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Vergangenheit

2017
978-3-7720-5639-0
A. Francke Verlag 
Horst S. Daemmrich

Ein zentrales Thema in der deutschsprachigen Literatur seit 1945 ist die Aufarbeitung und Deutung der Vergangenheit. Sie umfasst Beispiele erfolgreicher Sinnsuche ebenso wie Fälle katastrophalen Scheiterns und spiegelt in diesen unterschiedlichen, oft unvereinbaren Auslegungen unmittelbarer Erlebnisse und Erinnerungsdiskurse die Zerrissenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Literarische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit finden sich sowohl in novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike als auch in künstlerisch anspruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die repräsentativen Texte verdeutlichen eine Grundkonzeption, in der Erleben, Erinnern, Deuten und Gestalten der Vergangenheit den Gesichtskreis bestimmen.

Ein zentrales Thema in der deutschsprachigen Literatur seit 1945 ist die Aufarbeitung und Deutung der Vergangenheit. Sie umfasst Beispiele erfolgreicher Sinnsuche ebenso wie Fälle katastrophalen Scheiterns und spiegelt in diesen unterschiedlichen, oft unvereinbaren Auslegungen unmittelbarer Erlebnisse und Erinnerungsdiskurse die Zerrissenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Literarische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit finden sich sowohl in novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike als auch in künstlerisch anspruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die repräsentativen Texte verdeutlichen eine Grundkonzeption, in der Erleben, Erinnern, Deuten und Gestalten der Vergangenheit den Gesichtskreis bestimmen. ISBN 978-3-7720-8639-7 Daemmrich Vergangenheit Horst S. Daemmrich Vergangenheit Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Vergangenheit Horst S. Daemmrich Vergangenheit Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8639-7 Umschlagabbildung: © Yehuda Swed 7 1. 9 2. 25 2.1. 25 2.2. 32 2.3. 46 3. 63 3.1. 63 3.2. 83 3.3. 86 4. 101 4.1. 101 4.2. 111 5. 129 6. 154 7. 184 8. 204 9. 235 256 1. 256 2. 264 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive . . . . . Abrechnen - Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuld und Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motive und stilistische Signaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Militärischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrungen vorausgegangener Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiengeschichten gestern und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen . . . . . . . . . . . Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückgriffe auf die Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein unabgeschlossenes Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Fritz J. Raddatz: Zur deutschen Literatur der Zeit 3: Eine dritte deutsche Literatur. Stich‐ worte zu Texten der Gegenwart. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1987. 9. Vorwort Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur vergegenwärtigt sowohl Anschlüsse an die literarische Tradition, erzähltechnische Neuansätze und postmoderne Erzählungen als auch stilistische Eigenheiten des sozialistischen, klinischen und magischen Realismus. Sie zeigt Eigenheiten, die einige Literaturkritiker davon überzeugten, von Literaturen im getrennten und wiedervereinigten Gesamt‐ deutschland zu sprechen. So kritisiert Fritz J. Raddatz die Konzentration der „westdeutschen“ Literatur auf subjektive Nuancen in der Figurengestaltung, die Ich-Suche und die Nichtbeachtung des politischen Horizonts. Im Gegensatz dazu findet er in den Schriften übergesiedelter DDR -Autoren und Autorinnen die bewusste Auseinandersetzung mit den wesentlichen Fragen der Zeit: „Es gibt eine dritte deutsche Literatur. Nach Jahren, in denen von einer ‚zweiten deut‐ schen Literatur‘ - also der DDR -Literatur - gesprochen und in denen die Ab‐ grenzungen der beiden Literaturen wie ihre gegenseitige Durchdringung, auch Befruchtung diagnostiziert wurde, kann über den aktuellen Stand der literari‐ schen Szene gesagt werden: Die zeitgenössische westdeutsche Literatur sieht den Menschen als genetischen Code, die Welt als ein System ohne Zukunft, die Kunst als Rätsel. Beide deutsche Literaturen bestimmen wesentlich Verkro‐ chenheit, Ich-Bezogenheit und Aufarbeiten von Mythen und Träumen. Zwi‐ schen ihnen hat sich als besondere Kraft ‚eine dritte deutsche Literatur‘ etab‐ liert - es ist die jener Autoren, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind … es sind Schriftsteller, die ihre historische Erfahrung, ihre politische Bildung und ihre moralische Interventionslust nicht als Gepäck an der Mauer abgegeben haben.“ 1 Der für das kommende Jahr geplante zweite Band erläutert maßgebende Themen und Motive in der thematisierten Gegenwart und Zukunft. Gemeinsam ermöglichen die Bände aufschlussreiche Einblicke in Texte, die sonst selten ver‐ glichen werden. Die Gegenüberstellung von einem Gartenhaus in der Schweiz (Thomas Hürlimann, Das Gartenhaus. 1989. 2001) und einem Tag in Berlin (Christa Wolf, Juninachmittag. 1967) erschließt thematische Entsprechungen. Geschichten aus dem Alltag akzentuieren in einer kunstvoll, feinfühlig psycho‐ logisch motivierten Schilderung die Leiden und Selbsterkenntnis einer Frau (Si‐ bylle Knauss, Die Nacht mit Paul. 1994), eine medientechnologisch gleichge‐ schaltete Gesellschaft (Martin Grzimek, Die Beschattung. 1989), die innere Brüchigkeit in einer scheinbar heilen bürgerlichen Familie (Marlen Haushofer, 2 Vgl. Horst S. Daemmrich. „Krieg aus der Sicht der Themengeschichte.“ In: Schneider, Thomas F. (Hg.). Kriegserlebnis und Legendenbildung. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg. Osnabrück: Universitätsverlag, Rasch, 1999. 1-12; „Die Vergangenheit bewahren oder kritisch reflektieren.“ In: Heukenkamp, Ursula (Hg.). Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Bd. 2. Ams‐ terdam: Rodopi, 2001. 567-578; „Traditionsbildende Züge in der Nachkriegsliteratur“, in: Winter, Hans-Gerd (Hg.). „Uns selbst mussten wir misstrauen.“ Hamburg: Dölling u. Galitz, 2002. 331-342; „The Theme of War in Contemporary German Prose Fiction“, in: Louwerse, Max, Willie van Peer (Hg.). Thematics. Interdisciplinary Studies. Amsterdam: John Benjamins, 2002. 321-339; „Erinnern - Wiederherstellen - Deuten. Perspektiven der Vergangenheit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“, in: McCarthy, John A., Walter Grünzweig, Thomas Koebner (Hg.). The Many Faces of Germany.Trans‐ formations in the Study of German Culture and History. Festschrift for Frank Trommler. New York: Berghahn, 2004. 43-61. Wir töten Stella. 1958. 1991), den absoluten Liebesverlust in einer dumpfen, er‐ schreckenden Welt (Evelyn Grill, Wilma. 1994), die Flucht vor jeder möglichen Selbsterkenntinis (Peter Rosei, Von Hier nach Dort. 1978), und positive Sinnstif‐ tungen in der Suche nach Orientierung ( Jurek Becker, Bronsteins Kinder. 1986; Klaus Hoffer, Bei den Bieresch. 1983). Die Darstellung verfolgt besonders folgende wiederkehrende Kontraste und Grundkonstellationen: Anpassung / Auflehnung, Liebe / Liebesverlust, politi‐ sches Engagement / Flucht ins Abseits, Jugend und Bejahung des Le‐ bens / schwerdepressive Pyjamaexistenzen im Vorzimmer des Todes, in der Ir‐ renanstalt und im Altersheim, Ich-Suche und Kontaktverlust, Ich-Suche und Selbsterkenntnis. Die Themenforschung beleuchtet Gemeinsamkeiten im Rahmen kompositorischer Differenzen. Die vorliegende Darstellung untersucht die thematisierte Vergangenheit und ist der erste Band der Bestandsaufnahme „Sechs Jahrzehnte. Grundkonzeptionen und wegweisende thematische Ent‐ würfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unserer Zeit“. Die vorliegende Untersuchung entwickelt, erweitert und vertieft Überle‐ gungen, die ich zuerst in Konferenzbeiträgen, Festschriften und Sammelbänden vorgelegt habe. 2 Ich danke meinen Kollegen Karl. F. Otto jr., Frank Trommler und Volker Wehdeking für ihre langjährige Unterstützung. Ich bin besonders Dr. Valeska Lembke für die sorgfältige Überarbeitung des Manuskripts dankbar. Vorwort 8 1. Einführung Die NS -Zeit ist eine Zäsur in der deutschen Geschichte, die auch die Literatur stark beeinflusst hat. Die Sicht auf die und der Umgang mit der Vergangenheit und besonders der NS -Vergangenheit, den Jahren des getrennten Deutschlands und des Mauerfalls wird zum wichtigen literarischen Thema. Die Auseinander‐ setzung mit der Vergangenheit setzt sofort nach 1945 mit Kurzgeschichten, Er‐ zählungen, Hörspielen und Schauspielen ein. Sie führt in die Gegenwart und besteht fort in der jüngsten Literatur, in Aufarbeitungen der DDR -Zeit, in Schilderungen des Mauerfalls und in Ortungen des durch ein vereintes Deutsch‐ land bedingten Mentalitätswandels. Die Auslegungen reichen von novellisti‐ schen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, au‐ tobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike bis zu künstlerisch an‐ spruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die im Einzelnen besprochenen Texte, die sowohl allen Lesern und Leserinnen vertraute als auch unbekannte Werke einschließen, sollen die Diskussion vertiefen. Im Umgang mit der Vergangenheit setzen nach 1945 die Autor(inn)en, be‐ sonders Ilse Aichinger, Jurek Becker, Heinrich Böll, Wolfgang Borchert, Willi Bredel und Elisabeth Langgässer, Akzente, die bis heute wirksam sind. Sie er‐ neuern die in der Neuen Sachlichkeit ausgeprägte Tendenz, der realistisch-sach‐ lichen Gestaltung von historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Pri‐ orität einzuräumen. Darüber hinaus befragen und präzisieren sie eine in der Nachkriegsliteratur des Ersten Weltkrieges ersichtliche Grundform des Den‐ kens, die sowohl ein Urteil über als auch ein Verhältnis zur Vergangenheit ein‐ schließt. Sie ist deutlich ausgeprägt in Werken, in denen die verflossenen Kriegsereignisse ihren Schatten über das Denken und Handeln der Figuren werfen. Sie kommt selbst dann unvermittelt zu Wort, wenn die Texte den Krieg keineswegs thematisieren. In der Erzählhaltung, im Denken der Figuren und in eingeflochtenen Reflexionen der Erzähler wird einerseits ein eindeutiges ethi‐ sches und politisches Engagement erkennbar. Andererseits zeichnen sich Ten‐ denzen ab, die sowohl Resignation ausdrücken als auch die Ohnmacht ange‐ sichts historischer Abläufe, die sich dem Eingriff Einzelner entziehen. Aichinger, Böll und Grass erweitern und vertiefen die Fragestellung von Schuld und Sühne. Wiederkehrende, aus wechselnder Perspektive entwickelte Motive und Themen, die zuweilen Vorstellungen aus den Entnazifizierungs‐ prozessen übernehmen, erwecken den Eindruck einer umfassenden Bestands‐ aufnahme. Die Texte schildern Täter und Opfer, willige Helfer und Mitläufer, Anpassung und aktiven oder inneren Widerstand, aber auch Pflichterfüllung und verfehltes Vertrauen auf eine neue Ordnung. Die Gemeinsamkeiten und gravierenden Unterschiede in der Einstellung zur Schuldfrage verleihen der Li‐ teratur einzelne scharf profilierte Züge. In der erzählenden Literatur herrschen zuerst Anklage und Richten vor, später Aufarbeitung und Versuche, die Einstel‐ lung und das Verhalten Einzelner oder einer Gruppe zu verstehen. In der mili‐ tärischen Erinnerungsliteratur setzt sich sofort die Berufung auf den Ausnah‐ mezustand und die mit ihm verbundenen Fragen von Pflichterfüllung und dem kriegsbedingten Handeln Einzelner durch. Die frühen Auseinandersetzungen mit der besonderen historischen Entwick‐ lung in Deutschland, den kollektiven wie auch individuellen Verhaltensweisen und dem Wirken Einzelner während der NS -Zeit und im Krieg erwecken er‐ zähltechnisch den Eindruck dokumentarischer Treue. Sie vereinheitlichen die Fülle realistisch geschilderter Einzelheiten durch die Konzentration auf die in‐ neren und äußeren Konflikte, die Entscheidungen, das Handeln und die Unter‐ lassungen von Einzelfiguren. Auf diese Art entstehen Erzählungen, in denen qualvoll leidende Verfolgte und Widerstandskämpfer, gewalttätige Offiziere und unentschieden zögernde Landser zu Wort kommen. Die Darstellungen setzen ein Verhalten voraus, das nicht ableitbar ist von zeitbedingtem Handeln der Menschen, die die Orientierung verloren haben, keine sicheren Maßstäbe für ihre Entscheidungen finden und sich dem kollek‐ tiven Interesse fügen. Zuweilen unausgesprochen, zunehmend häufig in Dia‐ logen und Selbstgesprächen der Figuren zeichnet sich eine ethisch verankerte, zeitlose Deutung des verantwortlichen Handelns ab. Der Blick zurück, sei er von Beteiligten, Überlebenden, Kindern oder Enkeln, erfasst die Vergangenheit aus einer Sicht des richtigen und falschen, sittlichen und unsittlichen Handelns. Alle Nachkriegsautoren, die sich mit der NS -Zeit und dem Krieg auseinandersetzten, trugen zu einem wachsenden historischen Bewusstsein bei und haben maßge‐ blichen Anteil an der Entwicklung eines kollektiven Selbstverständnisses. Sie betrachten die Vergangenheit als ein unabgeschlossenes Kapitel, als einen im Entstehen begriffenen Entwurf einer umfassenden Dokumentation. Was ist das, die Vergangenheit? Der Begriff kennzeichnet geschichtlich über‐ lieferte Ereignisse aus einer zurückliegenden Zeit. Die Überlieferung umfasst jedoch ein weites Feld: Quellen, historische Darstellungen, die zugleich Inter‐ 1. Einführung 10 1 Vgl. dazu Wilhelm Treue. Deutsche Geschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Stuttgart, 2. Aufl. 1958. 704-705. 2 Die umfassendste und überzeugendste Ausführung dieser Wechselbeziehungen er‐ schien im Böhlau Verlag; siehe Frank Trommler. Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2014. 3 Zur Frage historischer Tatsachenberichte, der Erkenntnis faktisch, tatsächlich belegter Ereignisse und des Verstehens allgemein geschichtlicher Wahrheit vgl.: Aleida Ass‐ mann. Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zu öffentlicher Insze‐ nierung. München: Beck, 2007; Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.). Literatur und Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: rowohlts enzyklopädie, 1996; Pascal Bruckner: The Tyranny of Guilt. Princeton: Princeton UP, 2006; Edward H. Carr. What is History? New York: Knopf, 1961; Friederike Eigler. Gedächtnis und Geschichte in Ge‐ nerationsromanen seit der Wende. Berlin: Schmidt, 2005; Johannes Fried. Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München: Beck, 2004; Bernhard Schlink. Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben. Zürich: Diogenes, 2005; Barbara Tuchman. „When Does History Happen? “ in: Fields of Writing. 663-669; Joachim Walther. Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Links Verlag, 1996. pretationen sind, Tatsachenberichte, soziologische, politische, philosophische Auslegungen und literarische Konzeptionen.Historische Ausführungen teilen gewöhnlich Geschichte in zusammenhängende Abschnitte ein, die eine Verste‐ henseinheit bilden. Jeder Abriss enthält eine der Schilderung angemessene Ab‐ straktionsebene. Für die Beurteilung historischer Prozesse bleiben die im Schnittpunkt literarischer Schilderungen liegenden Schicksale, Freuden und Leiden, Erfolge und Misserfolge Einzelner im Hintergrund. Deshalb besteht grundsätzlich eine tiefgreifende Spannung zwischen dem Kollektivgeschehen und dem Schicksal Einzelner. Literarische Texte konzentrieren sich auf diesen Schnittpunkt zwischen kollektiven und persönlichen Erfahrungen und versu‐ chen, im individuellen Erlebnis die geschichtliche Dimension anzudeuten und ein Geschichtsbewusstsein zu vermitteln, das im Konkreten das Allgemeine er‐ fasst. Historiker konstatierten, dass es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918 keine Möglichkeit gab, sinnvoll an die vorausgegangenen Zeiten anzuknüpfen. 1 Kulturgeschichtlich orientierte Untersuchungen verdeutlichen jedoch tiefgreifende Verflechtungen und Traditionen, die Schwerpunkte für das Verständnis eines historischen Ablaufs formen. 2 Die Literatur verdeutlicht die Problematik in historischen Untersuchungen, die sich mit der Frage auseinan‐ dersetzen, inwiefern objektive, faktische Darstellungen der Vergangenheit über‐ haupt möglich sind oder ob jedes Urteil von persönlichen Erfahrungen der Wis‐ senschaftler beeinflusst wird. 3 Die kritische Aneignung, Distanzierung und tiefgreifende Umwertung der historischen Bewusstseinslage verläuft in drei Phasen. In ihrem Ablauf setzt sich die Erkenntnis durch, dass jede Erinnerung 1. Einführung 11 an und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von der jeweils gegenwär‐ tigen gesellschaftlichen Umwelt mitbestimmt wird. Individuelle und kollektive Erinnerungen hängen von den zeitbedingten, zurückliegenden und gegenwär‐ tigen Umständen ab. Die Entwicklung setzt nach 1945 in den Auseinanderset‐ zungen mit der deutschen NS -Vergangenheit ein, wird in der Literatur der sech‐ ziger bis achtziger Jahre in der Fragestellung erweitert und prägt literarische Ortungen und möglicherweise das Selbstverständnis einzelner Autor(inn)en bis heute. Begrifflich schließt die Denkform Fragen von persönlicher Verantwor‐ tung, sittlichem Handeln wie auch Schuld und Sühne ein. Die Entwicklung mündet schließlich in die eigenartige Situation, in der die Vergangenheit scheinbar unvermittelt in die Texte hineinredet, zur Kurzformel für eine alle Deutschen belastende Erbsünde geworden ist, aber zugleich im Blick zurück zum Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit wird. Die Vergangenheit lebt auf, sobald Autor(inn)en Figuren entwerfen, die über sich nachdenken und ihr persönliches Selbstverständnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen Selbstverständnis trennen lässt. Diese Vergegenwär‐ tigungen haben eine gemeinsame historische Substanz. Sie sind einerseits indi‐ vidualisiert, da Erzählungen die Ereignisse aus der Perspektive und Erlebnis‐ sphäre Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen Erzählverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Gene‐ ration, die manchmal zu Familienzerwürfnissen führen. Fragen, Dialoge und Selbstgespräche erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Verstehen der Geschichte anbahnt. Darüber hinaus stoßen die Darstellungen auf schwer zu beantwortende Fragen, die die nationalsozialistische Vergangen‐ heit betreffen. Die gegenwärtigen politischen Debatten über Schuld, Verbre‐ chen, Nazi-Opfer, Holocaust, aber auch Schlussstrich, einseitige Stilisierung und Anklagen gegen die Tätergeneration, sowie Erkundung der Leiden einer ver‐ führten Generation wiederholen sich in den Erzählungen. Die Befragung der Vergangenheit nimmt vielfältige Formen an. Sie kann di‐ rekt erfolgen, indem die Handlung in die Vergangenheit verlegt wird. Darstel‐ lungen erwecken zuweilen, besonders wenn sie auf historisch belegbare Ereig‐ nisse zurückgreifen, den Eindruck realistischer Berichterstattungen. Deutlich erkennbar sind markante stilistische Unterschiede zwischen kritisch reflek‐ tierten Auseinandersetzungen und Schilderungen von Kriegserlebnissen, die versuchen, authentisch überzeugend, aus der Nahperspektive Ereignisse fest‐ zuhalten. Die Nahperspektive verwickelt Leser. Der Anspruch auf Authenti‐ zität - ich sehe, fühle, spüre - ist besonders deutlich ausgeprägt in der Kriegs‐ 1. Einführung 12 literatur. Er verbürgt, dass das Vergangene im Text, belegt durch Dokumentationen, die sich auf eigene Erlebnisse, Aussagen von Zeitzeugen, Briefe und Nachrichten aller Art (Zeitungen, Radio, Wochenschauen) stützen, zuverlässig und glaubwürdig festgehalten ist. Die eingehende Untersuchung der Kriegsliteratur zeigt jedoch einerseits Rückgriffe auf tradierte Motive in der Kriegsthematik, andererseits dass das Gedächtnis der Autoren nachhaltig indi‐ viduell gefärbt ist. Die Befragung ist ferner integriert in Generationskonflikten, die ihren Ursprung in der Sensibilisierung für die politische Vergangenheit haben; sie kann im Mittelpunkt von Identitätskrisen stehen; sie bildet den Rahmen für autobiographische Darstellungen, die das Verhältnis Einzelner zum historischen Geschehen thematisieren; sie ist oft verknüpft mit primären Themen (Anpassung; Entwicklungsthematik; Holocaust; Reifung; Selbst- und Welterkenntnis) und Motiven (Konflikte zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Vater und Sohn oder Tochter). In Auseinandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit des geteilten Deutschlands kommen hinzu: Utopie und Verlust der utopischen Vision; alle Bereiche des Alltagslebens im sozialistischen Staat; Stasi und Spitzelunwesen. Die erstaunliche Sensibilität für die politische Vergangenheit ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Einerseits regt die Be‐ standsaufnahme der gegenwärtigen Situation zur Befragung der Vergangenheit an. Andererseits entwerfen zahlreiche Autoren Erzählungen, in denen die Ver‐ gangenheit als wirksames Kolorit für das Geschehen dient. Der Anspruch, authentisch zu berichten, ist außerdem besonders ausgeprägt in fiktiven historischen Erzählungen, die sich auf Lebensläufe unbekannter, vergessener oder umgedeuteter „Personen“ konzentrieren. Das Verfahren, klar ersichtlich in Geschichten von Wolfgang Hildesheimer (Marbot. Eine Biographie. 1981), Christoph Ransmayr (Die Schrecken des Eises und der Finsternis. 1984) und Horst Stern (Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italienischen Staufers Friedrich II . 1986), stellt eine Figur in den Schnittpunkt des Geschehens, die keine Spuren hinterließ und deshalb von Historikern übersehen wurde. Diese Erzäh‐ lungen verwischen bewusst die Grenze zwischen Geschichte, Vergangenheit und Fiktion. In anderen Darstellungen erscheint zuweilen die Gegenwart aus der Per‐ spektive einer erstrebenswerten ausgeglichenen Gesellschaftsordnung. Die Ver‐ gangenheit dagegen erweckt den Eindruck einer unabgeschlossenen Akte. Sie prägt die Gegenwart und kommt deshalb in manchen Texten in Ereignissen oder Reflexionen der Erzählstimmen unvermittelt zu Wort. So entsteht der Eindruck, die Geschichte rede noch immer in alles Geschehen hinein. Die Gespräche ver‐ leihen den Figuren aus der Vergangenheit plastisch-realistisches Sein. Sie geben 1. Einführung 13 den Verstorbenen, den Stummen und denen, die zum Schweigen verurteilt waren, die Stimme zurück. Die Autor(inn)en versetzen sich in die Lage der direkt Beteiligten, der Opfer, Täter, Mitläufer und aller, die innerlich das Regime ab‐ lehnten, aber den Umständen erlagen. Sie verfolgen den eigentümlichen Sach‐ verhalt, dass die Vergangenheit selbst früher für die damals Lebenden Zukunft und Gegenwart war. Der Dialog mit der Vergangenheit vermittelt Eigenheiten des Denkens, die dem Erkenntnisvermögen des Publikums entgegenkommen. Es erkennt im Lesevorgang seine eigenen Bemühungen, historische Entwick‐ lungen zu begreifen. Darüber hinaus schließt der Appell an verantwortliches Handeln in der Andeutung, dass das Leben Einzelner in der sozialen und histo‐ rischen Vernetzung letztlich sinnvoll sein kann, sowohl Sinnsuche und Sinn‐ stiftung ein. Rückblenden, besonders in Texten, in denen die Figuren mit Fragen des Selbstverständnisses ringen, erwecken zuweilen den Eindruck der Zwangsfi‐ xierung. In Wolfgang Bächlers Erzählung Im Schlaf. Traumprosa (1988) greifen Entsetzen und Angst vor dem Terror auf die Gegenwart über und werden zur permanenten Bewusstseinslage. Der Träumende fürchtet Beamte, Funktionäre, sterbende Menschen und die verrinnende Zeit. Er spürt wie er erst in eine Uni‐ form gesteckt und dann ins KZ verschleppt wird. Er ist auf der Flucht, irrt hilflos umher und wird beraubt und gefoltert. Schließlich schlagen ihm Soldaten einer Besatzungstruppe die Zähne aus. Die Vergangenheit wird zum Bild des Schre‐ ckens, das sich zeitlos wiederholt. In anderen Texten kommt es unvermittelt zu Beobachtungen, die an Tagesnachrichten und vorausgegangene Literaturdis‐ kussionen anschließen oder Familiengeschichten aufgreifen. So stolpert bei‐ spielsweise Ersiës in Matthias Zschokkes Erzählung ErSieEs über die Schwelle eines Süßwarengeschäfts und muss an den stolpernden Großvater denken. Die Vergangenheit infiziert den Sprecher; der elliptische Abriss der Vergangenheit mündet in ein eigenes Schuldgefühl. „Großvater hat trübe Augen Großvater war im Widerstand Großvater furzt bei jedem Schritt Großvater braucht zwei Stöcke zum Gehen So ein vierfüßiger Schritt braucht seine Zeit Großvater war Oberarzt im Untergrund Großvater hat noch Paul Lincke kennengelernt Großvater ist ein Original Großvater besitzt ein Original Großvater fährt einen Thunderbird Großvater war ein Arbeiter Ich stamme aus richtigem Arbeitermilieu Großvater hat sich beinahe verschworen Großmütterlein ward umgebracht von eurer bösen Nazimacht damit verdien ich Geld denn ich erzähl’s der Welt … / Hoppla. / Eben wollte sie ‚ihrer Betroffenheit Ausdruck verleihen bezüglich Kollektivwahnsinn, geknechtetgefoltertgekettetgegeißeltgedemüdigt, Aufleh‐ nung, Empörung, Verzweiflung, Anklage‘.“ Zschokke fährt fort mit der Feststel‐ 1. Einführung 14 4 Matthias Zschokke. ErSieEs. München: List, 1986. 29. 5 Christoph Hein. Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden 1987-1990. Frankfurt a. M.: Luchterhand, 1990. 133. Dagegen stellt die amerikanische Dichterin Louise Glück in einem Gedicht fest, es sei ihr eingefallen, „man könne alle Menschen in zwei Gruppen einteilen, die nach vorn streben und die zurückgehen wollen.“ Faithful and Virtuous Night. New York: Farrar, Straus, 2014. 6 Vgl. Horst S. u. Ingrid Daemmrich. Themen und Motive in der Literatur. 2. überarbeitete u. erweiterte Aufl. UTB. Tübingen: Francke, 1995. xiv-xxv. lung, dass immer Dolmetscher zur Stelle sind, die „übersetzen und verzeihen“ werden. 4 Sicherlich gab und gibt es für die Literatur nie absolute Zäsuren und für the‐ matisierte Geschichtsereignisse keine Nullpunkte. Die Literatur nimmt Stellung, verarbeitet und gestaltet die Weltkriege, die Weimarer Republik, Hindenburg, Hitler, Gleichschaltung, Kristallnacht, das Dritte Reich, Holocaust, Nürnberg, das geteilte Deutschland, die neue Welt. Christoph Hein konstatiert in seinem Essay „Die Zeit, die nicht vergehen kann oder Das Dilemma des Chronisten“, dass das Vergangene beständig gegenwärtig ist. „Ich jedenfalls bezweifele, daß es das Wesen der Vergangenheit ist, nicht Gegenwart zu sein. Im Gegenteil: Vergangenheit ist der unveränderbare, sichere und weitgehend auch gesicherte Teil unserer Gegenwart, freilich auch der durch seine Unveränderbarkeit, durch die Unmöglichkeit jeder nachträglichen Korrektur beunruhigendste und ver‐ störendste Teil unserer Gegenwart. Denn Vergangenheit vergeht nicht, kann nicht vergehen, so wie die Toten nicht sterben und kein zweites Mal begraben werden können.“ 5 Die Befragung der Eigenart des Vergangenen steht mitunter im Mittelpunkt einzelner Erzählungen, die Lebensläufe in auf- oder absteigender Linie aus den dreißiger, den vierziger und den Kriegsjahren schildern. Sie taucht sporadisch in der Kriegsliteratur auf. Sie klingt im Schrifttum an, das sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzt oder alternative Geschichtsab‐ läufe schildert. Die Antworten vermitteln einen ausgezeichneten Einblick in die wechselnde geistige Verfassung der Autoren und Autorinnen seit 1945. Sie sind vereinzelt als Augenzeugenberichte simplifiziert. Sie schwingen gelegentlich mit in der Reaktion von Figuren, die entweder verstummen oder Fragen kopf‐ schüttelnd mit dem Hinweis ablehnen: „das können nur die verstehen, die das selbst erlebt haben.“ Die Hinweise und Erklärungen erhöhen durch die Ver‐ knüpfung von Vergangenheitsbewältigung, Schuld, möglicher Sühne und Ver‐ gebung die Spannung in vielen Texten. Sie durchkreuzen literaturkritische Ur‐ teile. Sie fordern das Lesepublikum zur Stellungnahme auf. Sie regen an, belasten und verlangen ethische Entscheidungen. Die Literatur beleuchtet die Verflechtung von Stoff, Sujet, Thema und Motiv. 6 Dieser Sachverhalt ist deutlich in Texten, die in der Vergangenheit ver‐ 1. Einführung 15 ankert sind. In einigen überwiegen die mit der stofflichen Substanz verknüpften Vorstellungen, beispielsweise Krieg, Heimkehrer, der gute Kamerad, der böse Feind, Seeschlacht, Auschwitz, Stalingrad, Leningrad oder Dresden. In anderen wird ein klar umrissenes Sujet (Heimkehr ins Reich, Holocaust) zum domi‐ nanten Funktionsträger. Die Gegenwartsliteratur verdeutlicht: das Thema Ver‐ gangenheit umfasst eine enge, möglicherweise unlösbare Bewusstseinslage, in der Verirrung, Verneinung, individuelle und kollektive Schuld, Bewältigung, fiktive Darstellung und selbst ins mythische gesteigerte Konzeptionen an‐ klingen. Die literarische Dokumentation und die „authentische“, fiktiv verar‐ beitete Vergangenheit setzen dem Text angemessene Akzente und berücksich‐ tigen „tatsächliche“ Ereignisse primär, wenn sie die im Text gestalteten Verhaltensweisen motivieren. Jeder historische Ausschnitt enthält in der kon‐ kreten Darstellung eine angemessene Abstraktionsebene. Detaillierte Rekonst‐ ruktionen der Leiden und Freuden, der Erfolge und Misserfolge und der wech‐ selnden Vorstellungen geschichtlicher Ereignisse verleihen den Darstellungen nicht nur große Anschaulichkeit, sondern vermitteln auch Einblicke in das Ver‐ stehen historischer Prozesse der direkt Beteiligten. Außerdem lassen Texte Rückschlüsse auf das geschichtliche Verständnis der Autor(inn)en zu. Die Un‐ tersuchungen von Texten in den folgenden Kapiteln belegen drei Aussage‐ formen: (1) das Verständnis der Figuren in Texten und das der Autor(inn)en bilden eine Einheit; (2) unterschiedliche und widersprüchliche Vorstellungen veranschaulichen ungelöste Widersprüche; (3) das Dialogverfahren im Erinne‐ rungsdiskurs verweist auf den Sachverhalt, dass historische Prozesse aus der Sicht der Beteiligten kaum durchschaubar wirken, aus der Perspektive der Er‐ zähler jedoch erklärbar sind. In Texten der Gegenwartsliteratur, in denen der Zweite Weltkrieg entweder das Geschehen maßgebend bestimmt oder in direkten und verhüllten Hinweisen anklingt, bestehen weiterhin gravierende Unterschiede, da diese von ehrenden Erinnerungen bis zu kritischen Abrechnungen reichen. Für den Abriss der Ten‐ denzen in Schilderungen des Krieges und der Kriegsjahre sind drei Aspekte der vorausgegangenen Literatur relevant. Eine beachtliche Reihe von Kriegserzäh‐ lungen vermittelte positive Vorstellungen heroischer Leistung, des guten Ka‐ meraden und der Verteidigung der Heimat. Vergleichbare Darstellungen be‐ stehen nach 1945 fort in Erzählungen, die das Leid der Kriegsgefangenen, der Flüchtlinge und der Bevölkerung in den bombardierten Städten beleuchten. Zu‐ gleich entsteht eine Denkform, die im historischen Geschehen des Krieges ein Verhängnis für alle Beteiligten sieht, und in der Mahnung, das dürfe sich nicht wiederholen, einen Appell an das Gewissen enthält. Drittens verfolge ich die Richtung der Objektivierung dieses Denkens im Zusammenspiel der Forderung 1. Einführung 16 7 Hermann Burger. Brenner. 1: Brunsleben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989. 58; vgl. dazu auch Thomas Bernhard. Die Ursache. Salzburg: Residenz Verlag, 1975; ders., Verstörung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988; Perikles Monioudis. Die Forstarbeiter, die Lichtung. Zürich: Nagel & Kimche, 1996. 8 Hanns-Josef Ortheil. Das Element des Elephanten. München: Piper, 1994. 102. nach persönlicher Verantwortlichkeit und dem Anspruch auf Authentizität der biographischen und literarischen Darstellung. Der Anspruch wird deutlich in den Spielarten dokumentarischer Literatur, in der Beglaubigung durch Augen‐ zeugen, in eingeflochtenen Tatsachenberichten und historisch belegbaren Fakten, die die Fiktionalität der Texte bewusst verwischen. Aufarbeitungen der Vergangenheit nehmen vielfältige Formen an. Vergan‐ genheit bedeutet nicht nur das historische Geschehen, sondern auch Kindheits‐ eindrücke und das Leben im kleinen Kreis. In den Erzählungen von Bernhard, Burger und Monioudis erscheint die große Welt im Spiegel der Ereignisse in Ortschaften, die die Größe einer Briefmarke haben. Regionale Landschaften oder Städte in Erzählungen von Horst Bienek (Gleiwitz), Uwe Johnson (Mecklen‐ burg), Siegfried Lenz (Ostpreußen) und Günter Grass (Danzig) sind gleichzeitig Schwerpunkte der historischen Ereignisse und Symbolträger für existenzielle Grunderfahrungen. Die Autoren geben der Zeitperspektive einen typischen Ge‐ halt und verwandeln zugleich einzelne Regionen in exemplarisch literarische Landschaften, in denen Menschen die historischen Ereignisse erfahren, die das Jahrhundert prägten. Die einzelnen Erlebnisse der Personen werden zu kollek‐ tiven Erfahrungen stilisiert. In Texten, die zu uns sprechen, ist die Vergangenheit immer auf die Gegen‐ wart und Zukunft bezogen. Beim Nachdenken darüber, wie es möglich sei, die Kindheitsperspektive zu erfassen, beobachtet Burger: „Auch die drei Kompo‐ nenten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was autobiographisch wahr und somit richtig, oder sagen wir etwas modester rückblickend überhaupt er‐ kennbar ist, hängt davon ab, wie ich heute lebe und was mich morgen er‐ wartet …“ 7 In Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit zeichnet sich das Bestreben ab, das Wesen der Erinnerung, den Vorgang des Erinnerns, zu präzisieren. In jeder erweiterten Perspektive umfasst das Erinnern Fragen persönlicher Verantwor‐ tung, von Verschuldung und Verjährung, von möglicher Sühne und einem wün‐ schenswerten Vergeben. Die Voraussetzung für jede Erkundung der Vergan‐ genheit ist und bleibt, wie Hanns-Josef Ortheil feststellt, die Präzision des Schreibens. Die Aufgabe ist „der Sprachlosigkeit das präzise Wort, den unge‐ ordneten die geordneten Bilder“ gegenüber zu stellen. 8 Diese Gewissenhaftig‐ keit in der Auslegung des „real-fiktiven“ Raumes bestimmt gleichermaßen das 1. Einführung 17 9 „Geschichte in Geschichten.“ Interview. J.-U. Brand u. S. Sattler. Focus 27 (1999). 83-87. 10 Christoph Ransmayr. Morbus Kitahara. Frankfurt a. M.: Fischer, 1995; er bemerkt dazu: „Ich habe meiner Meinung nach nie etwas anderes als die Gegenwart beschrieben, selbst wenn es … um ein verwüstetes, zur Erinnerung und Sühne verurteiltes Kaff in einem Nachkriegseuropa“ ging. Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör. Frankfurt a. M.: Fi‐ scher, 2004. 93. Geschehen in Erzählungen und Stücken, die auf die Antike zurückgreifen oder alternative Vergangenheitsbilder entwerfen. Die Rückgriffe auf die Antike um‐ fassen unter anderem Nachdichtungen, Neuschöpfungen und Wiederbele‐ bungen. Außerdem lassen sich in der Gegenwartsliteratur Versuche nachweisen, Figuren wie etwa Galatea, Kassandra, Laokoon, Odysseus, Medea, Medusa, Pa‐ siphae oder Priapos auf die Gegenwart zu beziehen und umzudeuten. Besonders aufschlussreich sind Auslegungen der menschlichen Gegenwartssituation im Spiegel der Vergangenheit. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich bei diesem Vorgang nicht nur um Anschluss und Erneuerung einer Tradi‐ tion handelt. Stattdessen dienen die Rückgriffe dazu, in symbolisch mythischen Handlungsräumen gegenwärtige politische und gesellschaftliche Krisen in der Form existenzieller Entscheidungen zu gestalten. Antike und Gegenwart, Cotta, Ovid, Fontane und eine alte Frau, Rom und Preußen: die Vergangenheit ist Gegenwart, sie ist ein weites Feld, ein unabge‐ schlossenes Kapitel. Die Erzählungen von Christoph Ransmayer und Günter Grass beleuchten diesen Sachverhalt. Als Mein Jahrhundert 1999 erschien, be‐ tonte Grass in einem Interview: „Ja, nehmen Sie den ersten Satz des Buches: ‚Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen.‘ Das heißt, ich schlüpfe in Rollen, ganz verschiedene: männlich, weiblich, alt, jung. Ich blicke auf dieses Jahrhundert aus der Perspektive von Menschen, denen Geschichte widerfährt. Es sind nicht die großen Handelnden, von denen ich erzähle, sondern die Mitläufer und Opfer.“ 9 Diese Perspektive verwandelt schließlich die Erzähler in Historiker, welche die Vergangenheit im Alltag beleben und selbst das kaum Denkbare schildern. Gemeinsamkeiten und Divergenzen bestimmen Rückblick und Ausblick. Die gravierenden Unterschiede in Gestaltungen der Gegenwart und der Vergangenheit sind offensichtlich im Erfahrungshorizont der Figuren in Erzählungen von Ransmayr und Grass. Die Erzählung Morbus Kitahara (1995) von Christoph Ransmayr schildert die Verfinsterung, die sich nach dem „Frieden von Oranienburg“ über die Ortschaft Moor, die Bevölkerung, den großen Steinbruch nahebei und das Niemandsland des Steinernen Meers ausbreitet. 10 Es ist endlich Frieden, nachdem „die halbe Menschheit in der Erde und im Feuer verschwunden ist.“ Im Schnittpunkt der Handlung stehen der Schmied Bering, zum Ende des großen Krieges geboren, 1. Einführung 18 Ambras, der Fotograf und ehemalige Häftling Nr. 4273 eines Konzentrationsla‐ gers, und das Mädchen Lily, die überlebende Tochter eines zu Tode geprügelten Bewachers. Die Einwohner von Moor, ehemals ein malerischer Badeort, haben keinen Zugang zur Außenwelt, denn die einzige bestehende Bahnverbindung wurde abgerissen. Alle müssen für sich selbst sorgen. Die existenzielle Situation der Menschen und das Zeitgeschehen werden bestimmt durch Auswirkungen des „Stellamour-Plans“, eine Anspielung auf den Morgenthau-Plan, der das be‐ setzte Land in die Steinzeit zurückwirft, eine Steinzeit, in der jedoch Besat‐ zungstruppen die Menschen bewachen und organisierte Banden, kahlköpfige Schläger und Guerillas die Welt verunsichern. Das Milieu determiniert die Ent‐ wicklung der Figuren, in denen jedoch wiederholt eine wilde, unbezähmbare Sehnsucht nach Entgrenzung aufflackert. Arbeitsfähige (jeder, der noch gehen kann, ist arbeitsfähig) werden zur Arbeit im Steinbruch verpflichtet. Alle sind gezwungen, an den von Major Elliot veranstalteten Erinnerungsfeiern für die Opfer der jüngsten Vergangenheit teilzunehmen. „ HI E R LI E G E N / E L F TAU S E ND‐ N E UNHUNDE R TD R E IUND S I E BZIG TOT E / E R S CHLAG E N / VON DE N E ING E B O R E N E N DI E S E S LAND E S / WILLKOMME N IN MO O R “ (33). Zum Sommerfest ersteigen die Ein‐ wohner die berüchtigte Stiege, auf der die meisten Häftlinge umkamen. Die Gefangenen schleppten riesige Steinquader nach oben und brachen häufig unter der Last zusammen. Der Kommandant verlangt nur, dass die Bewohner At‐ trappen transportieren, die sie an die Vergangenheit erinnern sollen. Major El‐ liot besteht nicht auf krasser Wirklichkeit, aber darauf, dass der Schein gewahrt wird und die Tätigkeit die Umerziehung fördert. Er will die Illusion einer zivi‐ lisierten Besatzung bewahren, hat aber die Ausführung aller Anordnungen und selbst der alltäglichen Arrangements Ambras übertragen. Ambras, der ehemalige Gefangene des Schotterwerk-Konzentrationslagers, hat die gesamten Machtbefugnisse über die Arbeiter und zwingt alle unnach‐ giebig zur Erfüllung der ständig gesteigerten Norm. Er rächt sich an der Gesell‐ schaft in seiner Rolle des Lageraufsehers. Er spielt den Giganten und verkörpert zugleich eine unerhörte Brutalität. Die charakteristischste Szene für seine Ein‐ stellung zur Welt ist sein Einzug in die von ihm ausgesuchte Wohnung, eine mit Stacheldraht umgebene Villa, in deren Garten ein Rudel verwilderter, aggres‐ siver Hunde haust. Er betritt den Garten, wirft den vierzehn Hunden rohes Fleisch zu, spricht beschwörend auf sie ein, erschlägt den ersten, der ihn an‐ springt, mit einem Eisenrohr, jagt einem großen irischen Rüden das Eisen in den Schlund, springt auf ihn, verbeißt sich in das Tier und bricht ihm das Genick. Daraufhin zieht er ein. Das Rudel folgt dem Meister gehorsam, der seitdem vom Volk „Hundekönig“ genannt wird. Sein Umgang mit Menschen folgt demselben Muster: Sie müssen dienen; jeder Widerstand wird gebrochen. Bering, zu der 1. Einführung 19 Zeit ein Neunjähriger, beobachtet den Vorfall und umgibt den Hundekönig in seiner Erinnerung mit dem Nimbus eines „biblischen Helden“, eines „unbesieg‐ baren Königs“, der seine Feinde „in die Wüste jagte und in den Tod.“ (81) Bering verbringt seine früheste Kindheit in einem Kellergewölbe in einem von der Decke hängenden Korb. Unter ihm scharren Hühner auf der Erde, Hühner, deren Gackern er nachahmt und unter sein Schreien mischt. Geflügel und Vögel bestimmen seinen Erfahrungshorizont. Er lebt sich ein in ihre Welt, ahmt ihre Rufe nach und versucht zu fliegen. Selbst diese Empfindungen sind ambivalent: „Noch Jahre später bedurfte es bloß eines Hahnenschreis, um in ihm rätselhafte Empfindungen wachzurufen. Oft war es ein melancholischer, ohn‐ mächtiger Zorn, der keinen bestimmten Gegenstand hatte und ihn doch mehr als jeder tierische Laut mit dem Ort seiner Herkunft verband.“ (19) Unvereinbare Tendenzen bestimmen seine Entwicklung von früher Verehrung bis zum Hass auf den Hundekönig. Als Dreiundzwanzigjähriger erlebt er, wie Ambras sein von Elliot erhaltenes Fahrzeug schwer beschädigt und bietet ihm an, den Wagen völlig neu herzustellen. Er verwandelt den Studebaker in einen mythologischen Wagen: eine Krähe im Sturzflug, am Kühler „zwei zum Fangschlag geöffnete Krallen.“ (96) Daraufhin ernennt Ambras Bering zu seinem Vertreter, befiehlt ihm in die Villa zu ziehen und fortan sein Leben zu teilen. Das Verhältnis der beiden wird bestimmt von den kurzen, fast bellenden Befehlen, die Ambras er‐ teilt. Das grausame Zusammenleben beeinflusst Berings Handeln. Er tötet zuerst in Notwehr, dann aus Hass auf die Welt. Sein Verhältnis zu Ambras, den er sowohl fürchtet als auch bewundert, ablehnt und anerkennt, zwingt ihn in eine Abhängigkeit, die schließlich dazu führt, dass er seinen Beherrscher nachahmt und Freude an der Unterdrückung anderer verspürt. Ambras beansprucht für sich nichts, außer Gehorsam. Er lebt in einem verwahrlosten Zimmer der Villa und überlässt den Rest des Hauses den Hunden. Er zeigt eigentlich nur ein In‐ teresse, das nicht mit seiner Arbeit verbunden ist, wenn ihn Lily besucht und ihm seltene Steine und Smaragde aus dem Hochgebirge bringt. Lilys Gefühle spiegeln die gegensätzlichen Tendenzen der Umwelt wider. Sie hasst Gewalt, besitzt jedoch ein verstecktes Waffenlager und geht zweimal, auch dreimal im Jahr auf Menschenjagd. Sie spürt dann den Banditen nach, die die Bevölkerung angreifen, und tötet sie, während ein überwältigendes Gefühl von „Angst, Triumph und Wut“ in ihr aufsteigt. Plötzlich will sie ausbrechen und frei sein. Dann wieder passt sie sich an die Umstände an. Sie hat Mitleid mit Ambras und Bering, übernachtet zuweilen mit Ambras, scheint einmal Bering zu lieben, verstößt ihn aber, als er in rasendem Zorn einen Räuber tötet, der Hühner mit sich schleppt. 1. Einführung 20 11 Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002. Handlungsverlauf und Figurenzeichnung werden intensiviert, als das Berg‐ werk demontiert und nach Brasilien verfrachtet wird. Bering sorgt dafür, dass jedes Rädchen der rostigen Maschinerie sorgfältigst verpackt wird. Er erblindet langsam, hofft jedoch auf einen neuen Anfang in der Fremde und verspürt wie Lily Freude während der Übersiedlung. Auf der Fahrt nach Brasilien nehmen die körperlichen Leiden von Ambras ständig zu. Die Welt verdunkelt sich. Be‐ ring, Ambras und Lily fahren schließlich zur Hundeinsel, einem ehemaligen verlassenen Gefängnis, dem Ziel und Ende von Lebensfahrten in einer Welt, in der das Licht verbleicht. Lily schenkt der Brasilianerin Myra ihren Mantel und verlässt die Insel. Die Geste besiegelt Myras Tod, denn Bering ermordet sie im Glauben, Lily vor sich zu haben. Am Ende stürzt er blindlings vom Berg und reißt Ambras mit sich in die Tiefe. Die konsequente Handlungsführung aus Lager und Moor in die sumpfige Wildnis der neuen Welt, einer unbehausten Insel mit drei Toten, verdeutlicht die völlige Hoffnungslosigkeit der Welt nach dem Krieg. Dagegen nuanciert Grass in der Novelle Im Krebsgang (2002) unterschiedliche und unvereinbare Einstellungen zum Zeitgeschehen und historischen Ablauf, die zu Auseinandersetzungen führen und die Vergangenheit als unabgeschlos‐ senes Kapitel deuten. 11 Der Erinnerungsdiskurs in der Novelle sichtet den Er‐ fahrungshorizont, die persönlichen Erlebnisse, die Haltung zum Zeitgeschehen und das historische Erkenntnisvermögen von Figuren aus drei Generationen: Ursula Pokriefke, deren Sohn Paul und ihres Enkels Konrad (Konny). Paul ist Journalist und schildert die Ereignisse als Ghostwriter für einen im Hintergrund bleibenden, vom Schreiben ermüdeten Autor, der hin und wieder Anregungen gibt. Die Konturen des Geschehens, durch ständige Reflexion, Rückwendung, Blicke auf das Internet und Einschübe von kontrastierenden oder sich ergänz‐ enden Handlungszügen retardiert, sind zeitlich verankert im Mord an Wilhelm Gustloff am 4. Februar 1936 in Davos, der Torpedierung der „Wilhelm Gustloff “ durch das russische U-Boot „S 13“ am 30. Januar 1945 in der Nähe der Stolpebank und der vorsätzlichen Tötung Wolfgang (David) Stremplins durch Konrad am 20. April 1997. Der Erzähler betont mehrmals das von ihm geschaffene Netz historischer Bezüge auf Hitlers Leben (* 20. 4. 1889; Reichskanzler 30. 1. 1933; Selbstmord 30. 4. 1945). Die Erzählung versucht die Ursachen von Ereignissen zu verstehen, die sich immer wieder der Sinndeutung entziehen. Der Erzähler unterbricht seinen Be‐ richt deshalb ständig mit Hinweisen auf seine Verunsicherung. Das historische Geschehen überfordert das Aufnahmevermögen: „ich stelle mir vor - nicht 1. Einführung 21 faßbar - niemand weiß, was endgültig geschah - muß eine Legende ein‐ schieben - was ich von mir weg krebsend tue, ziemlich nahe der Wahrheit beichte - so ungefähr ist es gewesen - mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straßenrand - ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben - über 4500 Kinder, Säuglinge, Jugendliche, Köpfe im Wasser, Bein‐ chen in der Luft - eine Null am Ende mehr oder weniger, was sagt das schon - in Statistiken verschwindet hinter Zahlenreihen der Tod - ich kann nur be‐ richten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist.“ Im Verlauf solcher Beobachtungen, die den Wahrheitsgehalt authentischer Be‐ richte befragen, entsteht ein Gespräch mit der Vergangenheit, der Gegenwart und dem Lesepublikum. Außerdem vertieft Grass das abgestufte, krebsende Er‐ zählverfahren, indem er die Figur des „Alten“ einführt. Der Alte bleibt im Hin‐ tergrund. Er hat Paul als Ghostwriter angestellt, der „stellvertretend“ ein Ge‐ schehen berichtet, über das die Beteiligten schwiegen. Der Alte hat sich „müdegeschrieben“ und gesteht, dass er sich dieser Aufgabe „seiner Generation“ entzogen hat. „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen … dürfen.“ (99) Neben dem Alten führt Grass Figuren ein, die im Text durch ihre Verwicklung in das Zeitgeschehen von 100 Jahren und ihre persönliche Entwicklung reprä‐ sentativ wirken, aber keineswegs „außergewöhnlich“ sind. Wir hören von Wil‐ helm Gustloff, der 1895 in Schwerin zur Welt kommt, 1917 nach Davos reist, um ein Lungenleiden zu kurieren, dann in der Schweiz bleibt und scheinbar bür‐ gerlich bescheiden lebt. Er tritt in die NSDAP ein, wird Landesgruppenleiter, wirbt in der Schweiz unter den dort lebenden Deutschen und Österreichern für die Partei und wird am 4. Februar 1936 in seiner Wohnung in Davos von dem Juden David Frankfurter erschossen. Die Entrüstung in der deutschen Presse ist enorm; die deutsche Regierung sendet einen Sonderzug, der Gustloff nach Schwerin „heimführt“. Fortan wird er als Opfer jüdischer Meuchelmörder hoch geehrt; ein Denkmal wird gebaut und ein KDF -Schiff nach ihm benannt. David Frankfurter, 1909 in Serbien geboren, lebt und studiert in Deutschland, befindet sich aber zeitweilig in der Schweiz zur Kur seiner chronischen Knochenmark‐ vereiterung. Er begründet seine Tat mit der Feststellung: „ich bin Jude.“ Er wird im Gerichtsverfahren zu 18 Jahren Zuchthaus und anschließendem Landesver‐ weis verurteilt. Er gesundet im Gefängnis und wandert nach dem Kriegsende nach Israel aus. Der Erzähler Paul Pokriefke kommt am 30. Januar 1945 zur Welt. Die „dra‐ matisch-alltägliche“ Geburt, Minuten nachdem seine hochschwangere Mutter von dem torpedierten Schiff „Wilhelm Gustloff “ gerettet wurde, verknüpft sein 1. Einführung 22 Leben mit der Gustloff-Legende. Sein Vater bleibt unbekannt; die Mutter hat ihn vergessen, will nicht über ihn sprechen und verwechselt ihn möglicherweise mit einem anderen Mann. Paul wächst in der DDR auf, setzt sich aber nach Westberlin ab und studiert Germanistik. Er wird von seinem „möglichen“ Vater finanziell unterstützt und arbeitet als Journalist für Springers „Morgenpost“. Paul verfertigt Sachberichte und schreibt über alles, auch über „Nie wieder Auschwitz“, aber nie über die „Gustloff “, denn das Thema war jahrelang nicht diskussionswürdig. Paul heiratet und hat einen Sohn. Seine Frau trennt sich von ihm und zieht mit dem Sohn Konrad in den Westen. Nach der Scheidung be‐ trachtet sich Paul als „lebensversehrten“ Versager. Die Mutter, Konrads Großmutter, Ursula (Tulla) Pokriefke ist eine Virtuosin der Anpassung an politische und gesellschaftliche Umstände. Sie überlebt; ist zufrieden und voller Widersprüche, die sie selbst nicht empfindet. Sie erinnert sich an die Nazizeit, die „gute Seiten“ hatte und denkt mit Freude an die „schöne“ Fahrt auf dem KDF -Schiff „Gustloff “. Sie wird Tischlerin und Leiterin einer Tischlerbrigade in der DDR . Sie ist überzeugte Kommunistin und zündet eine Trauerkerze an, als Stalin stirbt. Trotzdem macht sie keine Schwierigkeiten, als sich Paul nach Westberlin absetzt. Sie hat außergewöhnlichen Einfluss auf Konrad und vermittelt ihm Ansichten über die Vergangenheit, die der Erzähler als „das unbeirrbare Gequassel des Ewiggestrigen“ charakterisiert. Aber Tullas Gerede, das ihre enge Verflechtung mit dem Schiff, der Torpedierung und der Schiffslegende herausstellt, beeinflusst nachdrücklich Konrads Leben. Als Konrad (Konny) seine Großmutter nach dem Mauerfall in Schwerin besucht, erzählt sie ihm erregende Geschichten aus der Vergangenheit. Für Konrad lebt die Vergangenheit nicht nur auf, er will sie rehabilitieren. Nachdem ihm Tulla einen Computer schenkt, konzentriert er sich auf den Fall Gustloff, den er „richtig stellen“ muss. Durch sein unablässiges Bemühen wird „Gustloff “ eine Internet-Sensation. Die Berichterstattung schließt ein: Stapel‐ lauf, Lobesreden, Nachrichten über Robert Ley, Urlauber- (Kraft durch Freude), Lazarett-, Ausbildungs-, Truppentransport- und schließlich Flüchtlingstran‐ sportschiff, Torpedierung durch ein russisches U-Boot, dessen Kapitän Ale‐ xander Marinesko kurz erwähnt wird, und schließlich Erinnerungsfeiern der Überlebenden. Währenddessen debattieren zwei junge Menschen auf der Web‐ site www.blutzeuge.de alle mit dem Untergang der „Gustloff “ verknüpfbaren Gedanken. Ihre Meinungen sind hart, kompromisslos und unvereinbar. Konny vertritt die Ehre deutscher Vergangenheit; sein Gesprächspartner David ist Für‐ sprecher des Judentums und versucht, Konnys Ansichten zu widerlegen. Paul verfolgt die Debatten und erkennt, dass sein Sohn der „schiffskundige“ Germane ist, beurteilt aber das Schreiben Konnys als „harmlos kindisches Zeug, das er als 1. Einführung 23 Cyberspace-Turner von sich gab“ (88). Er erkennt auch hinter Konnys Feststel‐ lungen das Gerede Tullas. Was er nicht erwartet, was niemand ahnt, ist das unerhörte Ereignis der Novelle. Konrad schlägt David vor, sich zu treffen. Er erschießt David bei der Begegnung am 20. April 1997. Er handelt aus innerer Notwendigkeit: Die Stimme des Feindes muss zum Schweigen gebracht werden. Das Gerichtsverfahren ergibt, dass David eigentlich Wolfgang heißt, kein Jude ist, aber alles Jüdische hoch verehrt. Er leidet unter schweren Schuldvorstel‐ lungen und verlangt Sühne vom deutschen Volk. Er hat kein Verständnis für die Meinung seiner Eltern, die finden, „irgendwann müsse Schluß sein mit den ewigen Selbstanklagen.“ Dieser Sachverhalt ändert Konnys Meinung nicht. Er wird mit 7 Jahren Jugendhaft bestraft. Die Eltern können Konrad nicht ver‐ stehen. Dagegen debattieren andere die Schuldfrage weiterhin auf einer neuen Webseite Kameradschaft-konrad-pokriefke.de. Sie kennzeichnen seine Haltung als vorbildlich. Was bleibt: eine unabgeschlossene Auseinandersetzung, an der jede Genera‐ tion mitwirkt und in der alle ihren Erfahrungshorizont erweitern. Die Gegen‐ sätze bestehen fort. Die Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, stößt auf das ständige Bemühen, die Vergangenheit zu begreifen. 1. Einführung 24 1 Vgl. Astrid Erll. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stutt‐ gart: Metzler, 2005; E. Bruce Goldstein. Wahrnehmungspsychologie. Heidelberg: Spektrum, 2002; Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.). Dimensionen ästhetischer Er‐ fahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003; Ed Lein und Mike Hawrylycz. „The Genetic Geography of the Brain“, in: Scientific American 310, Nr. 4 (2014). 71-77; Hans-Joachim Markowitsch. Dem Gedächtnis auf der Spur. 2. Aufl. Darmstadt: Primus, 2005. 2 Vgl. dazu Goethes Beobachtungen in Wilhelm Meister und Maximen. Jarno betont die individuelle Orientierung zum anderen, die es erst ermöglicht, sich selbst zu erkennen. Man müsse lernen, „um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmä‐ ßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern.“ Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Hg. Eduard von der Hellen. Stuttgart: Cotta, 1902-1912. Bd. 18. 255-256 und scharf akzentuiert: „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“ Maximen und Reflexionen. Ibid. Bd. 4. 212. 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 2.1. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive Fragen der Begriffsbestimmung von Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinne‐ rung führen in Literatur und Kritik seit 1945 zu theoretischen Ermittlungen und Überlegungen, die im Handlungsverlauf von Erzählungen anklingen. Die Prob‐ lematik eine wie auch immer ausgeprägte Realität sprachlich ausdrücken zu können, führt zuweilen dazu, theoretische Ansätze aus den Geisteswissen‐ schaften in literarische Texte einzubauen oder naturwissenschaftliche Erkennt‐ nisse unbefragt zu übernehmen. Die in den vorliegenden Ausführungen be‐ sprochenen Autor(inn)en stimmen darin überein, dass jede Wahrnehmung auf der bewussten und auch unbewussten Aufnahme von sinnlichen und geistigen Eindrücken basiert. Die Eindrücke werden sinnvoll zu einer Wahrnehmungs‐ einheit gestaltet und im Gedächtnis bewahrt. 1 Die Wahrnehmung wurzelt in Erleben, Handeln, Betrachten und Reflektieren. Jedes Erleben erfasst eine sinn‐ liche und geistige Reaktion auf das, was uns in Natur und Gesellschaft umgibt und auch auf Ereignisse im Leben. Das Handeln kann in instinktiven Reaktionen gründen, die besonders in der Kriegsthematik geschildert werden. Der Begriff kennzeichnet jedoch ferner jedes bewusst überlegte Verhalten zur Umwelt und bildet die Voraussetzung zu möglicher Selbst- und Welterkenntnis. 2 3 Christoph W. Aigner. Anti Amor. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1994. 4 Die Debatten über deutschsprachige Gegenwartsliteratur weisen nicht nur hin auf postmoderne, neuromantische, magisch-realistische und minimale Tendenzen, sondern unterstreichen auch diesen Sachverhalt. Vgl. dazu die Beiträge in Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.). Maulhelden und Königskinder. Leipzig: Reclam, 1998; und Hubert Winkels „Zur deutschen Literatur 1998“, in: Volker Hage, Rainer Moritz, Hubert Winkels (Hg.). Deutsche Literatur 1998. Jahresüberblick. Stuttgart: Reclam, 1999. 5-22. Winkels unter‐ scheidet zwischen Texten, die an der historischen Aufarbeitung der Vergangenheit teil‐ haben (Erinnerungsliteratur) und Texten, die experimentieren und neue Wege als „Spät-Post-PopHipHop-Moderne“ (22) gehen. 5 Der Spiegel, 2. 11. 1998. 48-72. Das Gedächtnis ist sowohl individuell als auch kollektiv eingefärbt. Es erfasst den Augenblick des Geschehens, die Zeitspanne eines Eindrucks, die konkrete Reaktion auf eine Begebenheit und die festgehaltene Sensation, welche unter‐ schiedliche Sinneseindrücke zu einer Einheit verschmilzt. Die gespeicherten und geordneten Eindrücke initiieren außerdem bewusste Lernprozesse. Der Vorgang beeinflusst die Bewusstseinslage von Individuen und Figuren in Texten und schafft die Voraussetzung für die unterschiedlichsten literarischen Gestal‐ tungen. Beispielsweise erfährt der Erzähler, ein Physiker, in Christoph Aigners Anti Amor (1994), wie komplex abgründig jede Wahrnehmung ist. Sein Gegen‐ spieler, Theseider, reduziert die ideelle, ideale klassische Liebesvorstellung und sittliche Neigung auf rein biologische Vorgänge. Beide bezweifeln schließlich jede Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis. Scharfsinn und Spekulation, Phantasie und Wahn stehen zuletzt gleichberechtigt nebeneinander in der im Text postulierten immer „werdenden und vergehenden Welt.“ 3 Ein in der Erinnerung kritisch beleuchteter Eindruck kann tradierte oder kol‐ lektive Vorstellungen übernehmen und das Ereignis zu einer neuen, authentisch wirkenden Einheit verbinden. Dieser Vorgang führt zu Verunsicherungen in Tatsachenberichten und Aussagen von Augenzeugen. Er ist Ausgangspunkt für Erkundungen zahlreicher Autor(inn)en in Bestandsaufnahmen der Vergangen‐ heit. Darüber hinaus beleuchten die Realismus-Diskussionen (sozialistischer, klinischer, magischer Realismus) und die Literaturkrisis-Debatten das Wechsel‐ verhältnis von Stileigenheiten und Wahrnehmung, Erinnerung und politischen oder ästhetischen Überzeugungen. 4 Augstein und Walser versuchten 1998 in einem kritischen Gespräch die Beschaffenheit der Erinnerung zu bestimmen. Ihr Meinungsaustausch „Erinnerung kann man nicht befehlen. Martin Walser und Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit“ 5 verdeutlicht in Fest‐ stellung, Frage und Gegenfrage, wie beide im Rückblick ihr Handeln und ihre Unterlassungen häufig so deuten, dass sie ihrem gegenwärtigen Erfahrungsho‐ rizont entsprechen. Beide suchen die Wahrheit, unterbrechen aber ihre Be‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 26 6 Die Problemstellung wird sorgfältig untersucht und eingehend erörtert in Aleida Ass‐ mann. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Mün‐ chen: Beck, 1999. 265-297. 7 Martin Walser. Prosa. In: Werke in zwölf Bänden. Hg. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. Bd. 8. 265-267. Hier 265. obachtungen durch kritische Einwände, in denen deutlich wird, dass nicht alles so verlaufen sein kann, wie sie es in ihrer jetzigen Erinnerung im Gedächtnis haben. Beispiele: „Walser: Bist du sicher? … Das halte ich für die nachträgliche Inszenierung eines Films. Augstein: Ich weiß es noch. Sonst hätte es sich mir ja nicht eingeprägt. … Walser: Und das hast du dir gemerkt? Da warst du erst zehn.“ Walser fasst nach: „Das hast du nicht gesagt, jetzt verklärst du irgend etwas. … Du wußtest doch nicht, wer Lovis Corinth ist und daß man die Bilder verkaufen muß. Gib zu, das hat dein Vater gesagt, Rudolf! “ Augstein betont die Ablehnung Hitlers in seiner Familie, die politisch wach erscheint; darauf Walser: „Du bist gleich auf der SPIEGEL -Seite der Welt geboren worden. … Rudolf, du bist wirk‐ lich der beste, schönste, liebenswürdigste, ungefährdetste Roman …, den ich je gelesen habe. … Mit der Wirklichkeit kann es nichts zu tun haben.“ Darauf Aug‐ stein: „Es ist erlebte Wirklichkeit, nicht geschönt.“ Walser ist überzeugt davon, dass jeder bewusste Rückblick die Vergangenheit verändert. Das Gespräch weist hin auf die Problematik „falscher“ Erinnerungen, die subjektiv als wahr, un‐ trüglich, wirklich empfunden werden, aber objektiven Tatsachen widerspre‐ chen. 6 Walser unterscheidet zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Gedächtnis ist faktisch; es erfasst Einzelheiten, die etwas genau bestimmen (ein Lehrer stolpert im Klassenzimmer; der Pfiff eines Freundes; ein Bild an der Wand im Wohn‐ zimmer), aber keine größeren Zusammenhänge herstellen. Walsers Skizze „Ein Jahr und das Gedächtnis“ setzt mit der Beobachtung ein: „Das Gedächtnis, un‐ sere große Unfähigkeit: ein Haus, das unser eigen ist, aber wir haben nichts zu sagen darin.“ 7 Darauf folgen vorbeifliegende politische und gesellschaftliche Pressenachrichten und persönliche Eindrücke eines Jahres. An sie schließt die Frage an, ob das Ganze lediglich ein Angebot ist, aus dem sich das Gedächtnis nur aussucht, was ihm gefällt. Möglicherweise kann das Gedächtnis „Steine blühen lassen“ oder sich vertraut machen mit der endgültigen „Redaktion aller Communiqués.“ (267) Gedächtnis ist sicherlich in fiktiven Dokumentationen von Kriegserfahrungen stark mit Appellen an die Einfühlung der Leser ver‐ knüpft. Erinnerung dagegen ist gestaltetes Gedächtnis; sie stellt Assoziationen her, schafft Überblicke, vermittelt Einsichten, die auch anderen nachvollziehbar werden. Sie erweckt in Texten Sympathie; sie ist eine kritisch besonnene Rück‐ schau. Erinnerung ist letztlich geistig literarisch. Sie ist das, was Hesse im Ka‐ 2.1. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive 27 8 Ders. Werke. 5. 283-284. pitel „Die Berufung“ (Das Glasperlenspiel, 1943) schildert, wenn er darauf hin‐ weist, Knecht habe in seinem Denken zwischen „legitimen“ und „privaten“ Assoziationen in der Gestaltung eines Spieles unterschieden. Zur Erläuterung führt der Erzähler das Beispiel eines abgeschnittenen Holunderblattes an. Der Geruch des Blattes zusammen mit der Erinnerung an ein Schubertlied „Die linden Lüfte sind erwacht“ ergibt eine Assoziationskette, die „Frühling“ ins All‐ gemeine, Typische erhöht. Im dritten Kapitel der Novelle Ein fliehendes Pferd (1978) findet sich ein auf‐ schlussreicher Hinweis auf die Walser ständig beschäftigende Ermittlung des Zusammenspiels von Gedächtnis und Erinnerung. Der Stuttgarter Studienrat Helmut Halm denkt über den plötzlich in seinem Leben aufgetauchten Klaus Buch und dessen Rekonstruktion seiner Vergangenheit nach. Der Erzähler stellt fest: „Helmut begriff allmählich, daß dieser Klaus Buch für einige ihm teure Jahre seines Lebens keine Zeugen mehr gehabt hatte. Und gerade aus diesen Jahren wollte er offenbar überhaupt nichts verlorengehen lassen. Zur Wiedererwe‐ ckung des Gewesenen brauchte er einen Partner, der zumindest durch Nicken und Blicke bestätigte, daß es so und so gewesen sei. Ohne diesen Partner könnte er gar nicht sprechen von damals. Helmut sah, daß er es mit dem Kriegskame‐ radenphänomen zu tun hatte. Er kannte diesen Wiedererweckungsfanatismus nicht. Jeder Gedanke an Gewesenes machte ihn schwer. Er empfand eine Art Ekel, wenn er daran dachte, mit wieviel Vergangenheit er schon angefüllt war.“ 8 Nach kurzem Nachdenken folgt der Satz: „Meistens wußte dieser Klaus Buch allerdings so genau Bescheid über das, was gewesen war, daß Helmut erschrak.“ (284) Helmut ist bestürzt und spürt Neid, weil sein Gedächtnis zwar mit Namen und Eindrücken angefüllt ist, aber keine erkennbare Form hat. Er kann das „Erzählbare“ nicht fassen. „Die Namen und Gestalten, die er aufrief, erschienen. Aber für den Zustand, in dem sie ihm erschienen, war tot ein viel zu gelindes Wort.“ (284) Für Klaus Buch dagegen lebt das Vergangene in einer „Pseudoanschaulichkeit“ auf, die alles Vergangene verleugnet und in plastischer Fülle vergegenwärtigt. „Bei Klaus Buch rollte es nur so von Tönen, Gerüchen, Geräuschen; das Vergangene wogte und dampfte, als sei es lebendiger als die Gegenwart.“ (285) Walser lässt der Sprache freien Lauf, um in einer Fülle von Eindrücken die formlose Vergangenheit im gegenwärtigen Gedächtnis festzu‐ halten und zugleich kritisch zu ironisieren. Demgegenüber versichert Jurek Be‐ cker 1997 in einem Interview, dass in seinem „Unbewußten“ Eindrücke des Ver‐ gangenen existieren. Aber auf die Frage, ob ihn seine Kindheit im Ghetto beeinflusst habe, antwortet er: „Das kann ich nicht sagen. Das müßte ein Psy‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 28 9 „Das ist wie ein Gewitter“, in: Der Spiegel, 24. 3. 1997. 211. 10 Monika Maron. Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt a. M.: Fischer, 1999. 7. chiater rauskriegen. Ich habe keine Erinnerung daran. Ich kann Ihnen nichts über das Ghetto erzählen. Ich habe es vergessen - so als wäre es nie gewesen.“ 9 Er fährt fort mit der Feststellung, dass er sich zuerst intensiv mit der Vergan‐ genheit beschäftigte, als er Material für seine Erzählungen sammelte. Dass die Konzentration auf Details, besonders wenn ein Autor alles „genaugenommen“ festhalten will, zu wuchern beginnt und die Gesamtdarstellung trüben kann, wird in der Erinnerungsdiskussion in Klaus Schlesingers Die Sache mit Randow (1976) deutlich. Die als Kriminalroman angelegte Erzählung beschreibt den Pro‐ zess gegen die Randow-Bande und den Mörder Randow. Sie verdeutlicht jedoch außerdem in detaillierten Einzelheiten das Leben in der DDR , fängt das Berliner Lokalkolorit und die damaligen Unterhaltungen der Einwohner ein und bietet viele lesenswerte Kurzporträts. Konkrete Hinweise auf die allgemeine Situation machen die Zeitumstände auch jungen Lesern verständlich, die der geschil‐ derten Zeit bereits fernstehen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart ist einge‐ hender in den Schilderungen von Maron, Ortheil und Hilbig. Im Erzählverfahren Marons wird deutlich, was auch die Erzählungen von Ortheil und Hilbig prägt und was bereits Soziologen wie etwa Maurice Halbwachs und Karl Mannheim in ihren Schriften feststellten: Die Erinnerung an Vergangenes wird von der gesellschaftlichen Umwelt mitbestimmt. Individuelle und kollektive Erinne‐ rungen hängen von den zeitbedingten, zurückliegenden und gegenwärtigen Umständen ab. Dieser Sachverhalt tritt besonders deutlich in Marons Pawels Briefe hervor. Der konkrete Anlass der Suche nach der vergangenen und ver‐ gessenen Zeit ist die Umfrage eines holländischen Fernsehteams, das 1994 nach Berlin kommt, um die Haltung der Deutschen zur Vergangenheit zu dokumen‐ tieren. Die Autorin beginnt die Erzählung mit Fragen: Warum jetzt diese Ge‐ schichte schreiben? Die Lebensläufe gehören der Vergangenheit an. Wie ent‐ stand das Gefühl, sich „rechtfertigen zu müssen“? Warum etwas festhalten, das „wenig sicher ist“? 10 Was ist Erinnerung? Wie ist sie beschaffen? „Erinnern ist für das, was ich mit meinen Großeltern vorhatte, eigentlich das falsche Wort, denn in meinem Innern gab es kein versunkenes Wissen über sie“. (8) Darüber hinaus erwägt Maron die Möglichkeit, dass das ganze Vorhaben ein Versuch sei, dem eigenen Leben Sinn zu geben oder es geheimnisvoll zu gestalten. Die entstehende Familiengeschichte vermittelt Einblicke in das Leben von drei Generationen. Sie schildert die Herkunft, den Existenzkampf und den Tod des Großvaters Pawel Iglarz, eines zum Baptismus konvertierten Juden aus 2.1. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive 29 Polen, der sich mit seiner Frau Josefa in Berlin niederlässt, um dort als Schneider eine sorgenfreie Existenz aufzubauen; die Großeltern werden 1939 nach Polen ausgewiesen und kommen nach kurz befristetem Dasein im Ghetto im Kon‐ zentrationslager um. Die Geschichte beschreibt ferner die Kindheit der Mutter Hella und ihre Entwicklung zu einer überzeugten Kommunistin; sie erfasst das Aufwachsen und die kritische Meinungsbildung von Monika im Hause der Mutter und des Stiefvaters Karl Maron, des DDR -Innenministers von 1955 bis 1963. Das besondere Kolorit dieser alltäglichen Geschichten entspringt den Be‐ obachtungen der Beteiligten, ihren Versuchen, das Geschehen zu verstehen, es selbst zu verklären, und der ständigen Befragung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Maron schildert die Auswirkungen des politischen Geschehens auf die Großeltern als ein von unkontrollierbaren Mächten gesteuertes Schicksal. Gleichzeitig bezweifelt sie die Vorstellung von undeutbaren Mächten und lehnt jeden Mythos des Vergangenen ab. Marons Verunsicherung ist persönlich und bestimmt zugleich die Zweifel der Erzählerin, die sich fragt, ob es überhaupt möglich ist, eine objektiv-kritische Schilderung des Vergangenen zu geben. Die Darstellung der Auswirkungen des politischen Geschehens der NS -Zeit, der DDR -Jahre und der Wende auf die Be‐ troffenen erfasst widersprüchliche Auffassungen: man musste sich anpassen; man wollte überleben; das Schicksal ist undeutbar; man wurde aufgerufen, ver‐ antwortlich zu handeln. Der Rückblick hält eine Szene fest, in der die Mutter nach alten Fotos sucht und auf einen Karton mit Briefen des Großvaters aus dem Ghetto und Antwortbriefen der Kinder stößt. Die Mutter ist verwirrt, kann sich nicht erinnern, diese Briefe gelesen oder geschrieben zu haben. Maron stellt fest: „es war unmöglich, daß sie die Briefe nicht gelesen hatte, so wie es unmöglich war, daß sie die in ihrer eigenen Handschrift nicht geschrieben hatte.“ (10) Die Erkenntnis, dass sich die Mutter an den Briefwechsel, „in dem es um ihr Leben ging, nicht erinnern konnte“ (11), verbunden mit der Tatsache, dass jedes Ver‐ gessen in der öffentlichen Meinung gerade zu einem Synonym für Verdrängung und Lüge geschrumpft“ (11) war, leitet Reflexionen über Gedächtnis, Erinnern, persönliche und historische Wahrheit, Dokumentation und Authentizität ein, welche die gesamte Darstellung prägen. Diese Überlegungen sind nicht nur maßgebend für die Schilderung des Lebens der Großeltern und der Mutter, son‐ dern bestimmen auch Marons Bestandsaufnahme ihres eigenen Lebens. Besonders aufschlussreich sind Marons Zweifel angesichts ihrer eigenen Ver‐ gangenheit. Beim Nachdenken über ihre 1995 im „Spiegel“ enthüllte Beziehung zum MfS gerät sie schließlich in ähnliche Verwirrung wie ihre Mutter. Sie ist überzeugt davon, dass ihr Kontakt, der der Stieftochter des DDR -Innenministers Karl Maron, mit der Stasi nichts als eine „kuriose und komische Episode“ war. 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 30 11 Lothar Bluhm in Wehdeking, Mentalitätswandel. 141-151 findet, dass diese Denkform eine „Praxis der Toleranz“ zu politischen und historischen Entwicklungen zeitigt, die eine „gewisse Verbindlichkeit und Vorbildlichkeit beanspruchen kann.“ Dem wäre hin‐ zuzufügen, dass sich die Denkform auch bei Ortheil nachweisen lässt. 12 Vgl. Monika Maron. Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft. Frankfurt a. M.: Fischer, 1993. 21: „Während die einen von ihren Eltern Antworten auf Auschwitz und Buchen‐ wald verlangten, waren für uns die Fragen nach dem Archipel Gulag und nach Bautzen schon hinzugekommen.“ Sie ist „nicht sonderlich stolz“ auf die Rolle, die sie gespielt hat, sieht aber auch keinen Grund, sich zu schämen, denn sie hatte die Konsequenz aus ihren Irrtü‐ mern bereits vor vielen Jahren gezogen. Besonders beachtenswert wirkt Marons Geständnis ihrer zunehmenden Verunsicherung, als ein Fernsehredakteur sie beschuldigt, einen Bericht über ihre beste Freundin für die Stasi verfasst zu haben. „Es war unmöglich, trotzdem begann ich, mir Situationen auszudenken, in denen ein Mensch etwas tun könnte, ohne später davon zu wissen … Es gab eine Stunde, in der ich bereit war, alles für möglich zu halten … wenn es das gibt, daß einer außerhalb seiner selbst ist und dann nichts mehr davon weiß.“ (200) Maron spricht hier die völlige Verunsicherung der Menschen in einem Staat an, in dem jeder nicht nur ständig überwacht wird, sondern auch selbst schließlich daran teil hat, eine Situation, die Hilbig in Ich (1993) und Eine Über‐ tragung (1989) verfolgt. Aus dieser Sicht, in der jedes Erinnern in kritisches Nachdenken, Befragen und Neubesinnen übergeht, entsteht eine Denkform der fortgesetzten Reflexion, in der das Vergangene im Gegenwärtigen aufgehoben ist und zugleich das Zu‐ künftige mitdenkt. 11 Deshalb endet das Buch konsequent mit einem Blick auf unsere Tage. Die Erzählerin erträgt, dass ihre Mutter Mitglied der PDS ist, so wie diese sich damit abgefunden hat, dass ihre Tochter „Antikommunistin“ wurde. „Morgen werde ich sie anrufen, oder übermorgen … heute jedenfalls noch nicht.“ (205) 12 Von ausschlaggebender Bedeutung ist die von nahezu allen Autor(inn)en erwähnte Eigenheit persönlicher Erinnerungen: beim Rückblick entstehen Angstzustände. Erfahrungen aller Art - irgend etwas schwer Bedrü‐ ckendes, wirklich Erfahrenes, manches gehört oder gelesen und verinnerlicht - trüben die Erinnerung. Sie erregen Unruhe und Schrecken. Im Rückblick auf ihre Kindheit, der Fragestellung Marons vergleichbar, kommt Christa Wolf in Kindheitsmuster (1976) immer wieder auf das Problem zurück, wie eine Situation entstehen konnte, in der Menschen nicht nur gleich‐ gültig wurden, sondern auch niemals die richtigen Fragen stellen konnten und nichts mehr wissen wollten. Sie betont den Verlust fester Normen und die Hilf‐ losigkeit der Menschen in den Kriegsjahren, die jede sinnvolle, freie Entwick‐ lung individueller Eigenschaften verhinderte. Wolf charakterisiert mit ihrer 2.1. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Retrospektive 31 13 Günter Grass. Nobelvorlesung 1999 „Fortsetzung folgt …“, in: PMLA 115 (2000). 300-309. Feststellung die Haltung von Mitläufern, Nischenstehern, „Nicht-Betroffenen“ und allen, die wie Grass findet am Rande stehen. „Auch daß Schriftsteller - was ihres Berufes ist - die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, zu schnell vernarbte Wunden aufreißen, in versiegelten Kellern Leichen ausgraben, ver‐ botene Zimmer betreten, heilige Kühe verspeisen oder wie Jonathan Swift es getan hat, irische Kinder als Rostbraten der herrschaftlich englischen Küche empfehlen, ihnen also generell nichts, selbst nicht der Kapitalismus heilig ist, all das macht sie anrüchig, strafwürdig. Ihr schlimmstes Vergehen jedoch bleibt, daß sie sich in ihren Büchern nicht mit den jeweiligen Siegern im historischen Verlauf gemein machen wollen, sich vielmehr dort mit Vergnügen herum‐ treiben, wo die Verlierer geschichtlicher Prozesse am Rande stehen, zwar viel zu erzählen hätten, doch nicht zu Wort kommen.“ 13 Die vorliegende Darstellung erschließt, dass eigentlich alle, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 lebten, betroffen sind. Auseinandersetzungen dieser Art entsprechen den Erwartungen der Leser in autobiographisch eingefärbten Kindheitserinnerungen, in historisch oder ge‐ sellschaftskritisch entworfenen Romanen, wie etwa Grass’ Ein weites Feld (1995) oder Erzählungen, die die persönliche Entwicklung Einzelner nach 1945 schil‐ dern. Sie wirken dagegen überraschend und geben den Texten ein besonderes Kolorit, wenn sie entweder unvermittelt auftreten oder gegenwärtige Famili‐ enverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen beleuchten, deren besondere Ei‐ genart darin besteht, dass sie von der deutschen Vergangenheit geprägt wurden (wie etwa in Jurek Beckers Amanda herzlos, 1992; Herta Müllers Der Fuchs war damals schon Jäger, 1992 oder Herztier, 1994; Gerlind Reinshagens Zwölf Nächte, 1989 oder Jäger am Rand der Nacht, 1993; und selbst Birgit Vanderbekes Das Muschelessen, 1990). 2.2. Abrechnen - Verstehen Erzählungen und Bühnenstücke, die Einblicke in das historische Geschehen aus der Perspektive der Betroffenen vermitteln, betonen nahezu ausnahmslos die Schwierigkeit, im Überblick ein Verständnis der Vergangenheit zu gewinnen. Sie thematisieren Ahnungslosigkeit, Dabeistehen, Schweigen, Wissen, Verfeh‐ lung, Tat und Sünden der Unterlassung. Die Aufarbeitung führt aus der Zeit der Weimarer Republik und der Kriegsjahre über die Zeit des getrennten Deutsch‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 32 lands bis in die Gegenwart. Aus der lebendig-bunten, wechselnden Folge der Schilderungen entsteht die Voraussetzung für einen Überblick der Vergangen‐ heit, der die Grundlage für ein Verständnis der Geschichte bildet. Die Erzäh‐ lungen (Romane, Novellen, Kurzgeschichten, Genrebilder), Interviews und De‐ batten der Autor(inn)en der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen von 1945 bis 1985 haben sowohl die Erinnerung an Nationalsozialismus, Holocaust und Krieg als auch die Deutungsmuster der Vergangenheit maßgebend geprägt. Trotz einer scheinbar faktisch abgesicherten Grundlage sind die darauf aufbauenden, kulturell erworbenen Bewusstseinsbilder literarische Erkundungen. Sie sind ei‐ nerseits individualisiert, da Erzählungen die Ereignisse aus der Perspektive und Erlebnissphäre Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen Erzählverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Gene‐ ration, die manchmal zu Familienzerwürfnissen führen. Fragen, Dialoge und Selbstgespräche erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Geschichtsverständnis anbahnt. Die politischen Debatten über Kollektivschuld, Verbrechen, Nazi-Opfer, Holocaust, Schlussstrich, geteiltes Deutschland, Wie‐ dervereinigung und Leiden einer verführten Generation kommen in den Dar‐ stellungen zu Wort. Die Vergangenheit spricht immer mit, wenn Autor(inn)en literarische Figuren entwerfen, die über sich nachdenken und ein persönliches Selbstverständnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen Selbstver‐ ständnis trennen lässt. Die ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit setzen Zeichen, sind richtungsweisend und schaffen in Gestaltungen des themati‐ sierten Krieges und den damit verknüpften typischen Motiven der Todesfahrt, der verkehrten Welt, des Chaotischen, der Umwertung von Farben wie etwa schwarzer oder roter Schnee, der rauchenden Gaskammern und Stimmen im Wind die Voraussetzung für eine Tradition, die bis heute fortbesteht. Sie stellen keine Versuche einer umfassenden historischen Aufarbeitung dar. Sie vertreten mit Ausnahme der aus der Emigration in die sowjetische Besatzungszone und spätere DDR heimgekehrten, engagierten Schriftsteller keine eindeutige politi‐ sche Einstellung. Was vorherrscht ist ein Misstrauen gegenüber jeder Politik, eine allgemein demokratische Haltung und die Hoffnung auf einen neuen An‐ fang. Wichtig ist das zentrale Anliegen, die jüngste Vergangenheit mit einer neuen Sinnstiftung zu konfrontieren. Das Gestern erscheint im Spiegel des An‐ dersseins, das im Gegensatz zu den Rückgriffen auf die Antike nicht vorbildlich wirkt, sondern kritische Distanzierung fordert. Das Individuum wird aufge‐ rufen, im Willen zum Mitleben eine neue lebenswürdige Grundlage des Daseins zu schaffen. Aichinger, Apitz, Böll, Bredel, Borchert und Celan rechnen ab und 2.2. Abrechnen - Verstehen 33 14 Vgl. Ilse Aichinger. Die größere Hoffnung (1948); Bruno Apitz. Nackt unter Wölfen (1958); Heinrich Böll. Kriegserzählungen und Romane; Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür und Erzählungen (1948); Willi Bredel. Verwandte und Bekannte: Die Väter (1941), Die Söhne (1949), Die Enkel (1953); Jurek Becker. Jakob der Lügner (1969); Johannes Bo‐ browski. Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater (1964); Paul Celan. Der Sand aus den Urnen (1948); Rolf Hochhuth. Der Stellvertreter (1963), Die Berliner Antigone (1967); siehe ferner: Reinhard Baumgart. Hausmusik. Ein deutsches Familienalbum (1962); Mosheh Ya’aquov Ben-Gavriêl (Eugen Hoeflich). Das Haus in der Karpfengasse (1958); Milo Dor. Tote auf Urlaub (1952), Nichts als Erinnerung (1959); Manfred Gregor. Die Brücke (1958); Gerda Hagenau. Lucyna Herz (1958); Ruth Kraft. Insel ohne Leuchtfeuer (1959); Elisabeth Langgässer. Märkische Argonautenfahrt (1950); Hans Lebert. Die Wolfs‐ haut (1960); Hans Marchwitza. Die Heimkehr der Kumiaks (1952). klagen an. Die Bestandsaufnahmen verzichten auf Ambivalenz. Sie gehen von der Überzeugung aus, dass alle am Krieg Beteiligten schuldig waren. Der cha‐ rakteristische Standort der erzählenden Stimmen ist der eines Richters, der zu‐ gleich die Indizien der Anklage vorlegt. So entsteht die eigenartige Situation, dass selbst dann, wenn zentrale Figuren im Handlungsverlauf gezwungen werden ihr Versagen anzuerkennen, der Grundzug der Erzählperspektive im Ordnungsgefüge eines möglichen sittlichen Handelns verankert bleibt. 14 Die Stimmen unterscheiden klar zwischen gut und böse, Täter und Opfer, Recht und Unrecht, Schuld des Handelns und Sünden des Unterlassens. Diese Haltung bedingt eine Dialektik von Identitätsverständnis und eines möglichen Andersseins, das im Ruf an das Gewissen zu Wort kommt. Der menschlichen Identität zugeordnet ist die Freiheit und gleichermaßen die Unfreiheit des Wil‐ lens: Die Freiheit, denkend an einer Sinnstiftung des Daseins mitzuwirken, die Unfreiheit, sich im Handeln und Unterlassen den in historischem Verlauf wech‐ selnden, zeitbedingten und konkret zweckbezogenen Vorstellungen anzu‐ passen. Dem Anderssein zugeordnet ist ein Prinzip der sittlichen Ordnung und möglichen Vollkommenheit. Es ist ein Entwurf der reinen Vernunft, nicht his‐ torisch ableitbar, aber dennoch sittlich sinnstiftend im Dasein verankert. Daher zögert Aichinger nicht den Morgenstern, Apitz nicht die kommunistische Utopie und Borchert nicht Gott und den Anderen in die Texte zu übernehmen. Jedes Erkennen des Andersseins verlangt verantwortliche Entscheidungen und Selbsterkenntnis. Viele Texte schildern, wie einzelne Figuren in der Grenzsitu‐ ation des NS -Staates und der Ausnahmesituation des Krieges in Ereignisse ver‐ wickelt werden, in denen sie verantwortlich, das bedeutet im Zusammenhang der Texte grundsätzlich sittlich handeln sollten, aber in tragischer Verstrickung oft schuldig werden. Der Begriff der Verantwortlichkeit ist in der juristischen und der ethischen Sinndeutung dem Begriff der Schuld, einer möglichen Ver‐ schuldung beigeordnet. Das bedingt, selbst wenn die frühen Texte den Sach‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 34 15 Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür. In: Das Gesamtwerk. Hamburg: Rowohlt, 1959. 117-118. 16 Heinrich Böll. „Als der Krieg ausbrach“, in: Erzählungen I. München: DTV, 1965. 33. 17 Feinhals passim, in: Böll. Wo warst du, Adam? (1951) und Billard um halbzehn. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1959. 155-156. 18 Feinhals passim, in: Böll. Wo warst du, Adam? (1951) und Billard um halbzehn. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1959. 155-156. 19 Ilse Aichinger. Die größere Hoffnung. Amsterdam: Bermann-Fischer, 1948. 23. verhalt nur kurz belichten, außerordentliche Lebenskrisen. Sie kommen zu Wort, als Beckmann die schweren Folgen seiner Ausführung eines Befehls er‐ kennt, 15 wenn die Krankenschwester in Borcherts „An diesem Dienstag“ aus dem Lazarett an ihre Eltern schreibt: „Ohne Gott hält man das gar nicht durch“ (194), wenn ein Heimkehrer in Bölls „Als der Krieg zu Ende war“ monatelang darüber nachdenkt, wo „die Grenze zwischen Haß und Verachtung verläuft“, und als er sie nicht finden kann sagt: „ich wäre lieber ein toter Jude als ein lebender Deutscher“ 16 , oder wenn Feinhals und Heinrich Fähmel erfahren, dass Unterlassung und selbst der Widerstand zu menschlicher Verschuldung führen. 17 Die Krise wird zum Wendepunkt im Leben des Lokomotivführers Franz Ossadnik in Bieneks Zeit ohne Glocken. Er ist ein Mitläufer, erfüllt seine Pflicht, fährt täglich mit seinem Zug in das Vernichtungslager Birkenau und erkennt eines Tages plötzlich auf dem Bahnsteig in den auf den Abtransport wartenden Menschen seine Nachbarn und Mitbürger aus Gleiwitz. Die anonyme Menge nimmt plötzlich Gestalt an. In der Nacht sagt er seiner Frau, er habe sich frei‐ willig zum Frontdienst gemeldet, denn die Arbeit als Lokomotivführer könne er nun nie mehr tun. 18 In anderen Erzählungen erscheint die Krisensituation als Forderung, unter keinen Umständen nachzugeben, sondern zu handeln. Deshalb ringt sich Ellen in Aichingers Die größere Hoffnung zur Einsicht durch: Du musst handeln. Du musst Dein eigenes Ausreisevisum unterschreiben. 19 Nicht zu übersehen sind Dokumentationen, die in der Gegenwart die Ver‐ fehlungen der Vergangenheit wieder entdecken. Milo Dor konstatiert in der mit der Beschreibung des Lebens von Mladen Raikow verflochtenen Bestandsauf‐ nahme der Kriegs- und Nachkriegsjahre sachlich und scheinbar unbeteiligt einen Kreislauf des Bösen. Dors Technik der narrativen Umzingelung der zent‐ ralen Figur vermittelt Einblicke in Mladens Existenz durch Überlegungen zahl‐ reicher Figuren - Verwandte, Bekannte, Freunde, Beobachter und Autor. Sie findet eine exakte Parallele in der historischen Situation, in der sich nichts än‐ dert. Mladen ist eingekreist. Die Machthaber wechseln, aber Deutsche, Jugos‐ lawen, Russen, Österreicher foltern, schinden, unterdrücken und vergewaltigen ihre Opfer. Mladen, ursprünglich standhaft, ist am Ende zermürbt und völlig desillusioniert. Die Bewusstseinslage in der österreichischen Zweiten Republik 2.2. Abrechnen - Verstehen 35 20 Milo Dor. Die Raikow-Saga. München: Müller, 1979. 266. 21 Johannes Bobrowski. Lippmanns Leib. Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 1973. 53. 22 Johannes Bobrowski. Wetterzeichen. Gedichte. Berlin: Union, 1966. 45. ist eine des Vergessens und der Anpassung an die neue Wirklichkeit. Mladen weiß, dass man in Mitteleuropa heute nicht ohne weiteres Menschen umbringt, kann sich aber vorstellen, dass man „einfach Passanten zu einer bestimmten Stunde anhält, verhaftet und über den Haufen schießt.“ 20 Die Raikow-Saga ist wie Ransmayrs Morbus Kitahara ein Dokument der Resignation und trägt in der Gestaltung eines möglichen Fortbestehens der Unbelehrbarkeit der Menschen zum historischen Verständnis bei. In zahlreichen Schilderungen ist der Ruf an das Gewissen verschleiert, aber impliziert. Johannes Bobrowski ortet in einem der längsten Sätze der Literatur seiner Zeit die mit der deutschen Vergangenheit verflochtenen Themen. „Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch“ führen gezielt von den Nach‐ richten von Massenmorden an Juden über Schweigen, Verneinen, Ahnungslo‐ sigkeit, schwer deutbare Gefühle bis zur Hochzeit eines seit zwei Jahren hirn‐ verletzten Oberleutnants, der seine Braut in der Hochzeitsnacht erwürgt. Der zweite Kurzsatz beendet die Bestandsaufnahme mit einer schwer zu beantwor‐ tenden Frage: „Das eine also seit zwei Jahren, das andere seit wann? “ 21 Völlig unverkennbar ist die Aufforderung zum Mitleben mit dem anderen in Bo‐ browskis Gedicht „Ankunft.“ „Hier wird sprechen, / der vor das Tor tritt, der / Lebendige, er wird sagen: / Wer des Weges kommt, / trete herein.“ 22 Reinhard Baumgart legt in Hausmusik. Ein deutsches Familienalbum (1962) im Rahmen von zehn Geschichten der Familie Pohl eine scharfe Abrechnung mit der Ein‐ stellung der biederen Bürger zum Faschismus vor. Im Schnittpunkt des Gesche‐ hens steht die Geisteshaltung der Staatshörigkeit, des Gehorsams und der An‐ passung an die politischen Verhältnisse. Manche sind überzeugte Anhänger; andere fügen sich aus Angst. Einzelne verspüren zwar Unbehagen, als der Staat zum Unrechtsstaat wird, schließen aber die Augen und ziehen sich in ihre Pri‐ vatsphäre zurück. Die Situation wiederholt sich in zahlreichen Erzählungen, die unter anderem auch die Zustände in besetzten Ländern beschreiben. Mosheh Ya’aquov Ben-Gavriêl (Eugen Hoeflich) entwickelt im Haus in der Karpfengasse (1958) in zehn Vignetten die Besetzung Prags durch Deutsche im Jahr 1939. Das Haus, Karpfengasse 115, liegt im Judenviertel. Die Einwohner, Juden und Tsche‐ chen, erfahren die völlige Umwertung aller bisher verbürgten Vorstellungen und den Untergang ihrer Welt. Gewalttätigkeiten gehören zur Tagesordnung. Der Tod greift um sich. Der Konditor Wokurka stirbt an einem Herzanfall, nachdem ihn SA -Leute zusammengeschlagen haben; der Buchhandlungsangestellte Marek wird wahnsinnig; eine Jüdin, die zu ihrem Sohn nach Brasilien ausreisen 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 36 will, verliert jede Hoffnung bei der Beantragung des Ausreisevisums und stirbt. Einzelne begehen Selbstmord, einige werden abtransportiert und andere werden erschossen. Jeder Protest endet mit der Auslieferung in Konzentrationslager. Ganz wenigen, wie etwa dem Redakteur Menanzbach, gelingt die Flucht ins Ausland. Das Gesamtbild ist ein Kaleidoskop der Leiden der Bevölkerung wie sie auch Ernst Sommer in der Revolte der Heiligen (1946), einer Schilderung der Vernichtung einer Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter in Polen, festhält. Bobrowski skizziert in Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater (64) das Anwachsen der deutsch-polnischen Spannung und des um sich greifenden An‐ tisemitismus. Der Erzähler berichtet, kommentiert und denkt über das Ge‐ schehen nach, in dessen Schnittpunkt die Auseinandersetzung zwischen dem Großvater und dem Juden Levin steht. Der Großvater, ein reicher Wassermüh‐ lenbesitzer, „grunddeutscher Mann“ und „Eckpfeiler“ eines stolzen deutschen Reichs, ist verantwortlich für die Zerstörung von Levins Mühle, die von ange‐ stautem Wasser weggeschwemmt wurde. Levins Klage vor Gericht wird verzö‐ gert und vertagt. Ein großer Teil der Dorfbewohner ist von der Schuld des Großvaters überzeugt, der schließlich seine Mühle verkauft und nach Briesen übersiedelt. Auch Levin verlässt das Dorf und geht nach Kongresspolen. Die weiterhin geschilderte finanzielle Auseinandersetzung des Großvaters mit seinen Kindern erweitert das Geschehen zum Konflikt zwischen Geldgier und sozialistischem Geschichtsverständnis. Bobrowskis historische Vignette aus dem Jahr 1874 beleuchtet überzeugend die zunehmenden Konflikte zwischen Deutschen, Polen, Juden, Zigeunern, Reichen und Häuslern. Sie bietet ein Zeit‐ bild ungelöster Spannungen, die später in zwei Weltkriegen die Zivilisation auslöschten. Erich Hackls Erzählung Abschied von Sidonie konzentriert sich auf einen Ausschnitt der Banalität des Bösen, das der Lebensangst und dem Trieb zu über‐ leben entspringt. Der Text gehört zu den Werken österreichischer Literatur, in denen Autor(inn)en wie Josef Winkler, Gerhard Roth, Elfriede Jelinek und Bri‐ gitte Schwaiger zu ungelösten Fragen des Zeitgeschehens Stellung nehmen, indem sie fiktive Dokumentationen und historisch denkbare Ereignisse mit Vorgängen der Gegenwart verschmelzen. Abschied erfasst das Zeitgeschehen in der Beschreibung des Lebensweges von Sidonie Adlersburg: Als Kind 1933 im Windfang des Krankenhauses in Steyr ausgesetzt, von der Familie Breirather aufgenommen und wie ein eigenes Kind liebevoll gepflegt, wird sie 1943 von den Behörden als Zigeunerkind abgeholt und nach Auschwitz verfrachtet, wo sie umkommt. Die bemerkbare, leidenschaftliche Anteilnahme des Erzählers realisiert ein lebendiges Bild der Familie. Es umkreist die Sorge der Pflegemutter, die „die kleine Schwarze“ mit ihrem Sohn aufzieht, den Widerstand des Vaters, 2.2. Abrechnen - Verstehen 37 23 Erich Hackl. Abschied von Sidonie. Zürich: Diogenes, 1989. 