht einfach gesetzt, sondern in der variierenden Wiederholung geradezu eingeschliffen. Die Figur des wahrhaft demütigen Menschen, die der Prediger in diesem Abschnitt etabliert, erhält so ihre Kontur in der Iteration. Der erste Teil des Abschnitts, in dem der Prediger die Notwendigkeit, mit der das Hohe sich in das Niedrige ergießt, noch einmal mit Blick auf das Verhältnis von Gott und dem demütigen Menschen festschreibt, wird gerahmt von zwei Selbstzitaten ( DW I, S. 235,4-9). Der zweite Teil wechselt endgültig auf die Ebene ontologischer Begründung, behauptet die Identität Gottes und des demütigen Menschen und bringt diesen Gedanken erneut mit Blick darauf, dass Gott sich notwendig in den wahrhaft demütigen Menschen ergießen müsse, zur Anwendung ( DW I, S. 235,9-237,3). 157 Den letzten Schritt in diesem Abschnitt, mit dem der Prediger mit dem Gedanken vom ›enthöhten‹ Gott die Dichotomie von Höhe und Tiefe entscheidend auf ein Innen hin übersteigt ( DW I, S. 237,3-12), leitet abermals ein Selbstzitat ein. Mehrere Schriftzitate tragen dazu bei, die Rede noch weiter zu verdichten. Die erste Passage des Abschnitts leitet ein Selbstzitat ein, das nun mit der Angabe zo paris in der schoelen nicht auf einen Ort einer Predigt, sondern explizit auf den Kontext akademischer Lehre verweist. j c h s p r a c h z o p a r i s i n d e r s c h o e l e n , dat alle dynck sollen volbracht werden an deme r e c h t e n o i t m o e d e g e n m y n s c h e n e . de sonne a n t w e r t gode. dat alre hoegesten in syner grondeloesser gotheit a n t w e r t dem alrer nedersten in der doifden der oitmoedicheit. D e r g e w a r e o i t m o d e g e m y n s c h e der in darff got neit b y d e n , hey mach gode g e b e d e n , want de hoede der gotheit in suit neyt anders an den de doifde der oitmoedicheit, a l s o a s i c h 156 Vgl. Witte, Predigt 14, S. 8. 157 Mit dieser Gliederung weiche ich von der internen Strukturierung der Predigt ab, die die Druckausgaben Quints und Largiers über die Einteilung in Abschnitte anzeigen. Wie Witte (vgl. ebd., S. 5 und S. 8) sehe ich den Neueinsatz der Rede erst mit dem Selbstzitat gegeben, mit dem ein neuer Aspekt eingeleitet wird, nicht schon mit dem vorangegangenen Satz. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 115 s p r a c h z o s e n t m e r u e r e n . D e r o i t m o d e g e m y n s c h e i n d e g o t d a t i s e y n ; d e r o i t m o e d e g e m y n s c h e der is godes also geweldich as hey syns selues is, jnde allett, dat in allen engelen is, dat is d e i s o i t m o e d e g e n m y n s c h e n eygen; wat got wircket, dat wirket d e r o i t m o e d e g e m y n s c h e , inde dat got is, dat is h e y : eyn leuen inde eyn wessen; inde Dar ombe sprach onsse leue here: ›leirt van myr, dat ich byn sanftmoedich inde van eynem oitmodegen hertzen‹. D e r m y n s c h e , d e r r e c h t o i t m o d i c h w e r e , antwer got moiste alle syne gotheit verlesen inde moiste der altzo maile vsgayn, off hey moyste s y c h v s g e y s s e n inde moste altzo Mayle in den mynschen v l i s s e n . ( DW I, S. 235,4-237,3) Inhaltlich knüpft der Prediger damit an das vorangegangene kosmologische Beispiel von dem Licht an, das durch die Sonne in die Erde fließt. Wenn er die Sonne mit Gott gleichsetzt, verschiebt sich zwar die Perspektive leicht, 158 zugleich aber wird herausgestellt, wie sehr das Höchste und das Niedrigste wechselseitig aufeinander bezogen sind: de sonne antwert gode: dat alre hoegesten in syner grondeloesser gotheit antwert dem alrer nedersten in der doifden der oitmoedicheit . Wiederum erzeugt die antithetische Parallelisierung des Höchsten und des Niedersten eine Spannung, die die inhaltliche Aussage auf syntaktischer Ebene spiegelt. Dabei wird die Opposition von Höhe und Tiefe unterlaufen, wenn das Allerhöchste mit Blick auf die Grundlosigkeit der gotheit beschrieben wird, denn eine Höhe, die grundlos ist, treibt jede Vorstellung von Räumlichkeit an ihre Grenzen. Im ersten wie im zweiten Satz ist zudem mit antworten das gleiche Verb verwendet, dessen semantische Ambivalenz funktionalisiert wird. 159 Auf diese Weise wird die quasi-allegorisierende Auslegung (›die Sonne entspricht Gott‹) auch auf der sprachlichen Ebene fließend in die Interpretation des Predigers überführt, die auf die Dialogizität im Verhältnis des grundlosen Höchsten zum Niedrigsten abhebt. Fast unmerklich kehrt sich im folgenden Satz die Blickrichtung um, indem der Prediger anschließt, dass der wahrhaft demütige Mensch Gott nicht zu bitten brauche, sondern ihm gebieten könne. Dabei scheint das eine Verb ( byden ) im anderen noch nachzuklingen ( gebeden ). Wenn der Prediger als Grund dafür nennt, dass die Höhe der Gottheit die Tiefe der Demut anziehe ( want de hoede der gotheit in suit neyt anders an den de doifde der oitmoedicheit ), macht er deutlich, dass hier nicht mehr das Niedrige das Hohe zu sich herunter, sondern das Hohe das Niedrige anzieht: Das Hohe und das Niedrige bewegen sich aufeinander zu. Was folgt, erörtert den Gedanken der Einheit Gottes und des wahrhaft demütigen Menschen nicht nur diskursiv, sondern schleift ihn performativ ein. In dieser Passage wird das Fließen der Rede erneut inszeniert. Vor allem aber erhält in der beständigen Iteration die Figur erst ihre Kontur, um die die Rede des Predigers kreist: der oitmodege mynsche , der demütige Mensch. Dass der demütige Mensch und Gott eins sind, wird zunächst gesetzt: Der oitmodege mynsche inde got dat is eyn . Anschließend erläutert der Prediger, was diese Ein- 158 In dem kosmologischen Beispiel war die Sonne ja gerade nicht als Höchstes, sondern nur als Vermittelndes in den Blick getreten, durch das das Licht des höchsten Sterns hindurch und bis zur Erde fließt. 159 Von mhd. antworten ist im ersten Satz die Bedeutungsnuance ›entsprechen‹, im zweiten die Bedeutung ›antworten‹ stärker aktualisiert, was an das lateinische respondere erinnert. Mit ›entsprechen‹ im ersten, ›antworten‹ im zweiten Satz übersetzt auch Quint die Stelle (vgl. DW I, S. 486). Karl Heinz Witte ändert im Textabdruck in den Lectura Eckhardi die Übersetzung ab: »Die Sonne […] antwortet Gott; das Allerhöchste […] antwortet auf das Allerniedrigste«. Witte, Predigt 14, S. 5. Wittes Interpretation ruft nicht nur die Frage auf, was damit gemeint ist, dass die Sonne Gott antworte, sondern führt auf irritierende Weise auch die Sonne mit dem Allerhöchsten, Gott mit dem Allerniedrigsten eng. 116 II. Analysen heitsaussage für die Wirkmacht des demütigen Menschen bedeutet: der demütige Mensch habe die Kraft, so über Gott zu verfügen wie über sich selbst, und alles, was in den Engeln sei, sei ihm, dem demütigen Menschen, zu eigen ( der oitmoedege mynsche der is godes also geweldich as hey syns selues is, jnde allett, dat in allen engelen is, dat is deis oitmoedegen mynschen eygen ). Auffällig wird der Satz von der Nominalphrase der oitmoedege mynsche umschlossen. Erst im folgenden Satz, in dem der Prediger auf die Einheit Gottes und des demütigen Menschen im Wirken wie im Sein abzielt, wird diese in einem zweiten Schritt pronominal substituiert: wat got wircket, dat wirket der oitmoedege mynsche, inde dat got is, dat is hey: eyn leuen inde eyn wessen . Die Elemente got und der oitmoedege mynsche werden in der syntaktischen Verklammerung des Chiasmus enggeführt, ohne doch eins zu werden. 160 Der spezifische Effekt einer Verdichtung, den diese Verschränkung erzeugt, wird durch die Verkürzung in der pronominalen Substitution noch verstärkt. Hatten die vorangegangenen Sätze in der mehrfachen Wiederholung des Syntagmas der oitmoedege mynsche die Erwartungen an grammatisch wohlgeformte Rede ausgereizt, so schließt die Verkürzung nun die beiden Glieder so eng zusammen, dass sie fast austauschbar werden. Es scheint, als sei die mehrfache, reihend-iterierende Wiederholung nötig gewesen, um die Identität einer Figur aufzubauen, bevor diese in die Einheit auch sprachlich überführt werden kann. Die elliptische Behauptung ›ein Leben und ein Sein‹ kontrastiert mit der vorangegangenen chiastischen Verschränkung; die Spannung, die diese erzeugt hatte, löst sich mit der Setzung der Einheit im Leben und Sein an dieser Stelle auf. Damit kommt auch der Satzfluss vorläufig zum Ende, bevor mit einem weiteren ›und‹, das das Zitat fließend in die Rede einfügt, ein Schriftzitat den Satz definitiv zum Abschluss bringen kann: inde Dar ombe sprach onsse leue here: ›leirt van myr, dat ich byn sanftmoedich inde van eynem oitmodegen hertzen‹ . Wenn der wahrhaft demütige Mensch und Gott eins sind, dann kann Gott nicht anders, als sich auszugießen und in den demütigen Menschen zu fließen: D e r m y n s c h e , d e r r e c h t o i t m o d i c h w e r e , antwer got moiste alle syne gotheit verlesen inde moiste der altzo maile vsgayn, off hey moyste s y c h v s g e y s s e n inde moste altzo Mayle in den mynschen v l i s s e n . ( DW I, S. 237,1-3) Mit diesem letzten Satz der Passage zieht der Prediger inhaltlich die Konsequenz aus dem Vorangegangenen. Wieder klingt das eine Verb im zweiten so nach, dass die Bewegung des Fließens sprachlich nachgestaltet ist ( sych vs geyssen , vlissen ). Auffällig ist der Moduswechsel an dieser Stelle. Hatte die vorangegangene Passage die Figur des wahrhaft demütigen Menschen im Fortgang der Rede aufgebaut, indem sie sie iterierend immer wieder gesetzt hatte, so wird hier im vorangestellten Konditionalsatz 161 die Möglichkeit, wahrhaft demütig zu sein, nur mehr im Irrealis vorgestellt. Das lässt sich als vorsichtige Relativierung der brisanten Einheitsaussage lesen. Das, was die vorangegangene Passage emphatisch aufgebaut hatte, scheint damit ein Stück weit zurückgenommen. 160 Zum Chiasmus als Figur, »in der die Inversion der Elemente den Blick auf die Dynamik der Vereinigung und damit auf die Unterschiedenheit in der Einheit freigibt«, vgl. Burkhard Hasebrink, Ein einic ein . Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur, in: PBB 124 (2002), S. 442-465, hier S. 446 f. 161 Der mynsche, der recht oitmodich were lese ich im skizzierten Sinn grammatisch als verkürzten Konditionalsatz; vgl. dazu oben, Kap. II.1.2.1, S. 68 f. mit Anm. 12. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 117 Was folgt, bildet einen Höhepunkt des Argumentationsgangs der Predigt, denn der Prediger überbietet das Vorangegangene, indem er es noch weiter zuspitzt - und die Dimensionen von Höhe und Tiefe schließlich auflöst. 162 Zugleich erzeugt die Rede in und mit der Anrede eine ganz eigene Intensität, in der sie jenen Überstieg für ihren impliziten Adressaten erfahrbar macht - und ihn dabei die angesprochene Bewegung der ›Innigung‹ mitvollziehen lässt. j c h d a c h t e z o n a c h t e , godes hoicheit lege an myner nederheit; dar ich mych nederde, dair wirt got erhoeget. j h e r o s a l e m s a l e r l u c h t e t w e r d e n , s p r y c h t d e s c h r y f t i n d e d e r p r o p p e h e t e . m e r i c h g e d a c h t e z o n a c h t e , dat g o t i n t h o e g e t s o l d e w e r d e n , neit ey alle me ey in, ind sprycht also vyle as inthoeget got, dat myr also wayle behagede, d a t i c h i t i n m y n b o i c h s c h r y f f . it sprycht also: e i n i n t h o e g e t g o t , n e i t e y a l e m e i r e y i n ; d a t w i r v e r h o e g e t s o l d e n w e r d e n e . dat ouen was, dat wart in. d u s a l t g e i n n e g e t w e r d e n i n d e v a n d i c h s e l u e r i n d i c h s e l u e r , d a t h e y i n d i r s y . neit, dat wir eit nemen van deme, dat bouen ons sy; wir solent i n o n s n e m e n i n d e s o l e n t n e i m e n v a n o n s i n o n s s e l u e r . ( DW I, S. 237,3-12) Den gedanklichen Neueinsatz leitet eine kleine Erzählsequenz ein: jch dachte zo nachte, godes hoicheit lege an myner nederheit . 163 Der Prediger greift zunächst die Dichotomie von Höhe und Tiefe in der Sichtweise auf, die naheliegen könnte: dort, wo ich mich erniedrige, werde Gott erhöht. In der Ich-Form der Rede tritt der Prediger erneut als Persönlichkeit vor sein Publikum. Indem er die Sequenz als persönlichen Gedanken einleitet, der ihm am Abend gekommen sei, vermittelt er den Eindruck, Einblick in seine Gedankenwelt zu erhalten. So wird nicht nur Intimität inszeniert, sondern auch die im Modus autoritativer Rede präsente Schwelle zwischen Prediger und Zuhörern eingeebnet. 164 Vergleicht man diese Form der Einleitung eines Selbstzitats mit der vorangegangenen, so tritt der Wechsel in der Perspektive umso deutlicher hervor, mit dem der persönliche Gedanke an die Stelle des universitären Vortrags tritt ( jch sprach zo paris in der schoelen , DW I, S. 235,4). Wie eine Brücke, die im Textverlauf überleitet zu dem neuen Gedanken, wirkt der anschließende Rückgriff auf das Leitzitat, das gleich der doppelten Autorität von Schrift und Propheten zugeschrieben wird: jherosalem sal erluchtet werden, sprycht de schryft inde der proppehete . Es fällt auf, wie der Text des Leitzitats mit jeder Wiederholung verknappt wird. Hatte der Prediger das Leitzitat zunächst vollständig, dann um das mittlere Glied gekürzt wiederholt, so ist der Text an dieser Stelle ›zusammengeschrumpft‹ auf seine Essenz für diesen Predigtabschnitt. 165 Zunehmend schiebt sich die Stimme des Predigers vor die des Propheten. Wenn der Prediger fortfährt, dass er am Abend gedacht habe, dass Gott ›enthöht‹ werden sollte ( mer ich gedachte zo nachte, dat got inthoeget solde werden ), so spiegelt sich in dem überbietenden Adverb mer die ganze Spannung, die das Verhältnis des Predigers zu den Stimmen, die er zitiert, und zu seiner eigenen Rede auszeichnet. Das Adverb mer erlaubt an dieser Stelle einen doppelten Bezug. Es lässt sich auf das unmittelbar vorangegangene Zitat hin lesen, dann ist die Steigerung mit Blick auf die Rede von schryft und proppehete zu verstehen. Es lässt sich aber auch als Überbietung dessen lesen, was der 162 Vgl. auch Witte, Predigt 14, S. 8 f. 163 Karl Heinz Witte spricht von einer »Erzählminiatur«. Ebd., S. 24. 164 Vgl. ebd., S. 13. Vgl. auch Witte, Der enthöhte Gott, S. 46: »Die kleine Anekdote spiegelt mit persönlichem Charme den Umschlag von der gewohnten in die neue Gottesbeziehung.« 165 Zu dieser Formulierung vgl. Köbele, Vom ›Schrumpfen‹ der Rede. 118 II. Analysen Prediger zuvor als persönlichen Gedanken präsentiert hatte. Diesen greift er auf, indem er die Einleitung wörtlich wiederholt ( ich gedachte zo nachte ), und überführt ihn anschließend explizit in das Medium der Schrift, indem er festhält, dass er das Gedachte ›in sein Buch geschrieben‹ habe ( dat ich it in myn boich schryff ). 166 Damit wird an dieser Stelle die für die Predigt zentrale Vorstellung vom ›enthöhten‹ Gott als entscheidender Durchbruch inszeniert und anschließend richtiggehend festgeschrieben. 167 Im weiteren Textverlauf werden die Kategorien von Höhe und Tiefe, die mit dem Gedanken vom ›enthöhten‹ Gott zunächst immer noch aufgerufen waren, endgültig aufgelöst. Wenn der Prediger seinen Gedanken vom ›enthöhten‹ Gott einführt, scheinen die beiden Partizipialadjektive inthoeget und verhoeget zumindest vordergründig noch mit der Dichotomie von Höhe und Tiefe zu arbeiten. Diese Opposition wird aber bald überstiegen. Dass die Rede vom ›enthöhten‹ Gott nur vordergründig noch mit Höhe und Tiefe operiert, verdeutlicht der Prediger im Nachsatz. Wie diese Erläuterung, neit ey ale meir ey in , zu verstehen ist, hat schon Quint treffend kommentiert. 168 Mit ihm lese ich die Stelle als Abgrenzung einer generalisierenden Sicht von der Fokussierung auf ein Innen hin, in dem die Differenz von Transzendenz (›oben‹) und Immanenz (›unten‹) aufgehoben ist. Die gewählten Begriffe bleiben freilich räumlich strukturiert: ›enthöht‹, ›erhöht‹, ›geinnigt‹. Karl Heinz Witte hat diese »Verlegung der Transzendenz nach innen« 169 in der Predigt als entscheidende Neuerung Eckharts bestimmt. Auch wenn der Satz dat ouen was, dat wart in eine Verschiebung von oben nach innen impliziert, so ist doch das Innen, in das der Prediger diese Denkfigur einer Dichotomie von ›oben‹ und ›unten‹ überführt, nicht räumlich gedacht. In diesem Innen schmelzen Oben und Unten zusammen im Sinn eines unräumlichen, absoluten Ortes, an dem sich der enthöhte Gott und der erhöhte Mensch treffen, sodass der Mensch ›in‹ diesem Innen Gott in sich selbst finde möge. 170 Das ist dann kein Ort exklusiver Gottesbegegnung mehr, sondern zu verstehen als Ausdruck der Selbstreflexivität Gottes, der sich in diesem Innen, im Menschen letztlich selbst begegnet. Was der Mensch dort innen nimmt, nimmt er in 166 Loris Sturlese identifiziert dieses Buch mit einem »Entwurfsheft« Eckharts für seine Predigten in der Volkssprache: Loris Sturlese, Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener, Berlin / New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 393-408, hier S. 403. Freimut Löser vermutet ergänzend mit Blick auf diese Stelle, dass Eckhart »auch ein kleines, spät angelegtes, schwierige Aussagen prägnant zusammenfassendes, prägnante Gedanken aufnehmendes hantbuoch besaß«. Löser, Eckhart im Original, S. 82. 167 Ich lese die Stelle also weniger mit Blick auf die Frage, was mit diesem Buch Eckharts gemeint sein könnte, denn als textintern inszenierte Steigerung einer Rede, die verschiedene Formen der Autorisierung überblendet: den persönlichen, fast intimen Gedanken und dessen Konservierung im Medium der Schrift. Zur Autorisierung im Medium der Schrift vgl. Schnell, Von der Rede zur Schrift, S. 98. Vgl. auch Hasebrink, mitewürker gotes , S. 74: »Dass überhaupt auf ein solches Buch verwiesen wird, verleiht dem Gedanken des ›enthöhten Gottes‹ […] eine außerordentliche Signifikanz. Gedanklich wie sprachlich ist offenbar der Durchbruch gelungen«. 168 » neit ey ale meir ey in […] kann im Zusammenhang nichts anderes heißen als: ›nicht vollends (nicht absolut oder ganz und gar), sondern nur innen‹, d. h. das Enthöhen Gottes ist nicht zu verstehen als ein absolutes Herunterziehen und Erniedrigen oder Herabsetzen, sondern als Überwindung der Distanz und Transzendenz Gottes durch seine ›Verinnigung‹, durch seine Immanenz in der Seele«. DW I, S. 237 f., Anm. 3. 169 Witte, Predigt 14, S. 26. 170 Vgl. auch Witte, Der enthöhte Gott, S. 47: »Mit der Umdeutung der Oben-Unten-Beziehung zu einer Selbstbeziehung des Innigens ist […] ein Dimensionswechsel angezeigt.« II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 119 Gott. Insofern schließt der nächste Predigtabschnitt nur konsequent das Thema der Gottesgeburt an. Entscheidend ist an dieser Stelle, wie die Rede dabei die angesprochene Bewegung einer ›Innigung‹ vollzieht, und bezeichnenderweise springt die Predigt an dieser Stelle abermals in die direkte Anrede im personalen dû . Zunächst jedoch spricht der Prediger in einem inklusiven wir , wenn er den Wunsch äußert, dass ›wir‹ erhöht werden sollten ( dat wir verhoeget solden werdene ). Das Pronomen der ersten Person Plural lässt sich generalisierend auffassen, das heißt mit Bezug auf alle Menschen lesen; es lässt sich aber auch unmittelbar auf die Gemeinschaft des Predigers und seiner Zuhörer beziehen. Insofern schreibt sich damit das persönliche Moment einer Kommunikation fort, auf das hin der Prediger seine Rede zuvor schon modelliert hatte. Mit dem Motiv der ›Innigung‹ setzt die Du-Anrede im Anschluss umso stärker ein: du salt geinneget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy . Die Pronomina werden in diesem Satz ebenso an ihre referentiellen und grammatischen Grenzen geführt wie die Vorstellungskraft, die der Argumentation zu folgen sucht; Burkhard Hasebrink spricht mit Blick auf diese Textpassage von einer »zirkuläre[n] Denkbewegung um dieses sich selbst vermittelnde Innen«. 171 Schon der Gedanke, in sich selbst hinein ›geinnigt‹ zu werden, setzt Identität und Differenz zugleich; dû ist ebenso Objekt der ›Innigung‹ wie ihr Ziel. Das impliziert eine schleifenförmige Rückwendung des dû auf sich selbst. Die Passivkonstruktion du salt geinneget werden , syntaktisch vorangestellt, suggeriert zu Beginn des Satzes noch einen weiteren, im eigentlichen Sinn Handelnden, der die ›Innigung‹ vollzieht; die Auflösung van dich seluer , ›von dir selbst‹, folgt erst nachgestellt. Dass im Text der Handschrift an dieser Stelle das Pronomen nicht im Dativ, sondern im Akkusativ steht ( van dich seluer ), sodass dieses Präpositionalgefüge und das folgende einander entsprechen ( in dich seluer ), spiegelt das fließende Ineinander- Übergehen der Bezüge. Du, von dir, in dich - pointierter lässt sich Selbstbezüglichkeit wohl kaum literarisch inszenieren. Umso markanter ist die Verschiebung, die der Nebensatz dat hey in dir sy vornimmt: An die Stelle des ›du in dich‹ tritt ›er in dir‹. Damit schiebt sich nicht nur das Pronomen der dritten Person an die Stelle des der zweiten Person, sondern dort, wo zuvor eine Bewegungsrichtung inszeniert worden war, tritt nun der Blick auf das Ergebnis: ›er in dir‹ statt ›du in dich‹. 172 Gott in sich aufzufinden, wird so als das Ergebnis des Prozesses einer Selbstbewegung nach innen inszeniert - genaugenommen aber nicht als Ergebnis, sondern als Perspektive, die sich im Fortgang des Satzes nur im Modus des Wunsches öffnet: ›auf dass er in dir sei‹. Damit wird der Konjunktiv im Nebensatz bedeutungstragend. 173 Hatte die konditionale Formulierung im vorangegangenen Abschnitt noch suggeriert, dass Gott in den demütigen Menschen mit einer gewissen Mechanik von Bedingung und Folge hinein komme, 174 so ist diese Perspektive hier überschritten. Die syntaktische Reihung spiegelt die Prozessualität einer Bewegung, die dort an ihren Endpunkt gelangt, wo sich die Perspektive hin 171 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 74. 172 Nachdem das Pronomen dich in der Akkusativ-Form verdichtend wiederholt worden war, ist der Wechsel zur Dativ-Form umso auffälliger: van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy . Zu erwarten wäre eher eine Formulierung gewesen, die die Richtung aufgreift, wie z. B. ›auf dass er in dich komme‹. 173 Die gleiche Struktur zeigt sich dort, wo der Prediger das Streben der Seelenkräfte nach ihrem je höchsten Ziel beschrieben hatte, und damit geendet hatte, dass die letzte Kraft nur in einem beständigen Guten raste, in dem alle ›Gut‹ beschlossen seien, dat sy an in einne wesen (DW I, S. 232,6). 174 wane du dich oitmoedeges, so kompt got van inboven heir neder inde compt in dich (DW I, S. 233,4 f.). 120 II. Analysen zur Präsenz Gottes ›in dir‹ verschoben hat. Wenn der Prediger anschließend noch einmal präzisierend herausstellt, dass es nicht darum gehe, von oben, sondern innen zu nehmen, verschiebt sich die Perspektive von der Du-Anrede zurück zur Wir-Form, die Prediger und Zuhörer zusammenschließt: neit, dat wir eit nemen van deme, dat bouen ons sy; wir solent in ons nemen inde solent neimen van ons in ons seluer . Wie im vorangegangenen Satz ist die Reihung der Adverbialgefüge auffällig: ›in uns‹, ›von uns‹, ›in uns selbst‹. Fast parallel wird das, was zuvor in der Du-Form präsentiert worden war, damit nun in die erste Person Plural überführt. Das Ergebnis: die Sätze in dieser Passage inszenieren eine Bewegung, die sich als syntaktisches Fließen niederschlägt. Die Du-Anrede ragt dabei heraus, und die angesprochene Bewegung einer ›Innigung‹, über die der Mensch Gott ›in‹ sich, nicht mehr oberhalb von sich finden möge, scheint an dieser Stelle selbst vollzogen. »[E]in solcher Text erzeugt geradezu die Stimme, deren Spur er ist.« 175 Damit, dass die beiden Sätze jeweils mit dem Moment des Innen enden ( dat hey in dir sy ; in ons seluer ), findet die Bewegung nach innen hin einen Endpunkt. In der wiederholten Reihung wird die Aussage fast tautologisch: ›von dir‹, ›in dich‹, ›in uns‹, ›von uns‹, ›in uns‹. Der Eindruck einer kreisförmigen Bewegung entsteht, die sich schleifenförmig immer wieder auf das Innen hin zurückwendet - und dabei einen Sog entwickelt, der den Angesprochenen in die Bewegung regelrecht mit hineinnimmt. 176 Im dritten Abschnitt der Predigt treten so zwei unterschiedliche Formen einer Intensivierung nebeneinander: das Einschleifen der Figur des demütigen Menschen und die wiederholte Anrede an das dû . Vor allem im ersten Teil des Abschnitts gewinnt dabei die Figur des wahrhaft demütigen Menschen Kontur. Über die beständige Wiederholung der Nominalphrase der oitmoedege mynsche , die die Grenzen grammatisch wohlgeformter Rede ausreizt, wird diese Figur im Textverlauf aufgeladen; sie erhält ihre Identität erst in und mit der Wiederholung. Mit dem demütigen Menschen wird so eine Identifikationsfigur aufgebaut, die eine Lebensform, ein Leben in wahrer Demut, verkörpert. Dieses Modell bleibt im Verlauf der Passage nicht abstrakt, denn der Prediger überführt die metaphysische Lehre von der Einheit Gottes und des wahrhaft demütigen Menschen zum zweiten Teil des Predigtabschnitts hin in einer komplexen Aneinanderreihung von Selbst- und Schriftzitaten, die auf die eigene Lehre hin funktionalisiert werden, auf fließende Weise in eine konkret-persönliche Perspektive. Im Zuge dessen tritt an die Stelle der abstrakten Figur des oitmoedegen mynschen die konkrete Hinwendung an den Zuhörer im personalen dû . Auch in dieser Predigt erzeugt die Rede eine Intensität, in und mit der das Gegenüber der Rede gleichermaßen performativ erst hervorgebracht wird. Jenseits dessen, was an Kommunikation zwischen dem Prediger und seinem Zuhörer im Text inszeniert wird, berührt und bewegt die Predigt ihren impliziten Adressaten. Dieser wird regelrecht in den Fluss der Rede hineingezogen, die nicht nur von einer Bewegung nach innen spricht, sondern sprechend jene ›Innigung‹ selbst vollzieht. 175 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 74. 176 Auf vergleichbare Weise gerät die Rede z. B. auch in der Predigt 83 ins Fließen, wenn der Prediger die Frage beantwortet, was man angesichts der Tatsache tun solle, dass Gott selbst über allem Erkennen steht. Pr. 83, DW III, S. 443,4-7: ›Ach, wie sol ich danne tvon? ‹ - Dv solt alzemal entzinken diner dinisheit vnd solt zer fliesen in sine sinesheit vnd sol din din vnd sin sin éin min werden als genzlich, das dv mit ime verstandest ewiklich sin vngewordene istikeit vnd sin vngenanten nitheit . Der Text arbeitet ebenfalls entscheidend mit der Verschränkung der Pronomina, die sich hier auch klanglich übereinanderlegen. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 121 2.4 Einheit. Zur Dynamik der Geburt An die Stelle der relationalen Kategorien von Höhe und Tiefe tritt damit die Einheit; Gott und der demütige Mensch sind eins. Vor diesem Hintergrund schließt im nächsten Abschnitt ( DW I, S. 238,1-240,10) nur konsequent das Thema der Gottesgeburt an. Nach der Bewegung, die der vorangegangene Predigtabschnitt vollzogen hatte, nimmt sich die Stimme des Predigers zunächst zurück. Der Abschnitt wird durch eine Reihe von Schriftzitaten eingeleitet, die, wie Alain de Libera gezeigt hat, »traditionell herangezogen [werden], wenn es um die eng verknüpften Themen der Gottessohnschaft, der Geburt des Menschen zum göttlichen Leben […] und der Geburt des Logos in der Seele […] geht«, 177 in dieser Predigt aber eine Deutung erfahren, die »fesselt und beunruhigt« (DW I, S. 238,1-239,8). 178 Das Thema der Geburt, das die Schriftzitate aufrufen, wird in einem zweiten Schritt mit dem Gottesverhältnis des wahrhaft demütigen Menschen zusammengeführt ( DW I, S. 239,8-240,10). S e n t e j o h a n e s s p r i c h t : ›de in intfingen, den gaff hey gewalt, godes sune zo werden. dit is godes sun, dese in synt neyt van vlisch noch van blode; sy synt vs gode geborene‹, n e i t e y m e r i n . o n s s e l e u e v r o u w e s p r a c h : ›wey mach dat syn, dat ich godes moder werde? do sprach der engel: der heylge geist sal van bouen in dich comen‹. D a u i t s p r a c h : ›hoede hayn ich dich geboren‹. w a t i s h o e d e ? e w i c h e i t . ich hayn mych dich inde dich mych eweclichen geboren. ( DW I, S. 238,1-239,3) Der kurze Nachsatz neit ey mer in , mit dem der Prediger das erste Zitat aus dem Prolog des Johannesevangeliums kommentiert, schließt übergangslos an den zitierten Text an. In ihm klingt die Formulierung aus dem vorangegangenen Predigtabschnitt nach, die das ›Enthöhen‹ Gottes mit neit ey ale meir ey in auf ein Innen hin bezogen hatte. Der Prediger korrigiert das Zitat nun dahingehend, dass es mit der Geburt nicht darum gehe, aus Gott herauszutreten, sondern darum, innen zu bleiben: ›nicht heraus, sondern hinein bzw. innen‹. 