44-45. eines überzeugten Kommunisten, gegen die Nationalsozialisten und den stän‐ digen Kampf ums Dasein. Gleichermaßen scharf getroffen sind Skizzen der Stadt Steyr und des allgemeinen Notstands sowie Beschreibungen der Arbeitslosig‐ keit, eines misslungenen Arbeiteraufstands sowie der Jugendbehörde, die ständig versucht, das Kind abzuschieben. Nachdem Hans Breirather zu 18 Mo‐ naten Gefängnis verurteilt wird, bleibt seine Frau Josefa mit den Kindern allein. Um das Mädchen zu retten und die Unterstützung der Kirche zu erhalten, lassen sich Hans und Josefa nachträglich kirchlich trauen. 23 Inzwischen ist der Magistrat Steyr aktiv, sich dem allgemeinen Ziel, dem „Kampf gegen die Zi‐ geuner“, anzuschließen. Die Behörde ermittelt die Geburtsmutter und geht nach dem Anschluss an Deutschland radikal vor. Der Kampf gegen alles Volksfremde besiegelt Sidonies Schicksal. Alle im Ort, Bürgermeister, Leiterin des Jugend‐ amtes, Lehrer, Fürsorgerin, lügen und passen sich den neuen, schließlich alten Umständen an. Jeder ist stolz auf die vom Erzähler angeprangerte „Bestialität des Anstands.“ (93) Sidonie wird abgeholt, ihrer leiblichen Mutter ausgeliefert und in derselben Nacht mit allen Zigeunern abtransportiert. (110) Aufschluss‐ reich ist der Ausklang der Erzählung, der sich auf die Alternative zur Anpassung und einen denkbaren Widerstand konzentriert. Hackl schildert den aufrechten Widerstand einer kleinen Gruppe von Bürgern. Sie informieren das Amt. Ein Sturm von Entrüstung wäre die Folge, falls man das Mädchen entferne. Der Erzähler stellt fest: Auch das ist geschehen, in der Ortschaft Pölfing-Brunnen, in der Steiermark, „das Kind hieß nicht Sidonie, sondern Margit und lebt heute noch, eine Frau von 55 Jahren, und kein Buch muß an ihr Schicksal erinnern, weil zur rechten Zeit Menschen ihrer gedachten.“ (128) Diese Überlegung er‐ weckt Sympathie für den Widerstand in allen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, und unterstreicht den Konflikt zwischen Anpassung und möglicher Auflehnung. Eine andere Erzählung, Abschied von Sidonie vergleichbar, die reflektierend und kommentierend Fragen persönlicher Verantwortung und unvereinbarer nationaler Gefühle herausarbeitet, ist Die Wolfshaut (1960) von Hans Lebert. Der Roman verfolgt das Leben nach dem Krieg in einem österreichischen Dorf. Jo‐ hann Unfreund kommt in das Dorf Schweigen. Der Name symbolisiert das Schweigen der Einwohner, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen. Unfreund will herausfinden, warum sein Vater kurz vor Einmarsch der Roten Armee Selbstmord begangen hat. Was er aufspürt sind Verbrechen, Schuldige, die alles leugnen, Mitläufer und Nischensteher, die moralisch versagten und weiterhin ihre „Ruhe haben wollen“. Niemand will daran erinnert werden, dass die „Orts‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 38 24 Thomas Bernhard. Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg: Residenz Verlag, 1975. 106. 25 Ralf Schnell. Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart: Metzler, 1993. 523 stellt fest: „Thomas Bernhard schreibt aus einem einzigen Gefühl heraus: dem lebensgeschichtlich begründeten Haß, der alle Deutung der eigenen Existenz, alle Wahrnehmungen und Erinnerungen, alle Erfahrungen, Emotionen, Empfindungen durchsetzt.“ wacht“ in den letzten Kriegstagen sechs ausländische Zwangsarbeiter er‐ schossen hat. Der Vater war mitbeteiligt, gleichfalls der damalige Ortsgruppen‐ leiter, der jetzt den Landratsposten bekleidet. Andere, die beteiligt waren oder zu viel wissen, kommen um oder werden beseitigt. Als Johann versucht, die Barriere des Schweigens zu beseitigen und der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, stößt er auf die einhellige Ablehnung der Dorfbewohner. Er bekennt sich zur eigenen Verantwortlichkeit, verlässt aber resignierend das Dorf. Die Tendenzen der Vergangenheit bestehen fort. Scharf akzentuiert, hart, des Öfteren verfremdet und ins Mythische gesteigert sind Abrechnungen mit der Geschichte und der eigenen Vergangenheit, die jedes Vergeben ablehnen. Sie stehen unter dem Dreigestirn: Systemzwang, Wieder‐ kehr des Bösen und Ausweglosigkeit. Nicht zu übersehen ist der Aufruf zur gebotenen Reform in allen Darstellungen. Bernhards Ursache (1975) schließt an die Tradition thematisierter Leiden von Schülern an, die unter anderem von Robert Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 1906) und Hermann Hesse (Unterm Rad, 1906) geschildert wurden, besteht jedoch in seiner Kritik darauf, dass seine Wahrheitssuche herausfinden will, „wie ich damals empfunden habe, nicht wie ich heute denke.“ 24 Der Rückblick auf das Gymnasium in Salzburg, erst ein nationalsozialistisches Schülerheim, dann das katholische Johanneum, mündet in eine beißende, zuweilen maßlos erscheinende Verurteilung der Ge‐ sellschaft, die diese Schule hervorgebracht hat. Das Gymnasium erscheint als eine menschenfeindliche Brutstätte der Intoleranz, der Verdummung und der erzwungenen Anpassung. Es ist ein Organismus, der wie die Stadt Salzburg jedes Denken einebnet und alle Außenseiter verschlingt. Bombenangriffe im Krieg zerstörten die alten Bauten, aber der Neuaufbau belebt und verstärkt die über‐ lieferten Ansichten. Die Stadt ist „ein auf der Oberfläche schöner, aber unter dieser Oberfläche tatsächlich fürchterlicher Friedhof der Phantasie und Wün‐ sche.“ (11-12) Die Erinnerung der Kindheit, der Schulzeit und der Kriegs- und Nachkriegs‐ jahre ist gefühlsbetont und wird in intensiven, hektischen, atemlos wirkenden Sätzen festgehalten. 25 Die Eindrücke überstürzen sich. Im Blitzlicht tauchen in ständiger Wiederkehr Skizzen der Stadt und Bilder auf, die frühste Erlebnisse und Vorfälle aus dem Krieg beleuchten. Die Großmutter nimmt das Enkelkind 2.2. Abrechnen - Verstehen 39 26 Thorsten Becker. Schmutz. Zürich: Amman, 1989. 37. auf Friedhöfe mit, hält ihn hoch, um Tote besser zu sehen („siehst du, siehst du, siehst du“) und versucht, ihre Leidenschaft, die Faszination mit dem Tod, auf ihn zu übertragen. Dieses Urerlebnis wird gesteigert durch wiederkehrende Ein‐ drücke (eine Kinderhand im Schutt nach einer Bombardierung; Stehen am Grab von Selbstmördern und Gefallenen) und das eigene Denken, das um Aussichts‐ losigkeit im Leben und den Tod kreist. Der Schulleiter Grünkranz, ein „Muster- SA -Offizier“, steht mit funkelnden Stiefeln an einem Grab. Der Mann, der brutal seine eiserne Disziplin durchsetzt, findet ein Spiegelbild im katholischen Prä‐ fekten, der die Schule nach dem Krieg leitet und den Geist von Grünkranz am Leben erhält. Zutiefst bedrückend ist das Gesamtbild der Stadt, das unvereinbar ist mit dem von Touristen besuchten lieblichen Mozart-Salzburg. Hinter der Fassade verbergen sich feindliche Mächte, die die Anpassung an die Gesellschaft erzwingen und die Stadt in einen „fürchterlichen Friedhof der Phantasie und Wünsche“ verwandeln. Wohin wir schauen, sehen wir „fast in allem … einen solchen geisteszerstörenden und geistesverrottenden und geistestötenden ka‐ tholisch-nationalsozialistischen, menschenumbringenden Zustand.“ (111) Die Kriegseinwirkungen (Bombardierung, zerstörte Gärtnerei, aufgebahrte Tote auf dem Bahnhof, Luftschutzstollen im Berg) finden Parallelen in der Gefühlsver‐ armung und Geistesvernichtung in der Gesellschaft. Streng auf eine Figur konzentriert ist die Abrechnung von Thorsten Becker. Er untersucht in Schmutz (1989) den belegten Kriminalfall des Wachmanns Jo‐ seph Schmutz. Die Erzählung erweckt den Eindruck einer Parabel des blinden Gehorsams in einem totalitären Staat. Schmutz glaubt, dass er die nur ihm ver‐ ständlichen Befehle Gottes (des Führers) durchführt. Schmutz hat das Arbeits‐ ethos der Gesellschaft völlig verinnerlicht. Er hat die Aufgabe ein verlassenes Fabrikgebäude und das anschließende Gelände zu bewachen. Ihm wird vom Oberkontrolleur der Organisation ein Mitarbeiter zugeteilt, der kurz darauf wegen Nachlässigkeit im Dienst wieder entlassen wird. Schmutz, nun allein in der Fabrik, beginnt mit der Planung und Ausarbeitung eines Systems der totalen Überwachung. Er fühlt sich Gott nahe, vergleicht seine Tätigkeit mit der Schöp‐ fungsgeschichte und seine Taten mit denen von Herkules. Er ruht am siebenten Tag aus. Er schreibt an Gott („Ich bin, ich wollte, ich war …“) und berichtet ihm von seinem Werk. Er träumt, hat Visionen, sieht einen zauberhaften Pfau, den er als Boten Gottes deutet und der fortan zu einer wiederkehrenden Vision in seinem Leben wird. Er wird Meister seiner „Wissenschaft“, die den Zauber des Pfaus auf die totale Kontrolle überträgt. 26 Ehe Schmutz seine Pläne zu Ende führen kann, erhält er vom Oberkontrolleur die Mitteilung, dass der Kunde das 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 40 Projekt gekündigt hat. Schmutz soll erst Urlaub machen und anschließend eine andere Aufgabe übernehmen. Schmutz bestreitet das Recht des Kunden, lehnt die Anweisung ab, wird rasend vor Zorn („es ging ums Ganze“, 45) und greift den Vorgesetzten tätlich an. Der Mann entkommt. Schmutz hat Zeit gewonnen. Er gerät in einen Schaffensrausch, hört den Pfau schreien, spricht mit Gott, vernimmt den Befehl, „einen Pfau zu machen“, schreit wie ein Pfau, schießt in den Fernseher, schnitzt Pfeile und tötet alle Tauben auf dem Gelände, tummelt sich in einer Pfütze auf dem Hof wie ein Delphin und glaubt, über Ozeane zu segeln. Er kauft Proviant und bereitet sich vor, sein Ge‐ biet bis zum Letzten zu verteidigen. Er steht mit dem Pfau gegen die ganze Welt. Schmutz trifft ein sechsjähriges Mädchen vor dem Tor, nimmt sie mit, vergeht sich an ihr, ermordet sie und tötet anschließend einen Ingenieur und den Ober‐ kontrolleur. In den ihm verbleibenden Stunden sucht Schmutz noch immer Gott. Er kreuzigt den Pfau, rasiert sich kahl, entkleidet sich, betet den Pfau an und hört die Stimme Gottes: „Schmutz, mach den Pfau! “ (126) Der Handlungsverlauf beleuchtet die Gefährdung von Menschen in einem Kontrollsystem, in dem Ein‐ zelne absolute Machtbefugnisse ausüben. Jeder, der das Territorium betritt, ist ein Feind und muss beseitigt werden. Schmutz lebt in Wahnvorstellungen und fühlt sich nur „heil“ in aggressiven Taten. Sein Erfahrungshorizont ist begrenzt auf absolute Kontrolle. Er lebt geschichtslos und hat weder eine religiöse noch eine gesellschaftliche Bindung. Religiöse Symbole sind entweder ins Tierische verwandelt oder in Zeitungsillustrationen entstellt. Schmutz schneidet bei‐ spielsweise aus Sexillustrierten die Köpfe schöner Mädchen aus und sammelt sie in seiner Schublade. Später betrachtet er nachdenklich die Puppe des von ihm ermordeten Kindes. Das Glücksstreben des Wachmannes zielt auf Entgren‐ zung. Er will ausbrechen. Das gelingt nur, indem er sich zur Gottheit seiner begrenzten Welt erklärt und sie von allen Eindringlingen säubert. Im Gegensatz zu der Vorstellung einer Banalität der bürokratischen Verbrechen von Lager‐ aufsehern und Beamten konzentriert sich Becker auf das Krankheitsbild des Gehorsams machtbesessener Aufseher: Eichmann und Schmutz erscheinen als Doppelgänger. Gleichermaßen bedeutend sind Schilderungen des Orientierungsverlustes in einer ins Mythische gesteigerten Gesellschaft, in der undurchschaubare Mächte das Denken steuern und jede individuelle Entwicklung begrenzen. Faschismus und Kommunismus, NS -Staat und DDR verschmelzen und erscheinen in schwer deutbaren Metamorphosen des Neuen. Die Erinnerung an die Vergangenheit scheint begrenzt auf die Raumperspektive von hoch / tief, in der oben / unten, Himmel / Hades erkennbar sind und die totale Einkreisung der Figuren, die hilflos in Schächten umherirren, vergebens nach oben streben oder in Elektro‐ 2.2. Abrechnen - Verstehen 41 27 Jochen Beyse. Ultima Thule. Eine Rückkehr. München: List, 1987. 70. nengehirne fliehen. Die Ich-Suche, der Verlust der Orientierung und die Raum‐ perspektive werden besonders eindringlich in Erzählungen von Jochen Beyse und Wolfgang Hilbig geschildert. Die Darstellungen bevorzugen Motive der Einkreisung: Zellen, Krankenhaus, Altersheim, nebelhaft wirkende Zimmer, Bergwerke, Höhlen, Schächte, Gänge unter der Erde und anonyme Gruppen von Menschen. Die Wohnraumatmosphäre ist trügerisch; die Zimmer bieten keinen Schutz, denn die Bedrohung dringt von außen durch die Medien ein. Darüber hinaus ist die in der Lebensangst wurzelnde Gefahr im Gedächtnis der Figuren und deren zwanghaft grübelnden Reflexionen ständig gegenwärtig. Alle warten auf das Ende. Der Weg aus der Einkreisung führt in den Tod. In Beyses Ultima Thule. Eine Rückkehr (1987) und Bar Dom (1995) ist die Ver‐ gangenheit erkennbar, entzieht sich aber dem Verstehen. Der Untertitel „Rück‐ kehr“ verspricht eine Wiederbegegnung, die jedoch in unbestimmte Vorstel‐ lungen mündet. Der Besucher, der Gouverneur, ein Bildhauer, ein Adjutant und einige Handwerker vermitteln Einblicke in das Phänomen der Osterinsel mit ihren Kolossalstatuen. Die zentrale Frage nach dem Sinn und Entstehen der Statuen wird mehrdeutig beantwortet und verblasst schließlich angesichts un‐ erklärbarer Vorgänge auf der Insel. Die Statuen erinnern den Gouverneur an ein Urchaos auf der Insel: Sie sind vor-figürlich, scheinen noch zu leben, verändern sich nachts und wechseln das Aussehen im Lichtwechsel der Tage. Der Besucher erfährt, dass eine „gigantische“ Höhlenwelt unter der Erdoberfläche existiert, eine Mondlandschaft der Schwärze, ein trostloses Labyrinth, in dem nichts Menschliches waltet, aber in dem die Gefühlswelt und Denkform wurzelt, die die Kolosse entwarf. Scheinbar stehen die Statuen an der Grenze des Raums zum Außermenschlichen. Der Besucher bemerkt, dass die unbestimmten Ahnungen und Vorstellungen des Vergangenen selbst das Dasein in der Gegenwart be‐ stimmen. Er sieht einen Vulkankrater, in dem Insulaner Steine zu Zwergstatuen verarbeiten, um Ordnung in die Welt zu bringen. Der Bildhauer fabuliert vom Tod des ersten Königs der Insel, dessen jüngster Sohn seinen Kopf abschnitt, ihn versteckte und so Anlass zur Gestaltung der Riesenköpfe gab. Der Adjutant be‐ richtet von einem im Verwaltungsgebäude aufgestellten Torso, der atmet, zischt und die Atmosphäre einsaugt. Alle stimmen jedoch darin überein, dass sie in einem unendlich dauernden Augenblick gebannt sind. Jeder Versuch, der Insel zu entfliehen, würde den Verlust der Menschlichkeit zur Folge haben und in den Wahnsinn führen. 27 In den drei Erzählungen der Sammlung Bar Dom versucht der Erzähler, den Ort und in der erweiterten Perspektive seine Zeit zu bestimmen. Seine Orien‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 42 28 Jochen Beyse. Bar Dom. Erzählungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995. 76. tierungssuche wird zu einem Gang durch Labyrinthe, auf dem sich, den von M. C. Escher gezeichneten Irrgängen vergleichbar, die Raumperspektive ständig verschiebt. Die Beobachtungen des Erzählers werden von kurz aufblitzenden Kindheitserinnerungen und Gedanken an vergangene historische Ereignisse unterbrochen. Die Orte, zeitlos und zugleich zeitnahe, spiegeln historische Pro‐ zesse, technische Entwicklungen und den Abbruch der Zivilisation wider. Der Dom, in Einzelheiten des Torbogens und des Chorgestühls als romanisch-frän‐ kischer Bau bestimmt, befindet sich gleichzeitig in Frankreich und Santiago. Die Bauarbeiten außen dienen gleichermaßen der Restauration und der Neugestal‐ tung, da Spielautomaten im Inneren des Doms den Besuchern Religionsersatz anbieten. Der Erzähler betritt den Dom. Die Anlage ist noch ersichtlich; innen ist alles nach oben aufgerissen; steile Wandtreppen mit Stahlgeländern ver‐ binden die Stockwerke; in der Apsis und den Nischen sind Heiligenbilder oder Figuren ersetzt durch Menschen, die hinter Plexiglas in Maschinen sitzen. Der Erzähler ist hypnotisiert, sieht rotierende Elemente in die Höhe schweben, er‐ blickt ein Trapez, wird plötzlich in eine Uniform gekleidet, steigt nach oben, will fliegen, fürchtet zu stürzen, findet eine Luke und steigt hinaus. Die Luke fällt zu. Er ist fest gebannt und kann nie wieder nach unten. Ganz ähnlich findet sich der Erzähler im Schnittpunkt von Schienen („Glasdreieck“), die in eine Behau‐ sung führen, aus der jeder Weg hinaus verschlossen ist: „Es geht nicht weiter …“ 28 Jedes Nachdenken stößt auf eine Vergangenheit, die undeutbar ist, und auf eine gegenwärtige Realität, die keine festen Konturen hat. In Larries Welt (1992) konzentriert sich Beyse auf das Überleben in einer Ge‐ sellschaft, in der historische oder kulturelle Überlieferungen bedeutungslos ge‐ worden sind. Die Tradition existiert nur noch als Schablone, eine in die Welt gestellte Kulisse. Beyse schildert eine Wirklichkeit, in der eine Überfülle vor‐ beifliegender Bilder jede vertiefende Konzentration oder Erkenntnis abschaltet. Das andere Extrem ist die innere Leere, das Schweigen der Figuren, die ziellos suchen, ohne zu finden. Das Ausharren in der globalen Gesellschaft, in der alle wesentlichen sozialen, ökonomischen und politischen Entscheidungen von Spielern in einer anonymen, undeutbaren Organisation getroffen werden, wird jedoch mit dem Verlust der Menschenwürde bezahlt. Der Substanzverlust in verantwortlich-ethischem Handeln ist ersichtlich im Spiel mit Menschen. Men‐ schen werden nicht angesprochen, sondern existieren nur als Elemente in der Datenverarbeitung. Larrie, die Figur im Mittelpunkt des Geschehens, versucht auch nicht, historische Prozesse zu verstehen, die Welt zu erkennen oder sein Ich zu deuten. Seine Existenz spiegelt Krankheitssymptome der Massengesell‐ 2.2. Abrechnen - Verstehen 43 29 Jochen Beyse. Larries Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 178. schaft wieder. Er fühlt sich ständig beobachtet und bedroht, wandert zuweilen ziellos durch unbekannte Straßen und lebt in einem anonymen Hotel. Larrie schwankt zwischen dem Wunsch unterzutauchen und dem Verlangen auszu‐ brechen. Er fügt sich den Anweisungen der anonymen Organisation, lässt sich operativ verändern und nimmt einen anderen Namen an. Er will überleben. Da seine Welt eigentlich die zur Formel gewordene virtuelle Wirklichkeit des In‐ ternets ist, beschließt er, in die Öffentlichkeit zu fliehen. Im Programm zu sein, von allen gesehen zu werden, bietet Sicherheit. Das in alle Länder ausgestrahlte Ich erhält ein Wesen. Larrie beteiligt sich an einem weltweit übertragenen und von einem Quizmeister geleiteten Ultra-Quiz. Das Quiz ist als Wettlauf arran‐ giert, in dem alle Teilnehmer versuchen, an der Spitze zu landen. Während des alle Kräfte überfordernden Rennens durch Wüsten, die scheinbar ins Unendliche münden, durchläuft Larrie zahllose Phasen eines Lebens. Er gerät in Erregungs‐ zustände, verkommt, verschlingt das Essen wie ein Süchtiger, um den Körper zu erhalten, wird verletzt, weiß nicht mehr, ob er an einem Wettlauf oder Krieg teilnimmt, halluziniert, denkt an sein früheres Leben und lebt sich schließlich in die Rolle des Spielers ein. Die einzige noch mögliche Erfahrung eines Gefühls bietet der Höchstleistungsanspruch des Wettkampfs. Er erkennt, die Erfahrung seines eigenen Ichs ist nur in der Behauptung seines ferngesteuerten Willens im Exzess der Leistung möglich. Er rennt im Käfig der Welt. Er sieht sich auf dem Bildschirm rennen. Er glaubt an diese Existenz. Sie bietet Halt. Die virtuelle Phantomwelt der ablaufenden Bilder schafft die Illusion der möglichen Orien‐ tierung. Dagegen bezeugt alles, was in Larries Visionen der Wirklichkeit auf‐ taucht, den völligen Verlust jeder Orientierung. Die Menschen sind von Kulissen umgeben. Die Natur ist verbraucht. Die Geschichte, die geistige Tradition und das kulturelle Erbe sind entwertet. Die Menschen schwanken wie Larrie haltlos zwischen Extremen. Einmal liegt er in der Gosse und wacht auf, nachdem Kinder auf ihn urinieren; ein anderes Mal möchte er „liegen und dienen, einem Men‐ schen dienen.“ 29 Larrie spielt Westfront, denkt an seine Frau, die von einem Pa‐ tienten ertränkt wurde, will beichten und sieht am Ende doch nur ein Mikrophon heranschweben. Er taumelt davon, hastet durch Gassen, findet sein Hotel und sein beschmutztes Bett. Als er zu sich kommt, ist die Welt nicht wiederzuer‐ kennen. (299) Er zieht sich an und geht davon. Die Mullbinden seines Verbands, ein Zeichen seiner Wiedergeburt, bleiben im Zimmer. Das Ende der Erzählung ist nüchtern und entspricht den Metamorphosen Larries. Er bricht nicht auf zu neuen Ufern, sondern kehrt in den Lärm der Welt zurück. Er ist aus der Vernet‐ zung aller Lebensbereiche entstanden und bleibt eine Datengestalt. Auf der Pro‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 44 30 Jochen Beyse. Ferne Erde. Erzählung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. 101. 31 Wolfgang Hilbig. Alte Abdeckerei. Frankfurt a. M.: Fischer, 1991. 90. jektionsfläche Cyberspace entsteht kein neuer Mensch. Aus den Wundern und Reizen der neuen Welt blicken noch immer die Augen der anderen und unter ihnen, bis zum Selbstverlust verloren, das Auge des Ich. Die Ermittlung der Vergangenheit erscheint in Beyses Ferne Erde (1997) als Befragung von Erinnerungsbildern, die spontan auftauchen. Der Erzähler ver‐ folgt im Verlauf einer Nacht, im Zimmer eingeschlossen, die Spuren von Bildern, Eindrücken und Ahnungen, die Form annehmen. Die Substanz der Wahrneh‐ mung bleibt schemenhaft, da alle festen Konturen verschwimmen. Die Bilder erhellen deshalb nicht die Realität, sondern den geistigen Zustand des Beobach‐ ters. Er belauscht sein Sprechen, befragt seine Gedanken, erfährt einen Zustand quälender Reflexion. Jeder Gedanke, jede Erinnerung löst neue Assoziationen aus. Historische Ereignisse haben keine bestimmbare Form. Alles ist gegen‐ wärtig: eine Stunde in Licht und Dunkel, eine Stunde unendlicher Möglich‐ keiten, die letztlich Unmöglichkeiten sind. Was bleibt ist die Suche nach einer Sinnstiftung im Leben, einen Weg aus dem Irrweg der Eindrücke zu finden. Die Erzählung schließt mit dem Satz: „Hellwach wollte ich irgendein Ende, einen Abschluß, der von der Verantwortung befreite, dem Morgen einen Sinn zu geben.“ 30 Eine Sinnstiftung scheint jedoch ohne klare Einsicht in die Vergan‐ genheit nicht möglich. Konkret und zugleich ins Mythische gesteigert ist die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart in Hilbigs Alte Abdeckerei (1991). Die Beobach‐ tungen des Wohnorts, des Landstrichs und des Staates beleuchten die Verseu‐ chung der Welt. Asche vom Brennen der Braunkohle verschmutzt Häuser und Erde. Neben welken Krautfeldern rinnen schaumbedeckte Bäche. Die Teiche sind milchfarben; Bahngleise sind von Unkraut überwachsen; unter dem Rasen fangen sofort Schächte an; inmitten der überwältigenden Öde der trostlosen Landschaft geschleifter Fabriken und verlassener Bergwerke steht die Abde‐ ckerei Germania II . Die Abdeckerei hat SS -Offiziere und NS -Bewacher über‐ nommen und als Sicherheitsbeamte angestellt. In den tiefen Schächten schaffen die Abgeladenen und Abgedeckten der Vergangenheit neben neu Hinzugekom‐ menen. Die Gesellschaft oben auf der Erde hat sich verbrüdert. Aggressoren und Opfer, Kriminelle und Sicherheitsbeamte, „Deutsche, Polen, Russen, Staatenlose, Abtrünnige … Kommunisten und Nazis … die Gesuchten und ihre Ermittler“ hausen zusammen. 31 Die in der Abdeckerei aus Tierkadavern hergestellte Seife dient dazu das ganze Land einzuseifen. Die Welt verdummt. Die Einwohner starren auf „schmierige Fenster“, „seifigen“ Nebel, gedunsene Mauern, fettbe‐ 2.2. Abrechnen - Verstehen 45 32 Wolfgang Hilbig. Die Arbeit an den Öfen. Erzählungen. Berlin: Friedenauer Presse, 1994. Vgl. dazu „Versuch über Katzen“ 55-100: ein unaufhaltsamer Verfall der Welt; Staubwolken; zerschlagene Fenster; ödes Land. 33 Thomas Mann. Gesammelte Werke. Berlin: Aufbau, 1956. Bd. 6. 651. decktes Wasser und atmen den „schwindelerregenden“ Geruch ein. Was bleibt ist Resignation: „Totes Land, ödes Land riefen die Männer, und ihre Stimmen trugen die Müde weithin über das Territorium.“ (92) Das Fazit: Der Staat, der die Vergangenheit ohne kritische Sichtung übernommen hat, strahlt eine lebens‐ verseuchende Krankheit aus. Hilbig fängt diese Bedrohung besonders ein‐ drucksvoll in dem Kurzbericht des Lebens des Heizers und Schriftsteller-Be‐ obachters C. ein. Die Öfen sind von Braunkohle verschmutzt und bleiben stehen. Sie entladen eine katastrophale Rußmasse, die als gewaltiger Dreckpilz über dem Land steht und alles Leben gefährdet. 32 2.3. Schuld und Sühne Der Erzähler-Kommentator in Thomas Manns Doktor Faustus (1947) wirft im April 1945 einen Blick auf die letzten Tage des NS -Reiches, die „sich rapide ausbreitende Katastrophe“, den Untergang der Städte und die Befreiung der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald. Er stellt fest: ein amerikanischer General lässt die Einwohner Weimars an den Krematorien „vor‐ beidefilieren“ und zwingt sie, das anzusehen, was aufgebrochen ist: „offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause be‐ richten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne. Ich sage: unsere Schmach.“ 33 Von dieser Feststellung einer kollektiven Schuld, zu der sich der liberale frühpensionierte Gymnasiallehrer Serenus Zeitblom bekennt, führt eine kaum überschaubare Linie über Historikerkontroversen, Auschwitz-Diskussionen, Bekenntnisse, Hinweise auf die Tatsache, dass manche Zeitgenossen absolut ahnungslos waren, und literarische Ortungen bis zu Bernhard Schlinks Bemühungen, das Verhältnis von Schuld, Sühne und Vergebung zu klären. Der Begriff der Kollektivschuld setzt voraus, dass das gesamte deutsche Volk in den Jahren der NS -Regierung schuldig geworden ist, da der Massenmord ein 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 46 34 Hannah Arendt. „Organisierte Schuld“, in: Die Wandlung 1 (1945 / 46), Heft 4. 333-344. Sie unterscheidet drei Gruppen: Hauptschuldige, Anhänger / Jasager und Mitwisser. Sie nimmt nicht Stellung zu dem Begriff „nicht betroffen“, der im Entnazifizierungsver‐ fahren für Bürger verwendet wurde, die nie Mitglieder der Partei waren. Vgl. Dolf Sternberger. „Versuch zu einem Fazit“, in: Die Wandlung 4 (1949), Heft 8. 701. 35 Ignatz Bubis. „Moral verjährt nicht“, in: Der Spiegel, 30. 11. 1998. 50-54; vgl. Reinhard Mohr. „Total normal“ ibid. 40 ff. Aufbau, Ziel und Organisation der Konzentrationslager ist eingehend dargestellt von dem Historiker Nikolaus Wachsmann in: KL: A History of the Nazi Concentration Camps. New York: Farrar, Straus & Giroux, 2015. ganzes Volk für seine Verwaltungsmaschine brauchte. 34 Die Schuldfrage und Schande der Nation wurde 1998 von den Medien aufgegriffen und in Zeit‐ schriften, im Fernsehen und Rundfunk leidenschaftlich diskutiert. Der Anlass war die Rede, die Martin Walser bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt. Walser lässt die Gefühle und die Bewusstseinslage der Nicht-Betroffenen, der Nachkriegsgeneration und der Jugend zu Wort kommen, die nicht ständig an die deutsche Vergangenheit, an Krieg und Auschwitz erinnert werden wollen. Er betont, die „Dauerpräsentation unserer Schande“ sei zur „Keule“ geworden, die bei jeder Gelegenheit gegen die Deutschen geschwungen wird. Auschwitz ist „instrumentalisiert“. Und der Ansturm der Schande sei ein Ritual, der Zwang zum Erinnern sei Routine geworden. Ignatz Bubis vom Zentralrat der Juden in Deutschland entgegnete entrüstet, dass Vergehen gegen die Menschlichkeit nie verjähren. „Forderungen mögen verjähren, Moral jedoch nicht.“ 35 In den Diskussionen kam kaum etwas zu Wort, das nicht eingehender in der Literatur erörtert wurde. Beispielsweise schildert Ortheils Roman Schwerenöter (1987) die Entwicklung zweier Brüder vor dem Hintergrund vierzigjähriger deutscher Nachkriegsgeschichte. Die Materialfülle (Lebensläufe der Zwillinge Josef und Johannes, frühe Nachkriegszeit in Köln, Schule, Kloster, Hören von Adorno-Vorlesungen, deutsche Innen- und Außenpolitik, Reise in die USA , Rombesuch und Ausblick: Josef wird Abgeordneter, Johannes Schriftsteller) wird gestrafft durch eine Darstellung, die in beständiger Befragung Zusam‐ menhänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzeigt. Die Gespräche und ernsten Überlegungen des Erzählers Johannes werden aufgelockert durch Berichte pikaresker Abenteuer der Jungen in der Schule und während ihres Aufenthalts in Amerika. Besonders aufschlussreich sind die grundverschie‐ denen Ansichten von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit und historischen Ent‐ wicklungen, die in Gesprächen, Generationskonflikten und Debatten der Schüler anklingen. Das Thema kollektiver Schuld und die Aussicht auf Verge‐ bung gibt dem Aufenthalt der Jungen in New York im Haus der jüdischen Familie Rothbuch sein besonderes Gepräge. 2.3. Schuld und Sühne 47 36 Hanns-Josef Ortheil. Schwerenöter. Roman. München, Zürich: Piper, 1987. 306. Daniel Rothbuch, der 1938 mit seinem Vater Deutschland verlassen musste, lädt Johannes und Josef ein, damit seine eigenen Kinder Tom und Susan ein „unvoreingenommenes Verhältnis“ zu Deutschland und den Deutschen her‐ stellen können. Auch sie sollen Deutschland besuchen. „Es ist wichtig, ja, es ist sehr wichtig.“ Kurze Vignetten beschreiben das Leben im Haus der Familie, in New York, Besuche der Stadt und Museen. Am letzten Tag des Aufenthalts findet eine Aussprache zwischen Daniel und Johannes statt. Das Gespräch ist auf‐ schlussreich: „Am Anfang aber dachte ich, es könnte schwierig werden.“ - „Warum schwierig? “ - „Wegen des Großvaters. Du wirst es kaum verstehen, du bist noch sehr jung; Großvater mußte Deutschland 1938 verlassen, er emigrierte mit mir in die Staaten. Bis heute habe ich das Land nicht mehr wiedergesehen. Er haßt es, und er haßt seine Menschen. Er hält sie für Faschisten und Mörder, die sich eine neue Tarnung zugelegt haben. Glaub ihnen nicht! sagte er, als Ken‐ nedy sich auf die Reise machte. Er dachte die Deutschen würden ihn umbringen. Er traut ihnen alles zu, sie haben seine Eltern und meine Mutter ermordet, für ihn sind es die Teufel der Geschichte, die alles Böse in sich vereinen. Sie haben den Krieg begonnen, sie haben Millionen von Menschen getötet, sie haben Kon‐ zentrationslager gebaut, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Großvater hat das alles nie vergessen können.“ - „Und Ihr habt uns trotzdem eingeladen? “ - „Ich habe lange mit Mary darüber gesprochen. Aber es war der einzige Weg, wieder Kontakt mit Deutschland aufzunehmen, verstehst Du? Wir wollen junge Menschen wie Dich und Deinen Bruder kennenlernen. … und nun bin ich sehr froh, daß Ihr hier gewesen seid.“ 36 Der Besuch stürzt die Zwillinge in Gewissenszweifel und veranlasst eine kri‐ tische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Besonders aufschlussreich für Fragen von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit, Haltung zur Vergangenheit sind die Diskussionen in der Schule nachdem Josef und Johannes von ihrem Aufenthalt in den USA heimkommen. Josef beschafft sich Bücher über das Dritte Reich, liest und kommt zu der Überzeugung, dass das Reich bis in die Gegenwart reicht. Er sieht seine Lehrer in neuem Licht, ist beunruhigt, wenn sie „scheinbar harmlos von ihren Kriegserlebnissen berichteten“ (314), und kommt schließlich zu der Überzeugung, dass die Vergangenheit eine unabgeschlossene Akte ist. Die Zeit des Nationalsozialismus ist „unvorstellbar“, nicht verjährt, „alle Phan‐ tasie reiche nicht aus, sie zu verstehen.“ (323) Aber gerade weil der Rückblick ein „Gefühl völliger Ohnmacht“ hinterlassen kann, besteht Josef auf der kri‐ tisch-geistigen Ermittlung. „Daher müsse man, wenn man denn schon aus der Geschichte lernen wolle, fragen, was damals mit diesen Menschen geschehen, 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 48 37 Ortheil bemerkt, er habe versucht, „jenen Stimmen einen Raum“ zu geben, „denen der Krieg die Sprache genommen hat.“ Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. München, Zürich: Piper 1994. 108. 38 Günter de Bruyn. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt a. M.: Fischer, 1992. 110. wie es dazu gekommen sei, und wie gerade diese Menschen die Gegenwart er‐ lebten, voll mit jenen Bildern des Verrats und des Mordens, die man doch nicht wie Albumaufnahmen mit sich herumtragen könne? “ (323-324) In diesem Ap‐ pell an die persönliche Verantwortlichkeit, zu der sich der Erzähler in der Nie‐ derschrift bekennt und die Josef als Politiker verwirklichen will, kommt der Geist der historischen Bewusstseinslage klar zur Geltung. Die Vergangenheit verneinen, heißt die Zukunft verneinen. Die Vergangenheit anerkennen, heißt die eigene Situation verstehen und die Zukunft anerkennen. Die Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Einstellungen bietet die Grundlage für eine Gesamtschau der Unsicherheit und Ratlosigkeit der Bevölkerung wäh‐ rend der Kriegsjahre. Die Erzählung verleiht einerseits den Verstummten Sprache, 37 andererseits zeigt sie das wachsende Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart. Die Geschichte ist ein unabgeschlossener Vorgang, in dem zeitbedingte Umstände zuweilen die Initiative der Menschen begrenzen, aber nie deren persönliche Verantwortlichkeit aufheben. Der Mentalitätswandel ist möglich. Josef fühlt seine eigene Verantwortlichkeit. Johannes erfährt sie im Aufschreiben der Ereig‐ nisse. Die geschichtliche Naivität der Jugendlichen in Schwerenöter findet ihre Ent‐ sprechung in der Ahnungslosigkeit mancher Deutschen während des Zweiten Weltkriegs. Ein wichtiger Gesichtspunkt in der Erinnerungsliteratur ist die von de Bruyn, Grass, Maron und Ortheil angedeutete Situation, dass zahlreiche Menschen in den Jahren der NS -Zeit keine zuverlässige Information hatten. Manche wussten nichts, manche hatten Angst und viele verschlossen die Augen. Der Rückblick verwandelt das Vergangene in ein andersgeartetes Geschehen: „Die 45 Jahre, die das Tagebuchschreiben vom Wiederlesen trennen, haben die Erinnerung an manche Ereignisse, die damals erwähnenswert schienen, getilgt; andere, die verschüttet waren, wurden durch das Lesen wieder freigelegt; und wieder andere, die nie vergessen waren, lassen deutlich werden, was der Chro‐ nist verschweigt oder entstellt. Ob das aus Vorsicht, aus Unfähigkeit oder in selbstbetrügerischer Absicht geschah, ist im Einzelfall nicht auszumachen, ins‐ gesamt herrscht aber der trübe Eindruck vor, daß dieser Knabe von 14 Jahren hier konformes Verhalten übt.“ 38 Er konstatiert weiterhin die Ahnungslosigkeit der Kinder, die nicht ahnten, welchen Hass sie in Kattowitz erregten, wenn sie 2.3. Schuld und Sühne 49 39 Vgl. Günter de Bruyn. Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer, 1999. 12: „Die Gegenwart ist also an der Erinnerungs‐ arbeit insofern beteiligt, als sie den dunklen Hintergrund für die aus der Vergangenheit aufsteigende Helle bildet. Was man heute nicht hat, war damals vorhanden. Was heute quält, gab es damals noch gar nicht. Weil man alt ist, scheint die damalige Jugend so schön.“ „als uniformierte Masse auftraten“ (112), und seine Unkenntnis brutaler Ver‐ brechen: „nie aber hatte ich von der Ermordung jüdischer Menschen (vielleicht weil ich nie nach ihnen gefragt hatte) auch nur andeutungsweise gehört. An keinen Gedanken an sie, an kein Gespräch über sie, ob mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen, kann ich mich aus der Zeit nach ihrer Deportation erinnern.“ (244) Darauf folgen Hinweise auf die beständige Angst. Die Zeit nach dem Kriegsende mit den Anfängen im sozialistischen Osten steht unter der Kurz‐ formel: „Kollektivismus oder Individualismus“. Erst die kritische Ortung im Rückblick verleiht diesen Jahren ihre besondere Eigenheit. 39 Was in diesen Be‐ obachtungen deutlich hervortritt, ist ein bisher kaum beachteter Faden, der durch den Erinnerungsdiskurs verläuft: Die Ahnungslosigkeit wird zur Diskus‐ sion gestellt. Sie kann sich, besonders in dem Verfahren der Reihung von Ein‐ zelheiten unter bewusstem Verzicht auf Sinndeutung im Schaffen Kempowskis, auf das Lesepublikum übertragen, das dann diese Ahnungslosigkeit verspürt und sich mit ihr auseinandersetzen muss. In der Literatur zeichnet sich eine ausgeprägte Konzentration auf individuelle Figuren, einzelne Situationen oder erkennbare Familien in der Thematisierung von Schuld, Sühne und Verantwortung ab. Das „Volk“ muss konkrete Form an‐ nehmen, um literarisch wirksam zu sein. Das ist deutlich in Handlungsführung und Figurenkonzeptionen in den Romanen von Bienek, Kempowski und Ortheil. Es ist beispielsweise klar ersichtlich in der Erzählung Winterspelt (1974) von Alfred Andersch. Er erfasst im Handeln Einzelner - Major Dincklage, Käte und Hainstock - die allgemeine Situation. Schuld und möglicher Widerstand kommen zu Wort. Hauptsächlich geht Andersch im Rahmen seiner Darstellung der Kämpfe um das in der Nähe der belgischen Grenze gelegenen Eifeldorfes der Frage nach, inwiefern einzelne überhaupt die kriegerischen Entwicklungen beeinflussen können und kommt zu dem Schluss, dass einzelne im Ausnahme‐ zustand sicherlich verantwortungslos oder verantwortlich handeln, aber das ablaufende Geschehen nicht ändern können. Der Erzählverlauf beleuchtet in‐ dividuelle Überlegungen und Entscheidungen, spontane Handlungen, ethische Fragen, Zögern und Unterlassungssünden. Das Erzählverfahren weist in der Verwertung historischer Fakten, biographischer Einzelheiten und von Doku‐ menten bereits auf die chronistische Erzählweise Kempowskis hin. Im Gegen‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 50 40 Dieter Wellershoff. Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995. 316. satz zu Kempowskis distanzierter Bestandsaufnahme betont Andersch immer wieder die Notwendigkeit des verantwortlichen Handelns, dem sich Einzelne nicht mit der Annahme, der historisch ablaufende Prozess sei unkontrollierbar, entziehen können. Darüber hinaus lässt sich in vielen Werken in der Annäherung an die Ver‐ gangenheit ein Prozess des historischen Bewusstwerdens nachweisen. Nicht nur der Krieg, sondern die gesamten Jahre der Naziherrschaft erscheinen als Aus‐ nahmesituation. Das Leben in dieser Zeit wird zum Grenzerlebnis, das alle tra‐ dierten Vorstellungen sprengt. Menschen sind physisch und geistig gefährdet. Die existenzielle Bedrohung ist allumfassend. Und wie Dieter Wellershoff 1995 in Der Ernstfall feststellt, konnte sich der Einzelne unter diesen Bedingungen nie wirklich bewähren. Menschen, die kritisch dachten, konnten eigentlich nur ihre weltanschauliche Obdachlosigkeit erkennen. Unsentimental und ohne Be‐ schönigung berichtet Wellershoff von seinem Einsatz als jugendlicher Freiwil‐ liger an der Ostfront, seiner Verletzung, seinem Aufenthalt im Lazarett Bad Rei‐ chenhall, seiner Gefangennahme und dem Neuanfang nach dem Kriegsende. Die Rückblenden und Aufarbeitung seiner Jugend bieten die Voraussetzung für seine Einsicht in „zwei“ wesentliche Erfahrungen. „Die eine ist der Zusammenbruch einer kollektiven Identität, die als mörderisches Wahngebilde kenntlich wurde, und das Glück, das darin lag, die weltanschauliche Obdachlosigkeit als ge‐ schenkte Freiheit zu erleben. Die zweite ist die Einsicht in die Zufälligkeit meiner Existenz.“ 40 Die Stellungnahme vieler Autoren steht unter dem Leitgedanken des moralischen Versagens einer Generation, der zwischen 1890 und 1920 Gebo‐ renen, und des Orientierungsverlusts der im Weimarer Staat und im Dritten Reich Aufgewachsenen. Häufig charakterisieren Beschuldigungen der für die Terrorherrschaft der Nazis und für den Krieg Verantwortlichen, massive Schuld‐ erlebnisse, Schuldverdrängung und exzessive Selbstanklagen die Erzählhaltung. In Auseinandersetzungen mit Hitlers willigen und halbwilligen Helfern treten Fragen der individuellen Verantwortung und des Gewissens in den Vordergrund. Das schlechte Gewissen breitet sich aus, nachdem der volle Umfang der Ver‐ brechen öffentlich bekannt wird. Es schärft den Blick und bestimmt die Fixie‐ rung auf die Vergangenheit. Diese erscheint unverständlich. Die während der Naziherrschaft begangenen Verbrechen stehen im Licht des vorausgegangenen Anspruchs des deutschen Geisteslebens einzigartig da. Die Erbschaft deutscher Schande und Schuld verdrängt das Erbe deutscher Denker. Der Holocaust und Auschwitz werden zum negativen Gegenbild des idealistischen Denkens. 2.3. Schuld und Sühne 51 41 Heiner Müller. „Das eiserne Kreuz“, in: Germania Tod in Berlin. Berlin: Rotbuch, 1977. 10-12; vgl. dazu die scharfe Verurteilung aller Mitläufer in „Der Vater“ (1977), ibid. 20-26. Verbindlich für die Literatur ist eine Denkform, der die Überzeugung zu Grunde liegt, dass die existenzielle Gefährdung der Menschen im NS -Staat das zeitlose und damit heute gegenwärtige Problem menschlicher Verantwortlich‐ keit besonders scharf hervortreten lässt. Historisches Bewusstwerden wird zum Ausgangspunkt der Kritik der Gegenwart. Die folgenden Ausführungen heben markante Aspekte hervor. Sie können keine zusammenhängenden Entwick‐ lungen nachweisen, da der Gesamtkomplex von Verschuldung und Vergeben immer neu aufgegriffen wird. Deutlich nachweisbar sind scharfe, zuweilen ein‐ seitig anmutende Abrechnungen mit der Schuld und Einstellung von Figuren, deren Verblendung oder Ethos der Pflichterfüllung zu einer menschenfeindli‐ chen Geisteshaltung führt. Sie konzentrieren sich auf das Versagen einzelner Personen, nicht auf die Schuld der gesamten Generation. Heiner Müllers Kurz‐ geschichte „Das Eiserne Kreuz“ (1956) schildert beispielsweise den Entschluss eines Papierhändlers, eines ehemaligen Reserveoffiziers im Ersten Weltkrieg, seinem Führer die „Treue zu halten“ und mit seiner Frau und Tochter zu sterben. Er holt seinen Revolver hervor, steckt das Eiserne Kreuz an den Rock und mar‐ schiert mit Frau und Tochter ins Freie. Er erschießt beide, überdenkt seine Lage, schöpft Hoffnung, entschließt sich, irgendwo unterzutauchen, wirft das Eiserne Kreuz weg und läuft davon. Die Geschichte akzentuiert im Einzelfall das Han‐ deln aller, die Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben. 41 In dem Agitprop-Stück Germania Tod in Berlin liegt die Betonung weiterhin auf dem Handeln Einzelner, aber Müller erweitert die Perspektive auf historische Prozesse in absteigender Linie. Die Szenen rollen in aphoristisch zugespitzter Diktion vorbei: Die Straße 1 Berlin 1918; Die Straße 2 Berlin 1949; Brandenbur‐ gisches Konzert 1 (mit Manege und 2 Clowns); Brandenburgisches Konzert 2 (Schloß mit Genossen); Hommage a Stalin 1 (Schnee, Schlachtlärm); Hommage a Stalin 2 (Kneipe, Kleinbürger, Huren, Aktivist, Schädelverkäufer); Die heilige Familie (Führerbunker); Das Arbeiterdenkmal (Polierer, Maurer); Die Brüder 1 (historischer Rückblick Arminius und Flavus); Die Brüder 2 (Gefängnis); Nacht‐ stück; Tod in Berlin 1 (Strophe von Georg Heym); Tod in Berlin 2. Die deutsche Geschichte als Teil der Weltgeschichte führt in die Entmenschlichung, bis sie in die Mechanik eines monströsen Maschinenwesens mündet, das in sich die Ver‐ gangenheit (Gernot, Hagen, Volker und Gunther) und die namenlosen Soldaten (Nr. 1, 2, 3) des Zweiten Weltkriegs aufnimmt. Alle schlagen sich in Stücke. Der Schlachtlärm hört auf. „Dann kriechen die Leichenteile aufeinander zu und for‐ mieren sich mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 52 Schrott und Menschenmaterial.“ (51) Mitläufer, pflichtbewusste Untertanen, Verblendete, die an einen gerechten Staat glauben, staatshörige Nischenbe‐ wohner, die klagen aber überleben wollen und auf das Recht freier Meinungs‐ äußerung verzichten, fliehen in die innere Immigration. Übrigbleibende Indivi‐ duen werden zu Seife verarbeitet. Die eindeutige Verurteilung des Ewig-Gestrigen erstreckt sich besonders auf Figuren, die überzeugt sind oder waren, dass sie nur ihre Pflicht erfüllten, Ein‐ zelne, deren Leben scheinbar nahtlos aus der Vergangenheit in die Gegenwart übergeht und die nichts aus der Katastrophe gelernt haben und Figuren, die nicht an die Vergangenheit erinnert werden wollen und sie abschotten. Siegfried Lenz schildert diese Haltung in der Deutschstunde (1968) im Lebensabriss des Landpolizisten Jens Ole Jepsen. Personen, die diese Geisteshaltung repräsen‐ tieren, erfüllen Funktionen des Appells an die Vernunft und der Kontrastierung mit anderen, die sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Gezielte Charakterstudien dieser Art sind beispielsweise der ehemalige Lageraufseher Arnold Heppner (Becker, Bronsteins Kinder), der Bürgermeister und die Leiterin des Jugendamts von Steyr (Erich Hackl, Abschied von Sidonie), Skodlerrak, So‐ zialist, SS -Mitglied, Schwarzhändler, Anpassungskünstler (Peter Härtling, Eine Frau, 1974), Eduard Nemec (Peter Härtling, Nachgetragene Liebe, 1980), die Mutter Anitas und der Fotograf (Botho Strauß, Schlußchor, 1991) und die schweizer Polizisten, die Karel Neruda und Heinrich Zinn zusammenschlagen, Neruda an die Deutschen ausliefern und nach Kriegsende Zinn festnehmen und in ein Heim bringen. Zinn wird überwältigt, denn sein Haus muss enteignet werden und einem Staudamm Platz machen, der schließlich die ganze Gegend unter Wasser setzt (Silvio Blatter, Das blaue Haus, 1990). Eng verknüpft mit Kontrastierungen dieser Art ist der Kunstgriff im Erzählverfahren, zwei Welten zu konfrontieren, die in knapper Chiffrierung Fotos zeitlos schöner Land‐ schaften mit eingestreuten Dörfern und Schlössern dem Leben im Dorf gegen‐ überstellen, das alle Merkmale des Daseins in einer Diktatur hat. In anderen Romanen und Erzählungen wird eine Einstellung deutlich, welche die kollektive Schuld und die Verfehlung Einzelner nicht einseitig anprangert, sondern aus distanzierter Sicht die Schuldfrage erwägt. Dieses Anliegen bedingt ein Erzählverfahren, in dem das Unfassbare zu Wort kommt. Darüber hinaus verlangt die literarische Gestaltung dieser Problemstellung eine Auseinander‐ setzung sowohl mit den Gefühlen der Generation Jugendlicher, die das Dritte Reich noch miterlebt haben, aber überzeugt sind, persönlich unschuldig zu sein, als auch mit der Einstellung der nach dem Krieg geborenen Menschen, die sich gegen den Generalverdacht wenden, dass sie als Deutsche mitverantwortlich für die Vergangenheit sind und den Vorwurf der Schuld und Schande ablehnen. 2.3. Schuld und Sühne 53 Von wesentlicher Bedeutung ist die charakteristische Nuancierung in den Er‐ zählungen, die bei allen Gemeinsamkeiten unterschiedliche Deutungen zulässt. Vergleicht man beispielsweise die Aufarbeitung der Vergangenheit in Peter Schneiders Roman Eduards Heimkehr (1999) mit Jurek Beckers Bronsteins Kinder (1986), so ergeben sich bei vergleichbarer Fragestellung erhebliche Unter‐ schiede. Schneider wählt Berlin als Handlungsraum. Der Ort, Hauptstadt des Dritten Reiches und der DDR , zehnjährige Wiederkehr des Mauerfalls, neue Hauptstadt Deutschlands, bietet die Voraussetzung für eine Fixierung auf die deutsche Ver‐ gangenheit. Der Handlungskern ist jedoch eine alltägliche, fast banale Ge‐ schichte. Eduard erhält eine Stellung in Berlin, kehrt aus den USA heim, muss seine Frau und Kinder nachholen und eine Wohnung für die Familie finden. Die Erzählung schildert häufig erörterte alltägliche Probleme moderner Ehen, die im konkreten Fall durch die Umsiedlung profiliert werden. Von zentraler Be‐ deutung ist Eduards Verhältnis zu seiner deutsch-jüdischen Frau. Dieses wird maßgebend bestimmt von seinem Beziehungswahn, der ihn zwingt, die alltäg‐ lichsten Ereignisse aus der Sicht seines Deutschtums und dadurch im Licht seiner deutschen Vergangenheit zu sehen. Eduards Erinnerungen führen zu ständigen Beziehungskrisen und vermitteln den Eindruck, dass die Vergangenheit nicht bewältigt ist. Auch die Menschen, denen Eduard begegnet, neue Kollegen und alte Bekannte, leben in einer „ewigen Nach-der-Wende-Zeit und Nachkriegszeit“. Dieser Sachverhalt tritt deutlich hervor in ständigen Debatten und Reibungen zwischen Ossis und Wessis, Ossis, die dageblieben sind und Ossis, die nach dem Westen abwan‐ derten, und zwischen all den Gruppen, die sich in der DDR gebildet hatten. Der versöhnliche Schluss des Romans kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vergangenheit immer gegenwärtig ist und die Grundlage quälender Erinne‐ rungen bleibt. Ganz ähnlich präzisiert Wolfgang Hilbig das Schuldbewusstsein in Gedichten wie etwa „deutscher morgen“, „alibi“ und „grober rückfall“, in denen die Ver‐ gangenheit als unerledigte, unvollkommene Dokumentation erscheint. Die Ab‐ rechnung im Gedicht „nach dem zweiten / krieg“ erfasst das Fortbestehen des Alten in der zeitlichen Veränderung: nach dem zweiten krieg vergaß man beim aufräumen einige vokabeln aus der welt zu schaffen. noch immer nicht sind aus der deutschen sprache verbannt 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 54 42 Wolfgang Hilbig. abwesenheit. gedichte. Frankfurt a. M.: Fischer, 1979. 12. wörter wie unverbrüderlich unzertrennlich uneinnehmbar unbesiegbar. 42 Jurek Becker verfolgt in der souverän gestalteten Erzählung Bronsteins Kinder (1986) die Spuren, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führen und in der Lösung der Konflikte die Möglichkeit des Vergebens andeuten. Die vorsich‐ tige Sondierung des Gegenwärtigen und Gestrigen erfolgt aus der Sicht des jü‐ dischen Schülers Hans. Becker schildert einen grundlegenden Ausschnitt aus dem Lebensweg von Hans, indem er multiperspektivisch gebrochene, gegen‐ wärtige Erfahrungen und Erinnerungsmuster entwirft, die deutsch-jüdische Be‐ ziehungen, den Konflikt zwischen Rechtsstaat und Willkür und Vergeltung und Vergeben objektivieren. Das Zusammenwirken von Individuellem und Gesell‐ schaftlichem wird deutlich in dem scharf profilierten Handlungsverlauf. Der Vater und zwei seiner Freunde nehmen den ehemaligen Lageraufseher Arnold Heppner gefangen, binden ihn in einem Sommerhaus fest, verhören ihn und verlangen ein Geständnis seiner Schuld. Hans überrascht die Gruppe und ver‐ sucht, seinen Vater von dem widerrechtlichen Handeln zu überzeugen. Er selbst denkt über vergangene Willkür, das Unrecht, die Opfer des Faschismus und die gegenwärtige Situation nach. Er besucht den Gefangenen und ringt sich schließ‐ lich zu dem Entschluss durch, den Lageraufseher zu befreien. Er kauft Feilen, um die Fesseln zu beseitigen, kommt nach Hause, wo er den am Herzschlag verstorbenen Vater findet, führt aber seinen Plan durch und befreit Heppner. Hans wird von Freunden des Vaters, Rahel und Hugo Lepschitz, aufgenommen und lebt mit ihnen 1973 bis 1974. Er besteht das Abitur, wird zum Studium zu‐ gelassen und hofft auf eine Zukunft, in der die Vergangenheit endlich bewältigt ist. Die Darstellung ist konzentriert auf den geistig-seelischen Prozess der Selbst‐ findung, der in der Auseinandersetzung mit der Familie, der Gesellschaft und der Vergangenheit zu einer höheren Stufe der Selbsterkenntnis führt. Zwi‐ schenmenschliche Beziehungen werden erschwert durch die Reaktion der Um‐ welt auf die „jüdische Frage“ und durch die konkrete Situation des Sohnes, der mit seinem Vater lebt - die Mutter ist verstorben, die Schwester lebt in einem Krankenheim - und die Welt aus eigener und dessen Sicht erlebt. Der Vater ist verschlossen. Kleine Missverständnisse erschweren das tägliche Leben. Hans stellt fest: „Ich hörte ihn seufzen und wollte etwas Tröstliches sagen, doch als 2.3. Schuld und Sühne 55 43 Jurek Becker. Bronsteins Kinder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986. 127. 44 Pascal Bruckner. The Tyranny of Guilt. Princeton: Princeton UP, 2010. ich mich umdrehte, saß er nicht mehr da. So war es immer: immerzu war einer gekränkt, immerzu mußte der andere sich plagen, das Elend wieder aus der Welt zu schaffen.“ 43 Hans steht den oft gehörten Erzählungen des Vaters „kühl und skeptisch“ gegenüber und findet, er sei unwillig den Umschwung im Denken der jungen Generation zu verstehen. Hans ist beliebt in der Schule, aber wird anders, vorsichtiger behandelt, sobald man weiß, dass er Jude ist. Ein Vorfall im Duschraum, wo Hans seine Badehose nicht auszieht, belegt, dass auch er sich zuweilen als Außenseiter sieht. Positive und negative Vorurteile bestehen fort. Die Freundin Martha findet Arbeit als Komparsin und spielt eine Jüdin mit gelbem Stern. Sofort findet man, sie sehe „echt“ jüdisch aus. Die Komparsen sitzen in Pausen als Gruppen: die SS -Soldaten zusammen und gegenüber die Juden nebeneinander. (196 ff.) Die Gefangennahme des Lageraufsehers und die Diskussionen der Beteiligten veranschaulichen die nahezu unüberbrückbaren Vorstellungen vom gegenwärtigen Staat. Hans ist sicher, dass jedes Gericht den Mann ohne Sympathie und aus Überzeugung verurteilen werde. Der Vater da‐ gegen glaubt, der Aufseher wird nur verurteilt, weil „ihnen nichts anderes übrigbliebe.“ (129) Hans kämpft gegen die Unvernunft, findet die Opfer haben kein Recht, sich über die Gesetze zu stellen, und fürchtet sich, in einem Land zu leben, in dem sich jeder selbst zum Richter ernennt. (136-140) Aber er erkennt die ständige Gereiztheit der überlebenden Juden. Ihre Vorstellung vom Deutschtum war literarisch und philosophisch gefärbt. Die Wirklichkeit ent‐ sprach nie und entspricht auch jetzt nicht dem Ideal. Pascal Bruckner kommt in seiner ausführlichen und überzeugenden Unter‐ suchung des weitverbreiteten Schuldgefühls in der westlichen Welt zu einem vergleichbaren Ergebnis. Er findet, Schuldkomplexe entspringen der Überzeu‐ gung, dass der Verlauf historischer Entwicklungen nicht der Idealkonzeption gesellschaftlicher Reifung entspricht. Die Vorstellung eines Ablaufs der Ge‐ schichte in die Richtung höherer Sittlichkeit verurteilt alle, die an den Fehlent‐ scheidungen des 20. Jahrhunderts beteiligt waren. Darüber hinaus verurteilt dieser Wertmaßstab die gegenwärtige Generation zum Schweigen. 44 Bernhard Schlink hat sich in Essays und Vorträgen mehrmals eingehend mit der Vergan‐ genheit, mit Schuld und Sühne auseinandergesetzt. Er hat die angeschnittenen Fragen außerdem überzeugend in einigen Erzählungen entwickelt. Da Schlink Jurist ist, kommt seinen Feststellungen der gesetzlichen Verantwortung für Straftaten besondere Bedeutung zu. Wie viele in der vorliegenden Darstellung aufgenommenen Kritiker und Autor(inn)en ist er überzeugt davon, dass Ausch‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 56 45 Bernhard Schlink. „Der Geist der Erzählung“, in: Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben. Zürch: Diogenes, 2005. 201-202. 46 Bernhard Schlink. Vergangenheitsschuld. Beiträge zu einem deutschen Thema. Zürich: Diogenes, 2007. 12. witz und der Holocaust unter dem Zeichen der Unvergänglichkeit stehen. Die Katastrophe, in der die Grenze zwischen Gut und Böse eindeutig war, hat Wunden gerissen, die schwer zu heilen sind und „wieder aufbrechen können“. Schlink geht davon aus, dass sich alle mit dieser Vergangenheit auseinander‐ setzen müssen, um einen Weg zum Geschichtsverständnis zu finden. „Der Ver‐ gangenheit in die Augen sehen - das heißt sehen, daß die Vergangenheit uns anschaut, uns stellt und daß wir ihr furchtbares Angesicht letztlich nur ertragen können, wenn wir entweder gleichgültig und zynisch werden oder aber etwas entgegenzusetzen haben. Letztlich heißt, der Vergangenheit in die Augen sehen, eine Entscheidung treffen. Zunächst heißt es, die Herausforderung ihres furcht‐ baren Angesichts annehmen.“ 45 Dieses Gegenübertreten verlangt die Auseinan‐ dersetzung mit Schuld und Sühne. Die Erwägungen in Vergangenheitsschuld (2007) kommen zu Ergebnissen, die in jeder Aufarbeitung der Vergangenheit zu berücksichtigen sind. Schuld kann nicht nur im Handeln Einzelner, sondern in geschichtlichen Abschnitten wur‐ zeln. Deshalb können Generationen schuldig werden oder sich schuldig fühlen. Diese Schuldgefühle entstehen in Personen aus der Empfindung, zwar nicht strafbar gehandelt zu haben, aber Zeuge der Ereignisse gewesen zu sein. Somit konnten Menschen schuldig werden, wenn sie keinen Widerstand leisteten oder Widerspruch erhoben. Diese Beobachtung setzt ein Ideal des persönlichen Ver‐ antwortungsbewusstseins, der Moral, Sitte, Religion voraus, das unter einer Diktatur, in der Menschen schon vor einem Parteiabzeichen erbleichten, kaum denkbar war. Schlink lehnt jedoch die Vorstellung kollektiver Tatschuld ab. „… es gibt Schuldübertragungen weder in der Horizontalen, unter Angehörigen einer Generation, noch in der Vertikalen, von einer Generation auf die nächste. Kol‐ lektivschuld, bei der alle Glieder des Kollektivs schuldig sind, weil einige schuldig sind, ist mit dem juristischen Begriff der Schuld unvereinbar.“ 46 Er er‐ kennt jedoch, dass die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Volk „Solidarität“ stiftet, die Befangenheit, Scham und Schuldgefühle hervorruft, die den rechtli‐ chen Schuldbegriff sprengen. Die einzige für die Nachkriegsgenerationen, aber wahrscheinlich für viele nicht denkbare Entscheidung wäre, sich von der Ver‐ gangenheit der Eltern loszusagen. (32-33) „Gerade weil die Vergangenheit die gegenwärtige Identität mitkonstituiert, gehört zum Umgang mit ihr, sich von Vergangenem loszusagen, mit Vergangenem zu brechen und, so es um kollektive 2.3. Schuld und Sühne 57 47 Bernhard Schlink. Der Vorleser. Zürich: Diogenes, 1995. 43. Vergangenheit geht, diejenigen abzulehnen und auszugrenzen, deren individu‐ elle Vergangenheit der kollektiven nicht zugerechnet werden soll.“ (78) Zuweilen verhüllte, manchmal klar ersichtliche Stellungnahmen zu diesen Fragen bestimmen den Erfahrungshorizont der Figuren in Schlinks Erzählungen Der Vorleser (1995), „Das Mädchen mit der Eidechse“ (2000) und Das Wochenende (2008). Die Handlung des Bestsellers Der Vorleser verknüpft in klar umrissener Folge von Ereignissen die alltägliche Geschichte eines Jungen, der sich in eine ältere Frau verliebt und mit ihr ein Verhältnis hat, mit dem Problem der Ver‐ gangenheitsbewältigung, das unter dem Vorzeichen „Auschwitz“ steht. Der fünfzehnjährige Michael Berg verliebt sich in die Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Das Verhältnis gibt dem „Jungchen“, wie sie ihn nennt, Sicher‐ heit und das Gefühl erwachsen zu sein. Es hinterlässt deutliche Spuren in seiner erotischen Gefühlswelt und seiner Haltung zur Umwelt. Das Ungewöhnliche, eigentümlich Geheimnisvolle in der Beziehung ist die Tatsache, dass Michael der Frau vor dem intimen Zusammensein immer vorlesen muss. Das Vorlesen beginnt, nachdem er ihr von den in der Schule besprochenen Texten erzählt. Sie ist hochinteressiert, will mehr wissen und erwidert auf seine Bemerkung, sie könne die Sachen doch selbst lesen, er habe eine besonders schöne Stimme und solle ihr zur Freude vorlesen. „Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen - das wurde das Ritual unserer Treffen.“ 47 Der Sommer kommt; Ferienzeit; Michael ist mit Gleichaltrigen im Schwimmbad, sieht plötzlich Hanna, die ihm zuschaut, und am nächsten Tag hat sie die Stadt verlassen. Ob es die Erkenntnis war, dass er letztlich nicht zu ihr, sondern zu seiner Generation gehörte, oder ob sie fühlte, wie es ihn wegzog, bleibt unbeantwortet. Er beendet die Schule, studiert Jura und nimmt an einem Seminar teil, in dessen Rahmen die Studenten die Verhandlung in einem KZ -Prozess verfolgen und zu Diskussionen über Schuld und rückwirkende Be‐ strafung auswerten. Michael sieht Hanna als Angeklagte im Gerichtssaal wieder, sie wird für den Tod einer Gruppe von KZ -Häftlingen in einer brennenden Kirche verantwortlich gemacht. Er beobachtet das Verfahren von Verlesung der Anklage über Bestandsaufnahme, Untersuchung, Eingaben der Verteidiger und Gutachten bis zur Urteilsverkündung. Michael ist jedoch nicht nur objektiver Beobachter, sondern Mitbeteiligter, der sein eigenes Verantwortungsbewusst‐ sein überprüft, und Mitwisser, denn er ist der Einzige, der Hannas streng gehü‐ tetes Geheimnis kennt, dass sie Analphabetin ist. Die Bedeutung seines früheren Vorlesens wird deutlich, zugleich auch Hannas Verlangen, unter keinen Um‐ ständen ihre Unkenntnis zu gestehen. 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 58 Michael gerät in tiefste Gewissenskonflikte. Hanna ist der volle Umfang der Anklage überhaupt nicht bewusst; sie hat Dokumente unterschrieben, deren Inhalt ihr unbekannt geblieben ist; mildernde Umstände wären anzuführen; sie wird von den Mitangeklagten zum Sündenbock gestempelt, ohne dass sie es merkt. Ihr Schweigen verlangt eine Entscheidung. Er fragt sich, ob er das Ge‐ heimnis auch gegen den Willen Hannas lüften soll, versucht die ethische Vo‐ raussetzung seines Handelns oder Schweigens zu ergründen, und erfährt die Notlage des Mitwissers, die ihn dazu zwingt, sich mit der Situation der Mitwisser in der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Michael durchläuft Stufen der Ent‐ wicklung in seinem Verhältnis zur Vergangenheit, die in Umrissen eigentlich in allen Aufarbeitungen der deutschen Geschichte geschildert werden. Die Stu‐ denten des KZ -Seminars verlangen Rechtfertigung und Sühne. „Je furchtbarer die Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns den Atem stocken ließen - wir hielten sie triumphierend hoch.“ (88) Michael erfährt Gruppensolidarität: „das gute Gefühl, dazuzugehören“. (89) Michael erkennt die Schuld Hannas, versucht aber auch ihr Verbrechen zu verstehen. Es gelingt nicht. „Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Ver‐ stehen.“ (151) Sie nicht zu verstehen, kommt ihm wie ein Verrat an ihr vor. Er grübelt nach über das Grässliche und zugleich Verständliche im Handeln Hannas. Sie hatte als Lageraufseherin die Aufgabe, die Arbeiter und Arbeite‐ rinnen, die nicht mehr tauglich waren, zum Transport zur Vergasung bereitzu‐ stellen. Sie hielt immer Vorleserinnen zurück, gab ihnen damit eine längere Le‐ bensfrist, setzte sie aber letztlich doch auf die Liste, um ihre Pflicht zu tun. Michaels Vorstellungskraft versagt: „Wenn ich heute an die Jahre damals denke, fällt mir auf, wie wenig Anschauung es eigentlich gab, wie wenig Bilder, die das Leben und Morden in den Lagern vergegenwärtigten.“ (142) Später beschließt Michael das KZ Struthof-Natzweiler anzusehen. Er trampt. Ein Autofahrer nimmt ihn mit. Ein Gespräch beginnt, als der Fahrer nach seinem Bestim‐ mungsort fragt. Der Fremde, ein Kriegsteilnehmer, der kein Schuldgefühl hat, vertritt die Ansicht, dass die Lageraufseher, Offiziere und Soldaten nur ihre Ar‐ beit taten. Keine Befehle, kein Gehorsam, kein Hass, keine Rache, keine Gefühle, sondern eine allumfassende Gleichgültigkeit. Michael erkennt die Sollerfüllung der Tagesarbeit. (144-146) Er findet, das Böse als Alltäglichkeit trifft auch auf Hanna zu. Als er im KZ herumläuft, kann er die Baracken nicht mit Bildern Leidender füllen: „Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl klä‐ glichen, beschämenden Versagens.“ (149) Der Erzähler bemerkt, dass für einige 2.3. Schuld und Sühne 59 48 Bernhard Schlink. „Das Mädchen mit der Eidechse“, in: Liebesfluchten. Zürich: Dio‐ genes, 2000. 7-54. die permanente Auseinandersetzung mit der Vergangenheit „Ausdruck des Ge‐ nerationskonflikts“ war, für andere, die ihren Eltern nichts vorwerfen konnten, wurde die Vergangenheit zum eigentlichen Problem. „Was immer es mit Kol‐ lektivschuld moralisch und juristisch auf sich haben oder nicht auf sich haben mag - für meine Studentengeneration war sie erlebte Realität.“ (161) Einige überwanden ihre Scham, indem sie sich von der vorausgegangenen Generation absetzten, andere blieben auf immer einfach durch die Liebe zu den Eltern ver‐ strickt. Michael verfolgt den Prozess im Gericht. Alle wirken ermüdet. Richter, Schöffen und Anwälte sind nach langen Verhandlungswochen nicht mehr bei der Sache. Alle haben genug, wollen wieder in die Gegenwart (131). Michael erkennt das Ausmaß der Schuld, aber auch die Lebenslüge Hannas und stellt fest: „Mit der Energie, mit der sie ihre Lebenslüge aufrechterhielt, hätte sie längst lesen und schreiben lernen können.“ (132) Hanna wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er liest wieder, schickt ihr Kassetten, bekommt dann Antwort, der er entnimmt, dass sie lesen und schreiben gelernt hat. Sie wird begnadigt; er erhält einen Brief der Leiterin des Gefängnisses, besucht Hanna, verspricht, sie abzu‐ holen. Als er kommt, hat sie als Sühne Selbstmord begangen. In der Zelle findet er umfassende und vielseitige Holocaust-Literatur und ihr Testament: Michael soll ihre Ersparnisse und etwas Geld, das in einer lila Teedose ist, der Tochter der Frau übergeben, die mit ihrem Kind den Brand in der Kirche überlebte. „Sie soll entscheiden, was damit geschieht.“ (196) Michael findet die Frau in New York; sie behält die Teedose, das Geld wird im Namen Hannas an die „Jewish League Against Illiteracy“ überwiesen. Mit der kurzen „computergeschrie‐ benen“ Antwort in der Tasche besucht Michael Hannas Grab, zum ersten und einzigen Mal. Die Novelle „Das Mädchen mit der Eidechse“ greift in konzentrierter Form das dem Vorleser zugrunde liegende Thema der Vergangenheitsbewältigung auf. 48 Der Erzähler schildert ein sein Leben von der Kindheit bis in die ersten Jahre des Jurastudiums bestimmendes Urerlebnis: die Wirkung eines Gemäldes. Das Bild ist der Angelpunkt der Erzählung. Es ist geheimnisumwittert. Die El‐ tern schweigen über seine Herkunft und die Identität des Künstlers. Es führt zu Spannungen zwischen den Eltern, wird vom Vater wie ein Schatz gehütet, von dem niemand wissen darf. Das Bild fasziniert, verzaubert den Jungen, wirkt geheimnisvoll und zugleich bedrohlich, weckt sein leidenschaftliches Interesse und lässt ihm keine Ruhe. Der Junge bemerkt, dass die Eltern etwas ver‐ 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 60 49 Bernhard Schlink. Das Wochenende. Zürich: Diogenes, 2008. 202-206. schweigen und erkennt ihre Vorsicht im Umgang mit anderen. Er macht sich scheinbar keine besonderen Gedanken darüber, als der Vater als Richter abtritt, eine gering bezahlte Stellung bei einer Versicherung annimmt und schließlich jede Arbeit verliert, weil er zu viel trinkt. Der Versuch das Rätsel nach dem Tod des Vaters zu lösen, enthüllt zwar dessen Verstrickung in moralischer und ju‐ ristischer Schuld im Krieg, lässt aber dennoch keine eindeutige Antwort zu. Der Vater hat als Kriegsgerichtsrat in Straßburg Menschen zum Tod verurteilt, hat möglicherweise das Gemälde von einem halbjüdischen Künstler als Geschenk erhalten, weil er der Familie zur Flucht verhalf, möglicherweise aber auch nur zur Aufbewahrung. Da sich aus den Nachforschungen des Sohns ergibt, dass sich in Straßburg jede Spur von dem Maler René Dalmann verliert, entsteht zusätzlich der Verdacht, der Vater habe sich vielleicht am Eigentum des Malers vergriffen, sei selbst für dessen Tod verantwortlich. Die Fragen bleiben unbe‐ antwortet. Vom Vater liegt nur eine juristische Richtigstellung seines Falls vor. Der Sohn nimmt das Bild zu sich, kann sich jedoch nicht dazu durchringen, es einem Museum auszuliefern. Er verbrennt es am Strand und sieht noch für den Bruchteil einer Sekunde unter dem Bild das berühmteste in Ausstellungskata‐ logen und Kunstgeschichten erwähnte Gemälde des Malers, das er „hatte schützen und auf die Flucht mitnehmen wollen.“ (54) Der Schluss der Novelle stellt die Frage der Selbstverantwortung in grelles Licht: „Eine Weile schaute er den blauroten Flämmchen zu. Dann ging er nach Hause.“ (54) Die Handlung in Das Wochenende ist auf Gespräche, Diskussionen, Behaup‐ tungen und scharfe Entgegnungen begrenzt. Der Anlass für das Treffen ist die Begnadigung des Terroristen Jörg. Seine Schwester hat auf dem Land in Bran‐ denburg ein Haus gekauft, hat seine und ihre alten Freunde eingeladen, die hier Freitag, Samstag und Sonntag bleiben sollen, holt Jörg vom Gefängnis ab und bereitet mit ihrer Freundin den Empfang vor. Aus den Unterhaltungen aller wird deutlich, dass sich keiner richtig an die Tage der Studentenunruhen, Vi‐ etnam-Proteste und Anschläge gegen den Staat (die Machthaber und ihre Bü‐ rokraten) erinnern kann. Sie leben in einer anderen Zeit, haben Karriere ge‐ macht und sich abgefunden. Sie haben sich von der Vergangenheit losgesagt, haben sich ihre „Sünden“ vergeben und dadurch von der Last der Gemein‐ schaftsschuld befreit. Sie erinnern sich an die Atmosphäre, die nächtelangen Diskussionen, Planungen, Vorbereitungen auf Taten. Sie wollten „selbstlos den‐ kend“ die Welt verändern. Der Staat war ein Unrechtsstaat und Widerstand ohne Gewalt war undenkbar. 49 Die nächste Generation kommt in der Auseinander‐ setzung zwischen Jörg und seinem Sohn Ferdinand zu Wort. Ferdinand verlangt 2.3. Schuld und Sühne 61 eine Erklärung für die Aktionen, die schuldlosen Menschen das Leben kostete. Er besteht eigentlich auf einem Geständnis der Schuld. Er sieht sich in der Rolle des Sohnes, der den Vater anklagt, und als Stellvertreter der mit ihm befreun‐ deten Kinder eines ermordeten Bankchefs. Er donnert: „Du bist zur Wahrheit und zur Trauer so unfähig, wie die Nazis es waren. Du bist keinen Deut besser - nicht als du Leute ermordet hast, die dir nichts getan haben, und nicht als du danach nicht begriffen hast, was du getan hast. … Dir tun nicht die anderen leid, du tust dir nur selbst leid.“ (159) Der Vater sitzt vor ihm mit aufgerissenen Augen und halboffenem Mund. Er kann sich an nichts erinnern. Am Ende resigniert Ferdinand. Er erkennt, dass sich sein Vater von seiner Vergangenheit losgesagt hat, nichts mehr weiß oder wissen will und auch das Leben in der Gegenwart nicht begreift. Der Blick trifft auf Studentenunruhen, die Jahre der DDR , den Krieg und die Nazi-Herrschaft, Perioden der deutschen Geschichte, die einem unbereinigten Minenfeld ähneln, in dem man leicht zu Schaden kommt. Berlin und Auschwitz sind politische und literarische Chiffren für Abschluss und Neuanfang, für in‐ dividuelle Schuld, kollektives Schuldgefühl und Unterlassungssünden. Köln, Dresden und Gulag sind Chiffren für Leiden, Klage und Opfer. Die Besinnung auf die Vergangenheit enthüllt sich als potentieller Gewinn für das Verständnis der Gegenwart. Die Haltung aller Autor(inn)en, die sich bemühen, das histori‐ sche Geschehen zu begreifen, steht unter dem Leitspruch: Beschäftigung mit der Vergangenheit ist Tagespflicht. 2. Vergangenheit: Erinnern - Wiederherstellen - Deuten 62 3. Krieg 3.1. Motive und stilistische Signaturen Der Sammelbegriff „Kriegsliteratur“ kennzeichnet allgemein die stoffliche Kom‐ ponente und Schilderungen konkreter Ereignisse, Erzählungen menschlicher Schicksale, Gestaltungen, in denen das Unbestimmte, Unübersichtliche und ständig Wechselnde des Geschehens hervortritt sowie Auseinandersetzungen mit dem Orientierungsverlust und der Suche nach einer sinnstiftenden Ordnung einzelner Figuren. Bereits die Sichtung der Fülle des Materials bereitet Schwie‐ rigkeiten. In literaturhistorischen Überblicken und Literaturgeschichten wird alle Literatur über Kriege unter Autoren oder allgemeinen Tendenzen wie etwa Vergangenheitsbewältigung, Luftkrieg oder Trümmerliteratur eingeordnet. Sie tritt profiliert hervor in Anthologien ausgewählter Kriegsgeschichten, in Ein‐ führungen (Text, Aktion, Bild) und wissenschaftlichen Konferenzbeiträgen. Sieht man vorerst von Publikationen in Sammelbänden, Veröffentlichungen in Zeitschriften, Archiven und Almanachen sowie von Erzählungen von Autor(inn)en ab, die den Begriff ‚Krieg‘ nicht im Titel führen, so ergibt sich folgendes Bild: Bibliotheken und Forschungszentren erfassen das Material unter dem Sammelbegriff ‚Krieg‘, ordnen es nach historischen Zeitabschnitten (Drei‐ ßigjähriger Krieg, Erster und Zweiter Weltkrieg), berücksichtigen Länder, glie‐ dern es nach Sachgruppen, unter denen ‚Krieg und Literatur‘ wie auch Bellet‐ ristik näher bestimmt wird. Weitere Unterteilungen in Untersuchungen aus den Fachbereichen der Geschichte, Literaturwissenschaft, Ökonomie und Polito‐ logie erleichtern die Sichtung. Trotzdem stößt jede Nachforschung auf eine na‐ hezu unübersehbare Zahl von Werken. Die Titelaufnahmen in der Deutschen Bibliothek, dem Bayerischen, den Sächsischen und Österreichischen Biblio‐ theksverbänden, der British Library, der Library of Congress und dem Erich-Maria-Remarque Archiv verzeichnen beispielsweise zwischen 1158 und 4871 Titel. Darüber hinaus wird der Zugang zur Literatur für die Themenfor‐ schung durch den Umstand erschwert, dass sich zwar Kritiker und Leser oft in auffallender Übereinstimmung finden, dieses oder jenes Buch sei eine Kriegs‐ geschichte, aber bei eingehender Befragung das Urteil erweitern. Krieg selbst‐ verständlich, eine Frontgeschichte, eine Anklage, das entsetzliche Schicksal eines Soldaten, die Leiden eines Landes, Luftkrieg, Seeschlacht, Bewährung, Überleben, Aufruf das Vaterland zu verteidigen, gute Kameraden, selbst eine Liebesgeschichte. Dementsprechend bieten sich mannigfaltige Einzelfragen an. Jeder Text, der den Krieg thematisiert, hat eine bestimmte Signatur. Sie ist nach Themenbe‐ zügen und historischen Orts- und Zeitbestimmungen differenzierbar. Besonders im historischen, politischen und sozialen Umfeld der Einzelwerke bestehen markante Unterschiede. Der Trojanische Krieg und römische Feldzüge, der Krimkrieg und der Zweite Weltkrieg, der Polenfeldzug und die Westfront, Sta‐ lingrad, die sechste Armee und Berlin haben unterschiedliche Voraussetzungen, welche die Schilderung der Ereignisse, des Milieus und der Atmosphäre prägen. Darüber hinaus beeinflussen die Umstände der Entstehung der literarischen Werke die unterschiedlichen Darstellungen. Die Ilias berichtet vom Eingreifen der Götter und gibt Auskunft über Strategien. Großangelegte Tableaus er‐ scheinen neben Aufzählungen. Im Mahabharata deutet Krishna den Krieg als notwendigen Beitrag zur Erneuerung des Lebens. Das Alte Testament, bei‐ spielsweise 4. Mose 21 und 2. Samuel, unterscheidet zwischen gerechten und ungerechten Kriegen. Gott hilft König David, der mit der „Schärfe seines Schwertes“ Jerusalem einnimmt. Beiläufig erhält man Hinweise auf Aufstel‐ lungen der Truppen, Vorbereitungen zur Schlacht und die Vernichtung der Feinde. Die Kriegsauswirkungen in Grimmelshausens Der abenteuerliche Simp‐ licissimus Teutsch (1669) - plündern, foltern, vergewaltigen, töten und sterben - sind völlig anders gestaltet in Felix Dahns Ein Kampf um Rom (1877), einem Roman, in dem Stammesverbundenheit, Treue, Rechtmäßigkeit und heroisches Ende der Goten in den Mittelpunkt gestellt werden. Die auf St. Helena von Na‐ poleon I. verfasste Untersuchung von Angriffskriegen Darstellung der Kriege Caesars, Turennes, Friedrichs des Grossen (1819), der theoretische Abriss Vom Krieg (1832) von Karl von Clausewitz und Erich Maria Remarques Anklage Im Westen nichts Neues (1929) beschreiben nicht vergleichbare Ereignisse. Horst Bieneks Gestaltungen des Krieges heben sich deutlich ab von Berichten in den Büchern von Lothar-Günther Buchheim. Gravierende Unterschiede bestehen zwischen der Protestliteratur gegen den Krieg und Schriften, die den Krieg als Fanal der nationalen Erhebung preisen und zur Verteidigung der Heimat auf‐ rufen. Die Themenforschung versucht, aus der Fülle dieser Erscheinungen die sys‐ tematische Gliederung einer Typologie herauszuarbeiten. Sie will in den viel‐ fältigen Verknüpfungen die gedankliche Gesetzlichkeit, das Ideogramm auf‐ weisen. Die Kriegsliteratur von Dokumentarberichten über Gedichte, Hörspiele und Dramen bis zu Romanen hat in ihrer jeweils spezifischen Ausprägungsform jedoch an den unterschiedlichsten literarischen Stileigenheiten teil. Zahlreiche 3. Krieg 64 Texte konzentrieren sich auf die Erfahrungen Einzelner, andere auf die ver‐ schiedener Figuren. Einige Texte stützen sich auf Tagebucheinträge der Autoren, andere sind bewusst als Dokumentation entworfen. Die Erzähltechnik der Be‐ richterstattung will den Eindruck erwecken, die Dokumentation biete die Vo‐ raussetzung objektiver Darstellung und vermittle anhand von Fakten das tat‐ sächliche Geschehen. Der Eindruck eines kaleidoskopischen Zeitbildes wird verstärkt durch Fakten, die archivalisch die Namen einzelner Akteure, konkrete Details, Rundfunknachrichten, Ausschnitte aus Reden oder Bekanntmachungen und mehrstimmige Beobachtungen von Personen aus allen Bevölkerungs‐ schichten erfassen. Konkrete Darstellungen sind grundsätzlich handlungsbe‐ tont und erwecken den Eindruck unmittelbarer Gegenwartsnähe. In der erwei‐ terten Perspektive vermitteln die Ereignisse zugleich das bewusste Nachdenken der Erzähler. Einige Texte stellen vielfältige, szenisch aufgelockerte Situationen nebeneinander und versuchen dadurch, ein umfassendes Zeitbild zu gestalten. In etlichen Darstellungen steht der Krieg im Hintergrund und redet nur in das Geschehen hinein. Trotzdem vermitteln sie die Erkenntnis, dass letztlich der Krieg die Entscheidungen, das Tun und das Unterlassen der Figuren maßgeblich bestimmt. Dieser Sachverhalt kennzeichnet sowohl von Kriegsteilnehmern ge‐ schriebene Berichte als auch Werke, die von Autor(inn)en entworfen wurden, die vom Krieg nur indirekt betroffen waren. Weitgehende Homogenität in der stilistischen Signatur besteht im Anspruch der Authentizität. Er wurzelt in der Sphäre des Stofflichen und verlangt ein Gespür für den Kriegsschauplatz, die intime Vertrautheit mit Einzelheiten des Milieus, eine genaue Kenntnis der Sprache, der typischen Reaktionen Einzelner, des Lebens an der Front, im Lazarett und im Urlaub. Kriegsberichte, faktisch orientierte Darstellungen und Rückblicke auf Erlebtes versetzen Leser in eine einstige Gegenwart, die jedoch manchmal von einer Zukunftsperspektive durchdrungen ist. Jede Einzelheit, sei es die Beschreibung einer Koje im Boot oder ein Hinweis auf einen Film, der zu der Zeit gerade lief, soll den Eindruck größter Wirklichkeitsnähe erwecken und dadurch den Anspruch der Authen‐ tizität verbürgen. Ein Vergleich von Renns und Buchheims Schilderungen zeigt, dass Konkretisierung als stilistische Konstante in Schilderungen unterschiedli‐ cher historischer Ereignisse nachweisbar ist. Ludwig Renn veranschaulicht in Krieg (1928) die Existenzmisere des Frontsoldaten Renn von der Mobilmachung 1914 über den Einmarsch in Belgien, den Stellungskrieg an der Somme, die Schlacht an der Aisnè bis zum Rückzug nach Deutschland. Die Erzählung greift zurück auf alle grundlegenden Motive der Kriegsthematik (Guter Kamerad, Hilfsbereitschaft, Durchhalten, Bewährung) und registriert eine überwältigende Monotonie des Grauens, die ständige Wiederkehr des Tötens und des Todes, den 3.1. Motive und stilistische Signaturen 65 Dreck im Graben, die Leiden und die Angst aller. Die Schilderung behält die Nahperspektive konsequent bei und verzichtet auf jede Deutung übergreifender historischer Zusammenhänge. Der Soldat verspürt eine Folge wechselnder und wiederkehrender Empfindungen, ohne die Ursachen des Krieges oder dessen historische Bedingungen zu begreifen. Er steht letztlich dem Umsturz und der kommenden Revolution verständnislos gegenüber. Renns Beschreibungen des Zeitgeschehens in Nachkrieg (1930) und Inflation (1963) sind weiterhin geprägt von intensiver Wirklichkeitsnähe. Sie erweitern jedoch die Perspektive zur Befragung der Vergangenheit, da sich die zentrale Figur (der berichtende Renn) zu einer höheren Stufe der Selbst- und Welter‐ kenntnis durchringt. Nachkrieg schildert den Werdegang Renns, der in den ersten Nachkriegsjahren Bataillonsführer einer von der sozialdemokratischen Regierung aufgestellten Sicherheitstruppe in Dresden wird und dann der Si‐ cherheitspolizei beitritt. Er gibt den Dienst auf und wird Mitglied der kommu‐ nistischen Partei, da er glaubt, dass die Führung der SPD (Ebert, Scheidemann und Noske) das Ziel einer demokratischen Republik nicht erreichen können. Inflation knüpft an die politische und ökonomische Entwicklung der Nach‐ kriegsjahre an und konzentriert sich auf 1922 bis 1923. Das Leben in der Infla‐ tionszeit erinnert an den Krieg. Die Leiden der Menschen sind gut getroffen. Die Ortung der Wirtschaftsnot ist einseitig durch die utopische kommunistische Orientierung des Berichterstatters begrenzt. Die Skizzen von Einzelheiten be‐ stechen. Dagegen hat Renns These von den edlen Anfängen des Kommunismus (Renn war zur Zeit der Niederschrift von Inflation Nationalpreisträger und führender Repräsentant der sozialistischen Literatur der DDR ) viel mit seinen Gefühlen und wenig mit den politischen Fakten zu tun. Auch Lothar-Günther Buchheim greift in seinen Kriegsdokumentationen auf persönliche Erlebnisse zurück. Die Handlung in Das Boot (1973) kreist um die Erfahrungen eines U-Boot-Kommandanten und seiner Mannschaft, die dem „Alten“ vertraut, ihn verehrt und bewundert. Der Kommandant hat alle Eigen‐ schaften eines erfolgreichen Offiziers: er versenkt Schiffe, folgt den Befehlen seiner Vorgesetzten, passt sich an, kritisiert die NS -Regierung nicht für ihre Ideologie, sondern die strategischen Fehler des Seekriegs und teilt die Freude am Abenteuer der Aktionen unter Wasser. Die Handlung ist jederzeit gegen‐ wärtig und chronologisch wie in der Festung (1995). In dem weit über 1000 Seiten langen Bericht werden Leser in den letzten Sommer des Zweiten Weltkrieges zurückversetzt. War die Geisteshaltung des Erzählers im Boot die der Krieger‐ ehrung, dann ist die eingefangene allgemeine Atmosphäre in der Festung die der Anpassung an die unveränderlichen Umstände. Die Leser haben teil an Schiff-, Auto- und Bahnfahrten. „Jetzt habe ich noch mal eine Nacht und einen Tag 3. Krieg 66 1 Lothar-Günther Buchheim. Die Festung. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1995. 100. Die zahlreichen Neuauflagen und Verfilmung von Das Boot belegen, dass das Lesepub‐ likum weiterhin begeistert von der Nahperspektive und dem erzählten Erleben ist. Bahnfahrt vor mir. Und wenn es Fliegerangriffe geben sollte, wird es noch länger dauern. Verhungern und verdursten werde ich nicht: Zu essen und trinken habe ich in meiner Tasche.“ 1 Leser werden aufgefordert, sich an historische Zeitbe‐ züge zu erinnern und das geschichtlich Verbürgte anzuerkennen. „41 war über‐ haupt ein rechtes Schicksalsjahr: Mit dem Untergang der Bismarck war Schluß mit der Dickschiffherrlichkeit. Von da an war ein wirkungsvoller Handelskrieg nicht mehr möglich. Aber alle taten bald so, als wäre die Bismarck gar nicht weg.“ (556) Leser sollen sich einfühlen und mitempfinden: „Wohl tausend Stunden habe ich so wie jetzt den weiten Himmelsraum und die See in den Blick gefaßt, und jetzt heißt es den Rücken kehren! Da hocke ich nun: Farewell to the ocean. Weiß der Henker, wie ich das verkraften soll. Ich muß schlucken, damit mir nicht die Tränen über die Lider rinnen.“ (1230) Eine Mine explodiert. Kon‐ kret, authentisch, gegenwärtig, erschreckend, jeder erfährt das Ereignis beim Lesen: „‚Deckung‘ höre ich mich selber schreien und werfe mich längelang neben das rechte Vorderrad … ‚Runter in den Dreck! ‘ brülle ich … ‚Deckung! ‘ schreie ich … Da höre ich MG -Feuer; ohne Zweifel von unserer Uferseite … Da ebbt das Schießen ab, und dann ist es ganz weg. … ‚Los! Anfahren! ‘“ (1333) Die Leser werden aufgerufen, alles mitzuerleben, zu sehen und zu riechen: ein Schieferdach, auf dem Moos wächst; Amoniakgeruch in der Latrine; eine Nacht bei der Freundin. Trotz wiederkehrender Verwendung von Ausrufezeichen bleiben die Ereignisse eigentümlich schematisch. Die Kriegsereignisse wirken nahezu so geisterhaft wie die gespenstische Existenz des deutschen Nachtheers in der Normandie. Die durch Überpräzision der Details angestrebte Wirklich‐ keitsnähe geht unter in dem Schutt von Szenen und gleichermaßen bedeutend und unbedeutend wirkenden Details. Die im Text geschilderte jeweilige Reak‐ tion auf rekonstruierte Erlebnisse vermittelt keine Einblicke in das Wesen des Krieges. Viele Darstellungen beglaubigen das an sich unfassbare Geschehen, indem sie die Figuren als Augenzeugen vorstellen. Die Beschreibungen versuchen, durch vertraute Bilder, Metaphern und Sprachfügungen zu überzeugen. Im Ge‐ gensatz zu Erinnerungsdiskursen, die eine bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erkennen lassen, erweckt die Nahperspektive den Eindruck vitaler Gegenwart. Die Sinne reagieren auf eine Handlung, die nicht abge‐ schlossen ist: die Zukunft des nächsten Augenblicks und das unbekannt Bevor‐ stehende bewirken Erwartung, Hoffnung, Befürchtung und Täuschung. Die Schilderungen wollen Leser in das Geschehen verwickeln. Sie sollen an der ehe‐ 3.1. Motive und stilistische Signaturen 67 maligen Gegenwart teilhaben, kritische Vorbehalte ausschalten und vergessen, dass sie vergleichbare Ereignisse aus ihrer eigenen Erinnerung möglicherweise völlig anders beurteilen. Die ästhetische Qualität des Kriegsstoffes beruht auf dieser sinnlichen Wirkung. Besonders die scheinbar auf das ‚Tatsächliche‘ be‐ grenzte Kriegsliteratur spricht Empfindungen an und befriedigt Erwartungen, die Leser an die stoffliche Präzisierung stellen. Die Motivik von Sehen, Erleben und Berichten übernimmt die Funktion, die Ereignisse zu authentisieren. Das stilistische Verfahren ist sowohl in Tatsachenberichten als auch in Romanen und in Erzählungen nachweisbar, in denen „tatsächliche“ Ereignisse und Fiktion in‐ einander übergehen. Der Authentizitätsanspruch wurzelt entweder in unaus‐ gesprochenen oder reflektierten Versuchen der Selbstvergewisserung, in denen die Berichtenden ihr Verhältnis zu anderen, zur Gruppe, zu Kameraden und Feinden näher begründen. Was sich innerhalb dieser Bemühungen abzeichnet, ist eine Richtung geistiger Auffassung, welche die unterschiedlichen Gestal‐ tungen der Kriegsgeschehen entscheidend bestimmt. Die Haltung prägt Kon‐ stanten, in denen einerseits positive Erfolgserlebnisse, andererseits negative Er‐ fahrungen vorherrschen, in denen Sinnfragen entweder im Ethos soldatischer Pflichterfüllung aufgehen oder Erzähler vor dem schwer Auszusprechenden zö‐ gern. Unübersehbar ist die Tatsache, dass zuweilen der Wust der geschilderten Ereignisse die kritische Reflexion begrenzt oder dass mitunter im Gegensatz dazu Gewissensfragen die Erzählperspektive maßgeblich beeinflussen. Die Sich‐ tung der Konstanten bietet die Voraussetzung einer Untersuchung der stilisti‐ schen Verknüpfung von Elementen, die die allgemeinen Prinzipien des Themas begründen. Diese betreffen besonders das bereits in der „Einführung“ doku‐ mentierte wechselseitige Verhältnis von Stoff, Sujet, Motiv und Thema sowie mit dem Thema verknüpfte Grundformen des Denkens. Das Ziel der Untersu‐ chung ist die Identifikation zentraler Themenkomplexe und Motive, die den Textaufbau stützen. Wesentlich sind folgende Fragen: Unter welchen Bedin‐ gungen entsteht in einem Text ein Gefüge von Beziehungen, welches den Krieg thematisiert? Arbeiten die Berichte aus subjektiver Sicht gestaltend den Kriegs‐ stoff auf oder versuchen sie, in einem Prozess reflektierender Annäherung, das Wesen des Krieges zu erkennen? Mögliche Antworten weisen darauf hin, dass thematisierter Krieg grundsätzliche Fragen stellt. Das Thema konfrontiert das Phänomen, seine Ursachen und seine Auswirkungen. Im Gegensatz zum Szenen- und Bilderreichtum des Stoffbereichs fasst das Sujet die Mannigfaltigkeit zu einer objektivierenden, begrifflichen Einheit zu‐ sammen. Die vom Felde der Erfahrungen abstrahierte Idee des Krieges kenn‐ zeichnet allgemeine Bedingungen, die jeweils in Texten näher erläutert werden. Das Sujet ist somit ein Konzentrationselement, eine Kurzführung der Kriegs‐ 3. Krieg 68 sphäre, die Abstraktion einer bestimmbaren Vorstellung. Kleist verwendet sie in „Germania an ihre Kinder“ (1809), Heym im Gedicht „Der Krieg“ (1911), Thomas Mann in einem Brief an das „Svenska Dagbladet“ (11. 5. 1915) und in „Deutsche Hörer! Fünfundfünzig Radiosendungen nach Deutschland“ (1945), Bruno Apitz in Nackt unter Wölfen (1958), Wolfgang Schreyer in Unternehmen „Thunderstorm“ (1954) und Günter de Bruyn in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992). Aufschlussreich sind Manns Brief und seine darauf gründenden Überlegungen. Er kennzeichnet darin unter anderem Deutschlands Angriff im Westen als notwendige und sinnvolle Selbstverteidigung. Zur Erhärtung seiner Kriegsthesen führt er einige Verse aus Schillers Braut von Messina (1803) an. Romain Rolland reagiert äußerst gereizt. Mann nimmt daraufhin in den Be‐ trachtungen eines Unpolitischen (1918) in seiner Darlegung der Spannung zwi‐ schen Politik und Ästhetizismus abermals Stellung zu dem Zitat. Jetzt dient der Hinweis dazu, Schiller als Dramatiker und Ästhet zu charakterisieren, der ob‐ jektiv die Vorzüge des Krieges und Friedens zu Wort kommen lässt. Die Stelle findet sich im 1. Aufzug, 8. Auftritt. „Einer aus dem Chor“ tritt hervor und preist den Frieden als lieblichen, am ruhigen Bach gelagerten Knaben, der seiner Flöte süßes Tönen entlockt und von hüpfenden Lämmern umgeben ist. Unvermittelt und ohne Bruch im Versmaß, nur durch die adversative Konjunktion „aber“ eingeleitet, geht der Sprecher dazu über, ein Hohelied auf den Krieg zu singen. Er lobt den Krieg als Beweger des Menschengeschicks. „Der Krieg läßt die Kraft erscheinen. Alles hebt er zum Ungemeinen.