179 Damit wird die Bewegung nach innen aufgegriffen, die der vorangegangene Predigtabschnitt inszeniert wie vollzogen hatte, nun aber auf die Ebene diskursiver Erörterung gehoben und über den Anschluss an das Schriftzitat autorisiert - das dabei seinerseits eine Deutung erfährt, die über das im Schrifttext Angelegte hinausgreift. Auch sprachlich wird das Zitat auffällig verändert: Was im Prolog des Johannesevangeliums narrativ ausgestaltet ist, überführt der Prediger in seiner Übersetzung prägnant ins Präsentische, indem er die Zeigegeste herausstellt. Wenn er den lateinischen Text mit dit is godes sun, dese in synt neyt van vlisch noch van blode wiedergibt, wird das, was im Vulgata-Text ein Relativsatz ist, 180 im Kontext der Predigt zu einem demonstrativen Zeigen ausgestaltet (›dies ist‹, ›diese sind‹), das den Schrifttext auf die aktuelle Predigtsituation transparent werden lässt. Mit der Verkündigungsszene im nächsten Zitat ist die Vorstellung aufgerufen, dass Gott von oben herunterkommt und den Menschen erfüllt. Theologisch gesprochen geht es also 177 De Libera, Denken im Mittelalter, S. 242. 178 Ebd. 179 Vgl. den textkritischen Kommentar Quints zur Stelle, der vermutet, dass hier das Wort vs verloren gegangen sein könnte. Inhaltlich folge ich Quints Paraphrase der Stelle: »Die Geburt vollzieht sich nicht außerhalb des Menschen und nicht aus Gott heraus, sondern im Menschen und in Gott hinein und in ihm innebleibend.« DW I, S. 238, Anm. 1. Die Möglichkeit, »daß dieses Textstück […] als Selbstzitat oben S. 237,6 und 8 wiederholt«, erwägt Quint, hält dies jedoch »für weniger wahrscheinlich als die oben gegebene […] Interpretation.« 180 dedit eis potestatem filios Dei fieri, […] qui non ex sanguinibus, neque ex voluntate carnis, […] sed ex Deo nati sunt (Io 1,12 f.). 122 II. Analysen um die »Enthöhung Gottes« in der Gnade der Inkarnation. 181 Auf diese Weise ist die Abwärtsbewegung des Hohen zum Niedrigen, aber auch das Moment des Erleuchtet-Werdens, das der Prediger dem Leitzitat entnimmt, erneut eingespielt. Auch das dritte Zitat öffnet der Prediger auf die eigene Rede hin, wenn er unmittelbar im Anschluss an das Zitat die Rede des Psalmisten wörtlich wieder aufgreift, sie aber so erweitert und ergänzt, dass der »Unterschied zwischen dem eingeborenen Sohn und den Adoptivsöhnen aus[gelöscht wird] durch eine ewige Theogenese.« 182 Dauit sprach: ›hoede hayn ich dich geboren‹. wat is hoede? ewicheit. ich hayn mych dich inde dich mych eweclichen geboren . Der Prediger bezieht das Temporaladverb ›heute‹ auf die Ewigkeit und flicht damit die brisante Lehre von der incarnatio continua ein, 183 und er betont, wie Gebärender und Geborener in der Geburt dynamisch aufeinander bezogen sind. Dabei überlagern sich die Stimmen; die Referenz der Pronomina gerät ins Changieren. Die Formulierung mych dich inde dich mych spart das relationierende ›als‹ auf pointierte Weise aus, sodass die Pronomina spannungsvoll nebeneinander treten. Aufs Neue spiegelt der Chiasmus an dieser Stelle die Unterschiedenheit in der Einheit: Die chiastische Verschränkung der Pronomina lässt hervortreten, wie sehr Gebärender und Geborener in der Geburt aufeinander bezogen sind, ohne dass sie doch vollkommen ununterschieden wären. 184 Auch der Tempusgebrauch bleibt in gewisser Weise hinter dem Gesagten zurück. Das Perfekt, das den Vorgang mit Blick auf die Gegenwart, aber als abgeschlossen perspektiviert, kontrastiert mit dem Temporaladverb eweclichen , das ein immerwährendes Fortdauern impliziert. Die Aussage ›ich habe dich ewig geboren‹ stellt in dieser Perspektive die konsequente Weiterführung einer Aussage dar, die darauf zielt, relationierende Kategorien zu übersteigen. Die Prozessualität eines Vorgangs, der sich mit der Geburt dynamisch und immerwährend vollzieht, scheint sich so in diesem Satz sprachlich zu verstetigen: in der unauflösbaren Spannung, die die chiastische Verklammerung der Pronomina erzeugt; in der Ausreizung der Grenzen temporaler Bezüge; in der changierenden Referenz der Pronomina in der Überblendung der Stimmen in dieser spezifischen Form von Zitation. Bevor der Prediger dieses dynamische Verhältnis in der Einheit zum Predigtschluss hin mit Blick auf das Verhältnis von Mensch und Gott zur Geltung bringt, führt er den Gedanken des Gebärens und Geborenwerdens noch einen Schritt weiter. Er macht deutlich, dass der demütige Mensch Gott genauso gebären wolle, wie er selbst von ihm geboren werde. nochtant in genoeget den e d e l e n o i t m o e d e g e n m y n s c h e n da myt neit, dat hey der eynege geboren sun is, den der vader ewenclichen geboren hait, h e y in wylt och vader syn inde treden in de selue gelicheit der eweger vaderschafft inde geberen den, van dem i c h < ewen > Ewenclichen geboren byn, a l s o a s i c h s p r a c h z o m e r g a r d e n ; d a r k o m m e t g o t i n s y n e e y g e n . ( DW I, S. 239,4-8) Die brisante Aussage wird noch einmal als Selbstzitat präsentiert, das auf zo mergarden als Predigtort zurückweist. Auffällig verschieben sich dabei auch hier die pronominalen Bezüge. Zunächst ruft der Prediger noch einmal die Figur des demütigen Menschen auf, sodass das Thema der Geburt an das Leitthema der Predigt rückgebunden wird. Wenn der Prediger betont, dass es dem demütigen Menschen nicht genüge, Sohn zu sein, sondern 181 De Libera, Denken im Mittelalter, S. 242. 182 Ebd., S. 243. 183 Vgl. Largier, Kommentar, S. 893. 184 Vgl. dazu Hasebrink, Ein einic ein . II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 123 dass er selbst Vater sein wolle - der »Gipfel des Einheitsgedankens« 185 -, wird in einem ersten Schritt die Nominalphrase den edelen oitmoedegen mynschen durch das Pronomen ›er‹ ( hey ) substituiert. Diese erste pronominale Ersetzung fügt sich schlüssig in den Satzverlauf ein. Anschließend führt der Prediger den Gedanken dahin weiter, dass der demütige Mensch auch Vater sein wolle und den gebären wolle, von dem - nun wechselt die Perspektive - ›ich‹ ewig geboren sei. Damit, dass sich das Pronomen der ersten Person an die Stelle schiebt, wo zuvor von ›ihm‹ die Rede war, scheint die Geburt ins Hier und Jetzt der Predigt überführt zu werden. Auch dieses Pronomen verweist auf den Sprecher, ohne dass sich seine Referenz in diesem Bezug erschöpft. Die Rede entwickelt in und mit der Öffnung auf das Hier und Jetzt der Predigt an dieser Stelle eine performative Kraft, die das, was zuvor diskursiv erörtert wurde, auf eine unmittelbare Evidenz hin übersteigt. Wenn der Prediger zum Schluss des Satzes betont, dass Gott dort, wo sich die wechselseitige Geburt vollziehe, in sein eygen komme (im Hintergrund steht Io 1,11: in propria venit ), greift seine Interpretation der Schriftstelle über die Deutung hinaus, »dass der Mensch, der […] sich selbst von allem enteignet, was er von Natur aus ist, […] sich durch Gnade alles aneignet, was Gott von Natur aus ist«. 186 So wird mit der Vorstellung, dass Gott in sein eygen komme, explizit gemacht, dass sich in dieser Geburt nicht zwei Dinge begegnen, sondern nur das Eine selbst entfaltet. Denn indem Gott sich mitteilt, fließt er nicht aus sich heraus, sondern bewegt sich auf sich und in sich selbst zurück. Die Geburt wird damit zur Denkfigur, die die Selbstbewegung und Entfaltung Gottes grundlegend prozessual fasst. Dass sie diese Prozessualität nicht nur in der Metaphorik von ›gießen‹ und ›fließen‹ spiegelt, sondern in der syntaktischen Bewegung sprachlich umsetzt, zeichnet diese Predigt im Ganzen aus. In der nächsten Passage wendet der Prediger sich noch einmal mit der direkten Du-Anrede an seine Zuhörer. Das hängt sicher damit zusammen, dass zum Ende der Predigt hin nun deren moralische Dimension in den Blick tritt, sodass der Prediger - den Regeln der Gattung folgend - nun konkrete Handlungsaufforderungen formuliert. Zugleich aber erzeugt die Rede in ihrem Fortgang noch einmal eine ganz eigene Kraft. e y g e n d i c h g o d e , s o i s g o t d y n e y g e n , a s h e y s y n s s e l u e s e y g e n i s . dat myr ingeboren wirt, dat blyft; got in schydet sych numer van d e m m y n s c h e n , war sych d e r m y n s c h e heyne keirt. d e r m y n s c h e mach sych van gode keren; we verne d e r m y n s c h e van gode geyt, got styt inde wart synre inde vurgeit in, ey hey it wis. ( DW I, S. 239,8-240,1) Auch in diesem ersten Satz, der thematisch an die Aussage anschließt, dass Gott in der Geburt in sein eygen komme, greifen die einzelnen Satzteile verklammernd ineinander und gehen so fließend ineinander über. Sind die ersten beiden Halbsätze chiastisch-gekreuzt verschränkt ( eygen dich gode, so is got dyn eygen ), so schließt der dritte parallelisierend an den zweiten an: Gott ist so ›dein‹ Eigen, wie er seiner selbst Eigen ist. 187 Nach dem ersten Satz wechselt die Perspektive; der Prediger spricht nicht mehr in der exemplarischen Ich-Form, sondern von ›dem Menschen‹. Damit vollzieht sich der Übergang in die Abstraktion wiederum fließend. Vergleichbar dem, wie im vorangegangenen 185 Witte, Predigt 14, S. 27. 186 De Libera, Denken im Mittelalter, S. 242. 187 Alain de Libera spricht in diesem Zusammenhang von einer »unergründliche[n] Korrespondenz« zwischen der »aneignende[n] Enteignung« des Menschen und der Weise, »wie Gott Eigentum seiner selbst ist«. Ebd. 124 II. Analysen Abschnitt die Figur des demütigen Menschen in der Iteration eingeschliffen worden war, wird hier das Substantiv der mynsche mehrfach wiederholt, die Grenzen des grammatisch Erwartbaren ausreizend, bis die Nominalphrase am Ende des letzten Satzes pronominal substituiert wird. Hatte der Prediger zuvor das richtige Verständnis von Demut betont, so tritt damit nun das Gottesverhältnis des Menschen überhaupt in den Blick. 188 Dass das Substantiv der mynsche wiederholt wird, scheint einerseits die Opposition von Mensch und Gott sprachlich aufrechtzuerhalten, denn bei der pronominalen Substitution würden die Bezüge ins Wanken geraten (›er‹ ließe sich sowohl auf den Menschen als auch auf Gott beziehen). Andererseits wird in der wiederholenden Verschränkung der Worte der mynsche und got , die nebeneinander treten, aber auch das wechselseitige Aufeinander- Bezogensein von Mensch und Gott gespiegelt. Die Abfolge kurzer, tendenziell parataktisch gebauter Sätze, die abermals mit der Opposition Gott-Mensch arbeiten, 189 wird erst am Ende dieser Passage aufgebrochen. Dort löst auch die pronominale Substitution die Spannung auf, die sich in der Iteration zuvor aufgebaut hatte, wenn der Prediger festhält, dass Gott dem Menschen folge, wie weit dieser sich auch von ihm entferne ( we verne der mynsche van gode geyt, got styt inde wart synre inde vurgeit in, ey hey it wis ). Auffällig ist, wie die Predigt, die ja zuvor das Verhältnis von Mensch und Gott zentral über Bewegungen in der Senkrechten semantisiert hatte, an dieser Stelle diese Bewegung in ein Verhältnis in der Waagerechten überführt. Gott ist in dieser Raumordnung nicht mehr oben, unten oder innen, sondern hinter, neben und vor dem Menschen, auf den er wartet und dem er vorausgeht. 190 Wenn die Präsenz Gottes für den Menschen, was dieser auch tue, über die polysyndetisch gereihte Trias von Stehen, Warten und Vorausgehen zum Ausdruck gebracht wird, ist damit die Unumgänglichkeit ins Bild gesetzt, mit der Gott den Menschen auch dann erreicht, wenn dieser sich von ihm entfernt. 191 In den folgenden Sätzen wird im Wechsel von imperativischer Du-Anrede und performativ aufgeladener Ich-Rede eindrücklich dargelegt, dass Gott sich demjenigen zu eigen mache, der sich seinerseits ihm zu eigen mache. Das Bild, das der Prediger wählt, konkretisiert den abstrakten Sachverhalt abrupt: Er vergleicht das Gottesverhältnis desjenigen, der sich ganz Gott übereignet habe, in seiner Unmittelbarkeit mit dem Verhältnis, in dem meine Körperteile zu mir stehen. So wie meine Zunge oder meine Hand ganz eins mit mir 188 Das bedeutet keine inhaltliche Umakzentuierung in dem Sinn, dass nun die Demut aus dem Blick geriete. Insofern die Demut auch zuvor im Predigtverlauf nie als eine unter anderen Tugenden, sondern als fundamentale Kategorie für das Verhältnis von Mensch und Gott verstanden worden war, ist das, was der Prediger nun über den mynschen überhaupt sagt, und das, was er zuvor für den edelen oitmoedegen mynschen etabliert hat, nicht kategorial, sondern lediglich von der Perspektive her unterschieden: einmal abstrakt, von der im Leitzitat implizierten Raumordnung her, den Begriff der Demut von der Ontologie Eckharts her neu semantisierend, dann konkret, mit Blick auf die moralische Bedeutung für den Menschen betrachtet. 189 ›Gott trennt sich nicht vom Menschen‹, ›der Mensch kann sich von Gott trennen‹: Die chiastische Verschränkung trennt und vereint zugleich. Vgl. dazu Hasebrink, Ein einic ein . 190 Damit ist in der Predigt eine dritte Form gefunden, das spannungsvolle Aufeinanderbezogensein von Mensch und Gott räumlich zu semantisieren. Schon in der Semantik der transitiven Verben ist das Moment eines Aufeinanderbezogenseins angelegt. 191 In diesem Sinn hält Joachim Theisen treffend fest: »Die Beschleunigung in die Gottferne, deren Möglichkeit dem Menschen in dessen Freiheit zukommt, ist umschlossen vom Engagement des Heilshandelns Gottes, das dem Menschen in der Taufe unwiderruflich zugesagt ist.« Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 463. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 125 sind, so ist in diesem innigen Verhältnis auch Gott nichts dem Menschen Fremdes, sondern ganz sein Eigenes. v o l t u , dat got dyn eygen sy, so salstu syn eygen syne as myn tzonge off myne hant, < dat > dat ich myt eme doyn mach, wat ich wyle. as wenych, as ich eit don mach sunder in, also wenych mach hey eit gewirken bussen mych. w o l t u dan, d a t g o t d y n e y g e n a l s u s s y , so m a c h d i c h e m e e y g e n e inde behalt in dinre mynungen neit dan in; so is hey eyn begyne inde eyn ende ales dynes werkens, also as syne gotheit dan dai an lyget, dat hey got is. Der mynsche, der alsus in alle synen werken neyt in meynt noch in mynt dan got, dem geit got syne gotheit. allet, dat der mynsche wirket <…> , want myn < n > e oitmodicheit geit gode < in > syne gotheit. ( DW I, S. 240,1-10) Der Wechsel in die Ich-Rede verstärkt den katachrestischen Effekt, der sich daraus ergibt, dass der Vergleich elliptisch verkürzt ist. Erneut werden die pronominalen Bezüge instabil. Erst die folgenden beiden Sätze klären, dass nicht gemeint ist, dass du so sein Eigen sein sollst wie meine Zunge oder meine Hand sein Eigen seien, sondern dass du mit der gleichen Unmittelbarkeit im Wirken sein Eigen sein sollst, das auch mein Verhältnis zu meiner eigenen Zunge oder Hand kennzeichnet, mit denen ich wirke, was ich will, und ohne die ich nichts wirken kann. Der Umschwung in die Ich-Form der Rede spiegelt die Unmittelbarkeit, die thematisch wird, trägt aber auch dazu bei, den Zuhörer zu desorientieren, mit dessen Kohärenz-Erwartungen gebrochen wird. Wenn die Rede unmittelbar im Anschluss wieder zurückspringt in die Du-Anrede, ist die Wechselseitigkeit der Bezüge im Hin- und Herspringen der Rede literarisch umgesetzt. Auffällig ist auch, wie der zweite Konditionalsatz mit der direkten Anrede woltu den unmittelbar vorangegangenen, parallel strukturierten Satz aufgreift. Im direkten Vergleich wird die Verschiebung sichtbar: voltu, dat got dyn eygen sy, so salstu syn eygen syne ; woltu dan, dat got dyn eygen alsus sy, so mach dich eme eygene . Im ersten Satz greifen die Glieder chiastisch verschränkt ineinander, sodass syntaktisch gespiegelt ist, wie Gott und das angesprochene dû wechselseitig aufeinander bezogen sein sollen. In der variierenden Wiederholung der Aufforderung, sich Gott zu eigen zu machen, wird die Rede verdichtet. Dadurch, dass im zweiten Satz an die Stelle der passiven Formulierung (›du sollst sein Eigen sein‹) die aktive Form tritt (›mach dich ihm eigen‹), verschiebt sich die Sicht, sodass die Passage im Ganzen in einer Handlungsaufforderung mündet. Die Ergänzung inde behalt in dinre mynungen neit dan in spezifiziert abschließend, was damit gemeint sein soll, sich Gott eygen zu machen, indem sie diesen als einzigen Inhalt allen Strebens des Menschen ausweist, wie es sich im Gedenken oder in der Liebe äußert. Für denjenigen, der in dieser Weise nur Gott im Sinn habe, sei Gott Anfang und Ende, Ursprung und Ziel allen Wirkens, so wie seine Gottheit daran liege, dass er Gott sei: Wiederum geschieht der Ebenenwechsel von der konkret-moralischen Handlungsaufforderung hin zur abstrakten Begründung fließend. Was im Bild von Zunge oder Hand, die mir unmittelbar zugehören und mit denen ich wirke, konkret vor Augen geführt worden war, wird nun mit dem grundlegenden Gedanken von Gott als Prinzip allen Wirkens und Seins verbunden. Mit dem Verhältnis von Gott und Gottheit ist das spannungsvolle Verhältnis von Einheit und Entfaltung, von Grund und Ausfließen, von Ununterschiedenheit und transzendentaler Bestimmung aufgerufen. 192 Damit weist die Stelle zum einen auf den Predigtschluss voraus, der mit der Rückbindung der Schlussbitte an die Dreifaltigkeit den Bogen 192 Zum Verhältnis von Gott und Gottheit vgl. Largier, Kommentar, S. 803-807. 126 II. Analysen zum Beginn der Predigt zurückschlagen und das Verhältnis von Einheit und Entfaltung als zentrales Motiv dieser Predigt noch einmal in den Blick rücken wird. Zugleich wird das Thema mit Blick auf den mit dû angesprochenen Zuhörer fokussiert, denn der Prediger stellt heraus, dass Gott so Ursprung und Ziel für dessen Wirken sei, wie er, der als causa essentialis »alle Dinge in sich enthält«, 193 es für sich selbst sei. Ein solches Verhältnis wäre für den Menschen keine Bezugnahme mehr auf Gott als etwas Fremdes, sondern ein Rückbezug des Einen im Menschen auf sich selbst. Der Vergleich legt das Ineinandergreifen der Bezüge nahe, ohne sie doch ineinander übergehen zu lassen; das relationierende also verbindet die beiden Glieder, ohne ihre Identität zu behaupten. Erst der folgende Satz führt ›Mensch‹ und ›Gott‹ in diesem Sinn eng: Der mynsche, der alsus in alle synen werken neyt in meynt noch in mynt dan got, dem geit got syne gotheit . Dass Gott dem Menschen seine Gottheit gebe, lässt sich als Explizierung des Gedankens verstehen, dass der Mensch, insofern er sich im zuvor skizzierten Sinn ( alsus ) ganz Gott zu eygen gemacht habe, im Grund der Seele mit dem Grund der Gottheit geeint werde. 194 Diese Einung mit der Gottheit übersteigt nicht nur die Konzeption der Seelenkräfte als imago trinitatis , die im ersten Predigtabschnitt dargelegt worden war, sondern, wie Niklaus Largier kommentiert, auch noch die Einung mit dem Sohn, wie sie im vorangegangenen Predigtabschnitt aus dem Motiv der Geburt heraus entwickelt worden war. Wenn mit der gotheit Gott »über der trinitarischen Entfaltung und dem transzendentalen Begriff« 195 anvisiert ist, dann zielt diese Einung auf ein Einswerden und Einssein im Grund. Auch an dieser Stelle ist die Redehaltung signifikant. Wenn der Prediger die personale Perspektive verlässt und die abstrakte Figur des Menschen ( der mynsche ) wieder einführt, distanziert er die skizzierte Perspektive zum einen ein Stück weit von der Sicht seiner Zuhörer. Hatten die direkte Anrede und die imperativischen Aufforderungen zuvor unmittelbar handlungsanleitenden Charakter gehabt, so zeichnet sich hier eine Bewegung der Abstraktion ab, die von dem Einzelnen absieht und stattdessen auf das Prinzip rekurriert. Es liegt nahe, diesen Satz als ähnlich verkürzten vorangestellten relativischen Konditionalsatz zu lesen, wie ihn der Prediger zuvor schon verwendet hatte: ›Wenn der Mensch in allen seinen Werken nichts begehrt oder liebt als Gott, dann gibt Gott ihm seine Gottheit.‹ 196 So verstanden, wäre hier erneut eine Bedingung syntaktisch vorangestellt und der Zuhörer aufgefordert, die angebotene Bewegung eines Übergangs von Bedingung und Folge im Redeverlauf mitzuvollziehen. Dass das so Präsentierte gerade keiner Kausallogik folgt in dem Sinn, dass Gott sich dann gäbe, wenn der Mensch eine bestimmte Bedingung erfüllt, wäre in dieser Sicht nur ein weiteres Beispiel für ein Predigtverfahren, in dem die Rede das, was sie setzt, im gleichen Moment auch unterläuft, um zu dem ›durchzubrechen‹, worum es ihr 193 Ebd., S. 804. 194 Vgl. ebd., S. 805. 195 Ebd., S. 803. 196 Die Stelle oben lautet: Der mynsche, der recht oitmodich were, antwer got moiste alle syne gotheit verlesen […] , off hey moyste sych vz geyssen inde moste altzo Mayle in den mynschen vlissen (DW I, S. 237,1-3). Quint übersetzt die Stelle oben mit einem Konditionalgefüge: »Wenn ein Mensch recht demütig wäre, müßte Gott entweder seine ganze Gottheit verlieren […], oder er müßte sich ausgießen und müßte ganz in den Menschen fließen« (DW I, S. 486), diese zweite Stelle jedoch nicht: »Der Mensch, der so in allen seinen Werken nichts meint noch liebt als Gott, dem gibt Gott seine Gottheit« (DW I, S. 487). Karl Heinz Witte übernimmt Quints Übersetzung unverändert, vgl. Witte, Predigt 14, S. 5 und S. 7. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 127 eigentlich geht. 197 Wenn der Prediger abschließend den Gedanken, dass Gott dem Menschen seine Gottheit gebe, noch in die scheinbare Umkehrung weiterdreht, scheint nicht nur das Moment der Demut vollends ausgereizt, sondern im Umschwung in die Ich-Form der Rede die Sprengkraft der Aussage auch über die Personalisierung maximal gesteigert: myn [ n ] e oitmodicheit geit gode [ in ] syne gotheit , ›meine Demut gibt Gott seine Gottheit‹. In diesem vierten Predigtabschnitt wird so die dynamische Einheitskonzeption Eckharts kunstvoll literarisch inszeniert und performativ erfahrbar gemacht. Der mit dû angesprochene Zuhörer wird dabei in das Schwingen einer Bewegung einbezogen, die die Einheit nicht als gegeben präsentiert, sondern im Vollzug der Bewegung erst je neu und kontinuierlich herstellt, indem sie freilegt, wie Mensch und Gott im Grund immer schon aufeinander bezogen sind. 2.5 Finsternis Bevor die Schlussbitte das Ende der Predigt markiert, ist in den Textverlauf noch ein weiteres Schriftzitat inseriert. Der Prediger greift eine bekannte Stelle aus dem Prolog des Johannesevangeliums auf, die in seiner Übersetzung jedoch so auffällig verdreht ist, dass sich der Sinn umzukehren scheint. Aus der geläufigen Form et lux in tenebris lucet, et tenebrae eam non comprehenderunt (Io 1,5) wird in der Übersetzung ›dat licht luchtet in de dosternysse, inde dat licht dat inbegryff der dusternis neit‹ ( DW I, S. 240,10 f.). Offensichtlich steht zwar das Motiv des Lichts in Bezug zu dem Moment des Erleuchtet-Werdens, das der Prediger aus dem Leitzitat aufgreift, und der Prolog des Johannesevangeliums war zuvor schon aufgerufen worden. Wie aber geht man mit einer Stelle um, die die Aussage, dass die Finsternis das Licht nicht erfasst, dazu umkehrt, dass das Licht die Finsternis nicht erfasst? Die Frage betrifft methodische Grundentscheidungen im Umgang mit der Variation der Überlieferung und berührt die Interpretation der Predigt im Ganzen. Hatte Quint darauf bestanden, dass die Wortfolge, wie sie in der einzigen Handschrift der Predigt steht, ›verderbt‹ sein müsse, 198 so greift Karl Heinz Witte in seiner Lektüre der Predigt die handschriftliche Textform auf und interpretiert sie im Kontext schlüssig als »entschiedene Aufwertung der Finsternis«, 199 die sich im Zusammenhang mit dem »Ruhen Gottes in der ›verborgenen‹, ›unbekannten‹ Finsternis« 200 verstehen lässt. Mit dem veränderten Zitat mündet die Predigt so in dem »unverstehbare[n] Geheimnis der göttlichen Ununterschiedenheit«. 201 Damit aber ist das Zitat weit entfernt davon, ›schlechthin sinnlos‹ (Quint) zu sein, sondern spielt am Ende der Predigt ein zentrales Motiv der Theologia Mystica des Pseudo-Dionysius Areopagita ein, die nicht - wie in der traditionellen Version des Johannesevangeliums - das 197 Walter Haug hat mit Blick auf eine andere Textstelle herausgestellt, dass man sich von solch oberflächlichen Kausalverhältnissen »nicht irritieren lassen [darf]. Solche Aufforderungen sind nur Redeweisen, sie umschreiben als kausales Verhältnis, was gar nicht über ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis machbar ist. Das Wenn-Dann ist in der Überzeitlichkeit aufgehoben: Wenn die Seele schweigt, dann tritt Gott in sie ein - das ist nur eine unserer Denkweise angepaßte Formulierung dafür, daß gerade nicht das eine auf das andere folgt, sondern daß das eine das andere ist.« Walter Haug, Reden und Schweigen bei Meister Eckhart, in: Ders., Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften, hg. von Ulrich Barton, Tübingen 2008, S. 301-312, hier S. 306. 198 DW I, S. 240 f., Anm. 6: Der Text müsse »verderbt sein aus: inde de dosternysse inbegreyff dat licht neit […]. Die überlieferte Umkehrung des Textes kann nicht beabsichtigt sein, da sie das Zitat schlechthin sinnlos macht.« 199 Witte, Predigt 14, S. 28. 200 Ebd., S. 29. 201 Ebd., S. 9. 128 II. Analysen Licht mit Gott, die Finsternis mit der Welt assoziiert, 202 sondern stattdessen Gott im Kontext der negativen Theologie als ›überlichthaftes Dunkel‹ begreift, das als solches jenseits aller Erkenntnis liegt, die sich noch in Strukturen des Denkens vollzieht. 203 Die göttliche Finsternis wird im Anschluss in der Deutung des Predigers schließlich mit dem Motiv der Ruhe verbunden: dit meynt, dat got neyt aleyne eyn begynne in is Ale onsser werken inde onsses weses, hey is och eyne enden inde eyn rouwe alen wesses ( DW I, S. 240,11-13). Mit der expliziten Hinwendung zur Auslegung ( dit meynt ) ist der Ebenenwechsel indiziert. Wenn der Prediger Gott als Ursprung wie Ziel allen Wirkens und allen Seins bezeichnet, erinnert das an die Passage aus dem ersten Predigtabschnitt, wo er betont hatte, Gott selbst raste dort, wo er Beginn und Ende allen Seins sei. War dort das Moment des Rastens dem des Strebens der Seelenkräfte entgegengestellt worden in dem Sinn, dass »die Kräfte der Seele nach Gott streben und ihre Ruhe nur dann finden, wenn Gott das Ziel des Wirkens des Menschen ist«, 204 so wird nun abschließend Gott als Prinzip allen Seins gefasst - und so der Blick auf das Moment der Erfüllung gelenkt. »In der Demut vollzieht sich dies, denn Gott als Gottheit erfüllt den demütigen Menschen und wird so zum Ziel und Ruhepunkt des Handelns.« 205 Im Gegensatz zu dem mehrfachen, dynamischen Wechsel von Ich-Rede und Du-Anrede springt die Rede nun in ein inklusives wir um, mit dem der Prediger bereits vor der eigentlichen Schlussbitte sich und seine Zuhörer zur Gemeinschaft der Gläubigen zusammenschließt. So kommt am Ende der Predigt schließlich die Rede selbst zur Ruhe. Zu diesem Eindruck trägt auch die Syntax bei. Auffällig ist, wie in der syntaktischen Parallelführung, in der die Satzglieder kettenförmig miteinander verknüpft sind, wiederum eine kleine Verschiebung stattfindet, bei der zum einen der zweigliedrige Ausdruck ›unser Wirken und unser Sein‹ in die einstellige Form, zum anderen die personale Formulierung in die Abstraktion überführt wird, sodass ›unser Wirken und unser Sein‹ am Satzschluss pointiert überführt ist in ›alles Sein‹. Damit kommt die Predigt im Ganzen mit dem Wort rouwe zum Abschluss - und in diesem Sinn zur Ruhe. Niklaus Largier kommentiert, dass sich diese Ruhe in der Demut vollziehe. 206 So wird zum Ende des Textes hin die Predigt - und mit ihr ihr impliziter Adressat - in den Vollzug der Ruhe, und das heißt: in die Demut selbst überführt. Im Textverlauf folgt nur noch die Schlussbitte: Dat wir van jhms xps de letze der oitmodycheit leren, des helpe vns alle samen god vader, son inde heylger gyst. Amen ( DW I, S. 241,1 f.). Sie ist als Anrufung an die Dreifaltigkeit gestaltet und weist folglich auf den Beginn der Predigt zurück, wo der Prediger die Seelenkräfte als imago trinitatis eingeführt 202 Vgl. ebd., S. 28. 203 Vgl. dazu den Beginn der ›Mystischen Theologie‹: Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe, hg. von Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994 (Bibliothek der griechischen Literatur 40), S. 74 (Kapitel 1: Was das ›göttliche Dunkel‹ sei); für den Hinweis auf die Theologia Mystica danke ich Burkhard Hasebrink. Ganz anders fasst Joachim Theisen die Stelle auf, der sie »unter dem Einfluß zweier liturgischer Texte« (Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 465) so interpretiert, dass damit gemeint sei, das Licht habe die Finsternis nicht angenommen, d. h. es werde von dieser nicht berührt, vgl. ebd., S. 465 f. Folgt man dem Verweis auf die Theologia Mystica , so öffnet sich die Predigt mit dem veränderten Zitat auf einen Intertext, der den Gegensatz von Licht und Finsternis übersteigt, insofern das sich mitteilende Licht denjenigen, der von ihm erfasst wird, »ins lichthafte Dunkel der Gottheit« (Largier, Kommentar, S. 751) überformt. Vgl. zur Lichtmetaphysik Eckharts auch ebd., S. 749-753. 