“ Was Mann zu seinen widersprüch‐ lichen und später erneut revidierten Aussagen bewegt, ist der besondere Sach‐ verhalt in Schillers Trauerspiel, der gleichermaßen markant in der Wallen‐ stein-Trilogie (1800) hervortritt. Schiller verwendet Krieg als Sujet im Sinne unserer gegenwärtigen Begriffsbestimmung. Das Sujet kann außerdem in der Verbindung mit Motiven (Aggression, Appell an nationale Gefühle, Bruderkon‐ flikt, Herrschaftsanspruch, Zufall) als Verweisfigur, die Signalfunktion hat, zum Funktionsträger werden. Unter diesen Voraussetzungen gewährt die genaue Bestimmung eines Sujets Einblicke in die Wechselbeziehungen zwischen domi‐ nanten Figuren, einzelnen Elementen, Textfeldern und Strukturen. Zum festen Bestand der Kriegsliteratur gehören eine Reihe strukturbildender Motive. Sie verknüpfen Erzählschichten und stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis mit anderen Elementen eines Textes. Sie stellen Spannungs‐ bögen in Texten her, wirken direkt auf die Handlung zurück und veranschauli‐ chen das Thema Krieg. Sie präzisieren Ort, Zeit, eine typische Situation, mensch‐ liche Verhaltensweisen oder auch Denkformen, die entweder individuell gegeben sind oder im kollektiven Bewusstsein gründen. Einzelne Motive (Brot‐ beutel, Kinderschuhe, Obstbaum) können zum zentralen Anliegen in einem Ge‐ 3.1. Motive und stilistische Signaturen 69 dicht oder einer Erzählung werden. Es gehört zur besonderen Eigenart einiger Kriegsmotive, dass sie Grunderlebnisse und Erfahrungsgehalte ansprechen, die im historischen Ablauf entstanden sind, sich wiederholt haben und in der Ge‐ genwart wiederholen. Es sind gleichsam im kollektiven Bewusstsein aufbe‐ wahrte und im Leben wiederkehrende Situationen. Vorausdeutungen, rück‐ wendende Einführungen und Schlüsse der Erzählungen kennzeichnen den Standort der Erzähler. Sie schließen an die literarische Tradition der Verkün‐ dungs- und Schlusstopik an. Die Erzählperspektive ist unterschiedlich. Ein Er‐ zähler erweckt den Eindruck, er sei gegenwärtig und habe teil am Geschehen. Ein anderer berichtet aus kritischer Distanz. In einigen Erzählungen erscheinen die Kriegsauswirkungen aus der Sicht der Nachgeborenen und führen innerhalb einer distanzierten Bestandsaufnahme zu intensiver Besinnung. Zahlreiche, schematische Einführungen singender, blumengeschmückter Soldaten, hoff‐ nungsvoller Jugendlicher, die freudig aus dem Alltag wegstreben, und begeis‐ terter Lehrer unterstreichen das Pathos der Befreiung, das im Erzählverlauf häufig desillusioniert wird. Gleichermaßen desillusionierend wirken in Ein‐ gängen Worte wie „unverbrüchlich“, „unzertrennlich“, „uneinnehmbar“ und „unbesiegbar“. Hinweise auf eine unverbrüchliche Kameradschaft motivieren spätere Entscheidungen, in denen der Charakter der Kameraden geprüft wird. Einige Autoren und Autorinnen der Gegenwartsliteratur nehmen in Einfüh‐ rungen, in denen Söhne oder Töchter entweder alte Briefe lesen oder auf Foto‐ grafien der im Krieg verschollenen Väter schauen, die thematisierte Identitäts‐ suche der Nachgeborenen vorweg. Selbst die bereits Erwachsenen finden zufällig beim Aufräumen längst vergessene Briefe; sie starren auf eine Foto‐ grafie; sie stellen quälende Fragen: Warum hast du geschwiegen? Warum hast du dich verschlossen, als du noch da warst? Warum hast du mich allein gelassen? Aus den Fragen an den Vater entsteht ein neues Verhältnis, in dem sich die peinigende Erinnerung klärt. Das Motiv der Konfrontation der Nachgeborenen mit den Tätern und Opfern kann stark differenziert werden. Es verweist jedoch grundsätzlich auf die existenzielle Notlage, die Ich-Suche, die Angst oder den heimlichen Widerstand der Fragenden und Versuche, das Wesen des Kriegs zu verstehen. Diese Ausarbeitung der Motive ist deutlich in: Peter Härtling. Nach‐ getragene Liebe (1980), Sibylle Knauss. Die Nacht mit Paul (1994), Siegfried Lenz. Deutschstunde (1968), Christoph Meckel. Suchbild. Über meinen Vater (1980), Eli‐ sabeth Plessen. Mitteilung an den Adel (1976), Ruth Rehmann. Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater (1979) und Bernward Vesper. Die Reise: Romanessay (1977). Der Ausgang einer Erzählung kann abschließenden Charakter haben und einen Appell an die Gefühle der Leser richten. Aber die Stilisierung einer 3. Krieg 70 schuldlos leidenden Generation und die Formeln „Nie wieder, niemals ver‐ gessen“ können zu sinnentleerten Ritualen werden, wenn Kinder die Taten der Väter nicht vergessen können, wenn Kriege in Albträumen fortbestehen oder ein neuer Krieg droht. Ebenso kann der Schluss in die Zukunft weisen und zum kritischen Nachdenken anregen. Ein Heimkehrer steht der fremdgewordenen Frau gegenüber, ein anderer fährt im Transport am Elternhaus vorbei und sieht, wie es gerade geplündert wird, und ein Erzähler stellt die Frage, ob wir „die von uns nicht empfundene Abhängigkeit“ von einem unabwendlich ablaufenden Geschehen zuletzt nicht doch „anerkennen“ müssen. Das Ende kann die letzte Konsequenz aus dem Geschehen ziehen. Der Tod wird vorhersagbar und kommt. Die Nachrichten melden nichts Neues (Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. 1929). Die weiße Fahne wird gehisst. Aber der Heimkehrer stirbt auf der Türschwelle des Elternhauses (Heinrich Böll. Billard um Halbzehn. 1959). Motive der Ortsbestimmung vermitteln den Eindruck anschaulich erfassbarer Schauplätze der Handlung. Sie schließen an die Verkündigungstopik an und werden mitunter zu einer elementaren, geistigen Formel verknüpft. Sie ver‐ leihen häufig Handlungsabläufen aus der Sicht eines unaufhaltsam abrollenden Prozesses ihre innere Stimmigkeit. Wiederkehrende Ortsbestimmungen sind zentrale Plätze, auf denen Schlachten ausgetragen wurden (Ardennen, Ostfront, ein U-Boot, der Untergang der Bismarck oder der Scharnhorst, Stalingrad, Moskau, Berlin, Dresden, Palermo, Monte Cassino und Orte der Siegerehrung wie etwa das Brandenburger Tor). Jeder Ort ruft sofort historisch nachweisbare und bekannte Ereignisse ins Gedächtnis. Andererseits verknüpfen Autoren die Handlung mit abseitigen, am Rand des großen Geschehens liegenden Plätzen. Leser werden in abgelegene Orte in Schlesien, Polen oder Jugoslawien versetzt und erfahren die Auswirkungen des Krieges im Ausschnitt der kleinen Welt. Der Ort verknüpft prägnante Augenblicke mit auswechselbaren Situationen und vergleichbaren, wenn auch durchaus gegensätzlichen Reaktionen. So tritt bei‐ spielsweise das Brandenburger Tor in Fontanes Gedicht „Einzug“ (16. 6. 1871) markant hervor: „Zum dritten Mal / Ziehen sie ein durch das große Portal; / Die Linden hinauf erdröhnt ihr Schritt, / Preußen-Deutschland fühlt ihn mit.“ Die Assoziationen Krieg, Sieg, Siegerehrung sind eindeutig. Sie motivieren das Ge‐ schehen und gehören zum festen Bestand kollektiver Denkbilder, die Günter Grass in Ein weites Feld (1995) desillusioniert: „Und siehe da. zum dritten Mal ziehen sie ein durch das große Portal. der Kaiser vorauf. die Sonne scheint. alles lacht und alles weint.“ Nähere Bestimmungen des Ortes, wie etwa Schützen‐ graben, Gulaschkanonen, Feldlazarette oder Brücken gehen als Topoi in die Kriegsliteratur ein. Sie haben auslösende Funktion und unterstreichen be‐ 3.1. Motive und stilistische Signaturen 71 2 Siegfried Lenz. Deutschstunde. München: DTV, 1968. 1972. 371. 3 Horst Bienek. Erde und Feuer. München: Hanser, 1982. 315. stimmte Verhaltensweisen: Warten, Reaktionen auf die Verteilung des Proviants an die Überlebenden, Sterben oder Davonkommen. Aus den Kämpfen um Brücken, dem Aufbauen und Sprengen, dem plötzlichen Tod, zweigt sich das Motiv der Verkehrten Welt ab. Es leitet im Allgemeinen Reflexionen über die Sinnlosigkeit menschlicher Handlungen ein. Böll (Wo warst du, Adam? 1951) schildert beispielsweise, wie eine Abteilung von Pionieren unter der Leitung eines tüchtigen Majors, eines Fachmanns im Hoch-Tief-Bau, bei bester Laune eine gesprengte Brücke aufbaut. Alle sind mit dem Fortschritt zufrieden. Sobald die Arbeit beendet ist, kommt ein neuer Befehl. Ein anderer Pioniertrupp sprengt die Brücke, weil die geplante Gegenoffensive nicht statt‐ findet. In Aichingers Die größere Hoffnung (1948) rennt ein junges Mädchen mit einer wichtigen Nachricht auf eine Brücke. Sie wird von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen; aber über dem Geschehen steht der leuchtende Morgenstern am Himmel. Das Motiv der verkehrten Welt wertet traditionelle Vor- und Leitbilder wie Väter, Lehrer und Offiziere ab. Die Personen handeln nicht verantwortlich, sondern verantwortungslos. Die von den Figuren verin‐ nerlichte Ideologie der Pflichterfüllung artet zum Inhumanen, selbst Verbre‐ cherischen aus. Lehrer, die selbst nicht dienen mussten, rufen ihre Schüler zum Krieg auf. In Lenz’ Deutschstunde verhält sich der Vater zu seinen Söhnen wie ein Jäger zum Wild. Er will erst den älteren, aus dem Lazarett geflohenen, dann den jüngeren zur Strecke bringen: „Ich trete nicht ab, bevor du zur Strecke ge‐ bracht bist.“ 2 Die Typik der verkehrten Welt betont den Verlust einer sinnvollen Ordnung. Unvereinbares steht nebeneinander: Der Sterbende in einer Blutlache träumt, er fliege in den Äther. In einer Reihe von Texten steht die Besinnung auf die heile Natur in scharfem Kontrast zu der verwüsteten Erde. Aber die Anrufe der beseelten Natur tragen nicht und werden darüber hinaus oft desillusioniert. Die Göttin Natur, die Naturmächte, Flüsse und Bäume, das fruchtbare, bebaute Land, Felder und Gärten, alles wird in Kahlschlag verwandelt. Der Blick durch das Fernrohr bringt den Feind näher. Er klärt jedoch nicht, sondern verstellt den Zugang zur Welt. Deshalb kann Beckmann in Borcherts Draußen vor der Tür (1947) durch seine Gasmaskenbrille die Wirklichkeit nicht mehr erkennen. Letztlich steht die gesamte Welt unter dem Vorzeichen der Umkehrung. Oben ist unten und unten oben: „Fünf Tage lang ging die Sonne über Dresden nicht auf und nicht unter. Das Feuer war heller als die Sonne.“ 3 Die Kriegsmaschine zieht ihre Bahn am Himmel. Dann bohrt sie sich in einem heulenden Sturm von 3. Krieg 72 4 Vgl. Horst Bienek. Zeit ohne Glocken (1979) und Wolfgang Borchert. Die Traurigen Ge‐ ranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß (1962). 5 Hugo von Hofmannsthal. „Reitergeschichte“, in: Erzählungen und Aufsätze. Frankfurt a. M.: Fischer, 1957, 33. 6 In: Hans Egon Holthusen, Friedhelm Kemp (Hg.). Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Ebenhausen: Voss, 153. 381-882. Asche und Schutt in die Erde, um in die Unterwelt einzudringen. Im Umfeld der versehrten Landschaft treten die Farben Schwarz und Rot besonders häufig auf. Farben und Farbschattierungen senden starke Reize aus. Die durch Kontrastie‐ rung und Umwertung erzeugten Signale sind leicht fassbar. Sie beleuchten in konzentrierter Form komplizierte Sachverhalte. Schwarz ruft sofort den Tod, rot das Feuer und Blut auf den Plan. Die grüne Fläche ist überlagert von rotem Schein; Schnee und Himmel werden rot oder schwarz und rußig. 4 Hofmannsthal entwickelt beispielsweise in der „Reitergeschichte“ (1898) eine Szene des Son‐ nenuntergangs. In ihr führt er im Bild der Entweihung des Feigenblatts das bib‐ lische Motiv des Sündenfalls zur Deutung des Krieges an. Die „in schwerem Dunst untergehende Sonne“ wirft eine „ungeheure Röte“ über das ganze Land: „Ein roter Widerschein lag auf den weißen Uniformen und lachenden Gesich‐ tern, die Kürasse und Schabracken funkelten und glühten, und am stärksten drei kleine Feigenbäume, an deren weichen Blättern die Reiter lachend die Blut‐ rinnen ihrer Säbel abgewischt hatten.“ 5 Die besondere Eigenart von Hofmannsthals Novelle und zahlreicher anderer Erzählungen besteht in dem Kunstgriff, das Motiv der „feindenden Welt“ nur untergründig anklingen zu lassen. In August Stramms „Patrouille“ (1915) da‐ gegen feindet die ganze Welt. Steine, Fenster, Sträucher und Berge feinden. Die Landschaft bietet keinen Schutz. Die Natur ist durchsetzt vom Heulen der Gra‐ naten, dem Getöse der Volltreffer und dem Röcheln und Schreien der Verletzten. Der Einzelne ist eingekreist und kann nicht mehr handeln. Heinz Piontek stellt im „Untergang der Scharnhorst“ (1953) fest: „Die See bedeckt sich mit heißer Angst … Daß wir uns nimmer retten können / vor dem Tumult des Sterbens, / wenn die Zeit uns feind ist! “ 6 Dass die Zeit aus den Fugen ist, bezeugt die hohe Frequenz von durchaus unterschiedlichen, in der Reihung und Wiederholung jedoch schematisch wirkenden Schilderungen der Unordnung, des Durcheinan‐ ders, der Auflösung und des Verlusts des Überblicks. Sie erwecken die Vorstel‐ lung des Chaotischen. Das Chaos-Motiv kristallisiert die Verbindung gemeinsamer und vergleich‐ barer Merkmale zu einer elementaren Formel des Kriegs. Das Motiv ist eindeutig in der Funktion, aber differenziert in den Bildfügungen, die von sinnlos wir‐ kenden Truppenverschiebungen bis zu Szenen absoluter Zerstörung reichen. 3.1. Motive und stilistische Signaturen 73 7 Günter Grass. Die Blechtrommel. Neuwied: Luchterhand, 1959, 274. Typische Elemente der Darstellung von Chaos, welche die Handlung stützen und zur Reflexion anregen, sind: unerwartete Änderungen in der Marschroute, unverständlich bleibende Truppenbewegungen, Durchbruch an der Front, Feinde im Rücken, Tiefflieger, Volltreffer in einer Gruppe von Figuren, mit denen der Leser bereits vertraut ist, einstürzende Gebäude und verschüttete Keller. Besonders einprägsam und gezielt emotional sind einzelne Details wie zerris‐ sene Schuhe, Kinderbekleidung und zerstörte Spielsachen, die das allgemeine Chaos verdeutlichen. Andererseits regen diese Details in ätzenden Gegenüber‐ stellungen von heiler Welt oder christlicher Heilsbotschaft des Osterfestes und dem Chaos in einem von einer Granate aufgerissenen Kinderzimmer besonders stark zum Nachdenken an. Grass verwertet diesen Kunstgriff in der Schilderung eines Volltreffers in einem Kinderzimmer: „- da klirrte es, wie vielleicht Engel zur Ehre Gottes klirren, da sang es, wie im Radio der Äther singt, … da hatte sich eine Granate einen Riesenspaß erlaubt, da lachten Ziegel sich zu Splitt, Scherben zu Staub, Putz wurde Mehl, Holz fand sein Beil, da hüpfte das ganze komische Kinderzimmer auf einem Bein, da platzten die Käthe-Kruse-Puppen, da ging das Schaukelpferd durch und hätte so gern einen Reiter zum Abwerfen gehabt, da ergaben sich Fehlkonstruktionen im Märklinbaukasten, und die pol‐ nischen Ulanen besetzten alle vier Zimmerecken gleichzeitig - da warf es end‐ lich das Gestell mit dem Spielzeug um: und das Glockenspiel läutete Ostern ein, auf schrie die Ziehharmonika, die Trompete mag wem was geblasen haben, alles gab gleichzeitig den Ton an, ein probendes Orchester: das schrie, platzte, wie‐ herte, läutete, zerschellte, barst, knirschte, kreischte, zirpte ganz hoch und grub doch tief unten Fundamente aus.“ 7 Alle mit dem Chaos-Motiv verbundenen Assoziationen unterstreichen den Einbruch des Zufalls in die Welt. Aus der in unterschiedlichen Variationen ge‐ schilderten Sicht der Soldaten gehört der Zufall zum immer gegenwärtigen Ver‐ hängnis des Krieges. Er macht die sorgfältigste Planung zunichte, die von der Auslieferung der Garnitur über Verpflegung und Waffenlieferung bis zu Trup‐ penbewegungen reicht. Truppen werden zum Einsatz an den falschen Platz be‐ fohlen, weil die Gegenmeldung nicht eintraf. Die Gulaschkanone kommt, wird aber von einem Volltreffer zerfetzt. Einer entkommt glücklich dem Feuer, tritt dann aus Versehen auf einen Fehlzünder, der plötzlich explodiert. Dieter Wel‐ lershoff kommt in der kritischen Bestandsaufnahme seiner wesentlichen Erfah‐ rungen im Zweiten Weltkrieg zu der Einsicht in die Zufälligkeit der menschli‐ chen Existenz im Krieg. „Ich weiß, daß ich nur zufällig am Leben geblieben bin und daran weder Geschick noch Tugend noch irgendein sonstiges Verdienst 3. Krieg 74 8 Dieter Wellershoff. Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995. 316. einen Anteil hatte.“ 8 Wellershoff verknüpft seine Feststellung mit der Beobach‐ tung, dass sich der Einzelne im Kampf, beim Nahkampf oder Fliegerangriff ei‐ gentlich nie wirklich bewähren kann. Die Möglichkeit, dass das langsame Vertrautwerden mit dem Krieg den Zufall legitimiert, klingt wiederholt in Erzählungen an. Heinrich Böll deutet das Problem in der Kurzgeschichte „Abenteuer eines Brotbeutels“ (1950) an. Die Geschichte verbindet Kurzberichte aus dem Leben Einzelner mit einem aus der Heereszeugmeisterei ausgelieferten Brotbeutel. Der Beutel wird aufgehoben, nach England mitgenommen, verschachert, als Kriegsmaterial von einem Alt‐ warenhändler nach Südamerika verkauft, dort wieder an Soldaten ausgehändigt, kommt nach Deutschland zurück und landet schließlich in den Händen eines „jungen blonden“ verstorbenen Soldaten an der Türschwelle zur Kate der alten Mutter des ersten Besitzers. Die Soldaten, ein Pole, ein Engländer und zwei Deutsche fallen in Kriegen oder verkommen. Der verwaschene Brotbeutel über‐ dauert. Die alte Frau Strobski greift in den Beutel, nimmt einen Packen fast wertloser Geldscheine und macht sich auf den Weg, „um den Totengräber zu wecken“, damit der Junge beerdigt werden kann. Im Brotbeutel bewahrt sie fortan Zwiebeln auf. Die Geste der alten Frau unterstreicht ihre menschliche Vereinsamung und ihre ungewisse Ahnung, dass Krieg und Tod unvermeidbar sind. In der Motivierung der Erzählung ist die gegenläufige Entwicklung von Planung und Zufall deutlich erkennbar. Der zur Kriegsausrüstung gehörende Gegenstand erfüllt seine Funktion; er überdauert aber nur durch unbeabsich‐ tigte, unerwartete Ereignisse. Die am Beutel „verkrampften“ Hände der Soldaten sind dem Tod geweiht; der Zufall bestimmt die Abenteuer des Brotbeutels; im Kern der Zwiebel bahnt sich die mögliche Erneuerung des Lebens an. Motive der existenziellen Verunsicherung, Wegsuche, Verlust der Orientie‐ rung, Unfreiheit, Strategien des Überlebens und Anlehnungsbedürfnis haben in der Kriegsthematik eine doppelte Funktion. Sie erläutern und klären den the‐ matischen Aufbau eines Werkes. Sie lösen Assoziationen aus, die außerdem ein anderes Thema hervorheben können, das dem Krieg beigeordnet ist. Viele kri‐ tische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit, in denen Schilderungen des Krieges eine bedeutende Stellung einnehmen, heben das Element des über‐ raschend Zufälligen in Kriegsereignissen hervor. Sie übernehmen sowohl die Perspektive der Leidenden, die verständnislos dem unerwarteten Geschehen gegenüberstehen, als auch die des kritisch reflektierenden Beobachter-Erzäh‐ lers, der auf die Sinnlosigkeit des Geschehens hinweist. Die Gestaltung und die 3.1. Motive und stilistische Signaturen 75 Sinndeutungen Einzelner besonders häufig verwerteter Motive und ihre The‐ menverknüpfung unterstreichen diesen Sachverhalt. Obwohl einzelne Motive, besonders der gute Kamerad und Zuverlässigkeit, sowohl in literarischen Er‐ zählungen als auch der militärischen Erinnerungsliteratur vorkommen, erhalten sie in den Texten durchaus unterschiedliche Bedeutung. Die kritische Literatur hebt das Zufällige, Chaotische und Sinnlose hervor. In der Kriegsliteratur un‐ terstreichen die Motive dagegen eine weiterhin bestehende feste Ordnung. Die Gegensätze sind besonders augenfällig in der Verwendung von Ehre, Opfer, Pflichterfüllung, Verteidigung der Heimat, in Bildern der Feinde und selbstlosem Handeln der Soldaten einerseits und andererseits im sinnlosen Einsatz, inneren Widerwillen und einsetzenden Fatalismus. Ein wesentlicher Aspekt in der Aufarbeitung der Kriegsthematik ist die Be‐ stimmung der Bedeutung rein zufälliger Ereignisse. Die militärische Strategie betont, dass alles im Krieg der Planung unterliegt. Ernst Jünger (Das Abenteu‐ erliche Herz. 1929) distanziert sich von dem Unberechenbaren der Kriegsereig‐ nisse. Er verwendet den Begriff „désinvolunture“ für die Geisteshaltung und besonders die Fähigkeit einer Person, sich von den augenblicklichen Ereignissen zu distanzieren und diese ruhig zu beurteilen. Ein Offizier, ein Staatsmann soll hinter der blutigen Vernichtung das Ziel, die Lösung des Konflikts sehen. Auch militärische Erinnerungsbücher tendieren selbst in der Schilderung chaotischer Geschehnisse dazu, nicht die Gesamtplanung, sondern die Kriegsführung ver‐ antwortlich zu machen. Die Schuld wird bei Fehlentscheidungen einzelner Kommandanten, irrtümlichen Befehlsübermittlungen und unverantwortlichem Handeln gesehen (Buchheim; Kempowski; Alexander Kluge. Neue Geschichten. 1977; Chronik der Gefühle. 2000; Hans Erich Nossack. Der Untergang. 1963; Fritz-Otto Busch. Schwerer Kreuzer ‚Prinz Eugen‘. 1941 / 42. Britische Jagd auf ein deutsches Kriegsschiff. 1986; Heinz Knoke. Die große Jagd. 1952). Die Aufarbei‐ tung von Quellen und persönlichen Erlebnissen garantiert jedoch nicht die an‐ gestrebte künstlerische oder historische Objektivität. Sie dient sowohl utopi‐ schen Ausblicken (Bruno Apitz. Nackt unter Wölfen, 1958; Willi Bredel. Verwandte und Bekannte: Die Väter. 1941; Die Söhne. 1949; Die Enkel. 1953; Ruth Kraft. Insel ohne Leuchtfeuer. 1959) als auch dem deutlich erkennbaren politi‐ schen Engagement (Hans Marchwitza. Die Heimkehr der Kumiaks. 1952; Wolf‐ gang Schreyer. Unternehmen „Thunderstorm“. 1954). Streng auf die menschliche Zwangslage der Verunsicherung bezogen sind Versuche, durch Einordnung in die Gruppe und Anpassung an das unklare, aber übermächtige Staatsinteresse zu überleben. Die Formen der Anpassung reichen vom stillen Befolgen der Befehle über die murrende Einsicht, es sei am besten mit den Wölfen zu heulen, bis zum sinnlosen vor sich Hinmurmeln. Was die 3. Krieg 76 fatalistische Anpassung besonders hervorhebt, ist die Tatsache, dass sich in Fi‐ guren, in denen das Gefühl existenzieller Ausgesetztheit vorherrscht, Vorstel‐ lungen von offenem Widerstand kaum entwickeln können. Das sekundäre Thema kann unter Umständen den thematisierten Krieg über‐ lagern. Wilhelm Raabe hat diese Motivik in seinem Roman Das Odfeld (1888) bis in die kleinsten Einzelheiten in den alles umfassenden Prozess des Krieges ein‐ gebettet. Das Odfeld, der Ort der Handlung und die Zeit, der 5. November 1761, sind fest umrissen. An diesem Tag wird Magister Noah Buchius zusammen mit zahlreichen anderen Figuren in die Kriegsereignisse gerissen. Er wandert zuweilen zielbewusst, des Öfteren ziellos durch die Gegend, bis er am Abend heimfindet. Während seiner Irrfahrt sucht er in kritischen Augenblicken Zu‐ flucht und Orientierung in der Besinnung auf historische Ereignisse. Er muss aber erkennen, dass sich die klaren Konturen der Vergangenheit in seinem Ge‐ dächtnis verwischen. In der Gegenwart herrscht wüstes Durcheinander und die Vergangenheit bietet keinen Halt. Jede der Figuren verfolgt Ziele, hat Pläne und träumt von der Zukunft. Alle werden jedoch ausnahmslos in den Strudel der Verwirrung gerissen. Der Heerführer, Prinz Ferdinand von Braunschweig, gibt Befehle, die in der Übermittlung vergessen werden. Entscheidungen werden vom Zufall durchkreuzt. Die Figuren im Odfeld sind eingekesselt; Soldaten laufen verwirrt durcheinander; Freiheits- und Orientierungsverlust treten deut‐ lich zu Tage. Im allgemeinen Chaos bewähren sich nur Gesten der Hilfeleistung und der Bereitschaft, die Leiden der Mitmenschen zu lindern. Dieser Überle‐ bensstrategie im Kleinen steht jedoch eine andere Konstellation im Roman voll‐ wertig zur Seite: Nicht nur Noah Buchius, sondern auch der Erzähler stellen unentwegt Fragen, die das Wesen des Krieges und den Sinn des historischen Geschehens zu erkennen suchen. Ein Jahrhundert später greift Thomas Bernhard unter völlig anderen Voraus‐ setzungen im Heldenplatz (1988) die Motivverflechtungen auf, die von Peter Handke in Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) und ähnlich in Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996) weiterent‐ wickelt werden. Bernhards Haltung ist wie in seiner Darstellung in Die Ursache (1975) die eines Anklägers, der erbarmungslos mit allen am Krieg Beteiligten (geehrte Soldaten, Mitläufer, Mitwisser, Handlanger) abrechnet. Die Überstei‐ gerungen, Häufungen und Übertreibungen im Angriff auf die ‚österreichische‘ Mentalität lassen weder eine Diskussion noch Einsicht in die persönlichen und gesellschaftlichen Verwicklungen zu. Auch Handkes Sommerlicher Nachtrag zu seinem Serbien-Buch mündet in eine einseitige Erläuterung des Krieges in Ju‐ goslawien. Der ideologische Bericht, ein Lob auf die serbischen Krieger und Führer, belegt, was auch die vielen Stalingrad-Ehrungen veranschaulichen: 3.1. Motive und stilistische Signaturen 77 Kriegsmotive eignen sich gleichermaßen zur Wahrheitsfindung oder Verhül‐ lung. Das Theaterstück Die Fahrt im Einbaum vergegenwärtigt die Kriegsaus‐ wirkungen besonders eindringlich in der Figur des Chronisten Peter Fitz. Dieser Dorfnachbar schwärmt von eigenhändig begangenen Gräueltaten, die jede menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Er habe, so deklamiert er, eine Frau mit seinem Traktor „zu Tode geschleift“, eine Mutter und Kind „lebendig“ in Beton gegossen und seinen Nachbarn zusammen mit seinem Haus verbrannt. Er macht für seine mörderischen Taten die Gesellschaft und seine Zeit verant‐ wortlich. Diese Haltung unterstreicht die Tendenz des Stücks. Im Balkankrieg sind alle verantwortlich: die Serben im Blutrausch, ihre Mitbürger und die „Un‐ heilanrichter“ aus dem Westen. Die vielseitigen Antworten, die sich anbieten, charakterisieren im Rückblick auf die Motivgruppen und im Blick auf Gegenwartsliteratur den thematisierten Krieg. Sie reichen vom Aufruf zur nationalen Erhebung (Kleist, Handke) bis zur Feststellung, der Krieg sei absurd und entziehe sich jeder rationalen Deutung (Raabe, Heinrich Böll. Als der Krieg ausbrach. Erzählungen I. 1962), von der Be‐ schwörung der Opferbereitschaft für das Vaterland (Ina Seidel. Das Wunschkind. 1930; Hans Rebberg. Die Wölfe. U-Boot Drama. 1944; Adolf Galant. Die Ersten und die Letzten. Die Jagdflieger im zweiten Weltkrieg. 1953, 1993) bis zur Vor‐ stellung, eine ganze Armee gehe zugrunde, weil sich das Geschehen dem Han‐ deln der Einzelnen entziehe (Theodor Plievier. Stalingrad. 1945) und von Schild‐ erungen schuldlos leidender, sinnlos geopferter Menschen (Borchert) bis zum Bekenntnis, jeder sei letztlich schuldig geworden (Dieter Wellershoff. „Das Kainsmal des Krieges“. 1998). Heinrich von Kleist paart in der Hermannsschlacht (1808) und in „Germania an ihre Kinder“ (1809) die Vaterlandsliebe mit Rache‐ gefühlen und Hass auf den Feind mit rücksichtsloser Brutalität. Es gibt nur eine Losung: „Zu den Waffen! … Schäumt ein uferloses Meer, / Über diese Franken her! “ Es gibt nur ein Ziel: Alles, was Römerblut hat, wird getötet. Und Kleist preist nur eine Lösung des Konflikts: Freiheit oder Grab. Obwohl sich die Ag‐ gression als individuelle und kollektive Charakteristik zur Deutung des Krieges anbietet und auch literarisch gestaltet wird, beleuchtet und erkundet das Thema weitgehend Konstellationen, in denen existenzielle Krisensituationen vorherr‐ schen. Die Entwicklung des Themas, Orts- und Zeitbestimmung, Berichte, szenische Darstellung, die Anlage gleichzeitig und ungleichzeitig ablaufender Ereignisse und Figurenkonzeptionen stützen sich auf die sinnlich wahrnehmbare Welt von Bildern des Aufruhrs, der Zerstörung und der Leiden. Die Thematisierung zielt jedoch nach innen und erfasst Wahrnehmungsgehalte, Denkformen und menschliche Beziehungen, die durch die Ausnahmesituation kristallisiert 3. Krieg 78 werden. Die Gestaltungen profilieren Überlebensstrategien unter extremen Be‐ dingungen. Sie schildern Verhaltensweisen, die das Überleben garantieren sollen. Sie beleuchten existenzielle Krisen, Leiden, die zu seelischer und geistiger Störung führen, Prüfung und Bewährung, Planung und Zufall, Freiheitsverlust und Versuche, einen kleinen Spielraum persönlicher Freiheit zu bewahren. Sie lassen in den Auseinandersetzungen durchaus unterschiedliche, teilweise un‐ vereinbare Bewusstseinsstufen hervortreten. Soldaten befinden sich in der Zwangslage, entweder das Gebot der Kriegsführung anzuerkennen oder neue Leitbilder zu finden. Die Kriegsteilnehmer werden aufgefordert, sich Vorstel‐ lungen anzueignen, die nicht nur religiösen Geboten, sondern auch dem im Zi‐ villeben geltenden Strafrecht widersprechen. Sie müssen lernen, den Feind zu hassen und zu töten. Das ihnen vermittelte Feindbild ist eine bewusste, mit pro‐ pagandistischen Klischees und Vorurteilen aus vergangenen Jahrhunderten an‐ gereicherte Vereinfachung. Dieser Sachverhalt wird in der Kriegsliteratur einerseits äußerst kritisch beleuchtet, andererseits besonders in Dokumentati‐ onen, in denen positive Erlebnisse im Vordergrund der Betrachtung stehen, bei‐ behalten oder vertuscht. Verbindlich für die Kriegsthematik ist die Verknüpfung mit der Vorstellung des Verlusts der Orientierung. Er wird tatsächlich so häufig geschildert, dass sich aus ihm Handlungsstränge und Nebenthemen ableiten lassen. Der Orien‐ tierungsverlust steht unter dem Aspekt einer Unmenge vorbeifliegender Bilder. Ständig wechselnde Ereignisse überstürzen sich: Befehle, Einsatz, Feindberüh‐ rung, Kämpfe, Verwundung und Tod. Einzelne, szenisch gegliederte Erlebnisse stellen ein Netz von Beziehungen zum Thema her. Mit müden Landsern über‐ füllte alte Züge und Loren rollen nachts an die Front. Auf dem Nebengleis fahren verschlossene Viehwagen vorbei, in denen Juden abtransportiert werden. Auf dem Rückzug befindliche Soldaten werden unerwartet aufgegriffen und zur Front zurückbefördert. Jugendliche werden als Flakhelfer abgeholt und ver‐ schwinden auf immer aus dem Gesichtskreis der Angehörigen. Menschen an der Front und im Hinterland gehen einfach verloren. Nachfragen bleiben ohne Antwort. Neben diesen Begebenheiten stehen unvermittelt Eindrücke der Mo‐ notonie in der Etappe und der Wiederholung derselben Situationen. Die ständige Wiederkehr vergleichbarer Begebenheiten unterstreicht besonders eindringlich die zum alltäglichen Geschehen gehörende quälende Willkür des Verlusts der freien Selbstbestimmung in einem determinierten Dasein. Der Verlust der Ori‐ entierung überträgt sich auf das Denken. Die Figuren finden keine Möglichkeit zu ernsthaften Überlegungen. Die Heimat ist fern, wirkt seltsam unwirklich und taucht nur in unbestimmten Hoffnungen auf das Kriegsende oder eine Verlet‐ zung auf, die den Weg nach Hause ermöglicht. 3.1. Motive und stilistische Signaturen 79 Texte der Kriegsliteratur des 20. Jahrhunderts charakterisieren im Allge‐ meinen jede selbstbewusste Handlung, jede Entscheidung, die aus eigener Über‐ zeugung entsteht, im Textaufbau als außergewöhnlich. Die ständige Wiederkehr vergleichbarer Situationen hebt die zum alltäglichen Geschehen gehörende quä‐ lende Willkür des Verlustes der freien Selbstbestimmung in einem determi‐ nierten Dasein besonders eindringlich hervor. In der Gestaltung der Figuren zeichnen sich daher markante Strategien der Selbstversicherung und des Über‐ lebens ab. Sie reichen vom Ethos der Pflichterfüllung, das außer dem Opfer keine Alternativen zulässt, bis zu kritischen Vorbehalten und innerem Widerstand. Der gute Kamerad, eine Variante des Freundschaftsmotivs, gibt der Vorstellung Raum, die eigene Persönlichkeit, ihr menschlicher Wert und ihre Anlagen seien im Sturm der Ereignisse erhalten geblieben. Das Ich ist noch nicht Masse, ist nicht willenlos ausführendes Organ in einem unerkennbaren Prozess. Der gute Kamerad lässt alle Rangunterschiede verblassen. Er ist treu, hilfsbereit, selbstlos und opfert sich für den anderen. Im Gefühl der Kameradschaft spiegelt sich die eigene Neigung zu sittlichem Handeln. Ludwig Uhland preist das Gefühl am Anfang seines Gedichts „Der gute Kamerad“ (1809). Aber die beiden folgenden Strophen brechen die mit der Kameradschaft verbundenen Zukunftshoffnungen jäh ab. Im Krieg herrschen Gewalt und Zufall. „Eine Kugel kam geflogen, / Gilt’s mir oder gilt es dir? “ Sie trifft den Kameraden. Die einzige sichere Zukunfts‐ verkündung ist der Tod. Was bleibt, ist die ungewisse Hoffnung auf das ewige Leben und die Einsicht, dass im Krieg das Überleben vom Zufall abhängt. Diese Wendung zum Zufälligen, das alle Pläne und Zielsetzungen durch‐ kreuzt, ist charakteristisch für das Kriegsthema in Darstellungen, die auf die existenzielle Notlage ausgerichtet sind. Wie Bölls Kurzgeschichte „Abenteuer eines Brotbeutels“ verdeutlicht, sind Planung und Zufall wechselseitig bedingt. Historisch orientierte Schilderungen räumen gewöhnlich der rationalen Kriegs‐ führung erheblichen Raum ein. Sie bewerten die bis in Einzelheiten sorgfältige, strategische Vorbereitung als die Grundlage jeder taktischen Ausführung einer Operation. Dagegen wird im Kriegsthema der Zufall häufig zum Angelpunkt des Geschehens. Er vereitelt jede Zielsetzung. So entstehen zwei Deutungs‐ muster, die jedoch in einem Text zuweilen gleichzeitig anklingen können. Ei‐ nerseits erwecken Autoren und Erzählungen den Eindruck, dass das Geschehen einem eigenen Gesetz folgt. Der Prozess verläuft unabänderlich. Aus der Sicht der Planung zeigt der Kriegsverlauf nur gelungene oder misslungene Strategien, erfolgreiche oder fehlgegangene Pläne. Aus der Perspektive der Soldaten redu‐ ziert der Krieg existenzielle Entscheidungen auf die Notwendigkeit, entweder zu töten oder getötet zu werden, zu überleben oder unterzugehen. Die grund‐ sätzlich andere Auslegung des Krieges betont, dass alle in Kriegsereignisse ver‐ 3. Krieg 80 9 Brecht führt in Schweyk im zweiten Weltkrieg (1941-1944) Hitler im Vor- und Nachspiel und in zwei Zwischenspielen in die Handlung ein. Hitler bereitet den Krieg vor und denkt wie Wallenstein an den Unterbau und die ausführenden Organe der Kriegsfüh‐ rung. Er fragt: Wird mich der kleine Mann lieben, hat er Opferfreude, Treue und Hin‐ gabe, wird der kleine Mann arbeiten, wird die Armee die Befehle pünktlich befolgen? Seine Vasallen weisen jeden Zweifel ab. Aber die Planung misslingt. Als Hitler im Schneesturm in Russland auf Schweyk trifft, gibt er den bolschewistischen Verkehrs‐ verhältnissen und dem unberechenbaren Wetter die Schuld für die Fehlschläge: „Herr Schweyk, wenn das Dritte Reich unterliegt / Waren nur die Naturgewalten schuld an dem / Mißgeschick.“ Hitler beginnt irr im ausweglosen Kreis zu tanzen. wickelten Figuren vom Führungsstab bis zu den Soldaten das Dasein als zufällig erfahren. 9 Einige scheinen den Zufall durch unbewusstes Handeln zu meistern. Sie reagieren instinktiv und treffen Entscheidungen, die sich der rationalen Deutung entziehen. Sie gehen plötzlich in Deckung, werfen sich zur Seite oder springen auf (Ernst Jünger. In Stahlgewittern. 1920). Trotzdem müssen die Han‐ delnden schließlich erkennen, dass auch diese Entscheidungen vom Zufall durchkreuzt werden. Sie können sich nicht wirklich bewähren, da jede Bewäh‐ rung eine wie auch immer geartete Sinnstiftung und Überlegung voraussetzt. Das Gefühl des Fremdseins, des Verlassenseins als lebensbestimmende Er‐ fahrung ist unbestimmter und allgemeiner als rein persönliche Eindrücke. Es ist umgeben von einer Aura symbolischer Assoziationen. Es charakterisiert beson‐ ders im 20. Jahrhundert die allgemeine Gemütsverfassung an der Front, in der Etappe und gleichermaßen in der Heimat. Aichinger und Bienek schildern, wie diese Erfahrung das Denken aller Figuren prägt. Das Schweigen der Glocken wird zum Symbol für den Verlust fester Normen und für das Schweigen der Menschen. Sie leben im Zustand der Sorge, passen sich an, werden gleichgültig und stumpfen ab. Bienek, ähnlich wie Christa Wolf, versucht ausfindig zu ma‐ chen, wie es dazu kam, dass Menschen nicht einmal mehr die richtigen Fragen stellen konnten. Kriegsinteresse, Volksinteresse und Staatsinteresse bestimmen die menschliche Tätigkeit. Die Personen üben Funktionen aus, deren Erfüllung langsam alle menschlichen Beziehungen aushöhlt und zur Nivellierung der Ge‐ fühle führt. Nicht nur die Feinde, sondern auch die Mitmenschen sind gesichtslos geworden. Die Bevölkerung und die Soldaten hören Nachrichten von dem his‐ torischen Ausmaß der Ereignisse, vom Sendungsbewusstsein und einer Wende des Schicksals. Sie suchen Orientierung und ringen mit der Frage, ob der Krieg unvermeidbar sei. Die Frage berührt einen tiefen Widerspruch der im Traditionsgeflecht zur Sprache kommenden Auseinandersetzung mit dem Krieg. Die handelnden Fi‐ guren machen sich Gedanken über den Krieg. Der Aufbau der Texte, die Er‐ zählperspektive und eingeflochtene Reflexionen geben Auskunft über die Be‐ 3.1. Motive und stilistische Signaturen 81 10 Günter Grass. Die Vorzüge der Windhühner. Neuwied: Luchterhand, 1956. urteilung des Krieges, seines Wesens, seiner historischen Zuordnung und seiner Ursachen. Im Überblick zeichnen sich zwei entgegengesetzte Deutungsmuster ab. Das eine entwirft das Paradigma zeitloser Wiederkehr. Der Krieg im histo‐ rischen Ablauf erscheint im Bild eines wiederkehrenden tragischen Verhäng‐ nisses. Er wirkt zeitlos und entzieht sich der Kontrolle der Menschen. Der Krieg ist eine Schicksalsmacht, ein von den Göttern verhängtes Unglück, ein Ge‐ schehen, das mit der Schöpfungsgeschichte in die Welt kam und sich immer wiederholen wird. Diese Deutung erweckt den Eindruck der Übersichtlichkeit und Vorhersagbarkeit, sie berechtigt den Chor in Schillers Braut von Messina zu klagen: „noch niemand entfloh dem verhängten Geschick“ und ermächtigt eine leidende Figur zu rufen: „Alles dies / Erleid ich schuldlos.“ Die Auslegung hat den Vorteil, jeden von der eigenen Verantwortung zu entbinden. Karl Krolow entwirft dieses Bild der Menschheitsgeschichte in Herodot oder der Beginn von Geschichte (1983). Günter Grass bezeichnet in den Hundejahren (1963) den Kno‐ chenberg aus dem KZ Stutthof als „Wesensraum aller Geschichte“ und führt in dem Gedicht „Drei Vater unser“ den Krieg auf die Weltschöpfung zurück, bei der Gott die Sicherheitsnadel zur Waffe verbog. „Komm wir spielen Kain und Abel / Jeder hat doch etwas Hartes, Einmaliges in der Tasche, / das genau / an den Hinterkopf eines stotternden Bengels paßt, / der Abel heißt und bei der Infanterie dient“ … „Gewalt, wer verbog die Sicherheitsnadel, / komm wir spielen Kain und Abel, / Vater unser, der du bist im Himmel.“ 10 Das andere Deutungsmuster kennzeichnet den Krieg als Summe individueller Vergehen und Unterlassungen. Die Erklärung besagt, nur die Schuldigen führen zu ihrer Verteidigung an, dass die Gewalt durch die Götter in die Welt kam. Sie charakterisiert den Krieg als unabgeschlossene Akte in einem weiter beste‐ henden Prozess und ruft Leser auf, das Phänomen zu untersuchen, den Prozess zu erkennen und im Vorgang ständiger Befragung und Vergewisserung ihre Erkenntnisfähigkeit zu erweitern. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sowohl Schiller (Wallenstein) als auch Grass (Die Blechtrommel und Ein weites Feld) auch diese Deutung aufgreifen. Dieser Sachverhalt hebt die besondere Eigenart des Themas hervor. Das Kriegsthema enthält im Kern eine Polarstruktur, in der Wi‐ dersprüche zu Wort kommen. Es regt zu immer neuen Auseinandersetzungen an. Darüber hinaus schlagen sich im thematisierten Krieg besonders eindring‐ lich die existenzielle Selbstvergewisserung und das kulturelle Selbstverständnis nieder. Aus der Perspektive der Themenforschung ist der Krieg somit ein au‐ ßergewöhnlich kompliziertes Thema. Es schließt ein: Reflexionen über den Sinn des im Krieg gelebten Lebens, Lebensläufe in absteigender Linie, Bestandsauf‐ 3. Krieg 82 11 Rolf Düsterberg. Soldat und Kriegserlebnis. Deutsche militärische Erinnerungsliteratur (1945-1961) zum zweiten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer, 2000. Zum Mythos Stalingrad und der Stilisierung der 6. Armee vgl. besonders Jens Ebert: „Authentisches Opfer. Der Mythos Stalingrad.“ In: Thomas F. Schneider (Hg.). Kriegserlebnis und Legendenbildung. Bd. 2: Der Zweite Weltkrieg. Osnabrück: Universitätsverlag, Rasch, 1999. 673-682. Ebert behandelt u. a. Gerlach, Kluge und Plievier und hebt die Stilisierung der 6. Armee zum Opfer hervor: „Wer selber Opfer ist, braucht sich für eigene Taten nicht mehr zu ver‐ antworten.“ 674. nahme, Identitätskrisen, Ich-Suche, Überlebensstrategien unter extremen Be‐ dingungen, Entwurzelung, Anpassung, Fatalismus, Determinismus, das Unbe‐ rechenbare im Dasein, Prüfung und Bewährung, Besinnung und Neuansatz. Dadurch entstehen zahlreiche Angleichungen, Überschneidungen und außer‐ ordentlich häufige Verknüpfungen mit anderen Themen, in denen existenzielle Fragen im Schnittpunkt der Betrachtung stehen. Beispielsweise werden Formen der Anpassung an Institutionen und Prozesse, die übermächtig und unverständ‐ lich das Leben beherrschen, in der Literatur heute selbst in Erzählungen aus dem Alltag thematisiert. Was jedoch im thematisierten Krieg besonders deutlich her‐ vortritt, ist der Versuch das Wesen des Phänomens zu begreifen. Die Themati‐ sierung befragt das langsame Vertrautwerden mit der Vorstellung, der Krieg sei unabwendbar, das Geschehen selbst, den Abschluss und zuletzt den im Schreiben festgehaltenen Rückblick auf die Ereignisse. In dem Thema spiegelt sich ein lebendiger Vorgang der Vergangenheitsbewältigung, in der die wech‐ selseitige Beziehung von Individuum und historischem Verständnis sichtbar wird. 3.2. Militärischer Diskurs Rolf Düsterberg hat eine wissenschaftlich bestechende, umfassende und über‐ zeugende Dokumentation der militärischen Erinnerungsliteratur vorgelegt. 11 In seiner eingehenden Untersuchung von Themen und Motiven ermittelt er eine primäre Denkform, die, zuweilen offen ausgesprochen, zuweilen verhüllt, die Schilderung der Ereignisse maßgebend beeinflusst. Sie wurzelt in zeitbedingten positiven Anschauungen von Vaterland, Heimat, Treue, Gehorsam, Entsagung, Kameradschaft, Opfer und Verteidigung der Nation. Die Begriffe sind umwoben von einer Aura zeitloser Werte. Der Krieg erscheint als Ausnahmesituation der menschlichen Bewährung unter extremen Bedingungen. Das Dreigestirn Da‐ sein als Opfer und Pflichterfüllung, missbrauchter Idealismus und ehrende Be‐ wahrung steht von Anfang an über der militärischen Erinnerungsliteratur. Selbst Texte, die ein distanziertes Verhältnis zum Nazi-Terror anstreben, geben 3.2. Militärischer Diskurs 83 der Überzeugung Raum, man dürfe die positiven Aspekte der deutschen Ver‐ gangenheit nicht übersehen. Die militärischen Berichte, Erinnerungen und Schilderungen von Jünger bis Scheibert erheben Anspruch auf Authentizität und versuchen stilistisch größt‐ mögliche Nähe in der erzählten Gegenwart herzustellen. Deutlich nachweisbar sind die bereits erwähnten strukturbildenden Motive, Kontrastpaare wie guter Kamerad / böser Aggressor, Treue / Verrat, Standhaftigkeit / Furcht und konkrete Bestimmungen des Ortes, der Städte, des Lazaretts und des Bereichs der Kämpfe wie etwa ein Schiff, ein Panzer oder ein Graben. Siehe dazu: Fritz-Otto Busch. Schwerer Kreuzer ‚Prinz Eugen‘. 1941 / 42 (1986); Otto Carius. „Tiger“ im Schlamm (1960, 1985); Hans Dibold. Arzt in Stalingrad. Passion einer Gefangenschaft (1949, 1996); Heinrich Gerlach. Die verratene Armee. Ein Stalingrad-Roman (1957); Heinz Schaeffer. U 977. 66 Tage unter Wasser (1950, 1988); Alexander Kluge. Der Untergang der sechsten Armee (1969). Kämpfe an und um Brücken werden zum festen Topos. Heinrich Böll ironisiert die Situation in Wo warst du, Adam? (1951). Eine Pionierabteilung unter Führung eines Majors, eines hochqualifizierten In‐ genieurs, repariert eine beschädigte Brücke. Die Soldaten sind bester Laune und stolz auf ihre Leistung. Sie ziehen ab, sobald die Arbeit beendet ist. Im nächsten Augenblick kommt eine andere Einheit und zerstört die Brücke, da die Heeres‐ leitung den Befehl zum geplanten Einsatz außer Kraft gesetzt hat. Stalingrad kommt besondere Bedeutung zu. Der Kampf um Stalingrad, in über 200 Büchern geschildert, wird zum Wendepunkt im Krieg im Osten. Je nach der Perspektive der Autoren wurde die 6. Armee geopfert oder verraten. Einzelne Berichte schildern die Leiden der Soldaten in der russischen Gefangenschaft nach der Waffenstreckung. Was sich langsam herausbildet, ist die Legendenbil‐ dung vom Opfergang der Soldaten (Gerlach; Plievier; Horst Scheibert. Nach Sta‐ lingrad - 48 Kilometer! 1956). Ausrufe, schreckenerregende Einzelheiten wie Frostbeulen, erfrorene Glieder, abgerissener Arm oder Kopfschuss und helden‐ hafter Widerstand gehören zum festen Bestand der militärischen Literatur (Buchheim; Edwin Erich Dwinger. Die verlorenen Söhne. 1956; Paul Hausser. Waffen- SS im Einsatz. 1953, 1975; Heinz Knoke. Die große Jagd. Bordbuch eines deutschen Jagdfliegers. 1952, 1996; Hans-Ulrich Rudel. Trotzdem. 1950; Heinz Schaeffer. U 977. 66 Tage unter Wasser. 1950, 1988). Das Gefühl der Treue zur vaterländischen Tradition wird verstärkt durch Zitate aus der literarischen und volkstümlichen Überlieferung. Bevorzugt sind Hinweise auf Friedrich Schillers „Reiterlied“ in Wallenstein (1799); „Abschied“ (Volkslied gedruckt 1816, besonders die beliebte Version „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus“ 1825); Ernst Moritz Arndt. „Vaterlandslied“ (1812), „Des deutschen Vaterland“ (1813); Albert Methfessel. „Gesang ausziehender 3. Krieg 84 12 Ernst Jünger. Strahlungen. Tübingen: Heliopolis, 1949. 39. Krieger“ (1813); Wilhelm Hauff. „Reiters Morgenlied“ (1824); Friedrich Silcher. „Lebewohl“ (1827); Max Schneckenburger. „Die Wacht am Rhein“ (1840); Hoff‐ mann von Fallersleben, „Deutschland über alles“ (1841); August Disselhoff, „Lieb Heimatland, ade“ (1851). Demgegenüber betont Jünger die kühle, distanzierte Haltung eines Offiziers, die zugleich den Anspruch erhebt, auch für andere zu sprechen. In Strahlungen (1949); Eintrag Paris, 29. Mai 1941: 39-42 berichtet er von seiner Reaktion auf den Befehl bei der Hinrichtung eines Deserteurs an‐ wesend zu sein. Er wollte sich zuerst krank melden, ändert dann seine Meinung und folgt dem Befehl. „Auch will ich mir gestehen, daß ein Akt von höherer Neugier den Ausschlag gab. Ich sah schon viele sterben, doch keinen im be‐ stimmten Augenblick. Wie stellt sich die Lage dar, die heute jeden von uns be‐ droht und seine Existenz schattiert? Und wie verhält man sich in ihr? “ 12 Die Erzähltechnik der Berichterstattung will den Eindruck erwecken, die Do‐ kumentation biete die Voraussetzung objektiver Darstellung und vermittle an‐ hand von Fakten das tatsächliche Geschehen. Versuche, durch Dokumentation vieler Einzelheiten und Hinweise auf bekannte Orte, Personen, Landschaften und Ereignisse den Eindruck der Authentizität zu erwecken, zeichnen Kriegs‐ bücher und die Erinnerungsliteratur zum Zweiten Weltkrieg aus. Der Eindruck eines kaleidoskopischen Zeitbildes wird verstärkt durch Fakten, die archivalisch die Namen einzelner Akteure, einzelne Details, Rundfunknachrichten, Aus‐ schnitte aus Reden oder Bekanntmachungen erfassen. Da jede Erzählung und jede Dokumentation den Vorstellungen der Sozialwelt, individuellen Ansichten, kollektiven Denkformen und tradierten Gestaltungen verpflichtet ist, erhalten Texte, einschließlich gezielt angelegter Verlagsreihen von Kriegsliteratur ihre besondere Ausprägung durch die Konkretisierung der Ereignisse in der Nah‐ perspektive. Durch die formale Behandlungsweise entstehen deutlich fixierbare Verbindungen innerhalb des Erzählraums. Die literarische Transposition von scheinbar autobiographischem Material erscheint nun als das, was sie ist: nicht Authentizität, sondern Fiktion, gelungene oder misslungene Erzählung, Stoff‐ substanz oder Gestalt. Dagegen entsteht ein hohes Maß an Verunsicherung in Erinnerungsdis‐ kursen, in denen Erzähler die recherchierten oder von ihnen berichteten Ein‐ zelheiten rückschauend reflektieren. Der Zweifel äußert sich in der Erzählhal‐ tung, die beispielsweise Horst Bienek, Siegfried Lenz und Hanns-Josef Ortheil annehmen. Sie berichtet alles unter den Vorzeichen: ich frage mich, ich stelle mir vor, ich kann es nicht begreifen, ich krebse herum, ich will es wissen. Zu unterscheiden ist deshalb 1) zwischen der Erinnerungsliteratur zum Zweiten 3.2. Militärischer Diskurs 85 13 Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk. Hamburg: Rowohlt, 1959. 340-341. 14 Vgl. besonders die Aufarbeitung der Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg in Bühnen‐ stücken nach 1918 von Wolfgang Frühwald: „Der Heimkehrer auf der Bühne. Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und die Erneuerung des Volksstücks in den zwanziger Jahren“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 8 (1983). 169-199. Weltkrieg, in der Kriegsteilnehmer die Ereignisse berichten, 2) literarischen Werken, in denen Autoren und Autorinnen direkt zum Krieg und zum Leben im Dritten Reich Stellung nehmen, und 3) Texten, in denen die Orientierungssuche einzelner Figuren zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der deut‐ schen Geschichte im 20. Jahrhundert führt. In den Erzählungen von Bienek, Lenz und Ortheil erscheint nicht nur der Krieg, sondern die gesamte Zeit der Nazi‐ herrschaft als Ausnahmesituation. Das Leben in diesen Jahren wird zum Grenz‐ erlebnis, das alle tradierten Vorstellungen sprengt. Menschen sind physisch und geistig gefährdet. Die existenzielle Bedrohung ist allumfassend. 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation Die Auseinandersetzung mit der NS -Vergangenheit setzt sofort nach dem Kriegsende ein. Wolfgang Borchert setzt Akzente, die die frühe Nachkriegslite‐ ratur maßgeblich beeinflussen. In seinem Bühnenstück und seinen Erzählungen führen Orientierungsverlust und Sinnsuche nicht nur zu einer Ortung des Krieges, sondern zu einer grundsätzlichen Erörterung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Draußen vor der Tür, 1947 in Hamburg uraufgeführt, wird zum größten Theatererfolg der Nachkriegszeit. Bernhard Meyer-Marwitz stellt in seinem Nachwort fest: „Dieses Stück ist in der Glut einer irdischen Vorhölle gebrannt worden, es ist mehr als eine literarische Angelegenheit, in ihm ver‐ dichten sich die Stimmen von Millionen, von Toten und Lebenden, von vorges‐ tern, gestern, heute und morgen zur Anklage und Mahnung. Das Leid dieser Millionen wird Schrei. Das ist Borcherts Stück: Schrei! “ 13 Das Urteil verzeichnet die Anerkennung, die Borchert zur Kultfigur einer verlorenen Generation er‐ höht und zum Repräsentanten der Trümmerliteratur macht. Die Rezeption des Stückes und die vielen Hinweise in Rezensionen und Besprechungen von Auf‐ führungen, die Beckmann als repräsentative Heimkehrer-Figur bewerten, un‐ terstreichen diesen Sachverhalt. Was sie übersehen, ist die lange Tradition der Heimkehr-Thematik, die von der Antike bis zur Weimarer Republik reicht. 14 3. Krieg 86 15 Wolfgang Borchert. Die Traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1962. 22-23. Aufschlussreich aus der Sicht der Themengeschichte ist die Themen- und Motivverknüpfung mit den Figurenkonzeptionen in Borcherts Erzählungen und dem Bühnenstück. Draußen vor der Tür ist als Jedermann-Stück entworfen. Im Vorspiel stoßen der Tod, ein fettgewordener Beerdigungsunternehmer und ein hilflos weinender Gott, an den keiner mehr glaubt, aufeinander. Das Treffen verweist auf das Zwiegespräch des Heimkehrers Beckmann mit dem Anderen, den jeder kennt. Der Andere erscheint als Aufruf, sich selbst im Mitmenschen zu erkennen. Die Existenzialphilosophie erschließt den Begriff des ‚Anderen‘ aus den wechselseitig bedingten Beziehungen zwischen Einzelnen und gesell‐ schaftlichen Strukturen, die das Leben maßgebend bestimmen, und zwischen dem Ichbewusstsein und seiner Bedingtheit durch ein anderes denkendes Sub‐ jekt. Das Individuum erkennt sich im ständigen Dialog mit anderen und wird aufgerufen, im Willen zum Mitleben eine lebenswürdige Grundlage des Daseins zu schaffen. In der Begegnung von Ich und anderen bahnt sich ein Verhältnis zur Welt an, das die Erfahrung der Entfremdung überwindet. Beckmann erfährt die Heimkehr als Lebenskrise, die in allen Begegnungen (der Oberst, das Mäd‐ chen, die Frau, Elternhaus, Friedhof) einen Ruf an das Gewissen einschließt. Beckmanns Gasmaskenbrille, die den Blick auf die Welt nicht vertieft, sondern verstellt, wird zum Sinnbild des verhinderten menschlichen Kontakts. Dass der Appell an das Gewissen zugleich die Absage an das schweigende Vorübergehen im Leben ist, wird im Handlungsverlauf des Stückes deutlich. Das Vorübergehen charakterisiert Borchert in „Das Holz für morgen“ als „Aneinandervorbeisein“. Die Er-Figur in der Erzählung vertritt alle Lebensversehrten. Er liebt, er weint, er will sich das Leben nehmen, aber er wollte „sich noch einmal laut sagen, daß er es nicht mehr aushielte, das Aneinandervorbeisein mit denen, die er liebte, und dann wollte er es tun.“ 15 Und dann ringt er sich durch und holt das Holz für morgen. Das Leben geht weiter. Im Gegensatz zum „kerngesunden“ Oberst, der jede Verantwortung ablehnt, ist Beckmann lebensversehrt. Seine Leiden stehen gleichberechtigt neben den Gebrechen aller Kriegsversehrten. Der Heimkehrer steht vor verschlossenen Türen, findet ein totes Kind, sein Bett ist besetzt. „Eine Tür schlägt zu, und er steht draußen.“ (163) Trotz aller Zweifel, die Beckmann am Ende fast den Atem rauben, bricht der Aufruf zum Mitleben immer wieder in das Leben. Beckmann schreit verzweifelt: „Wo bist du, Anderer? Du bist doch sonst immer da! “ (165) Aber keiner, weder der Andere noch Gott, antwortet. Beckmann muss den Weg zur Begegnung mit allen anderen selbst finden. Handeln heißt, alle Vorstel‐ 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation 87 16 Borchert. Gesamtwerk. 317. 17 „Generation ohne Abschied,“ in: Gesamtwerk. 60. lungen übernommener Begriffe abzulehnen, heißt, nicht wie der Heimkehrer in den „Lesebuchgeschichten“ zu handeln: „Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. Du darfst doch keinen tot‐ schlagen, sagte der Richter. Warum nicht, fragte der Soldat.“ 16 Der Versuch einer aufrichtigen Bejahung des Anderen verbietet die Anpassung an bestehende Umstände. Die Skizzen aller Figuren in „An diesem Dienstag“ beleuchten das Leben in den Kriegsjahren und das Versagen im Ausnahmezustand des Krieges, in dem die Anpassung das Überleben nicht garantiert. Eine Schulklasse, die große Buchstaben übt, bildet den Rahmen für die Ereignisse. Ulla schreibt Krieg mit „ch“ als Kriech und muss zur Strafe den Satz zehnmal schreiben. Im Mittel‐ punkt der Ereignisse stehen: Beförderung und Tod; Lazarett, Sterbende, ein halbes Dutzend jeden Tag. Der Unterarzt „ging so krumm, als trüge er ganz Rußland durch den Saal.“ (192) Frauen warten auf Feldpost und Ulla schreibt am Abend zehnmal „ IM KRIEG SIND ALLE VÄTER SOLDAT . … Mit großen Buch‐ staben. Und Krieg mit G. Wie Grube.“ (194) Der schmale Pfad zum Mitleben führt aus dem Liebesverlust, dem Gefühl der Hilflosigkeit, der Vorstellung, dem Geschehen ausgeliefert zu sein, über die einsetzende Erkenntnis des eigenen Versagens und der Entsagung zur Bejahung des Daseins und zum Bekenntnis des Mitlebens. „Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber wir wissen, daß alle Ankunft uns gehört.“ 17 Diese junge Gene‐ ration kann möglicherweise aus der Vergangenheit lernen und kann selbstlos handeln, eine Haltung, die Borchert beispielhaft in der Erzählung „Das Brot“ festhält. Das Ereignis ist scharf profiliert. Eine Frau hat Mitleid mit ihrem hung‐ rigen Mann und opfert ihr letztes Stück Brot, damit er etwas zu essen hat. Diese Haltung, variiert in den Erzählungen, steht im Schnittpunkt der Bemühung Borcherts, die Richtung zu verantwortlichem Handeln zu weisen. Borchert ak‐ tualisiert Lebenskrise, Orientierungssuche und mögliche Selbstverwirklichung der unbehausten Menschen. Die Suche nach einer neuen Ordnung wirkt weg‐ weisend für die Autor(inn)en der Nachkriegsgeneration. Im Gegensatz zur militärischen Dokumentarliteratur bestehen entscheidende Divergenzen in Schilderungen des Familienlebens in der NS -Zeit. Sie reichen von der Multiperspektive bis zu einzelnen Aspekten des klinischen Realismus. In den unterschiedlichen Ansätzen in den Erzählverfahren zeichnen sich mark‐ ante Formen ab. Sie schließen ein: dokumentarische Protokoll-Literatur, Erzäh‐ lungen des Neben- und Nacheinander, in denen aufeinander folgende Szenen 3. Krieg 88 18 Günter de Bruyn. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt a. M.: Fischer, 1992. 110, 112, 244. 19 Vgl. dazu Günter de Bruyn. Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer, 2001. 12: „Die Gegenwart ist also an der Erinnerungsarbeit insofern beteiligt, als sie den dunklen Hintergrund für die aus der Vergangenheit aufsteigende Helle bildet. Was man heute nicht hat, war damals vor‐ handen. Was heute quält, gab es damals noch gar nicht. Weil man alt ist, scheint die damalige Jugend so schön.“ 10 Jahre nach dem Fall der Mauer legt Matthias Matussek (Der Spiegel. 8. 3. 1999) eine Zwischenbilanz unter dem Titel „Keine Opfer, keine Täter“ vor und kommt zu dem Fazit, dass in der Erinnerung vieler, besonder der Nutznießer, die DDR-Zeit beschönigt und rehabilitiert wird. Die Opfer sind vergessen. Wie schon nach dem Ende des NS-Staats werden Fragen mit dem Hinweis abgewiesen: Man muss das eben selbst erlebt haben. Die Beteiligten empfinden sich nicht als Täter, sondern Leidtragende. und Geschichten oder Ansätze zu Geschichten einen Überblick bieten, Romane, in denen Handlungsabläufe mit einzelnen Figuren verknüpft sind, Texte, in denen Erzähler das Geschehen kritisch kommentieren, und schließlich Erzäh‐ lungen, in denen die Vergangenheit auf eine Art und Weise zu Wort kommt, dass der Eindruck entsteht, das Gestern sei im täglichen Leben jederzeit gegen‐ wärtig. Vergleiche mit historischen Romanen und der Kriegsliteratur nach dem Ersten Weltkrieg ergeben einige Gemeinsamkeiten und wesentliche Unter‐ schiede. Man kann die Literatur der Ortung von Familiengeschichten sicherlich als Zeitromane betrachten. Die Erzählungen erfassen individuelle und gesell‐ schaftliche Fragen, beobachten wie sich Einzelne in der Auseinandersetzung mit dem Denken der Zeit, in Anpassung und in Widerstand entwickeln. Sie schildern gesellschaftliche Zustände, prüfen den Zeitgeist, lassen die Einstellung zu his‐ torischen Prozessen zu Wort kommen und weisen hin auf Grundformen des Denkens. Wie bereits erwähnt, ist ein wesentlicher Aspekt der Familiengeschichten die von Bienek, de Bruyn, Grass, Lenz und Ortheil entwickelte Möglichkeit, dass ein nicht genau bestimmbarer Teil der Bevölkerung in den Jahren nicht genü‐ gend Informationen hatte, um sich selbst eine kritische Meinung zu bilden. Im Gedächtnis und im Erinnerungsdiskurs wird das Vergangene neu zusammen‐ gestellt. So stellt de Bruyn in der Schilderung seiner Kinderlandverschickung in den Osten beim Lesen der Einträge in das Tagebuch fest, dass seine Erinnerung unzuverlässig ist. Er besinnt sich auf Kattowitz, kann sich nicht an Vergehen gegen Juden erinnern, war ahnungslos und fühlt im Rückblick nur Angst. 18 Aber die Ereignisse aus diesen Jahren und der Nachkriegszeit erhalten ihre besondere Eigenheit durch den kritischen Blick zurück. 19 Horst Bienek beurteilt seinen methodischen Ansatz und seine Arbeitsweise als eine Verknüpfung des klaren Erfassens der „Wirklichkeit“ mit der Erkundung 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation 89 20 Horst Bienek. Beschreibung einer Provinz. Aufzeichnungen, Materialien, Dokumente. München: Hanser, 1983. 11-12. 21 Horst Bienek. Gleiwitzer Kindheit. Gedichte aus zwanzig Jahren. München: Hanser, 1976. 103. der „historischen Wahrheit.“ 20 Das Erzählverfahren prägt seine Position in allen Erzählungen und hinterlässt selbst deutliche Spuren in den Gedichten. Er ver‐ fügt über die Sprache in ihrer bezeichnenden Funktion. Bienek klammert die Verknüpfung von metaphorischer Kombination und klanglicher Folge aus; er vermeidet entfremdete Metapher und kombinatorisch überraschende Kontraste. Er bevorzugt klare Ab- und Eingrenzungen auf das Wesentliche. Das direkte Ansteuern auf das Ziel ist der klassische Zug in seinem realistischen Diskurs. Im „Gedicht von Zeit und Erinnerung“ setzt sich Bienek mit der Erkundung historischer Ereignisse und dem Zusammenspiel von Geschichte, Dauer und Gegenwart auseinander. Er stellt sachlich fest: „Das ist der Anfang: / das Wort ist das Wort und das Bild ist ein Bild und der Satz / ist ein Satz / und schwarz ist nichts/ andres als schwarz und rot ist nichts andres als rot / und Leben bedeutet nicht / tausend Möglichkeiten zu sterben / sondern da zu sein.“ 21 Die regionale Landschaft in Bieneks Erzählungen, deutlich ausgeprägt in der Gleiwitzer Tetralogie (Die erste Polka. 1975; Septemberlicht. Roman. 1977; Zeit ohne Glocken. 1979; Erde und Feuer. 1982) ist zugleich Schwerpunkt der histori‐ schen Ereignisse und Symbolträger für existenzielle Grunderfahrungen. Das historisch-literarische Gleiwitz übernimmt somit eine vergleichbare Funktion wie Mecklenburg bei Uwe Johnson, Ostpreußen bei Siegfried Lenz und Danzig bei Günter Grass. In Gleiwitz erfahren Menschen die historischen Ereignisse, die das Jahrhundert prägten. Die erzählte Zeit in den ersten drei Bänden der Schlesischen Saga (Polka, Septemberlicht, Zeit ohne Glocken) ist auf je einen Tag, in Erde und Feuer auf etwa vier Wochen begrenzt. Die Zeitfixierung zusammen mit Rückblenden auf die Vergangenheit, Bildreihen und biographischen Einzelheiten verdichtet die Mo‐ mentaufnahmen aus Lebensläufen. Historisches Material und dokumentarisch nachweisbare Ereignisse (die Chronik enthält genaue Hinweise auf Georg Montag, den 1881 in Gleiwitz geborenen und 1943 nach Auschwitz deportierten Dichter Arthur Silbergleit, Gerhart Hauptmann, den Überfall auf den Gleiwitzer Rundfunksender, einzelne Kriegsereignisse und Judenverfolgung) fügen sich nahtlos in das Gesamtbild des historischen Geschehens in seiner Auswirkung auf die Menschen. Das Verfahren, in dem Geschichte und Fiktion verschmelzen, ermöglicht im Rahmen differenzierter Schilderungen die scharfe Profilierung von Grundsituationen des Lebens. Die Figuren fühlen sich einem undeutbaren Schicksal ausgeliefert, ringen mit schuldloser oder schuldhafter Verstrickung, 3. Krieg 90 22 Horst Bienek. Gleiwitzer Kindheit. 107. 23 Horst Bienek. Die erste Polka. München: Hanser, 1975. 33-34. verspüren Angst, wollen überleben und zittern vor der Zukunft. Einige lehnen sich auf, manche schwanken zwischen Anpassung und Ablehnung, aber alle erfahren den Aufruf zu verantwortlichem Handeln. Diese Elemente sind nahtlos verflochten mit der Erzählung und dem ‚Leben‘ fiktiver Figuren. Die zeitgeschichtliche Dokumentation ist exakt recherchiert; historische Per‐ sonen wirken authentisch überzeugend. Besonders wirksam sind nachvollzo‐ gene Gedanken wie etwa Silbergleits Empfindungen, als er ins Tor des Vernich‐ tungslagers tritt. Aber selbst überlieferte Ereignisse sind mit dem erzählten Geschehen verflochten. Beispielsweise verweist Bienek auf einen nachgewie‐ senen hilfesuchenden Brief Silbergleits an Hermann Hesse, der nicht beant‐ wortet wird. Diese „Tatsache“ ist in der Erzählung mit der „Fiktion“ verknüpft, Silbergleit habe Gerhart Hauptmann besucht. Die künstlerische Leistung beruht jedoch auf der erzählerischen Annäherung an das Denken und Fühlen der Fi‐ guren. „Ohne das Sagen gibt es nichts / wenn ich nicht das / was geschehen ist / sage erzähle oder beschreibe / ist das Geschehen / überhaupt nicht geschehen / das Sagen wird fortgesetzt Stück für Stück / besser: Bruchstück für Bruch‐ stück.“ 22 Bieneks Verfahren veranschaulicht die Verunsicherung, die sich beim Rück‐ blick in die Vergangenheit einstellt. Er beleuchtet die Problemstellung in Erste Polka. Der pensionierte „Halbjude“ Georg Montag versucht, eine Biographie von Wojciech Korfanty, dem Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Partei, zu schreiben. Dessen Verfolgung und Einlieferung bereiten dem Verfasser Schwie‐ rigkeiten. Bienek lässt Montag über Tatsachen nachgrübeln, „das mußte er noch kontrollieren“, lässt ihn Änderungen vornehmen, wo der Nachweis fehlt, er‐ möglicht jedoch dem fiktiven Schreiber die Mutmaßung, dass Korfanty in der Zelle „geschlagen wurde“. 23 Das ist genau die Situation der Menschen, die an‐ gesichts des Unvorstellbaren zögern, das Ganze nicht glauben können oder wie Frau Silbergleit an Illusionen festhalten. Was fortbesteht ist alles, was von dem historischen Geschehen noch gegenwärtig ist. Beim Rückblick auf eine Reise durch Australien in „Flucht, vergeblich“ bemerkt Bienek: „In Sydney fragen sie mich: / warum schreiben die deutschen Schriftsteller / immer über Krieg und Gefangenschaft? “ und stellt fest: „Es gibt noch Länder / für die das keine Themen sind …“ (Gleiwitzer Kindheit. 98) Die Untersuchung von Zeit ohne Glocken und Erde und Feuer belegt, dass die Tageskritik und Rezensionen mit wiederholten Hinweisen auf allen Lesern ver‐ traute Ereignisse und den begrenzten schlesischen Raum die bedeutende lite‐ 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation 91 24 Horst Bienek. Reise in die Kindheit. Wiedersehen mit Schlesien. München: Hanser, 1988. 180, 181. rarische Substanz der Erzählungen unterschätzte. Bieneks Erzählverfahren, das auf jede offenkundige symbolische Vertiefung verzichtet, setzt sich bewusst mit Erfahrungen auseinander, die grundsätzliche Fragen stellen: Ist die kleine Welt in Gleiwitz repräsentativ für das Gesamtgeschehen? Führen die Gespräche mit der Familie zu einem vertieften historischen Verständnis? Ist das Erlebnis Hauptmanns beim Untergang Dresdens beispielhaft für die Tragik deutscher im Lande gebliebener Schriftsteller? Die Antworten auf diese Fragen werden offenkundig bei jedem unvoreinge‐ nommenen Lesen. Das Gesamtbild des oberschlesischen Industriegebiets im Kriegsjahr 1943 und besonders am Karfreitag, dem 23. 4. 1943, ist das einer un‐ heilvollen Zeit. Die Glocken, die zum Zweck der totalen Kriegsführung einge‐ schmolzen werden sollen, werden die Menschen nicht mehr aufrufen, an ihr christliches Ethos zu denken. Sie werden schweigen, nicht Sturm läuten, wenn das klar erkennbare Ende kommt. Eine klanglose Welt, in der alle geschwiegen haben, in der alle schuldig wurden, weil sie den Weg zum Mitmenschen ver‐ fehlten, eine Welt des Sturzes in den Abgrund unvorstellbarer Barbarei. Tonlos (ab-surdus) ist ein absurdes Dasein, das gegen jede zivilisatorische Tradition und jedes sittliche Handeln verstößt. Und es ist diese Erfahrung, die alle Figuren in Zeit ohne Glocken machen. Das kommende Verhängnis der Ausweisung und Flucht wird von Bienek weder als Strafe noch Sühne, sondern als das unaus‐ weichbare Schicksal der Vertreibung aus dem Paradies gedeutet. In seiner Reise in die Kindheit (1988) wird die Heimkehr in das Land der Kindheit eine Neube‐ sinnung auf die historischen Ereignisse seiner Jugend. Die Eindrücke der Reise, das Wiedererkennen der Landschaft, der Birkenwälder, der Seen, der Flüsse und die Erinnerung an die Vergangenheit halten Bieneks Verbundenheit mit seinen Wurzeln in Schlesien fest. Die Reise wird zum Erlebnis erinnerter Geschichte. Als der Autor sich fragt, ob es ein Ergebnis dieser Reise gebe, kommt er zum Fazit: „Oberschlesien ist für mich nicht mehr Heimat. … So spreche ich lieber von Kindheit, von meiner Flucht aus der Kindheit. Vielleicht ist Erwachsen‐ werden nichts anderes. Die Flucht aus Schlesien nichts anderes? Vertriebene sind wir alle in dem Augenblick, da wir erwachsen werden. Vertrieben aus dem Reich der Kindheit. Vielleicht ist es bei mir, in meiner Generation, einfach des‐ halb zu einer so großen Metapher geworden: weil hier die Vertreibung aus der Heimat identisch wurde / war mit der Vertreibung aus der Kindheit.“ 24 Die Abrechnung mit der Vergangenheit enthüllt nicht nur die kleinen menschlichen Schwächen, sondern auch die Schuld aller Betroffenen, die durch 3. Krieg 92 Schweigen oder Anpassung das faschistische Regime bestehen lassen. Scharf getroffene Porträts - beispielsweise von der Familie Ossadnik, besonders des schielenden Brillenträgers Andi, vom Schriftsteller Arthur Silbergleit, der seine unveröffentlichten Schriften bis zum Ende fest umklammert, und besonders des Lokomotivführers Franz, der plötzlich voller Entsetzen erkennt, dass er seine Mitbürger ins KZ transportiert; die Qual des Rechtsanwalts Wondrak, der hei‐ ratet, um dem Verdacht der Homosexualität zu entgehen, Halinas Verhaftung, nachdem ihr Verhältnis mit einem Ausländer bekannt wird - erfassen die Not der Katholiken, das Grauen der Juden, die in Viehwagen ins Vernichtungslager Birkenau transportiert werden, das Leiden Einzelner, die einen Ostarbeiter als Menschen betrachten, aber ganz besonders die allgemeine existenzielle Notlage der Betroffenen. Die Erzählung, eine Bestandsaufnahme der Kindheit in den Kriegsjahren, entwirft das Gesamtbild des Leidens und der Nivellierung der menschlichen Gefühle im Zustand der Unterdrückung durch die Machtanma‐ ßung der ausführenden Organe der NS -Regierung. Später auf seine Ortung zu‐ rückblickend bemerkt Bienek in der Reise in die Kindheit, dass sein Vater, seine Mutter und Schwester „unpolitisch“ waren und „sich raushalten wollten“ und fährt fort: „Heute wissen wir alles besser. Heute wissen wir alles ein wenig ge‐ nauer. Ihr habt euch herausgehalten, damals. Ihr wart keine Täter. Aber viel‐ leicht doch Mitahner, Mitwisser, Mittäter? Zu den Kindern habt ihr nicht darüber gesprochen. Aber habt ihr euch selbst auch mal Fragen gestellt? Oder kamen die Fragen erst auf, als ihr, nur mit einem Koffer in der Hand, euch in einem Flüchtlingslager im Westen wiederfandet? Auch ich frage ja nur.“ (Reise. 116-117) Leiden, Verlust der Orientierung, Hoffnungslosigkeit und Durchhalten be‐ stimmen auch den Erfahrungshorizont aller Figuren in Erde und Feuer. Die Er‐ zählung beschreibt ein umfassendes Panorama der Bevölkerung, der Soldaten, Fremdarbeiter und KZ ler. Sie schildert Szenen auf der Flucht vor den Russen und erhält ein scharfes Profil durch die Familie Wondrak und besonders durch die Erfahrungen des jungen Kotik Ossadnik. Der völlige Verlust der Menschen‐ würde wird besonders eindringlich deutlich, wenn Personen im letzten Augen‐ blick aufgegriffen werden, um als Flakhelfer zu dienen oder wenn Männer im besetzten Gebiet abhanden kommen. Dieses Verschwinden von Angehörigen, die unerwartet auf dem Weg zum Haarschneider von einer Streife mitgenommen werden und auf immer in den letzten Kriegswirren zugrunde gehen, kenn‐ zeichnet den Schrecken ohne Ende: das langsame Dahinschwinden menschli‐ cher Existenzvoraussetzungen. Bienek stilisiert das deutsche Verhängnis in der Figur Gerhart Hauptmanns, in seinem Rückblick auf Goethe und seinen Leiden. Agnetendorf und Dresden: Der alte Hauptmann teilt das Los der Schlesier und 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation 93 25 Horst Bienek. Erde und Feuer. München: Hanser, 1982. 268. das Schicksal Deutschlands. „Gehöre ich nicht hierher? Ich habe mich immer zuerst als Deutscher gefühlt, dann als Europäer, dann als Weltbürger, in dieser Reihenfolge. Meine Wurzeln sind hier … Goethe begann deutsch und endete deutsch. Nie vor ihm und nicht nach ihm, hat ein Künstler ein so univer‐ sell-deutsches Bewußtsein in sich getragen …“ 25 Hauptmann betont wiederholt, dass Goethe Deutschland liebte und sieht sich selbst als der Dichter, der „deutschesten einer“, der um Deutschland gelitten hat. (269) Und wie die Figur Billy Pilgrims in Kurt Vonneguts Slaughterhouse-Five or the Children’s Crusade (1969), einer Darstellung, die Bienek gleichberechtigt zur Seite steht, so erleben Hauptmann und alle Dresdner die Glut des Untergangs Dresdens: „Fünf Tage lang ging die Sonne über Dresden nicht auf und nicht unter. Das Feuer war heller als die Sonne.“ (325) Kotik erkennt, ich muss weg. Irgendwo muss es einen neuen Anfang geben. Billy muss mit anderen Kriegsgefangenen die Toten aus tiefen Kellern nach oben bringen. Er sagt: so geht’s. Beide gehören nicht in dieses verwüstete Land. Einkreisung / Gefangensein und Abhandenkommen / Verlorengehen sind die Pole, an denen sich die Erzählungen Bieneks orientieren. Bienek veranschau‐ licht die Einkreisung, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und den Gedanken, immer auf dem Sprung zu sein, besonders eindringlich in der Geschichte Die Zelle (1968). Bienek gestaltet eine Situation, die in hoch konzentrierter Form die in Kafkas Prozeß (1926) geschilderte Ausweglosigkeit einfängt. Ein Mann sitzt in Einzelhaft in der Zelle, denkt zuweilen an seine Verhaftung, wartet aber auf Morgen in der irrigen Hoffnung, endlich verhört zu werden. Er verliert in der Zelle nicht nur die physische Energie, sondern auch die geistige Spannkraft. Er will nicht an die Vergangenheit denken, sondern ausbrechen, selbst wenn der Ausbruch nur Aufbruch zum Verhör ist. Er beobachtet die fortschreitende Er‐ krankung seines Beins, die auf den Körper übergreifenden Geschwüre, den Mull und die Watte der Verbände und sein tropfenweise versickerndes Äußeres. Die Lazarus-Figur liegt auf dem Strohsack, empfindet Schmerzen, erhält aber auf seine Fragen keine Antwort. Sowohl der taubstumme Sanitäter, der die Verbände wechselt, als auch die Bewacher schweigen. Der Gefangene sucht verzweifelt einen Dialog und kommuniziert schließlich durch Klopfzeichen mit dem Mann in der Nebenzelle. Die Erzählung überlässt es den Lesern, zu entscheiden, ob der Zellennachbar Alban nebenan sitzt oder nur in der Halluzination des Gefan‐ genen existiert: „Ich und Alban“ - das Ich klammert sich an das andere ebenfalls ausweglos eingekerkerte Ich. Alban wird abgeführt und verschwindet. Das Ge‐ fühl für die Zeit geht verloren. Die Geschwüre befallen das andere Bein und 3. Krieg 94 schließlich den ganzen Körper. Die Leiden bleiben konstant. Die Situation ver‐ ändert sich nicht. Die Monotonie des ewigen Kreislaufs kennzeichnet eine schicksalhafte existenzielle Lage, die Bienek auch in „Flucht, vergeblich“ ein‐ fängt. Die Zelle ist ein anschauliches Sinnbild für die Situation der Deutschen in den Kriegsjahren. Der Hinweis auf Goethe im Brennpunkt der Ehrung Hauptmanns zeigt punktgenau den Zivilisationsbruch im historischen Geschehen. Was Bienek nicht zu erwähnen braucht ist die Tatsache, dass Goethe gern in seinem geliebten Buchenwald spazieren ging. Dass Machthaber einer Nation, die sich gern im Licht des Landes der Dichter, Denker und Komponisten sahen, Buchen‐ wald zum KZ erniedrigten, erfasst das Ausmaß des Orientierungsverlusts. Bu‐ chenwald und Auschwitz, Dresden und Köln, Stalingrad und Normandie sind Fußangeln, welche die Nachkriegsgenerationen fangen. Sie sind politische und literarische Chiffren für kollektive Schuld und Unterlassungssünden. Die Be‐ sinnung auf die Vergangenheit enthüllt sich jedoch als potentieller Gewinn für das eigene Denken. Das Fazit der im Erinnerungsdiskurs festgehaltenen Bemü‐ hungen, die Vergangenheit im Licht der heutigen Erfahrung zu begreifen, ist eine Haltung, die unter dem Leitspruch steht: Beschäftigung mit der Vergan‐ genheit ist Tagespflicht. Die Pflicht des Tages - das ist die Aufgabe des Schülers Siegfried Jepsen in Siegfried Lenz’ Deutschstunde (1968). Der Hintergrund der Erzählung ist leicht verständlich: Siegfried (Siggi), zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt, muss in der Besserungsanstalt einen Aufsatz über das Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben. Nachdem er über den Leitgedanken nachdenkt, findet er keinen An‐ fang und schreibt zuerst nichts. Mit freundlicher Unterstützung des Direktors beschreibt er schließlich sein Leben: Aufwachsen, Verirrung, Reifen, mensch‐ liche und geistige Entwicklung. Er schildert sein Verhältnis zu seinem Vater, zu dessen Freund, dem Maler Max Ludwig Nansen und seiner Familie. Die Nieder‐ schrift beleuchtet zugleich die politische Situation Deutschlands. Dieser Kunst‐ griff ermöglicht es Lenz, sowohl einen Erinnerungsdiskurs aus der Perspektive der Bewusstseinsentfaltung der Jugendlichen im Dritten Reich zu schreiben als auch ein umfassendes Zeitbild mit aktiv Beteiligten der NS -Regierung und vom Regime Bedrohten zu gestalten. Die Erzählung beleuchtet in den Erfahrungen von Ole Jepsen, Max Ludwig Nansen und Siggi drei deutsche Schicksale, die Erlebnisse von zwei Generati‐ onen, eine tragische Familiengeschichte und unvereinbare Weltanschauungen. In Siggis Rückblick leben die Jahre vor dem Krieg, das Leben in der Heimat während der Kriegsjahre, Neuanfang und Fortbestehen überholter Vorstel‐ lungen auf. Siggi, der fantasievolle, begabte Schüler, von seinen Schulkameraden 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation 95 26 Siegfried Lenz. Deutschstunde. München: DTV, 1973. 413. gehasst, von Vater und Mutter verkannt, ist dem Leiter der Anstalt „ans Herz gewachsen“ 26 und wird letztlich in der Erziehungsanstalt zum klarsichtigen Be‐ obachter und Interpreten seiner Zeit. In Ortheils Schilderung des Jahrhunderts im Licht einer Familiengeschichte (Hecke. 1983) spielt die Kriegsthematik die Rolle eines Ausgangspunkts für grundlegende Überlegungen, welche die Einstellung des Beobachters-For‐ schers-Fragestellers betreffen. Die Haltung Ortheils ist im Ansatz der Stimmlage der frühen Nachkriegsliteratur und der während der Studentenproteste geäu‐ ßerten Ansichten verpflichtet. Sie wird auch offenkundig in Schlinks und Ples‐ sens Aussagen. Der Erzähler Michael in Schlinks Der Vorleser, der vergleichbare Stadien des Reifens durchläuft, macht eine nahezu übereinstimmende Beobach‐ tung zur Einstellung der Studenten in einem KZ -Seminar an der Universität: „Je furchtbarer die Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns den Atem stocken ließen - wir hielten sie triumphierend hoch.“ (88) Die Verhaltensweisen setzen überwiegend mit Anklagen ein. Die Abrechnungen enden zuweilen in schroffer Ablehnung des Verhaltens der vo‐ rausgegangenen Generation. Andererseits durchlaufen die Erzählfiguren in Or‐ theils Bestandsaufnahmen von Erfahrungen im Dritten Reich Stufen zunehm‐ ender Erkenntnisfähigkeit, in denen Vorbehalte überprüft werden und in denen sich ein neues Verhältnis zur Vergangenheit anbahnt. Ein Vergleich von Ortheils Überlegungen mit der Rechtfertigung in Elisabeth Plessens Mitteilung an den Adel (1976) ist besonders aufschlussreich. Plessens Erzählung umfasst zwei Rechenschaftsberichte. Während der Au‐ tofahrt zur Beerdigung ihres Vaters auf dem Gut Einhaus (Ostholstein) überprüft die sechsundzwanzigjährige Journalistin Augusta ihr Verhältnis zu dem Ver‐ storbenen und setzt sich mit ihrem Leben mit dem Vater auseinander. Die zweite Perspektive auf das NS -Regime kommt im Tagebuch des Vaters (C. A. in der Erzählung) zu Wort. Der Vater berichtet in einem nach Kriegsende niederge‐ schriebenen Tagebuch von seinen Erlebnissen, seiner Einstellung zum Krieg und seiner Geisteshaltung zur Welt. Die Rechenschaftsberichte von zwei Generati‐ onen spiegeln nicht nur die problematischen zwischenmenschlichen Span‐ nungen und Generationskonflikte wider, sondern auch die ungelösten Fragen in der Aufarbeitung der Vergangenheit. Diese Situation wird besonders augen‐ fällig im Schluss der Erzählung. Wenige Kilometer vor Einhaus kommt Augusta zu der Überzeugung, dass ihr Vater die Beteiligung an der Trauerfeier sicherlich als Heimkehr und zugleich Abkehr von ihren Anschauungen gedeutet hätte. Sie 3. Krieg 96 27 Hans-Josef Ortheil. Abschied von den Kriegsteilnehmern. Roman. München, Zürich: Piper, 1992. 104 dreht um und wendet sich von der Familie und gleichermaßen von der Weltsicht des Vaters und seiner Generation ab. Augusta verlässt das Elternhaus als Siebzehnjährige, studiert in Berlin und Paris, wird Journalistin, ist aufgeschlossen, will eine Welt ohne leere Phrasen und Parolen. Der Vater glaubt, sie werde der Studentenbewegung beitreten, will sie abhalten und gibt ihr sein Tagebuch. Was sie darin findet, sind Vorstellungen, die sie als weltfremd ablehnt. Der Gesichtskreis des Vaters ist bestimmt von einer Ideologie alter, ehrwürdiger Begriffe wie Ordnung, Pflichterfüllung und Ehre. Er ist Gegner der NS -Bewegung, findet jedoch, dass jeder Widerstand vergeblich ist. Er ist unpolitisch im Sinne von Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1919), lehnt die gesellschaftliche Verfassung des faschisti‐ schen Staates und gleichermaßen die bürgerliche Welt wie die des Adels ab. Was er anstrebt, ist eine Verbindung urväterlicher Vorstellungen mit einer progres‐ siven Wirtschaftsführung auf dem Gut. Geistig soll jedoch alles beim Alten bleiben. Was ihm fehlt, ist ein Verständnis der Jugend. Was Augusta fehlt, ist die Fähigkeit, sich mit dem Vater in einem förderlichen Gespräch auseinanderzu‐ setzen. Sie scheitert im Bestreben, die Vergangenheit zu begreifen. Die Vergan‐ genheit ist greifbar, bleibt jedoch weiterhin ein Stein des Anstoßes. Die Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen findet eine völlig andere Lösung in Ortheils Abschied von den Kriegsteilnehmern (1992). In der Erzählung wird der Vater sowohl wirklich als auch symbolisch zur Ruhe gelegt. Ortheil erfasst die Hilflosigkeit der Jugend weitaus distanzierter in Abschied als in Hecke. Nach dem Tod des Vaters liest er beim Sortieren der Hinterlassenschaft ver‐ ständnislos dessen Feldpostbriefe und Karten. Er kann nicht begreifen, dass der Vater nie die Judenverfolgung erwähnt. 27 Bei erneutem Lesen und Nachdenken bahnt sich ein erstes Verständnis an. Er begreift, dass das Leben der Eltern völlig von den zeitlichen Umständen bestimmt wurde. Die Mutter kommt aus einer Familie, die den Nationalsozialisten ablehnend gegenübersteht, verliert ihre Stellung, weil sie sich weigert einem SA -Trupp die Benutzerlisten der Pfarrbib‐ liothek zu zeigen, lebt zu Hause und heiratet Henner, der zuerst den national‐ sozialistischen Ideen zustimmt, aber im Verlauf der Kriegsjahre völlig resigniert und schließlich alles mit dem Staat verbundene Denken abweist. Die Mutter schweigt aus Liebe zu ihrem Mann und fügt sich den Umständen. Der Vater verstummt, klammert sich im Krieg „hilflos an Heimatgedanken“ (Abschied. 50) und will nach 1945 nie mehr an die Vergangenheit erinnert werden. 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation 97 28 Hans-Josef Ortheil. Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. München, Zürich: Piper, 1994. 80. Ortheils Erzähler durchläuft Stufen der Entwicklung seines Denkens. Er kommt jedoch wie Ortheil selbst immer wieder auf das Ineinandergreifen von Gegenwart, Kriegsjahren und Vergangenheit zurück. „Schon sehr früh, schon in den ersten Kindheitsjahren habe ich fest geglaubt, daß die Gegenwart trüge‐ risch sei und, gemessen an der Vergangenheit, nicht zählt. Dieses Empfinden gründete in der Vorstellung, daß sich meine Eltern nur auf glückliche Weise und durch unglaubliche Zufälle hinübergerettet hätten in die Gegenwart. Ich hatte den Eindruck, sie seien dem Krieg, von dem auch fast ein Jahrzehnt nach seinem Ende noch fast täglich die Rede war, nur notdürftig entkommen, insgeheim aber steckte der Krieg noch in ihren Leibern, er machte ihnen Angst und ließ sie vorsichtig auftreten, als könnten sie jederzeit auf eine Mine treten, die hoch‐ gehen und uns alle in einen Schlund reißen würde.“ 28 Er fährt in seiner Erinne‐ rung mit Hinweis auf Fotografien der zerstörten Stadt Köln fort, die zu folgender Überlegung führen: „Den schlimmsten und stärksten Eindruck aber machten die Ruinen der Häuser. Die wenigen Mauern, die hier und da noch übriggeblieben waren, erschienen wie abgewetzte und von unzähligen Geschossen polierte Knochen, lauter Skelette, die alles Leben abgeworfen hatten, jeden Schmuck, jede Verblendung. … Ich glaubte, die Vergangenheit sei in Wahrheit noch gar nicht vergangen, sondern lediglich mit ein paar Kunstfarben unkenntlich ge‐ macht. Unter der Oberfläche der Gegenwart roch es anders, wie aus trüben Thermen quoll dort das heiße Schwefelwasser des Krieges, ein Gebräu aus ver‐ faultem Fleisch und Menschenknochen, die Ursuppe des Chaos.“ (81) Die Darstellungen der Kriegsjahre in der militärischen Erinnerungsliteratur er‐ fassen die Erlebnisse der direkt Betroffenen, ihren heroischen Einsatz für den Staat, ihr Handeln und ihre Leiden. Sie sind verraten und verloren, aber nicht individuell schuldig. Im Bunker, im Lazarett, in der Etappe, in allen Straßen eine Frage: Krieg. Und keine Antwort. In der Stellungnahme der Autoren von Ai‐ chinger und Borchert bis zu Bienek, Lenz und Ortheil dagegen treten Fragen des moralischen Versagens einer Generation, der zwischen 1890 und 1920 Gebo‐ renen, und des Orientierungsverlusts der im Weimarer Staat und im Dritten Reich aufgewachsenen Jugend in den Vordergrund. Häufig charakterisieren Be‐ schuldigungen der für die Terrorherrschaft der Nazis und für den Krieg Verant‐ wortlichen, massive Schulderlebnisse, Schuldverdrängung und exzessive Selbst‐ anklagen die Erzählhaltung. In Auseinandersetzungen mit Hitlers willigen und halbwilligen Helfern treten Fragen der individuellen Verantwortung und des Gewissens in den Vordergrund. Das schlechte Gewissen breitet sich aus, 3. Krieg 98 nachdem der volle Umfang der Verbrechen öffentlich bekannt wird. Es schärft den Blick und bestimmt die Fixierung auf die Kriegsjahre. Die Ereignisse, fak‐ tisch festgehalten, erscheinen in der militärischen Erinnerungsliteratur sowohl als Verhängnis als auch als Aufruf zur Besinnung und ehrenden Erinnerung. In kritischen Auseinandersetzungen mit den Kriegsjahren erscheint häufig sowohl das Zeitgeschehen als auch das Verhalten aller Betroffenen unverständlich. Die während der Naziherrschaft begangenen Verbrechen stehen im Licht des vo‐ rausgegangenen Anspruchs des deutschen Geisteslebens einzigartig da. Die Überlieferung deutscher Dichter und Denker wird verdrängt von deutscher Schande und Schuld. Der Holocaust und Auschwitz werden zum negativen Ge‐ genbild des idealistischen Denkens. Sicherlich erscheinen heute täglich repräsentative Zeugnisse deutscher Lite‐ ratur, die sich auf die Gegenwart konzentrieren und die Vergangenheit aus‐ klammern. Gleichwohl greifen noch immer viele Autoren und Autorinnen in direkten Hinweisen und Anspielungen die Zeit der Naziherrschaft und des Krieges auf. Die Vergangenheit lebt auf, sobald in den Texten Figuren über sich nachdenken und ihr persönliches Selbstverständnis entwickeln, das sich nicht von dem nationalen Selbstverständnis trennen lässt. Diese Vergegenwärti‐ gungen haben eine gemeinsame historische Substanz. Sie sind einerseits indi‐ vidualisiert, da Erzählungen die Ereignisse aus der Perspektive und Erlebnis‐ sphäre Einzelner gestalten. Andererseits erhalten sie eine Abstraktion des Allgemeinen oder Typischen durch die unterschiedlichen Erzählverfahren, durch eingeflochtene Kommentare und Fragen an die vorausgegangene Gene‐ ration, die manchmal zu Familienzerwürfnissen führen. Fragen, Dialoge und Selbstgespräche erweitern die historische Sicht, in der sich dann ein mögliches Verstehen der Geschichte anbahnt. Darüber hinaus stoßen die Vergegenwärti‐ gungen auf schwer zu beantwortende Fragen, die die nationalsozialistische Ver‐ gangenheit betreffen. Die gegenwärtigen politischen Debatten über Schuld, Verbrechen, Nazi-Opfer, Holocaust, aber auch Schlussstrich, einseitige Stilisie‐ rung und die Leiden einer verführten Generation wiederholen sich in den Er‐ zählungen. Die Befragung der Vergangenheit nimmt vielfältige Formen an. Sie kann direkt erfolgen, indem die Handlung in die Vergangenheit verlegt wird; sie ist integriert in Generationskonflikte, die ihren Ursprung in der Sensibili‐ sierung für die politische Vergangenheit haben; sie kann im Mittelpunkt von Identitätskrisen stehen oder den Rahmen für autobiographische Darstellungen bilden, die das Verhältnis Einzelner zum historischen Geschehen thematisieren; sie ist oft verknüpft mit primären Themen und Motiven (Aggression; Anpas‐ sung; Entwicklungsthematik; Generationskonflikte; Holocaust; Reifung; Selbst- und Welterkenntnis). Die erstaunliche Sensibilität für die politische Vergangen‐ 3.3. Erweiterte Perspektive - Familiengeschichten - Fragen an die frühere Generation 99 29 Monika Maron. Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft. Frankfurt a. M.: Fischer, 1993. 21. heit ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Diese Züge sind ein Zeichen dafür, dass die heutige Generation ein neues, reflektiertes und normales Ver‐ hältnis zur deutschen Vergangenheit sucht. Monika Maron spricht für ihre Ge‐ neration, wenn sie in dem Essay Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft (1993) feststellt: „Während die einen von ihren Eltern Antworten auf Auschwitz und Buchenwald verlangten, waren für uns die Fragen nach dem Archipel Gulag und Bautzen schon hinzugekommen.“ 29 In der literarischen Aufarbeitung der Ver‐ gangenheit lassen sich, wie auch in historischen Schriften, gegensätzliche Be‐ urteilungen nachweisen. Verbindlich für die Literatur ist eine Denkform, der die Überzeugung zu Grunde liegt, dass die existenzielle Gefährdung der Menschen im NS -Staat das zeitlose und damit heute gegenwärtige Problem menschlicher Verantwortlichkeit besonders scharf hervortreten lässt. Historisches Bewusst‐ werden wird zum Ausgangspunkt der Kritik der Gegenwart. Ortungen der Ver‐ gangenheit vertiefen die gegenwärtige Bestandsaufnahme. 3. Krieg 100 1 Aleida Assmann. „Verkörperte Geschichte - Zur Dynamik der Generationen“, in: Ge‐ schichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zu öffentlicher Inszenierung. München: Beck, 2007. 13, 31-69. 2 Vgl. dazu die bereits besprochenen Texte von Horst Bienek, Johannes Bobrowski, Sieg‐ fried Lenz, Elisabeth Plessen und Hanns-Josef Ortheil sowie Peter Härtling. Eine Frau. 1974; ders. Nachgetragene Liebe. 1980; Sibylle Knauss. Die Nacht mit Paul. 1994; Ruth Rehmann. Der Mann auf der Kanzel. 1979 und Christa Wolf. Kindheitsmuster. 1976. 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 4.1. Familiengeschichten gestern und heute Aleida Assmann stellt fest: „Die in einer Gesellschaft koexistierenden Genera‐ tionen verkörpern nebeneinander Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ 1 Daran anschließend legt sie überzeugend dar, dass Generationserfahrungen maßgebend Erinnerungen, Erkenntnis und Deutungsmuster der Vergangenheit bestimmen. Die Auseinandersetzung mit Familienmitgliedern, Verwandten, Be‐ kannten und Dokumenten, die das Zeitgeschehen festhalten, reicht von Fami‐ liengeschichten bis zu Chroniken des Zeitalters. Texte, die unter dem Dreige‐ stirn historische Bestandsaufnahme, Ortung der eigenen Situation und Verantwortlichkeit stehen, gehen von der Überzeugung aus, dass eine authen‐ tische Stimmlage ohne einen lebendigen, kritischen Dialog mit der Vergangen‐ heit nicht entstehen kann. Die Darstellungen setzen ein Verhalten voraus, das nicht ableitbar ist von zeitbedingtem Handeln der Menschen, die die Orientie‐ rung verloren haben, keine sicheren Maßstäbe für ihre Entscheidungen finden und sich dem kollektiven Interesse fügen. Zuweilen unausgesprochen, zuneh‐ mend häufig in Dialogen und Selbstgesprächen von Autoren und Autorinnen, zeichnet sich eine ethisch verankerte, zeitlose Deutung des verantwortlichen Handelns ab. Der Blick zurück, sei er von Beteiligten, Überlebenden, Kindern oder Enkeln, erfasst die Vergangenheit aus einer Sicht des richtigen und fal‐ schen, sittlichen und unsittlichen Handelns. Der charakteristische Zug der Er‐ zählungen von menschlichen Schicksalen in ihrer Bewältigung von Vergangen‐ heit und Schuld oder ihrem Scheitern ist die thematisierte Befragung der Geschichte. 2 In „Fragen an einen Vater“ (Rehmann), in der alltäglichen Ge‐ schichte einer Mutter (Härtling), in einem Rechenschaftsbericht (Plessen) oder auf der Suche nach der Kindheit (Wolf) bemühen sich Autor(inn)en, das Un‐ fassbare zu begreifen und „jenen Stimmen einen Raum“ zu geben, „denen der Krieg die Sprache genommen hat.“ Erweitert wird die Vermessung der Vergan‐ genheit durch die Frage: Wie hättest du gehandelt? Dadurch werden die Erzäh‐ lungen zugleich Ortungen der eigenen Verantwortlichkeit. Die in den Texten entstehende Erinnerungsstruktur stützt sich auf die Voraussetzung: Familien‐ geschichten sind unser Erbe. Sie sprechen zu uns und verlangen Stellungnahme. Bienek nimmt an, dass die Kindheit im Urgrund der Vergangenheit liegt. Ihre Erkenntnis bahnt einen Weg aus der Vertreibung, der Isolation, dem Verlust der Orientierung an. Er beobachtet beim Schreiben und Nachdenken über die Kind‐ heit in dem Gedichtzyklus Gleiwitzer Kindheit „plötzlich / in der Geometrie der Buchstaben / im irrealen Schnittpunkt der Linien / in der Explosion der Stille / die nichts als Stille entläßt / der lautlose Fall in die Kindheit / (es gibt keinen Sturz ins Nichts) / ganz tief / ganz unten / wenn du achtgibst / ist immer Kind‐ heit / …“ (Gleiwitzer Kindheit. 76) In den Erkundungen des Lebens der Eltern, ihrer Verhaltensweisen und Er‐ fahrungen, die für ihr Handeln ausschlaggebend waren, zeichnen sich Verän‐ derungen ab, die der wachsenden Erkenntnisfähigkeit der Fragenden entspre‐ chen. Die Fragenden durchlaufen Phasen, in denen zeitweilig die Anklage, die Scham, der Ärger, zeitweilig der Wunsch wegzusehen, die Hilflosigkeit und die Ermüdung darüber, immer belehrt zu werden, wie man über die Vergangenheit denken soll, hervortreten. So bemerkt beispielsweise der Erzähler in Schlinks Roman Der Vorleser, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialisti‐ schen Vergangenheit in den Jahren der Studentenbewegung „nicht der Grund, sondern nur der Ausdruck des Generationskonflikts war, der als treibende Kraft der Studentenbewegung zu spüren war.“ (161) Wie sollten diese Eltern, die Mit‐ läufer, Mittäter oder die nur zugesehen hatten, ihren Kindern etwas zu sagen haben. Man fühlte sich befreit. Aber für die Kinder, die ihren Eltern nichts vor‐ zuwerfen hatten, wurde die Vergangenheit das eigentliche Problem, in dessen Brennpunkt die Frage des verantwortlichen Handelns stand. Dieses Mosaik wechselnder Haltungen schafft die Voraussetzung für ein künstlerisch über‐ zeugendes Bild der Krise in der Begegnung mit der Vergangenheit. Die Aus‐ schnitte, die das Leben der Menschen und die Auswirkungen der Machtüber‐ nahme, des staatlich gelenkten Denkens und der Kriegsjahre schildern, sind authentisch, nicht weil sie mit wirklichen Erfahrungen notwendigerweise über‐ einstimmen, sondern weil sie künstlerisch erfasst sind. Bienek, ähnlich wie Wolf, versucht in der Berichterstattung seiner Reise in die Kindheit zu begreifen, wie eine Situation entstehen konnte, in der Menschen nicht nur gleichgültig wurden, sondern auch unfähig waren, die richtigen Fragen zu stellen. Er kommt, ähnlich wie Wolf, zu der Überzeugung, dass der allgemeine Orientierungsverlust einsetzte, als Menschen keine sinnvollen Ver‐ 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 102 gleiche ziehen konnten, weil feste Normen fehlten. Besonders die Kriegsjahre verstärkten das Gefühl, unkontrollierbaren Mächten, unerkennbaren Prozessen ausgeliefert zu sein. Kriegsinteresse, Volksinteresse und Staatsinteresse be‐ stimmten die menschliche Tätigkeit und führten zur Nivellierung der Gefühle. Nicht nur die Feinde, sondern auch die Mitmenschen sind gesichtslos geworden. Der Verlust des freien Willens bedingt die innere Verbarrikadierung: Man wollte nichts wissen. Die Autoren geben der Zeitperspektive einen typischen Gehalt und verwandeln zugleich einzelne Regionen in exemplarisch literarische Land‐ schaften, in denen Menschen die historischen Ereignisse erfahren, die das Jahr‐ hundert prägten. Die differenzierten Erlebnisse der Personen werden zu kol‐ lektiven Erfahrungen stilisiert. Die Figuren in den Erzählungen ringen mit den Forderungen des Tages, glauben zuweilen, auch versagen und verzagen zu müssen, erfahren tödliche Bedrohungen, drohen ihre Fähigkeit, das Zeitge‐ schehen kritisch zu betrachten, zu verlieren, und wollen trotz allem überleben. Was die deutsch-jüdisch-polnisch verschwägerten Figuren Arthur, Georg, Josel und Valeska im oberschlesischen Herz- und Grenzland in Bieneks Erzählungen verbindet, ist das Bemühen, in der Notlage einen Rest von Humanität zu be‐ wahren. Die von Bienek verzeichnete Urerfahrung der Familie und Menschen in Ober‐ schlesien ist die Monotonie eines ewigen Kreislaufs und des Verlustes jeder freien Selbstbestimmung. Sie sind gebannt wie der Sprecher in „Flucht, vergeb‐ lich.“ „Wenn ich jetzt ginge: / niemand würde mich aufhalten. / Kein Gitter vorm Fenster. / Kein Scheinwerferlicht von draußen. / Kein Postenturm an der Gar‐ tenmauer. / Und doch: / ich gehe im Kreis / die in der Zelle / gelernten Schritte.“ (Gleiwitzer Kindheit. 85) Immer aktuell, greifbar und gegenwärtig ist das Urerlebnis, das die Genera‐ tion prägte: Vergangenheit und alles, „was von der Geschichte noch Gegenwart ist.“ Die Erkundungen von Hans-Josef Ortheil halten das Erlebnis der Ausweg‐ losigkeit der Betroffenen fest, verfolgen jedoch deren Gefühle, Denken und Be‐ wusstwerden bis zum Leben in der Nachkriegszeit. Ortheils Ortung des Jahr‐ hunderts im Licht einer Familiengeschichte bietet einen Überblick über Verständnis und Missverständnisse der Generationen. Die Erzählungen schil‐ dern das Leben einer Mutter (Hecke), eines Vaters (Abschied), die Meinungsbil‐ dung junger Menschen nach 1945 (Schwerenöter) und die Gewissenskonflikte eines Schriftstellers im Verhältnis zu seiner Zeit (Agenten). In der Bestandsauf‐ nahme von Erfahrungen und Verhaltensweisen der vorausgegangenen Gene‐ ration durchlaufen die Erzählfiguren im geistigen Rollenwechsel vergleichbare Stufen zunehmender Erkenntnisfähigkeit in den Bemühungen, ihr Verhältnis zur Vergangenheit zu verstehen. Ortheil arbeitet in Hecke und Abschied beson‐ 4.1. Familiengeschichten gestern und heute 103 ders vorsichtig einzelne Aspekte aus, die auch in Erzählungen anderer Autoren anklingen. Auf seiner Spurensuche und besonders im Verlauf des Schreibens durchläuft der Erzähler Stadien des Reifens. Er stellt sich vor, für den in den letzten Kriegstagen umgekommenen Bruder zu schreiben. „Ich schrieb für meinen Bruder und mich, so bestätigte sich, was ich im stillen unseren Geheim‐ bund nannte, den Bund von Kriegs- und Nachkriegskind, die sich daran machten, die Zeiten zu überbrücken.“ (Element. 90) Er wechselt Rollen. Er klagt an, ist überzeugt, dass das Schweigen einem Schuldbekenntnis gleichkommt. Er belehrt die Eltern, wie sie über das denken sollen, was sie selbst erlebt haben. Der Verlauf des Erzählens in Hecke ist auf die Nachforschung und das zu‐ nehmende Bewusstwerden der Figur des Spurensucher-Erzählers konzentriert. Der Erzähler bleibt eine Woche in seinem Elternhaus. Die Mutter ist abgereist, um mit ihrem Mann dessen letzte Urlaubstage in der Schweiz zu teilen. Der Sohn zieht sich zum Schreiben in ein kleines Blockhaus zurück, das er vor einigen Jahren am Waldrand errichtet hat. Seine Aufzeichnungen, die das Leben der Mutter schildern, beginnen an einem Montagabend und werden am Sonntag, „Der letzte Abend, die letzte Nacht“, beendet. Die Niederschrift umfasst sowohl die Erkundung der Vergangenheit, Ablehnung, Annäherung und Erkenntnis als auch die Selbstreflexion des Autors und Kommentare über das Entstehen des Textes während des Schreibens. Die Erzählung ist anspruchsvoll, denn sie will verallgemeinernd die Haltung der Nachkriegsgeneration zur Vergangenheit einfangen und, im Sinne von Ortheils eigener Auffassung des postmodernen Schreibens, der Fülle ständig wechselnder Eindrücke eine neue Übersichtlich‐ keit verleihen. Die Erzählung lässt im Besonderen das Allgemeine durchblicken, weil die alltägliche Geschichte der Eltern zugleich eine typisch deutsche Ge‐ schichte aus den Jahren 1933 bis 1945 ist. Das Bewusstwerden entfaltet sich zögernd in Phasen, in denen bereits geäu‐ ßerte Vorbehalte aufgenommen und überprüft werden. Im Nachdenken tritt zeitweilig die Anklage, die Scham, der Ärger, die Hilflosigkeit und der Wunsch wegzusehen, hervor. Die unsicher tastende, zugleich Bejahung und Verneinung einschließende Einstellung des Erzählers fängt überzeugend die Stimmlage der ersten Nachkriegsgeneration in ihrer Einstellung zur Vergangenheit ein: „Ich wurde unruhig, wenn man in meiner Gegenwart die Zeit des Dritten Reiches erwähnte. Abscheu, Haß und tiefer Ekel ließen mich nicht mehr los und galten am Ende auch dem, der erzählte, mochte er sich auch noch so sehr bemühen, mir etwas zu erläutern oder zu erklären. Stets bedrängte mich der Gedanke, daß es so nicht gewesen sein durfte: es war unmöglich, sich diese Zeit vorzustellen, ja bereits die bloße Vorstellung rief alle Empfindungen eines Widerstandes hervor. … Der Krieg - das war die Zeit vor meiner Geburt, eine andere Zeit, die 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 104 zu dem, was ich erlebte, in keinem Verhältnis und keiner Beziehung stand. Wie ich mich täuschte! “ (36-37) Die Einsicht, dass die schroffe Ablehnung den Zu‐ gang zur Vergangenheit versperrt und jedes Verstehen untergräbt, führt zu neuen Ansätzen in der Erkundung. Der Erzähler wendet sich an die Beteiligten, sichtet Dokumente und durchforscht Zeitzeugnisse. Er begreift, dass die Eltern wie viele andere vieles nicht wussten, anderes nicht wissen wollten und schließ‐ lich zu freiwilligen oder unfreiwilligen Mitläufern wurden. Sie stehen zwischen den überzeugten Anhängern des Regimes und den einzelnen Gegnern, die wie etwa der Großvater oder der Maler Hacker dem NS -Staat kompromisslos ge‐ genüberstehen. Der Erzähler stößt jedoch auf die ablehnende Haltung der Be‐ fragten, ihre ausweichenden Antworten und ihr Schweigen kommen einem Schuldbekenntnis gleich. Ein Symptom des Verstummens ist die Reaktion der Befragten, dass man das selbst erlebt haben müsse, um es zu verstehen. „Der alte Spruch! ‚Man muß es miterlebt haben, niemand kann darüber sprechen, der es nicht miterlebt hat.‘“ (42) Er ist gelähmt von den Berichten der Mutter, die, obwohl ihr nichts vorzuwerfen ist, ihre eigene Geschichte, eine „träumerische Woge“ des Vergessens, erfunden hat. In der Schlüsselszene der Kriegsauswir‐ kung auf die Mutter wird das Verlangen deutlich, die Ereignisse zu vergessen. Der Erzähler schildert die Verletzung der Mutter und den Tod ihres fast drei‐ jährigen Jungen in ihren Armen an einem Aprilnachmittag 1945 auf dem Hofgut Hecke (289-292) und erfährt das Gefühl des Einswerdens mit dem zurücklie‐ genden Ereignis. In Gesprächen, beim Sortieren und Lesen alter Briefe, in seinem Dialog mit und besonders in der ständigen Präzisierung seiner Fragen an die Vergangenheit bahnt sich ein neues Verständnis an. Der Erzähler versteht das Schicksal all derer, die zwischen den überzeugten Anhängern des Regimes und seinen Gegnern im Zustand der Angst und Sorge verstummten. Sie sahen sich als Opfer historischer Ereignisse, die von „unbekannter, grausamer Hand“ zu einem „festen Strick“ von harter „Schicksalshaftigkeit“ verknüpft worden waren. (42) Sie wussten manches nicht, wollten anderes nicht wissen und wurden schließlich zu freiwilligen oder unfreiwilligen Mitläufern. Aber Ver‐ stehen heißt nicht vergessen oder vergeben. Es schließt die Erkenntnis ein in die Schuld des Versagens, in die Schuld nicht verantwortlich gehandelt zu haben. Das Wissen um menschliches Versagen schafft jedoch zugleich die Vorausset‐ zung für ein völlig neues Verhältnis nicht nur zur Familie sondern auch zur Vergangenheit: Verstehen mündet in Vergeben. Was Ortheil in Hecke schildert, ist nicht die verflossene Zeit, sondern die Erinnerung der Eltern an ihr zurück‐ liegendes Leben, dessen Bruchstücke der Erzähler zu einem Geschichtsbild ent‐ wirft. 4.1. Familiengeschichten gestern und heute 105 Die Beurteilung des Vaters ist weitaus detaillierter und differenzierter in Abschied als in Hecke, der Erzählung, in der die „Erzählfigur Ortheil“ versucht, das Leben seiner Mutter zu verstehen und sein Verhältnis zu ihr zu deuten. Den Vater sieht er als Mitglied eines NS -Studentenbundes, der sowohl aus Überzeu‐ gung als auch Interesse an der eigenen Karriere der Partei beitritt. Der Erzähler gleitet in die Rolle des Anklägers, aus dessen Sicht das Schweigen des Vaters einem Schuldgeständnis gleichkommt. In Abschied befindet sich der Erzähler auf der Spurensuche. Er fragt unaufhörlich, fällt auch in die Rolle des Beleh‐ renden, der zuweilen versucht, dem Vater zu erklären, wie er über das denken soll, was er selbst erlebt hat. Die Ablösung von der Heimat nach dem Begräbnis des Vaters setzt fluchtartig ein: „Du mußt Dich von dieser Gegend hier trennen, losreißen mußt Du Dich, sonst wirst Du in Deiner Trauer versinken! “ (61) Sie vollzieht sich jedoch langsam in Stadien einer Reise in die USA , Aufenthalten in St. Louis und New Orleans, einer Fahrt nach St. Domingo und der Rückkehr nach Europa, in denen Rückfälle in emotionale Befangenheit und schmerzliche Erinnerungen mit zunehmender Reflexion wechseln. Ein Verständnis bahnt sich jedoch an, als er über seine Kindheit und seine Erfahrungen an der Seite des Vaters nachdenkt. Der Erzähler ist überzeugt davon, dass er Informationen über die Kriegsjahre braucht, um den Vater völlig zu verstehen. Nach dem Begräbnis sucht er Dokumente, die Aufklärung geben könnten. Er tappt im Dunkeln, weiß zwar, wo sich der Vater aufgehalten hatte, merkt aber, dass ihm die Feldpostbriefe nicht weiterhelfen. Sie waren „- viel‐ leicht wegen der notwendigen Geheimhaltung, vielleicht aus Zensurgründen, vielleicht auch wegen der eklatanten Ausdruckshemmungen meines Vaters - voller nichtssagender Wendungen. Es wimmelte nur so von herzlichen Grüßen und Küssen, von Klagen über verspätet angekommene Post, von banalen Auf‐ zählungen der täglichen Essensrationen. Die Sätze dieser Briefe klammerten sich meist hilflos an Heimatgedanken.“ (50) Wiederkehrende Gedanken an die Heimat, Sehnsucht, auch Schilderungen seiner Umgebung enthalten immer wieder „Vergleiche mit der Heimat“. In Gedanken an die Jahre der Kindheit er‐ scheint der Vater beständig auf der Wanderung mit dem Sohn. Dieser erinnert sich an die knappen, bäuerlichen Bemerkungen über den Zustand der Felder, die Jahreszeiten, die Höhe des Korns und Schwankungen des Klimas. Er sieht sich neben dem schweigenden Vater und schaut mit ihm in das Tal, sieht den groß‐ väterlichen Bauernhof und die Gastwirtschaft. Das Gedächtnis vermittelt plötz‐ lich das Gefühl des Einswerdens mit dem Vater (57-58). Der Erzähler erinnert sich an das Herumklettern in Höhlen, von denen ihm der Vater erzählt hatte. Unvermittelt schwindet die Zeit. Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen: „als handle es sich um ein und dasselbe Erlebnis“. (60) 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 106 Der Vater war im Osten, in Kattowitz und Krakau. In Lettland musste der Vater als Eisenbahnpionier Schienen legen, Gleise freiräumen und Brücken in‐ standsetzen. „Laufend war man vor und dann wieder zurückmarschiert, vor und zurück, vor und zurück … Schienen ausbessern, Schienen legen und Weichen instandsetzen … doch schon am nächsten Tag hatten sie dieselben Schienen wieder aufreißen, dieselben Weichen sprengen müssen.“ (111-112) Der Erzähler denkt an die Pogrome, an die Vernichtung der Juden und kann das Schweigen des Vaters nicht verstehen. „Es war aber doch ganz unmöglich gewesen, daß man von diesen Pogromen und der Vertreibung der Juden nichts erfahren hatte, ich hatte mir nie vorstellen können, daß eine solche Unerfahrenheit möglich gewesen war, und ich hatte mir erst recht nicht vorstellen können, daß man nichts von dem Lager Auschwitz erfahren hatte, das sich etwa in der Mitte des Weges von Kattowitz nach Krakau befand.“ (104) Was verbirgt sich hinter der Hieroglyphe Auschwitz? Der Schrecken der Nachkriegsgeneration, Verlust des Vertrauens, denn die Eltern mussten etwas gewusst haben, aber auch Verbitte‐ rung, da die Meinungsbildung in Deutschland scheinbar vom Ausland diktiert wird. Was entsteht, ist eine eigentümliche Mischung aus Scham und Ärger, hinter der sich die Hilflosigkeit der Geschichte gegenüber verbirgt. Ortheil schildert feinfühlig die Reaktion der Generation, zu der er selbst gehört. „Ich selbst konnte doch nicht Tag für Tag, Woche für Woche in Gedanken an die an ein Ende gelangte Geschichte leben, doch ich konnte mich auch nicht von dieser Geschichte befreien, indem ich so tat, als wäre nichts Nennenswertes geschehen. Und so war der Haß auf meinen Vater, der mich immer wieder befallen hatte, ein Haß auf die Zeitzeugenschaft meines Vaters gewesen, ich hatte ihm keine persönliche Schuld unterstellen können, und doch hatte ich ihn als einen noch lebenden Zeitzeugen und als ein lebendes Überbleibsel der Vergangenheit gehaßt.“ (107) Warum? Weil sich jedes Kind den Vater als tapfer, aufrichtig, auf der Seite der Verfolgten stehend vorstellt. Die Anklage richtet sich gegen die mangelnde Stellungnahme, gegen das Schweigen und zuletzt gegen die Auffas‐ sung, dass sich die Beteiligten ja selbst als „Opfer“ des Krieges und der Ge‐ schichte verstanden. Diese Anklage erhebt Ortheil in Hecke auch gegen die Mutter. Es ist ein Aufbegehren gegen den Fatalismus. Die Haltung des Vaters nach dem Kriegsende gipfelt in der schroffen Ableh‐ nung all dessen, was ihn an die Kriegsjahre erinnern könnte. Er schwor sich, „den Osten von nun an zu meiden, nie mehr wollte er in den Osten, schon die Umgebung der Elbe hatte er für unbetretbares Terrain gehalten, erst recht aber die Stadt Berlin.“ (122) Doch auch dieser Entschluss bleibt kurzfristig, und ebenso ändert der Erzähler sein Urteil in der Rückschau und aufgrund nachdenkender Erinnerung. Der Erzähler sieht seinen Vater nun ebenso wie die Mutter als Opfer 4.1. Familiengeschichten gestern und heute 107 der politischen Zeitumstände. Beim Lesen und Ordnen von Feldpostbriefen und besonders auf den Reisen im Ausland, die zugleich Fahrten in die Kindheit und Jugend sind, bahnt sich ein neues Verständnis an. Er erkennt, wie unmöglich es für den Vater war, seine Eindrücke im Krieg den Menschen zu Hause und selbst seiner Frau zu vermitteln. Für Ortheil mündet diese Unfähigkeit ein in das Ver‐ stummen und Schweigen der Generation. Die Wanderungen des Erzählers er‐ innern ihn an Streifzüge mit dem Vater. Er denkt an ihn, träumt von ihm und umkreist das Phantom, bis er endlich beim Schreiben die nötige Distanz findet, die es ihm ermöglicht, die Vergangenheit kritisch zu gestalten und sich zugleich von seinem Schriftstellervorbild Hemingway zu lösen. Die Erzählung endet voller Hoffnung. Die Geschichte der Familie ist ein typischer Ausschnitt der deutschen Chronik. Er verjährt nicht, ist aber auch nicht mehr ein ritueller An‐ sturm der Gefühle. Im Schnittpunkt des Geschehens in Abschied steht somit wie in Hecke die Identitätssuche des Erzählers, der im Verlauf seiner Aufzeichnungen ein neues Verhältnis zu Mutter, Vater und deren Vergangenheit findet, beide lieben lernt und ein aktuelles, sinnvolles Geschichtsbild entwickelt. Im Unter‐ schied zu Hecke entwirft der Ablauf der Handlung ein großflächiges Panorama. Es umfasst das Begräbnis des Vaters, den Aufenthalt zu Hause bei der Mutter, die überstürzte Reise ins Ausland, Rückkehr, Aufenthalt in Wien und den Beginn der Wiedervereinigung. Der Erzähler lernt zwei über Ungarn geflohene DDR -Bürger kennen und hilft ihnen. Die Grenzöffnung wird zum Signal seiner eigenen Befreiung. Die Mauer wird fallen. Der Erzähler hat Zugang zur Ver‐ gangenheit gefunden. Die Welt öffnet sich. Der Zwang zum Erinnern kommt zur Ruhe. Seine lange Pflichtarbeit der Ortung der Vergangenheit ist abgetragen. Der tote Vater, die verstorbenen Brüder, die Kriegs- und Nachkriegsjahre gleiten von seinem Rücken und fallen „in das offene Grab“. (Abschied. 412) Die Nach‐ kriegsgeneration ist nicht dazu verpflichtet, weiterhin die Schuld der Eltern zu tragen. Der Erzähler ist bereit, das fehlgegangene Erbe der Aufklärung und Klassik neu anzutreten, um das Bild einer nationalen Identität zu entwerfen, das auf kulturellen und politischen Universalismus zielt. Im Kern des bereits im 2. Kapitel besprochenen Romans Schwerenöter (1987) steht die einschneidende Bemühung des Ich-Erzählers Johannes, durch ein sinn‐ volles Verständnis der Vergangenheit Orientierung und Ziel in seiner eigenen Entwicklung zu finden. Ortheil entwickelt die biographischen Zusammenhänge von der Geburt der Zwillinge Josef und Johannes und schildert vierzig Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte in Vignetten mit wiederholten Rückblicken auf die Vergangenheit. Der Überfluss des Materials wird gebunden durch den pi‐ karesken Ton und führt aus der Sichtung der Vergangenheit zum Verstehen der Gegenwart und über die Selbsterfahrung zur Welterkenntnis. Die einführenden 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 108 Kapitel behandeln die frühe Nachkriegszeit in Köln. Die Handlung berichtet und entwickelt den Schulbesuch, die Zeit im Kloster, eine Reise in die Vereinigten Staaten, den Besuch in Rom, Beobachtungen von Adorno-Vorlesungen und Ta‐ gespolitik und mündet immer wieder in Auseinandersetzungen des Erzählers Johannes mit seinem Spiegelbild Josef. Es ist aufschlussreich für das Verständnis des Romans, dass Josef als Abgeordneter Politiker wird und Johannes als enga‐ gierter Schriftsteller zum Verständnis der Gegenwart und Zukunft beitragen will. Politik und Literatur reichen sich die Hände. Besonders bedeutungsvoll für Fragen von Schuld, Sühne, Verantwortlichkeit und der Haltung zur Vergangenheit sind die Diskussionen in der Schule, nachdem Josef und Johannes von ihrem Aufenthalt in den USA heimkommen. Das Problem deutscher Kollektivschuld ist eingebettet in die häufig humoristi‐ sche, zuweilen tiefernste Schilderung des Besuchs der Jungen in New York. Die beiden sind Gäste im Haus von Daniel Rothbuch, seiner Frau Mary und deren Kinder Tom und Susan. Eingebettet in eine Fülle knapper Details und pikaresker Vignetten (Party mit Nachbarn, Susan verführt Josef, die beiden rollen im Zimmer auf dem Boden, Besuche der Stadt und Museen) ist die unvereinbare Haltung zur Vergangenheit von Daniel und dessen Vater George, der 1938 Deutschland verlassen musste. Daniel ist weltoffen. Die Vergangenheit ist ab‐ geschlossen; die Nachkriegsgeneration ist nicht verantwortlich für die Sünden der Väter. Er will, dass seine Kinder ein unvoreingenommenes Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen finden. Sein Vater dagegen kann nichts ver‐ gessen und kann nicht vergeben. George hasst Deutschland und alle Arier, die den Weltkrieg begannen, die Konzentrationslager bauten, Millionen von Men‐ schen töteten und seine Eltern ermordeten. Er ist überzeugt davon, dass sich die Deutschen nur eine neue Tarnung zugelegt haben. Sein Leben ist verdüstert von seiner Verblendung, die schließlich die eigene Familie bedroht, als die Nachricht von Kennedys Ermordung am 22. 11. 1963 über das Fernsehen kommt. Er ver‐ sperrt die Tür, beschimpft Josef und verlangt, dass sich die Deutschen endlich aus der Wohnung machen. Als Daniel ihm zuruft, dass ihm die Jungs nichts getan haben, schreit er zurück: „Nichts getan? Kennedy ist tot, ich weiß es. Begreifst Du jetzt endlich? Seit sie hier sind, geht es mir nicht gut; seit sie sich hier ausgebreitet haben, hat sich alles verändert. Sie verpesten die Umgebung! “ (309) Der Großvater steht im Bann einer völlig unbewältigten Vergangenheit. Er wird immer wütender, beschuldigt Josef und Johannes und glaubt, sie seien irgendwie für das Verbrechen mitverantwortlich. Daniel bringt schließlich seine Besucher zu den Nachbarn und am nächsten Tag zum Heimflug nach Deutsch‐ land. 4.1. Familiengeschichten gestern und heute 109 Der Besuch und besonders die unvereinbaren Auffassungen der Geschichte im Haus der Rothbuchs hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck. Josef und Johannes befassen sich erneut mit der deutschen Vergangenheit, verspüren Angst, setzen sich mit dem Stichwort „Auschwitz“ auseinander und meistern schließlich die Kurzfassung der Geschichte, die besagt, die Zeit des Nationalso‐ zialismus sei „unvorstellbar“ und „alle Phantasie reiche nicht aus, sie zu ver‐ stehen.“ Johannes und Josef begreifen, dass nur eine sachliche, nüchterne Aus‐ einandersetzung den Zugang zum Verstehen öffnet. Sie treten das Erbe bewusst an und finden eine lebenswürdige Haltung zur Welt. Die Erzählung richtet einen Appell an die persönliche Verantwortlichkeit, zu der sich der Erzähler in seiner Niederschrift bekennt und die Josef als Politiker verwirklichen will. In dieser Forderung des Tages kommt der Geist der historischen Bewusstseinslage klar zur Geltung. Ortheils Vergangenheitsbewältigung ist eine Auseinandersetzung mit dem Leben der vorausgegangenen Generation, konkret mit dem Leben der Eltern, mit ihren Verhaltensweisen und mit den Erfahrungen, die für ihr Handeln und ihre Unterlassungen ausschlaggebend waren. In der Einstellung der Erzähler zeichnen sich Veränderungen ab, die ihrer wachsenden Erkenntnisfähigkeit entsprechen. Sie durchlaufen Phasen, in denen zeitweilig die Anklage, die Scham, der Ärger, zeitweilig der Wunsch wegzusehen, die Hilflosigkeit und die Ermüdung darüber, immer belehrt zu werden, wie man über die Vergangenheit denken soll, hervortreten. Die Ausschnitte, die das Leben der Menschen und die Auswirkungen der Machtübernahme, des staatlich gelenkten Denkens und der Kriegsjahre schildern, sind authentisch, nicht weil sie mit wirklichen Erfah‐ rungen notwendigerweise übereinstimmen, sondern weil sie künstlerisch ge‐ strafft sind. Junge Menschen erfahren, dass die Regierung die Rechtsnachfol‐ gerin des Deutschen Reiches ist und fragen, ob nun die Einzelnen dazu verurteilt sind, die Schuld vergangener Generationen zu tragen. Deutlich wird, wie leicht verletzbar junge Menschen sind und wie sie gereizt auf diese Zumutung rea‐ gieren. Ortheil stellt fest, er habe die Sphäre des Elternhauses vermessen, einen Dienst ausgeübt und versucht, den Kreis zu schließen (Element des Elephanten. 108). Sein Ziel war, „jenen Stimmen einen Raum“ zu geben, „denen der Krieg die Sprache genommen hat.“ (108) Er fährt fort: „Ich habe den Krieg ausgeschrieben, all mein Schreiben ist ‚Nachkrieg‘ gewesen, und erst jetzt nach fünf Büchern und zweitausend Seiten, erkläre ich diese Arbeit für beendet.“ (108) Für Ortheil verbirgt sich hinter der Hieroglyphe Heimat die belastete Vergangenheit, die Nazizeit, der Krieg und Auschwitz. Die Vergangenheit ist unwiderrufbar. Man kann sie leugnen oder anerkennen. Schuldgefühle, Hass, Ablehnung oder be‐ ruhigendes Vergessen der direkt Betroffenen sind verständlich. Aber sie unter‐ 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 110 3 Hartmut Steinecke. „Die Suche nach dem ‚Blauen Weg‘. Ein Werkstattgespräch mit Hanns-Josef Ortheil,“ in: Manfred Durzak, Hartmut Steinecke (Hg.). Hanns-Josef Ortheil. Im Innern seiner Texte. Studien zu seinem Werk. München, Zürich: Piper 1995. 222. graben wie jede qualvolle Fixierung auf die Vergangenheit die Möglichkeit einer rationalen Auseinandersetzung. Erst diese öffnet den Weg zu einem Dialog, in dem die Frage des verantwortlichen Handelns in der Gegenwart zu Wort kommt. Außerdem gelingt es Ortheil mit großer Feinfühligkeit einzelne Aspekte aus‐ zuarbeiten, die auch in Erzählungen anderer Autoren zu Wort kommen. Sie be‐ rühren Fragen des Verantwortungsbewusstseins der heutigen Generation. 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen In Schwerenöter zeichnet sich die langsame Loslösung von der Vergangenheit sowie die gleichzeitige Wendung zur Gegenwart und Selbsterkundung des Schriftstellers ab. Ortheil behält den Erinnerungsdiskurs sowohl in der Ausei‐ nandersetzung mit der jüngsten Gegenwart (Agenten. 1989) als auch in der Deu‐ tung Goethes (Faustinas Küsse.1998) bei. In Agenten steht der Autor Meynard, der illusionslos auf den Publikumsgeschmack eingeht, meteorisch zum journa‐ listischen Star aufsteigt, dann seinen Beruf aufgibt und Gewissenszweifel ver‐ spürt, im Mittelpunkt einer Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Tendenzen, die um das Streben nach Glück, Erfolg, Anerkennung und Reichtum kreisen. Die Atmosphäre und das Zeitkolorit sind scharf umrissen und überzeugend darge‐ stellt. In einem Interview mit Hartmut Steinecke bemerkt Ortheil: „Der Roman‐ schreiber in Agenten schreibt einen Text, nachdem er durch die ganze Erfah‐ rungsbreite von Enttäuschungen, von schweren narzißtischen Kränkungen gegangen ist. … Dieser Mensch vernichtet schreibend seine Vergangenheit. Und dadurch ist diese Figur, die ich sehr mag, für mich ein Schreiber, ein Schriftsteller. Es ist ein Text, der aus enttäuschter Erwartung und aus enttäuschtem Leben entstanden ist, und dadurch ist die Gestalt des Erzählers gerechtfertigt.“ 3 Ortheils Erzählung betont das kritische Erkenntnisvermögen des Erzählers, das die Leser zum Nachdenken und zu eigener Urteilsbildung auffordert. Der Erzähler beginnt die Ereignisse im Rückblick zu schildern, nachdem er durch seine Erfahrungen das Erkenntnisvermögen erreicht hat, das ihm eine kritisch distanzierte Sicht ermöglicht. Er beobachtet sich im Verhältnis zur Zeit und the‐ matisiert den Bruch zwischen Erfolgsstreben und der ethischen Verpflichtung im Beruf. Verallgemeinernd verweisen damit die Agenten auf den Widerspruch in der Gesellschaft zwischen erfüllten und betrogenen Erwartungen. Das Pub‐ likum erwartet von den Medien eine Nachrichtenübermittlung, die den Tatsa‐ 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 111 4 Martin Rector: „Durchs Fegefeuer der Yuppie-Szene. Hanns-Josef Ortheils Erfahrungen mit den ‚Agenten‘ der achtziger Jahre“, in: ibid. 129-147. chen entspricht. Nachrichten sollen weder entstellt noch erfunden sein; sie sollen nicht aus Geschäftsinteressen vorangestellt, zurechtgemacht und aufge‐ peitscht werden. Die Übertretung und Vermischung der Grenze zwischen Tat‐ sachenbericht und Täuschung untergraben die Grundlage des kritischen Dialogs zwischen Medien und Publikum. Darüber hinaus zerstört die im Text themati‐ sierte, das Leben zerfressende Intrige jedes Vertrauen. In der „Szene“, die Mey‐ nard treffend schildert, passt er sich völlig an die Konventionen seiner Zeit an. Er durchschaut aber das Brüchige dieses Verhaltens und zieht sich zurück. Mey‐ nard erkennt die Wesensart des Vertrauensbruchs im Handeln seines Freundes Blok. „‚Blok, ich werd dir was sagen. Das sind Geheimdienstmanieren, das läuft auf Kaltstellen hinaus, auf Spionage und Dienste im Dunkeln …‘ ‚Sag nur, du treibst es anders …‘ ‚Blok, du handelst wie ein Agent … Wir alle haben etwas davon. Wir trauen unseren Freunden nicht mehr, wir handeln nur im Verbor‐ genen.‘“ (170) Er setzt noch hinzu: „Wir gehören niemanden an, wir rechnen uns nirgends dazu, das wird es sein. Ganz für uns, jeder für sich! “ (170) Was Martin Rector in seiner scharfblickenden Analyse des Romans als Bilanz der Yuppie-Szene hervorhebt, 4 ist somit zugleich eine Abrechnung mit wiederkehr‐ enden Tendenzen in der Gesellschaft. Sie kennzeichnen ein Symptom, das in vergangenen Jahren in der Affäre von Jayson Blair und der „New York Times“ deutlich war und bereits im vergangenen Jahrhundert von Trollope und Augier kritisch beleuchtet wurde. Die Figur des Schriftstellers - Beobachter, Forscher, Voyeur - fasziniert Or‐ theil. Er erkundet die Vergangenheit, recherchiert die Gegenwart und hat ein Vorgefühl für die Zukunft. Im Element des Elephanten bemerkt Ortheil: „In meinen Phantasien war der Schriftsteller daher eine Art Verwandlungskünstler, einer, dem man nie auf die Spur kam, einer, der mehrere, ganz verschiedene Metiers beherrschte und unablässig in Geschichten dachte, Geschichten, die er am eigenen Leib erfahren oder zumindest von interessanten und vom Leben gezeichneten Personen erzählt bekommen hatte.“ (153) In seinem Werkstattge‐ spräch mit Hartmut Steinecke nimmt er Stellung zu Themen und Schriftsteller‐ figuren, die ihn reizen. Er erwähnt beispielsweise Goethe in der Verbindung mit Rom: „Das ist ein Stoff, den ich lange schon durchträume und durchlebe … Goethe in Rom, das kann ich mir sehr genau vorstellen, aus der Position des Beobachters heraus. Mich reizt der Voyeur, der diesen Goethe beobachtet, der ihm manchmal nahekommt, manchmal verläßt …“ (225-226) Der Roman Faus‐ tinas Küsse (1998) erfüllt dieses Anliegen. Der junge Giovanni Beri übernimmt 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 112 die Rolle des Beobachters, der zufällig die Ankunft Filippo Millers, eines Malers aus Deutschland, erlebt. Er spürt ihm nach und bietet ihm seine Dienste an. Giovanni glaubt, der Ausländer sei ein Schauspieler, ein Anwalt oder ein Dip‐ lomat in geheimer Mission. Er hofft, die Begegnung ausnützen zu können, und wendet sich an den politischen Überwachungsdienst des Vatikans, eine an die Stasi erinnernde Organisation, die ihn als Spitzel anstellt. Giovanni erfindet Ge‐ schichten politischer Intrige, avanciert zum „Meisterspion“, spielt die Rolle eines großen Malers und liest sogar Goethes Werther. Er verliert seine Freundin Faus‐ tina an den rätselhaften Fremden und versucht mit einer bis zur Besessenheit gesteigerten Neugier, dessen Wesen zu ergründen. Der Roman ist in drei Teile gegliedert: Ankunft und erster Kontakt, Überwa‐ chung und zunehmendes Verständnis, menschliche Begegnung und Deutung des Rätsels. In der Szene, in der Goethe und Giovanni am Abend auf dem Palatin nebeneinander sitzen, übernimmt Giovanni die Aufgabe des Beichtvaters und Ratgebers. Er erkennt, dass Goethe vor seiner Lebensbestimmung flieht, bestä‐ tigt ihm, dass sein Zeichnen nur ein Irrgang ist, und weist ihn zurück zur Dich‐ tung. Was aber erwartet der begierige Schüler? In den Schriften verhüllte Ge‐ heimbotschaften über das Leben, die Menschen, deren Leidenschaften und die Liebe. „Beri beobachtete Filippo genau. … Es ist, als malten seine Augen das, was er sieht, in Sekundenschnelle hinein in sein Herz, so unruhig und schnell wan‐ dern sie alles ab. Und ich? Ich beschreibe ihm alles, ich setze die Worte dazu, ja mein Gott, es ist wahr, ich dichte das alles für ihn, ich bin sein Erzähler, wahr‐ scheinlich merkt er sich meine Sätze genau, er hat schließlich ein sehr gutes Gedächtnis! “ (309) Der geheimnisumwitterte Goethe steht somit gleichermaßen im Vorder- und Hintergrund der Erzählung, denn das Leben Giovannis wirkt gleichberechtigt. Er schreckt weder vor List und Betrug noch Gewalt zurück, um sein Ziel zu erreichen. Das Erzählverfahren ähnelt Manns Technik in Lotte in Weimar (1939), ist jedoch zugleich völlig anders. In Manns Roman setzt die thematische Ent‐ wicklung sofort mit der Ankunft der sichtbar gealterten Charlotte ein und ver‐ läuft über um Goethe kreisende Gespräche zur Einführung der Figur Goethes im siebenten Kapitel. Die Unterhaltungen fangen die ambivalente Haltung der Personen um Goethe ein, die den Dichter bewundern und ablehnen, verehren und erniedrigen und sein Alter hervorkehren, aber seine Vitalität anerkennen. Der Kunstgriff Manns besteht darin, die einführenden Gespräche aufzugreifen, auf innere Monologe und Dialoge auszudehnen und mit dem ersten inneren Monolog der Figur zum gestaltgebenden Prinzip im Leben des Künstlers zu er‐ weitern. Nahezu verdeckt, übernimmt das Verfahren nicht nur eine nachweis‐ bare Grundhaltung der historischen Person, sondern auch die von Gerontologen 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 113 beobachtete Tendenz des vor sich hin Redens alter Menschen. Das Selbstge‐ spräch der Figur erschöpft sich jedoch nicht im Sprechen, sondern wird zum Dialog mit der Welt, der erhöhte Aufmerksamkeit, gesteigerte Aktivität und überwältigende Reflexionskraft bekundet. Die Betrachtungen beleuchten die aktive Beteiligung am öffentlichen Leben, die beständige Auseinandersetzung mit der Welt, das Bemühen, das historische Geschehen zu verstehen und das Ringen mit Fragen des künstlerischen Schaffens. Erinnerungen und Tagespläne, Liebe, Freundschaft und naturwissenschaftliche Fehden fließen ineinander. Manns Erkundung der geistig-seelischen Verfassung der 67jährigen Figur ent‐ wirft das Bild kreativer Unruhe und höchster Leistungsfähigkeit. Der Alters‐ prozess wird zum Vorgang des Wachsens. In Ortheils Roman sollen die Leser Goethe durch die Augen eines Beobachters sehen, der die Schwächen und Stärken, die menschlichen Absonderlichkeiten und Vorzüge manchmal naiv, zuweilen kritisch kommentiert. Darüber hinaus aber, und das ist sicherlich die große Leistung des Romans, soll dieses Sehen übergehen in ein Verstehen. Am Morgen nach Goethes Abreise geht Giovanni die Straße entlang, „beinah wie ein Wandrer“, und denkt: „Es ist wahrhaftig so, als wolle ich ihm folgen. Er läßt einen nicht los, von Anfang an ließ er einen nicht los. Ich hätte gern verstanden, wodurch er die Menschen so an sich zu binden vermag, ja, ich hätte es gern gewußt! “ (349) Diese Beobachtung erweitert die im Roman immer gegenwärtige Ortung des künstlerischen Schaffens, des Zeichnens und Schreibens. Goethe erscheint plötzlich als ein Autor, der vielfäl‐ tige Bilder aufnimmt, dessen Eindrücke jedoch erst durch den Kritiker Giovanni zu einer begrifflichen Allgemeinheit zusammengefasst werden. Da Giovanni jedoch nur einen zeitnahen, zeitlich begrenzten Kommentar liefern kann, fehlt ihm die Einsicht in das Wesen des Typischen, das im Konkreten des Bildes das zeitlos Allgemeine anklingen lässt. Die Orientierungssuche tritt damit in den Mittelpunkt der Begegnung von Goethe und Giovanni. Goethe sucht einen gül‐ tigen Maßstab für seine Dichtung. Giovanni sucht eine Sinndeutung des Da‐ seins, die über den zeitbedingten Geboten des Vatikans steht; er sucht etwas „Unbedingtes“, „Absolutes“, das seinem Leben Sinn und Richtung geben kann. Das Ende für Goethe ist die Rückkehr nach Weimar zur Gestaltung und zur Formgebung seiner Eindrücke in Italien. Was für Giovanni bleibt, ist das Gefühl der Einfühlung, eines nachempfundenen Lebens von Lesern und Leserinnen. Giovanni stellt seine Frage und nimmt im Weitergehen Werther aus der Tasche. Er hört die Stimme wieder, die fragte „Bester Freund, was ist das Herz des Men‐ schen? “ Als er schließlich wieder eine Rolle spielend als Fremder in seine Hei‐ matstadt Rom kommt, lüftet sich für ihn das Geheimnis. Giovanni wurde bis zum Selbstverlust von Goethe angezogen: Beobachter und der von ihm Be‐ 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 114 5 Wolfgang Hilbig. Eine Übertragung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1989. 60. obachtete wurden eine Person. Als die Wachsoldaten an der Porta del Popolo auf ihn zukommen, sagt er: „Ich eiße Miller … Filippo Miller. Ich bin ein Maler aus Deutschland.“ (350) Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Ortheils Rückgriff auf Goethes Leben in seiner Gestaltung grundverschiedener Wege zur Selbstverwirklichung in un‐ serer Zeit erscheint Wolfgang Hilbigs Eine Übertragung (1989), die Suche eines Autors nach einer seiner Zeit angemessenen Geschichte, und im folgenden Jahr Das Provisorium (2000), eine sensitive Zergliederung der selbstzerstörerischen Tendenzen im Leben eines Schriftstellers im geteilten Deutschland. Hilbigs Schriftsteller ringen mit heutigen Existenzfragen und leben in der Jetztzeit, die jedoch oft zugleich als Letztzeit erscheint. Der Autor in der Übertragung emp‐ findet, er sei überwältigt, gefangen und geradezu eingekesselt von der Sprach‐ realität der Zeit, die das gesamte Denken beherrscht und nur die Interessen der vom Staat geschaffenen Strukturen widerspiegelt. Die staatliche Utopie ist im Begrifflichen befestigt und wird in ihrer Auswirkung erkenntlich, die weitge‐ hend negativ ist. Der Autor muss aus dem Sprachbereich ausbrechen oder er wird zum unbewussten-bewussten Handlanger des Systems in der DDR . Hilbig erfasst in diesem Dilemma den Riss in der Bewusstseinslage der Bevölkerung zwischen leidenschaftlicher Sehnsucht nach freier Selbstverwirklichung und der Anpassung an die gesellschaftlichen vom Staat geförderten oder erzwun‐ genen Normen. Der Erzähler betrachtet seine Existenz als „Trümmerfeld von Zusammenhangslosigkeiten“; was verdächtig ist, hat keine Bedeutung, was ge‐ logen ist, ist möglicherweise eine „Geschichte aus dem Leben.“ 5 Es gibt keine feste Grundlage des Wissens. Jede von einem Schriftsteller erfundene Ge‐ schichte wird von den staatlichen Mitwissern als tatsächlich wahrgenommen. Für den Sicherheitsdienst ist alles, besonders das Undenkbare, möglich. Jeder kann handeln und sich anpassen, aber trotzdem verhaftet und wieder freigesetzt werden. Auch die vom Autor gestaltete fiktive Realität ist daher ein möglicher und zugleich unwahrscheinlicher Vorfall. Die Figuren im Roman wirken seltsam durchlässig: aus ihren Augen blicken andere; ihre Stimmen sind austauschbar; ihr Handeln ist gleichermaßen denkbar und undenkbar. Was bleibt ist eine kollektive Identität, die mit dem Verlust per‐ sönlicher Eigenschaften bezahlt wird. Jeder Versuch des Erzählers, aus dem Kollektiv auszubrechen, führt zu Ich-Konstruktionen, die wie die Erzählung aus Möglichkeiten bestehen, die zugleich unwahrscheinlich sind. Jede Ich-Reflexion über Begegnungen, Verhaftung und Verwechslung mit anderen, die Rekon‐ struktion von Gesprächen mit einem Anwalt und schließlich die Erörterungen 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 115 der eigenen Geschichte führen ins Leere. Sie scheitern an der Unsicherheit, das eigene Selbst zu erkennen. „Ich bin nicht der, nicht das eine noch andere; bin Heizer, Schriftsteller; alles Konjunktur - alles Möglichkeiten.“ (65) Selbst Namen sind auswechselbar. Unmissverständlich ist die Erkenntnis im Gespräch, eher Selbstgespräch, dass jeder Versuch, schreibend die Erfahrungen in eine bereits bestehende, auf einen Autor wartende Geschichte zu transponieren - das ist punktgenau die „Übertragung“ -, in einem sozialistisch-utopischen-totalitären Staat unmöglich ist. „Fest steht aber für mich, daß du inzwischen in ihren Ka‐ tegorien denkst. Wenn du ihnen nachweisen willst, daß du nichts getan hast, was für sie strafbar ist, dann bist du schon einer von ihnen. Sie selbst müssen das gleiche jeden Tag nachweisen.“ (152) Was Hilbig wie später in der Abdeckerei eindringlich ausmalt, ist das absolute Ersticken menschlicher Regungen im Ruß und Kohledampf, der die gesamte Welt verdüstert. Ortsveränderungen bringen keine Auffrischung. Öde ersetzt Öde. Oberwelt und Unterwelt sind aus‐ tauschbar. Das Bild der Welt erweckt Schrecken: Heizer, riesige Öfen, donnernde Kohlewagen, verdreckte Filter, Rauch, Ruß und aggressives Aufbegehren aller gegen alle. Der Autor kommt zum Schluss zur Einsicht, dass er gegen die Ge‐ sellschaft und zugleich in ihr denkt. Er ist ihr Repräsentant. „Ich kam mir vor wie eine Metapher, wie eine Übertragung der Übergangsgesellschaft auf meine Person. Die griechische Metapher heißt auf deutsch Übertragung.“ (283) Das Provisorium schließt in der Konzentration auf die Selbstanalyse des Schriftstellers und Erzählers C. deutlich an die Problemstellung in Ich (1993) und Übertragung an. Die fiktiven autobiographischen Aufzeichnungen vermitteln das Gefühl einer rücksichtslos bohrenden Analyse, in deren Verlauf alle vom Erzähler vorgebrachten Entschuldigungen für das hilflose Absinken in eine selbstzerstörerische Benommenheit und Ausweglosigkeit kritisch befragt, ent‐ larvt und auf ihre Gültigkeit als verbindliche Aussage über eine allgemeine Existenzkrise in der Gegenwart untersucht werden. Der äußere Anstoß zu C.s Rechenschaftsbericht ist die Reisegenehmigung von DDR -Behörden zur Fahrt nach Westdeutschland, um dort Lesungen und Vorträge zu halten. Das Visum erlaubt wiederholte Aus- und Einreisen. Durch ein großzügiges Stipendium fi‐ nanziell gesichert, erwartet C. neue Anregungen zum künstlerischen Schaffen. Er macht neue Bekanntschaften, verliebt sich in Hedda, zieht in ihre Wohnung in Nürnberg, kann sich aber von seiner im Osten verbliebenen Freundin Mona nicht trennen. Er zögert, schwankt und ist entschlusslos. C. fährt zwischen Leipzig und Nürnberg, Berlin und München hin und her. Kurze Vortragsreisen nach Wien und Paris ändern nichts am Provisorium seiner Existenz. Seine Ruhelosigkeit findet Entsprechung in nächtlichem Umherlaufen, das er selbst treffend als Dreiecksbewegung charakterisiert. Der Roman schil‐ 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 116 6 Wolfgang Hilbig. Das Provisorium. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2000. 118. dert somit zeitlich aufgefächert und in Reisedetails eigentlich nur die Bewusst‐ seinslage eines Menschen im Zustand und im Augenblick vor einer Entschei‐ dung. Die Verengung der Perspektive auf das Ich findet Entsprechung im Ausklammern von der geschichtlichen oder gegenwärtigen Eigenart von Städten oder Landstrichen. C. betrachtet das befristete Warten auf Bahnhöfen und Übernachten in Hotels in Bahnhofsnähe als die ihm angemessene Lebens‐ form. Er verspürt den Drang, diesem Zustand Dauer zu verleihen. Er versäumt Züge, um länger bleiben zu können, beobachtet das Gewirr auf dem Bahnhof, lernt aber nie eine Metropole oder den Stadtumkreis wirklich kennen. Der Motivkomplex von Bahnhöfen, kurzfristigen Übernachtungen, Bahn‐ fahrten und ziellosen Kreisbewegungen unterstreicht C.s Ruhelosigkeit. Das Provisorische seiner Existenz beruht anfangs auf seinem unschlüssigen Zögern, sich entweder für das Leben in der DDR oder BRD zu entscheiden. C. weiß aus eigener Erfahrung, dass die sozialistische Utopie von der Staatsideologie unter‐ höhlt ist. Er sieht zugleich überscharf die Schwächen der westlichen Gesell‐ schaft, deren Ideale aus seiner Sicht auf wirtschaftlichen Gewinn zusammen‐ geschrumpft sind. Seine Unfähigkeit, Entscheidungen treffen zu können, wird zum permanenten Zustand, den C. mit Hinweisen auf Psychosen in Auffangla‐ gern nach dem Krieg als Ausdruck des Verlusts jeder lebenswürdigen Sinnstif‐ tung deutet. Die vielfältigen Symptome der Entwurzelung sind kompositorisch streng auf die zentrale Thematik der Schaffenskrise des Schriftstellers bezogen. Sie steht unter den Vorzeichen des Verzagens und Versagens. Vortragsreisen, Veranstal‐ tungen und Lesungen enttäuschen. Er kann scheinbar die Erwartungen der Hörer nicht erfüllen, beginnt an den Worten zu würgen, verspürt Übelkeit und flieht am Ende der Veranstaltungen. Bei Vorträgen, die er selbst besucht, merkt C., dass das Publikum weitgehend aus Berufskollegen besteht: „… es ging in den meisten dieser Texte um Existenzbedingungen von Schriftstellern. Schriftsteller reflektierten über Schriftsteller“. 6 Die Beobachtung trifft seine eigene Situation. C., der weder Apologet der sogenannten gesellschaftlichen Interessen des so‐ zialistischen Staates noch Anwalt der nivellierenden Wirtschaftsideologie sein kann, versinkt im „Chaos“ seiner Gefühle und Gedanken, die er auf Zetteln festhält, denen er aber keine künstlerische Form geben kann. „Eines Tages, das war ihm klar, mußte er das Monster, das seinen Innenraum besetzt hielt, be‐ schreiben und es der Öffentlichkeit ausliefern. Jener Öffentlichkeit, vor der er sich verkroch und die er gleichsam anbetete, der er sich mit allen denkbaren Tricks anglich und die er mit gerissensten Manövern hinterging, um sich ihr zu 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 117 verkaufen, wie ein verschlagener alter skythischer Roßtäuscher. Und die Instanz dieser Öffentlichkeit war die Kritik, dem blutigen Rachen der Kritik mußte er die Bestie zum Fraß vorwerfen.“ (133) Schreibhemmungen nehmen zu. Literatur als Kritik bestehender Zustände ist nicht gefragt. Die Selbstanalyse zeitigt kurz aufflackernde Gedanken an Gott, Tod, Altern und mündet schließlich in die völlige Lähmung der Gedanken. Die der Schaffens- und Existenzkrise entspringende Bewusstseinslage der Verzweiflung untergräbt C.s Fähigkeit, menschliche Beziehungen aufrecht zu erhalten. Er weicht aus, flieht vor Hedda wie Mona, fährt in die Heimat, beo‐ bachtet seine alte Mutter auf dem Weg vom Einkauf nach Hause und kann sich nicht dazu durchringen, sie zu besuchen. C. ist geistig in trostlosem Kreislauf seiner Gedanken gefangen. Er hat Panikanfälle und schwankt „zwischen Em‐ pörung und weinerlicher Empfindsamkeit, zwischen hektischer Aktivität und resignierter Unentschlossenheit“ (157). Seine Gemütslage spiegelt die von ihm wahrgenommene Verödung der Welt wider, die im Osten unter den Vorzeichen von Kohle, Ruß und Schmutz steht, die sich in Nürnberg unmissverständlich in penetrant süßlichem Malzgeruch der Brauereien manifestiert. Er kommt phy‐ sisch herunter, kann nicht ohne „Underberg“ reisen, sitzt in verqualmten Zim‐ mern, seine Finger am „Flaschenhals förmlich festgewachsen“ (129), trinkt bis zum Umfallen und Erbrechen (z. B. 130, 170), verbringt kurze Zeit in einer Ent‐ zugsanstalt, ohne kuriert zu werden, empfindet immer wieder Selbstmitleid, hasst das „verquetschte Gewinsel“ seiner sächsischen Aussprache (240) und seinen verwüsteten Anblick, verspürt Angstanfälle bei Grenzübergängen, rennt in Peepshows, starrt sinnlos gebannt auf Sexfilme im Hotel, fühlt, er sei nichts als ein minderwertiger Parasit, und verspürt tiefen „Ekel“ vor sich selbst. „Koh‐ lefarbene Tränen“ dringen aus allen Poren. (148) Wie in allen anderen Erzäh‐ lungen Hilbigs werden Ruß, Kohle, schwarzer Abfall und Verfinsterung zu Sym‐ bolträgern der geistigen und gesellschaftlichen Verödung des Landes, in dem BRD , DDR und historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts zur Einheit ver‐ schmelzen. Überzeugend gelungen im Erfassen der Ich-Krise ist nicht nur die Schilderung der Psychose, sondern besonders die Gestaltung des Vorläufigen und Bruch‐ stückhaften der menschlichen Existenz in der Zeit vor einer eindeutigen Neu‐ orientierung, einem Mentalitätswandel, der die Voraussetzung für ein neues Verhältnis zu anderen und zur Gesellschaft bietet. Hilbig thematisiert die Ori‐ entierungssuche mit wiederholten verhüllten Hinweisen auf den inneren Wi‐ derstand und zugleich das Erkennen des Aufrufs zu verantwortlichem Handeln und Schreiben. C. grübelt darüber nach, ob seine Impotenz ihren Ursprung in der Kindheit hatte, in der er das Bett mit der Mutter teilen musste (137). Er 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 118 erkennt schließlich, dass die Impotenz Ausdruck ist für sein Zögern, seinen Zorn auf die Gesellschaft (142), der er zu unterliegen scheint, und für seine Unfähig‐ keit, sich fest zu binden. Sie wurzelt in seiner erzwungenen Eingliederung in das System des DDR -Staates und ist zweifelsohne als Zeitsymptom charakte‐ ristischer und überzeugender erfasst als die historische Vorstellungskraft des „Helden“ in Thomas Brussigs Helden wie wir (1995), dessen Humor alles ver‐ niedlicht, was in der DDR gefährlich und bedrohlich war. C. klagt sein Jahr‐ hundert an: „Holocaust und Gulag.“ Die Vergangenheit ist so ungeheuerlich, dass weder eigene Wünsche noch Sorgen zählen (154), und unterminiert die eigene Initiative. Er beschuldigt die DDR und macht den Staat für seine Krise verant‐ wortlich. „Dieses Land da drüben hatte seine Zeit geschluckt. Dieser Vorhof der Realität. Dieses Land, triefend von Schwachsinn, verkrüppelt vor Alter, zer‐ mürbt und verheizt von Verschleiß und übelriechend wie eine Mistgrube, dieses Land hatte ihn mit Vergängnis gefüttert und seine Reflexe gelähmt, es hatte ihm die Lust aus den Adern gesogen; dort war sein Gehirn verkalkt, wie die Mechanik einer sklerotischen Waschmaschine. Er war diesem Land zu spät entwichen.“ (151) Indem der Erzähler im Prozess ständiger Befragung, der seinen Erinne‐ rungsdiskurs kennzeichnet, zuletzt jede Entschuldigung ablehnt, wirkt seine Notlage verbindlich für die Schaffenskrise der Autoren nach dem Mauerfall. Darüber hinaus wird C. zur repräsentativen Figur für lebensversehrte, aus der Gesellschaft gefallene Menschen der heutigen Zeit, die sich ihrer persönlichen Verantwortlichkeit mit Hinweisen auf undurchschaubare politische Ereignisse und unkontrollierbare Mächte zu entziehen suchen. Christoph Heins Kritik des DDR -Staatsapparats, des staatlich gelenkten Fort‐ schrittsprogramms und der menschlichen Vereinsamung in hilfloser Anpassung an genormte Gesellschaft ist untrennbar verflochten mit seiner eingehenden, manchmal umständlich anmutenden Beschreibung aller Ereignisse. Hein greift in seiner Prosa bewusst die Stileigenheit bürokratischer Direktiven auf, um die staatliche Einkreisung des gesamten Lebens zu beleuchten. Hein ist Chronist der DDR -Jahre, der Wendezeit und der Gegenwart. In Drachenblut (1983) erfasst er das Zeitgeschehen in der Schilderung der Existenz einer geschiedenen Ärztin, ihrer Erinnerungen und ihrer Anpassung an die bestehenden Verhältnisse. Claudia wohnt allein, erinnert sich an eine kurze Affäre mit Henry, einem ver‐ heirateten, aber getrennt lebenden Architekten, und dessen erschreckendes Ende. Henry wird in einer Auseinandersetzung von einem Jugendlichen er‐ schlagen, ein Vorfall, der an die Szene in Willenbrock (2000) erinnert, in der der Autohändler Willenbrock im Landhaus am Haff von russisch sprechenden Ein‐ brechern überfallen wird. Willenbrock wird verwundet, aber entkommt und er‐ fährt im Krankenhaus, dass es „jede Woche“ einen ähnlichen Fall gibt. Diese 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 119 Geschehen widersprechen dem „gesellschaftlichen Interesse“, das von allen - Claudia, dem Historiker Dallow (Der Tangospieler. 1989) und Willenbrock - die Zustimmung zur gesellschaftlichen Norm verlangt, welche unter anderem das Wohlergehen der Bürger garantiert. Claudias intensive Reflexionen kreisen um menschliches Versagen, Jugendkonflikte, Ehekrisen, Orientierungsverlust, ein‐ tönige Wohnungen, die alles beherrschende Atmosphäre der Gleichgültigkeit und besonders ihre Vereinsamung. Heins Analyse des Nachdenkens und der Gefühle der Ärztin klammert bewusst philosophische und gesellschaftskritische Fragen aus. Das ist aufschlussreich: die Einengung der Blickrichtung auf den zeitnahen sozialistischen Alltag unterstreicht die Nivellierung des Denkens und des Verlusts der Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen. Die Schilderungen in Der Tangospieler sind wie in Drachenblut konzentriert und zeitnahe, aber zugleich zeitlos, da jede Äußerung über den sozialistischen Staat auch das Leben in der modernen Industriegesellschaft betrifft. Hein be‐ schreibt in dem Roman einen Ausschnitt aus dem Leben des Historikers Hans-Peter Dallow. In der knappen Zeitspanne vom Februar über den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 20. August in die Tschechoslowakei bis zum 3. September 1968 setzt sich Dallow ständig mit seiner Einstellung zum Staat auseinander. Er wurde nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen und erfährt im Verlauf seiner Bemühungen, sowohl die Gefängniszeit zu ver‐ gessen als auch eine neue Anstellung zu erhalten, dass jetzt unbeträchtliche politische Vergehen wie das Seine im nachhaltigen Vertrauen auf die vom Staat proklamierte Utopie nur noch mit einer „Rüge“ bestraft werden. Die neue Hal‐ tung, zu der sich Dallows Verteidiger, der Richter und Beamte bekennen, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Dallow als Ex-Häftling diskriminiert wird und seine Versuche scheitern, eine Stellung zu finden. Er sucht vergeblich Arbeit als Kraftfahrzeugfahrer, erhält undurchsichtige Angebote vom Staatssicher‐ heitsdienst, die er ablehnt, trifft sich mit früheren Kollegen und dem Instituts‐ leiter Roessler, der ihm rät, sich zu bewerben und von unten anzufangen. Dallow driftet ruhelos umher, versucht Anschluss an alte Bekannte zu finden, will neue Freundschaften anknüpfen, berechnet wie lange sein Geld auf dem Sparkonto reichen wird, hat ständige Abenteuer mit Frauen und fährt ziellos umher. Dallows Leben ohne feste Orientierung und Sinnstiftung entspricht der Me‐ chanik des Dahinlebens in der Anpassung an die bestehenden Umstände. Dallow ist erbost auf den Staat, bemitleidet sich, ist aber kein politisch engagierter Wi‐ derständler und will nicht als Spitzel direkt vom Staat abhängig sein. Er ist je‐ doch sofort bereit, wieder im Institut zu arbeiten, als Roessler wegen einer po‐ litisch verfänglichen Aussage seine Stellung verliert. Dieser hatte seinen Studenten im Widerspruch zur offiziellen politischen Losung erklärt, die DDR 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 120 würde nie offen in die Angelegenheiten der Tschechoslowakei eingreifen. Der Verlust seiner Anstellung - die Rüge - unterstreicht den Sachverhalt, dass jede falsche Beurteilung der politischen Ziele weiterhin strafbar ist. Echter, geistiger Widerstand ist unmöglich. Dallows Entschluss, der zugleich der Wunsch der Ärztin Claudia in Drachenblut ist, wieder in die bestehende Ordnung des sozia‐ listischen Staates eingegliedert zu werden, berührt eine zentrale Frage in Heins Schilderungen. Warum sind Rückkehr in die Anpassung und die Nivellierung des Denkens und der Empfindungen vorteilhafter als Wahrheitsfindung und das Streben nach Selbst- und Welterkenntnis? Die Antwort ist bedrückend. Das Überleben in der sozialistischen Industriegesellschaft verlangt eine Lebensform in der Gleichschaltung. Dank solcher Anpassungsfähigkeit hat Bernd Willenbrock ohne Schwierig‐ keiten den Übergang von einer gesicherten Angestelltenexistenz in der DDR zum selbständigen Unternehmer im An- und Verkauf von Gebrauchtwagen nach der Wende gemeistert. Hein schildert das alltägliche Leben der Figur in den späten neunziger Jahren. Die Lebenskurve verläuft weder in aufnoch abstei‐ gender Linie. Sie mündet in die Routine der Anpassung an die neue, kapitalis‐ tische Gesellschaftsstruktur, die ihre brüchige Unordnung im Handlungsverlauf enthüllt. Die Ereignisse, auch wenn sie kriminelle Vergehen aufgreifen (Autos werden vom Autohof gestohlen, der Hund des Nachtwächters wird getötet, Willenbrock wird im Landhaus überfallen), sollen den Eindruck des Gewöhnli‐ chen machen. Selbst die Machtlosigkeit des Dorfpolizisten, der Kommissarin und des Staatsanwaltes von Neubrandenburg angesichts der Straftaten wirken durchaus alltäglich in der distanzierten Schilderung. Wie in seinen anderen Er‐ zählungen bleibt Hein der Chronist der Zeit. Er beschreibt im Detail einen Bü‐ robau, eine Modenschau, einen Ausflug nach Venedig, einen Besuch bei der Schwiegermutter und Szenen aus dem Alltag. Aus dem konkreten Detail auf das Allgemeingültige zielend sind Charakterisierungen wie etwa des Weltbildes von Willenbrocks Frau Susanne. Ihr Denken wird weitgehend gelenkt von Ansichten in Unterhaltungsromanen, die sie zu ihren eigenen macht. Die Handlung in Willenbrock kreist um eine zeitnahe Bestandsaufnahme des Lebens nach der Wende. Der Anpassungskünstler Willenbrock fügt sich erfolgreich in die ver‐ änderten politischen und ökonomischen Verhältnisse; er verspürt weder Ossi-Nostalgie noch Hang für das aus Amerika importierte „Law and Order“-Ge‐ rede. Er verlangt keine Abrechnung mit alten Parteimitgliedern oder ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit, selbst wenn ihm diese, wie er jetzt weiß, seine Arbeit erschwerten und Reisen ins Ausland verhinderten. Er trauert keiner guten alten Zeit nach; er will Erfolg, will sein Vermögen vergrößern und Frauen verführen. Seine Affären mit einer Angestellten, einer Studentin und einer 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 121 7 Christoph Hein. Willenbrock. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000. 127. Hausfrau wirken substanzlos, da sie weder Liebe noch Leidenschaft entspringen, sondern nur dazu dienen, Bernds Selbsteinschätzung zu befestigen. Er glaubt, im Spiegel der Gesellschaft müsse ein erfolgreicher Geschäftsmann nicht nur hohes Einkommen, sondern auch Romanzen haben. Er findet sich ohne weiteres mit der Tatsache ab, dass die demokratische Verfassung des Landes die Inte‐ ressen der Bürger nicht wahren kann. Die Hinweise auf zunehmend ungesetzliches Verhalten im Land erwecken den bedrückenden Eindruck, dass sowohl die Konsumgesellschaft als auch die ehemalige staatlich gelenkte Solidaritätsgesellschaft allen praktischen Ent‐ würfen und utopischen Konzeptionen widersprechen. Die geschilderten gesell‐ schaftlichen Missstände fordern eine umgreifende Neugestaltung menschlicher Beziehungen und darauf bauend eine neue Orientierung des gesellschaftlichen Lebens. Die Menschen sind ratlos: jeder soll sich eine Schusswaffe anschaffen. Die Bilanz des individuellen Daseins wirkt dürftig. Willenbrock bemüht sich um seine Angestellten; hört sich deren Geschichten wie etwa die des polnischen Mechanikers Jurek an; zeigt politisches Interesse und geht mit einer an einer Hand abzählbaren Gruppe zu einer von der Kommunalverwaltung einberufenen Versammlung. Trotzdem leidet er unter der allgemeinen Interesselosigkeit. Des‐ halb verlaufen alle Bemühungen im seltsam Ungewissen oder zielen letztlich auf das Rollenspiel in der Gesellschaft. Die Darstellung der Beisetzung der Schwiegermutter und die Skizze des darauffolgenden „feierlichen“ Essens ist besonders aufschlussreich durch die Anklänge an die Beschreibung in Theodor Storms Der Schimmelreiter (1888). Der Schwager lobt seine Frau für die Pflege der alten Mutter, ist aber zugleich froh, dass nun die Wohnung für seine Tochter frei geworden ist: sie „war bereits ausgeräumt und sollte in den nächsten Tagen tapeziert werden.“ 7 Die Trauergäste kommen zum Essen, weil Fred eine Brun‐ nenbaufirma besitzt und „wichtig“ ist. Als Bernd einen Gast nach seinem Ver‐ hältnis zu der Verstorbenen fragt, starrt ihn dieser verständnislos an. Die Frage ist unangemessen, denn sie berührt menschliche Beziehungen, die dem Leitsatz unterliegen: Jede menschliche Begegnung muss einen Vorteil bringen. Willen‐ brock gehört in die lange Reihe anderer Figuren, deren Handeln und Unterlas‐ sungen allgemein menschliche und zugleich gesellschaftliche Defizite be‐ leuchten. Die wiederholten Hinweise auf kriminelle Vergehen, die Bemerkung, in Berlin beginnt „Sibirien neuerdings vor unserer Haustür“ (211) und die Be‐ obachtung, dass sich Gitti Puhlmann in ihrem Schlafzimmer in Dahlem im Pan‐ zerschrank verbarrikadiert, erwecken den Eindruck von Kurzschlüssen, welche die Perspektive verengen. Sie sind jedoch besonders beachtenswert, weil sie 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 122 Heins Parodie der amerikanisch und von der EU inspirierten demokratischen Neuordnung (Geld regiert die Welt, Schusswaffen sichern die Einwohner) un‐ terstreichen und weil der Erzähler wissend unwissentlich die Hilflosigkeit all derer aufgreift, die den allgemeinen Orientierungsverlust verspüren. In seinem Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) verurteilt Hein die Beamten im bundesdeutschen Staat gleichermaßen scharf wie die Organe der jüngsten Vergangenheit in der DDR . Die Erzählung schildert die Leiden eines Ehepaares, dessen Sohn in den Jahren der Studentenauseinandersetzungen mit dem Staat als Terrorist erschossen wurde. Der Mann, Lehrer und ehemaliger Schuldirektor im Ruhestand, findet genügend Indizien, die ihn überzeugen, dass sein Sohn, der keinen Widerstand leistete, willkürlich getötet wurde. Er reicht Klage gegen den Staat ein, die zwar abgelehnt wird, aber dem Richter die Gele‐ genheit gibt, das Vorgehen des Staatssicherheitsdienstes scharf zu kritisieren. Deutlich wird: Die Staatsbeamten haben alle Unterlagen beseitigt und der Sohn wird nicht rehabilitiert. Der Anwalt ist davon überzeugt, gewonnen zu haben. Der Vater ist weiterhin verstört, entschließt sich dann jedoch, den Schülern seiner ehemaligen Schule eine Abrechnung vorzulegen. In der Aula erwarten ihn am Freitagnachmittag fünfundzwanzig Schüler, der Schulleiter und zwei Lehrerinnen. Richard Zureks berichtet von all den Wirren, Täuschungen und Lügen. Seine Abrechnung endet mit der Erklärung, dass er sich nicht mehr an seinen Eid, das Grundgesetz und alle Gesetze des Landes zu schützen, gebunden fühlt. „Da der Staat seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden.“ (268) Die Schüler klatschen; der alte Mann hat Ruhe ge‐ funden, geht nach Hause und umarmt seine Frau. Deutlich ausgeprägt ist die Suche nach einem begehbaren Weg in unserer Zeit. Die Ohnmacht angesichts einer undurchschaubaren gesellschaftlichen und politischen Verfassung wird wahrscheinlich am eindrucksvollsten in der zeit‐ genössischen Literatur von Jochen Beyse dargestellt. Sie führt zur Erstarrung und wiederkehrenden Ausbruchsversuchen. In Larries Welt (1992) beginnt die alles beherrschende Organisation im Schlafzimmer. Larries Versuche auszubre‐ chen enden in Visionen, traumhaften Erfahrungen und von ihm erdachten neuen Realitäten, die jedoch auch weit zurückliegende historische Ereignisse einbeziehen. Die Handlung kreist um Larries Bemühen, der Verunsicherung seines Daseins in ein neues Ich zu entfliehen. Auf der unbeständigen Ebene der „realen“ Gegebenheit lebt er zeitweilig neben seiner Frau Carla dahin, die, als Krankenschwester tätig, von einem Patienten während dessen Rehabilitation ertränkt wird. Larrie glaubt, der Unfall sei ein von der Organisation oder unbe‐ kannten Mächten begangenes Verbrechen. Er verspürt jedoch keine Trauer, denn sein Denken ist erfüllt vom Drang, seine neue Person zu entfalten, ein 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 123 8 Jochen Beyse. Larries Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 98. anderes Leben zu erfahren. Er schließt sich der anonymen Organisation an, un‐ terzieht sich einer sein Gesicht verändernden Operation und lebt fortan als Lynch. Er fühlt sich dennoch bedroht, ständig beobachtet, sucht Unterschlupf in einem namenlosen Hotel und beschließt schließlich zum Selbstschutz, in die Öffentlichkeit zu fliehen. Er beteiligt sich an einem weltweit vom Fernsehen organisierten Ultra-Quiz. Er wird mit dem weltbekannten Quizmeister Boulle auftreten und ständig auf dem Bildschirm sichtbar sein. Larrie-Lynch glaubt, auf diese Art sein Ich abzusichern. „Sollte ich die Operation lebend überstehen und einen einzigen Auftritt in Boulles Sendung haben, wäre mein neues Gesicht der Welt so bekannt, daß die heimliche Beseitigung von Lynch nie mehr in Frage kam. Nie mehr! “ 8 Das Ultra-Quiz besteht aus einem rasenden Wettlauf durch in Hitze erstarrte Wüsten, durch eine mögliche Unterwelt und visionäre neue Wirklichkeiten. Eine Überfülle vorüberfliegender Bilder einschließlich an Computer und Film erinnernder Fotografien führt zum zeitweiligen Verlöschen von Larrie-Lynchs Vorstellungskraft. Bereits in der Vorrunde zum Wettbewerb, in der Kandidaten ausgesucht werden, verbreiten riesige Scheinwerfer eine tropische Hitze. Der Kampf um das Dasein (Verletzungen, entzündete neue Nase, Reflexe ständiger Vergleiche mit anderen, die herabgesetzt werden, Angstzustände, Trauma, das Ringen mit dem Motto: der Sieger geht leer aus) führt durch höllisches Glühen. Lynch will wissen, was hier gespielt wird, aber sieht nur verständnislos Kame‐ raleute, Bilder im Fernsehen, hell beleuchtete Kirchen, alle Menschen in iden‐ tischen Uniformen, Chorgesang, Priester und läutende Glocken. Lynch rennt, verliert die Besinnung, denkt an Kafka, hat eine Affäre, heult laut während eines Zweikampfes, muss sich in der Mitte des Lebens entscheiden, ob er weiterrennen will, erkennt, dass er nicht leben, aber überleben will, liegt in der Gosse, während Kinder auf ihn urinieren und kommt schließlich am Ziel an. Er ist in einer Ka‐ thedrale, drängt nach vorn, will beichten und sucht Gnade. Der Priester bedeutet Lynch: „Das Ohr Gottes hört dich überall“ (273) und fährt fort, dass der Sucher nichts versteht. In diesem Augenblick schwebt der „Mikrophongalgen“ zur Nah‐ aufnahme heran; Lynch dreht sich um; das Vorschiff ist leer; er taumelt auf die Straße, landet im Hotel, erwacht, blickt aus dem Fenster und stellt fest: die Welt ist „nicht wiederzuerkennen“. (299) Die Visionen verbleichen. Das alte Ich setzt sich wieder durch. Larries Suche nach einer neuen Persönlichkeit, eingefangen im Rennen durch das Dasein, enthüllt seinen Orientierungsverlust und sein gestörtes Verhältnis zum Mitmenschen. Er findet Vorbilder in der künstlichen Welt des Fernsehens, 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 124 vermutet jedoch, dass die Bilder nur andere Bilder illustrieren und letztlich sub‐ stanzlos bleiben. Das Ultra-Quiz verlangt eine Hochleistung, die ihn in ständiger Erregung und Spannung bannt. Das Spiel des Wettkampfs peitscht Gedanken und Gefühle hoch, während sein Körper verfällt. Das Spiel wird zum Sinnträger einer technisch geschaffenen, aber unberechenbaren Wirklichkeit, deren Ein‐ griff ins Dasein zur völligen Entwertung des menschlichen Lebens führt. An‐ gesichts der rasenden Spielleidenschaft aller am Quiz Beteiligten verbleicht jede Hoffnung auf eine menschenwürdige Existenzgestaltung. Larries intensive Er‐ fahrung von Gefühlen ist völlig an das Spiel gebunden. Er erfährt möglicher‐ weise Empfindungen, die am Computer vorüberfliegen. Die einzige nachhaltig wirkende Erfahrung eines Gefühls ist der Hochleistungsanspruch des Wett‐ kampf-Spiels. Diese absolute Bindung an das Spiel zerstört jedes Persönlich‐ keitszentrum, welches sich in der Zusammenkunft von Ich und Welt bildet. Beyse erkennt und beschreibt punktgenau die Entwicklung in unserer Zeit, in der anonyme „Spieler“ an Börsen spekulieren, Firmen ohne Rücksicht auf An‐ gestellte an- und verkaufen oder selbst politische Entscheidungen treffen, die computergesteuert sind. In der weltweiten Übertragung des Spiels, im Ultra-Quiz-Meister Boulle und im Ultra-Spieler Lynch erscheint eine Welt, die jedes Verhältnis zur Vergangenheit verloren hat, in der eine echte Begegnung mit dem anderen unmöglich ist und jeder Weg zur Selbst- und Welterkenntnis abgeschnitten ist. In Schilderungen von persönlichen Schicksalen und Deutungen, von Mög‐ lichkeiten individueller Selbstverwirklichung, von der Machtübernahme bis zur Gegenwart bestehen verblüffende Ähnlichkeiten. In der Erzähltechnik, die von betont realistischen Beschreibungen bis zu Texten reicht, in denen die Medien‐ perspektive vorherrscht, sind Stileigenheiten durchaus an die Erzähler und Er‐ zählerinnen gebunden. Die Erzählungen lassen im Besonderen das Allgemeine durchblicken, weil die alltäglichen Geschichten zugleich typisch deutsche Über‐ lieferungen aus der Vergangenheit ansprechen. Darüber hinaus ist die zuweilen unsicher tastende, zugleich bejahende und verneinende Einstellung der erzäh‐ lenden Figuren verbindlich für die Haltung der Nachkriegsgeneration, in der sich zwei charakteristische Merkmale abzeichnen. In Erzählungen aus dem Alltag und thematisierten Lebenskrisen kommt die Einstellung der Figuren zur Vergangenheit plötzlich und manchmal unvermittelt zum Ausdruck. Sie wird deutlich in impulsiven Äußerungen, Reaktionen auf tägliche Ereignisse und in Verhaltensmustern, die nur aus einer wie auch immer gearteten historischen Belastung deutbar sind. Die Figuren besinnen sich auf ihre nationale Identität, hinter der sich die belastete Geschichte verbirgt. Sie reagieren auf Kurzformeln wie Nazizeit, Krieg und Auschwitz als Zeichen für eine Erbsünde. Die Figuren 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 125 9 Vgl. dazu Jurek Becker. Bronsteins Kinder (1986); Jürgen Becker. Aus der Geschichte der Erinnerungen (1999); Jochen Beyse. Larries Welt (1992); Silvio Blatter. Das blaue Haus (1990); Dieter Forte. Das Muster (1992), Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995), In der Erinnerung (1998); Erich Hackl. Abschied von Sidonie. Erzählung (1989); Peter Handke. Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994); Wolfgang Hilbig. Alte Abdeckerei (1991); Monika Maron. Stille Zeile sechs (1991); Christoph Ransmayr. Morbus Kitahara (1995); Hans Joachim Schädlich. Tallhover (1986), Trivialroman (1998); Gerlind Reins‐ hagen. Jäger am Rand der Nacht (1993); Bernhard Schlink. „Auf dem Eis“, in: Der Spiegel, 7. 5. 2001. 82-86; Ingo Schulze. Simple Storys (1998); Martin Walser. Ein sprin‐ gender Brunnen (1998); Dieter Wellershoff. Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges (1995); Urs Widmer. Der blaue Siphon. Erzählung (1992); Christa Wolf. Kassandra (1980), Medea. Stimmen (1996); Matthias Zschokke. ErSieEs (1986); Peter Schneider. Eduards Heimkehr (1999). In dieser Erzählung trübt die qualvolle Erinnerung der Vergangenheit zeitweilig die menschlichen Beziehungen eines Ehepaars. Die junge Frau, halbjüdischer Abstammung, hat sich in die Rolle eines Opfers eingelebt. Eduard dagegen leidet an Schuldkomplexen. Er kann selbst sein Kind nicht zurechtweisen. Die Bemerkung, das sei verboten, erinnert ihn sofort an die vergangene deutsche Einstellung zu Machtha‐ bern (77 ff., 231). wirken leicht verletzbar. Sie fragen sich, warum sie dazu verurteilt sind, die Schuld vergangener Generationen zu tragen. Sie reagieren gereizt auf diese Zu‐ mutung, verspüren Überdruss, aber zugleich Scham und Schuldgefühle. Die Folgerungen, die sie aus der Erinnerung ziehen, stimmen darin überein, dass alle verantwortlich handeln müssen. In den individuellen Krisen zeichnen sich jedoch Lösungsversuche ab, die von kritischem Besinnen bis zur Ablehnung und auch zur Parodie der Vergangenheit reichen. 9 Die andere Eigenart in Ortungen der Vergangenheit ist die Vorstellung, dass die Vergangenheit eine unabgeschlossene Akte ist, die in die Gegenwart reicht und in der Zukunft weitergeführt wird. Vergangenheit schließt das ganze Jahr‐ hundert in die Bestandsaufnahme des eigenen Lebens ein. Dass man die jüngste DDR -Vergangenheit humoristisch, ironisch oder satirisch schildern kann, be‐ legen Romane wie etwa Thomas Brussigs Helden wie wir (1996) oder Uwe M. Schmidts Die Datsche (2000) und Lutz Rathenows Vorschlag, den Stasi-Protokollen ein postmodernes Stück zu widmen. Darüber hinaus zeigen die Erzählungen von Blatter, Forte, Schädlich, Grass, Maron, Reinshagen, Schlink, Widmer und Walser eine weitgehende Übereinstimmung in der beson‐ deren Eigenart der gestalteten Erinnerung. Sie ist nicht abgeschlossen, sondern ein stets fortschreitender Erkenntnisprozess. Urs Widmer ist überzeugt, dass Autor(inn)en immer einen Dialog mit den vorausgegangenen Schriftstellern führen. Diese Gespräche ermöglichen die Annäherung an und kritische Ausei‐ nandersetzung mit historischen Prozessen und erweitern dadurch das Ver‐ 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 126 10 Urs Widmer. „Ohne Bewußtsein einer kontinuierlichen Geschichte entsteht keine Li‐ teratur.“ In: Urs Widmer. Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Graz: Droschl, 1991. 75. 11 Vgl.die durchaus unterschiedlichen Vorstellungen eines begehbaren Weges zur Kultur‐ nation in: Günter de Bruyn. Deutsche Zustände. (1999); Günter Grass. Deutscher Las‐ tenausgleich. (1990); Martin Walser. Die Verteidigung der Kindheit. (1991) und Ich ver‐ traue. Querfeldein. Reden und Aufsätze. (2000); Christa Wolf. Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. (1994); Günter Grass - Martin Walser. Zweites Gespräch. NDR-Mode‐ ration von Stephan Lohr. (1999). ständnis vergangener Epochen. 10 Die Autor(inn)en widersetzen sich der fakti‐ schen Dokumentation. Sie verstehen, dass das Gedächtnis der Beteiligten trügt und Tatsachen manipulierbar sind. Sie wissen, dass jeder bewusste Rückblick die Vergangenheit verändert. Erinnerung ist aus dem gegenwärtigen Erfah‐ rungshorizont und aus der Fragestellung gestaltete Vergangenheit, die Ein‐ sichten vermittelt und Überblicke schafft. Sie ist ein literarisches Produkt und beansprucht Authentizität durch Fragen, die sich im Erkenntnisvorgang ständig ändern. Aus dieser Erkenntnis entsteht der Erinnerungsdiskurs in einem Werk wie Marons Pawels Briefe, in dem die Autorin sowohl das Leben des Großvaters aus einigen Briefen und das der Mutter aus Gesprächen als auch ihr eigenes Leben und ihr Verhältnis zur Vergangenheit im Verlauf einer Fahrt nach Polen zu verstehen sucht. Marons Befragung wird zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis und der nationalen Identität der Deutschen. Die Besinnung auf die Vergangenheit enthüllt sich als potentieller Gewinn für das eigene Denken. Erst die sich in jeder Frage verändernde Wechselwirkung von Vergangenheit und eigenem Leben ermöglicht das Begehen eines neuen Weges. Die Autorinnen und Autoren nach 1945 weisen die Richtung. In den folgenden Phasen der historischen Bewusstheitsbildung setzt sich die Auffassung durch, dass selbst die beste Verfassung kein sittliches Staatswesen garantieren kann. Erst die beständige Befragung der Chronik und Erwägung der individuellen Verantwortung bietet die Voraussetzung zur Neuorientierung. 11 Sie verlangt die Bereitschaft, das fehlgegangene deutsche kulturelle Erbe neu anzutreten, um das Bild einer nationalen Identität zu entwerfen, die auf kulturellen und politi‐ schen Universalismus zielt. Das ist der Entwurf einer Gesellschaft, in der per‐ sönliche und kollektive Verantwortlichkeit das Handeln aller bestimmen. Welche allgemeinen Züge charakterisieren das Verhältnis der Autor(inn)en zur Geschichte? Die Geschichte erscheint als ein Erinnerungsbild, an dem die Gegenwart genauso beteiligt ist wie die Vergangenheit. Jurek Becker, Horst Bienek, Günter Grass, Hanns-Josef Ortheil, Dieter Wellershoff und Christa Wolf forschen in Archiven und lesen alte Zeitungen, um die Zeitzeugen zu hören. Einzelne Texte greifen Fragen und Antworten auf, die bereits in der Nach‐ 4.2. Gegenwart - Erinnerungsdiskurs - Reflexionen 127 kriegsliteratur in Familiendebatten und Gesprächen zwischen Kindern und El‐ tern zu Wort kamen. Sie problematisieren bereits die negative Fixierung in der frühen Nachkriegsliteratur. Sorgfältig nuancierte Überlegungen erweitern den ursprünglichen prägnanten Gegensatz zwischen anklagenden Fragen und über‐ zeugten Antworten. Die Texte versuchen die Voraussetzungen zu begreifen, die zu einer Situation führten, in der Menschen sich anpassten, keine Fragen stellten und schwiegen. Sie betonen die eigenartige Situation der staatlichen Bevormundung, die jede kritische Auseinandersetzung verhinderte. Man war dann und später zum Schweigen verurteilt, weil man nichts wissen wollte und sich den Verlust des freien Willens nicht eingestehen konnte. In zahlreichen Romanen und Erzäh‐ lungen wird eine Einstellung deutlich, welche die kollektive Schuld und die Verfehlung Einzelner nicht einseitig anprangert, sondern aus distanzierter Sicht die Schuldfrage erwägt. Dieses Anliegen bedingt ein Erzählverfahren, in dem das Unfassbare zu Wort kommen soll. Darüber hinaus verlangt die literarische Gestaltung dieser Problemstellung eine Auseinandersetzung sowohl mit den Gefühlen der Generation Jugendlicher, die das Dritte Reich noch miterlebt haben, aber überzeugt sind, persönlich unschuldig zu sein, als auch mit der Ein‐ stellung der nach dem Krieg geborenen Menschen, die sich gegen den General‐ verdacht wenden, dass sie als Deutsche mitverantwortlich für die Vergangenheit sind, und den Vorwurf der Schuld und Schande ablehnen. Von wesentlicher Be‐ deutung ist die charakteristische Nuancierung in den Erzählungen, die bei allen Gemeinsamkeiten unterschiedliche Deutungen zulässt. Vergleicht man bei‐ spielsweise die Aufarbeitung der Vergangenheit in Peter Schneiders Roman Eduards Heimkehr (1999) mit Jurek Beckers Bronsteins Kinder (1986), so ergeben sich bei vergleichbarer Fragestellung erhebliche Unterschiede. Der Überblick unterschiedlicher Bestandsaufnahmen verdeutlicht verschiedenartige Ten‐ denzen, die von beklemmendem Zwang zur Auseinandersetzung mit der Ver‐ gangenheit über humoristische Schilderungen des Mauerfalls und der Ossi-Wessi Konflikte bis zu Schilderungen positiver Selbstverwirklichungen reichen. 4. Erfahrungen vorausgegangener Generationen 128 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal Die Bewertung von Erzählungen der Chronisten einer in die Gegenwart rei‐ chenden Geschichte des geteilten Deutschlands und der Wendezeit erfordert ihre Einordnung in die stilistischen Tendenzen nach 1945. Realistisch, doku‐ mentarisch eingefärbte Beschreibungen prägen die Texte der deutschen Chro‐ niken. Sie erwecken durch eingehende Dokumentation den Eindruck authenti‐ scher Wirklichkeitsnähe und vermeiden im Gegensatz zu Horst Bienek und Hanns-Josef Ortheil das persönliche Engagement in den Fragen an die voraus‐ gegangene Generation. Sie entwickeln die Tendenz, historisch verbürgte Ein‐ zelheiten, Bilder, Episoden, Ereignisse und Ausschnitte aus dem Leben Einzelner ohne erkennbare schlüssige Deutungen vorzulegen. Das Fehlen von Orientie‐ rungshilfen ist nicht nur ein in Erinnerungsdiskursen ausgeprägtes stilistisches Verfahren. Es hinterlässt erkennbare Spuren in Werken, welche die existenzielle Verunsicherung in Ortungen gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen und der Ich-Suche thematisieren. Die Entwicklung ist ein Symptom manchmal na‐ hezu verzweifelter Orientierungssuche in einer Welt pausenlos vorbeifliegender Eindrücke und Nachrichten. Sie weist hin auf die Schwierigkeit, Ereignisse in eine zusammenfassend historische Entwicklung zu stellen. Die angestrebten Lösungen, die Erzählungen als „Chroniken“ und „Familienromane“ zu be‐ zeichnen, ändern wenig an der deutlich wahrnehmbaren Begrenzung des his‐ torischen Erfahrungshorizonts. Siegfried Lenz verweist in seiner Erzählung Das Vorbild (1973) auf den Wunsch vieler Leser, nicht nur unterhalten zu werden, sondern auch Antworten auf die in Texten angesprochenen Fragen zu finden. Im Vorbild diskutieren drei Sachverständige im Rahmen ihres Vorhabens, eine vorbildliche Geschichte für ein Lesebuch im Deutschunterricht zu finden, sowohl die Zielsetzung in jeder Erzählung als auch die Aufgabe, das Interesse der Schüler zu wecken und im Lesen zu bewahren. Die unterschiedlichen zur Auswahl vorgelegten Ge‐ schichten thematisieren Entscheidungen, in denen eine Figur ein Risiko eingeht, das unterschiedliche Deutungen zulässt, zum Nachdenken anregt und die kri‐ tischen Fähigkeiten der Leser entwickelt. Der Handlungsverlauf der einzelnen Erzählungen profiliert zentrale Konflikte, die aus dem Alltag kommen und des‐ halb authentisch wirken, aber einen Aufruf an das Gewissen enthalten. In der Besprechung der Erwartungen der Leser kommen unterschiedliche Ansichten zu Wort. Trotzdem setzt sich die Überzeugung durch, eine Geschichte müsse einen begrifflichen Überblick und eine Erklärung der Handlung vermitteln. Diese Bestimmung der Eigenart der Erzählung kennzeichnet die von Goethe, Tieck, Friedrich Schlegel und Heyse festgehaltenen Bestimmungen der Novelle, die Romankunst des 19. Jahrhunderts mit einer deutlich erkennbaren Fabel (Poe, Conrad, Fontane, Raabe, Spielhagen, Keller) und das Erzählverfahren in Or‐ tungen der Vergangenheit, in denen die Wechselbeziehung aller aufgeführten Einzelheiten am Ende klar hervortritt. Die Diskussionen im Vorbild unterstrei‐ chen: Der Erinnerungsdiskurs ist öffentlich, nicht in der Zielsetzung eines di‐ rekten politischen Engagements, aber im Appell an verantwortliches Handeln des Lesepublikums. Selbst wenn ein Gerüst privater Erinnerungen die Doku‐ mentation stützt, bezieht der Dialog mit der Vergangenheit nicht nur vergan‐ gene, sondern auch gegenwärtige soziale und gewährleistete Zustände ein. Eine besondere Eigenart der Chroniken gründet in dem Erzählverfahren, Do‐ kumente und nachweisbare, verbürgte Ereignisse selbst reden zu lassen. Die Dokumente, Reportagen, Ausschnitte aus dem Leben Einzelner, Hinweise auf historische Personen, Orte und Landschaften sollen in der Reihung des Neben‐ einander ein politisches, soziales und historisches Zeitbild entwerfen. Der be‐ wusste Verzicht auf Sinndeutung, stark ausgeprägt in zahlreichen Texten Fortes und Kempowskis, zwingt das Lesepublikum zur eigenen Meinungsbildung und bietet Zugang zu einer möglichen, selten vorgebrachten Auslegung der mensch‐ lichen Einstellung in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Do‐ kumentationen und die Reportagen des Nebeneinander vermitteln in vielen Texten den Eindruck eines kaleidoskopischen Zeitbildes. Er wird verstärkt durch mehrstimmige Beobachtungen von Personen aus allen Bevölkerungsschichten, durch Fakten, die archivalisch die Namen einzelner Akteure, einzelne Details, Rundfunknachrichten und Ausschnitte aus Reden oder Bekanntmachungen er‐ fassen. Die Reihung, die versucht ein politisches, soziales und historisches Zeit‐ bild zu geben, und das Vermeiden von deutlichen Sinndeutungen geben den Chroniken ihre besondere Eigenart. Sie sind Zeitromane, die in größten Einzel‐ heiten schildern, was Grass in seinem Band Mein Jahrhundert (1999) vorlegt: Beobachtungen individueller und gesellschaftlicher Fragen, Schilderungen, wie sich Einzelne in der Auseinandersetzung, in Anpassung und in Widerstand ent‐ wickeln, Prüfungen des Zeitgeistes und Hinweise auf die Einstellung zu histo‐ rischen Prozessen und Grundformen des Denkens. In Walter Kempowskis Berichten und Romanen, die ein Jahrhundert besich‐ tigen, sind diese Stilmerkmale deutlich ausgeprägt. Seine Rekonstruktion der Vergangenheit und der Gegenwart im Spiegel einer Familiengeschichte als All‐ tagsgeschichte des deutschen Bürgertums erschien unter dem zusammenfas‐ 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 130 1 Sein Unternehmen erinnert an den weit ausgreifenden sechsbändigen Romanzyklus Die Ahnen (1873-1881) von Gustav Freytag. Die besprochenen Texte Kempowskis ver‐ mitteln einen zuverlässigen Einblick in sein Schaffen: Im Block. Ein Haftbericht. Ham‐ burg: Knaus, 1969 (Dokumentation seiner Haft); Tadellöser & Wolff. München: Hanser, 1971 ( Jahre 1933-1945); Uns geht’s ja noch gold. München: Hanser, 1972 (Chronik bis 1948); Ein Kapitel für sich. München: Hanser, 1975 (Bericht über die 8 Jahre Haft in Bautzen; erweiterte Erzählperspektive; sie schließt ein: Walter, den Bruder Robert, die Mutter und Zeugenaussagen); Aus großer Zeit. Hamburg: Knaus, 1978 (greift zurück auf die Frühzeit. Vater lernt Mutter kennen usw.); die Familiengeschichte wird ergänzt durch Schöne Aussicht. Hamburg: Knaus, 1981(Verbindung zu Tadellöser) und Herzlich willkommen. Hamburg: Knaus, 1984 (berichtet, wie sich der Haftentlassene in der Welt der 50er Jahre zurechtfindet); Hundstage. Hamburg: Knaus, 1988; Mark und Bein. Eine Episode. München: Knaus, 1992; Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst. Berlin: Knaus, 1995. 2 Volker Hage und Walter Kempowski. „Das hatte biblische Ausmaße“, in: Der Spiegel, 27. 3. 2000. 264-268. Zitat: 266. senden Titel „Deutsche Chronik“. 