204 Largier, Kommentar, S. 894. 205 Ebd. 206 Vgl. ebd. II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 129 hatte. Nochmals wird an dieser Stelle der liturgische Kontext der Epiphanie-Predigt sichtbar, den Joachim Theisen detailliert beschrieben hat. 207 Indem die Predigt mit der Dreifaltigkeit schließt, die sie auch zu Beginn aufgerufen hatte, scheint sich der Text mit der Trinität einen Rahmen zu geben. Die Bitte darum, von Christus die Lektion wahrer Demut erst zu lernen, schließt inhaltlich spannungsvoll an eine Predigt an, die in ihrem ganzen Verlauf darauf gezielt hatte, selbst jene Lektion zu sein. Auffällig nimmt sich die Stimme des Predigers an dieser Stelle zurück; sie geht im inklusiven wir , das Prediger und Zuhörer zur Gemeinschaft der Gläubigen zusammenschließt, ebenso auf wie in der Sprechhaltung des Gebetsschlusses, die als solche jede individuelle Rede überschreitet. Verglichen mit der performativen Dynamik, die die Rede zuvor entwickelt hatte, kehrt auch diese Predigt mit der Schlussbitte zu den Konventionen der Gattung zurück. Entsprechend wird damit auch die Bewegung nicht relativiert, die der implizite Adressat der Predigt zuvor vollzogen hatte. Dieser bleibt in die Bewegung einer ›Innigung‹ als höchste Vollzugsform der Demut überstellt. Mit der Bitte, von Christus die Lektion wahrer Demut erst zu lernen, wechselt die Rede eher zurück auf die Ebene der unterstellten Adressaten der Predigt - deren Verständnis von Demut dem Prediger implizit als Ausgangspunkt für die radikale Neubestimmung der Demut jenseits aller ›spirituell-aszetischen Tugendfrömmigkeit‹ 208 gedient hatte. 3. Predigt Quint Nr. 14 und ihr impliziter Adressat Nur kurz fasst die Predigt das Thema der Demut mit Blick auf den sich erniedrigenden Menschen auf, der durch den von oben herabkommenden Gott erfüllt wird. Anschließend übersteigt sie diese Sicht. Jenseits der relationalen Kategorien von Höhe und Tiefe weist sie ihre Zuhörer auf ein ›absolutes Innen‹ als Ort der Präsenz Gottes. Der demütige Mensch, wie ihn diese Predigt entwirft, beugt sich nicht unter Gott, sondern er findet Gott in sich als seinen innersten Grund. In dieser Deutung der Demut reizt die Predigt Raumordnungen aus, treibt aber auch Sprachordnungen bis an ihre Grenzen. Wenn Karl Heinz Witte von einer »sprachliche[n] Annäherung an das Wesen der Demut« 209 spricht, hat er dieses transgressive Potential der Predigt im Blick. Die Predigt Surge illuminare Iherusalem ist damit auf ganz andere Weise spannend und aussagekräftig für die Frage nach einem Adressaten ›im‹ Text als die Predigt 4, die Gegenstand des vorangegangenen Kapitels gewesen ist. Diese hatte im Spannungsfeld von Selbstsorge und Selbstaufgabe relativ konkrete Bilder ihrer unterstellten Adressaten aufgerufen. 210 In dieser Hinsicht bleibt die Predigt 14 abstrakt. Mit der Frage nach der rechten Demut greift der Prediger zwar ein zentrales Thema der Klosterkultur auf. An konkreten Fragen oder Anliegen seiner Zuhörer hat er aber offensichtlich kein Interesse - so wie es der Predigt nicht um Demut als eine unter anderen Tugenden oder überhaupt als Weg zu Gott, sondern um Demut als Ausdruck des Bezugs geht, in dem der demütige Mensch und Gott im Grund immer schon zueinander stehen. Auch lässt sich am Beispiel dieser Predigt gut veranschaulichen, wie eine auf historische Referentialisierung zielende Lektüre an ihre Grenzen geraten kann. Obwohl gerade diese als eine von wenigen Predigten relativ 207 Vgl. Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 421-425. 208 Vgl. Witte, Predigt 14, S. 15. 209 Ebd., S. 12. 210 Vgl. dazu oben, Kap. II.1.3. 130 II. Analysen präzise verortbar ist, scheint der Text sich dagegen zu sperren, unmittelbar mit dem Kölner Ordensleben in Verbindung zu treten. So lassen sich die konkreten Ortsangaben im Text nicht gesichert auflösen, und das historische Publikum auch dieser Predigt bleibt letztlich im Dunkeln. Anders als die Predigt 4 nimmt die Predigt 14 weit weniger konkret Bezug auf die Bedürfnisse ihrer möglichen Zuhörer, sondern entwirft ein umfassendes anthropologisches Modell, in dem der demütige Mensch und Gott eins sind. Die Rolle der unterstellten Adressaten ist textintern im Ganzen deutlich weniger markiert, sodass diese Predigt auch nicht in dem Maß die Vorstellung eines konkreten Publikums aufruft, wie es bei Predigt 4 der Fall ist. Dennoch arbeitet auch dieser Text mit Strategien der Adressierung - und subtiler, aber mit einer der Predigt 4 grundsätzlich vergleichbaren Dynamik werden auch hier die Rollen von Prediger und Zuhörer profiliert, bevor die Rede mit der intensivierenden Anrede an das dû gleichsam in einen anderen Modus umschwenkt. Auf dieser Ebene bringt die Predigt 14 (ebenso wie die Predigt 4) ihren impliziten Adressaten als Gegenüber der Rede erst hervor. Indem sie ihr Thema nicht nur diskursiv erörtert, sondern die Präsenz Gottes im Grund des Menschen performativ entfaltet, wird der implizite Adressat so dynamisiert, dass er die angesprochene Bewegung mitvollzieht. Für ihn wird die Demut, die in der Predigt thematisch ist, performativ erfahrbar als ›Innigung‹, in der eine sprachliche Bewegung, die den Adressaten in die Rede hineinnimmt, und eine spirituelle Bewegung, mit der der Mensch sich auf den göttlichen Grund in sich selbst wendet, zusammenkommen. Deutlich lassen sich in der Predigt verschiedene Inszenierungsformen unterscheiden, die das Verhältnis des Predigers zu seinen Zuhörern betreffen. So spricht der Prediger vor allem im ersten, textgeschichtlich problematischen Teil der Predigt vornehmlich als Vermittler traditioneller Wissensbestände, die eher traktathaft aufzählend ausgebreitet werden. Außer in der formelhaften Aufforderung zu Beginn, Gott um Gnade zu bitten ( DW I, S. 230,5), werden die Zuhörer dabei weder direkt angesprochen noch in anderer Form involviert. Das ändert sich im eigentlichen Hauptteil der Predigt, in dem der Prediger überhaupt erst als Figur Präsenz gewinnt, die sich gleichsam als Persönlichkeit einbringt und mit den Zuhörern stellenweise regelrecht interagiert. So fällt zum Beispiel auf, wie der Prediger in der Erläuterung, dass sich auch in der Ordnung des Kosmos immer das Hohe zum Niederen herunterbewege, immer wieder seine Zuhörer anspricht und mit rhetorischen Fragen die Argumentation auf diese hin strukturiert. Von diesem Modus autoritativer Rede, in dem Prediger erneut als Lehrender in einem asymmetrischen, distanzierten Verhältnis zu seinen Zuhörern steht, setzt sich die Intensivierung ab, die mit dem Umschwung in die direkte Du-Anrede einhergeht. Die Predigt schwenkt damit in der textinternen Inszenierung auf eine Form der Nahkommunikation um und profiliert darüber hinaus das dû entschieden. Es ist dieses dû , nicht ein vorgestelltes Kollektiv von Zuhörern, das im Deutungskontext der Predigt aufgeladen wird als Ort der Präsenz Gottes im wahrhaft demütigen Menschen. Der Umschwung in die Du-Anrede erhält so auch in dieser Predigt eine zentrale Bedeutung. Neben dem dû wird in der Predigt aber noch eine weitere Figur performativ regelrecht eingeschliffen: die des oitmoedegen mynschen , des demütigen Menschen. Beide Figuren, der demütige Mensch und das dû , haben einen gemeinsamen Fluchtpunkt: die Einheit mit Gott. Mit dem demütigen Menschen wird eine abstrakte Figur so aufgebaut, dass der anschließende Umschwung in die personale Perspektive in dem Textabschnitt, in dem der Prediger den Gedanken vom enthöhten Gott ausbreitet, umso stärker hervortritt. Damit II.2 Dynamik der ›Innigung‹. Predigt Quint Nr. 14 131 werden die beiden Figuren aufeinander durchlässig: Die Figur des demütigen Menschen verkörpert abstrakt, was auf das dû hin konkretisiert wird; das dû erhält seinerseits sein Profil vor der Folie dessen, was die Predigt mit dem demütigen Menschen aufgebaut hat. Auch der demütige Mensch bzw. das so aufgeladene dû lassen sich in gewisser Weise als Figurationen eines idealen Rezipienten lesen, der das, worauf die Predigt mit aller Kraft zielt, selbst schon besitzt - und sie so in der besten Weise aufnehmen kann. Abermals zeigt sich das Paradox in dieser Konzeptualisierung von Rezeption: Der Mensch, der das erreicht hätte, bräuchte im Letzten auch keine Predigt mehr. 211 Auch hier ›ist‹ dieses dû schließlich nicht der implizite Adressat der Predigt, sondern als Pronomen gleichsam seine sprachliche Spur im Text. Damit bleibt zwar die zuvor beschriebene methodische Spannung bestehen. Je genauer man versucht, sprachliche Strukturen zu beschreiben, umso mehr scheint sich das zu entziehen, was man jenseits davon zu greifen versucht. Zugleich aber macht gerade diese Predigt eindrücklich sichtbar, welche sprachliche Dynamik ein Text entwickeln kann, der das Fließen, das in der Predigt thematisch ist, literarisch inszeniert und erfahrbar macht, indem er es performativ umsetzt. Ich bin deshalb so ausführlich auch auf die sprachliche Mikroebene und die syntaktische Struktur der Predigt eingegangen, um jenes Fließen herauszuarbeiten, zu dem der Text selbst wird, indem er auf variierende Wiederholung, syntaktische Reihung und schleifenförmige Wiederaufnahmen setzt. Darüber wird eine ganz eigene Dichte erzeugt, vor der der punktuelle Umschwung in die Du-Anrede nur umso stärker profiliert wird. In und mit ihrer sprachlichen Dynamik bringt die Predigt so performativ ihren impliziten Adressaten hervor, der die sprachliche Ebene als solche doch übersteigt. Das Profil der Predigt bestimmen chiastische Verschränkungen wie mych dich inde dich mych , syntaktische Strukturen, die ein Fließen inszenieren, um mit dem dû zum Endpunkt zu kommen, ebenso wie Konditionalsätze, die gleichsam einen Bogen aufspannen, über den sie das angesprochene dû zu bewegen scheinen. Über solche Formen sprachlicher Intensivierung, die über das Phänomen der Anrede hinausgehen, baut diese Predigt sich ihren impliziten Adressaten regelrecht als Figur auf; und in der Erörterung ihres Themas zieht sie ihn wie in einem Sog in den Gang der Rede hinein. Am deutlichsten sichtbar wird das an jener Scharnierstelle im Textverlauf, an der die Pronomina aufs kunstvollste so verschränkt werden, dass das dû als das Objekt der Bewegung hineingenommen wird in einen Satz, der es nicht einfach umkreist, sondern in sich hineinzieht, indem er es immer wieder aufs Neue anspricht: ›du sollst geinnigt werden, von dir in dich selbst, auf dass er in dir sei‹ ( du salt geinniget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy ). Eine solche ›Innigung‹, bei der gleichermaßen das dû auf sich selbst zurückbezogen und der Adressat in den Fluss der Rede hineingezogen wird, ist theologisch-spirituell wie kommunikationspragmatisch zu verstehen; in ihr kommen eine sprachliche Bewegung, die den Adressaten in die Rede hineinnimmt, und eine spirituelle Bewegung, mit der der Mensch sich auf den göttlichen Grund in sich wendet, zusammen. Eine solche ›Innigung‹ ist keine räumliche Verinnerlichung, auch keine Intensivierung von Nähe, sondern eine spirituelle Bewegung des Menschen, der von allem Geschöpflichen an sich absieht - und insofern eben die Bewegung des dû , das in der Deutungsperspektive der 211 Zum idealen Rezipienten vgl. ausführlicher oben, Kap. II.1.3. 132 II. Analysen Predigt in wahrer Demut von allem freigeworden ist, das es daran hindert, Gott in seinem innersten Grund zu finden. 212 Die Wendung nach innen, von der ich als ›Innigung‹ spreche, ist also nicht mit Eckharts Kritik einer innicheit zu verwechseln, die sich im Sinn einer Praxis der contemplatio auf das Eigene wendet, statt davon abzusehen. 213 Mit ›Innigung‹ ist auch keine »Verlagerung der Gottesbeziehung in die subjektive Innerlichkeit […] des Erlebens« 214 gemeint, die Karl Heinz Witte zu Recht als »Fehlinterpretation von Schwärmern« 215 ausweist. Stattdessen geht es darum, dass die Predigt ihren Adressaten auf seinen eigenen inneren Grund verweist, in dem Gott nicht als an einem hervorgehobenen Ort, sondern als in seinem Eigensten immer schon anwesend ist. 216 Karl Heinz Witte hat treffend festgestellt, dass diese Predigt nicht dazu hinführen will, dass der Mensch den Grund in sich finde, sondern dass sie darauf zielt, die Erkenntnis von der Präsenz Gottes zu ›entfalten‹: Die Intention des Predigers ist es, das Wesen Gottes selbst zur Geltung zu bringen. Abstrakt formuliert, reduziert sich der Sinn fast zur Tautologie: Wenn das Nicht-Göttliche abgezogen wird, tritt Gott selbst hervor. Die Predigt ist nicht so sehr Hinführung zu einer solchen Erkenntnis als vielmehr deren Entfaltung. 217 Tatsächlich zielt der ganze Verlauf der Predigt auf eine solche Entfaltung, die die Predigt auch auf der Ebene ihrer Performativität prägt. Dabei lässt sich beobachten, wie das Ein- und Ausfalten selbst zum literarischen Prinzip wird. Die Predigt inszeniert beständig ihr eigenes Fortschreiten, indem sie mit Formen der Steigerung und Überbietung arbeitet (was sich neben den beschriebenen sprachlichen Verfahren vor allem auch in Strategien der Zitation genauer beobachten ließe). Diesem Ausfalten der Rede (mit dem sie je neu darauf zielt, das zum Austrag zu bringen, was das Leitzitat in sich birgt), korrespondiert jene Bewegung eines Hineinziehens des Adressaten in die Rede - sodass die Predigt von der Dynamik geprägt ist, die sich im Wechselspiel von ›Hineinnehmen‹ und ›Ausfalten‹ ergibt. Diese Bewegung ließe sich in einem letzten Schritt wiederum in Verbindung mit dem liturgischen Kontext der Epiphanie-Predigt bringen, die im Kern die Offenbarung, »die 212 Mit dieser Bewegung der ›Innigung‹ ist der Themenkomplex vom Inneren des Menschen, von Innerlichkeit oder Verinnerlichung aufgerufen, der Eckharts Werk ebenso wie die Eckhartforschung durchzieht. Vgl. dazu exemplarisch Otto Langer, Zum Begriff der Innerlichkeit bei Meister Eckhart, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg. von Kurt Ruh, Stuttgart 1986, S. 17-32, Christine Büchner, Non enim fecit atque abiit, sed ex illo in illo sunt. Schöpfung und Innerlichkeit bei Augustinus und Meister Eckhart, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 3 (2011), S. 73-86, und Rodrigo Guerizoli, Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts, Leiden / Boston 2006 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 88). 213 Zu dieser Abgrenzung vgl. Langer, Begriff der Innerlichkeit, S. 21. 214 Witte, Der enthöhte Gott, S. 47. 215 Ebd. 216 Vgl. zu dieser Denkfigur auch Dietmar Mieth, Der Himmel in mir. Die Interiorisierung des Himmels bei Meister Eckhart. »Was oben war, ist innen«, in: Der Himmel als transkultureller ethischer Raum. Himmelskonstellationen im Spannungsfeld von Literatur und Wissen, hg. von Harald Lesch, Bernd Oberdorfer und Stephanie Waldow, Göttingen 2016 (Internationale Schriften des Jakob-Fugger-Zentrums 2), S. 105-126, der treffend von einer »Interiorisierung der Transzendenz« (S. 107) bei Eckhart spricht. 217 Witte, Predigt 14, S. 17 f. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 133 Selbstmitteilung Gottes an die Menschen in seinem Sohn« 218 ebenso wie die revelatio trinitatis feiert. Die Bewegung, in die die Predigt ihren impliziten Adressaten versetzt, indem sie ihn hineinnimmt in ein Innen, in dem Gott sich selbst mitteilt, würde in dieser Perspektive umsetzen, worauf die Predigt im Ganzen zielt: den Menschen in die Disposition zu versetzen, »die diesem notwendig ist, um die liturgische Feier […] als gegenwärtig von Gott geschehendes Heilshandeln real zu erfahren.« 219 Burkhard Hasebrink hat am Beispiel von Eckharts Umdeutung der Demut in dieser Predigt die Sprengkraft eines Verfahrens beschrieben, in dem in der Umdeutung von Begriffen »die Auslegung zum Sinn der Begriffe ›durchbricht‹.« 220 Wenn ich von einer ›Innigung‹ spreche, ist auch das schließlich eine Form von ›Durchbruch‹: Indem sie ihren impliziten Adressaten auf den Grund weist, in dem er Gott in sich findet, lässt sie ihn diesen Durchbruch vollziehen. Damit wäre der implizite Adressat wiederum auf den Grund in sich verwiesen, den die Predigt im Gang der Rede zugleich zu entfalten strebt - die Ebenen des Fortschreitens der Rede und die Ontologie, um die es der Predigt geht, würden aufeinander durchlässig. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 1. Einführung Die Predigt Iusti vivent in aeternum (Quint Nr. 6) setzt an dem Schriftwort aus dem Buch der Weisheit an, das den Gerechten ewiges Leben und Lohn bei Gott verspricht. 221 Das Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit bezieht der Prediger auf das Gottesverhältnis des Menschen, und die Sprengkraft der Predigt liegt darin, dass sie dieses Verhältnis als univokes Korrelationsverhältnis begreift: der Gerechte und die Gerechtigkeit sind eins, ihrer Natur nach gleich, unterschieden nur darin, dass die Gerechtigkeit den Gerechten hervorbringt und der Gerechte von der Gerechtigkeit hervorgebracht wird. 222 Diese Einheit aufzuweisen, die nicht nur für die Gerechtigkeit und den Gerechten, sondern genauso für Gott-Vater und den Sohn und schließlich für Gott und den gerechten Menschen gilt, bildet den Fluchtpunkt der Predigt. Die Einheit ohne Unterschiedenheit, die der Prediger behauptet, spiegelt sich zum Predigtschluss hin darin, dass sich die Stimmen in der Zitation kaum mehr trennen lassen, wenn der Prediger ein Schriftzitat in die eigene Rede einfügt. Für meine Fragestellung ist die Predigt deshalb so aufschlussreich, weil damit der Effekt einhergeht, dass der implizite Adressat der Predigt, auf den diese zuvor mit aller rhetorischen Intensität gezielt 218 Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 418. 219 Ebd., S. 427. 220 Hasebrink, mitewürker gotes , S. 67. 221 DW I, S. 97-115. 222 Vgl. zur Univozitätstheorie bei Eckhart Mojsisch, Analogie, Univozität und Einheit, hier S. 70-74 zur Predigt 6. Wie die Theorie der perfectiones spirituales , der geistigen Vollkommenheiten, zu denen die Gerechtigkeit zählt, bei Eckhart »strukturell nicht mehr dem Analogie-, sondern dem Univozitätsdenken verpflichtet ist«, hat ebenfalls Burkhard Mojsisch herausgearbeitet: Burkhard Mojsisch, Perfectiones spirituales - Meister Eckharts Theorie der geistigen Vollkommenheiten. Mit possibilitätsphilosophischen Reflexionen, in: Die Logik des Transzendentalen. Festschrift für Jan A. Aertsen zum 65. Geburtstag, hg. von Martin Pickavé, Berlin / New York 2003 (Miscellanea Mediaevalia 30), S. 511-524, hier S. 518 f. 134 II. Analysen hatte, in der Überblendung der Stimmen regelrecht aufgeht. Die transformatio , von der die Predigt spricht, vollzieht sich so an ihrem impliziten Adressaten selbst. Die Predigt, deren historische Datierung und Lokalisierung fast vollständig im Dunkeln liegen, 223 nimmt im Predigtwerk Eckharts (wie in der Eckhartforschung) eine prominente Stellung ein. Dazu mag der Häresieverdacht beigetragen haben, der die Predigt in hohem Maß trifft; vier Stellen nimmt allein die Bulle In agro dominico auf. 224 Es gibt Rückbezüge in der sogenannten ›Rechtfertigungsschrift‹, in der Eckhart einige Stellen der Predigt kommentiert; das ›Trostbuch‹ und Eckharts Kommentare zum Johannesevangelium sowie zum Buch der Weisheit erhellen ihren theoretischen Kontext. Damit weist die Predigt im Ganzen neben ihrer eher praktischen Ausrichtung zu Beginn zentral auch auf die philosophische Seite der Figur Eckharts. 225 Dazu kommt eine Aussage, die Kurt Flasch als »prinzipielle Selbstinterpretation des Werkes Eckharts« 226 liest. Die Predigt 6 wäre insofern sicher auch aufschlussreich, wollte man diskursanalytisch weiter nach der Konstruktion der Figur Eckharts als Prediger, Theologe und Philosoph im Spannungsfeld von Häresieverdacht und innovatorischem Anspruch seiner Lehre fragen. Ich konzentriere mich im Folgenden jedoch darauf, wie die Predigt mit der Vorstellung vom gerechten Menschen ihrem Adressaten nicht nur gleichsam ein Identifikationsangebot unterbreitet, sondern ihn im Textverlauf so in diese Position überführt, dass er in der Gerechtigkeit aufgeht, wie das Holz im Feuer aufgeht, und das heißt in der Deutungsperspektive der Predigt: dass er verwandelt wird in Gott. Die Disposition der Predigt folgt der divisio des Leitzitats, aus dem der Prediger drei Elemente herausgreift, um sie schrittweise auszulegen: ›die Gerechten‹, ›leben‹ und ›bei Gott‹. Im Lauf des ersten Abschnitts ( DW I, S. 99,5-105,3) entwickelt der Prediger verschiedene Begriffe von Gerechtigkeit. Seinen Ansatzpunkt bildet das Konzept einer distributiven Gerechtigkeit - Gerechtigkeit bedeute, jedem das Seine zukommen zu lassen -, bevor an die Stelle einer gerechten Verteilung im Geben der Gedanke tritt, dass derjenige gerecht sei, der sich seines eigenen Willens entäußert habe und von Gott alle Dinge gleich empfange. Schließlich fasst der Prediger grundlegend das Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit in den Blick: der gerechte Mensch will nichts als die Gerechtigkeit. Der kurze Mittelteil der Predigt ( DW I, S. 105,4-106,3) zielt darauf, das Leben als unmittelbar von Gott kommend zu begreifen, sodass Gottes Sein ›mein‹ Leben und, wie der Prediger 223 Ausgehend von dem liturgischen Kontext, den das Leitzitat aufruft, datiert Joachim Theisen die Predigt auf einen 30. Juli (Abdon und Sennen): Theisen, Predigt und Gottesdienst, S. 297; der Basler Taulerdruck weist die Predigt dagegen An aller Heiligen / Abent an, vgl. DW I, S. 99 (Variantenapparat). Ein mögliches Entstehungsjahr der Predigt kann ebenso wenig angegeben werden wie ein Ort, an dem die Predigt gehalten worden sein könnte. 224 Es handelt sich um zentrale Gedanken der Predigt: Die Aussage, dass Gott von den Menschen geehrt werde, die nach nichts streben, weder nach Ehre noch nach Nutzen, innicheit , Heiligkeit, Lohn oder dem Himmelreich (Bulle Art. 8, vgl. Acta Echardiana, LW V, S. 598,10-13); der Verzicht darauf, von Gott etwas wie ein Knecht empfangen zu wollen (Bulle Art. 9, vgl. Acta Echardiana, LW V, S. 598,14-17); schließlich die Aussagen, die die Einheit âne underscheit betonen: Art. 10 inkriminiert die Aussage, dass wir so in Gott verwandelt würden, dass kein underscheit mehr sei (vgl. Acta Echardiana, LW V, S. 598,18-22), und Art. 21 zielt auf die Aussage, dass der Vater ›mich‹ als seinen Sohn âne allen underscheit gebäre (vgl. Acta Echardiana, LW V, S. 599,8-10). 225 Vgl. Kurt Flasch, Predigt 6 ›Iusti vivent in aeternum‹, in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. II, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 2003, S. 30-51, hier S. 40 und S. 48-50. An die zentrale Lektüre Kurt Flaschs zur Predigt schließe ich im Folgenden vor allem dort an, wo es um die philosophischen Implikationen des Verhältnisses des Gerechten zur Gerechtigkeit bzw. des Menschen zu Gott geht. 226 Ebd., S. 40. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 135 zuspitzt, ›mein‹ Sein ist. Bei Gott zu sein, wird im letzten Abschnitt ( DW I, S. 106,4-115,4) schließlich auf das Motiv der Gleichheit bezogen: Bei Gott sein ist nicht als hierarchisch strukturiertes Verhältnis, sondern als absolute Gleichordnung zu verstehen. Damit ist der Anknüpfungspunkt gegeben, das Verhältnis von der Gerechtigkeit und dem Gerechten auf das Verhältnis von Gott-Vater und dem Sohn in der Geburt zu beziehen. Gott gebiert seinen Sohn sich selber glîch , er gebiert ihn ohne Unterlass in der Seele, und er gebiert ›mich‹ als seinen Sohn: Der Gedanke der Einheit ohne Unterschiedenheit bleibt bis zum Ende der Predigt leitend, bevor das Leitzitat und die folgende Schlussbitte die Predigt rahmend umschließen ( DW I, S. 115,4-6). Während die Struktur, die Quint der Predigt unterlegt, diesen Dreischritt der divisio des Leitzitats abbildet, 227 gliedert Kurt Flasch in seiner Lektüre im Rahmen der Lectura Eckhardi den Text thematisch in zwei große Teile, die auf verschiedenen Definitionen von Gerechtigkeit beruhen. Während der erste Teil die Gerechtigkeit behandle, »sofern sie jedem das Seine gibt«, 228 liege der Schwerpunkt des zweiten Teils auf der Gerechtigkeit, »sofern sie Gleichheit herstellt«. 229 Ich schließe an die Gliederung Flaschs an: Die Predigt 6 arbeitet mit genau jenem Umschlagen von einer Sicht, was Gerechtigkeit bedeute, in eine andere, die die erste Sicht übersteigt und aufhebt. In der Analyse folge ich erneut schrittweise dem Textverlauf, unterteile die Predigt dabei jedoch weder in zwei (wie es von dem unterschiedlichen Gerechtigkeitsbegriff her naheläge) noch in drei Abschnitte (der divisio des Leitzitats folgend), sondern in insgesamt vier Abschnitte, um den Gang der Argumentation deutlicher abzubilden und die Bewegung sichtbar werden zu lassen, um die es mir zum Predigtende hin zentral geht. Dazu setze ich einen Einschnitt innerhalb des letzten großen Abschnitts, der dem Schriftwort bî gote gilt. Wie auch in dieser Predigt mit ihrer radikalen Einheitskonzeption der implizite Adressat performativ das mitvollzieht, wovon die Predigt handelt, fasse ich abschließend zusammen. 2. Analyse 2.1 Die Gerechten. Ausrichtung auf den gerechten Menschen Iusti autem in perpetuum vivent et apud Dominum est merces eorum (Sap 5,16): Der erste Teil der Predigt richtet sich ganz auf die Frage aus, was es für den Menschen bedeutet, im Sinn des Leitzitats ›gerecht‹ zu sein, das den Gerechten ewiges Leben und Lohn bei Gott verspricht. Vor dem Beginn der eigentlichen Auslegung leitet auch hier zunächst die Übersetzung des Schriftworts in die Volkssprache die Predigt ein. Ihr folgt ein kurzer Passus, in dem der Prediger seine Zuhörer auffordert, seine Bedeutung richtig aufzufassen. ›Die gerehten suln leben êwiclîche, und ir lôn ist bî gote‹. N û m e r k e t d i s e n s i n gar eben; aleine er g r o p l û t e u n d g e m e i n e , sô i s t er doch g a r m e r k l i c h und g a r g u o t . ( DW I, S. 99,2-4) 227 Vgl. DW I, S. 105, Anm. 2 und S. 106, Anm. 3. 228 Flasch, Predigt 6, S. 40. 229 Ebd. Die beiden Gliederungen der Predigt setzen offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen an; in der Sache stehen sie in keinem Widerspruch zueinander. Der Prediger entfaltet die beiden von Flasch benannten Dimensionen des Gerechtigkeitsbegriffs, um die es ihm geht, mit dem von Flasch konstatierten deutlichen Schwergewicht auf dem zweiten Aspekt: Gerechtigkeit als Gleichheit (vgl. ebd., S. 41); formal greift er dabei in der schon von Quint herausgestellten Struktur die drei genannten Elemente aus dem Leitzitat auf. 136 II. Analysen Die imperativische Aufforderung ( nû merket ), auf den sin des Schriftworts zu achten, lässt sich als formelhafte, den Konventionen der Gattung Rechnung tragende Überleitung zwischen Leitzitat und der folgenden Auslegung verstehen. Zugleich wird damit an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht, dass das Schriftwort unterschiedliche Verständnismöglichkeiten in sich birgt. Wer an der Oberfläche bleibt - beim groben und gemeinen Klang der Worte -, verfehlt, so legt der Prediger nahe, den guoten Sinn, der sich dahinter verbirgt. 230 Offensichtlich stört sich Eckhart auf der Ebene des Wortlauts des Leitzitats, so Kurt Flasch, zum einen an der Vorstellung, dass die Gerechten Lohn erhalten, zum anderen an der damit verbundenen Temporalisierung, die die Lohnerwartung in die Zukunft verlagert. 