1 Aus großer Zeit (1978) schildert die Jahre von 1900 bis 1919; Schöne Aussicht (1981) behandelt die Periode zwischen 1920 und 1938; Tadellöser & Wolff (1971) erweitert die Sicht auf die Jahre 1933 bis 1945; Uns geht’s ja noch gold führt den Abriss bis 1948 fort. Kempowski verwertet Zeitungsberichte, Dokumente, Briefe, Archivmaterial und alte Rundfunknach‐ richten. Er verfasst Protokolle, macht Tonbandaufnahmen und hält authentische Berichte fest. Kempowski glaubt, die literarische Realisierung des Materials in einer Form von Protokollierung zu erreichen, die eine Fülle von Einzelheiten mit den Lebensläufen Einzelner verbindet. Aus der Bemühung, die Dokumen‐ tation mit der Tradition des Familienromans zu verbinden, entstehen Darstel‐ lungen von Kindheit und Familie, Vignetten aus dem Leben der Kempowskis, Ausschnitte aus dem Alltagsgeschehen und kurze Beobachtungen, die die ge‐ sellschaftliche Atmosphäre beleuchten. Gespräche, Aussagen von Zeitgenossen, beispielsweise des Bruders, der Mutter und der „Zeugen“ in Ein Kapitel für sich (1975), Beobachtungen wie auch Satzfragmente des Großvaters, Äußerungen von Schulfreunden, der Nachbarin, der Wirtschafterin oder eines Kameraden facettieren das Material. Die historisch befestigten Zitate, das Idiom der bür‐ gerlichen Sprache, die eingeschobenen pommerischen Dialektstellen und die ideologische Verankerung der Ansichten verbürgen die Authentizität des Zeit‐ bildes. Im Echolot (1999) beschreibt Kempowski die Bombardierung von Dresden und bemerkt in einem Gespräch mit Volker Hage im Spiegel, er „habe das Kol‐ lektive“ zu „einem großen Chor komponiert“ zeigen wollen. 2 Auf diese Art entstehen Zeitromane des Nebeneinander, in denen der wu‐ chernde Realismus der Details, die montierten Zitate und die für die Familien‐ geschichten unentbehrlichen Vignetten und Anekdoten in den Vordergrund 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 131 3 Walter Kempowski wird 1948 bei einem Besuch in Rostock verhaftet und zusammen mit seinem Bruder Robert von einem russischen Militärgericht zu je 25 Jahren Zwangs‐ arbeit verurteilt. Seine Mutter wird wegen Spionage mit 10 Jahren Zwangsarbeit be‐ straft. Er ist in Haft bis zur Amnestie im Jahr 1957, meistens in Bautzen. Nach der Entlassung aus der Haft studiert Kempowski Pädagogik und wird Landlehrer in Nie‐ dersachsen. Er veröffentlicht pädagogische Bücher, beispielsweise die Böckelmann-Bü‐ cher und Einfache Fibel. Nach 1969 erscheinen in schneller Aufeinanderfolge seine Ro‐ mane, in denen er zum Chronisten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert wird. 4 Der Aufenthalt der Familie de Bonsac an der Ostsee in der Villa Ida in Graal und sowohl identische Beobachtungen als auch Anekdoten werden in Aus großer Zeit und Tadellöser & Wolff eingearbeitet. treten. Sie ermöglichen einer Leserschaft, die entsprechende Erfahrungen ge‐ macht hat, die Identifizierung mit der Erzählung und vermitteln nachfolgenden Generationen die Vorstellung einer „miterlebten“ Geschichte. Das Schicksal der Familie Kempowski von etwa 1900 bis zur Haftentlassung Walters 1956 3 bildet den Hintergrund einer umfassenden Darstellung der deutschen Geschichte, während ihr die Erfahrungen Einzelner scharfe Konturen verleihen. Das Ver‐ fahren erfordert Rückgriffe, in denen sich der Erzähler deutlich ersichtlich wie‐ derholt und einzelne Passagen nahezu wortgetreu in verschiedene Romane ein‐ baut. 4 Die Erzählungen streben an, der in das Zeitgeschehen eingebetteten Familiengeschichte die notwendige historische Vertiefung durch eine Optik zu geben, die persönliche Schicksale mit historischen Details und wechselnden Er‐ zählerstimmen verbindet. Die auf diese Art entstehende Form der Multiper‐ spektivik schließt beispielsweise in Aus großer Zeit (1978) Erzählstimmen an‐ derer ein, die die Familie von außen betrachten: Schulfreunde, die Nachbarin, die Wirtschaftlerin, die Schneiderin, eine Tante, ein Hausfreund und der Ka‐ merad. Aus den genauen Beobachtungen - Kinder auf dem Schulweg mit ihren Schiefertafeln, der Friseur, „Herr Risse“, bekommt „genau acht Pfennig für die Rasur“ (51), erzählte Witze, Sonntagsausflug mit Kutscher und Pferdewagen, Tanzstunde, Besuch des Kaisers in Rostock, Lieder, beliebte Redensarten wie „Wer rastet, der rostet“ (177), Begeisterung zu Anfang des Krieges 1914, Kriegs‐ ende am 11. November 1918, „um zwölf Uhr, genauer gesagt, um fünf Minuten vor zwölf “ (446) und anschließende Räumung des besetzten Landes - entsteht ein panoramisches Zeitbild. Im Mittelpunkt steht die familiengeschichtliche Chronik, um sie gliedern sich das aus unterschiedlichen Perspektiven berichtete Zeitgeschehen und die Einblicke in die bürgerliche Bewusstseinslage. Kempowskis Verzicht auf eine klar umrissene Deutung des Geschehens wird durch literarisch präzisierte Zeitbezüge, Anspielungen auf typische Denk‐ formen und die Verarbeitung von tradierten Motiven teilweise negiert. Kem‐ powski verwertet auch einzelne Motive, wie etwa Mobilmachung, Auszug, 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 132 Heimkehr, der gute Kamerad, die in der literarischen Tradition fest mit dem thematisierten Krieg verknüpft sind. Andererseits werden Beobachtungen aus den Kriegsjahren ohne jeden Kommentar aufgezeichnet, die dann von Lesern ihren eigenen Erfahrungen entsprechend beurteilt werden müssen. Auf diese Art entsteht ein Zeitbild, das die Widersprüche der Periode einfängt. Es ver‐ zeichnet Beobachtungen, die konzentriert Aspekte des Lebens einfangen: am Gitter der Petrikirche stand: „Sieg oder bolschewistisches Chaos! “ (310), Hin‐ weise auf einzelne Figuren wie Dr. Prüter, einen deutschnationalen Offizier, dessen Tochter beim Essen betet (301 ff.) und Blicke auf irreführende Propagan‐ danachrichten von der Vernichtung sowjetischer Panzer - „400 Panzer bei Bje‐ lograd vernichtet! stand in der Zeitung … Abnutzungsschlachten. Fabelhaft. ‚Wieder 752 Sowjet-Panzer abgeschossen.‘ Daß die überhaupt noch welche haben.“ (308) -, aber auch die treffende, heute erstaunlich wirkende Bemerkung des Großvaters „Der Hitler, das sei ja wirklich ein Glück. Ein fabelhafter Mann. Was hätte man … in unserer Lage … wohl ohne ihn tun sollen? Aber - warum lasse der nun wieder die Kirch nicht in Ruhe? “ (309). Kurze Szenen verdeutlichen das Verhalten der Menschen gegenüber Zwangsarbeitern, den Verlust der Ord‐ nung, Orientierungsverlust, die Reaktion auf einen Bombenangriff, der das Haus des Großvaters in Hamburg zerstört (319), die Verrohung der Jugend, Pflicht‐ dienst beim Kartoffel- und Altpapiersammeln, Verhaltensweisen der Jugendli‐ chen in der HJ , allgemeinen Wirrwarr, kleine Nöte und große Sorgen. Das Ganze schildert besonders eindringlich, dass das Leben irgendwie weitergeht. Was in den Darstellungen fehlt, sind die von Becker, Bienek, Hilbig, Maron, Ortheil und Wolf betonte Auseinandersetzung mit der Frage der eigenen Verantwortung und Hinweise auf die Tatsache, dass Einzelne und wahrscheinlich große Teile der Bevölkerung durch ihr Handeln und ihre Unterlassungen schuldig wurden. Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie (1972) ist beispielhaft für den Protokoll-Stil. Die Schilderung der Ereignisse aus der Sicht des Bürgertums setzt ein mit dem Zusammenbruch 1945 und endet mit der Verhaftung Walters im März 1948. Die aufgeführten Phasen von Walters Leben vermitteln Einblicke in die Zeit in der Oberschule. Er hat kein Interesse am Unterricht, findet die Neu‐ lehrer langweilig und ideologisch befangen, schwänzt tagelang und liegt zu Hause im Bett. Er wird aus der Schule entlassen und versucht, als Druckerlehr‐ ling unterzukommen. Walter arbeitet für einen neu gegründeten Verlag in Ros‐ tock und hilft manchmal dem Bruder im Seefahrt- und Frachthandel. Er ent‐ schließt sich, die „Russische Zone“ zu verlassen. Seine Entscheidung ist teils politisch motiviert, teils wurzelt sie im Verlust der Orientierung und in der Un‐ fähigkeit, ein richtungsweisendes Ziel für sein Leben zu finden. Er sendet einige Pakete mit persönlichen Habseligkeiten an Verwandte im Westen und geht am 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 133 29. November 1947 über die Grenze. Der Grenzübergang, der in Berichten an‐ derer Grenzgänger dramatisch mit Schüssen von Soldaten stilisiert wird, wirkt in Kempowskis Roman sachlich und nüchtern. Walter „macht sich davon“ und kommt wie viele Ostflüchtlinge als Angestellter bei der amerikanischen Armee in Wiesbaden unter. Das Wichtigste, das er mit über die Grenze brachte, sind Kopien von Frachtbriefen, die den Abschub demontierter Werkanlagen in die Ud SSR dokumentieren. Er übergibt das Material amerikanischen Intelligenz-Of‐ fizieren für 2 Stangen Zigaretten. Die Schilderung stellt in dem Bericht nicht die relevante Frage, ob zu diesem Zeitpunkt die amerikanische Deutschland-Politik ein grundsätzliches Interesse an der russischen Demontage deutscher Fabriken zeigte, und bietet keinen Anhaltspunkt zur Beurteilung, ob diese Aktion eine wesentliche Rolle bei der Verhaftung Walters während seines Besuchs in Ros‐ tock und bei seiner Verurteilung durch ein russisches Militärgericht spielte. Diese Lebensskizze ist eingebettet in eine Fülle von einmontierten, fragmen‐ tarisch wirkenden Beobachtungen. Der Erzähler protokolliert eine Flut von Ein‐ zelheiten: das Plündern nach Kriegsende, Einzug der Russen, Vergewaltigungen, Stromsperre, Kippentabak, die Verhaftung ehemaliger Nazis, Gespräche, Witze, Skizzen der Mentalität der Besatzungstruppen, Hungersnot, Wärmehallen, He‐ rumsitzen in Wartehallen, Suchzettel nach Vermissten in Bahnhöfen und Hin‐ weise auf die Aufführung heute vergessener Filme wie etwa „Die Wendeltreppe“. Die Skizzen und Vignetten verzeichnen im Detail Pubertätsprobleme und ganz allgemein das Leben in Rostock zur Zeit der Ostzone. Die Ablichtungen, Bilder des Milieus, zuweilen markante Züge von Figuren oder Reaktionen Einzelner, wirken authentisch, sind jedoch nicht gestrafft und nur lose mit der Handlung verknüpft. Übergänge sind unvermittelt: „Nachmittags bummelte ich. - Was gab’s Neues? - Oach, diese Russen! - Ein schönes sonniges Zimmer war das - Unten im Sekretär standen 12 Töpfe Vitamin-R.“ Die Kurzverweise bieten Ein‐ blicke in die Zustände in der Zone und in individuelles Handeln: „Dann kriegten wir Sudetendeutsche. Das Zimmer oben mußte geräumt werden.“ (222) „Eines Tages war er verschwunden. Russen hatten ihn geholt.“ (76) „Im März wurden die Hitlerjugendführer ‚abgeholt.‘“ (201) „Der Mann ging spazieren über Land und bettelte sich Tabaksblätter. Die trocknete er nicht etwa, die stopfte er so in die Pfeife. Das roch wie Tischlerleim.“ (223) Die aneinander gereihten Beobach‐ tungen illustrieren ein großflächiges Panorama der Zeit. Die einzelnen Hinweise vermitteln Einblick in das Umbruchsgefühl der Bevölkerung. Erkennbar werden die soziale Desorientierung, der Kampf ums Überleben und die existenzielle Verunsicherung der Menschen. Auf diese Weise entsteht ein Bericht des Nebeneinanders - die Periode zwischen Mai 1945 und September 1946 umfasst zwei Drittel der Erzählung -, in dem Fragen von Schuld und Sühne 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 134 und Probleme der systematisch betriebenen Enteignung der Privatunternehmen in der Ostzone zu Wort kommen, der jedoch bewusst jede systematische, kriti‐ sche Reflexion ausschließt. Die Feststellungen beschränken sich weitgehend auf Zustimmung, Ablehnung und Vorbehalte, wie beispielsweise die Reaktion auf den Holocaust oder die Verkündigung der Nürnberger Urteile im Radio. „Nein, der Nürnberger Prozeß war richtig. Aber die Leute aufzuhängen! Eine Kugel, das wäre doch fairer gewesen.“ (277) Die Dokumentation, die gleichermaßen Bedeutendes und Unbedeutendes verzeichnet, erweckt den Eindruck eines da‐ hinfließenden historischen Geschehens, an dem alle weitgehend verständnislos teilhaben. Diese Folgerung trifft wahrscheinlich auf das So-Sein in den ersten Nachkriegsjahren zu und hebt sich eindeutig ab von den kritischen Abrech‐ nungen der wortführenden Autor(inn)en nach 1945. Der bewusste Verzicht auf das Herausarbeiten typischer Strukturen und einer damit verbundenen Sinn‐ gebung intensivierte potentiell die Rezeption von Lesern, die in dem allge‐ meinen Durcheinander und besonders in einzelnen charakteristischen Details wie etwa „Auf dem Gang hockten zwei in Lumpen gehüllte Soldaten, den Löffel hatten sie im Knopfloch. Der eine war quallenartig aufgedunsen, der andere sah aus wie Barlachs Bettler“ (292) ihre eigene Erfahrung wiedererkannten und den Text mit ihren persönlichen Eindrücken noch zusätzlich anreicherten. Kempowskis Kompositionstechnik ist gleichermaßen ausgeprägt in Mark und Bein. Eine Episode (1992), ein begrenztes Zwischenspiel aus der Gegenwart in der Chronik. Die zeitlich geschlossene und auf wenige Personen konzentrierte Handlung entwirft ein Bild von Jonathan Fabrizius und skizziert in wenigen Zügen seine Fahrt nach Ostpreußen, wo er im Auftrag der Santubara-Werke Material für die Werbung für ein neues Achtzylinder-Modell eines Luxuswagens sammelt. Fabrizius, 43 Jahre alt, ist noch als Student eingeschrieben, verdient aber etwas Geld durch journalistische Arbeiten und erhält einen monatlichen Wechsel von seinem Onkel. Er wohnt mit einer Freundin, die während seiner Abwesenheit einen neuen Freund findet. Ihr Entschluss führt zu keiner Lebens‐ krise. Die Fahrt dagegen wird zum Ausgangspunkt des Versuchs, seine Kind‐ heitseindrücke aufzufrischen, die Vergangenheit zu erkunden und sich selbst zu verstehen. Was ihm erzählt wurde und bisher von keiner wesentlichen Bedeu‐ tung war, erscheint in neuem Licht. Die kaum fassbaren, aber in den letzten Wochen des Krieges als selbstverständlich empfundenen Ereignisse vermitteln Einblicke in die Auswirkungen des historischen Geschehens auf die Bevölke‐ rung. Sie regen wie alle Bestandsaufnahmen Kempowskis zum Nachdenken an und rufen wahrscheinlich in der Generation der direkt Betroffenen die Empfin‐ dung „Ja, so war das“ hervor. 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 135 Die Erzählung beabsichtigt unter Verzicht auf historische Deutung, eine all‐ tägliche Lebensgeschichte zu dokumentieren. Die knapp berichteten Ereignisse sind jedoch sowohl für den individuellen als auch den sozialen Kontext relevant. Sie erfassen im Alltag die wechselnde Bewusstseinslage eines großen Kreises der Bevölkerung. Die Montage von ständigen Rückblenden in Beschreibungen gegenwärtiger Eindrücke beabsichtigt, die Dauer in der Veränderung heraus‐ zustellen. Das Verfahren, eine deutsche Besuchergruppe mit ihrer Reiseführerin einzuarbeiten, ermöglicht durch die „mitgehörten“ Erläuterungen die Erweite‐ rung vom rein Persönlichen ins Allgemeine. Der Erzähler beschreibt mit der‐ selben Sorgfalt Gegenwärtiges (Hotel, Café, Essen, polnische Namen für Danzig, Marienburg und Wolfsschanze, die Bunkerbesichtigung, Besuch bei einer pol‐ nischen Familie, Fahrt zum KZ Stutthof) wie Vergangenes (Flucht, Geburt im Treckwagen, Tod der Mutter, Verlust des Vaters in den Kämpfen in Ostpreußen, Attentat auf Hitler, Stauffenberg). Es ist sicherlich richtig, dass die in kleinstem Detail geschilderten Vorgänge lebensgeschichtlich Vergangenes wiederher‐ stellen und in scharfer Profilierung der Mittelschicht die Konturen eines ge‐ schichtlichen Ausschnitts entwerfen. Fraglich ist, ob der kommentarlose Erin‐ nerungsdiskurs im Publikum eine vertiefende historische Erkenntnis hervorruft. Ein Vergleich mit den Erinnerungsdiskursen bei anderen Autoren verdeut‐ licht die Eigenart von Kempowskis dokumentarisch befestigter Erinnerungs‐ phantasie. Wo Grass, Maron und Ortheil die Vergangenheit befragen und sich zugleich mit dem heutigen Verständnisvermögen auseinandersetzen, konzent‐ riert sich Kempowski auf Anekdoten. Diese ergeben sich beim Betrachten von Bildern in einem Fotoalbum, beim Nachdenken über einen Komponisten oder in der Erinnerung an den Untergang eines mit Flüchtlingen beladenen Damp‐ fers. Ertrinkende werden im Wasser von Eisschollen zerquetscht. Die Zahl der Toten wird registriert: 5438 Menschen fanden den Tod. „Bein ab, Kopf ab.“ (100) Derartige Hinweise drängen sich kommentarlos in den Vordergrund, während eine vergleichbare Szene bei Grass Im Krebsgang (2002) zur Erörterung führt, ob Fakten überhaupt Aussagen über die Erfahrungen eines Lebens machen können. Auch Beobachtungen und fiktive Betrachtungen des Autors, die den Anspruch auf Authentizität erheben, verlieren Überzeugungskraft, weil sie das Lesepub‐ likum nicht geistig herausfordern, sondern emotional berühren. Als beispiels‐ weise Jonathan den Todesort des Vaters sucht und sich seinen Ahnungen hin‐ gibt, was da in der Erde zu finden sei, etwa Knochen oder verrostetes Pferdegeschirr, hört er eine Stimme. Sein Vater spricht aus dem Sandgrab zu anderen Gefallenen. „‚Es war mein Sohn, der nach mir gesucht hat‘, flüsterte er seinen Kameraden zu, und die sagten es weiter: ‚Sein Sohn hat nach ihm ge‐ 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 136 sucht.‘“ (231) Dieser Appell an die Empfindsamkeit begrenzt die historische Er‐ kenntnisfähigkeit und gerät in Widerspruch mit der angestrebten realistischen Gestaltung. Durchaus episodisch ist die humoristische, an Wilhelm Raabes Horacker (1876) und Pfisters Mühle (1884) erinnernde Handlung in Hundstage (1988). Die linear ablaufende, absichtlich konfus entworfene Geschichte belegt besser als andere Erzählungen Kempowskis, dass sich das Erzählverfahren detaillierter Dokumentation nicht zur Gestaltung eines Lebenslaufs eignet, der in der Typik wesentliche Auskunft über Menschen in ihrer Zeit geben soll. Die Erzählung veranschaulicht einen Ausschnitt aus dem Leben des Erfolgsschriftstellers Ale‐ xander Sowtschick. Die Technik realistischer Kleinmalerei veranschaulicht de‐ tailliert die Neurosen des Autors und entwirft ein Bild von Landschaft, Ort und Haus. Die Zeitspanne ist begrenzt auf die sommerlichen Tage. Die Frau des Schriftstellers ist im Urlaub; er bleibt zu Hause, weil er allen Reisen keine Freude abgewinnen kann. Sowtschick ist gelangweilt, bemitleidet sich, döst vor sich hin, geht mit den Hunden spazieren, richtet das von der Frau vorgekochte Essen an, genießt seine große Villa, liest, denkt über einen wiederkehrenden Angst‐ traum nach und arbeitet an einem neuen Roman „Winterreise“. Seine Gedanken kreisen um den Erfolg seiner Werke, seine Kunst, die „Bilder seiner Vorstellung ins Wort“ zu erlösen und die Vergangenheit poetisch „vergnüglich“ aufzuar‐ beiten. Er sinnt über seine Sehnsucht nach, die Jugend anzusprechen, und ärgert sich über die kritischen Vorbehalte einiger Rezensenten, die seine „Bastelei“ und „brave Fleißarbeit“ rügten. Sowtschick erwägt auch die Möglichkeit, in seinem neuen Roman relevante Katastrophenthemen einzuarbeiten, um seine Kritiker zu überraschen. Meistens denkt er an Ruhm und, durch den Zeitungsbericht eines Mordes erregt, sowohl an Schutzmaßnahmen als auch seinen eigenen möglichen Tod und Nachruhm. Zugleich spukt in ihm das Verlangen, einmal kurz auszubrechen und etwas Ungewöhnliches zu tun. Dieser Drang führt zu den sonderbarsten Verwicklungen, Verstrickungen mit Mädchen, Problemen mit kurzfristig Angestellten, einer Mofa-Bande, der Beschuldigung krimineller Vergehen nebst einem Verhör und der Verwüstung seines Hauses. Die Frau kommt zurück, sitzt weinend in der Zerstörung und Sowtschick zieht die Bilanz: „Den Rest des Lebens mit Marianne auf dem Sofa sitzen und geradeaus gucken. Intimsphäre schaffen, die sich gewaschen hat! “ (415) Kempowskis Abgesang auf die Familiengeschichten in Weltschmerz. Kinder‐ szenen fast zu ernst (1995) erfasst dagegen aus der Sicht einer Kindheit feinfühlig die Ahnungen und Empfindungen der vom ablaufenden historischen Geschehen Betroffenen. Im Gegensatz zu Maron, die gleichfalls die Bewusstseinslage Ju‐ gendlicher gestaltet, verlagert Kempowski die Betonung auf eine wehmütige 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 137 Bestandsaufnahme, in der eine eigenartig fatalistische historische Haltung zum Ausdruck kommt. Sie zeichnet sich ab in wiederkehrenden Bildern von Kreis‐ bewegungen. Die Spielzeuge werden aufgezogen, bewegen sich und bleiben stehen; Affen, Mäuse, Trommler und das kleine Bergwerk folgen vorgeschrie‐ benen Bahnen. Die Bewegung ist „unabänderlich“ und spiegelt den Rhythmus der Welt der Erwachsenen. Die Szene „Die Mangel“ hält diesen Sachverhalt deutlich fest. Der junge Sigmund beobachtet Frauen bei der Arbeit an der Wä‐ schemangel, die „ihm bestätigte, was er im Innersten ja längst wußte. … So wie die Walze nie aufhören würde, sich zu drehen, langsam, unerbittlich, niemals schneller, niemals langsamer, so drehte sich die Welt, aus dem Dunkel ins Helle und wieder in das Dunkel gleitend.“ (25-26) Die Erzählung schildert alle Beobachtungen aus der Sicht des heranwach‐ senden Sigmund Korbach und verbindet diese mit Reflexionen des Erzählers. Darin wird immer wieder die Vergänglichkeit angedeutet: „Die Mädchen werden nie wieder singen, dachte er - das ist für immer vergangen.“ (51) Kem‐ powski schließt in der Erzählung wie in der Chronik bewusst alle Überlegungen aus, die sich mit Fragen des menschlichen Aufwachsens und Reifens in den Jahren vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Diese Verengung im Blickfeld bedingt, dass die vorübergleitenden genau getroffenen Szenen Einblick in ein Leben bieten, aber keine Aufschlüsse über das Denken der Zeit geben. Niederdeutsche Spracheigenheiten wie „Handeule“, „Feudel“ und „Leuwagen“ wie auch knappe Andeutungen und Hinweise auf das Einschiffen von Soldaten, den Empfang bei einem Minister, einen Schulausflug, einen bü‐ rokratischen Museumsbeamten oder Gerüchte von Lagern, die das Zeitbild aus‐ füllen, aber ohne ersichtliche Wirkung auf Sigmund bleiben, unterstreichen diesen Sachverhalt. Die Erzählung vermittelt Eindrücke, die sich dem Ge‐ dächtnis eingeprägt haben und in direktem Bezug auf die Vergänglichkeit des Lebens stehen. Diese Motivverknüpfung weist auf eine Seinsverfassung im Zu‐ stand der Erwartung und vertieft die Atmosphäre der kindlichen Welt. Die Erzählhaltung eingehender Dokumentation prägt auch die Bestandsauf‐ nahmen von Dieter Forte, Jakob Hein, Hans Joachim Schädlich und Peter Schneider. Dieter Forte bevorzugt für seine Darstellung deutscher und anfäng‐ lich im Abriss europäischer Geschichte (Das Muster. 1992; Der Junge mit den blutigen Schuhen. 1995; In der Erinnerung. 1998) unmissverständlich die Erzähl‐ perspektive eines Chronisten. Der Titel von Volker Hages Rezension der Trilogie „Kälte und Hunger hören nie auf “ (Der Spiegel, 2. 11. 1998) charakterisiert tref‐ fend die allgemeine Gefühlslage der Betroffenen im Ablauf des geschichtlichen Geschehens. Familiengeschichten geben dem weitgespannten Überblick indivi‐ duelle Charakterzüge. Straffe, aus einzelnen Vignetten gewebte Schilderungen 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 138 vertiefen die Inszenierung historischer Präzision. So entsteht eine Chronik, die zugleich Lebensgeschichte und sich wiederholender Durchgang durch die Ver‐ gangenheit ist. Die Schilderung der Leiden Einzelner setzt im 12. Jahrhundert in Palermo ein. Die Weberfamilie Fontana muss zusammen mit anderen Webern Sizilien verlassen. Sie ziehen von Station zu Station, manchmal auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen, zuweilen auf der Flucht vor religiösen Fa‐ natikern und überwiegend ruhelos in Bewegung wie später alle Flüchtlinge und Heimatlosen im 20. Jahrhundert. Die Erzähltechnik, in der der Blick des Be‐ obachters den vorübergleitenden Bildern folgt, erinnert an die Schilderungen in Henry Fieldings Tom Jones (1749). Wie Fielding schildert Forte das abenteuer‐ liche Leben auf Straßen, in Ortschaften und Städten. Leser sollen miterleben. Sie sehen und erfahren Luca, Florenz, Lyon, Basel und schließlich Düsseldorf. Die Ausschnitte aus dem Leben der Fontana-Familie schließen im ersten Band mit der Vermählung Friedrich Fontanas mit Maria Lukacz, einem aus einer pol‐ nischen Einwandererfamilie stammenden Mädchen. Maria wird zur zentralen Figur im zweiten Band, der die Zeit von 1933 bis 1945 behandelt. Sie ist die Mutter des Erzählers, der als „der Junge“ oder „er“ auftritt, und aus dessen Perspektive das Geschehen beleuchtet wird. Forte versucht nicht, die Empfindungen oder die Vorstellungen eines Kindes zu charakterisieren. Stattdessen verzeichnet er konkrete Bilder der Nazizeit, die Unterdrückung individueller Anschauungen, das neue Denken im Arbeiterviertel und scharf getroffene Eindrücke der Bom‐ bardierung. Die weitgespannten Beobachtungen, in denen sich der Erzähler auch kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzt, reichen von der staatlich gelenkten Meinungsbildung der Arbeiter bis zu Skizzen von Juden, die im KZ -Außenlager im Viertel leben und zum Bergen von Toten und zu Aufräum‐ arbeiten eingesetzt werden. Der letzte Band hält die ersten Jahre der Nach‐ kriegszeit von 1945 bis 1948 fest. Im Gegensatz zu Kempowskis Erzählverfahren erzielt Forte Wirklichkeits‐ nähe durch die Technik des Augenzeugenberichts. Der Erzähler, Marias Sohn, hat schweres Lungen- und Asthmaleiden. Er muss im Zimmer bleiben und schaut durch ein kleines Fenster auf das Geschehen in der Trümmerwelt. Die festgehaltenen Eindrücke wirken theatralisch. Sie verbinden Eindrücke und Er‐ innerungsbilder mit von Forte genau überprüftem, faktischem Material. Die Trümmerlandschaft wird zur immer greifbaren und quälenden Gegenwart. Die bestechend wirkende Schilderung des Lebens der Kinder, das Elend, die Leiden, der Brotmangel, der nie endende Hunger, Märsche aufs Land, um etwas Essen zu besorgen, Stromsperren, der alles beherrschende Wunsch, zu überleben, und alles, was in anderen Chroniken der Nachkriegsjahre angesprochen wird, wirkt ausgesprochen überzeugend in Fortes meisterhafter Milieugestaltung. Forte 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 139 5 Günter de Bruyn. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt a. M.: Fischer, 1992. 110. 6 Vgl. Günter de Bruyn. Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer, 1999. 12: „Die Gegenwart ist also an der Erinnerungs‐ arbeit insofern beteiligt, als sie den dunklen Hintergrund für die aus der Vergangenheit aufsteigende Helle bildet. Was man heute nicht hat, war damals vorhanden. Was heute quält, gab es damals noch gar nicht. Weil man alt ist, scheint die damalige Jugend so schön.“ 7 De Bruyn findet Hans Mayers These (Hans Mayer. Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991) von den edlen Anfängen der DDR völlig unglaubwürdig. Er spricht von dem „Märchen“: „Das Körnchen Wahrheit, das in ihm steckte, hatte mit Seelischem mehr zu tun als mit po‐ litischen Fakten. Edel war möglicherweise der Glauben an hehre Ziele gewesen, nicht aber die Politik, an der er mitgewirkt hatte. Zu dieser hatten vielmehr Internierungs‐ lager und Zuchthäuser, Enteignungen, Vertreibungen, Lügen und Bücherverbote ge‐ hört. Dafür aber hatte die Begeisterung blind gemacht.“ Günter de Bruyn. Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996. 231-232. verknüpft die ausgewählten Szenen zu ästhetischer Geschlossenheit des Ganzen. Der Band liefert einen bewegenden Erlebnisbericht, der treffend, das Typische festhaltend, das Leben in der Trümmerlandschaft einer deutschen Großstadt schildert. Fortes Erzählung ergänzt Martin Walsers (Ein springender Brunnen. 1998) auf den Gesichtskreis eines kleinen Ortes am Bodensee begrenzte Darstellung des Lebens während der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Das Fehlen von glaubwürdigen, zuverlässigen Anhaltspunkten in den Jahren der DDR -Regierung und der NS -Zeit wirkt nahezu als deutsches Schicksal. Die Motivik der Ahnungslosigkeit und des Nicht-Wissen-Wollens klingt häufig in Heins, Schneiders und Schädlichs Darstellungen an. Einige der Betroffenen ahnten „etwas“, ohne zuverlässige Anhaltspunkte zu haben; viele hatten Angst und verschlossen die Augen; manche wussten einfach nichts. Im Gedächtnis und im Erinnerungsdiskurs wird das Vergangene neu zusammengestellt. Dieser Sachverhalt wird de Bruyn besonders deutlich bei der Aufarbeitung seines Ta‐ gebuchs, in dem er Ereignisse seiner Jugend und der Kinderlandverschickung in den Osten aufgeschrieben hatte. 5 Er liest und stellt fest, dass die Ereignisse aus den vergangenen Jahren ihre besondere Eigenheit durch den kritischen Blick zurück erhalten. 6 Er, wie auch Jakob Hein und Peter Schneider, lehnt jede Ver‐ schönerung der DDR -Zeit und die Utopie des sozialistischen Staates ab. 7 Was in diesen Schilderungen deutlich hervortritt, ist ein bisher kaum beach‐ teter Faden, der durch den Erinnerungsdiskurs verläuft: Die Ahnungslosigkeit wird zur Diskussion gestellt. Sie kann sich, besonders in dem Verfahren der Reihung von Einzelheiten unter bewusstem Verzicht auf Sinndeutung im Schaffen Kempowskis, auf das Lesepublikum übertragen, das dann diese Ah‐ 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 140 nungslosigkeit verspürt und sich mit ihr auseinandersetzen muss. Darüber hi‐ naus können sich Betroffene an inszeniertes Nicht-Wissen erinnern, das beson‐ ders nach dem Mauerfall zu Diskussionen führte, als die anonymen Stasi-Helfer entlarvt wurden. Hans Joachim Schädlich und Peter Schneider verweisen auf diese Situation. Schädlich verwendet in seinen Romanen die von Kempowski bevorzugte Erzähltechnik, erweitert das Quellenmaterial jedoch durch die auf wesentliche Figuren bezogene Handlung. Er schildert in Tallhover (1986) die glänzend gespielte Ahnungslosigkeit eines zutiefst bedrohlichen Überwachers sowie die Eigenheiten einer Denkform und Grundeinstellung zur Welt, die in ständiger Wiederkehr vom 19. bis ins 20. Jahrhundert das Leben eines Mitma‐ chers und Mittäters bestimmen. Die Tallhover-Figur, in Preußen, im Kaiserreich, in der Republik, unter den Nationalsozialisten und schließlich in der DDR als Agent und Angestellter der jeweiligen Polizeibehörden tätig, verkörpert eine zutiefst bösartige und menschenfeindliche Haltung im Gewand des beflissenen Bürokraten. Tallhover ist jedoch keineswegs nur Statistiker des Bösen, der An‐ weisungen fraglos befolgt. Er entwickelt einen unbezähmbaren Eifer, die Ziele der wechselnden Ideologien durch Bespitzelung, Inhaftierung und Ausrottung andersdenkender Nichtkonformisten zu verwirklichen. Der Roman ist eine psy‐ chologische Studie des willigen Helfers, der keine Reue empfindet, nicht be‐ lehrbar oder umerziehbar ist und nichts aus der Vergangenheit lernt. Er verspürt Gefühle der Schuld nur dann, wenn die Machthaber politische Kompromisse schließen und dadurch die unnachgiebige Ausführung seiner „Säuberungsakti‐ onen“ verhindern. Tallhover handelt nicht wie sein prominentes reales Pendant Eichmann. Er beruft sich nicht auf Unkenntnis der Folgen seiner Taten oder darauf, nur Befehle ausgeführt zu haben. Schädlich stellt dem alltäglich anmu‐ tenden Handlanger des Bösen einen Sollerfüller der Gewalt zur Seite, der alles tut, was getan werden muss und was andere, die Gewissenskonflikte empfinden, nicht tun können. Beide, sowohl die literarische Figur und der Typ Tallhover als auch die reale Person Eichmann, sind staatshörig und erfahren die Ansprüche der Gesellschaft als Gebot normativer Gleichschaltung. Ihre Aufgaben bestehen darin, alles aus‐ zumerzen, was Unruhe in die Entwicklung zur kollektiven Norm bringt. Ihre Funktionen schwächen das Gefühl für menschlichen Wert. Daher hört der his‐ torisch wiederkehrende Typ Eichmann keinen Ruf an das Gewissen und Tall‐ hover verspürt weder Hass noch Triumph. Er verfolgt seine Opfer und bringt sie zur Strecke, weil es einfacher ist, Störenfriede zu beseitigen als sie zu über‐ zeugen. Insbesondere fehlen Tallhover die Voraussetzungen, andere zu der vor‐ herrschenden Ideologie zu bekehren. Er ist Konformist. Seine Tätigkeit ist ge‐ normt. Die Mechanisierung seines Einsatzes für die Staatsmacht lässt weder 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 141 8 Hans Joachim Schädlich. Tallhover. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986. 149, 222-224. 9 Zu Berlin und der Mauer vgl. Peter von Becker. Die andere Zeit (1994); Brigitte Bur‐ meister. Unter dem Namen Norma (1994); Wolfgang Hilbig. Ich (1993); Helmut Krausser. Die Zerstörung der europäischen Städte (1994); Irina Liebmann. In Berlin. (1994); Thomas Hettche. Nox (1994); Ulrich Woelk. Rückspiel (1993); Matthias Zschokke. Der dicke Dichter (1995). Die Mauer (13. 8. 1961-9. 11. 1989), Grenze mit Stacheldraht, Wacht‐ türmen und Todeszone, 138 Menschen, die umkamen, der Peter Fechter-Prozess, nach der Wiedervereinigung Anklagen gegen Soldaten der Volksarmee und Stasi-Beamte wurden heftig in den Medien diskutiert und hinterließen Spuren in der Literatur. selbständige Gedanken noch den Willen zum eigenen Sein aufkommen. Seine politische Orientierung hält sich an das Schema eines Vollzugsorgans des kol‐ lektiven Wohlergehens. Er kritisiert deshalb auch die Träger der Autorität, wenn diese nicht konsequent genug die Maßnahmen ergreifen, die das umfassende Einheitsgefühl hervorbringen, oder von der Linientreue abweichen, um Kritiker zu besänftigen. Diese Einstellung wird besonders deutlich in seiner Stellung‐ nahme zur Reise Lenins durch Deutschland und zur Kirchenpolitik der DDR . 8 Tallhover glaubt, der „normale Zustand“ der Gesellschaft liege noch in der Zu‐ kunft. Es „wird die Zeit sein, in der die Arbeit der Überwachung und Verfolgung von Aufsässigen einen höheren Grad von Vollkommenheit besitzen wird.“ (274) Für ihn „steht und fällt“ die „Staatsordnung mit der Vervollkommnung der Ar‐ beit des Dienstes“ (274). Es ist die Aufgabe des Dienstes, die Entwicklung des Staates zu einer höheren Stufe der Vollkommenheit zu fördern, in der die Ver‐ fassung alle Ausnahmegesetze so in sich aufnimmt, dass sie keine Ausnahme bilden. Schädlich greift das Thema im Trivialroman (1998) wieder auf, verlegt die Handlung jedoch in das Milieu des Verbrechens. Die Handelnden, eine Ga‐ lerie von gewalttätigen Verbrechern und gewissenlosen Mitläufern, folgen kon‐ sequent der Logik ihrer gesellschaftlichen Grundlage. Sie beuten die Masse aus und bereichern sich selbst. Die von Schädlich geschilderten geschichtlich be‐ legten Spielarten politischer Intrige und Verbrechen wirken zwar psychologisch wahrscheinlich. Die Hyperbolik des Verbrecherischen vermindert jedoch die angestrebte Erweiterung des Geschehens ins Überpersönliche. Peter Schneiders Der Mauerspringer (1984) ist der Entwurf einer Chronik der Berliner Mauer. 9 Die Erzählung aus der Perspektive eines Berichterstatters wird durch Kommentare von dessen Ostberliner Freund Robert ergänzt und durch kurz abgelichtete Erlebnisse erweitert. Sie berichtet das alltägliche Leben der Berliner mittels scheinbar authentischer Erfahrungen und entwickelt kurze Le‐ bensschicksale von Einzelnen und Gruppen. Belichtet werden Jugendliche und Alte, Schriftsteller und Taxifahrer, Grenzbeamte, Bauarbeiter, Kellner und Chaoten, die Fenster in Geschäften am Kurfürstendamm einwerfen. Im Mittel‐ punkt der Ereignisse steht die Mauer in Berlin. Sie ist die Grenze, Endstation 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 142 und willkürlicher Eingriff in das Stadtbild Berlins und das Leben der Einwohner. An ihr entzünden sich die Handlungen. Sie bestimmt das Geschehen, motiviert das Verhalten Einzelner und verknüpft die in die Erzählung eingeflochtenen Geschichten verschiedener Personen. Die Geschichte von Herrn Kabe ist symp‐ tomatisch für die von der Mauer ausgehende Zwangsfixierung. Kabe, arbeitslos, politisch uninteressierter Sozialempfänger, wohnt der Mauer gegenüber und springt beständig vom Westen in den Osten. Behandlungen von Ärzten in West und Ost bleiben erfolglos: die Mauer fordert Kabe zum Springen heraus. Die Schilderung der Geschichten veranschaulicht eindringlich, dass die Mauer das äußere Zeichen innerer Trennung ist. Die Einwohner im Westen und Osten haben sich auseinandergelebt. Ihr Denken und Hoffen, ihr Alltag und ihre Vor‐ stellungen der Zukunft werden von unvereinbaren Ideen geprägt. Ihr Äußeres, ihre Reaktionen und selbst ihre Falten im Gesicht lassen ihre Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Regime erkennen. Der Erzähler will aus den gesammelten Geschichten eine Chronik der Ber‐ liner gestalten. Er hatte ursprünglich den Wunsch, die Geschichte eines zwi‐ schen Ost und West hin und her pendelnden Mannes zu schreiben, der in beiden Welten zu Hause war. Die Figur sollte dann allgemeine menschliche Empfin‐ dungen, Wünsche und Vorstellungen verspüren, die sich nicht in politischen Kategorien erschöpften. Andererseits sollte die Figur nicht „unpolitisch“ sein; sie sollte sich geistig mit der Gegenwart und Vergangenheit auseinandersetzen. Wie sich herausstellt, entsprechen die Bekannten aus West und Ost nicht der Idealkonzeption. Lena, die Freundin des Erzählers, kann sich trotz aller Bemü‐ hungen im Westen nicht zu Hause fühlen; und er kommt sich bei Besuchen ihrer Familie im Osten immer fremd vor. Robert will keine politischen Aussagen ma‐ chen. Ihm gefällt es einfach zu Charlie zu gehen, um dort am Spielautomat zu spielen. Gerhard Schalter, ein Wohnungsvermieter im Westen, wartet auf eine spät im Leben gefundene, aber in Afrika lebende Freundin. Er ist glücklich, aus‐ geglichen und sparsam. Zum Telefonieren fährt er ständig nach Ostberlin, weil die Anrufe da weniger kosten. Er kauft dann auch im Osten ein, übernimmt schließlich DDR -Vorstellungen und klagt über den Konkurrenzkampf im Westen, am Ende siedelt er in den Osten über. Die Bestandsaufnahmen von un‐ gesetzlichen Grenzübertritten und Mauerspringern konzentrieren sich auf un‐ politische Entscheidungen. Zwei an der Mauer wohnende junge Burschen ent‐ decken einen toten Winkel und klettern mit ihrem Freund zwölfmal in den Westen, um Filme zu sehen. Sie werden verhaftet, nachdem ein Westberliner Journalist ihren „Kinozwang“ beschreibt, kommen aber ohne erhebliche Strafe davon, während Walter Bolle, ein anderer Grenzgänger, wegen versuchter Re‐ publikflucht zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wird. 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 143 Das Fazit: Die von Schneider geschilderten Figuren leben illusionslos in der getrennten Stadt. Sowohl die utopischen Vorstellungen des Kommunismus als auch das wirtschaftliche Erfolgsdenken in der Demokratie haben jede Anzie‐ hungskraft verloren. Beide Regierungen werden angeprangert und für das in‐ dividuelle Versagen verantwortlich gehalten, weil sie durch Zeitungen, Land‐ karten, Fernsehen und Filme ein einseitiges Bild der Wirklichkeit malen. Die Mauer, von einigen als absurdes Gebilde betrachtet, ist letztlich ein Denkmal der verfehlten Politik und des allgemein verbreiteten Misstrauens der Menschen in Ost und West. Die Ostberliner wissen, dass sie für ihre „Versorgungsanstalt“ mit der Überwachung jedes Schrittes bezahlen. Die Westberliner genießen ihren Lebensstil, blicken jedoch sorgenvoll nach dem Osten und bezweifeln die Mög‐ lichkeit eines Anschlusses an Westdeutschland. Alle, die über die Mauer springen, erfahren die Unhaltbarkeit der Situation. Aber alle Betroffenen sehen keine Lösung. Berlin zusammen mit der Problemstellung der Mauer, der geteilten und wie‐ dervereinten Stadt rückt in zahlreichen Erzählungen in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Stadt wird zum Kristallisationspunkt für menschliche Begeg‐ nungen, tägliche Sorgen und Schilderungen unterschiedlicher Verhaltensweisen zur Arbeit, zur sozialen Verunsicherung und der Arbeitslosigkeit. Die Stadt ist das Kolorit für Liebesbeziehungen zwischen Personen, die im geteilten Land aufwuchsen. Sie steht im Vordergrund in der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und Fragen gegensätzlicher Freiheitsvorstellungen sowie der Haltung zur Politik und dem Staat. Sie wird zum Symbol für hoff‐ nungsvollen Ausblick und Neuanfang wie auch für brüchige Existenz und un‐ bewältigte Vergangenheit. Schneiders Eduards Heimkehr (1999) vermittelt im Rahmen einer umfas‐ senden Vergangenheitsbewältigung konkrete Einblicke in die Zustände im wie‐ dervereinten Berlin. Eduard, ein Assistenzprofessor in Stanford, arbeitet im Be‐ reich genetischer Forschung und erhält ein Angebot aus Berlin. Er nimmt die Stellung an. Die Geschichte, er habe zusammen mit seinem in Australien le‐ benden Bruder ein altes Mietshaus geerbt, das er weder beziehen noch verkaufen kann, da es von Typen aller Art besetzt ist, ermöglicht die Schilderung unter‐ schiedlichster Szenen aus dem Leben der Berliner. Eduards Frau kommt aus Kalifornien. Sein Verhältnis zu ihr und den beiden Kindern wirft Licht auf Ehe‐ probleme, zwischenmenschliche Beziehungen und Fragen der Übersiedlung und des Einlebens in Deutschland. Besonders auffällig ist die Tatsache, dass die Er‐ zählung nicht von der deutschen Vergangenheit loskommt. Die Überlegungen Eduards und seine immer wieder anklingenden Erinnerungen belegen, dass die deutsche Vergangenheit ständig zu Krisen nicht nur in seinem, sondern auch im 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 144 10 Peter Schneider. Eduards Heimkehr. Berlin: Rowohlt, 1999. 76-77. Leben seiner Familie führt. Eduards Frau Jenny, das Kind eines italienischen Vaters und einer deutsch-jüdischen Mutter, ist in einem kleinen Ort in der Nähe Roms aufgewachsen. Der Erzähler bemerkt zu ihrer weiteren Entwicklung: „Daß das trotzige Emigrantenkind Jenny dann ausgerechnet ins Land der Täter stu‐ dieren ging und dort eine Familie gründete, hatte ihre Eltern geschmerzt und endlose Debatten ausgelöst, doch zwischen ihnen selbst hatte die Schuld der Nazigeneration nie, auch nicht beim schlimmsten Streit, zu einem sichtbaren Konflikt geführt.“ 10 Imperativ-Formen wie „Achtung“ oder „Stehenbleiben“ be‐ wahren einen „Mörderischen Klang über Jahrzehnte hinweg“ (77). Jenny wirkt leicht verletzbar, lehnt Eduard ab, sobald er sie an seine deutsche Abstammung erinnert, und verstößt gegen einfachste Formen der Höflichkeit, weil sie sich in die Rolle des Opfers eingelebt hat. Sie besteht beispielsweise bei einem Empfang darauf, mit ihrem Mädchennamen angesprochen zu werden. „Nennen Sie mich nicht Hoffmann. Mein Mann hat mich wieder einmal nicht vorgestellt. Ich heiße Jenny Valenti. Das einzige, was ich mit Herrn Hoffmann gemeinsam habe, ist die Tatsache, daß er der Vater meiner Kinder ist. Genauer gesagt, der Erzeuger und Ernährer.“ (231) Eduard andererseits entwickelt einen Schuldkomplex. Die Beschreibung der Auftritte unterstreicht den maßlosen Anspruch auf eigene Individualität. Die beiden Figuren werden auf diese Weise exemplarisch für ihre Umwelt in Berlin, denn alle Bekannten Eduards bestehen auf ihren zutiefst persönlichen Überzeugungen. Darüber hinaus belegt ihr Denken und das vieler Menschen, denen Eduard begegnet, dass die DDR -Vergangenheit unbewältigt ist. Die Er‐ zählung beschreibt ständige Reibungen zwischen Ossis und Wessis, zwischen all den Gruppen, die sich in der DDR gebildet hatten, zwischen Ossis, die dage‐ blieben sind und Ossis, die nach dem Westen abwanderten. In den Eckkneipen Berlins „herrschte ewige Nachkriegszeit.“ (226) Ideologische Standpunkte dik‐ tieren alle Gespräche. Niemand ist zu Kompromissen bereit; niemand will an‐ deren zuhören; jeder will nur selbst reden. Das Resultat sind ständige Reibereien. Die Menschen sind wie die Stadt im Zustand des Umbruchs. Besonders gut ge‐ troffen ist die Schilderung des Besuchs Eduards bei dem Dichter Theo. (142 ff.) Theo wurde 14 Jahre von seinem Bruder im Auftrag der Stasi überwacht. Er studiert die Akten mit „unersättlicher Neugier“, weil sie Informationen ent‐ halten, die den Bruder in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Was hier deutlich wird, ist die auch von Hilbig in zahlreichen Erzählungen geschilderte Situation: Überwacher und Überwachte sind in dem Staat nicht zu trennen und jeder versucht, endlich mit der qualvollen Erinnerung an die Vergangenheit 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 145 11 Matthias Zschokke. Der dicke Dichter. Köln: Bruckner & Thünker, 1995. fertig zu werden. Die Erzählung endet mit einem versöhnlichen Ausklang im gespannten Eheleben Eduards und erweckt die Hoffnung, dass alle Betroffenen ihre Vorurteile überwinden können. Die Öffnung der Mauer, die Wiedervereinigung und das Leben in den neuen Bundesländern, in dem Begeisterung, Kritik, Nostalgie und Anpassung zu Wort kommen, erscheint in vielen Erzählungen als ein bedeutender Abschnitt deut‐ scher Geschichte, welcher der Kriegserfahrung gleichberechtigt zur Seite steht. Die Erzählungen von Hein, Müller, Schmidt, Woelk und Zschokke beispielsweise bieten einen kaleidoskopischen Blick auf diese miterlebte Geschichte, auf einen Augenblick im Ablauf des historischen Prozesses, der sich noch dem distan‐ zierten Überblick der Betroffenen entzieht. Sie sind kritische Ansätze, im Quer‐ schnitt durch das Leben der Einwohner einer Großstadt moderne Zeitromane zu schreiben. Andreas Neumeister entwirft in seinem Roman Ausdeutschen (1994) eine Berichterstatter-Figur, die unermüdlich durch Berlin fährt. Im Ge‐ gensatz zu Zschokkes Dichter, der nach Genauigkeit strebt, indem er ruhig be‐ obachtet und aus der Distanz Stellung nimmt, 11 will Neumeisters Beobachter alles „ausdeutschen“, das heißt, er muss alles aufnehmen, erkunden, erklären und verstehen. Er verliert jedoch zuweilen die Orientierung im Strudel aktueller Nachrichten, der Momentaufnahmen aus den Medien und den Neuigkeiten aus den Bereichen der Philosophie, der Musik und der Literatur. Beobachtungen des Lebens auf Straßen und Kurzvignetten von Modeerschei‐ nungen vertiefen den Eindruck einer dynamischen Stadt, in der die Masse vor‐ beifliegender Bilder zu Identitätskrisen Einzelner führt. Die Identitätskrise steht im Mittelpunkt von Zschokkes ErSieEs (1986). Der Roman schildert durchaus ernstzunehmend, aber spielerisch, wissenschaftliche und bereits in den Medien aufgegriffene Diskussionen des Androgynen verwertend, die Suche der Figur „Ersiës“ nach Sinnstiftung im Leben. Der Name ist charakteristisch, denn er erfasst alle männlichen, weiblichen und sächlichen Möglichkeiten, die als un‐ haltbar entlarvt werden. Die Figur „Er“ ist enteignet, denn die patriarchalische Ordnung besteht nur noch als Illusion für Menschen, die sich scheinbar täglich bewähren und im Beruf und zu Hause erschöpfen, sich aber tatsächlich der Ge‐ genwart verschließen. Die Figur „Sie“ will sich behaupten und sucht mensch‐ liche Beziehungen, die die Gleichberechtigung aller voraussetzen. Sie stößt auf Unverständnis und leidet. Das „Es“ erfährt die völlige Verdinglichung des Lebens und erkennt, dass Menschen im alltäglichen Leben zu Objekten reduziert werden. Ersiës kann zu keinem androgynen Gefühl der völligen Harmonie im Dasein vorstoßen. Die Figur kann nur den Schmerz potenziert spüren und die 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 146 Unzulänglichkeit der Welt mit Fragen bestürmen, die nicht beantwortet werden und nicht zu beantworten sind. Eine „Schmerzunempfindlichkeit“ ist angesichts dieser Situation nicht zu erwarten. Was bleibt ist die Kakophonie der ausge‐ strahlten Reize. Thomas Hettche beschreibt in Nox (1994) eine Vielfalt von Ereignissen an einem Tag, dem Mauerfall am 9. November 1989. Hettche verwertet in seiner Beschreibung zahlreiche Details aus Augenzeugenberichten und Tagesnach‐ richten. Die Einzelheiten fangen die Aufbruchsstimmung ein, vermitteln das Gefühl fröhlicher Anarchie in einem Volksfest und erwecken den Eindruck do‐ kumentarischer Genauigkeit. Ulrich Woelk skizziert ganz ähnlich in seinem Roman Rückspiel (1993) die Maueröffnung am Brandenburger Tor. Der Ich-Er‐ zähler, ein Architekt, charakterisiert die Gefühle von Ossis und Wessis an jenem Tag. Der Fall der Mauer ist aus westlicher Sicht ein Symbol für das Ende der Unterdrückung, aus der Vogelschau der Bürger der DDR ein Signal für den Auf‐ bruch in die Konsumgesellschaft. Wie in allen zeitnahen Berichten wirken die Auffassungen aktuell, aber im Rückblick bereits überholt. Das Nachdenken über die Folgen der Wiedervereinigung tritt viel stärker in den Vordergrund in den Romanen von Brigitte Burmeister, Unter dem Namen Norma (1994), Irina Liebmann, In Berlin (1994) und in der Familiengeschichte von Jakob Hein, Vielleicht ist es sogar schön (2004). In den Erzählungen prägt die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands den Lebensrhythmus der Figuren und beeinflusst ihre Vorstellungs- und Gefühlswelt. Konkrete historische Ereig‐ nisse erscheinen in ihren Auswirkungen. Dagegen bleibt das große geschicht‐ liche Panorama im Hintergrund. Heins Chronik entwirft Bilder von Jakobs Kindheitsjahren, seiner Jugend und des Studiums mit einem Aufenthalt in Ame‐ rika. Der Erinnerungsdiskurs schließt Schilderungen der Kindheit der Mutter ein, deren jüdischer Vater in den Wirren der Nazizeit ums Leben kommt, sowie ihrer Krebserkrankung und ihres Todes. Detaillierte Einzelheiten aus dem Da‐ sein der Großmutter, die nicht nur ihre Leiden, sondern auch ihr Leben an der Seite eines überzeugten Kommunisten genießt, und Sondierungen der Einstel‐ lung zur Tagespolitik von Bekannten aus dem Umkreis der Familie beleuchten, dass sich alle mit ihrem Schicksal abfinden und an die Umstände anpassen. Die Haltung des Erzählers unterstreicht die Stimmung faktischer, klagloser Bericht‐ erstattung, welche unter anderem auch die Problematik der jüdischen Gemeinde in Berlin, die kritische Sichtung des Daseins von halbjüdischen Personen und die Krankenbehandlung durch hilflose Ärzte aufgreift. Der Erzähler sucht und findet Orientierung, ist Steuermann und zugleich Kapitän seiner nachgetra‐ genen Liebe zur Familie, die in einer positiven Gestaltung des Lebens wurzelt. 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 147 12 Uwe M. Schmidt. Die Datsche oder Wie der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Kahlow beinahe die DDR gerettet hätte. Roman. Leipzig: Reclam, 2000. 254. Uwe Schmidt fängt in seinem amüsanten Roman Die Datsche (2000) den Men‐ talitätswandel in der Einstellung zur DDR -Vergangenheit ein. Der Roman, zehn Jahre nach der Maueröffnung geschrieben, entwirft ein Bild alltäglicher Sorgen, gleichermaßen wichtiger und unwichtiger Bemühungen im Leben von DDR -Bürgern. Die festgehaltene Erinnerung an die Vergangenheit wirkt hu‐ morvoll, da sie alle negativen oder bedrohlichen Eindrücke ausklammert. Sie sind vergessen und werden durch positive Erfahrungen ersetzt. Die Hauptfigur, Ewald Machmann, nimmt sich vor, die Einwohner Kahlows durch eine großan‐ gelegte Kleingartenplanung fester an ihre Heimat zu binden. Die Planung der Schrebergärten im Sperrzonengebiet steht unter dem Motto: Wer im eigenen Grünen pflanzt und erntet, bleibt im Land. Die Banalisierung der sozialistischen Utopie erstreckt sich auf die Charakterisierung der Figuren. SED - und MfS-Funktionäre wirken nicht bedrohlich. Sie haben dieselben Sorgen wie alle Bürger: materiellen Wohlstand, Liebeleien, nicht ernst zu nehmende Sollerfül‐ lung und Erfolg durch Anpassung. Was Schmidt besonders gut darstellt, ist der Geist des Kleinbürgerlichen, der den Staat beherrscht. Das von oben prokla‐ mierte gesellschaftliche Interesse verflacht im Alltag zu rein persönlichen An‐ liegen. Auch die von Funktionären ständig betonte Forderung der Sicherheit, die im sozialistischen Staat den geordneten Verlauf des Lebens garantiert, mündet in die Vorstellung der Einwohner, der Staat sei eine Lebensversiche‐ rungsanstalt. Der Ausblick der Erzählung nach der Wende deutet deshalb auch die Nos‐ talgie der Eheleute Katja und Ewald Machmann. Sie sehnen sich nach den guten alten Zeiten und fragen sich, „ob die DDR nicht doch noch zu retten gewesen wäre.“ 12 Die nachdrückliche Betonung der kleinbürgerlichen Atmosphäre lässt alles ehemals Bedrohliche und Unmenschliche in Vergessenheit geraten und fängt auf diese Weise kunstvoll eine in den neuen Bundesländern verbreitete Vorstellung ein. Zugleich zeigt gerade Schmidts Erzählung, wie fremd die Ver‐ gangenheit bereits vielen Lesern ist: Das Buch endet mit Erklärungen sowie einem Glossar der gängigen DDR -Abkürzungen und Phrasen. Die von Matthias Matussek zehn Jahre nach dem Fall der Mauer im „Spiegel“ (8. 3. 1999) vorgelegte Zwischenbilanz unter dem Titel „Keine Opfer, keine Täter“ kommt zu einem Fazit, das auch die Einstellung der Figuren in Schmidts Roman charakterisiert. Matussek betont, dass in der Erinnerung vieler, besonders der Nutznießer, die DDR -Zeit beschönigt und rehabilitiert wird. Die Opfer sind vergessen. Wie schon nach dem Ende des NS -Staates werden Fragen mit dem Hinweis abge‐ 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 148 13 Herta Müller. Herztier. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994. 7. wiesen: Man muss das eben selbst erlebt haben. Die Beteiligten empfinden sich nicht als Täter, sondern als Leidtragende. Aus grundsätzlich anderer Perspektive gestaltet die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller ein Dasein unter der Diktatur, die Auswanderung und das Leben in Deutschland. In ihren Erzählungen stehen Orientierungsver‐ lust, Leiden und Fremdsein im Blickpunkt des Geschehens. Die Schilderungen der Existenznot in Ceauşescus Rumänien in Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) und Herztier (1994) sind den Darstellungen von Wolfgang Hilbig vergleichbar. Trotz einzelner Anspielungen auf die DDR wurzeln sie jedoch in der besonderen Verfassung der kommunistischen Diktatur in Rumänien. Die Erzählung Reisende auf einem Bein (1989) belegt, dass Müller eine Chronistin der Sorgen der Einwanderer in Deutschland ist, Chronistin von Einwohnern und zukünftigen Bürgern, deren Gestern nun an der deutschen Vergangenheit teilhat. Die Stileigenheiten von scharf getroffenen Vignetten mit einer lose ver‐ knüpften Handlung, die im Fuchs das Leben der Lehrerin Adina beleuchten, und alle mit dem Entwurf menschlicher Existenz im Käfig verbundenen Motive er‐ innern an Hilbig. Die Atmosphäre ist trostlos; die Augen der Menschen sind „leer“, sie leben in ständiger Angst vor Kontrollen, sei es beim Verlassen der Arbeitsstellen, in der Bahn oder selbst in der Wohnung; Arbeiter erfüllen ihr Soll in verrosteten Fabriken; ihre Finger sind vom Rost eingefärbt; Agenten der Geheimpolizei spionieren überall umher; Kinder werden bei der Erntehilfe zur Lüge erzogen; und falsche Losungen von Ehre, Arbeit und Vertrauen auf die Partei überfluten das Land. Die Erzählung endet mit der Frage, wie man die gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen wieder normalisieren kann. Herztier, ein weitgehend aus der Ich-Perspektive geschriebener Bericht der Leiden einer verlorenen Jugend in den Jahren der kommunistischen Herrschaft, schließt thematisch an Erzählungen von Ilse Aichinger (Die größere Hoffnung, 1948) und Christoph Meckel (Bockshorn, 1973) an. Die psychologisch feinfühlige Schilderung der Erfahrungen von sechs Mädchen in einem Ausbildungsheim profiliert Kontaktlosigkeit, Liebesverlust, aggressive Tendenzen, die selbst das Zusammenleben aller erschweren, die unter dem Regime leiden, und den Verlust der Fähigkeit, überhaupt sprechen zu können: „… wenn wir reden werden wir lächerlich … Mit den Wörtern im Mund zertreten wir so viel wie mit den Füßen im Gras. Aber auch mit dem Schweigen.“ 13 Die Freundinnen und Freunde der Erzählerin vertreten eine verlorene Generation. Sie versagen, während Arbei‐ terlieder und Aufrufe aus den Lautsprechern schallen. „Das Scheitern kam uns so gewöhnlich wie das Atmen vor.“ (229) Das Misstrauen untergräbt alle 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 149 14 Vgl. Astrid Erll. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stutt‐ gart: Metzler, 2005; E. Bruce Goldstein. Wahrnehmungspsychologie. Heidelberg: Spektrum, 2002; Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.). Dimensionen ästhetischer Er‐ fahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003; Ed Lein und Mike Hawrylycz. „The Genetic Geography of the Brain“, in: Scientific American 310, Nr. 4 (2014). 71-77; Hans-Joachim Markowitsch. Dem Gedächtnis auf der Spur. 2. Aufl. Darmstadt: Primus, 2005. menschlichen Beziehungen. Manche werden vom Geheimdienst geworben und bespitzeln ihre Freunde. Harmlose Bürger werden verhört und verschwinden. Auf dem Weg zur Arbeit kommen Leute „abhanden“. Die Welt erscheint im Bild eines Schlachthauses, in dem Arbeiter Blut trinken. Die Verzweiflung führt zu Selbstmorden. Lola erhängt sich im Schrank mit dem Gürtel der Erzählerin. Kurt schreibt Gedichte, wird verhört und erhängt sich. Georg flieht, stürzt sich aber in einem deutschen Übergangsheim aus dem Fenster. Edgar überlebt illusionslos wie die Erzählerin, deren Monologisieren des Berichts ihre Vereinsamung ver‐ deutlicht. Es ist konsequent, dass das Herz „vertiert“, wenn alle menschlichen Gefühle absterben. Reisende auf einem Bein (1989) schildert Ausschnitte aus dem Leben einer jungen Frau. Irene fährt ruhelos in Deutschland umher. Ihre Erinnerung umfasst unklar-unbestimmte Stationen ihres Lebens: nüchterne, kalte Zimmer, ein Über‐ gangsheim und den Grenzübertritt. Sie versucht erfolglos, einmal mit Thomas, einmal mit Franz, herzustellen. Ihr Gesuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, wird genehmigt. Da sie außer der Tatsache, dass sie sich irgendwo in Deutschland befindet, keine erkennbare Beziehung zu dem Land hat, unter‐ streicht der Bescheid die eigentümliche Gestaltung der Figur. Irene ist eine Fremde im Leben und steht der alten und neuen Heimat ebenso fremd gegenüber wie allen Menschen, denen sie begegnet. Ihr Fremdsein ist ihre existenzielle Verfassung. Ihr Sehen erfasst nicht das Wesen der Dinge. Müller schreibt: „So lebte Irene nicht in den Dingen, sondern in ihren Folgen.“ 14 Die Folgen aber sind assoziativ verknüpfte, sich ständig entziehende Vorstellungen von Möglich‐ keiten. Versucht man sie zusammenzusetzen, so entsteht weder ein Erzählzu‐ sammenhang noch ein erkennbares Bild der Gesellschaft und des Landes. Was sich ergibt, ist eine aus Elementen zusammengesetzte Atmosphäre des Dauer‐ zustandes alltäglicher Leiden in einer sinnentleerten Welt. Die Leere im Herzen, im Magen und im Blick kennzeichnet die Situation. Müller versucht, durch Aus‐ lassungen, kurze Sätze, vorübergleitende Wörter und allgemein konzentrierte Sprachfügungen den dementsprechend reduzierten Bewusstseinszustand der Figur zu deuten. Darüber hinaus wirkt sich die geistige Verfassung auf den phy‐ sischen Zustand aus. Irene leidet. Sie ist nur vorübergehend am Leben, nur vo‐ rübergehend in einer Stadt am fremden Fluss gestrandet. Sie ist eine Bewohnerin 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 150 15 Vgl. Günter Grass. Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Frankfurt a. M.: Luchterhand, 1990. Günter de Bruyn. Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996. Hans Joachim Schädlich. „Über systematische Irrtümer“ (1988), in: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze. Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin: Collo‐ quium, 1992. „mit Handgepäck“, ständig aufbruchsbereit. Die Erlösung aus der menschlichen Vereinsamung bietet wahrscheinlich nur der Tod. Die Wiedervereinigung bot die Möglichkeit zur geistigen Erneuerung, zum Bruch mit der sozialistischen Ideologie und zur kritischen Überprüfung der de‐ mokratischen Verfassung des Landes. Sie wurde zum Ausgangspunkt wider‐ sprüchlicher intellektueller Auffassungen. Und sie vermittelte der themati‐ sierten Suche nach Sinnstiftung bedeutende Impulse. Die unterschiedlichen Einstellungen sind deutlich in den Erörterungen und Diskussionen von Aug‐ stein, Bubis, Grass und Walser. 15 Interviews verdeutlichen, dass beispielsweise Christa Wolf auch nach der Wiedervereinigung weiterhin Vertrauen zu einer im Grunde positiven alternativen Gesellschaftsordnung hatte, die der DDR -Utopie entsprach. Die allgemeine Misere, die bedrückende Atmosphäre und das ständige Hin und Her zwischen Anpassung und Auflehnung in der DDR -Zeit wird überzeu‐ gend von Erich Loest in seinem Lebensbericht Der Zorn des Schafes (1990) do‐ kumentiert. Die Chronik verzeichnet nach kurzem Rückblick auf die Jugend und seine Inhaftierung von 1957 bis 1964 in der Strafanstalt Bautzen die täglichen Sorgen eines Schriftstellers, dessen zugkräftige Unterhaltungsromane (Der grüne Zettel, 1967; Das Waffenkarussell, 1968; Noch weit bis Ithaka, 1974; Swallow, mein wackrer Mustang, 1980) in hohen Auflagen erschienen. Seine Versuche, sich kritisch mit dem Leben in der DDR auseinanderzusetzen, stoßen bei den Lektoren nur auf Ablehnung. Von den ständigen Querelen ermüdet, siedelt Loest nach dem Westen über, wo er schließlich seinen eigenen Verlag gründet, da die Lektoren westdeutscher Verlage kein Interesse an seinen Texten haben. Die Schilderung, die unter anderem viele treffende Beobachtungen über andere Au‐ toren in Ost und West enthält, erfasst besonders eindrucksvoll die Aufreibung der Menschen in einem System, das jedem misstraut. Ärger, ständiger Verdruss, Zorn und Hass entspringen der dauernden Bespitzelung und Überwachung, die zum Staatsanliegen geworden sind. Die Jahre in der DDR hinterlassen tiefe Spuren: Wie viele seiner Zeitgenossen kann Loest seine Stasi-Akte nicht ver‐ gessen. Was bleibt ist ein Land, eine Sprache, eine Jugend, die in die Zukunft blickt, und eine Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinredet, besonders wenn die Welt die Deutschen zurechtweisen will. Annalen, Chroniken, Zeitgeschichten 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 151 16 Botho Strauß. Schlußchor. Drei Akte. München: Hanser, 1991. 29. werden abgeschlossen. Die Bestandsaufnahme der deutschen Geschichte lebt zeitlos gegenwärtig im Bühnenbild von Botho Strauß. Das Stück Schlußchor (1991) verbindet in drei Akten ausgeprägte Bühnenbilder, unmissverständliche Ereignisse, die Musik Beethovens und seiner Vertonung von Schillers „An die Freude“ im Schlusschor der Neunten Symphonie. Im Gegensatz zu Beethoven setzt sich die Stimme durch, erzeugt jedoch im Durcheinandersprechen, Vor-sich-hin-reden und Singen einen Chor des Stimmenreichtums von Men‐ schen, die keinen förderlichen Dialog herstellen können. Im ersten Akt sind fünfzehn Frauen und Männer auf vier steilen Stufen zum Gruppenbild aufge‐ reiht; im Vordergrund sind drei Fotoapparate; die Bewegungsfreiheit ist be‐ grenzt; die Kommunikation besteht aus Sätzen, „zusammengeflickten“ Inkon‐ sequenzen, symbolischen Andeutungen („Zuviel Vorfreude verdirbt das Wiedersehen“, „Ein Gerücht geht um“), Hinweisen auf Vorurteile von Ossis und Wessis und Aufrufen. Die Figur M 8 brüllt plötzlich: „Deutschland! “ Befehle werden vom Fotografen willenlos befolgt. Laute Aufrufe im Kommandostil: „Ernst! Sorge! Umsicht! Deutschland! Knien! “ vertiefen den Eindruck unbewäl‐ tigter Vergangenheit. 16 Der zweite Akt („Lorenz vor dem Spiegel“) schildert ge‐ störte, ausweglose zwischenmenschliche Beziehungen und endet im Selbst‐ mord. Lorenz stülpt seinen Hut vor das Gesicht und erschießt sich. Die Handlung im dritten Akt („Von nun an“) findet in einem kleinen Restaurant statt und endet im Zoo. Die Figuren unterhalten sich. Plötzlich reißt der „Rufer“ die Tür auf, schreit „Deutschland“ und verschwindet. Der Wirt kommt und bemerkt, dass heute die Grenze geöffnet werden soll. Er glaubt jedoch nicht daran und findet, alle „sind restlos durcheinander“ (73). Die bisher ruhige Unterhaltung von Anita mit ihrer Mutter wird laut und führt zu einer erregten Auseinandersetzung, in der Anita die Mutter an die NS -Zeit erinnert und mit ihr abrechnet. Die Ver‐ gangenheit wird zur Keule. Im Zoo befreit eine Frau den deutschen Steinadler, der so geschwächt ist, dass er nicht fliegen kann. Anita kommt und zerreißt ihn. Der Chor ist abgetreten. Die Mauer ist gefallen. Was bleibt, ist die Fesselung des kollektiven Denkens an die immer gegenwärtige Vergangenheit und der Aufruf, Deutschland zu bejahen. Die in diesem Kapitel besprochenen Chroniken des Lebens vor, in und nach der NS -Zeit und der Wiedervereinigung, in denen die Zeitgeschichte im Brenn‐ punkt des Geschehens steht, bilden ihre eigene ausgeprägte Kunstrichtung. Au‐ ßerdem wird die Tendenz, authentische oder authentisch anmutende Doku‐ mentationen aus der Vergangenheit in Erzählungen einzuarbeiten, zu einer markanten Stileigenheit in Schilderungen der Selbstverwirklichung und der Er‐ 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 152 kundung sowohl ungelöster Fragen des Zeitgeschehens als auch zwischen‐ menschlicher Beziehungen. Die Bestandsaufnahmen in den Zeitromanen er‐ heben den Anspruch auf Authentizität durch die Verwendung von Quellen, Berichten von Augenzeugen, die Dokumentation von faktisch belegten Ereig‐ nissen und Hinweisen auf bekannte Orte, Personen, Landschaften und Bege‐ benheiten. Einzelne dem Lesepublikum vertraute Abschnitte und berichtete Ereignisse sind auf den Erfahrungshorizont einer Generation ausgerichtet und rechnen mit Zustimmung. Die Erzähltechnik der Berichterstattung setzt sich durch in der dokumentarischen Protokoll-Literatur und Romanen des Neben- und Nacheinander, in denen aufeinanderfolgende Szenen und Geschichten mit einzelnen Figuren und Familien verknüpft sind und einen historischen Über‐ blick bieten. Sie erweckt den Eindruck, die Dokumentation biete die Vorausset‐ zung objektiver Darstellung und vermittele anhand von Fakten aus Familien‐ geschichten, Anspielungen auf das Intime und Persönliche und Hinweisen auf das historische Geschehen eine objektive Darstellung. Der Eindruck eines ka‐ leidoskopischen Zeitbildes wird verstärkt durch Stimmen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten und Fakten, die archivalisch die Namen einzelner Ak‐ teure, einzelne Details, Rundfunknachrichten, Ausschnitte aus Reden oder Be‐ kanntmachungen erfassen. Die Berichte, Erzählungen und Stücke verzeichnen individuelle und gesellschaftliche Fragen, beobachten wie sich Einzelne in der Auseinandersetzung, in Anpassung und in Widerstand entwickeln, schildern gesellschaftliche Zustände, prüfen den Zeitgeist, lassen die Einstellung zu his‐ torischen Prozessen zu Wort kommen, und weisen hin auf Grundformen des Denkens. Sie klammern weitgehend die bewusst kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus. Diese Erzähltechnik divergiert grundsätzlich von der Haltung, die beispiels‐ weise Monika Maron, Hanns-Josef Ortheil und Günter Grass in ihren Erinne‐ rungsdiskursen einnehmen. In ihren Erzählungen setzen sich Erzähler und Er‐ zählerinnen mit den von ihnen recherchierten oder berichteten Einzelheiten rückschauend auseinander. Sie bezweifeln das Geschehen, denken nach, be‐ richten und mutmaßen. Sie versuchen, das scheinbar Unfassbare zu deuten. Ihre Ortung steht unter den Vorzeichen: ich frage mich, ich stelle mir vor, ich kann es nicht begreifen, ich krebse herum. Diese Erinnerungsdiskurse führen zur Verunsicherung im Blick auf geschichtliche Überlieferungen. Sie rufen das Pub‐ likum zur Stellungnahme und zum Nachdenken auf. 5. Deutsche Chronik. Deutsches Schicksal 153 1 Friedrich Nietzsche. Vom Nutzen und Nachteil der Historie, in: Werke in drei Bänden. Hg. Karl Schlechta. München: Hanser, 1954. Bd. 1. 221. 6. Rückgriffe auf die Antike Zahlreiche Darstellungen, Bewertungen und Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeschehen seit der Weimarer Republik greifen Figuren, Ereignisse und my‐ thisch gedeutete Stoffe, Themen und Motive aus der Antike auf. Das betrifft sowohl Nachdichtungen, Neuschöpfungen und Wiederbelebungen als auch Ver‐ suche, Figuren wie etwa Galatea, Kassandra, Laokoon, Odysseus, Medea, Me‐ dusa, Pasiphae, die Mutter des Minotaurus, und Priapos auf die Gegenwart zu beziehen und umzudeuten. Die Antike lebt auf in direkten und verhüllten An‐ spielungen auf Ereignisse in griechischen Epen und Tragödien. Sie ist außerdem stark ausgeprägt in Auslegungen der menschlichen Gegenwartssituation im Spiegel der Vergangenheit. Durchaus unterschiedlich im Entwurf, aber glei‐ chermaßen anspruchsvoll sind fiktive Darlegungen der Vergangenheit in alter‐ nativen historischen Prozessen, die denkbar erscheinen. Diese Texte sind in Konzeption und Ausführung grundsätzlich verschieden von den historischen Romanen, die in den letzten Jahrzehnten den Buchmarkt überschwemmten. Im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit im Spiegel der Antike oder in Visionen historisch möglicher Verläufe, die von Lesern Stellungnahme zum Hier und Jetzt fordern, bieten die historischen Ro‐ mane Halt in den leicht überschaubaren Strukturen versunkener Welten. Ro‐ manzen, Romanbiographien, Mittelalter-Romane, Ägypten, Troja, Hannibal, Pi‐ latus, Alexander sowie Figuren und Orte weit weg vom Alltag bieten Unterhaltung und versuchen außerdem das Wissen zu bereichern. Autoren wie etwa Gisbert Haefs, John Cornwell oder Christian Jacq und Autorinnen wie Anne Bernet, Renate Feyl und Christine Dorsey verfassen Bestseller, die scheinbar das Leben im Alltag erleichtern. Friedrich Nietzsche stellte zu dem Phänomen fest: „Wodurch aber nützt dem Gegenwärtigen die monumentalische Betrachtung der Vergangenheit, die Beschäftigung mit dem Klassischen und Seltenen früherer Zeiten? Er entnimmt daraus, daß das Große, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal mög‐ lich sein wird; er geht mutiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen.“ 1 Gemeinsam ist allen Annäherungen an Geschichte und Ortungen der Ver‐ gangenheit der Anspruch realistisch authentischer Gestaltung. Die Forderung, authentisch zu berichten, ist besonders ausgeprägt in der Dokumentarliteratur, der Berichterstattung, in der entweder Protokolle oder faktisch belegbare Ein‐ zelheiten aus der im Rahmen des Buches erfassten Zeitspanne festgehalten werden, und den fiktiven Erlebnisberichten in Biographien. Die Verwertung von historischen Zeugnissen und Unterlagen in geschichtlich verankerten Gestal‐ tungen behält sicherlich den konkreten Informationswert der Quellen bei, ver‐ ändert jedoch deren Bedeutung im Textzusammenhang. Jeder Text ist ein wie auch immer geformtes, gestaltetes Ganzes, selbst dann, wenn er keinen An‐ spruch auf ästhetische Geschlossenheit macht. Texte unterliegen dem Prinzip der Auswahl im Hinblick auf die angestrebte Mitteilung. Darüber hinaus er‐ heben die Erzählungen den Anspruch, mehr zu sein als ein Steinbruch historisch belegbarer Einzelheiten. Dieser Anspruch ist sicherlich erfüllbar, wenn sich in den Schriften eine bewusste geistige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anbahnt, die sich auf die Leser überträgt. Leser stellen Verbindungen her, ver‐ folgen Anfang, Entwicklung und Ende, füllen Leerstellen mit eigenen Erfah‐ rungen und suchen nach Sinngebungen. Wissenschaftliche, literaturkritische Überlegungen, die zur Frage der Authentizität in literarischen Texten Stellung nehmen, weisen immer wieder darauf hin, dass literarische Texte zwar den Schein einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit vermitteln können, jedoch weder „Wirklichkeitsgehalt“ haben noch der Wirklichkeit gleichzusetzen sind. Auch in den eingehenden Realismusdiskussionen der fünfziger Jahre und den Auseinandersetzungen mit den wegweisenden Vorschlägen von Brecht, Lukács und Adorno setzt sich die Überzeugung durch, die Wirklichkeit sei wider‐ spruchsvoll und lasse unterschiedliche Perspektiven zu. Die Literatur soll nicht oberflächliche Erscheinungen festhalten, sondern aus der Vielfalt der Erschei‐ nungen im Dasein die Totalität formgebender Kräfte erfassen und exemplarisch gestalten. Dieser Ansatz bedingt die Vorstellung, die Literatur vergegenwärtige den Verlust individueller Entscheidungsfreiheit in der historisch bedingten Sphäre zunehmender Verdinglichung und Standardisierung menschlicher Be‐ ziehungen. Außerdem wurden Zweifel über die Vorstellung angemeldet, die äs‐ thetische Geschlossenheit der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts belege die authentische Stimmlage der Autoren oder verbürge die Authentizität allwis‐ sender Erzähler. Die Vorbehalte, die besonders realistische Erzählverfahren und Protokoll-Literatur betreffen, betonen, dass literarische Werke, selbst wenn sie die Illusion absoluter Wirklichkeitstreue anstreben, immer inszeniert sind. Diese 6. Rückgriffe auf die Antike 155 2 Vgl. dazu Lessing. Hamburgische Dramaturgie; Goethe, „Über Wahrheit und Wahr‐ scheinlichkeit der Kunstwerke“, Goethe-Schiller-Briefwechsel; literarhistorische und theoretische Untersuchungen stützen sich weitgehend auf die wegweisenden Überle‐ gungen von Lionel Trilling. Sincerity and Authenticity. The Charles Eliot Norton Lectures, 1969-1970. Cambridge, MA: Harvard UP, 1972; Charles Taylor. The Ethics of Authenti‐ city. Cambridge, MA: Harvard UP, 1992 und Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Ed. G. Adorno, R. Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993. Die Darstellung von Regina Bendix. In Search for Authenticity. The Formation of Folklore Studies. Madison: University of Wisconsin Press, 1997 enthält einen Forschungsbericht. Wesentliche Hin‐ weise auf erzähltechnische Verfahren enthalten die Untersuchungen von Kurt Batt. Die Exekution des Erzählers. Westdeutsche Romane zwischen 1968 und 1972. Frankfurt a. M.: Fischer, 1974; Michael Bernard-Donals. „Beyond the Question of Authenticity: Witness and Testimony in the Fragments Controversy“, in: PMLA 116 (2001), 1302-1315 [zur Frage von Erinnerung und Authentizität]; Peter Bürger. Prosa der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992; Umberto Eco. Die Grenzen der Interpretation. München: DTV, 1994; ders. Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München: Hanser, 1994; Nikolaus Förster. Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999; Klaus Grubmüller u. Klaus Weimar. „Authentizität“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin: De Gruyter, 1997. 1. 168 ff.; Volker Hage. Die Wiederkehr des Erzählers. Frankfurt a. M.: Ullstein, 1982; Dominick LaCapra. History and Memory after Auschwitz. Ithaca: Cornell UP, 1998 und ders. Representing the Holocaust: History, Theory, Trauma. Ithaca: Cornell UP, 1994; Jean-François Lyotard. Das postmoderne Wissen. Wien: Ed. Passagen, 1999; Gottfried Willems. Anschaulichkeit. Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Bezie‐ hungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen: Niemeyer, 1989 und Rainer Emig, „Augen / Zeugen. Kriegserlebnis, Bild, Metapher, Legende“, in: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Hg. Thomas F. Schneider, 3 Bde. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg. Os‐ nabrück: Universitätsverlag, 1999. 15-24; Thomas Epple. „Phantasie contra Realität - eine Untersuchung zur zentralen Thematik in Christoph Ransmayrs ‚Die letzte Welt‘“, in: Literatur für Leser 13 / 14 (1990). 29-43; Herbert Kaiser, Gerhard Köpf (Hg.). Erzählen, Erinnern: Deutsche Prosa der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Fischer, 1992; Reinhart Kos‐ selleck. „Kriegerdenkmale als Identitätsstiftung der Überlebenden“, in: Odo Marquard und Karlheinz Stierle (Hg.). Identität, Poetik und Hermeneutik 8. München: Fink, 1979, 255-276; und besonders die übersichtliche Darstellung von Jutta Schlich. Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte (Konzepte der Sprach- und Literaturwissen‐ schaft, 62). Tübingen: Niemeyer, 2002. Einwände sind nicht neu. Sie schließen an Beobachtungen an, die bereits in den Schriften Lessings, Goethes und Schillers nachweisbar sind. 2 Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich bei den Rückgriffen auf die Antike nicht nur um Anschluss und Erneuerung einer Tradition handelt. Stattdessen dient das historische Kolorit dazu, in symbolisch mythischen Hand‐ lungsräumen gegenwärtige politische und gesellschaftliche Krisen in der Form existenzieller Entscheidungen zu gestalten. Im Handeln, Zögern und Unter‐ lassen einzelner Figuren und in ihrer Krisensensibilität, Erfahrungssuche und Selbstanalyse zeichnet sich die konsequente Umdeutung einer Grundform des 6. Rückgriffe auf die Antike 156 historischen Bewusstseins ab, das ursprünglich geschichtliche Prozesse als Folgen menschlicher Taten und zeitlose Normen im Gewand des Göttlichen in sich aufnahm und im Mythos widerspiegelte. In der griechisch-römischen Tra‐ dition liegen Personen und Götter, Identitätsverständnis und Deutungen des Andersseins der Vorstellungswelt der Figuren ihrem Handeln oder Nichthan‐ deln zugrunde und sind von ausschlaggebender Bedeutung für den Aufbau der Handlung und die Organisation der Texte. Der menschlichen Identität zuge‐ ordnet ist die Freiheit und gleichermaßen die Unfreiheit des Willens: Die Frei‐ heit, denkend an einer Sinnstiftung des Daseins mitzuwirken, die Unfreiheit, sich im Handeln und Unterlassen den in historischem Verlauf wechselnden, zeitbedingten und konkret zweckbezogenen Vorstellungen anzupassen. Dem Anderssein zugeordnet ist ein Prinzip der sittlichen Ordnung und möglichen Vollkommenheit. Es ist in den Anfängen ein Produkt der Phantasie, in der Antike der Inbegriff des Göttlichen und zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Entwurf der reinen Vernunft. Es schließt in dieser Deutung die höchste Willensfreiheit ein, entspricht Kants Prinzip der sittlichen Vollkommenheit und ist somit nicht his‐ torisch ableitbar. Dagegen schildert das mit der Identität verknüpfte Geschehen Menschen im geschichtlichen Prozess. Die Deutung des Andersseins wurzelte ursprünglich im Bereich der Metamorphosen und in Urbildern des Göttlichen. Das Göttliche stand außerhalb der menschlichen Geschichte. Einzelne Götter und Göttinnen dagegen, unterschiedlichen menschlichen Seinskreisen wie etwa der Jagd, dem Krieg, der Seefahrt, der Liebe zugeordnet, nehmen das historisch ablaufende Geschehen auf. Sie werden einbezogen und teilen menschliche Ei‐ genschaften. Ihr Kampf im 21. Gesang der Ilias erhöht und steigert das Ge‐ schehen. Aber letztlich ziehen sie sich doch zurück. Was bleibt sind menschliche Wirren, die Folgen des Handelns und der Unterlassungen. Was nachdenklich stimmt, ist Athenas Mahnung im 5. Gesang. Sie sagt Deomides, dass sie den Nebel, der seinen Blick trübte, hinweg nahm, damit er die Götter erkenne und von Menschen unterscheide. Zu unterscheiden sind Götter, die auf Abruf an historisch bedingten Ereignissen teilnehmen, und der lachende Zeus, der au‐ ßergeschichtlich über dem Handeln steht, die eifersüchtige Hera und Hera, die Göttin, die göttliche Norm und die göttliche Komödie. Tiefer Ernst der Sinn‐ stiftung und Spiel mit dem Göttlichen gehören zum umfassenden Bild der An‐ tike. Beide Aspekte werden in der literarischen Tradition bis in die Gegenwart wirksam. Meine Bestimmung des Andersseins sowie der Aneignung und zu‐ gleich bedeutungsvollen Umwertung einer primären Denkform, in der sich das historische Bewusstsein spiegelt, ist den Deutungen von Ernst Cassirer (Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1956) und Karl Kerény („Die Götter 6. Rückgriffe auf die Antike 157 3 Zum Thema vgl. besonders Ioana Craciun-Fischer. Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Niemeyer, 2000. Von der reich‐ haltigen Sekundärliteratur über allgemeine Tendenzen der Gegenwartsliteratur, die auch die Rückgriffe auf die Antike berücksichtigen, sind die folgenden Darstellungen besonders hilfreich: Thomas Koebner (Hg.). Tendenzen der deutschen Gegenwartslite‐ ratur. Stuttgart: Kröner, 2. Aufl. 1984; Richard Schenkel. Fortschritts- und Modernitäts‐ kritik in der DDR-Literatur. Tübingen: Stauffenburg, 1995; Ralf Schnell. Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart: Metzler, 1993. und die Weltgeschichte“, in: ders. Geistiger Weg Europas. Zürich 1955) ver‐ pflichtet. 3 Eine Entwicklungslinie, derb, erotisch, oft von geradezu plastischer Sinnlichkeit, schöpft aus der Welt des dionysischen Kults, aus Paradiesvorstel‐ lungen, Ovid, Apuleius und besonders Szenen, in denen Götter und Göttinnen allzu menschliche Eigenschaften bekunden. Die andere, Rückbesinnung und zugleich kritische Befragung, stellt die Dialektik von Identitätsverständnis und Anderssein in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vereinzelte Hinweise lassen die Folgerung zu, dass die Gegenwartsliteratur damit an Fragestellungen der Goe‐ thezeit anknüpft. Die Dialektik wird sicherlich deutlich in der Dichtung Schillers und Hölderlins und ist besonders stark ausgeprägt in Goethes Iphigenie auf Tauris (1779). In Goethes Neugestaltung des antiken Stoffes bekennt sich Iphi‐ genie zum Haus der Atriden (I,3). Sie warnt Thoas: „Ich bin aus Tantalus’ Ge‐ schlecht“, schildert kurz die Taten der Ahnen und betont, dass ihr Geschlecht vom Fluch der Götter verfolgt wurde. Sie weicht der Antwort aus, als Thoas fragt: „Trug es die Schuld des Ahnherrn oder eigene? “ Der vierte Aufzug ver‐ gegenwärtigt die zunehmende Verunsicherung ihres Selbstverständnisses. Be‐ sonders die von Pylades genährten Zweifel an ihrem Handeln drohen sie zu überwältigen. Iphigenie singt das „Parzenlied“, sechs Strophen, die das Zeitlose, Undeutbare und Unberechenbare der Götter betonen ( IV ,5). Ihr Entschluss, frei zu handeln, und die Lösung des Schauspiels belegen jedoch sowohl eine Neu‐ deutung ihres Identitätsverständnisses als auch des göttlichen Andersseins. Iphigenie löst sich aus der deterministischen Bindung an Schicksalsmächte. Sie handelt frei im historischen Augenblick. Das Göttliche bleibt bewahrt als Norm, wird jedoch in den historischen Prozess einbezogen. Das Anderssein wird dy‐ namisch. Es ruft jeden Einzelnen auf, zur Klärung der Idee des Göttlichen bei‐ zutragen und neue, sinnvolle Deutungen in der Gestaltung von Daseinskrisen anzustreben. Diese Tradition besteht einerseits in zahlreichen Werken der Literatur seit den achtziger Jahren fort, andererseits vollzieht sich eine radikale Umwertung der Denkform. Die veränderte Deutung des Andersseins klingt an in Neben‐ tönen, Nuancen und hintergründiger Information in Stücken von Peter Hacks, Heiner Müller und Stefan Schütz, die antike Stoffe aktuell auf die Gegenwart 6. Rückgriffe auf die Antike 158 4 Peter Hacks. Amphitryon. In: Vier Komödien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971. 214. Siehe ferner PeterHacks. Der Frieden, nach Aristophanes (1962) und Die Schöne Helena (1964) beziehen. Sie ist gegenwärtig in der Montage, im Kommentar, in Zitaten, aber auch wie etwa in den Erzählungen von Thomas Brasch und Wolfgang Hilbig in unvermittelt anklingenden Hinweisen auf Apoll, Ödipus und Kassandra. Das Anderssein wird zu einem Modell für fehlgegangene Entwicklungen. Die Götter hatten einen schlechten Tag. Für Grass verbog Gott die Sicherheitsnadel bei der Schöpfung zur Waffe. Die Menschen spielen seitdem Kain und Abel und haben nichts aus der Geschichte gelernt (s. o. Kap. 3.1., S. 83). Der Vorgang ist umfas‐ send und schließt eine Vielfalt der Darstellungen ein. Das Bewusstsein der Krise findet ein angemessenes Erzählverfahren in der systematischen Verwendung von Inversionen, die häufig nur einen Anknüp‐ fungspunkt haben, und im Herausarbeiten der mit den Figurenkonzeptionen verknüpften Motivik der Verblendung, der Kontrastierung von Freiheit und Un‐ freiheit des Handelns, der Isolierung, des Herumirrens im Labyrinth und deter‐ miniert ablaufender Prozesse. Was sich durchsetzt, sind Gestaltungen von his‐ torischen Endphasen, aus denen kein Weg führt, und entweder Metamorphosen in atavistische Sphären oder eine chimärische Welt, in der Figuren in der arti‐ fiziellen Wirklichkeit der Monitore untertauchen. Der Mythos besteht fort. Aber die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nimmt außerdem eine neue Form an. Nicht die Geschichte, sondern die Auswirkung des Zweiten Welt‐ krieges auf Gesellschaft, Politik und Leben im geteilten und vereinten Land steht im Schnittpunkt der Betrachtung. Diese Art des Umgangs mit Mythos und Geschichte ist deutlich ausgeprägt im Schaffen von Peter Hacks. In Amphitryon (1968) fragt sich Merkur, ob das Göttliche im Gewand des Menschen überhaupt seine innerste Substanz be‐ wahren könne. Nachdem Jupiter, immer wieder von den „Menschinnen“ ange‐ zogen, als Amphitryon auftritt, bezweifelt Merkur die Verwandlung und besteht darauf, dass das Wesen des Göttlichen auch in der neuen Gestalt erhalten sei. Daraufhin wird Jupiter völlig zum Menschen: „Jedes / Organ an mir ist wie Am‐ phitryons.“ Merkur ist nach nochmaligem Vorbehalt überzeugt: „Mehr kann kein Gott, sich zu entgotten, tun.“ 4 Er ist jedoch von dem Rollentausch tief beunruhigt, weil er die Grenzen zwischen Menschen und göttlichem Anderssein aufhebt. „Wir Götter, mein ich, sollten auf uns halten / Und nicht durch Lust an niederen Vergnügen / Ein Niedres in uns ahnen lassen, das / Unsrer Natur nach, nicht in uns sein kann.“ (223) Der Verlauf der Handlung belegt jedoch, dass Jupiter im Übermaß seiner Liebe und seiner bedingungslosen Hingabe an Alkmene ein in Amphitryon schlummerndes und von seinen Herrschaftsansprüchen ver‐ 6. Rückgriffe auf die Antike 159 5 Peter Hacks. Jona. Ein Trauerspiel in fünf Akten. Berlin: Aufbau, 1989. 82-83. drängtes Gefühl göttlich erhöht. Der göttliche Eingriff ermöglicht die Entwick‐ lung der im Keim vorhandenen Anlagen des Menschen. Amphitryon verändert sich und bricht mit der Konvention. In Jona (1989) dagegen muss der Einzelne seine Entscheidung ohne göttliche Hilfe treffen. Jona gesteht im 5. Akt den wahren Grund seiner Anwesenheit in Ninive. Er soll die Einwohner nicht be‐ obachten, sondern ein Urteil fällen. Jona erinnert sich an seine Vorbehalte und sein Gespräch mit Gott. „Schicken Sie einen anderen, sagte ich, mir liegt das Verurteilen nicht, mir liegen Einsicht, Verständnis, Entschuldigung mit Um‐ ständen. Eben weil Sie der Besonnenste sind, sagte Gott … schicke ich Sie; mir selbst nämlich, wenn ich einen Blick auf dieses Ninive werfe, zuckt es in den Fingern, und ich brauche einen, der mich vor Unbedachtsamkeiten zurückhält. Wenn es Ihnen in den Fingern zuckt, sagte ich, ich sehe lieber durch alle fünfe, wenn Sie Ninive verwerfen wollen, nehmen Sie einen Kollegen. Ich will Ninive keinesfalls verwerfen, sagte Gott, Sie sollen es verwerfen.“ 5 Gott verlangt von Jona selbständiges Handeln. Er muss prüfen und wägen und versuchen, sein Urteil in Einklang mit seiner Vorstellung des Göttlichen zu bringen. In der Einstellung der Autoren und Autorinnen zur Gegenwart und der Ge‐ staltung von zukünftigen gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen zeichnen sich markante Unterschiede ab. Die Gegenwart ist eine Zeit des Um‐ bruchs, des Aufbaus gewaltiger wirtschaftsbürokratischer Apparate und des Ausbaus eines globalen, einen jeden Einzelnen berührenden Kommunikations‐ netzes. Die moderne Gesellschaft schließt viel Unvereinbares ein: vorbeiflie‐ gende Reportagen aus allen Ländern und die ungeschichtliche Welt des Inter‐ nets, Fortschrittsoptimismus und soziale Missstände, eine Unmenge von Information und innere Unentschlossenheit, nachweisbare Schädigung von Menschen und indirekte Gefährdungen, Identitätskrisen, Lebensangst und ein allgemeines Unbehagen an der Zivilisation. Verbindlich für die meisten Dar‐ stellungen sind der Widerstand gegen die inhumane Welt, die Wendung zur existenziellen Notlage und die Besinnung auf unerfüllte Ziele vorausgegangener Reformbestrebungen. Die Zukunft hat keineswegs klare Konturen. Aus einer Perspektive verspricht sie die Existenz in einer absurden Komödie. Die griechischen Heroen weisen die Richtung durch ihre allzu menschlichen Schwächen, ihr abwegiges Verhalten und ihre Eigenschaften, die zur Kritik auffordern. Aus der gegensätzlichen Sicht erscheint die Zukunft als Tragödie, Apokalypse oder als „Endknall“ einer Kette tragischer Verschuldung. Darüber hinaus lässt sich in einigen Texten die Vor‐ stellung nachweisen, dass die Zukunft für die Gesellschaft wahrscheinlich mo‐ 6. Rückgriffe auf die Antike 160 6 Stefan Schütz. Die Bakchen. In: Wer von euch. Stücke nach der Antike. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1992. 228. Der Band enthält sämtliche Stücke, in denen Schütz mit antiken Stoffen das Zeitgeschehen kommentiert: Odysseus’ Heimkehr (1972); Die Amazonen (1974); Laokoon (1979); Spectacle Cressida (1984); Die Bakchen nach Euripides (1987); Orestobsession (1989); Wer von euch. Ein Satyrspiel (1992). 7 Ernst Jünger. Eumeswill. Stuttgart: Klett-Cotta, 1977. 27. dische Einkleidung alter Missstände, für einzelne Menschen sicherlich nur einen kurzfristigen Aufenthalt im Vorzimmer des Todes bereithält. „Das Leben ist wie eine Grube Schlangen, / Es lebe der Zufall, der Tod ist sicher, / Die Freuden muß man sich selbst verschaffen“. 6 Zahlreiche Betrachtungsweisen artikulieren ra‐ dikale Existenzzweifel und die Verunsicherung des historischen Bewusstseins. Für markante Tendenzen im Verhältnis zur Antike sind Grundrisse von Ernst Jünger, Christoph Ransmayr und Karl Krolow besonders aufschlussreich. Sie verknüpfen Stiltendenzen der Postmoderne (Auflösung des zentralen Organi‐ sationsprinzips eines Textes, Ersatz eines einheitlichen Deutungsmusters durch ständig wechselnde Angebote möglicher Erklärungen, Auflösung einer zuver‐ lässigen, allgemein anerkannten Darlegung der Vergangenheit) mit einer Denk‐ form, die wissenschaftliche Erklärungen der Geschichte durch eine mythische oder dem Märchen verpflichtete ersetzt. Ernst Jüngers Roman Eumeswill (1977) schildert, autobiographisch einge‐ kleidet, wesentliche Aspekte des Lebens eines Einzelnen, die zugleich übergrei‐ fende historische Zusammenhänge verdeutlichen sollen. Der Erzähler, Martin (Manuel) Venator, stellt sich als Nachtsteward und Historiker vor. Er durch‐ forscht die Vergangenheit und spürt zugleich wie ein Detektiv den Tendenzen seiner Zeit nach. Er beobachtet die Umwelt, die Gesellschaft, das Staatswesen und Condor, den regierenden Tyrannen. Seine dokumentarische Genauigkeit hält alles fest, bezieht jedoch jede Beobachtung auf die vorausgegangene Menschheitsgeschichte und versucht, aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse die objektive Struktur historischer Prozesse zu erkennen. Venator glaubt, dass in vergangenen Zeiten ein Maßstab der Vollkommenheit bestanden habe und, wenn auch kaum spürbar, weiterhin bestehe: „Der Verlust des Vollkommenen kann nur empfunden werden, wenn Vollkommenes besteht. Ihm gilt der Hin‐ weis, das Zittern der Feder in der Hand. Die Kompaßnadel zittert, weil ein Pol existiert.