231 Entsprechend werden in der Predigt die temporale Dimension, die das Adverb êwiclîche indiziert, und das Konzept des Lohns, der die Gerechten bei Gott erwartet, auch konsequent ausgespart; Flaschs Interpretation hebt insofern zu Recht auf die »Eliminierung des Lohnmotivs und jeder Zweck-Mittel-Konstruktion des Lebens« 232 sowie die »konsequente Entzeitlichung« 233 in dieser Predigt ab. Mit der Unterscheidung von grobem Wortlaut und guotem Sinn ist aber auch ein Auslegungsmodell aufgerufen, das nahelegt, dass es einen verborgenen Sinn ›hinter‹ dem geben müsse, was das Schriftwort auf den ersten Blick auf der Textoberfläche sagt. So wird mit dieser Perspektivierung des Leitzitats zu Beginn ein thematischer Schwerpunkt für die Predigt angekündigt und die Erwartung abgewiesen, dass es dabei um ein Modell von Lohn gehen könnte. Zugleich wird in gewisser Weise das Verfahren der Predigt selbst angespielt, deren Aufgabe es ist, jenen verborgenen Sinn freizulegen und zum Austrag zu bringen, der dem Schriftwort unterlegt ist. Drei verschiedene Aspekte von Gerechtigkeit werden im ersten Dispositionsabschnitt ( DW I, S. 99,5-105,3) herausgestellt: gerecht ist, wer jedem gibt, was das Seine ist ( DW I, S. 99,5-101,15); gerecht ist, wer alles, was Gott gibt, auf die gleiche Weise empfängt ( DW I, S. 102,1-14); gerecht ist, wer nichts als die Gerechtigkeit selbst will ( DW I, S. 103,1-105,3). Auf verschiedenen Ebenen wird damit die Gerechtigkeit als Moment in den Blick gefasst, das das Leben des Menschen bestimmt; der Gerechte wird zum Paradigma desjenigen Menschen, der allen eigenen Willen aufgegeben hat, nichts Eigenes mehr will und als Gerechter nur noch nach der Gerechtigkeit strebt. Im Lauf des Abschnitts deutet sich an, wie das, was Kurt Ruh als Eckharts »Lebenslehre« bezeichnet hat - »daß der Mensch frei werde von sich selbst und von allen Dingen« 234 -, ontologisch fundiert ist: als eine der perfectiones spirituales ist die Gerechtigkeit identisch mit Gott selbst, und der Gerechte, insofern er 230 Das gilt für diese wie für die zweite Stelle im Predigtverlauf, wo die Formulierung wiederholt wird: Daz wort lûtet grop und gemeine, und verstât wenic ieman, wie im sî, und ist doch wâr (DW I, S. 105,1 f.). Es wäre spannend, der Semantik von mhd. sin in Kontexten wie diesem weiter nachzugehen, wo sie zwischen einer bestimmten, konkreten Aussage in ihrem Wortlaut (der grop und gemeine klinge) und deren Bedeutung (die gar merklich und gar guot sei) zu schwanken scheint. Diese Ambivalenz geben die bei Lexer verzeichneten Verwendungsweisen des Wortes nicht wieder, vgl. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1869-78, ND Stuttgart 1992, Bd. II, Sp. 926 f. - Zu grop als Entsprechung für das lateinische rudis bzw. ruditas und damit als Abgrenzungsbegriff vgl. Schönberger, »grobe liute«, S. 244 f.; vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 145. 231 »Offenbar verletzte ihn die Vorstellung, es gehe um ›Lohn‹, nicht um Gott selbst. Auch dürfte ihn die Verlegung des Wesentlichen in die Zukunft gestört haben. Jedenfalls korrigiert er im Laufe seiner Predigt sowohl die Erwartung von Lohn - wir sollen Gott lieben ohne Warum -, als auch die Temporalisierung: Er nimmt alles Futurische in die Gegenwart zurück.« Flasch, Predigt 6, S. 40. 232 Ebd., S. 50. 233 Ebd., S. 51. 234 Ruh, Meister Eckhart, S. 155. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 137 gerecht ist, kann gar nichts anderes wollen als die Gerechtigkeit selbst, die allein sein Sein ist. 235 Folglich geht es bei der Gerechtigkeit nicht um eine mögliche Tugend unter anderen, sondern um das Fundament für das Sein des Menschen überhaupt. 236 Im Lauf des ersten Dispositionsabschnitts richtet sich die Predigt auf diesen Aspekt von Gerechtigkeit aus, und sie zentriert sich auf die Figur, um die es ihr geht: den gerechten Menschen. ›Die gerehten suln leben‹. W e l h e z s i n t d i e g e r e h t e n ? Ein geschrift sprichet: »der ist gereht, der einem ieglîchen gibet, d a z s î n i s t « . Die gote gebent, d a z s î n i s t , und den heiligen und den engeln, d a z i r i s t , und dem ebenmenschen, d a z s î n i s t . ( DW I, S. 99,5-8) Der Abschnitt wird eingeleitet, indem der erste Teil des Leitzitats wiederholt wird, der nun im Fokus der Auslegung steht: ›Die Gerechten werden leben‹. Unmittelbar darauf folgt die pointierte Frage nach dem Wort, um das es dem Prediger geht. Wer sind die Gerechten? Die Antwort schließt an: Derjenige, sagt eine Quelle, ist gerecht, der jedem das Seine gibt. Den mittelalterlichen Rechtssatz des suum cuique tribuere , der damit aufgegriffen wird, 237 legt der Prediger in einem Dreischritt in die Richtung aus, in die er zielt: gerecht ist, wer Gott, den Engeln und Heiligen und den Mitmenschen jeweils das gibt, was das Ihre ist. Die parallelisierende Aufzählung, wem je das Seine gegeben werden solle, nimmt die strenge Strukturierung voraus, die die folgende Textpassage prägt. Dadurch, dass der Teilsatz daz sîn (bzw. ir ) ist gleich vierfach wiederholt wird, wird die Struktur als Denkrichtung für das Folgende regelrecht eingeschliffen. Unmittelbar im Anschluss greift der Prediger diese drei Aspekte dann auch nacheinander auf und bringt mit Blick auf seine Zuhörer zur Geltung, was es jeweils bedeutet, Gott, den Engeln und Heiligen und den Mitmenschen das Ihre zu geben. Dabei setzt sich die hier inszenierte Abfolge von Aussage, (rhetorischer) Frage und Antwort fort. Gotes ist diu êre. W e r s i n t , d i e g o t ê r e n t ? D i e ir selbes alzemâle sint ûzgegangen und des irn alzemâle niht ensuochent an keinen dingen, swaz ez joch sî, noch grôz noch klein, d i e niht ensehent under sich noch über sich noch neben sich noch an sich, d i e niht enmeinent noch guot noch êre noch gemach noch lust noch nuz noch innicheit noch heilicheit noch lôn noch himelrîche und dis alles sint ûzgegangen, alles des irn, d i r r e l i u t e hât got êre, und d i e êrent got eigenlîche und gebent im, d a z s î n i s t . ( DW I, S. 100,1-7) Gott gebührt Ehre. Abermals folgt auf die pointierte Definition eine kurze rhetorische Frage (wie ehrt man Gott? ), die zu der anschließenden Erklärung überleitet. Diese bricht offen mit ›frommen‹ Erwartungen, denn der Prediger stellt heraus, dass man Gott nicht durch religiöse Praxis oder individuelles Streben ehre, sondern grundlegend nur, indem man auf 235 Zur Lehre von den perfectiones spirituales vgl. Mojsisch, Perfectiones spirituales . Vgl. auch Ruh, Meister Eckhart, S. 155: »diese ontologische Einbindung des ›Gerechten‹ ist die Voraussetzung für die lebenspraktische Ausformung«. 236 Dietmar Mieth pointiert: »Bei Meister Eckhart gibt es keine Tugendlehre, sondern nur die perfectiones spirituales .« Mieth, Geflügelte Motive und Leitbilder, S. 36 (mit dem relativierenden Hinweis, dass Eckhart selbstverständlich die moralische Tugendlehre kenne, aber hier nicht an Tugenden in diesem Sinn denke). 237 Zur Verankerung dieses Lehrsatzes in der Tradition antiker bzw. mittelalterlicher Rechtslehren vgl. Largier, Kommentar, S. 810, und Quints Anm. 2, DW I, S. 99. Vgl. auch Flasch, Predigt 6, S. 42 f. 138 II. Analysen alles Eigene verzichte. »Wer ›gerecht‹ ist in diesem Sinn, […] ehrt Gott - nicht durch äußere Zeremonien, nicht durch ethische Leistungen, sondern indem er alles läßt.« 238 Die Sprengkraft, die in dieser Absage an alle Formen religiöser Mediatisierung steckt, ist enorm; 239 aber auch die Syntax, die an dieser Stelle in extremer rhetorischer Intensivierung einen fast anstrengend weiten Bogen spannt, besitzt Sprengkraft. Auf der Inhaltsebene weist der Prediger nicht nur im abstrakten Sinn jedes Streben nach Eigenem, sondern konkret die Suche nach religiöser Heilsvermittlung zurück. So wird Gott im rechten Sinn nur von denen geehrt, die weder nach Besitz oder Ehre, weder nach individuellem Wohl oder einem kontemplativen Leben noch nach Heiligkeit, Lohn oder dem Himmelreich selbst streben ( die niht enmeinent noch guot noch êre noch gemach noch lust noch nutz noch innicheit noch heilicheit noch lôn noch himelrîche ). Die steigernde Aufzählung, in diesem Satz in mehrfachen Parallelismen geschachtelt und polysyndetisch gereiht, verstärkt die Verneinung aufs äußerste, die in der Absage an alles steckt, was noch das Eigene ist. Der insgesamt dreimal variierend wiederholte Nebensatz mit die scheint den Satz im Ganzen aufzuspannen, bis die Konkretisierung mit dirre liute die Spannung auflöst. Wie die Bewegungen ineinandergreifen, dass man Gott Ehre gibt, indem man das Eigene aufgibt, wird so in der Bewegung der Syntax gespiegelt, die das Aufgeben zunächst in äußerster Verdichtung über die variierend-wiederholenden Aufzählungen inszeniert, bevor der Satzverlauf von der Negation in die Position kippt: dirre liute hât got êre, und die êrent got eigenlîche und gebent im, daz sîn ist . Je weiter der Satz sich zuvor aufgespannt hatte, umso pointierter geschieht der Neueinsatz an dieser Stelle, und umso stärker ist der deiktische Verweis dirre liute aufgeladen - der Satz scheint sich in der Bewegung die Figur aufzubauen, auf die er im Ganzen zuläuft. Der abschließende Teilsatz daz sîn ist greift das Moment wieder auf, das zuvor in der Wiederholung eingeschliffen worden war; die Rede kommt damit nun zur Ruhe. Wenn der Prediger den zweiten Aspekt erörtert - man solle den Engeln und Heiligen Freude geben -, setzt sich der belehrende Gestus der Rede fort. Auch hier folgt die dreigliedrige Struktur dem Schema von Aussage, rhetorischer Frage und anschließender Erläuterung. Man sol geben den engeln und den heiligen vröude. E y â , w u n d e r ü b e r a l l i u w u n d e r ! M a c e i n m e n s c h e i n d i s e m l e b e n e v r ö u d e g e b e n d e n , d i e i n d e m ê w i g e n l e b e n e s i n t ? J â w æ r l î c h e ! ein ieglich heilige hât s ô g r ô z e n l u s t u n d s ô u n s p r e c h e l î c h e v r ö u d e , von einem ieglîchen guoten werke, von einem guoten willen oder einer begerunge hânt sie s ô g r ô z e v r ö u d e , daz ez kein munt ûzsprechen kan, noch kein herze kan ez erdenken, wie g r ô z e v r ö u d e sie dâ von hânt. W a r u m b e i s t d a z ? Dâ minnent sie got als unmæzlîche sêre und hânt in sô rehte liep, daz sîn êre in lieber ist dan ir sælicheit. N i h t a l e i n e die heiligen noch die engel, m ê r : got selber hât sô grôzen lust dar abe, rehte als ob ez sîn sælicheit sî, und sîn wesen swebet dar an und sîn genüegede und sîn wollust. E y â , n û m e r k e t ! Enwellen wir gote niht dienen umbe kein ander sache wan umbe die grôzen vröude, die sie dar an hânt, die in dem êwigen lebene sint, und got selber, wir möhten ez gerne tuon und mit allem vlîze. ( DW I, S. 101,1-13) 238 Flasch, Predigt 6, S. 41. Wer das Eigene aufgibt, gibt Gott das Seine: wieder greifen die Bewegungen von Gabe und Selbstaufgabe komplementär ineinander. 239 »Mögen die Gnadenmittel der Kirche für das Gerechtwerden hilfreich sein - Eckhart sagt das nicht, schließt es aber nicht aus -, für den Gerechten, sofern er gerecht ist, spielen weder Sakramente noch Predigten, weder Zeremonien noch Kasteiungen eine Rolle. Eine weitgehende Individualisierung des Glaubensverhaltens, zugleich aber eine neue intellektuelle und ethische Universalisierung, waren die Folge.« Ebd., S. 45. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 139 Deutlich fällt die rhetorische Emphase auf, die diese Textpassage mit steigernden Ausrufen, Übertreibungen und Bekräftigungen stärker noch als die vorangegangenen prägt. Warum es dem Prediger so wichtig ist, diesen Punkt herauszustellen, erschließt sich inhaltlich nicht unmittelbar. Zentral an dem Gedanken, dass man den Engeln und Heiligen Freude geben solle, so wie ihn der Prediger präsentiert, ist, dass es dem Menschen in diesem Leben überhaupt möglich ist, den Engeln und Heiligen Freude zu geben. Das geschieht mit jedem guten Werk, mit dem Gott geehrt wird. 240 Die Behauptung, dass Gott selbst nicht nur Freude ( lust ) an guten Werken oder einem guten Willen habe, sondern dass sein Sein daran hänge, die der Prediger anfügt, setzt auf Überbietung ( niht aleine , mêr ) und fügt sich insofern auch sprachlich in den Gestus der Steigerung in diesem Abschnitt ein. Kurt Flasch stellt zu Recht heraus, dass es an dieser Stelle inhaltlich darum geht, »daß Gott selbst durch den Gerechten Freude gewinnt .« 241 Anders ist die Aussage, dass Gottes Sein daran hänge, kaum zu verstehen. 242 Dennoch ist die Stelle im Textverlauf noch nicht eindeutig auf den Gerechten bezogen, sondern bleibt zunächst so offen, dass alle guten Werke des Menschen angesprochen sind, durch die Gott Freude gewinnt. In diesem eher praktischen Sinn schließt auch der kurze Fortsatz an, dass man den Menschen im Fegefeuer Hilfe, den Lebenden gutes Beispiel geben solle ( Man sol ouch den geben, die in dem vegeviure sint, hilfe und bezzerunge und <…> den, die noch lebent , DW I, S. 101,14 f.). Im Anschluss vollzieht sich noch innerhalb des ersten Dispositionsabschnitts der Wechsel der Perspektive, mit dem die eine Vorstellung von Gerechtigkeit in die andere umschlägt, die den ganzen weiteren Predigtverlauf bestimmen wird. Nicht länger ist wie zuvor die Gerechtigkeit thematisch, die jedem das Seine gibt, sondern in den Fokus rückt nun die Gerechtigkeit, die Gleichheit herstellt. 243 Der Umschwung der Perspektive wird im Text inszeniert, und an dieser Stelle wechselt die Rede auch das erste Mal in die direkte Anrede im personalen dû . D i r r e m e n s c h e ist gereht in einer wîse, und in einem andern sinne sô sint d i e gereht, d i e alliu dinc glîch enpfâhent von gote, swaz ez joch sî, ez sî grôz oder klein, liep oder leit, und al glîch, noch minner noch mêr, einz als daz ander. Wigest d û daz ein iht mêr dan daz ander, sô ist im unreht. Dû solt dînes eigenen willen alzemâle ûzgân. ( DW I, S. 102,1-5) Die Stelle hat eine zentrale Funktion im Textverlauf, denn die beiden Dimensionen des Gerechtigkeitsbegriffs, die in der Predigt zur Geltung kommen, gehen über diese Scharnier- 240 Vor dem Hintergrund der Absage daran, in irgendeiner Form noch das Eigene zu suchen, die der Prediger unmittelbar zuvor entfaltet hatte, mag es überraschen, dass er sich nun den guten Werken bzw. dem guten Willen zuwendet. Die beiden Sichtweisen greifen jedoch ineinander; dass Gott von denjenigen geehrt wird, die auf alles Eigene verzichten, heißt nicht, dass der Mensch deshalb auf einen guten Willen und gute Werke in dieser Welt verzichten soll. Insofern ergänzt diese Textpassage die vorangegangene perspektivisch. 241 Flasch, Predigt 6, S. 41 [Herv. im Orig.]. 242 Vgl. ebd., S. 41 f. mit der Erläuterung dazu, dass Eckhart an dieser Stelle, indem er die als-ob-Formulierung zurücknimmt, über die thomistische Schulphilosophie hinaus darauf insistiere, dass die Bezüglichkeit Gottes oder der Gerechtigkeit auf den Gerechten zugleich auch Gottes Wesen sei. 243 Ein semantisches Bindeglied zwischen den beiden Dimensionen von Gerechtigkeit ist der lateinische Begriff aequus oder aequalis , »ein Gerechtigkeitswort, ›gerecht‹, gedacht als ›gleichmäßig behandelnd‹; es heißt aber auch ›gleich‹.« Uta Störmer-Caysa, Kommentar, in: Meister Eckhart, Deutsche Predigten. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi« hg., übers. und komment. von Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2001 (RUB 18117), S. 147-190, hier S. 155. 140 II. Analysen stelle verbunden gleitend ineinander über. Prägnant wird der Neueinsatz der Rede eingeleitet: Mit dem anaphorisch gebrauchten Demonstrativpronomen weist dirre mensche satzübergreifend zurück auf das, was der Prediger zuvor ausgeführt hatte (›dieser Mensch‹). Ähnlich wie zuvor mit dirre liute ( DW I, S. 100,6) wird mit dirre mensche textintern das Gesagte pointiert zusammengefasst. Es hat also eine textstrukturierende, argumentative Funktion, weist aber (ebenso wie das folgende Demonstrativum die ) gleichermaßen auch aus dem Text hinaus. So lässt das deiktische Pronomen die Rede an dieser Stelle auch auf die aktuelle Predigtsituation hin transparent werden, in der sich das Ziel des Zeigens im geteilten Hier und Jetzt von Prediger und Zuhörern erfüllt. Indem die Zeigegeste im Text die Orientierung von der einen (›dieser Mensch‹, der gerecht ist, indem er jedem das Seine gibt) in die andere Richtung umlenkt (›diejenigen‹, die gerecht sind, indem sie alles auf die gleiche Weise empfangen), wird der argumentative Umschwung herausgestellt. Der Perspektivwechsel ist damit nicht nur als solcher im Text formuliert, sondern vollzieht sich als Wechsel der Blickrichtung von der einen auf die andere Seite. Schon darüber, wie satzintern das argumentative Gewicht verteilt ist, wird deutlich, worauf der Prediger nun zielt: Es geht um die Gerechtigkeit, die Gleichheit herstellt. Was es heißt, alle Dinge glîch von Gott zu empfangen, erläutert er in einer Reihung von Aufzählungen, die in variierend wiederholt werden. Diejenigen sind gerecht, die von Gott alles auf die gleiche Weise empfangen. Ob es groß oder klein, lieb oder leid sei, alles solle man gleich nehmen, nichts weniger oder mehr, das eine wie das andere: Das universalisierende Moment, das in dem Anspruch steckt, alle Dinge gleich hinzunehmen, wird in der Iteration festgeschrieben. Wenn die Rede im Anschluss in die direkte Du-Anrede wechselt, so variiert und präzisiert der Prediger den Anspruch, alle Dinge von Gott gleich zu empfangen, unmittelbar auf den angesprochenen Zuhörer hin. Damit wird das, was der vorangegangene Abschnitt abstrakt erläutert hatte, personal konkretisiert und in eine Handlungsmaxime überführt. Folglich verschiebt sich der Fokus davon, dass diejenigen Menschen Gott ehren, die alles Eigene aufgegeben haben, hin dazu, dass ›du‹ deinen eigenen Willen aufgeben sollst. Insofern geht auch hier mit dem Umschwung in die Du-Anrede eine Konkretisierung einher, über die der einzelne Zuhörer aus der Gruppe der Zuhörer so herausgelöst wird, dass das Gesagte unmittelbar auf ihn hin zur Anwendung gebracht wird. Im Folgenden wechselt die Rede zurück in die Abstraktion. Schrittweise entwickelt der Prediger die Sicht, auf die der erste Predigtabschnitt im Ganzen zielt: der gerechte Mensch will nichts als die Gerechtigkeit. Dabei bildet der Gedanke, den die folgende Passage ausführt, einen Zwischenschritt: es ist besser, das zu wollen, was Gott will, als dem eigenen Willen zu folgen; noch besser aber ist es, gar keinen Willen zu haben. Ich gedâhte niuwelîche umbe ein dinc: enwölte got niht als ich, sô wölte ich doch als er. S u m l î c h e l i u t e wellent irn eigenen willen hân an allen dingen; d a z i s t b œ s e , dar în vellet gebreste. D i e a n d e r n sint e i n w ê n i c b e z z e r , die wellent wol, waz got wil, wider sînen willen enwellent sie niht; wæren sie siech, sô wölten sie wol, daz ez gotes wille wære, daz sie gesunt wæren. Alsô wölten d i e l i u t e , daz got nâch irm willen wölte, lieber dan daz sie nâch sînem willen wölten. M a n m u o z e z v e r t r a g e n , i m i s t a b e r u n r e h t . D i e g e r e h t e n enhânt zemâle keinen willen; waz got wil, daz ist in allez glîch, swie grôz daz ungemach sî. ( DW I, S. 102,6-14) Die Trias von Leuten, die der Prediger aufruft, ist nach ihrem jeweiligen Grad an geistlicher Perfektion gesteigert: die liute , die auf ihrem eigenen Willen bestehen, sind schlecht; die II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 141 anderen, die zwar nicht entgegen dem Willen Gottes etwas wollen, aber durchaus lieber hätten, dass Gott etwas anderes für sie wollte, sind zwar ein wenig besser; man muss es hinnehmen, aber auch ihre Haltung ist falsch. Den Endpunkt dieser Reihe bilden die Gerechten, die selbst gar keinen Willen haben. Schon dadurch, dass der Prediger zuvor zweimal abweisend von den Leuten spricht, die an ihrem eigenen Willen hängen, werden die gerechten Menschen profiliert, die der Prediger schlicht als die gerehten bezeichnet. Sie lassen sich mit einem Blick auf eine Parallelstelle in Eckharts Johanneskommentar begrifflich auf den Punkt bringen. Dort werden die Gerechten als perfecti von den mali , den ›Schlechten‹, und den imperfecti abgegrenzt, deren Haltung nicht richtig sei, die man aber hinnehmen müsse. 244 Damit ist eine Unterscheidung verschiedener Grade an geistlicher Perfektion aufgerufen, die schon der nächste Abschnitt der Predigt übersteigen wird, wenn an die Stelle der Gleichförmigkeit des eigenen Willens mit dem Willen Gottes die Ausrichtung des Gerechten auf die Gerechtigkeit tritt. Infolgedessen ändert sich die Perspektive. Das Leitmotiv ist, wie Kurt Flasch formuliert hat, nicht mehr: Alles, was Gott will, ist gerecht, und wir bejahen es, weil er es gewollt hat. Der Gedanke muß nun anders laufen: Weil der Gerechte in der Gerechtigkeit lebt […], ist ›Gott‹ nicht eo ipso qualifiziert, von ihm geliebt zu werden. ›Gott‹ muß eine Bedingung erfüllen: Er muß gerecht sein. 245 In der Predigt liest sich das so: D e n g e r e h t e n m e n s c h e n den ist alsô ernst ze der gerehticheit, wære, daz got niht gereht wære, sie enahteten eine bône niht ûf got und s t â n t a l s ô v a s t e i n d e r g e r e h t i c h e i t und sint ir selbes alsô gar ûzgegangen, daz sie niht enahtent pîne der helle noch vröude des himelrîches noch keines dinges. Jâ, wære alliu diu pîne, die die hânt, die in der helle sint, menschen oder vîende, oder alliu diu pîne, diu in ertrîche ie geliten wart oder iemer sol werden geliten, wære diu gesast bî der gerehticheit, sie enahteten sîn niht einen bast; s ô v a s t e s t â n t s i e a n g o t e u n d a n d e r g e r e h t i c h e i t . D e m g e r e h t e n m e n s c h e n enist niht pînlîcher noch swærer, dan daz der gerehticheit wider ist, daz er in allen dingen niht glîch ist. Als wie? Mac sie ein dinc vröuwen und ein anderz betrüeben, sô ensint sie niht gereht, mêr: sint sie ze einer zît vrô, sô sint sie ze allen zîten vrô; sint sie ze einer zît mêr vrô und ze der andern minner, sô ist in unreht. S w e r d i e g e r e h t i c h e i t m i n n e t , d e r s t â t s ô v a s t e d a r û f , swaz er minnet, daz ist sîn wesen; den enmac kein dinc abeziehen, noch keines dinges enahtet er anders. Sant Augustînus sprichet: »dâ diu sêle minnet, dâ ist si eigenlîcher, dan dâ si leben gibet«. Daz wort lûtet grop und gemeine, und verstât doch wênic ieman, wie im sî, und ist doch wâr. S w e r u n d e r s c h e i t v e r s t â t v o n g e r e h t i c h e i t u n d v o n g e r e h t e m , d e r v e r s t â t a l l e z , d a z i c h s a g e . ( DW I, S. 103,1-105,3) Die Stelle bildet den Höhepunkt des ersten Dispositionsabschnitts der Predigt, und konsequent mündet die Passage in die berühmte Aussage, mit der der Prediger herausstellt, 244 Primo ergo videamus quod aliqui deum sequuntur, ut sunt perfecti; alii vero vadunt iuxta deum lateraliter, ut sunt imperfecti; quidam vero praecurrunt deum, et hi sunt mali. Tales, qui in actibus suis nunquam deum sibi proponunt, non curant nec cogitant, quid bonum vel malum, deo placitum sit vel non placitum […] Sunt alii qui vadunt iuxta deum a latere, et isti sunt iam non mali, imperfecti tamen […] mallet tamen deum velle quod ipse esset sanus quam infirmus […] vellet deum velle quod ipse vult […] Volunt quidem quod deus vult; mallent tamen quod deus vellet, quod ipsi volunt […] Sunt alii tertio qui deum non praecurrunt ut vitiosi nec ipsum concomitantur ut imperfecti, sed ipsum sequuntur (In Ioh., LW III, S. 190,14-192,11); vgl. dazu Quint, DW I, S. 102 f., Anm. 1. 245 Flasch, Predigt 6, S. 44. 142 II. Analysen dass derjenige, der den Unterschied ( underscheit ) zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten verstehe, alles verstehe, was er sage. 246 Auch in dieser Textpassage lassen sich Verschiebungen im Redeverlauf erkennen, mit denen das Thema in der variierenden Wiederholung profiliert wird. So führt der Prediger den Gedanken, dass die gerechten Menschen nichts als die Gerechtigkeit wollen, mehrfach ein, zunächst mit der drastischen Formulierung, dass für den Fall, dass Gott nicht gerecht wäre, die gerechten Menschen auf Gott selbst nichts geben würden, weil sie so fest in der Gerechtigkeit stünden ( und stânt alsô vaste in der gerehticheit ); dann in umgekehrter Richtung dahingehend, dass aller Schmerz ihnen nichts ausmachen würde, sollte dieser bei der Gerechtigkeit sein - sô vaste stânt sie an gote und an der gerechticheit . Wie eng der Gerechte mit der Gerechtigkeit verbunden ist, wird in der variierenden Wiederholung gespiegelt, die den ersten Teil der Textpassage regelrecht einklammert. Erst im weiteren Verlauf weitet sich die Sicht wieder, indem die Aussage verallgemeinert wird. Jeder, der die Gerechtigkeit liebt, steht so fest darauf, dass das, was er liebt, sein Sein ist ( swer die gerechticheit minnet, der stât sô vaste dar ûf, swaz er minnet, daz ist sîn wesen ). In diesem Sinn schließt das Augustinus-Zitat an, das, mit dem Gleichklang von amare und animare spielend, die Seele des Gerechten »mehr in der Gerechtigkeit als in seinem Leib« 247 leben lässt. Die Bewegung, die sich im Textverlauf abzeichnet, führt über die vorangegangene Passage, die die gerehten pointiert von denjenigen liuten abgegrenzt hatte, die noch an ihrem eigenen Willen hängen, auf diese Stelle zu. Hier zentriert sich die Rede auf den gerechten Menschen, bevor im Anschluss die Perspektive wieder geweitet wird. Der Prediger spricht dann nicht mehr vom gerehten menschen ; die swer der -Konstruktion bricht die enge Fokussierung auf. Damit verändert sich auf der Inhaltsebene nichts, denn der, der die Gerechtigkeit liebt, ist der Gerechte. Im Wechsel von Intensivierung (in der einschleifenden Wiederholung von der gerehte mensche ) und Generalisierung (in der Verallgemeinerung der Perspektive über die swer der -Konstruktion) entwickelt die Rede an dieser Stelle aber erneut eine ganz eigene Dynamik. Die Aussage, die sich retrospektiv als ›Selbstinterpretation Eckharts‹ (Flasch) lesen lässt, erfüllt im Textverlauf eine bestimmte Funktion. Sie leitet vom ersten Dispositionsabschnitt der Predigt, der das Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit thematisiert hatte, zu dem Verhältnis einer Einheit ohne Unterschiedenheit von Mensch und Gott über, das der dritte 246 In der Semantik des Wortes underscheit verschränken sich die beiden Aspekte von ›Lehre‹ und ›Unterschiedenheit‹, auch wenn es inhaltlich hier klar um den Unterschied zwischen dem Gerechten und der Gerechtigkeit geht, auf den es allein ankommt. Zu den verschiedenen Auffassungen von underscheit an dieser Stelle vgl. Ruh, Meister Eckhart, S. 156. 247 Flasch, Predigt 6, S. 44. »Der Liebende wird zu dem, was er liebt. Daher ist die anima eigentlicher dort, wo sie liebt ( amat ), als wo sie einen Leib beseelt ( animat ). Der Gerechte liebt die Gerechtigkeit und ist daher ganz in sie verwandelt; ihn interessiert nichts mehr als sie allein.« Ebd. - Worauf sich die Bemerkung bezieht, dass das Wort grop und gemeine klinge, aber dennoch wahr sei, bleibt offen. Mehrere Bezugsmöglichkeiten sind denkbar: der Rückbezug auf das Leitzitat, der Bezug auf das vorangegangene Augustinus-Zitat ebenso wie auf die Bemerkung des Predigers, derjenige, der den Unterschied von der Gerechtigkeit und dem Gerechten verstehe, verstehe alles, was er sage. Von dem Augustinus-Zitat zu sagen, dass es grop und gemeine klinge und es kaum jemand verstehe, macht wenig Sinn. Bezöge man die Aussage auf die ›Selbstinterpretation‹, so schöben sich das Leitzitat und diese Aussage spannungsvoll übereinander, indem der Prediger auf beide Sätze in der gleichen Weise verweist, sodass die Selbstaussage in die gleiche Perspektive rückt, in der er auch das Leitzitat betrachtet hatte. Flasch bezieht die Bemerkung an beiden Stellen unterschiedslos auf das Leitzitat, vgl. ebd., S. 40. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 143 Abschnitt ausbreiten wird. Selbstverständlich ist der Mensch nicht ohne weiteres, in der Vielfalt von Bezügen, in denen er in seinem alltäglichen Leben steht, eins mit Gott, sondern strikt nur, insofern er gerecht ist. 248 Indem sie betont, dass der Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten wichtig ist, gibt die ›Selbstinterpretation‹ textintern eine Verständnisrichtung für das Folgende vor. Auf diese Weise thematisiert die Predigt ihre eigenen Verstehensbedingungen und wendet sich insofern metakommunikativ auf sich selbst zurück. Mit dem Menschen, der das, worauf es ankommt, versteht (den Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten), entwirft die Predigt an dieser Stelle ein Bild ihres idealen Rezipienten, der über den Verständnisschlüssel für die Aussage der Predigt im Ganzen verfügt. Zugleich jedoch verweigert die Predigt diese einfache Deutungsperspektive, denn sie macht nicht explizit, worin der Unterschied zwischen dem Gerechten und der Gerechtigkeit besteht, sodass sie an dieser Stelle mit ihrem Rezipienten zu spielen scheint. Im Verlauf dieses ersten Predigtabschnitts wird schrittweise der Begriff von Gerechtigkeit herauspräpariert, den die folgenden Abschnitte weiter ausbreiten werden. Der Prediger stellt dabei das Verhältnis des gerechten Menschen zur Gerechtigkeit in dem Mittelpunkt, das vor dem Hintergrund der Gerechtigkeit als perfectio spiritualis auf das Gottesverhältnis des Menschen hin transparent wird. Was abstrakt klingt, hat praktische Implikationen, die der erste Predigtabschnitt anreißt, indem er allen Formen religiöser Heilsvermittlung eine Absage erteilt. Das Streben nach innicheit , Heiligkeit oder dem Himmelreich werden als Festhalten am Eigenen qualifiziert, das den Weg zu Gott verstellt. Diesem Modell - noch einmal könnte man auf den Kontext religiöser Heilssuche verweisen, den Eckharts Predigten wie abstrakt auch immer stets aufs Neue anspielen - stellt der Prediger den gerechten Menschen entgegen, der ganz in der Gerechtigkeit lebt. Dieser gerechte Mensch, der im Zentrum des ersten Dispositionsabschnitts steht, unterscheidet sich fundamental von den unterstellten Adressaten der Predigt, deren Vorstellung, dass innicheit oder Heiligkeit, Lohn oder das Himmelreich einen Weg zu Gott bilden, zu Beginn der Predigt aufgerufen wird. Anders als jene, die zu Gott gelangen wollen, aber nicht bereit sind, dafür die eigenen Wünsche aufzugeben, hat der Gerechte keinen eigenen Willen mehr, sondern lebt in und aus dem Bezug auf die Gerechtigkeit, das heißt in und aus Gott heraus, und es ist bezeichnend, dass auch hier die personale Anrede an das dû gerade dort ins Spiel kommt, wo es um das Aufgeben des eigenen Willens geht. Sprachlich zeichnet sich die Predigt zu Beginn durch ein auffällig hohes Maß an rhetorischer Intensivierung aus. Immer wieder wendet sich der Prediger mit rhetorischen Fragen ( welhez sint die gerehten? , wer sint, die got êrent? ) oder Ausrufen an seine Zuhörer ( eyâ, wunder über alliu wunder! , eyâ, nû merket! ), bekräftigt die eigene Aussage mit Zusätzen ( jâ wærlîche! ) oder verstärkt sie steigernd ( mêr ) und inszeniert so sich und seine Lehre. Mit dem intensiven Bezug auf die Zuhörer, der sich auch in der Verwendung der Deiktika im Text spiegelt (der Verweis auf dirre liute , dirre mensche ), scheint die Predigt sich stellenweise zur Bühne zu öffnen, auf der der Prediger mit seinen Zuhörern wie unter Anwesenden kommuniziert. Dieser Sprechgestus setzt sich in den folgenden Abschnitten fort, bevor die Predigt zu ihrem Ende hin in einen anderen Modus umschlägt. 248 »Der Mensch bleibt auch bei Eckhart ein sterbliches, ein vielfach bedingtes Wesen. Aber sofern er gerecht ist, erreicht er einen Identitätspunkt, den jeder verfehlen muß, der in Dingkategorien denkt und die Gerechtigkeit als oben, den Menschen als unten sich vorstellt. […] Hic imaginatio deficit .« Ebd., S. 47. 144 II. Analysen 2.2 Leben. Dynamisierung der Rede Der zweite Dispositionsabschnitt ( DW I, S. 105,4-106,3) bildet den kurzen Mittelteil der Predigt, in dem sich der Prediger dem Wort vom ›Leben‹ der Gerechten aus dem Leitzitat zuwendet. Er legt das Motiv des Lebens in eine Richtung hin aus: das Leben sei deshalb so wertvoll, weil es unvermittelt von Gott in die Seele fließe, sodass, so führt der Prediger den Gedanken weiter, Gottes Sein ›mein‹ Sein sein müsse. Die Passage ist vor allem wegen ihrer rhetorischen Emphase aufschlussreich, mit der im ersten Teil des Abschnitts die Dynamik, die der Prediger dem sich auf sich selbst zurückwendenden Leben zuschreibt, ebenso diskursiv erörtert wie literarisch inszeniert wird. ›Die gerehten suln leben‹. Ez enist kein dinc sô liep noch sô begirlich als leben under allen dingen. Sô enist kein leben sô bœse noch sô swærlich, ein mensche enwelle dennoch leben. Ein geschrift diu sprichet: ie daz dinc dem tôde næher ist, ie pînlîcher ez ist. Nochdenne swie bœse daz leben ist, sô wil ez leben. W a r u m b e i z z e s t d û ? W a r u m b e s l æ f e s t d û ? Umbe daz dû lebest. W a r u m b e b e g e r s t d û g u o t e s o d e r ê r e n ? Daz weist dû harte wol. M ê r : w a r u m b e l e b e s t d û ? Umbe leben, und enweist dennoch niht, war umbe dû lebest. Sô begirlich ist daz leben in im selber, daz man ez umbe sich selber begert. ( DW I, S. 105,4-12) Dass der Prediger zu Beginn des Abschnitts ganz konkret auf das Leben im biologisch-physiologischen Sinn eingeht und betont, dass alle Lebewesen nach Selbsterhaltung streben, 249 mag vor dem Hintergrund des Abstraktionsniveaus überraschen, das der vorangegangene Predigtabschnitt entwickelt hatte. Auch hier wird jedoch das Streben aller Lebewesen nach dem Leben bald konsequent auf die Einheit von Mensch und Gott zugeführt. Das Thema des Abschnitts wird zu Beginn doppelt perspektiviert, indem der Prediger zum einen (positiv) betont, dass das Leben das begehrenswerteste aller Dinge sei, zum anderen, indem er (negativ) abgrenzt, dass kein Leben so beschwerlich sein könne, dass man nicht dennoch daran festhalte. Es kommt mir auf den Umbruch der Rede an, die im Anschluss an die allgemeine Erörterung, die die ersten Sätze prägt, prägnant ins Dialogische übergeht. Es ist die zweite Stelle im Predigtverlauf, an der die Anrede in ein personales dû wechselt. Anders als zuvor wird damit weniger der einzelne Zuhörer in den Fokus gerückt, sondern über die steigernde Reihung gleichgebauter Fragen die Stimme des Predigers profiliert. Als »in die Rede hineingenommener fingierter (also monologischer) Dialog mit […] mehreren Fragen und Antworten« 250 bricht die rhetorische Figur der subiectio die Rede auf; im ›fingierten‹ Dialog öffnet sich die Predigt erneut zur Bühne, auf der der Prediger agiert. Dabei setzt der Predigttext die Dynamik, die er dem Leben in seiner Selbstbezüglichkeit zuspricht, dadurch um, dass die Rede in der kurzen Abfolge von Frage und Antwort regelrecht ins Springen gerät. Dieses Hin und Her der Rede, wie es hier rhetorisch inszeniert ist, spiegelt die dynamische Bewegung des Lebens, das sich auf sich selbst zurückwendet, ganz im Sinn einer »Belebung der Gedankenfolge«, 251 die Lausberg der subiectio als Wirkung zuschreibt. Warum das Leben so begehrenswert ist, verdeutlicht der Prediger in einem zweiten argumentativen Schritt. Im Zuge dessen tritt die Du-Anrede zurück und die Rede mündet in einer sprachlichen Intensivierung, bei der Gottes Sein und ›mein‹ Sein klanglich ineinander überblendet werden. Wenn der Prediger als Grund für die absolute Vorrangstellung des Le- 249 Zum Wunsch nach Leben als Grundstruktur aller Geschöpfe vgl. Largier, Kommentar, S. 811. 250 Lausberg, Handbuch, S. 381 (§ 771). 251 Ebd. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 145 bens angibt, dass es unmittelbar von Gott komme, lenkt er den Blick auf den grundlegenden Bezug, in dem der Mensch immer schon zu Gott steht. Er hat sein Leben nicht etwa im Sinn einer einmaligen Gabe von Gott erhalten, sondern ist überhaupt nur, insofern er am Sein Gottes partizipiert, der selbst das Prinzip allen Lebens ist. 252 Das macht der Prediger in einer letzten Wendung in diesem Abschnitt explizit, und er lotet die Implikationen der Unmittelbarkeit dieses Bezugs aus. Die in der helle sint in êwiger pîne, die enwölten niht ir leben verliesen, noch vîende noch sêlen, wan ir leben ist sô edel, daz ez sunder allez mitel vliuzet von gote in die sêle. Dar umbe wan ez von gote alsô vliuzet sunder mitel, dar umbe wellent sie leben. W a z i s t l e b e n ? G o t e s w e s e n ist m î n l e b e n . Ist m î n l e b e n g o t e s w e s e n , sô muoz d a z g o t e s s î n m î n s î n und g o t e s i s t i c h e i t m î n i s t i c h e i t , n o c h m i n n e r n o c h m ê r . ( DW I, S. 105,12-106,3) Die Frage, was das Leben sei, greift die Frageform auf, die den inszenierten Dialog in der vorangegangenen Textpassage bestimmt hatte. Während der Prediger dort konkret geantwortet hatte, bleibt seine Antwort hier abstrakt; sie zielt auf eine Begriffsbzw. Wesensbestimmung des Lebens überhaupt. Unvermittelt springt die Predigt anschließend in die Ich-Form der Rede. Die Art, wie die Folgerung präsentiert wird, dass Gottes Sein ›mein‹ Sein sei, setzt abermals auf eine steigernde Wiederholung, die, wie Niklaus Largier kommentiert, »vom leben über das wesen zur isticheit […] führt.« 253 Von der Brisanz der Aussage, dass Gottes Sein ›mein‹ Sein sei, zeugen die Prozessakten. 254 Die Ich-Rede ist an dieser Stelle performativ hochgradig aufgeladen. Die Identifizierung, die auf der Inhaltsebene vorgenommen wird, indem der Prediger betont, dass Gottes Sein ›mein‹ Sein sei, spiegelt sich sprachlich-grammatisch in einer Engführung der entsprechenden Substantive, die nebeneinandertreten und ineinandergreifen. Das Verb sîn kippt dabei zwischen der Infinitiv- und seiner substantivierten Form. Wenn der Prediger folgert, daz gotes sîn müsse mîn sîn , ist nur das erste sîn über den bestimmten Artikel eindeutig als substantiviertes Verb markiert; erst der Satzverlauf macht deutlich, dass das zweite sîn infinitivisch verwendet und das Possessivpronomen substantiviert sein muss. Gottes und ›mein‹ Sein werden klanglich überblendet; sie scheinen ineinander aufzugehen. Die abschließende Bekräftigung noch minner noch mêr schließt insofern nur noch einmal zusammen, was der Prediger zuvor schon in seiner Transparenz aufeinander hin vorgeführt hatte: Gottes Sein und ›mein‹ Sein sind eins. Auch dieser Effekt ließe sich als rhetorische Verstärkung lesen, ohne sich darin zu erschöpfen. Betrachtet man den Abschnitt im Ganzen, so zeichnet sich ab, wie sich die Kommunikation von einem Modell auf ein anderes umstellt. An die Stelle eines auf Differenz setzenden Modells tritt zum Ende des Abschnitts hin eine Sicht, die auf die Einheit abstellt. Der unmittelbare Bezug auf den Zuhörer geht zurück, und an die Stelle rhetorischer Emphase, die die Differenz zwischen Sprecher und Adressat verfestigt hatte, tritt eine Form der 252 Vgl. auch Largier, Kommentar, S. 811 f.: »daß der Mensch gänzlich transparent wird im Blick auf das Sein Gottes, der die einzige Quelle des Seins ist.« 253 Ebd. »Mit isticheit […] ist die puritas essendi gemeint, die in Gott mit dem intelligere zusammenfällt.« Ebd. Zur isticheit bei Eckhart vgl. Alessandra Beccarisi, Isticheit nach Meister Eckhart. Wege und Irrwege eines philosophischen Terminus, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener, Berlin / New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 314-334. 254 Vgl. Proc. Col. II, LW V, S. 340,1 f. Eckharts Antwort betont die Bedeutung des ›insofern‹: Dicendum quod falsum est et error, sicut sonat. Verum quidem est, devotum et morale quod hominis iusti, in quantum iustus, totum esse est ab esse dei, analogice tamen. Ebd., S. 340,3-5. 146 II. Analysen Intensivierung, die die Einheit, nun nicht von Sprecher und Adressat, sondern von ›mir‹ und Gott nicht nur behauptet, sondern auch sprachlich spiegelt. 2.3 Bei Gott sein. Von der Gleichheit zur Einheit 2.3.1 Von der Gleichheit zur Einheit Der dritte, letzte große Dispositionsabschnitt der Predigt ( DW I, S. 106,4-115,4) schließt sich an. Bei Gott sein ist nun das Thema des Predigers; bei Gott sein heiße, so führt er in einem ersten Schritt aus, Gott gleich, glîch , zu sein. Wieder springt der Text damit auf eine neue Ebene. Auch die Aussagen zur Gleichheit sind auf das Gottesverhältnis des Menschen ausgerichtet, das Leitthema der Predigt. Schrittweise bezieht der Prediger die Vorstellung, bei Gott zu sein, auf das Motiv der Gleichheit, indem er zunächst erläutert, dass bei Gott zu sein bedeute, weder unterhalb noch oberhalb von Gott, sondern diesem gleich zu sein ( DW I, S. 106,4-107,4). In einem zweiten Schritt geht er auf die Seele ein, die Gott in diesem Sinn gleich ist, wenn sie alles Eigene aufgegeben hat, das heißt, so wird der Gedanke weitergeführt, wenn sie nichts gleich ist ( DW I, S. 107,5-109,1). Schließlich wendet er das Thema der Gleichheit hin auf die Gottesgeburt im Seelengrund und übersteigt es so auf die Einheit mit Gott ( DW I, S. 109,2-110,7). Die Vorstellung einer Einheit ohne Unterschiedenheit ( âne underscheit ) bleibt bis zum Ende der Predigt leitend. Zugleich aber wechselt die Rede zum Predigtende in einen anderen Modus. Während die Rede im ersten Teil des Abschnitts stark auf Steigerung und Überbietung setzt (und darüber die Rolle des Predigers profiliert), nimmt sich zum Predigtschluss hin die Stimme des Predigers zurück und der Adressat der Rede scheint in der Überblendung der Stimmen aufzugehen. Die transformatio , von der die Predigt im zweiten Teil dieses Abschnitts spricht ( DW I, S. 110,8-115,4), vollzieht sie so an ihrem impliziten Adressaten selbst. Um diese Bewegung sichtbar werden zu lassen, zeichne ich in einem ersten Schritt die Entfaltung des Gleichheitsthemas hin zur Einheit im ersten Teil des Predigtabschnitts nach, bevor ich die Frage nach der Gleichheit der Stimmen im zweiten Teil des Abschnitts in den Mittelpunkt stelle. Wieder wird der neue Abschnitt eingeleitet, indem der Prediger gliedernd auf das Leitzitat zurückgreift. S i e lebent êwiclîche › b î g o t e ‹ , r e h t e g l î c h b î g o t e , n o c h u n d e n n o c h o b e n . S i e würkent alliu iriu werk b î g o t e u n d g o t b î i n . Sant Johannes sprichet: ›daz wort was bî gote‹. Ez was a l z e m â l e g l î c h und was b î n e b e n , n o c h u n d e n â n n o c h o b e n â n , s u n d e r g l î c h . Dô got den menschen machete, dô machete er die vrouwen von des mannes sîten, dar umbe daz si im g l î c h wære. Er machete sie niht von dem houbte noch von den vüezen, daz si im wære weder vrouwe noch man, sunder daz si g l î c h wære. A l s ô sol d i u g e r e h t e s ê l e g l î c h bî gote sîn und b î n e b e n gote, r e h t e g l î c h , n o c h u n d e n n o c h o b e n . ( DW I, S. 106,4-107,4) Das Leitzitat ist zusammengezogen auf das, worauf der Abschnitt zielt. Den Lohn bei Gott erwähnt der Prediger nicht mehr, und die Gerechten sind zu Beginn der Passage nur mehr im Pronomen der dritten Person präsent. Entscheidend ist ihr Leben ›bei Gott‹, das der Prediger auf ihre Einheit mit Gott im Wirken hin betrachtet; die chiastische Verschränkung ( sie […] bî gote und got bî in ) spiegelt, wie die Gerechten und Gott in ihrem Wirken unmittelbar aufeinander bezogen sind. Glîch , rehte glîch , bî neben , noch unden noch oben : In der Wiederholung schleift diese Passage die Vorstellung der Gleichheit regelrecht ein. Schon der erste Satz, der den neuen II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 147 Predigtabschnitt einleitet, semantisiert die Wendung ›bei Gott‹ ( bî gote ) auf das Moment der Gleichheit hin, dessen Bedeutung der Prediger abgrenzend verdeutlicht (›weder unten noch oben‹ - bei Gott sein impliziert keine räumliche Abstufung) und festschreibt ( rehte glîch , ›genau gleich‹). In der variierenden Wiederholung ( bî gote , rehte glîch bî gote ) wird die räumliche Präposition bî umgeschrieben zum Ausdruck einer Gleichheit, die darin besteht, bei Gott zu sein. Entscheidend ist jedoch die Bewegung, die der Text vollführt, wenn der Prediger den Aspekt der Gleichheit mit Gott zum Ende hin auf die gerechte Seele überträgt. Es scheint, als habe die vorangegangene Rede mit aller Kraft darauf abgezielt, über die Wiederholungen und Bekräftigungen etwas aufzubauen, das das abschließende alsô aufgreift, um es dynamisch auf die gerehte sêle zu übertragen. Der letzte und der erste Satz der zitierten Passage sind fast parallel strukturiert, sodass die Verschiebungen umso deutlicher sichtbar werden: glîch bî gote und bî neben gote treten an die Stelle des einfachen bî gote aus dem Leitzitat, sodass sich die Semantisierung der Präposition in der Erweiterung vollzieht. Vor allem aber tritt damit die gerechte Seele an die Stelle der Gerechten, die das Leitzitat zuvor aufgerufen hatte. Infolgedessen verengt sich der Blick. Hatte der erste Dispositionsabschnitt der Predigt die abstrakte Figur des gerechten Menschen aufgerufen, der eins mit der Gerechtigkeit ist, so verschiebt sich die Sicht nun auf die einzelne Seele. Damit tritt neben die ontologische Dimension, die zuvor mit dem Verhältnis vom Gerechten zur Gerechtigkeit grundsätzlich angesprochen war, eine ethische Perspektive, die der nächste Predigtabschnitt zur Geltung bringt. Außerdem deutet sich eine Bewegung zunehmender Konkretisierung an, die der nächste Abschnitt weiterführen und in die direkte Du-Anrede münden lassen wird. W e r s i n t d i e a l s ô g l î c h s i n t ? Die niht glîch sint, die sint aleine gote glîch. Götlich wesen enist niht glîch, in im enist noch bilde noch forme. D i e s ê l e n , d i e a l s ô g l î c h s i n t , den gibet der vater glîch und entheltet in nihtes niht vor. Swaz der vater geleisten mac, daz gibet er d i r r e s ê l e glîch, jâ ob si glîch stât ir selber niht mêr dan einem andern, und si sol ir selber niht næher sîn dan einem andern. Ir eigen êre, ir nuz und swaz ir ist, des ensol si niht mêr begern noch ahten dan eines vremden. Swaz iemannes ist, daz sol ir weder sîn vremde noch verre, ez sî bœse oder guot. Alliu minne dirre werlt ist gebûwen ûf eigenminne. Hætest d û die gelâzen, sô hætest dû al die werlt gelâzen. ( DW I, S. 107,5-109,1) Die rhetorische Frage erinnert an den ersten Dispositionsabschnitt, in dem Fragen des gleichen Typs die einzelnen Schritte der Gedankenfolge eingeleitet hatten. 255 Auch hier folgt die Antwort unmittelbar. Diejenigen, so formuliert der Prediger, sind Gott gleich, die nichts gleich sind. Die paradoxe Formulierung pointiert die Aussage, die das glîch -Sein mit Gott im gleichen Moment als Überstieg über alle relationierende Gleichheit versteht. 256 Damit, dass der Vater denen glîch gebe, die Gott gleich seien, der selbst wiederum nichts gleich sei, ist die unbedingte Selbstmitteilung Gottes angesprochen, der sich dem Menschen geben muss. 255 Welhez sint die gerehten? (DW I, S. 99,5); Wer sint, die got êrent? (DW I, S. 100,1). 256 Damit präsentiert der Prediger einen anders akzentuierten Begriff von glîcheit als den, den er in der vorangegangenen Passage aufgebaut hatte. Glîch bezieht sich weder auf eine räumliche Nebenordnung noch auf Gleichheit im Sinn einer aequalitas , sondern begleitet eine Aussage, die jede Relationierung übersteigt. 148 II. Analysen Die Gerechtigkeit gibt sich mit innerer Wesensnotwendigkeit in die gerechte Seele. Sie kennt keinerlei Vorbehalt. Der Seele, die alles gelassen hat, ist nichts gleich; daher ist sie Gott gleich, der nichts gleich ist. 257 Mit der Forderung, die Seele solle von allem, das ihr ist, absehen, kehrt wieder, was der Prediger zu Beginn dargelegt hatte, denn nur wer in allen Dingen nicht mehr nach Eigenem strebt - nach Ehre, Nutzen, eigenem Willen oder wohin die Liebe zum Eigenen auch führt, ist frei und bereit, von Gott zu empfangen. 258 Die absolute Indifferenz dem Eigenen wie dem Fremden gegenüber, die im Aufgeben allen Begehrens besteht, ist die Voraussetzung dafür, dass Gott dem Menschen nicht nur geben kann, sondern dass er ihm geben muss, und dass er ihm nicht irgendetwas, sondern sich selbst geben muss. Alles, was der Vater geben kann, gibt er dieser Seele; er behält ihr nichts vor. Es kommt mir an dieser Stelle weniger inhaltlich auf die Notwendigkeit der Selbstmitteilung Gottes an als darauf, dass sich auch in dieser Passage eine Bewegung zunehmender Konkretisierung abzeichnet, mit der sich schrittweise der Blick von der allgemeinen, abstrakten Aussage zur direkten Anrede an den Zuhörer im personalen dû verschiebt. Wenn der Prediger herausstellt, dass der Vater den Seelen, die nichts gleich seien, in gleichem Maß geben müsse, ist das Objekt die sêlen syntaktisch auffällig vorangestellt; es wird im Anschluss relativisch wieder aufgegriffen ( den gibet der vater ). Über die Stellung am Satzanfang wird das Objekt in den Fokus gerückt und satzintern Spannung aufgebaut. 259 Mit der Verschiebung vom Plural ( die sêlen ) in den Singular ( dirre sêle ) zeigt sich auch hier eine Bewegung, in und mit der eine abstraktere Perspektive im Gang der Rede in die Konkretion umschlägt. Der Eindruck, dass die Sicht sich auf die Einzelseele verengt, wird durch das unmittelbar hinweisende deiktische Demonstrativpronomen gestärkt, das den Blick auf ›diese Seele‹ ( dirre sêle ) lenkt. Noch einen Schritt weiter geht die Bewegung, wenn der Prediger betont, welche Bedeutung es hat, die eigenminne , den Selbstbezug, aufzugeben, und die Anrede dabei in die Du-Form wechselt: Hætest dû die [die eigenminne ] gelâzen, sô hætest dû al die werlt gelâzen . Die direkte Anrede an den einzelnen Zuhörer im personalen dû bildet den Endpunkt der Rede in diesem Abschnitt. Ähnlich wie an der ersten Stelle im Predigtverlauf wird damit die ethische Perspektive betont. Anders als dort macht hier jedoch der Konjunktiv deutlich, dass der angesprochene Zuhörer die eigenminne noch nicht aufgegeben hat. Die Predigt arbeitet an dieser Stelle also nicht damit, den angesprochenen Zuhörer in die zuvor eröffnete Position einzusetzen, sondern sie funktionalisiert den Kontrast. Das dû wird von den Seelen, die Gott so gleich sind, dass er ihnen in gleichem Maß gibt, abgerückt. Der folgende Abschnitt führt das Gleichheitsthema steigernd fort. Er hebt es auf die Ebene des trinitarischen Geschehens, das wiederum an die Seele rückgebunden wird; es das Motiv der Gottesgeburt im Seelengrund. Damit treten das Verhältnis von Gott-Vater 257 Flasch, Predigt 6, S. 45. Kurt Flasch spricht in diesem Zusammenhang von der »vorbehaltlose[n] Selbstmitteilung« Gottes oder der Gerechtigkeit. Ebd., S. 46. 258 Dass die Seele auf alles verzichtet, was ihr Eigenes ist, heißt jedoch nicht, dass sie kein ›Eigenes‹ mehr hätte. Diese Nuancierung stellt Kurt Flasch präzise heraus: »Die Seele hat in ihrer vollkommenen Selbstentäußerung auf alle Eigenliebe verzichtet. Die Seele hat […] die ganze Welt verlassen. […] [D]as heißt nicht, sie habe sich auf ihr Eigenes - im alltäglichen Wortverstand - zurückgezogen. Sie ist herausgetreten aus der Differenz von Fremdem und Eigenem. Dieses Heraustreten ist ihr wirklich Eigenes. Darin lebend, ist ihr nichts mehr fremd und fern, sei es böse, sei es gut.« Ebd. 259 Auch hier liegt ein verkürzter Relativsatz mit konditionaler Bedeutungsnuance vor, bei dem sich das Objekt im Nominativ grammatisch nicht kongruent in den Fortgang des Satzes einfügt. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 149 und dem Sohn und schließlich von Gott und ›mir‹ an die Stelle dessen, was der Prediger zuvor für das Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit erläutert hatte. Ebenso wie der Gerechte und die Gerechtigkeit eins sind, sind Gott und ›ich‹ eins: In der Predigt schlägt sich Eckharts Univozitätslehre nieder. Ich stelle den Abschnitt zunächst im Ganzen voran, um anschließend herauszuarbeiten, wie der Prediger den Gedanken von der Einheit âne underscheit entwickelt. Dabei werden die Aussagen argumentativ gesteigert; eine Bewegung der Überbietung lässt sich aber auch an der zunehmenden sprachlichen Intensivierung ablesen, die im Mittelteil der Passage kulminiert. D e r v a t e r g e b i r t s î n e n s u n i n d e r ê w i c h e i t i m s e l b e r g l î c h . ›Daz wort was bî gote, und got was daz wort‹: ez was daz selbe in der selben natûre. N o c h s p r i c h e i c h m ê r : e r h â t i n g e b o r n i n m î n e r s ê l e . Niht aleine ist si b î im noch er b î ir g l î c h , sunder er ist i n ir, und g e b i r t d e r v a t e r s î n e n s u n i n d e r s ê l e i n d e r s e l b e n w î s e , a l s e r i n i n d e r ê w i c h e i t g e b i r t , u n d n i h t a n d e r s . Er muoz ez tuon, ez sî im liep oder leit. Der vater gebirt sînen sun âne underlâz, und i c h s p r i c h e m ê r : e r g e b i r t m i c h s î n e n s u n u n d d e n s e l b e n s u n . I c h s p r i c h e m ê r : e r g e b i r t m i c h n i h t a l e i n e s î n e n s u n , m ê r : e r g e b i r t m i c h s i c h u n d s i c h m i c h u n d m i c h s î n w e s e n u n d s î n e n a t û r e . In dem innersten quelle dâ quille ich ûz in dem heiligen geiste, dâ ist éin leben und éin wesen und éin werk. Allez, waz got würket, daz ist ein; dar umbe g e b i r t e r m i c h s î n e n s u n â n e a l l e n u n d e r s c h e i t . Mîn lîplîcher vater ist niht eigenlîche mîn vater sunder an einem kleinen stückelîn sîner natûre, und ich bin gescheiden von im; er mac tôt sîn und ich leben. Dar umbe ist der himelische vater wærlîche mîn vater, wan ich sîn sun bin und allez daz von im hân, daz ich hân, und ich der selbe sun bin und niht ein ander. Wan der vater éin werk würket, dar umbe würket er mich sînen eingebornen sun â n e a l l e n u n d e r s c h e i t . ( DW I, S. 109,2-110,7) Unvermittelt springt die Rede nach der Du-Anrede wieder um, wenn der Prediger auf die Geburt des Sohnes durch den Vater zu sprechen kommt; glîch bildet das semantische Bindeglied zwischen der vorangegangenen und dieser Passage. Der Prediger greift zunächst das Schriftzitat aus dem Johannesprolog noch einmal auf, zitiert es jedoch ohne explizite Einleitung und führt es weiter auf die Identitätsaussage hin: Daz wort was bî gote, und got was daz wort: ez was daz selbe in der selben natûre . Damit wird das Hervorgehen des Wortes aus dem Vater mit der Geburt des Sohnes in der Ewigkeit assoziiert, was unmittelbar im Anschluss auf die Geburt in der Seele übertragen wird. Der Prediger übersteigt so die Vorstellung einer Gleichheit, insofern diese immer noch Differenz impliziert, mit Blick auf das Verhältnis von Gott und der gerechten Seele entscheidend. Er betont, dass Gott der Seele nicht nur bî oder glîch , sondern dass er in ihr sei, indem er dort ohne Unterlass als Vater den Sohn gebäre. Die Betonung, dass Gott in der Seele den Sohn in der gleichen Weise gebäre, wie er es in der Ewigkeit tut; dass er dies mit Notwendigkeit tue, und das Insistieren darauf, dass Gott mich sînen sun gebäre ohne alle Unterschiedenheit, laden die Passage extrem auf. Die Sprengkraft der Aussagen spiegelt sich in ihrer Inkriminierung wieder. 260 In drei großen Schritten entwickelt der Prediger die Vorstellung einer dynamischen Einheit âne allen underscheit in der Geburt. Erstens: Gott gebiert seinen Sohn nicht nur in der Ewigkeit, sondern er hat ihn in ›meiner‹ Seele geboren. Das Hervorgehen des Sohnes aus dem Vater wird damit in seiner Bedeutung für den Menschen fokussiert, der daran nicht etwa als etwas Äußerem partizipiert, sondern für den die Geburt des Sohnes den Grund 260 Vgl. dazu oben, Kap. II.3.1, S. 134 mit Anm. 224. 150 II. Analysen seines Seins bildet. Zweitens: er hat nicht allein den Sohn in meiner Seele geboren, sondern er gebiert ›mich seinen Sohn‹ ( mich sînen sun ). Die elliptische Formulierung spart das ›als‹ aus, das die Beziehung darstellt. An die Stelle einer Relationierung tritt folglich die unmittelbare Identifizierung, die Identität nicht bloß behauptet, sondern in der spannungsvollen Engführung der Glieder auch sprachlich setzt. 261 Drittens: er gebiert nicht nur mich sînen sun , sondern - in chiastischer Verschränkung und steigernder Überbietung - er gebiert mich sich und sich mich und mich sîn wesen und sîne natûre . Diese Stelle bildet einen Kulminationspunkt der Predigt im Ganzen. Gleich mehrfach überbietet der Prediger zunächst seine Lesart des Schriftzitats aus dem Johannesprolog, dann seine eigene Rede steigernd. 262 Wenn er dann betont, dass Gott ›mich sich und sich mich‹ gebäre, setzt der Chiasmus das wechselseitige, dynamische Aufeinanderbezogensein in der Einheit sprachlich um. 263 Der Zusatz, dass Gott mich sîn wesen und sîne natûre gebäre, formuliert aus, was im Gedanken des sich selbst unterschiedslos mitteilenden Einen angelegt ist. Gott gibt nicht einen Teil von sich, der dann von ihm getrennt wäre, sondern er kann sich nur ganz geben. Im weiteren Verlauf der Passage nimmt der Prediger das Thema der Entfaltung aus der Einheit noch einmal aus wechselnden Richtungen in den Blick, zum einen in Bezug auf den ›Ort‹ des Hervorgehens, das trinitarisch perspektiviert wird, zum anderen in Abgrenzung der Vaterschaft des himmlischen Vaters von weltlicher Vaterschaft. Anschließend fasst er bekräftigend zusammen, dass, insofern das Wirken des Vaters nur als eins gedacht werden kann, er ›mich seinen eingeborenen Sohn ohne jede Unterschiedenheit‹ wirke ( mich sînen eingebornen sun âne allen underscheit ). Der Satz, der fast wörtlich wiederaufgreift, was zuvor schon festgehalten worden war, bringt die Passage wiederholend zum Abschluss. Der Prediger lässt keinen Zweifel daran, dass seine Betonung der Aussage mich sînen sun âne allen underscheit gilt, die über die Endstellung im Satz auch syntaktisch hervorgehoben ist. Zwei Momente tragen in dieser Textpassage dazu bei, die Geburt nicht als abgeschlossenes Ereignis, sondern als dynamisch und gegenwärtig sich vollziehendes Geschehen darzustellen. So überführt die Tempusverschiebung zu Beginn der Passage die Geburt in die Gegenwart, denn der Prediger lässt zunächst gleitend das Präteritum des Schriftzitats aus dem Johannesprolog ( Daz wort was ; ez was daz selbe ) mit der Übertragung auf die Geburt des Sohnes in der Seele ins Perfekt übergehen ( er hât in geborn in mîner sêle ), bevor er ins Präsens springt ( und gebirt der vater sînen sun in der sêle; er gebirt mich sînen sun ). Vor allem aber trägt die Ich-Form der Rede dazu bei, die in sich präsentisch gedachte Geburt aktuell werden zu lassen. 264 261 Es geht dem Prediger nicht darum, einen Bezug zwischen ›mir‹ und dem Sohn herzustellen, sodass denkbar wäre, dass Gott zum einen den Sohn, zum anderen oder in vergleichbarer Weise mich gebäre. Die Gottesgeburt rückt in den Blick, wie aus dem Einen etwas hervorgehen kann, ohne dass es von ihm unterschieden wäre. Das Eine teilt sich mit, aber es teilt sich ganz mit, und es teilt sich so mit, dass im Hervorgehen Hervorgehendes und das, woraus es hervorgeht, eins bleiben. Das ist die Denkfigur des trinitarischen Hervorgehens des Sohns aus dem Vater, der sich im Geist wieder zurück auf sich selbst wendet. 262 Noch spriche ich mêr: […] . Niht aleine […] , sunder […] , und niht anders. […] , und ich spriche mêr: […] . Ich spriche mêr: […] niht aleine […] , mêr: […]: Welche Intensität diese Selbstüberbietung erzeugt, wird sichtbar, wenn man das, was propositional ausgesagt wird, streicht. Die Steigerung behauptet Überbietung nicht nur, sondern erzeugt sie in der Iteration selbst. 263 Vgl. dazu Hasebrink, Ein einic ein . 264 Zu einem solch ›performativen Ich‹ vgl. auch oben, Kap. II.1.2.3, S. 85 f. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 151 2.3.2 Von der ontologischen Gleichheit zur Gleichheit der Stimmen Die Vorstellung einer Einheit ohne Unterschiedenheit, auf die der vorangegangene Abschnitt das Gleichheitsthema bezogen hatte, bleibt bis zum Ende der Predigt leitend. Der Prediger betont, dass Gott mich als sein Sein wirke, eins und ununterschieden. Wer Gott als etwas auffasst, das außerhalb seiner selbst steht, verfehlt ihn. Gott und ›ich‹ sind eins, unterschieden nur darin, dass in dieser Einheit Gott derjenige ist, der wirkt, und ich derjenige bin, der wird. 265 Zwei Schritte führen auf diesen Gedanken hin. Erstens: Wo immer ein Ding in ein anderes verwandelt wird, stehen am Ende nicht zwei Dinge, sondern eins; was in etwas anderes verwandelt wird, wird eins damit. Wenn wir also in Gott verwandelt werden, wie es die Stelle aus dem zweiten Korintherbrief sagt, die der Prediger zitiert, dann werden wir in diesem Sinn eins mit ihm (DW I, S. 110,8-111,7). Zweitens: In der Geburt ist der Sohn nicht völlig losgelöst vom Vater, sondern er empfängt von ihm. Auf die gleiche Weise sollen auch wir von Gott empfangen. Das heißt aber nicht, dass wir von Gott als einem Fremden etwas verlangen sollen, denn - das bedeutet das Schriftwort, dass der Herr die Jünger nicht Knechte, sondern Freunde geheißen habe - wenn wir von Gott empfangen, nehmen wir nicht etwas von außen, sondern von uns und in uns selbst ( DW I, S. 112,1-113,6). Gott und ›ich‹ sind eins ( DW I, S. 113,6-115,4). Es kommt mir im Durchgang durch den Text darauf an, sichtbar werden zu lassen, wie sich in den letzten Passagen der Predigt die Rede auf einen anderen Modus umstellt. Die rhetorische Emphase, die die Predigt über weite Strecken geprägt hat, tritt zunehmend zurück. Ganz am Predigtschluss ist auch die Ich-Rede des Predigers zurückgenommen; und in der Überblendung der Stimmen in der Zitation, die den Schluss der Predigt bestimmt, geht der Adressat der Rede regelrecht auf. Es geht mir um dieses Aufgehen, das im Grunde genommen das vollzieht, was der Prediger zu Beginn des Abschnitts formuliert: das verwandelt werden in Gott. › W i r w e r d e n a l z e m â l e t r a n s f o r m i e r e t i n g o t u n d v e r w a n d e l t . ‹ M e r k e e i n g l î c h n i s s e . Z e g l î c h e r w î s e , als an dem sacramente verwandelt wirt brôt in unsers herren lîchamen, swie vil der brôte wære, sô wirt doch éin lîchame. Z e g l î c h e r w î s e , wæren alliu diu brôt verwandelt in mînen vinger, sô wære doch niht mêr dan éin vinger. Mêr: würde mîn vinger verwandelt in daz brôt, sô wære diz als vil als jenez wære. W a z i n d a z a n d e r v e r w a n d e l t w i r t , d a z w i r t e i n m i t i m . A l s ô w i r d e i c h g e w a n d e l t i n i n , d a z e r w ü r k e t m i c h s î n w e s e n e i n u n g l î c h ; bî dem lebenden got sô ist daz wâr, daz k e i n u n d e r s c h e i t enist. ( DW I, S. 110,8-11,7) Mit der Aufforderung, auf das Folgende zu achten ( merke ), bricht die Rede wieder in eine belehrende Sprechhaltung um. Die Passage wird eingeleitet durch ein Zitat aus dem zweiten Korintherbrief, an das der Prediger zwei ›Gleichnisse‹ ( glichnisse ) anschließt. 266 Das erste 265 Vgl. DW I, S. 114,4 f.: Got und ich wir sint ein in disem gewürke; er würket, und ich gewirde . Die »Ununterschiedenheit des Hervorbringenden und Hervorgebrachten mit dem Implikat ihrer Unterschiedenheit« sowie die »Einheit von Wirken und Werden (der Hintergrund: Das Wirkende erleidet im Wirken, und das Erleidende wirkt im Erleiden)« führt Burkhard Mojsisch als typische Topoi für die Univozitätstheorie in dieser Predigt auf (Mojsisch, Analogie, Univozität und Einheit, S. 73); vgl. dazu auch Mieth, Meister Eckhart, S. 44-56. 266 Insofern das glîchnisse auf Relationierung setzt, tritt es in Kontrast zu dem, worauf dieser Abschnitt zielt: die Einheit ohne Unterschiedenheit. Vgl. zu dieser Stelle Stephan Grotz, Wie zerbricht man Gleichnisse? Anmerkungen zur Struktur von Meister Eckharts Bildersprache, in: Meister-Eckhart- Jahrbuch 9 (2015), S. 71-85, hier S. 80-84. 152 II. Analysen stellt heraus, dass gleich wie viele Brote in den Leib Christi verwandelt würden, es doch nicht mehr als ein Leib sei. Das gleiche gelte, wenn alle Brote in den Finger des Predigers verwandelt würden; es bliebe nur ein Finger. 267 Damit wird verdeutlicht, dass, wenn etwas durch etwas anderes überformt wird, nicht zwei getrennte Dinge entstehen, sondern dass es nicht mehr und nichts anderes als dieses Eine gibt, denn was in etwas anderes anderes verwandelt wird, wird in der Deutungsperspektive der Predigt eins mit ihm. In diesem Sinn greift der Prediger auf die Transsubstantiation in der Eucharistie zurück und führt den Gedanken pointiert auf das Verhältnis von Mensch und Gott zu. Stephan Grotz hat von einer ›hinsichtslosen Gleichheit‹ gesprochen, um diese Denkfigur zu beschreiben, der es nicht um eine mysteriöse Verwandlung von einer Sache in eine andere geht, sondern um eine Einung, die gedacht ist als »gegenseitiges Übergehen von beiden Relaten ineinander«. 268 Insofern zielt das glîchnisse von Brot und Leib bzw. Finger unmittelbar ins Zentrum der Predigt, der es nicht um relationale Gleichheit, sondern um die Einheit geht. Das Schriftzitat, das die Passage einleitet, ist »mehr als nur eine Gliederungshilfe: es bindet die Lehre von der Sohnesgeburt im Innersten des Menschen unmittelbar an die Schrift zurück.« 269 Nos vero omnes revelata facie gloriam Domini speculantes in eandem imaginem transformamur a claritate in claritatem, tamquam a Domini Spiritu ( II Cor 3,18): Wenn der Schrifttext damit in die Volkssprache übersetzt wird, dass wir in Gott transformieret und verwandelt werden, erfährt das Zitat aus dem zweiten Korintherbrief selbst schon eine spezifische Transformation. Der Prediger kürzt den Text auf das, worum es ihm geht; relevant ist nur der Teil nos vero omnes in eandem imaginem transformamur . Dabei spart seine Übersetzung ein zentrales Element auffällig aus, denn er spricht nicht davon, in das Bild ( imago ), sondern davon, in Gott selbst verwandelt zu werden. 270 Dadurch, dass der Prediger an dieser Stelle auf den bilde -Begriff verzichtet, stellt er eine Unmittelbarkeit heraus, mit der der Mensch auf Gott bezogen ist, die die Vorstellung, in die imago bzw. in das bilde überformt zu werden, überschreitet. Stellt so schon der Übergang vom lateinischen Begriff 267 Vgl. auch Sermo V,1, LW IV, S. 33,11-34,2: Secundo notandum quod idem esset de digito meo. Si enim diversa et in diversis locis corpora converterentur in digitum meum, nulla prorsus fieret digito meo additio nec aliqua penitus innovatio: nam si sic, iam non esset simplex nec simpliciter conversio in meum digitum. Vgl. dazu auch Hasebrink, Diesseits? , S. 200 mit Anm. 37. 268 Grotz, Wie zerbricht man Gleichnisse? , S. 83; vgl. auch ebd., S. 82: »Damit […] zwei Instanzen wirklich absolut gleich sind, darf nicht x erst noch in y verwandelt werden, sondern es muss auch schon y in x verwandelt worden sein. Das könnte man so ausdrücken: Wie kann ich Gott werden? Die Antwort darauf lautet: Nur wenn Gott schon ich geworden ist.« 269 Hasebrink, Diesseits? , S. 200. 270 Vgl. auch Löser, Lateinische Bibel und volkssprachliche Predigt, S. 224. Das unterscheidet die Stelle von den Parallelstellen in anderen Predigten, in denen die gleiche Schriftstelle zitiert wird: Sant Paulus sprichet: wir suln überformieret werden in daz selbe bilde, daz er ist (Pr. 41, DW II, S. 296,4 f.); Sant Paulus sprichet: als wir mit enblœztem antlütze anschouwen den glanz und die klârheit gotes, sô werden wir widergebildet und îngebildet in daz bilde, daz als éin bilde ist gotes und der gotheit (Pr. 23, DW I, S. 397,3-5). Die Implikationen des Wortes bilde wären genauer auszuloten, um sichtbar zu machen, wie Eckhart an Stellen wie diesen »die für sein Denken typische Parallelität her[stellt] zwischen der Befreiung der Vernunft von Bildern und Formen, dem Wirken des Hl. Geistes, der Gottesgeburt und den Schauerfahrungen der Apostel Petrus und Paulus«, wie Niklaus Largier kommentiert. Largier, Kommentar, S. 941 (zu Predigt 23). Vom îngebildet und übergebildet werden in die Gerechtigkeit spricht Eckhart in der Predigt 39, der das gleiche Schriftwort zugrunde liegt wie dieser Predigt, auf die sie sich möglicherweise zurückbezieht: Etwenne hân ich gesprochen, waz ein gereht mensche sî; aber nû spriche ich in einem andern sinne anders: daz ist ein gereht mensche, der in die gerehticheit îngebildet und übergebildet ist (Pr. 39, DW II, S. 252,1-3; vgl. dazu Largier, Kommentar, S. 1007 f.). II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 153 der imago zu mhd. bilde in seiner semantischen Breite eine Art Transformation des Zitats dar, so gilt das umso pointierter für die prägnante Zuspitzung, die der Prediger dem Zitat zuteil werden lässt, wenn er explizit vom verwandelt werden in got spricht. Die weitreichenden philosophischen Implikationen, die in dem Begriff der transformatio stecken, wären im einzelnen genauer zu untersuchen. Im Sermo XLIX erläutert Eckhart die Bedeutung des Wortes transformamur im gleichen Zusammenhang ( II Cor 3,18) als ein Überformtwerden des Menschen durch Gott, das diesen in seinem Wesen und Sein betrifft. Wenn Gott den Menschen überformt, weicht dessen alte Form; was geschieht, ist über jede ›Form‹ hinaus. ›Transformamur‹ dupliciter: primo, q u i a c e d i t f o r m a p r i o r ; secundo, q u i a t r a n s c e n d i t e t e s t a l t i u s o m n i f o r m a . ›A claritate in claritatem‹, id est a naturali lumine in supernaturale et a lumine gratiae tandem in lumen gloriae (Sermo XLIX , LW IV , 423,5-7). 271 Im Kontext der Predigt ist die Doppelformel signifikant, mit der der Prediger das lateinische transformamur wiedergibt. Er greift das Verb als Fremdwort auf und stellt ihm ein Verb in der Volkssprache an die Seite, sodass deren Semantiken miteinander interagieren und sich in der Engführung der beiden Verben transformieret und verwandelt wechselseitig erhellen. 272 Die transformatio in Gott zielt, das macht dieser Abschnitt deutlich, auf ein umfassendes Eingehen und Aufgehen des Menschen in Gott, der von diesem ganz überformt wird. In Gott gewandelt zu werden bedeutet, so betont der Prediger, dass er ›mich‹ (als) sein Sein wirkt, eins, nicht gleich - die Einheit âne underscheit bildet den Fluchtpunkt auch dieses Gedankens. Die Passage liest sich so als intensivierende Entfaltung des zuvor entwickelten Gedankens von der Einheit ohne Unterschiedenheit, auf die der Prediger das Gleichheitsthema zugeführt hat. In verdichteter Form werden die zentralen Punkte wiederholt: ich […] in in ; er […] mich sîn wesen ein, unglîch ; kein underscheit . 273 Im argumentativen Aufbau zeichnet sich dabei auch hier eine Bewegung ab, die von dem, was der Prediger erst allgemein erläutert, schließlich unmittelbar in die personale Konkretisierung führt. So folgt auf den Vergleich von Finger und Brot die generelle Aussage, dass das, was in etwas anderes verwandelt werde, eins mit ihm werde ( waz in daz ander verwandelt wirt, daz wirt ein mit im ), die dann übertragen wird: alsô wirde ich gewandelt in in . Das alsô , das die Übertragung einleitet, scheint all das, was der Prediger zuvor aufgebaut hat, aufzugreifen, um es auf den Sprecher zu übertragen. An dieser Stelle zeigt sich eine Steigerung, die von dem Schriftzitat ( wir werden alzemâle transformieret in got ) über die Anrede an den Zuhörer ( merke ein 271 Vgl. dazu Mieth, Meister Eckhart, S. 30. In Mieths Übersetzung lautet die Stelle: »wir werden verwandelt, erstens, weil die frühere Form weicht, zweitens, weil (das Bild) transzendiert und über jede Form hinaus ist. Von der Herrlichkeit (der Schöpfung) in die Herrlichkeit (der Vollendung), d. h. vom natürlichen Licht und vom Licht der Gnade am Ende in das Licht der Glorie.« Ebd. 272 In den Parallelstellen wird dagegen das Verb je unterschiedlich exakt in die Volkssprache übertragen; überformieret übersetzt die beiden Glieder des lateinischen Verbs Schritt für Schritt, die Doppelformel widergebildet und îngebildet nimmt das Wort bilde vorweg. 273 Die Lesart ein, unglîch beruht auf einer Konjektur Quints, der im Rückgriff auf den Wortlaut non simile in den Prozessakten unglîch anstelle des durchgehend überlieferten und glîch setzt, vgl. DW I, S. 111, Anm. 1. Dahinter steht die »theologisch hochbrisante Abgrenzung von unum und simile «, Hasebrink, Diesseits? , S. 200. Geht man nicht von Quints Konjektur, sondern von der Version ein und glîch aus, so lässt sich diese Stelle als Höhepunkt einer zunehmenden Entgrenzung der relationalen Semantik von glîch lesen, das mit Ähnlichkeit nichts mehr zu tun hat, sondern in der Verbindung mit ein auf die Einheit hin überstiegen wird. 154 II. Analysen glîchnisse ) auf die Ich-Rede zuläuft, in der die Passage mündet. Auch hier ist das Pronomen ich performativ hochgradig aufgeladen. Es erschöpft sich nicht im Bezug auf den Prediger, sondern öffnet die Rede auf ihren Adressaten. Was der Prediger formuliert, gilt nicht allein für ihn, sondern kann seine Wahrheit für jeden Menschen zur Geltung bringen, der den Vollzug mitgeht, den die Predigt ihm anbietet. Dadurch erhält diese Stelle ihre besondere Kraft. Die folgenden Passagen der Predigt sind weiter um das Verhältnis von Gott und ›mir‹ als eins zentriert. Zunächst geht der Prediger kurz auf das Geben und Nehmen in dieser Einheit ein, bevor er in einem zweiten Schritt erläutert, dass man Gott nicht als außerhalb seiner selbst auffassen, dass man um kein Warum wirken solle, das außerhalb von einem selbst sei, und dass - entgegen der Meinung sumlîcher liute , die glaubten, dass Gott ›dort‹ und sie ›hier‹ stünden - Gott und ich eins sind. Der vater gebirt sînen sun âne underlâz. D â d e r s u n g e b o r n i s t , d â e n n i m e t e r n i h t v o n d e m v a t e r , wan er hât ez allez; a b e r d â e r g e b o r n w i r t , d â n i m e t e r v o n d e m v a t e r . In disem ensuln w i r ouch niht begern von gote als von einem vremden. Unser herre sprach ze sînen jüngern: ›ich enhân iuch niht geheizen knehte sunder vriunde‹. Waz ihtes begert von dem andern, daz ist kneht, und waz dâ lônet, daz ist herre. Ich gedâhte niuwelîche, ob ich von gote iht nemen wölte oder begern. Ich wil mich harte wol berâten, wan dâ ich von gote wære nemende, dâ wære ich under gote als ein kneht und er als ein herre an dem gebenne. Alsô ensuln w i r niht sîn in dem êwigen lebene. ( DW I, S. 112,1-9) Der Prediger betont, dass der Sohn nur insofern vom Vater nehme, als er geboren werde, nicht aber, insofern er geboren sei. Dabei entspricht der Kontrastierung der Aussagen auf der Inhaltsebene die syntaktische Parallelführung, über die die Unterscheidung von Geboren-Sein und Geboren-Werden pointiert wird. Was jede Form von Räumlichkeit übersteigt, wird über das Zeigen ( dâ ) auffällig räumlich konstruiert. Wenn der Prediger anschließend das, was er zum Verhältnis von Vater und Sohn in der Geburt ausgeführt hat, auf das Verhältnis von Mensch und Gott überträgt, knüpft er an das Schriftwort an, dass Christus seine Jünger nicht Knechte, sondern Freunde geheißen habe. Die Rede wechselt hier das zweite Mal im Predigtverlauf in die Wir-Form, mit der sich die Perspektive ändert. Der Prediger schließt sich und die Zuhörer als Gemeinschaft der Gläubigen zusammen. 274 Erst im Folgenden erreicht die Rede wieder eine ganz eigene Intensität, wenn der Prediger herausstellt, dass der Mensch Gott nicht außerhalb seiner selbst suchen, sondern in sich finden müsse. I c h s p r a c h e i n e s t a l h i e u n d i s t o u c h w â r : waz d e r m e n s c h e ûzer im ziuhet oder nimet, dem ist unreht. M a n ensol got niht nemen noch ahten û z e r i m sunder als m î n e i g e n und d a z i n i m i s t ; noch m a n ensol dienen noch würken u m b e k e i n w a r u m b e , noch umbe got noch umbe sîn êre noch umbe nihtes niht, daz ûzer im sî, wan aleine umbe daz, daz sîn eigen wesen und sîn eigen leben ist in im. ( DW I, S. 113,1-6) Gleich doppelt wird die Aussage, dass der Mensch Gott in sich nehmen solle, einleitend autorisiert, durch das Selbstzitat des Predigers im Rückverweis ( ich sprach einest alhie ) und 274 Ähnlich ist das wir an der ersten Stelle im Predigtverlauf verwendet: Enwellen wir gote niht dienen umbe kein ander sache wan umbe die grôzen vröude, die sie dar an hânt, die in dem êwigen lebene sint, und got selber, wir möhten ez gerne tuon und mit allem vlîze (DW I, S. 101,11-13). II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 155 durch den bekräftigenden Rekurs auf die Wahrheit ( und ist ouch wâr ). An dieser Stelle verschiebt sich der Blick von der ontologischen Aussage zu deren ethischen Implikationen. Wenn der Gerechte, insofern er gerecht ist, der Gerechtigkeit nicht nur gleicht, sondern eins mit ihr ist, und wenn genauso der Mensch nicht nur dem Sohn gleicht, sondern der Sohn ist und Gott sich ihm vorbehaltlos und ganz gibt, dann gibt es nur diese Einheit und nichts außerhalb davon. 275 Insofern findet der Mensch Gott nicht außerhalb seiner selbst, sondern in sich, sodass alle äußeren Motive wegfallen, um derentwillen der Mensch handeln könnte. Deshalb sollen kein Warum, weder Ehre noch Gott selbst das Handeln des Menschen bestimmen. ›Seine Ehre‹ ( sîn êre ) kann sich an dieser Stelle sowohl auf Gott als auch auf den Menschen beziehen. Dass die Referenz des Possessivpronomens ambivalent ist, bringt diese Indifferenz mit zum Ausdruck, insofern weder die eigene noch die Ehre Gottes Handlungsgrund für den Menschen sein können. Wenn der Prediger betont, dass ›man‹ nichts von außen nehmen solle, schiebt sich an einer Stelle im Textverlauf unvermittelt das Pronomen der ersten Person an die Stelle der unpersönlichen Formulierung. Man solle Gott nicht als etwas außerhalb von einem selbst betrachten, sondern als ›mein‹ Eigen und etwas, das in einem ist (man solle Gott niht nemen noch ahten ûzer im sunder als mîn eigen und daz in im ist ). Das lässt sich als Unaufmerksamkeit oder Versehen lesen, es lässt sich aber auch als Reflex der Unmittelbarkeit auffassen, die die Ich-Rede zuvor in extremer Intensivierung ausgestaltet hatte. Indem diese Unmittelbarkeit sich erneut sprachlich niederschlägt, werden die Grenzen grammatischer Kongruenzerwartung ausgereizt. 276 Schließlich macht der Prediger noch einmal anschaulich deutlich, worum es ihm geht. S u m l î c h e e i n v e l t i g e l i u t e wænent, sie süln got sehen, als er dâ stande und sie hie. Des enist niht. G o t u n d i c h w i r s î n e i n . Mit bekennenne nime ich got in mich, mit minnenne gân ich in got. Etlîche sprechent, daz sælicheit niht lige an bekantnisse, sunder aleine an willen. Die hânt unreht; wan læge ez aleine an willen, sô enwære ez niht ein. D a z w ü r k e n u n d d a z w e r d e n i s t e i n . Sô der zimmerman niht enwürket, sô enwirt ouch daz hûs niht. Dâ diu barte liget, dâ liget ouch daz gewerden. ( DW I, S. 113,6-114,4) Wer glaubt, Gott wie jemanden zu sehen, der ›dort‹ steht, während man selbst ›hier‹ steht, irrt. Got und ich wir sîn ein : schlichter lässt sich die Einheitsaussage kaum formulieren. Auch hier erwähnt der Prediger die liute , von deren Ansicht er sich abgrenzt; nur kurz spricht er die Frage nach dem Vorrang von Willen oder Erkenntnis an. Entscheidend ist die Einheit von Wirken und Werden: Daz würken und daz werden ist ein . Damit ist nochmals die Perspektive aufgerufen, auf die es in der Einheit ankommt. ›Gott wirkt und ich werde‹, wird der Prediger im Anschluss formulieren. Es kommt mir auf diese Sätze vor der Schlussbitte an. G o t u n d i c h w i r s î n e i n i n d i s e m g e w ü r k e ; er würket, und ich gewirde. Daz viur verwandelt in sich, swaz im zuogevüeget wirt und wirt sîn natûre. Daz holz daz verwandelt daz viur in 275 »Wenn alle Außen-Referenzen, auf die der Unterschied bezogen werden kann, wegfallen, dann entsteht eigentlich Unterschiedslosigkeit. Aber die Differenz liegt eben in der Prozessualität.« Mieth, Meister Eckhart, S. 49. 276 Kurt Flasch glättet in seiner Neuübersetzung die Stelle: »Man soll Gott nicht denken oder achten als etwas außer uns, sondern als mein eigen und etwas, das in mir ist.« Flasch, Predigt 6, S. 37. Quint dagegen übersetzt: »Man soll Gott nicht als außerhalb von einem selbst erfassen und ansehen, sondern als mein Eigen und als das, was in einem ist«. DW I, S. 455. 156 II. Analysen sich niht, mêr: daz viur verwandelt daz holz in sich. A l s ô w e r d e n w i r i n g o t v e r w a n d e l t , d a z w i r i n b e k e n n e n s u l n , a l s e r i s t . Sant Paulus sprichet: alsô suln wir bekennende sîn, rehte ich in als er mich, noch minner noch mêr, glîch blôz. ( DW I, S. 114,4-115,4) In Gott verwandelt zu werden, wiederholt die Stelle, an der der Prediger II Cor 3,18 zitiert hatte: ›Wir werden alzemâle in got transformieret und verwandelt‹ ( DW I, S. 110,8). Das Bild vom Feuer, das das Holz in sich wandelt, weist in die gleiche Richtung, und bezeichnenderweise spricht Eckharts lateinischer Sermo LV dafür, wie das Holz im Feuer aufgeht, auch begrifflich von einer transformatio . 277 Das Holz, das im Feuer aufgeht, setzt ein vollkommenes Einswerden ins Bild, in dem das Holz die Natur des Feuers annimmt. Es verbrennt nicht so, dass es nicht mehr da wäre, sondern es wird eins mit dem Feuer, indem es vollständig dessen Natur annimmt. Vor diesem Modell betrachtet der Prediger unmittelbar im Anschluss das Einswerden des Menschen mit Gott: Alsô werden wir in got verwandelt, daz wir in bekennen suln, als er ist . Ab hier, und darauf kommt es mir im Folgenden an, überlagern sich weitere Stimmen im Text, die sich mit der Stimme des Predigers kreuzen. Die Aussage, dass wir so in Gott verwandelt werden, dass wir ihn erkennen, wie er ist ( alsô werden wir in got verwandelt, daz wir in bekennen suln, als er ist ), zitiert, wie bei Quint ausgewiesen, den ersten Johannesbrief: similes ei erimus quoniam videbimus eum sicuti est (I Io 3,2). Auch hier formt der Prediger den Text der Vulgata um, wenn er nicht übersetzt, dass wir Gott ähnlich sein werden ( similes ei erimus ), sondern dass wir in ihn verwandelt werden. 278 Zugleich aber (und auf diese Textverbindung weisen weder Quint noch Löser hin) ist darüber, dass der Prediger in diesem Zusammenhang davon spricht, in Gott verwandelt zu werden, auch die zuvor zitierte Stelle aus dem Korintherbrief zumindest mit wieder aufgerufen. 279 Damit schieben sich an dieser Stelle gleich drei Stimmen übereinander: die des Predigers - das Zitat ist nicht explizit eingeleitet, sodass der Übergang zwischen eigener und fremder Rede überspielt ist -, zu der die Stimme des Johannesbriefs und schließlich die Korintherbriefs kommen. Das folgende, mit Sant Paulus sprichet eingeleitete Schriftzitat, das der Prediger intensivierend fortführt, greift dann eine Stelle aus dem ersten Korintherbrief auf (I Cor 13,12). Schrittweise lässt sich beobachten, wie in der Textpassage, die ich zur Übersicht noch einmal einfüge, in der Überblendung der Stimmen in der Zitation die Referenzen der Personalpronomina ins Schwanken geraten. Alsô werden wir (1) in got verwandelt, daz wir (2) in bekennen suln, als er ist. Sant Paulus sprichet: alsô suln wir (3) bekennende sîn, rehte ich in als er mich, noch minner noch mêr, glîch blôz . 277 Transformatur siquidem in illud esse divinum quo utique esse divino deus est et vivit. Sic enim dicimus animal cibo vivere et ignem suo modo vivere lignis transformatis in esse ignis (Sermo LV, LW II, S. 465,7-9). Vgl. dazu Quints Anm. 1, DW I, S. 115. 278 Vgl. auch Löser, Lateinische Bibel und volkssprachliche Predigt, S. 224. Löser stellt die Parallele von dieser Übersetzung zu der vorangegangenen heraus, in der der Prediger den Begriff der imago ausgespart hatte. 279 Wir werden alzemâle in got transformieret und verwandelt als Übersetzung von II Cor 3,18. An dieser Stelle wird die Doppelformel transformieret und verwandelt , mit der der Prediger das lateinische transformamur übersetzt hatte, wichtig, denn verwandelt fungiert als Bindeglied zwischen den beiden Schriftzitaten. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 157 Eine solche Überlagerung der Stimmen wäre ein gutes Beispiel für eine Polyphonie im Sinn Bachtins. 280 Wer spricht? In die Stimme des Predigers fügen sich die Stimmen der Verfasser der biblischen Briefe. Folglich werden die Pronomina ambivalent. Mit wir hat der Prediger im Textverlauf zuvor entschieden Gott und sich selbst zusammengeschlossen: Got und ich wir sint ein , betont der Prediger so gleich zweifach unmittelbar vor der Passage, die ich zitiert habe ( DW I, S. 113,7 und 114,4). Hier nun bezieht sich wir (1) und wir (2) auf den Verfasser des Johannesbriefs und seine Adressaten, dann auch, folgt man der Textparallele zu II Cor 3,18, auf den Verfasser des Korintherbriefs, Paulus, und seine Adressaten. Das Pronomen wir (3) erlaubt unmittelbar mehrere Bezüge: zunächst auf Paulus und seine Zuhörer, dann, wie der Fortgang des Satzes deutlich macht, auch auf Paulus und Gott. Alle drei wir sind dabei transparent hin auf die Situation der Predigt und können sich in diesem Sinn genauso auf den Prediger und seine Zuhörer beziehen, sodass die Referenzen übereinandergeblendet werden. Für meinen Zusammenhang entscheidend ist, dass in dieser Überlagerung der Stimmen die Instanz nun gar nicht mehr greifbar wird, die die Predigt zu Beginn mit aller rhetorischen Emphase herausgestaltet hatte: das dû der Rede, an das der Prediger sich immer wieder explizit mit der direkten Anrede, vor allem aber mit rhetorischen Fragen, Ausrufen, belehrenden Erläuterungen usw. gewandt hatte. Es scheint, als ob dieses dû in der Überlagerung der Stimmen aufgeht, denn es bleibt offen, in welches wir es eingeschlossen ist. Das ist deshalb so zentral, weil die Predigt damit die transformatio , von der sie auf der Inhaltsebene spricht, in gewisser Weise an ihrem impliziten Adressaten selbst vollzieht. Hatte die Predigt zuvor mit aller Kraft auf ihren Adressaten gezielt, so lässt sie ihn nun in der Vielzahl von Stimmen aufgehen. Im Textverlauf schließt nur noch das Leitzitat an, das wiederholt wird, bevor die Schlussbitte die Predigt beendet. › D i e g e r e h t e n suln leben êwiclîche, und ir lôn ist bî gote‹ a l s ô g l î c h . Daz wir die gerehticheit minnen durch sich selben und got âne warumbe, des helfe uns got. Âmen. ( DW I, S. 115,4-6) Das Leitzitat rahmt die Predigt. Denkt man daran zurück, dass der Prediger es zu Beginn als grop und gemeine klingend eingeführt hatte - und Kurt Flaschs Lesart, dass sich dieses Verdikt zentral auf die Lohnerwartung im Jenseits bezieht, liegt nahe -, so ist umso auffälliger, wie es hier erweitert wird. Der Prediger fügt an, dass der Lohn der Gerechten bei Gott alsô glîch sei. Einer dinglich gedachten Lohnvorstellung, von der der Prediger sich zu Beginn distanziert hatte, setzt die Predigt so die Vorstellung entgegen, dass der Gerechte von Gott glîch empfängt, die der ganze dritte Dispositionsabschnitt der Predigt umkreist hatte. In dem Verhältnis einer Einheit ohne Unterschiedenheit von Mensch und Gott, das der Prediger dargelegt hat, sind die Vorstellungen von Geben und Empfangen nicht aufgehoben, aber sie sind nicht mehr hierarchisch strukturiert, sondern im Letzten als Selbstbezug gedacht. Wenn der Prediger vor diesem Hintergrund betont, dass der Gerechte von Gott glîch empfange, ist die Vorstellung vom Lohn, den man für etwas erhält, insofern auf ein absolutes Geben hin überstiegen, das kein Warum kennt. 