“ 7 Sein historisches Studium entspringt somit dem Ungenügen am Hier und Jetzt. Venators Beobachtungen belegen allgemeine Missstände und persönliche Defizite, „Götterfeindschaft“ und „Selbstkritik“. Die Staatsorgane überwachen die Bevölkerung und verhindern jede freie Meinungsbildung. Der geheime Staatsdienst, der Gestapo oder Stasi vergleichbar, verwendet Wahrheitsdrogen, 6. Rückgriffe auf die Antike 161 um auch die innersten Gedanken der Regierten zu erforschen. Venator ver‐ heimlicht deshalb seine Dokumentation und verwahrt sie in einem in undurch‐ dringlicher Wildnis gebauten Bunker, der in Vergessenheit geraten ist. (312) Die Regierung gesteht den Einzelnen nur so viel individuelle Selbstbestimmung zu, als der staatlich geleitete Arbeitsprozess verlangt. Die Menschen fügen sich in die Gegebenheiten und orientieren sich an einer wechselnden Situationsethik: „die historische Substanz ist verbraucht. Man nimmt nichts mehr ernst außer den groben Genüssen und dem, was der Alltag verlangt.“ (66) Venators Be‐ standsaufnahme entwickelt ständige Vergleiche, setzt sich mit Ideologien aus‐ einander und spürt den Gründen nach, die zum Verlust des historischen Be‐ wusstseins führten. Venator glaubt, dass sowohl die Regierenden als auch die Regierten dafür verantwortlich sind. Die Tyrannen sind selbstsüchtig; ihre Ziel‐ setzung, von Jünger im Symbol der Jagd gedeutet - „Die Jagd … erfaßt das Wesen der Herrschaft nicht nur symbolisch, sondern auch rituell, durch das vergossene Blut, das die Sonne bescheint“ (16) - erschöpft sich in der Erhaltung der Macht. Wo das Volk den Ausschlag gibt, kommen falsche Führer an die Macht. Die Freiheit schlägt wieder in die Diktatur oder die Anarchie um. Auslegungen der Geschichte halten diese Tendenz fest: „In der Geschichtsbetrachtung lösen sich vor allem zwei Perspektiven ab, von denen die eine auf Männer, die andere auf Mächte ausgerichtet ist. Das entspricht auch einem Rhythmus in der Politik. Hier Monarchien, Oligarchien, Diktaturen, die Tyrannis - dort Demokratien, Republiken, der Ochlos, die Anarchie.“ (30) Venators ausgeprägt individualistische Lösung des Dilemmas ist der Sprung in die Ungeschichtlichkeit. Er bekennt sich zu der im Innersten eines Menschen schlummernden Substanz des „Anarchischen“, die zwar den meisten Trägern „unbewußt“ bleibt, aber die Quelle der ursprünglichen, normalen und absoluten Selbstbehauptung des Willens ist. Er beansprucht für sich die Freiheit eines Anarchisten, der „positiven Entsprechung“ eines Anarchisten, denn der Anarch lehnt jede Planung ab, will keine revolutionäre Veränderung, sinnt nicht auf die Beseitigung von Tyrannen sondern beherrscht nur sich allein. Das gibt ihm ein objektives, auch skeptisches Verhältnis zur Macht; er kann abwarten. „Er hat sein Ethos, aber nicht Moral. Er erkennt das Recht, doch nicht das Gesetz an; er verachtet die Vorschriften.“ (237) Wie hoch auch der Erzähler diese Haltung bewertet, sie verbleicht vor der halb bewussten, halb unbewussten träumerischen Annäherung Venators an die Märchenwelt, die bereits vor den Götter- und Heroenmythen existierte, eine Welt, vor der die Wirklichkeit zum Schein‐ bild wird. Venators Spur verliert sich am Ende in Bereichen, die, wie er glaubt, von Sindbad erkundet wurden. „Wenn Sindbad vom Tigris aus durch den Per‐ sischen Golf und das Arabische Meer in den Indischen Ozean segelt, verläßt er 6. Rückgriffe auf die Antike 162 8 Christoph Ransmayr. Die letzte Welt. Frankfurt a. M.: Fischer, 1997. 286. Die Szenen erinnern an die Schilderungen des permanenten Krieges in Ransmayrs Morbus Kita‐ hara. Frankfurt a. M.: Fischer, 1995. die historische, ja selbst die mythische Welt. Hier beginnt das Reich der Träume, der eigensten Gestaltung; alles ist verboten und alles erlaubt. Der Seefahrer er‐ schrickt vor seinen Träumen; er triumphiert als ihr Erfinder, ihr Schöpfer über sie.“ (313) Venator begleitet eine Expedition in den geheimnisumwitterten Wald, in dem die Fabelwesen Herodots noch leben, und verschwindet in diesen alten und zugleich neuen Wirklichkeiten. Sie sind nicht „Endziel, sondern Anfang eines Traums.“ (427) Christoph Ransmayrs Erzählung Die letzte Welt (1988) schildert, dem Ausblick Eumeswills durchaus vergleichbar, wie die thematisierte Suche des existenziellen Fremdseins zur Erkundung der Geschichte führt und schließlich in die traum‐ hafte Ungeschichtlichkeit von Metamorphosen mündet. Der Römer Cotta fährt nach Toma am Schwarzen Meer, um seinen dort in der Verbannung lebenden Freund Ovid zu finden oder, falls er Gerüchten entsprechend verschollen oder gestorben sei, wenigstens eine Abschrift von dessen Metamorphosen für die Welt zu retten. Cotta durchsucht die Stadt, lernt Einwohner und Verbannte kennen, findet den greisen Diener Ovids, steigt ins Gebirge, verliert den Weg, findet seltsame Inschriften in Ruinen, die möglicherweise von Ovid stammen, und brütet über undeutliche, geheimnisvolle Bemerkungen der Menschen nach. Kaum zu entziffernde Zeichen und in Stein geritzte Sätze, wie etwa „Keinem bleibt seine Gestalt“ oder „das Herz … der Schlachterin … eine Nachtigall“, prägen seine Vorstellung. Er stößt auf apokalyptische Szenen menschlichen und gesellschaftlichen Verfalls, lauscht, als ihm Echo eine Geschichte aus den Me‐ tamorphosen erzählt, vernimmt undeutlich hastige Selbstgespräche und hört beklommen das Stammeln eines Fallsüchtigen. Die Welt verschwimmt im Un‐ gemessenen. Cotta sucht Halt in seinen Erinnerungen an das Leben in Rom. Er denkt an die politischen Intrigen, die Erniedrigung Ovids zum geistreichen, aber leichtfertigen Dichter ohne Tiefe. Er blickt zurück auf Ovids Verbannung, das Verbot seiner Schriften und die Not seiner hinterbliebenen Frau. Er beschwört ein verklärtes Bild des Dichters Publius Ovidius Naso, verspürt Schmerz, ge‐ winnt aber keine Sicherheit. Er muss zurück in das Labyrinth der Stadt, der Ruinen und Berge, muss auf das Gerede der Krämerin hören, bis er endlich halb träumend, halb wachend die Verwandlung dreier Menschen in Vögel miterlebt. Am späten Vormittag des folgenden Tages geht er langsam dem Gebirge zu: „um den Hals trug er ein Geflecht aus Ranken, Fetzen und Schnüren und schleifte Lumpengirlanden wie papierene Drachenschwänze hinter sich her.“ 8 In den Bergen ruft er den Felsen 6. Rückgriffe auf die Antike 163 9 Karl Krolow. Herodot oder der Beginn von Geschichte. Waldbrunn: Heiderhoff, 1983; vgl. dazu Horst S. Daemmrich, Messer und Himmelsleiter. Eine Einführung in das Werk Karl Krolows. Heidelberg: Groos, 1980 und ders. „Karl Krolow“, in: Deutsche Dichter. Bd. 8: Gegenwart. Stuttgart: Reclam, 1990. Nasos Namen zu. „Wenn er innehielt … schleuderte Cotta diese Silben manchmal gegen den Stein und antwortete hier! , denn was so gebrochen und so vertraut von den Wänden zurückschlug, war sein eigener Name.“ (287-288) Cotta über‐ windet die sein Leben bestimmende Erfahrung des Fremdseins, des Draußen-Stehens und der historischen Verunsicherung, indem er sein Selbst aufgibt und in die Welt der Metamorphosen eingeht. Er sucht einen neuen An‐ fang, der eine Entwicklung historischer Prozesse ermöglicht, die nicht wie in Ransmayrs Erzählung Morbus Kitahara (1995) in permanenten Guerillakämpfen und menschenunwürdigen Zuständen auslaufen. Karl Krolow zieht die Möglichkeit eines kaum bestimmbaren Übergangs und einer Symbiose ernsthaft in Betracht. In Herodot oder der Beginn von Geschichte (1983) zieht er die Bilanz einer Geschichtsüberlieferung, die mit der mythischen Weltsicht einsetzt, mit Herodots Darstellung historisch wird und heute an einer Grenzscheide steht, an der es denkbar ist, dass die Geschichte abbricht, da die Technik den Menschen die Möglichkeit bietet, die Erde zu zerstören. Aus Kro‐ lows Sicht bietet der Mythos eine großartige Vereinfachung im geistigen Bau des Universums. Die Vorstellungswelt ist geprägt von subjektiven Gefühlen und phantasievollen Assoziationen: „Ich sah leibhaftige Träume.“ Man denkt in Bil‐ dern, die der uns vertrauten, logischen Begriffsbildung und kausalen Ge‐ schichtsdeutung widersprechen. Mit dem Eintritt in Geschichte verdrängt der Logos die Poesie des Daseins. Der Systemzwang des rationalen Denkens führt zur Barbarei der Vernunft: sie herrscht als „Tugend und Revolution“. Der Gang der Geschichte bleibt „von Grund aus unheimlich“, wirkt episodisch und ist ge‐ kennzeichnet von zunehmend aggressiven Tendenzen, menschlichen Defiziten und dem Herrschaftsanspruch anonymer Funktionäre. Der Dichter lebt in der Furcht vor dem nicht rückgängig zu machenden Irrtum „eines falschen Tas‐ tenanschlags“. Er resigniert und hofft wider jede Vernunft, dass er sich vielleicht doch täusche. Im Mittelpunkt der Kritik Krolows steht einerseits der Verlust des historischen Bewusstseins, andererseits die Verdinglichung des Lebens, die Er‐ niedrigung der Menschen zu Objekten und die hoffnungslose Einsamkeit Ein‐ zelner, deren letzte Bastion der Selbstbehauptung ihr Triebleben ist. 9 Die Darstellungen und Überlegungen stimmen in einem Zug überein: Sie be‐ klagen den Verlust einer möglichen Vollkommenheit und siedeln Chiffren des Andersseins in der Unschuld des geschichtslosen Märchens und einer Welt ständiger Metamorphosen an. Das Anderssein entzieht sich dem Zugriff, wenn 6. Rückgriffe auf die Antike 164 das eigene Ich aus den Augen der Gottheiten blickt oder wenn auf den Ruf das Echo den eigenen Namen zurückträgt. Zahlreiche Neufassungen antiker Stoffe stehen daher unter diesen Vorzeichen, die Venators Überzeugung entsprechen, die Menschheitsgeschichte sei fehlgegangen und führe zu „irreparabler Unvoll‐ kommenheit, nicht nur der Schöpfung, sondern auch der eigenen Person … zur Götterfeindschaft auf der einen Seite und auf der anderen zur Selbstkritik.“ (10) Im Aufbau der Figuren in Texten, in denen Stoffe aus der Antike die Gegen‐ wart erläutern, treten einzelne ambivalente Charaktereigenschaften markant hervor. Einerseits kritisieren die Figuren andere, folgen dennoch selbst blind ihren Trieben; sie lehnen sich auf, aber fügen sich in die ihnen undurchschau‐ baren gesellschaftlichen und historischen Bedingungen. Andererseits stehen Figuren wie etwa Dionysos, Kassandra, Laokoon oder Odysseus isoliert in einer Gesellschaft, die ihren Warnungen oder Voraussagen keinen Glauben schenkt. Entwürfe einzelner Figuren, die scheinbar mit der Tradition brechen und einen neuen Anfang schaffen, sind besonders aufschlussreich, wenn der Handlungs‐ verlauf entweder die Zielsetzung oder das unerwartete Ergebnis desillusioniert. Dieser Sachverhalt ist klar ersichtlich, wenn das Handeln einen Prozess einleitet, der entweder nur eine Variation herkömmlicher Verhaltensweisen ist oder das alte Vorbild seinem düsteren Ende entgegenführt, das nicht immer in einer ex‐ plosiven Katastrophe gipfelt, sondern in den Alltag der Beziehungskrisen mündet. Nahezu alle Figuren haben Eigenschaften von Schauspielern, die ge‐ zwungen sind, vorherbestimmte Rollen zu spielen. Die Ich-Suche, Erfahrungs‐ suche, das Denken und Handeln der Figuren stoßen auf unüberwindbare Be‐ grenzungen. Die innere Fixierung stößt auf die Unfreiheit des Willens, der Blick auf die Welt und die Geschichte erfasst ein deterministisch-fatalistisch abrol‐ lendes Geschehen. Diese Eigenart im Figurenaufbau ist auch dann nachweisbar, wenn die soziale Perspektive der Erzählungen oder Stücke eine Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse voraussetzt. Das soziale Reformbestreben, manchmal verhüllt, zuweilen wie bei Heiner Müller in Kommentaren zu Stücken deutlich ausgesprochen, besteht fort. Das Ungenügen an den geschilderten Zuständen, in denen die Vergangenheit nahtlos in der Gegenwart aufgeht und im verfehlten Sinn des Daseins ge‐ schichtslos wird, klingt an in Nuancen und hintergründiger Information in Stü‐ cken, die antike Stoffe aktuell auf die Gegenwart beziehen. Es ist außerdem erkennbar in der sachlichen, kühlen Objektivität der Erzählhaltung, die keine Bejahung, sondern kritische Distanz ausdrückt. Trotzdem führen in Umrissen angedeutete Versuche, Selbsterkenntnis auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Bedingungen zu erreichen, zurück zum Ich und ver‐ tiefen das Gefühl der Einkreisung. Anderssein wird zur Spiegelung der eigenen 6. Rückgriffe auf die Antike 165 10 Heiner Müller. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1992. 321. Notlage. Die Mythologie wird zur Mythenmaschine; das Ende ist keine großar‐ tige Katastrophe, sondern der Verlust der Fähigkeit, mit anderen sprechen zu können. Mit dem Trojanischen Krieg verknüpfte Figuren, die in der literarischen Tra‐ dition bereits die vielfältigsten Ausarbeitungen erhalten hatten, übernehmen die Funktion der Konfrontation mit Anliegen der Gegenwart. Heiner Müller, Stefan Schütz und Christa Wolf kommentieren das Zeitgeschehen mit Deutungen an‐ tiker Muster, die zur Auseinandersetzung mit der existenziellen Notlage der heutigen Zeit aufrufen. Müller (Philoktet, 1966) und Schütz (Odysseus’ Heim‐ kehr, 1972) gestalten beispielsweise Odysseus-Figuren, die Fragen der Situati‐ onsethik, des Mitläufertums und des Missbrauchs des gesellschaftlichen Inter‐ esses aufwerfen. In beiden Stücken erkennen die Figuren die fehlgegangene historische Entwicklung und durchschauen die vorherrschende Ideologie. Ihre Erkenntnis versetzt sie in die Lage, einen neuen Ansatz zu suchen. Sie nutzen die bestehende Situation bis auf das Äußerste aus und werden zu Wegbereitern einer Entwicklung, die die Menschen erneut zu bedenkenlosen Mitmachern versklavt und das Maß der Unfreiheit erhöht. Müllers Stück revidiert Philoktets Heimkehr. Odysseus und Neoptolemos fahren nach Lemnos, um den dort ausgesetzten Philoktet im Interesse der herrschenden Klasse zurückzubringen. Die Heerführer sind überzeugt, dass der Sieg über Troja nur mit Hilfe Philoktets möglich ist. Odysseus macht das staat‐ liche Anliegen zu seinem eigenen und zwingt Neoptolemos, sich unterzuordnen. Sein Leitsatz ist: „Cum finis est licitus, etiam media sunt licita.“ Die Vorstellung entspricht Müllers Verfahren, die Griechen römisch denken zu lassen und My‐ then aus der Sicht der Maschinenwelt zu deuten. Er bemerkt dazu in Krieg ohne Schlacht: „Mythen sind geronnene kollektive Erfahrungen, zum andern ein Es‐ peranto, eine internationale Sprache, die nicht mehr nur in Europa verstanden wird. In einem Staat wie der DDR war mir Rom natürlich näher als Athen. ‚Phi‐ loktet‘ ist eine Übersetzung des Sophokles ins Römische, eine staatlichere Ver‐ sion. Die Maschine schneidet tiefer ins Lebendige und hat auch die Toten noch im Griff.“ 10 Odysseus täuscht und betrügt Philoktet; er erniedrigt sich, kriecht auf der Erde und ist scheinbar bereit, sich zu opfern, um Philoktet zu versöhnen. Phi‐ loktet wütet hasserfüllt gegen die Griechen und bleibt unnachgiebig. Neopto‐ lemos ersticht ihn rücklings. Odysseus begreift sofort, dass der Tote ebenso ver‐ wertbar ist wie der Lebende. Er erfindet eine Geschichte. Philoktet wurde von 6. Rückgriffe auf die Antike 166 11 In seinem „Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet am Dramatischen Theater Sofia“ (27. 3. 1983, in: Herzstück. 102-110) macht Müller u. a. fol‐ gende Beobachtungen: 1. Zu Odysseus „Mit ihm geht die Geschichte der Völker in der Politik der Macher auf, verliert das Schicksal sein Gesicht und wird die Maske der Ma‐ nipulation.“ (104) Odysseus kann aus „seiner Haut“. Er manipuliert andere, begreift so‐ fort, dass der Tote ebenso verwertbar ist wie der Lebende. In dem Gedankensprung des Odysseus von der Unersetzlichkeit des lebenden zur Verwertung des toten Philoktet findet der „Umschlag der Tragödie in die Farce, bzw. in die von Schiller so genannte tragische Satire“ statt (107). Odysseus soll „die schauerliche Einsicht“, „daß der Ge‐ brauchswert des toten Funktionärs dem des lebenden nicht nachsteht“, vermitteln (109). 12 Stefan Schütz. Odysseus’ Heimkehr (1972), in: Wer von euch. Stücke nach der Antike. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1992. 59. Trojanern getötet, die vor den Abgesandten der Griechen Lemnos erreichten. Der Tote wird heimgeführt. Er dient der Armee. Sein Ende wird ihren Hass auf die Trojaner grenzenlos steigern. Odysseus denkt wie ein „Staatsmann“, Poli‐ tiker und „Macher“. Er opfert alle und alles, um sein Ziel zu erreichen. Er erkennt den Gebrauchswert der Funktionäre und der Ideologien. Neoptolemos bleibt der antiken Vorstellung verhaftet. Philoktet dagegen denkt nur an seine Leiden und seine Rache und wirkt ebenso modern wie Odysseus. 11 Schütz konzentriert sich auf die Heimkehr des Odysseus, seine Begegnung mit Sohn und Frau und seine Pläne, Ithaka zu erneuern. Odysseus erkennt sofort den menschlichen und gesellschaftlichen Verfall Ithakas. Alle Bewohner sind von Krätze befallen. Ihre Gedanken kreisen nur um das körperliche Unbehagen und die staatlich geförderte Schweinezucht. Sie murren, sind aber ratlos. Odys‐ seus erkennt, dass dem Unheil nur zu steuern ist, wenn man die Hautschorfer‐ krankung und die Schweinezucht zu konstitutiven Elementen der gesellschaft‐ lichen Erneuerung und des Fortschritts macht. Er erteilt Telemachus, der sowohl die Macht ergriffen hat als auch mit seiner Mutter Penelope im Ehebruch lebt, Parolen der Gleichschaltung des Volkes. Arbeitspflicht, Sollerfüllung, Kampf gegen Feinde im Ausland, ökonomischer Aufbau und besonders: „Fette Bäuche verschlingen den Schorf! “ 12 Odysseus, äußerlich ein von der Krankheit verschonter strahlender Jüngling, wird erstochen, weil er, ständig planend und auf eigene Vorteile bedacht, nicht in die Gesellschaft passt. Sein Sohn begreift die Vorteile der Vorschläge. Er führt die Reform ein und sitzt als absoluter Herrscher auf einer Kratzmaschine, die den kollektiv geformten Menschen vorübergehend Erleichterung schafft. Alle, die ihr Soll erfüllt haben, werden durch Kratzen belohnt. Sie kehren, vorüber‐ gehend entschuppt, freudig zur Arbeit zurück. Jeder, der heimlich murrt oder das Soll nicht schafft, wird in der Maschine petrifiziert und dient auf diese Weise dem Aufbau. Das Fazit der Erneuerung ist eine manipulierte Gesellschaft, in der 6. Rückgriffe auf die Antike 167 sich alle dem Idol des gesellschaftlichen Interesses fügen. Die Bürger sind gleichgeschaltet, die herrschende Klasse profitiert, der tote Odysseus hat grö‐ ßeren Marktwert als der lebende. In Ausarbeitungen von Herakles-Abenteuern zeichnen sich zwei gegensätz‐ liche Vorstellungen ab. Peter Hacks strebt eine versöhnliche Lösung der Kon‐ flikte zwischen Mann und Frau, Patriarchat und Matriarchat, tradierten Verhal‐ tensweisen und feministischer Kritik an. Er gestaltet einen entwicklungsfähigen Herakles, der ein friedliches Verhältnis zur Mitwelt findet. Müller sieht den tie‐ feren Sinn hinter der seit der Antike mit Herakles verwobenen Bildsphäre im Kampf um des Kampfes willen. Herakles wird zum Inbegriff einer zeitlosen und zugleich modernen Kampfmaschine, die sich immer erneuert und nie zum Still‐ stand kommt. Hacks’ Omphale (1970) greift aus den Herakles-Abenteuern sein Leben am Hof der Königin Omphale auf. Die Überlieferung berichtet, Herakles musste dreijährigen Sklavendienst zur Sühne für seinen im Wahnsinn begangenen Tot‐ schlag des Iphitos leisten. Er wird an Omphale, die Königin Mäoniens, des spä‐ teren Lydiens, verkauft. Die beiden verlieben sich. Herakles befreit das Land von Ungeheuern und tötet Lityerses, einen Unhold, der allen seinen Gästen nach dem Abendessen die Köpfe abschlug. Was den Aufenthalt jedoch besonders un‐ gewöhnlich macht und zu den unterschiedlichsten Deutungen anregte, ist der Wechsel im Verhalten des Herakles und die völlige Veränderung in seiner Per‐ sönlichkeit. Er kleidet sich in weiche lydische Frauenkleidung, trägt Schmuck und spinnt Wolle mit den ionischen Mägden, während Omphale sein Schwert umgürtet und seine Löwenhaut trägt. Nach Ablauf der Sühne kehrt Herakles unverändert und scheinbar unberührt von allen Erfahrungen in Mäonien in die Welt zurück. Hacks entwickelt eine Szenenfolge, die die Verwandlung des Herakles als einen Versuch deutet, das Wesen der Liebe bis ins Uranfängliche zu verfolgen. Er wird Frau, um Liebe zu empfangen. Die verliebte Omphale spielt die Rolle des Mannes, um ihn zu beglücken. Die äußere Verwandlung kann jedoch die Entelechie der beiden nicht verändern. Sie erkennen und bekennen sich zu ihrem Sein in der Auseinandersetzung mit Lityerses, der als Vertreter des absolut Bösen auftritt. Lityerses spielt die Rolle eines Gutsbesitzers, der seine Weinberge pflegt und Ländereien bestellt. Er empfängt jeden gastfreundlich, lähmt seine Gäste mit tödlichem Hauch, versklavt und verzehrt sie. Lityerses wird zum Ahnherrn jeder zerstörerischen, umweltfeindlichen Agrarpolitik und industriellen Ent‐ wicklung. Herakles erkennt sein „entschiedenes Anderssein“, tötet ihn und nimmt die Maske der Omphale ab. Die Komödie endet versöhnlich. Herakles steckt seine Keule in die Erde. Sie wächst zum Ölbaum empor. Das Ende ent‐ 6. Rückgriffe auf die Antike 168 13 Heiner Müller. „Material“. In: Mauser. Berlin: Rotbuch, 1978. 84; vgl. dazu Ursula Haas. Freispruch für Medea. Wiesbaden: Limes, 1987 und Dagmar Nick. Medea. Ein Monolog. Düsseldorf: Eremiten-Presse, 1988. spricht der Metamorphose des Menschlichen in die unhistorische Vollkommen‐ heit des Androgynen. Herakles, der zugleich Mann und Weib ist, steht außerhalb der Geschichte. Heiner Müller dagegen deutet die mythologische Figur als Bild eines Vor‐ gangs, der sich im geschichtlichen Ablauf ständig wiederholt. In Herakles 2 oder die Hydra (1978) folgt Herakles einer Blutspur durch einen ins Unendliche ver‐ laufenden Wald. Er erkennt diesen schließlich als ein sich ständig erneuerndes Ur- und Unwesen, in dem er lebt und kämpft. Es ist seine Heimat. Er geht völlig in ihm auf. Deshalb ist sein Kampf gegen den Wald eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Glieder, die er abschlägt, sind seine eigenen, ständig nach‐ wachsenden. Herakles ist im Monstrum das Monstrum. Er ist die Kriegsma‐ schine: „Seine Zähne erinnerten sich an die Zeit vor dem Messer. Im Gewirr der Fangarme, die von rotierenden Messern und Beilen nicht, der rotierenden Messer und Beile, die von Fangarmen nicht, der Messer Beile Fangarme, die von explodierenden Minengürteln Bombenteppichen Leuchtreklamen Bakterien‐ kulturen nicht … die von den eigenen Händen Füßen Zähnen nicht zu unter‐ scheiden waren …“ 13 Der allgemeine Kriegsekel, das Missbehagen am Staat und die Kritik des Ver‐ lusts humaner, menschlicher Eigenschaften münden bei Müller konsequent in die Metaphorik von Maschinen. Das Maschinen-Modell zeigt einen zwangsläu‐ figen Ablauf, dem sich wie etwa in Herakles 5 (1966) und Der Horatier (1972) mythologische und literarische Sinndeutungen unterordnen. Die Maschine wird zum Sinnbild des abstrakten gesellschaftlichen Interesses und von historischen Prozessen, die undeutbar wirken, weil die Betroffenen sie entweder nicht be‐ greifen oder nicht verstehen wollen. Das menschliche Gespräch stagniert im Monolog. Hamlet (Die Hamletmaschine, 1977) redet BLABLA ; hinter ihm liegen Ruinen, vor ihm liegt das Nichts. Die Vergangenheit ist ein Steinbruch zu be‐ liebigem Abbau („Brandenburgisches Konzert 1 und 2“, in: Germania Tod in Berlin); das Fazit der Zukunft ist: Krebs, Gefühlsarmut, Kannibalismus, eine Schutthalde nach dem Endknall („Quartett“, „Medeamaterial“). Das mythologi‐ sche Wesen kann daher Sinnbild des Prozesses sein und kann wie in Herakles 2 oder die Hydra als eine sich immer erneuernde Maschine auftreten. Die histori‐ sche Entwicklung steht unter dem Vorzeichen einer Kette unlösbar verknüpfter Katastrophen. Die Maschine ist das Kollektiv, das Kollektive eine Maschine. In Orestobsession (1989) von Stefan Schütz verkündet Orest, im Gefühl Sartre zu sein, die neue 6. Rückgriffe auf die Antike 169 14 Schütz. Wer von euch. 197. 15 Thomas Brasch. Kargo: 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977. 120-125. Freiheit, muss aber erfahren, dass er im Inneren ein Roboter ist. Orest, Danton, Robespierre, Sartre, Hieronymus, Habermas, für alle „rieselt der Sand“. Die Fi‐ guren tanzen zur Melodie des Untergangs. Ein Totentanz beschließt die Ge‐ schichte. Folgerichtig ist das Spectacle Cressida (1984) ein theatralisches End‐ spiel, in dem es keine Sieger, sondern nur Besiegte gibt, die am Ende alle untergehen. Schütz schreibt in der Schlussbemerkung: „Ich bin an einer Bear‐ beitung gescheitert, im Augenblick, da ich versuchte, den Krieg, die Helden und die Liebe auf dem Rücken derer darstellen zu wollen, die ungenannt verscharrt werden und Opfer wie Täter gleichermaßen sind: der Soldaten. So konnte ich nur noch den Abgang der Geschichte formulieren, wie es einen Anfang gegeben hat. Dem Urknall des Patriarchats den Endknall entgegensetzen.“ 14 Sowohl die Lebenslüge und die Verblendung der Menschen als auch die Un‐ willigkeit, die offenbar zu Tage tretende Wahrheit anzuerkennen, unterstrei‐ chen den Verlust der Handlungsfreiheit. In Thomas Braschs achtstrophigem Gedicht „Kassandra“ erkennt nicht nur Kassandra die Wahrheit. Das Ende ist voraussagbar und allen bekannt: Lebensekel, Selbstmord, Katastrophe. 15 Lao‐ koon (Stefan Schütz. Laokoon. 1979) erkennt die entsetzliche von dem hölzernen Pferd ausgehende Gefahr für die Trojaner. Überzeugt von der Wahrheit seiner Einsicht, opfert er zuerst seine Söhne und tötet dann sich selbst als Fanal zur Bekehrung der verblendeten Griechen. Sein verzweifeltes Handeln bleibt jedoch ohne jede Wirkung auf den König und das Volk. Christa Wolfs Erzählung Kas‐ sandra (1983) rechnet mit der heroischen Tradition des Trojanischen Krieges ab, entlarvt die Helden Homers als brutale Schlächter und führt ihr Handeln auf psychopathische Neigungen zurück. Zeitliche Verschiebungen und Anspie‐ lungen auf die Gegenwart erwecken den Eindruck des zeitlosen Fortbestehens von aggressiven Tendenzen und inhumanen Institutionen. Besonders zeitnah wirken wiederkehrende Szenen von Vergewaltigungen, einem systematisch an‐ gewandten Mittel der Kriegsführung, dem auch Kassandra zum Opfer fällt, das wollüstige Töten und die Brutalisierung der nicht direkt am Krieg beteiligten Bevölkerung, das Entstehen eines staatlichen Geheimdienstes unter der Füh‐ rung des Eumelos und das Anwachsen bürokratischer Instanzen, die auch nach Kriegsende weiterbestehen und selbst von den heimkehrenden Griechen über‐ nommen werden. Wolfs Erzählung deutet Kassandras Sehergabe nicht im Sinne des propheti‐ schen Erkennens des Zukünftigen, sondern als beständig wachsendes Bewusst‐ werden. Kassandra erkennt die inhumanen Triebkräfte des Krieges, den Verfall 6. Rückgriffe auf die Antike 170 16 Christa Wolf. Kassandra. Erzählung. Darmstadt: Luchterhand, 1983, 1990. 98. des Staates, die völlige Zerrüttung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Schwäche der Einwohner, die sich anpassen, um überleben zu können. Darüber hinaus durchschaut sie das göttliche Anderssein als eine von Menschen erdachte Lüge. Die Menschen, von Kassandra als ein „Volk mit feigen Hinterköpfen“ cha‐ rakterisiert, 16 sind feige Mitläufer und Nischenbewohner. Sie leben im Dauer‐ zustand der Angst vor der Bedrohung durch das staatliche Spitzelwesen, der jederzeit wahrscheinlichen Hausdurchsuchung und der möglichen gewalt‐ samen Vertreibung. Was das Volk und die führende Klasse verbindet, ist die irrige Hoffnung, an einer bereits verlorenen utopischen Sinnstiftung festhalten zu können. Alle wissen, dass sich Helena nicht in der Stadt befindet; sie wurde von Paris in Ägypten zurückgelassen; aber das Phantom hält die Bevölkerung zusammen: „In Helena, die wir erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr hatten“. (99) Alle sind in das Geheimnis eingeweiht, aber betrügen sich selbst und andere. Die Verstellung zerfrisst Familien, höhlt den Staat aus, un‐ tergräbt jede sittliche Ordnung und ist der Nährboden des Krieges. Der Betrug, die Losung des Tages, verdrängt jede ethische Überlegung und wird zur gel‐ tenden Weltanschauung bei den Trojanern wie den Griechen. Die mit den Men‐ schen spielenden Götter, das Phantom Helenas, das hölzerne Pferd und Voraus‐ griffe auf Agamemnons Ende unterstreichen die Situation der betrogenen Betrüger. Das Leben Kassandras spiegelt das Dasein der Unterdrückten und das hoff‐ nungslose Schicksal der Frauen wider. Ihre Leiden sind jedoch die Leiden eines Menschen, der diese Zusammenhänge durchschaut und erkennt, dass sie unter den gegebenen Bedingungen nicht anders handeln konnte. Ihre Überlegungen verdeutlichen außerdem, was die überlieferte Tradition zu verneinen scheint: die Möglichkeit einer freien Entwicklung. Aber Kassandras Wunschbild bleibt ein Gedankenspiel. Ihr Leben ist vorherbestimmt. Sie ist eingeschlossen in eine Kette tragischer Verschuldung. Sie schaut in die Zukunft, durchschaut die Ge‐ genwart und weiß, dass man nie ihrer Vorhersage glauben wird. Dieser Deter‐ minismus unterbindet neue Muster der Seinsgestaltung. Da die einzelne Person keine freie Entscheidung treffen kann, entzieht sich diese Möglichkeit auch der Gemeinschaft. Die Fixierung auf ein deterministisch abrollendes Geschehen kann zuletzt jede alternative Sinnstiftung und damit die Deutung des Andersseins völlig auf‐ nehmen oder bis zur Unkenntlichkeit verwischen, so dass vom Mythos nur eine ferne Erinnerung anklingt. Diese mythisierenden, den Mythos gleichsam aus‐ laugenden Tendenzen kennzeichnen Wer von euch. Ein Satyrspiel (1992). Stefan 6. Rückgriffe auf die Antike 171 17 Schütz. Wer von euch. 313. Schütz verwertet in dem Stück auswechselbare maskierte Figuren. Die Personen hinter den Masken bleiben undeutbar. Die Reihung ermöglicht den Figuren‐ wechsel, betont aber auch die unveränderlich existenzielle Gemeinsamkeit der Figuren. Die Masken wechseln. Die Figuren wollen auftreten, aber das Welt‐ theater nicht verlassen. Eine Frau drängt ihren Mann zum Selbstmord. Seine körperlichen Funktionen versagen, aber er will weiter seine Rollen zitieren. Ein Sohn charakterisiert sein eigenes Wesen und sein Verhältnis zum Vater: „Das menschliche Dasein: eine unerträgliche Zumutung, doch während er das Grauen durch eine grenzenlose Ichbezogenheit zu kompensieren suchte, verstieg ich mich ins andere Extrem und schaffte mein Ich beizeiten ab.“ 17 Hieronymus und Habermass treten auf und werfen sich politische und philosophische Schlag‐ worte zu. Nachdem sie ihre Masken abnehmen, erscheinen sie als zwei Schwarze, die den Neunundsiebzigsten, eine Figur aus dem Publikum, in einem Sanduhrkasten kochen bis er „zart und knusprig“ ist. Sie verzehren das Opfer anschließend auf der Bühne. Die Endlösung, ein Tableau des atavistischen Rückfalls in den Kannibalismus, reduziert Widersprüche der Gesellschaft, Konflikte zwischen Einzelnen und kollektiven Maßnahmen, ungelöste Spannungen zwischen Ansprüchen der In‐ dividualität und dem Interesse der Gesellschaft und alle zwischenmenschlichen Beziehungen auf einen Rhythmus des Bösen, auf einen „Kult der Selbstzerstö‐ rung“, der „das Ende der schöpferischen Periode“ signiert. (306) Die Figuren schwanken zwischen grenzenloser Ichbezogenheit und kollektiver Einordnung hin und her. Ihre Ziele sind situationsbedingt. Ihre Lebensaufgabe erschöpft sich in egoistischer Selbstglorifizierung. Für alle „rieselt der Sand“. Die Geschichte ist bedeutungslos geworden und geht völlig auf im Selbsterhaltungstrieb und dem RAP DER SCHLAPPSCHWÄNZE : „Gestärkt gingen wir hervor aus un‐ serem Tod, mit dem, was wir taten, füllten sich die Massengräber, und nicht länger mehr mußten wir knausern, sondern konnten uns mausern. Auf jeden von uns kamen Tausende von ihnen. So brachten wir das Messer, die Axt, das Gift in die Reihen von Freund und Feind. Wie die Fliegen verreckten sie, und unsere Kommission hieß sie herzlich willkommen. Der wirkliche Sowjet nur noch eine Handbreit entfernt vom Kommunismus.“ (315) Die räumliche Anordnung in diesen Endzeitspielen verstärkt den Eindruck der Einengung und Ausweglosigkeit, der in Erzählungen besonders eindringlich durch die Raumstruktur des Labyrinths vermittelt wird. Bereits dem kretischen Labyrinth, das von Daedalus als Gefängnis für den Minotaurus entworfen wurde, liegt die Idee des hoffnungslosen Herumirrens zugrunde (Ovid. Appo‐ 6. Rückgriffe auf die Antike 172 18 Jochen Beyse. Unstern Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. 143. lodorus). Die Dimensionen des modernen Labyrinths wechseln. Sie entsprechen der besonderen Perspektive einzelner Beobachter, die ausweglos dem sozialen Geschehen, einem Minotaurus des Staates oder der anonymen Organisation ge‐ genüberstehen. In der Regel ist das Labyrinth jedoch nicht nur als horizontale Fläche im Raum gestaltet. Es enthält eine vertikale und eine ideelle Dimension. Die Achse verläuft von tiefsten Schächten im Erdinneren über die Oberfläche zu Wolkenkratzern und in den künstlich illuminierten Himmel. Außerdem be‐ ginnt das Labyrinth direkt vor den Augen einzelner Figuren, die entweder ins Leere oder fasziniert auf einen Monitor starren. Schließlich greift das Labyrinth auf das Denken über und verwandelt die Sprache in einen labyrinthischen Dis‐ kurs. Ich gebe aus der Vielfalt der Darstellungen nur einige Beispiele, die die Thematisierung des Labyrinths im Zusammenhang mit möglichen Metamor‐ phosen und der Neubestimmung des Andersseins beleuchten. Jochen Beyse gestaltet in Unstern Bericht (1991) die Ich-Suche aus der Sicht einer Forscher-Sucher-Detektiv-Figur. Die Figur lebt in einem Raum, in dem sich Flächenmaße ständig verschieben und jede Erfahrung der Zeit, seien es Stunden, Tage, Wochen oder Jahreszeiten, ins Ungewisse verläuft. Scheinwerfer strahlen den Himmel an. Oben kreisen beständig Hubschrauber und Zeppeline. Unauf‐ haltsam wachsender Schutt bedeckt die Erdoberfläche. Die globale Firma „Hoch‐ tief “, Olymp-Hades, organisiert das Leben der Bewohner. Beobachtungen des Universums, die in der realen Welt bei Astronomen und Physikern neue theo‐ retische Überlegungen veranlassen, führen in der Erzählung zu der Erkenntnis, dass der Kosmos eine unbegrenzte, gigantische Sphäre darstellt, in der sich Energie explosiv und expansiv entlädt. In späteren Äonen ballt sich die Materie zu nicht mehr messbarer Verdichtung. Der Kosmos erweckt den Eindruck eines nicht verständlichen Ungeheuers, das sich ewig verschlingt und neu hervor‐ bringt. Die Welt spiegelt diese Situation. „Was tun Sie beispielsweise, wenn Sie ein ungeheuer großes, doch vollkommen sinnloses Ganzes zu erforschen haben. Nun, Sie machen den Maßstab der Größe zum Maßstab der Sinnlosigkeit und finden so, im gedanklichen Modell, die Richtung in einem Labyrinth, dessen Gänge und Wände Sie niemals werden verlassen können. Es ist der Vorsatz, größer zu sein als das Denken, in dem man sich bewegt, verstehen Sie, diese Art von Gigantismus“. 18 Die Figur versucht, das Hochtief auszuloten, protokolliert alle Eindrücke, beobachtet Springer, die unentwegt an einem elastischen Siche‐ rungsseil vom Dach springen, sucht im Tiefbau herum und steigt im Hochhaus nach oben. „… nach unten, nach oben, erst Sturz, dann Himmelfahrt. Aber kann man unter diesen Umständen von Bewegung sprechen? “ (146) Eine Flut von 6. Rückgriffe auf die Antike 173 19 Jochen Beyse. Ultraviolett. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. 53. Reizen stürzt auf den Beobachter ein. Schaufenster zeigen Reklamefilme; die Luftschiffe haben Projektionsflächen. Farbwände, elektronische Leuchtpunkte und Schwärme von Bildern ziehen vorüber. Die Ausmaße werden unbere‐ chenbar. Alles kippt gleichzeitig nach innen und außen (160). Plötzlich sitzt der Beobachter am Schreibtisch und starrt „mit verschwimmendem Blick auf x-be‐ liebige Computerbilder“ (132). Die Überfülle der vorbeifliegenden Bilder führt zu Halluzinationen, bedingt jedoch gleichzeitig eine zunehmende innere Leere. Die Figur ruft sich selbst zur Distanznahme auf, erkennt aber, dass man „blind‐ lings“ den Bildern folgen müsse (165). Die Eindrücke entziehen sich der Deutung; das Führen des Protokolls bestätigt nur, dass der Fall nicht zu lösen ist; „Hoch‐ tief “ kontrolliert das gesamte Dasein; alle müssen sich dem vorherbestimmten, deterministischen Geschehen fügen und im Labyrinth verbleiben. Besonders auffallend sind die beständigen Versuche des Beobachters, den vorbeifliegenden Eindrücken in seinem Protokoll feste Form zu geben. Ganz ähnlich wie in Beyses Erzählung Ultraviolett (1990) sind Einzelheiten durchaus erkennbar. Das Wahrnehmungsvermögen ist erhöht, aber das be‐ wusste Unterscheidungsvermögen schwindet. Die Grenzen zwischen der fik‐ tiven Wirklichkeit und den auf dem Bildschirm ablaufenden Programmen sind durchlässig geworden. In Ultraviolett werden Grenzübertritte jederzeit möglich. Der Beobachter, Spieler, Erzähler sitzt vor dem Fernseher oder Monitor und sieht bunt durcheinanderwirbelnde Berichte von Umweltkatastrophen, Unruhen, Ur‐ laubsangeboten und verlockenden Abenteuern. Er stößt unentwegt auf Ereig‐ nisse und Sensationen, an denen er sich beteiligen will. Jedes Mitwirken ist je‐ doch nur im Rahmen eines vorbestimmten Programms möglich. „Inzwischen stand die Wirklichkeit auf dem Programm, und er wünschte sich eine besondere Tönung, ein besonderes Leitmotiv für die folgenden Stunden …“ 19 Der Spieler möchte gern „ausscheren aus der Gewohnheit des bestellten Arrangements“ (53). Die Erzählung schildert dagegen eindringlich, dass alles Handeln nur im Rahmen von Programmen möglich ist. Die „Logik“, die „Folgerichtigkeit“ der geprägten Rollen ist unüberwindbar. Das gesamte Dasein steht unter dem „Ge‐ setz der automatischen Entfaltung des einmal vorhandenen Lebensprogramms, blindlings und ebenso zufällig wie notwendig“ (34). Die anderen sind nicht an‐ ders, sondern Spiegelbilder und Mitspieler. Deshalb können Wahrnehmungen, Denken und Handeln nur auf ein Schema eingestellt werden. Das jeweilige Motiv gibt die Färbung. Aggression: Töten, Vergewaltigen, einen Mord begehen. Schema F: Feingefühl, Fermate, Figur, Formalin. Schema E: Einkreisung. Aber 6. Rückgriffe auf die Antike 174 20 Wolfgang Hilbig. Eine Übertragung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1989. 283. nur der Tod führt aus dem Labyrinth der Einkreisung, in dem das Denken keine Orientierung findet, weil es immer auf ein bereits durchgespieltes Schema stößt. In Wolfgang Hilbigs Erzählungen Eine Übertragung (1989), Alte Abdeckerei (1991) und Ich (1993) bewegen sich die Figuren in einem Labyrinth, in dem Ich und Gesellschaft, Schächte unter der Erde und Straßenzüge, wie auch oben und unten austauschbar sind. In Eine Übertragung versucht ein Schriftsteller, seine Existenz und sein Verhältnis zur Gesellschaft zu deuten. Sein Leben erscheint ihm als „ein Trümmerfeld von Zusammenhangslosigkeiten“ (60). Die Gesell‐ schaft, in der er lebt, ist eine Übergangsgesellschaft, die weder wissen will wie sie entstanden ist, noch an eine sinnvolle Zukunft glaubt. Die Welt erstickt in Rauch, Ruß und schwarzem Schlamm. Der Lebensrhythmus ist bestimmt von der Ideologie des gesellschaftlichen Interesses. Das Interesse entzieht sich jeder Erklärung. Es hat Verfügungsgewalt, ist in der Sprache befestigt und lenkt zwi‐ schenmenschliche Beziehungen. Alle Figuren erfüllen Funktionen. Sie passen sich an, sind aufeinander angewiesen und unterwerfen sich dem kollektiven Geschehen. Jeder kann willkürlich verhaftet, aber auch freigesetzt werden. Sie leben mit Doppelgängern und Mitwissern. Ihre Stimmen, ihre Augen, ihr Han‐ deln oder Unterlassen sind austauschbar. Was wahrhaftig ist, bleibt bedeu‐ tungslos. Was erfunden oder erlogen ist, kann möglicherweise eine Lebensge‐ schichte sein. Nur im Kino wird die „Lüge“ von Identitäten gespielt. Die Ich-Suche des Autors führt schließlich zu der Erkenntnis, dass er keine eigene Identität besitzt. Sein Leben besteht aus Fragmenten von Funktionen. „Ich kam mir vor wie eine Metapher, wie eine Übertragung der Übergangsgesellschaft auf meine Person. Die griechische Metapher heißt auf deutsch Übertragung“. 20 Ich denke gegen und zugleich in der Gesellschaft. Die Figur ist die Gesellschaft, diese ein Wesen, das in wesentlichen Zügen sowohl dem Minotaurus als auch der Hydra in Müllers Herakles 2 entspricht. In Hilbigs Erzählung Ich ist der Prozess der Austauschbarkeit so weit fortge‐ schritten, dass jede Selbsterkenntnis nur noch den Prozess, aber keinen Weg nach außen schildern kann. Den Entwürfen Jüngers, Ransmayrs und Krolows entsprechend, führen die Figuren in dem Roman ein geschichtsloses Dasein. Die Vergangenheit ist eine unabgeschlossene Akte. Sie bietet keine Orientierung. Die Gegenwart vermittelt den Eindruck der völligen Verwandlung der Men‐ schen und der Erde in eine grobstoffliche Substanz. Das Land ist verseucht und verwelkt. Die Figuren werden beständig mit Unfreiheit konfrontiert. Das Denken bewegt sich im Kreis des Freiheitsverlusts und kann deshalb keine sinnvolle Kategorie des Andersseins frei entwerfen. Die Stadt „Berlin“ ist un‐ 6. Rückgriffe auf die Antike 175 terhöhlt. Unter Straßen und Häusern liegt ein Labyrinth von Schächten, engen Gängen und steilen Stiegen, die in Höfe ohne Ausgang führen. Oben liegen anonyme Wohnungen. Sie riechen nach Fäulnis, wirken verschmutzt und füllen sich mit Ungenießbarem, wie beispielsweise die Wohnung Cindys, in der über‐ kochender Brei für das Baby in jedes Zimmer dringt. Die Jahreszeiten gleichen sich an; es ist immer kalt, nass und düster. Die Menschen sehen keinen Ausweg und werden teilnahmslos. Die allgemeine Gleichgültigkeit wird zur Gefahr für den Staat. Die Abstumpfung bedroht das gesellschaftliche Interesse, das von allen Bürgern Betriebsamkeit, Sollerfüllung und freudige Bejahung des Dienstes verlangt. Deshalb fördern die Mitarbeiter des großen staatlichen und wirt‐ schaftlichen Unternehmens jeden wie auch immer gearteten Widerstand, denn dieser kann in kontrollierbare Bahnen geleitet werden. Darüber hinaus schafft erst jeder noch so winzige Vorbehalt die Voraussetzung für die emsige Tätigkeit der staatlichen Funktionäre. Sie sind überfordert wie die Beamten in Jüngers Eumeswill und Peter Schneiders Eduards Heimkehr (1999). Sie beobachten un‐ entwegt, legen Dossiers an, erkunden jede Regung der Menschen und suchen nach Erklärungen. Sie können kaum zwischen Wahrheit und Fiktion unter‐ scheiden. Trotzdem müssen sie versuchen, das kollektive Denken zu deuten. Sie ähneln Schriftstellern, die auf dem Weg der Ich-Suche zu Grundformen des Denkens vordringen. Der Schriftsteller ahnt diese Situation und kann sich von seinem Doppel‐ gänger, einem Stasi-Beamten, nicht mehr trennen. Er beginnt wie dieser zu sprechen, zu denken und zu schreiben. Schließlich stellt er fest, dass auch die Anweisungen des Beamten auf seiner Maschine geschrieben sind. Der andere und er bilden eine Einheit. Sie haben teil an dem allgemeinen Geschehen. Sie sind Mitarbeiter beim Erfassen einer nicht abschließbaren Akte. Ihr Dasein ist reduziert auf Funktionen. Der allgemeine Verlust jeder Orientierung konver‐ giert mit der Verwandlung des Staats in ein Phantomgebilde. Deshalb nehmen nicht nur verzweifelte Ausbruchsversuche, die ins Leere stoßen, sondern allge‐ meine Lähmungserscheinungen der Figuren zu. Die Müllhalde in Hilbigs Die Kunde von den Bäumen (1992, 1994) kennzeichnet die allgemeine Stagnation. Der Schriftsteller sitzt schließlich im Schuppen auf dem gigantischen Müllplatz; Asche rieselt auf ihn und sein Papier; Vergangenheit wie Gegenwart sind Abfall, aus dem sich nichts Zukünftiges deuten lässt: „… der Schuppen verwandelte sich in ein schwankendes, wie rasend klapperndes Gefährt, das führerlos über to‐ bende Wellen flog …“ (65) Die Unterwelt ist oben. Acheron erscheint als ein Strom von Asche, den man nicht mehr überquert, denn das Jenseits liegt im Diesseits. 6. Rückgriffe auf die Antike 176 21 Jochen Beyse. Das Affenhaus. München: List, 1986. 12 ff. Das Provisorium (2000) schließt im Erfassen der Ich-Krise und der bohrenden Selbstanalyse deutlich an die Problemstellung in Ich an. Die zentrale Figur, der Schriftsteller und Erzähler C., ist gefangen im ausweglosen Labyrinth einer Be‐ wusstseinslage, die ihn zur repräsentativen Figur für lebensversehrte, aus der Gesellschaft gefallene Menschen der heutigen Zeit stilisiert. Das Irren im La‐ byrinth wird zur Seinsverfassung. Wiederkehrende Schaffens- und Existenz‐ krisen bestimmen den Gesichtskreis der Figur. C. fühlt, er sei undurchschau‐ baren und unkontrollierbaren Mächten ausgeliefert. Die Motivik des Labyrinths befestigt jedoch nicht nur das Erzählgerüst einzelner Werke und stellt Identi‐ tätskrisen in den Vordergrund; sie prägt auch stilistische Eigenheiten. Beyse entwirft im Affenhaus die bedrängende Vorstellung der existenziellen Not des immer Gleichen im Sprechen einer Figur, die sich in einem Pflegeheim aufhält. Das Denken der Figur wird maßgebend bestimmt von einer geschichts‐ losen Märchenwelt, irrlichternden Eindrücken der Umwelt, der Verfilmung von Tarzan-Abenteuern, die für die Figur mythische Bedeutung haben, Erinne‐ rungen an Gelesenes und dem Vorhaben, einen Lebensbericht zu schreiben. Der Erzähler muss „unaufhörlich“ reden, experimentiert mit „seltenen Vokabeln“, schreit im Speisesaal einen Menschen an, von dem er glaubt, er sei ein Schrift‐ steller, und fühlt sich „erschöpft“ von den „gewaltigen Bildern“, die er sich aus‐ denkt. 21 Er hat die Tarzan-Geschichten von Edgar Rice Burroughs gelesen, iden‐ tifiziert sich mit Tarzan, bewundert die Affengestalt als „echtes Ebenbild Gottes“ (14) und glaubt auch zuweilen, dass er an einem Film mitwirkt. Er beobachtet eine Pflegerin, seine Jane, die die „Veteranen“ des Heims „putzt und herrichtet“ (15), hat plötzlich den Verdacht, dass sie den Leuten ohne deren Wissen Medi‐ kamente verabreicht, und vermutet, in einem Affenkäfig zu sein. Beim Be‐ trachten von Zeichnungen Hogarths kommt ihm der Gedanke, vielleicht nur in einem Computerprogramm zu existieren. „Es wäre auch möglich, daß ich im Rahmen verschlungener und nie aufzuklärender Regelabläufe das eine Spielfeld verließ, um in anderen dunklen Zeichensystemen unterzutauchen, in überent‐ wickelten Kontrollkreisen … Schaltstrukturen“ (26). Er und die Leser sind glei‐ chermaßen mystifiziert. Er halluziniert. Das Affenhaus verwandelt sich mögli‐ cherweise in ein Irrenhaus, möglicherweise in ein Elektronengehirn. Der Hinweis auf Schaltsysteme ist bei Beyse durchaus ernst zu nehmen, denn die Figuren sehen sich in zahlreichen Erzählungen gezwungen, ihre Annahmen über das Wesen der eigenen Phantasie und der Intelligenz am Computer zu testen. Der Erzähler ist verstört, verliert die Orientierung und kann nicht mehr zwischen eigenem Denken und dem Ablauf von Programmen unterscheiden. 6. Rückgriffe auf die Antike 177 Deshalb versucht er immer wieder menschliche Kontakte herzustellen. Er kann aber nie mit Sicherheit wissen, ob die Figuren im tradierten Sinn natürlich sind. Die Möglichkeit besteht, dass es sich um Automaten handelt, die ihre Funktion im Programm „menschliche Existenz am Ende des 20. Jahrhunderts“ erfüllen. Er verfolgt den Schriftsteller Maude. „Sie sind also Schriftsteller, schrie ich … Keine Antwort. Romane vielleicht, schrie ich. Erzählungen. Schweigen. Ich dachte nach. Novellen, schrie ich … Also Tiergeschichten, schrie ich.“ (36) Er lauert Maude auf; will mit ihm über Proust, Burroughs oder Emily Brontë reden. Er verlangt von ihm den zweiten Satz zu seiner eigenen Erzählung und brüllt auf ihn ein, bis Maude sich wehrt und ihm schweigend mit einem Löffel auf dem Kopf herumtrommelt. (41-42) Alle Ausbruchsversuche scheitern. Der Erzähler fühlt, er sei einem Phänomen von höchster Bedeutung auf der Spur. Sein Denken ist jedoch überfordert. Der labyrinthische Diskurs nimmt das Erzählte völlig auf, und Elemente der Erzählung werden wie in Natalie Sarrautes Tropes (1939) zu handelnden Figuren. Das Rätsel bleibt ungelöst, und alle Durchbruchs- und Ausbruchsversuche scheitern. Diese Situation, in der das Erkenntnisvermögen versagt und der Schriftsteller nur noch eine Bestandsaufnahme der allgemeinen Erstarrung anlegen kann, hat Stefan Schütz unter dem Leitbild Medusas gedeutet. Medusa (1986) schildert das Leben in der heutigen Zeit, das sich, gebannt durch den Blick Medusas, in töd‐ lichem Kreis- und Leerlauf dreht. Das hektische Dasein und die Raumgestaltung sind in dem Roman nicht zu trennen. Die Figuren bewegen sich in einer kulis‐ senhaften Landschaft und in Räumen, die eigentümlich unbestimmt zeitnahe und zeitlos sind. Die Bildsphären des Kreises und der Nähe-Ferne begründen Raumvorstellungen, die eigentlich verschiedene Möglichkeiten der Seinsver‐ fassung andeuten. Der Bewegungskurve in die Ferne, zurück zur Vergangenheit, entspricht die Auffassung einer nach Erkenntnis strebenden und dadurch denk‐ baren Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Die zentripetale Kreisbewegung, die sich immer erneuert, weil die gestaltgebende Mitte fehlt, macht die Be‐ wusstseinslage des verunsicherten Seins sichtbar. Diese Vergegenwärtigung des Widersprüchlichen, das mehrdeutige Rollenspiel der Figuren, die ständig wech‐ selnde Erzählperspektive und die durch das ganze Werk verstreuten Zitate zeigen, was der Roman anstrebt. Er bietet eine kritische Bestandsaufnahme menschlicher Defizite in einer zu Ende gehenden Kulturperiode. In einem Ausruf klingt die Sehnsucht an, die Vergangenheit beleben zu können: „Ach, könnt ich sie an meinen Banden knüpfen, aus dem Totenreich herüberholen, Sappho, Medusa, Luxemburg. Ehrwürdig grüßend von den Ufern 6. Rückgriffe auf die Antike 178 22 Stefan Schütz. Medusa. Reinbek: Rowohlt, 1986. 721. des Lethestroms und Acheron.“ 22 Der Wunsch bleibt jedoch ein vergeblicher Hilferuf. Das Ideal besteht fort, entzieht sich jedoch dem Zugriff und bleibt an‐ spruchsvolles Verlangen: „Nur in beidem entwickelt sich der Mensch, im Bösen wie im Guten, und wenn nicht das Bewußtsein sich dazu aufrafft, der Vollendung der Schrecken die Spirale einer höheren Entwicklung entgegen zu stellen, wird es sowieso ein Ende mit Schrecken …“ (443) Viele Zitate und Anspielungen heben die Banalisierung des Bildungsguts hervor. Sie unterstreichen die Ab- und Um‐ wertung überlieferter Ideen und Ideale. Schütz übernimmt aus der literarischen Tradition geflügelte Worte, Textstellen und Vorstellungsgehalte. Er unterwirft jedoch das Tradierte seinem kritischen Erzählverfahren, das darin besteht, alles in einen Redestrom einzublenden, der philosophische Entwürfe und Plattheiten, Maximen und leere Phrasen, entgegengesetzte Bilder und Sinngehalte ver‐ bindet. Ein Anflug von Liebe und wollüstiges Wühlen im Sexuellen stehen ne‐ beneinander. Auch die Ambiguität einzelner Stellen, die häufig wechselnde Per‐ spektive und das plötzliche Abbrechen des Handlungsfadens stellen die Leser in einen Zusammenhang, den sie weder sofort überschauen noch erklären können. Diese gedankliche und strukturelle diskontinuierliche Form weist nicht nur auf das Bruchstückhafte der menschlichen Erfahrung hin, sondern nimmt sie völlig in sich auf. Das fächerartig angelegte System der Beziehungen, Kon‐ flikte und Erfahrungen kreist um die Themenverflechtung von Anpassung an das Unabänderliche, Aggression und Angst. Die Vergegenwärtigung unvereinbarer Gegensätze ist eng verbunden mit Schilderungen aggressiver Ausbruchsversuche aus dem undurchschaubaren, deterministischen Geschehen. In der Gestaltung von Ausbruchsversuchen zeichnen sich bestimmte Tendenzen ab, die die Literatur heute prägen. Bevor‐ zugte, wechselseitig bedingte oder einander zugeordnete Themen und Motiv‐ kreise, die das Erzählgerüst befestigen, sind: bizarre Vorstellungen des Göttli‐ chen (Thorsten Becker. Schmutz, 1989); aggressives, brutales Handeln (Ursula Haas, Freispruch für Medea. 1987; Dagmar Nick. Medea - Ein Monolog. 1988) und die einseitige Begrenzung des Daseins im Geschlechtlichen; das Versagen der Erkenntnisfähigkeit und die Trivialisierung des Bösen; die Erfahrung des ano‐ nymen Daseins und die Flucht in die Öffentlichkeit der Olympiaden und Welt‐ rekorde oder in die Phantomwelt des Internets. Anspielungen und direkte Hinweise auf die Olympischen Spiele, die nach Pindar ins mythische Zeitalter zurückreichen, sind in der Gegenwartsliteratur häufig der thematisierten Einkreisung und dem Verlust sinngebender Prinzipien zugeordnet. Sinnlose Rekordsucht (parodiert von Norbert Gstrein in O2, 1993), 6. Rückgriffe auf die Antike 179 23 Jochen Beyse. Der Ozeanriese. München: Piper, 1989. 80. lebensgefährliche Kämpfe, Opfer und wahnsinniges Wettrennen, das dem Ziel einer Siegerehrung vor dem Fernsehen entgegenstrebt, verdrängen die mit den Olympischen Spielen verknüpften Vorstellungen der Friedenszeit und des ehe‐ mals zu Ehren des Pelops gebrachten Voropfers. In Der Ozeanriese (1989) steckt Jochen Beyse das Terrain ab, auf dem ein Weltrekord entsteht. Das Szenarium schließt ein: den Leistungsschwimmer Brunswick, seinen Trainer Bloch, der die Ereignisse schildert, eine Bildjournalistin, die „für und in Schlagzeilen“ lebt, einen japanischen Pressefotografen, einen Sportmediziner, der die Glukosema‐ schine bedient, einen Sportphysiotherapeuten, einen Montageingenieur und einen Lotsen. Brunswick schwimmt von Kuba über die Floridastraße nach Ma‐ rathon. Die Massenmedien sorgen für die Übertragung des Ereignisses. Das ge‐ samte Denken und Handeln ist bestimmt von der Rekordatmosphäre. Die Fi‐ guren sind der Veranstaltung hilflos ausgeliefert. Sie inszeniert das Leistungsschwimmen als modernes Gesamtkunstwerk. Die Musik von Wagners Meistersingern erklingt. Brunswick schwimmt in einem Käfig, einem Maschen‐ drahtnetz, einem Stahlfloß. Er konzentriert sich auf einen weißen Streifen, der unten am Netzboden entlanggezogen ist. Er macht den Eindruck eines Hamsters in der Trommel, „der läuft und keinen Schritt von der Stelle kommt.“ 23 Er ist ein Schwimmkörper, ohne Willensfreiheit, ein „Kunstmensch in einem Kunstmeer“ (83). Der hermetisch eingeschlossene Mensch wird zum Sinnbild für das Ich, das zeitlos und beziehungslos auf ein bedeutungsloses Ziel zustrebt. Der Käfig ist die Metapher für die allgemeine Unfreiheit, der niemand entkommen kann. Weltrekordler, Manager und alle Mitwirkenden sitzen so wie das erwartungs‐ volle Publikum in der Falle. „Dieser Käfig ist die Welt, wie die Welt ihrerseits nur eine absurde Konstruktion ist, ein gigantisches Trommelgehäuse für eine wimmelnde Schar von Menschen.“ (80) In Larries Welt (1992) versucht der Handlungsträger zu überleben, indem er, operativ verändert, in der virtuellen Wirklichkeit von Spielprogrammen unter‐ taucht. Im Programm zu sein, von allen gesehen zu werden, bietet Sicherheit vor der anonymen Organisation, die das gesamte Leben beherrscht. Larrie be‐ teiligt sich an einem weltweit übertragenen und von einem Quizmeister gelei‐ teten Ultra-Quiz. Das Quiz ist als Olympiade arrangiert. Hinweise auf Olympia - Voropfer, Aufstellung auf einer von Scheinwerfern bestrahlten altarähnlichen Fläche im Hauptschiff einer Kirche, Herolde, Trompeten - und das Wettrennen selbst erwecken den Eindruck eines mythischen Geschehens. Während des alle Kräfte überfordernden Wettlaufs durch Wüsten, die scheinbar ins Unendliche münden, durchläuft Larrie zahllose Phasen eines Lebens. Er gerät in Erregungs‐ 6. Rückgriffe auf die Antike 180 zustände, verkommt, verschlingt das Essen wie ein Süchtiger, um den Körper zu erhalten, wird verletzt, weiß nicht, ob er an einem Wettlauf oder dem Krieg teilnimmt, halluziniert, denkt an frühere Zeiten und lebt sich schließlich in die Rolle des Spielers ein. Er erkennt, die Erfahrung eines eigenen Gefühls ist nur in der Behauptung seines ferngesteuerten Willens im Exzess der Höchstleistung möglich. Er sieht sich auf dem Bildschirm, rennt pausenlos und bezahlt sein Überleben mit dem Verlust der Menschenwürde. Als er zu sich kommt, ist die Welt nicht wiederzuerkennen. Das Ende der Erzählung ist nüchtern und ent‐ spricht den Metamorphosen Larries. Er bricht nicht auf zu neuen Ufern, sondern kehrt in den Lärm der Welt zurück. Er ist aus der Vernetzung aller Lebensbe‐ reiche entstanden und bleibt eine Datengestalt. Auf der Projektionsfläche Cy‐ berspace entsteht kein neuer Mensch. Aus den Wundern und Reizen der neuen Welt blicken noch immer die Augen der anderen und unter ihnen, bis zum Selbstverlust verloren, das Auge des Ich. Es ist sicherlich ein Zeichen der neuen Wirklichkeiten, wenn Schütz in Ga‐ laxas Hochzeit (1993) im Verschmelzen von Mensch, Computertaste und Monitor einen Weg aus der Krisensituation der Zeit anbietet. Die Erzählung, strecken‐ weise ein parodistisches Genrebild unserer Zeit, streckenweise Fäkaliendich‐ tung, entwirft unter erheblichem Aufwand von entwerteten Kulturgütern (An‐ spielungen auf die Antike, Kant, Goethe, Schleiermacher, Bloch und Beckett) und satirischen Angriffen auf Idole der Gegenwart (Freud, Sexus, Feminismus) die Vision einer Endlösung. Jede optimale Entwicklung der Menschen im Geis‐ tigen kommt zum Stillstand. Der Trieb als Urgrund aller menschlichen Bestre‐ bungen bricht sich Bahn. Er wird Bild im Priapismus. Der Mann, ein wiederge‐ borener Priapos, wird zum Rekordler der sexuellen Potenz. Der neue Fruchtbarkeitsgott ist der Konsumgesellschaft angemessen. Er ist verkäufliche Ware, ein Phallus, ein begehrtes Objekt. Er fährt durch die Welt als irrlichternder Odysseus und Zarathustra, ohne die Ursachen der gegenwärtigen Verfassung zu verstehen. Der andere Pol der Gesellschaft ist Galaxa, das Urbild des Weibli‐ chen. Galaxa herrscht im Reich der Datenverarbeitung. Sie entspricht ihrer Sphäre und ähnelt einem Mosaik aus der Liebesgöttin Aphrodite, den Nymphen Galaxaure und Galatea und auch der von Helios geschaffenen Milchstraße Ga‐ laxia. So versinnbildlicht sie zugleich Liebeslust, Schönheit und den Aufent‐ haltsort der Seelen in galaktischen Räumen. Sie zieht den Mann-Phallus in den Bildschirm und verwandelt alle Menschen in Parzellen, die nur im Speicher des Computers existieren. Das Elektronenhirn hat alle Reflexe und Handlungen programmiert und plant das Konditionstraining des gesamten Lebens. Der um‐ fassende Prozess bezieht alles ein. Auf der Erde surren Drähte, die Speicher aufladen. Was verbleibt sind wesenlos umhertreibende Erinnerungsbilder. 6. Rückgriffe auf die Antike 181 Vom ursprünglichen Anderssein ist ein kaum noch hörbarer Nachklang vor‐ handen. Es lebt als winziger Computerchip im Gehirn, von dem aus zuweilen ein Ruf an das Gewissen ergeht. Die anderen sind entweder verblendet oder unwillig die Wahrheit zu sehen. Sie haben keine Handlungsfreiheit und passen sich unbedenklich den Umständen an. Sie treten auf als ausführende Organe kollektiver Vorstellungen. Sie erscheinen als anonyme Funktionäre, aber auch als aggressive Triebmenschen, die die Mitmenschen zu Objekten reduzieren. In zwischenmenschlichen Beziehungen sind die letzten Reste einer Intimsphäre getilgt. Das konkrete Ganze des Seins besteht aus Funktionen. Die Figuren sind an einen Prozess gekettet, der mit dem Geschichtsbewusstsein einsetzt, ins Un‐ gewisse verläuft und zeitlos wirkt. Schilderungen der anderen heben deren Freiheitsverlust hervor. Das Ich entdeckt auf der Suche nach geistiger Orientie‐ rung diesen Prozess und auf dem Weg in die Welt ein Labyrinth des Raums. Es sucht in der eigenen Vorstellungswelt Halt. Die innere Fixierung stößt auf Un‐ freiheit des Willens, auf ein deterministisch-fatalistisch abrollendes Geschehen. Aus den Augen anderer blicken die eigenen. Die Mensch-Figur ist eine Chimäre, eine Symbiose von Figur und Computer, eine Maschine, ein atmender, gieriger, zuweilen triebgebundener, zuweilen denkender, kalt planender Automat. Was bleibt sind Ausbruchsversuche: mythisierende Vereinfachungen, die sicherlich kritisch den Verfall der Tradition beleuchten, aber möglicherweise selbst daran teilhaben, die Flucht in die neue Märchenwelt der unendlichen Weiten der Mo‐ nitore, das Entsetzen des Endknalls und ein punktgenauer Rückgriff auf ein Deutungsmuster der antiken Tragödie. Einzelne müssen leiden und durch‐ halten, denn das Wesen des Göttlichen ist unerklärbar. Jeder Versuch, das An‐ derssein in ein sinnvolles Weltbild zu integrieren, muss scheitern. Aus themengeschichtlicher Sicht lässt sich folgender Vorgang skizzieren. Das Anderssein als Legitimationsfigur des Göttlichen und Appellstruktur im Aufruf zur bewussten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und zur Selbstver‐ antwortlichkeit erscheint in der Gegenwart sowohl im Gewand der anderen als auch in der Form der Konzentration auf das Ich. Die ursprüngliche Verfassung des Göttlichen, Boten und deren Botschaften, Idealvorstellungen und wegwei‐ sende Utopien sind kaum noch verständlich. Sie sind Erfindungen, an die nie‐ mand mehr glaubt. (Wolf) Die in das historische Geschehen verwickelten Per‐ sonen sind entweder verblendet oder unwillig die Wahrheit zu sehen. Sie haben keine Handlungsfreiheit und passen sich unbedenklich den Umständen an. Sie treten auf als ausführende Organe kollektiver Wünsche und Abneigungen, er‐ scheinen als anonyme Funktionäre, aber auch als aggressive Triebmenschen, die die Mitmenschen zu Objekten reduzieren, und Figuren, die in die unendli‐ chen Weiten der Monitore flüchten. Schilderungen von Figuren, deren So-Sein 6. Rückgriffe auf die Antike 182 keine Befreiung aus dem Gegenüber zum Anderssein findet, betonen deren Freiheitsverlust. Die innere Fixierung stößt auf Unfreiheit des Willens, auf ein deterministisch-fatalistisch abrollendes Geschehen. Aus den Augen anderer bli‐ cken die eigenen. Rückgriffe auf die Vergangenheit und die Antike dienen dazu, diese Situation zu unterstreichen und mythologisch zu befestigen. 6. Rückgriffe auf die Antike 183 1 Horst Stern. Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italienischen Staufers Fried‐ rich II. München: Droemer, 1986, l993. 7. Nikolaus Förster in Die Wiederkehr des Erzäh‐ lens. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1999 betrachtet die inszenierte authentische Vergangenheit als Trend in der postmodernen Literatur. 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner Texte, die sich im Rahmen einer historisch eingefärbten Schilderung mit der deutschen Vergangenheit im 20. Jahrhundert auseinandersetzen, und Erkun‐ dungen von historisch belegten Ereignissen und Figuren, die in der Historio‐ graphie übersehen oder nur kurz erwähnt werden, sind schwierig voneinander abzugrenzen. Sprachliche und stilistische Erscheinungen überschneiden sich. Gemeinsam ist allen Darstellungen der Anspruch auf Authentizität. Das trifft zu sowohl auf detaillierte Beschreibungen der Erlebnisse von Figuren wie Kaspar Hauser, Friedrich Nicolai und der kleinen Stechardin in Hofmanns gleichnamigen Roman als auch die fingierte Wirklichkeitstreue in Lebensläufen von fiktiven Figuren. Zahlreiche Autoren verwenden die Technik, eine fingierte Authentizität von historisch verbürgten Geschichten oder historisch belegbaren Fakten und Figuren zu inszenieren. Das Verfahren erweckt den Eindruck der Tatsachentreue und historischer Zuverlässigkeit des Geschehens. Die Darstel‐ lungen stützen sich auf scheinbar abgesicherte Ereignisse in der Vergangenheit. Diese Erzählstrategie wurde entworfen und hoch entwickelt von Wolfgang Hil‐ desheimer in Marbot. Eine Biographie (1981), Christoph Ransmayr in Die Schre‐ cken des Eises und der Finsternis (1984) und Horst Stern in Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italienischen Staufers Friedrich II . (1986). Der Kunstgriff in Hildesheimers und Sterns Erzählungen, der Technik in Patrick Süskinds Das Parfum (1985), Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit (1983) und Ein Gott der Frechheit (1994), Jens Sparschuhs Der Schneemensch (1973) und Lavaters Maske (1994) wie auch Robert Schneiders Schlafes Bruder (1992) vergleichbar, besteht darin, Figuren zu erfinden, sie in ein historisch glaubhaftes Milieu zu versetzen, und ihre Existenz mit der Begründung abzusichern, dass sie nur ver‐ gessen sind, weil sie keine direkten Spuren in der offiziellen Geschichtsschrei‐ bung hinterließen. Sterns Friedrich II . beginnt beispielsweise sein Tagebuch mit der Bemerkung, sollten seine Beobachtungen je in die Hände eines Historikers fallen, dann würden sie sicherlich als Fälschungen klassifiziert werden. 1 An‐ deutungen dieser Art unterstreichen den Eindruck der Tatsachentreue und bieten die Voraussetzung für den fingierten historischen Wirklichkeitsanspruch 2 Zur thematisierten Figur und zum Stoff siehe die Nachschlagwerke von Hermann Pies. Kaspar Hauser. Fälschungen, Falschmeldungen und Tendenzberichte. Ansbach: Muse‐ umsverlag, 1973; Renate Vorhis. Peter Handke: Kaspar Hauser. Frankfurt a. M.: Dies‐ terweg, 1984; Ursula Sampath. Kaspar Hauser: A Modern Metaphor. Columbia, S. C.: Camden House, 1991; Ulrich Struve (Hg.). Der Findling. Kaspar Hauser in der Literatur. Suttgart: Metzler, 1992. der Texte. Zugleich gerät dieser in Widerspruch zu dem Kunstcharakter, dem phantastischen Fabulieren und dem betont technisch Gestalteten der Erzäh‐ lungen. Das ausgesprochen Moderne der Texte beruht auf dem Bemühen, Au‐ thentizitätsanspruch und phantasievolles Erzählen auszubalancieren. Das Erzählverfahren der inszenierten Vergangenheit ist gleichermaßen nach‐ weisbar und besonders kunstvoll entwickelt in Stücken und Erzählungen, die historisch belegte Figuren oder Vorfälle zum Ausgangspunkt ihres Fabulierens machen, wie etwa Handkes Sprechstück Kaspar. Die Figur Kaspar Hausers, des stammelnden Jünglings, der am Pfingstmontag 1828 in Nürnberg auftaucht und fünf Jahre später in Ansbach ermordet wird, hat zu zahllosen literarischen und historischen Deutungen und Erzählungen angeregt. 2 Geheimnisumwittert, Erz‐ herzog von Bayern, Grafenkind, katholischer Geistlicher, Künstler, Fremdling und Außenseiter in der Gesellschaft, Harlekin, Narr und Opfer, eignet sich die Figur zur Deutung der individuellen Entwicklung in der Gesellschaft. Im Ge‐ gensatz zur Entfaltung des Einzelnen zur Selbst- und Welterkenntnis im tradi‐ tionellen Bildungsroman konzentriert sich Handke auf den Zwang der Einord‐ nung und Gleichschaltung, der in der NS -Zeit die Menschen im Bann hielt. Das Stück ist im Bild nicht gelöster Gegenwartstendenzen eine aktuelle Erneuerung und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Es greift unter anderem Ge‐ danken aus Bertolt Brechts Mann ist Mann (1927) und Schweyk im zweiten Welt‐ krieg (1957) auf, zitiert aus Ödön von Horváths Glaube, Liebe, Hoffnung (posth. 1973) und weist hin auf die Selbstdeutung Gottes in 2. Mose 3. Die zahlreichen Anspielungen unterstreichen, dass Kaspar eine Figur sozialer Störungen und Wandlungen ist, die im Stück immer neu aufgeladen und gedeutet wird. Kaspars wiederholte Ansätze zu einer Selbstdeutung und Selbstverwirkli‐ chung scheitern. Die Begriffsbestimmung der Selbstverwirklichung setzt vo‐ raus, dass individuelle Verhaltensweisen nicht wahllos, sondern zweckbestimmt sind und in einer erkennbaren Persönlichkeitsstruktur wurzeln. Sozialpsycho‐ logen stimmen in der Annahme überein, dass das menschliche Verhalten orga‐ nisiert ist. Die maßgebenden Untersuchungen heben jedoch unterschiedliche Gesichtspunkte, vor allem biologische, juristische, theologische, psychologi‐ sche, soziologische und biosoziale, in der Beurteilung der Persönlichkeitsent‐ faltung und -orientierung hervor. Ganz ähnlich vergegenwärtigen literarische 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 185 Figurenkonzeptionen entweder dominante Charakterzüge, die die Persönlich‐ keit prägen, oder betonen Verhaltensweisen, die ihren Ursprung in der gesell‐ schaftlich determinierten Selbsteinschätzung und Anpassung an die Umwelt haben. Im weitesten Sinne schließt das Thema der Selbstverwirklichung alle Handlungsweisen ein, die die Integrität der Persönlichkeit in der ständigen Auseinandersetzung mit der Welt bewahren. Die deutschsprachige Gegenwarts‐ literatur zeigt wiederkehrende Grundkonstellationen der Selbstverwirklichung, die sich durch übereinstimmende Figurenkonzeptionen und Motivzuordnungen auszeichnen. Detailschilderungen einzelner Eigenarten und die Erzählperspek‐ tive weichen in den Texten oft stark voneinander ab. Trotzdem zeigen die der thematischen Anlage und Lösung entsprechenden Ausprägungen der Figuren‐ konzeption eine hohe Frequenz vergleichbarer Merkmale. Figuren können als entwicklungsfähig entworfen werden und eine hohe Stufe der Welterkenntnis erreichen. Sie können so gewählt sein, dass sie in einem dramatisch zugespitzten Augenblick der Enthüllung ihre Schuld, ihren Irrtum, die Gebrechlichkeit der gesellschaftlichen Verfassung oder das Netz der Umstände erkennen, das ihre freie Entwicklung verhinderte. Unter diesen besonderen Voraussetzungen ver‐ mittelt das Wechselverhältnis von Figurenaufbau und Handlung gewöhnlich einen Ausblick auf die abgeschnittenen, optimalen Entwicklungsmöglichkeiten und regt zur Auseinandersetzung mit der Frage der freien oder vorherbe‐ stimmten Daseinsgestaltung an. Das Thema geht jedoch in andere thematische Konzeptionen über und klingt in ihnen nur noch entfernt nach, wenn die Fi‐ guren im Prozess der Selbstverwirklichung auf Weltanschauungen und Wert‐ systeme stoßen, die ihrer Auffassung völlig widersprechen. Die wiederkehrende „Sprechfolterung“ Kaspars durch monotone Stimmen aus dem Sozialbereich erzielt die Vermittlung von Satzmodellen, in denen ein „Ich“ im Prozess der Suche im Mittelpunkt steht. Das Kaspar-Ich erfährt einen Vorgang, der jede sinnvolle Entwicklung menschlicher Eigenschaften unter‐ bindet. Ein Vergleich von Handkes Stück mit Wilhelm Raabes Das Odfeld (1888) ist besonders aufschlussreich, da beide Werke den Zusammenstoß von Indivi‐ duum und Gesellschaft auf völlig gegensätzliche Weise lösen. Noah, die Haupt‐ figur in Raabes Erzählung, wird kurz nach Abschluss seiner Lehrtätigkeit in Kriegswirren versetzt, die seine Vorstellung der Weltordnung aufs Schwerste prüfen. Er wird aus seinem Zimmer vertrieben, wandert über das Schlachtfeld, findet Zuflucht, wird wieder aufgejagt und kehrt am Ende des Tages zu seiner Klause zurück. Er versucht die ständig auf ihn eindringenden neuen Eindrücke zu verstehen, indem er sie aus der Sicht seiner ausgedehnten Kenntnisse der Mythen, Literatur, Philosophie und Geschichte beurteilt. Die ständige Gegen‐ überstellung der Beobachtung unerwarteter, zeitnaher Ereignisse mit einem 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 186 Wissen, das sich auf die Erkenntnis der Vergangenheit stützt, enthüllt nicht nur die zunehmende Bewusstseinserweiterung der Figur, sondern beleuchtet auch einen Vorgang, in dem jedes Betrachten in ein Vergleichen und ein Verstehen übergeht. Die fortgesetzte Reflexion vermittelt den Eindruck eines dynamischen Prozesses, der unvereinbare Gegensätze einschließt und dadurch die Möglich‐ keit andeutet, dass Einzelne selbst in den Widersprüchen des Lebens bestehen können. Die Darstellung verbindet detaillierte Beschreibungen des Geschehens mit der scheinbar unüberschaubaren Bewegung der Figuren auf dem Schlacht‐ feld, eingeschobene Überlegungen des Erzählers mit ständigen Reflexionen Noahs, stark realitätsbezogene Bildfügungen mit Träumen, Eindrücke einer er‐ kennbaren Weltgeschichte mit sinnlosen Ereignissen. Die Parallelen um‐ spannen ethische Imperative und amoralische Prozesse, sorgfältig ausgeführte Manöver und planlose Reaktionen, das Rationale und das Irrationale. Der dia‐ lektische Vorgang der ständigen Befragung der Ereignisse und der Neuformu‐ lierung der Fragen bezieht nicht nur die Figuren, sondern auch den Erzähler ein und überträgt auf den Leser durch den ununterbrochenen Vorgang der Prob‐ lemgebung und der möglichen / unmöglichen Lösung eine unerwartete Er‐ kenntnis. Die thematische Darstellung der Selbstverwirklichung bei Raabe ist unlösbar mit dem fortschreitenden Prozess der geistigen Horizonterweiterung verknüpft. Noah muss daher selbst im Prozess des Werdens erscheinen, kann auch nicht das Problem lösen, da jede Antwort zu einer neuen Frage führt. Er‐ sichtlich wird nur, dass der Mensch die Gegenwart und Vergangenheit ständig vergleichen muss, um Anhaltspunkte für das zukünftige Geschehen zu finden. Kaspar dagegen erfährt ständig wechselndes Ich-Gefühl durch Satzmodelle, die von außen auf ihn eindringen. Die Sätze lassen keinen Rückgriff auf die Vergangenheit zu; sie wird nie befragt, nie kritisch beleuchtet, wird nie erneuert. Die Gegenwart erscheint im Bild der Bühne und wirkt undurchschaubar. Kaspar, angezogen und auch geschoben, schlüpft durch einen Spalt im Vorhang auf die Bühne. Sie ist gegenwärtig, ist die Welt, in der er sein Ich finden muss. Er stolpert, fällt, steht auf, setzt sich, beginnt zu sprechen und hört die Stimmen, die auf ihn eindringen, ihn quälen und ihm alles, was in der Gesellschaft vorkommt, ver‐ mitteln: Bruchstücke von Sätzen, Werbungen, Redensarten, Bibelsprüche und Gebrauchsanweisungen. Kaspar lernt sprechen, aber Eigenes und Übernom‐ menes verschwimmen. Er wiederholt und lernt widersprüchliche Formulie‐ rungen. „Ich werde sein, der ich sein werde.“ „Ich möchte ein solcher werden wie einmal ein anderer gewesen ist.“ „Ich werde gewesen sein, weil ich bin.“ Er ruft dreimal: „Ich bin, der ich bin“ und fragt plötzlich: „warum fliegen da lauter schwarze Würmer herum? “ Die Figur auf der Bühne tritt ins Leben, spaltet sich in fünf andere Kasparfiguren, die um ihn herum gleiten, seine Nägel feilen und 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 187 3 Peter Handke. Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Ein Schauspiel, in: Die The‐ aterstücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 574. laut tobend bezeugen, dass nur die Anpassung, aber nie menschliche Entwick‐ lung zur Selbsterkenntnis möglich ist. Die unverständliche Vergangenheit und die undurchschaubare Gegenwart, Stimmen, Befehle und Wünsche, Akteure und Nischensteher, Schuld im Handeln und in der Anpassung: alles vermittelt den Eindruck der Auflösung einer Gesellschaft, in der jede Verständigung ver‐ sagt. In anderen Stücken Handkes sind Aspekte der Vergangenheit in der Persön‐ lichkeitsentfaltung Einzelner kaum noch nachweisbar. Die Spuren ver‐ schwimmen. Was bleibt, ist die absolute Vereinsamung wie etwa in dem Schau‐ spiel Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992). Das Bühnenbild präsentiert einen Platz im hellen Licht, glänzend, umbraust von Getöse; am Ende bleibt der „helle leere Platz, in seinem Erinnerungslicht“; er wird völlig dunkel. 3 Über diesen Platz ziehen, laufen, stürzen und schlurfen repräsentative Figuren aus der gegenwärtigen Gesellschaft und der Welt der jüngsten Vergan‐ genheit: junge und alte Menschen, Arbeiter, Touristen, Geschäftsleute, Post‐ boten, Hausfrauen, ein Kellner, ein Gangster, ein barfüßiger Gefesselter und Figuren, die einen Querschnitt durch die soziale Welt darstellen. Die Bewegung auf der Bühne ist gekennzeichnet von Kontaktverlust und Isolierung der Fi‐ guren. Sie gehen aneinander vorüber, versuchen zu grüßen, können nicht spre‐ chen und sind unfähig, in einen Dialog zu treten. Sie können nicht einmal einen Augenkontakt herstellen, der die Begegnung von Individuum zu Individuum einleitet. Handke radikalisiert in dem Schauspiel diesen Kontaktverlust, der ty‐ pisch für die Nischensteher und Nicht-Beteiligten in der NS -Zeit war. Zuweilen hören die Zuschauer: „Winseln, Brüllen, Geheul, Gebibber, Gekreisch“ (561) und aus der Tierwelt einen „Adlerschrei, einen Murmeltierpfiff wie auch das Schrillen einer Zikade.“ (564) Das ständige Kommen und Gehen im Getriebe der Zeit veranschaulicht den Kreislauf in einer sinnentleerten Welt. Die einzige Funktion des Lichtes ist die Anstrahlung einer Gesellschaft, in der jede Begeg‐ nung mit dem anderen, jede Selbst- oder Welterkenntnis, jede Auseinanderset‐ zung mit der Vergangenheit und jede Erleuchtung aussichtslos ist. Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994) belegt überzeugend, dass Handke auch einen Zugang zur Vergangenheit findet, der eine sinnvolle Deutung des menschlichen Verhältnisses zur Natur einleitet. Der Erzähler wirkt sensitiv und sinnt über das Wahrgenommene nach. Handke betont im Text und in einem Interview, dass er Mein Jahr handschriftlich mit einem Bleistift an einem Weiher außerhalb von Paris geschrieben hat. Die Nie‐ 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 188 4 Peter Handke. Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt a. M.: Surrkamp, 1994. 709-710. derschrift (1066 Seiten im Druck) der Beobachtungen, die der Erzähler an dem kleinen Gewässer macht, ruft Erinnerungen hervor, die sich in traumhafte Vi‐ sionen verwandeln. Die Betrachtung des Alltags geht über in Erinnerungen an das Leben des Autors und wird erweitert zur Suche nach dem verlorenen Heil in der Geschichte der Menschheit. Die Suche ist das zentrale Motiv in den Auf‐ zeichnungen. Sie setzt ein mit Beobachtungen der kleinen vor den Augen lie‐ genden Welt. Der Beobachter sitzt auf einem alten Baumstumpf, betrachtet Blätter, Pilze, Kröten, wilde Bienen, spürt den Regen auf seiner Haut und nimmt das organisch Wachsende wahr, das sich im Vorortbereich von Paris gegen die Zivilisation behauptet. Jedes Sehen wird zum Ansatz wiederholter Spiegelungen und Verwandlungen. Mit deutlich erkennbarem Anschluss an Goethes natur‐ wissenschaftliche Schriften und Bemühungen versucht der Erzähler einen Di‐ alog mit der Natur herzustellen. Sehen und Erkennen regen zum Nachdenken und Neubeginn an. In dem dynamischen Vorgang wird das Objekt in ein Subjekt verwandelt. Die kleine Welt symbolisiert das große Weltgeschehen. 4 Das Nach‐ denken schließt traumhaft die Vergangenheit und Zukunft ein und erfasst Ein‐ drücke aus der Kindheit, Österreich, Deutschland, Europa und Amerika. Die Verwandlungen berücksichtigen Freunde und objektivieren die Anderen, deren besondere Einstellung zur Welt zur eigenen werden muss. Der Chronist emp‐ findet, er könne die Lebenskurve anderer nur im Prozess der völligen Identifi‐ zierung verstehen. Das Nachvollziehen wird zum eigenen Erleben und führt von Rinkolach über die große Welt, sei sie Paris, Japan oder die USA , von alten Bau‐ erhöfen über historisches Geschehen in die Niemandsbucht. Scharf profiliert im Nachdenken über sein Leben ist das Verlangen des Chro‐ nisten, allein zu sein. Er will sich abgrenzen gegen den Zwang der Umwelt; will den Ansprüchen des Berufs und der Gesellschaft entkommen. „War es denkbar, daß es heutzutage in der Welt nichts mehr zu erzählen gab, bloß noch einen Erzählzwang? “ (702) Er widerspricht dieser Vorstellung. Das Ich, der Chronist, der Leser, Sänger, Maler, Architekt, Zimmermann, Priester, Freundin-Frau, Sohn und alle Erscheinungen müssen in ihrem Eigensein wie in ihren Ansprüchen an das Leben neu gesehen und verstanden werden. Ihre Geschichten, ihre Suche und ihre zwanghaften Erkundungen der Welt gehören zum Intimbereich des Schriftstellers. Sie sind gegenwärtig im Heute und der Antike, im Alleinsein, in Hermes, im Kind-Gott-Vladimir, im Kleinkind, das wie ein Stier brüllt, aber auch 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 189 5 Der Mythos wirkt greifbar und ist gegenwärtig. Er bleibt nicht künstliche Kulisse wie in der Erzählung Ein Gott der Frechheit (München: Piper, 1994) von Sten Nadolny. 6 Handke beklagt gleichermaßen „Schmutz und Verschmutzung“, Verdummung und menschliches Versagen in der Erzählung In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. malt und schreibt, ehe es die Sprache beherrscht: eine Vision der Inspiration, eingebettet in eine lebendig gewordene Mythologie. 5 Der Autor wird empfänglich für das Wunder der Natur. Aber das Gefühl ist nur ein Stadium auf dem Weg zum Verstehen. Der Stil, geprägt von der Auf‐ merksamkeit für das kleinste Detail, spiegelt im Rhythmus die Dynamik von Sehen, Suchen und Verstehen. „Und nun saß ich, wer? , in dem Baum von Arcueil, verborgen, in meinem Maßgewand mit Krawatte, spürte bei der bloßen Vor‐ stellung der Bièvre unten im Tal, mochte diese auch längst unterirdisch fließen, den Kirschdurst gemildert, rauhte mir an der aufgebrochenen, speziell scharfen Rinde des alten Kirschholzes die Fingerkuppen auf und roch daran, um mich empfänglicher, empfänglich, zu machen, ebenso wie noch heute an meiner höchsteigenen, bis auf einen einzigen Ast schon abgestorbenen Kirsche hier in der Bucht zwischen den Seine-Höhen, in der Befürchtung, taub und tauber zu werden, von den Rändern meines Körpers her.“ (285-286) Das Jahr ist eigentlich ereignislos. Aber der Autor erweckt das Raunen, das Rasseln und die Farben der Natur. Er horcht und lauscht: Wildbienengetöse im Felsblock (798) und Kind‐ heitssummen in den Telegraphenmasten. Er erblickt, betrachtet und beobachtet: Weiher, Lache, Astgabel, abgestorbene Bäume - „ein Urgrund des Lebens“ (822 ff.), auf dem sich Fabelwesen tummeln. (839) Das wirklich Bestimmende im Leben des Chronisten ist die Suche. Suchen bedeutet, „im Abenteuer“ zu sein. (887) Suchen ermöglicht Anschluss an die Tradition, lässt den anderen großen Sucher Goethe aufleben (890) und gibt dem Schreiben Richtung. Handke emp‐ findet, das Schreiben wirke heute brüchig, konzentriere sich auf Krieg und Un‐ tergang und verfehle, den großen Zusammenhang zu deuten. „Daß das Erzählen, das buchlange, aber nicht ohne die Katastrophen auskommen kann, habe ich andererseits nie begriffen. Ich bestreite dieses vermeintliche Gesetz. Es soll nicht mehr gelten. Ich will es anders.“ (700) 6 Was der Autor sucht, ist eine Harmonie, eine Stimmigkeit im Kosmos, die das historische Geschehen nicht vermittelt. Aufmerksam schildern, das verlangt aus der konkreten Beobachtung eines Platzregens, dem Stürzen eines Baumes oder dem Zwitschern der Vögel den sofortigen Übergang zur Absage an die Philosophie des Chaos: „… und ich saß zurückgelehnt, mit meiner Handschrift, und betrachtete ohne ein Wimperzu‐ cken, warm ums Herz, die panische Welt, klar und ganz hervorgetreten hinter der üblichen, der brüchigen, schimärischen, und in der panischen Welt jene 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 190 Durcheinanderschöpfung - kein Chaos -, worin ich seit jeher meinen Platz fühlte.“ (828) Was Handke in seiner Suche nach Orientierung und Sinnstiftung im Dasein findet, ist eine Spiraltendenz, die sich aus dem konkreten Detail zur allumfas‐ senden Naturschau und nach oben in den kosmischen Verlauf erweitert. Alle Menschen wirken entwicklungs- und verwandlungsfähig. (927 ff.) Diese Sicht verlangt eine veränderte Einstellung zur Geschichte. Die deutsche Vergangen‐ heit teilt die Weltgeschichte und diese ist ein unabgeschlossenes Kapitel. Die Schreckensbilder bestehen fort als Warnung. Aber die Geschichte muss täglich neu und im Traditionsanschluss und der dynamischen Wechselwirkung von Betrachten, Erfahren und Verstehen durchdacht werden. In diesem Vorgang entsteht ein historisches Bewusstsein, das der Zukunft aufgeschlossen gegen‐ übertreten kann. Christoph Ransmayr, der in Morbus Kitahara (1995) eine fiktive, denkbare alternative historische Entwicklung in ihrer Konsequenz für die Gegenwart entwirft, schildert in Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) einerseits die verschiedenen Versuche, zu Schiff, auf Schlitten, im Ballon den Nordpol zu erobern und die im Kampf mit der Natur ausgeprägte Sucht nach Rekorden, andererseits einen Ausnahmezustand, der punktgenau die existenzielle Erfah‐ rung der Menschen in den Kriegsjahren nach 1942 erfasst. Der Kunstgriff des Autors besteht darin, im Rahmen einer Dokumentation, die Illustrationen, Fotos und kursiv gedruckte Zitate aus Tagebüchern und Berichten einschließt, die Illusion eines Expeditionsberichts zu erwecken. Einzelne Abschnitte schließen an Abenteuerliteratur an; andere wirken wie Kommentare. Die gesamte Chronik der Expedition ins Unbekannte, dann ‚Kaiser-Franz-Joseph-Land‘ genannt, er‐ fasst in Berichten von Carl Weyprect, Julius Payer und Otto Krisch jedoch eine kaum vorstellbare Situation, die dennoch von den Figuren als selbstverständlich beschrieben wird. Sie wirken scheinbar ruhig, sachlich, bescheiden und reflek‐ tieren wenig angesichts des Grauens des existenziellen Ausgesetztseins. Sie werden von Ransmayr nicht selbstanalytisch, sondern in ihrem Überleben cha‐ rakterisiert. Die Ereignisse erinnern an die Standortberichte von Bienek, Ortheil und Maron. Sie sind ein Versuch, das Unmessbare messbar zu machen, das Un‐ vorstellbare zu erkunden, das Selbst zu erkennen. Ransmayr führt aus der Nach‐ kriegszeit die Figur von Josef Mazzini an, der phantastische Geschichten erfindet und dann in der Vergangenheit nach Dokumenten sucht, um zu sehen, ob sich Ähnliches je ereignet hat. Er verschwindet auf den Spuren arktischer Forscher 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 191 7 Christoph Ransmayr. Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Wien: Brandstätter, 1984. 7. 8 Christoph Ransmayr. Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör. Frankfurt a. M.: Fischer, 2004. 93. „im Winter des Jahres 1981 in den Gletscherlandschaften Spitzbergens.“ 7 Die Jahre 1981, 1872, 1874 und 1943 bis 1945 überschneiden sich. Zentral ist die Dokumentation des menschlichen Vermögens, im Durchhalten den Tod aufzu‐ schieben. Deutlich tritt zutage, was in Expeditionsberichten und Kriegsrepor‐ tagen entweder nicht oder nur am Rande vermerkt wird: menschliche Verlas‐ senheit, Lungenschwindsucht, Reißen, Hungern und Durchhalten. Um Missverständnisse auszuschließen, ist der Hinweis erforderlich, dass Ransmayr überzeugt ist, er habe grundsätzlich in allen Erzählungen nur seine eigene Zeit geschildert. „Ich habe meiner Meinung nach nie etwas anderes als die Gegenwart beschrieben, selbst wenn es, wie in der Letzten Welt, um einen verbannten Dichter der Antike ging oder in einem anderen Roman - Morbus Kitahara - um ein verwüstetes, zur Erinnerung und Sühne verurteiltes Kaff in einem Nachkriegseuropa, das es so nie gegeben hat.“ 8 Nicht zu übersehen ist der Sachverhalt, dass die Vergangenheit im Schaffen Ransmayrs immer gegenwärtig ist. Sie entzieht sich der schriftstellerischen Planung, lebt als Urtext in der Ge‐ genwartsliteratur fort. Der Krieg ist vorbei. Wien ist eine Schuttwüste, Dresden ein Kahlschlag, Nürnberg eine Steppenlandschaft. Und die Einwohner von Moor siechen dahin. Das sind die zertrümmerten Zeiten in Morbus Kitahara und das ist die lebendige Gegenwart. Im Gegensatz zu diesen deutlich ersichtlichen Bezügen auf die Vergangenheit sind alle Parallelen zur Gegenwart und Geschichte in Jochen Beyses Der Auf‐ klärungsmacher (1985) tief verschlüsselt. Die Novelle erweckt den Eindruck einer rein historischen Erzählung, in deren Mittelpunkt ein Generationskonflikt zwischen Vater und Sohn steht. Die Erzählung seziert im Rahmen dieses Kon‐ flikts unvereinbare Auffassungen. Das übersteigerte Streben, das eigene Ich zu behaupten, prägt Friedrich Nicolais maßloses Verlangen, der Aufklärung zum „Endsieg“ zu verhelfen. Sein Sohn Moritz lehnt sich gegen die Diktatur auf und lebt sich bis zum Selbstverlust in die von Goethe gestaltete Werther-Figur ein. Denkformen, Auffassungen von den Aufgaben eines Schriftstellers, gegensätz‐ liche Naturvorstellungen und die einerseits von der Aufklärung, andererseits vom Sturm und Drang geprägten Lebensansichten prallen hart aufeinander. Die Figuren charakterisiert das absolute Vertrauen auf die eigene Überzeugung, das später in der deutschen Geschichte in den Bann der Ideologie münden und im Anspruch gigantischer Übersteigerung die gesamte zivilisierte Tradition eines Landes im Bombenregen zertrümmern wird. 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 192 9 Friedrich Nicolai. Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen Über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten. 12 Bde. Berlin, Stettin: Nicolai, 1783-1796. 10 Jochen Beyse. Der Aufklärungsmacher. München: List, 1985. 90. Die konzentrierte Handlung setzt ein mit einem Reisebericht von Moritz Ni‐ colai, der seinen Vater auf einer Fahrt durch Deutschland begleitet. Moritz, in blauem Frack und gelber Weste, schwärmt für „Werther“, bewundert den Schrift‐ steller Jakob Michael Lenz und identifiziert sich mit der melancholischen Zer‐ rissenheit von dessen „Waldbruder“. Moritz plant, seine Eindrücke bei Cotta als kontrapunktisches Gegenstück zu seines Vaters zwölfbändiger „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz“ zu veröffentlichen. 9 Seine No‐ velle beabsichtigt, die Aufklärung kritisch als eine Geisteshaltung zu deuten, die alle Phantasie um jeden Preis disziplinieren will und deshalb die Begeisterung der jungen Generation für Goethe, Lenz und Rousseau als Naturschwärmerei verurteilt. Beyse lässt die widersprüchlichen, aufs Äußerste zugespitzten Vor‐ stellungen in den Gesprächen von Vater und Sohn zu Wort kommen. Zugleich greift das Erzählverfahren hochaktuelle Gegenwartsfragen auf. Vater und Sohn reden aneinander vorbei. Ein förderliches Gespräch wird unmöglich. Der Dialog versagt. Friedrich diktiert, analysiert, schreit. Moritz murmelt, leidet, spricht aus dem Wagen ins Freie. Der Vater sieht seine Lebensaufgabe darin, dem Denken der Aufklärung Bahn zu brechen. Er will ihm zum „Endsieg verhelfen“. Der Mensch ist „ein Vernunft‐ wesen“, „eine Denkmaschine“. 