281 Damit hat die Lohnvorstellung im Predigtverlauf eine entscheidende Transformation erfahren. 280 Vgl. Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971 (Literatur als Kunst). 281 Zur ›absoluten Gabe‹ vgl. oben, Kap. II.1.3. 158 II. Analysen Der Prediger hatte zu Beginn mit dem Verweis darauf, dass das Leitzitat zwar grop und gemeine klinge, in Wahrheit aber gar guot sei, den Gedanken aufgerufen, dass die Schrift einen Sinn hinter dem Wortlaut birgt, der sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Mit der Umdeutung der Lohnvorstellung hat die Predigt in ihrem Verlauf diesen Sinn freigelegt - und so, bibelhermeneutisch betrachtet, die Wahrheit der Schrift »unter der ›Schale‹ der Buchstäblichkeit« 282 zum Vorschein gebracht. Diesen Sinn kann der Prediger dann abschließend explizit machen: der Lohn der Gerechten ist nicht dinglich bestimmt zu denken, sondern mit Blick auf die Einheit zu verstehen, in der der Gerechte, sofern er gerecht ist, und die Gerechtigkeit immer schon stehen. In dieser Perspektive schließt die Schlussbitte, die Gerechtigkeit um ihrer selbst und Gott ohne Warum zu lieben, nur konsequent an. Damit würde auch diese Predigt sich zu ihrem Ende hin in gewisser Weise auf sich selbst zurückwenden. Das Leitzitat, an dem die Predigt angesetzt hatte, wäre in diesem Sinn im Verlauf der Predigt selbst verwandelt worden, nicht im Sinn einer Neudeutung oder Umdeutung, sondern indem es auf das hin überführt wird, was es immer schon in sich birgt. Die Parallele dazu, wie der Mensch in Gott nicht als etwas Fremdes verwandelt wird, sondern in seinen eigenen Grund zurückgeführt wird, läge auf der Hand. 3. Predigt Quint Nr. 6 und ihr impliziter Adressat Mit dem Thema der Gerechtigkeit entfaltet die Predigt Iusti vivent in aeternum (Quint Nr. 6) eine abstrakte philosophische Lehre, die, wie Kurt Flasch in seiner Interpretation zu Recht betont hat, weitreichende praktische Implikationen hat. Gerechtigkeit wird in der Predigt zum umfassenden Modell des Gottesbezugs des abgeschiedenen Menschen, der, insofern er gerecht ist, mit der Gerechtigkeit selbst, die Gott ist, eins ist. Der Gerechte, auf den die Predigt zielt, ist daher aus dem »ganze[n] System von irdischer Bewährungszeit und künftigem ewigen Leben bei Gott, das dem Predigtmotto bei wörtlicher Auslegung zugrundeliegt«, 283 herausgenommen. Ich bündele im Folgenden meine Beobachtungen zu dieser Predigt, indem ich an der Frage nach ihren unterstellten Adressaten ansetze, die Überlegungen dann aber auf ihren impliziten Adressaten zuführe, an dem sich das Eingehen in die Gerechtigkeit, von dem die Predigt spricht, schließlich vollzieht. Auch die Predigt 6 schreibt sich in der mittelalterlichen religiösen Kultur in die Konkurrenz verschiedener Modelle ein, die auf unterschiedlichen Wegen nach Heiligung streben. Wenn der Prediger zu Beginn aufzählt, dass Gott von denjenigen geehrt werde, die niht enmeinent noch guot noch êre noch gemach noch lust noch nutz noch innicheit noch heilicheit noch lôn noch himelrîche ( DW I, S. 100,4 f.), weist er nicht nur das Streben nach Besitz, Ansehen, Bequemlichkeit, Freude oder Nutzen, sondern auch alle Formen religiöser Vermittlung, die nicht Gott selbst sind, entschieden zurück. Innicheit und Andacht hatte bereits die Predigt 4 als Formen einer meditativen contemplatio aufgerufen, die nicht zu Gott führen, sondern die Differenz zur Transzendenz im Bemühen, sie zu überwinden, nur verfestigen. Hier reiht der Prediger steigernd noch Heiligkeit, Lohn und das Himmelreich in die Aufzählung ein und weist damit die Vorstellung künftigen Lohns ebenso ab wie die räumliche 282 Georg Steer, Die Predigt Meister Eckharts, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 7 (2014), S. 31-44, hier S. 42. »Im göttlichen Geist nach der Wahrheit der Bibel zu suchen, ist das oberste Prinzip der Hermeneutik Eckharts.« Ebd. 283 Flasch, Predigt 6, S. 44. »Weder Himmel noch Hölle, weder Lohn noch Strafe können den Gerechten berühren […]. Dies war ein tiefer Einschnitt in die mittelalterliche Lebenswelt«. Ebd. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 159 Verlagerung der Gottesbegegnung ins Himmelreich. 284 In diesem Sinn läßt sich der unterstellte Adressat der Predigt in genau diesem Kontext religiöser Heilssuche verorten als jemand, der jenen defizitären Vorstellungen noch verhaftet ist, die der Prediger ablehnt. Damit sind auch hier diejenigen angesprochen, die noch nicht freigeworden sind von Eigenem, um ganz von Gott erfüllt und überformt zu werden oder um - die Bezeichnung kann wechseln, das Ziel bleibt das gleiche - als Gerechter in die Gerechtigkeit einzugehen. Die Predigt arbeitet mit dieser Abgrenzungsbewegung, und sie bietet daher ein gutes Beispiel für das Verfahren einer Semantisierung der Kategorie der liute in Eckharts Predigten, das Burkhard Hasebrink eingehend beschrieben hat. 285 Hier geht es darum, wie sich der eigene Wille des Menschen und Gottes Wille zueinander verhalten sollen. Dabei grenzt der Prediger die liute , die in allen Dingen ihren eigenen Willen haben wollen, von denen ab, die ein wênic bezzer seien, da sie Gottes Willen hinnehmen, nicht ohne doch insgeheim lieber ihren eigenen Willen haben zu wollen. Die Gerechten dagegen, darauf läuft die Argumentation zu, enhânt zemâle keinen willen - was Gott will, nehmen sie alles in gleicher Weise auf ( DW I, S. 102,6-14). Der Ausdruck liute wird auch in dieser Predigt rhetorisch genutzt, »um damit solche zu bezeichnen, die eine defiziente theologische Position einnehmen und insofern von der Wahrheit […] entfernt sind.« 286 Damit, die Kategorie der liute derart rhetorisch zu funktionalisieren, arbeiten viele Predigten Eckharts; sie entwerfen so ein Bild derjenigen, an die sie sich richten, indem sie die ›falsche‹ Position aufgreifen und in der Abgrenzung das Moment sichtbar machen, um das es ihnen geht. 287 Dadurch, dass der Prediger an dieser Stelle unmittelbar im Anschluss an die Auseinandersetzung mit den liuten auf die Gerechten umschwenkt, die gar keinen Willen haben, wird der Kontrast verstärkt. Die Perspektive, aus der heraus der Prediger die Haltung der liute kritisiert, ist deutlich. Wer am Eigenen festhält, kann die Differenz zu Gott nicht überwinden. 288 Deshalb ist es nötig, den eigenen Willen aufzugeben, wie der Prediger schließlich an das dû gerichtet formuliert: Dû solt dînes eigen willen alzemâle ûzgân ( DW I, S. 102,4 f.). Von den unterstellten Adressaten unterscheidet sich das dû , das - so präsentiert es die Predigt - nicht abgeneigt ist, den eigenen Willen aufzugeben. Im Gegensatz zu den beiden 284 In diesem Sinn formuliert Kurt Flasch pointiert: »Die Gerechtigkeit ist jetzt im Gerechten.« Ebd., S. 51 [Herv. im Orig.]. 285 Vgl. Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 144-147. 286 Ebd., S. 145. 287 Mit einer ähnlichen Abgrenzungsbewegung wie in Predigt 6 vgl. z. B. Pr. 5a, DW I, S. 81,11-15: Man findet lútt den schmacket got wol in ainer wyse und nit in der andern und wellent got wber ain hon in ainer andaucht und in der ander nit. ich lausz es gůt sin, aber im ist zumaul unrecht. Wer got rechte niemen sol, der sol in in allen dingen glich niemen, in hertikait als in befintlichait, in waynen als in fröden, alles sol er dir glich sin , oder Pr. 16b, DW I, S. 272,6-273,1: nû klagent etlîche liute, daz sie niht enhaben innicheit noch andâht noch süezicheit noch sunderlîchen trôst von gote. Den liuten ist wærlîche noch gar unreht; man mac sie aber wol lîden, doch enist ez daz beste niht. […] alle die wîle daz sich kein dinc in dir erbildet, daz daz êwige wort niht enist oder ein ûzluogen hât ûz dem êwigen worte, daz enkan niemer sô guot gesîn, im ensî wærlîche unreht. Her umbe ist daz aleine ein gereht mensche, der alliu geschaffeniu dinc vernihtet hât . 288 Vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 145: » Liute bezeichnet […] diejenigen, die Gott auf unvollkommene Weise suchen, da sie sich nicht von allem Eigenen frei machen.« - Zu beachten ist, dass Eckhart bei aller Abgrenzung »Verständnis für Menschen [zeigt], die den traditionellen Frömmigkeitsformen folgen, auch wenn er sich selbst davon abhebt« (Witte, Meister Eckhart, S. 70). So betont der Prediger auch hier mit Blick auf die liute , die sich zwar in den Willen Gottes fügen, lieber aber ihren eigenen Willen als den Willen Gottes hätten, dass es falsch sei, man es aber hinnehmen müsse: Man muoz ez vertragen, im ist aber unreht (DW I, S. 102,12). 160 II. Analysen anderen Predigten wird das dû in diesem Text aber weniger stark aufgeladen. War es in der Predigt 4 merklich von denjenigen abgesetzt worden, deren falsche, am Eigenen festhaltende Einstellung der Prediger kritisiert hatte, so ist der Gegensatz in dieser Predigt dadurch gemildert, dass das dû zwar auch hier an der Stelle ins Spiel kommt, wo es um das Aufgeben des Eigenwillens geht. Das dû ist aber in der Predigt gerade noch nicht derjenige, der von allem Eigenen absehen kann, sondern die Instanz, der die Notwendigkeit vorgehalten wird, den Eigenwillen aufzugeben. Überhaupt ist das Pronomen der zweiten Person in dieser Predigt im Ganzen wesentlich weniger präsent als in den beiden anderen Predigten. Mit Ausnahme der beiden Stellen, an denen die Rede im Predigtverlauf in die Du-Anrede wechselt, spricht der Prediger, wenn überhaupt, seine Zuhörer im Plural der zweiten Person an. Die Stellen, bei denen die Anrede in die Du-Form wechselt, sind auffällig, weil damit jeweils eine Intensivierung einhergeht, die darüber erzeugt wird, dass eine abstrakte Aussage konkretisierend auf das angesprochene dû hin übertragen wird. Dabei wird der Blick unmittelbar auf das dû hingeführt; die deiktischen Demonstrativpronomina tragen dazu bei, diese Bewegung im Text zu inszenieren. Das lässt sich im ersten Dispositionsabschnitt der Predigt verfolgen: ›Die gerehten suln leben‹. W e l h e z s i n t die gerehten? […] d e r ist gereht, d e r einem ieglîchen gibet, daz sîn ist […] . Gotes ist diu êre. W e r s i n t , die got êrent? D i e ir selbes alzemâle sint ûzgegangen […] , d i e niht ensehent under sich noch über sich noch neben sich noch an sich, die niht enmeinent noch guot noch êre noch gemach noch lust noch nutz noch innicheit noch heilicheit noch lôn noch himelrîche […] , d i r r e l i u t e hât got êre […] . D i r r e m e n s c h e ist gereht in einer wîse, und in einem andern sinne sô sint d i e gereht, d i e alliu dinc glîch enpfâhent von gote […] . Wigest d û daz ein iht mêr dan daz ander, sô ist im unreht. D û solt dînes eigen willen alzemâle ûzgân. ( DW I, S. 99,5-102,5) Die Zusammenschau zeigt, wie sich die Perspektive im Textverlauf verschiebt. Die generalisierende Erörterung ( welhez sint ; der, der ; wer sint ; die, die ) wird durch die Zeigegeste zugespitzt ( dirre liute hât got êre ; dirre mensche ist gereht ), bevor die Sicht zusammen mit der Anrede in der zweiten Person Singular in die Anwendung auf das dû hin umschlägt. Ganz ähnlich wird der Blick an der zweiten Stelle im Textverlauf gelenkt, die in die Du- Anrede mündet. W e r s i n t die alsô glîch sint? D i e nihte glîch sint, d i e sint aleine gote glîch […] . D i e s ê l e n , die alsô glîch sint, d e n gibet der vater glîch […] . Swaz der vater geleisten mac, daz gibet er d i r r e s ê l e glîch […] . Alliu minne dirre werlt ist gebûwen ûf eigenminne. Hætest d û die gelâzen, sô hætest dû al die werlt gelâzen. ( DW I, S. 107,5-109,1) An Stellen wie diesen wird eine Dynamik erzeugt, die über das hinausgeht, was auf der Inhaltsebene argumentativ ausgesagt wird. Darüber, aber auch mit der rhetorischen Emphase, 289 die den Text über weite Teile prägt, richtet sich die Predigt mit aller Intensität auf ihren Adressaten aus, der als Gegenüber dieser Bewegung intensivierender Anrede Kontur gewinnt - als Gegenüber, das die Predigt zugleich voraussetzt und in ihrer Dynamik erst performativ hervorbringt. Die Figur des impliziten Adressaten lässt sich als Versuch verste- 289 Damit beziehe ich mich auf einen (weiten) rhetorischen Begriff der Emphase, nicht auf die Kategorie einer locutio emphatica bei Eckhart. Vgl. dazu Lausberg, Handbuch, S. 298 f. (§ 578), und Köbele, Emphasis , überswanc , underscheit , S. 980. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 161 hen, die spezifische Bewegung, die die Predigten in ihrer Ausrichtung auf ihren Adressaten vollziehen, figürlich zu konkretisieren. Insofern ist, wenn ich vom impliziten Adressaten spreche, damit etwas personal als Adressat benannt, das eigentlich das abstrakte Gegenüber bildet, das die Predigten in und mit einer solchen Dynamisierung der Anrede stets aufs Neue umkreisen. Während dieser Umschwung in die Du-Anrede für die Predigt 4 eine zentrale Rolle spielt, in der die Anredewechsel immer wieder auffällig funktionalisiert sind, ist er für die Predigt 6 nicht in gleichem Maß relevant. Hier sticht dagegen die rhetorische Emphase ins Auge, die, nimmt man allein rhetorische Fragen und Ausrufe als Indikator, im Textverlauf auffällig verteilt ist. ›Die gerehten suln leben‹. Welhez sint die gerehten? […] Gotes ist diu êre. Wer sint, die got êrent? […] Man sol geben den engeln und den heiligen vröude. Eyâ, wunder über alliu wunder! Mac ein mensche in disem lebene vröude geben den, die in dem êwigen lebene sint? Jâ wærlîche! ein ieglich heilige hât sô grôzen lust und sô unsprechelîche vröude […] . War umbe ist daz? Dâ minnent sie got als unmæzlîche sêre […] . Eyâ, nû merket! […] Dem gerehten menschen enist niht pînlîcher noch swærer, dan daz der gerehticheit wider ist […] . Als wie? Mac sie ein dinc vröuwen und ein anderz betrüeben, sô ensint sie niht gereht […] (erster Dispositionsabschnitt: DW I, S. 99,5-104,3). Nochdenne swie bœse daz leben ist, sô wil ez leben. War umbe izzest dû? War umbe slæfest dû? Umbe daz dû lebest. War umbe begerst dû guotes oder êren? Daz weist dû harte wol. Mêr: war umbe lebest dû? Umbe leben […] . Waz ist leben? Gotes wesen ist mîn leben […] (zweiter Dispositionsabschnitt: DW I, S. 105,7-106,2). Wer sint die alsô glîch sint? Die nihte glîch sint, die sint aleine gote glîch […] (dritter Dispositionsabschnitt: DW I, S. 107,5). Die kurze Übersicht zeigt, dass der Grad an Emphase zum Ende der Predigt hin abnimmt, während der Prediger sich zu Beginn immer wieder direkt mit Fragen und Ausrufen an seine Zuhörer wendet. 290 Zu ihrem Ende hin spielt diese rhetorische Formung keine wesentliche Rolle mehr für die Predigt. Die Rede schwenkt auf einen anderen Modus um, bei dem Fokus nicht mehr auf ihrer appellativen Funktion liegt. Während die Predigt sich zu Beginn stellenweise förmlich zur Bühne öffnet, auf der der Prediger sich vor seinen Zuhörern als Lehrender inszeniert, scheint die Kommunikation sich in diesem Sinn nun selbst auf ›Abgeschiedenheit‹ umzustellen, wobei die zuvor profilierten Rollen von Prediger und Zuhörer in der Wahrheit aufgehen, die spricht. Ich bin deshalb so ausführlich auf die Sätze unmittelbar vor dem Predigtschluss eingegangen, um zu zeigen, wie sich in der Zitation die Stimmen so kreuzen, dass sie sich im Letzten nicht mehr unterscheiden lassen. Folglich gerät die Referenz des deiktischen Pronomens wir ins Schwanken, denn in der Überlagerung der Stimmen ist nicht mehr aufzulösen, auf wen sich dieses wir bezieht. Damit geht schließlich auch das dû , auf das der 290 Das Bild verschiebt sich ein wenig, wenn man nicht nur die rhetorischen Fragen, sondern auch die Formen einer Verdichtung und Steigerung mit aufzählt, die ich dem Textverlauf folgend herausgearbeitet habe ( niht aleine, sunder ; mêr u. ä.). Damit erreicht die Predigt im Lauf des dritten Dispositionsabschnitts dort einen Höhepunkt, wo der Prediger die Aktualität der Sohnesgeburt für ›mich‹ betont. Auch diese Formen der Steigerung aber treten zum Predigtschluss zurück. 162 II. Analysen Prediger in aller Intensität zuvor immer wieder gezielt hatte, in dieser Vielfalt der Stimmen auf; in welches wir es einbezogen ist, ist nicht mehr zu unterscheiden. 291 Dieser intertextuelle Effekt einer Instabilität der Referenz lässt sich mit der Thematik der Predigt engführen. Das Motiv der transformatio wird in der Predigt zunächst im Kontext der eucharistischen Wandlung aufgerufen, das Thema der Transsubstantiation aber schnell zugunsten der Vorstellung fallengelassen, dass der Mensch ganz in Gott verwandelt wird. Wenn derjenige, auf den die Predigt zuvor mit aller Intensität gezielt hatte, an ihrem Schluss nicht mehr greifbar ist, vollzieht sich die transformatio , von der die Predigt spricht, an ihrem impliziten Adressaten, der sich insofern erneut als Figur im Spannungsfeld von Konstituierung (rhetorische Emphase) und Entzug (›Aufgehen‹) erweist. 292 Wenn der Adressat so in der Rede aufgeht wie der Mensch in Gott, wäre auch hier die Bewegung des Aufgehens oder Überformtwerdens kommunikationspragmatisch wie theologisch-spirituell zu verstehen. So geht es, wenn ich die Predigt als Bewegung lese, in und mit der sie ihren impliziten Adressaten in der Vielfalt der Stimmen in der Zitation aufgehen lässt, zunächst um das Verhältnis des Adressaten und der Predigtrede selbst. Der Reiz einer solchen Lektüre besteht darin, dieses Verhältnis von Adressat und Predigt auf das Verhältnis von Mensch und Gott zurückzubeziehen, das in der Predigt thematisch ist, und es auf das Überformtwerden des Menschen in Gott zu beziehen, von dem die Predigt spricht und das sie sprechend an ihrem impliziten Adressaten vollzieht. In diesem Sinn wird die Anrede in der Predigt zu einem ›Ereignis‹, das sich jenseits rhetorischer Technik einstellt, so wie auf die transformatio , von der die Predigt spricht, auch keine religiöse Praxis hinführen kann. 293 Damit unterscheidet sich der implizite Adressat der Predigt wiederum gänzlich von ihren unterstellten Adressaten, sowohl über die inhaltliche Bestimmung, die er in der Predigt erfährt, als auch über seine Performativität. Denn während die unterstellten Adressaten jener defizienten Haltung verhaftet bleiben, die der Prediger kritisiert, bestimmt der implizite Adressat sich darüber, dass er wie der Gerechte eins mit der Gerechtigkeit wird. Der Gerechte bestimmt sich dadurch, dass er in einem univoken Verhältnis zur Gerechtigkeit steht. Insofern er gerecht ist, ist der Gerechte die Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit ist der Gerechte. 294 Der Gerechte steht insofern jenseits der Bezüge, denen die unterstellten Adressaten der Predigt noch verhaftet sind. Wer im Sinn der Predigt gerecht ist, lässt infolgedessen schließlich auch die Predigt selbst hinter sich. Die Gerechten, die eins sind mit der Gerechtigkeit, brauchen keine Predigt mehr; sie können von der Predigt als appellativer Rede gar nicht mehr berührt werden. 295 291 Diese Interpretation beansprucht die letzten Sätze der Predigt in ihrem Wortlaut stark und wäre insofern möglicherweise in ihrem Deutungsanspruch zu relativieren. Sie zielt indes auf die Bewegung, die die Predigt im Ganzen vollzieht. Für diese bildet das Aufgehen des Adressaten in der Rede im Letzten nur den konsequenten Fluchtpunkt. 292 Vgl. dazu die theoretischen Vorüberlegungen oben, Kap. I.2.3, S. 46. 293 Damit greife ich den Ereignis-Begriff auf, den Bent Gebert im Anschluss an Hans Ulrich Gumbrecht und Dieter Mersch geprägt hat. Ein solches Ereignis ist nicht als kleinste narratologische Einheit zu verstehen, sondern als unverfügbares Moment, das sich der Herstellbarkeit entzieht. Vgl. Gebert, Technik und Ereignis. 294 Mojsisch, Perfectiones spirituales , S. 519: »Prinzip und Prinzipiat setzen sich wechselseitig […], so daß das Prinzip im Vollzug des Begründens das Prinzipiat bedingt, […] und zugleich das Prinzipiat im Vollzug rückläufigen Begründens das Prinzip bedingt«. 295 Vgl. auch Flasch, Predigt 6, S. 45. II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 163 Wenn die Predigten also mit diesem Differenztyp arbeiten, der auf den Unterschied von Eigenem und dem Freisein von Eigenem zielt, verhandeln sie im Grunde genommen sich selbst in ihrer medialisierenden Funktion immer mit. 296 Auch hier ist damit letztlich die Frage idealer Rezeption der Predigt berührt. Es ist verlockend, die Bewegung des impliziten Adressaten, der von der Predigt so affiziert wird, dass er die Predigt selbst übersteigt, als Entwurf idealer Rezeption zu lesen, bei dem Teilhabe und Identifizierung an die Stelle hermeneutischer Differenz treten ganz ähnlich dem, was sich für Predigt 4 gezeigt hatte. 297 Der implizite Adressat, der den eigenen Willen aufgegeben hat und ganz in Gott verwandelt wird, wäre dann von seiner Funktion her als idealer Rezipient der Predigt zu verstehen, dem sich die Wahrheit des Predigtworts nicht als etwas Fremdes erschließt, sondern der am Ende in die Wahrheit selbst überformt wird. Für diesen Gerechten, der im Sinn der Predigt als Gerechter ganz eins mit der Gerechtigkeit ist, hat die Predigt als solche ihre Funktion verloren; der Gerechte lässt die Predigt vollends hinter sich - ganz anders als die unterstellten Adressaten, die noch dem Eigenen verhaftet sind und die Predigt als Medium der Heilssuche auffassen. Das Überformtwerden, das die Predigt thematisiert und im skizzierten Sinn an ihrem impliziten Adressaten vollzieht, ist freilich nicht als lineare Entwicklung zu verstehen, die an einem Punkt beginnt und auf einen anderen hinführt, so wie es die Vorstellung einer Verwandlung von einer Sache in eine andere impliziert. Wenn Eckhart vom Holz und vom Feuer spricht, geht es ihm nicht darum, dass das Holz zu Asche verbrennt, sondern darum, dass im Akt des Brennens das Feuer und das erhitzte Holz die gleiche Natur haben. Nicht, indem das Holz im Feuer verbrennt, sondern indem das Feuer dem Holz seine Wärme mitteilt und das Holz die Wärme vom Feuer empfängt, sind die beiden eins. Insofern geht es nicht um eine schrittweise Verwandlung, sondern um ein prozessual gedachtes, dynamisches Aufeinanderbezogensein in der Einheit. 298 Wenn der Prediger das Geboren-Sein vom Geboren-Werden abgrenzt, in dem der Vater gibt und der Sohn empfängt, dann ist dieses dynamische Moment angesprochen, das das univoke Korrelationsverhältnis ausmacht, in dem die Relata sich aufgrund ihrer Entgegensetzung unterscheiden, sich aber in ihrer Relationalität wechselseitig setzen. 299 Dieses dynamische Aufeinanderbezogensein in der Einheit lässt auch das ›Trostbuch‹, dessen Beginn nicht umsonst als zentraler Referenztext für diese Predigt gilt, 300 eindringlich sichtbar werden, wenn diese Dynamik noch in den Partizipialkonstruktionen gespiegelt wird, die zum Ausdruck bringen, dass in der Einheit der Vater gibt und ›ich‹ nehme. 301 296 Es scheint dieses Spannungsverhältnis zu sein, das Susanne Köbele im Blick hat, wenn sie herausstellt, dass das »traditionelle […] Predigtmodell, das zwischen göttlichem und menschlichem Wort vermitteln […] will«, bei Eckhart notwendig zerbreche. Köbele, Primo aspectu monstruosa , S. 67. 297 Vgl. dazu oben, Kap. II.1.3. 298 Zum Verhältnis von Feuer und Erwärmtem, die ihrer Natur, der Wärme, nach, gleich sind, als Beispiel für ein univokes Korrelationsverhältnis vgl. Hasebrink, Formen inzitativer Rede, S. 100. 299 Vgl. Mojsisch, Analogie, Univozität und Einheit, S. 64. 300 Vgl. z. B. Flasch, Predigt 6, S. 48 f. 301 Von dem êrsten sol man wizzen, daz der wîse und wîsheit, wâre und wârheit, gerehte und gerehticheit, guote und güete sich einander anesehent und alsô ze einander haltent: diu güete enist noch geschaffen noch gemachet noch geborn; mêr si ist gebernde und gebirt den guoten, und der guote, als verre sô er guot ist, ist ungemachet und ungeschaffen und doch geborn kint und sun der güete. Diu güete gebirt sich und allez, daz si ist, in dem guoten […] , und der guote nimet allez sîn wesen, wizzen, minnen und würken von dem herzen und innigesten der güete und von ir aleine. Guot und güete ensint niht wan éin güete al ein in allem sunder gebern und geborn-werden; doch daz gebern der güete und geborn-werden in dem guoten ist 164 II. Analysen Das Entscheidende an der Figur des impliziten Adressaten ist, dass sie auf diese Ebene einer Prozessualität der Predigt zielt, die der Prozessualität zu korrespondieren scheint, die für Eckharts Art, die Einheit von Gott und Mensch zu denken, konstitutiv ist. In diesem Sinn ›ist‹ der implizite Adressat nicht, weder ›in‹ noch ›hinter‹ der Predigt, sondern er wird in ihrem Verlauf erst hervorgebracht. Auf dieser abstrakten Ebene kann er auch etwas, das sonst unweigerlich in einen Widerspruch führen würde: er kann aufgehen und im skizzierten Sinn transformieret und verwandelt werden. Die Predigt selbst richtet sich weiterhin stets an einen Adressaten. al ein wesen, ein leben. […] Allez, daz des vaters ist, daz ist mîn, und allez, daz mîn und mînes ist, daz ist mînes vaters: sîn gebende und mîn nemende (BgT, DW V, S. 9,4-10,2). II.3 verwandelt werden in Gott. Predigt Quint Nr. 6 165 Transformationen des dû im Text. Fazit Eckharts Predigten sind, wie Georg Steer treffend ins Bild gesetzt hat, heute »ein für alle Mal verklungen«; 1 die historische Situation der Predigt vor Publikum bleibt uns verschlossen. Dreht man die Fragerichtung um und liest die Predigt nicht auf ihre historische Kommunikationssituation hin, sondern darauf, dass sie ihre eigene Wirklichkeit erst schafft, so ist die historische Frage nicht abgewiesen, aber sie lässt sich anders perspektivieren. 2 Als Grundzug vormoderner Textualität kommen die Vollzugsdimensionen der Predigten zur Geltung, mit denen sich, so ein Ergebnis meiner Lektüren, je unterschiedliche Formen der Transformation eines dû im Text verbinden. Mit der Frage nach dem impliziten Adressaten steht somit nicht die fehlende Performanz im Fokus, sondern eine Ebene, die den konkreten Vortrag überdauert, insofern auf ihr das Wort der Predigt je neu erklingt. Transformationen spielen für die Predigten eine zentrale Rolle, thematisch ebenso wie auf der Ebene ihres Vollzugs. Sie kreisen um ein Überformtwerden des Menschen durch Gott, das - und das macht den Reiz von Eckharts Predigten aus - freilich ganz unterschiedlich perspektiviert werden kann: als Aufgehen in der Wahrheit, als Eingehen der Vernunft in Gott, als Durchbrechen zum eigenen göttlichen Grund. Die drei Predigten Quint Nr. 4, 14 und 6, die ich in den Analysen in den Mittelpunkt gestellt habe, zeigen auf je unterschiedliche Weise, wie der Bezug auf ihre Adressaten ausgestaltet werden kann. Sie entwerfen verschiedene Modelle, die einen gemeinsamen Fluchtpunkt haben: sichtbar werden zu lassen, wie der Mensch, der frei geworden ist von allem, was ihn daran hindert, zum eigenen göttlichen Grund durchzubrechen, von Gott überformt wird. Wenn ich in dieser Hinsicht von Transformationen spreche, greife ich die Bedeutung auf, die Predigt 6 dem Gedanken verleiht, dass der Mensch in Gott ganz transformieret werde. 3 Entscheidend für alle drei Predigten ist, wie sich dieses Überformtwerden nicht nur thematisch niederschlägt, sondern sich auch auf der Vollzugsebene der Texte manifestiert. Die Predigten vollziehen die transformatio an ihrem impliziten Adressaten, der so zur Figur wird, die auf die Schnittstelle von Thematik und Vollzug der Predigten verweist, das heißt: auf die Ebene ihrer Performativität. Wenn die Predigt Omne datum optimum (Quint Nr. 4) die Thematik der Gabe aus dem Leitzitat mit Blick auf das Verhältnis von Mensch und Gott auslegt, gibt es einen Zielpunkt, auf den die Predigt im Ganzen zuläuft: die Geburt des Sohnes im Grund der Seele, oder, wie der Prediger pointiert, die Geburt des Sohnes in ›mir‹. Im Textverlauf wird sichtbar, wie die Anrede dynamisiert wird, wenn die Rede immer wieder aus einer abstrakten Perspektive umschwingt in die konkrete Anrede im personalen dû . Auf dieser Ebene kommt in der Predigt eine Dynamik zum Tragen, die über das hinausgeht, was propositional aus- 1 Steer, Zur Authentizität, S. 167. 