10 Der Mensch unterwirft dem Geist alles Trieb‐ hafte, beherrscht die Barbarei der Natur, ein „längst erledigtes Kapitel“ (101), denkt, schreibt und spricht. „Aufschreiben, rief er. Der Geist, rief er, gestaltet die Welt und macht die Natur zu einem Garten, zu einer Naturszene.“ (108) Fried‐ richs wiederholte Appelle an einen von der Logik bestimmten Diskurs und den zivilisierenden Einfluss der Vernunft wirken auf Moritz wie „Buchstabenrätsel“ und „Wortungeheuer“. Er hört eine Kakophonie von kalten Silben, die die stumme Welt des Gefühls nicht erlösen können. (39) Moritz erkennt, er kann dem Vater nicht „nachleben“. Die Spannung zwischen reduktiven und expan‐ siven Denkformen, zwischen der starren Formel und dem magischen Zeichen, zwischen unerbittlicher Überzeugung und möglichem Kompromiss gipfelt in der Erkenntnis, dass eine humane Lebensform auch gegensätzliche Einstel‐ lungen zur Welt akzeptieren muss. Die kalte Rhetorik in der Stimme des Auf‐ klärungsmachers kann die melancholische Zerrissenheit der jungen Generation nicht ausloten. Moritz fühlt, er müsse sich wie Lenz bloßlegen. In einer aufschlussreichen Szene stoßen die unvereinbaren Weltanschau‐ ungen bösartig-grotesk aufeinander. Auf der Fahrt zwischen Nürnberg und Re‐ 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 193 gensburg untersucht Friedrich Nicolai seine Schreibfeder, stellt fest, dass die vertrocknete Tinte die Feder verklebt, tadelt verärgert seinen Sohn und hält sie zum Angriff bereit wie eine Waffe über dem Kopf. Ein plötzliches Gewitter mit Blitzen und Regengüssen bricht aus. Der Wagen schießt voran. Moritz schließt die Bedeckung. In der völligen Finsternis fällt Friedrich ins Polster, tobt, verliert die Feder, schreit nach „mehr Licht“ und ist „außer sich“. Dann aber kehrt die Vernunft zurück. Friedrich setzt seine verrutschte Perücke zurecht, entfernt das Puder von seinem Gesicht und beginnt zu reden. Warum die Aufregung. Die Natur war gebändigt; sie ist verwaltet, ist eine Gartenanlage und schließlich erledigt. Die Sprache triumphiert. Ein Schwall von Worten, „stürzende Begriffs‐ hülsen“, „Wortungeheuer“, Buchstabenrätsel brechen wie ein neues Gewitter über Moritz herein, ohne diesen überzeugen zu können. (38) Die Novelle verfolgt in der Dynamik von Polaritäten die Gegensätze, aber auch die Zusammengehörigkeit grundverschiedener Lebensbereiche. Auf der einen Seite steht die exakte, wissenschaftlich genaue analytische Betrachtungs‐ weise der rationalen Vernunft. Auf der anderen Seite drängt die Phantasie nach Entfaltung. Das Verlangen, sich vorbehaltlos dem Geheimnis scheinbar uner‐ gründbarer Naturmächte hinzugeben, wächst über das Empirische hinaus. Der Vernichtungswille des Zeitgeistes hinterlässt seine Spuren in der literarischen Debatte zwischen Vater und Sohn, im Zerlegen, im Aufzählen und der Kritik des Sohnes an der Reisebeschreibung des Vaters, die keine Schilderung, sondern eine gefühllose Statistik ist. (93) Beyse spürt schwer erfassbare Nuancen menschli‐ cher Gefühle auf. Sein Erzählverfahren trägt die Spannung zwischen dem Appell an die Vernunft und dem Plädoyer für die zuweilen irrationale, aber immer schwärmerisch-ahnungsvolle Phantasiewelt aus, ohne sie aufzuheben. Auf diese Art entsteht vor dem Hintergrund des Übergangs von der Aufklärung zur Ge‐ niezeit sowohl ein scharfes Bild von Vater und Sohn als auch von Auffassungen, die sich oft feindlich gegenüberstehen, aber zeitlos im Leben wurzeln. Die Lebensberichte von Peter Härtling aus den Jahren 1974 bis 1997 sind konkrete Bestandsaufnahmen aus dem Existenzkampf und dem Überleben von Familien und Einzelnen in den Jahren seit der Weimarer Republik. Die Erzählung Eine Frau (1974) vermittelt Einblicke in das Leben von Katharina Wüllner, am 7. Februar 1902 geboren, von der Kindheit bis zur Entscheidung ihrer Kinder, sie 1970 in ein Altersheim in Sillenbuch bei Stuttgart einzuliefern. Da Katharinas Mutter Jüdin war, stehen zahlreiche Erlebnisse unter dem Vorzeichen antisemi‐ tischer Anschauungen in der Gesellschaft. Katharina lebt 1923 bis 1925 in Prag, dann bis 1945 in Brünn, in der Tschechei, nach der Besetzung im sogenannten Protektorat. Sie setzt sich 1946 nach Stuttgart ab. Die Erzählung schildert vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des Ersten und Zweiten Welt‐ 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 194 11 Peter Härtling. Eine Frau. Darmstadt: Luchterhand, 1974. 68-70. krieges, der Flucht und Übersiedlung nach Deutschland und des westdeutschen Wirtschaftswunders eine langsam sich vollziehende Erkenntniserweiterung Ka‐ tharinas. Die von der Erzählung vermittelten Einsichten bleiben begrenzt auf eine humane Erweiterung des Gesichtskreises. Eine bewusste Auseinanderset‐ zung mit gesellschaftlichen Bedingungen und konkrete Reformansätze sind überschattet von der Empfindung, dass sich wenig in der Einstellung der Men‐ schen geändert hat. Individuen passen sich an, leben vor sich hin und gleiten von einer Einkreisung in die andere. Erotische, intime Beziehungen des Groß‐ vaters, ihres Mannes Ferdinand und ihre eigenen führen nie zu tiefen innerli‐ chen oder geistigen Bindungen. Die Chronik der geschilderten Erfahrungen aller Personen, die im Gesichts‐ kreis Katharinas auftauchen, entwirft im Rahmen eines historischen Panoramas die Fähigkeit des Überlebens durch Anpassung an wechselnde soziale und po‐ litische Zustände. Einige wie Ferdinand leben sich in völkische Vorstellungen ein, werden Mitglieder der NS Sudetendeutschen Partei und warten auf den Umsturz. Andere wie die Kinder treten der HJ bei. Einzelne wollen sich an‐ passen, aber werden mit dem Judenstern an der Brust ausgegliedert. Onkel David fürchtet den bereits im Ersten Weltkrieg wachsenden Antisemitismus, lebt in Angstvorstellungen 11 und begeht bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Selbstmord. Katharinas Bruder Dieter wird eingezogen, aber dann als Halbjude aus der Wehrmacht verstoßen. Ihr Bruder Ernst begeht Selbstmord in Italien. Katharinas Kontakte mit anderen gehen verloren. Tschechische Arbeiter werden entlassen; Verwandte und Bekannte verschwinden in den Kriegswirren und während der Auswanderung. So verläuft Katharinas Lebenskurve aus dem behüteten „Inseldasein“ der Kindheit in das typische Nachkriegsschicksal eines Flüchtlings. Sie wächst auf in dem traumhaft entlegenen Park des Landsitzes des Fabrikanten Wüllner. Sie erlebt die Ehejahre aus der Sicht einer unpolitischen Frau; sie passt sich dem oberflächlichen gesellschaftlichen Dasein an; die in genauen Einzelheiten be‐ schriebene Geburt ihrer Kinder verleiht ihrem Leben Sinn; trotzdem steht sie den Ereignissen hilflos gegenüber; Versuche, die Welt zu verstehen, scheitern. Sie fügt sich in die erzwungene Umsiedlung, ihr „neues“ Leben und schließlich das unabwendbare Altern. Die Gesetzgebenden helfen: „Eine zweite Rate des Lastenausgleichs hat Katharina Perchtmann geholfen, sich ohne Furcht auf das Alter einzurichten“. (345) Sie steht vor dem Spiegel und schminkt sich ab. Was bleibt? Die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück: „Das Gesicht wird kleiner, es ist schmal, hochmütig geblieben und es erinnert an den Kopf eines Mädchens, 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 195 12 Peter Härtling. Nachgetragene Liebe. Darmstadt: Luchterhand, 1980. 31-35, 81. das auf den Vater wartet, der von der Reise zurückkehrt und sie mit Geschenken überrascht. Sie lächelt.“ (375) Das Zusammenleben und erzwungene Auseinanderfallen von Deutschen, Tschechen und Juden im Protektorat Böhmen-Mähren bildet auch den Hinter‐ grund in Härtlings Erzählung Nachgetragene Liebe (1980). Der Chronist erkennt die Problematik, aus der Erinnerung die frühen Eindrücke, Erlebnisse und Er‐ fahrungen objektiv festzuhalten. Wiederholte Hinweise - „ich verstehe nicht, ich schreibe gegen dich, du hättest sprechen sollen, jetzt begreife ich es end‐ lich“ - unterstreichen die eigentümliche Bewandtnis des Aufwachsens in einer Gesellschaft, in der sich Menschen aus Angst verschließen und schweigen. Die Erkenntnis, dass das Schweigen des Vaters nicht Ausdruck seiner Lieblosigkeit, sondern seiner Furcht war, kommt erst nach dessen Tod. Sie ermöglicht es dem Erzähler, kritisch seine Kindheit, Jugend und vom Geist der NS -Ideologie be‐ einflusste Entwicklung zu beleuchten. Es ist der Zeitgeist, der ihn hindert, ein sinnvolles, natürliches Verhältnis zu seinem Vater herzustellen. Die Kontraste Schweigen / Sprechen, Anpassung - Überleben / Außenseiter - Opfer und Ab‐ rechnen / Vergeben stehen im Schnittpunkt der Erinnerung eines Menschen, der seine eigene Schuld erkennt, die letztlich im Anschluss an das gesellschaftliche Milieu wurzelt. Der Vater, ein Rechtsanwalt, der um berufstätig sein zu können der Partei beitritt, steht dem System ablehnend gegenüber. Er zieht mit seiner Familie nach Olmütz und übernimmt von einem alten Anwalt dessen Klienten: Tschechen, Juden und Deutsche, die alle mit den neuen Verordnungen im Protektorat nicht fertig werden. Der Anwalt versteht ihre Sorgen. Er erkennt auch als Vater die vom Jungvolk bestimmte Geisteshaltung seines Sohnes, findet es jedoch völlig unmöglich, den Jungen aufzuklären. Dieser träumt von einem „heldischen, völ‐ kischen“ Vaterbild, das in der nazistischen Ideologie wurzelt, und lehnt seinen „weichlichen, feigen“ Vater ab, dessen Humanität er erst im Rückblick der „nachgetragenen Liebe“ erkennt. Der Junge verfällt der Naziideologie, ohne sie zu verstehen. Er ist begeistert von der kriegerischen Welt, akzeptiert die von Lehrern eingeimpften „Ideale“, teilt das Nachtlager mit dem Jungvolk und über‐ nimmt den Gruppengeist. 12 Die Sekretärin des Anwalts versucht, den Sohn von der Liebesfähigkeit seines Vaters zu überzeugen. Dieser lehnt jedoch jeden Hin‐ weis auf echte menschliche Gefühle ab. Er wirkt frühreif, hat Freunde wie Eduard, einen hasserfüllten Hitlerjungen (93 ff.), und „verkommt“ mit anderen Typen im Jungvolk. 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 196 13 Peter Härtling. Der wiederholte Unfall. Stuttgart: Reclam, 1980. 14 Vgl. Peter Härtling. Autobiographische Romane. In: Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 7. Hg. Klaus Siblewski. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1997. Der Chronist wird als Führernachwuchsschüler ausgewählt; die Klienten des Vaters werden wie der Pelzhändler Glück nach Theresienstadt deportiert; das allgemeine Dahinsiechen verläuft parallel zum Zusammenbruch des Reiches; die Besatzungsarmee marschiert ein; der Vater wird in ein Gefangenenlager ab‐ transportiert und stirbt (166); der Sohn hat das Gefühl, entsetzlich alt zu sein; er muss den Verfall der Gesellschaft überwinden und muss von vorn anfangen. Die Erzählung vertieft den Generationskonflikt zu einer scharfen Abrechnung eines unschuldig-schuldigen Mitläufers, der im Rückblick auf seine Jugend die Ge‐ fährdung seiner Generation erkennt und ihr klar ins Auge schaut. Sie kontras‐ tiert die von Härtling in „Für Ottla“ geschilderte Verleugnung jeder Schuld und das in „3 Kalendergeschichten“ beschriebene Verschweigen der Vergangenheit, eine Situation, in der jeder auch nach 1945 verstummt. 13 „Für Ottla“ verknüpft die Dokumentation von Geschehen in Teresienstadt und Auschwitz mit einem Kurzbericht des Lebens und Sterbens Ottlas und dem Aufspüren der Schuld des ehemaligen KZ -Bewachers Stefan Woyta. Ottla, eine Schwester Franz Kafkas, ist mit einem tschechischen Rechtsanwalt verheirat. Sie erfährt die Besetzung des Landes durch die deutsche Armee als Bedrohung durch eine undurchschau‐ bare bösartige Macht. Sie überzeugt ihren Mann, dass sie sich im Interesse der Kinder scheiden lassen müssen (22), meldet sich als Jüdin bei der Behörde an, lebt eine Zeitlang im Ghetto, meldet sich freiwillig als Begleiterin nach Ausch‐ witz, wo sie vergast wird. Diese vorbildliche Figur ist der absolute Gegenpol zu Woyta, dem Handlanger des Verbrechens, der keine Schuld verspürt, nach dem Zusammenbruch ein gutes Leben führt und schließlich verschwindet. In diesen und anderen Erzählungen Härtlings wie etwa „Jerschel singt“, „Zwett“ oder Nachprüfung einer Erinnerung prallen Erkenntnis und Verneinung der Schuld hart aufeinander. 14 In der ständigen Befragung der Vergangenheit versucht die Literatur den Weg zur Orientierung zu zeigen. Sie vermittelt im Geschichtsbild einen Ansatz zum Geschichtsverständnis. Diese Vorstellung von der Bestimmung der Literatur in unserer Zeit wird nicht von allen Autor(inn)en geteilt. Zielsetzungen reichen von kritischen Auseinandersetzungen mit sozialen oder politischen Miss‐ ständen und der im klinischen Realismus erfassten Verelendung in der Alltäg‐ lichkeit über Beschreibungen von Personen in Erzählungen von Thomas Brussig und Uwe M. Schmidt, die sich in der DDR anpassten und Karriere machten, bis zu Entwürfen vorbildlicher Figuren im Schaffen von Ernst Jünger, Hanns-Josef Ortheil, Monika Maron, Martin Walser und Christa Wolf. Diese Figuren ringen 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 197 sich grundsätzlich zu einer hohen Stufe der Erkenntnisfähigkeit durch. Ge‐ meinsam ist allen Versuchen der Ortsbestimmung deutschsprachiger Schrift‐ steller(innen) der Blick auf die jüngste und bereits weit zurückliegende Vergan‐ genheit, die manchmal nebeneinander stehen und sich gegenseitig erhellen. Der Familienroman Ein unsichtbares Land (2003) von Stephan Wackwitz und Guntram Vespers Erkundung in Nördlich der Liebe und südlich des Hasses (1979) sind beispielhaft für diese Situation. Die Erzählung von Wackwitz ist ein Beitrag zur deutschen Erinnerungslite‐ ratur, in der das vergangene Jahrhundert besichtigt wird. Sie versucht, Doku‐ mentation, Familiengeschichte und politischen Zeitroman aufeinander abzu‐ stimmen. Im Gegensatz zu ähnlichen Versuchen anderer Autor(inn)en bewertet der Erzähler die von ihm geschilderten Ereignisse äußerst kritisch und überprüft seine im Laufe der Jahre wechselnde Meinungsbildung. Die Gestaltung des Bu‐ ches soll den Eindruck einer authentischen Darstellung erwecken. Sie verknüpft Erzählung mit Reproduktionen verblichener Fotos aus der Zeit des Ersten Welt‐ kriegs, lange kursiv gesetzte Passagen aus den Memoiren des Großvaters, einem Konvolut von vielen hunderttausend Wörtern, das er in den fünfziger Jahren schrieb, Hinweise des Erzählers auf literarische Werke und Deutungen von Schriften Schleiermachers und Fichtes Reden an die deutsche Nation als Schlüssel zum Denken verschiedener Generationen. Die Ortung des „unsichtbaren“ Landes erfasst sowohl die Heimat in Schlesien, das Forsthaus in Laskowitz bei Breslau, Galizien, die Gegend um Auschwitz und das Leben im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika als auch das Innenleben und die geistige Verfassung Einzelner und ganzer Gruppen wie etwa der lutherischen Umsiedler, die neue Ortschaften gründeten. Aus der engmaschigen Verschmelzung von histori‐ schem Geschehen und der Perspektive der kleinen Welt, den Wünschen und Neurosen eines Pfarrers und seiner Familie entsteht ein politischer Zeitroman. Darüber hinaus ist die Erzählung ein Versuch, Grundformen des kollektiven Denkens zu entziffern. Die Besinnung auf die Heimat in Schlesien entwirft ein weitgespanntes Pa‐ norama, in dem vieles zuweilen bruchstückhaft anklingt. Die Erinnerung an die Vielvölkerstadt Krakau, das Beskidenland und die Pfarre in Pleß verzeichnet die vormalig bestehende religiöse und politische Toleranz. Diese Zeit des friedlichen Zusammenlebens verblasst. Die Bevölkerung ist noch immer ethnisch und kon‐ fessionell gemischt. Die Menschen haben jedoch die Tendenz zur Bildung von Enklaven und leben auf Sprachinseln unter den wechselnden Regierungen. Was sich herausbildet, ist eine vergiftete „Anti-Tendenz“. Die Einwohner grenzen sich ab, werden antikatholisch, antipolnisch, antilutherisch und antijüdisch. Mit dem Einkapseln und der religiösen Schwärmerei wächst die nationale Besin‐ 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 198 nung und zugleich ein Gefühl des Aufbruchs. Wackwitz deutet die eigentüm‐ liche Verquickung widerspruchsvoller Tendenzen weder als kollektive Neurose noch als Sendungsbewusstsein. Sie dient jedoch sowohl als Erklärung für das Wagnis des Großvaters auszuwandern und eine Stelle in Windhuk anzunehmen, als auch für die latente Anfälligkeit der Menschen für politische Wagnisse, in denen Reformanliegen ins Kriminelle abgleiten. Die kritisch distanzierte Erör‐ terung des Erzählers des roten Jahrzehnts und seiner eigenen jugendlichen Be‐ geisterung für Rudi Dutschke belegt, dass er diese Gefährdung als immer ge‐ geben betrachtet. Die Reflexionen, in denen die jüngste Vergangenheit, das vergangene Jahrhundert und die Erlebnisse des Großvaters und Vaters glei‐ chermaßen zu Wort kommen, erweitern die begrenzte Perspektive einer Fami‐ liengeschichte ins Allgemeine. Hinweise auf Orte, Landschaften, historisch bezeugte Personen und lebende Politiker, Anekdoten aus dem Leben von Schriftstellern und Zitate aus der Welt‐ literatur unterstreichen die angestrebte Typik der Darstellung. Sie ermöglicht ein Wiedererkennen des Lesepublikums, nicht im Gefühl das Land gekannt oder die Ereignisse erlebt zu haben, aber im Sinn der Annäherung an Geschehen, das sich jeder endgültigen Erklärung verschließt. Leser können sicherlich die Rat‐ losigkeit des Pfarrers empfinden, als ihm ein Polizeiwachtmeister seine Notlage angesichts von Verbrechen im Osten beichtet. Sie müssen jedoch die literari‐ schen Anspielungen und Hinweise, wie etwa auf Ernst Jüngers „Sturm“, ver‐ gleichend in ihren eigenen zeitgeschichtlichen Horizont einordnen. Die im Text wiederholt anklingende Bejahung der Widersprüche im Leben macht die un‐ sichtbare geistige Landschaft und die Bevölkerung eines nicht mehr beste‐ henden Landes sichtbar. Die Horizonterweiterung des Erzählers verläuft in Stufen während der Nie‐ derschrift der Geschichte. Dieser erzähltechnische Griff ermöglicht kurze Nah‐ aufnahmen der Abneigung des Jugendlichen gegen den Großvater, dessen Ge‐ schichten er nicht versteht, der Langeweile bei Schilderungen der Versenkung des Dampfers „Adolph Woermann“, auf dem die Familie bei Kriegsausbruch über Südamerika nach Deutschland heimkehren wollte, und der eingehenden Be‐ schreibungen des Landes bei einem Besuch der Heimat im heutigen Polen. Er gewährt zugleich die Wiederholung des Geschehens aus der Sicht gereifter Er‐ kenntnis. In diesem Vorgang bahnt sich nicht nur ein neues Verständnis für den Großvater an, sondern auch ein besonnener Einblick in den Entwicklungsgang einer Familie, der zugleich das Schicksal vieler war. Der Erzähler reiht sich als Glied in eine Generationskette ein. Er setzt sich mit den wesentlichen Ereignissen auseinander, die das Leben der Familie Wack‐ witz bestimmten. Zeitlich erfasst der Bericht Ausschnitte aus den Jahren zwi‐ 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 199 schen 1900 und 1999. Die Montage der Memoiren des Großvaters ermöglicht eine aufgefächerte Perspektive. Der Großvater schreibt seine Erinnerungen auf, während täglich Nachrichten über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in der Zeitung stehen. Er blickt zurück, ist kritisch, aber dennoch befangen, denn er findet kein befriedigendes Verhältnis zur Gegenwart. Seine Sicht, die eines Schiffbrüchigen in einem Land, das er nicht versteht, bietet die Voraussetzung für die kritisch vergleichende Gegenüberstellung verschiedener Abschnitte der Vergangenheit. Das Abgleiten deutschnationaler Illusionen in das gewalttätige Nationalsozialistische steht warnend und gleichberechtigt neben dem politi‐ schen Schlafwandeln der Jugend in den Jahren zwischen 1968 und 1978, deren revolutionäres Pathos schließlich in kriminelle Aktionen mündet. Die schwär‐ merische Begeisterung für großdeutsche Chimären von Blut und Scholle er‐ scheinen in neuem Licht neben der theatralischen Identifikation Jugendlicher mit den Opfern der NS -Gewaltherrschaft. Die einen sahen sich als Kulturbringer im Osten, die anderen versuchten Anschluss an die jüdische Tradition und den Kommunismus zu finden. Die von Günter Grass Im Krebsgang (2002) geschil‐ derte Anfälligkeit der Jugend für nationale Begeisterung einerseits und das Pa‐ thos des Leidens andererseits unterstreicht, dass die Entwicklung keineswegs abgeschlossen ist. Aufschlussreich ist besonders die feinfühlige Schilderung des Schülers Wolfgang, der unter schweren Schuldgefühlen leidet und sich als David inszeniert, da ihm alles Jüdische heilig ist. Sein Handeln widerspricht der Mei‐ nung seiner Eltern und der von Wackwitz vertretenen Überzeugung, irgend‐ wann müsse Schluss sein mit den ewigen Selbstanklagen. Die von der Erzählung aufgeworfenen Fragen stellen einen wesentlichen Beitrag zu den Erinnerungs‐ diskursen dar. In Vespers Erzählung Nördlich der Liebe und südlich des Hasses klingt zuweilen die Suche nach einer möglicherweise in der Vergangenheit vorhanden gewe‐ senen heilen Gesellschaftsordnung an. Die Erzählung kreist jedoch primär um die Identitätsbestimmung eines deutschen Schriftstellers, der gleichermaßen im Osten und Westen, in der Gegenwart und der Vergangenheit zu Hause ist. Die Betonung liegt auf dem Deutschtum und der schicksalhaften Bindung an das Land. Ich, Sprache, Persönlichkeitsentwicklung, Stoffe, Themen und Motive kommen aus dem Grund und Boden. Außerdem werden alle Begebenheiten und Schicksale der Menschen aus ständigen Rückblicken in die Vergangenheit ge‐ deutet. Der Ansatzpunkt der Erzählung ist die Kenntnisnahme einer in der Ge‐ genwartsliteratur mehrfach beschriebenen Situation: private und berufliche Be‐ 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 200 15 Vgl. dazu Jurek Becker. Amanda herzlos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992; Irreführung der Behörden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973; Hermann Burger. Schilten: Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1976; Brigitte Burmeister. Unter dem Namen Norma. Stuttgart: Klett, 1994; Norbert Gstrein. Andern‐ tags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989; Peter Handke. Die Stunde da wir nichts vonei‐ nander wußten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992; Josef Haslinger. Opernball. Frankfurt a. M.: Fischer, 1995; Thomas Hürlimann. Carleton. Zürich: Ammann 1996; Elfriede Je‐ linek. Die Ausgesperrten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990; Robert Menasse. Selige Zeiten, brüchige Welt. Salzburg: Residenz Verlag, 1991; Herta Müller. Der Fuchs war da‐ mals schon der Jäger. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992; Reisende auf einem Bein. Berlin: Rotbuch, 1989; Adolf Muschg. Fremdkörper. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983; Christine Nöstlinger. Werter Nachwuchs. Die nie geschriebenen Briefe der Emma K. Wien: Dachs-Verlag, 1988; Gabriele Wohmann. Einsamkeit. Erzählungen. München: DTV, 1984; Er saß im Bus, der seine Frau überfuhr. Hamburg: Luchterhand, 1991. 16 Guntram Vesper. Nördlich der Liebe und südlich des Hasses. München: Hanser, 1979. 24. ziehungen sind nicht an verbindende Punkte gebunden. 15 Der Erzähler konstatiert in einer klinisch realistischen Diagnose die Neurosen und gesell‐ schaftlichen Störungen der modernen Welt. Er unterstreicht sofort den völligen Verlust des historischen Bewusstseins: „Wie die Gegend, die Stadt, in der wir leben, wie unser Viertel vor hundert, vor fünfzig, vor zehn Jahren ausgesehen hat, was mit den Menschen losgewesen ist, wissen wir nicht und wollen wir nicht wissen. Notfalls, am Ende, lassen wir viel mit uns machen und machen selbst beinahe noch mehr mit uns. Wir klagen kurz über das schlechte Wetter, die hartnäckigen Kopfschmerzen, das Ziehen in der Brust, über die leere Brief‐ tasche, den Alltag im Bett.“ 16 Der Alltag ist geprägt von technischen Fort‐ schritten, aktuellen Erkenntnissen in Medizin und Physik, Neubauten und Nachrichten aus aller Welt, aber gleichermaßen von flüchtigen Bekannt‐ schaften, völlig unpersönlichen Beziehungen, ruhelosen ständigen Umzügen und menschlicher Vereinsamung. Die Erinnerung an die Vergangenheit wirkt im Gegensatz ausgesprochen positiv: Die Menschen leben friedlich in einer kul‐ turellen Gemeinschaft, die sich jedoch als künstlerisch gelungene Gestaltung von Denkbildern erweist, die nicht in der historischen Realität, sondern in phi‐ losophischen Deutungen wurzelt. Im gegenwärtigen nicht mehr Großdeutschen, sondern begrenzten kleinen Land existiert keine unberührte Natur, die die Empfindung einer Mensch-Natur-Gemeinschaft ermöglicht. Selbst die Agrarlandschaft wird so‐ wohl durch kollektive oder großangelegte Bewirtschaftung als auch durch Bau‐ unternehmen verändert. Wuchernde Vororte, Wochenendhäuser und großan‐ gelegte Straßennetze, die im Einzelnen verständlich scheinen, vermitteln insgesamt den Eindruck einer permanenten Revolution, die das Land in ein ein‐ ziges Straßen- und Häuserlabyrinth verwandelt. Die Begriffe „deutsche Heimat, 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 201 deutscher Wald“ sind historische Überreste. Die Gegenwart ist bestimmt von „Schnellstraße, Supermarkt, Klinik, Seniorenheim“. Die Einzelnen haben kein sinnvolles Verhältnis zur Natur oder zu anderen. Die Rituale der täglichen Exis‐ tenzbewältigung orientieren sich an genormten Wohlstandsvorstellungen. Der Gesichtskreis wird beherrscht von Angstpsychosen, Scheidungen und der Un‐ fähigkeit irgendwo Wurzeln zu schlagen. Die Beschreibungen der Gegenwart und die ständigen, vergleichenden Rückblicke in die Vergangenheit ergeben das Gesamtbild einer gesellschaftlichen Krise. Die Szenen wechseln; die Figuren tauchen in der namenlosen Menge unter, gehen aneinander vorbei und sehen plötzlich den anderen am Rande des sozialen Feldes auftauchen. Das Zufällige tritt ins Blickfeld und verschwindet wieder. Vesper will diesem ständigen Vo‐ rübergleiten, den unendlichen Möglichkeiten, die eine Begegnung verheißen, eine angemessene Form geben. Er verbindet Bruchstücke einer „privaten und allgemeinen“ Geschichte mit einzelnen Kapiteln, die wie beispielsweise „Eine blutige Geschichte“ oder Gernots Chronik eine abgeschlossene Erzählung ent‐ halten. Diese jedoch erhellen sich wechselseitig und sind verflochten mit dem Mosaik des Romans, in dem Bilder und Skizzen von Krieg, Not, Kleinlichkeit, aber auch Liebe, Leidenschaft und Hilfsbereitschaft ständig wiederkehren. Vesper stellt zu dem von ihm angestrebten Kompositionsprinzip im Text fest: „Da die Wirklichkeit … als Ganzes immer reicher und vielfältiger ist als selbst die reichste erzählte Geschichte, können ein genau der Wirklichkeit nachge‐ zeichnetes, also biografisch echtes Detail, eine echte Episode so, wie sie faktisch sind, niemals an die Wirklichkeit heranreichen. Um einen den Reichtum der Wirklichkeit erweckenden Eindruck zu erzielen, muß der ganze Kontext des Lebens umgebaut werden, muß die Komposition eine ganz neue Struktur er‐ halten.“ (177) Die von Vesper angestrebte neue Struktur spiegelt in der Wieder‐ kehr beschreibender realistischer Einzelheiten einen allgemeinen Kultur‐ schwund. Die Schilderungen ziehen über hundert Jahre zusammen und verdeutlichen in Bildern, Skizzen und Novellen eine bedrückende Situation. Menschliche Beziehungen verrohen; Familienkonflikte und Generationskon‐ flikte wiederholen sich; Alltagssorgen und der Kampf um das tägliche Brot hören nie auf. Krieg, Not, Kleinlichkeit und Gehässigkeit scheinen unausrottbar mit der deutschen Geschichte verbunden. Die Perspektive diktiert, dass die Zeit der Weimarer Republik nicht unter dem Vorzeichen der Bemühung steht, Deutschland zu fördern und europäisch zu denken, sondern in Bildern des Mordes und der Schläger erscheint. Bemerkenswerterweise gesteht der Erzähler, dass die Perspektive veränderlich ist: „Heute kann ich ultramodern schreiben und morgen schon nationalliberal … Heute liegen die Meinungen und Urteile in jedem Rinnstein …“ (156) Der Erzähler wirkt ratlos, entwirft jedoch in der Wie‐ 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 202 derholung von Aggression - Anpassung - Überwindung ein Verhaltensmuster des menschlichen Ringens mit einer möglichen und wünschenswerten Ent‐ wicklungsfähigkeit. Nördlich der Liebe und südlich des Hasses verweist damit bereits auf die Werke, die das Grundmuster einer unabgeschlossenen Vergan‐ genheit entwickeln. 7. Aspekte der Vergangenheit im Leben Einzelner 203 1 Vgl. dazu Sten Nadolny. Die Entdeckung der Langsamkeit. München: Piper, 1983; Ein Gott der Frechheit. München: Piper, 1994. Hans Joachim Schädlich. Tallhover. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986; Patrick Süskind. Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich: Diogenes, 1985. Horst Stern. Mann aus Apulien. Die privaten Papiere des italie‐ nischen Staufers Friedrich II. München: Droemer, 1986, 1993. 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel Die Vergangenheit ist ein unabgeschlossenes Kapitel. Die jüngste Vergangen‐ heit, der Mauerfall, die Wiedervereinigung, das Leben in der DDR und die Aus‐ wirkungen vorausgegangener Jahrzehnte auf das Leben unserer Tage kommen in zahlreichen Erzählungen zu Wort. Einzelne Theateraufführungen wie etwa Rolf Hochhuths Wessis in Weimar (1995) und Klaus Pohls Wartesaal Deutschland Stimmenreich (1995) rechneten wie Botho Strauß in seinem Stück Schlußchor (1991) mit der Vergangenheit und zugleich der Gegenwart ab. Die Monologe in Pohls Stück basieren auf Video-Interviews. Der Autor stellt sich wie auch Hoch‐ huth in seiner Abrechnung mit dem Papst in Der Stellvertreter (1963) und der Tragödie Hitlers Dr. Faust (2000) als Redakteur der Zeitgeschichte vor. Die Be‐ mühungen, den widersprüchlichen Tendenzen der Zeit im Spiegel der Vergan‐ genheit gerecht zu werden, sollen realistisch wirken. Die Stücke garantieren jedoch keine objektive Darstellung. In innerhalb von vier bis fünf Minuten ab‐ laufenden Lebensgeschichten kommt die verwirrende Zeit nach der Wende zu Wort; Vorbehalte und Vorurteile fordern die Zuschauer zum Nachdenken auf; die DDR wirkt plötzlich zugleich heimisch und abstoßend; die Gegenwart im vereinten Deutschland ist voller ungelöster Probleme und jeder scheint sich anzupassen, um zu überleben. Andere Werke, beispielsweise Adolf Muschgs Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival (1993) und Herbert Rosendorfers Die junge Maria Stuart. Erzählungen (1998), entwerfen die thematische Konstellation der menschlichen Selbstentwicklung in unseren Tagen im Spiegel einer histo‐ risch glaubhaften Darstellung. Außerdem dienen Szenen aus der Vergangenheit in prominent angebotenen Texten als Fluchthilfe aus den ungelösten Problemen der Gegenwart. Schilderungen und Auseinandersetzungen mit der Vergangen‐ heit ermöglichen Vieles und auch Widersprüchliches: Einblicke in die Gegen‐ wart; Bildungsstütze; Spiegel der Wünsche der Leser und Leserinnen. 1 Viele Auseinandersetzungen mit der besonderen historischen Entwicklung in Deutschland, den kollektiven wie auch individuellen Verhaltensweisen und dem Handeln Einzelner während der NS -Zeit und im Krieg erwecken erzähl‐ technisch den Eindruck dokumentarischer Treue. Sie ordnen die Fülle realistisch geschilderter Einzelheiten durch die Konzentration auf die inneren und äußeren Konflikte, die Entscheidungen, das Handeln und die Unterlassungen von Ein‐ zelfiguren. Auf diese Art entstehen Erzählungen, in denen einzelne Familien, Mitläufer, Nischensteher, qualvoll leidende Verfolgte, Täter und Widerstands‐ kämpfer, gewalttätige Offiziere und unentschieden zögernde Landser zu Wort kommen. Richtungsweisend sind die Erzählungen von Baumgart, Andersch, Hoeflich, Lebert und Milo Dor. Reinhard Baumgart thematisiert in Hausmusik (1962) im Rahmen von Geschichten der Familie Pohl und deren Gesinnung in den Jahren der NS -Regierung die Anpassung an eine Situation, die scheinbar jede Willensfreiheit unterbindet. Einzelne passen sich aus Überzeugung an, an‐ dere aus Angst. Besonders ausgeprägt ist die Anpassung, die in der Geisteshal‐ tung des Gehorsams und der Staatshörigkeit wurzelt. Einzelne verspüren zwar Unbehagen, als der Staat zum Unrechtsstaat wird, ziehen sich dann aber in ihre Privatsphäre zurück. Die bereits im 2. Kapitel erwähnten Erzählungen von An‐ dersch, Hoeflich und Lebert schildern die Leiden der Bevölkerung, setzen sich mit der Frage auseinander, ob Einzelne die Vorgänge im Krieg beeinflussen können, und betonen die Tendenz des Leugnens jeder Schuld. Andersch, Ben-Gavriêl (Eugen Hoeflich) und Lebert setzen sich mit der Umwertung über‐ lieferter Vorstellungen und dem Verlust der Willensfreiheit auseinander. In den Werken lassen sich unterschiedliche Deutungen der Begriffe des „Ich“, des „Selbst“ und des „Bewusstseins“ nachweisen. Ich-Suche und Selbsterfahrung spiegeln uns vor, dass hinter den Begriffen eine feste Substanz existiere. Die Phänomene verflüchtigen sich jedoch gleichermaßen für Erzähler und Leser. Darüber hinaus übernehmen die Autor(inn)en Modebegriffe aus der Forschung, teilweise um ihre eigenen Darstellungen abzustützen, teilweise ausgesprochen ironisch, um die wissenschaftlichen Reizwörter, die bereits zum Alltagsjargon gehören, bloßzustellen. Die unterschiedlichen Ansatzpunkte hinterlassen Spuren nicht nur im Erzählverlauf, sondern auch in besonderen Stileigenheiten. Dieser Sachverhalt trifft generell zu auf die in der vorliegenden Darstellung besprochenen Texte der Kriegsliteratur und der Bestandsaufnahme von Gene‐ rationen. Besonders deutlich sind die Eigenheiten des klinischen Realismus, der in den achtziger und neunziger Jahren die literarische Szene prägt. Der klinische Realismus setzt deutlich voraus, dass Gene und Umwelt das Geschehen im Ge‐ hirn prägen. In einigen Texten liegt der Schlüssel zum Handeln der Figuren in der Annahme, das Wesen sei auf den Sexualtrieb reduziert. In anderen Texten wie etwa Jochen Beyses Ultraviolett (1990) und Larries Welt (1992) entspricht das neuronale Reiztheater im Gehirn den wechselnden Mustern auf Bildschirmen der Computer. Wie lauten die Regeln in den neuen Wirklichkeiten der Literatur? 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 205 2 Vgl. Thomas Metzinger. Subjekt und Selbstmodell. Paderborn: Schöningh, 1993; ders. (Hg.). Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. Paderborn: Schöningh 1995; Francis Crick. Was die Seele wirklich ist. München: Artemis & Winkler, 1994; John Eccles. Wie das Selbst sein Gehirn steuert. München: Piper, 1994; Gerhard Roth. Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994. Spiel auf dem Bildschirm, Spiel im Kopf, virtuelle Wirklichkeit. Chaos im Bild, Chaos im Gehirn, chaotische Wirklichkeit. Wie ist eine bewusste Wahrnehmung des Ich und der Umwelt möglich? Einige der Überlegungen zielen auf ein quan‐ tenmechanisches Rechennetzwerk im Gehirn, andere greifen auf den Dualismus von Descartes zurück, vereinzelte Autoren halten fest, dass es ohne positive Sinnstiftung keine Selbsterkenntnis gibt und die überwiegende Mehrzahl der Schriftsteller entwerfen Erzählvorgänge, in denen die Figuren mit der be‐ wussten Wahrnehmung des Ich und der Außenwelt ringen. Sicher ist, die Phi‐ losophie kann das Ich entthronen und als reine Illusion darstellen. 2 Deutlich ersichtlich ist, dass trotz dieser Ansätze ausnahmslos alle in diesem Kapitel be‐ sprochenen Texte nicht zufrieden mit der These sind, das Ich sei eine vom Gehirn erfundene Illusion, die es dem Menschen ermöglicht sich in der Welt zu orien‐ tieren. Alle Texte stellen Fragen nach der individuellen Verantwortlichkeit und der möglichen Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Die Texte, die einen deutlich erkennbaren Weg aus dem Minenfeld der Ver‐ gangenheit aufzeigen, in dem die Fußangeln KZ , Auschwitz, SS , Stasi, Schuld, Sühne, Sünden der Tat und der Unterlassungen jeden Augenblick explodieren können, verdeutlichen eindrucksvoll: Die Vergangenheit ist nie abgeschlossen. Sie verlangt, wie die Schriften von Grass, Lenz, Jünger, Maron, Walser und Wolf belegen, eine geduldig-ernsthafte Bemühung. Die Texte verdeutlichen die Prob‐ lematik und Unübersichtlichkeit des Lebens heute und in der Vergangenheit. Sie bieten nicht die klare Sicht und leicht verständliche Entwicklung geschichtlicher Ereignisse, wie sie in vielen historischen Romanen vorherrscht. Sie offerieren keine Arglosigkeit, sondern verstören und rufen zur Auseinandersetzung auf. Die Erzählverfahren von Grass, Lenz, Maron und Wolf wirken realistisch, er‐ heben jedoch keinen Anspruch auf dokumentarische Gewissenhaftigkeit. Die in allen Werken deutlich erkennbare starke Betonung der Notwendigkeit des verantwortlichen Handelns, dem sich Einzelne nicht mit der Annahme, der his‐ torisch ablaufende Prozess sei unkontrollierbar, entziehen können, sowie die zentrale Auseinandersetzung mit individueller menschlicher Entwicklung, der Frage der Bewusstseinsentfaltung und der Möglichkeit kritischer Meinungsbil‐ dung im Ausnahmezustand historischer Prozesse bestimmt die Charakterzeich‐ nung und Figurenführung. Auf diese Art entsteht eine programmatische, pri‐ märe Denkform, die die Stileigenheiten der Werke prägt. Die Texte formulieren 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 206 im Rahmen ständiger Ermittlung eine keineswegs nur literarische, sondern ak‐ tuelle, ethische Forderung. Historisches Bewusstwerden und Bekenntnis zu ei‐ gener Verantwortlichkeit bilden eine untrennbare Einheit. Sie formulieren wie‐ derholt Lösungen, die sowohl Zuspruch finden als auch auf Ablehnung stoßen. Andererseits rufen die Darstellungen, in denen die Vergangenheit aus der Per‐ spektive einer unabgeschlossenen Akte erscheint, zu wechselnden kritischen Überlegungen auf. So entsteht eine zugleich zeitnahe und zeitlose Literatur. Lenz ortet in Deutschstunde (1968) Kindheitseindrücke und Erlebnisse, welche die Entwicklung des jungen Siegfried Jepsen maßgebend bestimmen. Die Schil‐ derung erweitert zugleich die konkreten Ereignisse zu einem umfassenden Bildnis einer kollektiven Erfahrung der Generation von Jugendlichen, die in der NS -Zeit und im Zweiten Weltkrieg aufwuchsen und deren Eltern das gesamte Spektrum von Anhängern, Mitläufern und Gegnern boten. Im Gegensatz zu Er‐ kundungen von Lichtblicken in einer Vergangenheit, die unbefleckt ist von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie etwa in Handkes In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997) und Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), klingt in Deutschstunde vieles an, das in Jugendlichen früher oder später zu schweren Gewissenskonflikten oder absoluter Verneinung führte: Leiden und Freuden, Jungvolk und HJ , Judensterne, zertrümmerte Fenster, große Auf‐ märsche, Ehrennadeln für Mütter, in Volksempfängern Berichte von Einmär‐ schen, Siegen, heldenhaften Einsätzen, später Rückzügen - alles begleitet vom Sender Leipzig mit „Üb’ immer Treu und Redlichkeit“ -, aber auch nachts im verdunkelten Zimmer Sendungen aus England, Aussiedlung, Flucht und ge‐ heime Mitteilungen über Menschen, die in Viehwagen abtransportiert werden. Der Handlungskern ist unkompliziert und leicht verständlich, die Schilde‐ rung und Entwicklung der Ereignisse anspruchsvoll. Siegfried (Siggi) Jepsen, zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt, soll in der Besserungsanstalt einen Deutsch‐ aufsatz über das Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben. Siggi denkt über das Thema nach; es ist zu umfassend und weckt bedrückende Erinnerungen; er denkt nach und kann keinen Anfang finden. Er wird schließlich zur Einzelhaft verurteilt, um den Aufsatz nachzuholen. Er bleibt dort mit Einverständnis des Direktors und entwickelt sich zum Chronisten seiner Zeit. Siggi beschreibt sein Aufwachsen im Elternhaus: sein Leben mit dem Vater, dem Landpolizisten Jens Ole Jepsen, mit den Geschwistern und der Mutter, die tagaus tagein ihrem Mann zustimmt und seine Einstellung zur Regierung des Landes, der „Obrigkeit“, teilt. Er schildert zugleich eindringlich die politische Situation des Landes im Spiegel der Eltern und seines Verhältnisses zu dem Künstler Max Ludwig Nansen, einem alten Jugendfreund seines Vaters, dessen Gemälde von der NS -Regierung abge‐ lehnt werden. Lenz entwickelt in der Deutschstunde drei unvereinbare Vorstel‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 207 3 Siegfried Lenz. Deutschstunde (1968). München: DTV, 1973. 53. lungen der Pflichterfüllung. Ole Jepsen verinnerlicht seine Staatshörigkeit und bläht sie zu einer menschenfeindlichen Idee auf, die seine gesamte Vorstel‐ lungswelt beherrscht und ihn geistig versteinert. Max Nansen erfüllt freudig seine Pflicht, indem er dem Ruf der Kunst folgt. Siggi entwickelt während des Schreibens eine neue Einstellung zur Vergangenheit und zu seiner eigenen Zu‐ kunft. Siggis Bewusstseinsentfaltung setzt sich durch im Schreiben. Aus der reflek‐ tierenden Erinnerung entsteht ein Überblick des Lebens in Deutschland zwi‐ schen den Jahren der Republik und der Gründung der BRD . Im Schnittpunkt stehen Bilder der Familie, der Auswirkung des Krieges auf die Bevölkerung, scharf geprägte Ausschnitte aus dem Dasein des Vaters und dessen Jugend‐ freundes Max, der Ole in der Jugend vor dem Ertrinken gerettet hat. Der Roman schildert im Leben Siggis, des Vaters und Nansens drei deutsche Schicksale, die zugleich repräsentativ sind für die vielen, die in den Jahren verstummten. Ole und Max wachsen im selben Ort auf und haben „bürgerliche“ Eigenschaften der deutschen Bevölkerung ihrer Zeit. Ihre geistige Entwicklung, Verhaltensweisen und Einstellung zur Welt werden jedoch wie die Siggis geprägt von durchaus unterschiedlichen Anlagen und Reaktionen auf die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Zeit. Oles Charaktereigenschaften, seine eiserne Pflichterfüllung und sein Han‐ deln, das weit über jede Anforderung hinausgeht, ergeben das Gesamtbild eines aktiven Mittäters, eines Menschen, der gegen Sittlichkeit und Humanität ver‐ stößt, aber - und das ist besonders deutlich herausgearbeitet - kein Verständnis für sein Vergehen hat, sondern sicher ist, im Staats- und Volksinteresse zu han‐ deln. Er ist überzeugt: ein Vater ist die maßgebende Autorität in der Familie. Anordnungen des Vaters werden ohne Widerspruch oder Befragung befolgt. Ole ist unfähig, mit seinen Söhnen Siggi und Klaas und seiner Tochter Hilke einen Dialog herzustellen, der einen geistigen Austausch ermöglicht und das Erkennt‐ nisvermögen erweitert. Er kann deshalb seinen Kindern nie ein Vorbild sein. Sein Erziehungsprinzip ist elementar: „Du brauchst nicht mehr zu verstehn, als du gesagt bekommst … Brauchbare Menschen müssen sich fügen …“ 3 Oles Leben geht völlig in der Pflichterfüllung auf. Er erfährt die Freude der Pflichterfüllung als ewiger „Ausführer“ und tadelloser „Vollstrecker“. Ole ist ein höriger Bürger-Diener des Staates, der alle Anordnungen des Dritten Reiches befolgt, weil es seiner kleinbürgerlich beschränkten Vorstellung der sozial-politischen Verfassung des Staates entspricht. Die Erzählung beleuchtet besonders ein‐ dringlich die Denkart eines Menschen, der alles verabscheut, was neu, anders, 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 208 weltoffen und lebensfreundlich ist. Ole ist bereit, seinen Freund und seine Kinder dem System zu opfern. Darüber hinaus steigert sich seine Dienstwilligkeit ins Maßlose. So stellt auch der Postbote fest, Ole tue immer „mehr, als die Pflicht verlangt“. (94) Aus der Sicht zivilisierter Rechtsprechung erscheint Oles blinde Staatshörigkeit ruchlos und strafwürdig. Ole ist kein einfacher Mitläufer, der nicht auffallen will. Er übertreibt jede staatliche Verfügung und wird zum ak‐ tiven Täter, der keine Gewissenskonflikte verspürt. Als er von der „Reichs‐ kammer für Bildende Kunst“ den Befehl erhält, Nansen das Malverbot der Re‐ gierung zu überreichen, glaubt er nur seine „Pflicht“ zu tun. (68) Er übernimmt jedoch darüber hinaus widerspruchslos die Überwachung des Verbots. Seine Abneigung gegen Max, in dem er nicht mehr seinen alten Freund, sondern einen Feind der Regierung sieht, artet zur Verfolgung und zum Hass aus. Der Maler „muß einen Denkzettel bekommen“ (162). Ich „werde ihn schnappen“. (22) Er will Nansen stellen und missbraucht seinen Sohn Siggi, der den Künstler „aus‐ spionieren“ und verraten soll. (54) Seine Einstellung zu seinem Sohn Klaas ver‐ deutlicht die eigentümliche Übereinstimmung von rückhaltloser Staatspflicht und Haltung zur Welt. Klaas hat sich durch Handschuss verstümmelt, um dem Frontdienst zu entkommen. Er wird verhaftet, ins Lazarett ausgeliefert und ent‐ flieht. Ole versucht alles Denkbare, den Sohn zu stellen, festzunehmen und aus‐ zuliefern. Er vermutet, Klaas habe bei dem Maler Schutz gesucht; späht und verfolgt jede Spur. Seine Abneigung geht schließlich so weit, dass er Klaas nach dem Kriegsende aus der Familie ausschließt. Klaas erhält „Hausverbot“. (321) Ole will Andersdenkende kaltstellen, seien sie Feinde des Regimes oder Wider‐ spenstige, die sich seinem Autoritätsanspruch nicht fügen wollen. Als sich Siggi widersetzt, beharrt Ole: „Ich trete nicht ab, bevor du zur Strecke gebracht bist.“ (371) Seine Gedanken kreisen wiederholt um die Vorstellung, Menschen, die sich nicht anpassen, „zur Strecke zu bringen“. Als er nach Kriegsende und kurzer Gefangenschaft heimkehrt, schließt er die neuen Richtlinien ungelesen weg. (329) Es ist schwer deutbar, ob die völlige geistige und seelische Leere der Figur in erster Linie die Abneigung und das beängstige Grauen spiegelt, das er in Siggi auslöst, oder ob Lenz das Schreckbild eines Nazis gestalten wollte. Sicherlich spielt die Perspektive Siggis in der Darstellung des Vater-Sohn-Konflikts eine wichtige Rolle. Darüber hinaus steht jedoch das Schreckbild eines Nazis im Mit‐ telpunkt der Schilderung. Eine Szene bei Tisch ist besonders aufschlussreich: Ole frisst gebratene Heringe in sich hinein und erscheint er als Kannibale, der seinen Körper stärkt, um seine unheimliche Existenz zu erhalten. Er ist sicher‐ lich nicht nur pflichtbesessener Ausführer der Gewalt, sondern der Organisator der Angst, die die Welt betäubt. 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 209 4 Johann Wolfgang Goethe, Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Hg. Eduard von der Hellen. Stuttgart: Cotta, 1902-1912. Bd. 4. 224. Ole verachtet Nansens ethische Verpflichtung zu einer human-humanisti‐ schen Einstellung zur Welt, die selbst in den kühn-gewagten modernen Ent‐ würfen seiner Gemälde im Geist der Aufklärung und Klassik deutlich ersichtlich ist. Max folgt dem Ruf der Kunst und gestaltet in seinen Bildern Visionen einer zivilisierten Menschheit. Die Erzählung entwirft in Nansen das Bild eines hei‐ matverbundenen großen Künstlers. Er wird 1933 Mitglied der NSDAP , erkennt aber bereits im folgenden Jahr die „braune Gefahr“ und weigert sich 1934, die Leitung der Staatlichen Kunstschule zu übernehmen. Er erfüllt seine Pflicht im Sinne Goethes, der in Maximen und Reflexionen feststellt: „Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. … Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.“ 4 Im Ausnahmezustand der Zeit ist die „Forderung des Tages“ der Aufruf zur Besinnung gestaltet in einer Kunst, die sich mit der „entarteten Politik“ auseinandersetzt und dann konsequent von der Partei als „entartete Kunst“ angeprangert wird. Nansen erhält Malverbot und seine im Ausland hoch geschätzten Gemälde werden in Deutschland als entartete Kunst beschlagnahmt. Die Bilder erfassen in verzerrten Gesichtern die Angstpsychosen von Menschen, die hinter der braunen Kulisse die Wahrheit ahnen. Zugleich gestalten sie die Möglichkeit des Durchbruchs zum Licht aus dem Bedrohlich-Dämonischen der Zeit. Die Charaktereigenschaften Nansens sind ein positives Spiegelbild aller Ruchlosigkeit Oles. Max hilft den Kindern Oles. Klaas, der entsetzliche Angst vor dem Vater hat, sucht bei ihm Schutz. Siggi sucht seine Nähe. Er verehrt ihn, sieht in ihm eine liebevolle Vaterfigur; eine Vorstellung, die sich vertieft, nachdem er bei Max vor einem Gewitter Zuflucht sucht und für seine Angst vom eigenen Vater brutal gezüchtigt wird (50-51). Siggi hilft Nansen, die Gemälde vor der Beschlagnahmung zu retten. Außerdem entwendet er fortwährend Bilder und versteckt sie in einer alten Mühle. Siggi ist schließlich besessen von dem Verlangen, Bilder zu retten, und lebt im Dau‐ erzustand der Angst. Nansen versteht jedoch nicht die tiefe psychologische Ge‐ fährdung Siggis und verkennt, dass Siggi für seine Lehre des menschlichen Rei‐ fens zu jung ist (351). Mit der Ausnahme von Nansen wächst Siggi ohne Vorbilder auf. Elternhaus und Schule vor dem Kriegsende vermitteln keine sinnvolle Deutung des Daseins. Er erhält keine Maßstäbe für eine wie auch immer geartete Urteilsbildung ethi‐ scher Fragestellungen. Dieser Sachverhalt wird deutlich in seiner Hilflosigkeit beim Schreiben von Aufsätzen, die Werturteile verlangen. (343) Vom Vater 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 210 ständig gezüchtigt, von Schulkameraden als Vorbildsschüler gehasst, lebt sich Siggi in seine eigene Welt in der alten Mühle ein. Er rettet zuerst mit Einver‐ ständnis Nansens das Bild „Der Wolkenmacher“, entwendet dann ein Gemälde nach dem anderen, um sie vor der Vernichtung zu schützen. Siggi ist überzeugt, sein Vater werde alle Kunstwerke zusammen mit der Mühle verbrennen, und lebt unter dem ständigen Zwang, er müsse das Kunstschöne, das einzig Sinnvolle in der Welt, für die Menschheit bewahren. Dieser phantasievolle, außerordent‐ lich begabte Junge wird schließlich von seinem Vater des Diebstahls überführt. „Ich tue meine Pflicht.“ In der Erziehungsanstalt bemüht sich zu Siggis Glück der Inspektor Karl Joswig um ihn. Dieser ist in jeder Hinsicht der absolute Ge‐ genpol zu Ole. Er erfüllt seine Pflicht, indem er Siggi die Augen für ein sinnvolles Leben öffnet. Er erkennt: Siggi büßt für eine Generation, er büßt: „Weil keiner sich traut, dem Polizeiposten Rugbüll eine Entziehungskur zu verordnen.“ (400) Siggi wird stellvertretend bestraft, denn der schuldige Vater genießt auch im neuen Staat die Freuden der Pflichterfüllung. Im Interesse der Schüler übersieht Karl auch die Regeln des Instituts; er macht sich Sorgen um Siggi, überlegt sich dessen Zukunft (316) und schreibt ihm einen Abschiedsbrief: „bist uns ans Herz gewachsen.“ (413) Siggi wird in der Straf-Besserungsanstalt am 25. 9. 1952 einundzwanzig Jahre alt. Joswig kommt zu ihm. „Willst du dir nicht freigeben heute? Fragte er von der Tür. ‚Wozu? ‘ - Nun einundzwanzig, sagte er. Da fängt man an, sich festzu‐ legen, da stellt man sich so Fragen, man unternimmt Spaziergänge … Es ist auch ein gutes Alter zum Auswandern. Mit einundzwanzig wählt man sich etwas aus dem Vorrat an Einfällen, man beschließt, etwas zu werden, von mir aus Muse‐ umswärter.“ (316) Die Erzählung gibt die Antwort. Siggi wird entlassen, nachdem er seinen Aufsatz für die Deutschstunde beendet hat. Der Aufsatz ver‐ deutlicht eindringlich, dass die Vergangenheit nie verjährt. Sie anzuerkennen bedeutet jedoch keine Bejahung. In der Niederschrift entwickelt Siggi die Fä‐ higkeit, einen wesentlichen Ausschnitt der deutschen Vergangenheit zu ver‐ stehen. Der Aufsatz ebnet den Weg zu einer neuen Form der Pflichterfüllung und ist eine deutliche Absage an die Entschuldigung von Tätern, Mitläufern und Nischenstehern, sie hätten nur ihre Pflicht erfüllt. Lenz greift die Problemstellung falscher und echter Vorbilder und des ver‐ antwortlichen Handelns erneut in Das Vorbild (1973) auf. Die Erzählung ist eine künstlerisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Frage, welche Vor‐ bilder für die Jugend unserer Tage angemessen sind. Die Handlung ist aufgefä‐ chert in drei Erzählstränge: die Geschichte der Suche nach einem zeitnahen, jungen Lesern verständlichen Vorbild, der Ermittlung von Nachrichten, die den Selbstmord eines jungen Studenten nach vorzüglich bestandener Prüfung auf‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 211 klären könnten, und eingeführte, mehrmals abgebrochene und neu aufgenom‐ mene Vignetten aus dem Leben unterschiedlicher Figuren, die sich mit der Frage des verantwortlichen Handelns auseinandersetzen. Die Handlungsstränge sind thematisch auf den Gesamtvorgang abgestimmt. Sie akzentuieren und vertiefen unlösbare Widersprüche des Lebens und tragen dadurch zur atmosphärischen Geschlossenheit der Erzählung bei. Das konkrete Geschehen erfasst eine kleine Arbeitskonferenz in einer Ham‐ burger Pension. Valentin Pundt, Rektor aus Lüneburg, Rita Süßfeldt, freie Lek‐ torin und Herausgeberin von Lesebüchern, und Janpeter Heller, Studienrat am Diepholzer Gymnasium, treffen sich zu gemeinsamer Arbeit am dritten Kapitel eines Lesebuchs für den Deutschunterricht im achten Schuljahr. Das Buch ent‐ steht im Auftrag eines Arbeitskreises der Kultusministerkonferenz. Es soll re‐ präsentativ sein und enthält Abschnitte wie „Arbeit und Fest“, „Heimat und Fremde“ und „Lebensbilder und Vorbilder“. Die von den drei Experten ausge‐ suchten Geschichten einer vorbildlichen Leistung stoßen auf gegenseitigen Wi‐ derspruch. Sie versuchen deshalb in gemeinsamer Arbeit die Schwierigkeiten des dritten Kapitels zu überwinden. Alle Erörterungen kreisen um den Fragen‐ komplex, welches Verhalten die Voraussetzung für die Beurteilung „vorbildlich“ bietet. Einblicke in das Leben und die Erfahrungen der drei Experten begründen deren Einstellung zu der Frage. Das Erzählverfahren des ständigen Abschwei‐ fens und des Umordnens, in dem wechselnde Gedanken der Figuren und Über‐ legungen des Erzählers zu Wort kommen, entspricht der Verunsicherung ange‐ sichts der zeitlich relevanten Aufgabe, etwas in der Tradition zeitlos Fortbestehendes zu bestimmen. Die Erzählphasen, in denen relevante Begeben‐ heiten und Ansätze zu passenden Schilderungen besprochen werden, artiku‐ lieren das zentrale Anliegen des Fragenkreises. Bieten Vorbilder die Vorausset‐ zung zur menschlichen Entwicklung? Sind sie Orientierungshilfen oder Angstmacher? Die Handlung verdeutlicht, dass die Jugend verunsichert ist, Unterstützung braucht und sich an zeitnahen, wechselnden Vorbildern orientiert. Diese, Idole der Medien und Protestbewegung, werden im Handlungsverlauf kritisch befragt und desillusioniert. Die drei Sachbearbeiter sind bereit, selbstlos zu handeln und anderen zu helfen. Süßfeldt hilft ihrem leidenden Schwager, Heller, politisch engagiert, unterstützt junge Studenten und Pundt leistet unter Lebensgefahr einem jungen Paar Beistand, das von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen wird. Die beiden Pädagogen lehnen jede Vorstellung einer Heroisierung ab, hoffen aber, im Umgang mit ihren Schülern selbst vorbildlich zu handeln. Die Gegenüberstellung von Vorbildsgeschichten, die von ihnen gebilligt werden, und wesentlichen Ereignissen aus ihrem Leben, verdeutlicht die nahezu un‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 212 überbrückbare Kluft zwischen fiktiv gestalteten Denkformen und Widersprü‐ chen des Daseins. Darüber hinaus versperren generationsbedingte, fest veran‐ kerte Überzeugungen eine Lösung, die zwar nicht dem Ideal entspricht, aber zwischenmenschliche Beziehungen fördern könnte. Die Erzählung gibt einge‐ hende realistische Schilderungen der Figuren und des Milieus. Zuweilen, wie etwa in der Ankunft Pundts in Hamburg und der Beschreibung des Inhalts seiner Aktentasche oder der Schilderung des „Spatzenfrühstücks“ bei der Familie Merkel, tritt die Freude am Fabulieren stark hervor. Die Einzelheiten, selbst Ab‐ schweifungen, die im Plauderton das Lesepublikum ansprechen, und die bis ins kleinste Detail gehenden Beschreibungen des Konferenzzimmers der Pension und der Wohnung Ritas sind abgestimmt auf die Analyse der real eingeführten und der zum Vorbild ausgesuchten Charaktereigenschaften der Figuren. Das Verfahren bedingt, dass beispielsweise Rückgriffe auf das Leben und Handeln der Biologin Lucy Beerbaum einerseits ein sinnstiftendes Geschehen dramatisch gestrafft scharf profilieren, andererseits in Gesprächen mit Personen, die Lucy kannten, langsam einen gesamten Lebenslauf zur Diskussion stellen. Gleicher‐ maßen entstehen aus den debattierten Beispielen, Pundts Begegnungen mit Freunden seines Sohnes und den vermittelten Einblicken in die Erfahrungen Hellers und Süßfeldts gesamte Lebensläufe in auf- und absteigender Linie. Alle scheinbar ganz alltäglichen Begebenheiten aus den fiktiven Biographien er‐ geben das Gesamtbild der zeitlosen Suche nach Orientierung und Sinnstiftung im Leben. Das Vorbild problematisiert drei Generationen. Pundt nahm am Weltkrieg teil. Hellers Anschauung wurde in den Jahren der Protestbewegung begründet. Rita wächst nach dem Krieg auf, ist jedoch im Gegensatz zu Heller zu Kompromissen bereit. Pundts Sohn Harald, seine Freundin, Kameraden und Bekannte vertreten die jüngste Generation der Schüler und Studenten. Pundts Suche nach einer Erklärung für den Selbstmord Haralds beleuchtet die Konflikte und kommen‐ tiert zugleich das Bedürfnis an Vorbildern, die der eigenen Zeit entsprechen und der persönlichen Entwicklung ein Ziel geben. Die Darstellung der Figuren hebt ambivalente Züge hervor. Sie wecken Teilnahme, rufen Kritik hervor und for‐ dern durch Handeln und Unterlassungen die Leser zur Bestimmung ihres ei‐ genen Standorts auf. Valentin Pundt glaubt ein guter Erzieher zu sein. Er ist davon überzeugt, dass jeder, insbesondere sein Sohn, mit ihm „sprechen“ kann. Der Verlauf des drei‐ tägigen Aufenthalts entwirft jedoch das Bild eines Lehrers und Vaters, der wie Ole Jepsen keine Befähigung zu einem förderlichen Gespräch hat. Er ist von „grüblerischer Unnachsichtigkeit“, lässt Schüler stehen, wenn sie seine boh‐ renden Fragen nicht beantworten können, und hört von einem hasserfüllten 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 213 5 Siegfried Lenz. Das Vorbild (1973), in: Werkausgabe in Einzelbänden. Bd. 7. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1999. 251. früheren Schüler, dass es niemand in Lüneburg so gut wie er verstand, Schüler „lautlos und ohne Aufwand zu knicken.“ 5 Er ist für alle ein „Wegweiser“, aber ohne Ziel. Er hält Harald an, tägliche Rechenschaftsberichte über seine Arbeit abzulegen, und verwendet seinen Sohn als Mitarbeiter an seinem unabgeschlos‐ senen Forschungsprojekt „Die Erfindung des Alphabets“. Die Hilfe erschöpft sich in einer peinlich genauen handschriftlichen Dokumentation von Fakten. Die Auskünfte, die Pundt auf seiner Spurensuche erhält, beleuchten sowohl Ha‐ ralds Notlage als auch Pundts geistige Verfassung. Er vernimmt die Information, kann sie nicht begreifen, da er innerlich nicht bereit war, auf die Sorgen der Schüler einzugehen, sieht aber schließlich sein Versagen ein und weigert sich, am Projekt der „Vorbildsgeschichte“ weiter mitzuarbeiten. Harald schließt sich während seines Studiums dem Protestsänger Mike Mitchner an. Mike, ein von der Jugend umjubelter Held, entspricht zuerst im Appell an die Neuordnung der Welt seinen verschwommenen Idealen. Harald ist desillusioniert, als er erkennt, dass sich Mike der Marktgesellschaft angepasst hat, völlig in dem hektischen Betrieb seiner Auftritte aufgeht und den Protest als Geschäft betreibt. Mike ist umjubelt, aber überfordert und findet kein festes Verhältnis zu anderen. Harald durchschaut das von Medien erfundene „zeitge‐ mäße Vorbild“, das keine Sinnstiftung vermitteln kann. Auch Haralds Freundin, von der er sich „in gutem Einvernehmen“ trennt, kann ihm keinen Halt geben. Sie will im Ausland studieren, ihre zukünftige Karriere fördern und findet es ganz natürlich, sich den wechselnden Ansprüchen des Tages zu fügen. Sie be‐ tont, Harald habe immer Angst gehabt, begreift aber wie alle anderen Bekannten seinen Selbstmord nicht. Haralds Bemerkung: „Alles hat keinen Sinn“ bietet Aufschluss über seine Verfassung kurz nach dem ausgezeichnet bestandenen Abschlussexamen. Er findet keine Orientierung in den Vorstellungen des Vaters und der Welt der Anpassungskünstler, in der alle in Alltagssorgen aufgehen und keine Zeit für eine Begegnung mit anderen haben, die die existentielle Isolierung durchbricht. Heller lehnt grundsätzlich jede Konvention und jeden Autoritätsanspruch ab. Er geht in dem Geist protestierender Jugendlicher auf. Seine Empörung gegen jede Obrigkeit stellt sich sofort ein, „sobald sie gebraucht wird“. (131) Er springt daher aus Ritas Wagen, als sie an einer Kundgebung vorbeifahren, beteiligt sich, ohne die Gründe des Protests zu kennen, setzt sich an die Spitze der Gruppe und wird verhaftet. Er besteht auf seinen Grundrechten bei der anschließenden Er‐ mittlung, erfährt, dass eine geplante Erhöhung der Fahrpreise der Hamburger 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 214 Verkehrsmittel die Demonstration hervorrief, und verlässt grußlos das Dienst‐ zimmer der Polizei. Heller ist verärgert und empört über die „Nachhilfestunde“ des Polizisten, der ihn mit der Bemerkung wegschickt: „In all meiner Praxis ist mir noch niemand so erbarmungswürdig vorgekommen wie ein betagter Revo‐ lutionär. Einer, der nicht den Mut hat, zu seinen Jahren und Erfahrungen zu stehen.“ (141) Die während des Erzählverlaufs vermittelten Einblicke in Hellers Leben bestätigen das Urteil. Hellers Frau wohnt von ihm getrennt, da ihm seine Begeisterung für die Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse keine Zeit für sie oder seine Tochter ließ. Sie stellt fest, er suche die Bewunderung der Schüler, verlange deren Mitbestimmung, stelle sich aber nie einer kritischen Diskussion seiner Ziele. Bei einem Treffen mit der Tochter wird deutlich, dass er nicht auf ihre Interessen eingehen kann. Sie ist beglückt, den Vater zu sehen; er ist irritiert von ihrer Freude am Malen, hört nicht zu, besichtigt mit ihr ein Schiff, was sie langweilt, und ist gleichermaßen froh und unzufrieden, als der Besuch vorbei ist. Rita Süßfeldt lebt in ständigem Stress, fährt in ihrem froschgrünen Klein‐ wagen ohne Rücksicht auf Verkehrszeichen, ist immer verspätet und versucht erfolglos, ihre Gedanken im Wirrwarr ihrer Wohnung zu ordnen. Sie macht keinen Anspruch darauf, ein Vorbild zu sein, ist aber überzeugt, eine vorbildliche Handlung deuten oder schreiben zu können. Die unterschiedlichen in den Text eingeführten, erzählten und diskutierten Geschichten haben charakteristische Merkmale fiktiver Heldengeschichten. Sie betonen auch Eigenschaften, die einerseits auf das Leben der Sachverständigen, andererseits auf die bereits zum Roman gewordene Existenz der Biologin hin‐ weisen. Die Geschichten thematisieren Entscheidungen, in denen eine Figur ein Risiko eingeht, das unterschiedliche Deutungen zulässt, zum Nachdenken an‐ regt und die kritischen Fähigkeiten des Lesepublikums entwickelt. Der Hand‐ lungsverlauf der einzelnen Erzählungen profiliert zentrale Konflikte, die aus dem Alltag kommen, aber einen Aufruf an das Gewissen enthalten. Vorgestellt werden unter anderem Figuren, die unter Lebensgefahr einem entflohenen Ge‐ fangenen helfen, die Liebe für Mitmenschen ausdrücken, die durch die Absage an Kompromisse mit der bestehenden Ordnung zur gesellschaftlichen Reform anregen und sich in existenziellen Notlagen bewähren. Die unterschiedlichen aus dem Leben Lucy Beerbaums gegriffenen Geschichten belegen, dass eine vorbildliche Handlung von zeitlich begrenzter Gültigkeit sein kann. Die Le‐ bensausschnitte beleuchten widerspruchsvolle Züge. Lucy ist immer bereit selbstlos zu handeln, besteht in Fragen der Wissenschaft kompromisslos auf ihrer Meinung. Sie ist überzeugt vom guten Kern im Inneren eines jeden Men‐ schen, erlaubt Diebstähle eines Kindes und nimmt später einen Dieb in ihre 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 215 6 Siegfried Lenz. „Von der Gegenwärtigkeit des Vergangenen“, in: Über das Gedächtnis. Reden und Aufsätze. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1992. 37. Der Essay betont: Ver‐ gangenes ist immer gegenwärtig als Aufruf zu verantwortlichem Handeln. Wohnung, um ihn zu resozialisieren. Dass er sie niederschlägt und beraubt, ver‐ mindert ihr Bemühen nicht. Lucy äußert Solidarität mit anderen, die unter po‐ litischer Gewaltherrschaft leiden, indem sie deren Leiden nachvollzieht. Sie ist fähig, die Vergangenheit zu empfinden. Was fehlt, ist eine kritische Auseinan‐ dersetzung mit ihr. Auch andere Geschichten kreisen um die demonstrative Anteilnahme, die in der Überzeugung wurzelt, jede Neugestaltung müsse in der Gesellschaft an‐ setzen. Diese Vorstellung gerät jedoch in Konflikt mit dem in den Diskussionen anklingenden Vertrauen, dass jede Reform von Bestand vom Einzelnen aus‐ gehen müsse. Dieser Widerspruch, der auch in der Gegenüberstellung von Ja- und Nein-Sagern hervortritt, bestimmt die Zweifel der Sachverständigen und die von der Suche nach Vorbildern erzeugte allgemeine Verunsicherung. Päda‐ gogen wie Leser wollen vorbildliche Handlungen kommentieren. Das Lesen orientiert sich an der Frage: Was nennt man groß? Die Erläuterungen lösen alle im Dasein wurzelnden Widersprüche auf. Demgegenüber gibt der Themenkreis der Erzählung die Antwort, die Lenz als Lebensregel in seinen Essays festhält. Handeln soll dem Leben Sinn geben, „es nicht sinnwidrig vergeuden“. 6 Vorbilder stellen somit die Forderung, die Widersprüche des Lebens anzuerkennen. In dem Roman Exerzierplatz (1985) schildert Lenz Aufstieg und Fall seiner Figuren in zwei eng verflochtenen Lebensläufen. Die Erzählfigur, Bruno Messmer, legt einen Rechenschaftsbericht vor, in dem sich zeitnahe Beobach‐ tungen und Rückblicke auf seine Kindheit und Jugend durchkreuzen. Brunos früheste Erinnerung ist eine traumatische Erfahrung der letzten Kriegstage. Ein mit Flüchtlingen beladenes Schiff wurde torpediert; der Junge rutscht von einem Floß, das mit seinen Eltern davon treibt; er versinkt im Wasser und wird von dem hinuntertauchenden Konrad Zeller gerettet. Brunos Gefühlswelt, sein Denken, seine Überlegungen, seine Einstellung zu anderen und seine Haltung zur Gesellschaft werden geprägt von seiner bis zur Selbstaufgabe führenden Liebe zu seinem Lebensretter und heutigen Chef, Konrad Zeller. Dieser kommt als Flüchtling mit seiner Familie und Bruno nach Hollenhusen, wo er auf einem alten Exerzierplatz und dem umgebenden Land eine Baumschule anlegt, die sich unter seiner Leitung im Verlauf der Jahre zu einem Großunternehmen mit Ver‐ sand in andere Länder entwickelt. Verschiedene Hinweise, skizzierte autistische Symptome, Beschreibungen aus der Schulzeit, Andeutungen und kurze Bemerkungen Brunos lassen den Schluss zu, er sei entweder geistig behindert oder habe sein kindliches Gemüt 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 216 bewahrt. Für die Kinder Zellers muss er manchmal Hund, mitunter Pferd spielen. Sie reiten auf ihm oder legen ihm eine Leine um den Hals und führen ihn spa‐ zieren. Trotzdem betrachten sie ihn als Familienmitglied und schützen ihn vor anderen. In der Schule kann er sich nicht konzentrieren, gilt als Schwachkopf, der sich nie verteidigen kann und deshalb für alle dummen Streiche anderer verantwortlich gemacht wird. Kann er ein Problem nicht lösen, wirft er sich hilflos hin und schlägt mit dem Kopf auf die Erde oder stößt zuweilen gegen den Türrahmen. Er fürchtet andere Kinder und Erwachsene, besonders wenn diese ihn scharf anreden. Er versteckt sich gern und legt auch noch als Erwachsener Verstecke unter Föhren, Tannen und einem Rosenbusch an, in denen er von Soldaten auf dem ehemaligen Exerzierplatz hinterlassene Gegenstände und kleine, ihm wertvoll erscheinende Geschenke des Chefs in Sicherheit bringt. Bruno kommt weder in der Schule noch in der Lehre voran. Er wird auf Probe als Posthelfer angestellt, hat einen Unfall mit einem durchgehenden Pferd und wird vom Postboten verprügelt. Zeller bringt ihn nach Hause und entscheidet: Er gehört zu uns. Im Verlauf von etwa dreißig Jahren wird Bruno zuerst Lehrling, dann zuverlässiger Gärtner, Mitarbeiter und Vertrauter Zellers. Im Gegensatz zu seiner Hilflosigkeit im Umgang mit anderen hat Bruno eine hochentwickelte Vorstellungswelt und außergewöhnliche Sprachbegabung, die es ihm ermöglicht, seine Phantasiewelt auszumalen. In seinem Beruf der Baum‐ pflege ist er nicht nur praktisch erfahren im Veredeln, Pfropfen und Pflanzen, sondern auch kenntnisreich und übertrifft alle in seinem Fachwissen. Er liest und begreift wissenschaftliche Darstellungen von Pflanzen und der Baumpflege, aber nicht die Vorgänge in seiner Umgebung. Bruno macht sich im Erzählverlauf unentwegt Sorgen um seinen Chef, kann nicht verstehen, was dessen Kinder mit ihm vorhaben und rätselt herum, wie die Mitteilung „Sie haben ihn ent‐ mündigt“ zu verstehen sei. Er löst schließlich das Rätsel der geheimnisumwit‐ terten Entmündigung: Im Haus sind wertvolle Dinge verschwunden, die Konrad wahrscheinlich Bruno geschenkt hat, außerdem hat Konrad Zeller testamenta‐ risch festgelegt, dass Bruno ein Drittel des Gesamterbes erhalten soll. Die Familie ist empört und lehnt jeden Gedanken an einen Miterben ab. Sie beruft einen Anwalt und will den Vater entmündigen lassen, um den Besitz in der Familie zu behalten. Als Bruno den Sachverhalt begreift, handelt er völlig selbstlos und entscheidet sich, sein geliebtes Land zu verlassen, um dadurch den Frieden in der Familie Zeller zu bewahren und ihre Zukunft zu sichern. Gespräche mit Zeller und dessen Söhnen, Äußerungen anderer und realistisch anmutende Schilderungen des Geschehens erweitern den Erinnerungsdiskurs zu einem mehrfach aufgefächerten Panorama von Perspektiven. 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 217 7 Thomas Bernhard. Die Ursache. 106. Zellers Leben steht unter dem Dreigestirn Ringen mit der Umwelt, Natur‐ pflege und Gründung einer Dynastie. Er ist erfolgreich im Kampf gegen die Behörden und überwindet den zähen, verbissenen und hartnäckigen Wider‐ stand eingesessener Dörfler, die sein wachsendes Unternehmen missgünstig betrachten und versuchen, ihm bei jeder Gelegenheit zu schaden. Die Rivalität mit dem Nachbarn Lauritzen ähnelt in ihren Ausmaßen den Bauernkämpfen in Gotthelfs Novellen. Zeller ist fanatisch in seinem Freiheitsstreben und in der Überzeugung, dass eigentlich nur er die Baumpflege versteht. Eine von einem Amt in Berlin angeordnete Ausmerzung eines von ihm gekauften Saatguts „un‐ bekannter Herkunft“, das sich unter seiner Pflege zu gesunden, sprossenden Jungbäumen entwickelt hatte, endet in einem gigantischen Inferno verbrannter Edeltannen. Diesen und ähnlichen Ausbrüchen des Willens, die sich jedoch grundsätzlich gegen den starren Bürokratismus in der Gesellschaft richten, steht das Verlangen zur Seite, seine beiden Söhne für seine Lebensform und sein Un‐ ternehmen zu begeistern. Er scheitert und begreift weder ihre Berufsentschei‐ dungen noch ihr Desinteresse am Hegen der Natur. Zeller ist verbittert, wendet sich ab und entscheidet sich, Bruno zum Miterben einzusetzen. Die Schen‐ kungsurkunde ist nicht nur ein Ausdruck seiner Zuneigung, sondern auch ein letzter Versuch, den Ort seines Erfolges vor einem möglichen Verkauf zu retten. Zellers Verwandlung eines Exerzierplatzes in fruchtbares Land und eine Festung inmitten der wiedergewonnenen Natur sollen ihn als Mahnmal überleben. Hinter dem Lebensbericht des Erzählers, eines möglicherweise kriegsver‐ sehrten, sicherlich aber lebensversehrten Menschen, verbirgt sich eine geistig hochentwickelte Figur, die in der gesamten Darstellung beständig eine Frage stellt: Kann man die Vergangenheit bejahen, auch wenn sie schwer zu verstehen ist? Und die Erzählung gibt eine Antwort, die den gesamten Entnazifizierungs‐ prozess der ersten Nachkriegszeit neu erörtert. Selbst die Klassifizierung „Nicht betroffen“ konnte Menschen zwar freisprechen, sie aber nie aus der Gewissens‐ not befreien. Die Vergangenheit verjährt nie. Thomas Bernhard betont in seiner zuweilen maßlos erscheinenden Verurtei‐ lung der Gesellschaft, die im Neuaufbau der von Bomben zerstörten Stadt Salz‐ burg alles Alte fortbestehen lässt (Die Ursache), jede Wahrheitsermittlung der Vergangenheit dürfe nicht von gegenwärtigem Denken beeinflusst werden. Er will orten: „wie ich damals empfunden habe, nicht wie ich heute denke.“ 7 Christa Wolf dagegen macht ausdrücklich in Kindheitsmuster geltend, dass sie ständig mit Fragen der Erinnerung ringt. Sie ringt mit dem Fragenkomplex: was war wirklich, was war wesentlich? Sie liest alte Zeitungsberichte, geht in Biblio‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 218 8 Christa Wolf. Kindheitsmuster. Berlin: Aufbau, 1976. 238. 9 Frauke Meyer-Gosau. „‚Keine Spur von Hoffnung, keine Spur von Furcht. Nichts nichts.‘ Christa Wolfs Wege aus der Geschichte.“ In: Wehdeking (Hg.). Mentalitätswandel. 153-164. Meyer-Gosau deutet die Erzählung als Gestaltung eines Vorgangs „fortschrei‐ tender innerer Verluste … eines Selbstverlusts“ (154) in einer Welt, in der die Stimme des Einzelnen keine Resonanz findet. 10 Christa Wolf. Medea: Stimmen. München: Luchterhand, 1996. 175. theken und versetzt sich in die Rolle eines Historikers. Sicherlich erhält ihre Rekonstruktion durch die Belege größere Schärfe. Aber Wolf folgert schließlich, dass keine Dokumentation alles erfassen kann. Es fehlen Filme und Tonbänder, die direkte Einblicke in das Geschehen in Lagern, Baracken und Lazaretten er‐ möglichen. Es gibt „aus dem Gestapokeller kein Tonband“. 8 Trotzdem resigniert weder Bernhard noch Wolf. Sie beleben die Vergangenheit in literarischen Ge‐ staltungen und verleihen ihr dadurch größere Schärfe als die Dokumentationen. Wolfs Darstellung in Medea. Stimmen (1996) ist weder eine Flucht in den un‐ geschichtlichen Mythos noch ein Rückgriff auf die Antike, um die Vergangen‐ heit aufzuarbeiten. Der Rekurs auf den Mythos ermöglicht Grundwidersprüche aufzuweisen, die im Sozialismus nicht überwunden wurden und die sowohl im vereinten Deutschland als auch in der westlichen Welt bis heute fortbestehen. 9 Medea ist ein bedeutender Versuch, den Orientierungsverlust in der Gegenwart zu erfassen. Diese Gegenwart ist das ‚stimmenreiche‘ Deutschland; ein Land, in dem die jüngste Geschichte, das Leben in der DDR , BRD und im Deutschland nach der Wende völlig verschmolzen sind. Die Erzählung gestaltet die Identi‐ tätssuche als Erinnerungsprozess im Rahmen von Grenzsituationen, in denen die gesellschaftlichen und politischen Umstände stärker sind als die persönliche Initiative. Die Eigenschaften und das Verhalten der Figuren wirken zeitnahe. Sie könnten in jedem Erlebnisbericht aus der DDR - oder NS -Zeit auftreten. Die Erzählung behält Grundzüge der mit Medea verknüpften und ins Mythi‐ sche gesteigerten Ereignisse bei (Argonautenfahrt, leidenschaftliche Liebe, Flucht, Leben in Korinth), verwandelt jedoch das Geschehen grundsätzlich. Medea ist schuldlos am Tod ihres Bruders und Glaukes. Sie liebt ihre beiden Söhne und tötet sie nicht. Sie wird zum Opfer der Korinther, weil sie das Ge‐ heimnis des Opfertodes der Tochter Kreons entdeckt und nicht schweigen will oder kann. Leukon erkennt diesen Sachverhalt: „Und ich begriff, daß es Medea zugefallen ist, die verschüttete Wahrheit aufzudecken, die unser Zusammen‐ leben bestimmt, und daß wir das nicht ertragen werden.“ 10 Medea steht im Mittelpunkt gesellschaftlicher und politischer Machtkämpfe in der antiken und gleichermaßen modernen Welt. Die Erzählung deutet an, wie Medea zum Sinnbild des kollektiven Selbstverständnisses wird, das die indivi‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 219 duelle Verantwortlichkeit durch die Flucht in die Vorstellung übermächtiger, undeutbarer Gottheiten (Schicksalsmächte) verneint. Medea wird des Mordes an ihrem Bruder beschuldigt und für die ausbrechende Pest als Wurzel des Übels verantwortlich gemacht. Sie wird zur Staatsfeindin erklärt, weil sie sich weigert, an den politischen Intrigen teilzunehmen, obwohl sie dadurch ihre Existenz si‐ chern könnte, und sich nicht den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen anpasst. Der Welt (Kolchis und Korinth) ist jeder Begriff der Gnade und des individuellen verantwortlichen Handelns fremd. Der historische Augenblick ist verlegt in die Zeit, in der Erinnerungen an das Matriarchat noch lebendig sind. Aber die Machtkämpfe zwischen unterschiedlichen Herrschaftsansprüchen von Frauen, Männern, Gruppen, Herrschern und Politikern wirken ebenso zeitnahe wie der Geheimdienst gestern und die noch heute bestehenden Formen der Ausnutzung, Selbstsucht, Überlebenskunst, der Anpassung an Umstände und der Unterdrückung anderer. In Kolchis wie auch in Korinth wollen Einzelne der Gemeinschaft Wohlgesinnte, besonders Frauen, die Königinnen und ihre An‐ hänger, die gegenwärtigen Herrscher, die ihre selbstsüchtigen Interessen unter dem Mantel des Staatsinteresses verbergen, absetzen und durch Kinder aus dem Königshaus oder Heiratsbündnisse ersetzen. Die Herrscher befestigen jedoch ihre Macht, indem sie ihre eigenen Kinder opfern. Akamas berichtet: „Unser Preis war Iphinoe. Ganz Korinth wäre untergegangen, wenn wir sie nicht ge‐ opfert hätten.“ (127) Die Verbrechen werden aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. „Es kann ihr [Medea] nicht entgangen sein, daß das Wohlleben meiner lieben Korinther direkt davon abhängt, daß sie sich für die unschul‐ digsten Menschen unter der Sonne halten können. Es ist doch lächerlich, anzu‐ nehmen, Menschen würden dadurch gebessert, daß man ihnen die Wahrheit über sie sagt.“ (129) Die Beobachtung kommt von einer der vielfältigen Stimmen, die zu Wort kommen. Sie vermitteln Einblicke in individuelle Gefühle und Vorstellungen. In ihnen kommen einerseits subjektive persönliche Leidenschaften zum Ausdruck, die die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Andererseits verdeut‐ licht die Erzählung das von gesellschaftlich-politischen Umständen geprägte Zusammenspiel von Emotionen, Denken und Handeln. Die Mehrstimmigkeit unterstreicht diesen Sachverhalt. Elf Kapitel fangen unterschiedliche Nuancen in den Stimmen ein: Medea (1, 4, 8, 11), Jason (2, 9), Agameda, die hasserfüllte ehemalige Schülerin Medeas (3), Akamas, erster Astronom des Königs und füh‐ render Politiker, der die Macht an sich reißt (5), Glauke, die Tochter Kreons (6), und Leukon, der Medea wohlgesinnte zweite Astronom, der eine hohe Stufe historischer Erkenntnis erreicht hat (7, 10). Darüber hinaus sind sowohl das Stimmengewirr der Bevölkerung und das Schweigen einzelner Betroffener als 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 220 auch die in reflektierendem Sinnen zum Ausdruck kommende Bewusstseinslage aller Beteiligten bedeutsam für die Ortung des historisch konkreten und zugleich zeitlosen Augenblicks. Die Erzählung thematisiert den Fragenbereich des ethischen verantwortli‐ chen Handelns, die Selbstbezogenheit der Figuren, die jedes förderliche Ge‐ spräch unterbindet, und auch das Schweigen. Die Gespräche, die Medea mit anderen führt, aber auch die Unterhaltungen und Reflexionen anderer zerstören jede Illusion, dass die Artikulation des eigenen Freiheitsbedürfnisses unter den bestehenden Bedingungen möglich ist. Medea erkennt die Situation: „Ihr über‐ hebt euch über alles und alle, es verstellt euch den Blick für das, was wirklich ist, und auch dafür, wie ihr wirklich seid.“ (179) Aber sie kann sich nicht aus der Situation befreien. Die Stimmen verweisen auf das Ich, dem jedoch jede sinn‐ stiftende Zielsetzung fehlt, weil es einem Gesetz folgt, das ihm auferlegt wurde. Auf diese Art entsteht die fatalistisch erfahrene Einordnung in die bestehende Konvention der Verneinung persönlicher Verantwortlichkeit, des Götzen‐ dienstes an undurchschaubaren Mächten. Im Gewirr der Stimmen verdeutlicht die Erzählung den zunehmenden Stimmverlust und die Unfähigkeit der Figuren einen Dialog herzustellen. Die Gottheiten schweigen oder scheinen ihnen von schwachen Menschen angedichtete Grausamkeiten zu verlangen. Medea erin‐ nert sich beispielsweise an eine Bemerkung Kirkes, der Schwester ihrer Mutter. „Weißt du, was sie suchen, Medea? fragte sie mich. Sie suchen eine Frau, die ihnen sagt, daß sie an nichts schuld sind; daß die Götter, die sie zufällig anbeten, sie in ihre Unternehmungen hineintreiben. Daß die Spur von Blut, die sie hinter sich herziehen, zu ihrem von den Göttern bestimmten Mannsein gehört.“ (109) Das ist deutlicher Ausdruck einer Stimme, die die Figuren für ihr Handeln ver‐ antwortlich hält. Geschichtsfatalismus und Verantwortlichkeit treffen hart auf‐ einander. Aus der Sicht Kirkes sind Kolcher und Griechen gleichermaßen „wild und gefährlich“, weil sie im Zustand der existenziellen Angst leben. Akamas, der kluge politische Spieler, ist überzeugt, „daß keine Lüge zu plump ist, als daß die Leute sie nicht glauben würden, wenn sie ihrem geheimen Wunsch, sie zu glauben, entgegenkommt.“ (132) Die Menschen haben keine Zeit für „Phan‐ tome“, Ideale oder Utopien. Sie verfolgen ihre eigenen subjektiven Ziele und versagen, sich frei zu entfalten. Dieser Sachverhalt der historischen Determi‐ niertheit ist deutlich in der Haltung Leukons, des Anpassers und Mitläufers, der selbst nicht weiß, „ob Klugheit oder Feigheit die Zügel in der Hand hatte“, als er den Mund hielt. (176) Er bekennt: „Woran ich mich halte, ist die Überzeugung, daß wir dem Gesetz nicht entgehen, das über uns genauso waltet wie über den Lauf der Gestirne. Was wir tun oder lassen, ändert nichts daran.“ (182) Die Mehrstimmigkeit unterstreicht besonders eindringlich die Unfähigkeit aller, in 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 221 11 In dem Essay „Krebs und Gesellschaft“ erwägt Wolf die Möglichkeit, dass Erkrankungen in ungelösten Widersprüchen der Gesellschaft wurzeln. Sie deutet außerdem den Krebs als „seelische Krankheit“. Sie besteht darin, „daß ein Mensch, der alles Leid in sich hi‐ neinfrißt, nach einer gewissen Zeit von diesem in ihm steckenden Leid selbst aufge‐ fressen wird“ (Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994. 124). kritisch klärenden Dialogen eine neue Grundlage für menschliche Beziehungen zu schaffen. Einkreisung, die Unfähigkeit auszubrechen und historischer Fatalismus in der Gegenwart des Lebens in der DDR stehen im Mittelpunkt der Erzählung Leib‐ haftig (2002). Wolf vermittelt in der Handlung Einblicke in die DDR durch kon‐ krete, detaillierte Beobachtungen und die Schilderung zweier Leben. Die Ge‐ schichte ist ausgerichtet auf eine konkrete Situation: Die Erzählerin liegt als Patientin im Krankenhaus. Sie, ihr Kollege Urban, ihre Ärzte und Kranken‐ schwestern stehen repräsentativ für die Einwohner des Landes. In der ständigen Wiederkehr des Wechsels von Tages- und Nachtschwestern, der auftauchenden und verschwindenden Mondscheibe, der Röntgenaufnahmen und Operationen verschwimmt der Zeitsinn. Der einzige Anhaltspunkt ist die beständig in die Vene tropfende Nährflüssigkeit, die das Überleben, das bedeutet im Rahmen der Erzählung das „Am-Leben-Bleiben“ der Patientin garantieren soll. Die Patientin veranschaulicht ihre Eindrücke von Ärzten, Pflegerinnen, die Versuche, die Symptome zu deuten, darüber hinaus besonders eine Szenenfolge von Bildern aus der Vergangenheit. Effektiv ist die Apperzeption des gegenwärtigen Zu‐ standes weitgehend überschattet vom Nachdenken über Vergangenes und die damit verknüpften Assoziationen. Wolf beglaubigt den Erinnerungsdiskurs mit der medizinisch wie auch psychologisch überzeugenden Feststellung, die Pati‐ entin erhalte ständig schmerzlindernde Spritzen, döse deshalb vor sich hin, träume und verfolge plötzlich auftauchende Gedanken. Die leitmotivisch wie‐ derkehrenden Bezüge verweisen auf den übergreifenden Sinngehalt: Krank‐ heitsbild, Leiden der Patientin und Befragung der Vergangenheit, die keine Ant‐ wort gibt, spiegeln gesellschaftliche Prozesse und Widersprüche wider. 11 Die Folgerung ist unübersehbar: Das Opium für die Menschen ist der DDR -Sozia‐ lismus, nicht der von Marx angeprangerte Kapitalismus. Die Suche aller nach dem Krankheitsherd stößt auf die Frage nach der Quelle für die Vergiftung. Auch die Wahl einer wirksamen Behandlung verlangt Ein‐ blick in die Gründe für das Krankheitsbild. Die auf lange Zeit wirkungslos blei‐ benden Medikamente und Spritzen einschließlich der unter Devisenaufwand aus dem Westen bezogenen Präparate unterstreichen den Sachverhalt, dass jede Heilung Einzelner oder der Gesellschaft die Erkenntnis der Ursachen voraus‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 222 12 In: Unter den Linden. Berlin: Aufbau, 1974. setzt. Die Diagnose, dass der Patientin alle wesentlichen Grundstoffe wie Eisen, Calcium, Phosphor und Kalium fehlen, lässt jedoch nicht ohne weiteres den Schluss zu, Wolf verweise auf bekannte materielle Sorgen in der DDR . Ein‐ leuchtender sind die Anspielungen auf die Bürger des Staates, deren Vertrauen auf die sozialistische Utopie ins Schwanken geraten ist. Sie wirken alle einge‐ kreist wie die Patientin, die fortwährend in die enge Röhre der großen Rönt‐ genmaschine geschoben wird. Sie folgt widerspruchslos den Anweisungen der Assistentinnen, wird durchleuchtet, abgeklopft, hin und her geschoben und operiert. Sie macht keinen Versuch, sich aufzulehnen. Ihre Existenz ist sympto‐ matisch für das Leben aller, die die bestehenden Richtlinien befolgen. Nicht zu übersehen ist Wolfs Ambivalenz. Sie schildert beispielsweise humo‐ ristisch-ironisch die Ziele der DDR -Gesellschaft und der kommunistischen Utopie in der Erzählung „Neue Lebensansichten eines Katers“ (1970). 12 In den „Lebensansichten“ arbeiten drei Wissenschaftler - ein Professor für angewandte Psychologie, ein Ernährungswissenschaftler und Physiotherapeut und ein ky‐ bernetischer Soziologe - an der Verwirklichung des totalen Menschenglücks ( TOMEGL ). Die Voraussetzung für den Erfolg des Vorhabens ist die Gründung einer absolut stabilen Umwelt, die ein System maximaler körperlicher und see‐ lischer Gesundheit garantiert. Die Wissenschaftler klassifizieren alle menschli‐ chen Eigenschaften, Triebe, Wünsche, Ahnungen, Regungen und alles, was Menschen in Tragödien verwickeln könnte. Ein Computer verwertet die Daten und informiert die Wissenschaftler: Menschen müssen zu ihrem Glück ge‐ zwungen werden. Nur die vollkommene Anpassung und Gleichschaltung aller Reflexe garantiert die glückliche und gesunde Erfüllung des Daseins. Der Kater, im Anschluss an E. T. A. Hoffmann, kommentiert das Geschehen mit Formeln und Schlagworten der DDR -Presse: technisch-wissenschaftlicher Fortschritt, materielle Produktivkräfte, staatsbürgerliches Pflichtgefühl, Wahrheitsnorm, Sollerfüllung, gesundes Leben. Dagegen führt jeder geringste Versuch der Erzählerin in Leibhaftig, jeder Ge‐ danke den sie hat, sich aus der real gegebenen Situation zu entfernen, in ein Labyrinth unterirdischer Gänge und Schächte, die ineinander übergehen. Der Zugang zur Vergangenheit ist in diesem von Wolfgang Hilbig in Alte Abdeckerei (1991) hervorragend geschilderten Schattenreich jederzeit möglich. An ihre Vergangenheit denkend steht die Erzählerin in einem Augenblick vor Beamten am Grenzübergang Friedrichstraße; im nächsten befindet sie sich in einem Luft‐ schutzraum; dann denkt sie an Lisbeth, eine junge in einen jüdischen Arzt ver‐ liebte Frau, empfindet deren und Dr. Leitners Leiden; sie entdeckt einen Mau‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 223 13 Christa Wolf. Leibhaftig. Erzählung. München: Luchterhand, 2002. 47. erdurchbruch, erschrickt vor Abhörgeräten und sieht Spuren der russischen Besatzungszeit. Die jeweilige Bewusstseinslage bestimmt die Eindrücke aus der Vergangenheit. Die Erinnerung wirkt fragmentarisch. Darüber hinaus verhin‐ dert die Röhre des Tomographen jede bewusst erzwungene Bewegung. Mauern versperren jeden Weg ins Freie. Die Darstellung entwirft jedoch im Leben und Leiden Urbans eine Kontrast‐ figur, die der Patientin gleichberechtigt zur Seite steht. Das Denken der Erzäh‐ lerin wird deutlich beeinflusst von dem erfolgreichen Aufstieg und dem darauf‐ folgenden Sturz des Kollegen Urban sowie den Kindheitserinnerungen an die NS -Vergangenheit und den Gefühlswirren von Schuld und Sühne, die in der gegenwärtigen Situation wurzeln. Außerdem charakterisiert Wolf die von ihr entworfene Figur als hochintelligent. Ihre Bewusstseinslage steht unter dem geistigen Dreigestirn des utopischen Fortschrittsvertrauens des sozialistischen Staates, der in Goethes Lyrik zum Ausdruck kommenden Lebensbejahung und Schillers Überzeugung, dass jede Reform von Bestand beim Einzelnen einsetzen muss. Aus den Hinweisen auf Urban ergibt sich das Bild eines begabten, fein‐ fühligen Interpreten von Literatur und Kunst, der im Verlauf seiner Karriere die Kunst dem staatlichen Interesse opfert. Er ist erfolgreich als Kritiker und Zensor anderer. Eine Erinnerung der Erzählerin an die gemeinsame Studienzeit be‐ leuchtet Urbans Erkenntnisvermögen und charakterisiert zugleich dessen Weg in die Zukunft. Urban interpretiert Thomas Manns „Schwere Stunde“ und stockt, als er zu der Frage kommt, worauf sich eigentlich das künstlerische „Talent“ stütze. Die Erzählerin vermutet, Urban „war der vernichtenden Wahrheit inne‐ geworden, daß er kein Talent hatte …“ 13 Der Mangel erweist sich jedoch als Vorteil im staatlich gesteuerten Kunstbetrieb. Urban übernimmt führende Po‐ sitionen in Kommissionen, trifft Entscheidungen über Veröffentlichungen und Theateraufführungen, fällt Urteile über die Gegenwartsliteratur und den sozia‐ listischen Realismus, erhält Reisegenehmigungen, hält Vorträge im Westen und lässt sich bewundern. Die Erzählerin deutet an, dass Urbans Entscheidungen, vor denen Autor(inn)en zittern, nicht nur vom Staats- oder Volksinteresse be‐ stimmt sind. Urban beneidet Kunstschaffende. Der Kritiker soll nicht die Kunst interpretieren, er soll ihren Gehalt diktieren. Die Erzählerin bemerkt: „Erst später habe ich gelernt, mich zu fürchten vor der Rachsucht der ehrgeizig Ta‐ lentlosen - und dann gründlich.