2 Vgl. auch Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit, S. 143. In der Tat tritt die Notwendigkeit, den geschichtlichen Kontext der Predigt Eckharts im kulturellen und intellektuellen Milieu seines Ordens neu zu beleuchten und dabei die seelsorgerischen Herausforderungen einzubeziehen, die ein urbanes Umfeld mit sich bringt, als Forschungsdesiderat umso deutlicher hervor, wie sich ältere Vorstellungen und Deutungsmuster als brüchig erweisen. 3 Vgl. dazu oben, Kap. II.3.2.3.2, S. 152-154. 166 Transformationen des dû im Text. Fazit gesagt wird. Sie bringt damit ihren impliziten Adressaten performativ hervor und lässt ihn in einer zentralen Passage die Identifizierung mit dem Sohn mitvollziehen, indem sie ihn in den angesprochenen Prozess hineinnimmt. Der implizite Adressat unterscheidet sich so von den unterstellten Adressaten der Predigt, die zwar zu Gott gelangen wollen, aber nicht bereit sind, die eigenen Wünsche dafür aufzugeben. Die Predigt Surge illuminare Iherusalem (Quint Nr. 14), die in der Entfaltung ihrer Deutung der Demut Raumwie Sprachordnungen ausreizt, zielt darauf, einem verkürzten Verständnis von Demut den umfassenden Gedanken der Präsenz Gottes im Menschen entgegenzustellen. Dabei gerät die Syntax stellenweise so ins Fließen, dass der anschließende Umschwung in die Du-Anrede umso stärker profiliert ist. Auch dieser Text erzeugt mithin auf der Ebene seiner sprachlichen Faktur eine Intensität, mit der er sich ganz auf seinen Adressaten ausrichtet. Die Predigt entwickelt im Gang der Rede einen Sog, der ihren impliziten Adressaten affiziert. Damit wird das dû in die Bewegung einer ›Innigung‹ hineingenommen; der implizite Adressat der Predigt vollzieht die angesprochene Bewegung mit. Die Predigt Iusti vivent in aeternum (Quint Nr. 6) thematisiert das Verhältnis des Gerechten zur Gerechtigkeit als Modell eines unmittelbaren Bezugs und prägt für das Überformtwerden des gerechten Menschen das Stichwort vom transformieret werden in Gott. Ich habe die Predigt deshalb herausgegriffen, weil sie ihren impliziten Adressaten zum Predigtschluss hin in der Überblendung der Stimmen in der Zitation regelrecht aufgehen lässt. Der implizite Adressat geht in der Bewegung, in die ihn der Text bringt, auf - so wie der Mensch, insofern er gerecht ist, in der Deutungsperspektive der Predigt in Gott verwandelt wird. Mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen wird damit der implizite Adressat im Predigtverlauf entscheidend dynamisiert. Predigt 4 lässt die erwähnte Identifizierung mit dem Sohn für ihn aktuell werden; Predigt 14 zieht ihn in die angesprochene Bewegung einer ›Innigung‹ hinein; Predigt 6 verstärkt den Bezug auf ihn, bevor sie ihn in einer Vielzahl von Stimmen aufgehen lässt. Diese Bewegungen im Ganzen lassen sich als Formen von Transformationen des dû im Text lesen: Die Predigten bewegen ihren impliziten Adressaten so, dass sich die Transformation, die in der Predigt thematisch wird, an diesem zugleich vollzieht - ob die Predigt dabei darauf abstellt, die Identifizierung mit dem Sohn in ihr Hier und Jetzt zu überführen, den Adressaten nach innen auf den Grund in sich zu weisen oder die Einheit des Gerechten und der Gerechtigkeit philosophisch zu begründen und literarisch zu vollziehen. Damit aber hat auch die Beschreibungskategorie selbst eine Transformation erfahren, denn dieser implizite Adressat figuriert nicht länger nur als Repräsentation eines Leserbildes im Text. Im wiederholten Bezug auf das dû der Rede entwickeln Eckharts Predigten - und darauf laufen mit unterschiedlichen Akzentuierungen alle drei Lektüren, die ich vorgestellt habe, hinaus - eine Dynamik, in und mit der sie ihren impliziten Adressaten als Gegenüber der Rede performativ hervorbringen. Infolgedessen öffnet sich der Blick für eine Adressatenfigur, die den Text selbst überschreitet. Das Stichwort der Transformation zielt so nicht nur auf die Predigten als Gegenstand, sondern darüber hinaus auch auf die Ebene der Beschreibung, auf der sich das Konzept des impliziten Lesers in der Arbeit mit den Predigttexten entscheidend gewandelt hat. Damit, dieses Konzept beweglicher zu fassen, als es in der narratologischen Modellbildung angelegt ist, geht fraglos einher, dass die Konturen der Figur in dem Maß unscharf werden können, wie die für die klassische Erzähltheorie konstitutive Trennung textinterner Transformationen des dû im Text. Fazit 167 (fiktiver), impliziter und textexterner (realer) Kommunikationsinstanzen aufgegeben wird. Was auf der einen Seite als Verlust an theoretischer Präzision erscheinen kann, eröffnet aber auf der anderen Seite die Möglichkeit, freier zu beschreiben, wie im Ausgang von sprachlichen Strukturen eine Wirkung entsteht, die sich in solchen Strukturen nicht erschöpft. Damit kommen die geforderten ›Spielräume‹ für das Konzept zum Tragen, das sich in der Arbeit mit den Texten als Kategorie der Interpretation erweist, die Thematik und Vollzug der Predigten engführt. 4 So machen die Textanalysen deutlich, dass es zu kurz greift, das Pronomen dû nur als textinterne Inszenierung einer fiktiven Adressierungsinstanz oder als unmittelbaren Verweis auf einen textexternen, historischen Adressaten zu lesen. Die Phänomene sprachlicher Adressierung in den Predigten entwickeln eine Wirkkraft, die über den Text hinausweist. An die Stelle der systematischen Unterscheidung von Kommunikationsinstanzen mit ›gestuftem Realitätsgehalt‹ (fiktiv, implizit, real) tritt eine Theorie literarischer Performativität, in deren Zentrum die wirklichkeitskonstituierenden Potentiale von Sprache stehen. Während der implizite Textadressat in der narratologischen Modellbildung auffällig unbestimmt bleibt, insofern hier die konkrete pronominale Anrede immer nur auf die textinterne Ebene des fiktiven Lesers verweist, lässt sich vor diesem Hintergrund das Pronomen dû im Text unmittelbar auf die Figur eines impliziten Adressaten beziehen. Zugleich wird deutlich, dass dieser sich zwar grundlegend von den textexternen, historischen Rezipienten unterscheidet, aber dennoch eine eigene Wirklichkeit besitzt. Noch vor dieser Neudeutung wird das Konzept eines impliziten Textadressaten grundsätzlich anschlussfähig dadurch, dass es zwei Momente integriert, die elementar für jeden Kommunikationsprozess sind. So verweist jede sprachliche Mitteilung, wie situationsabstrakt sie auch ist, indirekt immer mit darauf, welche Vorstellung der Sprecher von seinem Adressaten hat. Insofern ist der Adressat ›im‹ Text präsent, aber nicht direkt, sondern vermittelt über das Bild, das der Sprecher sich von ihm macht, denn als Anderer entzieht er sich der Wahrnehmung des Sprechers, der seinerseits konstitutiv auf ihn angewiesen ist. 5 Diese Einsicht macht das Modell Wolf Schmids sichtbar; sie öffnet das Konzept weit über seinen narratologischen Entstehungskontext hinaus. Als Grundprinzip aller Kommunikation gilt dies nicht nur für die drei Predigten im Zentrum dieser Arbeit, sondern in letzter Konsequenz für jeden Text. Unabhängig von ihrer konkreten Situation vor Publikum tragen die Predigten ein Bild ihres Adressaten in sich, verstanden als Vorstellung des Sprechers von seinem Gegenüber, die sich im Text niederschlägt. Ein solches Bild, das nicht identisch sein muss mit der Vorstellung, die der historische Eckhart sich möglicherweise von seinem Publikum gemacht hat, enthalten alle Predigten, auch wenn es je nach Text nur rudimentär greifbar sein kann - in der Verwendung der Volkssprache im Unterschied zum Latein im Sinn eines gemeinsamen sprachlichen Codes, 6 im Rückgriff auf als bekannt vorausgesetzte Wissensbestände, einen 4 Zur Metapher des Spielraums und zum Verhältnis von Deskription und Interpretation vgl. die theoretischen Vorüberlegungen oben, Kap. I.3. 5 Vgl. dazu oben, Kap. I.2.3, S. 45 f. Das Modell emphatischer Kommunikation, das Christian Kiening für den Paulusbrief beschreibt - »keine Differenz zwischen den Adressaten eines Briefes und diesem selbst, ›hineingeschrieben in unser Herz, von allen Menschen verstanden und gelesen‹ ( scripta in cordibus nostris quae scitur et legitur ab omnibus hominibus ; 2 Kor. 3,2)« (Kiening, Mediale Gegenwärtigkeit, S. 11) - bleibt göttlicher Kommunikation vorbehalten. 6 Vgl. dazu Schmid, Elemente der Narratologie, S. 68 f. 168 Transformationen des dû im Text. Fazit gemeinsamen Erfahrungsraum oder in der Zuschreibung bestimmter Rollen wie der des Fragenden, der den Prediger dazu bewegt, mit den Menschen zu kommunizieren. 7 In diesem Sinn arbeiten viele Predigten Eckharts damit, Bilder ihrer unterstellten Adressaten aufzurufen, um in der Abgrenzung von der Meinung der ›Leute‹ die eigene theologische Position deutlich zu machen. 8 Dabei bleiben sie - anders als beispielsweise die Predigten Bertholds von Regensburg 9 - inhaltlich abstrakt, was den Entwurf ihrer unterstellten Adressaten angeht, denn sie richten sich geradezu programmatisch nicht an einzelne Hörergruppen, sondern sprechen quer zu solchen Differenzierungen jeden Menschen an, den sie auf die Göttlichkeit seines eigenen, innersten Grundes verweisen. 10 Daneben thematisieren sie immer wieder auch direkt ihre Verstehensbedingungen. 11 Während sich die Predigten im Hinblick auf die Frage, wie genau die Rollen von unterstelltem Adressaten und idealem Rezipienten im Sinn Schmids im Text vorgezeichnet sind, im Letzten also nur graduell unterscheiden, lässt sich die Beobachtung, dass die drei untersuchten Predigten ihren impliziten Adressaten dynamisch-performativ hervorbringen, sodass sich (anders als in Schmids Modell angelegt) unterstellter und impliziter Adressat unterscheiden können, nicht einschränkungslos verallgemeinern. Die faszinierende performative Dynamik, die die drei untersuchten Predigten zeigen, lässt sich in vergleichbarer Form auch in anderen, bei weitem aber nicht in allen Predigten des Corpus verfolgen, das sich mit dem Namen Eckharts verbindet. Wenn auch, wie Dietmar Mieth zu Recht betont, grundsätzlich alle deutschen Predigten Eckharts als »Publikumspredigten« 12 anzusehen sind (was nicht heißen muss, dass sie konkret vor Publikum gehalten wurden, sondern dass sie sich grundsätzlich an ein Gegenüber richten), so unterscheiden sie sich doch zum Teil deutlich im Hinblick darauf, wie sie ihre Lehre präsentieren. 13 Während in Predigten, die ihr Thema eher diskursiv erörtern, der Adressatenbezug nicht im Zentrum stehen muss, gestalten andere Texte den Bezug auf ihren Adressaten unmittelbar aus, indem sie ihr Gegenüber direkt ansprechen, zu einem bestimmten Verhalten auffordern oder es in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum orientieren und bewegen. Insofern spielt die Deixis als Indikator eine wichtige Rolle dafür, ob und wie die Predigten sich ihren impliziten Adressaten auch performativ herausbilden. Vor allem die Bewegung, die ich am Beispiel der Predigt 4 als ›Umschwung‹ beschrieben habe, findet sich in Texten wieder, die wiederholt so an Scharnierstellen in ein personales 7 Vgl. dazu Mieth, »Die Meister sagen« - die »Leute« fragen. - Insofern sind grundsätzlich auch weitere Ansatzpunkte denkbar, um zu beschreiben, wie sich Eckharts Predigten auf ein Gegenüber ausrichten. Indem sie etwa einen gemeinsamen Wissenshorizont aufrufen, kann ein ›impliziter‹ Adressat möglicherweise gleichfalls Kontur gewinnen, ohne dass damit die Dynamisierung einhergeht, auf die ich gezielt habe. 8 Vgl. dazu Hasebrink, Anthropologie der Abgeschiedenheit; vgl. dazu auch oben, Kap. II.3.3. 9 Vgl. dazu Mertens, »Der implizierte Sünder«. 10 Vgl. Hasebrink, mitewürker gotes , S. 65. 11 Vgl. neben der Passage aus Predigt 6 (derjenige, der den Unterschied zwischen dem Gerechten und der Gerechtigkeit verstehe, verstehe alles, was der Prediger sage; Pr. 6, DW I, S. 105,2 f.) z. B. auch die bekannte Stelle aus der Armutspredigt, derzufolge Verstehen voraussetzt, der Wahrheit selbst gleichgeworden zu sein: Nû bite ich iuch, daz ir alsô sît, daz ir verstât dise rede; wan ich sage iu bî der êwigen wârheit: ir ensît glîch der wârheit, von der wir nû sprechen wellen, sô ensult ir mich nicht verstân (Pr. 52, LE I, S. 168,16-18). 12 Mieth, »Die Meister sagen« - die »Leute« fragen, S. 334. 13 Vgl. auch ebd., S. 344. Dietmar Mieth weist in diesem Sinn eine »Typologie der Predigten nach den Inszenierungsmerkmalen« (ebd.) als Desiderat der Forschung aus. Transformationen des dû im Text. Fazit 169 dû wechseln, dass dieses dû aufgeladen wird. Den untersuchten Texten ließen sich etwa die Predigten 24, 30 oder 48 zur Seite stellen, in denen im Ganzen vergleichbare Dynamiken zum Tragen kommen. Dass sprachliche Strukturen wie die Verberststellung im Konditionalsatz oder das Umschwenken von einer verallgemeinernden Sicht hin zur Du-Anrede sich nicht auf die drei analysierten Predigten beschränken, weist eine rein quantifizierende Auswertung der Anredewechsel in den ›deutschen Werken‹ auf. 14 Nicht immer aber muss mit einem solchen Anredewechsel eine Dynamisierung des impliziten Adressaten einhergehen, wie ich sie aufgezeigt habe. Als Beispiel ließe sich die Predigt 85 nennen, die zwar in ihrem Verlauf auch einmal ein dû direkt anspricht, sich ansonsten in ihrer Performativität aber von den beschriebenen Bewegungen deutlich unterscheidet. 15 Deshalb erweist sich - im Unterschied zu einer rein quantifizierenden Erhebung - die zusammenhängende Interpretation der Einzelpredigt als unumgänglich. So, wie ich die drei Predigten für die Analysen ausgewählt und angeordnet habe, bilden sie je für sich und im Ganzen eine Bewegung ab, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten als Transformation eines dû im Text lesen lässt. Über die einzelnen Texte hinaus betrifft diese die Kommunikationsstruktur der Predigt selbst. Denn wenn die Predigt sich tatsächlich ihren impliziten Adressaten so herausbildet, dass er mitvollzieht, wovon sie handelt, tritt eben dieser Mitvollzug an die Stelle der Vermittlung. Auf der Ebene des impliziten Adressaten spiegelt sich insofern der Durchbruch der Seele zum eigenen göttlichen Grund, auf den Vermittlung (im Medium der Predigt) zwar hinführen kann, der sich als solcher aber jenseits aller Vermittlung ereignet. Damit ist die Frage berührt, welche Effekte sich aus einer Kommunikationsstruktur der Predigt ergeben, die gleichsam in der Vermittlung die Vermittlung selbst auszustreichen versucht - ohne dass sie sie doch ganz 14 Betrachtet man nur die Stellen, an denen die Rede in die Du-Anrede wechselt, so geschieht dies auffällig häufig in Konditionalsätzen mit Verberststellung oder in Nebensätzen, die auf andere Weise eine konditionale Bedeutungsnuance zum Ausdruck bringen, z. B.: wiltû koufmanschaft […] ledic sîn […], sô soltû allez […] lûterlîche tuon gote ze einem lobe […] (Pr. 1, DW I, S. 9,9-11); bist dû ein juncvrouwe und bist dem lambe getrûwet […] , sô volgest dû dem lambe nâch […]; hâst dû diu [ schouwen und vride , R. R.] an dir, sô muoz er in dir geborn werden (Pr. 13, DW I, S. 214,1 f. und 13 f.); wilt dû der selbe Krist sîn und got sîn, sô ganc alles […] abe (Pr. 24, DW I, S. 420,5 f.); wiltu den kernen haben, so můstu die schalen brechen (Pr. 51, DW II, S. 473,6 f.); solt dû dise […] geburt vinden, sô muost dû alle menige lâzen […]; solt dû got götlîche wizzen, sô muoz dîn wizzen komen in ein lûter unwizzen (Pr. 103, DW IV,1, S. 475,1 und S. 477,9 f.); als vil sô dû mê geeiniget bist […] , als verre muoz er durch dich enpfâhen (Pr. 16b, DW I, S. 276,5-7); als vil du abgescheiden bist, als vil hast du […] (Pr. 74, DW III, S. 283,20-284,1); als verre dû niht enbist an dir selben, als verre bist dû alliu dinc (Pr. 77, DW III, S. 340,5 f.), oder swenne dû got hâst, sô hâst dû alliu dinc mit gote (Pr. 25, DW II, S. 16,7 f.). Ähnlich in Verbindung mit dem verallgemeinernden Relativsatz am Anfang, dem der Umschlag in die Du-Form erst im Hauptsatz folgt, z. B.: wer got rechte niemen sol, der sol in in allen dingen glich niemen […] , in wainen als in fröden, alles sol er dir glich sin (Pr. 5a, DW I, S. 81,13-15, als Apokoinu-Konstruktion), oder swenne sich der mensche bekêret von im selben und von allen geschaffenen dingen, - als vil als dû daz tuost, als vil wirst dû geeiniget und gesæliget in dem vunken in der sêle (Pr. 48, DW II, S. 419,1-3). In Imperativen kann der Anredewechsel gleichfalls eine konditionale Bedeutungsnuance transportieren, z. B.: wirf dich […] under got, sô enpfæhest dû götlîchen învluz zemâle und blôz (Pr. 24, DW I, S. 416,9-417,1), oder warte […] dirre geburt in dir, sô vindest dû allez guot (Pr. 102, DW IV,1, S. 411,1 f.). Daneben treten direkte Handlungsaufforderungen, z. B.: ze glîcher wîs, als hie gesprochen ist von dem bilde, sich, alsus soltû leben […]; als ich ê sprach […] , sich, alsô solt dû sîn […] (Pr. 16b, DW I, S. 271,1 f. und S. 274,9 f.); dû solt swîgen und lâz got würken und sprechen (Pr. 101, DW IV,1, S. 355,2 f.); dar umbe kêre dich von allen dingen und nim dich blôz in wesene (Pr. 39, DW II, S. 266,2); swig vnd klafe nit von gotte (Pr. 83, DW III, S. 442,4). 15 Pr. 85, DW III, S. 470,2 f.: alliz, daz du sihist in der luft, daz sihis du in der sonnen . 170 Transformationen des dû im Text. Fazit ausstreichen würde. 16 Denn auch wenn er seine Zuhörer nur auf den Grund in ihnen verweisen kann, zu dem sie selbst durchbrechen müssen, schweigt der Prediger nicht, sondern verstärkt den Bezug auf seine Zuhörer im Gang der Rede immer wieder neu. 17 Dass der philosophisch-theologische Gehalt der Texte und ihre literarisch-rhetorische Dimension aufeinander durchlässig werden, zieht sich als Leitmotiv durch alle drei Analysen. Für die Predigt 4 ist deutlich geworden, wie der Text sich selbst zur Gabe für seinen impliziten Adressaten macht; Gottes Gabe an den Menschen und die Predigt werden überblendet. In der ›Innigung‹, die ich für Predigt 14 beschrieben habe, wird die Bewegung nach innen, die thematisch ist, im Hineinnehmen des Adressaten in die Rede umgesetzt. Vielleicht am prägnantesten zeigt sich in Predigt 6, wie die Literarizität der Predigt die theologische Aussage spiegelnd verstärkt, wenn sie das verwandelt werden des Menschen in Gott an ihrem impliziten Adressaten vollzieht. Die Texte entwickeln folglich je für sich eine Dynamik, die über ihren philosophisch-theologischen Gehalt hinausgeht, ohne sich davon zu lösen, sodass mit dieser Dynamik etwas freigesetzt wird, das nicht in Konkurrenz zu der Aussage der Predigten tritt, sondern diese performativ verstärkt. 18 Wenn ich die Parallele ziehe, dass in und mit den Transformationen, die die Predigten thematisieren wie vollziehen, auch die Figur des impliziten Adressaten als Beschreibungskategorie eine Transformation erfährt, wäre in dieser Engführung aufs Neue gespiegelt, wie sich philosophisch-theologischer Gehalt und die literarisch-rhetorische Dimension der Predigten übereinanderlegen und miteinander interagieren. Der implizite Adressat lässt sich so über das, was in der narratologischen Modellbildung ursprünglich angelegt ist, hinaus auch als Figur performativer Transformation verstehen, die als Umschlagstelle zwischen Textinternem und Textexternem fungiert. Vieles, was man inhaltlich über den impliziten Adressaten in den untersuchten Predigten sagen kann - z. B. dass er von der Predigt bewegt wird - mag selbstverständlich auch für mögliche historische Rezipienten gegolten haben. Wie die Predigt auf einzelne Menschen gewirkt haben mag, entzieht sich jedoch durch die historische wie durch die intersubjektive Distanz dem Zugriff (was der andere fühlt, kann ich nicht wissen). Der implizite Adressat ist im skizzierten Sinn analytisch greifbar und führt zugleich unmittelbar auf die sprachlich-performative Wirkung der Predigt hin. 16 Vgl. dazu Walter Haug, Eckharts deutsches Predigtwerk: Mystische Erfahrung und philosophische Auseinandersetzung, in: Ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 521-537, hier S. 535: Eckharts Predigten zielten darauf, »das Vermittelnde des Sprechens im Sprechen aufzuheben«. In Eckharts Predigt stehe, so Haug, neben der üblichen Gebrauchsfunktion der Worte der Vollzug, in dem die Worte die ihnen inhärente Repräsentativität nur immer wieder neu ausstreichen können, vgl. ebd., S. 535 f. 17 Vielleicht ist es in dieser Hinsicht signifikant, dass sich die eine rhetorische Figur bei Eckhart kaum findet, deren Bedeutung für die Predigten Bertholds von Regensburg Almut Suerbaum unterstrichen hat: die Apostrophe als rhetorisch geschickt inszenierte Abwendung vom eigentlichen Publikum der Predigt, womit »ein gleichsam monologisches Sprechen [einhergeht], das zwar auf die Hörer gerichtet wird, letztlich aber dazu dient, das Profil der Sprecherrolle zu erhöhen.« Almut Suerbaum, Formen der Publikumsansprache bei Berthold von Regensburg und ihr literarischer Kontext, in: Predigt im Kontext, hg. von Volker Mertens [u. a.], Berlin / Boston 2013, S. 21-33, hier S. 33. 18 Ähnlich (als performative Verstärkung der Aussage) ließe sich das Ergebnis der Studie Marie-Luise Sesslers zusammenfassen, die gleichfalls die Wirkung sprachlicher Strukturen in Eckharts Predigten untersucht, vgl. Sessler, Philosophie unter den Aspekten Mündlichkeit, Klang, Performativität und Präsenz. In Sesslers Arbeit steht indes der Adressatenbezug der Predigt nicht im Zentrum, noch zielt sie methodisch auf zusammenhängende Interpretationen einzelner Predigten. Transformationen des dû im Text. Fazit 171 Diese Neudeutung des Konzepts weist ihrerseits in Richtung einer ›performativen Narratologie‹, die in jüngerer Zeit die sprachphilosophische Einsicht von der wirklichkeitsschaffenden Macht der Sprache auch auf das Modell narrativer Kommunikation überträgt. Damit rückt die Sprache als Medium ins Zentrum, in dem und durch das sich die einzelnen Konstituenten der Kommunikation erst realisieren. 19 Dabei legt Alexandra Strohmaier zu Recht Wert darauf, dass nicht nur der Erzähler »in dem / durch den Akt des Erzählens als dessen Subjekt konstituiert wird«, 20 sondern auch der Leser »in der / durch die Anrede des Erzählers [ensteht], der diesen - gleichsam appellatorisch - hervorbringt.« 21 Insofern ließe sich grundsätzlich in allen Texten, nicht bloß in Predigten, der Figur eines Adressaten nachspüren, den der Text in gleichem Maß voraussetzt, indem er ihn anredet, und erst entstehen lässt, indem er ihn »appellatorisch hervorbringt«, auch wenn es naheliegt, an Texten anzusetzen, die sich durch ihren appellativen Charakter auszeichnen. Die Frage, ob sich ähnliche Dynamiken wie in den untersuchten Texten auch in anderen Predigten zeigen, die nicht dem Eckhart-Corpus angehören, weist über die Grenzen dieser Arbeit hinaus. Setzt man an dem Moment des Performativen an, so könnte sich eine solche Ebene impliziter Kommunikation aber auch jenseits von Predigtliteratur in anderen Textsorten einträglich untersuchen lassen. Narrative Texte könnten im skizzierten Sinn zum Gegenstand werden; die Vorstellung eines Gegenübers, das sich in der intensivierenden Anrede geradezu konstitutiv entzieht, ruft aber noch eine andere Textsorte auf, die von Eckharts Predigten denkbar weit entfernt ist: den höfischen Minnesang. Es wäre spannend, in der vergleichenden Analyse der lateinischen Predigten Eckharts die Hypothese zu prüfen, dass sich auch in dem, was ich für die Dynamisierung des impliziten Adressaten in den Predigten herausgearbeitet habe, ein ›Eigenwert‹ der Volkssprache zeigt ganz ähnlich dem, was Susanne Köbele für das Aufbrechen der Bildlichkeit in Eckharts Predigten gezeigt hat. 22 Jeweils geht es darum, dass eine relationierende Struktur aufgebrochen wird: sei es die Relation von Bild und Bedeutung, sei es die Relation von Sprecher, Rede und Adressat, die in und mit solchen Dynamiken einer Hineinnahme des Adressaten in den Text überschritten wird. Die Frage nach dem impliziten Adressaten weist so auf die prozessual-performativen Dimensionen der Texte, die für Eckharts Predigten zentral sind; und vielleicht sind daher gerade diese Predigten ein geeigneter Gegenstand, um die Reflexion über das Verhältnis von Text und Kontext weiterzuführen - und an die Stelle einer Lektüre der Texte als Abbild ihrer historischen Situation den Blick auf ihr wirklichkeitskonstituierendes Potential treten zu lassen. Ein solcher ›Eigenwert‹ der Volkssprache wäre nicht zuletzt der Eckhart-Lektüre des Philosophen Kurt Flasch entgegenzuhalten, dessen Eckhart-Bild am Anfang dieser Arbeit steht. 19 Vgl. dazu Strohmaier, Zur Performativität des Narrativen. 20 Ebd., S. 89. 21 Ebd. 22 Vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. In diese Richtung ist die Differenz von Deutsch und Latein meines Erachtens produktiver zu machen, wie wenn man die Volkssprache nur als Indikator für ein bestimmtes Predigtpublikum zu fassen versucht. Die Verwendung der Volkssprache ist durchaus im Sinn Wolf Schmids ein wichtiges Kriterium für den unterstellten Adressaten eines Textes, für den der Sprecher voraussetzt, dass er den Code verstehen kann (vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 68 f.). So ist selbstverständlich für die Predigt Eckharts die Verwendung der Volkssprache kommunikativ relevant, wie sie sich schon in der Übersetzung des Leitzitats abzeichnet. Zugleich aber, das hat sich in den Textanalysen gezeigt, werden in der Übersetzung Effekte generiert, die sich quer zu dem einstellen, welche Sprachkompetenzen man einem möglichen Publikum unterstellt. 172 Transformationen des dû im Text. Fazit Wenn ich in den Analysen personifizierend von einem dû im Text gesprochen habe, dann, weil die Texte dieses dû aufladen, indem sie es immer wieder umkreisen (Predigt 14), den Umschwung in die Du-Anrede profilieren (Predigt 4) oder die Du-Anrede intensivieren, um das dû anschließend aufgehen zu lassen (Predigt 6). Ein solches dû wäre im Letzten weder referentielles Zeichen noch als unmittelbare Handlungsaufforderung an ein konkretes Gegenüber gedacht, sondern es verkörperte ein solches Gegenüber der Anrede regelrecht. 23 23 Damit greife ich Sybille Krämers sprachphilosophisches Konzept einer verkörperten Sprache auf. Vgl. dazu grundlegend Sybille Krämer, Sprache - Stimme - Schrift: Sieben Thesen über Performativität als Medialität, in: Paragrana 7 (1998), S. 33-57. Forschungsliteratur 173 Literaturverzeichnis Textausgaben Alani de Insulis Summa de arte praedicatoria, in: PL 210, Sp. 111-197. Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. I- IV , hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Stuttgart / Berlin / Köln 1998-2017. Meister Eckhart, Deutsche Predigten. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. 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Mit einer Syntax von Ingeborg Schöbler, neubearb. und erw. von Heinz-Peter Prell, Tübingen 2007 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte (= RLW ), 3 Bde., hg. von Georg Braungart [u. a.], Berlin / New York 1997-2003. Die deutschen Predigten Meister Eckharts sind ein herausragendes Dokument der spätmittelalterlichen religiösen Literatur. Auf die Frage nach ihrem historischen Publikum hat die Forschung bislang keine befriedigenden Antworten finden können, nicht zuletzt deshalb, weil die Texte selbst sich gegen eine konkrete Verortung sperren. Im Kontext einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft schlägt die vorliegende Arbeit deshalb einen Paradigmenwechsel vor. Mit der Figur des impliziten Adressaten verlagert sie den Blick vom historischen Ort der Predigt auf das in den Texten entworfene Bild ihres Adressaten. In exemplarischen Analysen zeigt sich, dass die Texte in ihrer kommunikativen Dynamik ihr Gegenüber einerseits voraussetzen, andererseits selbst erst hervorbringen. Eckharts Predigten erörtern ihre Lehre nicht nur diskursiv, sondern beziehen sie im Akt der Predigt auf ihren impliziten Adressaten, der mitvollzieht, wovon die Predigt handelt, und sich so selbst als Figur performativer Transformation erweist. ISBN 978-3-7720-8633-5 Raab Transformationen des dû im Text BIBL. GERM. 69 Ramona Raab Transformationen des dû im Text Predigten Meister Eckharts und ihr impliziter Adressat