“ (47) Im Krankenhaus erfährt sie, dass Urban keinen Widerspruch dulden kann. Er begeht Selbstmord nach einer Sitzung, in der er scharf kritisiert wurde. 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 224 Die Erzählung stellt die Frage, ob das Hinabsinken in die Tiefe der Erinnerung und die gezielte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Zugang zu Über‐ legungen verspricht, die möglicherweise die Orientierung in der gegenwärtigen politischen und sozialen Verfassung ermöglichen. Sie gestaltet deshalb die Er‐ innerung an Goethe und Schiller als bewusstes und gesteigertes Erleben zu‐ rückliegender Leseerfahrungen. Sie überträgt auf die Literatur die doppelte Funktion der Bewusstseinsbildung und einer möglichen Heilung des Einzelnen auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Schillers Denken ruft die Erzählerin zu ver‐ antwortlichem Handeln auf. Selbstverantwortung im gegenwärtigen Zustand der Vergiftung des Lebens verlangt die Absage an die Vorstellung, die Erkran‐ kung der gesamten Gesellschaft sei eine vom Schicksal, das heißt von undeut‐ baren Mächten verhängte Strafe. Es bedeutet weiterhin: alle müssen einen be‐ gehbaren Weg in die Zukunft finden. Die aus Goethes Lyrik zitierten Strophen entwerfen ein Gesamtbild vertrauensvoller Lebensbejahung und des tätigen, aber überlegten Erfassens der täglichen Aufgaben. Der Appell an die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen steht wie ein Aufruf im Text. Wolfs Kritik an der Erzählerin, als sie wieder operiert werden soll, verdeutlicht die Zwangslage einer Frau, die dem Appell an die Vernunft folgen will. Als sich die Anästhesistin Kora Bachmann vor der nächsten Ope‐ ration vorstellt, verklärt die Patientin die Figur ins Mythologische. Kora hilft scheinbar der Erzählerin bei der Läuterung ihrer Vorstellungen. Das Labyrinth eines Gehirns entspricht wahrscheinlich „dem Labyrinth unseres Kellersys‐ tems“ (139). Am Ende erscheint Kora als heilbringende „Botin, welche die noch nicht toten Seelen auf ihrem Gang zum Hades abfängt, sie der Unterwelt entreißt und zurückbringt in das Reich der Lebenden.“ (184) Der Blick zurück führt deutlich zu Auseinandersetzungen mit dem täglichen Leben, dem Beruf und zwischenmenschlichen Beziehungen in der DDR . Er greift jedoch darüber hinaus Beobachtungen aus der Kindheit, der NS -Zeit und selbst Leseerfahrungen auf. Dieses Verfahren, in dem sich Verdrängtes, im Unterbe‐ wusstsein Schlummerndes, Erkennbares und intellektuell auf Abruf Gegenwär‐ tiges durchkreuzen, gewährleistet eine überzeugende Lebensskizze, die trotz ihrer Kurzfassung gleichberechtigt neben dem Aufruf von Lenz „Leben ist Ver‐ pflichtung“ und Wolfs anderen Darstellungen steht. Außerdem vermittelt die Erzählung Einblicke in den Mentalitätswandel in Deutschland nach der Wende. Wolfs Einstellung lässt sich wie auch die von de Bruyn, Grass und Walser nicht eindeutig festlegen. Sie verändert sich im Verlauf der Jahre. Konstant bleibt ihr Unbehagen an der politischen und sozialen Entwicklung. In „Wo ist euer Lächeln geblieben“ kontrastiert Wolf die Neuzeit nach der Wende mit den sozialen Ide‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 225 14 Christa Wolf. Auf dem Weg nach Tabou. 46. 15 Hans Joachim Schädlich. „Die Stunde Null. Oder ist heute gestern? “ (1990) In: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze. Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin: Colloquium, 1992. 9-21. alen der DDR -Vergangenheit und beklagt den Untergang der Utopie. Sie wirkt desillusioniert. „Entfremdung folgt auf Entfremdung.“ 14 Sie schließt mit der Feststellung, dass sich alles ändert, und zitiert einen an die Mauer gemalten Spruch: „Alles wird besser, nichts wird gut.“ (57) Als ihr Günter Grass einen aufmunternden Brief schreibt, in dem er zu der in der Presse erhobenen Beschuldigung, Wolf habe für die Stasi gearbeitet, Stellung nimmt, dankt sie ihm in der Antwort und bekennt: „Was nun in den Berichten der Stasi-Leute als angeblich meine Aussage steht, das kann ich weder bestätigen noch widerlegen. ‚Stasi-Prosa‘ nennt Heiner Müller das. Wenn ich diese Sprache lese, bricht mir der Schweiß aus, aber ich weiß ja, so haben wir damals gespro‐ chen …“ (259) Wolf bezeugt schließlich ihre ganze Ambivalenz in einer Rede am 27. 2. 1994 in der Staatsoper Dresden. „Abschied von den Phantomen. Zur Sache Deutschland“ ist eine Bestandsaufnahme der Erfahrungen nach der Wende und der Nostalgie für die verlorene Utopie. Sie konstatiert ein allgemein „dumpfes Unbehagen“ an der Gegenwart und Vergangenheit. Wolf stellt den Struwwel‐ peter als Symbol der deutschen Situation in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Sie fragt: Wer soll nun die Suppe auslöffeln, die keiner essen will, die aber von den Deutschen selbst gekocht wurde? Sie bekennt sich schließlich zur Aufar‐ beitung der jüngsten deutschen Vergangenheit, betont aber, es sei ein Kurz‐ schluss, die DDR auf einen Unrechtsstaat zu reduzieren. Widersprüche bestehen fort und sollen anerkannt werden. Die Problematik der DDR -Vergangenheit und die Vorstellung des Zusam‐ menwachsens der beiden vierzig Jahre getrennten Länder bewegt nicht nur Wolf, sondern auch zahlreiche weitere Autor(inn)en. Sie steht im Mittelpunkt der Gespräche von Günter Grass und Martin Walser. In ihnen kommt auch die Vorstellung zu Wort, dass die Teilung als Strafe und damit als Aufruf zur Sühne für Auschwitz zu verstehen sei. Walser widerspricht dieser Auffassung und findet, die junge Generation müsse Auschwitz verstehen, dürfe sich jedoch nicht schuldig für Verbrechen in der Vergangenheit fühlen. Dagegen betont Hans Jo‐ achim Schädlich, dass die Vergangenheit immer gegenwärtig ist und jede Schuld, im Sinne kollektiver Schuld, nie abgetragen sein kann. 15 Grass und auch Günter de Bruyn glauben an eine nationale Kultur, die ihre Wurzeln im Denken der Aufklärung und Klassik hat, und die weder durch die propagierten Ziele des NS -Staats noch die im Widerspruch zu den politischen Maßnahmen stehende DDR -Utopie völlig beseitigt wurde. De Bruyn stellt fest: „Die SED -Theorie von 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 226 16 Günter de Bruyn. Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996. 256. 17 „Über sytematische Irrtümer“ (1988), in: Über Dreck, Politik und Literatur. 67-80. Zitat 74. 18 Aus themengeschichtlicher Sicht der Vergangenheit als unabgeschlossenes Kapitel kommt den Erzählungen von Grass besondere Bedeutung zu. Seine politischen Kom‐ mentare, Reden, Beichten, unerbetenen Ratschläge für von ihm besuchte Länder, Aus‐ einandersetzungen mit dem Zeitgeschehen und der Vergangenheit fanden sowohl Zu‐ spruch als auch scharfen Widerspruch. Rudolf Augstein beschuldigt Grass nach seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche am 19.10. 1997 „mittelpunktsüchtig“ zu sein, die Scham zu spielen und stellt fest: „Es ist die fatale Kluft zwischen rednerischer Über‐ zeugtheit und Unkenntnis der Realität dieser Welt, die einen ärgerlich stimmt“ („Dich‐ ters Scham“, in: Der Spiegel, 27. 10. 1997. 27). Die vielen Kommentare nach dem Waf‐ fendienstgeständnis von Grass sind widersprüchlich, kritisch, zustimmend und ablehnend. den zwei deutschen Nationen mit den zwei deutschen Kulturen, von denen die eine der anderen auch noch um eine Geschichtsepoche voraus sein sollte, hatte meine Überzeugung nicht ändern können, daß auch während der staatlichen Teilung die eine Nation noch immer bestand. Ich glaubte nicht an die Möglich‐ keit einer baldigen Wiedervereinigung, wohl aber an die Beständigkeit einer nationalen Kultur. Meine Ansicht, daß nicht in Jahrzehnten zerstört werden könne, was sich in Jahrhunderten gebildet hatte, fand ich auch darin bestätigt, daß die Mauer und die politische Einbindung in den kommunistischen Osten keine Russifizierung zur Folge gehabt hatte und der Blick der DDR immer, ob freundlich oder feindlich, auf den freieren und größeren Teil Deutschlands ge‐ richtet war.“ 16 Auch Schädlich lehnt jede Trennung zwischen DDR - und BRD -Literatur ab. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass es eine Literaturpolitik in der DDR gab. Trotzdem ist er überzeugt, dass die Autor(inn)en gesamtdeut‐ sche Werke schufen und gesamtdeutsch dachten. „Beide zusammen sind Deutschland.“ 17 Schädlich und de Bruyn wissen, dass nicht alle ihre Meinung teilten oder heute zustimmen. Die unterschiedlichen Gesichtspunkte schaffen jedoch die Voraussetzung für jede ernste Auseinandersetzung mit der Vergan‐ genheit. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat bei einigen Autoren und in einzelnen Werken zur Zwangsfixierung geführt; bei anderen ist sie kunstvoll verfremdet und in wenigen wie etwa Ein weites Feld (1995), Mein Jahrhundert (1999) und Im Krebsgang. Eine Novelle (2002) von Günter Grass kompositorisch so gelungen gestaltet, dass man nicht einem, sondern dem deutschen Schicksal gegenübersteht, nicht einzelne Lebensläufe, sondern paradigmatisch den deut‐ schen Lebenslauf erfährt. 18 Der Titel Ein weites Feld ist dem Schluss von Fontanes Effi Briest (1895) ent‐ nommen. Das Ehepaar Briest sitzt im Garten; es ist Herbst; die weiße Marmor‐ 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 227 19 Theodor Fontane. Effi Briest. Frankfurt a. M.: Ullstein, Fontane Bibliothek, 1980. 296. 20 Die Interpunktion ist von Grass. Günter Grass. Ein weites Feld. Göttingen: Steidl, 1995. 11. 21 Vgl. dazu Hans Joachim Schädlich. Tallhover. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986. Der Geheimpolizist Ludwig Tallhover, seit 1842 im Dienst der preußischen Geheimpolizei, repräsentiert das Prinzip absoluter Überwachung aller Bürger. Die Figur Tallhover-Hof‐ taller ist gleichermaßen in der NS-Zeit, der DDR und nach der Wende in der BRD aktiv. Zur Stasi-Überwachung siehe auch Hans Joachim Schädlich (Hg.). Aktenkundig. Berlin: Rowohlt, 1992. platte mit Effis Namen liegt auf dem Rondell; Luise spricht mit ihrem Mann, fragt sich ob, sie vielleicht auch für Effis Tod verantwortlich waren, weist Briest hin auf seine „beständigen Zweideutigkeiten …“, und er antwortet: „Ach Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.“ 19 Ambivalenz, Zweideutigkeiten, das weite Feld, wiederholte Spiegelungen, vielfältige Variationen und die erzähltechnisch hoch‐ entwickelte Erzählperspektive sind bei Grass als zentrale Motive mit der ge‐ samten Erzählung verflochten. Leser hören sowohl die Stimmen Einzelner (wir vom Archiv), das heißt des Kollektivs des Potsdamer Fontane-Archivs, die Stimmen der zentralen Figuren Wuttke und Hoftaller als auch des Autors Grass. Wuttke schreibt nach der Öffnung der Mauer einen Brief, in dem er auf das „aparte Detail“ seiner Beobachtungen hinweist. Er erwähnt „… jene jungen Bur‐ schen, unter ihnen exotisch fremdländische, die als sogenannte Mauerpicker oder Mauerspechte den zweifelsohne begrüßenswerten Abbruch dieser kilome‐ terlangen Errungenschaft teils als Bildersturm, teils als Kleinhandel betreiben; sie rücken dem gesamtdeutschen Kunstwerk mit Hammer und Meißel zu Leibe, auf daß jedermann - und es fehlt nicht an Kundschaft - zu seinem Souvenir kommt …“ 20 Die Erzählstimme fährt fort: „Hiermit ist gesagt, in welch zurück‐ liegender Zeit wir Theo Wuttke, den alle Fonty nannten, aufleben lassen. Glei‐ ches gilt für seinen Tagundnachschatten. Ludwig Hoftaller, dessen Vorleben unter dem Titel ‚Tallhover‘ auf den westlichen Buchmarkt kam, wurde zu Beginn der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts tätig, stellte aber seine Praxis nicht etwa dort ein, wo ihm sein Biograph den Schlußpunkt gesetzt hatte, sondern zog ab Mitte der fünfziger unseres Jahrhunderts weiterhin Nutzen aus seinem überdehnten Gedächtnis, angeblich der vielen unerledigten Fälle wegen, zu denen der Fall Fonty gehörte.“ (11) 21 Was bedeutet der Fall Fonty für das Entschlüsseln der Vergangenheit? Wird die zurückliegende und jüngste Vergangenheit einschließlich des Mauerfalls und der Wiedervereinigung durch ständige Rückverweise auf Fontane besser verständlich? Der Kunstgriff der Verbindung der Stimmen der Überlebens‐ künstlers mit Fontys ständigen Hinweisen auf Fontane ermöglicht Einblicke in die Gründerzeit, das Kaiserreich, die Nazi-Zeit, die DDR und die Wende und 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 228 22 Günter Grass. „Drei Vater unser.“ Zuerst in: Die Vorzüge der Windhühner (1956). Ge‐ sammelte Gedichte. Neuwied: Luchterhand, 1971. 64-65. schlägt eine Brücke von Bismarck zu Kohl, von Fontane zu Wuttke. Theo Wuttke, am 30. 12. 1919 in Neuruppin geboren, lebt sich seit seiner Jugend in Fontanes Dasein und Schaffen ein. Fontane kam am 30. 12. 1819 in Neuruppin zur Welt und starb am 20. 9. 1898 in Berlin. Er war zu verschiedenen Zeiten Apotheker, Zeitungsredakteur, Auslandskorrespondent, Theaterkritiker, Kriegsberichterstatter und freier Schriftsteller, dessen einflussreichste Romane in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens entstanden. Fontane diente als Ein‐ jährig-Freiwilliger im Berliner Garde-Grenadier-Regiment, nahm 1848 an der Seite der Aufständischen an den Berliner Barrikadenkämpfen teil, schrieb aber für die konservative „Preußische Zeitung“ und die „Kreuzzeitung“. Fontane er‐ lebte Jahre grundlegender gesellschaftlicher und politischer Veränderungen. Er kannte Aufständische, Agenten, Mitläufer und Mithandelnde. Fontane reiste nach England, Schottland und 1874 nach Italien. Er schrieb Kriegsberichte, wurde als preußischer Spion inhaftiert, auf die Insel Oléron gebracht und nach Intervention von Bismarck freigelassen. Fontane war der Verfasser von Wander- und Reisedarstellungen, biographischen und autobiographischen Schriften, Re‐ zensionen und Theaterkritiken. Seine nach 1880 veröffentlichten Romane gelten heute als der bedeutendste deutsche Beitrag zur Literatur des Realismus. Der Wandel von Fontanes eigener Überzeugung vom revolutionären zum konser‐ vativen Denken, sein wechselndes politisches Engagement, sein Blick auf die Mark Brandenburg, seine Balladen und die tragischen Ausklänge vieler seiner Romane machen ihn zum Repräsentanten eines deutschen Schicksals. Er war wie Theo Wuttke ein Überlebenskünstler. Und Fonty ist wie sein Vorbild zu‐ weilen unbequemer Kritiker, Redner und innerlicher Widerständler, aber zu‐ weilen auch Aktenträger und Mitarbeiter der Staatsorgane. Fontys Leben spie‐ gelt wie Fontanes Existenz die Tendenzen eines Menschen, der alles miterlebt, seine Meinung ändert und darüber berichtet. Seine Aussagen zum Zeitge‐ schehen sind oft punktgenau, oft widersprüchlich. Die Welt ist seit Anbeginn („Drei Vater unser“) aus den Fugen. 22 Man muss es miterlebt haben. Man muss es überlebt haben. Mit einiger Phantasie kann man Ein weites Feld als Lebensgeschichten mit versöhnlichem Ausklang lesen. Fonty verlässt nach der Wiedervereinigung das Archiv, lebt mit seiner spät gefundenen Enkeltochter Madeleine in einem be‐ scheidenen Haus in Frankreich und kann sich von seinem Schatten Hoftaller auf drei Fahrten auf einem Riesenrad verabschieden. Hoftaller, zuerst Agent im Reichssicherheitsdienst, dann beim Staatlichen Sicherheitsdienst und zuletzt 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 229 möglicherweise neue Berichte für den Bundessicherheitsdienst verfassend, überlebt und ist zufrieden. Fonty schaut Kindern auf dem Karussell zu, altert und verabschiedet sich von allen mit einer letzten Postkarte: „Bei stabilem Wetter ist Weitsicht möglich. Übrigens täuschte sich Briest; ich jedenfalls sehe dem Feld ein Ende ab …“ (781) Die Figurenkonzeption eines kritisch denkenden Mitläufers und eines rein menschlich wirkenden Agenten, die Erzählperspektive und der Plauderton ermöglichen jedoch eine feinsinnige Bestandsaufnahme historischer Entwicklung. Durch Fontys Zitate werden die festen Zeitord‐ nungen und Grenzen aufgehoben. Die Vergangenheit wird Gegenwart und zu‐ weilen Zukunft. Ein Hinweis auf die Treibeleien in den alten und neuen Bun‐ desländern versetzt Leser in Fontanes Frau Jenny Treibel (1892) und die Welt des Besitzbürgertums. „Leute, die kaufmännisch was draufhaben“, machen Profite. Die Darstellung der Wiederkehr politischer Ereignisse, der Wendezeiten und der Gespräche der Figuren lassen das kollektive Bewusstseinsmuster der Deut‐ schen sowohl in Ost und West als auch der Gründerjahre, der Kaiserzeit und der NS -Jahre hervortreten. Das Auf und Ab im Paternoster eines Gebäudes, das den Zweiten Weltkrieg überlebte - Reichsluftfahrtministerium, HdM: Haus der Mi‐ nisterien der DDR , schließlich Treuhandgesellschaft - versinnbildlicht die Wie‐ derholung markanter Ereignisse und ständige Neuansätze, endlich einmal über den Gipfel zu kommen. Fonty lebt sich seit seiner Jugend in Fontanes Schriften, Existenz und selbst die kritische Fontane-Literatur ein. Er ist als Leser und Kenner immer zitatbereit, hält Vorträge und wirkt wie eine ins Leben getretene historisch-kritische Aus‐ gabe. Seine Überlegungen zum Zeitgeschehen, mit Fontane-Zitaten gespickt - „ich ziehe ständig Parallelen zwischen meiner und Fontanes Existenz, meiner und Fontanes Zeit“ -, sind sinnvolle Deutungen deutscher Geschichte und menschlicher Schicksale im 19. und 20. Jahrhundert. Wuttke und Hoftaller kom‐ mentieren jüngste Ereignisse: die Zeitwende, den Mauerfall, die geplante Ab‐ wicklung der Privatisierung des Volksbesitzes, die Treuhandgesellschaft, ge‐ bildet 1990 zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR -Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR , und ihr Versagen, bis sie ihre Tätigkeit am 31. 12. 1994 einstellt, die großen Versprechen des Aufbaus, die neue Treibelei, den Beginn der Arbeitslosigkeit, das Erwachen radikaler Ten‐ denzen und die zunehmende Ambivalenz aller Beteiligten. Grass schildert in kleinstem Detail die Auswirkungen auf Einzelne und deren durchaus unter‐ schiedlichen Reaktionen. Die Beschreibung der verwüsteten Natur, der Kohlen‐ grube Altdöbern (512 ff.) des Braunkohleabbaus, der verseuchten Umwelt und der in den letzten Zügen röchelnden Produktionsstätte ähnelt der scharfen Kritik Wolfgang Hilbigs in Alte Abdeckerei (1991). 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 230 Die multiperspektivische Erzähltechnik, besonders die Kommentare der Ereignisse durch Hoftaller und Wuttke, erweitert das Geschehen ins Allge‐ mein-Verbindliche. Die Mitarbeiter am Fontane-Archiv wirken direkt beteiligt. Sie verkörpern Erlebnisse. Hoftaller beurteilt den jeweiligen Tatbestand und Veränderungen aus der Sicht eines Staatsangestellten, der sich den wechselnden Überwachungsorganen anpasst und seine „Pflicht“ im NS -Staat, in der DDR und schließlich im Westen erfüllt. Seine Aussagen sind aufschlussreich. Er ist kein blinder Anhänger. Er durchschaut die Behörden und ist ein außerordentlich er‐ folgreicher Agent. Er verfolgt unter anderem konsequent den geheimnisvollen „Fall Fonty“ und legt eine Akte an, die wahrscheinlich alles enthält, was der Roman entwickelt. Im Anschluss an allgemein bekannte Informationen aus Akten in der Gauck-Behörde schildert die Erzählung, dass es Hoftaller ohne Schwierigkeiten gelingt, die Tochter Fontys zu überreden ihren Vater auf Vor‐ tragsreisen zu begleiten und darüber Berichte zu verfassen. (186) Er erhält auch wichtige Mitteilungen von Fonty, der unter anderem Gutachten über Literatur und Autor(inn)en für die Stasi verfasst. (93) Sein Vorgehen bedrückt andere und erweckt Angst. Trotzdem ist sein Verhalten ambivalent: er vernichtet manche inkriminierende Akten; er hat den „Überblick“ und weiß, dass die „Ostviren“ ansteckend sind und glaubt, es gäbe eine „Gesamtdeutsche“ Akte, die Ost und West durchsetzt. Diese Akte ist aus der Sicht der Erzählung die deutsche Ver‐ gangenheit, Verhängnis, Schuld, Sühne und fortbestehender Unruheherd. Die eigenartige Beziehung zwischen Hoftaller und Wuttke ist augenfällig, wenn Hoftaller seinen Schatten mehrmals rettet, als sich dieser beim Kulturbund missliebig macht, und wird unterstrichen, als beide in den Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke in der Nähe Potsdams verwickelt sind. Hoftaller und Fonty laufen mehrmals aneinander vorbei, zwinkern sich zu, tauschen ein Wörtchen und flüstern „Mach’s gut! “ (492) Sie spielen eine Rolle. Keiner ist ohne den anderen denkbar. Ihre Rolle ist deutlich: Beide sind Meister der Anpas‐ sungskunst, sie machen mit, überleben und sind mitschuldig geworden. Wuttke bewahrt einen Spielraum innerer Freiheit, indem er sich in die Rolle Fontanes und seiner Schriften einlebt. Seine Zitate sind Zeitkommentare. Er ist sowohl engagiert als auch distanziert. Seine Frontberichterstattungen aus Frankreich sind zugleich Nachrichten aus den Kriegswirren und verhüllte Werbungen für Frankreich. Als Kulturbundredner stellt er die Schwächen des DDR -Regimes bloß und setzt dem sozialistischen Alltag keine Glanzlichter auf. Aber er kann das nur, weil die Institution des Kulturbundes den Rednern einen größeren Spielraum der Freiheit erlaubte und weil ihn Hoftaller vor Übergriffen der Partei rettet. Die Haltung Fontys ist der Sicht bedeutender Biographien und Autobio‐ graphien vergleichbar: Wie verhalte ich mich zur Zeit, was fand ich vor, wie 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 231 23 Günter Grass. Mein Jahrhundert. Göttingen: Steidl, 1999. 6. wirkte es auf mich, was habe ich meiner Zeit zurückgegeben? Fonty hat gelebt, überlebt, für Unruhe gesorgt, floh nicht in den Westen, wurde nicht ausgebür‐ gert, war Aktenträger, Zuträger und Mitläufer, aber darüber hinaus als Fon‐ tane-Deuter ein kritischer Beobachter seiner Zeit, der selbst seinem Schatten ein tiefes Verständnis seiner historisch bedingten Rolle vermittelt. Die Erzählung ist bewusst langatmig entworfen. Sie präsentiert ein Bild der Geschichte, das sich dem schnellen Zugriff verschließt. Geschichte selbst ist langatmig und kompliziert. Der 18. März 1848 ist nicht dasselbe wie der 17. Juni 1953; der Frontberichterstatter Fontane ist nicht der Berichterstatter Fonty; Herweghs Ausweisung ist nicht identisch mit der von Biermann; aber dennoch wird Buchenwald immer nahe bei Weimar liegen (671) und nichts wird sich verjähren. Das ganze Geschehen im Roman unterstreicht die tief ernste Bemü‐ hung um ein Verständnis der Vergangenheit. Die Gegenwart lässt sich besser im Spiegel der Vergangenheit verstehen. Zugleich wird der Zugang zur Ver‐ gangenheit erst im Spiegel der Gegenwart möglich. Aus dieser Sicht ergeben sich eindrucksvolle, mehrfach gebrochene Spiegelungen der politischen und geistigen Geschichte. Und aus dieser Sicht beobachtet Grass „sein“ Jahrhundert in der folgenden Erzählung. Der erste Satz in Mein Jahrhundert „Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen.“ 23 stellt den Erzähler vor: Er spricht in vielfältigen Stimmen - jung, alt, männlich, weiblich - und spielt vielfältige Rollen. Das Buch spricht in vielen Tonlagen; es ist ein „Jahrhundert-Deutschland-Stimmenreich“. In verschiedenen Vignetten schildert Grass das Jahrhundert aus der wech‐ selnden Perspektive von Personen, die sich anpassten, durchhielten und über‐ lebten. Der Erste Weltkrieg erscheint aus der Sicht der Erzählungen von Ernst Jünger und Erich Maria Remarque. Grass berichtet über sich selbst, das Schrift‐ stellertreffen in der DDR , den Mauerfall, seine Wahlbeteiligung und seine Hal‐ tung im Kosovo-Krieg. Die Figuren sind zuweilen Mitläufer, manchmal Täter und oft Opfer. Grass versucht, seine Mutter realistisch lebensnah zu gestalten und illustriert jede Geschichte in dem Band. Was die Erzählung (Geschichtsbuch, Kunstbuch, Selbstbekenntnis) belebt, sind jedoch die Berichte der Figuren, die nicht den Kurs der Geschichte bestimmten, sondern diese erlebten. Deshalb endet die Bestandsaufnahme mit der Andeutung einer „hundertdritten“ Ge‐ burtstagsfeier und einem Ausblick, der die Ambivalenz des Lebens einfängt: „Und ich freu mich schon auf all die Urenkel, wenn sie dann wieder unten im Park rumflitzen auf ihren Skätern, während ich vom Balkon runterguck. Und auf 2000 freu ich mich auch. Mal sehen, was kommt … Wenn nur nicht Krieg 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 232 wieder … Erst da unten und dann überall …“ (409) Die Interpunktion ist ebenso wichtig wie bei Fontane: sehen, nachdenken … Sorge … Krieg … Hoffnung auf Frieden, die Vergangenheit ist nie abgeschlossen. Der Titel Im Krebsgang. Eine Novelle (2002) weist hin auf das von Grass sorg‐ fältig entwickelte Erzählverfahren. Außer den bereits in der ‚Einführung‘ be‐ tonten Aspekten unerhörter Ereignisse ist das hochstilisierte Erzählverfahren in der Novelle besonders aufschlussreich für den Entwurf der deutschen Ge‐ schichte als ein unabgeschlossenes Kapitel. Der Erinnerungsdiskurs Im Krebs‐ gang sichtet den Erfahrungshorizont, die persönlichen Erlebnisse, die Haltung zum Zeitgeschehen und das historische Erkenntnisvermögen von Figuren aus drei Generationen: Ursula Pokriefke, ihr Sohn Paul und ihr Enkel Konrad (Konny). Die Novelle führt Paul Pokriefke als Erzähler ein. Er gehört zur ersten Nachkriegsgeneration, rechnet als Journalist mit den Vergehen der NS -Regie‐ rung und allen Beteiligten ab, beurteilt kritisch die Vorstellungen seiner Mutter, einer Anpassungskünstlerin, die sowohl die „guten Seiten“ der Nazi-Zeit als auch der DDR -Politik verklärt, verfehlt jedoch völlig den Irrgang seines Sohnes Konrad zu verstehen. Das Verstehen und Missverstehen, Begreifen und Versagen der Einbildungs‐ kraft kennzeichnen Paul, seinen im Hintergrund bleibenden Berater, einen vom Schreiben ermüdeten Autor, der hin und wieder Anregungen gibt, Günter Grass und alle von ihm in der Novelle entworfenen Figuren. Die nie abgeschlossene Ortung motiviert die „krebsende“ Ermittlung der Ereignisse. Sie nimmt in der Befragung der Vergangenheit Stileigenheiten anderer Erinnerungsdiskurse auf, erhält aber ihre eigenartige Ausprägung durch die Verunsicherung des Erzäh‐ lers, der in der Beurteilung von ermittelten „Tatsachen“ und Aussagen oder An‐ nahmen Beteiligter ständig zwischen Verstehen und Nicht-Begreifen, Er‐ kenntnis und Ratlosigkeit schwankt. Diese Unbestimmtheit ist einerseits im Wesen kaum fassbarer historischer Ereignisse und menschlicher Verirrungen begründet, andererseits beruht sie auf der von Grass bereits in Ein weites Feld formulierten Auffassung der deutschen Vergangenheit als einer unabgeschlos‐ senen Akte. Der Text konfrontiert die behutsam zögernde Erkenntnissuche des Erzählers mit dem fanatischen Glauben seines Sohnes, dem gleichermaßen un‐ beugsamen Schuldkomplex Wolfgangs und der scheinbar unerschütterlichen Überzeugung von Netznachrichten, die auf dieser oder jener menschen- und ‚schiffskundigen‘ Website auftauchen. Der spielerische Hinweis, dass die Er‐ zählung die Anlage zur „Novelle“, zum „Neuartigen“ habe, trifft sicherlich nicht nur auf die Handlung, sondern auch auf das computerbezogene Hypertextver‐ fahren zu. Der Erzähler kennt die neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Chat‐ room, Modem, Homepage, Website und Internet sind frei verfügbar. Ein Klick, 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 233 24 Günter Grass. Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002. 216. schon tauchen Biografien, Nachrichten vom Schiff oder Neues von „blut‐ zeuge.de“ auf. Und die Erzählung verliert dann ihren Krebsgang. Sie verläuft plötzlich sprunghaft, wirbelt simultan anmutend durcheinander und bleibt wie jeder Hypertext, dem alle Computerkundigen ihre eigene Meinung zufügen können, am Ende offen und jederzeit erweiterungsfähig: Fortsetzung folgt. Aus dieser Sicht ist nicht nur die deutsche Geschichte, sondern auch der Text nicht abgeschlossen, und der Erzähler kann zum Schluss feststellen: „Undsoweiter, undsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“ 24 Die Konturen des Geschehens, durch ständige Reflexion, Rückwendung, Blicke auf das Internet und Einschübe von kontrastierenden oder sich ergän‐ zenden Handlungszügen retardiert, sind zeitlich verankert in der Jetztzeit mit ständigen Rückblicken auf Ereignisse zwischen 1936 und 2000. Im Vordergrund steht jedoch die ungelöste Problematik von Schuld, Sühne, Rehabilitierung, An‐ erkennung des historischen Geschehens, Bejahung und Vergeben. Die deutlich erkennbare Verunsicherung im Geschichtsverständnis prägt die Erzählung und ruft die Leser(innen) zur Stellungnahme auf. Die Situation eines unabgeschlos‐ senen Kapitels unterstreicht eine tiefgreifende Problematik in allen Ermitt‐ lungen der deutschen Vergangenheit. Sie ist immer gegenwärtig. Sie kommt in Presseberichten von heutigen Verfahren gegen die letzten überlebenden Mit‐ helfer in Vernichtungslagern zu Wort. Sie redet in Geschichten vom Alltag hi‐ nein. Sie beeinflusst die Thematisierung von Kontaktverlust, Zeitkritik und dem Ringen mit Selbsterkenntnis. 8. Ein unabgeschlossenes Kapitel 234 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts setzt sich in Essays, Rezensionen und in der Literaturkritik die Auffassung durch, der deutschsprachigen Gegenwarts‐ literatur fehle es an stilistischen Neuerungen und richtungweisenden Themen. Die Ansicht greift zurück auf kritische Vorbehalte, die gegen die literarischen Bewegungen nach 1945 geltend gemacht wurden. Sie ist weitgehend beeinflusst von dem großen Zuspruch den Bestseller-Übersetzungen erhielten, dem Problem, sich in der ehemaligen DDR -Literatur zurechtzufinden, den gegen‐ sätzlichen Tendenzen in der Gegenwartsliteratur, der Abneigung gegen das Öffnen von Wunden der Vergangenheit und dem Erzählverfahren, das beson‐ ders in Gestaltungen der Vergangenheitsthematik Leser und Leserinnen zur geistigen Stellungnahme aufruft. Die in der vorliegenden Darstellung ange‐ sprochenen Texte sind keine Fluchthelfer aus gegenwärtigen Problemen und bieten keine einfachen Antworten an. Sie wollen wie alle Literatur unterhalten, aber verlangen eine grundsätzliche Stellungnahme. Sie bilden eine neue Tradi‐ tion, die der Erzähltechnik vorausgehender Jahrhunderte gleichberechtigt zur Seite steht. Die erstaunliche Sensibilität für die politische Vergangenheit ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Trotz vieler Ähnlichkeiten in der Fragestellung bestehen allerdings markante Unterschiede in der Beurteilung der geschilderten Lebensläufe Einzelner, die in ein politisches und historisches Geschehen verwi‐ ckelt werden, das in Österreich und der Schweiz anders verlief als in Deutsch‐ land. Die junge Generation in der Schweiz spürt uneingestandenen Affinitäten zum Nationalsozialismus nach. Besonders aufschlussreich sind die Darstel‐ lungen von Hermann Burger, Urs Faes, Adolf Muschg, Urs Widmer und die Erzählungen der Gruppe von Schweizer Autoren und Autorinnen, die sich seit Anfang der 90er Jahre unter dem Namen NETZ zusammenschlossen. Die Be‐ standsaufnahme gegenwärtiger Tendenzen, die Enge der Heimat, Fragen der Formgebung und Vergangenheitskritik verbindet die Schriften von Peter Weber, Perikles Monioudis, Ruth Schweikert und Urs Richle. In der österreichischen Literatur tritt eine Frage in den Vordergrund, die eigentlich in jeder Auseinan‐ dersetzung mit der Vergangenheit anklingt: Wie gruppiert man Figuren in Werken, in denen das kollektive Schicksal Barbarei und Verteidigung der Hu‐ manität, Aggressor und Leidende, Täter und Opfer zusammenführt? Das be‐ sondere historische Problem Österreichs war der Umstand, dass Österreicher an allem teilhatten und sich sowohl als Sieger und Besiegte, Leidende und Befreite sahen. Darüber hinaus zeichnet sich in Österreich eine Entwicklung ab, die mit Milo Dors und Elfriede Jelineks beißenden Abrechnungen einsetzt und über die behutsamen Aufarbeitungen Albert Drachs, Erich Hackels und Hans Leberts bis zu den Erzählungen von Marie-Thérèse Kerschbaumer, Michael Köhlmeier und Robert Schindel reicht, in denen die Kriegsjahre das besondere Kolorit für die menschliche Situation liefern. Darstellungen der Vergangenheit in der deutschsprachigen Literatur er‐ kunden die Eigenart von Erinnerung und Gedächtnis und stellen wiederholt die Frage, ob es überhaupt möglich sei, tatsächliche Ereignisse oder Erlebnisse schildern zu können. Sie entwerfen Neudeutungen und selbst alternative Ab‐ risse historisch belegter Ereignisse. Sie weisen wiederholt darauf hin, dass er‐ lebte Augenblicke im Vorgang des verstehenden Erfassens eingefärbt werden und Konturen erhalten, die zu unterschiedlichen Deutungen des Geschehens führen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit setzt kurz nach 1945 mit Kurzgeschichten, Erzählungen, Hörspielen und Schauspielen ein. Sie führt in die Gegenwart und besteht fort in der jüngsten Literatur, in der die DDR -Zeit, der Mauerfall und der durch ein vereintes Deutschland bedingte Mentalitäts‐ wandel ins Blickfeld rücken. Wiederkehrende, aus wechselnder Perspektive entwickelte Motive und Themen, die zuweilen Vorstellungen aus den Entnazi‐ fizierungsprozessen, Berichte aus den Stasi-Akten und der Treuhandgesellschaft übernehmen, erwecken den Eindruck einer umfassenden Bestandsaufnahme. Die Texte schildern Täter und Opfer, willige Helfer und Mitläufer, Anpassung und aktiven oder inneren Widerstand, aber auch Pflichterfüllung und verführtes Vertrauen auf eine neue Ordnung. Die Gemeinsamkeiten und gravierenden Un‐ terschiede in der Einstellung zur Schuldfrage, Sühne und Vergessen verleihen der Literatur einzelne scharf profilierte Züge. In der erzählenden Literatur herr‐ schen zuerst Anklage und Richten, später Aufarbeitung und die Annäherung an ein Verstehen der außerordentlichen Ereignisse vor. Die Historiografie teilt Geschichte in zusammenhängende Abschnitte ein, die eine Verstehenseinheit bilden. Sie konzentriert sich auf das Kollektivgeschehen historischer Prozesse und betrachtet das Schicksal Einzelner nur dann, wenn sie das historische Geschehen nachweisbar maßgeblich beeinflussten. Diese Beur‐ teilung unterstreicht eine allgemein empfundene tiefgreifende Spannung zwi‐ schen historischen Prozessen und den Erfahrungen Einzelner. Literarische Werke konzentrieren sich auf diesen Schnittpunkt zwischen dem historischen Geschehen und der Einzelerfahrung. Sie lassen die historische Dimension in 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 236 1 Johann W. Goethe. „Trilogie der Leidenschaft“, in: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Hg. Eduard von der Hellen. Stuttgart: Cotta, 1902-1912. Bd. 2. 211; Günter Grass. Mein Jahrhundert. Göttingen: Steidl, 1999. 6. 2 Horst Bienek. Beschreibung einer Provinz. Aufzeichnungen, Materialien, Dokumente. München: Hanser, 1983. 11-12. individuellen Erlebnissen und kollektiven Erfahrungen von Gruppen oder Schichten der Bevölkerung durchscheinen. Die literarische Dokumentation und die ‚authentische‘, fiktiv verarbeitete Vergangenheit folgt jedoch Struktureigen‐ heiten, die den tatsächlichen Hergang nur dann berücksichtigen, wenn er die im Text gestalteten Verhaltensweisen motiviert. Jeder historische Ausschnitt enthält in der konkreten Darstellung eine angemessene Abstraktionsebene. De‐ taillierte Rekonstruktionen der Leiden und Freuden, der Erfolge und Misserfolge und der wechselnden Vorstellungen geschichtlicher Ereignisse verleihen den Darstellungen nicht nur große Anschaulichkeit, sondern vermitteln auch Ein‐ blicke in das Verstehen historischer Prozesse der direkt Beteiligten. Darüber hinaus lassen Texte Rückschlüsse auf das geschichtliche Verständnis der Autor(inn)en zu. Die vorgelegten Analysen von Texten belegen drei primäre Aussageformen: (1) das Verständnis der Figuren in Texten und der Autor(inn)en bilden eine Einheit; (2) unterschiedliche Vorstellungen und unvereinbare Erklä‐ rungen zeigen ungelöste Widersprüche auf; (3) das Dialogverfahren im Erinne‐ rungsdiskurs verweist auf den Sachverhalt, dass historische Prozesse aus der Sicht der Beteiligten undurchschaubar erscheinen, aus der Perspektive der Autor(inn)en jedoch deutbar sind. Alle Autor(inn)en wissen, dass die von ihnen geschilderte Vergangenheit nach gewissenhafter Ermittlung des historischen Geschehens und der be‐ wussten Auseinandersetzung mit der eigenen Gestaltung entstanden ist. Sie versetzen sich in die Figuren im Text und sprechen in Stimmen, deren Einklang und Widerspruch den Weg zum Geschichtsverständnis und zur Selbsterkenntnis öffnet. Das Wissen um das Erzählverfahren ist deutlich von Goethe („Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren“) bis Grass („Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen“). 1 Es kommt zu Wort in Beobachtungen von Bienek und Ortheil. Bieneks Erzählungen sind geprägt von einem außerordentlichen Sprachbe‐ wusstsein: Er verfügt über die Sprache in ihrer bezeichnenden Funktion und bevorzugt klare Ab- und Eingrenzungen auf das Wesentliche. Bienek beurteilt seine Einstellung zur literarischen Gestaltung als klares Erfassen der „Wirk‐ lichkeit“ und gleichzeitiges Erkunden „Historischer Wahrheit.“ 2 Ortheil teilt diese Ansicht. Er stellt sich die Aufgabe: „der Sprachlosigkeit das präzise Wort, 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 237 3 Hanns-Josef Ortheil. Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. München, Zürich: Piper 1994. 102. 4 Vgl. Horst S. und Ingrid G. Daemmrich. „Selbstverwirklichung“, in: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke, 1995. 316-322. den ungeordneten die geordneten Bilder“ gegenüber zu setzen. 3 Immer aktuell, greifbar und gegenwärtig ist das Urerlebnis. Es schließt ein: was war und ist, Geschichte und Geschichtsverständnis. Das Urerlebnis, das die Generation prägte, ist die Vergangenheit und alles, „was von der Geschichte noch Gegen‐ wart ist.“ Das Urerlebnis wird zum Ausgangspunkt jeder möglichen Selbstver‐ wirklichung und Selbsterkenntnis. 4 Diese Entwicklung setzt jedoch voraus, dass die jetzige Generation bewusst die existenzielle Notlage der Menschen zur Kenntnis nimmt, die in einer Zeit lebten, die jede freie Willensentscheidung verhinderte. Im Bann der Vergangenheit stehen, bedeutet keineswegs in der von Bienek in der Zelle (1968) geschilderten Monotonie des ewigen Kreislaufs ein‐ gekerkert zu sein. Bienek sucht den Ausgangspunkt zur Wahrheitsfindung. Aus der Erkundung in den vielfältigen Formen der Aufarbeitungen der Ver‐ gangenheit ergeben sich Überschneidungen mit dominanten Themen und Mo‐ tiven in der Gegenwartsliteratur. Auschwitz und Buchenwald, Gestapo und Stasi, Bombenregen und Feuersbrunst, Lager und Schweigen, Einkreisung und Warten im Vorzimmer des Todes werden zu Hieroglyphen, hinter denen sich das Entsetzen, die Unfähigkeit des Verstehens, Anklage gegen die vorausge‐ gangene Generation und eigene Selbstdeutung, Abscheu und Ratlosigkeit ver‐ bergen. In den Texten verschmelzen phantasievolle Erfindung, Dokumentation, autobiographische, zuweilen aphoristische Elemente und die realistische Or‐ tung der Zeit im Spiegel der Vergangenheit. In einigen prominenten Erzäh‐ lungen sind Zeitkritik und Kritik der Vergangenheit verknüpft, andere greifen das Gefühl der Aussichtslosigkeit der Kriegsjahre auf und entwerfen ein Bild der Jetztzeit als Endzeit. Sie sind jedoch darüber hinaus Zeichen einer bewussten Stellungnahme zu ungelösten menschlichen, sozialen und politischen Prob‐ lemen. Diese stehen zuweilen im Kern des Geschehens, zuweilen verschmelzen sie mit den wiederkehrend entwickelten Themen, in denen die Vergangenheit in der Jetztzeit anklingt. Die Themen können unter der Substanzschicht einer Bestandsaufnahme von Tendenzen der Gegenwart erfasst werden. Bestands‐ aufnahmen der individuellen, sozialen und politischen Zustände am Ende des 20. Jahrhunderts reichen von Geschichten aus dem Alltag, Berichten des Mau‐ erfalls und des Neuanfangs im vereinten Deutschland bis zu Darstellungen der Ich-Suche und Selbsterkenntnis. Die Autor(inn)en erscheinen als Chronisten der Gegenwart. Ihre Werke profilieren ihre Zeit in gezielten Erkundungen von Le‐ 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 238 5 Radek Knapp. Franio. Wien: Deuticke, 1994. 131. bensläufen mit ihren Höhen und Tiefen. Markante Beispiele schließen ein: An‐ passung, Ich-Suche, Kontaktverlust, permanenter Kreislauf aller Erfahrungen, das Dreigestirn Isolation, Angst und Tod und besonders Selbsterkenntnis - Welterkenntnis. Nicht zu übersehen ist die Möglichkeit, dass die Themenver‐ flechtungen auch zuweilen im Vergessen oder in der Absage an die Vergangen‐ heit wurzeln. Die folgenden Beispiele sind als Ansatzpunkte für weiterführende, eingehende Darstellungen zu verstehen. In einigen Bestandsaufnahmen des Alltags, die entweder einen Querschnitt durch das Leben der Einwohner einer Stadt bieten oder die Auswirkung eines historischen Geschehens (Mauerfall) beschreiben und in denen sozialkritische Überlegungen in die Bejahung der Zukunft münden, werden Ansätze deutlich, moderne Zeitromane zu schreiben. Diese Entwicklung ist deutlich in den bereits im 5. Kapitel besprochenen Auseinandersetzungen mit dem Mauerfall und der Wende von Burmeister, Hein, Hettche, Neumeister, Schmidt und Woelk. Erzäh‐ lungen des Alltags reichen von den Dorfgeschichten Knapps bis zu Versuchen einer umfassenden Gestaltung des Lebens heute. Alltägliche Sorgen und Beja‐ hung der Gegenwart stehen im Mittelpunkt der Erzählungen von Radek Knapp. Seine phantastischen Geschichten aus dem alltäglichen, dörflichen Leben in Polen in Franio (1994) ähneln den Dorfgeschichten von Berthold Auerbach und Isaac Bashevis Singer. Durch die nahtlose Verbindung von konkretem Detail, Traumvisionen und schweifender Phantasie entstehen kleine Meisterwerke des magischen Realismus. Knapp, der seit 1970 in Österreich lebt, gewinnt dem Leben auf dem Lande das ab, was weder die traditionellen Heimatromane noch die desillusionierende Anti-Heimat-Literatur bieten: Skurrile Bahnbeamte, weltfremde Grübler, in der Sonne träumende Kinder und selbst ein real wahr‐ genommener Teufel wirken belebt von einer nahezu greifbaren, plastischen Wirklichkeit des Seins. Die Figuren, Herr Trombka, der Bäcker Mostek, Schwager Wilhelm und Franio, sind belebt, nicht gedacht. Der Horizont ist offen, die Welt wirkt versöhnlich und der Erzähler führt seine Leser in Dörfer und „Städtchen, wo sogar die Wolken anders sind als überall sonst.“ 5 Alltag und Vergangenheit, Ich-Suche und Selbsterkenntnis beherrschen den Gesichtskreis in Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung. Die Erzählungen schildern die Lebensfahrt Roman Gilanians als Rückschau, kritische Sichtung der Vergangenheit und Bejahung widersprüchlicher Tendenzen in der Gegen‐ wart. Aus einer kaum merkbaren Verknüpfung von Entwicklungsthematik und Kulturkritik mit einer von Roman zu Roman wechselnden Erzählperspektive entsteht ein Gesamtbild unserer Tage. Die Trilogie setzt ein mit Sinnliche Ge‐ 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 239 wissheit (1988), einem Roman, in dem die Reflexion, das grüblerisch Nachden‐ kende überwiegt. In Selige Zeiten, brüchige Welt (1991) gelingt der Kunstgriff, das traditionelle Erzählverfahren des 19. Jahrhunderts zu beleben. Die Erzähl‐ perspektive wird ein wesentliches Element der Ortung der Vergangenheit. Sie fängt sowohl die Freude am Plaudern als auch die Vorstellung einer heilen Welt ein und verbindet sie mit der Sehnsucht nach einer Zeit, der permanente Iden‐ titätskrisen fremd waren. Schubumkehr (1995) verdeutlicht bereits in der dis‐ kontinuierlichen Formgeste, dass das Anlehnungsbedürfnis an die Vergangen‐ heit verständlich ist, aber den Ansprüchen der Gegenwart keine Lösung bietet. „Umkehr“ ist eine Zeitwende in der Geschichte, im Tageslauf einer Dorfge‐ meinschaft und im Leben der Figur Gilanian. Aber Roman, von der Mutter „Romy“ genannt, der das Leben der Einwohner der kleinen Gemeinde Kom‐ prechts im Schicksalsjahr 1989 und damit gewissermaßen im Kleinen den Auf‐ bruch zur neuen Zeit auf einer Videokassette festhält, stellt zu seiner Enttäu‐ schung fest, dass sie leer ist. Komprechts, ein österreichischer Ort an der tschechoslowakischen Grenze, benötigt dringend wirtschaftliche Fördergelder, da die beiden wichtigsten Un‐ ternehmen, eine veraltete Glasfabrik und ein unrentabler Steinbruch, nicht mehr konkurrenzfähig sind. Der rührige Bürgermeister leitet die gesamte Umstruk‐ turierung, die sogenannte Schubumkehr, ein. Die Unternehmen, die Natur und die Menschen werden verändert, modernisiert und in die Neuzeit überführt. Der Vorgang ist begleitet von Ereignissen, Mord, Vergiftung, Ausländerhass, Unter‐ drückung, inzestuösen Neigungen, Magersucht, Leiden und Vernichtung sen‐ sibler Menschen. Auf diese Art entsteht ein spannend geschriebener themati‐ scher Querschnitt durch die Zeit. Die allgemeine Umstrukturierung ist zugleich ein Aufruf, die Vergangenheit anzuerkennen und sich tätig dem Dasein zuzu‐ wenden. Texte, in denen die Angst vor dem Neuen, Unbekannten, vor undurchschau‐ baren sozialen und politischen Entwicklungen und kollektiven Bedrohungen im Mittelpunkt der Darstellungen stehen, regen häufig Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit und die thematisierte Ich-Suche an. Man meistert die Angst vor völlig Neuem und Nicht-Erkennbarem durch Reisen ins Innere. Bemerkens‐ wert ist, dass selbst in Erzählungen wie etwa Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) und Die letzte Welt (1988) oder Norbert Gstreins O2 (1993), die den utopischen Zug der Entdeckung der Fremde be‐ wahren und übermenschliche Kräfte erfordern, die Erkundung der inneren Re‐ flexe von größerer Bedeutung als die Reiseabenteuer ist. In allen Texten, die sich mit dem Orientierungsverlust auseinandersetzen, tritt die Ich-Suche betont hervor. Sie unterstreicht sowohl die absolute Vereinzelung als auch das Be‐ 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 240 6 Uwe Pörksen. Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype. Stuttgart: Klett, 1997 untersucht die Bilderflut, die in Film, Fernsehen und Internet ununterbrochen auf die Menschen eindringt und zu „semantischen Einbahnstraßen“ und dem Verlust des his‐ torischen Bewusstseins führt. 7 Ich! wird noch siebenmal wiederholt. Gerlind Reinshagen. „Der goldene Name“, Szene xxxi, in: Die Feuerblume. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. 195. mühen, dem Dasein Sinn zu verleihen, und bietet die Voraussetzung zur Selbst‐ erkenntnis. Zahlreiche Erzählungen verdeutlichen eine besonders von Bernhard und Burger kritisierte Einstellung zur Welt, in der sich kollektive Prozesse dem direkten Eingriff Einzelner entziehen. Sie wirken nicht nur unlenkbar, sondern auch undurchschaubar. Die Figuren reduzieren ihnen unerklärliche Ereignisse auf eine alle betreffende Entwicklung. Sie passen sich an, lehnen sich auf, wei‐ chen Fragen aus und ziehen sich auf eine private Sphäre zurück, in der sie iden‐ titätsstiftende Leitbilder suchen. Diese Traum-Ich-Konvention hinterlässt Spuren in Geschichten aus dem Alltag, der thematisierten Ich-Suche und in Or‐ tungen der existenziellen Situation. Einige Aufarbeitungen schildern ein kollektives Dasein, in dem individuelle Wirkungsbereiche auf eine funktionsausübende Instanz reduziert sind. Die Fülle der in hektischer Folge ablaufenden Nachrichten aus aller Welt, das Aufblitzen von Monitoren und das weltweite Angebot im Internet verhindern kritische Überlegungen. Eine Sinndeutung des Lebens ist kaum noch denkbar, wenn die in das Privatleben drängende Informationsflut die Wirklichkeit einschrumpft und zur virtuellen Wirklichkeit auf dem Monitor werden lässt. Figuren üben nur noch Funktionen aus (Hilbig, Müller). Das in Computerspielen nachempfundene Leben wird zur Chiffre für den Identitätsverlust (Beyse). 6 Andere Bestandsaufnahmen beschreiben die Auflehnung Einzelner gegen die nivellierenden Tendenzen der Gesellschaft, besonders gegen das gesellschaft‐ liche Interesse im DDR -Staat und gegen die Vormachtstellung der wirtschaftli‐ chen Interessen in der BRD . Der Widerstand äußert sich in aggressiven Hand‐ lungen und überbetonten Autonomieansprüchen. Die Ich-Behauptung schneidet jede wechselseitige Ergänzung von Ich und Welt ab. Gerlind Reins‐ hagens „Der goldene Name“ erfasst diesen Sachverhalt besonders eindringlich. Der „wahnsinnige Biologe“ spricht: Ich! Ich dachte! Ich denke! Ich! Ich! Ich habe ein neues Weltbild geschaffen! 7 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 241 8 Herta Müller. Reisende auf einem Bein. Berlin: Rotbuch, 1989. Alles wird überschattet vom Gefühl der Vereinsamung, des Fremdseins, der Iso‐ lation im Dasein. Die Erfahrung des Fremdseins, der Isolation und die mit ihr verbundene Un‐ fähigkeit, in einem Dialog eine Kommunikation mit anderen und der Gesell‐ schaft im Allgemeinen herzustellen, ist scharf stilisiert in einigen Erzählungen von Bächler, Bernhard, Burger, Klüssendorf und Neuwirth. Die Skala der Erfah‐ rungen reicht von Betrachtungen alternder Personen bis zu grauenerweckenden Eindrücken verlorener Menschen. Aufschlussreich ist die Gestaltung des Vor-sich-hin-redens, die Konzentration auf Monologe, in denen Figuren keinen Zugang zu anderen finden. Dialoge versagen. Die Vergangenheit verstummt. Das Leben im Augenblick - ich, nicht wir, unreflektierte Aussagen, vorüber‐ fliegende Nachrichten, Tagespolitik, Umsturz, ständig wechselnde Eindrücke auf Bildschirmen - beherrscht den Gesichtskreis. Das Ich ist schließlich ein Fremder oder eine Fremde im eigenen Land. Herta Müller schildert dieses Fremdsein überzeugend in Reisende auf einem Bein (1989). Die Erzählung verdeutlicht die Erfahrung des Fremdseins als exis‐ tenzielle Verfassung der Figur im Kern des Geschehens. 8 Irene ist nur vorüber‐ gehend am Leben, nur vorübergehend in einer Stadt, nur vorübergehend am fremden Fluss gestrandet. Sie ist eine Bewohnerin „mit Handgepäck“, ständig aufbruchsbereit, eine Fremde im Dasein ohne Hoffnung auf Erlösung. Christine Nöstlinger, als Kinder- und Jugendbuchautorin bekannt, setzt sich mit der Ver‐ einzelung in der heutigen Gesellschaft kritisch, jedoch zugleich freundlich-hu‐ morvoll in Werter Nachwuchs. Die nie geschriebenen Briefe der Emma K (1988) auseinander. Die Erzählung, aus der Perspektive einer alleinlebenden Groß‐ mutter geschrieben, schildert alltägliche Ereignisse im Umgang mit der Familie, den Kindern, Enkelkindern und der Schwiegertochter. Allgemeine kritische Be‐ trachtungen, an den „werten Nachwuchs“ gerichtet, beleuchten die gesellschaft‐ liche Entwicklung in der Nachkriegszeit. In den Gesprächen von Sohn und Schwiegertochter wird deutlich, dass man keine Zeit für alte Leute hat; man will sie beiseite schieben und besonders keine Fragen an deren Vergangenheit stellen, da jede Antwort etwas Unheimliches, zur Stellungnahme Forderndes und Schuldgefühle Verursachendes ins Leben ruft. Das Beste ist, alles Zurück‐ liegende zu vergessen. Es ist schwierig, sich in der gegenwärtigen „Wohlstands‐ existenz“ durchzusetzen. Die Anforderungen - neue Möbel, Abzahlungen, Reisen, neues Auto, jung bleiben, kein Gewicht zunehmen - bereiten Stress. Das Dasein verlangt dauernd schnelle Entschlüsse und wirkt humorlos. Die Ver‐ gangenheit wirkt bedrückend und sollte wie alle Alten begraben werden. Werter 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 242 9 Angelika Klüssendorf. Sehnsüchte. München: Hanser 1990. 99. 10 Angelika Klüssendorf. Anfall von Glück. München: Hanser, 1994. 106. Nachwuchs berührt Fragen, die gezielt von Peter Härtling in Eine Frau (1974) und Nachgetragene Liebe (1980) sowie häufig tiefernst in der Gegenwartslite‐ ratur aufgeworfen werden, mildert jedoch den in Umrissen erkennbaren gesell‐ schaftlichen Notstand durch die abgeklärte Weltsicht der Großmutter, die ihren Humor bewahrt hat. Nicht zu überhören ist der Aufruf, ein neues, auf Liebes‐ bereitschaft gestütztes Verhältnis zu Mitmenschen herzustellen. Das thematisierte Fremdsein als Ausgangspunkt der Orientierung und der wesentlichen Erfahrung der eigenen existenziellen Situation steht im Mittel‐ punkt der Erzählungen Sehnsüchte (1990) und Anfall von Glück (1994) von An‐ gelika Klüssendorf. In Sehnsüchte erscheint die Welt im Spiegel der eigenen Hoffnungen. Die Erzählerin steht am Fenster und lauscht. Sie hört Geräusche, „Frösche, Telegrafenmastgesurre, das Reiben der Steine“ und das Wehen der Luft. 9 Aber das belebende Wort erklingt nicht. Das äußere Geschehen ver‐ stummt. Der Raum verläuft ins Unendliche. Er ist denkbar, aber nicht mehr er‐ fahrbar und schweigt. Sie wendet sich ab, hört in sich hinein, spricht und sucht nach Worten, die ihr Gefühl des Fremdseins ausdrücken können. Die Sehnsucht nach Begegnung mit anderen ist besonders intensiv entwickelt in Anfall von Glück. Die unbestimmte Hoffnung, in der menschlichen Gemeinschaft die in‐ nere Einsamkeit überwinden zu können, durchdringt jede Lebensäußerung der Erzählerin. Aber jede Begegnung, selbst die intimste Gemeinsamkeit, führt immer tiefer in die existenzielle Verlassenheit. Die anderen bleiben fremd, sind entrückt und kaum noch „im Fernglas“ auszumachen. 10 Die Erzählerin ist allein. Sie kommt nicht „auf die andere Seite der Straße“. (107) Sie belastet die Erzählung nicht mit philosophischen Reflexionen. Sie beobachtet und beschreibt die Situ‐ ation in einer Prosa von außerordentlicher Sensibilität und Suggestivität. Sie denkt nicht über den Grund für das Fremdsein nach, das heute offen und verhüllt in vielen Erzählungen anklingt. Möglicherweise wurzelt es im Verlust des his‐ torischen Bewusstseins für die geistige Tradition in einer Periode, in der die politische Vergangenheit selbst das kulturelle Erbe belastet. Dieses Fremdsein kann eigentlich erst entstehen, wenn Künstler nicht mehr die Haltung Goethes begreifen, die es ihm ermöglichte, in den Römischen Elegien (1788-1790) die Tagespolitik distanziert, ironisch zu betrachten und stattdessen mit der Umwelt und der Vergangenheit ein „förderliches Gespräch“ zu führen. Diese Dialoge mit Straßen, Gebäuden und Kunstwerken, die den Elegien ihren unverwechselbaren Rhythmus geben, sind belebt vom drängenden Atem eines Dichters, der nicht nur ein hoch entwickeltes Gespür für den Pulsschlag seiner 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 243 Zeit hatte, sondern auch die Gabe besaß, die Vergangenheit anzuerkennen und sie im Gespräch mit ihr zu vergegenwärtigen. Das ausgeprägte Gefühl des Fremdseins als lebensbestimmende Erfahrung ist unbestimmter, allgemeiner und häufiger von einer Aura symbolischer Assoziationen verknüpft als die per‐ sönlichen Erfahrungen der sozialen Nichtzugehörigkeit und des „Draußen-Ste‐ hens,“ wie sie beispielsweise von Wolfgang Koeppen in Jugend (1976), Peter Hacks in Jona (1989) und Siegfried Lenz in Der Verlust (1981) geschildert werden. Es wurzelt selten in individuellen Kränkungen und Demütigungen. Es prägt vielmehr die Grundsituation von Figuren, die von der Erfahrung überwältigt werden, obwohl sie von anderen und einer Schallwelle von Worten und Medi‐ enzauber umgeben sind. Die Figuren stehen nicht draußen vor verschlossenen Türen, sie leben in modernen Wohnungen, arbeiten am Computer und spüren zuweilen einen Menschen im Bett. Aber sie sind dazu verurteilt, einsam und fremd zu sein. Im Fremdsein werden ihre täglichen Niederlagen deutlich. Die Erfahrung des Fremdseins selbst in der Begegnung von Menschen, im Gegenüber vom Ich und anderen wird besonders eindrucksvoll von Barbara Neuwirth gestaltet. Es erhält in ihren Erzählungen eine archaisch-mythische Dimension. Die innere Verunsicherung wird besonders im Gegenüber von Mensch und Natur sichtbar. Beobachtungen verzerren sich. Gefühle wechseln unvermittelt; in einem Augenblick wirkt die Natur belebt, im nächsten ruft sie Abscheu hervor. „Die stille Stadt“ schildert die Forschungsreise einer Gruppe von Wissenschaftlern, die keinen Zugang zur Natur finden. Sie führt die For‐ scher schließlich in eine Stadt, die scheinbar vor dem Entstehen der Menschen von Giganten hoch oben im Himalaja erschaffen wurde. Hinter ihrem Tor ist die Urangst, das ganze Entsetzen der Menschen gebannt. Mit Ausnahme der einzigen Frau in der Gruppe, einer Architektin, gehen alle zugrunde. Sie kehrt zurück, kann sich aber nicht einmal an den Namen der Stadt erinnern. Sie weiß nur, dass von allen Vorhaben, derentwegen sie einst aufgebrochen war, nichts gelungen ist. Menschen stehen sich fremd gegenüber und können ihre Isolation nicht überwinden. Die Angst vor dem Alleinsein, dem Altern und dem Tod beherrscht die Erfahrungen der Figuren („Die Tochter der Künstlerin“, „Unter dem Äquator“). Marias Traum von Liebe und menschlichem Zusammenleben in Im Haus der Schneekönigin (1994) endet im Tod. Ein Geliebter, der möglicherweise Maria lieben könnte, ist zu schwach, ihre Liebe zu begreifen. Und ihr Mann tötet sie, als er erkennt, dass ihm Maria entgleitet. Die Begegnungen von Frauen und Männern stehen unter dem Dreigestirn von Suche nach Liebe, dumpf schwe‐ lender Hysterie und tödlichem Ausgang. Ehepaare stehen sich fremd gegenüber; sie sehen sich als Blutegel; ein Mann will seine Frau umbringen; diese reißt ihm 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 244 11 Barbara Neuwirth. „Sieh mich an mit deinen gelben Augen“, in: Dunkler Fluß des Lebens. Erzählungen. Frankfurt a. M.: Insel 1992. die Augen aus dem Kopf, und er versinkt von Blutegeln umschlungen im Fluss („Eklige Egel allerorts“). Eine Wassernixe („Nimm diese Rosen, Schöne“) erfährt, dass der Geliebte unfähig ist, sie wirklich zu lieben. Ihr Wunsch, das Wesen der Liebe zu erfahren, geht nicht in Erfüllung. In Gesprächen, die freundlich be‐ ginnen, tritt nach kurzer Dauer die innere Gereiztheit hervor. Sie enden in Wortkämpfen. Frauen spüren, dass sie nur Objekte sind und die Rolle der Un‐ terworfenen spielen müssen. Das Dasein gipfelt schließlich in einer apokalyp‐ tischen Vision der Gesellschaft, in der der Nachwuchs genetisch manipuliert wird. 11 In den bisher besprochenen Texten werden bereits Ansätze zu ausgedehnten Monologen deutlich. Die Monologstruktur ist die bevorzugte, angemessene Form in einigen Texten von Bächler, Bernhard und Burger, die die Erfahrung der Isolation, der extremen Vereinsamung und der unerwiderten Hilferufe aus‐ loten. In dem Erzählverfahren schließen die Autoren an eine Entwicklung an, die mit den entleerten Dialogen am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt und über aggressive Dialoge und Vor-sich-hin-reden sowohl zu dem atemlosen Sprechen Bernhards und Beyses als auch zu der Monologisierung bei Bächler, Burger, Hildesheimer und Wellershoff führt. Der Monolog ist sicherlich die angemes‐ sene und psychologisch überzeugende Form des Sprechens für Figuren, die ihr Ich in vielfältigen Spiegelungen sehen. Der Kunstgriff besteht darin, auch dann wenn andere in einem Text wie etwa Beyses Erzählung Das Affenhaus (1986) angesprochen werden, diese nicht zu Wort kommen zu lassen. Die Technik setzt sich seit den siebziger Jahren in Bühnenstücken und Erzählungen durch, in denen die Figuren an Kontaktlosigkeit leiden. Sie reflektieren, berichten, beichten, müssen sprechen, stoßen jedoch immer wieder auf Projektionen ihrer eigenen Vorstellungen, sobald sie sich einer dinglich erfassbaren Welt nähern. Diese Zwangslage beeinflusst außerdem den Schaffensprozess von Autor(inn)en. Heiner Müller setzt sich mit der Problematik in der autobiogra‐ phischen Überprüfung seiner Zeit und seines Schaffens auseinander. Er kom‐ mentiert seine Übersetzung von „Hamlet“ und das Entstehen der „Hamletma‐ schine“ mit der Feststellung: „Was ich schon in Bulgarien gemerkt hatte, war die Unmöglichkeit, mit dem Stoff zu Dialogen zu kommen, den Stoff in die Welt des sogenannten real existierenden Sozialismus-Stalinismus zu transportieren. Es gab da keine Dialoge mehr. Ich habe immer wieder zu Dialogen angesetzt, es ging nicht, es gab keinen Dialog, nur noch monologische Blöcke, und das Ganze schrumpfte dann zu diesem Text. Auch das Thema Budapest 1956 gab keinen 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 245 12 Heiner Müller. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1992. 294. 13 Heiner Müller. Herzstück. Berlin: Rotbuch, 1983. 77. Dialog her, und die Geschichte der RAF , auch ein Material für das Stück, war ein einziger rasender Monolog.“ 12 Müller sieht in der Dialogunfähigkeit eine um sich greifende Stagnation im menschlichen Zusammenleben. Valmont im „Quar‐ tett“ macht die treffende Beobachtung: „Mich langweilt die Bestialität unsrer Konversation. Jedes Wort reißt eine Wunde, jedes Lächeln entblößt einen Fang‐ zahn. Wir sollten unsern Part von Tigern spielen lassen. Noch ein Biß gefällig, noch ein Prankenhieb. Die Schauspielkunst der Bestien.“ 13 Reflexionen in Monologen sind sprunghaft. Eindrücke aus der Realsphäre stehen neben Leseerfahrungen, Begegnungen mit Personen vermischen sich mit Vorstellungen, die aus Filmen und dem Fernsehen übernommen sind. Die Grenzen verschwimmen. Die Realität und Visionen, die der Welt der Medien entstammen, bilden eine neue Wirklichkeit. Versuche, die Vergangenheit zu be‐ leben, misslingen. Die vorausgegangene Generation schweigt oder verweigert die Antwort mit dem Hinweis: Du kannst das nicht verstehen, denn du bist nicht dabei gewesen. Auf sich zurückgeworfen, suchen die Erzählfiguren nach immer neuen Möglichkeiten Dialoge herzustellen, um aus der Vereinzelung ausbrechen zu können. Die in die Texte eingeschalteten Dialoge unterstreichen jedoch die Krise: Die Dialoge stellen keine Verständigung her; sie sind Monologe, in denen die Vereinsamung deutlich durchklingt. Die Monologstruktur hebt die Zwangs‐ lage der Figuren hervor. Sie sprechen unaufhörlich. Worte überschlagen sich. Die Sprecher werden atemlos und brechen plötzlich ab, setzen jedoch nach jeder Unterbrechung erneut mit einem Redeschwall ein. Eingearbeitete Kurzsätze wie „sagte ich“, „dachte ich“, „bemerkte ich“, „entgegnete sie“, „nickte er“ oder „schrie ich“ gliedern nicht nur die hypertrophischen Sätze, sondern betonen zugleich die Notlage des Einzel-Ichs. Der Aufbau der Monologe im Zusammenwirken mit den Handlungsfäden ergibt eine hochstilisierte Erzählstruktur, in der sich zwei Bewegungskurven ergänzen. Spiralförmig nach außen strebende Erkundungen der Welt stoßen auf Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit und kehren zentri‐ petal einengend zum Ich zurück. Diese Struktureigenheit vertieft das Gesamtbild der Einkreisung der Figuren. Die Erkundungen der Figuren, die Suche nach Antworten und ihre Selbstanalysen erwecken weitgehend den Eindruck verge‐ blicher Ausbruchsversuche aus dem Käfig des Daseins. Das hemmungslose Sprechen, in dem geheimste Regungen des Innenlebens seziert werden, ver‐ sinnbildlicht außerdem die Flucht aus dem anonymen Dasein in die Öffentlich‐ keit von Bildschirmen und des Internets. 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 246 14 Wolfgang Bächler. Im Schlaf. Traumprosa. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1988. 82. 15 Thomas Bernhard, Verstörung. Frankfurt a. M.: Insel, 1967; Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch, 1988. 64. Für Wolfgang Bächler charakterisieren Fremdsein und Angst die menschliche Seinsverfassung. Die Aufzeichnungen der Träume in seiner Erzählung Im Schlaf. Traumprosa (1988) reichen in die Kindheit zurück und erstrecken sich bis in die Zeit, in der das Altern und der Tod bevorstehen. Die Folge der im Traum fest‐ gehaltenen Ereignisse erhält ihre besondere Kontur durch die Bewusstseins- und Unterbewusstseinslage der Angst. Die Angst ist ein Dauerzustand. Sie geht vom Ich aus, färbt die gesamte Wirklichkeitssphäre und kehrt in zentripetaler Bewegung von außen nach innen zum Ich zurück. Der Träumer fürchtet Beamte, Funktionäre, sterbende Menschen und die verrinnende Zeit. Er wird in eine Uniform gesteckt, verirrt sich im Wald, wird ins KZ verschleppt, ist auf der Flucht und irrt hilflos in Hochhäusern umher. Er befindet sich in Räumen ohne Ausgänge und spürt unerkennbare Feinde, die ihn ständig beobachten. Er wird beraubt und gefoltert. Soldaten einer Besatzungstruppe schlagen ihm die Zähne aus. Jeder Hilferuf verhallt unerwidert. Die Angst schlägt zuweilen in Aggres‐ sion um, kehrt jedoch gesteigert zurück. Was bleibt, ist die Gewissheit, dass das Leben unaufhaltsam verrinnt und der Körper langsam verfault. „Eiter fließt“, „Eiterbeulen“ wachsen aus der Haut. 14 Isolation, Angst, Unfähigkeit, einen Dialog oder ein klärendes Gespräch her‐ stellen zu können, Altern, Fäulnis und Tod beherrschen ebenfalls den Gesichts‐ kreis in Thomas Bernhards Verstörung (1967). Die Erzählung besteht aus zwei aufeinander abgestimmten Teilen. Im ersten beobachtet der Landarzt seine Pa‐ tienten auf Krankenbesuchen, hört ihre Geschichten und legt Bericht ab. Im zweiten „Der Fürst“ betitelten Teil spricht und phantasiert Saurau. Einige Fi‐ guren in der Erzählung - ein Landarzt, sein Sohn und seine Tochter, der Fürst Saurau, der hoch auf dem Bergschloss Hochgobernitz in einer Phantomwelt lebt, Patienten, die kranke Frau Ebenhöh - versuchen das tödliche Schweigen durch einen monomanischen Mitteilungsdrang zu brechen. Die Beobachtungen des Landarztes aus der Steiermark während seiner Krankenvisiten und seine Über‐ legungen in einer Zeitspanne von etwa vierundzwanzig Stunden vertiefen den Gesamteindruck einer Welt, in der alle verstört und lebensversehrt sind. Die Wechselwirkung zwischen geistiger Verfassung und körperlichen Gebrechen der Menschen erzeugt Symptome der völligen Hilflosigkeit und unvermittelt aggressiven Ausbrüchen. Der Arzt stellt fest, die Menschen sind „geistesschwach, nicht geisteskrank“. 15 Die Schwäche und Haltlosigkeit aller wurzelt im Verlust des historischen Be‐ wusstseins, in der Unfähigkeit, die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit zu 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 247 verstehen und im damit verbundenen Zusammenbruch menschlicher Bezie‐ hungen. Alle stehen sich fremd, verständnislos und verstört gegenüber. Die Fi‐ guren sind Typen: Arzt, Müller, Lehrer, Musiker, Industrieller, Fürst. Alle leiden. Ein Gastwirt berichtet, dass seine Frau von einem Betrunkenen grundlos nie‐ dergeschlagen wurde und an der verursachten Gehirnblutung starb; ein kranker Müller liegt im Bett und beobachtet, wie seine Beine abfaulen; ein geistesge‐ störter, von gelben Hautflecken entstellter junger Mann siecht vor sich hin und kann trotzdem „fürchterlich alt werden“; die Söhne des Müllers wickeln die Hälse exotischer vom Onkel geerbter Vögel um die Finger, um ihnen das Genick zu brechen. Jede Gewalttat schafft endlich Ruhe. (67) Die ehemaligen Studien‐ kollegen des Arztes scheinen rettungslos unterzugehen. Sie „heirateten viel zu frühe oder viel zu spät und wurden von ihrer fortschreitenden Ideenlosigkeit, Phantasielosigkeit, Kraftlosigkeit, schließlich von ihren Frauen vernichtet.“ (27) Der Industrielle hat ein großes Vermögen, ist jedoch schwer zuckerkrank und lebt eingekerkert mit seiner Halbschwester, die wie er keinen Kontakt mit der Welt hat. Nur der Arzt hat Zugang zur Wohnung. Das Befinden des Industriellen wechselt zwischen absoluter Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit und der Arbeit an einem unklaren philosophischen Thema. Er glaubt, er mache Fortschritte und stellt fest: „Er arbeite Tag und Nacht, schreibe und vernichte das Geschriebene wieder.“ Möglicherweise „bleibt als Ergebnis nur ein einziger Gedanke übrig.“ (43-45) Der vorbestrafte Lehrer stirbt mit 26 Jahren, nachdem die Eltern sein Totenhemd wochenlang im Vorhaus aufgehängt hatten. Die kranke Frau des Oberlehrers fühlt sich von aller Welt verlassen. Sie betrachtet ihren Körper als längst „abgestorben“ (30) und berichtet entsetzliche Familiengeschichten, die den Eindruck einer verwüsteten Welt vertiefen. Ihr Bruder hatte seine Verlobte grundlos ermordet und erhängte sich im Haus, nachdem er aus der Strafanstalt entlassen wurde. Ihr geistesschwacher Sohn ist Hilfsarbeiter in einer Abdeckerei und verbreitet „Kadavergeruch“ im ganzen Haus. Der Müller der Fochlermühle „verfault“ unter der Haut. Und der verkrüppelte Krainer, ursprünglich durch einen Gitterkäfig über der Matratze festgehalten, liegt nun „ungefährlich“, „körper- und geisteskrank“ im Bett und kann nie mit anderen sprechen. (76) Fürst Sauraus Haltung zur Welt schwankt zwischen Angst, Aggression und dem Nachdenken über eine völlig aus den Fugen geratene Welt, die der Endlö‐ sung zustrebt und verfault. Die riesigen Nutzflächen werden liquidiert; die Ernten verfaulen. Der Kosmos ist wurzelfaul. Saurau registriert den „Geräusch‐ lärm“ (115) des Daseins, empfindet eine „ungeheure Entfernung und Entfrem‐ dung“ (117), steht am Fenster, aber sieht immer nur sich selbst (178) und emp‐ findet, dass er keinen Dialog mit anderen herstellen kann. „Die Zeit, in der wir leben genügt offensichtlich nicht, sich verständlich machen zu können.“ (185) 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 248 16 Thomas Bernhard. Auslöschung: ein Zerfall. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986. Jedes versuchte Gespräch ist ein „Balanceakt“ auf einem dünnen Seil. Die Erde wirkt wie ein „luftleerer Raum“. Was bleibt, ist ein Selbstgespräch und die Ein‐ sicht, dass alles in einem „natürlichen Verwesungsprozeß“ untergeht. Als der Landarzt und sein Sohn den Fürsten verlassen, wird die Zwangsfixierung der Erzählung besonders deutlich. Die ursprüngliche Feststellung des Arztes, dass es unmöglich sei, sich verständlich machen zu können (27), charakterisiert das Befinden aller Menschen. Im monologischen Redefluss verschmelzen Krankheit und Gesundheit, Wahnsinn und Realbezug, konkrete Beobachtungen und sur‐ reale Visionen. Was übrig bleibt sind Selbstgespräche, die keinen Weg nach außen bieten. Die Technik des atemlosen Monologs in Bernhards Auslöschung (1986) un‐ terstreicht den Versuch einer Abrechnung mit dem Kulturschwund in Öster‐ reich. Die kritische Bestandsaufnahme aller Fehlentwicklungen am Ende des 20. Jahrhunderts ist begrenzt auf Wolfsegg. Der Ort steht stellvertretend für die deutschsprachige Welt. Die Reflexionen des Erzählers werden ausgelöst durch die telegrafierte Nachricht des plötzlichen Todes der Eltern und des Bruders, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen. Als einzig überlebender Sohn erhält er „ganz Wolfsegg“ und „alles Dazugehörende“. Das Erbe versetzt den Erzähler in hohe Erregung. Er fühlt sich aufgerufen, alles in Wolfsegg kritisch zu sichten. Die Aufgabe ist eindeutig: ausgraben, abrechnen, die Wurzel allen Übels auf‐ finden und auslöschen. „Wir tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung, es, indem wir es aufschreiben wollen, vernichten wollen, auslöschen.“ 16 Die Erregung ist deutlich im hektischen Sprechen. Der Erzähler kreiert seine Rolle: er spricht mit seinem Freund Gambetti, berichtet Ergebnisse seiner Nach‐ forschungen, macht Mitteilungen von Kindheitseindrücken und nachdenkli‐ chen Überlegungen. Das atemlose Reden, Reflexionen und Rekonstruktionen werden durch wiederholte Feststellungen - „sagte ich Gambetti, habe ich, hatte ich gesagt“ - verstärkt. Die eingeschobenen Kurzbeobachtungen Gambettis, der den Erzähler „einen maßlosen Übertreiber, typisch österreichischen Schwarz‐ maler“ (123) und „Vormittagsphantasten“ (128) nennt, erwecken jedoch keines‐ wegs den Eindruck kritischer Vorbehalte. Sie dienen als Anregung und Aus‐ gangspunkt verschärfter Präzision in der Abrechnung mit der Gesellschaft und der Bestätigung des Stilprinzips. „Und ich habe meine Übertreibungskunst in eine unglaubliche Höhe entwickelt …“ (128) Der andere ist in dem Text nie ein Gesprächspartner, da jeder weiterführende Dialog durch die „atemlose Stimme“ abgeschnitten wird. Der Sprecher - Schreiben ist Sprechen mit den besonderen 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 249 Eigenheiten der Wiederholung, Unterschiedsvertiefung durch nachträgliche Er‐ läuterung, der Häufung und Steigerung - verbürgt die Glaubwürdigkeit seiner Beobachtungen durch die Tatsache, dass er alles ermittelt hat. Die Beweisfüh‐ rung beruht auf eindringlichen Hyperbeln. Wolfsegg fängt in konzentrierter Form alle negativen Erscheinungen der Ge‐ sellschaft ein. Auf den ersten Blick wirkt der Ort wie eine typische Kleinstadt, in der die Einwohner völlig undramatisch alltägliche Sorgen verspüren. Ihr Denken kreist um Geld, Gemüse, Getreide- und Kartoffelernte, Holz, Kohle, Jagd, Fußschmerzen, Schlaf und Schlaflosigkeit. Dann konzentriert sich der Er‐ zähler auf typisch-untypische Entwicklungen. Eltern lassen die natürlichen An‐ lagen der Kinder verkümmern, sind aber vorbildlich im fortbestehenden „nati‐ onalsozialistisch-katholischen“ Denken. Geschwister sind schadenfroh und hassen sich; Lehrer vernichten Kinder. Die Mutter des Erzählers begeht Ehe‐ bruch mit einem katholischen Nuntius. Die Menschen haben kein Verhältnis zur Tradition und kein Verständnis der Vergangenheit. Sie existieren in einer mo‐ dernen Konsumgesellschaft, in der Kunst, Literatur und Musik eingeebnet sind. Der Erzähler prangert die Situation rücksichtslos als das „Allerprimitivste“ an. „Sie reden das Banalste, erwecken den Eindruck größter Emsigkeit; Leerlauf. Sind taub für ‚Natur, Kunst, für alles Wesentliche.‘“ (108-109) Er kommt zum Schluss, dass alle Fotos, auf denen die Fotografierten immer glücklich lächeln, die verlogene Existenz der Gesellschaft einfangen. „Wir leben in zwei Welten, … in der wirklichen, die traurig und gemein ist und letzten Endes tödlich und in der fotografierten, die durch und durch verlogen, aber für den Großteil der Menschheit, die gewünschte und die ideale ist.“ (128) Die Kritik ist ein Appell an die Vernunft des Lesepublikums und soll die Fehlentwicklung beseitigen. „… mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe … Mein Bericht ist nichts anders als eine Auslöschung.“ (199) Bei einer abschließenden Heimkehr nach Wolfsegg erkennt der Erzähler, dass er wie alle sein Wolfsegg mit sich herumträgt. Seine Reise zu den Urgründen des Seins führt zu keiner Klärung. Der scharfe Blick des Chronisten erfasst abermals alle Schwächen der kleinen Welt und beglaubigt nachdrücklich die ursprünglichen Feststellungen. Somit besteht Wolfsegg trotz aller Kritik fort. Hermann Burgers Schilten (1976) ist als Monolog des Dorfschullehrers Peter Stirner, alias Armin Schildknecht, gestaltet, der in 20 Quartheften eine Be‐ standsaufnahme seines Lebens vorlegt, um sich in einem gegen ihn laufenden Disziplinarverfahren zu verteidigen. Die Schrift verdeutlicht Schildknechts un‐ ermüdliche Versuche, in einem Dialog ein menschliches Verhältnis mit seinen Schülern herzustellen. Die Versuche scheitern, denn die von ihm entworfene 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 250 17 Hermann Burger. Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. 1976. Frank‐ furt a. M.: Fischer Taschenbuch, 1979. 68. 18 Hermann Burger. Diabelli. Erzählungen. Frankfurt a. M.: Fischer, 1979. 93. Im Abschieds‐ brief des Kartenkünstlers Diabelli wird das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeich‐ netem völlig verunsichert. Die Artistik Diabellis erzeugt die Illusion größter Genauig‐ keit. Aber die Zuhörer werden durch die Sprache, die keine brauchbare Information enthält, ebenso getäuscht wie von den Kartentricks. Sie erleben „eine wahres Feuerwerk von Anaphern, Oxymora, Tautologien, Euphemismen, rhetorischen Fragen und Para‐ phrasen; Winkelparliererei und metonymischer Mummenschanz. Eine Mauldiarrhöe sondergleichen.“ („Diabelli, Prestidigitateur“. 81) Zuschauer, Zuhörer und Leser sind mystifiziert, glauben schließlich, sie seien aufgeklärt, erfahren jedoch, dass sie nur als „Unterhaltungssupplement“ eingeweiht wurden. Von wesentlicher Bedeutung in „Di‐ abelli“ sind die vielen Andeutungen, die die Erzählung als kritischen Kommentar zum Illusionscharakter der Kunst erscheinen lassen. Für den Künstler zählt nur die Artistik, nicht das eigene Leben. Er geht völlig in der von ihm geschaffenen Virtuosität auf. Seine Kunst erschöpft sich im Spiel mit Formen und Aussagen, die weder leicht verständlich noch sinnvoll sind, aber dennoch kraft ihrer berechneten, scheinbaren „Wirklichkeit“ überzeugen. Erziehung der Schüler ist eine systematische Einführung in die Todeskunde. Die physische Existenz besteht in einem langsamen Absterben und ist nur ein Vo‐ rausgriff auf den Tod. Die Schüler nicken, schreiben mit, bejahen das Vorgetra‐ gene, ohne Glauben und ohne jede kontaktverheißende Einstellung zum Lehrer. Schildknecht hält seine Beobachtungen mit größter Präzision fest, findet aber, man müsse eine historisch-kritische Ausgabe aller Wahrnehmungen herstellen, um überhaupt die eigene Existenz bestätigen zu können. Sein Motto ist: Ich schreibe, deshalb bin ich: „Je größer das Bollwerk der Notizen, desto schriftlicher und somit unanfechtbarer meine Schulmeisterexistenz! Der Grenzfall, auf den wir hinarbeiten: Jede Minute meines Denkens wird protokolliert.“ 17 Burger schildert eine vergleichbare Situation in „Zentgraf im Gebirg oder das Erdbeben zu Soglio“. Der Vollpensionär Zentgraf hat den Wunsch- und Angsttraum, einen Roman völlig auszuloten. Er liest deshalb immer wieder dieselbe Erzählung, bis er zu seinem Schrecken feststellt, dass er „mit der Zeit zu dem geworden, was er gelesen habe, so daß er selbst eines Lesers bedürfe, eines Zentgraf-Speziali‐ sten, der ihn als Œuvre überhaupt erst einmal zur Kenntnis nehme und im Hin‐ blick auf eine historisch-kritische Gesamtausgabe verarbeite, mit Siglen gar‐ niere und Fußnoten spicke.“ 18 Schildknechts Monolog unterstreicht seine Unfähigkeit, einen Dialog mit der Welt herzustellen. Der von ihm festgehaltene Grenzfall ist deutlich: Todeskunde ersetzt Heimatkunde. Der gesamte Raum der Dorfschule in Schilten wird in der Erzählung als Vorzimmer des Todes entworfen. Die Schule ist je nach der Fas‐ sadenwand teils Kloster, teils Beerdigungsinstitut, teils öffentliches Gebäude. Die Turnhalle dient der Aufbahrung der Verstorbenen und feierlichen Trauer‐ 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 251 19 Hermann Burger. Brenner. 1: Brunsleben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989. 231. reden; Schildknecht begleitet sie auf der Orgel; Wege zum Friedhof und Beer‐ digungen wirken selbstverständlich feierlicher und festlicher als das Leben der verarmten Einwohner. Im Orgelspiel beschwört Schildknecht die Apokalypse und steigert die Musik zur „Reizwelle“, die die gesamte Gemeinde in Panik ver‐ setzt. Er erkennt: die Einwohner sind unbelehrbar und die Schüler können nicht begreifen, dass „acht Jahre Bildungsarrest“ durch Todeskunde überwunden werden müssen. Da ihm sein Vorhaben misslingt, verurteilt er sich selbst zur Strafe des Nachsitzens in seiner Mörtelkammer. Er grübelt in seiner Todeshölle vor sich hin. Er ist der Sträfling, der den Sträflingskindern vorsteht. Die mensch‐ liche Existenz ist auf eine Funktion reduziert. Alle warten auf das Ende. Im Gegensatz zu der in Schilten geschilderten Ausweglosigkeit findet der Er‐ zähler in Burgers Brenner (1989) einen Weg zur Selbsterkenntnis. Die Aufarbei‐ tung der Vergangenheit, von Kindheitseindrücken, Erfahrungen beim Er‐ schließen der Literatur und Philosophie prägt die Erzählung. Wie in Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) werden Aspekte der kleinen, abgelegenen Sphäre der Natur und individuelle Erfahrungen tief bedeutsam für die Ausei‐ nandersetzung mit der großen Welt. Im bewussten Anschluss an Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927) und in der Hoffnung, dass auch das heutige Lesepublikum Zeit für eingehende Deutungen finde, entwickelt Burger deutlich ausgeprägte Traditionsanschlüsse, die das erdrückend Faktisch-Mate‐ rielle des modernen Lebens überspielen. Brenner ist aus der Perspektive eines Menschen geschrieben, der weiß, dass „seine Stunde unabänderlich geschlagen hat.“ 19 Dieser Sachverhalt vertieft den Eindruck, dass die Vergangenheit immer auf die Gegenwart und Zukunft bezogen ist. Der Erzähler kommt ins Gespräch mit der literarischen Tradition. Er zitiert und stellt einen Dialog her mit Werken von Goethe, Fontane, Proust, Rilke, Benn und Celan. Er zitiert indirekt, aber seine Hinweise sind allen literarisch Interessierten erkennbar. Außerdem macht er Anspielungen auf Texte von Broch, Hesse und Thomas Mann. Er zitiert den „Struwwelpeter“, erfindet sexuell betonte Gassenhauer, unterbricht den Text mit eingeschobenen zotenreichen Wechselgesängen, unterhält sich mit Klee und kritisiert sowohl die Literaturkritik als auch Klischees existenzieller Selbstdeu‐ tung. Er beschwört seine Kindheit. Beim Nachdenken darüber, wie es möglich sei, die Kindheitsperspektive zu erfassen, beobachtet Burger: „Auch die drei Komponenten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was autobiographisch wahr und somit richtig, oder sagen wir etwas modester rückblickend überhaupt erkennbar ist, hängt davon ab, wie ich heute lebe und was mich morgen er‐ wartet …“ (58) Demgegenüber kennzeichnet Burger seine Prosa auch als eine 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 252 20 Hermann Burger. Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurt a. M.: Fischer, 1986. 11. Form des magischen Realismus. „Nie bin ich glücklicher, als wenn es mir gelingt, das Verrückte dank vorgetäuschter Recherchen als wirklich und die bare, aus irgendeinem Jahrbuch herauskopierte Realität als verrückt erscheinen zu lassen. Das ist die Eigenart meiner Prosa …“ 20 Der Stil der Erzählung wechselt. Neben sorgfältigen Erkundungen der Vergangenheit, stehen Stellen mit stark ausge‐ prägtem Humor und beißender Satire. Darüber hinaus kommentiert der Er‐ zähler-Chronist nicht nur seine Erkundung von Urerlebnissen und Bildungs‐ einflüssen, seiner Kindheit und Jugend, sondern auch seine „Technik“ des Schreibens. Die Erzählfigur Hermann Arbogast Brenner, ein Enkel der „Cigarren-Dy‐ nastie Brenner Söhne“, hält seine Überlegungen fest, indem er für jedes Kapitel eine angemessene Zigarre findet. Im Wissen um den bevorstehenden Tod soll das Aroma des Tabaks und das bedächtige Rauchen die Illusion erwecken, die Zeit sei unerschöpflich. „Zigarette, Cigarren und Pfeife sind Theateruhren; sie sagen innerhalb der gerafften Zeit, in der das Stück spielt, etwas aus über das Zeitgefühl des Autors“. (26) Jedes Kapitel enthält eine eingehende Beschreibung der jeweiligen Tabaksorte, und der gesamte Text mit seinen Schilderungen von Anpflanzung, Ernte, Zubereitung, Herstellung von Zigarren und Verkauf wirkt daher auch wie ein Leitfaden für „Tabak: Geschichte und Bedeutung“. Wieder‐ holte Hinweise auf Herodots Bericht von der Insel Araxes und den Hanfrau‐ chern, auf Strabos „Rauchesser“, Fontanes Stechlin und Manns Zauberberg wechseln mit langatmigen Schilderungen der Zubereitung von Speisen, die wie‐ derum historisch erweitert werden. Beispielsweise isst Jérome von Ca‐ telmur-Bondo ein frisch zubereitetes Tatarbeefsteak. Der Erzähler beschreibt die Anrichtung des Essens, gibt Auskunft darüber wo der Diener seine Kochkunst gelernt hat, unterbricht mit Hinweisen auf Ausgrabungen und die Seelandschaft, kehrt dann zum heißhungrigen Essen zurück. Der Präzision der meteorologi‐ schen, historischen und kunstkritischen Überlegungen stehen Erläuterungen des Schreibverfahrens gleichberechtigt zur Seite. Die widersprüchlichen Aus‐ sagen - ich bin ein „Hochstapler, Jongleur, Illusionist“ (43), Dichter „arbeiten zu wenig mit statistischen Werten“ (68), man muss Aufsätze aus „Lokalzeitungen“ zitieren (73-74), „Man hat natürlich längst gemerkt, daß ich mich in Ermange‐ lung des soliden Romanhandwerks von Reizwörtern in die Kreuz und Quer leiten lasse“ (91-92), „… ich schreibe meine Stumpenkindheit nieder, aber mir ist jeder Werkehrgeiz fremd, was ich da zusammenklittere, ist im besten Fall das Gedächtnis der Nicotiana tabacum“ (203-204), der vorliegende Text ist bewusst 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 253 in Segmente „zerstückelt“ (326-327), der Diamantenglanz der Dichtung wurzelt in „unmenschlicher“ Distanz (253) - unterstreichen jedoch das ständige Be‐ mühen, die „Methode“ hinter dem scheinbaren „Irrsinn“ herauszuarbeiten. Die Methode zielt darauf hin, den Einzelnen im Zusammenhang mit der Ge‐ sellschaft, der Natur und der Zivilisation zu zeigen. Der Erzähler befindet sich in einer Kulturlandschaft und findet Formen der Beglaubigung, die das Allge‐ mein-Typische im Besonderen seiner Erfahrung durchscheinen lassen. So wird beispielsweise ein Augusttag durch den Hinweis auf Benns „Einsamer nie als im August“ zu einer verbindlichen Aussage stilisiert. Das Erzählverfahren, in dem das statistische Material, das historische Detail, die Beschreibung von Ort‐ schaften, der Architektur, des Wetters und der Bodenformation, des Kinder‐ heims als KZ , der schwer depressiven Pyjamaexistenz in Altersheimen gleich‐ berechtigt neben allen literarischen Hinweisen steht, versucht der „Sprachlosigkeit“ von Eindrücken das „präzise Wort“ gegenüberzusetzen. (102) Das Sehen von Urbildern der Phantasie, das Festhalten des scheinbar Fak‐ tisch-Belegbaren, das atemlose Aufzählen von Zeitungs- und Wetterberichten, von den Schmerzen eines Leistenbruchs und Eindrücken im Altersheim, in der Irrenanstalt und im Hospital erscheint grundsätzlich aus der doppelten Per‐ spektive des Jetzt und des literarisch Überlieferten. Das Lesen wird zur täglichen Pflicht. Das Persönliche verschmilzt mit der Literatur und Kunst. Im Prozess des neuen Sehens entsteht eine erweiterte Perspektive, die den Weg zur Selbster‐ kenntnis bahnt. Die Erinnerung der Vergangenheit wird zum Wegbereiter der Welterkenntnis. Das dokumentarische Erfassen von Ereignissen und Erlebnissen fragt immer: „Weißt du noch? “ und gibt die Antwort: „So war es! “ Die kritische Bestandsauf‐ nahme stellt viele Fragen: „Was geschah? “ „Wie ist es möglich, dass du das nicht gesehen hast? “ „Bist du sicher? “ „Bedränge mich nicht so! “ „Du kannst das nicht verstehen. Du warst zu klein, bist nicht bewusst dabeigewesen.“ „Können wir das überhaupt verstehen? “ Es sieht die Ereignisse im Licht kontrastierender Deutungen. Das Nachdenken orientiert sich an Fragen des persönlichen Ver‐ antwortungsbewusstseins und des Selbstverständnisses. Es setzt sich mit dem Sachverhalt auseinander, dass über lange Zeitspannen Erinnerungen verblassen, Ereignisse vergessen werden und die Geschichtsschreibung Neudeutungen vor‐ legt, die das Gesamtbild von Perioden verändert. Die Texte betrachten die Ver‐ gangenheit als ein unabgeschlossenes Kapitel, als einen im Entstehen begrif‐ fenen Entwurf einer umfassenden Dokumentation. Indem sich Autor(inn)en mit der Vergangenheit auseinandersetzen, tragen sie zur Deutung des nationalen Selbstbewusstseins bei. Fragen des Deutschtums, des Eingebettetseins in Europa und des Selbstverständnisses als Weltbürger klingen an. Die Texte tragen somit 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 254 auch zum kollektiven nationalen Selbstverständnis bei. Die Vergangenheit um‐ gibt Menschen in Orts- und Flurnamen, in Brunnen, Straßenbezeichnungen, Gebäuden und Denkmälern. Sie spricht zu Menschen in den Künsten, der Lite‐ ratur, der Wissenschaft und der Technik. Das ohnehin problematische Selbst‐ verständnis wurde durch die Jahre der NS -Vergangenheit schwerstens belastet. Erst die Aufarbeitung dieser Zeit bietet die Voraussetzung für ein kollektives Selbstverständnis, das nicht nur als Belastung empfunden wird. Aus dieser Sicht verlangt jede Auseinandersetzung mit der Gegenwart und jeder Blick in die Zukunft ein waches historisches Bewusstsein. Die Vergangenheit zu verneinen bedeutet die Zukunft verneinen. Das Fazit der Gegenwartsliteratur ist überzeugend: Unkenntnis oder wis‐ sentliche Entstellung der Vergangenheit verstellt den Zugang zur lebendigen Erfahrung der Gegenwart und den Entwurf einer sinnvollen Zukunft. Die Ver‐ gangenheit ist immer gegenwärtig. Sie verlangt das Bekenntnis zur Geschichte. Sie beeinflusst Entscheidungen in der Gegenwart. Sie gibt dem Zukunftsdenken Orientierung und verlangt ständig Neuansätze in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen. 9. Bestandsaufnahme, Anklänge der Vergangenheit, Orientierung im Alltag 255 Literaturverzeichnis 1. 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Literarische Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit finden sich sowohl in novellistischen Skizzen, knappen faktisch orientierten Reportagen, Kriegsberichten, autobiographisch angelegten, aber fiktiv erweiterten Erzählungen, Chroniken deutscher Geschichte und Rückgriffen auf die Antike als auch in künstlerisch anspruchsvollen, großangelegten Romanen und fantasievollen Erkundungen eines historischen Verlaufs, der im Gegensatz zu geschichtlichen Ereignissen nur im Märchenland des Denkbaren existiert. Die repräsentativen Texte verdeutlichen eine Grundkonzeption, in der Erleben, Erinnern, Deuten und Gestalten der Vergangenheit den Gesichtskreis bestimmen. ISBN 978-3-7720-8639-7 Daemmrich Vergangenheit Horst S. Daemmrich Vergangenheit Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur