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Versnovellen im Kontext

2018
978-3-7720-5646-8
A. Francke Verlag 
Margit Dahm-Kruse

Mittelhochdeutsche Versnovellen sind überwiegend in thematisch und texttypologisch heterogenen Sammelhandschriften überliefert. Die Untersuchung nimmt ein repräsentatives Korpus dieser Kompilationen in einer Zusammenschau überlieferungsgeschichtlicher, philologischer und hermeneutischer Fragestellungen in den Blick. An Konrads von Würzburg ,Herzmaere' als Modellfall einer vergleichenden Text-Kontext-Analyse wird gezeigt, dass die Sammlungsverbünde einen maßgeblichen Faktor für die Sinnkonstitution der inkorporierten Versnovellen darstellen, indem sie als Rezeptionskontexte den Einzeltext durch divergente Profile jeweils unterschiedlich semantisieren. Gleichzeitig ist die Sammlung als Produktionsrahmen des einzelnen Textes auch ein zentraler Parameter für dessen individuelle Formgebung. Zahlreiche sinnstiftende Korrelationen zwischen spezifischen Textvarianten und tradierender Sammlung machen eine intentionale Anpassung an das textuelle Umfeld plausibel, wodurch sich neue Perspektiven auf textkritische Überlegungen und die Rolle des Schreibers im mittelalterlichen Textmodell ergeben.

Mittelhochdeutsche Versnovellen sind überwiegend in thematisch und texttypologisch heterogenen Sammelhandschriften überliefert. Die Untersuchung nimmt ein repräsentatives Korpus dieser Kompilationen in einer Zusammenschau überlieferungsgeschichtlicher, philologischer und hermeneutischer Fragestellungen in den Blick. An Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘ als Modellfall einer vergleichenden Text-Kontext-Analyse wird gezeigt, dass die Sammlungsverbünde einen maßgeblichen Faktor für die Sinnkonstitution der inkorporierten Versnovellen darstellen, indem sie als Rezeptionskontexte den Einzeltext durch divergente Profile jeweils unterschiedlich semantisieren. Gleichzeitig ist die Sammlung als Produktionsrahmen des einzelnen Textes auch ein zentraler Parameter für dessen individuelle Formgebung. Zahlreiche sinnstiftende Korrelationen zwischen spezifischen Textvarianten und tradierender Sammlung machen eine intentionale Anpassung an das textuelle Umfeld plausibel, wodurch sich neue Perspektiven auf textkritische Überlegungen und die Rolle des Schreibers im mittelalterlichen Textmodell ergeben. ISBN 978-3-7720-8646-5 Dahm- Kruse Versnovellen im Kontext BIBL. GERM. 68 Margit Dahm-Kruse Versnovellen im Kontext Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, BURKHARD HASEBRINK UND SUSANNE KÖBELE 68 Margit Dahm-Kruse Versnovellen im Kontext Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des durch Mittel der DFG geförderten Graduiertenkollegs ‚Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung‘. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH Tübingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720- 5 646- 8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 9 1 11 2 15 2.1 15 2.2 20 2.2.1 20 2.2.2 28 2.2.3 37 3 43 3.1 43 3.2 46 3.3 49 3.4 52 3.5 57 3.5.1 57 3.5.2 59 4 65 4.1 65 4.2 73 4.3 81 5 84 5.1 84 5.2 95 5.3 100 6 104 6.1 104 6.2 108 6.3 113 6.3.1 113 6.3.2 118 6.3.3 145 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelhochdeutsche Versnovellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung und Gattungsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versnovellistisches Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tradition und Transgression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarizität und Variabilität von Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narratio und Moralisatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die variable Form des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuskriptkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die variante Überlieferung mittelalterlicher Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianz im Forschungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retextualisierung - der Text zwischen Offenheit und Festigkeit . . . . . . . Der Schreiber als Akteur von Textform und Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiber und Kompilator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sammlung als Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleinepische Sammelhandschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lektüre im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retextualisierung im Sammlungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘: Text und Rezeption . . . . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ als repräsentative Vergleichskonstellation . . . . . . . . . . . Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Handschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nürnberger Literaturbetrieb und ‚städtisches‘ Sammlungsinteresse . . . . Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehrung als Auftakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minne zwischen geistlichen und weltlichen Semantiken . . . . . . . . Geistliche und moralisierende Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 148 6.4.1 148 6.4.2 156 6.5 158 6.6 162 7 170 7.1 170 7.1.1 170 7.1.2 178 7.1.3 187 7.1.4 190 7.2 202 7.2.1 202 7.2.2 203 7.2.3 213 7.3 215 7.3.1 215 7.3.2 225 7.3.3 234 7.3.4 240 7.3.5 244 7.4 248 7.4.1 248 7.4.2 257 7.4.3 263 7.5 273 7.5.1 273 7.5.2 276 7.5.3 280 7.5.4 283 7.5.5 287 7.5.6 290 7.6 297 7.6.1 297 7.6.2 300 7.6.3 304 7.7 311 7.8 314 Zweiter Teil - Fastnachtspiele und Verkehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das frühe Nürnberger Fastnachtspiel im Cgm 714 . . . . . . . . . . . . . Verkehrung als literarisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ im Cgm 714 - Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sammlungsübersicht Cgm 714 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile . . . . . . . . . . Der Cpg 341 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sammlung - repräsentative Anthologie der Kleinepik . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ im Cpg 341 - aggregatives Erzählen von list . . . Codex Bodm. 72 - ungleiche Schwesterhandschrift . . . . . . . . . . . . Sammlungsübersicht Cpg 341 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Straßburger Handschrift A 94 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sammlung - Minne in dialektischer Verhandlung . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ im Codex A 94 - Meister Gottfrieds Minnelehre Sammlungsübersicht Codex A 94 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Codex Vindobonensis 2885 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sammlung - Schwankgeschichten und geistliche Parodie . . . Das ‚Herzmaere‘ in Wien 2885 - eine zweite Fassung . . . . . . . . . . Innsbruck FB 32001 - Homogenisierung des Schwankhaften . . . . Sammlungsübersicht Wien 2885 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sammlungsübersicht FB 32001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Codex Donaueschingen 104 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sammlung - Belehrung in alphabetischer Ordnung . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ in Don. 104 - der ‚echte Schluss‘? . . . . . . . . . . . . Sammlungsübersicht Don. 104 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Prager Handschrift X A 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Handschrift und ihre Schreiberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kernsammlung als Minnebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ als Minnerede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suberversive Ergänzung des Minnebuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Parallelüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sammlungsübersicht Prag X A 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Herzmaere‘ ohne Gottfried-Referenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolframs ‚Willehalm‘ - Liebe, Leid und christliches Bekenntnis . Kontextualisierung: Das offene Ende des ‚Willehalm‘ . . . . . . . . . . . Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textformen und Sammlungsprofile - Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 8 321 8.1 321 8.1.1 321 8.1.2 329 8.2 338 8.2.1 338 8.2.2 343 8.3 347 9 350 10 351 10.1 351 10.2 353 10.3 354 11 383 12 388 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ . . . . . . . . . . . Das ‚Decameron‘ als Epochenwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narrative Pluralität und rahmende Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleinepische Sammlungen nach dem Medienwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühneuzeitliche Schwanksammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohärenz durch Autorschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterogenität ohne Homogenisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autoren- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriftenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2016/ 17 von der Westfälischen Wil‐ helms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet und mit einem Register versehen. Nicht nur der guten Tradition halber möchte ich an dieser Stelle verschiedenen Personen meinen Dank aussprechen. Prof. Dr. Bruno Quast hat die Arbeit mit viel Interesse, kritischer Auseinandersetzung und Zuspruch betreut und mir gleichzeitig die notwendige Freiheit gelassen, die solch ein Projekt braucht. Unsere Gespräche haben maßgeblich dazu beige‐ tragen, meinen Enthusiasmus in allen Phasen der Arbeit zu erhalten, wofür ich ihm sehr herzlich danke. Prof. Dr. Timo Felber verdanke ich vieles, indem er nicht nur die Anregung zu dieser Arbeit gegeben und mich über die Betreuung der Promotion hinaus in allen Fragen des akademischen Lebens unterstützt, sondern mir überhaupt erst die Augen für die mit‐ telalterliche Literatur geöffnet hat. Ich danke auch Prof. Dr. Michael Waltenberger, der die Drittbetreuung übernommen hat und dessen hilfreiche Anmerkungen und Hinweise vor allem dem theoretischen Profil der Arbeit zu Gute kamen. Das Münsteraner Graduiertenkolleg ‚Literarische Form. Geschichte und Kultur ästheti‐ scher Modellbildung‘ ermöglichte nicht nur die finanzielle Förderung der Arbeit ein‐ schließlich der Drucklegung, sondern auch die Erfahrung eines anregenden interdiszipli‐ nären Forschungsumfelds. Das Projekt hat von der kontinuierlichen Diskussion in den Forschungscolloquien und mit den beteiligten Lehrenden profitiert; in diesem Zusammen‐ hang sei besonders Prof. Dr. Alfred Sproede gedankt. Für die Aufnahme in die Reihe ‚Bibliotheca Germanica‘ wie auch für wertvolle Anmer‐ kungen danke ich Prof. Dr. Udo Friedrich, Prof. Dr. Burkhard Hasebrink und Prof. Dr. Su‐ sanne Köbele. Tillmann Bub und Vanessa Weihgold vom Narr Francke Attempto Verlag danke ich für die Betreuung der Drucklegung und Konstantin Achinger für seine Hilfe bei den Korrekt‐ uren am Manuskript. Von den Kolleginnen und Kollegen in Münster und Kiel habe ich mancherlei fachliche, praktische und freundschaftliche Unterstützung erfahren, vor allem aber machen sie das akademische Soziotop zu einem guten Lebensraum. Hier seien stellvertretend für viele und vieles Prof. Dr. Jan Hirschbiegel, Birgit Siegmund und Dr. Lena Hoffmann genannt. Meine Brüder Christoph Dahm und Georg Dahm haben beim Korrekturlesen sowie bei technischen Problemen geholfen und gleichzeitig durch ungetrübte Freude am komischen Potential der untersuchten Texte dieselben von Zeit zu Zeit von der Dignität des For‐ schungsgegenstands befreit. Meinem Vater Ulrich Dahm bin ich dankbar für seine Zunei‐ gung und Unterstützung, aber auch für das redliche Bemühen des Physikers, den Reiz li‐ teraturwissenschaftlicher Fragestellungen zu erfassen. Mein Mann Kai Kruse hat mich regelmäßig daran erinnert, dass es im Leben noch anderes gibt als mittelalterliche Codices - ihm danke ich auch, aber keinesfalls nur für die notwen‐ digen Denkpausen und die Erweiterung des Blickfeldes. Und nicht zuletzt gibt es viele Freunde, die mein Vorhaben in den letzten Jahren mit Interesse, Zuspruch, Humor und auch Nachsicht in den Phasen arbeitsbedingter Unauf‐ merksamkeit begleitet haben - an dieser Stelle möchte ich nur Nils Köpke nennen, dem ich ganz besonders viel verdanke und der zumindest die Fertigstellung der Arbeit noch miter‐ lebt hat. Kiel, im Feburar 2018 10 Vorwort 1 Während die großepische Dichtung im 13. Jahrhundert „wesentlich durch Fortbildung und Wieder‐ aufbau bereits vorhandener Traditionen geprägt“ ist, entstehen im Bereich der Kleinepik auch neue Formen. H E I N Z L E , Geschichte der deutschen Literatur, S. 137. 2 Vgl. H E I N Z L E , Wann beginnt das Spätmittelalter, S. 215ff.; H O L Z N A G E L , ‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Hand‐ schrift‘, S. 142; H O L Z N A G E L , Verserzählung - Rede - Bîspel, S. 291; J A N O T A , Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit, S. 246f. 3 Die durch Fischer in bewusster Abgrenzung zur Novelle eingeführte Gattungsbezeichnung ‚Märe‘ (vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung) ist unter anderem aufgrund der „willkürlichen Inanspruchnahme eines mhd. Wortes, das alles andere als ein Gattungsbegriff war“, wiederholt Ge‐ genstand terminologischer Diskussionen gewesen (H E I N Z L E , Kleine Anleitung zum Gebrauch des Märenbegriffs, S. 45; vgl. weiterhin z.B. ders., Märenbegriff und Novellentheorie; ders., Altes und Neues zum Märenbegriff; siehe auch F R I E D R I C H , Trieb und Ökonomie, S. 49). Von den diskutierten alternativen Benennungen hat sich keine verbindlich etabliert, was auch in der divergenten Be‐ trachtung der gattungsmäßigen Fassbarkeit des Textkorpus begründet ist. Zur Problematik der Be‐ griffsdiskussion, die eine „Absicherung nach allen Seiten“ notwendig macht, siehe auch W A L T E N‐ B E R G E R , Situation und Sinn, S. 287. Die Bezeichnung ‚Versnovelle‘ ist eine Möglichkeit, die Texte in ihrer poetischen Spezifik von benachbarten kleinepischen Textsorten abzugrenzen und gleichzeitig die durch den Märenbegriff suggerierte Abgegrenztheit des deutschsprachigen Korpus von vergleichbaren europäischen Er‐ zähltraditionen sowie die vermeintliche Dichotomie von mittelalterlicher Kleinepik und modern-no‐ vellistischem Erzählen zu vermeiden. 1 Einleitung Die Kleinepik gehört zu den einflussreichsten und langlebigsten Erscheinungen der volks‐ sprachigen Literatur des Spätmittelalters. Die Entstehung verschiedener, auch neuer Klein‐ formen der Versdichtung 1 stellt eines der markanten Phänomene des Übergangs von der hochmittelalterlichen Periode zum spätmittelalterlichen Literaturbetrieb dar. Der Typus der kleinen Reimpaardichtung mit seinen heterogenen Formen zumeist paargereimter Verser‐ zählungen etabliert sich als ‚Supergattung‘, die das Profil der volkssprachigen Literatur bis in das 16. Jahrhundert hinein entscheidend prägt. 2 Unter den vielfältigen Formen der kleinen Reimpaardichtung kommt den mittelhoch‐ deutschen Versnovellen ein besonderer Stellenwert zu. 3 Es gehört zu dem markanten poe‐ tischen Merkmalen der Textsorte, tradierte Motive und literarische Muster anderer Gat‐ tungen wie dem höfischen Roman aufzunehmen, wobei konventionalisierte Erwartungen an die verhandelten Schemata immer wieder konterkariert und in andere Sinnsetzungen überführt werden. Die sprachlich und im Handlungsverlauf meist einfach gestalteten Texte erzeugen durch die Kombination verschiedener, auch gegenläufiger Muster Ambiguität und entziehen sich eindeutigen Sinnstiftungen. In den Erzählinhalten und der narrativen Struktur verweisen insbesondere die frühen Vertreter der Textsorte deutlich auf ihre exemplarische Texttradition. Den Versnovellen ist häufig ein lehrhafter Impetus eigen, der sich in der argumentativen Struktur und in den verhandelten Thematiken manifestiert, die zumeist auf Geschlechter- und Sozialbeziehungen und die damit verbundenen Ordnungs‐ vorstellungen rekurrieren. Gleichzeitig unterlaufen die Texte eindeutige exemplarische Sinnsetzungen, indem sie die thematischen Bezugnahmen und exemplarischen Geltungs‐ 4 Vgl. F R I E D R I C H , Spielräume rhetorischer Gestaltung, S. 229. 5 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 103. 6 Vgl. W A L T E N B E R G E R , Situation und Sinn, S. 294. behauptungen oft widersprüchlich darstellen und so Mehrdeutigkeit und Fragwürdigkeit von normativen Geltungskonzepten produzieren. Den Versnovellen ist damit ein hohes Maß an diskursiver und literarischer Reflexion eigen, 4 sie stehen beispielhaft für eine lite‐ rarische Entwicklung, in der tradierte Schemata und etablierte normative Verbindlichkeiten aufgegriffen und kontrovers diskutiert werden. In der Forschung basieren Verstehens- und Interpretationsansätze zu den Versnovellen bislang nahezu ausschließlich auf der Analyse der Einzeltexte. Tatsächlich ist die Überlie‐ ferung aber überwiegend durch Sammelhandschriften geprägt: Die maßgeblich durch den Stricker begründete Tradition der kleinen Reimpaardichtung hat einen eigenen Typus von Handschriften generiert, 5 die zumeist verschiedene kleinepische Textformen inkorporieren und in denen die Texte in unterschiedlicher Auswahl, Zusammenstellung und mit diver‐ genten Co-Texten erscheinen. Gleichzeitig variieren die Versnovellen in den verschiedenen Handschriften zum Teil deutlich in ihrem Textbestand. Während die germanistische Forschung insbesondere im Bereich der höfischen Epik längst die Bedeutung von Überlieferungsgemeinschaften in den Handschriften herausge‐ stellt hat, gibt es für die mittelhochdeutschen Versnovellen nur wenige Untersuchungen, die sich detailliert mit der Möglichkeit planvoller Zusammenstellungen der Codices sowie mit den Interferenzen zwischen Einzeltexten und Sammlungen auseinandersetzen. Insbe‐ sondere gibt es keine systematische Untersuchung, die für ein umfangreicheres Korpus an kleinepischen Sammelhandschriften die Prinzipien der Textauswahl und -zusammenstel‐ lung betrachtet und nach den daraus resultierenden Sinnstiftungen fragt. Unabhängig von der Frage planvoller Kompositionen ist der Sammlungskontext in mehrfacher Hinsicht wesentliches Element der Sinnkonstitution des versnovellistischen Einzeltextes. Jede Sammlung fügt den Einzeltext in den übergeordneten Sinnhorizont ihrer Gesamtkonzeption ein und beeinflusst, indem sie je neue, individuelle Lektürezusammen‐ hänge gestaltet, dessen Rezeption. Der Text wird auch über seinen Gebrauch, über seine Funktion und Stellung in der Textgemeinschaft semantisiert. In der Zusammenstellung wird die den versnovellistischen Texten immanente Ambiguität gesteigert, indem mögliche Geltungsansprüche des Einzeltextes durch die Relation zu seiner Sammlungsumgebung unterlaufen werden können; gerade in der Zusammen- oder Gegenüberstellung divergenter Texte kommt die Situationsgebundenheit und Variabilität normativer Geltungen als we‐ sentlichem Moment versnovellistischen Erzählens zum Tragen. 6 Gleichzeitig kommt den Versnovellen in den kleinepischen Sammlungen eine wichtige Funktion zu. Sie stellen be‐ sondere Markierungen der offenen Sinnpotentiale des Erzählens dar, indem sie durch ihre Poetik relativierender Sinnkonstitution auch für ihre Co-Texte einsinnige Lektüren kon‐ terkarieren und zum Hinterfragen von Geltungsbehauptungen auffordern können. Die Sammlung stellt aber nicht nur den Rezeptions-, sondern auch den Produktions‐ rahmen des versnovellistischen Einzeltextes dar und kann wesentliches Movens für seine konkrete Gestaltung, für seine individuelle Form sein. Divergente Textzustände können nicht allein mit den Gegebenheiten einer semioralen Kultur erklärt werden, sondern ent‐ 12 1 Einleitung 7 Die Termini ‚Sammlung‘, ‚Sammelhandschrift‘ und ‚Kompilation‘ werden synonym verwendet. 8 Vgl. H E I N Z L E , Geschichte der deutschen Literatur, S. 34. springen vielfach geplanter redaktioneller Arbeit am Text. Die spezifische Form des Textes entsteht in einem Spannungsfeld von normativem ‚Werk‘-Status und individueller Reali‐ sierung, die auch durch den Kontext der jeweiligen Verwendung geprägt sein kann. Eine Analyse individueller Textgestaltungen im Zusammenhang mit ihren jeweiligen hand‐ schriftlichen Kontextualisierungen sucht die Überlieferungsgemeinschaft als greifbaren Parameter für die konkrete Ausformung des Textes fruchtbar zu machen. Sie kann die Prinzipien der Veränderbarkeit von Texten erhellen und Aufschluss darüber geben, wieweit die Form des Textes und seine Überlieferung miteinander verbunden sind. Mit der Frage nach intentionalen Textarrangements und nach der Entstehung varianter Textgestaltungen wird die Konzeption der kleinepischen Sammelhandschriften als poeti‐ scher Prozess fassbar. 7 Die Kompilationen sind nicht (nur) im Kontext eines systematischen Zusammenführens von Textgut zu verstehen, das dem Bewahren der literarischen Tradition dient. Ihre Herstellung ist ein poetisches Verfahren, das auf einer Auseinandersetzung mit literarischen Traditionen und den verhandelten Geltungskonzepten und Epistemen basiert. Dabei muss in Rechnung gestellt werden, dass die Sammlungen in nicht klar abgrenzbaren Schichtungen und Genesen aus Vorlagenbeziehungen, tradierten Textsymbiosen, Inte‐ ressen von Auftraggebern und den spezifischen Profilierungen durch die Schreiber/ Kompi‐ latoren als unmittelbaren Produzenten der Sammlungen entstehen, deren literarisches Selbstverständnis in seiner Überschneidung mit und Abgrenzung von Autorschaft Be‐ standteil der Überlegungen ist. Konrad von Würzburg als der vielleicht herausragendste Repräsentant der volkssprachigen Literatur des 13. Jahrhunderts hat kein breites versnovellistisches Œuvre hinterlassen, er ist aber gleichfalls ein wichtiger Vertreter für die sich etablierenden neuen Formen kleine‐ pischer Dichtungen. 8 Das ‚Herzmaere‘ als eine der prominentesten und am breitesten tra‐ dierten Versnovellen, die außerdem signifikante Divergenzen im Textbestand aufweist, ist ein geeignetes Beispiel, um das Verhältnis von Retextualisierung des Einzeltextes und seiner Kontextualisierung in den Sammlungen exemplarisch in den Blick zu nehmen. Mit dem über das ‚Herzmaere‘ als Modellfall einer vergleichenden Text-Kontext-Analyse gebildeten Untersuchungskorpus wird ein repräsentativer Ausschnitt aus dem kleinepischen Sam‐ melschrifttum in den Blick genommen, darunter einige der Haupthandschriften der kleinen Reimpaardichtung. In der vergleichenden kontextualisierenden Lektüre, die den philolo‐ gischen Abgleich mit einer hermeneutischen Betrachtung verbindet, ergeben sich neue Perspektiven auf textkritische Fragestellungen wie das Nebeneinander der unterschiedli‐ chen Epilogfassungen. Die Untersuchung fokussiert zunächst den Cgm 714, der unter den Überlieferungsträ‐ gern des ‚Herzmaere‘ in besonderem Maße durch eine konzeptionelle Gestaltung hervor‐ sticht, die sowohl auf der Ebene der spezifischen Form der Einzeltexte als auch bei der Auswahl und Anordnung des Korpus fassbar ist. Die Textzusammenstellung der Münchner Sammlung wird systematisch abgebildet und nach übergeordneten diskursiven Zusam‐ menhängen und inhaltlichen Relationen zwischen den inserierten Dichtungen befragt. Die kontextualisierende Lektüre zeigt, wie die einzelnen Texte in das thematische Profil der 13 1 Einleitung Sammlung eingefügt und spezifisch funktionalisiert werden. Dabei wird überprüft, inwie‐ weit die konkrete Textform einzelner Dichtungen, insbesondere des ‚Herzmaere‘, sinnstif‐ tend mit seinen Co-Texten korreliert und ob die ermittelten Relationen als Indiz einer un‐ mittelbar gestalteten Anpassung der Textgestalt an den Sammlungskontext profiliert werden können. Im zweiten Untersuchungsteil werden die weiteren Überlieferungsträger des ‚Herz‐ maere‘ in ihren jeweiligen thematisch-diskursiven Profilen und in den Ausformungen des Referenztextes skizziert. Die Zusammenschau der Codices bildet ein breites Spektrum möglicher Sammlungstypen ab, die den gleichen Einzeltext durch verschiedene Verfahren der Inkorporierung integrieren können. Der Überlieferungsvergleich zeigt, wie der gleiche Text in divergenten Kontexten unterschiedlich semantisiert und funktionalisiert werden kann und welchen Einfluss die Textumgebung auf seine Rezeption hat. Zusammenstellungen volksprachiger Kleinepik treten auch in Form buchliterarisch kon‐ zipierter Autor-Sammlungen in Erscheinung. Frühes Beispiel und zugleich ein wichtiger Referenztext innerhalb der europäischen kleinepischen Erzähltradition ist Boccaccios ‚De‐ cameron‘, das verschiedenes literarisches Material zusammenführt und in einen narrativen Zusammenhang integriert. Das ‚Decameron‘ als eigentlich kontemporäre Vergleichskons‐ tellation wird oft als Schwellentext gelesen, an dem ein signifikanter Paradigmenwechsel sowohl in der Poetik des novellistischen Einzeltextes als auch in der Gesamtkonzeption der Sammlung festgemacht wird. Durch die vergleichende Betrachtung können sowohl die gattungsästhetischen Parameter, die für das versnovellistische Erzählen bestimmt wurden, als auch die Kompilationsprinzipien der untersuchten kleinepischen Sammlungen aus einer komparatistischen Perspektive beleuchtet und die Alterität des untersuchten Sammlungs‐ typs genauer profiliert werden. In die vergleichende Reflexion werden auch die frühneu‐ zeitlichen Schwanksammlungen als ein verbreiteter Buchtyp eingebunden, der durch die Rekurrenz auf vergleichbare Erzähltraditionen sowie durch ähnlich heterogene Samm‐ lungsprinzipien Parallelen zu den mittelalterlichen Sammelcodices hat, aber dennoch einen anderen, durch die veränderten Paradigmen des Medienwandels geprägten Kompilati‐ onstyp darstellt. Ähnlich wie das ‚Decameron‘ stellen die frühneuzeitlichen Schwank‐ sammlungen dem heterogenen tradierten Material Strategien der Homogenisierung und Autorisierung gegenüber, die sich deutlich von der Kompilationspraxis der kleinepischen Sammelhandschriften abheben. 14 1 Einleitung 1 Zur Vorgeschichte der Märenforschung vgl. F I S C H E R , Studien zu deutschen Märendichtung, S. 1-28. 2 Vgl. R E U V E K A M P -F E L B E R , Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. XIf. 3 Lieder-Saal, hg. V O N L A SS B E R G . 4 Gesammtabenteuer, hg. V O N D E R H A G E N . Das ‚Gesammtabenteuer‘ führt 66 des durch Fischer defi‐ nierten Korpus von 220 versnovellistischen Texten auf. 5 Vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 1-9. 6 Zu diesen zählt auch die 1924 und bis heute weitgehend unveränderte Edition des ‚Herzmaere‘ durch Edward Schröder. Vgl. Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R . 7 Die Kleindichtungen des Strickers, hg. M O E L L E K E N ; Der Stricker: Verserzählungen I+II, hg. F I S C H E R ; Der Stricker: Erzählungen, Fabeln, Reden, hg. E H R I S M A N N ; Fabeln und Mären von dem Stricker, hg. M E T T K E . 8 Kaufringer: Werke, hg. S A P P L E R ; Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. F I S C H E R ; Folz: Die Reimpaarsprüche, hg. F I S C H E R 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 2.1 Forschung und Gattungsdiskussion Der Beginn der neuzeitlichen Rezeption mittelhochdeutscher Kleinepik ist, wie bei einem großen Teil der mittelalterlichen Textualität, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei den ‚Gründervätern‘ der Germanistik zu verorten und mit Namen wie Friedrich Adelung, Johann Jacob Bodmer und Friedrich Schlegel verbunden, 1 die die Anfänge einer germanis‐ tischen Literaturwissenschaft markieren, die noch ganz im Kontext einer romantisierenden Adaption ‚volkspoetischer‘ Dichtung stand und in der die Texte primär im Zuge der Re‐ konstruierung ihres vermeintlichen Quellenwertes für die soziale und kulturelle Verfasst‐ heit der mittelalterlichen Lebenswelt gelesen wurden. 2 Sukzessive wurden zentrale kleinepische Sammelhandschriften wie der Cpg 341, die Straßburger Handschrift A 94 oder der Wiener Codex 2885 für die germanistische Erfor‐ schung entdeckt, abgeschrieben und diskutiert; es erschienen erste editorische Bearbei‐ tungen einzelner Texte und ganzer Sammlungen wie der ‚Liedersaalhandschrift‘ Cod. Do‐ naueschingen 104. 3 Den ersten Versuch einer umfassenden Kompilation der versnovellistischen Dichtung markiert das 1850 erschienene ‚Gesammtabenteuer‘ Friedrich Heinrich von der Hagens, 4 das weniger eine auf Vollständigkeit abzielende Dokumentation des gattungsmäßig noch gar nicht definierten Korpus, als vielmehr eine Sammlung volks‐ tümlichen Textgutes darstellt. 5 Im 20. Jahrhundert entstanden Primär- und Neueditionen von Versnovellen und anderen kleinepischen Dichtungen, die häufig nach den Prinzipien Lachmannscher Textkritik erarbeitet wurden; viele von ihnen stellen nach wie vor die Basis der Texterschließung und -erforschung dar. 6 Insbesondere die Dichtung des Strickers wurde vergleichsweise umfangreich aufgearbeitet, 7 weiterhin wurden zahlreiche Texte des 15. Jahrhunderts veröffentlicht, zum Teil ebenfalls in autorzentrierten Editionen. 8 Große Teile des versnovellistischen Korpus aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind dagegen nicht oder unzureichend erschlossen. Heinrich Niewöhners Vorhaben des ‚Neuen Gesamtabenteuers‘ als einer systematischen und kritischen Edition des versnovellistischen Textkorpus wurde 9 Neues Gesamtabenteuer, hg. N I E WÖH N E R . Diese editorische Lücke zu schließen ist Ziel des Projekts „Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts“ der Uni‐ versitäten Köln und Tübingen (www.versnovellistik.uni-köln.de). 10 „[…] ist das Märe eine in paarweise gereimten Viertaktern versifizierte, selbständige, und eigen‐ zweckliche Erzählung mittleren (d.h. durch die Verszahlen 150 und 2000 ungefähr umgrenzten) Um‐ fangs, deren Gegenstand fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichem Aspekt betrachtete, mit ausschließlich (oder vorwiegend) menschlichem Personal vorgestellte Vorgänge sind.“ F I S C H E R , Stu‐ dien zur deutschen Märendichtung, S. 62f. Aus pragmatischen Gründen wird die Bezeichnung Versnovelle analog zu dem durch Fischer defi‐ nierten Mären-Korpus verwendet. In der vorliegenden Arbeit spielt die Frage der Zugehörigkeit einzelner Texte keine Rolle für die Betrachtung des Gesamtphänomens versnovellistischen Erzäh‐ lens, so dass auf eine erneute Diskussion von Gattungs- oder Korpusgrenzen verzichtet wird. 11 F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 62f. 12 Texte, die durch das Aufführen von himmlischem oder teuflischem Personal besondere Grenzbe‐ reiche zwischen geistlicher und weltlicher Literatur markieren, wurden durch Fischer als ‚Grenzfälle‘ der Gattung Märe klassifiziert und damit weitgehend aus dem Forschungsdiskurs ausgeklammert (vgl. S L E N C Z K A , Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle, S. 9). Auch Eichenberger sieht in der wesentlich durch Fischers Definition geprägten strikten Dichotomie von weltlichen und geistlichen Texten die Ursache für eine weitgehende Ausblendung der geistlichen Dichtung aus der kleinepischen Forschungsdebatte. Vgl. E I C H E N B E R G E R , Geistliches Erzählen, S. 10f. 13 Vgl. J A N O T A , Geschichte der deutschen Literatur, S. 246f.; K N A P P , Mittelalterliche Erzählgattungen, S. 1f. nur in Teilen realisiert; von den 113 vorgesehenen Texten ist lediglich ein erster Band mit 37 Dichtungen erschienen. 9 Der als Desiderat empfundenen grundlegenden Diskussion der Versnovellen als einer von den übrigen kleinepischen Erzählformen geschiedenen Textsorte widmete sich erst‐ malig die Arbeit Hanns Fischers, der eine systematische Untersuchung der konstituie‐ renden Merkmale der von ihm als ‚Mären‘ bezeichneten Texte vornahm, die in eine viel diskutierte Definition und eine ebenfalls nicht unwidersprochene, aber dennoch weitge‐ hend etablierte Festschreibung des Textkorpus mündete. 10 Fischer nimmt dabei eine Un‐ terscheidung in drei erzählerische Grundkategorien (schwankhaft, moralisch-exemplarisch und höfisch-galant) und eine formale Abgrenzung von anderen kleinepischen Textsorten sowie dem Roman vor. Mit der Festschreibung auf „diesseitig-profane und unter weltlichen Aspekt betrachtete Vorgänge“ beförderte die Märendefinition Fischers eine Grenzziehung zwischen weltlicher und geistlicher Kleinepik, 11 die nicht nur zu einer weitgehenden Ausklammerung von Texten mit überweltlichem Personal aus dem Märenkorpus und aus der Forschungsdis‐ kussion führte, sondern auch eine Gattungsdebatte prägte, die die geistliche Perspektive der versnovellistischen Dichtung wenig in den Blick nahm. 12 Tatsächlich wird in zahlrei‐ chen Versnovellen auf geistliche Sinngehalte referiert, auch legt bereits der enge Traditi‐ onszusammenhang mit der Exempeldichtung und die Bezugnahme auf soziale Ordo-Kon‐ zepte eine Verhandlung zentraler christlicher Denkfiguren nahe. 13 Nach der Untersuchung durch Fischer stand neben der Diskussion des Märenbegriffs vor allem die Gattungsfrage im Fokus der germanistischen Forschung. Die Versnovellen sind überwiegend in Sammelhandschriften überliefert, in denen die Texte vor allem mit anderen kleinepischen Textsorten tradiert werden, wobei in der Regel keine durchgängige generisch 16 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 14 Zu den benachbarten Gattungen zählen neben dem Exempel, das gleichzeitig als traditionsstiftende Textsorte für das versnovellistische Erzählen gesehen wird, das Bîspel sowie Reden, Legenden und Fabeln. Vgl. Z I E G E L E R , Erzählen im Spätmittelalter, S. 34f.; ders., ‚Märe‘ in LexMa VI, Sp. 229f. 15 K N A P P , Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur, S. 9. 16 Vgl. H O L Z N A G E L , Gezähmte Fiktionalität, S. 47. Ähnlich dem Exemplum wird das Bîspel sowohl als Gattungsterminus wie auch als Funktionsweise oder Erzählhaltung gefasst, die für eine auf Auslegung ausgerichtete Kurzform steht, mit der geist‐ liche oder weltliche Verhaltensregeln illustriert werden sollen (vgl. G R U B MÜL L E R , ‚Bîspel‘ in LexMa II, Sp. 249). Verschiedentlich wurde versucht, narrative Kriterien für eine generische Abgrenzung zwischen Versnovelle und Bîspel zu etablieren. Bei Fischer basiert die Differenzierung wesentlich auf dem Umfang der Texte, entsprechend hat er selber zahlreiche Grenzfälle konstatiert. Weiterhin spricht er dem Bîspel auch eine stärkere Fokussierung der exemplarischen Funktion zu, während sich das Märe durch mehr dichterische Autonomie kennzeichne (vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 61). Strasser sieht in der deutlichen Geschiedenheit von Erzähl- und Kommen‐ tarteil ein distinktes Merkmal des Bîspel (Vgl. S T R A S S E R , Vornovellistisches Erzählen, S. 158f.). Zie‐ geler argumentiert mit einer unterschiedlichen Organisation des Erzählens, die sich wesentlich in dem Vorhandensein bzw. der Absenz einer Identifikationsmöglichkeit manifestiert: „Die Texte, die herkömmlich Bîspel, und die, die Mären genannt werden, unterscheiden sich nun typisch dadurch, dass in den Bîspeln durchgängig darauf geachtet wird, dass nicht ein Verhältnis der Identifikation entwickelt wird, während in den Mären mit im einzelnen zu differenzierenden Maßnahmen versucht wird, den jeweiligen ‚Beweis‘ über die Identifikation des Lesers mit dem (oder den) Protagonisten zu führen“ (Z I E G E L E R , Erzählen im Spätmittelalter, S. 38f.). Weiterhin sieht Ziegeler unterschiedliche Formen erzählerischer Kohärenz in den Texten wirken: Das Erzählen im Bîspel stellt einen plausiblen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, zwischen der erzählten Geschichte und der daraus generierten Erkenntnis her und zielt auf den Beweis der Notwendigkeit rationalen Handelns ab, wogegen die Versnovelle diese rational-exemplarische Sinnstiftung aufhebt (vgl. ebd., S. 144-151, S. 210). H O L Z N A G E L , Verserzählung - Rede - Bîspel, ergänzt die Typisierung Ziegelers durch eine bereits durch Fischer etablierte Unterscheidung nach dem Verhältnis von narrativen und diskursiven Pas‐ sagen. Die Art und Weise, in der narrative und diskursive Elemente aufeinander bezogen werden, wird zum konstituierenden Merkmal der Differenzierung zwischen Bîspel und Verserzählung ge‐ macht. Die aus einem narrativen und einem erörternden Teil aufgebauten Bîspel erfordern die Ge‐ neralisierung eines einmaligen, imaginierten Ereignisses auf eine allgemeingültige Lehre, bevor diese in einem zweiten Schritt mit dem Vergleichsbereich analogisiert werden kann. Die Verserzählung dagegen verzichtet auf allegorisierende Textverfahren, sondern arbeitet, unabhängig von der Frage tatsächlicher Belehrungsintention und Plausibilität der Lehren, mit einem aus der Exempeltradition herrührenden Modus der direkten Belehrung. determinierte Anordnung der Texte feststellbar ist. 14 Dass die Versnovellistik „bei aller Un‐ schärfe der Grenzen als etwas irgendwie Eigenständiges empfunden wurde, ist nicht aus‐ zuschließen, wenn auch unbeweisbar.“ 15 Die Frage ist daher, wieweit von einer auch im zeitgenössischen Bewusstsein verankerten gattungstypischen Verschiedenheit der Versno‐ vellen von anderen kleinepischen Textsorten auszugehen ist und worin die distinkten Merkmale der Unterscheidung bestehen. Insbesondere der Typus des endgereimten Bîspel, das in Aufbau sowie der thematischen Fokussierung von Sozial- und Geschlechterverhält‐ nissen der Versnovelle ähnelt, ist nicht immer klar von den Versnovellen abzugrenzen, zumal beide Textsorten in ihren Anfängen wesentlich durch die Dichtung des Strickers geprägt sind. 16 17 2.1 Forschung und Gattungsdiskussion 17 Die modernen Literaturtheorien inhärenten Einwände gegen ein klassifikatorisches Erfassen poeti‐ scher Texte bedingen einen grundsätzlichen Skeptizismus gegenüber systematisierenden Grundter‐ mini wie Autor, Werk, Epoche und auch dem Gattungsbegriff. Für den mittelalterlichen Literatur‐ betrieb wird das Konzept einer normativen Gattungslehre und -systematik noch stärker hinterfragt, da die in der neuzeitlichen Literaturtheorie etablierten Distinktionen und Merkmale nicht unbedingt als Beschreibungsinventar für die vormoderne Textualität greifen. Die mittelalterliche Dichtungs‐ praxis kennt im Gegensatz zur Antike keine dezidierte Gattungstheorie oder klare Terminologien für die einzelnen Gattungen. Mittelalterliche Poetiken sind vor allem als normative Lehrschriften zur Dichtungspraxis fassbar, die zum Teil zwar auf die aristotelische Unterscheidung von dramati‐ schen und nicht-dramatischen Texten rekurrieren, aber kaum deskriptive Gattungskonzeptionen bereitstellen (vgl. J A U S S , Theorie der Gattungen, S. 328, S. 345; F R I C K E , ‚Poetik‘ in RL 3, S. 101). Wei‐ terhin rühren die vorhandenen poetologischen Kategorienbildungen aus der lateinischen Tradition her, für die volkssprachige Textualität sind dagegen kaum dezidierte Gattungsbegriffe und -merk‐ male nachweisbar. Vgl. K N A P P , Mittelalterliche Erzählgattungen, S. 3f. 18 Dass das geringere Interesse an präzisen Terminologien in der mittelalterlichen Literaturperiode nicht gleichzeitig ein fehlendes Bewusstsein für die entsprechenden literarischen oder poetologi‐ schen Kategorien impliziert, stellt R E U V E K A M P , Perspektiven mediävistischer Stilforschung, S. 2, für den Bereich sprachlicher Formgebung heraus. 19 J A U S S , Theorie der Gattungen, S. 345. Ähnlich B U S B Y , Fabliaux and the New Codicology, S. 153f., für die französischen Fabliaux-Handschriften. 20 Analog ist auch die moderne Novelle Gegenstand einer besonders virulenten Gattungsdiskussion und gilt in ihrer Vielzahl von Merkmalen als kaum trennscharf von anderen Gattungen zu unter‐ scheiden. Vgl. M I C H L E R , Kulturen der Gattung, S. 342f. 21 Z I E G E L E R , Erzählen im Spätmittelalter, S. 37. Die Debatte spiegelt grundsätzliche Zweifel gegenüber klassifikatorischen Gattungszu‐ weisungen in der volkssprachigen Dichtungspraxis wider, 17 wobei der häufig konstatierten gattungsmäßigen Indifferenz im Allgemeinen und in der kleinepischen Dichtung im Be‐ sonderen entgegenzuhalten ist, dass die Absenz einer normativen Poetik und ausformu‐ lierten Systematik nicht zwingend das Fehlen jedweder gattungsmäßigen Ordnung be‐ deutet. 18 In den kleinepischen Sammlungen finden sich häufig unterschiedlich umfangreiche homogene Textreihen von Bîspeln, Versnovellen oder Minnereden, die als Indiz für das Bewusstsein einer generischen Verschiedenheit der kleinepischen Textsorten gelesen werden können: Auch die Literatur des Mittelalters ist keine willkürliche Summe, sondern eine latente Ordnung oder Folge von Ordnungen literarischer Gattungen. Auf diese Ordnung weisen immerhin einige Zeugnisse mittelalterlicher Autoren und die in dieser Hinsicht noch nicht ausgewertete Auswahl und Anordnung von Texten und Gattungen in Sammelhandschriften. 19 Die Versnovellen gelten aber auch aufgrund ihrer Heterogenität - schon der lange Über‐ lieferungszeitraum über drei Jahrhunderte bedingt eine große Diversität der Texte - als eine Textsorte, die die Bestimmung einheitlicher Merkmale und einer gattungsmäßigen Zusammengehörigkeit erschwert. 20 Ziegeler sucht in seiner Untersuchung ebenfalls eine synchrone Beschreibung der Gat‐ tung vorzunehmen, die den vor allem auf Ausschlusskriterien und weniger auf typisier‐ baren Gestaltungstechniken basierenden Ansatz Fischers ergänzen soll, indem sie eine Kombination von Merkmalen versnovellistischen Erzählens herausstellt, die einen Sam‐ melbegriff rechtfertigen. Ziegeler sieht in den Versnovellen eine spezifische Form „erzäh‐ lerischer Organisation“ realisiert, 21 die narratologisch zwischen dem Roman und dem Bîspel 18 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 22 Z I E G E L E R , Erzählen im Spätmittelalter, S. 39 23 Vgl. H E I N Z L E , Altes und Neues zum Märenbegriff, S. 282. 24 Vgl. ders., Kleine Anleitung zum Gebrauch des Märenbegriffs, S. 46f.; ähnlich H A U G , Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung, S. 1-5. 25 Vgl. G R U B MÜL L E R , Gattungskonstitution im Mittelalter. 26 Auch Heinzle begründet seine Kritik an der starren Gattungssystematik Fischers mit der Absenz eines definierten Gattungsdenkens im Mittelalter. Die kleinepische Dichtung sei als ein zusammen‐ hängender literarischer Bereich wahrgenommen worden, was sich in der Heterogenität der kleine‐ pischen Sammelhandschriften manifestiere. Vgl. H E I N Z L E , Märenbegriff und Novellentheorie, S. 123, S. 134. 27 M ÜL L E R , Noch einmal: Maere und Novelle, insbesondere S. 290ff. 28 H A U G , Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung, S. 5. angesiedelt ist und der als konstituierendes Merkmal ein Erzählen zwischen den Opposi‐ tionspaaren Fall versus Geschichte und Identifikation versus Distanz eigen ist: In dem Bemühen, auf dem schmalen Grat zwischen bîspelhaftem, auf einen ‚Beweis‘ zielenden erzählerischen Verfahren und dem romanhaften, auf Identifikation mit dem Protagonisten gerich‐ teten Erzählen die Balance zu wahren, sehe ich das für die Mären konstitutive Problem schlechthin. 22 Heinzle argumentiert dagegen vor allem gegen die durch Fischer gesetzte formale Klassi‐ fizierung sowie die angenommene gattungsmäßige Einheitlichkeit der Versnovellen an sich: Angesichts der Heterogenität des Korpus fehlten gemeinsame Merkmale oder Merk‐ malsstrukturen, die prägnant genug seien, um das Textkorpus als Gattung zu erfassen. 23 Der Ansatz Ziegelers stellt nach Heinzle primär eine Untersuchungsmethode und weniger eine konsistente Definition dar und trägt nicht zu einer Erfassbarkeit der Gattung bei. 24 Heinzle plädiert für einen diachronen Ansatz, der die Märendichtung, ähnlich dem bei Grubmüller beschriebenen Prinzip der Textreihe, 25 im Kontext von Traditionsstiftung, -er‐ füllung und -veränderung beschreibt. 26 Die Texte bilden dabei keinen festen Kanon, sondern werden über typische Motive und Handlungsschemata klassifiziert. Müller greift die Kritik Heinzles auf und ergänzt, dass nicht nur die Handlungsschemata an sich, sondern auch deren Funktionszusammenhänge entscheidend für eine gattungs‐ mäßige Typisierung sind. Die gleichen Schemata können in divergente Erzählstrukturen und Deutungsmuster eingebunden werden, wodurch sich die Struktur und Funktion der Texte maßgeblich verändert. 27 Haug geht über die Feststellung eines fehlenden Systemzusammenhangs des Textkorpus hinaus, indem er den Versnovellen per se einen gattungsmäßigen Status abspricht, der diese von dem übrigen Korpus mittelalterlicher Kurzerzählungen unterscheidet: Ich nehme vielmehr jenes Negativergebnis der langen Debatte, das heute festzustehen scheint, zum Ausgangspunkt für einen neuen Zugang, nämlich, dass es eine Gattung ‚Märe‘ nicht gibt, oder allgemeiner formuliert, dass kein literarisches Regelsystem auszumachen ist, das der mittelalter‐ lichen Kurzerzählung über die Vielfalt ihrer Erscheinungen hinweg eine gattungsmäßige Identität zu sichern vermöchte. 28 Als Erzählen im ‚gattungsfreien Raum‘ stehen die Versnovellen demnach in Opposition zu anderen literarischen Formen. Nach Haug, der sowohl narratologische als auch hermeneu‐ 19 2.1 Forschung und Gattungsdiskussion 29 H A U G , Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung, S. 37. 30 Vgl. G R U B MÜL L E R , Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 11-16; ders., Gattungskonstitution im Mittelalter, S. 201-210. Ähnlich auch J A U S S , Theorie der Gattungen, S. 339. 31 Vgl. G R U B MÜL L E R , Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 127-151. 32 Vgl. R E U V E K A M P -F E L B E R , Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. XIIIf.; F R I E D R I C H , Spielräume rhetorischer Gestaltung, S. 227f.; ders., Metaphorik des Spiels, S. 2. 33 Zur Traditionsbezogenheit der literarischen Praxis des Mittelalters siehe E I K E L M A N N , Wissen und Literatur, S. 18: „aus dem interferierenden Zusammenspiel unterschiedlicher lateinischer wie volks‐ sprachlicher, gelehrter wie laikaler, antiker wie aktuell mittelalterlicher, höfischer wie mythischer Vorstellungen [werden] neue Sinnzusammenhänge und Traditionsansätze gewonnen“. tische Überlegungen einbezieht, entziehen sich die mittelalterlichen Kurzerzählungen nicht nur einer fassbaren Form, sondern auch einer konzisen Sinnbildung: Indem sie sich vor allem mit dem Aufzeigen von Unordnung und Kontingenz auseinandersetzen und die Er‐ wartung auf ein sinnstiftendes Ende häufig nicht erfüllen, manifestiere sich in den Texten eine besondere „Freiheit zum Negativen“; die ausgestellte Sinnlosigkeit wird von Haug als narrativer Zweck der Texte bestimmt. 29 Grubmüller dagegen geht von einer gattungsmäßigen Fassbarkeit der Versnovellen aus. Mit dem Konzept der ‚literarischen Reihe‘ entwirft er ein flexibles Ordnungsmuster, das Gattungen nicht als normatives Regelwerk, sondern als ein variables System fortschrei‐ tender Bezugnahmen auf etablierte Muster und Autoritäten fasst. 30 Die mittelalterliche Textualität in ihrem ausgeprägten Traditionsbezug kann über eine historische Gattungs‐ poetik erfasst werden, in der eine gattungsmäßige Ordnung in Form literarischer Reihen in Erscheinung tritt, denen sowohl die adaptierende Bezugnahme auf die Tradition als auch das verändernde Fortschreiben derselben implizit ist. Mit diesem Verständnis von Gattung als Variation von Mustern wird der spezifischen Verfasstheit des durch seinen ausgeprägten Traditionsbezug geprägten mittelalterlichen Literaturbetriebs Rechnung getragen. Auch für die Versnovellen zeichnet Grubmüller eine historische Gattungsentwicklung nach, die im 13. Jahrhundert mit den als dezidiert exemplarisch kategorisierten Texten des Strickers als Grundmuster einsetzt, das sich durch die Adaption schwankhafter Erzählmuster zu einer primär durch Komik gekennzeichneten Gattung entwickelt, deren Kontinuität und gat‐ tungsmäßiger Zusammenhang vor allem in einer Referenz auf tradierte Ordnungsmuster gesehen wird. 31 2.2 Versnovellistisches Erzählen 2.2.1 Tradition und Transgression Nachdem die Diskussion über eine exakte Definition und Systematik der Versnovellen an‐ dere Fragestellungen lange überlagert hatte, 32 erschienen in den letzten Jahren vermehrt Forschungsarbeiten, die sich der Poetik versnovellistischen Erzählens und seinem spezifi‐ schen Zugriff auf die verhandelten Themen und Motive widmeten und die die Texte auch im Kontext ihrer literarischen Traditionszusammenhänge analysierten. 33 Das spannungs‐ volle Verhältnis zur lateinischen Tradition, das kennzeichnend für das volkssprachige Li‐ teratursystem an sich ist und das sowohl auf einer Adaptation der lateinischen Bildungswelt 20 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 34 Spätestens mit der Arbeit von Curtius (vgl. ders, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter) hat sich die Ansicht etabliert, dass die volkssprachige Dichtung des Mittelalters nicht nur maßgeblich durch Prinzipien und Verfahren der lateinischen Tradition geprägt ist, sondern dass die europäische Literatur per se als eine „von der Kontinuität des Lateinischen determinierte Sinneinheit“ verstanden werden muss. (R E U V E K A M P , Verborgen schatz und wistuom, S. 99). Die Kontinuität von lateinischer und volkssprachiger Literatur manifestiert sich zum einen in den zahlreichen Adaptionen antiker Erzählstoffe sowie der großen Wirksamkeit lateinisch-christlicher Texttraditionen, zum anderen in der Bezugnahme auf rhetorische und stilistische Traditionen, die sich auch in den wenigen mittel‐ alterlichen Poetiken widerspiegelt, die als rhetorische Stillehren keine konstante Theoriebildung, aber eine Orientierung an den Mustern antiker Rhetorik vorstellen (vgl. D Ü C H T I N G , ‚Galfried de Vino Salvo‘ in LexMa IV, Sp. 1085; P E P P E R MÜL L E R , ‚Matthäus von Vendôme‘ in LexMa VI, Sp. 400). Ob die Etablierung neuer Literaturformen, die ab dem 12. Jahrhundert in der volkssprachigen Literatur fassbar wird, dabei als Emanzipationsprozess gegenüber der klerikal-lateinischen Tradition und ihren normativen Wertvorstellungen zu fassen ist oder als Transformation innerhalb des weiterhin klerikal geprägten Literaturbetriebs und -diskurses gedacht werden muss, wurde divergent disku‐ tiert. Vgl. u.a. J A E G E R , Die Entstehung der höfischen Kultur; F L E C K E N S T E I N , Miles und clericus; R E U‐ V E K A M P -F E L B E R , Volkssprache zwischen Stift und Hof. 35 Vgl. F R I E D R I C H , Spielräume rhetorischer Gestaltung, S. 228; ders., Metaphorik des Spiels, S. 2f.; G R U B‐ MÜL L E R , Zum Verhältnis von ‚Stricker-Mären‘ und Fabliau, S. 176, S. 186f.; H A G B Y , „Physiologus“, S. 134. 36 F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 145; R A G O T Z K Y , Die ›Klugheit der Praxis‹, S. 50; H E I N Z L E , Geschichte der deutschen Literatur, S. 138. 37 H A G B Y , Parturiunt montes, et exit ridiculus mus? , S. 35. Bei mindestens 28 Kleindichtungen des Strickers sind konkrete Bezüge zu mittellateinischen Texten, zumeist Fabeln, fassbar. Hagby geht von einer genuinen Kenntnis sowohl der homiletischen Exempelsammlungen als auch der unter‐ haltsamen mittellateinischen Novellistik, etwa der Physiologustradition oder der ‚Disciplina Cleri‐ calis‘, aus. Vgl. ebd., S. 36f.; dies., man hat uns fur die warheit…geseit, S. 102. 38 Das lateinische Exemplum und die mittelhochdeutsche lehrhafte Kurzerzählung können in dieser frühen Periode nicht in einem Verhältnis von Vorlage und Adaption betrachtet werden, vielmehr handelt es sich um gleichzeitige Phänomene (vgl. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 207). Auch von Moos konstatiert eine parallele Entwicklung der narrativen, unterhaltsamen volks‐ sprachigen Kurzerzählung und den ‚konventionellen‘ lateinischen Exempla. Vgl. V O N M O O S , Ge‐ schichte als Topik, S. 598f. 39 Vgl. W I L L E R / R U C H A T Z / P E T H E S , Zur Systematik des Beispiels, S. 7. als auch auf einer Emanzipation und Loslösung von deren Paradigmen basiert, 34 ist auch konstitutiv für die Genese der Versnovellen. Die versnovellistischen Texte sind in der Tra‐ dition des lateinischen Exemplums verwurzelt. 35 Insbesondere die Kleindichtung des Strickers, der als erster und traditionsstiftender Repräsentant der versnovellistischen Dich‐ tung gilt, 36 verweist auf die vielfältige Tradition mittellateinischer Lehrdichtung: die Untersuchung der Relation zwischen den mittelhochdeutschen kleinepischen Formen und der zeitgenössischen mittellateinischen Literatur [zeigt] mit erstaunlicher Eindeutigkeit, dass die Suche nach Vorläufern, Modellen und Verwandten der Strickerschen Erzählungen in den Bereich des mittellateinischen exemplum führt. 37 Zumeist sind dabei keine unmittelbaren Vorlagenbeziehungen, 38 aber eine intensive inhalt‐ liche als auch erzähltechnische Prägung erkennbar. Das Argumentieren mit Beispielerzählungen ist seit der Antike ein präsentes Mittel der Plausibilisierung und der Wissensproduktion, 39 wobei von Moos zwei Typen unterscheidet. Das historische Exemplum zielt auf einen beweisenden Vergleich, indem eine historische Figur oder ein historisches Ereignis aufgerufen werden, um mit Hilfe des Geschichtsver‐ 21 2.2 Versnovellistisches Erzählen 40 Vgl. V O N M O O S / M E L V I L L E , Rhetorik, Kommunikation und Medialität, S. 107f.; V O N M O O S , Geschichte als Topik, S. 39-47. 41 H A G B Y , Parturiunt montes, et exit ridiculus mus? , S. 59. Siehe auch V O N M O O S / M E L V I L L E , Rhetorik, Kommunikation und Medialität, S. 111. Ähnlich fasst Grubmüller die narrative Offenheit des Exem‐ lums: „Das Exempel hat für sich genommen keine Struktur. Es ist zumeist erzählend aufgebautes, episodisches Material, das zur Illustration von Aussagen geeignet ist. Überliefert ist es entweder in dieser unselbständigen, dienend-illustrierenden Funktion (z.B. in der Predigt) oder - in den Samm‐ lungen - als zur Verwendung bereitgestelltes Material, als potentieller Textbaustein, der der Form seines Trägertextes mühelos eingepasst werden kann.“ G R U B MÜL L E R , Zum Verhältnis von ‚Stri‐ cker-Mären‘ und Fabliau, S. 187. 42 Im 12. und vor allem 13. Jahrhundert wurden die Exempla in den artes praedicandi als probates Mittel der Belehrung und Erbauung empfohlen, wobei zunehmend weltliche Erzählstoffe integriert wurden. Befördert durch die Entstehung der Bettelorden mit ihrem besonderen Interesse an der Laienbeleh‐ rung stieg die Produktion volkssprachiger Exempelliteratur in der Vielfalt ihrer Gestaltungsformen erheblich an; die Exempla wurden formprägend für die volkssprachige Literatur auch im nicht-kirch‐ lichen Bereich (vgl. H E I N Z L E , Wann beginnt das Spätmittelalter, S. 219; C L A S S E N , Die deutsche Pre‐ digtliteratur des Mittelalters, S. 209ff.; R A U N E R , ‚Exempel, Exemplum‘ in LexMa IV, Sp. 161f.). Von Moos weist das homiletische Exemplum als Sonderfall aus und kritisiert die Festschreibung des Be‐ griffs auf die Tradition der Predigtmärlein. Diese stellen zum einen durch den vorherrschenden Typus der schwankhaften Erzähleinlage eine spezifische Form des exemplarischen Erzählens dar, zum an‐ deren zeitigt diese spezifische Begriffsverwendung eine Bedeutungsverengung einer grundlegenden mittelalterlichen Denk- und Argumentationsform. Vgl. V O N M O O S / M E L V I L L E , Rhetorik, Kommuni‐ kation und Medialität, S. 48f., S. 107f.; V O N M O O S , Geschichte als Topik, S. 113-134; ähnlich K N A P P , Fabulae - parabolae - historiae, S. 100. gleichs die eigene Argumentation zu stützen. In dieser Form ist das Exemplum in das christliche Schrifttum eingegangen und spielt seit den Kirchenvätern eine wichtige Rolle. Mit der Erinnerung an denkwürdige Ereignisse aus der Geschichte oder der Biographie besonderer Personen wird zur Reflexion aufgefordert und christliche Lehre bewiesen. 40 Daneben wurde der Typus des narrativen Exemplums geprägt, das durch eine kurze nar‐ rative Einlage einen übergeordneten moralischen Sachverhalt veranschaulichen soll. Das Exemplum ist dabei weniger als eigenständige Gattung zu verstehen denn als rhetorischer Funktionsbegriff oder argumentative Methode, die von verschiedenen, auch volksspra‐ chigen Erzähltypen oder Gattungen aufgenommen werden kann: Allerdings ist das mittelalterliche exemplum, der antiken Definition entsprechend, ein rein argu‐ mentatives Element, das nur ‚funktionieren‘ muß und gattungsmäßig in keiner Weise gebunden ist, so daß seine Autoren in der Realisierung der exemplarischen Prinzipien eine relative Freiheit genießen. 41 In der Mediävistik ist eine engere Begriffsverwendung etabliert, die das Exemplum sy‐ nonym zum volksprachigen ‚Predigtmärlein‘ als Begriff für die Tradition der illustrativen Kurzerzählungen verwendet, die seit dem 13. Jahrhundert zunehmend in Predigten zur Veranschaulichung ihres Lehrgehalts Verwendung fand. 42 Als eingefügte, unterhaltsame Narration mit der Funktion, ein Anliegen - etwa die heilsame Lehre der Predigt - zu ver‐ anschaulichen, ist das Exemplum vor allem ein Mittel der Persuasion. Sein Zweck besteht nicht (allein) in dem narrativen Gehalt der erzählten Geschichte, sondern vor allem in seiner argumentativen Funktion für ein übergeordnetes Anliegen, es ist 22 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 43 V O N M O O S / M E L V I L L E , Rhetorik, Kommunikation und Medialität, S. 111. 44 Der Diskursbegriff wird hier in einer in der literarischen Praxis etablierten Begriffsverwendung gebraucht, die nicht auf die weitreichenden politischen und soziokulturellen Bedeutungsimplikati‐ onen rekurriert, die vor allem durch die Arbeiten Foucaults gesetzt wurden. Mit Diskurs wird sowohl ein gemeinsamer Redegegenstand von Texten bezeichnet als auch bestimmte Annahmen und epis‐ temologische Basisprämissen, die mit diesem verbunden sind; so etwa der Minnediskurs als Be‐ zeichnung sowohl für den komplex gefüllten Gegenstand Minne als auch für die damit verbundenen konstitutiven Vorstellungen und inhaltlichen Implikationen. Vgl. auch T I T Z M A N N , Skizze einer in‐ tegrativen Literaturgeschichte, S. 406-409, der ‚Redegegenstand‘, ‚Regularitäten der Rede‘ und ‚in‐ terdiskursive Relationen‘ als Charakteristika des Diskurses bestimmt. 45 Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 172. 46 M A G R E T T S , ich han den mut und den sit, S. 131. Siehe auch H A G B Y , Parturiunt montes, et exit ridiculus mus? , S. 36. 47 Nur das ‚normative Beispiel‘ ist nach Willer u.a. auch ein Exempel im eigentlichen Sinne, indem es tatsächlich eine Vorbildfunktion hat. Vgl. W I L L E R / R U C H A T Z / P E T H E S , Zur Systematik des Beispiels, S. 40ff. niemals eine autonome, kontextfreie Erzählung, sondern bleibt stets dem erbaulichen Ziel unter‐ geordnet […]. Es ist vor allem eine argumentative Methode, ein Persuasionsverfahren, das einen Beleg für ein Argument (oder eine „Wahrheit“) beibringt. 43 Der Typus der exemplarischen Erzählung etabliert sich auch außerhalb der homiletischen Verwendung oder anderen rahmenden paränetischen Diskursen als Erzählform, 44 deren konstituierendes Merkmal eine dezidiert lehrhafte Erzählabsicht ist; das Erzählen im Exemplum ist Anlass für eine daraus folgende moralische Belehrung. 45 Das 13. Jahrhundert als Entstehungszeitraum des versnovellistischen Erzählens markiert zugleich die begin‐ nende Hochphase der Exempeldichtung, ein großer Teil der bekannten Exempelsamm‐ lungen ist im 13. und 14. Jahrhundert entstanden: „Das dreizehnte Jahrhundert ist das gol‐ dene Zeitalter der illustrativen moralischen Erzählung, des Exemplums.“ 46 Der moralisierende und belehrende Impetus, der der versnovellistischen Dichtung oft in‐ härent ist und verschiedentlich als eine wichtige Funktion der Texte profiliert wurde, wird als Bestandteil dieses Traditionszusammenhangs verstehbar. Die Versnovellen lassen in Themen, Motiven und ihrer narrativen Struktur einen deutlichen Bezug zur Exempel-Tra‐ dition erkennen, gleichzeitig kennzeichnet sie aber auch eine Transgression der damit ver‐ bundenen inhaltlichen Konventionen, indem sie sich von den Paradigmen einer strikten Lehrhaftigkeit abkehren. Willer/ Ruchatz/ Pethes unterscheiden verschiedene Funktionsweisen des exemplari‐ schen Erzählens. So kann ein Exempel oder Beispiel eine Belegfunktion haben, indem etwas Allgemeines, etwa eine gültige Regel oder Lebensweisheit, belegt und konkretisiert wird. Solche Beispiele haben vor allem eine deskriptive, veranschaulichende Funktion. Das Bei‐ spiel kann aber auch eine dezidiert normative Funktion haben, die auf ethische und andere Normen rekurriert und damit letztlich auf eine Modifikation des Handelns abzielt. 47 Faktisch sind diese beiden Prinzipien in exemplarischen Erzählformen oftmals miteinander ver‐ knüpft, aber die Frage nach der tatsächlichen normativen Reichweite, nach einer plausiblen normativen Intention ist von großer Relevanz für die Profilierung der versnovellistischen Texte. Während das Erzählte in den lateinischen und volkssprachigen Exempla zumeist als Beleg für gültige ethische und moraltheologische Normativitäten erscheint, werden vers‐ 23 2.2 Versnovellistisches Erzählen 48 Besonders augenscheinlich wird die Transformation des exemplarischen Erzählprinzips beim Ver‐ gleich lateinischer Exempla mit stoffgleichen mittelhochdeutschen Versnovellen. Siehe zum Beispiel H O L Z N A G E L , Von diabolischen Rechtsbrechern, der Strickers ‚Der Richter und der Teufel‘ mit dem stoffgleichen Exempel des Caesarius von Heisterbach vergleicht. Vgl. auch L A R G I E R , Diogenes von Sinope, der am Beispiel der Anekdote von Diogenes Begegnung mit Alexander dem Großen vorführt, wie die klassische Exempelgeschichte in der mhd. Kurzerzählung mit einem neuen, offeneren Deu‐ tungshorizont inszeniert wird. Die Bezugnahme auf exemplarische Geltung in versnovellistischen Texten wird im folgenden Kapitel eingehender behandelt. 49 Schirmer stellt insbesondere bei der Beschreibung adligen Figurenpersonals eine wirksame Diskur‐ sivität des Höfischen fest (vgl. S C H I R M E R , Stil-und Motivuntersuchungen, S. 22f.). Ragotzky sieht die Dichtung des Strickers als Ausdruck einer intensiven Auseinandersetzung mit der hochhöfischen Literatur. Vgl. R A G O T Z K Y , Gattungserneuerung und Laienunterweisung, S. 242. 50 Ähnliche Funktionen werden dem frz. Fabliau zugeschrieben, das als literarisches Gegengewicht zur Idealität höfischer Textualität verstanden wird: „It is clear that one of the functions of the fabliaux is to balance by their vulgarity and cynicism the more idealistic discourse of courtoisie and amour courtois.“ (B U S B Y , Fabliaux and the New Codicology, S. 154). Auch Strasser fasst die Versnovellen analog zu den frz. Fabliaux als eine durch parodistische Adaption etablierter Themen gekennzeich‐ nete Textsorte (vgl. S T R A S S E R , Vornovellistisches Erzählen, S. 240-244; S. 314f.). Die Versnovellen ähneln in ihrer Poetik und Funktion in vielem den frz. Fabliaux, die ähnlich den kleinepischen Texten im deutschsprachigen Raum lange als literarisches Randphänomen wahrgenommen wurden und erst durch Nykrogs 1957 veröffentlichte Untersuchung (ders., Les fabliaux) ins Zentrum der literarischen Betrachtung rückten (vgl. B U S B Y , Fabliaux and the New Codicology, S. 137). Zwischen Fabliaux und schwankhaften Versnovellen gibt es stoffliche Ähnlichkeiten, konkrete Vorlagenbeziehungen zu französischen Texten sind aber selten fassbar (vgl. F R O S C H , Schwankmären und Fabliaux, S. 242-249; G R U B MÜL L E R , Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 17-23; K N A P P , Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur, S. 8). Verweise auf das frz. Fabliaux zielen in der vorliegenden Untersuchung nicht auf den Nachweis einer Adaption ab, sondern auf den Vergleich mit einer parallelen Texttra‐ dition, in der ähnliche Prinzipien subversiver Rekurrenz auf literarische Traditionen und ambiger Bedeutungsgestaltung erkennbar sind. 51 ‚Die halbe Birne‘ in Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R . Zur Verfasserfrage siehe S. 260. ‚Die halbe Birne‘ wird heuristisch zur Verdeutlichung des Prinzips der Adaption und Transgression höfischer Erzählmuster genutzt; eine umfassende Textdiskussion und eine auf Vollständigkeit ab‐ zielende Abbildung der Forschungsliteratur ist nicht intendiert. novellistische Texte zumeist in ambiger Perspektivierung der verhandelten Themen ge‐ staltet, so dass sie gar keine plausible normative Gültigkeit vermitteln. 48 Neben der Rekurrenz auf die lateinische und volkssprachige Lehrdichtung kennzeichnet die versnovellistischen Texte auch eine intensive Bezugnahme auf andere literarische Be‐ reiche. Prägend ist die Tradition der höfischen Literatur, 49 die auch in den schwankhaften Texten, die den größten Anteil am versnovellistischen Textkorpus haben, eine wesentliche Rolle spielt. Die Normativität des Höfischen wird als Referenzsystem für das schwankhafte Erzählen genutzt, indem Stoff- und Strukturschemata der höfischen Erzähltradition durch schwankhaftes Personal imitiert und mit typischen Schwankmotiven kombiniert werden. Die Thematisierung von Amoral, Obszönität und Hässlichkeit ist der Idealität des höfischen Romans diametral entgegen gesetzt, aus dieser Provokation der Normativität des Höfischen resultiert wesentlich die Komik und das subversive Potential vieler Schwankerzäh‐ lungen. 50 So zum Beispiel in der ob der Verfasserschaft Konrads von Würzburg umstrittenen Vers‐ novelle ‚Die halbe Birne‘, 51 die parodierend den verabsolutierten Normanspruch des Höfi‐ 24 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 52 Vgl. M ÜL L E R , Die hovezuht und ihr Preis, S. 289. 53 Vgl. M A T E J O W S K I , Das Motiv des Wahnsinns, S. 247f. schen verhandelt. Dabei werden typische Erzählschemata wie die Brautwerbung sowie Strukturprinzipien des Artusromans von Aufstieg, Krise und Reintegration des Helden mit Schwankmotiven verknüpft. Der Ritter Arnolt wirbt um die Tochter eines Königs, die in topischer Referenz auf höfische Darstellungsmodi als vollkommene und rühmenswerte Frau eingeführt wird, welche nur der gewinnen kann, der als Bester aus einem Turnier‐ wettstreit hervorgeht. Arnolt bewährt sich zwar im Kampf, beim abendlichen Festmahl jedoch halbiert er unter Missachtung der Speiseetikette die als Nachspeise gereichte Birne nâch gebiureschlîcher art (V. 86) und verschlingt seine Hälfte, ohne sie zu schälen und weiter zu zerteilen. Am folgenden Turniertag stellt ihn die Prinzessin öffentlich wegen seiner fehlenden hovezühte bloß, so dass sich Arnolt gedemütigt aus der höfischen Gesellschaft zurückziehen muss. Seine Restitution erlangt er durch eine listreiche Episode, mit der die Erzählung die Re‐ gister des Schwankhaften intensiv ausspielt: Verkleidet als Tor und angeblich stumm, begibt er sich wieder ins Schloss, wo er nicht nur zur Belustigung und Unterhaltung der Hofge‐ sellschaft beiträgt, sondern durch sein entblößtes Geschlechtsteil auch die Begehrlichkeit der Prinzessin weckt. Sie lässt ihn heimlich in ihre Gemächer führen; als der vermeintliche Tor sich dort in Liebesdingen desinteressiert und unbeholfen gibt, treibt ihn die Zofe unter Zurufen der Prinzessin mit Hilfe einer Gerte an, bis er endlich den erwünschten Beischlaf vollzieht. Am Folgetag tritt Arnolt wieder zum Turnierkampf an und wiederholt dort öf‐ fentlich die nächtlichen Zurufe der Prinzessin. Um ihrer eigenen öffentlichen Entehrung zu entgehen, willigt sie in die Ehe mit Arnold ein und unterstellt ihm Herrschaft und Besitz. Durch die Wiederholungsstruktur und das Schema Ehrverlust und Restitution werden zwar typische Elemente des Artusromans zitiert, aber mit verschiedenen signifikanten Ab‐ weichungen gestaltet. Statt einen mühsamen aventiure-Weg zu durchlaufen und die verlo‐ rene êre durch ritterliche Bewährung wiederzugewinnen, legt Arnolt in der Rolle des Narren die destruktiven Kräfte des Hofes frei. 52 ‚Die halbe Birne‘ spielt prononciert die Opposition heraus zwischen dem Hof als öffentlichem Raum, der Zentrum aller Wertorientierung ist und êre als leitende Handlungsmaxime vorstellt, und der nicht-öffentlichen Sphäre, in der diese Normativität als eine nur vordergründige entlarvt wird. Die Rolle des Toren - durchaus angemessener Ausdruck für den Ausschluss aus der Gesellschaft - ist von Arnolt freiwillig gewählt. Als stummer, gewalttätiger und schmutziger Narr repräsentiert er alles, was die courtoise Fassade des Königshofes auszugrenzen vorgibt und erlangt gerade in dieser Rolle Genugtuung. Indem die Prinzessin konterkarierend zu ihrer äußerlichen Rolle als Vertreterin des Hofes nach dem Schwankschema des übelen wîp gestaltet und in ihrer ethischen Fragwürdigkeit und Triebhaftigkeit überdeutlich herausgestellt wird, erscheint die Degradierung des Ritters und damit der normative Anspruch des Hofes in einem an‐ deren Licht. Arnolt und sein Ratgeber wissen offenbar um die Diskrepanz zwischen dem zur Schau gestellten Normanspruch und der tatsächlichen Verfasstheit seiner Vertreterin und nutzen diese für die Replik. 53 Mit der Rache als wesentlichem Handlungsmovens und der Bloßstellung der künftigen Ehefrau bricht ‚Die halbe Birne‘ mit einem weiteren wich‐ tigen Prinzip des arthurischen Schemas, indem keine Harmonie der Eheleute erreicht wird; 25 2.2 Versnovellistisches Erzählen 54 Zur sexuellen Metaphorik der Birne, die in zahlreichen Texten für die weibliche Brust, Geschlechts‐ organe oder den Koitus steht, ausführlich T E R V O O R E N , Flachsdreschen und Birnenessen, bes. S. 274f. Nach Schnyder ist die Bedeutungsebene der Vorführung des zügellosen Begehrens der Frau und der Gefahr weiblicher Sexualität sogar wichtiger als die Bloßstellung der formalisierten höfischen Ethik. Vgl. S C H N Y D E R , Die Entdeckung des Begehrens, bes. S. 277f. 55 Vgl. F R I E D R I C H , Spielräume rhetorischer Gestaltung, S. 228f.; S C H I R M E R , Stil-und Motivuntersu‐ chungen, S. 63-73; S C H N E L L , Erzählstrategie, Intertextualität und ‚Erfahrungswissen‘, S. 376-379. Grubmüller weist bezüglich der Figurenkonzeption darauf hin, dass die Figuren in den Versnovellen zwar nicht als Typen, sondern als Einzelne handeln, da aber von ihnen nichts bekannt ist, außer dass sie Bauer/ Ritter/ Ehemann etc. sind, erscheinen sie in den Texten vor allem als Typus und nicht als individuelle Figur (vgl. G R U B MÜL L E R , Zum Verhältnis von ‚Stricker-Märe‘ und Fabliau, S. 173). Zur Literarisierung und Inszenierung sozialer Stereotype in den Versnovellen vgl. auch M ÜL L E R , Noch einmal Märe und Novelle, der beispielhaft das Stereotyp der bösen und listigen Frau als festen Be‐ standteil des narrativen Repertoires des versnovellistischen Erzählens beschreibt. 56 F R I E D R I C H , Trieb und Ökonomie, S. 48. 57 Vgl. ebd., S. 59-69. 58 H A G B Y , „Physiologus“, S. 152. Ähnlich F R I E D R I C H , Spielräume rhetorischer Gestaltung, S. 249. 59 F R I E D R I C H , Trieb und Ökonomie, S. 58. Vgl. auch M ÜL L E R , Noch einmal: Märe und Novelle, S. 289; M A T E J O V S K I , Das Motiv des Wahnsinns, S. 9. Arnolt bleibt seiner Frau gegenüber arcwaenic (V. 480). Das zentrale Motiv der Birne, die als Symbol für Sexualität nicht nur Arnolds Verfehlung provoziert, sondern auch auf die verdeckte Kreatürlichkeit der Prinzessin verweist, wird in der Erzählung so zum Sinnbild der Brüchigkeit einer höfischen Selbstinszenierung. 54 Die Versnovellen arbeiten mit einem festen narrativen Inventar von typisierten Figuren‐ gestaltungen, etwa der bösen Frau oder dem buhlerischen Pfaffen, sowie mit stereotypen Lasterbeschreibungen und Handlungen und verweisen damit auf etablierte literarische Muster und Diskursstrukturen. 55 Die sprachlich und im Handlungsverlauf meist einfach gehaltenen Texte bedienen sich einer komplexen „technisch-rhetorische[n] Kombinatorik, die typisierte Rollen- und Handlungsmuster, Situationstypen und kulturelle Kontexte kom‐ biniert und spielerisch variiert“. 56 Verschiedene Handlungs- und Ordnungsmuster werden miteinander verwoben und gleiche Strukturen durch unterschiedliche Rollen besetzt. 57 So bedingt die Gestaltung von Ehebruchhandlungen entweder mit dem Studenten, dem Ritter oder dem Pfaffen, deren Figurationen jeweils stereotyp gekennzeichnet sind und feste Im‐ plikationen transportieren, auch divergente topische Sinnsetzungen innerhalb des gleichen Erzählschemas. Die Versnovellen wiederholen damit tradierte Erzählmotive und Schemata, aber diese werden immer wieder neu arrangiert und in andere argumentative Register überführt und dadurch in „überraschenden Sinnverlagerungen und Bedeutungsvalenzen“ gestaltet. 58 Indem die Versnovellen „traditionelle Bausteine literarischer Sinnstiftung“ widersprüchlich arrangieren, widersprechen die Texte häufig konventionellen Erwartungen, auch können die eingespielten Normativitäten dabei miteinander konfligieren. 59 Traditionelle Erzähl‐ motive und Schemata werden damit nicht (nur) aufgerufen, um etablierte Deutungen zu reproduzieren, vielmehr werden sie häufig in komplexe Formen überführt, die neue, offe‐ nere Sinnpotentiale entwerfen. Versnovellistische Texte schließen damit zwar an zeitge‐ nössische Diskurse an, aber sie verhandeln nicht einfach deren Geltung, sondern die Vari‐ abilität ihrer Lesbarkeit sowie die vielfältigen Möglichkeiten ihrer literarischen 26 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 60 Vgl. K I E N I N G , Verletzende Worte - Verstümmelte Körper, S. 325f. 61 A U G E / W I T T HÖ F T , Ambiguität in der mittelalterlichen Kultur und Literatur, S. 2. Ambiguität ist zu‐ nehmend Gegenstand der jüngeren mediävistischen Forschungsdebatte, die sich in Abgrenzung von älteren Forschungspostulaten, die Ambiguität vorrangig als Signum moderner Literatur aufgefasst haben, der Frage zuwendet, „inwiefern Ambiguität als generelles Signum für die vormoderne Lite‐ ratur fruchtbar gemacht werden kann“ (ebd., S. 4). Dabei ist Ambiguität, zumeist verstanden als „Mehrdeutigkeit eines Textelements, -aspekts oder des Textganzen“ (B O D E , ‚Ambiguität‘ RL 1, S. 67), nicht nur Ausdruck einer prinzipiellen semantischen Offenheit des Textes, die auf verschiedenen Ebenen erzeugt werden kann, sondern ein grundlegendes kulturelles Phänomen, das sich im litera‐ rischen Text widerspiegelt. Phänomene kultureller Ambiguität kennzeichnen sich durch eine Gleich‐ zeitigkeit konkurrierender Deutungen oder Bedeutungen oder durch die gleichzeitige Bezugnahme auf gegensätzliche Diskurse (vgl. die etablierte Definition bei B A U E R , Die Kultur der Ambiguität, S. 27). Der Begriff steht dabei in enger Überschneidung mit dem der Ambivalenz. Verschiedentlich wird der Begriff der Ambivalenz auf die Bezeichnung widersprüchlicher Verhaltensweisen und psychi‐ scher Verfasstheiten beschränkt (vgl. B A U E R / K L U G E u.a., Dimensionen der Ambiguität, S. 15f.; B O D E , ‚Ambiguität‘ in RL, S. 68) und bietet sich in der literarischen Analyse damit primär zur Kennzeich‐ nung widersprüchlicher Figurenkonzeptionen an. Gestaltung. 60 Mit der Adaption und Transgression tradierter Erzählkonzepte prägen die Versnovellen spezifische Strategien der Ambiguisierung aus, sie markieren einen Texttyp, der auch auf „die bewusst intendierten und/ oder inszenierten Akte von Zweideutigkeit, Gegensatz und (scheinbarem) Widerspruch in ihren jeweiligen kulturellen und literari‐ schen Kontexten“ zu untersuchen ist. 61 Dabei ist die Ambiguität der Versnovellen ver‐ schieden von ambigen Sinnstrukturen, wie sie sich im großepischen Erzählen zeigen. Wäh‐ rend etwa der höfische Roman Ambiguität erzeugt, indem er eine komplexe Welt narrativiert und vielschichtige Sinnbezüge gestaltet, bedingt die Kürze der kleinepischen Erzählungen andere Verfahren der Erzeugung von ambigen Sinnstrukturen, die hier vor allem durch die relativierende Kombination von verschiedenen literarischen Mustern und Geltungskonzepten entstehen. Die Versnovellen stehen beispielhaft für ein Verfahren imitierender Bezugnahme auf Vor‐ gängiges als wesentlichem Konstituens mittelalterlichen Erzählens. Dieses ist nicht nur in der Adaption konkreter Dichtungen und Autoren wirksam, sondern prägt auch den Um‐ gang mit Erzähl- und Gattungstraditionen. Die Narrativierung von bekannten Schemata und Mustern prägt die Sinnsetzungen eines Textes in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist das Wiedererkennen des Schemas wichtiges Moment für das Verstehen, zum anderen be‐ dingt die Kenntnis des zugrunde liegenden Musters aber auch das Erkennen der Differenz, der Abweichung vom Schema. Der Traditionsbezug ermöglicht ein imitierendes Unter‐ laufen der mit bestimmten Erzählformen verbundenen inhaltlichen Erwartungen. Die Adaption von Stoffen, Motiven und narrativen Verfahren kann in einer gezielten Konter‐ karierung und Transformation der üblichen Sinnsetzungen gestaltet werden, die literari‐ 27 2.2 Versnovellistisches Erzählen 62 Das versnovellistische Erzählen wirft damit auch die Frage nach der literarischen ‚Kompetenz‘ auf Seiten der mittelalterlichen Rezipienten auf. Die Texte legen nahe, dass zumindest von einer Ver‐ trautheit mit kulturellen und literarischen Mustern ausgegangen werden kann. Während Henkel für das zwölfte Jahrhundert konstatiert, dass von unterschiedlichen Graden der Rezeptionsfähigkeit ausgegangen werden muss und eine Wahrnehmung der Texte, die über die erzählten Inhalte hinaus auch deren poetische Gemachtheit und abstrakten Sinnebenen erfasst, nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann (vgl. H E N K E L , Litteratus - illeteratus, S. 343ff.), deutet die breite Tradie‐ rung der Versnovellen auf eine ausgeprägtere literarische Kenntnis hin. Vgl. auch S C H N E L L , Erzähl‐ strategie, Intertextualität und ‚Erfahrungswissen‘ S. 368, der konstatiert, dass der Sinn der Texte wesentlich aus dem Zusammenspiel von Text und Rezipientenwissen entsteht. 63 „Dies ist aus der Perspektive neuzeitlicher literarischer Paradigmata schon immer das Auffälligste an der mittelalterlichen Dichtung und ihr Ärgernis gewesen: Ihre Konventionalität, ihre Schema-, Muster- und Traditionsbezogenheit, all jene omnipräsenten Strukturierungen, welche Texte als al‐ lenfalls variierende Wiederholungen, Bearbeitungen, Über- und Fortsetzungen anderer Texte oder überhaupt dessen erscheinen lassen, was immer schon literarisch gesagt worden ist.“ S T R O H‐ S C H N E I D E R , Situationen des Textes, S. 82. 64 Vgl. F R I E D R I C H , Trieb und Ökonomie, S. 58f. 65 M ÜL L E R , Die hovezucht und ihr Preis, S. 281-285. Müller betont an anderer Stelle den Ordnungsdis‐ kurs, der der topischen Figur des übelen wîp implizit ist: „Das übele wîp, verlogen, gewalttätig, sexuell unersättlich, ist das dämonische Zerrbild rechter gottgewollter Ordnung, in der die Frau sich der Leitung des Mannes anzuvertrauen hat, demütig zurückhaltend, tugendhaft sein soll.“ M ÜL L E R , Noch einmal: Maere und Novelle, S. 289. sche Texte als Kontrastimitationen ihrer Prototypen in Erscheinung treten lässt. 62 Dennoch ist der Traditionsbezug der Versnovellen kein rein negierender, denn die Synthese konfli‐ gierender Muster aus unterschiedlichen Diskursbereichen stellt auch ein innovatives Mo‐ ment der Bedeutungsproduktion dar, indem neue Bezugnahmen auf die eingespielten Gel‐ tungskonzepte formuliert werden. Der Traditionsbezug oder die schematische Konzeption, die ein prägendes Merkmal mittelalterlicher Textualität darstellt, 63 wird in den versnovel‐ listischen Texten in besonderem Maße zur Basis ihrer Innovation, indem diese aus den adaptierten Erzählmodellen und narrativen Mustern eigene Paradigmen der Bedeutungs‐ produktion generieren. Die versnovellistischen Texte sind zentriert auf eine Poetik der Transgression, indem sie nicht nur einzelne Motive und Erzählmuster in neue Zusammen‐ hänge stellen, sondern auch das Prinzip exemplarischen Erzählens aus einer primär prag‐ matischen, Belehrung intendierenden Funktionalisierung in eine genuin poetische Litera‐ rizität zu überführen vermögen. 2.2.2 Exemplarizität und Variabilität von Geltung Den Versnovellen ist ein deutlich exemplarischer Impetus eigen, der sich wesentlich aus dem oben beschriebenen Traditionszusammenhang mit dem Typus des Exemplums als rhetorischem Überzeugungsmittel herleitet. Zumeist manifestiert sich der exemplarische Geltungsbezug versnovellistischer Erzählungen in der Rekurrenz auf soziale und religiöse Ordo-Muster. Inhaltlich kennzeichnend für die Versnovellen ist eine enge Verbindung mit sozialen Normierungsprozessen und konventionellen Ordnungsvorstellungen, indem in‐ tensiv Geschlechter- und Sozialbeziehungen behandelt werden. 64 Dabei referieren die Vers‐ novellen nicht auf realhistorische Sachverhalte wie tatsächliche soziale Strukturen und Konflikte, aber sie reflektieren Vorstellungen von sozialen Ordnungen. 65 28 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 66 Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 340f. In den Auslegungen ist zum Teil eine instrumentale Einsetzung etablierter rhetorischer Verfahren nachvollziehbar, indem viele der ab‐ schließenden moralisationes nach dem Schema der argumentatio gestaltet sind. Vgl. ebd., insbes. S. 219f., S. 249. 67 Zum Verhältnis von Lehrreden und Erzählinhalten in den versnovellistischen Texten siehe das fol‐ gende Kapitel. Grundsätzlich zu Darstellungen des Sprechens in den Texten des Strickers neuerdings N O W A K O W S K I , Sprechen und Erzählen. 68 Vgl. z.B. B U S C H I N G E R , L`adaption du thème du „coeur mangé“; O R T M A N N / R A G O T Z K Y , Zur Funktion exemplarischer triuwe-Beweise. 69 Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 206f. 70 Vgl. ebd., S. 11. Am Beispiel der Strickerschen Kurzerzählung führt Hagby aus, dass nicht nur Motive, sondern auch Aufbauprinzipien des mittellateinischen Exemplum übernommen werden, die in den unterschiedlich gestalteten Auslegungen fassbar sind, welche Sinn und Nutzen des Erzählten explizieren. 66 In den Versnovellen wird die exempelhafte Textstruktur damit vor allem durch die häufigen Lehrreden in den Pro- und Epimythien geprägt. 67 Indem die Versnovellen ein kompositorisches Grundelement der Rhetorik fortführen, am positiven oder noch häufiger negativen Beispiel zu demonstrieren, was richtig ist, erzeugen sie auch die Erwartung einer stimmigen Lehrhaftigkeit. Die Exemplarizität wird in der Forschung verschiedentlich als zentrale Funktion der Gattung Versnovelle wahrge‐ nommen, der exemplarische Gestus der Texte wird sogar gleichgesetzt mit tatsächlicher Lehrhaftigkeit und der Gestaltung einer konkreten didaktischen Funktion mit normativer Verbindlichkeit, was sich etwa an der Rezeption des ‚Herzmaere‘ beispielhaft nachvoll‐ ziehen lässt. 68 Insbesondere den Texten des Strickers wird oft eine besondere Lehr- und Beispielhaftigkeit zugeschrieben und das Erzählen im Kontext eindeutiger moralischer Be‐ lehrung gelesen. So führt Hagby in ihren Beispielanalysen die Dichtungen des Strickers immer auf das Moment des Lehrhaften zurück. Dabei konstatiert sie, dass der Stricker, anders als die lateinischen Exempla, vor allem den Typus des ‚parabolischen‘ Exemplum prägt, das als „mehrspuriges Erzählen“ narrative Überschüsse generiert. Die ausgespielte narrative Freiheit und die inhaltlichen Widersprüche würden aber nicht den exemplari‐ schen Charakter, die grundsätzliche Verbindlichkeit einer Erzählabsicht, die auf Belehrung ausgerichtet ist, nivellieren. 69 Hagby unterscheidet dabei ausdrücklich nicht zwischen Bîspel und Versnovelle, sondern untersucht den Bereich der Strickerschen Kurzerzählung insgesamt, der geschlossen auf das gemeinsame Prinzip exemplarischer Lehrhaftigkeit ver‐ weise. 70 Aber eben diese narrativen Überschüsse und Freiheiten, die häufig Inkohärenzen im Schema lehrhaften Erzählens bedingen, sind ein Merkmal, das die Texte des versnovel‐ listischen Korpus in besonderem Maße auszeichnet. Sie stellen damit ein wesentliches Mo‐ 29 2.2 Versnovellistisches Erzählen 71 Bereits Fischer beschreibt die größere dichterische Autonomie als signifikantes Unterscheidungs‐ merkmal zwischen Märe und Bîspel (vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 61; zur Abgrenzung von Versnovelle und Bîspel siehe S. 17ff.). Zwar ist auch diesen Texttypen keinesfalls immer eine kohärente und eindeutige Gestaltung des Lehrhaften eigen, semantische Brüche und Fragwürdigkeiten finden sich auch hier. Dennoch bedingen die zumeist umfangreicheren Narrati‐ onen der Versnovellen, die unter anderem mit einem stärkeren Ausgreifen in den höfischen Roman einhergehen, eine andere Poetik und Rekurrenz auf das exemplarische Erzählmoment. Der größere Umfang der versnovellistischen Texte geht oft mit einer gesteigerten Komplexität einher; indem mehr Raum vorhanden ist für die Zusammenführung verschiedener Muster und Erzähllogiken, können andere Formen der Ambiguisierung gestaltet werden. Dagegen ist den kürzeren Texttypen Fabel, Exempel und Bîspel ein geringeres ‚Eigenleben‘ in der Narration eigen; das lehrhafte Moment, auch wenn es fragwürdig erscheinen kann, wird im Gegensatz zur Versnovelle stärker fokussiert. 72 R A G O T Z K Y , Gattungserneuerung und Laienunterweisung. Haug verweist dagegen auf eine Untersu‐ chung von Stutz (dies., Versuch über mhd. kündekeit), die den Terminus ‚kündekeit‘ in der zeitge‐ nössischen didaktischen Literatur untersucht und nachweist, dass dieser durchweg negativ konno‐ tiert war. Dass der Stricker, der den Begriff im Übrigen nur einmal dezidiert verwendet, hieraus ein moralisches Konzept formt, sei vor diesem Hintergrund wenig plausibel. Vgl. H A U G , Schlechte Ge‐ schichten, S. 19ff. 73 R A G O T Z K Y , Gattungserneuerung und Laienunterweisung, S. 89. 74 Ebd., S. 133. 75 Vgl. G R U B MÜL L E R , Das Groteske im Märe, S. 40-45. Auch Eichenberger liest die Kleinepik des Strickers als Vermittlung eindeutiger moralischer Ordnungskonzepte: Für den Stricker gäbe es „nur eine mo‐ ralische Richtschnur, die von Gott eingesetzte Ordnung“, die er „in didaktischem Diskurs transpa‐ rent“ mache. E I C H E N B E R G E R , Geistliches Erzählen, S. 179f. ment für die generische Unterscheidung von anderen kleinepischen Textsorten wie den Exempla, Fabeln und Bîspeln dar. 71 Ragotzky stellt in ihrer Untersuchung das Motiv der gefüegiu kündikeit als zentrales Mo‐ ment im Erzählen des Strickers heraus, die hier trotz ihrer semantischen Korrelation mit list und triegen aber nicht als negative Kategorie erscheine, sondern positiv umsemantisiert würde zu einer ‚Handlungsethik‘ der Verstandesleistung. 72 Die gefüegiu kündikeit als pra‐ xisbezogene Fähigkeit bedinge eine „situationsgemäße Realisierung von wîsheit“ und er‐ mögliche es den Protagonisten der stets auf exemplarische Rollenbeziehungen und Rechts‐ vorstellungen bezogenen Texten, entweder die verletzte Ordnung zu restituieren oder die zur kündikeit unfähige Person zu zerstören. 73 In beiden Fällen ziele die gefüegiu kündikeit letztlich auf die Verwirklichung gottgewollter Ordo ab: kündikeit ist […] das Thema der Mären. gefüegiu kündikeit wirkt sozial konstruktiv, sie zielt ab auf die Wahrung oder Wiederherstellung von Recht, sie sichert und initiiert das ordogemäße Zusam‐ menspiel der Rollen und ist in diesem Sinne Bedingung für die Verwirklichung des von Gott ge‐ setzten Ordnungsentwurfs der Welt. 74 Grubmüller spitzt die Deutung der Stricker-Texte als ordokonforme Erzählungen weiter zu, indem er diese als Exempel für die Notwendigkeit der Beachtung der gottgewollten Le‐ bensordnung liest. Er spricht den Dichtungen des Strickers als typenbildender Form der Versnovellen weitgehend kohärente Sinnsetzungen zu: Zumeist erfolge eine Störung der Ordnung und deren Restitution durch Einsicht oder List; die Erzählmechanik basiere we‐ sentlich auf dem Schema von Ordnungsverstoß und Replik. 75 Im historischen Gattungs‐ verlauf würden diese traditionellen Ordnungsmodelle allmählich einer relationaleren Gel‐ 30 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 76 G R U B MÜL L E R , Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 187; vgl. auch ders., Das Groteske im Märe, S. 50-54. Auch Heinzle sieht in der „Gesamtgruppe der kleineren Erzählungen“ die Exemplarizität als verbindendes Merkmal, indem fast alle Texte auf direkte Belehrung ausgerichtet seien. Vgl. H E I N Z L E , Geschichte der deutschen Literatur, S. 139. 77 ‚Der begrabene Ehemann‘ in Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R . 78 Vgl. R A G O T Z K Y , Gattungserneuerung und Laienunterweisung, S. 102-110. Ähnlich bei G R U B MÜL L E R , Das Groteske im Märe, S. 42. tung von Normen weichen, die bis hin zur Narrativierung von Kontingenzerfahrung und Absurdität reiche, wie sie vor allem in den Texten Heinrich Kaufringers fassbar werde. Das versnovellistische Erzählen würde aber weiterhin auf das konstituierende Schema des Ord‐ nungsdiskurses als „lehrhafte Gattungserwartung“ referieren. 76 Die Lesart der Ordo-Bestätigung ist bei dem ersten von Ragotzky ausgeführten Beispiel ‚Der kluge Knecht‘ plausibel: Indem der Protagonist raffiniert die Untreue der Ehefrau seines Herren enttarnt, kann tatsächlich Ordnung wiederhergestellt werden, denn der Ehe‐ mann wird ins Bild gesetzt, die untreue Frau bestraft und der loyale Knecht belohnt. Bei anderen von Ragotzky angeführten Beispielen erweist sich die Lesart einer Bestätigung von Ordnung aber als nur begrenzt funktionierend, indem verschiedene Störmomente einge‐ spielt werden: So wird Strickers ‚Der begrabene Ehemann‘ als weiteres Beispiel angeführt. 77 Die Vers‐ novelle beginnt ohne Promythion unvermittelt mit dem emphatischen Minnebekenntnis eines Mannes an seine Frau, die daraufhin einen Beweis für seine große Liebe fordert. Weil sie es als die größtmögliche Kränkung darstellt, wenn ein Mann seiner Frau nicht glaubt, leistet er einen Eid, ihr künftig in allem, was sie sagt, Glauben zu schenken. Als Probe aufs Exempel erklärt sie ihrem Mann zur Mittagszeit, es sei bereits Abend und Zeit zum Schlafen. Auf seinen Widerspruch reagiert sie mit tiefer Kränkung, weil er ihr zu Liebe nicht bereit war, diesen einfachen Beweis seiner Zuneigung zu erbringen. Die nächste Probe, eine Wanne eiskalten Wassers als warmes Bad zu akzeptieren, lässt er daher klaglos über sich ergehen und wird für lange Zeit mit liebevoller Behandlung belohnt. Als die Frau eine Buhlschaft mit einem Pfaffen eingeht, wird ihr der eigene Mann lästig, und so folgt eine dritte und finale ‚Liebesprobe‘: Sie erklärt ihrem Mann, dass er todkrank wäre und der Sterbesakramente bedürfe. Der Mann, der an eine erneute Probe glaubt, die ihm weiterhin sein glückliches Eheleben sichern wird, legt sich bereitwillig auf das ‚Ster‐ bebett‘, empfängt von seinem Nebenbuhler die Sakramente und lässt sich zur Kirche und zu Grabe tragen. Erst als er erkennt, dass er tatsächlich begraben wird, schreit er aus seinem Grab um Hilfe, die ihm aber versagt bleibt: Der Pfaffe erklärt den anwesenden Gemeinde‐ mitgliedern das Schreien des lebendig Begrabenen als Wüten des Teufels, der von dem Verstorbenen Besitz ergriffen habe. Ragotzky attestiert dem Ehemann eine Normverletzung, die in seinem übermäßigen Minnebekenntnis bestehe. Sein Eid, mit dem er sich bedingungslos der Deutungshoheit seiner Frau unterstellt, leite nicht nur einen Prozess der Selbstaufgabe ein, er stelle auch einen Verstoß gegen die patriarchale Hierarchie dar. Sein grausames Schicksal sei damit nicht nur Strafe für seine Ehe- und Rechtsunfähigkeit, die Eliminierung seiner Person stelle auch eine Restitution der Ordnung dar. 78 Diese Lesart ist aber keineswegs so kohärent in der Erzählung angelegt. Zweifellos wird die fehlende Dominanz des Mannes thematisiert 31 2.2 Versnovellistisches Erzählen 79 R A G O T Z K Y , Gattungserneuerung und Laienunterweisung, S. 102. 80 In ihrer Darstellung vielfältiger Formen der Destruktion wie körperlicher und verbaler Gewalt bieten die Kurzerzählungen nur selten Erklärungen des Negativen an, auch bleiben moralisierende Ein‐ ordnungen etwa von Täter und Opfer manchmal unscharf, womit auf die Unmöglichkeit einsträn‐ giger Lektüren verwiesen wird. Vgl. K I E N I N G , Verletzende Worte - Verstümmelte Körper, S. 326f. 81 Dass das für die Schwankdichtung gattungskonstituierende Motiv der list mindestens eine moralisch fragwürdige Kategorie ist, stellt Röcke am Beispiel des Schwankromans umfangreich heraus. Röcke konstatiert stattdessen einen schematischen Ordo-Bezug in malo, indem die Schwankhelden als de‐ zidiert negative Figuren das Auseinanderbrechen einer zuvor fest gefügten Ordo versinnbildlichen würden. Vgl. R ÖC K E , Die Freude am Bösen. 82 ‚Das heiße Eisen‘ in Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R . und in dem knappen Epimythion auch als Grund für seinen Schaden benannt. Aber ob das emphatische Liebesbekenntnis, das den Auftakt der Handlung bildet, tatsächlich mit Ra‐ gotzky als Verstoß gegen „eine ausbalancierte Minne- und Ehebeziehung“ gedeutet werden muss, 79 ist fraglich, gehören solche formelhaften Liebesbeteuerungen doch zum konsen‐ sualen Inventar höfischer Minnerhetorik. Zwar zeigt sich die Frau in ihrer auf argumenta‐ tiver Fähigkeit basierenden kündikeit als ihrem Mann überlegen, aber der Ehemann ist keineswegs von vornherein ein Minnetor, dessen Unfähigkeit eine Sanktionierung recht‐ fertigt. Mit seinem Liebesbekenntnis und dem Wunsch, den Willen der Frau zu erfüllen, wird das normative Moment des Minnediskurses eingespielt und rhetorisch erfüllt. Erst das Insistieren der Frau auf dem Beweis seiner Liebe weist ihm die Rolle des Toren zu, wobei der Mann aber die Absurdität ihrer Behauptungen sehr wohl erkennt; er glaubt weder an die falsche Tageszeit noch an das warme Badewasser, schon gar nicht an seine tödliche Erkrankung, aber die geforderten Liebesbeweise scheinen ihm ein akzeptabler Preis für ein angenehmes Eheleben. Das Verhalten des Mannes transportiert einerseits eine Verletzung patriarchalischer Normen, andererseits resultiert es aus einem durchaus ordokonformen Verhaltenskonzept, das in seiner destruktiven Konkretisierung vorgeführt wird. Auch wenn man die Demonstration von kündikeit und die Sanktionierung fehlender Dominanz als konstituierenden Inhalt der Erzählung akzeptiert, bleibt die Deutung der Tötung des Ehemannes als Verwirklichung von Ordo problematisch, denn der Normbruch der ehebrechenden Frau und des buhlenden Pfaffen als moralisch deutlich defizienteren Figuren bleibt ohne Sanktionierung und wird aus der belehrenden Auslegung des Epimy‐ thions ausgeblendet. Auch wird mit dem Handeln der Frau, das in seiner Kaltblütigkeit und seinem taktischen Kalkül herausgestellt wird, 80 deutlich vorgeführt, dass die Fähigkeit zur kündikeit mindestens ebenso Normverletzungen bedingt wie die Absenz dieser Kompe‐ tenz. 81 Ähnlich sperrig gegenüber einer plausiblen normativen Sinnkonzeption verhält sich Strickers ‚Das heiße Eisen‘, das die Institution des Gottesurteils aufgreift, die unter anderem durch Gottfrieds ‚Tristan‘ ein etabliertes literarisches Motiv darstellt. 82 Der von seiner Frau zwecks Beweis seiner Treue zum Tragen eines glühenden Eisens aufgeforderte Ehemann besteht die Probe unbeschadet, indem er dieses heimlich mit einem schützenden Holzspan anhebt. Als er wenig überraschend eine Gegenprobe fordert, gerät die Frau in Verlegenheit und beichtet sukzessive mehrere Fehltritte, für die sie um Nachsicht bittet. Letztlich wird ihr die Prüfung aber nicht erspart, sie zieht sich schwere Verbrennungen zu. Als der Ehe‐ mann die verbrannte Hand verbinden will, weist die Frau ihn zurück, die Hand sei zu sehr 32 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 83 Vgl. B E C K E R , ‚Gottesurteil‘ in LexMA IV, Sp. 1594. 84 Vgl. Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R , S. 1039. 85 Vgl. K A R N E R , Täuschung in Gottes Namen, S. 102-115. verbrannt, um sie zu heilen. Der Ehemann reagiert mit Empörung: als er daz hôrte unde sach,/ ûz grôzem zorne er dô sprach: / hie ist dîn triuwe worden schîn (V. 185ff.); voll Zorn kündigt er die eheliche Harmonie und Zuneigung auf. Die Feuerprobe kennt zwei Arten des ‚Bestehens‘, indem der Geprüfte entweder unver‐ letzt bleibt oder aber das schnelle Abheilen der Verbrennung als Unschuldsbeweis gilt; 83 ob ‚Das heiße Eisen‘ auf beide oder nur die erste Variante rekurriert, kann nicht eindeutig entschieden werden. Der vom Ehemann bereitgehaltene Verband kann Bestandteil der Probe sein, was seinen Zorn nach der erklärten Irreversibilität der Verletzung plausibilisiert. Das Verbinden kann aber auch einen Versuch zur Wiederherstellung der ehelichen Ge‐ meinschaft darstellen, indem er der Frau nach der erfolgten Sanktionierung ‚Heilung‘ an‐ bietet, die diese aber verweigert und damit seinen Zorn auslöst. Neben der Erzählung des Strickers sind auch exempelhafte Fassungen des Erzählstoffes tradiert. Hier wird eine eindeutige exemplarische Geltung entworfen, indem das Exempel sowohl die Wirkung der Buße als auch die Funktionalität des Gottesurteils demonstriert: Durch die vorherige Beichte des Ehebruchs bei einem Geistlichen kann die Frau die Prüfung am heißen Eisen unbeschadet bestehen. 84 Dagegen verweigert sich ‚Das heiße Eisen‘ einer vergleichbaren exemplarischen Gül‐ tigkeit. Zwar lässt sich die Bloßstellung und Bestrafung der Ehefrau als normatives Moment fassen, denn das grundlose Einfordern des Treuebeweises als Aufbegehren gegen die ehe‐ liche Hierarchie wird sanktioniert. Aber zugleich wird exemplarische Eindeutigkeit und kohärente Sinnstiftung verweigert, indem die vordergründig verhandelte Normativität der ehelichen Treue unbeantwortet bleibt. Formal folgt die Erzählung zwar dem Schema des Gottesurteils von ‚Prüfung - Beweis der Unschuld‘ im ersten sowie ‚Prüfung - Offenlegung der Schuld - Strafe‘ im zweiten Fall. Aber tatsächlich wird der Ehebruch der Frau nicht erst durch die Verbrennung der Hand offenkundig, sondern ist bereits gestanden worden. Ob der gestandene Ehebruch tatsäch‐ lich stattgefunden hat oder das Geständnis schlicht aus Angst vor der Feuerprobe erfolgte, an deren Bestehbarkeit die Frau gar nicht glaubt, wird sowenig beantwortet wie die Frage nach der Treue des Mannes, der das glühende Eisen durch List bewältigt hat. Der Text spielt mit der vermeintlichen Normativität des Gottesurteils, das sich als vollkommen irrelevant erweist, denn die Prüfung am heißen Eisen leistet keinerlei Beitrag zur Erkenntnis. Die Eisenprobe dient nicht der Wahrheitsfindung, sondern wird durch die Eheleute in einem Kampf um eheliche Macht instrumentalisiert. Zunächst glaubt die Frau zu triumphieren, weil sie ihrem Mann durch die willkürliche und nicht-legitimierte Anklage die Prüfung auferlegen kann. Der Mann wiederum nutzt das glühende Eisen in seiner Replik als Kör‐ perstrafe für das Aufbegehren, vielleicht auch für den gestandenen Ehebruch der Frau. 85 Die eigentliche Funktion des Gottesurteils wird dabei ad absurdum geführt; mit der aus‐ gestellten Irrelevanz und Hintergehbarkeit des Wahrheitsinstruments wird auch die Mög‐ lichkeit sicherer Erkenntnis und Eindeutigkeit negiert. 33 2.2 Versnovellistisches Erzählen 86 Kritisch zu Grubmüllers Fokussierung der exemplarischen Funktion F R I E D R I C H , Trieb und Ökonomie, S. 50ff.; K I E N I N G , Verletzende Worte - Verstümmelte Körper, S. 326f.; weiterhin W A L T E N B E R G E R , Si‐ tuation und Sinn, S. 290, der eine Rezeption problematisiert, die nur den unmittelbaren Diskursbezug der Texte analysiert und die Verhandlung von Normen pauschal mit einer Einordnung in überge‐ ordnete Normativitäten gleichsetzt. 87 Siehe z.B. W A L T E N B E R G E R , Der vierte Mönch zu Kolmar, der am Beispiel der Versnovelle ‚Die drei Mönche zu Kolmar‘ vorführt, wie das Erzählen weder Ordnung noch ihr Gegenteil vermittelt, son‐ dern durch das Unterlaufen etablierter Deutungsmuster die Erwartung derselben in Frage stellt. So wird die anfängliche Empörung über die Amoral der Kleriker durch die Perfidität des Opfers kon‐ terkariert, denn die Frau stimmt dem brutalen und auf Bereicherung zielenden Plan ihres Ehemannes bereitwillig zu, weiterhin zeigen beide keinerlei Reue angesichts der Tötung des vierten Mönches. Auch ist das Epimythion mindestens fragwürdig, denn hier wird die Gerechtigkeit der Strafe für die ersten Mönche herausgestellt, das Schicksal des Vierten aber mit keinem Wort erwähnt. 88 Vgl. R A G O T Z K Y , Die ›Klugheit der Praxis‹. Ähnlich Strasser, die die Versnovellen als eine im weitesten Sinne didaktische Gattung sieht, die aber nicht exemplarisch im engeren Sinne sei, sondern nur partiell gültige praktische Lebensregeln formuliere. Das von Ragotzky definierte Prinzip der kün‐ digkeit sei dabei ein wichtiges Element vor allem des schwankhaften Erzählens, es bezeichne die Fähigkeit, missliche Situationen durch kluges, schlagfertiges Agieren zu meistern und markiere damit eine eigene Wertigkeit, die mit typischen Moralvorstellungen kollidieren könne. Vgl. S T R A S S E R , Vornovellistisches Erzählen, S. 176-181. Es ist zweifellos zutreffend, dass der Ordobezug wesentlicher Gegenstand der diskursiven Verhandlung im versnovellistischen Erzählen ist, insbesondere in den Erzählungen des Strickers. Das vorgestellte Konzept der Bestätigung normativer Ordnungsvorstellungen trägt aber nur bei positiv konzipierten Texten wie ‚Der kluge Knecht‘, in denen tatsächlich Gerechtigkeit und Ordnung hergestellt werden. In den ‚Negativbeispielen‘ wie ‚Der begra‐ bene Ehemann‘ oder ‚Das heiße Eisen‘ lösen sich die Texte mit ihren narrativen Über‐ schüssen und Störmomenten dagegen nicht vollständig in diesem Interpretationsschema auf. Die wenigsten Versnovellen vermitteln eine kohärente Exemplarizität oder gar dezidierte Didaxe, auch die Strickertexte können nicht durchgehend als apodiktische Demonstration der Gültigkeit von Normen gelesen werden. 86 Das genuine Thema der Versnovellen ist nicht das Aufzeigen von Ordnungsstrukturen und den Konsequenzen ihres Nicht-Befolgens, denn die Erwartung an kohärente und immer gültige Ordnungsmuster bleibt zumeist un‐ erfüllt und wird durch kontingente Perspektiven unterlaufen. 87 Gerade weil das Glück in den Versnovellen zumeist mit den Klugen ist, unabhängig von deren moralischer Integrität, tritt an die Stelle einer stringenten exemplarisch-normativen Logik, die auf dem Modell Ordnungsverstoß-Sanktionierung basiert, durch das Ausspielen der moralisch uneindeu‐ tigen Kategorien von list und kündikeit eine andere, poetische Erzähllogik, die nicht mehr der Bestätigung einer kohärenten Normativität verpflichtet ist. Auch Ragotzky grenzt in einem späteren Beitrag das Konzept der kündikeit von dem vorgestellten exempel-ähnlichen Textverständnis und einer dezidiert lehrhaften Funktio‐ nalisierung ab. Indem sie die Stricker-Texte nicht mehr als schematisches Aufzeigen der Notwendigkeit von Ordo, sondern als Verhandlung der Frage beschreibt, wie angesichts unklarer Bedingungen klug gehandelt werden kann, interpretiert sie die kündikeit vor allem als Fähigkeit zu situationsgemäßem Handeln. 88 Diese Modifizierung trägt zwar den unein‐ deutigen Normbezügen der Texte Rechnung, impliziert allerdings eine pragmatische Lesart der versnovellistischen Dichtung, die zum Anschauungsmaterial für das Handeln in einer 34 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 89 J A N O T A , Geschichte der deutschen Literatur, S. 265. Janota perspektiviert die volkssprachige Litera‐ turproduktion des ausgehenden 13. und 14. Jahrhunderts per se als Ausdruck eines Bemühens um Orientierung. Vgl. ebd., S. 265f. 90 Für Haug stellt das Aufzeigen von Kontingenz das primäre Erzählziel der Versnovellen dar, die den nicht lösbaren Widerspruch zwischen einer gültigen Ordo und der Komplexität der Welt vorführen. Die behauptete Geltung der Ordo würde als leere Form entlarvt, der narrative Sinn der Versnovellen bestünde damit in der Darstellung von Sinnlosigkeit und im Aufzeigen der Unordnung als intellek‐ tuellem Vergnügen. Vgl. H A U G , Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung, S. 8-18; ders., Die Lust am Widersinn, S. 356ff. 91 W A L T E N B E R G E R , Situation und Sinn, S. 294. Das „Lernziel“ der situationsbezogenen Interpretations- und Handlungskompetenz wird zumeist durch die kontextuelle Valenz zu anderen Texten ausge‐ drückt, einigen Texten ist sie aber auch auf der Ebene des Einzeltextes inhärent (ebd., S. 303). 92 Vgl. ebd., S. 303. 93 Ebd., S. 302. 94 K I E N I N G , Verletzende Worte - Verstümmelte Körper, S. 326. Die Versnovellen zeigen auch, dass die Geltung von Normen entscheidend von der Perspektive abhängt; das Handeln orientiert sich häufig an Teilsystemen, wobei eine Einheit oder Hierarchie unter Umständen nicht mehr entscheidbar ist. Vgl. W A L T E N B E R G E R , Kein Zufall, S. 231. durch Kontingenz geprägten Welt gemacht wird. Janota formuliert diese funktionale Zu‐ schreibung noch prägnanter, indem die Versnovellen zum Ausdruck einer Suche nach Le‐ bensorientierung erklärt werden. Durch lehrhafte Einzelbeispiele würden die Texte vor‐ führen, wie man durch Rationalität im Leben bestehen kann. Gerade die schwankhaften Texte böten dabei durch die Demonstration von Klugheit Identifikationsangebote und kon‐ krete Belehrung: „es ist offenkundig das Prinzip der Rationalität, von dem man sich Ori‐ entierung in einer komplexen Welt versprach.“ 89 Mit der Vermittlung von Handlungsklugheit und Kontingenzbewältigung kann die aus‐ gestellte Ambiguität der Texte aber nicht sinnhaft gemacht werden, ebenso wenig erschöpft sich diese in der Narrativierung der Kontingenzerfahrung an sich. 90 Waltenberger fasst den Geltungsbezug der Versnovellen als „kontextuelle Valenz“, 91 mit der die Situationsgebun‐ denheit von Normen als Erkenntnispotential vermittelt wird. Dem ist nicht nur ein negie‐ rendes oder auflösendes, sondern auch ein stabilisierendes Moment inhärent: Indem die Texte die Situationsgebundenheit oder Unentscheidbarkeit von Normen aufzeigen, fordern sie zur Reflexion der Verbindlichkeit von Geltungsmustern auf und festigen das Wissen über die Relationalität von Geltung. 92 Das von Ragotzky formulierte Prinzip der kündikeit wird damit modifizierend aufgegriffen und stellt sich gerade dann als wesentliches Kon‐ stituens heraus, wenn sich die Exemplarizität des Märe nicht auf eine situationsabstrakte Universalität substantieller Werte be‐ zieht, sondern mit Ragotzky den variablen Situationsbezug selbst zur moralischen Kategorie er‐ hebt, die im Märe exemplifiziert werden soll. 93 Dabei werden nicht unbedingt die verhandelten Normen an sich in Frage gestellt, sondern die Universalität ihrer Gültigkeit: „die doppelte Logik der Kurzerzählungen […] suspendiert einen sozialen Sinn nicht einfach, wohl aber umspielt sie die Fragilität seiner Bedin‐ gungen.“ 94 Damit lösen sich die Versnovellen von der ursprünglichen Funktion exemplari‐ schen Erzählens, denn sie gestalten das Erzählte gerade nicht als eindeutigen Beleg für eine 35 2.2 Versnovellistisches Erzählen 95 V O N M O O S / M E L V I L L E , Rhetorik, Kommunikation und Medialität, S. 124. In dieser Transformation des Exemplarischen, das eine Regel in Frage stellt anstatt sie zu beweisen, sehen von Moos/ Melville ein Signum der Novelle. 96 B R O W N , Boccaccio’s fabliaux, S. 100. 97 Vgl. K I E N I N G , Verletzende Worte - Verstümmelte Körper, S. 321; F R I E D R I C H , Metaphorik des Spiels, S. 3ff. 98 Ebd., S. 4. 99 Vgl. ‚Die Buhlschaft auf dem Baume‘ in Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R . 100 Die Linde transportiert als Rechtsbaum nicht nur Konnotationen eines Rechtsdiskurses (vgl. D A X E L‐ MÜL L E R , ‚Linde‘ in LexMa V, Sp. 1998f.), sondern verweist auch auf die Semantiken des Liebesbaumes, was einen intertextuellen Verweis auf Walther von der Vogelweide einschließen kann, indem die Situierung der Liebe in einer Naturszenerie parodierend aufgegriffen wird. Vgl. auch G R U B MÜL L E R , Novellistik des Mittelalters, S. 1119, der die Linde unter Verweis auf Walther von der Vogelweide und die ‚Carmina Burana‘ als topischen Baum der Liebesbegegnung ausweist. konkrete Lehre, sondern inszenieren eine die „Allgemeingültigkeit sprengende Erfahrung des Konkreten“. 95 Die Versnovellen können, analog zu den französischen Fabliaux, als Anti-Exempel ver‐ standen werden, indem sie statt konkreter Didaktisierung Pluralität und ein variables Normverständnis transportieren und zu eigenständiger Lektüre aufrufen: In terms of genre, the fabliaux do represent a kind of anti-exemplum because they insist on multiple readings and interpretations removed from a moral framework. […] the fabliaux are not exempla-in-malo, studies of how not to live and behave, but rather examples of how to read. 96 Die Narrativierung von Kontingenz und die Absage an normative Gültigkeiten bedingen eine kulturelle und literarische (Selbst)Reflexion, deren Gegenstand auch das traditions‐ stiftende exemplarische Erzählprinzip selber ist. 97 Die Texte sind oft nur noch strukturell exemplarisch, ohne auf ein tatsächliches normatives Moment abzuzielen: „Das Erzählen entfernt sich von einer funktionalen Lehre und referiert zunehmend auf sich selbst.“ 98 Eine fragwürdige Inszenierung des exemplarischen Erzählmoments gestaltet zum Beispiel die anonym überlieferte Versnovelle ‚Die Buhlschaft auf dem Baume‘. Erzählt wird von einem blinden Mann und seiner schönen jungen Frau, die er eifersüchtig zu überwachen sucht, indem er sie nachts mit eisernen Fesseln an ihr Bett bindet. 99 Die übergroße huote nützt ihm nichts, denn die Frau verabredet ein Stelldichein mit einem Studenten und erweist sich in ihrem Handeln als ganz dem Schema der listreichen Ehebrecherin entsprechend. Sie gibt vor, auf einen Baum klettern zu wollen, um sich Äpfel zu pflücken; den misstrauischen Ehemann fordert sie auf, den Stamm zu umfassen, damit er sicher sein kann, dass ihr nie‐ mand auf den Baum folgt. Tatsächlich wartet im Wipfel des vermeintlichen Apfelbaumes, der in Wahrheit eine Linde ist, bereits der Student mit einem Vorrat an Äpfeln, die er wäh‐ rend des Liebesspiels hinunterwirft. 100 Der ausgefeilte Betrug wird Gegenstand moraltheologischer Verhandlung von höchster Instanz, indem Christus und Petrus, wie gewöhnliche Figuren vorbeispazierend, Zeugen des Geschehens werden. Als der empörte Petrus verlangt, den Blinden sehend zu machen, gibt Christus zu bedenken, dass die Frau auch in diesem Fall eine passende Antwort finden würde. Er gestaltet das Geschehen zu einer exemplarischen Vorführung der Frauenlist für den unwissenden Petrus: so wil ich dich lassen sehen/ wie die fraue wirt jehen (V. 149f.). Er 36 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 101 Vgl. S L E N C Z K A , Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle, S. 155f. Zu ‚Die Buhlschaft auf dem Baume‘ vgl. auch E I C H E N B E R G E R , Geistliches Erzählen, bes. S. 59ff. gibt dem Blinden sein Augenlicht wieder, der sofort die Ehebrecher töten will. Als die Frau aber den Beischlaf als planvolles Handeln darstellt, das allein auf diese Wunderheilung abzielte, lässt er nicht nur von seiner Rache ab, sondern belohnt den Studenten dankbar mit einem Geldgeschenk. Dass die Behauptung der Frau nicht einmal falsch ist, denn tat‐ sächlich verhalf das himelisch kint (V. 168) zu der Heilung des Ehemannes, gehört zu den doppelbödigen Petitessen, die ‚Die Buhlschaft auf den Baume‘ zu einem eindrucksvollen Beispiel für die beiläufig eingespielten Ironisierungen des versnovellistischen Erzählens macht. Als Petrus hinzutritt, um dem ehemals Blinden persönlich die Wahrheit über das Geschehen darzulegen, beweist die Frau erneut ihre Schlagfertigkeit. Bevor der Heilige zu Wort kommen kann, behauptet die Frau, Petrus sei ihr heimlicher Liebhaber gewesen, der jetzt die Heilung des Blinden rückgängig machen wolle, um die Liebschaft fortzusetzen. Abschließend werden nicht etwa die Ehebrecher, sondern der mühsam vor der Attacke des Ehemannes geflüchtete und auf Rache sinnende Petrus belehrt: Christus erinnert an sein Selbstopfer für den sündigen Menschen und verweist auf seine unendliche Gnade für den reuigen Sünder. ‚Die Buhlschaft auf dem Baume‘ führt nicht nur ein vielschichtiges Spiel um Sehen und Erkennen vor, sondern verhandelt auch das Prinzip exemplarischer Geltung. Christus selber formuliert die Lehrrede und gibt der exemplarischen Geltungsbehauptung damit beson‐ deres Gewicht. Seine Lehrrede führt einerseits einen allgemein gültigen Glaubenssatz vor, indem Christus an die Vergebung aller Sünden erinnert und die profane Ehebruchhandlung in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang einordnet. Gleichzeitig bedingt schon das ganz unmotivierte Auftreten der geistlichen Figuren, die wie gewöhnliche Schwankfiguren agieren, eine Einschränkung der Dignität des Geistlichen und damit der Gültigkeit der exemplarischen Belehrung. Auch ist die Gültigkeit durch den deutlichen Verweis auf Buße und Reue als Basis der Vergebung gebrochen - denn davon ist bei der Frau nichts zu spüren. Der distanziert kommentierende Christus gestaltet zwar eine dezidierte Belehrung, aber die Geschichte ist nicht wirklich Beispiel für die Vergebung, die der reuige Sünder erfährt, sondern vielmehr ein Schaustück für die Schlechtigkeit der Welt und die grenzenlose List der Frauen. Das himmlische Personal ist den weltlichen Figuren nicht überlegen, denn vor der listigen Klugheit der Frau muss Petrus kapitulieren und vielleicht sogar Christus selber resignieren. 101 Indem selbst der exemplarischen Belehrung durch Christus die Möglichkeit einer plausiblen Auslegung und gültigen Handlungsmaxime fehlt, erzeugt das exemplari‐ sche Moment selber Kontingenz und wird zu einem leeren Gestus ohne inhaltliche Ver‐ bindlichkeit. 2.2.3 Narratio und Moralisatio Die Ambiguität und das kontroverse Potential versnovellistischen Erzählens, insbesondere der Bruch mit der strikten Lehrhaftigkeit des exemplarischen Erzählprinzips, resultieren häufig aus semantischen Inkongruenzen zwischen den exemplarischen Geltungsaussagen 37 2.2 Versnovellistisches Erzählen 102 Vgl. F R I E D R I C H , Trieb und Ökonomie, S. 57-63. Friedrich konstatiert an anderer Stelle für die Mären Heinrich Kaufringers, dass „Didaxe und Erzählverlauf, Konfliktlösung und Erzählung“ vielfach aus‐ einander fallen (F R I E D R I C H , Metaphorik des Spiels, S. 4). Auch Millet stellt fest, dass „der deutliche Überschuß der Narration und der Groteske fast überall die Wirkung der Lehrhaftigkeit in Frage stellt“ (M I L L E T , Maere mit Moral? , S. 275). Weiterhin S C H N E L L , Erzählstrategie, Intertextualität und ‚Erfah‐ rungswissen‘, S. 399ff. 103 Ein exakter Zahlenwert lässt sich eingedenk der Varianz im Textbestand der Versnovellen, die sich besonders in dem Hinzufügen bzw. Weglassen von Pro- und Epimythien manifestierte, nicht erfassen. 104 Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die wahrheit…geseit, S. 172. 105 F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 107. 106 Strasser sieht in der Poetik der schwankhaften Versnovellen Parallelen zum französischen Fabliaux, die ebenfalls in den Erzählkomplex des prodesse et delectare eingebunden sind. Der Nutzen des Er‐ zählens resultiert dabei aber nicht aus der strikten Formulierung eines ernsthaften Sinns, der die Komik neutralisiert, sondern beschränkt sich, u.a. durch die Einbindung von Proverbien, auf die Formulierung allgemeingültiger Lebensregeln. Vgl. S T R A S S E R , Vornovellistisches Erzählen, S. 130. 107 So weist Holznagel darauf hin, dass unpassende Epimythien bereits in den Verserzählungen des Strickers eher die Regel denn eine Ausnahme sind (vgl. H O L Z N A G E L , Von diabolischen Rechtsbre‐ chern, S. 171). Anders dagegen Y O U N G , At the end of the tale, der in den Versnovellen eine Bestätigung der Gültigkeit höfischer Ideale sieht und eine Verlässlichkeit der Epimythien betont. der Texte und dem Erzählverlauf. 102 Geltungsbehauptungen werden besonders häufig in Pro- und Epimythien formuliert. Prologe sind wichtige Bereiche der Sinnkonstitution und der Funktionalisierung des Erzählens; durch die Vorreden wird nicht nur in die Narration eingeführt, sondern auch der Fokus gezielt auf bestimmte Aspekte der Erzählung gerichtet oder sogar eine konkrete Erzählfunktion formuliert. Deutungen des Erzählens, die oft mit konkreten Moralisierungen einhergehen, finden sich insbesondere in den Epilogen. Etwa zwei Drittel des von Fischer definierten versno‐ vellistischen Textkorpus führt Schlussreden auf, 103 in denen die Verknüpfung der Versno‐ vellen mit ihrer exemplarischen Texttradition besonders augenscheinlich wird: Epiloge signalisieren eine besondere Lehrhaftigkeit, denn das argumentative Erzählen der Exempla und anderer auf Belehrung ausgerichteter Textsorten basiert wesentlich auf einer Ausle‐ gung, durch die das Erzählte für eine moralische Belehrung produktiv gemacht wird. 104 Den Epilogen kommt damit die Funktion zu, einen Bezug zwischen der erzählten Begebenheit und einer übergeordneten Gültigkeit oder Norm herzustellen. Indem die Pro- und Epimy‐ thien zumeist eindeutig der Stimme des Erzählers bzw. Autors als einer der erzählten Welt hierarchisch übergeordneten Instanz zugeordnet sind, haben die hier getätigten Geltungs- und Deutungsaussagen besonderes Gewicht. Bereits Fischer stellt aber insbesondere für die schwankhaften Versnovellen fest, dass die moralisierenden Schlüsse selten tatsächlich der „Verlautbarung auf die erzählte Geschichte bezogener Maximen“ dienen, 105 stattdessen vermitteln die Epiloge häufig allgemein ge‐ haltene Sentenzen, lebenspraktische Ratschläge und Alltägliches über die Verfasstheit der menschlichen Natur, die in ihrer Banalität oft nicht zu den erzählten Geschichten passen. 106 Die Epimythien kennzeichnet aber nicht nur eine unpointierte Allgemeingültigkeit von Geltungsaussagen, es begegnen auch Moralisationen, die nicht nachvollziehbar sind oder deren Aussagen sich nicht aus der Erzählung herleiten lassen. Vielfach ist ein Auseinan‐ derfallen zwischen der erzählten Geschichte und der behaupteten Moralisierung fassbar; die Pro- und Epimythien gestalten Sinnaussagen, die keineswegs immer in der erzählten Geschichte verankert sind oder dieser sogar widersprechen. 107 38 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 108 Vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 106f. 109 R A G O T Z K Y , Die ›Klugheit der Praxis‹, S. 57, S. 64. 110 ‚Die unschuldige Mörderin‘ in Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R . Fischer führt die Inkongruenzen zwischen narratio und moralisatio auf die literarische Tradition des Exempels zurück, von dessen Prinzipien sich die Verfasser der Versnovellen noch nicht gelöst, die sie aber nicht mehr plausibel in die Erzählungen integriert hätten. 108 Ragotzky stellt dagegen eine grundsätzliche Variabilität der Geltungsbezüge in den Epi‐ mythien heraus. Mit der Einordnung als zwar variable, aber dennoch grundsätzlich funk‐ tionierende „Gebrauchsanweisung für die vorausgegangene Geschichte“, die deren „be‐ sondere literarische Orientierungsleistung“ unterstreichen würde, 109 wird allerdings der normative Anspruch des Epimythions an sich nicht in Frage gestellt. Das häufig widersprüchliche Verhältnis der Epimythien zu den erzählten Geschichten ist aber nicht nur als Indiz einer selektiven Diskursgestaltung zu verstehen, sondern die semantischen Divergenzen und Brüche sind integraler Bestandteil der Bedeutungskonzep‐ tion der Texte. Paradebeispiel für die widersprüchliche Gestaltung von Geltungsaussagen und Narration ist ‚Die unschuldige Mörderin‘ Heinrich Kaufringers. 110 Die Erzählung wird mit einem Pro‐ mythion eingeleitet, das den Glaubenssatz von Gottes Beistand für den unschuldig in Not geratenen Menschen aufruft, wenn dieser an seinem Gottvertrauen festhält und sein Schicksal in Gottes Hände legt. Die folgende Geschichte wird als eine dieser christlichen Lehre entsprechende prototypische Beispielerzählung angekündigt. Tatsächlich gerät die adlige Protagonistin in eine unverschuldete Notlage, indem sie unmittelbar vor der geplanten Hochzeit mit dem König nachts von einem Ritter aufgesucht wird, der sich als der künftige Ehemann ausgibt und vorehelichen Beischlaf verlangt. Die Gräfin wägt ihr Dilemma ab und entschließt sich, lieber den Ehrverlust als die Ungnade des königlichen Bräutigams im Falle einer Zurückweisung in Kauf zu nehmen. Als sie nach vollzogenem Beischlaf den Betrug erkennt, reagiert sie bemerkenswert prompt und schneidet dem Ritter den Kopf ab. Daraus resultiert ein neuerlicher Konflikt, denn die Gräfin kann den toten Körper nicht allein entfernen und bittet den Torwächter des Schlosses um Hilfe. Dieser nutzt die Situation, um seinerseits Beischlaf von der Gräfin zu erpressen, bevor er den toten Ritter zum Brunnen trägt und hineinwirft. Die Gräfin zeigt nach dem neuerlichen Ehrverlust den gleichen zielstrebigen Pragmatismus wie dem Ritter gegenüber und schubst den Torwächter in den Brunnen. Im Folgenden zieht die Protagonistin alle Register kalkulierten Listhandelns, das in einen weiteren Mord mündet: Um den Verlust ihrer Jungfräulichkeit zu verheimlichen, nutzt die Gräfin das literarisch prominente Mittel des Brautunterschubs und lässt eine Zofe an ihrer Stelle die Hochzeitsnacht mit dem König verbringen. Als diese entgegen der Absprache keine Anstalten macht, das Ehebett zu räumen und der Betrug damit aufgedeckt zu werden droht, zündet die Gräfin das Schlaf‐ zimmer an und rettet nur den König, während die Zofe verbrennt. Auf den letzten Mord folgt ein erheblicher Zeitsprung, der Erzähler berichtet denkbar knapp, dass die Königin nach 32 Jahren einträchtigen Ehelebens unvermittelt von Reue 39 2.2 Versnovellistisches Erzählen 111 Rippl sieht den wahllos erscheinenden Zeitraum von 32 Jahren als Aufgreifen gängiger juristischer Praxis. Seit dem römischen Recht galt für Verbrechen eine Verjährungsfrist von 30 Jahren, die in der mittelalterlichen Rechtspraxis zum Teil modifiziert wurde. Der Zeitraum von 32 Jahren sei vor diesem Hintergrund Bestandteil einer argumentativen Strategie zur Verteidigung der Protagonistin (vgl. R I P P L , Erzählen als Argumentationsspiel, S. 74). Allerdings lässt gerade die Anerkennung einer ‚for‐ maljuristischen‘ Unschuld durch Verjährung das plötzliche Reueempfinden der Protagonistin als kalkuliert und wenig glaubwürdig erscheinen. geplagt wird und ihrem Mann das Geschehene beichtet. 111 Dieser verzeiht ihr freimütig und verspricht, sie noch mehr wertzuschätzen. Es folgt ein abschließendes Resümee der Ge‐ schehnisse durch den Erzähler, der sowohl die Unschuld und tadellose Gesinnung der Kö‐ nigin als auch die Bosheit und Niedertracht ihrer Gegenspieler ostentativ betont und erklärt, dass diese zu Recht den Tod gefunden hätten. Die Rettung der Königin wird als unmittel‐ bares Wirken Gottes bezeichnet, ohne dessen Hilfe sie sich nicht aus ihrer misslichen Lage hätte befreien können. Die Erzählung schließt mit einem Epimythion, das in kohärenter Anknüpfung an das Promythion die verlässliche Gnade Gottes gegenüber den Bedrängten preist. Zahlreiche Signale innerhalb der erzählten Geschichte evozieren Zweifel an den Kom‐ mentaren des Erzählers, der die Gräfin wiederholt als rain und edel attributiert und immer wieder die Notlage betont, aus der sie gehandelt habe. So findet die Gräfin nicht nur viel Gefallen an der Liebesnacht mit dem Ritter - von dem beiläufig erwähnt wird, dass er dem König so gar nicht ähnlich sieht -, ihr Handeln wird auch überdeutlich in seiner Kaltblü‐ tigkeit und seinem eigennützigen Kalkül herausgestellt und ist keineswegs immer durch äußere Bedrängnis gedeckt. Die signifikanteste Inkohärenz zwischen den Geltungsaussagen des Erzählers und der Narration stellt die Behauptung göttlichen Beistands als unmittelbar wirksames Hand‐ lungsprinzip dar. Göttliches Wirken ist aber in dem Geschehen nirgendwo fassbar, sowie die Protagonistin auch das Gottvertrauen, das im Promythion als Voraussetzung für Gottes Hilfe benannt wird, an keiner Stelle erkennen lässt: Die Entscheidungen zu den Morden werden von ihr allein ohne jedwede moralische Reflexion oder eine Bitte um göttlichen 40 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 112 Kaufringers Erzählungen sind auf Grund ihrer ausgestellten Akohärenz von Narration und Didaxe in der Forschung häufig und mit disparaten Ergebnissen diskutiert worden (vgl. E M M E L I U S , Der Fall des Märe, S. 90; mit einem Forschungsüberblick F R I E D R I C H , Metaphorik des Spiels, S. 4). Die Plausi‐ bilität und Kohärenz des offensichtlich aufgerufenen exemplarischen Prinzips in der ‚Unschuldigen Mörderin‘ thematisiert Ruh, der in dem Epimythion eine moraltheologische Rechtfertigung sieht, die der skandalösen Geschichte als konventionelle Zugabe ohne eigentliche Verbindlichkeit hinzu‐ gefügt wurde, die dabei aber keinesfalls unernst gemeint sei (vgl. R U H , Kaufringers Erzählung von der ‚Unschuldigen Mörderin‘, S. 174f.). Millet macht dagegen deutlich, dass Kaufringer sogar bewusst auf jedwede moraltheologische Rechtfertigung verzichtet, indem er im Gegensatz zu anderen Lite‐ rarisierungen des bekannten Stoffes das planvolle Handeln der Gräfin hervorhebt und die theologisch entlastenden Motive einer Beichtszene und eines darauf folgenden Gotteswunders tilgt. Stattdessen werde das Motiv der privaten Vergebung durch den Ehemann stark gemacht. Diese Einengung der Moralfrage auf die Ehepartner erkläre, warum die Rechtfertigung der Morde und die Frage der Reue ausgeklammert werden. Das Epimythion sei demgegenüber eine „Globalerklärung“, die der Narra‐ tion hinzugefügt sei und mit der die innerweltlichen Problemlösungen retrospektiv als Wirken Gottes dargestellt würden, was nach Millet ein simples Gottesverständnis ohne echte theologische Reflexion nahelege (vgl. M I L L E T , Märe mit Moral? , S. 284-287, S. 290). Diese Lesarten trennen das Epimytion aber von der erzählerischen Konzeption der Geschichte ab und schließen die Möglichkeit eines in‐ tendierten Zusammenspiels und einer gezielten Inszenierung der Inkongruenzen aus. Steinmetz sieht in dem Text gar das Zeugnis eines im Spätmittelalter entstehenden laientheologi‐ schen Selbstbewusstseins, das ein von moraltheologisch genormten Vorstellungen unabhängiges Gerechtigkeitsempfinden ermögliche (vgl. S T E I N M E T Z , Heinrich Kaufringers selbstbewusste Laien‐ moral, S. 67). Die zahlreichen Deutungen der Handlungsintentionen durch den Erzähler, nach denen die Königin stets ohne böse Absicht, ihre Gegenspieler hingegen aus Niedertracht handelten, liest Steinmetz als Indizien einer tatsächlichen moralischen Integrität der Protagonistin, „Kaufringer er‐ kennt in ihrem Handeln ausdrücklich nichts Sündhaftes“ (ebd., S. 59), der Text sei damit Ausdruck einer „Selbständigkeit moralisch-theologischen Denkens, die sich insgesamt als Resultat spätmittel‐ alterlicher Laienbildung begreifen lässt.“ (ebd., S. 67). Rippl distanziert sich explizit von der Vorstellung eines tatsächlichen didaktischen Anliegens und einer moralischen Auslegung Kaufringers und sieht in der Erzählung vor allem eine argumentative Strategie zur Verteidigung der Protagonistin durch den Erzähler wirken. Rippl kontextualisiert die narrative Struktur mit dem Schema mittelalterlicher Gerichtsreden und kommt zu dem Schluss, dass Kaufringer im Vergleich zu der auch von Ruh und Millet angeführten „abendländischen Grundver‐ sion“ der Erzählung auf ein juristisches Argumentationsverfahren setzt. In den übrigen europäischen Versionen erweist sich das Handeln der Königin als übereinstimmend mit christlichen Moralvor‐ stellungen, indem dieses viel deutlicher als Resultat von Täuschung oder sogar Gewalt narrativiert wird, während Kaufringer diese religiösen Argumente für die Unschuld der Königin beseitigt. Wei‐ terhin tilgt Kaufringer eine Passage, in der die Königin sich ihrem Beichtvater anvertraut, der als Gegenleistung für die Wahrung des Beichtgeheimnisses ebenfalls Liebesdienste fordert. In diesem Fall widersteht die Protagonistin und wird durch göttliches Wirken aus ihrer Zwangslage befreit, was die abschließende moralisatio vom göttlichen Beistand den Unschuldigen gegenüber kohärent macht (vgl. R I P P L , Erzählen als Argumentationsspiel, S. 41f.). In Kaufringers Version sieht Rippl da‐ gegen die „Öffnung des bislang exemplarisch ausgeformten Stoffes zum Kasus“ (ebd., S. 57), der Erzähler trete in dem kontroversen Sachverhalt als Verteidiger der Protagonistin auf, der den Re‐ zipienten von deren Unschuld überzeugt; im Fokus von Kaufringers Erzählen steht entsprechend eine „Wirkung des Überzeugens“ (vgl. ebd., S. 80). Den Überlegungen von Steinmetz und Rippl ist gemeinsam, dass sie von einer tatsächlichen Legiti‐ mierungsabsicht durch den Erzähler ausgehen. Diese Deutungen schließen nicht nur eine ironisie‐ rende Lesart aus, sie übergehen auch die eklatanten Brüche zwischen der mehr stereotypen als ar‐ gumentativ unterlegten Unschuldsbeteuerung des Erzählers; zu fragen ist, wieweit dessen Argumentation tatsächlich überzeugend wirken soll. Offen bleibt auch die Frage, warum dennoch der göttliche Beistand in Pro- und Epimythion so stark gemacht wird, obwohl er dem Geschehens‐ verlauf widerspricht. Die Erzählung mag das Schema juristischer Argumentation adaptieren, aber dieses schafft es gerade nicht, die behauptete Unschuld der Protagonisten zu plausibilisieren. Beistand getroffen. 112 Der überakzentuierte Kontrast von Erzählerstimme und erzählter 41 2.2 Versnovellistisches Erzählen 113 Grubmüller deutet Kaufringers Erzählen dagegen als ein „poetologisches Experiment“, das nicht das exemplarische Erzählprinzip in Frage stelle, sondern im Gegenteil als radikales Exempel dessen „einsträngiges Beweisverfahren“ ins Extrem steigere. Die Komplexität der Geschichte müsse deshalb hinter der Prämisse einer eindeutigen Verteilung von Gut und Böse, die die exemplarische Geltungs‐ behauptung rechtfertige, zurücktreten und das Epimythion als eindeutig dem Beweisziel des ver‐ lässlichen und gerechten Gottes verpflichtet ernstgenommen werden. Vgl. G R U B MÜL L E R , Die Ord‐ nung, der Witz und das Chaos, S. 176-179. 114 Haug weist darauf hin, dass viele Texte die Moral geradezu verhöhnen. Als Beispiel wird Strickers ‚Edelmann und Pferdehändler‘ angeführt, in der das Epimythion das boshafte Handeln des habgie‐ rigen Edelmannes rechtfertigt und den geschädigten Pferdehändler tadelt, womit die Lehrrede kei‐ nesfalls Ordo restituiert oder eine gültige normative Reflexionsmöglichkeit anbietet. Vgl. H A U G , Schlechte Geschichten, S. 21-25. 115 Vgl. K I P F , Mittelalterliches Lachen über semantische Inkongruenz, S. 111ff. Geschichte, der in Pro- und Epimythion besonders sinnfällig wird, kann geradezu als Indiz eines unzuverlässigen Erzählens gelesen werden, das gleichzeitig die Konvention exemp‐ larischen Erzählens reflektiert und unterläuft. 113 Indem die abschließenden Lehrreden keinen sinnvollen Zusammenhang zu den Narrati‐ onen herstellen oder diesen sogar widersprechen, können semantische Kontraste gestaltet werden, die dazu beitragen, den moralischen Impetus des Erzählens per se in Frage zu stellen. Der häufige Kontrast zwischen der Ordo-Behauptung und der ‚Realität‘ der er‐ zählten Geschichte vermittelt deutliche Missklänge hinsichtlich der behaupteten Norma‐ tivität an sich. 114 Die Gestaltung der Pro- und Epiloge in ihrem Verhältnis zur Narration ist ein wichtiger Bereich der Poetik versnovellistischen Erzählens: Zum einen sind semanti‐ sche Inkongruenzen wesentliches Element der Erzeugung von Komik besonders in den schwankhaften Texten. 115 Zum anderen wird in der Verweigerung einer harmonischen Ge‐ staltung von narratio und moralisatio die Relationalität von Geltung besonders augen‐ scheinlich, die zu einer ironisierenden Reflexion des Verfahrens exemplarischer Geltungs‐ behauptung selbst ausgespielt werden kann. Die A-Kohärenz von moralisatio und narratio führt pointiert die subversive Rekurrenz der Versnovellen auf das exemplarische Erzähl‐ prinzip vor Augen, das oftmals an keine konzise normative Geltung gebunden ist. 42 2 Mittelhochdeutsche Versnovellen 1 Vgl. P E T E R S , ‚Texte vor der Literatur‘? , S. 85, S. 87f. 2 N E U B E R , Ökonomien des Verstehens, S. 191. 3 Vgl. R U H , Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte, S. 267f. 4 N E U B E R , Ökonomien des Verstehens, S. 191. 5 G U M B R E C H T , Ein Hauch von Ontik, S. 13. 3 Die variable Form des Textes 3.1 Manuskriptkultur Eine Untersuchung, die nach Verfahren literarischer Formgebung in der mittelalterlichen Literatur fragt, richtet zwangsläufig besonderen Fokus auf die handschriftliche Überliefe‐ rung. Die Manuskriptkultur stellt per se die konkrete und spezifische Form mittelalterlicher Textualität dar; ungeachtet aller Überlegungen zu Mündlichkeit und Performanzkultur sind es die Handschriften, in denen die Literatur des Mittelalters überliefert und der Rezeption zugänglich ist. In den Handschriften hat die Alterität des Mittelalters ihre unbestreitbare Ausformung, denn die Manuskriptkultur markiert einen oder sogar den zentralen Unter‐ schied zur modernen Literarizität. 1 Der Codex stellt, indem er den Wortlaut des Textes sichert, erschließt und präsentiert, die faktische Überlieferung des Textes dar. Dabei sind die materiellen Aspekte nicht als isolierte Variablen zu betrachten, die äußere Form der Handschrift hat auch bedeutungstragende Dimensionen: Was für das Erkenntnis- oder Erinnerungsangebot gilt, das von Bildern ausgeht, gilt, mutatis mu‐ tandis, ebenso für die Gestalt des Textes auf der Seite selbst: Ihm eignet eine kognitive Komponente. Diese Aussage ist grundsätzlich für das Manuskript wie für den Druck gültig. Eine Seite ist immer zugleich ein „Bild“, das heißt, das Layout hat seine spezifische kognitive Funktion, die die Lektüre, das Verinnerlichen und Verstehen des Textes steuert. 2 Dabei ist jede Handschrift ein Unikat, das einen ganz anderen Zugang zum literarischen Text bedingt als das universale und reproduzierbare gedruckte Buch der Neuzeit. 3 Zwar sind auch die mittelalterlichen Handschriften „immer an einen Typus gebunden und formal konservativ“, 4 aber sie kennen nicht die Einförmigkeit der seriellen Erzeugung. Eine lite‐ raturwissenschaftliche Analyse auf Basis des Manuskripts umfasst nicht (nur) eine isolierte kodikologische Betrachtung der materiellen und paläographischen Eigenschaften der Handschrift, sondern stellt diese in enge Wechselwirkung mit der Produktion und Rezep‐ tion von Literatur. Die handschriftliche Texterstellung als Teil des literarischen Prozesses zu verstehen, heißt „die Materialität der Manuskripte als eine komplexe Symptomatologie zu nutzen, welche uns die historisch spezifischen Formen im Umgang mit der Text- und der Sinndimension erschließt.“ 5 Dass das literarische ‚Werk‘ des Mittelalters nicht allein über seinen Text- oder Wortbestand erfassbar ist, sondern seine Sinnstiftungen sich auch über die konkrete Gestaltung im Codex 6 Vgl. P E T E R S , Vorwort: Text und Kultur, S. XI-XVII; P A L M E R , Von der Paläographie zur Literaturwis‐ senschaft, S. 212. 7 B U M K E , Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe, S. 40; vgl. auch B A I S C H , Wertlose Zeugen? , S. 251ff.; H O L Z N A G E L , ‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Handschrift‘, S. 142. 8 W O L F , Buch und Text, S. 5. 9 Peters stellt heraus, dass die Beiträge aus dem Speculum-Band 65, neben Cerquiglinis ‚Éloge de la variante‘ quasi die Programmschrift der ‚New Philology‘, eine eklatante Unkenntnis v.a. aktueller mediävistischer Forschungen erkennen lassen und für längst erfolgte Debatten und Paradigmen‐ wechsel der Disziplin eine genuine Neuerung postulieren. Mit der durch Nichols forcierten Umbe‐ nennung in ‚Material Philology‘ hat sich diese in eine bereits etablierte Diskussion eingebunden und fortan vor allem den Aspekt der Unikalität und Relevanz der handschriftlichen Überlieferung fo‐ kussiert (vgl. P E T E R S , Philologie und Texthermeneutik, S. 259f.). Ähnlich Nemes, der darauf verweist, dass der von der New Philology postulierte Wandel in der Altgermanistik keine wesentliche Neue‐ rung darstellt, sondern spätestens seit den 70er Jahren fassbar ist und mit der ‚Würzburger For‐ schergruppe für Prosa des deutschen Mittelalters‘ um Kurt Ruh auch einen institutionalisierten Rahmen gefunden hatte (vgl. N E M E S , Von der Schrift zum Buch, S. 74. Vgl. auch S C H N E L L , Was ist neu an der ‚New Philology‘? , S. 62f.; L Ö S E R , Postmodernes Mittelalter? , S. 216-230; S T R O H‐ S C H N E I D E R , Innovative Philologie? , S. 904f.). Tatsächlich stellte die überlieferungsgeschichtliche Me‐ thode der Würzburger Schule bereits die handschriftliche Überlieferung konsequent in den Mittel‐ punkt, Reuvekamp-Felber schränkt demgegenüber aber ein, dass die „texttheoretische oder gar kulturgeschichtliche Signifikanz des Materials“ in diesen frühen Debatten über die handschriftliche Überlieferung noch nicht perspektiviert worden ist. R E U V E K A M P -F E L B E R , Der Codex als Kontext, S. 226. Ähnlich auch W O L F , Buch und Text, S. 12. 10 G U M B R E C H T , Ein Hauch von Ontik, S. 13. 11 Vgl. N I C H O L S , Why Material Philology? , S. 10-17. entfalten, dass die Handschrift die Grundlage jeder Texterschließung darstellt, 6 gehört längst zu den grundlegenden Prämissen der mediävistischen Literaturwissenschaft. Ge‐ genüber der in der älteren Forschung dominierenden Haltung, Textzeugen nur als Material für die Rekonstruktion der dichterischen ‚Werke‘ zu betrachten, ohne diesen eine eigene Bedeutung beizumessen, hat sich eine Perspektivierung etabliert, die jede einzelne Hand‐ schrift auch als einen „konkreten Anhaltspunkt für den Umgang mit Literatur und das Interesse daran“ 7 zur Kenntnis nimmt und die Codices in ihrer Materialität als „wichtige literatur- und kulturhistorisch relevante Informationsträger“ anerkennt. 8 Die New oder Material Philology hat dabei nicht den entscheidenden Paradigmen‐ wechsel herbeigeführt, den sie für sich beansprucht, aber sie hat die Neuakzentuierung im Umgang mit den Handschriften nachhaltig und pointiert in den Fokus der germanistischen Diskussion gestellt, indem sie die Materialität der Codices nicht mehr nur in ihrer Relevanz für die editorische Praxis in den Blick nahm, 9 sondern „eine neue Konzentration auf die materiale Phänomenologie der mittelalterlichen Manuskripte“ forderte, die die mittelalter‐ liche Handschriftenkultur in ihrem historisch spezifischen Umgang mit dem Text und dessen Sinndimensionen betrachtet. 10 Entscheidungen über das Layout und die Präsentation des Textes werden auch für das gedruckte Buch getroffen, die Handschrift ist durch ihre Individualität und Unikalität aber ein historisches Dokument, das in besonderem Maße seinem kulturellen Kontext Rechnung trägt. 11 Die Handschrift hat schon eine wichtige performative Funktion, indem die ästhe‐ tische Gestaltung auch ihren Repräsentationsanspruch widerspiegelt. Die Gestaltung des Codex korreliert häufig mit dem enthaltenen Texttyp, so erfahren bestimmte Textsorten, 44 3 Die variable Form des Textes 12 W O L F , Buch und Text, S. 18: „Vielleicht mehr noch als in der lateinischen Schriftkultur scheint die Ästhetik im Bereich der volkssprachigen Schriftlichkeit zugleich ein Spiegel für den Status der volkssprachigen Literatur insgesamt bzw. einzelner Gattungen und Werke im Besonderen zu sein.“ Vgl. auch H E I N Z L E , Handschriftenkultur und Literaturwissenschaft, S. 14f. 13 Vgl. W O L F , Buch und Text, S. 82-85, S. 135. 14 Ein Medium ist bei Luhmann jeder „lose gekoppelte Zusammenhang von Elementen, der für Formung verfügbar ist, und Form ist die rigide Kopplung eben dieser Elemente“. L U H M A N N , Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 53. 15 B U N I A , Faltungen, S. 285. 16 Ebd., S. 287. Im Gegensatz zur Handschrift weist der Druck dabei „eine stärkere Neigung zu fester Bildung von formbindenden Formen auf “ (ebd., S. 288f.). 17 Vgl. B A I S C H , Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft, S. 33f. 18 Vgl. H E I N Z L E , Handschriftenkultur und Literaturwissenschaft, S. 10f.; B U M K E , Autor und Werk, S. 113. 19 Palmer beschreibt eine Zunahme von Gliederungsmerkmalen im spätmittelalterlichen Schrifttum, die ausgehend von der lateinischen Schriftlichkeit auch in den volkssprachigen Handschriften um‐ gesetzt wird. Insbesondere in den Papiercodices als letzter Stufe der Handschriftenentwicklung etablieren sich neue, differenziertere Gliederungssysteme, die auf veränderte Ansprüche und Mo‐ dalitäten der Rezeption schließen lassen. Dabei treten die gliedernden Elemente in Sammlungen von Kurztexten ebenso zu Tage wie in umfangreichen Einzeltexten, indem analog zur Kapitelgliederung eine klar gekennzeichnete Unterteilung der Einzeltexte erfolgt. Vgl. P A L M E R , Kapitel und Buch, v.a. S. 43-46, S. 73. insbesondere geistliche Texte, in der Regel besondere gestalterische Wertschätzung. 12 Der Codex erlaubt auch Rückschlüsse auf seinen Gebrauchszusammenhang, indem verschie‐ dene Gebrauchstypen in der Regel auch nach unterschiedlichen Parametern gestaltet sind. 13 Die Handschrift konstituiert Bedeutung auch jenseits des eigentlichen Textes. Bunia hält in Rekurrenz auf Luhmanns Medien-Begriff sowohl für den handschriftlichen Codex wie auch für das gedruckte Buch der Neuzeit fest, 14 dass „das Buch ein Medium [ist], in dem Zeichen, Bilder und Anordnungen die möglichen Formen bilden.“ 15 Dabei hat das Buch nicht nur die Funktion, Schrift zu fixieren, sondern es besitzt darüber hinaus auch „die Fähigkeit zu einer eigenständigen, von Sprache sehr unabhängigen Formenbildung“. 16 In der Handschrift amalgamieren verschiedene Ebenen der Formgebung, indem neben der eigentlichen Verschriftlichung des Textes auch über dessen räumliche Gestaltung auf der Seite entschieden wird. An der Erstellung des Codex als „polyphonem Sinnzusammen‐ hang“ sind verschiedene Instanzen beteiligt, 17 außer den Schreibern bzw. Kompilatoren sind gegebenenfalls auch Rubrikatoren, Illuminatoren und Kommentatoren in den Entstehungs‐ prozess eingebunden. Das mise en page ist von erheblicher Relevanz für den literarischen Text, indem die handschriftlichen Zeichensysteme aus Schriftform, Einrichtung der Seite und räumlicher Organisation der Texte sowie Initialen, Schmuck und Bilder auf ihren strukturierenden und sinngebenden Funktionszusammenhang untersucht werden können. 18 Die seit dem 13. Jahrhundert zunehmend in volkssprachigen Handschriften fass‐ baren Gliederungssysteme werden verschiedentlich als Indizien einer lesenden Rezeption gesehen: 19 Ein mit Initialen, Majuskeln und Rubrizierungen gegliedertes, vielleicht sogar noch mit einem Register versehenes Exemplar läßt sich unschwer als Lesebuch bzw. als Nachschlagewerk identi‐ 45 3.1 Manuskriptkultur 20 W O L F , Buch und Text, S. 19; ähnlich S. 109. 21 Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 372. 22 Vgl. L Ö S E R , Postmodernes Mittelalter? , S. 217. 23 Vgl. B U M K E , Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte, bes. S. 269. 24 „Mehrfachfassungen sind geradezu ein Kennzeichen mittelalterlicher, vor allem volkssprachiger Textüberlieferung“. B U M K E , Der unfeste Text, S. 123. 25 Vgl. H E N K E L , Kurzfassungen höfischer Erzähltexte, S. 42; B U M K E , Untersuchungen zur Überliefe‐ rungsgeschichte, S. 290-299; ders., Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 40-45. 26 N U T T -K O F O T H , Varianten der Selbstdarstellung, S. 137. Vgl. auch B U M K E , Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 395f. fizieren. Bei den fortlaufend geschriebenen, nur mit spärlichen Gliederungsattributen versehenen frühen Epen-Handschriften spricht demgegenüber vieles für eine Verwendung als Vorlesebuch. 20 Für die Untersuchung von Text-Kontext-Relationen in den kleinepischen Sammelhand‐ schriften ist insbesondere das mise en page unverzichtbarer Bestandteil der Analyse. Die Handschrift bildet nicht nur die individuelle Gestaltung des Einzeltextes ab, sondern auch dessen Einpassung in den Kontext der Sammlung. Indem Texte entweder im Verbund ge‐ staltet oder klar voneinander abgegrenzt erscheinen, indem die im Codex inserierten Texte entweder ähnlich gestaltet oder einzelne Texte/ Textverbünde besonders hervorgehoben werden, kann das Manuskript Aufschluss über intendierte Sinnzusammenhänge zwischen den aufgeführten Dichtungen geben: „Im Zusammenstellen und Präsentieren von Texten in Sammelhandschriften erfolgt eine Interpretation dieser Texte.“ 21 3.2 Die variante Überlieferung mittelalterlicher Texte Mit den Handschriften unmittelbar verbunden ist die textuelle Varianz als grundlegendem Paradigma mittelalterlicher Textualität. Die Hinwendung zum Original der Handschrift bedingt zwangsläufig eine Absage an die Vorstellung von einem fassbaren Originaltext. 22 Die Manuskriptkultur kennt keine identischen Texte, jede mehrfach überlieferte Dichtung ist in Textzeugen präsent, die unterschiedlich stark variieren. Dabei ist die mittelalterliche volkssprachige Dichtung weit mehr von Varianz geprägt als die lateinische Schriftlichkeit, die an der Offenbarungswahrheit der Kirche oder der Autorität antiker Gelehrter orientiert und dadurch stärker an einen festen Wortbestand gebunden war. 23 Entsprechend gibt es von fast allen volkssprachigen großepischen Dichtungen Parallel- und Kurzfassungen, die sich zum Teil signifikant voneinander unterscheiden, 24 wobei eine klare Unterscheidung zwischen primären und sekundären Textfassungen längst nicht immer möglich ist, 25 und auch bei den kleinepischen Texten gibt es zum Teil erhebliche Divergenzen zwischen den Textbeständen der einzelnen Überlieferungsträger. Das Nebeneinander verschiedener Aus‐ formungen von Dichtungen ist damit konstitutiv für das Verständnis mittelalterlicher Tex‐ tualität. Der Oberbegriff Varianz wird für ein breites Spektrum textueller Phänomene verwendet und kann alle Unterschiede zwischen Texten bezeichnen, „die trotz Varianz gegeneinander so weitgehend übereinstimmen, daß sie unter ein gemeinsames Dach gehören“. 26 Varianz reicht von der Ebene kleinteiliger Unterschiede in Morphologie, Lexik oder Syntax über 46 3 Die variable Form des Textes 27 Der Terminus ‚Variante‘ wird sowohl für eine einzelne variierende Textstelle als auch für den Text als ganzen verwendet, der sich von einem anderen Text durch Varianz unterscheidet. Vgl. K O N D R U P , Text und Werk, S. 3. 28 Vgl. B U M K E , Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 390-455. 29 Baisch führt gegen Bumkes Modell die fehlende [allerdings auch nicht intendierte] funktionale Ein‐ bindung der Typologie an, die wenig für die Aussagefähigkeit textueller Veränderungen leiste und damit das Phänomen der Varianz verkürze. Vgl. B A I S C H , Textkritik als Problem der Kulturwissen‐ schaft, S. 78f. 30 Bumke unterscheidet deshalb die ‚Variante‘ als Abweichung, die „keinen Veränderungswillen vo‐ raussetzt“, also im Prinzip dasselbe mit anderen Worten sagt, grundsätzlich von der ‚Lesart‘, die aus einem bestimmten Gestaltungswillen am Text resultiert, konstatiert aber selber eine fließende Grenze (vgl. B U M K E , Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte, S. 266-269, Zitat S. 266). Allerdings wird ‚Lesart‘ vielfach synonym zum Begriff der ‚Variante‘ gebraucht (vgl. z.B. W O E S L E R , ‚Lesart‘ in RL 2, S. 401f.). Der Begriff Variante wird hier für alle Formen und Ebenen der Divergenz zwischen ver‐ schiedenen Überlieferungsträgern eines Textes verwendet, unabhängig von der Frage nach Intenti‐ onalität und sinnveränderndem Potential. sinngemäße Textreproduktionen, die die gleichen inhaltlichen Gesichtspunkte mit einem veränderten Wortlaut darstellen, bis hin zu selbstständigen Ausgestaltungen des Textes durch neue Erzählelemente. 27 Bumke stellt eine am Beispiel der ‚Nibelungenklage‘ ausgeführte Beschreibungssyste‐ matik für Varianz vor, in der die Textelemente nach Art und Ausmaß der Variation graduell geordnet und nach den grundlegenden Typen Textbestand, Textfolge und Textformulierung unterschieden werden. Dabei wird ein neutrales Beschreibungsvokabular verwendet, das die Begriffen wie ‚Kürzung‘ oder ‚Bearbeitung‘ inhärente Einteilung in primäre und se‐ kundäre Textfassungen vermeidet. 28 Bumke macht aufgrund der Unmöglichkeit einer klaren Trennung zwischen zufälligen und intendierten Varianten die Entstehung der Va‐ rianz ausdrücklich nicht zum Gegenstand der Beschreibung, ebenso wenig ist die Einbin‐ dung der Varianten in ihre textuellen, inhaltlichen oder funktionalen Kontexte Bestandteil des vor allem phänomenologisch orientierten Modells. 29 Dagegen stellt sich bei einer nicht rein philologisch-deskriptiv orientierten Perspekti‐ vierung textueller Varianzphänomene, die deren Bedeutung und Funktion in die Betrach‐ tung einschließt, die Frage, wann einzelnen Varianten sinnveränderndes Potential und damit eine semantische Relevanz für die Rezeption des Gesamttextes zuzusprechen ist. Damit verknüpft ist die Überlegung, wie sich eine intentionale (Um)Gestaltung des Textes von Varianten ohne besondere sinnverändernde Gestaltungsabsicht unterscheiden lässt, wie sie zum Beispiel aus der Anpassung an individuelle, regionale oder historische Schreib‐ gewohnheiten resultieren kann. 30 Dabei ist allen Überlegungen, die textuelle Varianz nach den Kriterien von Sinnveränderung, Gestaltungswille und Intentionalität zu unterscheiden 47 3.2 Die variante Überlieferung mittelalterlicher Texte 31 Vgl. z.B. S T A C K M A N N , Varianz der Worte, der Form und des Sinnes, der am Beispiel der Lyrik Heinrichs von dem Grünen Ton einen deutlichen Unterschied macht zwischen sinnhaften Varianten und Wort‐ varianten, die nur einen Unterschied im Ausdruck, aber keine echte Umgestaltung des Textes be‐ dingen. Schulze geht davon aus, dass variante Textgestaltungen häufig Ausdruck einer ‚sinnge‐ mäßen‘ Textreproduktion seien, die nicht aus einem bewussten Veränderungswillen resultieren und nur die ‚Textoberfläche‘ verändern, nicht aber die relevanten inhaltlichen Gesichtspunkte. Vgl. S C H U L Z E , Varianz und Identität, S. 69f. 32 S T R O H S C H N E I D E R , Rezension zu Bumke: Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹, S. 115; ähnlich B E I N , ‚Überlieferungsgeschichte - Textgeschichte - Literaturgeschichte‘, S. 96f. 33 In der vorliegenden Arbeit wird ‚Redaktion‘ als neutraler Begriff für die verschiedenen handschrift‐ lichen Überlieferungen eines Textes verwendet. Der Terminus ‚Fassung‘ wird gezielt verwendet, wenn eine signifikant von der übrigen Überlieferung geschiedene Textform im o.g. Sinne bezeichnet werden soll bzw. wenn durch das Verfasserlexikon oder die Forschungsliteratur eine Unterscheidung divergenter Fassungen eines Textes etabliert ist. 34 B U M K E , Der unfeste Text, S. 124. Vgl. auch P L A C H T A ‚Fassung‘ in RL 1, S. 567; S C H I E W E R , Fassung, Bearbeitung, Version und Edition, S. 38ff. Bumke nimmt auch hier eine weitere Binnendifferenzierung vor, indem er die ‚Fassung‘ von der ‚Bearbeitung‘ unterscheidet und beides unter dem Oberbegriff der ‚Version‘ zusammenfasst. Wäh‐ rend die ‚Fassung‘ als Version mit einem spezifischen Gestaltungswillen keine Abhängigkeit von einer anderen Version erkennen lässt, kann die ‚Bearbeitung‘ stemmatologisch eindeutig als se‐ kundär zu einer anderen Version rekonstruiert werden (vgl. B U M K E , Die vier Fassungen der ›Nibe‐ lungenklage‹, S. 45f.). Schiewer kritisiert bei dieser Definition das Festhalten am stemmatologischen Prinzip, die den Befund letztlich abhängig vom Überlieferungszufall macht, und fokussiert statt‐ dessen die - gleichfalls kaum kategorisierbaren - Parameter der „überlieferungsgeschichtlichen und literaturgeschichtlichen Relevanz“ als Kriterium der Festlegung von Fassungen. Vgl. S C H I E W E R , Fas‐ sung, Bearbeitung, Version und Edition, S. 38-41. suchen, 31 die Problematik gemeinsam, dass diese Kategorien keinen „textanalytisch er‐ weisbaren Sachverhalt“ darstellen und damit nicht konzise greif- und abgrenzbar sind. 32 Die Frage nach dem sinnverändernden Potential textueller Varianz ist von zentraler Be‐ deutung, wenn es um die Unterscheidung von unterschiedlichen Fassungen geht. Als Fas‐ sung gilt eine bzw. eine Gruppe von Überlieferungen eines Textes, bei denen die Gesamtheit der Varianten ein signifikant bedeutungsveränderndes Potential aufweist, durch das sich diese maßgeblich von den anderen Redaktionen des gleichen Textes unterscheidet. 33 Dabei wird zumeist auch eine Intentionalität bei der Gestaltung, ein eindeutig bestimmbarer „un‐ terschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille“ vorausgesetzt. 34 Ab wann einer Va‐ riante oder dem Zusammenspiel verschiedener Varianten sinnveränderndes Potential zu‐ gesprochen wird, ab wann, vielleicht auch in einem aggregativen Prozess, die Quantität varianter Textgestaltungen auch in eine Qualität semantisch relevanter Textveränderung umschlägt, die den Status einer eigenen Fassung rechtfertigt, ist nicht verbindlich katego‐ risierbar. Damit ist die Fassung im Gegensatz zur Redaktion letztlich eine abstrakte Größe, der eine inhaltliche Unschärfe inhärent ist. Auch wenn die aus den nicht kategorisierbaren Größen von semantischer Relevanz und Intentionalität resultierenden Aporien nicht vollständig aufgelöst werden können, ist die Frage nach der Unterteilung von divergenten Fassungen nicht obsolet. Es bedarf eines ope‐ rationalisierbaren Begriffs, um anzuzeigen, ob sich verschiedene Redaktionen eines Textes unspezifisch im Wort- oder Versbestand unterscheiden, oder ob sich aus den textuellen Divergenzen deutungsrelevante Unterschiede ergeben. Der Fassungsbegriff ist ein heuris‐ tisches Mittel, um signifikante Änderungen in der Sinnkonstitution verschiedener Redak‐ 48 3 Die variable Form des Textes 35 B E I N , Die mediävistische Edition, S. 89. Die Einklammerung der mediävistischen Perspektive durch Bein ist berechtigt, ist die moderne Textualität doch keineswegs frei von Varianz- und Editionsfragen, vgl. dazu beispielhaft N U T T -K O F O T H , Varianten der Selbstdarstellung, der das Editionsproblem va‐ rianter Texte am Beispiel von Goethes autobiographischen Schriften behandelt. 36 Vom „Lachmannschen Paradox“ spricht H E I N Z L E , Handschriftenkultur und Literaturwissenschaft, S. 9 f. tionen zu markieren; statt von einer klaren dichotomischen Gegenüberstellung muss dabei aber von einem skalierbaren Feld mit einem Übergangsbereich ausgegangen werden. Die Versnovellen stehen beispielhaft für einen divergenten klassifikatorischen und ter‐ minologischen Umgang mit der varianten Überlieferung. Bei zahlreichen Versnovellen schlägt sich das Nebeneinander signifikant divergierender Redaktionen in einer klaren Ge‐ schiedenheit unterschiedlicher Fassungen nieder, so werden zum Beispiel ‚Der Mönch als Liebesbote‘ oder ‚Der Schüler von Paris‘ sowohl in der Forschungsdiskussion als auch in der editorischen Darstellung jeweils nach den Fassungen A, B und C unterschieden. Bei anderen Dichtungen wie zum Beispiel dem ‚Herzmaere‘ und der ‚Frauentreue‘ wurde da‐ gegen trotz erheblicher und semantisch relevanter Unterschiede im Textbestand keine fas‐ sungsmäßige Unterscheidung definiert. 3.3 Varianz im Forschungsdiskurs Die variante Überlieferung mittelalterlicher Texte war in der Germanistischen Forschung zunächst kaum Gegenstand einer hermeneutischen Verhandlung, sondern primär ein Ar‐ beitsfeld der Editorik. Die durch Lachmann begründete Tradition der Textkritik, die den Beginn einer systematischen Editionswissenschaft markiert, fasste mit ihrer Fokussierung der Rekonstruktion eines Autor- oder Urtextes die textuelle Varianz vor allem als Überlie‐ ferungsverschlechterung und Störfaktor bei der Herstellung eines einheitlichen kritischen Textes. Die Frage nach der semantischen Relevanz von textueller Varianz und der Unterschei‐ dung von Werkfassungen ist maßgeblich für die editorische Praxis: alle handschriftliche Kultur teilt jedoch das Varianz-Phänomen. Mit der Varianz in rechter Weise umzugehen, stellt vielleicht das entscheidende, grundlegende Problem aller (mediävistischer) Edi‐ tionswissenschaft dar. 35 Die methodischen Einschränkungen und problematischen Vorannahmen der klassischen Textkritik, insbesondere die Subjektivität des Verfahrens und die primär ästhetischen Prin‐ zipien folgenden Entscheidungen über bessere oder originale Textzustände, waren früh‐ zeitig Gegenstand der Kritik und Anlass von Forschungsdiskussionen und Neujustierungen in der Editionspraxis. Nicht nur bedingt eine das ‚originale Dichterwort‘ rekonstruierende Editionspraxis letztlich das philologische Paradox der Negierung der Handschriften, 36 für die meisten Bereiche mittelalterlicher Textualität ist es auch längst offensichtlich, dass die 49 3.3 Varianz im Forschungsdiskurs 37 Vgl. B U M K E , Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹, S. 3. Eine ‚objektive‘ Anwendung der text‐ kritischen Prinzipien ist nur in einer idealtypischen, ausschließlich vertikalen Überlieferungssitua‐ tion möglich; ein Nebeneinander verschiedener, zeitlich nah beieinander liegender Überlieferungen eines Textes oder eine Kontamination in der Überlieferung durch die Verwendung mehrerer Vorlagen schließt dagegen die plausible Rekonstruktion eines ‚Archetypus‘ zumeist aus (vgl. S T A C K M A N N , Mittelalterlicher Text als Aufgabe, S. 243-263). Die textgeschichtlich orientierte Editionsphilologie sucht deshalb nicht das ‚originale Dichterwort‘ zu rekonstruieren, sondern strebt die Abbildung einer historischen Existenzform des Textes an, indem eine relativ beste Handschrift ausgewählt, mit möglichst geringen Eingriffen abgedruckt und durch die Lesarten der anderen Handschriften ergänzt wird. Dabei bedingt auch ein konsequentes Leithandschriftenprinzip keine Negierung ästhetischer Entscheidungen der Editoren. Für eine Forschungsperspektivierung, die auch nach dem historischen Textverständnis fragt, stellt die geschlossene Texterschließung auf der Basis einer Handschrift als Dokument des unmittelbaren Textgebrauchs und -verständnisses aber zumindest eine Annäherung an zeitgenössische Rezept‐ ionsformen dar. Cerquiglignis - nicht näher spezifizierter und mittlerweile wohl auch antiquierter - Vorstellung computergestützter Editionen, die sämtliche Textzustände in ihrer Beweglichkeit ab‐ bilden sollen, hält Löser berechtigt entgegen, dass ein medialer Hypertext keineswegs den mittelal‐ terlichen Rezeptionsbedingungen entspricht; der mittelalterliche Rezipient hatte es in der Regel mit einem Überlieferungsträger und dessen homogener Textgestalt zu tun. Vgl. L Ö S E R , Postmodernes Mittelalter, S. 221. Ähnlich B U S B Y , Variance and the Politics of Textual Criticism, S. 32. 38 S T R A U B A C H , Text als Prozeß, S. 252. 39 Vgl. C E R Q U I G L I N I , Éloge de la variante. 40 Zumthor definiert ‚mouvance‘ als „le caractère de l’œuvre qui, comme telle, avant l’âge du livre, ressort d`une quasi-abstraction, les textes concrets qui la réalisent présentant, par le jeu des variants et remaniements, comme une incessante vibration et une instabilité fondamentale“. Z U M T H O R , Essai de poétique médiévale, S. 507. 41 Zur Debatte um die New Philology siehe auch S. 44. Überlieferungsbedingungen die Anwendung der textkritischen Methode nach Lachmann gar nicht gestatten. 37 In der Diskussion des mittelalterlichen Textbegriffs hat sich angesichts des nicht hierar‐ chisierbaren Nebeneinanders unterschiedlicher Redaktionen eine grundsätzlich geänderte Perspektivierung von Varianz etabliert: mit der fortschreitenden Erschließung umfangreicher, in zahllose Varianten und Parallelfassungen verzweigter volkssprachlicher Überlieferungsgeflechte hat sich in den mediävistischen Philolo‐ gien eine deutliche Skepsis gegenüber den Zielen und Methoden der klassischen Textkritik und Edition entwickelt, weil es sich oft als unmöglich erwies, die Komplexität der Manuskriptkultur auf einen ursprungs- und autornahen Text zu reduzieren. 38 Cerquiglinis 1989 erschienene Streitschrift ‚Éloge de la variante‘, 39 die wesentlich auf Zum‐ thors Konzept der ‚mouvance‘ basiert, 40 intensivierte die Debatte, indem Varianz nicht nur als ein zentraler Aspekt mittelalterlicher Textualität gefasst, sondern als deren eigentliches Wesen verabsolutiert wird, das in in dem viel diskutierten Diktum zusammengefasst wird, dass mittelalterliche Schrifttexte nicht Varianten haben, sondern Varianz seien. Cerquiglini und der an ihn anschließenden und unter dem Begriff der ‚New Philology‘ verschlagwor‐ teten Debatte ist verschiedentlich vorgeworfen worden, nichts genuin Neues zu vermitteln, sondern im Wesentlichen die bereits etablierte Einsicht zu verhandeln, dass der mittelal‐ terliche Text in seinem Variantenreichtum durch die herkömmliche Philologie nicht adä‐ quat abgebildet wird. 41 Eine Neuakzentuierung stellt aber die Verbindung der Thesen mit 50 3 Die variable Form des Textes 42 Vgl. S C H N E L L , ‚Autor‘ und ‚Werk‘, S. 21-26. 43 Vgl. B A I S C H , Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft, S. 77. 44 B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 61. 45 Vgl. B U M K E , Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹, S. 7-11. 46 Vgl. H E N K E L , Kurzfassungen höfischer Erzähltexte, S. 40; S. 58f. 47 Vgl. L Ö S E R , Postmodernes Mittelalter? , S. 243f. 48 S T R O H S C H N E I D E R , Situationen des Textes, S. 70. postmodernen Theorien dar, die sich vor allem in der Kritik des traditionellen Autor- und Werkbegriffs und der Negation jeglichen Originalitätsanspruchs manifestiert. Die Negie‐ rung subjekthafter Kategorien wie Autor oder Schreiber, an die sich Varianz bzw. der Text an sich rückbinden lässt, bedingt letztlich eine Absage an jede fassbare Intentionalität bei der Textgestaltung. 42 Damit macht die von einigen Vertretern der New Philology postulierte völlige Regellosigkeit und Permanenz der Varianz nicht nur jedweden Versuch einer Ana‐ lyse von deren Genese obsolet, 43 sie führt auch hinsichtlich einer Semantisierung von Va‐ rianz in den gleichen Stillstand wie die klassische Textkritik. Wird die Sinnhaftigkeit und Intentionalität von Varianz von der klassischen Textkritik negiert, indem sie diese als zu vernachlässigenden Bestandteil eines überlieferungsgeschichtlichen Verfallsprozesses fasst, bedingt die New Philology durch das gegensätzliche Diktum verabsolutierter Varianz eine rein phänomenologische Betrachtung, die gleichfalls weder eine hermeneutische noch eine funktionale Perspektivierung ermöglicht: The monolithic view of medieval vernacular textuality as an uncontrolled, amorphous, and proc‐ rustean verbal mass is both a postmodern critical manoeuvre and a serious obstacle to our under‐ standing of the sheer variety of scribal behaviour. 44 Seit den 1990er Jahren erschienen verschiedene Arbeiten vor allem zur höfischen Epik als dem zentralen Bereich der klassischen Textkritik, die stattdessen Varianz im Kontext des Textgebrauchs und als Ausdruck literarischer Interessenlagen analysierten. So sieht Bumke die verschiedenen Fassungen von Texten als Ausdruck eines individu‐ ellen Gestaltungswillens. 45 Ähnlich Henkel, der insbesondere in den aus der Perspektive moderner, normativer Ästhetik als ‚literarische Minderware‘ eingestuften Kurzfassungen nicht sekundäre Textverschlechterungen, sondern das Ergebnis literarischer Urteilsfähig‐ keit und einer produktiven Auseinandersetzung mit den Texten sieht. Für Henkel mani‐ festiert sich in der Koexistenz divergenter Textfassungen eine vielschichtige literarische Interessenbildung, innerhalb derer sich die reproduzierenden Instanzen die Texte aneignen und in der Adaption einem Wandel unterziehen. 46 Löser beschreibt die variable Gestaltung von Texten als eine unmittelbare Verschränkung von Rezeption und Produktion, in der sich ein Wissen um die Möglichkeit ausdrückt, Texte verschieden zu lesen. 47 Strohschneider sieht die variierende Gestaltung von Texten als Resultat einer prinzi‐ piellen Einbindung der Literatur in kommunikative Situationen: „Schriftliche Kommuni‐ kation bleibt vielmehr im Mittelalter weithin an interaktive Verständigung unter Anwe‐ senden, an deren Funktion und Modalitäten gebunden.“ 48 Der Text als aktualisierte Kommunikation von tradierten Texten und dem dort bewahrten Wissen ist eine funktional determinierte Größe, die Varianz erscheint als Ausdruck einer offenen literarischen Kom‐ munikation, in der der Text noch nicht „an die stabile soziale Institution des Autors sowie 51 3.3 Varianz im Forschungsdiskurs 49 S T R O H S C H N E I D E R , Situationen des Textes, S. 86. 50 Vgl. B A I S C H , Textualität - Materialität, S. 14ff. 51 Ders., Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft, S. 66. 52 M ÜL L E R , Aufführung - Autor - Werk, S. 166. Ähnlich B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 60: “the true individuality of a textual witness only emerges after detailed […] comparision with all the other surviving copies.“ 53 Vgl. S C H U L Z E , Varianz und Identität, S. 70f. 54 Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. X. Siehe auch Schnell, der festhält, dass den Mären eine „durch mündliche Tradierung bedingte textuelle ‚Auflösung‘“ unterstellt wurde. S C H N E L L , Was ist neu an der ‚New Philology‘? , S. 77. an generalisierte und anonymisierte Kommunikationsverhältnisse“ gebunden ist. 49 Baisch wendet gegen Strohschneiders kommunikationspragmatische Perspektive ein, dass diese durch die Anbindung des Textes an den situativen Rahmen den kommunikativen bzw. per‐ formativen Aspekt verabsolutiert und damit letztlich die Bedeutung von Skripturalität und auch der materiellen Komponente unterminiert. 50 Die Auffassung des Textes als kommu‐ nikative Handlung ist dennoch produktiv im Sinne eines prozesshaften Textverständnisses, das die unterschiedlichen Redaktionen von Texten als Ausdruck einer Interaktion von Tra‐ dition und individuellem Textverständnis bzw. -gebrauch sieht und damit das „Moment der Aktualisierung des Werkes, der Adaptation an einen gewandelten Sinnhorizont als das entscheidende Charakteristikum von Überlieferung grundsätzlich betont.“ 51 Varianz als Ausdruck der Gebrauchs- und Verstehenszusammenhänge des Textes bedingt ein anderes Verständnis von dessen Interpretierbarkeit: Der Text kann nicht nur als klar umrissener Autortext, sondern auch in der Summe seiner varianten Gestaltungen inter‐ pretiert und nach Verfahren der Banalisierung, Harmonisierung, Komplexitätssteigerung und der Anpassung an Kontexte untersucht werden: „statt eines Einzeltextes ist ein En‐ semble von Texten und der Spielraum seiner Variation zu interpretieren.“ 52 Gerade im Bereich der Kleinepik, in der variante Textgestaltungen schon durch die Kürze der Texte besonderes Potential für Sinnveränderung haben, bietet eine hermeneutische Analyse, die mit einer philologischen Betrachtung der unterschiedlichen Redaktionen des Textes verbunden ist, die Möglichkeit, nicht nur den Text an sich im Spektrum seiner Über‐ lieferungsvielfalt zu interpretieren, sondern daraus auch Textgebrauch und -verständnis zu erschließen. 3.4 Retextualisierung - der Text zwischen Offenheit und Festigkeit Textuelle Varianz wurde häufig auf eine durch mündliche Überlieferung bedingte Auflö‐ sung zurückgeführt, indem aus einer quasi mnemotechnischen Adaption der Texte keine Wort-für-Wort, sondern eine sinngemäße Reproduktion resultiere. 53 Das Argument wurde verschiedentlich auch für die Divergenzen im Textbestand kleinepischer Dichtungen be‐ müht, der Kommentar von Edward Schröder zur Edition des ‚Herzmaere‘ steht prototypisch für diese Perspektive: „In fast allen fällen, wo man von einer ‚kürzenden bearbeitung‘ redet, liegt in wirklichkeit nichts als eine niederschrift aus dem gedächtnis vor.“ 54 Eine Argumentation mit der semioralen Kultur trägt allerdings nur begrenzt zum Ver‐ ständnis des Phänomens textueller Varianz bei, denn zum einen hat Mündlichkeit keines‐ 52 3 Die variable Form des Textes 55 Vgl. M ÜL L E R , ‚Improvisierende‘, ‚memorierende‘ und ‚fingierte‘ Mündlichkeit, S. 163ff., der darauf verweist, dass alle oralen und semi-oralen Kulturen nicht nur Methoden zur Sicherung ihrer Wis‐ sensbestände kennen, sondern dass gerade in einer schriftlosen Gesellschaft das wissenserhaltende Memorieren wichtiger ist als eine (text)verändernde Improvisation. 56 Vgl. S C H U B E R T , Der Schreiber im Mittelalter, S. 5. Ähnlich N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 26, der darauf hinweist, dass die These, volkssprachige Manuskripte seien primär zum Vorlesen genutzt worden, ebenso unsicher zu belegen ist wie die Frage nach den Rezipienten und der Lesefähigkeit an sich. Zur Schwierigkeit der Analyse der oralen Kultur vgl. auch G U M B‐ R E C H T , Schriftlichkeit in mündlicher Kultur, insbesondere S. 159. 57 Grubmüller stellt in einer Auswertung von Kommentaren und Reflexionen zu Textveränderungen in der handschriftlichen Überlieferung fest, dass diese sich nirgends auf Vortrags- oder Auffüh‐ rungssituationen beziehen, sondern immer auf Veränderungen im Abschreibeprozess. Offenbar wurde die Literatur im Mittelalter viel stärker als Schriftkultur wahrgenommen als in der Forschung postuliert. Vgl. G R U B MÜL L E R , Verändern und Bewahren, S. 31. 58 Vgl. B U M K E / P E T E R S , Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 1. 59 Vgl. P E T E R S , Philologie und Hermeneutik, S. 264; W O R S T B R O C K , Wiedererzählen und Übersetzen, S. 128f. 60 B U M K E , Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 10f. 61 Vgl. C R A M E R , Die Autorität des Musters, S. 10f. wegs zwingend Varianz und Unfestigkeit zur Folge, 55 zum anderen wird die Erklärung tex‐ tueller Phänomene damit in den Bereich der Oralität mit den ihr eigenen empirischen Unwägbarkeiten verschoben. 56 Abgesehen davon, dass ein Zusammenhang von mündlicher Weitergabe und Textveränderung in der handschriftlichen Überlieferung keineswegs als gesicherter Befund gelten kann, 57 wird das Phänomen der textuellen Varianz auf eine prag‐ matische Dimension reduziert und nicht als genuiner Bestandteil mittelalterlicher Litera‐ rizität wahrgenommen. Zielführender ist ein poetologisches Verständnis der variablen Gestaltung von Texten im Kontext mittelalterlicher Dichtungspraxis. Mittelalterliche Texte sind auf verschiedenen Ebenen Bearbeitungen von Vorgängigem, 58 die Verfasser beanspruchten keine Urheber‐ schaft für die von ihnen erzählten Geschichten, sondern bearbeiteten bekannte Stoffe und konkrete Vorlagen, deren Adaption ausdrücklich als genuiner Bestandteil des literarischen Schaffensprozesses herausgestellt wurde. Vor allem im Bereich der großepischen Dich‐ tungen zeigt sich dies in einer dezidierten Betonung der Überliefertheit des Erzählten, wie sie etwa in Quellenverweisen, Beglaubigungsformeln und der expliziten Anknüpfung an die Vorlagen und deren Autoren fassbar ist. 59 Obwohl diesen Erzählstrategien häufig Brüche und Ironisierungen inhärent sind, verweist ihre topische Anwendung auf ein literarisches Selbstverständnis, das wesentlich auf einer Orientierung an Autoritäten und einer Ver‐ bindlichkeit der Tradition basiert. In der mittelalterlichen Literarizität wird unterschieden zwischen dem Stoff, der ma‐ teria, die eine eigene, von dem jeweiligen Verfasser und seinem Text unabhängige Autorität und Gültigkeit besitzt, und dem, was der Dichter damit macht, dem dichterischen Schaffensprozess und dem dichterischen Werk. Die materia ist grundsätzlich vorgegeben; sie wird dem Dichter vermittelt oder von ihm aufge‐ sucht. 60 Entsprechend manifestiert sich die genuine Leistung des Dichters in der konkreten poeti‐ schen Gestaltung, der Formgebung seiner materia. 61 Worstbrock entwirft ein - ausdrücklich 53 3.4 Retextualisierung - der Text zwischen Offenheit und Festigkeit 62 W O R S T B R O C K , Wiedererzählen und Übersetzen, S. 135ff., Zitat S. 141. Die poetologische Fokussierung auf die Formgebung einer gegebenen materia spiegelt eine seit der Mitte des 12. Jahrhunderts fass‐ bare, vor allem durch die sogenannte Schule von Chartres profilierte Kunstbetrachtung wieder, nach der jeder materia eine ideale forma zukommt, die es zu finden und zu konstituieren gilt. Vgl. K ÜH N E , Der informierte Text, S. 180. 63 Vgl. W O R S T B R O C K , Wiedererzählen und Übersetzen, S. 138f. 64 Vgl. L I E B , Die Potenz des Stoffes, S. 358-362. 65 Ebd., Die Potenz des Stoffes, S. 362. 66 Vgl. B U M K E , Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 44f.; B U M K E / P E T E R S , Retextuali‐ sierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 2. 67 S C H N E L L , ‚Autor‘ und ‚Werk‘, S. 19. auf den Bereich großepischer Dichtungen bezogenes - Modell des ‚Wiedererzählens‘, dessen Bezugsgröße nicht die besondere Textualität oder Form der Vorlage, sondern der dort verhandelte Stoff ist und verweist beispielhaft auf Galfrieds von Vinsauf Poetiken, der die Kunst des Dichtens als Arbeit an einer gegebenen materia beschreibt. Hier ist die Stoff‐ findung kein Gegenstand der Reflexion, sondern ausschließlich die als artificium bezeich‐ nete Formgebung des Textes, die allein als „schöpferischer, eigenkünstlerischer Bereich“ des Dichters zu gelten habe. 62 Aus dem Verständnis des Dichtens als Formgebung einer festen materia leitet Worstbrock auch eine Inkommensurabilität mit dem Autorbegriff ab, da keine Urheberschaft für den gesamten Text besteht und auch nicht beansprucht wird. 63 Lieb problematisiert diese Konzeption des Wiedererzählens zum einen wegen der Un‐ schärfe des materia-Begriffs, zum anderen wegen der dichotomischen Abgrenzung von materia und artificium. In Worstbrocks Verständnis wird das Wiedererzählen zu einer Va‐ riationskunst, die sich in der kunstvollen Veränderung einer festen materia erschöpft. Der Stoff und dessen künstlerische Bearbeitung können aber insbesondere in umfangreichen Dichtungen nicht trennscharf auseinanderdividiert werden, so lassen sich z.B. die erhebli‐ chen Differenzen zwischen Hartmanns ‚Erec‘ und Chrétiens ‚Erec et Enide‘ nicht auf rhe‐ torische Techniken reduzieren. 64 Lieb geht vielmehr von einer „wechselseitige[n] Bedingt‐ heit von Materia und Artificium“ aus und fasst das Prinzip des Wiedererzählens als Aktualisierung und Wiederschöpfung der materia, die als eine zu verwirklichende, aber nicht unveränderliche ‚Potenz‘ gedacht werden muss. 65 Die divergierenden Positionen zeigen beispielhaft, dass die Bearbeitung bekannter Stoffe und die ausgeprägte Interaktion mit möglichen Prätexten zum einen als konstitutiver Bestandteil der volkssprachigen Li‐ teratur berücksichtigt werden müssen, 66 dass aber das genaue Verhältnis von Tradition und Innovation, von Autorität und Originalität und von Vorlage und eigener Bearbeitung schwer zu bestimmen ist: Die Grenzen zwischen Tradition und Innovation verschwimmen oft. Der Schritt vom Nach‐ schreiben einer Vorlage zur Gestaltung von etwas ganz Neuem, der Schritt von der ‚imitatio‘ zur Originalität erweist sich in der Praxis, nicht in der Poetik, als fließender Übergang. 67 Die bearbeitende Adaption von Vorgängigem ist in der mittelalterlichen Literarizität aber nicht nur für die Dichtungspraxis bedeutsam. Die durch das Wiedererzählen einer be‐ kannten materia bzw. die Adaption von Vorlagen entstandenen Texte werden auch auf einer zweiten Ebene der Tradierung und Weiterbearbeitung retextualisiert, indem sie durch die Schreiber der Handschriften als reproduzierende Instanzen verändert und variant tradiert 54 3 Die variable Form des Textes 68 Vgl. Q U A S T , Der feste Text, S. 34f. 69 Vgl. W O L F , Buch und Text, S. 286f. 70 Gerade weil die materia des Textes in der Retextualisierungspraxis eine bereits vorhandene ist, kann Urheberschaft besonders für die ideale Textgestalt als der eigentlichen Originalleistung des Verfas‐ sers beansprucht werden. Vgl. Q U A S T , Der feste Text, S. 38. 71 Ebd., S. 35. Dass Textveränderungen keineswegs eine unkommentierte Selbstverständlichkeit für die Verfasser waren, sondern diese insbesondere Schreibereingriffen aus Unachtsamkeit, Unkenntnis oder Willkür kritisch gegenüber standen und Veränderungen nur im Zuge gezielter Verbesserung akzeptierten, weist auch Grubmüller am Beispiel von Konrads von Fußesbrunnen ‚Die Kindheit Jesu‘ nach. Vgl. G R U B MÜL L E R , Verändern und Bewahren, S. 12, S. 31f.; Weiterhin S C H N E L L , ‚Autor‘ und ‚Werk‘, S. 59f. 72 Vgl. Q U A S T , Der feste Text, S. 36, S. 45; G R U B MÜL L E R , Verändern und Bewahren, S. 14, S. 31f. 73 Für die höfische Epik weist Bumke seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert dagegen eine große Fes‐ tigkeit auch im Wortlaut der Texte nach. Vgl. B U M K E , Der unfeste Text, S. 127f. werden. Die Manuskriptkultur ermöglichte keine verbindliche Kontrolle über den Text, der in der Überlieferung gekürzt, erweitert, korrigiert oder anderweitig verändert werden konnte. Gegen die Vorstellung einer Regellosigkeit und völligen Absenz von Textfestigkeit in der mittelalterlichen Reproduktionspraxis wurde in verschiedenen Arbeiten aber nach‐ gewiesen, dass auch für mittelalterliche Texte durchaus Autorität beansprucht und Schutz vor Veränderung gefordert wurde. 68 Besonders in der lateinischen Schriftlichkeit begegnen immer wieder Autorpersönlichkeiten, die sich intensiv um den Bestand ihrer Texte be‐ mühten. 69 Aber auch in der volkssprachigen Überlieferung gibt es zahlreiche Beispiele für Verfasser, die eine Wahrung der von ihnen geschaffenen Texte und den Schutz vor un‐ sachgemäßen und willkürlichen Veränderungen fordern und die sich dabei keineswegs (nur) auf die Inhalte, die materia, sondern auch und gerade auf die Textform beziehen. 70 In vielen Texten finden sich Äußerungen, die entweder die Modalitäten von Textverände‐ rungen zu bestimmen suchen oder diese sogar grundsätzlich untersagen. Offenbar standen die Verfasser der Weitergabe ihrer Texte nicht grundsätzlich gleichgültig gegenüber, son‐ dern suchten die „Lizenzen, die den Rezipienten im Umgang mit der konkreten Textgestalt eingeräumt werden“, genauer zu bestimmen. 71 Solche Äußerungen zur Textsicherung sind Indizien für ein Bewusstsein und eine kritische Reflexion der Veränderbarkeit von Texten bei den Verfassern, die zum Teil Autorität für die Einheit aus Inhalt und idealer Textgestalt beanspruchten und versuchten, die reproduzierende Textbearbeitung zu ‚kontrollieren‘. Dabei sind Forderungen nach Bewahrung der festen Textgestalt oft in der Normativität der vermittelten Inhalte verankert, denn zumeist sind es geistliche Texte, für die in ihrem Konnex mit der Autorität der Heilserfahrung eine besondere Sorgfalt im Umgang mit der festgelegten Textform verlangt wurde. 72 Bei der Gestaltung profaner Texte galt ein anderer Ermächtigungsspielraum für die Bearbeitung und Veränderung, und so stehen den durch die Dignität der geistlichen Inhalte besonders gesicherten Texten Gattungsfelder mit einer größeren Variabilität gegenüber; zu diesen wird neben Lyrik, Chronistik und verschiedenen Bereichen pragmatischer Textualität auch die Kleinepik gezählt. 73 Dass der Zugriff auf die Texte offenbar nicht beliebig ist, dass die Veränderungen in Wort‐ bestand und Textstruktur in der reproduzierenden Rezeption oftmals begrenzt bleiben, mag in einer Anerkennung für die Autorität des ‚Werkes‘ bedingt sein. In jedem Fall schließen sich Textsicherung und die Anpassung des Textes an eine spezifische situative Verwendung 55 3.4 Retextualisierung - der Text zwischen Offenheit und Festigkeit 74 B A I S C H , Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft, S. 31. Analog stellt Holznagel explizit für die Überlieferung der kleinepischen Dichtung fest, dass handschriftliche Varianz und Werkherrschaft sich keineswegs ausschließen. Vgl. H O L Z N A G E L , ‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Handschrift‘, S. 137. 75 R E U V E K A M P -F E L B E R , Der Codex als Kontext, S. 240. Nicht nur in der mediävistischen Literaturwissenschaft hat sich seit den 70er Jahren die Debatte zunehmend vom ‚Werk‘ auf den Textbegriff verlagert, der den mit dem Werkbegriff verbundenen idealistischen Implikationen von Originalität, Einheitlichkeit und Geschlossenheit eine stärkere Pro‐ filierung der prinzipiellen Offenheit des poetisch geformten Textes gegenüberstellt. Die besondere Problematik des Werkbegriffs in der vormodernen Literatur begründet sich wesentlich durch das Fehlen eindeutig, auch biographisch fassbarer Autoren und von den Autoren selbst verantworteter ‚Originaltexte‘. Vor allem an postmodernen Konzepten orientierte Theorien leiten aus der „Nicht-Re‐ konstruierbarkeit eines Originals die These des gänzlichen Fehlens von Originalen in den volks‐ sprachlichen Literaturen des Mittelalters ab.“ N E M E S , Von der Schrift zum Buch, S. 74f.; weiterhin S C H N E L L , Was ist neu an der ‚New Philology‘? , S. 62ff. Verschiedene Arbeiten haben eine Neuprofilierung des Werkbegriffs vorgenommen, die den Über‐ lieferungsspezifika der mittelalterlichen Textualität Rechnung trägt. So beschreibt Bumke eine Vor‐ stellung von Werk, die alle divergierenden Ausgestaltungen in den Blick nimmt: „der Werkbegriff verschiebt sich vom Original auf die Fassungen“ (B U M K E , Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 48). Henkel bestimmt angesichts des Fehlens eines autorgebundenen ‚Originals‘ die variablen Textfassungen als „Gebrauchsformen“ des Werkes (H E N K E L , Kurzfassungen höfischer Erzähltexte, S. 40). Verschiedentlich wird das ‚Werk‘ auch als ‚Schnittmenge‘ für Texte gefasst, „die trotz Varianz gegeneinander so weitgehend übereinstimmen, daß sie unter ein gemeinsames Dach gehören“ (N U T T -K O F O T H , Varianten der Selbstdarstellung, S. 137). Ähnlich auch bei K O N D R U P , Text und Werk, S. 3: „Ein Werk bezeichnet in der Regel eine Vielzahl von Texten (eine Text-‚Gruppe‘) mit einer fundamentalen Übereinstimmung, auf deren Hintergrund die jeweilige Varianz zutage treten kann“. Die verschiedenen Begriffsbestimmungen zeigen, dass das ‚Werk‘ im Gegensatz zum Text zumeist als Abstraktum gefasst wird, dass der Werkbegriff aber nach wie vor nicht nur einen „Schlüsselbegriff bei der (wissenschaftlichen) Beschäftigung mit Literatur“ darstellt, sondern dass auch in der text‐ kritischen Debatte „implizit von einer werkhaften Geschlossenheit als dem Denken des Textes an‐ gemessene Figur nach wie vor auszugehen ist“. B A I S C H , Was ist ein Werk? , S. 106; S. 110. Hier auch ein Überblick über die Debatte zum mediävistischen Werkbegriff. In der hermeneutischen Auseinandersetzung ist die Vorstellung von ‚Werk‘ als einer normativen Größe, die nicht nur ein Handlungsgerüst sowie Motiv- und Figureninventar vorgibt, sondern auch einen festen Spielraum an Sinn entwirft, nicht obsolet. Besonders in einer autorbezogenen Diskussion ist der Werkbegriff, in semantischer Nähe zur Dichtung, weiterhin präsent. Die Kategorie ‚Werk‘ ist in Relation zum Textbegriff letztlich aber nur als heuristisches Modell, als textontologisch nicht greifbare Größe, denkbar. Der Werkbegriff lässt sich in der mittelalterlichen Literarizität nicht ohne die implizite Aporie denken, dass das ‚Werk‘ nicht an sich, sondern nur in seinen verschiedenen, durch reproduzierende Instanzen geformten Repräsentationen verfügbar ist. Vgl. J A N O T A , Mittelal‐ terliche Texte als Entstehungsvarianten, S. 80; B A I S C H , Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft, S. 82. nicht aus, Varianz bedeutet keine „permanente Bedeutungstransformation“, sondern eine „spezifische und selektive Aktualisierung der Sinnschichten eines Werkes“. 74 In der Dia‐ lektik von Varianz und Textfestigkeit zeigt sich, dass trotz der prinzipiellen Möglichkeit zur textverändernden Adaption die Vorstellung eines ‚Originaltextes‘ oder ‚Werkes‘ mit festen Sinnstiftungen nicht obsolet ist: Der mittelalterliche Text ist paradoxerweise immer zugleich Kondensat des einen zugrunde lie‐ genden Werkes - das sich dann auch in allen Fassungen wieder erkennen lässt - und ein in der handschriftlichen Ausgestaltung existentes Unikat, das auf je eigene Sinnbezüge hin geöffnet ist. 75 56 3 Die variable Form des Textes 76 Einen Überblick über die neuere mediävistische Autorschaftsdebatte bietet z.B. S C H N E L L , ‚Autor‘ und ‚Werk‘. 77 Vgl. B E I N , ‚Überlieferungsgeschichte - Textgeschichte - Literaturgeschichte‘, S. 99. Auch bei be‐ kannten Verfassernamen treten die Autoren kaum als historisch fassbare Personen in Erscheinung, denn die Informationen zu den Verfassern entstammen in der Regel den Texten selber. Diese ‚Selbst‐ auskünfte‘ dürfen nicht als autorbiographische Fakten aufgefasst werden, sondern sind vielfach als poetische Erzähler-Figurationen zu verstehen. Vgl. R E U V E K A M P -F E L B E R , Autorschaft als Textfunk‐ tion, S. 1ff. 78 Während der Beginn der ‚Hochphase‘ der höfischen volkssprachigen Literatur um 1180 terminiert wird, stammen die Überlieferungsträger hochhöfischer Texte vorrangig aus dem 13. und 14. Jahr‐ hundert. Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 212. 79 Vgl. B E I N , ‚Überlieferungsgeschichte - Textgeschichte - Literaturgeschichte‘, S. 99. 80 Die Nivellierung der unterschiedlichen Entstehungszeiten dürfte in der zeitgenössischen Rezeption noch ausgeprägter gewesen sein: Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass das ‚Herzmaere‘ in einer Sammlung des späten 15. Jahrhunderts wie dem ‚Liederbuch der Clara Hätzlerin‘ als Dichtung des 13. Jahrhunderts wahrgenommen wurde, vielmehr dürfte der Sammlungsverbund eine Nivellierung der unterschiedlichen zeitlichen Kontexte bedingt haben. So wie das mittelalterliche Publikum, dem die älteren bzw. ‚originalen‘ Textstufen nicht unbedingt bekannt waren, vermutlich nicht konsequent zwischen ‚Original‘ und Weiterbearbeitung unterschieden hat (vgl. B U M K E , Autor und Werk, S. 99), waren wohl auch die genauen zeitlichen Zuschreibungen der einzelnen in den Codices inserierten Dichtungen irrelevant. 3.5 Der Schreiber als Akteur von Textform und Sammlung 3.5.1 Autor Die Diskussion um den mittelalterlichen Werkbegriff hängt unmittelbar mit der verän‐ derten Perspektivierung von Autorschaft zusammen; mit der Überlieferung von Texten in verschiedenen, nicht hierarchisierbaren Redaktionen verliert auch die Vorstellung einer fassbaren und kohärenten Autorinstanz an Plausibilität. 76 Die mittelalterliche Literatur hat, indem die Texte praktisch nie als Autographen vorliegen und häufig anonym überliefert sind, keine Basis für eine dezidiert Autor-Orientierte Literaturgeschichte und schließt vor allem ein Verständnis des Autors als biographisch fassbare Größe weitgehend aus. 77 Einen weiteren Bruch erfährt die Autor-Werk Relation durch den Anachronismus der Manus‐ kriptkultur, denn die erhaltenen Handschriften wurden häufig deutlich nach der ange‐ nommenen Entstehungszeit der tradierten Dichtungen erstellt. 78 Dennoch werden die Texte zumeist implizit als zeitgenössische Dichtungen aus der Schaffensperiode der ‚ursprüngli‐ chen‘ Verfasser und nicht als ästhetische Artefakte der Entstehungszeit der Handschriften gelesen. 79 Das ‚Herzmaere‘ Konrads von Würzburg steht prototypisch für dieses Phänomen. Obwohl die Versnovelle überwiegend in Manuskripten des 14. und 15. Jahrhunderts vorliegt und längst nicht immer mit einer Verfassersignatur versehen ist, wird sie als Dichtung des 13. Jahrhunderts und in unmittelbarem Autorbezug wahrgenommen. In den Sammelhand‐ schriften sind die unklaren Autorbezüge und die A-Historizität der Überlieferung noch gesteigert, indem Texte verschiedener Autoren und aus unterschiedlichen Zeiträumen ne‐ beneinander gestellt und in die Kohärenz der Sammlung eingeordnet werden. 80 Die Absenz definitiver Autortexte und die Nicht-Fassbarkeit historischer Autoren macht die Autorinstanz aber keineswegs obsolet, die Heterogenität der Texte negiert nicht die 57 3.5 Der Schreiber als Akteur von Textform und Sammlung 81 Auf den Anachronismus einer Argumentation, die die Absage an den Autorbegriff aus der Nicht-Fass‐ barkeit historischer Autoren herleitet, weist Schnell hin. Der unbedingte Zusammenhang zwischen Leben und Werk eines Autors ist keine überhistorische Konstante, sondern basiert auf Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Für die vormoderne Literatur ist dagegen zwischen dem Autor als biographisch fassbarem Subjekt und dem Autor als Textproduzent zu unterscheiden. Vgl. S C H N E L L , ‚Autor‘ und ‚Werk‘ im deutschen Mittelalter, S. 71f. 82 Bein beschreibt das Dilemma der Forschung, die anerkennen muss, dass die ‚Urtexte‘ zwar nicht erschließbar sind, andererseits Literatur ohne die Kategorien Original und Autor kaum beschrieben werden kann. Vgl. B E I N , ‚Überlieferungsgeschichte - Textgeschichte - Literaturgeschichte‘, S. 91. 83 Vgl. B A I S C H , Autorschaft und Intertextualität, S. 102. 84 Q U A S T , Hand-Werk, S. 67. 85 Vgl. M ÜL L E R , Aufführung - Autor - Werk, S. 156; S C H N E L L , Was ist neu an der ‚New Philology‘? , S. 91; B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 484. Siehe analog die Genese in der bildlichen Darstellungen von Autoren: Meier vergleicht die seit dem 12. Jahrhundert in ma. Handschriften verbreiteten Autorbilder und kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwürfe von Autorschaft und die Darstellung der Autorkompetenzen im Bild immer breiter und differenzierter werden (vgl. M E I E R , Das Autorbild als Kommunikationsmittel, bes. S. 534). Ähnlich Peters, die Autorbilder als Bestandteil einer zunehmenden Legitimierung und Autorisierung von Texten über die Kategorie von persönlich-biographischer Autorschaft ausweist. Vgl. P E T E R S , Das Ich im Bild, S. 19. 86 Vgl. B U M K E , Autor und Werk, S. 106ff. Annahme einer Autorintention. 81 Der Autor ist nicht nur als Kategorie der mediävistischen Forschung und Editionspraxis relevant, 82 Vorstellungen von Autorschaft und einer damit verbundenen Autorität sind auch in den mittelalterlichen Texten selber präsent. Die o.g. Mahnungen vor der (unsachgemäßen) Änderung von Texten als Strategien der Autorisation und Authentifizierung zeugen nicht nur von einem ‚Werk‘-, sondern auch von einem Au‐ torenbewusstsein. 83 So weist Quast in Konrads von Heimesfurt ‚Diu urstende‘ ein zeitge‐ nössisches Verständnis von werc als einmaliges, an seine Materialität gebundenes und handwerklich erstelltes Artefakt nach, das schon aus einer produktionspraktischen Logik heraus untrennbar mit dem Autor verknüpft ist: „Vom Konzept einer Autonomie des Textes, eines Textes, der als vom Autor ein für allemal entbunden vorgestellt wird, fehlt bei Konrad jede Spur.“ 84 Konrad mag in seiner spezifischen Konturierung der Autor-werc-Relation ein Sonderfall sein, indes bezeugt die Praxis, Selbstnennungen von Autoren in Pro- und Epiloge von Dichtungen einzubinden und sekundäre Verknüpfungen von Texten mit Autoren‐ namen herzustellen, wie sie etwa in den Dichterkatalogen Rudolfs von Ems zu Tage treten, eine Relevanz der Vorstellung von Autorschaft an sich sowie von volkssprachiger Autor‐ schaft im Besonderen. 85 Auch die kleine Reimpaardichtung, die im 13. Jahrhundert noch häufig anonym überliefert ist, tritt ab dem 14. Jahrhundert zunehmend mit Autornen‐ nungen und in autorzentrierten Kompilationen in Erscheinung. Auch wenn diese Angaben keine verbindlichen biographischen Informationen darstellen, sind sie dennoch nicht irre‐ levant. Ebenso wenig können die Autornennungen (nur) als fiktionale Instanzen verstehbar gemacht werden, die eine Erzählerrolle entfalten und damit das Erzählte als Fiktion mar‐ kieren. 86 Weiterhin zeigen die Ovationen an die Meisterschaft bestimmter Autoren, etwa das Lob von Gottfrieds Dichtkunst im ‚Herzmaere‘, oder auch die Dichterschelte, für die Gottfrieds ‚Tristan‘ ein prominentes Beispiel liefert, dass Autorschaft als konkrete Kategorie der Textproduktion gedacht wurde, an die bestimmte Vorstellungen von Meisterschaft und 58 3 Die variable Form des Textes 87 Vgl. auch M ÜL L E R , Aufführung - Autor - Werk, S. 157. 88 Vgl. etwa die Debatte um die Verfasserschaft Konrads von Würzburg für ‚Die halbe Birne‘ (siehe S. 260). Ein prägnantes Beispiel ist auch der Stricker, dessen Name mit auffälliger Konsequenz tradiert wurde, wobei die genauen Zuschreibungen von Texten zu seinem Korpus differieren. Holznagel hält es auch auf Grund entsprechender Schreiberkommentare für möglich, dass der Stricker, ähnlich wie Freidank, als etablierte Instanz für bestimmte Lehrinhalte aufgefasst wurde und entsprechende Texte mit seinem Namen gekennzeichnet wurden. Vgl. H O L Z N A G E L , Autorschaft, S. 163-168, S. 183f. 89 Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 463; S T A C K M A N N , Autor - Überlieferung - Editor, S. 30f. Für Janota negiert die verändernde Reproduktion von Texten nicht die Autorität von Autorschaft, im Gegenteil ist die Arbeit am Text sogar als Indiz der Anerkennung des Autors zu sehen, dessen ‚Werk‘ weitergeformt wird. Vgl. J A N O T A , Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten, S. 79f. 90 B A I S C H , Autorschaft und Intertextualität, S. 101. 91 Vgl. S C H U B E R T , Der Schreiber im Mittelalter, S. 5. 92 W O L F , Buch und Text, S. 290. Fähigkeiten gebunden sind. 87 Dass die Autorität, die bestimmten Autoren zugeschrieben wurde, auch als verfügbares Mittel betrachtet werden konnte, um Texten Geltung zu ver‐ leihen, zeigen die zahlreichen Texte, deren Autorsignaturen in ihrer Echtheit in Frage ge‐ stellt werden. 88 In der Summe zeigt sich, dass der Text in der vormodernen Literatur kaum als subjektlose Kategorie gedacht wurde. Auch ohne die klare Relation von biographisch fassbarem Autor und seinem ‚Werk‘ bzw. ‚Originaltext‘ ist in den literarischen Texten des Mittelalters eine Vorstellung von Autorschaft präsent, die Autorität und Authentizität für die vom Autor gesetzten spezifischen Sinnsetzungen impliziert: 89 Trotz varianter Überlieferung bleibt dem Text damit „jener Sinn als Spur eingeschrieben, die auf die Intention des Autors zurück‐ führen kann.“ 90 3.5.2 Schreiber und Kompilator Das Nebeneinander verschiedener Ausformungen von Texten erfordert eine gezielte Aus‐ einandersetzung mit der Institution der Schreiber als Produzenten der unterschiedlichen Redaktionen. In der Forschungsdebatte steht vorrangig der Autorbegriff im Fokus, 91 aber faktisch kommt auch dem Schreiber eine enorme Relevanz im mittelalterlichen Literatur‐ betrieb zu: Der Größe Schreiber war man sich im lateinischen wie im volkssprachigen Literaturdiskurs als entscheidende Mittlerinstanz zwischen Autor und Rezipient bewußt. Er sorgte für den Transport der Texte. Er zeichnete für die Verbreitung der Werke verantwortlich. Er war Garant von Text‐ qualität und Textintegrität. 92 Für die kleinepischen Sammlungen ist die Institution der Schreiber von besonderem Inte‐ resse, weil diese nicht nur die spezifische Ausformung der Einzeltexte gestalten, sondern auch die Sammlung als Gesamtkonzept prägen. Die Art und Weise, wie die Schreiber die Manuskripte zusammenstellen und gestalten, stellt einen wichtigen Schlüssel sowohl zum Verständnis der Texte als auch zum literarischen Selbstverständnis der Zeit dar. Die Per‐ spektivierung der produktionspraktischen Verhältnisse verdeutlicht, dass unter den Be‐ dingungen der Manuskriptkultur von einem erweiterten Textmodell auszugehen ist, das verschiedene Funktionen und auch Institutionen umfasst. Der Schreiber einer Sammlung 59 3.5 Der Schreiber als Akteur von Textform und Sammlung 93 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 219ff. Wolf bezeichnet die Schöpfer von Sammelhandschriften als Sekundärautoren. Vgl. W O L F , Sammelhandschriften, S. 69. 94 Vgl. W O L F , Buch und Text, S. 33f. 95 Vgl. ebd., S. 116f. 96 Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, insb. S. 188ff.; S C H M I D T , Probleme der Schreiber, der Schreiber als Problem, S. 177f. 97 Vgl. das Beispiel Clara Hätzlerin, der Schreiberin der Prager Handschrift X A 12; siehe S. 273ff. 98 Zum Zusammenhang von Schreibkompetenz, Schriftproduktion und dem frühen ‚Markt‘ für mittel‐ alterliche Manuskripte siehe N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, insbes. S. 188ff., S. 545ff. ist zugleich als Editor und als Akteur eines kreativen Prozesses fassbar, der die Texte aus‐ wählt und positioniert, aufbricht und zusammenfügt. 93 Die Erstellung der Sammelhand‐ schriften ist zwar durch Vorlagen und Traditionen geprägt, dennoch ist sie ein poetisches Verfahren, bei dem sich in besonderem Maße die strikten Distinktionen zwischen Autor und Schreiber sowohl auf der Ebene der Form des Einzeltextes als auch der Zusammen‐ stellung der Texte auflösen. Fragt man nach den Prinzipien der Veränderbarkeit von Texten, insbesondere im Kontext der Anpassung an die Sammlungsumgebung, steht zwangsläufig die Institution des Schreibers in ihrer Überschneidung mit und Abgrenzung von Autor‐ schaft im Fokus der Überlegungen. Die Schreiber stellen als Institution, in ihrem Zugriff auf die Texte sowie in ihrem Selbst‐ verständnis ein heterogenes und historisch variables Phänomen dar. Sie demonstrieren auf institutioneller Ebene die enge Verbindung der volkssprachigen Schriftlichkeit mit der la‐ teinisch-klerikalen Bildungswelt: Bis in das 12. Jahrhundert existierten sowohl Skriptorien als auch Bibliotheken fast ausschließlich in klösterlichen und bischöflichen Institutionen, entsprechend wurden Manuskripte überwiegend durch Geistliche gefertigt; schreibende Laien waren im frühen und hohen Mittelalter die Ausnahme. Zwar treten ab dem 12. Jahr‐ hundert zunehmend weltliche Fürstenhöfe als literarische Zentren und Produktionsorte der volkssprachigen Literatur in Erscheinung, aber auch hier sind die Schreiber zumeist in klerikale Strukturen eingebunden, zumal die schulische Bildung in geistlichen Institutionen verortet bleibt. 94 Erst ab dem Ende des 13. Jahrhunderts treten im Zuge des immensen An‐ stiegs vor allem der pragmatischen Schriftproduktion zahlreiche neue, auch weltliche Kanzleien in Erscheinung, die vorrangig der Produktion von Rechts- und Verwaltungs‐ schrifttum dienten und dabei keinesfalls nur volkssprachiges Textgut produzierten, sondern weiterhin wesentlich von der lateinischen Schriftlichkeit geprägt waren. 95 Ein wichtiger Faktor sowohl für den Aufschwung der Buchproduktion an sich als auch für die Etablierung einer Laienschriftlichkeit waren die Universitäten und zunehmend auch die städtischen Bildungseinrichtungen. 96 Erst mit dem 15. Jahrhundert ist neben dem Kanzleischrifttum auch vermehrt eine Produktion literarischer Texte durch Stadt- und Ratsschreiber, Notare, Sekretäre und professionelle Kopisten fassbar, 97 weiterhin etablierten sich professionelle Schreibschulen und Schreibwerkstätten, die den Bedürfnissen einer größer werdenden und sich diversifizierenden Rezipientenschicht nachkamen. Namentlich fassbar ist die Werk‐ statt Diebold Laubers, in der zwischen 1425 und 1467 gewerbsmäßig deutsche Hand‐ schriften für den Verkauf produziert wurden. 98 Auch treten zunehmend Privatpersonen aus 60 3 Die variable Form des Textes 99 Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 268ff. 100 Vgl. S C H U B E R T , Der Schreiber im Mittelalter, S. 3. 101 Vgl. ders., Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen, S. 126. 102 Vgl. aber den Sammelband ‚Der Schreiber im Mittelalter‘, hg. S C H U B E R T ; weiterhin S C H M I D , Probleme der Schreiber, der Schreiber als Problem; W O L F , Buch und Text. 103 Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 119. 104 Vgl. S C H U L Z -G R O B E R T , „Autoren gesucht“, S. 68f. Auch wenn Auftraggeber und Vorlage bestimmend für Inhalt und Gestaltung des Codex sein konnten, blieben stets einige Aspekte der Buchorganisation ganz oder teilweise von den Schreibern zu entscheiden, z.B. Seiten-Layout, Lagenorganisation, Größe von Initialen und Schrift. Vgl. E D M U N D S , The Life and Work of Clara Hätzlerin, S. 8. 105 Vgl. H E N K E L , Kurzfassungen höfischer Erzähltexte, S. 58f., der sich dabei v.a. auf Kurzfassungen großepischer Dichtungen bezieht. 106 B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 61. der städtischen Oberschicht als Schreiber in Erscheinung, die Bücher für den Eigenbedarf kopierten. 99 Während die klassische Textkritik den Schreiber noch als ein ‚notwendiges Übel‘ ange‐ sehen hat, von dessen störenden und verderbenden Eingriffen die Texte zu reinigen waren, hat sich in der Mediävistik mit der Einstellung zum Text und der handschriftlichen Über‐ lieferung auch die Betrachtung des Schreibers geändert. 100 Dennoch ist die Kenntnis von der Arbeit der Schreiber immer noch rudimentär, 101 insbesondere gibt es bislang wenige Forschungsbeiträge, die diese nicht primär unter dem Aspekt der handwerklichen Buch‐ produktion, sondern auch in ihrer poetologischen Funktion reflektieren. 102 Bedeutet die Schreibtätigkeit theoretisch die genaue Wiedergabe der Vorlage, bedingt schon die Anpassung an individuelle und regionale Schreibgewohnheiten Veränderungen des Textes, denen gezielte Entscheidungsprozesse der Schreiber zugrunde liegen können. 103 Faktisch zeigt das Nebeneinander zum Teil sehr divergenter Redaktionen, dass insbeson‐ dere die volkssprachigen Schreiber ihre Funktion breiter fassten; Abschrift und Umarbei‐ tung des Textes sind vor allem für die spätmittelalterlichen Schreiber oft untrennbar mit‐ einander verbunden. 104 Auch wenn sich eine Intentionalität in der gestaltenden Texttradierung nicht verbindlich nachweisen lässt, sind die unterschiedlichen Redaktionen und Fassungen von Dichtungen längst nicht immer Ausdruck von Willkür und entstel‐ lenden Kopiervorgängen. Oft zeugen sie von einer produktiven Auseinandersetzung, die ein hohes Maß an literarischer Kenntnis und Urteilsfähigkeit voraussetzt, 105 und machen die Umgangsweisen mit (literarischer) Autorität fassbar: Yet it is of the utmost importance to try and establish how they [the scribes] behaved with respect to what they were copying, for this can tell us much about the medieval attitude to language and authority. 106 In der Forschung hat die Arbeit der Schreiber eine gegensätzliche Beurteilung erfahren, die durch die Pole detailgenauer Übernahme der Vorlage und intentionaler Gestaltung oder sogar eigenständiger Dichtung markiert wird. Wurde der gestaltende Einfluss der Schreiber in der traditionellen Textkritik vielfach auf die Vorstellung einer Verschlechterung des ver‐ meintlichen Originals reduziert, haben unter anderem die Arbeiten Bumkes auf die Über‐ schneidung von Schreiber und Autor hingewiesen. Bumke koppelt, indem er den Werkbe‐ griff vom Original auf die Fassungen verschiebt, die unterschiedlichen Redaktionen 61 3.5 Der Schreiber als Akteur von Textform und Sammlung 107 Vgl. B U M K E , Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 48f. 108 Vgl. M ÜL L E R , Aufführung - Autor - Werk, S. 165. Ähnlich B A I S C H , Textkritik als Problem der Kul‐ turwissenschaft, S. 46, der der Aufwertung von Schreiber bzw. Redaktor als interpretatorischer Ka‐ tegorie zustimmt, sich aber von einem „zu großen Rekonstruktionsoptimismus“ distanziert, der „jede Variante eines Überlieferungsprozesses in einem Bearbeitungskonzept verankern will“. 109 W O L F , Buch und Text, S. 311; S. 321. 110 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 103. 111 Trotz ihrer Formelhaftigkeit und dem keineswegs zweifelsfreien Wahrheitsstatus der Selbstaussagen liefern Kolophone wichtige Hinweise auf die Tätigkeit und das Selbstverständnis der Schreiber, indem sie auch Kommentare zum Schutz der Texte und Bitten um Lohn enthalten oder auf den Aufwand und die Mühen der Handschriftenherstellung verweisen können. Vgl. S E I D E L , Tres digiti scribunt totum corpusque laborat, S. 150-155. 112 Analog stellt Busby fest, dass in Rechnungsbüchern bei der Kostenaufstellung für die Buchherstel‐ lung die Schreiber selten separat vermerkt werden, wogegen Einträge zu Pergament oder Illumina‐ tionen häufiger zu finden sind. Busby sieht hierin ein Indiz, dass die Schreibtätigkeit zum einen gering bezahlt, zum anderen aber auch zunächst nicht als relevanter Teil der Literaturherstellung gewertet wurde. Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 41. 113 Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 20. 114 Siehe S. 58. weitgehend von der Autorinstanz ab, womit die Schreiber als Produzenten der Fassungen auch zu werkschaffenden Instanzen werden. 107 Die Überlieferungswirklichkeit wird weder durch generalisierende Vorstellungen von Schreibern als pragmatisch-mechanischen oder sogar nachlässigen Kopisten noch von dem gegenteiligen Extrem der Vorstellung als grundsätzlich kreativen Produzenten eigenstän‐ diger Textfassungen adäquat abgebildet, 108 vielmehr machen „beide Extreme wie alle Nu‐ ancen dazwischen erst in ihrer Gesamtheit die mittelalterliche Schriftbzw. Schreibkultur aus“, wobei „so verschiedene Faktoren wie Textsorte, Intentionalität, Auftraggeberwille, Schreiberintelligenz und Mode“ über die genaue Relation zwischen beiden Momenten ent‐ scheiden. 109 Die genaue Zuweisung der konkreten Textform zum Autor oder Schreiber und damit eine Abgrenzung zwischen den verschiedenen Ebenen der Textproduktion ist kaum re‐ konstruierbar, zumal die Schreiber oft eine anonyme Institution darstellen, die Art und Umfang der Textveränderung in der Regel nicht kennzeichneten, 110 aber zweifellos sind die Schreiber eine zentrale Instanz, die im mittelalterlichen Textmodell mitgedacht werden muss. Eine der wenigen Quellen, aus denen Kenntnis über die Schreiber gewonnen werden kann, sind Kolophone, in denen neben Informationen zu Entstehungsort und -zeit der Handschrift und zum Auftraggeber auch die Schreibernamen vermerkt werden konnten. 111 Waren Selbstnennungen von Schreibern bis zum 13. Jahrhundert selten, 112 treten Schrei‐ bersignaturen in spätmittelalterlichen Codices häufiger in Erscheinung. 113 Diese Entwick‐ lung kann als Co-Evolution zu der stärker werdenden Tradition der Selbstnennung von Autoren verstanden werden, 114 sie verweist auf ein sich änderndes Selbstverständnis der verschiedenen textproduzierenden Instanzen, auf einen Prozess sich ausweitender und dif‐ ferenzierender Kompetenzen, in dem die Schreiber nicht mehr selbstverständlich hinter der Autorität eines Textes zurücktreten, sondern die gestalterischen Möglichkeiten und die poetische Signifikanz ihrer eigenen Tätigkeit deutlicher herausstellen. 62 3 Die variable Form des Textes 115 Bonaventura, Opera omnia, Tom. I, S. 14. Vgl. dazu auch M I N N I S , Diskussion of ›Authorial Role‹, S. 44f. 116 Vgl. Bonaventura, Opera omnia, Tom. I, S. 14f. 117 Vgl. S C H U B E R T , Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen, S. 127; M I N N I S , Late-medieval dis‐ cussions of ‚compilatio‘, S. 390. 118 Vgl. Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale, Tom. I, i. Siehe auch M I N N I S , Late-medieval discus‐ sions of ‚compilatio‘, S. 387ff., S. 409. Quast beschreibt ein vergleichbares Vorgehen in Sebastian Francks 1539 entstandenem ‚Kriegbüchlin des Frides‘. Franck entwirft einerseits eine eigene Argu‐ mentation, in die er die paraphrasierende Adaption anderer Autoren einbindet, distanziert sich aber gleichzeitig explizit von einer Verantwortung für das Geschriebene, die er den zitierten Autoritäten zuspricht. Vgl. Q U A S T , Sebastian Francks ‚Kriegbüchlin des Frides‘, insbes. S. 21, S. 33ff. 119 Vgl. Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale, Tom. I, i. 120 Vgl. B U M K E , Autor und Werk, S. 95; ders., Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 77; S C H U‐ B E R T , Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen, S. 127; S E I D E L , Tres digiti scribunt totum corpusque laborat, S. 149. Während in der volkssprachigen Schriftlichkeit nur wenige theoretische Aussagen zu den verschiedenen Kategorien der Textherstellung fassbar sind, kennt die mittellateinische Schriftkultur Reflexionen über die Unterscheidung zwischen Autor, Schreiber und Kompi‐ lator. So formuliert Bonaventura in der ‚Opera omnia‘ vier Arten, ein Buch zu schreiben, die nach dem Verhältnis von eigenem (sua) und fremdem (aliena) Gedankengut geschieden werden und die mit klaren Distinktionen zwischen den Instanzen scriptor, commentator, compilator und auctor einhergehen. Während der scriptor als Kopist gefasst wird, der Fremdes abschreibt und dabei nichts verändert, fügt der commentator dem Fremden etwas Eigenes hinzu. Dazwischen wird die Tätigkeit des compilators angesiedelt, der gleichfalls Fremdes aufschreibt, dieses aber verändert, indem er Anderes, aber nichts Eigenes hinzu‐ fügt: „Aliquis scribit aliena, addendo, sed non de suo; et iste compilator dicitur.“ 115 Das Schreiben von vorrangig Eigenem ist die Domäne des auctors, der zwar ebenfalls Fremdes hinzufügen kann, das aber den deutlich geringeren Anteil des Geschriebenen ausmacht. 116 In der mittellateinischen Theoriebildung spielt die Abgrenzung der verschiedenen Formen reproduzierender Textherstellung von ‚originärer‘ Autorschaft und die damit ver‐ bundene Selbstentlastung eine wichtige Rolle. 117 Vinzenz von Beauvais etwa reflektiert im einleitenden Prolog zum ‚Speculum maius‘ die Kategorie der Verantwortung für das Ge‐ schriebene, die nur den ursprünglichen Autor kennzeichne, wogegen Vinzenz zwar für die Anordnung des Materials in seiner Enzyklopädie verantwortlich zeichnet, nicht aber für die dargebotenen Inhalte - eine Differenzierung, die besonders als Legitimation für die präsentierten paganen Autoren wichtig ist. 118 Die Verwendung von christlichen und pa‐ ganen Autoren, von biblischen und apokryphen Schriften wird jeweils gesondert erläutert, weiterhin werden die Autoren und exzerpierten Werke, auf die Vinzenz in den einzelnen thematischen Kapitel rekurriert, zumeist explizit benannt. 119 Diese strikten Distinktionen sind als idealtypische Klassifikationen zu fassen, die viel‐ leicht weniger konkrete Institutionen als vielmehr verschiedene Funktionen oder Ebenen der Textproduktion beschreiben. Auch sind die Reflexionen explizit auf lateinische wis‐ senschaftliche bzw. theologisch-enzyklopädische Texte bezogen; in der volkssprachigen Schriftlichkeit werden die Unterschiede zwischen kopierenden, kommentierenden und kompilierenden Funktionen bei der Tätigkeit der Schreiber kaum in systematisierenden Reflexionen festgehalten. 120 Die verschiedenen Funktionen der beteiligten Akteure und die 63 3.5 Der Schreiber als Akteur von Textform und Sammlung 121 Vgl. z.B. B U M K E , Autor und Werk, S. 113. 122 Seit der Frühen Neuzeit hat sich eine Begriffsverwendung etabliert, die die Kompilation vor allem im Kontext der Enzyklopädik und damit als thematische Sammlung nach festen inhaltlichen Ord‐ nungsprinzipien fasst. Vgl. K A L L W E I T , ‚Kompilation‘ in RL 2, S. 317f. 123 Dabei ist für das Textverständnis und die Rolle des Kompilators nicht allein entscheidend, was aus den Vorlagen oder Quellen ausgewählt, sondern auch das, was ausgelassen wird. Vgl. Q U A S T , Se‐ bastian Francks ‚Kriegbüchlin des Frides‘, S. 22. Genesen der Textwerdung sind in der Regel nicht vollständig rekonstruierbar, insbesondere die Funktionen von Schreiber und Kompilator können schwer voneinander abgegrenzt werden; entsprechend werden die Begriffe in der germanistischen Forschung oft in enger Überschneidung gebraucht. 121 Das Ineinandergreifen von schreibender und kompilierender Tätigkeit spielt eine entscheidende Rolle bei der Erstellung kleinepischer Sammelhand‐ schriften, so dass hier einheitlich die Begrifflichkeit des Schreibers verwendet wird, diese aber immer die erweiterte Funktion als Kompilator einschließt. Die kleinepischen Samm‐ lungen sind keine Kompilationen im engeren Wortsinne eines geordneten Thesaurus be‐ stimmter Wissensbereiche, 122 dennoch stellt die Gestaltung von Sammlungen ein Kompi‐ lationsverfahren dar, das gleichermaßen auf der Einzeltextals auch der Sammlungsebene wirksam ist: Zunächst formt die Auswahl und das Zusammenfügen von Texten und Text‐ einheiten die Sammlung als Ganzes; 123 aber auch die Gestaltung des Einzeltextes, der zwar als etwas Fremdes wiedergegeben, dabei aber möglicherweise verändert wird, kann als kompilatorisches Verfahren gefasst werden. Der Autor bleibt zwar, unabhängig davon, ob er namentlich fassbar oder eine anonyme Kohärenzfigur ist, die zentrale, ‚Werk‘-bestim‐ mende Instanz, gegenüber der der Schreiber nachgeordnet ist. Aber indem die Schreiber verändernd in die Texte eingreifen, indem sie etwa die Titulaturen bestimmen oder die Pro- und Epimythien (um)gestalten, werden sie zu Kompilatoren des Einzelwerkes. Diese Ver‐ mischung der Funktionen hat für die kleinepischen Kompilationen, in denen eine bearbei‐ tende Zusammenstellung einer Vielzahl von kurzen Texten erfolgt, besondere Relevanz. 64 3 Die variable Form des Textes 1 Vgl. M E Y E R , Mittelalterliche Kurzerzählungen und Bilderzyklen? , S. 36. Nach Mihm sind ca. 110 Handschriften mit versnovellistischen Texten bekannt (vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 125). Mihms Annahme einer „lebhafte[n] Einzelüberlieferung“ (ebd. S. 13), die die Märenüberlieferung vor bzw. parallel zu den Sammelhandschriften geprägt haben soll, konnte nur durch einige Überlieferungszeugnisse des 15. Jh. gestützt werden; für die Frühphase der vers‐ novellistischen Dichtung gab es dagegen keine Belege für eine vereinzelte Tradierung. Neuerdings liegt mit der 2012 von der Staatsbibliothek zu Berlin neu erworbenen und bis dahin unbekannten Handschrift mgo 1430, die zwei Versnovellen zusammen mit einer geistlichen Wundererzählung tradiert, aber zumindest ein Beleg für die von Mihm vermuteten frühen selbstständigen Gruppen‐ editionen vor. Zur Handschrift mgo 1430 vgl. B E R R O N / S E E B A L D , Die neue Berliner Handschrift mgo 1430. Der Terminus ‚Sammelhandschrift‘ wird übergreifend zur Bezeichnung von Codices verwendet, in denen unterschiedliches Material, etwa Texte verschiedener Autoren oder unterschiedlicher Text‐ gattungen, zusammengefügt wird. Die Bezeichnung subsumiert dabei ganz unterschiedliche Buch‐ konzeptionen und Entstehungsprozesse. Die DFG-Richtlinien zur Handschriftenkatalogisierung un‐ terscheiden zwischen ‚Sammelhandschriften‘, deren verschiedene Bestandteile sich „dem Buchganzen einfügen“, und ‚zusammengesetzten Handschriften/ Sammelbänden‘, bei denen die ver‐ schiedenen Teile ohne signifikante inhaltliche Gesamtkonzeption zusammen gebunden werden; auf die Schwierigkeit der Abgrenzung der beiden Typen wird hingewiesen (DFG-Richtlinien Hand‐ schriftenkatalogisierung, S. 12). Wolf skizziert eine Typologie verschiedener, unter dem Oberbegriff der Sammelhandschrift subsumierter Buchtypen. Der einfachste Typ stellt dabei die ‚Buchbinder‐ synthese‘ dar, die dem ‚Sammelband‘ der DFG-Richtlinien entspricht und bei der von einer Zusam‐ menstellung der Texte ohne signifikante Entstehungsintention ausgegangen wird. Die eigentlichen Sammelhandschriften unterscheidet Wolf nach ‚additiven‘ und ‚synthetischen‘ Sammlungen, wobei der erste Typus Textreihungen bezeichnet, in denen die Einzeltexte keinen unmittelbaren Bezug zueinander haben. Dabei können die Sammlungen in ihrer Gesamtkonzeption aber durchaus planvoll sein und ein gemeinsames Programm ergeben; kleinepische Sammlungen wie den Cpg 341 zählt Wolf zu diesem Typus. In den synthetischen Sammlungen dagegen werden die Einzeltexte im Kontext der Sammlung verändert, indem Textpartien variabel gestaltet, ergänzt oder ausgelassen werden, wobei sich die Konturen der Einzeltexte soweit auflösen können, dass sich ein tatsächlicher Gesamttext ergibt. Vgl. W O L F , Sammelhandschriften - mehr als die Summe der Einzelteile. Indem die vorliegende Untersuchung der Frage nachgeht, wieweit die Varianzvorgänge einzelner kleinepischer Texte mit der Sammlung korrelieren, wird auch die Überschreitung der Grenze zu dem von Wolf beschriebenen Typus der ‚synthetischen Sammelhandschrift‘ geprüft. 4 Die Sammlung als Kontext 4.1 Kleinepische Sammelhandschriften Mit dem Beginn des 14. Jahrhunderts ist ein Quantitätssprung in der Überlieferung vers‐ novellistischer Texte fassbar, die zunehmend in großen Sammelhandschriften überliefert werden, die nur oder überwiegend Verspaarerzählungen enthalten und in denen die Texte in unterschiedlicher Auswahl und Zusammenstellung erscheinen. 1 Es finden sich unter den kleinepischen Sammelhandschriften praktisch keine homo‐ genen versnovellistischen Kompilationen, sondern die Versnovellen sind in den Samm‐ lungen stets eingebunden in andere Textsorten. Vornehmlich werden sie mit weiteren Formen der kleinen Reimpaardichtung überliefert, vor allem mit den generisch naheste‐ 2 Die Überlieferungssymbiosen der Sammelhandschriften verweisen in der Zusammenstellung auf die generische Ähnlichkeit insbesondere von Bîspel, Exemplum und Versnovelle, die besonders in den frühen Sammlungen gemeinsam überliefert wurden. Minnereden und Reimpaarsprüche wurden erst im ausgehenden 14. und im 15. Jahrhundert prägend für die Mitüberlieferung. Vgl. M I H M , Überlie‐ ferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 106-116. 3 Vgl. z.B. den Nürnberger Codex Merkel 2° 966, der Sprüche zum Augsburger Reichstag und zum Zunftaufruhr in Köln überliefert. Die Münchner Handschrift Cgm 5919 stellt der Textsammlung ein Kochbuch sowie eine Sammlung von Rezepten und Rezeptparodien voran. 4 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 26-40. So überliefert zum Beispiel der Prager Codex X A 12 ein nahezu homogenes Minneredenkorpus und in den Codices Wien 2705 und Cpg 341 stehen umfangreiche und praktisch homogene Bîspel-Reihen des Strickers. Die Dresdner Handschrift Mscr. M 50 stellt fast ausschließlich Texte von Hans Rosenplüt zusammen und der Cgm 270 enthält eine möglicherweise durch den Autor selbst beeinflusste Sammlung von Kauf‐ ringer-Texten, die in eine größere Kompilation eingebunden sind. Eine Fokussierung auf versnovel‐ listische, überwiegend schwankhafte Texte kennzeichnet dagegen die Codices Wien 2885 und Inns‐ bruck FB 32001, sowie Dresden Mscr. M 68. 5 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 15f. 6 S T U D E R , Exempla im Kontext, S. 151. henden Bîspeln und Exempla, häufig auch mit Minnereden. 2 Weiterhin finden sich in der Mitüberlieferung verschiedene Formen der Spruchdichtung, geistliche Lehrgedichte und großepische Dichtungen, gelegentlich sind auch historiographische oder pragmatische Prosatexte eingebunden. 3 Die Sammlungen setzen unterschiedliche Schwerpunkte in der Textauswahl und der Mitüberlieferung, teilweise finden sich gattungsmäßige Gruppie‐ rungen; aber auch andere Prinzipien sind fassbar, etwa Autorbezüge oder thematische Schwerpunkte wie die Fokussierung auf religiöse oder schwankhafte Inhalte. 4 Die Samm‐ lungen treten aber zumeist nicht als kohärente Zusammenstellungen hinsichtlich der Text‐ sorten, der thematischen Bezüge, der Autoren oder anderer vereinheitlichender Gesichts‐ punkte in Erscheinung. Die Anordnung der Texte basiert selten auf homogenen inhaltlichen oder strukturellen Verfahrensweisen, sondern in unterschiedlichen Teilen der Sammlung können divergente Prinzipien wirksam sein: 5 Eine Sammelhandschrift bietet unterschiedliche Möglichkeiten, einzelne Texte und Textkorpora als zusammengehörig oder voneinander abgetrennt zu betrachten. Von Interesse können inhalt‐ liche, kodikologische, überlieferungsgeschichtliche oder texttypologische Kriterien sein. Was unter einem bestimmten Blickwinkel als „Sammlung“ erscheint, kann aus einer anderen Perspek‐ tive ausgesprochen heterogen wirken. 6 Diese zum Teil konzeptionslos wirkenden Zusammenstellungen haben die Annahme ver‐ stärkt, dass der Einzeltext aus sich selbst heraus verstanden werden müsse und der Codex als Verständnisrahmen nicht oder nur sehr bedingt herangezogen werden könne. Während für den Bereich der großepischen Dichtungen in der germanistischen Forschung schon früh 66 4 Die Sammlung als Kontext 7 Heinzle verweist auf den Verbund von Texten als spezifische, die Rezeption prägende Werkeinheit der Handschriften. Am Beispiel der Überlieferung von ‚Nibelungenlied‘ und ‚Nibelungenklage‘ wird gezeigt, wie in Handschriften eine Werkeinheit zwischen verschiedenen Texten hergestellt und dabei der Textübergang z.B. durch das Layout gezielt überspielt wird (vgl. H E I N Z L E , Handschriftenkultur und Literaturwissenschaft, S. 21-24). Das Musterbeispiel für ein geschlossenes Sammlungskonzept aus der Zeit um 1200 stellt der Vorauer Cod. 276 dar (vgl. G R U B MÜL L E R , Die Vorauer Handschrift und ihr "Alexander"). Zusammenhänge zwischen Texten in Codices sind vor allem aus der höfischen Erzählliteratur bekannt, so wurde dem Codex St. Gallen 857 eine Sinneinheit unterstellt, durch die die enthaltenen religiösen Texte mit der höfischen Erzählliteratur verbunden sind (vgl. H E N K E L , Re‐ ligiöses Erzählen um 1200, S. 16-19; weiterhin F R O M M , Überlegungen zum Programm des St. Galler Codex 857; S C H I R O K , Der Codex Sangallensis 857). Zur Zyklusbildung in der Überlieferung helden‐ epischer Dichtungen siehe B A S T E R T , Sequentielle und organische Zyklizität; ders., Rewriting „Wil‐ lehalm“. 8 Vgl. aber W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts; H O L Z N A G E L , ‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Hand‐ schrift‘; ders. Von diabolischen Rechtsbrechern; Z O T Z , Sammeln als Interpretieren. Zur thematischen Analogie als Ordnungskriterium in den Codices: Z I E G E L E R , Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen; ders., Beobachtungen zum Wiener Codex 2705. Für die Einbindung von Versnovellen in juristische Kontexte: O T T , Bispel und Mären als juristische Exempla sowie H E I N Z L E , Der gerechte Richter. Trotz dieser Forschungsarbeiten gilt mehrheitlich noch der von Mihm formulierte Befund, dass die Versnovellen, obwohl das Sammelschrifttum prägend für ihre Verbreitung ist, kaum im Kontext der Sammlungen untersucht wurden (vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 12, S. 44). Mihms Arbeit selber legt den Fokus auf eine Beschreibung und Typisierung der Sammel‐ handschriften, weniger auf die poetologischen Prinzipien der Kompilationen. 9 Ähnlich Busby, der bemerkt, dass zwar viele Gründe die Aufnahme eines Textes in eine Handschrift determinieren können, deren Zusammenstellung aber deshalb nicht zufällig ist. Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 367. 10 Vgl. H E I N Z L E , Handschriftenkultur und Literaturwissenschaft, S. 28. 11 Vgl. Q U A S T , Sebastian Francks ‚Kriegbüchlin des Frides‘, S. 21. Siehe beispielhaft die v.a. aus Michaels de Leone ‚Hausbuch‘ bekannte Sammlung ‚Die Welt‘ als eine Kollektion von Bîspeln und Versno‐ vellen, die über einen Zeitraum von 200 Jahren immer wieder in unterschiedlichen kleinepischen Kompilationen tradiert wurde. Aber auch bei diesem Paradebeispiel für die konstante Tradierung einer Textsammlung zeigt sich, dass die Adaption von vorhandenem Material eine gezielte Auswahl von Texten einschließt; so werden Auszüge aus ‚Die Welt‘ sowohl in schwankhaften als auch geistlich geprägten Sammlungen aufgeführt, wobei jeweils divergente Ausschnitte des Materials verwendet wurden. Vgl. Holznagel, Der werlt lauff und ir posait. Zu ‚Die Welt‘ siehe auch S. 73. auf die Bedeutung des Verbunds von Texten in Handschriften hingewiesen wurde, 7 gibt es für die Versnovellen nur wenige Forschungsarbeiten, die sich mit der Möglichkeit einer planvollen Zusammenstellung der Texte oder einer intendierten Gesamtkonzeption der Codices auseinandersetzen und so zu ganz anderen Ergebnissen führen können als die Einzeltextanalysen. 8 Die Zusammenstellung der Sammlungen kann nicht allein aus Überlieferungszufall und planloser Willkür erklärt werden, vielmehr ist davon auszugehen, dass diese auch Ergebnis intendierter, auf sekundärer Autorschaft beruhender Gestaltung ist. 9 Pragmatische Fak‐ toren wie die - selten lückenlos rekonstruierbare - Vorlagensituation sind zweifellos Teil der historischen Wirklichkeit der Handschriftenerstellung, 10 schließen planvolle Konzep‐ tionen aber nicht aus. Auch die Übertragung aus Vorlagen bedingt immer eine Auswahl, eine Entscheidung für bestimmte Ausschnitte des Materials sowie für die Anordnung und die Art der Realisierung. 11 Selbst wenn eine Sammlung in ihrer Gesamtheit weitgehend unverändert reproduziert wird, so wurde doch die abgeschriebene Vorlage konzipiert. Es 67 4.1 Kleinepische Sammelhandschriften 12 Z I E G E L E R , Kleinepik im spätmittelalterlichen Augsburg, S. 319. 13 Mihm sieht in den kleinepischen Sammlungen keine streng durchgeführten Ordnungsprinzipien wirken, spricht sich aber auch gegen die Annahme willkürlicher Zusammenstellungen aus, da häufig thematische Gruppierungen oder andere Anordnungen begegnen. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 35-40, S. 100. 14 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 102f.; Für den Cpg 341 vgl. S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 21. Auch in spätmittelalterlichen Fabelsammlungen finden sich paarige Textanordnungen. So hat Ulrich Boner für den ‚Edelstein‘ offensichtlich die Textabfolge seiner Vorlagen verändert, um Fabelpaare mit gemeinsamen Inhaltsmerkmalen zusammenzustellen (vgl. G R U B MÜL L E R , ‚Boner‘ in 2 VL 1, Sp. 949). Zum Vergleich sei weiterhin auf die Untersuchung Busbys zum französischen Fabliaux verwiesen, auch hier erscheinen die Texte überwiegend in paa‐ riger Anordnung und in kleinen thematischen Reihen. Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 441- 454. 15 So weist Ziegeler im Codex Wien 2705, einer der Vorlagen des Cpg 341, diverse kleine Textgruppen nach, in denen die Texte nach verschiedenen inhaltlichen Gesichtspunkten wie korrespondierenden Themen oder Figuren zusammen gestellt sind; vielfach entsprechen diese Befunde der Parallelüber‐ lieferung (Z I E G E L E R , Beobachtungen zum Wiener Codex). Ähnlich für die Exempelsammlungen S T U D E R , Exempla im Kontext, die am Beispiel des Cod. Ms 863 verschiedene feste Textcluster mit vergleichbarer Parallelüberlieferung identifiziert. ist auch davon auszugehen, dass der Erstellung kleinepischer Sammlungen ein breiteres Repertoire an Texten zugrunde gelegen hat, als in die jeweilige Kompilation übernommen wurden. Viele der kleinepischen Kompilationen sind in arrivierten literarischen Zentren des Spätmittelalters wie Nürnberg oder Augsburg entstanden, in denen eine umfangreiche Produktion und Distribution von Handschriften stattfand. Ziegeler konstatiert genuin für die Erstellung kleinepischer Sammelhandschriften in Augsburg, dass „alles, mitunter dop‐ pelt und dreifach, zu erhalten war, was das Genre ‚kleine Reimpaardichtung‘ zu bieten hatte.“ 12 Anders als bei generisch homogenen Kompilationen wie zum Beispiel den Lieder‐ handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts, bei denen die Auswahl vor allem texttypolo‐ gisch motiviert war und die Anordnung einem klaren Ordnungsmuster (Autorencorpora) folgte, erfordern gerade heterogene Sammlungen gezielte Entscheidungen über die Aus‐ wahl und Anordnung der Texte; sie machen in besonderem Maße eine Reflexion über in‐ haltliche Relationen und gemeinsame Subtexte plausibel. Die Auswahl und Anordnung der Texte in den kleinepischen Sammelhandschriften basiert in offenbar nicht wenigen Fällen auf intentionalen Prinzipien. Das häufigste und in nahezu allen kleinepischen Kompilationen fassbare Anordnungsprinzip ist die Gestaltung inhalt‐ lich oder motivlich korrespondierender Textpaare und Kleingruppen, 13 die wiederum un‐ terschiedlich kombiniert und arrangiert werden können. Solche thematischen Analogien zwischen Texten stellen keine Ausnahme dar, sondern sind ein grundlegendes Gestal‐ tungsprinzip im kleinepischen Sammelschrifttum. 14 Häufig sind Textgruppen auch als feste Überlieferungseinheiten fassbar, die jeweils eine individuelle Überlieferungstradition haben und in verschiedenen Sammlungen in gleicher Zusammenstellung erscheinen. 15 Die Anordnung in kleinen Textgruppen sieht Ziegeler als Indiz einer größeren thema‐ tischen Ordnung in älteren (nicht mehr vorhandenen) Vorlagen, die bei der Übernahme in 68 4 Die Sammlung als Kontext 16 Ziegeler geht unter anderem für die Stricker-Überlieferung von ursprünglich thematisch klar geord‐ neten Büchern aus, in denen die Texte in Blöcken zu bestimmten Themen komponiert waren. Auf diese Bücher, von denen allerdings keines erhalten ist, würden alle zentralen kleinepischen Hand‐ schriften, etwa der Cpg 341, in ihrem Bestand zurückgehen. Bei der Übernahme sei die Ordnung der Texte aber weitgehend zerstört worden und nur noch fragmentarisch in kleinen Texteinheiten er‐ halten geblieben. Vgl. Z I E G E L E R , Beobachtungen zum Wiener Codex, S. 484-496. 17 Kritisch zu Ziegeler äußert sich Hagby, die Sammlungen nicht als analoge oder schlechtere Abbilder von Vorlagen, sondern als „Ausdruck der Rezeptionsmöglichkeiten“ verstanden wissen will. H A G B Y , man hat uns für die warheit…geseit, S. 300. 18 Hagby beschreibt auch für die Anordnung der Texte in den thematisch geordneten lateinischen Exempelsammlungen ein ähnlich intuitiv erscheinendes Verfahren „lockerer Assoziativität“ (H A G B Y , man hat uns für die warheit…geseit., S. 307). Vgl. auch Besamusca, der den (sehr überschaubaren) Bestand der mittelniederländischen Pendants zu den frz. Fabliaux einer Analyse unterzieht und zu dem Ergebnis kommt, dass in den Sammelhandschriften wiederholt planvoll angelegte Textcluster aus thematisch parallelen oder gezielt kontrastierenden Texten auszumachen sind. Vgl. B E S A M U S C A , The Manuscript Context of the Middle Dutch Fabliaux. 19 So werden die Novellen II,4 und II,5 durch eine simple Motivanalogie verbunden: Die nach einem Schiffbruch gefundenen Edelsteine der vierten Erzählung liefern der nächsten Erzählerin den Anstoß für eine Geschichte, in der der Protagonist einen Ring mit einem kostbaren Rubin erwirbt (II,5, 2). Noch allgemeiner fällt die Anbindung zum Beispiel zwischen II,3 und II,4 aus, wenn die Erzählerin ankündigt, von „noch größerem Elend“ als in der vorangehenden Geschichte zu berichten (II,4, 4). Boccaccio: Das Decameron, hg. B R O C K M E I E R . die erhaltenen Sammlungen nicht beibehalten wurden. 16 Zu fragen ist allerdings, wie sich ein solcher Paradigmenwechsel in der Komposition von Textsammlungen begründet. Bei stringent thematisch geordneten Vorlagen muss es Beweggründe geben, die auf breiter Ebene und binnen eines relativ kurzen Traditionszeitraumes zur Auflösung dieser Ordnung und zum sprunghafteren Arrangieren von Texten geführt haben. 17 Eine Anordnung von Texten in Paaren und kleinen Gruppen ist als grundlegendes Ge‐ staltungsprinzip und nicht (nur) als Auflösungsphänomen und Überrest einer stringenteren Ordnung zu fassen. Die Zusammenführung von Textpaaren und -gruppen, die aus ver‐ schiedenen Gründen als zusammengehörig empfunden werden, stellt die kleinste Ebene der Textorganisation in der Sammlung dar. Der Zusammenhang zwischen den Texten kann in unterschiedlichen, auch unverbindlich oder beliebig erscheinenden Verknüpfungen be‐ stehen; die Zusammenstellung gestaltet sich oft als ein aggregatives und scheinbar assozi‐ atives Erzählen von Text zu Text, das lose Analogien auf verschiedenen Ebenen herstellt, die sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch auf Gegensätzen basieren können. 18 Zum Vergleich sei auf die Prinzipien der Verknüpfung in Boccaccios ‚Decameron‘ ver‐ wiesen. Die Überlieferung kleinepischer Texte im deutschsprachigen Raum unterscheidet sich zunächst signifikant von buchliterarisch konzipierten Sammlungen mit narrativem Rahmen, wie sie mit dem ‚Decameron‘ oder Chaucers ‚Canterbury tales‘ vorliegen. Die Sammlungen Boccaccios oder Chaucers stellen ihre Gesamtkonzeption narrativ heraus und fordern darüber eine Rezeption ein, die die einzelnen Texte als Bestandteil eines Erzählzu‐ sammenhangs wahrnimmt, während die kleinepischen Sammlungen keinen narrativen Kontext explizieren. Aber in der tatsächlichen thematischen Verbindung der Einzeltexte sind ‚Decameron‘ und ‚Canterbury tales‘ den kleinepischen Kompilationen vergleichbar, indem die Einzeltexte ebenfalls oft in paariger Konstellation erscheinen, deren inhaltliche Verklammerung ähnlich lose ist wie in den ungerahmten kleinepischen Sammlungen. 19 Eine 69 4.1 Kleinepische Sammelhandschriften 20 Vgl. E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 285. 21 Vgl. den Prolog des Landvogts im ‚Reeve’s tale‘, wo sich der erzählende Landvogt, der früher ein Zimmermann war, erbost zeigt über die vorausgegangene Geschichte des Müllers, die von der Ver‐ führung der Ehefrau eines Zimmermannes erzählt (The Reeve’s prologue, V. 3858-3862). Die Ge‐ schichte des Landvogts handelt daher von einem Müller, der gleichfalls diskreditiert wird. Der Prolog des Kaufmanns im ‚Merchant’s tale‘ nimmt Bezug auf die vorangegangene Geschichte, indem deren letzter Vers fast wörtlich zitiert wird (vgl. The Clerk’s tale, V. 1212 und The Merchant’s prologue V. 1213). Chaucer: The Canterbury tales, hgg. B O E N I G , T A Y L O R . 22 Vgl. R U H , Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte, S. 263-266. 23 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 222. 24 Für die Enzyklopädik gilt mehr als für andere mittelalterliche Gattungen, dass die Stofforganisation die eigentliche ‚Werk‘-Schöpfung ist. Vgl. M E I E R , Vom Homo Coelestis zum Homo Faber, S. 157, S. 175. 25 Vgl. H E R W E G , ‚Verwilderter Roman‘ und enzyklopädisches Erzählen. Verknüpfung erfolgt im ‚Decameron‘ vor allem durch die einleitenden Kommentare der Erzählerfiguren, die den Inhalt der vorgängigen Erzählung aufgreifen und die eigene Nar‐ ration durch das Aufzeigen von thematischen Gemeinsamkeiten oder auch Oppositionen anschließen, wobei die Verknüpfungsmomente ganz divergent ausfallen können. 20 Ähnlich verfährt auch Chaucer in den ‚Canterbury tales‘, wo die Geschichten inhaltlich ebenfalls nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, aber durch die Kommentare der Er‐ zähler miteinander verbunden werden. 21 Die ungerahmten kleinepischen Sammlungen un‐ terscheiden sich damit weniger durch die inhaltliche Disparität der Texte, die auch die buchliterarisch konzipierten Novellensammlungen kennzeichnet, sondern durch die feh‐ lende narrative Instanz, die die Anknüpfungsmomente offenlegt bzw. vorgibt. Neben inhaltlichen Arrangements ist auch die Frage generischer Ordnungsmuster relevant. Während es für andere Typen der kleinen Reimpaardichtung durchaus Beispiele gattungs‐ mäßig weitgehend kohärenter Zusammenstellungen gibt, dazu zählen Exempel- und Fa‐ belsammlungen, aber auch die umfangreichen Bîspelreihen in zahlreichen kleinepischen Kompilationen wie dem Cpg 341, gibt es kaum Zusammenstellungen von Versnovellen, die über Kleingruppen oder kurze Textreihen hinausgehen. Die Heterogenität der Texte, die in den meisten kleinepischen Sammlungen fassbar ist, sollte aber nicht zu der Annahme verleiten, dass es keine konzeptionellen Strukturen und intendierten semantischen Effekte gibt. Ruh verweist auf einen besonderen utilitas-Ge‐ danken in den mittelalterlichen Codices, der keine strikte Trennung von Textsorten kennt. Vielmehr ist die volkssprachige Überlieferung durch das Nebeneinander heterogener Text‐ sorten aus religiösem, poetischem und pragmatischem Schrifttum bestimmt. 22 Die mittel‐ alterlichen Textzusammenstellungen verweisen dabei auf andere Vorstellungen von kom‐ pilatorischer Stringenz, als sie der modernen Textualität zugrunde liegen. 23 Der vergleichende Blick auf die Enzyklopädik als einem Textbereich, der gleichfalls ver‐ schiedenes Material sammelt und zusammenfügt, lässt grundlegende Paradigmen er‐ kennbar werden, nach denen Texte und das durch sie vermittelte Wissen organisiert sind. 24 Poetische und enzyklopädische Textualität sind gerade in der mittelalterlichen Dich‐ tungspraxis keine dichotomisch voneinander abgegrenzten Bereiche. Nicht nur lässt sich häufig eine narrative Integration enzyklopädischer Wissensbestände in poetischen Texten beobachten, 25 literarische Texte können auch selber Medien einer Wissensdiskursivierung 70 4 Die Sammlung als Kontext 26 Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 325. 27 Alle Teile des ‚Speculum maius‘ sind zunächst thematisch geordnet und in verschiedene Bücher unterteilt, die wiederum in Kapitel gegliedert sind. Die inhaltliche Erschließung wird durch eine konsequente Titulierung der Kapitel erleichtert, als zusätzliches ordnendes Hilfsmittel wurden den einzelnen Büchern jeweils Register mit Titelübersichten vorangestellt. Zum ‚Speculum maius‘ siehe auch S. 63. 28 Das enzyklopädische Beispiel zeigt die unscharfe Grenzziehung zwischen literarischem und histo‐ rischem Stoff, das Ineinandergreifen von fictio und historia in der mittelalterlichen Dichtungspraxis. Raumann verweist auf ein facettenreiches Verständnis von Fiktionalität, das die Auffassung eines literarischen Stoffes als historisch nicht ausschließt. Vgl. R A U M A N N , Fictio und historia., S. 24f. 29 Das Nebeneinander von Werken der Kirchenväter und paganen Autoren sowie von biblischen und apokryphen Schriften wird in der Vorrede expliziert. Vgl. Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale, Tom. I, i. 30 Der in sich abgeschlossene erste Werkteil ‚Speculum historiale‘ gibt den biblischen Geschichtsverlauf wieder, an den die historische Weltgeschichte angefügt wird. Schon in dieser Grundkonzeption zeigt sich eine andere Auffassung von der Zusammengehörigkeit der nach modernem Verständnis diver‐ genten epistemischen Bereiche Bibelexegese und Historiographie, indem biblische Zeit und Heils‐ geschichte nahtlos mit der geschichtlichen Zeit fortgeführt werden. Dabei zeigen sich gelegentlich Brüche in der angestrebten Systematik. Zwar ist das ‚Speculum historiale‘ um eine ‚korrekte‘ Abfolge der Ereignisse bemüht, weist aber zum Beispiel Divergenzen in der zeitlichen Kategorisierung auf, indem verschiedene, sich zum Teil widersprechende Datierungssysteme aus den Quellen über‐ nommen werden. Vgl. W E I G A N D , Vinzenz von Beauvais, S. 64. 31 Vgl. ebd., S. 40. sein, wie es in kleinepischen Texten durch die häufige Rekurrenz auf Ordokonzepte und soziale Normierung fassbar ist. Hagby sieht eine Parallele zwischen kleinepischer Text‐ sammlung und Enzyklopädie, indem letztere nur ein besonders vollständiges Beispiel sei für die verbreitete Vorstellung, eine Sammlung von Texten als Abbildung der Welt oder von Teilen der Welt zu betrachten. 26 Nun unterscheiden sich die Enzyklopädien in ihrer Aus‐ richtung auf eine systematisierende und vollständige Wissensabbildung und durch ihre einheitlichen Autorinstanzen erheblich von den anonym kompilierten kleinepischen Sammlungen; der Vergleich dient primär als heuristisches Mittel, um die Prinzipien der mittelalterlichen Kompilationspraxis zu verdeutlichen, die offen für das Nebeneinander von divergentem Material ist. Die im 13. Jahrhundert entstandene und unter dem Gesamttitel ‚Speculum maius‘ zu‐ sammengefasste vierteilige Enzyklopädie des Vinzenz von Beauvais als größtem bekannten enzyklopädischem Werk des Mittelalters sucht das ‚Weltwissen‘ in einer systematischen Ordnung zusammenzustellen. 27 Das zugrunde liegende Kompilationsprinzip basiert auf einer Mischung von historiographischen Texten mit kirchen- und geistesgeschichtlichen Exkursen sowie moralischem Schrifttum; 28 neben christlichen Autoritäten wird auch auf pagane Autoren zurückgegriffen. 29 Das Nebeneinander von Disparatem, auch Wider‐ sprüchlichem ist damit Bestandteil der kompilatorischen Arbeit des Enzyklopädikers. 30 An der von Vinzenz praktizierten Art des Kompilierens solch divergenter Text- und Wissensbestände nahm die germanistische Forschung des frühen 20. Jahrhunderts An‐ stoß 31 - in der zeitgenössischen Rezeption war das Nebeneinander von historiographi‐ schem, exegetischem und moralischem Schrifttum, das sich schon in den inhaltlichen Schwerpunkten der vier Teile des ‚Speculum maius‘ (historiale, doctrinale, naturale, morale) widerspiegelt, dagegen offenbar nicht Ausdruck mangelnder Stringenz, sondern wurde als 71 4.1 Kleinepische Sammelhandschriften 32 M E I E R , Enzyklopädische Ordo, S. 511. Entsprechend zeigt die mittelalterliche Enzyklopädik diver‐ gente Konzepte der Textorganisation. Vgl. dies., Vom Homo Coelestis zum Homo Faber, S. 158. 33 Müller sieht, ausgehend von der gemeinsamen Überlieferung geistlicher und weltlicher Texte als eigentlich unterschiedlichen Sphären der mittelalterlichen Textualität, das divergente Nebenei‐ nander als Bestandteil der Programmatik vieler Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts. In der Überlieferungspraxis werden die Spannungen zwischen den verschiedenen Textbereichen zum Teil durch konzeptionelle Schlüssigkeiten, die die disparaten Texte in einer gemeinsamen Logik vereinen, abgebaut, aber häufig bleiben Brüche und Unstimmigkeiten bestehen. Vgl. M ÜL L E R , Der Codex als Text, S. 415-425. genuiner Bestandteil der Konzeption akzeptiert. Gerade die Divergenz der Texte ermöglicht es, das Lernen der bzw. aus der Historie mit einer moralischen und heilsgeschichtlichen Dimension der Ereignisse zu verbinden. Dieser Heterogenität und Fülle des Materials stehen nach verschiedenen Gesichts‐ punkten gestaltete Ordnungsprinzipien gegenüber: „Das Geschäft des Enzyklopädikers ist die Ordnung der Dinge“, aber diese Ordnung ist auch in der Enzyklopädie nicht vorgegeben, sondern sie wird durch den Enzyklopädiker erzeugt nach Parametern, die er selber setzt. 32 Vor allem verlangt die Gesamtkonzeption einer systematischen Welt- und Wissensabbil‐ dung nicht die Verwendung homogener Textgrundlagen, sondern eine Interpretation der Zusammenhänge verschiedener Wissens- und Textbereiche. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch für die kleinepischen Textkollektionen eine andere Lesart. Die Heterogenität der im Codex inserierten Texte stellt keinen Widerspruch zu der Annahme einer stinnstiftenden Gesamtkonzeption dar, denn die Zusammenführung di‐ vergenten, auch nicht genuin literarischen Materials ist fester Bestandteil der mittelalter‐ lichen Kompilationspraxis. Stephan Müller hat Inkohärenzen in Sammelhandschriften des 12. und 13. Jahrhunderts als eine Möglichkeitsbedingung der höfischen Kultur auf der Ebene der Textpraxis beschrieben, die Weltliches und Geistliches sowie Normatives und Absurdes in ein spezifisches Spannungsverhältnis bringt. 33 Die Engführung von geistlichen und welt‐ lichen, moralisch-exemplarischen und schwankhaften oder anderweitig divergierenden Texten stellt gerade in kleinepischen Sammlungen ein wichtiges Prinzip dar. Die Samm‐ lungen zielen möglicherweise gar nicht auf eine kohärente Programmatik und Stringenz ab, sondern intendieren Brüche und ein konzeptionelles Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven. Das Nebeneinander divergenter Texttypen und konfligierender Sinnset‐ zungen bedeutet aber nicht, dass der Anspruch auf inhaltliche Stimmigkeit aufgegeben wird, sondern bezeugt, dass die kleinepische Kompilationspraxis eine repräsentative Ge‐ samtheit der Texte intendiert, die ein dialektisches Nebeneinander und die wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Texttypen und Sinnsetzungen als Bestandteil ihrer Kon‐ zeption einschließt. Dass die Sammlungen unabhängig von der Frage thematischer oder generischer Homoge‐ nität nach übergeordneten, planvollen Prinzipien erstellt wurden, legt die äußere Gestal‐ tung der Handschriften nahe. In der Regel kennzeichnet die Codices eine vereinheitlichende Gestaltung der Einzeltexte, etwa durch die gleichförmige Verwendung von Initialen und anderen Gestaltungselementen, durch die häufig anzutreffende Formulierung gleich lau‐ tender Tituli oder Schlussverse, gelegentlich auch durch Register oder Gesamtüber‐ schriften, wodurch auch heterogenen Zusammenstellungen der äußere Eindruck einer Ge‐ 72 4 Die Sammlung als Kontext 34 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 100f. Palmer zeigt, dass mittelal‐ terliche Sammelcodices vielfach nach ähnlichen Prinzipien gearbeitet sind wie umfangreiche gro‐ ßepische Dichtungen, indem die inkorporierten Einzeltexte analog zu den Kapiteln eines Buches aufgeführt und mit den gleichen Verfahren und Merkmalen gestaltet werden (vgl. P A L M E R , Kapitel und Buch, S. 45f.). Dass die einheitliche Gestaltung kein Automatismus bei der Fertigung von Sam‐ melhandschriften ist, zeigt Wolf an Beispielen aus anderen textuellen Bereichen wie juristischen oder historiographischen Texten, wo die unterschiedlichen Gestaltungsmodi der Vorlagen in die neue Kompilation übernommen wurden und dort unvermittelt nebeneinander stehen. Vgl. W O L F , Buch und Text, S. 309f. 35 M E Y E R , What’s within a Frame, S. 288. Meyer sieht ein paralleles Phänomen in der Heldenepik. Im Unterschied zu den französischen Chansons de geste treten z.B. die Texte der deutschsprachigen Dietrichepik nicht in Form narrativer Zyklen in Erscheinung, werden aber in den tradierenden Handschriften zum Teil als zusammenhängende ‚Heldenbücher‘ aufgeführt. 36 Vgl. H O L Z N A G E L , Der werlt lauff vnd ir posait, S. 283f.; K O R N R U M P F , ‚Michael de Leone‘ in 2 VL 6, Sp. 499f. Die Bezeichnung verweist auf die Pluralität des Erzählens; das Wissen oder die Erfahrung der Welt kann nicht aus einem Text, sondern erst aus der Summe verschiedener Aspekte bzw. Texte in ihren wechselhaften Beziehungen gewonnen werden. Für Hagby manifestiert sich in dem Titel der schriftliche Ausdruck einer funktionalen Bestimmung der Sammlungen, die sich ähnlich den En‐ zyklopädien und Verhaltenslehren, wie sie von Hugo von Trimberg vorgestellt werden, als Spiegel des Lebens und der Welt verstehen. Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 326f. 37 Zur Überschrift von Bodm. 72 siehe auch S. 187. 38 H O L Z N A G E L , ‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Handschrift‘, S. 138f. schlossenheit gegeben wird. 34 Meyer spricht der Zusammenführung des disparaten Textmaterials in den deutschen volksprachigen Handschriften eine große Bedeutung zu: „obviously book production and manuscript transmission plays a much more important part in the German tradition than the cyclical organizing or framing work of an author.“ 35 Trotz generischer und thematischer Heterogenität können Sammlungen als zusammen‐ hängende Gesamtkonzeptionen aufgefasst werden. Das macht die in Michaels de Leone ‚Hausbuch‘ inkorporierte Mären- und Bîspelsammlung anschaulich, die in der Forschung unter dem Titel ‚Die Welt‘ verschlagwortet wurde. Das 19. Kapitel des ‚Hausbuches‘ über‐ liefert ein Korpus von 57 kleineren Reimpaardichtungen, vorrangig Bîspel sowie zwölf Versnovellen. Übereinstimmende Textzusammenstellungen in anderen Sammlungen legen nahe, dass diese Kollektion auf der Vorlage einer älteren, bereits vor 1260 entstandenen Sammlung basiert. Das ‚Hausbuch‘ führt dieses Korpus explizit als Sammlung von Bîspeln und Exempeln ein, indem die Überschrift ‚Hie hebt sich an daz buoch daz do heizet die werlt. Daz sagt von bispel vnd von mern‘ (fol.68v) vorangestellt wird, der als einer der ersten Ge‐ samtüberschriften einer Handschrift in der mittelhochdeutschen Literatur besondere Sig‐ nifikanz zukommt. 36 Auch die dem Codex Bodm. 72 vorangestellte Überschrift ‚Daz buche heiset gesampt habentewer‘ (fol.IIr) zielt auf eine Rezeption, die für die Summe der aufge‐ führten Texte den Status eines Gesamtkonzepts beansprucht. 37 4.2 Lektüre im Kontext Unabhängig von der Frage nach intentionalen Textarrangements - die kleinepischen Sammlungen als „historisch bezeugte Textensembles“ stellen die konkrete Form dar, in der die Texte tatsächlich zugänglich waren. 38 Der Zugriff auf die kleine Reimpaardichtung er‐ 73 4.2 Lektüre im Kontext 39 Vgl. S T U D E R , Exempla im Kontext, S. 45, die konstatiert, dass man sich kleinepischen Textsorten, die ausschließlich oder primär in Sammlungen überliefert sind, sinnvoll nur durch die Fokussierung auf diese Kompendien annähern kann. Siehe auch S C H N E L L , Was ist neu an der ‚New Philology‘? , S. 68: „heute [ist es] im Bereich der Mediävistik schon keine Utopie mehr, eine Literaturgeschichte als Überlieferungsgeschichte zu konzipieren, d.h. nicht mehr nur eine Interpretationsgeschichte von und zu Einzelwerken und Autoren zu bieten, sondern eine Übersicht über die konkreten Gebrauchs‐ formen und -situationen, in denen die Texte ‚lebten‘ (z.B. Überlieferungssymbiosen in Codices).“ 40 W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 146f. 41 Vgl. B L A S B E R G , Erschriebene Tradition, S. 120-129. 42 Der Begriff ‚Kontext‘ wird in der literaturwissenschaftlichen Debatte unterschiedlich funktionalisiert und deckt grundsätzlich das „ganze semantische Spektrum zwischen der sogenannten Umgebung eines Morphems (oder jeder beliebigen anderen syntagmatischen Einheit) und einer kulturellen bzw. interkulturellen Einheit in synchronischem und diachronischem Sinne ab“ (P U G L I E S E , Von der Her‐ meneutik zur Text-, Kontext- und Intertextanalyse, S. 46). Zumeist wird er in der literaturwissen‐ schaftlichen Debatte allerdings als soziokultureller Hintergrund des literarischen Textes verstanden. Dass der literarische Text nicht losgelöst von seinen kulturellen Kontexten besteht bzw. dass sowohl die Rezeption als auch der interpretatorische Zugriff nicht ohne Rekurrenz auf kulturelles Wissen erfolgen kann, muss nicht eigens betont werden (vgl. P E T E R S , Text und Kontext, S. 38-41; zur Relation von Text und Kultur vgl. T I T Z M A N N , strukturale Textanalyse, S. 263-297). Die in dieser Arbeit vor‐ genommene Applizierung des Kontext-Begriffs auf die Sammlung rekurriert aber vorrangig auf eine korpusinterne Betrachtung der Relationen und Funktionsbeziehungen der enthaltenen Texte unter‐ einander und zum Gesamtkorpus der untersuchten Sammlung. 43 Zum Diskursbegriff siehe S. 23, FN 44. folgte in der Regel nicht nach autor- oder gattungsspezifischen Gesichtspunkten, die die modernen Editionen kennzeichnen, sondern war durch die disparaten Kompilationen ge‐ prägt. 39 Dabei muss die Lektüre in den zumeist registerlosen Kompilationen keinesfalls nur in einer gezielten Auswahl einzelner Texte stattgefunden haben; es ist naheliegend, dass diese auch sukzessive und in größeren Einheiten erfolgte, durch die das sinnstiftende Po‐ tential der Textarrangements in die Rezeption einbezogen wurde: My approach assumes that poems were read or recited in series, since only in that way could the constellations, types, dyads, and other codicological features be perceived by the user of the ma‐ nuscript. 40 Die Rezeption im Sammlungszusammenhang bedingt eine Doppellektüre, indem die Ob‐ jekte sowohl in ihrer Einzelpräsenz als auch im Zusammenhang der Kompilation er‐ scheinen. 41 Die Sammelhandschrift stellt textontologisch zunächst die gemeinsame Ver‐ schriftlichung der enthaltenen Texte dar, rezeptionsästhetisch geht sie aber über eine additive Aufreihung von Einzeltexten hinaus, indem sie den unmittelbaren - und im Ge‐ gensatz zu empirisch schwer konkretisierbaren Sachverhalten wie der performativen In‐ szenierung von Texten auch konkret greifbaren - Kontext für die Rezeption des einzelnen Textes, für die jeweilige Aktualisierung seiner Sinnpotentiale darstellt. 42 Jede Sammlung gestaltet durch die Auswahl und das Arrangement der Texte ein spezifisches diskursives Profil, das Einfluss auf die Lektüre der enthaltenen Texte hat. Das Profil einer Sammlung wird zunächst bestimmt durch die thematischen und diskursiven Schwerpunkte, die durch die Auswahl der Texte gesetzt werden, und durch die Art und Weise, in der die enthaltenen Texte auf die verhandelten Diskurse rekurrieren. 43 Bereits eine Schwerpunkt‐ setzung hinsichtlich der Texttypik bedingt eine Profilbildung, die den Rezeptionsmodus des 74 4 Die Sammlung als Kontext 44 Zur Bestimmung der Sammlungsprofile siehe S. 100f. 45 Einen Versuch, einem Codex nicht nur eine übergeordnete Thematik, nach der die enthaltenen Texte ausgewählt und zusammengestellt sind, sondern auch ein autorspezifisches Programm nachzu‐ weisen, das Bezüge zu dezidiert geistlichen Inhalten hat, stellen die Untersuchungen des Cgm 270 dar, in dem die Dichtung Heinrich Kaufringers überliefert ist. Die im Codex enthaltenen versnovel‐ listischen Texte werden flankiert von je zwei Erzählungen mit theologischen Inhalten, die z.B. Fragen der Theodizee verhandeln. Sie stellen nicht nur einen heilsgeschichtlichen Rahmen der Kerntexte dar, sondern referieren auch auf die dort verhandelte Frage nach den Maßstäben menschlichen Han‐ delns. Der Cgm 270 ist damit Beispiel für eine programmatische Zusammenstellung von Texten, deren Sinnkonstitution wesentlich durch religiöse Episteme bestimmt ist (vgl. W I L L E R S , Heinrich Kaufringer als Märenautor). Auch Krohn sieht eine bewusste Konzeption in der Zusammenstellung und Struktur der Texte, die eine triadische Struktur aus drei Dreiergruppen von Texten bilden, die durch formale und inhaltliche Korrespondenzen miteinander verzahnt werden. Vgl. K R O H N , Die Entdeckung der Moral, bes. S. 272. 46 B E S A M U S C A / M E Y E R / P R A T T , Projektbeschreibung ‘The Dynamics of the Medieval Manuscript: Text Collections from a European Perspective‘. [http: / / dynamicsofthemedievalmanuscript.eu/ Zugriff am 06.02.2016]. einzelnen Textes spezifisch pointiert; so liest sich der gleiche Erzähltext in einer überwie‐ gend schwankhaften Kompilation anders als in einer Zusammenstellung von geistlichen oder moralisierenden Texten. Weiterhin ist das Arrangement der Texte, die Kombination und Abfolge der durch sie eingebrachten Sinnsetzungen bestimmend für das Sammlungs‐ profil. Um die Konzeptionen, die spezifischen Profile der kleinepischen Kompilationen zu erschließen, müssen diese nach möglichen Prinzipien der Auswahl und Anordnung der Texte und den daraus resultierenden Sinnstiftungen befragt werden. 44 Dabei kann eine Textzusammenstellung in ihren Sinnangeboten tendenziell gleichgerichtet sein und mög‐ licherweise ein übergeordnetes Anliegen verfolgen, das die Auswahl der Texte bestimmt. 45 Ebenso können die Texte ein thematisches Feld aus unterschiedlichen Perspektiven ab‐ schreiten, wodurch bestimmte epistemologische Postulate einzelner Texte durch andere Perspektiven konterkariert bzw. die Texte in ihren widersprüchlichen Normaussagen ka‐ suistisch organisiert werden. Die Analyse der Überlieferungssymbiosen ermöglicht auch Rückschlüsse auf das Ver‐ ständnis der einzelnen Texte, indem sie aufzeigt, zu welchen Wissensbereichen und litera‐ rischen Diskursen diese in Bezug gesetzt wurden: In jeder der jeweils neu zusammengestellten spätmittelalterlichen Textsammlungen entstehen neue Bedeutungen des Einzeltexts, was es erst eigentlich ermöglicht, das kulturelle Selbstver‐ ständnis des Kompilators oder Auftraggebers einer Handschrift […] zu verstehen. 46 Die Textzusammenstellungen der Sammelhandschriften stellen damit Sinnbildungsprak‐ tiken dar, die individuelle Erzählzusammenhänge schaffen und den Einzeltext spezifisch akzentuieren. Ausgehend von der hermeneutischen Prämisse, dass der Rezipient bei einer Zusammenstellung verschiedener Texte, ob bewusst oder unbewusst, Relationen zwischen den einzelnen Texten herstellt, indem er nach semantischen Verknüpfungen, nach gemein‐ samen Mustern, Subtexten oder nach übergeordneten Konzeptionen sucht, ist die Samm‐ lungsumgebung von Bedeutung für den Sinnhorizont des Einzeltextes, weil sie vielfältige Formen intertextueller Bezugnahmen prägt. Auf der Ebene des Einzeltextes wird Intertex‐ tualität zumeist verstanden als 75 4.2 Lektüre im Kontext 47 P F I S T E R , Konzepte der Intertextualität, S. 15. Unter dem Begriff Intertextualität wird eine Vielzahl methodisch und konzeptionell divergenter Ansätze subsumiert. Strukturalistische Ansätze fassen Intertextualität als Verfahren einer innerliterarischen Sinnbildung, die durch Verweise von Folge‐ texten auf Prätexte entstehen. Genette verwendet dafür den Begriff der Transtextualität und definiert verschiedene Abstufungen; der Terminus Intertextualität wird dabei ausschließlich für literarische Verfahren verwendet, die durch Zitat, Plagiat oder Anspielung eine unmittelbare Präsenz des Prä‐ textes (Genette: Hypotext) generieren (vgl. G E N E T T E , Palimpseste, S. 10), wie sie in der traditions‐ orientierten ma. Literarizität häufig in der imitatio und aemulatio anderer Autoren und Werke fassbar ist. Die von Kristeva vertretene poststrukturalistische Konzeption von Intertextualität mit ihrem weiten Textbegriff, der den Text als kulturell codiertes Zeichensystem und als Teil eines universalen Intertextes betrachtet, formuliert dagegen eher ein literaturtheoretisches Verständnis denn ein kon‐ kretes Analyseverfahren (vgl. M A R T I N E Z , Dialogizität, S. 441f.), das in der Mediävistik wenig An‐ wendung gefunden hat. 48 Der Begriff der ‚diskursiven Formation‘ rekurriert ausdrücklich nicht auf Foucault, bei dem die Ter‐ minologie eine größere, regelhafte Einheit von Aussagen beschreibt: „in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Re‐ gelmäßigkeit […] definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man es mit einer dis‐ kursiven Formation zu tun hat.“ F O U C A U L T , Archäologie des Wissens, S. 58. Oberbegriff für jene Verfahren eines mehr oder weniger bewußten und im Text selbst auch in irgendeiner Weise konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten oder diesen zugrundeliegende Codes und Sinnsysteme. 47 Für die Sinnkonstitution in der Sammlung ist Intertextualität aber nicht nur als Element der poetischen Gestaltung des einzelnen Textes bedeutsam, der auf einen Prätext Bezug nimmt; auch die Korrespondenz von Texten innerhalb der Sammlung ist eine Form der Intertextualität: Zwischen unterschiedlichen Texten können intertextuelle Relationen be‐ stehen, indem diese sich mit gemeinsamen Gegenständen und Themen befassen. Schon die Korrespondenz von Texten, die gleiche Motive aufführen, wie sie in dem prägenden Kom‐ pilationsprinzip der Gestaltung korrespondierender Textpaare in Erscheinung tritt, stellt eine Form der intertextuellen Relation dar, ohne dass diese in besonderem Maße sinnstif‐ tend sein muss. Durch das Textarrangement können aber auch Relationen von semantischer Relevanz gestaltet werden, indem die Sammlung Texte zusammenführt, die die gleichen Diskurse und literarischen Traditionen aufgreifen. Die Relationen zwischen den Texten können dabei durch unterschiedliche semantische Korrelationen geprägt sein, indem die Texte sowohl durch gleichgerichtete als auch durch konträre Bezugnahmen auf die gleichen Aspekte interagieren. Häufig sind in den Sammlungen unterschiedlich umfangreiche Einheiten aufeinander folgender Texte fassbar, die in ihren wechselseitigen Bezugnahmen besonders eng ver‐ knüpft sind. In der Sukzession dieser Texte entsteht ein gemeinsamer Aussagezusammen‐ hang, ein gemeinsames Sinnpotential, das sich wesentlich aus dem Zusammenspiel der Texte konstituiert. Solche Einheiten können als ‚diskursive Formationen‘ innerhalb des Gesamtgefüges der Sammlungen verstanden werden. 48 Diese sind nicht unabhängig oder strikt abgegrenzt vom übrigen Korpus, markieren aber in sich geschlossene Gruppen mit deutlich aufeinander bezogenen inhaltlichen Relationen. Indem die Sammlung nicht nur als additive Reihung von Texten betrachtet wird, sondern als Gefüge, in dem die Beziehungen der einzelnen Texte zueinander und zur Sammlung in 76 4 Die Sammlung als Kontext 49 Vgl. J A K O B S O N , Probleme der Literatur- und Sprachforschung, S. 63f. 50 Aus der Summe der Relationen zwischen den Elementen wiederum ergibt sich die Struktur des Sys‐ tems als einem dynamischen Gefüge. Zur Applizierbarkeit des Systemsbegriffs und den konstitutiven Begriffen ‚Element‘, ‚Relation‘, ‚Struktur‘ und ‚System‘, die innerhalb der verschiedenen struktura‐ listischen Ansätze durchaus divergent gefüllt wurden, vgl. T I T Z M A N N , Strukturale Textanalyse, S. 39ff. 51 E C O , Semiotik, S. 361. 52 T I T Z M A N N , Strukturale Textanalyse, S. 27. Dabei ist die Sammlung aber ausdrücklich nicht als ein (Gesamt)Text zu verstehen. Zwar stellt eine Sammlung auf materieller oder textontologischer Ebene einen Gesamttext dar, aus texttheoretischer Perspektive erfordert der Begriff aber eine Kohäsion, die die kleinepischen Sammlungen gerade nicht aufweisen. Zwar sind verschiedentlich kohäsive Text‐ verfahren fassbar, durch die Texte miteinander verbunden werden; die kleinepischen Sammlungen bleiben dennoch Zusammenstellungen von jeweils eigenständigen Texten, die nicht zu einem ‚Ge‐ samttext‘ im texttheoretischen Sinne verschmolzen werden. Vgl. auch W O L F , Sammelhandschriften, S. 74f., der beschreibt, dass erst bei einer Auflösung der Textgrenzen und Verschmelzung der ein‐ zelnen Texte von einer Synthese zu einem Gesamttext gesprochen werden kann. Dies ist zum Beispiel im ‚Decameron‘ anders, wo der Erzählrahmen ein konkretes textuelles Kohä‐ sionsmittel darstellt, das die Einzeltexte fest miteinander bzw. mit dem Rahmentext verklammert und der ein maßgeblicher Faktor für die außerordentlich stabile Überlieferung des ‚Decameron‘ sein dürfte, das stets vollständig und in gleicher Abfolge der Einzelnovellen kopiert wurde - anders als die kleinepischen Kompilationen, die auch bei konkreten Vorlagenbeziehungen nie in identischer Textauswahl und Reihenfolge vorliegen (siehe S. 329f.). Es ist das Spezifikum von Sammlungen mit ausgeprägter narrativer Rahmung wie dem ‚Decameron‘ oder den ‚Canterbury Tales‘, dass sie die Grenzen zwischen einer additiven Sammlung von eigenständigen und prinzipiell austauschbaren Einzeltexten und einem tatsächlichen ‚Gesamttext‘ überschreiten und die Spannung zwischen diesen beiden Polen beständig ausspielen. ihrer Gesamtheit betrachtet werden, wird auf grundlegende Prämissen einer strukturalis‐ tischen Textbetrachtung rekurriert. Der Strukturalismus teilt mit dem Formalismus die Be‐ tonung des Systemcharakters von Texten, indem zum einen die Frage nach der Funktion der einzelnen Elemente des Textes im Vordergrund steht, 49 zum anderen das einzelne Ele‐ ment hinsichtlich seiner Relationen zu den anderen Elementen und zum Gesamtsystem analysiert wird. 50 Das strukturale Modell als Operationsverfahren ist nicht auf eine semi‐ otische Analyse beschränkt, sondern erlaubt es, auch „von anderen Klassen von Phäno‐ menen als Zeichensystemen zu sprechen.“ 51 Der Struktur- und Systembegriff kann auf Textsammlungen appliziert werden, um die wechselseitigen Korrelationen von Einzel‐ texten und der Sammlung in ihrer Gesamtheit zu beschreiben. So wird die Sammlung als Ganzes durch die Auswahl und das Arrangement der Einzeltexte mit ihren individuellen Sinnstiftungen geprägt: Die Individualität der Gesamtstruktur basiert jedenfalls auf der spezifischen Selektion aus der Gesamtmenge der möglichen Elemente und Relationen und deren spezifischen Kombinationen im ‚Text‘. 52 Gleichzeitig stellt die Sammlung einen übergeordneten Kontext dar, der den Einzeltext dy‐ namisiert und dessen sinnstiftende Potentiale unterschiedlich ausspielen kann. Analog zum einzelnen Lexem, das für sich keine vollständig festgelegte Bedeutung besitzt, sondern diese erst durch seine Stellung und Funktion im jeweiligen lexikalischen Kontext erhält, in dem 77 4.2 Lektüre im Kontext 53 Tynjanow unterscheidet bei der Bedeutung von Worten feste „Grundmerkmale“ und variable „se‐ kundäre Merkmale“, die durch den Verwendungskontext bestimmt werden und die die Dynamik des Kunstwerks prägen. Vgl. T Y N J A N O W , Das Problem der Verssprache, S. 73-81. 54 Zur Kritik an der dominanten ‚Systemgläubigkeit‘ des Strukturalismus vgl. A L B R E C H T , Europäischer Strukturalismus, S. 266-271. 55 V O N M O O S / M E L V I L L E , Rhetorik, Kommunikation und Medialität, S. 66. 56 Vgl. S T U D E R , Exempla im Kontext, S. 252. Hagby weist auf die Bedeutung des Überlieferungszusam‐ menhangs für die Textrezeption in den lateinischen Exempelsammlungen hin, die oft geschlossene Konzepte gestalten, um die lehrhafte Funktion zu akzentuieren. Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 291-298. es verwendet wird, 53 erschließt sich die Bedeutung des Einzeltextes auch aus dem kommu‐ nikativen Zusammenhang der Sammlung. Entgegen den strukturalistischen Prämissen einer grundsätzlichen Systemabhängigkeit des einzelnen Elementes sowie einer prinzipiellen Interdependenz der Elemente unterein‐ ander kann allerdings kein grundsätzlicher logischer Vorrang der Sammlung gegenüber dem einzelnen Text postuliert werden. 54 Die Sammlung überschreibt nicht die prinzipielle Eigenständigkeit und hermeneutische Erschließbarkeit der einzelnen inkorporierten Texte. Dennoch ist die Relation des Textes zu den übrigen Bestandteilen des diskursiven Gefüges der Sammlung, die Position und Funktion, die er in einem Netz von intertextuellen Bezie‐ hungen einnimmt, von Bedeutung für die Rezeption. Für die Versnovellistik hat die Frage der Auswahl und Anordnung von Dichtungen schon aufgrund der Kürze der Texte Relevanz, indem kurze Texte in ihren Sinnpotentialen un‐ gleich stärker durch den Sammlungskontext bestimmbar und pointierbar sind als große‐ pische Dichtungen. Zum Vergleich sei erneut auf die Tradition der Exempla verwiesen: Das Exemplum in seiner ursprünglichen Funktionalisierung für eine ‚übergeordnete‘ Argu‐ mentation, etwa die der Predigt, ist eine kontextabhängige Textform, die der Sinnsetzung durch den funktionalen Kontext bedarf: [Das Exemplum] wird nicht wegen irgendeines in ihm selbst liegenden, denotativ unzweideutigen Inhalts und schon gar nicht um der historischen Information willen aufgeführt, sondern stets funktional und situativ, als ein nur aus seinen Konnotationen verständliches Beweismittel. 55 In den auf moraltheologische Belehrung ausgerichteten Exempelsammlungen sind die Texte in ihrer narrativen Funktionalisierung klarer fassbar; im Unterschied zu den versno‐ vellistischen Kompilationen werden diese auch homogener zusammengestellt und pro‐ grammatisch geordnet. 56 Offenbar eignen sich diejenigen Typen der kleinen Reimpaar‐ dichtung, die vorrangig lehrhaften Prinzipien verpflichtet sind, besser für eine generisch kohärente Überlieferung, in der sich ihre didaktischen Implikationen summieren können. Die Exempelsammlungen erscheinen zumeist als Kataloge von Lastern und Tugenden, teil‐ weise sind sie nach übergeordneten Konzeptionen geordnet, z.B. dem Dekalog (‚Der große Seelentrost‘)‘, der Heilsgeschichte (‚Der Seelenwurzgarten‘ ) oder Leitthemen wie Buße oder Nächstenliebe (‚Gesta Romanorum‘). Aber auch in diesen vergleichsweise stringenten Sammlungstypen gehen nicht alle Texte homogen in der übergeordneten Konzeptionen 78 4 Die Sammlung als Kontext 57 „Eine konstruktive Zusammenstellung des Korpus bedeutet allerdings nicht immer, daß nur Texte aufgenommen werden, die vollkommen in dessen Konzept hineinpassen“. H A G B Y , man hat uns fur die warheit…geseit, S. 320. Vgl. auch W A C H I N G E R , Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempel‐ sammlungen, S. 233, S. 239-244; W I L L I A M S -K R A P P , Exempla im heilsgeschichtlichen Kontext, S. 220- 223. 58 Vgl. W A C H I N G E R , Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen, S. 226ff.; H A U G , Exempelsammlungen im narrativen Rahmen, S. 269-274. 59 Hagby sieht das Zusammenspiel zwischen Einzeltext und Sammlung vor allem in einer Relativierung des ambigen Potentials einzelner Texte, ‚unpassende‘ oder ethisch problematische Texte würden durch das lehrhafte Umfeld in ihrem nicht-exemplarischen Potential nivelliert werden. Vgl. H A G B Y , man hat uns für die warheit…geseit, S. 320. 60 W A L T E N B E R G E R , Situation und Sinn, S. 308. 61 K I E N I N G , Verletzende Worte - Verstümmelte Körper, S. 335. auf. 57 Häufig sind Spannungen zwischen dem Eigengewicht des Einzelexempels und der Sammlung fassbar, indem sich die Lehre der Sammlung und die Aussagen der einzelnen Texte widersprechen können. Die Sammlung in ihrer Gesamtheit kann die im Einzeltext formulierte Geltungsaussage damit relativieren. 58 Damit sind bereits in den einer dezidierten Lehrhaftigkeit verpflichteten Exempelsamm‐ lungen Prinzipien fassbar, die sich als prägendes Moment in den untersuchten Kompilati‐ onen mit versnovellistischen Texten erweisen: Die Sammlung beeinflusst die Sinnstiftung der einzelnen Dichtungen, dabei steht die Gesamtaussage der Sammlung in divergenten Wechselwirkungen mit den Einzeltexten, die auch Spannungen und Widersprüche be‐ dingen können. Während die einheitlichere Konzeption und das dominante lehrhafte Mo‐ ment der Exempelsammlungen mögliche Widersprüche auf der Ebene des Einzeltextes oft relativieren, 59 treten diese in den heterogenen kleinepischen Sammlungsverbünden zumeist ohne eine homogenisierende Vermittlung in Erscheinung. Im Kontext der Sammlung kann die Pluralität durch die „Öffnung der Sinnstiftung auf einen Kontext hin“ ausgeglichen werden, 60 genauso kann sie aber in ihrer Pluralität und Widersprüchlichkeit akzentuiert werden. Die Versnovellen können nicht wie die Exempla als Persuasionsmittel für ein überge‐ ordnetes Anliegen gefasst werden, dennoch ist auch ihnen eine besondere Korrelation mit externen Sinnsetzungen implizit. Die Texte sind durch ihre ambigen Sinnpotentiale in be‐ sonderem Maße offen für eine Semantisierung durch andere Texte und für deutungsrele‐ vante intertextuelle Relationen. Die Adaption etablierter Diskurse bei gleichzeitig offenen Sinnstiftungen macht die Versnovellen zu einer Textsorte mit besonderen „Möglichkeiten der literarischen Anschlusskommunikation“. 61 Dabei sind die Versnovellen nicht nur an‐ schlussfähig für die Kombination mit Texten aus dem gleichen narrativen Umfeld, ihre intertextuelle Anschlussfähigkeit erstreckt sich auch auf andere Textsorten und deren je‐ weilige Diskursstrukturen. Darin mag ein Grund für das Fehlen homogener versnovellistischer Sammlungen liegen. Die versnovellistischen Dichtungen mit ihrer Poetik der Transgression sind zwar auf die Kombination mit anderen Texten, aber nicht zwingend auf eine Anordnung in geschlos‐ senen thematischen oder generischen Strukturen ausgerichtet. Die Zusammenstellung vieler Sammlungen legt den Schluss nahe, dass versnovellistische Texte, einzeln oder in kleinen Gruppen, in andere Textstrukturen eingespeist werden, um deren Perspektiven zu 79 4.2 Lektüre im Kontext 62 Ähnlich beschreibt Brown die Funktion und Wirkung der frz. Fabliaux im Sammlungskontext: Auch die Fabliaux sind nicht in homogenen Kompilationen, sondern immer in Verbindung mit anderen Textsorten überliefert, was Brown als Indiz ihrer Funktion als Negativ-Exempel sieht, die andere Genres für die Entfaltung ihres spezifischen poetischen Potentials benötigen (vgl. B R O W N , Boccac‐ cio’s Fabliaux, S. 99f.). Analog sieht Busby das Skandalon der Fabliaux nicht in ihren Inhalten an sich, sondern in der Kombination mit anderen, vor allem höfischen Texten, ohne dass sie dabei äußerlich in ihren skandalösen Inhalten gekennzeichnet sind. Damit werden die Fabliaux nicht nur zu einer Parodie vor allem des höfischen Romans, sondern zu einem Intertext mit der älteren französischen Literatur insgesamt, der durch die Herausstellung von Kontrasten zu einer Reflexion der Texte und Diskurse führt. Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 462f. 63 W A L T E N B E R G E R , „… so ist nun von nöten, das ich etwas von kläglichen dingen schreibe…“, S. 13, der sich auf den Bereich der frühneuzeitlichen Schwanksammlungen bezieht, die hinsichtlich der Prin‐ zipien der Textzusammenstellung ein den kleinepischen Kompilationen vergleichbares Phänomen darstellen. konterkarieren oder zu ergänzen. Mit ihrem ausgeprägten Potential für eine subversive und relativierende Bezugnahme auf etablierte Sinnsetzungen können sie genutzt werden, um die Variabilität von Geltung auf ihre Textumgebung zu übertragen. 62 Die Bedeutungsmuster von Texten, die zum Beispiel moralisch-exemplarische oder religiöse Sinnsetzungen vor‐ stellen, können durch die Kombination mit versnovellistischen Erzählungen unterlaufen und in eine kontingente Perspektive überführt werden. Die Sammlung als diskursives Gefüge von Texten bedingt eine Dynamik der Rezeption, indem ihre enthaltenen Elemente auf unterschiedliche Weise in Beziehung zueinander ge‐ setzt werden können. Es gibt divergente Möglichkeiten der Rezeption, die auch durch die Art der Lektüre beeinflusst wird, die sukzessive, in variablen Gruppen oder in der Einzel‐ lektüre von Texten erfolgen kann. Dass sich die unterschiedlichen Bestandteile der Samm‐ lung nicht ohne weiteres in einer kohärenten übergeordneten Thematik zusammenfassen und hierarchisch ordnen lassen, stellt gerade das genuine diskursive Profil der meisten kleinepischen Sammlungen dar, bei denen es eben nicht darum geht, die Einzelelemente „zu einer ‚Gesamtaussage‘ des Sammlungs-Textes zu synthetisieren, sondern spezifische Muster der Konfrontation und Interaktion diskursiver Positionen im kotextuellen Gefüge zu beschreiben“. 63 Kleinepische Sammelhandschriften sind weniger als lineare Textreihen mit kohärenter Sinnstruktur konzipiert, sondern als diskursive Zusammenstellungen, die die inkorporierten Texte in einem Netz komplexer, auch sprunghafter und widersprüchlich‐ er Bezugnahmen zusammenführen und in denen Sinnbezüge auf unterschiedlichen Ebenen gestaltet werden können. Mit den kleinepischen Kompilationen bildet sich ein Sammlungstyp heraus, der literarische Traditionen und kulturelles Wissen bearbeitet. Durch die Kombination von Texten mit di‐ vergenten Sinnansprüchen können sie zunächst eine Relativierung von etablierten Gel‐ tungskonzepten und tradierten Wissensbeständen erzeugen. Gleichzeitig werden Wissen, Traditionen und Sinnsetzungen aber auch in neue Zusammenhänge überführt, es werden Beziehungen zwischen unterschiedlichen und widerstreitenden Normen hergestellt, so dass die Sammlung auch neue Wissensformen gestaltet. Die Sammlungen konstituieren damit eine Poetik, die auf der Perspektivierung des Divergenten basiert und die erst in dem Zu‐ sammenspiel der enthaltenen Texte zum Tragen kommt. In jedem Fall erweist sich die über die Sammlung entwickelte Lektüre als weitaus vielschichtiger, indem der Verbund von 80 4 Die Sammlung als Kontext 64 W O L F , Sammelhandschriften, S. 71. 65 Dass die Sammlungen als sinnstiftende Realisierungen der Texte nicht nur das Verständnis des Ein‐ zeltextes, sondern auch dessen Ausformung maßgeblich prägen können, stellt auch H O L Z N A G E L , ‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Handschrift‘, S. 133, heraus. 66 Vgl. G E N E T T E , Paratexte. Siehe neuerdings K R A G L , Die (Un)Sichtbarkeit des Paratextes, der am Bei‐ spiel des ‚Herzmaere‘ die paratextuelle Funktion von Pro- und Epilogen erörtert. Zwar sind Pro- und Epiloge in den meisten Fällen im handschriftlichen Lay out nicht als Paratexte markiert, aber neben der großen Signifikanz für die Autor-Zuschreibungen haben diese Partien durch die Kommentierung der erzählten Geschichten, die mit einem Wechsel des Rederegisters vom Narrativ zum kommen‐ tierenden Diskurs einhergeht, ähnliche Funktionen der Rezeptionssteuerung wie die Vor- und Nach‐ worte in modernen Büchern. Sie stellen damit eine von den Modalitäten des modernen Buches ver‐ schiedene Form des Paratextes dar, der sich weniger durch optische denn durch funktionale Parameter bestimmt. 67 Zur Funktion von Pro- und Epilogen für die ambigen Sinnsetzungen der Versnovellen siehe S. 37ff. Texten auf Konzeptionen verweist, die der Einzeltext nicht zeigt. Die Sammlungen sind „intelligent, komplex, variabel und bisweilen sogar gegen die Ursprungsintention von Ein‐ zeltexten durchkonstruierte Werkkomplexe eigenen Typs“, bei denen „nicht selten völlig neue Werkeinheiten mit neuen Autor-, Auftraggeber-, Rezeptions-, Wirk- und Nutzungs‐ szenarien“ entstehen. 64 4.3 Retextualisierung im Sammlungskontext Die Sammlungsumgebung hat zweifellos maßgeblichen Einfluss auf die Rezeption der ein‐ zelnen inkorporierten Texte, indem sie durch differente Kontexte die eingeschriebenen Motive und diskursiven Bezüge in unterschiedlicher Relevanz und mit spezifischen Kon‐ notationen hervortreten lässt. Dabei ist zu überlegen, ob die Sammlung nicht nur die Re‐ zeption und Funktion, sondern auch schon die individuelle Gestalt des Einzeltextes prägt, ob die konkrete Form kleinepischer Texte in Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Textum‐ gebung stehen kann. 65 Die Versnovellen offerieren verschiedene Möglichkeiten einer Anpassung an den Kon‐ text der Sammlung. Von Bedeutung sind neben variablen Titulaturen, die in Referenz auf die Textumgebung gestaltet werden können, vor allem die Pro- und Epiloge, die nicht nur in kleinepischen Dichtungen besondere Räume einer individuellen Textgestaltung dar‐ stellen. Die Vor- und Nachreden sind keine Paratexte im Sinne Genettes, zumal sie optisch in der Regel nicht vom übrigen Text abgesetzt sind. Aber sie können paratextuelle Rahm‐ ungen der erzählten Geschichten darstellen, indem sie diese auslegen, kommentieren oder anderweitig deren Lesart beeinflussen. 66 Durch das Auslassen, Hinzufügen oder die spezi‐ fische Gestaltung dieser für die Rezeption besonders relevanten Bereiche können die Dich‐ tungen in besonderem Maße semantisiert und funktionalisiert werden. 67 Aber auch in den erzählten Geschichten selber können signifikante Divergenzen in Erscheinung treten, die sinnveränderndes Potential haben und gezielte Eingriffe in den Text plausibel machen. Der Zusammenhang zwischen der Poetik der versnovellistischen Texte und ihrer Kon‐ textualisierung in den Sammlungen wurde bislang wenig in den Blick genommen, indem die bisherigen Arbeiten zu kleinepischen Sammlungsverbünden diese nur selten hinsicht‐ 81 4.3 Retextualisierung im Sammlungskontext 68 Siehe aber Holznagel, der auf die divergenten Funktionalisierungen von Strickers ‚Der Richter und der Teufel‘ in juristischen und geistlich orientierten Sammlungen hinweist, die auch mit einer An‐ passung der Textgestalt einhergehen. Vgl. H O L Z N A G E L , Von diabolischen Rechtsbrechern, insbeson‐ dere S. 171ff. Neuerdings auch Z O T Z , The changing (Con)text, die die variante Textgestalt des ‚Al‐ mosen‘ im Kontext der Überlieferungsträger analysiert. Das 2013 abgeschlossene Projekt ‚The dynamics of the Medieval Manuscript: Text Collections from a European Perspective‘ stellt ebenfalls die Divergenz der Überlieferungszusammenhänge heraus und perspektiviert die Varianz der Vers‐ erzählungen als Ausdruck kultureller Dynamisierung. Dabei liegt der Fokus aber vor allem auf der Frage nach dem zugrunde liegenden kulturellen Selbstverständnis und der Tradierung kulturellen Wissens. Vgl. http: / / dynamicsofthemedievalmanuscript.eu/ Zugriff am 06.02.2016. 69 R E U V E K A M P -F E L B E R , Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. XXXI. 70 Paradigmatisch für den Bereich großepischer Dichtung hat Grubmüller (ders., Die Vorauer Hand‐ schrift und ihr "Alexander") am Beispiel von Pfaffe Lambrechts ‚Alexanderroman‘ im Vorauer Cod. 276 vorgeführt, wie auffällige Besonderheiten einer Textfassung im Kontext des Überlieferungsver‐ bunds sinnhaft werden. Die Vorauer Handschrift integriert divergente Texttypen wie Chronik, bi‐ belepische Dichtung und großepische weltliche Erzählung, deren generische und thematische He‐ terogenität durch die gemeinsame Rekurrenz auf das übergeordnete Konzept der Heilsgeschichte und der translatio imperii in ein konzises Profil integriert wird. Die spezifische Textform des ‚Vorauer Alexanders‘, der mit dem Tod des Darius endet und die Orient- und Paradiesfahrt Alexanders nicht erzählt, wird im Überlieferungskontext sinnstiftend, der keine Fortführung der Erzählung nach dem heilsgeschichtlich relevanten Übergang vom persischen zum griechischen Weltreich verlangt. Auch die Tötung des Darius, die im Unterschied zu den anderen Fassungen durch Alexanders Hand erfolgt, wird als Herstellung einer bibelnahen Variante verstehbar. 71 Vgl. H E N K E L , Religiöses Erzählen um 1200, S. 6f., S. 13, der am Beispiel religiöser Texte zeigt, dass zum Beispiel durch das Weglassen von Prologen spezifische Anpassungen einzelner Texte an ihre Sammlungsumgebung vorgenommen wurden. Studer analysiert im Rahmen ihrer Untersuchung zum Codex mgf 863 die Veränderung der Narrativierung von Exempla in verschiedenen historischen Kontexten und Überlieferungszusammenhängen und kommt zu dem Schluss, dass Veränderungen nicht (nur) durch mündliche Tradierung bedingt sind, sondern vielfach im Kontext von Verschrift‐ lichung und Literarisierung stattfinden. Vgl. S T U D E R , Exempla im Kontext, S. 251. Ähnlich mit wei‐ teren Beispielen W A C H I N G E R , Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen, S. 232ff. lich ihrer Wirkung auf die individuellen Textgestaltungen befragten. 68 Die Zusammenhänge zwischen der Poetik der Texte und ihrem Überlieferungszusammenhang zu analysieren, schafft die Möglichkeit, dem Phänomen der in Art und Umfang sehr unterschiedlichen Varianz auf der Ebene des Manuskripts nachzugehen und nach den texttypischen Faktoren für stabilitas und mouvance zu fragen. So erfährt man etwas über die Regularien sowie Prinzipien der Veränder‐ barkeit von Texten und über die spezifische historische Sinnsetzung durch kontextualisierende Überlieferungsgemeinschaften in der Rezeptionsgeschichte. 69 Dass die Veränderbarkeit von Texten mit ihrer individuellen Überlieferung verbunden sein kann, wurde bereits für andere Bereiche mittelalterlicher Textualität dargelegt. 70 So wurde für die Überlieferung von Exempla verschiedentlich darauf verwiesen, dass diese in ihrem individuellen Textbestand mit der Sammlungsumgebung korrelieren und spezifische Ge‐ staltungen von Erzählungen Indiz einer gezielten Textgestaltung sein können, mit der ein‐ zelne Text dem Sammlungsprofil angepasst werden. 71 Auch variierende Gestaltungen vers‐ novellistischer Dichtungen können sich aus der Entscheidung herleiten, die Texte an den Zusammenhang der Sammlung anzupassen: „it is an manifestation of the need to consoli‐ 82 4 Die Sammlung als Kontext 72 Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 392. date, to readjust und to finetune the discrepancies between independent texts into a form of cyclical conjointure.“ 72 Die Divergenzen im Textbestand verschiedener Überlieferungsträger einer Dichtung sind nicht nur ein Feld der Textkritik und Edition, sondern werfen die Frage nach den Faktoren auf, die sie auslösen, sowie nach den Bedingungen, die sie ermöglichen. Um den kausalen Zusammenhang zwischen individueller Textgestalt und Sammlungskontext zu beleuchten, muss die philologische Analyse textueller Varianz in eine dezidiert hermeneu‐ tische Untersuchung eingebunden werden. Ab wann eine variante Textgestalt dabei als gestalterisches Verfahren, als intentional zu fassen ist, welche Art und welcher Grad von Kohärenz zwischen Texten nötig ist, um von einer intendierten Textverbindung oder einer gezielten Anpassung an ein Sammlungsprofil auszugehen - die notwendigen oder hin‐ reichenden Bedingungen für Intentionalität lassen sich weder fest fixieren noch skalieren. Auch die Frage der Kohärenz innerhalb einzelner Textformationen oder der Sammlung insgesamt kann nicht an ein verbindliches Raster rückgebunden werden, zumal die Samm‐ lungen auf unterschiedlichen Ebenen diskursive Zusammenhänge prägen können. Dennoch bedeutet die Anbindung an die Sammlung eine Präzisierung der Untersuchung variabler Textbestände. Der Überlieferungsträger stellt einen konkreten und greifbaren Parameter dar, der auf Zusammenhänge mit der individuellen Form von Texten befragt werden kann und wirkt so der Relationalität entgegen, die der Frage nach einer Intentio‐ nalität bei der verändernden Textgestaltung inhärent ist. Eine Betrachtung im Überliefe‐ rungsverbund ermöglicht es, konkrete Entstehungszusammenhänge von Textvarianten zu ermitteln und deren sinnstiftendes Potential zu erhellen. Durch die Anbindung an den konkreten Referenzrahmen der Sammlung kann die Analyse varianter Textbestände poin‐ tiert verfolgt werden, sie ermöglicht Rückschlüsse auf den diskursiven und funktionalen Zusammenhang, in dem diese stehen, und damit auch auf die Rezeption und das Literatur‐ verständnis, die der jeweiligen Gestaltung des Textes zugrunde gelegen haben. Die kleine‐ pischen Sammlungen werden als Dokumente einer überlieferungsgeschichtlichen Narra‐ tologie betrachtet, anhand derer die Formgebung des Textes in einer Zusammenschau philologischer und hermeneutischer Perspektiven als Bestandteil eines literarischen Ge‐ staltungsprozesses untersucht werden kann. 83 4.3 Retextualisierung im Sammlungskontext 1 Einen Überblick über die Stofftradition bei B O H N E N G E L , Das gegessene Herz; dies., Dialektik der Affekte. 2 Les chansons de Guilhem de Cabestanh, éd. L A N G F O R S . 3 Zumeist enden die Literarisierungen des gegessenen Herzens mit einer gemeinsamen ehrenvollen Bestattung der Liebenden. Bohnengel sieht in vielen mittelalterlichen Ausdichtungen des Stoffes auch eine Tendenz zur Sakralisierung des Liebespaares, indem die Empathie der Mitmenschen ge‐ schildert wird, die das Geschehen als Beispiel einer herausragenden und märtyrerhaften Liebe auf‐ fassen. Vgl. B O H N E N G E L , Das gegessene Herz, S. 30f. 4 Vgl. ebd., S. 166. 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 5.1 Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘: Text und Rezeption Das Motiv des gegessenen Herzens, das Konrad von Würzburg im 13. Jahrhundert zum Inhalt seiner Versnovelle macht, ist in einer umfangreichen und lang anhaltenden europä‐ ischen Erzähltradition verortet. Das früheste, allerdings indirekte literarische Zeugnis findet sich im ‚Tristan‘ des Thomas von Bretagne, der Iseut ein Lied verfassen lässt, aus dem sich auf einen altfranzösischen Lai schließen lässt, der bereits die Grundstruktur des Stoffes wiedergibt: Im Zentrum steht immer die Liebe eines Mannes zu einer verheirateten Frau, die durch den Tod des Liebenden beendet wird. Es folgt die Herzentnahme aus dem Körper des Geliebten, welches der Ehemann in einem Akt der Rache seiner Ehefrau als Speise vorsetzt. Die Frau verzehrt unwissend das Herz, wird über das Gericht aufgeklärt und stirbt daraufhin ebenfalls. 1 Dieses Modell liegt allen Literarisierungen der Geschichte vom gegessenen Herzen zu‐ grunde, wobei das Motiv dabei zumeist im Kontext von Rache für begangenen Ehebruch steht. So auch in den ersten direkten Zeugnissen des Stoffes in der höfischen Literatur, die fassbar sind mit den vidas des katalanischen Sängers Guillem de Cabestanh als einem der bekanntesten Trobadors, dessen Lebensbeschreibung mit dem Stoff des gegessenen Her‐ zens verbunden wird. Sieben um 1240 entstandene vidas erzählen von der Liebe Guillems zur Ehefrau Raimons de Castell-Roussilon, welcher den Nebenbuhler tötet. 2 Zur Steigerung seiner Rache lässt Raimon seine Frau das Herz des Geliebten essen und klärt sie anschlie‐ ßend über das Gericht auf. Diese verkündet, nach dieser Speise nie mehr etwas anderes essen zu wollen und tötet sich selbst durch einen Sturz von einem Balkon. Für den anth‐ ropophagischen Akt und das unmäßige Rachehandeln erfolgt in den vidas zumeist eine Bestrafung des Ehemannes durch die Gesellschaft und/ oder die Familie der Frau, ebenso ist häufig die ehrenvolle Beisetzung und eine Sakralisierung der Liebenden Teil der Ge‐ schichte. 3 Aus diesem Stoff gestaltet Boccaccio eine Novelle des ‚Decameron‘, die als berühmtester Vertreter der Geschichte vom gegessenen Herzen gelten kann. 4 Der Ritter Guiglielmo Gu‐ ardastagno liebt die Frau seines Freundes Guiglielmo Rossiglione und wird von diesem in einen Hinterhalt gelockt und mit einer Lanze erstochen. Auch hier sucht die Frau, nachdem 5 Boccaccio: Das Decameron, hg. B R O C K M E I E R , Nov. 4,9. Das gemeinsame Thema der Erzählungen des vierten Tages sind Liebesgeschichten mit unglücklichem Ende. Boccaccio stützt sich auf die altok‐ zitanische Stofftradition, setzt aber neue Akzente, indem er die Rivalen zu Freunden macht und damit das Prekäre der Dreieckskonstellation hervorhebt, in der nicht mehr nur die Geltungsansprüche von Liebe und Ehe konkurrieren, sondern auch die von Liebe und Freundschaft. Für Bohnengel ist Boc‐ caccios Novelle deshalb nicht nur ein Liebes-, sondern vor allem ein Freundschaftskasus. Dabei un‐ terstreichen die gleichlautenden Vornamen die Verbundenheit der beiden männlichen Protagonisten (vgl. B O H N E N G E L , Das gegessene Herz, S. 174-180; dies., Lieben und nicht wieder geliebt werden, S. 100). Die Namensanalogie signalisiert aber gleichzeitig auch eine Nivellierung der Verschiedenheit der beiden Figuren, die sich in allen genannten Punkten zum Verwechseln gleichen. Den einzigen Unterschied markiert die Frau, die nur mit einem Guiglielmo verheiratet ist - dass es dem Anderen gelingt, ihre Liebe zu gewinnen, erscheint angesichts der Austauschbarkeit plausibel und beliebig zugleich. 6 Boccaccio: Das Decameron, hg. B R O C K M E I E R , Nov. 4,1. 7 B O H N E N G E L , Lieben und nicht wieder geliebt werden, S. 97. 8 Le Roman du castelain de Couci, hg. D E L B O U I L L E . Jakemés integriert die Geschichte des gegessenen Herzens in die Lebensgeschichte des für das Ende des 12. Jahrhunderts historisch bezeugten Trouvère Châtelain de Coucy. Vgl. B O H N E N G E L , Lieben und nicht wieder geliebt werden, S. 97; B U S C H I N G E R , Le Herzmaere de Konrad von Würzburg, S. 265. 9 Zur vermuteten Datierung des ‚Herzmaere‘ um 1260 vgl. B O H N E N G E L , Das gegessene Herz, S. 89-92. Bohnengel hält auf Grund der Ähnlichkeiten in der Stoffgestaltung nicht nur eine gemeinsame Vor‐ lage, sondern auch eine direkte oder indirekte Adaption von Konrads Dichtung durch Jakemés für möglich. sie unwissentlich das Herz des Geliebten gegessen hat, den Freitod. 5 In einer weiteren Er‐ zählung des ‚Decameron‘ wird das Motiv in anderer Personenkonstellation gestaltet, indem Tancredi, Fürst von Salerno, den Liebhaber seiner Tochter Ghismonda tötet und ihr dessen Herz in einem Pokal überreicht, worauf sie das Herz mit Gift übergießt und dieses trinkt. 6 Das Herz ist in diesen Ausformungen des Stoffes stets das Objekt von Rache und Hohn, mit der Degradierung zur Speise soll die vollkommene Vernichtung des Rivalen erfolgen, wobei dem Verzehr des Herzens aber auch das Moment einer unio der Liebenden inhärent ist: Mit der Reduktion des Liebhabers zur Speise und seiner vollkommenen, auch symbolischen Ver‐ nichtung bekräftigt der Gatte zwar zum einen die Auslöschung seines Rivalen […]. Aber auf der anderen Seite führt der Ehemann mit dieser Bestrafung zugleich eine Verbindung der beiden au‐ ßerehelich Liebenden herbei, wie sie vollkommener und absoluter nicht sein könnte und die nicht zuletzt durch die Assoziation mit christlichen Inkorporationsmotiven eine transzendente Dimen‐ sion erhält. 7 Das ‚Herzmaere‘ Konrads von Würzburg bildet zusammen mit dem im späten 13. Jahrhun‐ dert entstandenen ‚Roman du castelain de Couci‘ des nordfranzösischen Dichters Jakemés einen eigenen Stoffstrang. 8 Hier findet der Geliebte nicht durch die Hand des Ehemannes, sondern auf einer Jerusalemfahrt den Tod und lässt der Geliebten sein Herz als Zeichen ewiger Liebe und Treue übersenden. In dieser Tradition ist nicht das Rachehandeln zent‐ rales Motiv der Erzählung, sondern die Liebesgeschichte selbst steht im Fokus der Darstel‐ lung. Das Herz ist nicht mehr allein Objekt der Rache des betrogenen Ehemannes, sondern wird durch den Geliebten selber zum Liebeszeichen bestimmt. Konrads wohl früher ent‐ standenes ‚Herzmaere‘ betont das Moment der exzeptionellen Liebe noch stärker, 9 indem ganz auf die Ausführung expliziter Gewalt verzichtet wird. Denn während der Geliebte bei 85 5.1 Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘: Text und Rezeption 10 K I E N I N G , Ästhetik des Liebestods, S. 188. 11 G R U B MÜL L E R , Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 156. Zu diesem Typus zählt Grubmüller auch ‚Die Heidin‘, ‚Die Frauentreue‘, ‚Der Schüler von Paris‘, ‚Aristoteles und Phyllis‘, ‚Pyramus und Thisbe‘, ‚Hero und Leander‘ sowie ‚Der Borte‘. Diese Gruppe entspricht Fischers Typus der ‚hö‐ fisch-galanten‘ Erzählung, die die Verhandlung ritterlich-höfischer Kardinaltugenden in den Fokus stellt. Vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 109ff. 12 S I M O N , Thematisches Programm und narrative Muster, S. 357. Jakemés an einer im Kreuzzug empfangenen Verwundung stirbt, lässt Konrad die Prota‐ gonisten einen emphatisch ausgestalteten wechselseitigen Liebestod sterben. So reist der Ritter im ‚Herzmaere‘ auf den Wunsch der Dame nach Jerusalem, um durch die zeitweilige Trennung den Argwohn des eifersüchtigen Ehemannes zu zerstreuen und findet dort einen märtyrergleich gestalteten Tod, der allein durch den übergroßen Sehnsuchtschmerz be‐ wirkt wird. Im Sterben begriffen, befiehlt er seinem Knappen, ihm posthum das Herz zu entnehmen und dieses, zusammen mit einem Ring, der Geliebten zu überbringen. Das Vor‐ haben wird allerdings unterlaufen, denn der Ehemann fängt den Knappen ab und nimmt das mitgeführte Herz an sich, in dem er sofort das Liebeszeichen erkannt und daraus auch auf den Liebestod des Ritters schließt. Er befiehlt seinem Koch, aus dem Herz ein köstliches Gericht zu bereiten, das er seiner Ehefrau vorsetzt. Als diese das Herz des Geliebten ge‐ gessen hat, setzt er sie über seine perfide Handlung in Kenntnis. Die Dame findet daraufhin den Tod nicht durch Suizid, sondern die Wahrheit über die gegessene Speise und das Wissen um den Tod des Geliebten lassen sie in einem passionsgleich anmutenden Nachvollzug des männlichen Selbstopfers sterben: Als der Ehemann ihr eröffnet, was sie verzehrt hat, ver‐ gegenwärtigt sie sich die absolute Liebe des Ritters und gedenkt der Leiden, die er um ihretwillen auf sich genommen hat. Sie beschließt, nicht mehr leben zu können, woraufhin ihr im wahrsten Sinne des Wortes das Herz im Leibe bricht. Die Rache bleibt im ‚Herzmaere‘ zwar als „grausame Pointe“ der Geschichte erhalten, 10 denn auch hier ermöglicht erst die Handlung des Ehemannes eine posthume Einheit der Liebenden durch das Moment des wechselseitigen Liebestodes, aber das Rachehandeln tritt durch die herausgestellte wech‐ selseitige Treue und Liebesverbundenheit der Protagonisten in den Hintergrund. Entsprechend ist die Rezeption des ‚Herzmaere‘ wesentlich durch die Semantiken abso‐ luter Liebe und höfischer Minnekasuistik bestimmt, die das ‚Herzmaere‘ und weitere Ver‐ treter der „höfisch stilisierten Kurzerzählungen über Bedingungen und Erscheinungs‐ formen unbedingter Liebe“ in den literarischen Diskurs einbringen. 11 Die exzeptionelle Darstellung passionierter Liebe und die Auseinandersetzung mit ihrem Geltungsanspruch im ‚Herzmaere‘ wird dabei kaum ohne den Kontext von Gottfrieds ‚Tristan‘ gelesen als „dem ersten Text des Mittelalters, ja vielleicht des Abendlandes, der die Idee einer tragi‐ schen, romantischen Liebe bis in seine interne Semantik hinein voll ergreift.“ 12 Die Gott‐ fried-Referenz im ‚Herzmaere‘ wird zum einen explizit durch die Ovation an dessen Meis‐ terschaft im Prolog aufgerufen; in fast allen handschriftlichen Überlieferungen findet sich ein Verweis auf Gottfrieds Dichtung: des bringet uns gewisheit/ von Strâzburg meister Gotfrid 86 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 13 Versangaben beziehen sich auf den edierten Text nach der Textausgabe Konrad von Würzburg: Klei‐ nere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R . Die beiden ältesten Überlieferungsträger führen die Gottfried-Referenz allerdings nicht auf: Die Handschrift Nr. 7693 des Archivs Schloss Schönstein stellt dem ‚Herzmaere‘ keinen Prolog voran und der Cpg 341 nennt in dem ansonsten mit der übrigen Überlieferung übereinstimmend gestalteten Prolog an Stelle der Gottfried-Referenz Konrad von Würzburg, siehe auch S. 178f. 14 Neben der oben genannten Konrad-Referenz im Prolog des Cpg 341 führen die Handschriften Don. 104 und Cgm 714 eine Verfassersignatur Konrads von Würzburg im Epilog auf. 15 Kritisch gegenüber der häufig in der Forschung geäußerten Vorstellung einer konzeptuellen Ab‐ hängigkeit des ‚Herzmaere‘ von Gottfrieds ‚Tristan‘ dagegen Kokott, der etwa die im ‚Herzmaere‘ verhandelte Liebe-Leid-Thematik nicht als Rekurrenz auf den ‚Tristan‘, sondern als „allgemeine mentale Disposition bei der Auffassung von Minne“ sieht. Vgl. K O K O T T , Konrad von Würzburg, S. 71-77, Zitat S. 75. 16 Gottfried von Straßburg: Tristan, hg. K R O H N . 17 Vgl. S C H I R M E R , Stil- und Motivuntersuchungen, S. 66. (V. 9f.). 13 Die Einschreibung in die Tradition Gottfrieds hat damit in der Überlieferung des ‚Herzmaere‘ größeres Gewicht für die Beglaubigung des Textes als die Verfasserschaft Konrads, auf den überhaupt nur in drei der erhaltenen Überlieferungsträger verwiesen wird. 14 Zum anderen referiert das ‚Herzmaere‘ aber auch implizit durch die Thematisierung einer absoluten, aber nicht legitimen Liebe auf die Dreieckskonstellation im ‚Tristan‘. Die Interferenzen zwischen ‚Herzmaere‘ und ‚Tristan‘ bestehen dabei nicht nur in einer allgemeinen thematischen Inspiration, 15 sondern sind auch in konkreten inhaltlichen Be‐ zugnahmen fassbar. Zentrale Elemente der Liebesdarstellung wie die exzeptionelle triuwe, die Auserwähltheit der edelen herzen und die prononciert herausgestellte Liebe-Leid Di‐ chotomie finden sich im ‚Herzmaere‘ ebenso wie das handlungsmotivierende Moment der huote, die die Liebenden an der Erfüllung ihrer Wünsche hindert. Das ‚Herzmaere‘ gestaltet weiterhin, neben lexematischen Kongruenzen wie der lûterlichen minne (V. 2+587) und den edelen herzen (V. 588), einige Passagen parallel zum ‚Tristan‘, etwa die Abschiedsszene der Liebenden mit der Übergabe des Ringes (HM: V. 181-189; T: V. 18307-18319). 16 Eine deutliche Analogie stellt aber vor allem die mit der Instanz Gottfrieds verbundene Berufung auf die exemplarische Funktion und didaktische Fähigkeit der Literatur dar. Das ‚Herzmaere‘ will nicht nur von echter Liebe ein bilde schouwen (V. 4ff.), sondern das lite‐ rarische Vorbild soll auch die Fähigkeit zur Minne erhöhen: diu rede ist âne lougen: er minnet iemer deste baz swer von minne etewaz hoeret singen oder lesen (V. 18-21). Der Text greift damit unmittelbar die aus dem ‚Tristan‘ vertraute Programmatik der Bes‐ serung in der Liebe durch literarische Beispiele auf (T: V. 167-186). Das ‚Herzmaere‘ verar‐ beitet prototypische Elemente der lateinischen Prolog-Tradition, indem eine sentenzartige Entrüstung über den gegenwärtigen Zustand der Welt mit einem Appell an die Zuhörer verbunden wird. 17 Die erzählte Geschichte wird als produktives Beispiel und Beitrag zur Besserung angekündigt, die nicht über den konkreten Nachvollzug, sondern durch die Be‐ trachtung der musterhaften Liebe als bilde erzeugt werden soll. 87 5.1 Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘: Text und Rezeption 18 Vgl. B O H N E N G E L , Das gegessene Herz, S. 126. 19 Vgl. K E L L N E R , Eigengeschichte und literarischer Kanon, S. 169f. 20 S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, S. 463. Dass der Erzählinhalt selber hinsichtlich seiner normativen Wertung variabel gelesen werden kann, verdeutlicht der Vergleich mit einem stoffähnlichen lateinischen Exempel des 14. Jahrhunderts: Die Predigtsammlung ‚Sermones parati de tempore et de sanctis‘ führt die Geschichte vom gegessenen Herzen in knapper Form als eindeutiges Negativexempel in einer Reihe von belehrenden Texten auf, die vor der Todsünde der Wollust warnen. Das weltliche Liebesstreben wird in seiner unchristlichen Unvernunft akzentuiert und als Verstoß gegen die göttlichen Gebote herausgestellt. Vgl. S C H E U E R , Receptaculum Amoris, S. 161f. 21 Zwar wird der Text in der Systematik nach Fischer nicht dem - sehr eng gefassten Kreis - der moralisch-exemplarischen Kurzerzählungen zugerechnet, aber das dem höfisch-galanten Typus zu‐ geschriebene Leitmotiv einer „Bewährung der beiden courtoisen Kardinaltugenden chevalerie und amour“ (F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 109) bedingt gleifchfalls einen normativen Impetus. Diese Funktion der Erzählung wird im Epilog des ‚Herzmaere‘ erneut aufgerufen, der das drastische Geschehen zu einem exemplarischen Minnekasus stilisiert. Im Epilog wird die Lauterkeit und Vorbildlichkeit der dargestellten Minne herausgestellt und, im topischen Modus der laudatio temporis acti, mit einer Klage über die Geringschätzung der Liebe in der gegenwärtigen Zeit verbunden, in der Liebende keinen Schmerz oder gar den Tod für‐ einander leiden würden und in der die Liebe wohlfeil, für jedermann käuflich geworden sei (V. 534-588). Im ‚Herzmaere‘ wird das Leid als Gradmesser der Liebe verabsolutiert und die Bereitschaft zum Liebestod zum Inbegriff der wahren, lûterlichiu minne stilisiert. Das Leid der Liebenden bestätigt die Intensität ihrer Liebe und behauptet deren Eigenrechtlichkeit gegen die Rechtsordnung der Ehe. 18 Nicht nur in der akzentuierten Liebe-Leid-Program‐ matik besteht eine erneute Anknüpfung an die Gottfriedschen Liebessemantiken, mit dem abschließenden Appell an die edelen herzen (V. 588) knüpft der Epilog auch an den trans‐ zendenten Ausblick des ‚Tristan‘ an, der ein Weiterleben der Liebenden in der literarischen Vergegenwärtigung durch die aufgerufene ideale Publikumsgemeinschaft der edelen herzen verheißt. 19 Prolog und Epilog konstituieren wesentlich den exemplarischen Gestus, der dem ‚Herz‐ maere‘ inhärent ist, erst durch die Behauptung der Vorbildlichkeit in Pro- und Epilog erhält die erzählte Geschichte ausdrücklich diesen Sinngehalt. Die Rezeption des ‚Herzmaere‘, insbesondere hinsichtlich seiner exemplarischen Deutung, basiert in der germanistischen Forschung wesentlich auf dem plausiblen Zusammenspiel von Pro- und Epilog: Der Schlußabschnitt in der Schröder-Wolffschen Ausgabe unterstreicht nachträglich noch einmal die Aussagen der Einleitung, indem am Anfang vorgetragene Gedanken, wie die Vorbildlichkeit der Liebenden und die Klage über die schwindende Bedeutung der Minne, die sich wiederum - wenn auch nicht expressis verbis - an Gottfried von Strassburg anlehnt, wiederkehren. […] wenn man die einleitend geäußerte Absicht des Autors nicht als bloße Floskel abtut, scheint es wichtig, dass nach der erzählten Geschichte, die von Deutung und Paränese nicht durchsetzt ist, noch einmal der exemplarische Charakter des Ganzen in Erinnerung gebracht wird. 20 Das normative Moment ist integraler Bestandteil der Rezeption des ‚Herzmaere‘, 21 das ge‐ legentlich sogar im Kontext einer autoritative Wertvermittlung gelesen wird, die die „ab‐ 88 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 22 O R T M A N N / R A G O T Z T K Y , Zur Funktion exemplarischer triuwe-Beweise, S. 106. 23 Vgl. B U S C H I N G E R , L’adaption du thème du „coeur mangé“, S. 62-64. Ähnlich S C H M I D -C A D A L B E R T , von wirzeburc ich Cuonrât, S. 38, der Konrads Werk als „Sittenschule für eine städtische Elite, welche sich an einer längst vergangenen, idealisierten höfischen Welt orientiert“, bezeichnet. 24 Vgl. Q U A S T , Literarischer Physiologismus, S. 305; siehe auch W A C H I N G E R , Zur Rezeption Gottfrieds von Strassburg im 13. Jahrhundert, S. 73. 25 Siehe S. 26f. 26 P E T E R S , Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? , S. 85. 27 Dabei sind dem literarischen Sujet der Liebesgabe besondere ethische Implikationen und eine Funk‐ tionalisierung für die literarische Selbstreflexion inhärent. Vgl. E G I D I / W E D E L L , Perspektiven einer Poetik der Liebesgabe, S. 9-17. 28 Vgl. N O L L , Von der Liebe, von der List und vom Erzählen, S. 292ff., S. 311. solute allumfassende Geltung der Norm“ beweisen und zur „Erbauung“ der Gesellschaft führen 22 bzw. dem adligen Publikum eine neue Qualität höfischer Ideale vermitteln soll. 23 Eine so einsinnig didaktisierende Intention oder Funktion kann man dem ‚Herzmaere‘ nicht zusprechen, das sich hinsichtlich normativer Geltungsaussagen eindeutiger Sinnstif‐ tung entzieht. Das ‚Herzmaere‘ vermittelt keine kohärente Rezeption, die Forschung ver‐ weist bereits in der Einzelrezeption auf das ambige Potential des Textes, der weniger eine konsistente Deutung als vielmehr Mehrdeutigkeit der Diskurse vermittelt. 24 Im ‚Herzmaere‘ manifestiert sich die die Versnovellistik kennzeichnende Poetik des Einspielens und Zu‐ sammenfügens verschiedener Erzählmuster und Diskurse mit je eigenen Traditionen und Logiken, deren Sinnsetzungen und normative Ansprüche miteinander konfligieren können. 25 Dem Skandalon der außerehelichen Liebe, die nur aufgrund der sorgsamen huote des Ehemannes nicht verwirklicht wird, steht die herausragende triuwe der Liebenden als das zentrale ethische Moment jedweder Liebeskonzeption gegenüber; die Liebesdarstellung changiert zwischen der ausgestellten Idealität der Liebe und ihrer Ausweglosigkeit. Der Text spielt die Semantiken des Minnedienstes ein, indem der Ritter in seiner Dienstbereit‐ schaft und Unterwerfung unter den Willen der Dame und durch sein ausgestelltes Minne‐ leid konform ist mit dem durch die Tradition des Minnesangs etablierten normativen „Ver‐ haltensprogramm in der weltlichen Liebe.“ 26 Aber die der ehebrecherischen Liebeskonstellation inhärente Problematik kann darüber nicht vollständig aufgelöst werden, zumal die Liebenden nicht nach legitimer Verbindung, sondern nach Vollzug des Ehebruchs streben. Dem eingespielten Schema des Minnedienstes ist ein Anspruch auf Belohnung und Er‐ füllung implizit, der durch die Motivik des Liebestodes in engem Konnex mit der Ökonomie der Liebesgabe steht. Auch im Kontext der Liebesdarstellung gilt das Prinzip der Rezipro‐ zität als Grundschema der Gabe, die in die Eigenlogik höfischer Interaktion und Ökonomie eingebunden ist: Eine Gabe erzeugt immer ein Ungleichgewicht, das des Ausgleichs be‐ darf. 27 Die Liebesgabe hat nicht nur repräsentativen, sondern auch initiativen Charakter, indem das Erzählschema der Reziprozität die einseitige Liebesgabe zum Movens weiterer (Liebes)Handlungen macht. 28 Der Liebestod als ultimative Liebesgabe bedingt einerseits ein Defizit und eine Schuld bei der Dame, die zu kompensieren ist, gleichzeitig führt er dieses ökonomische Prinzip ins Paradox, denn „das Opfer des eigenen Lebens etabliert einen 89 5.1 Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘: Text und Rezeption 29 F R I E D R I C H , Zur Poetik des Liebestodes, S. 240. 30 „Geistliche und weltliche Sphären erweisen sich dabei untrennbar verwoben. Sie durchdringen sich in vielen christlich-religiösen wie in nahezu allen weltlich-höfischen Texten geradezu selbstver‐ ständlich.“ W O L F , Buch und Text, S. 39. 31 K I E N I N G , Ästhetik des Liebestods, S. 191. 32 Vgl. W A C H I N G E R , Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur, S. 9. 33 Entgegen Forschungsmeinungen, die den zahlreichen geistlichen Allusionen im ‚Tristan‘ eine tat‐ sächliche Signifikanz für geistliche Geltungsaussagen absprechen, geht Köbele von einer engen Ver‐ wobenheit des ‚Tristan‘ mit dem religiösen Diskurs aus. Durch zahlreiche Metaphern, die deutlich auf das Religiöse verweisen, aber keine expliziten Verknüpfungen herstellen, wird programmatisch eine „Unauflöslichkeit des Geistlichen und Weltlichen“ hergestellt, die den spezifischen Konflikt bei Gottfried markiert. Vgl. K ÖB E L E , Mythos und Metapher, S. 220-228; Zitat S. 245. 34 S C H E U E R , Receptaculum Amoris, S. 165. 35 Vgl. W A G N E R , Irdisches und Himmlisches Jerusalem, S. 452. Überschuss, der jenseits der Gabenökonomie steht und alle Hoffnung auf Äquivalenz zu‐ nichte macht.“ 29 Prägend für die narrative Gestaltung des ‚Herzmaere‘ ist aber vor allem eine weitreichende Übertragung christlicher Metaphorik auf die Minne-Handlung, durch die sich ein ganzes Beziehungsgeflecht von uneindeutigen und zum Teil widersprüchlichen Deutungsmustern eröffnet. Das ‚Herzmaere‘ steht damit prototypisch für die enge Interferenz von geistlichen und weltlichen Sinnsetzungen, die prägend für die volkssprachige Literatur des 13. Jahr‐ hunderts ist. 30 Konrad nutzt, wie auch Gottfried von Straßburg, eine religiös konnotierte Sprache und geistliche Semantiken, um die Protagonistenliebe im Kontext christlicher Werte zu auratisieren. Dabei stellt die religiöse Bildsprache sowohl Gottfrieds als auch Konrads nicht bloß eine „Nobilitierung[en] der literarischen Rede“, 31 eine Entlehnung aus dem geistlichen Bereich dar, die dem Gesagten in referentieller Funktionalisierung größere Verbindlichkeit vermitteln soll, 32 sondern die weltliche Liebeshandlung erfährt eine Ana‐ logisierung mit dem Religiösen, durch die das christliche Paradigma beständig eingespielt und zugleich überschritten wird. 33 So bedingt schon die Situierung des männlichen Liebestodes im Heiligen Land deutliche religiöse Implikationen, die auf die Liebeshandlung übertragen werden. Das Verlegen der Liebeshandlung nach Jerusalem führt dazu, dass bei dem folgenden Geschehen die Seman‐ tiken von Frauen- und Gottesdienst zueinander in Beziehung gesetzt werden, Leiden und Sterben des Ritters erfahren eine Analogisierung mit den Mustern christlich motivierter Pilger- oder Kreuzzugsfahrten. Der Ritter wird in seinem Liebesleid sogar als marteraere (V. 260) bezeichnet, was unweigerlich die Assoziationen mit einem christlichen Selbstopfer aufruft. Es scheint, dass „der heilige Ort sein Sterben zum Minne-Martyrium erhebe und seine sterblichen Überreste, zumal sein einbalsamiertes Herz, als Reliquie erscheinen lasse.“ 34 Dabei gestaltet Konrad die Jerusalemfahrt des Ritters aber eindeutig als Minnedienst, der die christlichen Bezüge einer Reise ins Heilige Land ganz in den Hintergrund treten lässt. 35 Anders als im ‚Castelain de Couci‘, wo der Geliebte tatsächlich als idealer Kreuzritter stirbt und auch der Ehemann sich nach der ehrenvollen Bestattung der Frau auf einen Kreuzzug begibt, wird die Jerusalemfahrt im ‚Herzmaere‘ aus ihrem eigentlichen Kontext gelöst. Die Reise resultiert aus einer umständlichen Motivierung aus List und Gegenlist, bei der die 90 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 36 Während bei Jakemés alle Handlungen und Geschehnisse vergleichsweise logisch motiviert sind, weist das ‚Herzmaere‘ verschiedene Leerstellen und Brüche im Handlungsgefüge auf, die weniger präzise motiviert sind und breitere Deutungsräume aufzeigen (vgl. B O H N E N G E L , Das gegessene Herz, S. 102f.). Wachinger sieht eine „erzählerische Unlogik“ in der Motivation zur Trennung und Reise im ‚Herzmaere‘, die eine Schuldhaftigkeit der Frau impliziert. Im ‚Castelain de Couci‘ will die Ehefrau durch die Reise des Geliebten nicht die eigene Jerusalemfahrt abwenden, sondern die Trennung vermeiden. Nachdem der Ritter in der Kirche das Kreuz genommen und sich damit unwiderruflich zum Kreuzzug verpflichtet hat, hindert der Ehemann seine Frau daran, ihrerseits vorzutreten und die angekündigte Fahrt zu realisieren; die alleinige Reise des Ritters ist damit Ergebnis der Agitation des Ehemannes. Dagegen erscheint das listreiche Kalkül der Dame im ‚Herzmaere‘ weniger selbstlos und empathisch (vgl. W A C H I N G E R , Zur Rezeption Gottfrieds von Strassburg im 13. Jahrhundert, S. 73f.). Auch Brandt stellt fest, dass die Dame sowohl durch den Erzähler als auch durch den Geliebten ambivalent betrachtet wird. Vgl. B R A N D T , Konrad von Würzburg, S. 88. 37 Vgl. M ÜL L E R , Wie christlich ist das Mittelalter, S. 406ff. 38 Das Herz ist im literarischen Diskurs des Mittelalters immer schon als Sitz und Mittelpunkt mensch‐ lichen Fühlens semantisiert. Im geistlichen Bereich ist es bereits seit dem frühchristlichen Schrifttum Zentrum der (Gottes)Liebe und zentrale Metapher für die Darstellung des Inneren. Der Herzbegriff findet auch Eingang in die höfische Literatur, durch Topoi wie die Gegenwart der Frau im Herzen des Geliebten oder die Zugehörigkeit des Herzens zur Dame bekommt das Herzmotiv eine heraus‐ ragende Rolle in der weltlichen Liebesdichtung (vgl. V O N E R T Z D O R F F , Die Dame im Herzen und das Herz bei der Dame; dies., Das Herz in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen re‐ ligiösen Literatur). In der volkssprachigen Dichtung wird das Herz in einer Bedeutungsfülle gestaltet, die ihm ganz unterschiedliche Rollen zuweist. Das Motiv changiert zwischen den Bedeutungsebenen des Körperorgans und einer poetischen Metapher für das innere Wesen des Menschen bzw. für sein Liebes- und Affektzentrum. Das Herz markiert damit eine besondere Transgressionskategorie, indem es sowohl die Grenze von Körper und Tropus, aber auch die der Identität überschreiten kann. Die konzeptionelle Offenheit des Herzmotivs eröffnet besondere erzählerische Spielräume, das Chan‐ gieren zwischen den verschiedenen Bedeutungsebenen wird in vielen Texten gezielt arrangiert. Vgl. P H I L I P O W S K I , Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 95ff., S. 101f., S. 114f. Figuren jeweils pragmatische Zwecke verfolgen. Der Ehemann, der die geheime Minne beobachtet hat, will die Liebenden durch eine gemeinsame Wallfahrt mit seiner Frau trennen; er baut auf eine unvollkommene Liebe, die in Abwesenheit des Geliebten verblasst. Der Ritter will der Frau nach Jerusalem folgen, um diese Trennung - und vielleicht auch das Vergessen - zu verhindern. Die Frau ersinnt die Jerusalem-Reise des Ritters als Gegen‐ list, um die eigene unbequeme Fahrt zu verhindern und gleichzeitig den Argwohn von Ehemann und Gesellschaft zu zerstreuen, um später ungestört die sexuell bislang unerfüllte Liebe verwirklichen zu können. 36 Bei keinem Handlungsträger steht die Gottesliebe im Fokus, sondern diese wird in der wechselseitigen listreichen Interaktion für weltliche Lie‐ besambitionen instrumentalisiert. 37 Auch das in anachoretenhafter Weltabkehr gestaltete Martyrium des Ritters geschieht nicht um Gottes, sondern um der Dame willen, so wie auch deren das Leiden nachvollziehender Tod zwar die Bildsprache der Passionsfrömmigkeit zitiert, aber dennoch ein Geschehen weltlicher Liebe bleibt. Die eindrücklichste und durch starke christliche Assoziationen aufgeladene Metaphori‐ sierung stellt das gegessene Herz in seiner Analogie zur Eucharistie dar. Konrad verwendet das Motiv des Herzens in einer Gleichzeitigkeit eigentlich gegensätzlicher Kategorien, indem dieses sowohl Körperorgan als auch Zeichen der Liebe ist. 38 Der Text spielt zahlreiche konventionelle Formeln ein, die das Herz als Liebeszeichen semantisieren, gleichzeitig bleibt es stets in seiner Körperhaftigkeit präsent. Das zentrale Motiv repräsentiert das Inein‐ andergreifen sinnlich-präsentischer und epistemischer Bedeutungsproduktion im ‚Herz‐ 91 5.1 Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘: Text und Rezeption 39 Kiening, Ästhetik des Liebestods, S. 176, Zitat S. 192. 40 Die Topik des leidenden oder verletzten Herzens lässt sich auch in einer spezifisch geistlichen Lesart semantisieren, der im Kontext der sich im 12. und 13. Jahrhundert ausbildenden Passionsfrömmigkeit verschiedentlich eine besondere Akzentuierung zugesprochen wird. In der Herz-Jesu-Verehrung ist eine metaphorische Übertragung des verwundeten oder leidenden körperlichen Herzens auf das durch Liebe verwundete geistliche Herz etabliert, die sich auch in der literarischen Verhandlung der Herzmetaphorik widerspiegeln kann. Vgl. S E E G E T S , Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit, S. 233ff.; S P E C K E N B A C H , Studien zum Begriff ‚edelez herze‘, S. 26. 41 S C H E U E R , Receptaculum Amoris, S. 166: „Das Minnekästchen präsentiert sich als Reliquiar, das Re‐ liquiar gleichzeitig als Zufluchtsort weltlicher minne - ganz so, als sollten Sakralisierung und Pro‐ fanisierung in ihrer Gegenläufigkeit simultan gefasst werden“. maere‘, dessen Ästhetik sich „im Wechselspiel von materialisierender und spiritualisie‐ render Dimension“ manifestiert. 39 Mit der Verwendung des tatsächlichen körperlichen Herzens als Liebeszeichen erfährt das literarische Motiv des Herzenstausches eine materi‐ elle Konkretisierung. Aber das gegessene Herz stellt bei Konrad nicht nur eine hyperboli‐ sche Schilderung des außergewöhnlichen Liebesgeschehens dar, sondern wird in einer Engführung mit geistlichen Bildern und Semantiken narrativiert, die eine Bezugnahme auf heilsgeschichtliche Vorgänge implizieren. Das Körperorgan als Liebeszeichen, das das Opfer des eigenen Lebens bezeugt, ist per se stark durch eine christliche Opferparadigmatik aufgeladen. 40 Konrad führt die christliche Symbolik aber noch fort, indem er das Herz des Ritters als Symbol seiner Liebe und des um der Geliebten willen erlittenen Martyriums durch die Einbalsamierung und Aufbewahrung in dem kostbaren Kästchen gleich einer Reliquie inszeniert. 41 Wenn der Ritter hierbei die Anweisung gibt, seinen toten Leib aufzu‐ schneiden und das Herz zu balsamieren, damit es nicht verwest, wird deutlich herausge‐ stellt, dass hier ein Körperorgan und nicht ein abstraktes Zeichen zugegen ist - wie es auch genuines Merkmal der Reliquie ist, durch körperliche Präsenz Anteil am Heiligen zu ver‐ mitteln: sô heiz mir snîden ûf den lîp und nim dar ûz mîn herze gar, bluotic unde riuwevar; daz soltu denne salben mit balsam alltenhalben, durch daz ez lange frisch bestê (V. 298-303). Die sorgfältige Zubereitung durch den Koch, der mit edlen Gewürzen und hôhem flîze aus dem Herzen ein besonders köstliches Gericht macht, akzentuieren den folgenden Verzehr des Herzens als einen körperlichen respektive anthropophagischen Akt und damit als ein Moment absoluter Drastik. Gleichzeitig wohnen dem Moment des Einverleibens des Herzens - gerade wegen der ausgestellten Körperlichkeit des Vorgangs - Implikationen einer Vereinigung mit dem Ge‐ liebten inne. Dieses Vereinigungsmoment wird deutlich herausgestellt, indem das Essen des Herzens mit einer besonderen sinnlichen Wahrnehmung geschildert wird. So erkennt die Frau, als sie unwissend das sorgfältig zubereitete Herz verzehrt, sofort die Besonderheit dieses Gerichts, das eine bemerkenswerte Wirkung auf sie hat: 92 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 42 Vgl. B R A U N , Kristallworte, Würfelworte, S. 18f. 43 Q U A S T , Literarischer Physiologismus, S. 329. daz jâmerlîche trehtelîn sô süeze dûhte ir werden munt daz si dâ vor ze keiner stunt nie dekeiner spîse gaz der smac ir ie geviele baz (V. 434-438). Sie erklärt ihrem Ehemann nach dem Verzehr, dass es die beste, ein überhort aller Speisen sei, die sie je gegessen habe. Damit sind dem Verzehr des Herzens auch erotische Konno‐ tationen inhärent, die Inkorporation des Geliebten und die überragende Wirksamkeit dieser Speise, ihre süeze, verweisen auch auf das Begehren der Liebenden, deren Verbindung wegen der großen Wachsamkeit des Ehemannes keine sexuelle Verwirklichung erfahren hat. Der sinnliche Ausdruck der süeze ist aber auch durch seinen ausgeprägten religiösen Sprachgebrauch geprägt und stellt ein Attribut dar, das mit starken christlichen Assoziati‐ onen belegt ist, 42 womit der Verzehr des Herzens schon auf der Ebene der Physis eine be‐ sondere, religiös aufgeladene Wirkmächtigkeit erhält, die sich in die dem Inkorporations‐ motiv inhärenten Implikationen einer unio mit Christus einfügen. Gegen die These einer unmittelbaren eucharistischen Analogie führt Quast allerdings an, dass das Einverleiben des Herzens bei Konrad nicht mit der materiellen Realpräsenz der Eucharistie gleichgesetzt werden kann. Bei der Eucharistie bewirkt die Einverleibung der Hostie eine unmittelbare Partizipation am Heiligen, im ‚Herzmaere‘ dagegen bewirkt das Essen des Herzens für sich genommen noch keine unio. Die Analogie zum christlichen Selbstopfer kommt erst zum tragen, als der Ehemann seine Frau über die Beschaffenheit der Speise in Kenntnis setzt und damit deren symbolischen Gehalt offenbart: Zwischen Verzehr und Partizipation am Verzehrten, am toten Liebhaber also, schiebt sich bei Konrad der Akt der Symbolisierung, die eucharistische Logik dagegen setzt auf die Gleichzeitigkeit von Symbolgestalt und Realpräsenz des Leibes. Konrads Physiologismus ist ohne die konstitutive Ordnung des Symbolischen gar nicht zu denken. Zugespitzt formuliert: Nicht das Herz als Organ, sondern das Herz als Zeichen bewirkt den Liebestod der Herrin. 43 Auch die kirchliche Eucharistiefeier nutzt die Kraft des sprachlichen Zeichens, indem erst durch die Konsekrationsworte die Hostie zum Leib Christi erklärt und die unio ermöglicht wird; die Worte erzeugen aus dem Symbol die Realpräsenz des Leibes Christi. Das ‚Herz‐ maere‘ verfährt umgekehrt, denn hier erfolgt zuerst die tatsächliche physische Einverlei‐ bung des Herzens, das nachträglich durch die Worte des Ehemannes als Symbol der Liebe und des Liebesopfers erkannt wird und erst dann den Liebestod der Dame als Nachvollzug des männlichen Opfers bewirken kann. Durch die umfangreiche Zitation christlicher Symbolik im ‚Herzmaere‘ werden zunächst Geltungsansprüche für die weltliche Minnehandlung erzeugt, die ehebrecherische Liebe scheint dadurch aufgewertet und ihr Gefährdungspotential durch das Verlegen in die Deu‐ tungssphäre christlicher Allegorese überspielt. Aber die zahlreichen religiösen Motive im ‚Herzmaere‘ bedingen keine unmissverständliche transzendente Überhöhung der Minne, 93 5.1 Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘: Text und Rezeption 44 Vgl. M ÜL L E R , Wie christlich ist das Mittelalter, S. 408. 45 Zur ‚Frauentreue‘ siehe S. 135ff. 46 Eine Verkehrung christlicher Logiken lässt sich auch für Konrads ‚Der Welt Lohn‘ konstatieren, allerdings in anderer Richtung. Hier wird das christliche Konversionsschema eingespielt und gleich‐ zeitig verkehrt, indem die - tatsächlich erfolgte - Konversion nicht durch geistliche Texte, sondern durch die Lektüre von Geschichten über weltliche Liebe in Gang gesetzt wird. Vgl. Q U A S T , Lektüre und Konversion, S. 130-134. 47 Für Müller manifestiert sich im ‚Herzmaere‘ die „Ambivalenz einer minne, die sich als höchster Wert setzt und doch nie dieser höchste Wert sein kann.“ M ÜL L E R , Wie christlich ist das Mittelalter, S. 414. 48 Das Rittertum bleibt in der literarischen Darstellung immer dem normativen Konzept des milites christi verpflichtet, verschreibt sich aber gleichzeitig den Wertsemantiken des weltlichen Minne‐ dienstes. Ausführlich zu den normativen Ansprüchen der militia christi und den Emanzipations‐ prozessen in der Perspektivierung von minne und sexueller Liebe: W E N Z E L , Frauendienst und Got‐ tesdienst, besonders S. 58-77. 49 M ÜL L E R , Wie christlich ist das Mittelalter, S. 418. zu deutlich sind die Brüche mit dem Religiösen, die der Text inszeniert. 44 Die ausgeprägte sakrale Metaphorisierung der Liebeshandlung kann zwar als Ausdruck einer exemplari‐ schen Geltungsbehauptung für das Geschehen gelesen werden, der aber Widersprüche und Fragwürdigkeiten eingeschrieben sind. So stellt die Inkorporation des Herzens vorder‐ gründig eine unio der Liebenden dar, aber eine tatsächliche Einheit im Minnetod als trans‐ zendenter Ausblick wird nicht gegeben. Anders als in den vidas um Guillem de Cabestanh oder bei Jakemés, anders auch als im ‚Tristan‘ oder in der ‚Frauentreue‘ als weiterer Er‐ zählung über den wechselseitigen Liebestod, 45 gibt es im ‚Herzmaere‘ keine gemeinsame ehrenvolle Bestattung der Liebenden, die eine christliche Legitimität der Liebe andeutet. Dem ‚Herzmaere‘ ist eine deutliche Verkehrung fest gefügter christlicher Wirkmuster eigen, indem Ritter und Dame zwar nach dem Modell des Märtyrers bzw. in Nachvollzug der Passion sterben, aber dabei keinen besonderen Gottbezug oder eine Hinwendung zum Heilsgeschehen zu erkennen geben. Das christliche Schema wird zwar zitiert, aber zu einem formalen Handlungsmuster umgewandelt, das seines eigentlichen Inhaltes entleert ist. 46 Dabei formuliert das ‚Herzmaere‘ aber keine opponierende Haltung zu dem Geistlichen und seinen Wertansprüchen, denn die Dignität der transzendenten Implikationen wird durch das weltliche Geschehen nicht nivelliert. Vielmehr wird durch die parareligiöse Inszenie‐ rung der weltlichen Minne, die das geistliche Muster in weltliches Liebeshandeln überführt, ihr offensichtlicher Kontrast zur Gottesliebe akzentuiert. Die Dignität der religiösen Bildlichkeit trägt einerseits zur Auratisierung und Autorisie‐ rung der weltlichen Liebeshandlung bei, führt aber andererseits den Kontrast zwischen geistlich-religiös erfüllter Gottesliebe und der Defizienz weltlicher Liebe vor Augen. 47 Kon‐ rads Text spielt damit die Spannung zwischen den beiden Polen Gottesliebe und Frauenliebe aus, die dem höfisch-ritterlichen Minnebegriff von Anfang an implizit ist. 48 Das ‚Herzmaere‘ schreibt sich in die Auseinandersetzung über den Geltungsanspruch passionierter Liebe und des höfischen Lebensentwurfs insgesamt ein, der Eigenanspruch der Minne „tritt in eine latente Konkurrenz zu einer christlichen Auffassung der Welt und sucht die Versöh‐ nung mit ihr (›Gott und der Welt gefallen‹), muss sich aber in letzter Instanz ihr immer unterordnen.“ 49 In der widersprüchlichen Inszenierung der Geltungsansprüche weltlicher und geistlicher Liebe im ‚Herzmaere‘ wird die wechselseitige Durchdringung dieser Bedeutungsebenen, 94 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 50 K I E N I N G , Ästhetik des Liebestods, S. 187. 51 K ÖB E L E , Mythos und Metapher, S. 228. 52 Vgl. B Ü R K L E , Interartifizialität, S. 7. die „Durchlässigkeit geistlicher und weltlicher Semantiken“ augenscheinlich. 50 Im ‚Herz‐ maere‘ wird die Liebesthematik, wie auch in Gottfrieds ‚Tristan‘, zu einer Kategorie der inhaltlichen und poetologischen Transgression, indem über ambige Zeichen als „strukturell unentscheidbare Metaphern“ ein beständiges Oszillieren zwischen dem Geistlichen und dem Weltlichen erzeugt wird. 51 Im Bild des gegessenen Herzens kumulieren nicht nur die Überlagerungen von weltlichen und geistlichen Sinnsetzungen, als Figur des Einverleibens prägt es in seiner Verschränkung von Zeichen und Körperorgan auch eine dichte poetolo‐ gische Lesbarkeit: Die Balsamierung und Verwahrung als ein kostbares Kleinod in dem geschmückten Kästchen sowie die sorgfältige Zubereitung durch den Koch als Verfahren kultureller Verfeinerung sind, analog zu Kunstpassagen als besonderen Kristallisations‐ punkten der Reflexion über literarische Fertigkeiten und artistische Meisterschaft in der volkssprachigen Literatur, 52 auch als Dichtungsmetaphern lesbar. Sie lassen an die kunst‐ volle Formgebung der materia denken, die in der retextualisierenden Bearbeitung ihre ar‐ tifizielle Ausgestaltung erfährt. Das ‚Herzmaere‘ will nicht nur, wie im Prolog angekündigt, ein Bild absoluter Liebe zeichnen, der Text ist auch selber ein Herz, das, aufgeladen mit der Dignität seiner religiösen Analogien, die memoria an die Liebenden und ihre herausragende Opferbereitschaft transportiert und dem Rezipienten zur Aufnahme anbietet. 5.2 Das ‚Herzmaere‘ als repräsentative Vergleichskonstellation Die Bestimmung des ‚Herzmaere‘ zum zentralen Referenztext der Untersuchung resultiert nicht aus einer besonderen normativen Perspektive auf den Text, sondern aus einer me‐ thodisch notwendigen Fokussierung auf die Untersuchung eines Modellfalls. Verschiedene inhaltliche und überlieferungsspezifische Merkmale machen das ‚Herzmaere‘ dabei zu einem geeigneten Gegenstand für eine vergleichende Analyse der Text-Kontext-Relationen. Im ‚Herzmaere‘ werden grundlegende Prinzipien des versnovellistischen Erzählens reali‐ siert wie die komplexe Kombinatorik verschiedener tradierter Motive und literarischer Schemata oder die spannungsvolle Verschränkung geistlicher und weltlicher Diskurse. Weiterhin ermöglicht die im Pro- und Epilog formulierte Vorbildfunktion der erzählten Geschichte eine gezielte Auseinandersetzung mit exemplarisch-normativen Sinnset‐ zungen, auf denen ein besonderer Fokus der Untersuchung liegt. Daneben stellen die erheblichen Divergenzen im Textbestand der verschiedenen Redak‐ tionen des ‚Herzmaere‘ eine besondere Möglichkeit für die Frage nach intentionalen Text‐ 95 5.2 Das ‚Herzmaere‘ als repräsentative Vergleichskonstellation 53 Das ‚Herzmaere‘ liegt in der bis heute maßgeblichen Edition durch E. Schröder vor, die seit ihrem Erscheinen 1924 Basis nahezu aller Forschungsbeiträge ist. Der edierte Textbestand basiert haupt‐ sächlich auf dem Cpg 341 sowie der Straßburger Handschrift A 94, bei der Epiloggestaltung orientiert sich Schröder dagegen an Don. 104. Der edierte Text ist also nicht nach dem Leithandschriftenprinzip erstellt, sondern stellt eine Rekonstruktion aus der Breite der Überlieferungsträger dar, deren Ge‐ staltung wesentlich auf dem Urteil des Editors zu Wesen und Machart der Dichtung Konrads von Würzburg beruht. Die ‚Herzmaere‘-Edition vertritt prototypisch das von Karl Lachmann begründete Prinzip der Rekonstruktion eines von allen Verfälschungen der Überlieferung gereinigten Autor- oder Originaltextes: „Man macht sich gar nicht klar was das heisst: einen im saubern manuscript vorliegenden text `um‐ zuarbeiten´: so dass er oft kaum wiederzuerkennen ist [Anm.: gemeint sind die Schreiber der Hand‐ schriften]. Darum gibt es für junge germanisten keine schwierigere, undankbarere […] aufgabe, als die textkritische bearbeitung […] zumal man es in der mehrzahl der fälle mit kleinen poeten zu tun hat, deren stil, sprach- und verskunst nicht aus anderweitig gut überlieferten werken so sicher er‐ schlossen werden kann wie zum glück bei Konrad von Würzburg. […] Das gesamtresultat ist, dass es auch vom HM. keine handschrift gibt, die man als gut bezeichnen und der ausgabe zu grunde legen könnte. […] Trotzdem […] ist der versbestand vollständig erhalten und erleidet nirgends zweifel und anfechtung.“ Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. X Zwar wurde konstatiert, dass Schröders Edition „ein künstlerisches Gebilde“ darstellt (B L A M I R E S , Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘, S. 251), das mit Vorsicht zu bewerten ist, weil es „auf einer hypothetischen Güte des Originals den Ursprungszustand rekonstruiert“ (B R A N D T , Konrad von Würzburg, S. 105). Dennoch prägt der edierte Text, von einigen Diskussionen bezüglich der Schluss‐ gestaltung des ‚Herzmaere‘ abgesehen (vgl. z.B. S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novellistische Ge‐ staltungskunst, S. 463-475; K R A G L , Wie man in Furten ertrinkt, FN 76), weitgehend unwidersprochen die wissenschaftliche Rezeption des Textes. Eine synoptische online-Edition aller handschriftlichen Überlieferungsträger des ‚Herzmaere‘ sowie von Konrads ‚Heinrich von Kempten‘ und ‚Der Welt Lohn‘ entsteht derzeit im Rahmen eines PhD Projekts von Gustavo F E R NÁN D E Z R I V A an der Universität Buenos Aires [http: / / kvwdi‐ gital.000webhostapp.com/ ; Zugriff am 05.11.2017]. Das Projekt beinhaltet auch die Erstellung eines neuen kritischen Textes, der anders als die Schröder-Edition die variante Überlieferung und den Status unterschiedlicher Fassungen des ‚Herzmaere‘ umfangreich berücksichtigt. 54 Dabei bietet die Debatte um die ‚Echtheit‘ des langen Epilogs im ‚Herzmaere‘ einen guten Anknüp‐ fungspunkt für die Erörterung von Stilpostulaten sowie prekären editorischen Fragestellungen. Zur Echtheitsdiskussion um die lange Schlussrede in Codex Don. 104 siehe S. 257-262. gestaltungen dar. 53 Gerade Pro- und Epilog, die als kommentierende Rahmung der erzählten Geschichte wesentlich die Sinnsetzungen des Textes bestimmen, sind im ‚Herzmaere‘ va‐ riant gestaltet, was den Text zu einem vielversprechenden Gegenstand für die Frage nach gezielten Anpassungen durch die reproduzierenden Instanzen macht. 54 Weiterhin legen die Verfasserschaft Konrads sowie die akzentuierte Gottfried-Referenz eine besondere ‚Promi‐ nenz‘ und Wirksamkeit des ‚Herzmaere‘ nahe, die eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text in der koproduzierenden Rezeption durch die Schreiber geprägt haben können. Vor allem aber ist das ‚Herzmaere‘ auf Grund seiner Überlieferungsbreite ein geeignetes Beispiel, um das Verhältnis von Einzeltext und Sammelhandschrift exemplarisch auszu‐ leuchten. Die Dichtung gehört zu den bekanntesten und auch zu den am breitesten über‐ lieferten mittelalterlichen Versnovellen. Insgesamt 10 vollständige Handschriften und zwei Fragmente, die vom frühen 14. bis in das 16. Jahrhundert datieren und unterschiedlichsten lokalen und sozialen Entstehungsräumen zuzuordnen sind, tradieren Redaktionen des ‚Herzmaere‘, die erheblich in ihrem Umfang divergieren (480/ 602 Verse). Das ‚Herzmaere‘ wird in ganz unterschiedliche Typen von Sammelhandschriften eingebunden, die tradie‐ renden Kompilationen divergieren in der Auswahl und Zusammenstellung von Texten, den 96 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 55 Vgl. J A N O T A , Geschichte der deutschen Literatur, S. 24; N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 538f. 56 Vgl. W O L F , Buch und Text, S. 82-85, Zitat S. 319. Auf die Typisierung und langsame Wandlung in den Gestaltungsmodalitäten mittelalterlicher Handschriften verweist auch N E U B E R , Ökonomien des Verstehens, S. 191. 57 Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. I, S. 183-214; N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 550; P A L M E R , Von der Paläographie zur Literaturwissenschaft, S. 243f. thematischen und texttypologischen Schwerpunkten sowie in der kodikologischen Gestal‐ tung. Der Vergleich der das ‚Herzmaere‘ tradierenden Codices führt damit exemplarisch die unterschiedlichen Typen oder das Spektrum der versnovellistischen Sammelhand‐ schriften vor. Das Untersuchungskorpus, das mit dem Cpg 341 sowie den Codices Wien 2885 und Don. 104 einige der Haupthandschriften der kleinen Reimpaardichtung enthält, stellt einen repräsentativen Ausschnitt aus dem kleinepischen Sammelschrifttum dar und spiegelt auch die Genese des untersuchten Sammlungstypus wider. Die untersuchten Handschriften sind auch repräsentativ für grundlegende Parameter der spätmittelalterlichen Manuskriptkultur und Literaturproduktion. Es sind drei Pergament‐ handschriften aus dem späten 13. Jahrhundert sowie der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vertreten; bei den übrigen Überlieferungsträgern handelt es sich dagegen um Papierhand‐ schriften, die vom ausgehenden 14. bis in das frühe 16. Jahrhundert datieren. An dem un‐ tersuchten Korpus lässt sich exemplarisch die Entwicklung vom Luxusprodukt der Perga‐ menthandschrift zum breiter verfügbaren Papiercodex nachvollziehen, die mit Veränderungen in den Gestaltungsmodi mittelalterlicher Handschriften, aber auch in der literarischen Produktion einhergeht. 55 Zwar gibt es kein festes Standardformat für volkssprachige Codices, sondern ein Ne‐ beneinander verschiedener Formate und Handschriftentypen, aber es sind seit dem 13. Jahrhundert einige typische Parameter fassbar, die sich in großen Teilen des handschrift‐ lichen Korpus widerspiegeln und die auch das kleinepische Sammelschrifttum prägen. Während im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert noch einfache Gebrauchshandschriften mit kleinem Format dominierten, können die 1220/ 30er Jahre als „buchtechnische Zäsur“ gefasst werden, die zeitversetzt auf den literarischen Modernisierungsschub folgt und die sich neben steigenden Produktionszahlen in einer Tendenz zu aufwendigeren Codices und größeren Formaten niederschlägt. 56 Typisch ist eine Anordnung des Textes in zwei Ko‐ lumnen, im Schnitt stehen 40 Verse je Spalte. Die Verse werden zumeist abgesetzt, zum Teil sind die Anfangsbuchstaben ausgerückt. Etabliert sind Majuskeln und Initialen, die neben der ästhetischen auch eine textgliedernde Funktion haben. Titulaturen sind oft in rot ge‐ halten, häufig ist die Verwendung alternierender roter und blauer Lombarden und Initialen, vor allem am Beginn der Texte. Auch die Ausstattung aufwendigerer Handschriften mit farbigen Majuskeln, Miniaturen und Fleuronnée-Elementen, ursprünglich Bestandteile der lateinischen Tradition, wird über den ‚Umweg‘ der französischen Profanbuchgestaltung auch im Bereich deutscher volkssprachiger Codices übernommen. 57 Die Papierhandschriften des ausgehenden 14. und des beginnenden 15. Jahrhunderts orientieren sich zunächst an den etablierten Gestaltungsmodi der Pergamenthandschriften, sind aber tendenziell weniger aufwendig gestaltet. Der Anteil mit geringerem Aufwand 97 5.2 Das ‚Herzmaere‘ als repräsentative Vergleichskonstellation 58 Zeitgenössische Klagen legen nahe, dass die Genese zum Gebrauchsgegenstand auch eine andere Wahrnehmung der Handschrift implizierte, die pragmatischer und weniger durch Ehrfurcht geprägt war als in den vorangehenden Perioden. Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 84. 59 Vgl. S C H N E I D E R , Paläographie, S. 120ff. 60 Vgl. J A N O T A , Geschichte der deutschen Literatur, S. 24; P A L M E R , Kapitel und Buch, v.a. S. 43-46; S. 73. 61 Die Etablierung von Papier als neuem Beschreibstoff beförderte den enormen Produktionsanstieg der Handschriften, das deutlich billigere Material ermöglichte eine weitaus größere Verbreitung von Büchern. War der Anteil an Papierhandschriften bis 1350 noch unbedeutend, betrug er im 15. Jahr‐ hundert bereits über 80% der Gesamtproduktion. Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum ge‐ druckten Buch, S. 83f., S. 220, S. 256-264. 62 Während in den Jahren von 1100-1350 eine allmähliche Zunahme der Handschriftenproduktion stattfand, setzte, nach einer vorübergehenden Stagnation durch die Pestwelle, ca. 1370 ein enormer Aufschwung in der Buchherstellung ein. Die jährlichen Zuwachsraten setzt Neddermeyer auf 20- 25% an und sieht damit die Entwicklung zu einer ‚Massenproduktion‘ von Büchern bereits vor dem Druckzeitalter. Der Buchdruck bedeutet damit nicht eine fundamentale Revolution, die den Beginn des Buchzeitalters einleitet, sondern eine enorme Beschleunigung auf dem bereits eingeschlagenen Weg zum Buch als verbreitetem Gebrauchsgegenstand (vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 219-222, S. 538ff., S. 551). Ähnlich stellt N E U B E R , Ökonomien des Verstehens, S. 181f., heraus, dass das neue Medium des gedruckten Buches bwz. die Technik des Buchdrucks nur erfolgreich war, weil bereits ein gesteigerter Bedarf an Texten/ Büchern bestand. gefertigter Gebrauchshandschriften nimmt dabei kontinuierlich zu. 58 Insbesondere die Schriftart verändert sich, beeinflusst durch die schneller schreibbaren Kanzleischriften, von der Buchschrift hin zu kursiven Schriftformen. Weiterhin nimmt der Umfang sowie die durchschnittliche Lagenstärke der Codices tendenziell zu; während die Pergamenthand‐ schriften des 13. und 14. Jahrhunderts meist in Quaternionen angelegt waren, dominieren bei den Papiercodices Sexternionen. 59 Gleichzeitig werden vermehrt Gliederungsprinzipien wie Register, Titulaturen und eine klare Abgrenzung von Abschnitten und Einzeltexten eingesetzt. 60 Die Veränderungen in der Gestaltung sind nicht nur durch den Übergang vom Pergament zum Papier an sich, 61 sondern vor allem durch die Entwicklung zu einer handschriftlichen ‚Massenproduktion‘ geprägt, die ihrerseits nicht ausschließlich auf dem billigeren Schreib‐ stoff basiert. 62 Die Genese der Manuskriptproduktion ist durch veränderte institutionelle Bedingungen der literarischen Produktion bedingt. Der Übergang vom Pergament zum Pa‐ pier, vom raren Luxusprodukt zum breiter verfügbaren Gebrauchsgegenstand, verläuft analog mit soziokulturellen Veränderungen des Literatursystems, zu denen insbesondere die Entstehung der städtischen Literaturzentren gehört, die einen wichtigen Parameter für den Anstieg der Manuskriptproduktion darstellen. Zu überlegen ist, ob die veränderten Paradigmen der Manuskriptproduktion nicht nur die äußere Gestaltung der Manuskripte beeinflusst haben, sondern ob die Entwicklung der Handschrift zum breiter verfügbaren Gebrauchsgegenstand auch ein verändertes literarisches (Selbst)Verständnis der Schreiber und einen freieren Umgang mit Texten befördert hat. Zwar wird in den kleinepischen Sam‐ melhandschriften auch im 15. Jahrhundert noch etabliertes und lang tradiertes Material 98 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 63 Auf die grundsätzliche Kanonisierung auch in der spätmittelalterlichen Schriftlichkeit weist Ned‐ dermeyer hin. Das Schrifttum ist weiterhin durch weit verbreitete und über lange Zeiträume wirk‐ same Texte gekennzeichnet, während literarische Neuentwicklungen verhältnismäßig lange brau‐ chen, um sich zu etablieren. Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 36f., S. 307. aufgeführt, 63 aber es ist vorstellbar, dass die späteren Sammlungen hinsichtlich der Bear‐ beitung tradierten Materials und der Zusammenführung von Texten durch ein größeres Maß an Selbstermächtigung seitens der Schreiber geprägt sind. Die untersuchten kleinepischen Sammelhandschriften bilden die Veränderungen bei den Gestaltungsmodi und Produktionsbedingungen der mittelalterlichen Manuskriptkultur ab: Die Pergamentcodices des 13. und frühen 14. Jahrhunderts (Archiv Schloss Schönstein Nr. 7693; Cpg 341) sind noch prototypisch durch die beschriebenen Gestaltungsparameter der hochmittelalterlichen Handschriften gekennzeichnet. Sie unterscheiden sich signifikant von den Codices des späten 15. Jahrhunderts, dem Cgm 714 und dem Codex Prag X A 12 mit seiner Parallelüberlieferung. Als einspaltig beschriebene, mit wenig Aufwand gefertigte kleinformatige Gebrauchshandschriften, die offensichtlich in einem genuin städtischen Li‐ teratur- und Produktionskontext entstanden sind, spiegeln sie die veränderten Modalitäten in der Spätphase der Handschriftenkultur wider. Dagegen markieren die Papierhand‐ schriften des 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts (Wien 2885; Innsbruck FB 32001; Don. 104), gleichfalls typisch für die mittelalterliche Literaturentwicklung, einen Übergangs‐ status, indem sie noch Gestaltungsparameter der Pergamenthandschriften wie die zwei‐ spaltige Texteinrichtung aufweisen, aber bereits weniger aufwendig gestaltet sind. Mit dieser breiten und repräsentativen Überlieferung ist das ‚Herzmaere‘ ein geeigneter Modellfall für die Untersuchung von Text-Kontext-Relationen. Breiter überliefert ist mit 21 Textzeugen lediglich Schondochs ‚Die Königin von Frankreich‘, wobei dieser Text aber nur einmal im Rahmen einer kleinepischen Sammlung tradiert ist; für eine Untersuchung, die auch den Überlieferungstyp der kleinepischen Kompilation in den Fokus stellt, bietet sich ‚Die Königin von Frankreich‘ als Referenztext nicht an. Geeignet als Vergleichskonstellation ist neben dem ‚Herzmaere‘ auch ‚Der Sperber‘, der als schwankhafter Vertreter der Text‐ sorte hinsichtlich der Wirkung und Funktionalisierung von schwankhaften Sinnsetzungen im Sammlungskontext befragt werden kann. Mit 11 Handschriften ist die anonym überlie‐ ferte Versnovelle aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts genauso umfangreich tradiert wie das ‚Herzmaere‘, wobei die textuellen Divergenzen zwischen den verschiedenen Re‐ daktionen aber weit weniger ausgeprägt sind als beim ‚Herzmaere‘. Die vergleichende Text-Kontext-Analyse des ‚Herzmaere‘ bleibt damit einerseits auf den konkreten Einzelfall bezogen, indem die Divergenzen im Textbestand und die Anpassungen an den Überlieferungskontext letztlich immer auf die spezifische Poetik dieses einzelnen Textes rekurrieren und in ihren semantischen Implikationen nicht generalisierend auf das Gesamtkorpus der versnovellistischen Dichtungen übertragen werden können. Anderer‐ seits ermöglicht die Betrachtung eines Modellfalls, der als Überlieferungskonstellation sehr wohl repräsentativ ist, nicht nur grundsätzliche Einsichten in die Konzeption kleinepischer 99 5.2 Das ‚Herzmaere‘ als repräsentative Vergleichskonstellation 64 Zum diskursiven Profil der Sammlungen und seiner semantisierenden Funktion siehe Kap. 4.2. 65 Die aufgeführten Parameter stellen keinen Katalog dar, nach dem die Untersuchung schematisch abgehandelt wird. Die divergent gestalteten Kompilationen können nicht durch das Abprüfen fest fixierter Faktoren erfasst werden, vielmehr markieren die gewählten Leitfragen der Untersuchung verschiedene Ebenen der Textbeobachtung, um die ineinanderlaufenden Mach- und Wirkprinzipien zu erfassen. Sammlungen, sondern auch eine Abstraktion der Befunde auf generelle Lizenzen der Text‐ veränderung und die Formen der Einpassung von Texten in divergente Kontexte. Die Untersuchung bleibt dabei nicht auf die singuläre Betrachtung des zentralen Refe‐ renztextes beschränkt, sondern wird perspektivisch geöffnet, indem neben der Vergleichs‐ analyse des ‚Herzmaere‘ immer wieder auch andere Texte der jeweils untersuchten Samm‐ lungen in den Blick genommen werden, die mit ihrer jeweiligen Parallelüberlieferung abgeglichen und auf vergleichbare Phänomene der Anpassung an den Sammlungskontext überprüft werden. 5.3 Untersuchung Die Untersuchung zielt auf eine Darstellung der Interaktion zwischen Mikro- und Makro‐ ebene im kleinepischen Sammelschrifttum ab. Am Beispiel des ‚Herzmaere‘ wird das Spektrum der Ausformungen des Einzeltextes in Relation zu den tradierenden Kompilati‐ onen analysiert. Die Überlieferungsträger werden zunächst nach fassbaren programmati‐ schen und konzeptuellen Schwerpunkten befragt, die die Prinzipien der Textauswahl und -organisation erhellen und Rückschlüsse auf mögliche Sammlungsinteressen und inhalt‐ liche Konzeptionen ermöglichen. Es wird zum einen gefragt, welcher Art das diskursive Profil der jeweiligen Sammlung ist, in die das ‚Herzmaere‘ integriert wird, welche Wirkung dieses auf die Rezeption der Dichtung hat und wie der Text in die Sammlung inkorporiert wird. 64 Zum anderen steht die Frage nach den Korrelationen zwischen der Sammlung und der spezifischen Form des ‚Herzmaere‘ im Fokus, es wird geprüft, ob die Textgestalt durch die jeweilige tradierende Sammlung geprägt sein kann. Die Untersuchung orientiert sich dabei an folgenden Parametern: 65 - Die Auswahl der enthaltenen Texte: Lassen sich thematische oder motivliche Schwerpunkte fassen, die dem Profil der Sammlung eine bestimmte inhaltliche Prä‐ gung geben? Gibt es dominierende Gattungen und Textsorten, die durch die Kon‐ zentration auf deren gattungsästhetische Prinzipien Hinweise auf einen bestimmten intendierten Rezeptionsmodus geben? Welchen Umfang und Stellenwert haben ins‐ besondere versnovellistische Dichtungen in den einzelnen Sammlungen? - Die Zusammenstellung der Texte: Gibt es Textfolgen, in denen Einzeltexte mitei‐ nander korrespondieren, sich opponierend gegenüberstehen oder anderweitig mit‐ einander in Beziehung treten? Ergeben sich aus solchen sinnstiftenden Textabfolgen diskursive Formationen, die eine thematische Programmatik oder eine dialektische Diskussion von bestimmten Sinnsetzungen gestalten? Gibt es Gruppenbildungen mit thematischen oder texttypologischen Schwerpunkten im Korpus der Sammlung? 100 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung 66 Sofern Vorlagensituation und Überlieferungsgeschichte einzelner Texte oder Sammlungsteile re‐ konstruierbar sind, wird die Genese der Sammlung in die Betrachtung einbezogen. Die Rekonstruk‐ tion der Überlieferungsgeschichte und der philologische Abgleich mit Vorlagen ist aber kein eigen‐ zweckliches Anliegen der Untersuchung. 67 Die Untersuchung orientiert sich deshalb nicht an dem von Bumke vorgeführten Beschreibungs‐ system für textuelle Varianz, das, abgesehen von der Frage der Anwendbarkeit auf das kleinepische Schrifttum, als ein vor allem phänomenologisches Darstellungsverfahren nicht die semantische Re‐ levanz variabler Textgestaltungen perspektiviert und deshalb als heuristisches Instrument für die vorliegende Arbeit nicht produktiv ist. Siehe auch S. 47f. Wie sind insbesondere die Interferenzen der Versnovellen mit der Sammlungsum‐ gebung zu fassen, welche Funktion kommt diesen innerhalb der einzelnen Textfor‐ mationen und im gesamten Korpus zu? - Die Textgestalt einzelner Dichtungen: Gibt es Divergenzen im Textbestand einzelner Dichtungen, die signifikant von der Parallelüberlieferung abweichen? Lassen sich aus der spezifischen Textform der Dichtungen besondere semantische Akzentuie‐ rungen ableiten und wie fügen diese sich in das Sammlungsprofil ein? Sind be‐ stimmte Muster erkennbar, nach denen einzelne Texte, insbesondere versnovellis‐ tische Dichtungen geformt werden? 66 - Die Textpräsentation: Lässt die äußere Form, das mise en page im Codex, auf spezi‐ fische Gestaltungsmerkmale schließen, die Einfluss auf die Texterschließung und damit sinnstiftende Funktionen haben? Ergeben sich aus kodikologischen Faktoren wie der Gestaltung von Textübergängen Hinweise auf Sinneinheiten innerhalb der Sammlung? Schwerpunkt der Analyse ist der Textbestand und die Einbindung des ‚Herzmaere‘. Der Text wird in den einzelnen Überlieferungsträgern untersucht und hinsichtlich seiner spe‐ zifischen Ausgestaltung beschrieben. Ziel der ‚Herzmaere‘-Analyse ist dabei nicht - schon aus Gründen des Umfangs - eine vollumfängliche synoptische Abbildung aller Textbe‐ stände, sondern eine Darstellung semantisch belastbarer Varianten mit dem Ziel, spezifi‐ sche Implikationen und mögliche Intentionen bei der individuellen Ausformung des Textes zu erfassen und auf mögliche Relationen zu den jeweiligen Sammlungen zu befragen. Kleinteilige Varianten etwa in der Lexik oder Metrik werden nur erfasst, wenn sie auffällige Änderungen in der Sinnsetzung nahelegen und/ oder dezidierte Rekurrenzen zu der unmit‐ telbaren Textumgebung oder dem Kontext der Sammlung bilden. 67 Der philologische Ab‐ gleich wird damit immer unmittelbar rückgebunden an eine hermeneutische Betrachtung, die die variante Textgestaltung mit dem Überlieferungsumfeld kontextualisiert. Es wird weiterhin untersucht, durch welche inhaltlichen Momente und auch visuellen Mittel das ‚Herzmaere‘ in den jeweiligen handschriftlichen Kontext eingefügt wird; dabei steht besonders die unmittelbare Textumgebung im Fokus. Die Textzusammenstellungen werden dahingehend untersucht, ob das ‚Herzmaere‘ Bestandteil bestimmter diskursiver Formationen ist, ob Bezugnahmen und Interferenzen zu den Co-Texten, aber auch zum Sammlungsprofil in seiner Gesamtheit fassbar sind. Zu fragen ist zum einen, wie sich das jeweilige diskursive Profil der Sammlung auf die Semantisierung des ‚Herzmaere‘ auswirkt, wie durch die Textumgebung die textimmanenten Diskurse und Motive jeweils spezifisch akzentuiert und konnotiert werden, zum anderen aber auch, welche Stellung und Bedeu‐ 101 5.3 Untersuchung 68 Handschriften-Siglen nach F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung. 69 Berlin mgf 488 und Leipzig Ms Apel 08. tung das ‚Herzmaere‘ in den einzelnen Sammlungen hat, wie es für deren jeweiliges Profil funktionalisiert wird. Im ersten Teil der Untersuchung wird eine ausführliche Darstellung der Münchner Hand‐ schrift Cgm 714 vorgenommen. Der Sammlung aus dem späten 15. Jahrhundert ist eine prägnante Gestaltung sowohl bei der Form einzelner Texte als auch bei der Zusammen‐ stellung von Texten eigen. Die Handschrift ist auf der Makroebene gekennzeichnet durch eine besondere konzeptionelle Gemachtheit, indem von gezielten Verfahren der Textorga‐ nisation und -präsentation Gebrauch gemacht wird, die sich in der Gestaltung verschie‐ dener diskursiver Formationen von Texten manifestieren. Auf der Mikroebene ist eine spe‐ zifische Textgestalt vieler Dichtungen augenscheinlich, die signifikant von ihrer Parallelüberlieferung abweichen. Auch das ‚Herzmaere‘ ist im Cgm 714 divergent zu seinen übrigen Überlieferungsträgern gestaltet, wobei die Textform mit der der unmittelbaren Co-Texte korrespondiert, die gemeinsam eine markante und zentrale Textgruppe im Cgm 714 bilden. Im zweiten Teil erfolgt eine Untersuchung der weiteren Überlieferungsträger des ‚Herz‐ maere‘ in der Reihenfolge ihrer Entstehungszeit. Die Handschriften zeigen ein breites Spektrum von Sammlungsprofilen und von Textgestaltungen sowie verschiedene Mög‐ lichkeiten der Interferenz zwischen den beiden Faktoren auf. Das untersuchte Korpus um‐ fasst die Heidelberger Handschrift Cpg 341 (H), 68 den Straßburger Codex A 94 (S), den Wiener Codex 2885 (w) sowie die mit w nah verwandte Innsbrucker Handschrift FB 32001 (i), die ‚Liedersaalhandschrift‘ Donaueschingen 104 (l) und das sogenannte Liederbuch der Clara Hätzlerin/ Prag X A 12 (p 1 ) mit seinen beiden Parallelüberlieferungen. 69 Ergänzend erfolgt auch eine Darstellung der Handschrift Archiv Schloss Schönstein Nr. 7693 (Ko) als ältestem Überlieferungsträger des ‚Herzmaere‘, der den Text im Verbund mit Wolframs ‚Willehalm‘ überliefert, sowie eine Skizze der Fragmente des ‚Herzmaere‘ (Nürnberg Hs. 42575 [S 1 ]; Wien Codex ser. nova 2593 [-]). Zwar erlauben die Fragmente keine Rückschlüsse auf Korrespondenzen mit einer möglichen Überlieferungsgemeinschaft; da die Arbeit aber Vollständigkeit in der Darstellung der Überlieferung des Referenztextes anstrebt, werden auch diese Handschriften in die Betrachtung einbezogen. Für den Abgleich der Textbestände wird kein ‚normaler‘ Text als festes Vergleichsraster herangezogen. Keiner der vorhandenen Überlieferungsträger kann durchgängig als Leit‐ handschrift fungieren, da alle Handschriften eigene Spezifika aufweisen. Auch wenn Über‐ legungen zu Textveränderungen und spezifischen Textformen immer eine Zeitlichkeit und Genese von Überlieferungsträgern implizieren, werden die verschiedenen Redaktionen des ‚Herzmaere‘ ausdrücklich nicht in einer bestimmten Historie gedacht, sondern in einem synchronen Nebeneinander betrachtet. Noch weniger sinnvoll ist ein Abgleich mit dem edierten Textbestand, der eine idealisierte Rekonstruktion aus verschiedenen Hand‐ schriften darstellt. Die Merkmale der einzelnen Redaktionen müssen letztlich immer in Bezug zur Gesamtheit der Überlieferungsträger gesetzt werden; nur so lässt sich ermitteln, ob bestimmte Varianten unikal sind und ob diese aus einer spezifischen Gestaltungsinten‐ tion resultieren können. Sofern bei der Darstellung bestimmter Varianten eines Textträgers 102 5 Das ‚Herzmaere‘: Text und Untersuchung die kontrastierende Gegenüberstellung mit dem Textbestand der übrigen Überlieferung erfolgt, wird - wenn möglich - die Heidelberger Handschrift (H) für die vergleichende Zitation verwendet, auf die übrigen Handschriften wird ergänzend hingewiesen. Zwar stellt Ko einen wohl älteren Textzeugen dar, überliefert aber die kürzeste Redaktion des ‚Herz‐ maere‘, in der unter anderem der Prolog nicht aufgeführt wird. Des Weiteren unterscheidet sich Ko durch die mittelrheinische Schreibsprache im Sprachstand signifikant von den üb‐ rigen, überwiegend bairischen und alemannischen Überlieferungsträgern und ist deshalb für einen Textabgleich weniger geeignet. Wo H nicht als Vergleichshandschrift verwendet werden kann, wird S als nächstälteste Überlieferung herangezogen. Im Anschluss an jedes Sammlungskapitel wird ein Verzeichnis der inserierten Texte mit den gängigen neuhochdeutschen und den in den jeweiligen Handschriften aufgeführten mittelhochdeutschen Titulaturen aufgeführt, in dem auch die diskutierten Gliederungsab‐ schnitte oder Textgruppen innerhalb der Sammlungen gekennzeichnet sind. 103 5.3 Untersuchung 1 Sammlungsübersicht S. 162ff.; Abbildungen S. 166-169. Die Nummerierung der Texte erfolgt nach der Handschriftenbeschreibung von S C H N E I D E R , Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 79-89. 2 Das Blatt mit dem Besitzvermerk ist 1851 bei der Neubindung des Codex zusammen mit dem alten Einband verloren gegangen. Aufzeichnungen eines Besitzers aus dem 18./ frühen 19. Jahrhundert sowie die Angaben, die von Keller im Rahmen der Edition der Fastnachtspiele machte (Fastnacht‐ spiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. V O N K E L L E R ), bezeugen aber diesen Eintrag. Vgl. H A B E L , Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger, S. 127f. 3 Verschiedentlich wurde auf Grund des zweiseitigen Registers der Fastnachtspiele von einer Zwei‐ teilung des Fastnachtspielkorpus im Cgm 714 ausgegangen, weil Vasnacht Spil und Schnepers als eigenständige Überschriften der Teile gefasst wurden. Allerdings sind keine Zäsuren oder Indizien einer anders gewichteten Zusammenstellung zwischen den auf dem ersten und zweiten Registerblatt aufgeführten Texten feststellbar. Simon geht deshalb von einem Gesamtkorpus der Spiele aus und macht eine zusammengehörige Genitivkonstruktion der beiden Überschriften plausibel, die nach‐ träglich als Gesamttitel über beide Blätter des Spiele-Registers gesetzt wurde (vgl. S I M O N , Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 12ff.). Allerdings beginnt übereinstimmend mit dem auf Regis‐ terblatt IIIv (Schnepers) zuerst genannten Text eine neue Lage (fol.385r), während im Cgm 714 sonst nur selten Text- und Lagenanfang übereinstimmen. 4 Die an der Handschriftenbeschreibung Schneiders orientierte Titelübersicht weist für den ersten Teil des Codex 47 Texte aus, die Abweichung resultiert aus einigen Textsymbiosen im Codex, die im handschriftlichen Register als ein Text erscheinen, während in der Handschriftenbeschreibung die einzelnen Texte aufgeführt werden. 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 6.1 Die Handschrift Der Münchner Codex Cgm 714 ist eine ca. 500 Blatt starke Papierhandschrift in nordbai‐ rischer Mundart aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts. 1 Die Handschrift ist vermut‐ lich im Nürnberger Raum entstanden, was zum einen durch die enthaltenen Fastnachtspiele von Hans Rosenplüt, zum anderen durch einen Eintrag auf dem alten Vorsatzblatt des hin‐ teren Einbanddeckels nahegelegt wird, das einen Michael Geyswurgel als Besitzer ver‐ merkt, bei dem es sich möglicherweise um den Erstbesitzer, vielleicht sogar den Auftrag‐ geber der Handschrift handelt. Geyswurgel besaß nach Urkundenbelegen ein Haus in Nürnberg und ist vermutlich 1499 gestorben. Nähere Informationen zur Person sind nicht verfügbar, wahrscheinlich gehörte er nicht dem Patriziat, wohl aber dem gehobenen Nürn‐ berger Bürgertum an. 2 Der Codex ist in zwei Teilen angelegt, die auch durch das vorangestellte Register deutlich voneinander geschieden sind. Der erste Teil (fol.1-288) führt eine für kleinepische Kompi‐ lationen typische Mischung verschiedener Verserzählungen und Redetexte auf, während der zweite Teil (fol.289-490) eine Sammlung von Fastnachtspielen Hans Rosenplüts tradiert, die im zwei Seiten umfassenden Register des Spieleteils mit der Überschrift Vasnacht Spil (IIIr) und Schnepers (IIIv) überschrieben sind. 3 Die Anzahl der enthaltenen Texte ist in beiden Teilen in etwa gleich groß, das Register führt für den ersten Teil 45, für den zweiten Teil 49 Texte auf. 4 5 B R A N D I S , Der Harder, S. 61 und S C H N E I D E R , Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staats‐ bibliothek München, S. 79. Es bleibt trotz der vermuteten einheitlichen Schreibhand festzuhalten, dass es im zweiten Sammlungsteil mehrfach signifikante Wechsel im Schriftbild gibt. Die Schreib‐ schrift, eine gut lesbare Bastarda, ist ab Beginn des zweiten Sammlungsteils deutlich kleiner ausge‐ führt, ausladende Bögen und Verzierungen fehlen gegenüber dem ersten Teil weitgehend. Auf fol. 373v setzt wieder der größere Schreibmodus des ersten Teils ein, auf fol. 385r, dem Beginn der Lage m (Lage m folgt im zweiten Teil des Codex unmittelbar auf die Lage i, es gibt keine mit k und l gekennzeichneten Lagen) wechselt das Schriftbild wieder abrupt zu der kleineren Ausführung. Auf fol. 460v erfolgt erneut ein Wechsel zum ausladenden Duktus des ersten Sammlungsteils, der dann bis zum Ende beibehalten wird. 6 Die durch den zweiten Schreiber gefertigte ‚Narrenfastnacht‘ passt zwar thematisch zum zweiten Teil des Codex, steht aber auf Blättern einer Lage, die noch zum ersten Teil des Cgm 714 gehört, während die Sammlung der Fastnachtspiele mit einer neuen Sexternione beginnt. Der Text gehört offensichtlich nicht zum Fastnachtspielkorpus des Hauptschreibers, da er sich in Schriftbild und Gestaltung deutlich vom übrigen Codex unterscheidet, unbetitelt ist und auf farbige Initialen ver‐ zichtet; weiterhin wird die ‚Narrenfastnacht‘ auch nicht im Register aufgeführt. Offensichtlich wurde der Text auf freigebliebenen Blättern des ersten Sammlungsteils nachgetragen. 7 Die meisten Dichtungen im Cgm 714 weisen maximal 3 Alinea-Zeichen auf, lediglich ‚Die treue Magd‘ (13) ist mit 11‚ ‚Der Minne Lehen‘ (27) und die ‚Visio Philiberti‘ (41) mit jeweils 7 Markierungen versehen. Zwei Dichtungen, ‚Der Württemberger‘ (21) und ‚Der Ritter in der Kapelle‘ (22), fallen durch eine besonders große Anzahl, nämlich 29 bzw. 52, Alinea-Zeichen auf. Vgl. dazu S. 131. In der äußeren Gestaltung und der Textpräsentation unterscheiden sich die beiden Teile nicht wesentlich, allerdings gibt es Divergenzen im Schriftbild. Während Brandis auf einen abweichenden Duktus im zweiten Teil der Handschrift verweist, der auf zwei wechselnde Schreibhände hindeute, ist der Codex nach Schneider wegen der großen Übereinstimmung der Buchstabenform von einer identischen Schreibhand gefertigt; 5 lediglich der erste Text des Fastnachtspielcorpus (‚Narrenfastnacht‘, 48, fol. 284v-287r) ist eindeutig einer zweiten Hand zuzuordnen. 6 Es gibt keine Schriftspiegelbegrenzung im Codex, entsprechend stehen die Versanfänge nicht immer gerade untereinander und die Seitenränder variieren in der Breite. Der Text ist einspaltig angelegt und umfasst im ersten Teil meist 19-20 Verse, im zweiten Teil in den Partien mit kleinerem Schriftbild gelegentlich bis zu 26 Verse pro Blatt. Die Texte sind durch leicht eingerückte rote Titulaturen deutlich voneinander getrennt, die bei kürzeren Texten zum Teil etwas kleiner ausfallen, weiterhin sind die Anfangsbuchstaben der Verse zumeist durchgängig rot gefüllt. Textanfänge sind mit leicht verzierten und vergrößerten Anfangs‐ initialen versehen, gelegentlich finden sich auch innerhalb der Texte verzierte Initialen, dies aber ohne Regelmäßigkeit. Im ersten Teil der Sammlung finden sich häufig Alinea-Zeichen am linken Blattrand. Überwiegend stehen diese an Versen, die Sprechhandlungen oder Sprecherwechsel beinhalten und zumeist mit der Präteritumform sprach markiert sind. Die Kennzeichnung wird aber nicht konsequent angewandt, das Gros der Texte ist mit wenigen oder gar keinen Alinea-Zeichen versehen, während einzelne Dichtungen eine sehr große Zahl an Markierungen aufweisen. 7 Im zweiten Teil des Codex fehlen diese Markierungen vollständig; eine zusätzliche Kennzeichnung von Sprechpartien bzw. Sprecherwechseln dürfte schon auf Grund der strophischen Struktur der Fastnachtspiele obsolet sein. Der Codex enthält diverse Korrekturen und Streichungen, zum Teil in roter Schrift, wobei im zweiten Teil eine höhere Frequenz an korrigierten und durchgestrichenen Wörtern und Textpartien fassbar ist. Die mit 210x150 mm verhältnismäßig kleine Handschrift vermittelt 105 6.1 Die Handschrift 8 Siehe S. 97ff. 9 Vgl. S I M O N , Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 12f. 10 Vgl. S C H N E I D E R , Paläographie, S. 122. 11 Die Lageneinteilung ist durchgehend regelmäßig, in einigen Fällen wurden einzelne Blätter bei der Paginierung nicht mitgezählt, wodurch es zu Verschiebungen in der Gesamtzählung kommt. Im ersten Teil ist zwischen den mit y und z gekennzeichneten Lagen eine weitere, nicht mit einer Kustode gekennzeichnete Sexternione eingebunden, möglicherweise wollte der Schreiber für die letzte Lage keine neue Zählung beginnen. Im zweiten Teil folgt auf die Lage i unmittelbar die Lage m; mit k und l gekennzeichnete Lagen gibt es nicht. Da der letzte Text auf i genau mit der Lage endet und m mit einem neuen Text beginnt, ist es möglich, dass der Bruch in der Kustodenzählung auf verloren ge‐ gangene Lagen hinweist. 12 Vgl. B R A N D I S , Der Harder, S. 60f. insgesamt das Bild einer zwar sorgfältig, aber mit moderatem Aufwand gefertigten Ge‐ brauchshandschrift ohne besondere repräsentative Funktion, die den typischen Gestal‐ tungsmodalitäten spätmittelalterlicher Papiercodices entspricht. 8 Das Register ist durch eine in roter Tinte gehaltene Titulatur überschrieben: Das ist das register des buchs darynn vindt man durch dy czal alle dy spruch und alle dy vasnachtspil die in disem buch geschriben sind (Ir). Die Überschrift macht durch die Trennung von spruch und vasnachtspil eine klare, auch gattungsmäßige Geschiedenheit der aufgeführten Text‐ korpora deutlich, die außergewöhnlich für die Überlieferung des frühen Fastnachtspiels ist. Der Rosenplüt-Teil im Cgm 714 gehört damit nicht nur zu den umfangreichsten und be‐ deutendsten Überlieferungsträgern der frühen Nürnberger Fastnachtspiele, er hat auch in seiner Homogenität ein Alleinstellungsmerkmal in der Überlieferungsgeschichte der Text‐ sorte. Keine andere Handschrift führt die Fastnachtspiele in einer klaren generischen Tren‐ nung von anderen Textsorten auf, üblich ist eine Verschriftlichung im Wechsel mit anderen, zumeist kleinepischen Texttypen. 9 Der Cgm 714 verweist durch verschiedene äußere Merkmale auf eine planvolle Anlage der Sammlung. So macht die durchgängige Fertigung von vermutlich nur einer Hand die An‐ nahme einer geschlossenen Konzeption und durchdachten Gesamtstruktur per se plau‐ sibler, als es bei einer Erstellung durch mehrere Schreiberhände der Fall wäre. Der Codex ist gleichmäßig in Sexternionen angelegt, was auf eine planvolle und einheitliche Anlage der Handschrift schließen lässt, zumal gerade spätmittelalterliche Sammelhandschriften sonst häufig durch eine unregelmäßige Lagenstärke gekennzeichnet sind. 10 Die Lagen sind mit alphabetischen Kustoden gekennzeichnet, im ersten Teil werden die Kustoden a-z, im zweiten Teil b-t verwendet. 11 Die Annahme einer geschlossenen Anlage der Sammlung, die nicht durch das nachträgliche Zusammenfügen verschiedener, voneinander unabhängiger Teile entstanden ist, wird gestützt durch eine praktisch durchgängig die Lagen überschrei‐ tende Anlage der Texte; nur in wenigen Fällen fallen Lagenwechsel und der Beginn eines neuen Textes zusammen. Weiterhin kann die Verwendung von fünf unterschiedlichen für den Codex verwendeten Papiersorten, die nicht sukzessive eingesetzt wurden, sondern sich jeweils über den ganzen Codex verteilen, als Indiz einer zusammenhängenden Entstehung der Handschrift gesehen werden. 12 Vor allem ist die klare Trennung zwischen den Samm‐ lungsteilen und die homogene Zusammenstellung der Fastnachtspiele Indiz einer plan‐ vollen Konzeption des Cgm 714. 106 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 13 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 114. Zu fragen ist, wieweit eine konzeptionelle Zusammenstellung der Texte auch über die Einteilung in zwei Corpora hinaus wirksam ist, wobei vor allem der erste Teil der Sammlung im Fokus der Betrachtung steht. Mihm charakterisiert diesen Teil des Codex als ein Beispiel für eine gemischte Kleinepiksammlung, die keinen besonderen Schwerpunkt oder eine be‐ vorzugte Gedichtart erkennen lässt und die durch das Zusammentragen aller verfügbaren Reimpaardichtungen entstanden sei. 13 Tatsächlich ist das Textkorpus im ersten Teil ausge‐ sprochen heterogen und scheint keine spezifische thematische Gewichtung zu haben oder in besonderer Anordnung zu stehen. Es finden sich verschiedene Minnereden, pragma‐ tisch-didaktische Stücke, Texte mit unterschiedlicher Ständethematik, geistliche Texte und verschiedene Verserzählungen, darunter insgesamt acht Versnovellen. Der Cgm 714 ver‐ wendet breit gestreutes Material, dabei zeigt sich in Textauswahl und Arrangement ein Nebeneinander von länger tradiertem und neuerem literarischen Material. Es gibt Texte mit einer breiten Tradition, wie zum Beispiel das ‚Herzmaere‘, die auch in verschiedenen anderen Handschriften überliefert sind. Auch Auszüge aus umfangreicheren bekannten Texten und Sammlungen sind eingebunden, so finden sich Teile aus Boners ‚Edelstein‘ oder Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. Daneben stehen jüngere Texte, die häufig in einer Nürnberger Lokaltradition stehen, dazu zählen unter anderem einige Spruchdichtungen Rosenplüts. Neben bekanntem Textgut überliefert der Codex auch eine ungewöhnlich große Zahl unikaler Texte und Textfassungen, etwa die Hälfte der insgesamt 47 Dichtungen des ersten Teils haben keine Entsprechung in anderen Überlieferungsträgern. Der Cgm 714 zeigt sich auf verschiedenen Ebenen als sehr spezifisch in der Gestaltung der einzelnen Texte und in deren Zusammenstellung, auch die Textpräsentation weist markante Eigenheiten auf. Bei genauerer Analyse lassen sich innerhalb der zunächst lose konzipiert erscheinenden Samm‐ lung immer wieder gattungsübergreifende Textgemeinschaften erkennen, die auf unter‐ schiedliche Weise miteinander verklammert sind und thematische Korrespondenzen zwi‐ schen Einzeltexten sowie zwischen Textgruppen gestalten. Am Beginn der Sammlung steht eine Gruppe von kurzen Texten mit gesellschaft‐ lich-ständischer Thematik (1-10). Dieser Sammlungsteil korrespondiert mit den Fastnacht‐ spielen im zweiten Sammlungsteil, mit denen er das durchgängige Thema der Verkehrung ständischer Ordnung und gesellschaftlicher Normativität gemeinsam hat. Darauf folgt eine längere Reihe von Texten, in der Minnereden, geistliches Textgut sowie verschiedene, auch schwankhafte Verserzählungen zusammen geführt werden, die eben‐ falls auf den Minnediskurs rekurrieren (11-35). Innerhalb dieser Reihe lassen sich ver‐ schiedene Textgruppen unterscheiden, in denen die Verhandlung von Minne unterschied‐ lich gestaltet wird. Das ‚Herzmaere‘ bildet dabei mit seinen unmittelbaren Co-Texten eine besonders markante und hervorstechende Textformation, die zentrale thematische Akzente setzt. Die dritte und abschließende thematische Gruppe des ersten Teils kennzeichnet ein deutlich belehrender Impetus, indem durchgängig moralisierende und geistliche Texte auf‐ geführt werden, die religiöse Normativität und Tugendlehre verhandeln (36-47). 107 6.1 Die Handschrift 14 Die Summe der Merkmale wie die Erstellung von einer Hand, die identischen Gestaltungsmodi und auch die ähnliche Textanzahl machen eine intendierte Gesamtkonzeption plausibel. Letztlich bleibt eine einheitliche und konzeptuelle Erstellung des Codex natürlich Annahme, genauso könnten die beiden Sammlungsteile auch unabhängig voneinander erstellt und später zusammengebunden und mit dem Register versehen worden sein, ohne dass die gemeinsame Aufführung in einem Buch von vornherein intendiert war. Aber auch in diesem Fall gäbe es eine sekundäre Einheit und gemeinsame Rezeption im Codex. 15 Vgl. P E T E R S , Literatur in der Stadt, S. 4-35, S. 167f., S. 225ff. Auch der zweite Teil des Codex wird in die Betrachtung einbezogen. Zwar ist das Fast‐ nachtspielkorpus klar vom ersten Sammlungsteil getrennt, dennoch kann von einer ge‐ meinsamen Konzeption der Sammlungsteile ausgegangen werden; in jedem Fall prägt die Überlieferungssymbiose einen zusammenhängenden Rezeptionsmodus für die beiden Kor‐ pora. 14 Die Fastnachtspiele des zweiten Sammlungsteils werden deshalb nach möglichen thematischen und poetischen Parallelen zum kleinepischen Textkorpus des ersten Teils befragt. 6.2 Nürnberger Literaturbetrieb und ‚städtisches‘ Sammlungsinteresse Der Cgm 714 steht in seiner Textauswahl und -zusammenstellung in engem Zusammen‐ hang mit dem städtischen Literaturbetrieb in Nürnberg. Während bei der literarischen und handschriftlichen Produktion des 13. und 14. Jahrhunderts noch nicht von einer klaren Geschiedenheit zwischen einer adlig-höfischen und einer städtischen Literaturproduktion ausgegangen werden kann, ist im 15. Jahrhundert vor allem in Nürnberg ein spezifisch städtischer Literaturbetrieb fassbar, der eigene literarische Formen und Institutionen her‐ vorgebracht hat und der auch andere Paradigmen im Umgang mit literarischen Themen und Traditionen bedingt. Die Vorstellung einer Dichotomie zwischen einer ritterlich-höfischen und einer genuin ‚bürgerlich‘-städtischen Dichtung gibt die tatsächlichen Gegebenheiten des mittelalterli‐ chen Literaturbetriebes zunächst nicht adäquat wieder. So weist Peters die Annahme eines genuin ‚bürgerlichen‘ Selbstverständnisses, das sich in einer entsprechenden Literatur ma‐ nifestiere, zurück. Die frühen städtischen Literaturzentren stellen keine Konkurrenz zum literarischen Leben an den Fürstenhöfen dar und weisen ähnliche Strukturen hinsichtlich Aufführungspraxis, Mäzenatentum und Auftragssituation auf. Den Parallelen zwischen den höfischen und städtischen Literatursystemen entsprechend ist eine große Konstanz in der Tradierung adlig-höfischer Literatur fassbar, die auch Gegenstand des literarischen Inter‐ esses der städtischen Oberschicht ist. Konrad von Würzburg steht prototypisch für diese Kontinuität adlig-höfischer Literatur im literarischen Leben der Stadt des 13. Jahrhunderts: Zwar lebte Konrad in der Stadt und produzierte für ein städtisches Publikum, aber seine Produktion kann nicht als eine spezifisch städtische oder gar bürgerliche beschrieben werden. 15 Die Vorstellung von einem geschlossenen und ständisch definierten ‚Bürgertum‘ wird auch aus historischer Perspektive zurückgewiesen; der Bürger-Begriff findet primär als rechtsgeschichtlicher Terminus Anwendung, nicht aber als Ausdruck für eine zusammen‐ 108 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 16 Vgl. R E I C H E L , Der Spruchdichter Hans Rosenplüt, S. 176ff., S. 193. 17 Vgl. F L E I S C H M A N N , Professionalisierung oder Ausschluß von Führungseliten; W E N S K Y , Städtische Führungsschichten im Mittelalter. 18 So betont F O U Q U E T , Stadt-Adel, eine deutliche Scheidung der „Welten von Stadt- und Landadel“ (ebd., S. 173). Zwar gibt es zweifellos ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Lebensformen des Landadels und denen der städtischen Führungsgruppen, dennoch kann der Stadtadel nicht nur unter der Perspektive der Adaption eines adligen Lebensethos perspektiviert werden: „Der ‚Adel in der Stadt‘, der Stadtadel war in seinen zeitlichen und wesensmäßigen Wandlungsprozessen, angefangen von der ritterlichen und bürgerlichen Ministerialität des 12. und 13. Jahrhunderts bis hin zu den Führungsgruppen des Spätmittelalters durchaus etwas Eigenständiges, und dies bei aller Heteroge‐ nität seiner sozialen Herkunft und Zusammensetzung“ (ebd., S. 174f.). Auch innerhalb der Städte konstatiert Fouquet eine deutliche Trennung zwischen der Sphäre des Landadels, der in die Stadt zog und dort Bürgerrecht erwarb, und des Stadtadels, die keine gemeinsame homogene Oberschicht in der Stadt bildeten; weiterhin finden sich bemerkenswert wenig Fälle eines Konnubiums der stadt‐ adligen Familien mit dem Landadel, vorrangig wurde die Verbindung innerhalb der städtischen Füh‐ rungsschichten gesucht (ebd., S. 177, S. 191). Auch H Ä B E R L E I N , Sozialer Wandel in den Augsburger Führungsschichten, stellt am Beispiel Augsburgs dar, dass die Vorstellung einer ‚Feudalisierung‘ der städtischen Führungsschichten nicht überzustrapazieren ist. Nicht nur bleibt die kaufmännische Tä‐ tigkeit signifikanter Bestandteil des stadtadligen Lebens- und Erwerbsmodells, auch wurde ein zu intensives Bemühen um Adelstitel und feudale Insignien innerhalb der stadtadligen Gruppen vielfach kritisch wahrgenommen. gehörige soziale Gruppe, in der die in ihrer Sozialstruktur äußerst heterogene Stadtbevöl‐ kerung als Ganzes subsumiert würde. Auch für den Nürnberger Literaturbetrieb des 15. Jahrhunderts wurde die Vorstellung eines homogenen Bürgertums zurückgewiesen. Rei‐ chel stellt fest, dass die Dichtung Rosenplüts trotz ihrer Verortung in einem genuin städti‐ schen Kontext kein Bürgertum als geschlossenen sozialen Stand kennt, sondern dieses stets differenziert nach verschiedenen Gruppen und Berufen behandelt. Zwar ist Rosenplüts Texten gelegentlich eine deutliche Opposition gegen adlige Lebensformen eingeschrieben, ‚den Bürger‘ als integrierenden Sozialstatus kennt seine Dichtung aber ebenfalls nicht. 16 Aber auch hinsichtlich der städtischen Führungsschichten wird eine strikte Dichotomie zum Adel in Frage gestellt. Den ‚Stadtadel‘ kennzeichnet eine ähnlich hierarchische Sozi‐ alstruktur wie den Adel, er teilt in vielem dessen Lebensformen und Wertvorstellungen. Adliges Leben war Teil der Stadtkultur, stadtadlige Familien erwarben herrschaftliche Güter, führten Wappen und veranstalteten Turniere. Vor allem betrieben die städtischen Eliten eine ähnliche, zum Teil geburtsrechtlich definierte soziale und politische Abgrenzung nach unten. 17 Trotz signifikanter Parallelen in Lebensführung und Selbstverständnis ist aber nicht von einer völligen Nivellierung der Geschiedenheit zwischen einem geburtsrechtlich definierten Adel und den städtischen Eliten auszugehen. 18 Das Verhältnis der städtischen Eliten zur adligen Lebenswelt erweist sich insgesamt als widersprüchlich, es bewegt sich zwischen den Polen von Kontinuität und Adaption auf der einen Seite und einem genuin eigenen Werte- und Selbstverständnis auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, den Einfluss des Stadtadels auf den spätmittelalterlichen Literaturbetrieb ähnlich dialektisch zu betrachten, indem dieser einerseits an ritterlich-höfischen Literaturtraditi‐ onen partizipiert und diese fortführt, zugleich aber auch prägender Faktor für literarische Neuerungen ist. Neben dem Stadtadel treten zunehmend weitere Gruppierungen und Be‐ rufsgruppen wie Juristen oder Ärzte, die in der Regel nicht dem oberen Segment der städ‐ tischen Führungsschicht angehörten, als wichtige literarische Rezipienten- und Käufer‐ 109 6.2 Nürnberger Literaturbetrieb und ‚städtisches‘ Sammlungsinteresse 19 P E T E R S , Literatur in der Stadt, S. 293. Peters untersucht verschiedene städtische Literaturzentren nach spezifischen Identifikationsangeboten für eine literarisch interessierte städtische Oberschicht und kommt zu dem Ergebnis, dass die Städte im 13. und 14. Jahrhundert zwar einen wichtigen Schauplatz der literarischen Produktion und Rezeption, aber noch keine Faktoren für eine entscheidende Um‐ strukturierung im Literaturbetrieb darstellten. Kuhn beschreibt das 14. Jahrhundert als eine „offene Literatursituation“ und Zeit von „Abbrüchen und Übergängen, von Stagnationen und Diskontinui‐ täten“. K U H N , Versuch einer Literaturtypologie des deutschen 14. Jahrhunderts, S. 122. 20 Aber auch für den spätmittelalterlichen Literaturbetrieb wurde eine grundsätzliche Kontinuität li‐ terarischer Interessen festgestellt. Vgl. D A L L A P I A Z Z A , ‚Decamerone‘ oder ‚De Claris Mulieribus‘? , S. 117, der ähnliche Interessen und Entwicklungen für den städtischen, adlig-höfischen und klösterli‐ chen Bereich konstatiert. Weiterhin G R U B MÜL L E R , Der Hof als städtisches Literaturzentrum, der am Beispiel Münchens herausarbeitet, dass Bürgertum und Adel auch im 15. Jahrhundert hinsichtlich literarischer Interessen und der Rezeption von Literatur nicht als gegensätzliche Pole gefasst werden dürften. Ähnlich K U H N , Versuch über das 15. Jahrhundert, S. 139, der darauf hinweist, dass zwischen dem Lebensraum der Literatur und dem ihrer Akteure unterschieden werden muss. gruppen in Erscheinung. Die Stadt als soziokultureller Faktor und als Literaturbetrieb prägt, trotz der Kontinuitäten in der literarischen Tradition und den Interessenlagen, eigene, neue Impulse und Prozesse, die die literarische Entwicklung des Spätmittelalters maßgeblich beeinflussen. Entsprechend entstehen in den literarischen Zentren der Städte allmählich spezifische Formen und Institutionen der Literaturproduktion und -rezeption. Dabei stellt das 14. Jahr‐ hundert eine Übergangsperiode dar, in der sich allmählich literarische Vorlieben und Formen des Literaturbetriebs herausbilden, die im 15. Jahrhundert programmatisch für eine spezifisch städtische Literatur werden. Diese bedingen aber im 14. Jahrhundert noch keine entscheidende Umstrukturierung, sondern stellen „punktuelle Ansätze einer allmählichen Veränderung der sozialen Voraussetzungen der literarischen Produktion“ dar. 19 Erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts tritt eine genuin städtische Literatur in Erscheinung, die eigene literarische Formen und Strukturen ausprägt; vor allem in Nürnberg entwickelt sich ein virulenter Literaturbetrieb mit spezifischen Institutionen und auch literarischen Gat‐ tungen. 20 Trotz erheblicher Divergenzen zwischen den unterschiedlichen Städten lassen sich gemeinsame Merkmale urbaner literarischer Kommunikation feststellen. Neben einem großen Interesse an einer schriftliterarischen Verhandlung des gesellschaftlichen und po‐ litischen Lebens ist eine intensive Tradierung kleiner Formen erkennbar; entsprechend stellen kleinepische Sammelhandschriften und andere Kompilationen mit Kurztexten einen wichtigen Bereich städtischer Literaturproduktion dar. Der herausragenden politischen und wirtschaftlichen Stellung Nürnbergs entspricht auch ein besonders virulentes literarisches Leben, das in seiner literarischen Produktivität und Vielfalt andere spätmittelalterliche Städte weit übertrifft. Zwar kennzeichnet sich Nürnberg durch eine besonders strikt abgegrenzte und hierarchisch strukturierte städtische Oberschicht, die den Zugang zum Rat via Geburtsrecht definierte und nur einer klar fest‐ gelegten Anzahl von führenden Familien ermöglichte. Das Nürnberger Tanzstatut von 1521, in dem die Gruppe der ratsfähigen Familien endgültig festgeschrieben wurde, demonstriert, dass die soziale und politische Abgrenzung des Patriziats von anderen städtischen Gruppen im historischen Verlauf keine Nivellierung erfuhr, sondern sich sogar festigte. Der Rat übte eine weitreichende Reglementierung aus, die die Partizipation anderer Gruppen an stadt‐ politischen Entscheidungsprozessen einschränkte. So konnten die Zünfte in Nürnberg im 110 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 21 Vgl. W I L L I A M S -K R A P P , Literatur und Standesgefüge in der Stadt, S. 9-12; W E N S K Y , Städtische Füh‐ rungsschichten im Spätmittelalter, insbes. S. 22; F L E I S C H M A N N , Professionalisierung oder Ausschluß von Führungseliten. 22 Vgl. P E T E R S , Literatur in der Stadt, S. 22; S A H M / S C H A U S T E N , Nürnberg, S. 3; S P I E W O K , Das deutsche Fastnachtspiel, S. 19. 23 Vgl. S A H M / S C H A U S T E N , Nürnberg, S. 3. Als Grund für die besondere Stellung Nürnbergs im literari‐ schen Prozess und die umfangreiche Beteiligung der Mittelschicht nennt Williams-Krapp eine nach‐ weislich gut ausgeprägte laikale Bildung und eine entsprechend hohe Alphabetisierungsrate, die er auf 30% schätzt. Vgl. W I L L I A M S -K R A P P , Literatur und Standesgefüge in der Stadt, S. 14. 24 Vgl. ebd., S. 15 25 Vgl. H A B E L , Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger, S. 130. 26 S A H M / S C H A U S T E N , Nürnberg, S. 6. Gegensatz zu anderen oberdeutschen Reichsstädten weder eine Teilhabe am Stadtregiment erlangen, noch, da der Rat das Meisterrecht vergab, über die Ausführung der Gewerbe bestimmen. 21 Trotz der geringen politischen Einbindung hatte die umfangreiche Mittel‐ schicht entscheidenden Anteil am literarischen Leben der Stadt. Geradezu Alleinstellungsmerkmal hat die umfassende Beteiligung der illiteraten Hand‐ werkerschaft an der literarischen Produktion, deren Institutionen der Literaturpraxis wie Spielvereinigungen und Singschulen einen wichtigen Impulsgeber für die literarische Ak‐ tivität darstellt. 22 Poetisch manifestiert sich das literarische Schaffen der Handwerkerschaft vor allem im Fastnachtspiel und im Meistersang sowie in der Literarisierung verschiedener Kleinformen wie Priameln und Klopfan-Sprüchen, aber auch etablierte literarische Tradi‐ tionen wie Versnovellen und Reden wurden durch diese Trägerschaft adaptiert und fort‐ geführt. 23 Daneben ist die literarische Landschaft Nürnbergs auch durch eine reiche Pro‐ duktion geistiger Literatur geprägt, es findet sich viel religiöses Schrifttum, das geistliche Belehrung und soziale Normierung, vor allem hinsichtlich der Sexualmoral, transportiert. 24 Die in Nürnberg literarisch besonders profiliert agierende Handwerkerschaft ist dabei nicht als eine dichotomisch abgegrenzte Gruppe zu verstehen, vielmehr deutet die Überlieferung auf ein Ineinandergreifen der unterschiedlichen literarischen Traditionen und Träger‐ schaften hin. Dies bestätigt auch die Betrachtung der Erstkäufer und Besitzer der Fast‐ nachtspiel-Handschriften, die auf eine typische soziale Struktur spätmittelalterlicher Hand‐ schriftenbesitzer wie Ärzte, Kaufleute, Juristen und Kleriker hinweist; entsprechend dürfte die Rezipientenschicht der Spiele nicht auf die Handwerkerschaft begrenzt gewesen sein. 25 Die spannungsvolle Relation von Tradition und Innovation, die wesentlich die Ausprä‐ gung der Textsorte Versnovelle prägt, kennzeichnet die literarische Produktion im spät‐ mittelalterlichen Nürnberg insgesamt, in der sich eine ausgeprägte „Emanzipation der Laien von den Vorgaben der literaten Tradition“ zeigt. 26 Befördert durch die immense Ausweitung der Literaturproduktion, die auch in Nürnberg ab den 1430er Jahren und damit deutlich vor dem Medienwechsel fassbar ist, laufen im Nürnberger Literaturbetrieb die Adaption und Veränderung literarischer Traditionen, die Überführung etablierter Gattungen in neue 111 6.2 Nürnberger Literaturbetrieb und ‚städtisches‘ Sammlungsinteresse 27 Dass die literarische Praxis des 15. Jahrhunderts in besonderem Maße geprägt ist durch die Adaption und Bearbeitung von bekanntem und tradiertem Material, konstatiert bereits Kuhn, der diese Periode als „das Zeitalter der Übersetzungen, Bearbeitungen und Adaptionen“ beschreibt (K U H N , Versuch über das 15. Jahrhundert, S. 137), wobei die Rezeption etablierter Muster auch die Erstellung litera‐ rischer Neuproduktionen prägt. Die auf den veränderten materiellen und personellen Gegebenheiten basierende ‚Literaturexplosion‘ im 15. Jahrhundert generiert nicht ausschließlich genuin Neues; die sich ausweitende Literarizität des Spätmittelalters konstituiert sich wesentlich aus einer produktiven Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition. 28 S A H M / S C H A U S T E N , Nürnberg, S. 7. 29 Siehe S. 111ff. 30 In der Forschung wurde gelegentlich eine einheitliche Autorschaft für das Œuvre Rosenplüts wegen dessen Doppelnamigkeit in Frage gestellt. Während drei Urkundenbelege von 1426/ 27 den Namen Hans Rosenplüt nennen, erscheint er in späteren Nürnberger Ratsdokumenten konstant als Hans Schnepperer bzw. Schneper/ Snepper. Obwohl es keinen letztgültigen Beleg gibt, machen der Gebrauch der Namenssignaturen sowie urkundliche Belege von Zeitgenossen eine personale Einheit von Hans Rosenplüt und Hans Schnepperer wahrscheinlich. Während die ältere Forschung Rosenplüt für den Künstlernamen Hans Schnepperers hielt, wird mittlerweile von einer umgekehrten Namensevolu‐ tion ausgegangen. Reichel spekuliert, dass die Selbstbezeichnung Schnepperer in einem etymologi‐ schen Bezug zum ‚schwatzen‘/ ‚plaudern‘ begründet sein könnte und als (nicht negativ konnotierter) Ausdruck für einen Vortragenden oder Poeten gebraucht wurde. In den Dichtungen werden die Namenszuschreibungen unterschiedlich verwendet. Während die Fastnachtspiele meist nicht mit einer Namenssignatur versehen sind, tragen die Reimpaardichtungen häufig die Namenssignatur Hans Rosenplüt, gelegentlich erscheint auch die Doppelsignatur ‚Schnepperer Hans Rosenplüt‘ (vgl. R E I C H E L , der Spruchdichter Hans Rosenplüt, S. 59-78; weiterhin G L I E R , ‚Rosenplüt, Hans‘ in 2 VL 8, Sp. 196). Im Cgm 714 sind die drei im ersten Sammlungsteil aufgeführten Reimpaardichtungen Ro‐ senplüts mit dem ‚alten‘ Namen signiert, während die Fastnachtspiele insgesamt mit Schnepers über‐ schrieben sind. Kontexte und die Gestaltung von neuen Inhalten und literarischen Formtypen neben- und ineinander: 27 Selbstverständlich ist der kreative Umgang mit literarischen Vorlagen und Textsorten keine Er‐ findung der Nürnberger und die ‚Literaturexplosion‘ nicht auf diese Stadt beschränkt. Aber durch die außergewöhnliche Dichte an Autoren, Themen und literarischen Typen lässt sich für Nürnberg eine literarische Diskussion nachzeichnen, in der die Begriffsbildung vom städtischen Gemein‐ wesen als kulturkritischer Prozess des Entwerfens, Verwerfens und Etablierens von Themen, li‐ terarischen Techniken und Textsorten beschrieben werden kann. 28 Der Cgm 714 ist mustergültig für diese den Nürnberger Literaturbetrieb konstituierende Verbindung aus neuem sowie älterem, etabliertem Material. Das tradierte Textgut wird dabei auf eine Art und Weise bearbeitet und in neue Kontexte gestellt, die auf ein weitrei‐ chendes Verständnis schreiberischer Autonomie und eine große Freiheit im Umgang mit der Tradition schließen lassen. 29 Die Sammlung ist aber auch in besonderem Maße reprä‐ sentativ für den Literaturstandort Nürnberg, weil sie eine der Haupthandschriften für die frühe, durch Hans Rosenplüt geprägte Fastnachtspieltradition darstellt. Rosenplüt seinerseits prägt und repräsentiert in besonderem Maße die Paradigmen des Nürnberger Literaturbetriebs seiner Zeit. 30 Als Handwerksmeister und Angehöriger der stadtbürgerlichen Mittelschicht ist er der erste bekannte ‚Handwerkerdichter‘ der deut‐ schen Literatur und einer der ersten deutschsprachigen Autoren überhaupt, die nachweis‐ lich dauerhaft in einer Stadt ansässig waren und in einem „kontinuierlichen Lebenszusam‐ 112 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 31 R E I C H E L , Der Spruchdichter Hans Rosenplüt, S. 11. Insbesondere mit dem ‚Lobspruch auf Nürnberg‘, der katalogartig die Vorzüge der Stadt preist und die besondere Frömmigkeit der Nürnberger Stadt‐ bewohner lobt, aber auch soziale und politische Missstände benennt, prägt Rosenplüt nicht nur einen neuen Texttyp, sondern demonstriert durch die Verhandlung von politischen und sozialen Themen auch die unmittelbare Verbindung seines literarischen Schaffens mit der Situierung in der Stadt. Vgl. ebd., S. 193; G L I E R , ‚Rosenplüt, Hans‘ in 2 VL 8, Sp. 197ff. 32 S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 325; Vgl. auch G L I E R , ‚Rosenplüt, Hans‘ in 2 VL 8, Sp. 195, Sp. 217. 33 S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 326. 34 Reichel kommt in seiner Untersuchung der Spruchdichtung Rosenplüts zu dem Ergebnis, dass diese einen ausgeprägten moralischen Impetus aufweist und als konform mit der etablierten geistlichen Lehre und gängigen Moralvorstellungen gelten kann. Vgl. R E I C H E L , Der Spruchdichter Hans Rosen‐ plüt, S. 172-175. 35 K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 605ff. menhang mit der Stadt und ihren Bürgern“ standen und die ihr dichterisches Werk explizit auf dieses städtische Publikum bezogen haben. 31 Rosenplüt hat die ihm zugeschriebenen Fastnachtspiele vermutlich nicht originär geschaffen, aber er hat die Gattung entscheidend geprägt, indem die Spiele durch ihn „literarisch geworden“ sind. 32 Auch die Literarisierung von Kleinstformen wie Priameln und Klopfan-Sprüchen gilt als genuine Leistung Rosen‐ plüts, der „Brauchtümliches aus der nur-oralen Vermittlung“ führt und zu neuen Aus‐ drucksformen der literarisierten Schriftlichkeit macht. 33 Zu Rosenplüts Œuvre gehören weiterhin zahlreiche Formen der kleinen Reimpaardichtung, die eine große Vertrautheit mit den entsprechenden volkssprachigen Texttraditionen nahelegen, sowie eine Reihe de‐ zidiert geistlicher Texte. 34 Rosenplüt zeigt dabei beispielhaft, dass sich die Produktion von schwankhaftem Erzählgut mit einer unverhohlenen Thematisierung des Sexuellen und von Texten zur religiösen Unterweisung keinesfalls ausschließen müssen und dass diese diver‐ genten literarischen Bereiche problemlos nebeneinander stehen können. Auch im Cgm 714 werden diese gegensätzlichen Pole von Rosenplüts literarischem Schaffen zusammenge‐ führt, indem im ersten Teil des Codex sowohl eine schwankhafte Versnovelle als auch zwei geistliche Reimpaarreden Hans Rosenplüts inseriert sind. 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 6.3.1 Verkehrung als Auftakt Die ersten Texte des Cgm 714 bilden eine generisch heterogene Gruppe (1-10; 1r-48v), für die sich aber gemeinsame inhaltliche Momente und poetische Prinzipien fassen lassen und die einen selbstständigen Faszikel bilden. Eingangstext der Sammlung ist die anonym und unikal im Cgm 714 überlieferte Minnerede ‚Das Herz als Garten der Liebe‘, für die es weder Hinweise auf den Verfasser noch auf eine von der Entstehung der Handschrift abweichende Datierung gibt. 35 Der im Gattungsvergleich außergewöhnlich umfangreiche Text allegori‐ siert das Herz des Sprechers in einer topischen Gartenschilderung mit ausführlichen Vogel-, Blumen- und Farballegorien. Mit der Profilierung der grundlegenden Minnetugenden von Treue und Beständigkeit sowie dem Verweis auf die moralisierende Wirkung der Liebe 113 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 36 Unter der Bezeichnung Minnereden werden etwa 600 Texte des 12. bis 16. Jahrhunderts zusammen‐ gefasst, wobei diese erst ab dem Ende des 13. Jahrhunderts in größerem Umfang in Erscheinung treten. Wie andere kleinepische Texttypen sind die Minnereden einerseits als eigenständige Textsorte fassbar, andererseits nicht immer klar von anderen Gattungen abzugrenzen. Unter dem Gattungs‐ begriff Minnerede werden unterschiedliche Texttypen subsumiert, neben typischen Formen wie Klage-,Werbungs- und Preisreden werden auch Streitgespräche, Liebes- und Neujahrgrüße sowie über 100 Liebesbriefe dem Korpus zugeordnet. Gemeinsames Merkmal ist dabei eine dominierende Ich-Erzählhaltung, wobei der Sprecher in unterschiedlichen Rollen in Erscheinung tritt. Das Haupt‐ thema der Minnereflexion wird nicht oder kaum durch eine übergeordnete Handlung, sondern in diskursiver Verhandlung dargelegt. Den Minnereden ist in besonderem Maße eine typisierte und schematisierte Darstellung eigen. Die Texte verarbeiten einen gemeinsamen Motivbestand und to‐ pische Darstellungsmuster, es gibt ein typisiertes Figurenpersonal sowie prototypische Erzählsitu‐ ationen und -eröffnungen. Häufig ist der Gebrauch von Allegorien, etwa von Farben, Pflanzen, Edel‐ steinen oder Tieren, mit denen Eigenschaften und Wertigkeiten im Kontext des Minnediskurses verbildlicht werden. Die Minnereden sind eine sekundäre Erscheinung der höfischen Minnedichtung, deren tradierten Motivbestand und Wertkonzepte sie abbilden, sie kennzeichnen sich wesentlich durch einen Rückgriff auf etablierte Schemata. Auch wenn die Minnereden sich nicht allein über den didaktischen Anspruch definieren, ist ein ausgeprägter normativer Gestus wesentliches Merkmal der Texte, es gibt aber auch zahlreiche parodistische und travestierende Formen. Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 3-17; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 2, S. 1ff.; A C H N I T Z , Kurz rede von guoten minnen, S. 137ff. 37 Das auf Lage a begonnene ‚Der Bauern Lob‘ (4) bricht mitten im Text ab, es folgen die Texte der mit c gekennzeichneten Lage, die mit dem zweiten Teil der Erzählung ‚Der Zaunkönig‘ (5) beginnt. ‚Der Bauern Lob‘ wird nach dem Schlusstext von Lage c (‚Die edle Abstammung der Bürger‘) fortgesetzt, gefolgt von dem ersten Teil von ‚Der Zaunkönig‘. Eine semantische Intention lässt sich der verän‐ derten Textabfolge schwerlich nachsagen, weswegen auch Westphal von einem Bindefehler ausgeht. Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 150f. 38 Das ‚Wachtelmäre‘ ist vollständig überliefert in den Codices Bodm. 72; Wien 2885; Innsbruck FB 32001; Karlsruhe 408. bewegt sich die Rede innerhalb der grundlegenden Paradigmen der Textsorte, die vor allem auf normative Wertvorstellungen des Minnediskurses rekurriert. 36 Die Kustodenkennzeichnung des Codex deutet allerdings darauf hin, dass ‚Das Herz als Garten der Liebe‘ zunächst nicht als Eingangstext geplant war. Der Text füllt eine eigene Sexternione, die mit d gekennzeichnet ist. Darauf folgen drei mit a, b und c bezeichnete Sexternionen, so dass das ‚Das Herz als Garten der Liebe‘ möglicherweise erst nach diesen stehen sollte. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass auf die Lagen a-c eine mit e gekennzeichnete Lage folgt. Ob die Platzierung von d als einleitende Lage dabei auf eine intentionale Änderung der Textfolge oder einen Bindefehler zurückgeht, ist nicht ent‐ scheidbar. Die Texte der drei folgenden Lagen a-c bilden eine klar konzipierte Gruppe. Diesen Sammlungsteil kennzeichnen Textunterbrechungen und Einschübe, die offensichtlich aus einer fehlerhaften Bindung resultieren, bei der die Lagen b und c vertauscht wurden. 37 Die Textgruppe beginnt mit der ‚Lügenpredigt vom Backofen‘ (2), einer Unsinnserzählung über eine absurde Welt voll unmöglicher Dinge. Der Text ist unikal im Cgm 714 überliefert, geht aber inhaltlich auf das um 1300 entstandene ‚Wachtelmäre‘ zurück, das in mehreren zen‐ tralen kleinepischen Kompilationen überliefert ist und mit dem die ‚Lügenpredigt vom Backofen‘ zahlreiche der verwendeten Motive gemeinsam hat. 38 Der Typus der Lügenrede oder Unsinnsdichtung ist seit dem 13. Jahrhundert häufig in der volkssprachigen Literatur 114 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 39 Vgl. H O L T O R F , ‚Lügenreden‘ in 2 VL 5, Sp. 1039-1044. 40 Unsinnsdichtungen adaptieren das rhetorische Mittel der Adynata als Äußerungen unmöglicher Dinge, die seit dem Frühmittelalter auch in Reihung zur Darstellung einer verkehrten Welt verwendet werden. Vgl. C U R T I U S , Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 104-108. 41 „In ihnen verweigern sich Unmögliches, Erlogenes und Unsinniges nicht nur jeder Funktionalisie‐ rung, sondern allen Sinnperspektiven. Es wird nicht nur der gängige Wahrheits- und Wirklichkeits‐ begriff umgestülpt wie in den satirischen Zeitpreisungen, sondern jede Beziehung zur Erfahrungs‐ welt und zur Wirklichkeit ist in Frage gestellt, selbst wenn sich zwischen die irrealen Erzählelemente vereinzelte didaktische und satirische Aussagen einschleichen.“ K E H R , Lügen haben Wachtelbeine, S. 272. Vgl. weiterhin dies., ich quam geriten ûf einer blawen gense, S. 418, S. 423. 42 Ebd., S. 424. 43 K E H R , Lügen haben Wachtelbeine, S. 274. anzutreffen und wird in vielen kleinepischen Kompilationen tradiert. 39 Kennzeichnend ist die Absenz sinnvoller Handlungsstrukturen und kohärenter Sinnstiftung. In den Unsinns‐ dichtungen werden einzelne Unmöglichkeiten unkommentiert und ohne erkennbaren Sinn oder nennenswerten Zusammenhang aneinandergereiht. 40 Entsprechend stellt auch die ‚Lügenpredigt vom Backofen‘ keine greifbare Handlung vor, sondern präsentiert eine ad‐ ditive Aufreihung absurder Figuren und Handlungsmomente, etwa den auf einem einbei‐ nigen Strohpferd ausreitenden Backofen, der auf einen singenden Essigkrug trifft, sowie sinnentleerte Paradoxien wie den predigenden Stummen, dem die Tauben geräuschlos lauschen. Ältere Formen der Unsinnsdichtung haben vielfach didaktische Funktion, indem sie etwa durch ironische Beschreibung einer faktisch nicht vorhandenen idealen Welt als Zeiten‐ klage fungieren und Hinweise auf Störungen der Ordo geben. Die spätmittelalterlichen Lügenreden gestalten eine andere Tradition, die sich solchem Anspruch auf moralische Deutbarkeit und sinnstiftender Funktionalisierung verweigert. 41 Die mittelalterliche Un‐ sinnsdichtung konterkariert den bis in die Antike zurückreichenden poetischen Diskurs über Wahrhaftigkeit oder Wahrscheinlichkeit des Erzählens, indem sie keinen Anspruch auf Wahrheit, Kohärenz oder Sinn, nicht einmal auf Wahrscheinlichkeit erhebt und damit die Erwartung an eine Funktion des Erzählens an sich ad absurdum führt. Aber auch wenn die Unsinnsdichtung als „übersteigerte Form von Fiktionalität, die ja selbst das Wahr‐ scheinliche hinter sich läßt“ keinen Wirklichkeits- oder Weltbezug herstellt, 42 ist sie den‐ noch nicht referenzlos. Die Texte sind referenzialisierbar auf Literatur, indem sie Assozia‐ tionen zu bekannten literarischen Typen und Erzählschemata aufrufen. Die Poetik und auch die Komik der Unsinnsdichtung erweist sich als ein genuin literarisches Spiel, indem lite‐ rarische Regeln von Erzähllogik und Kohärenz sowie literarische Motive und Muster auf‐ gerufen und gleichzeitig aufgehoben werden: Unsinnsdichtung bezieht sich spielerisch auf literarische Vorgaben wie Namen, Topoi, Erzählmo‐ tive und -schemata, die zitathaft und oft parodistisch verarbeitet werden. Die Texte zitieren Ver‐ trautes an und verwerfen es im nächsten Halbsatz, stellen Unpassendes nebeneinander und zer‐ schlagen mit den Bausteinen der Literatur auch die Erwartungen des Publikums. 43 Persiflierende Aneignungen höfischer Erzählmuster sind auch in der ‚Lügenpredigt vom Backofen‘ erkennbar, so wird mit dem ausreitenden Backofen, der nach hofelicher mer (13r) hin und her reitet, das Schema ritterlicher aventiure-Fahrt anzitiert. In der folgenden Schil‐ 115 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 44 Vgl. K I E P E -W I L L M S , ‚Der Bauern Lob‘ in 2 VL 1, Sp. 635ff. 45 Vgl. B U S C H , Die Vogelparlamente und Vogelsprachen, S. 67f., 187ff., 359ff.; S E E L M A N N , Die Vogels‐ prachen, S. 104, S. 108f.; H E N K E L , ‚Rat der Vögel‘ in 2 VL 7, Sp. 1007-1012. derung der Verlobung zweier skurriler Gestalten, die glänzen wie ein Bettelsack und eine rostige Pfanne, wird die topische Analogie äußerer Vollkommenheit adlig-höfischer Paare adaptiert und ins Absurde geführt. Alleinstellungsmerkmal hat der geistliche Zusatz zur ‚Lügenpredigt‘ im Cgm 714: Eine christliche Fürbitte an Gott und die Heilige Jungfrau um Aufnahme in das Himmelreich beschließt den Text und kann als geistliche Parodie, aber auch als Persiflierung des Gestaltungsmodus vieler kleinepischer Sammlungen gelesen werden, in denen die enthaltenen Texte häufig mit geistlichen Formeln versehen werden. Auf die Lügenpredigt als ursprünglichem Eingangstext folgt mit dem ‚Besuch bei der Geliebten‘ (3) eine weitere Minnerede, in der der Sprecher in einer Traumschilderung seine Geliebte im Bett liegend vorfindet und, in Verkehrung des sonst in den Minnereden domi‐ nierenden Prinzips der unbedingt zu wahrenden Ehre der Frau, auf erstaunlich wenig Wi‐ derspruch stößt, als er um eine Berührung und Umarmung bittet. Mit dem Folgetext ‚Der Bauern Lob‘ (4) wird eine eigenwillig gestaltete Textreihe mit verschiedenen Redetexten begonnen, die teils didaktisch, teils satirisch auf ein breites Spektrum von Themen rekurrieren, die alle im Kontext einer Sozial- und Ständekritik zu verorten sind. ‚Der Bauern Lob‘ ist hier anonym und unikal überliefert; das zugrunde lie‐ gende Thema der Achtung vor dem Bauernstand aufgrund von dessen ökonomischem Nutzen findet sich auch in anderen Texten. 44 Im Cgm 714 geht dieses mit einer Verkehrung der Ständehierarchie einher, indem alle übrigen Stände als unedler bezeichnet werden, nur der Kaiser wird dem Ackermann gleichgesetzt. Bei dem folgenden Stück handelt es sich um eine Textsymbiose aus zwei Dichtungen, die unmarkiert zusammen gefügt und unter dem gemeinsamen Titel ‚Der Zaunkönig‘ (5) im Codex und Register aufgeführt werden - ein Verfahren, das im Cgm 714 mehrfach an‐ gewendet wird. Der Textverbund beinhaltet den ‚Rat der Vögel‘, ein didaktisches Reimge‐ dicht, in dem der Zaunkönig als neuer König von der Versammlung der Vögel zunächst eine Reihe guter, dann schlechter Ratschläge für seine Herrschaft erhält. Vogelparlamente oder Vogelsprachen sind eine verbreitete Form lehrhafter Reimdichtung, die in variablen Ausformungen überliefert ist, die aber immer das Motiv des beratenden Vortrags der Vögel sowie schematische Tugend-Laster-Kataloge gemeinsam haben. 45 Der Cgm 714 hebt sich durch die Gestaltung zusätzlicher Strophen deutlich von den übrigen überlieferten Vogel‐ parlamenten ab. So wird an die guten Ratschläge eine Strophe angefügt, in der ein Engel das ewige Leben in Aussicht stellt; auf die schlechten Ratschläge folgen analog dazu Stro‐ phen der bösen Seele und des Teufels, der dem König als Lohn für die Befolgung des schlechten Rats ein jämmerliches Leben in der Hölle verheißt. Das Lehrgedicht wird im Cgm 714 durch den narrativen Text ‚Der Zaunkönig‘ eingeleitet, der wie eine Vorgeschichte die Herrscher-Werdung des Zaunkönigs erzählt: Der Adler, der als natürlicher Repräsentant von Herrschaft und Ordnung erscheint, lobt einen Flugwett‐ bewerb zur Wahl eines Königs aus, der zu aller Wohl die Ordnung sichern soll. Dabei wird der Adler von dem Zaunkönig als kleinstem und schwächstem Vogel betrogen, der sich in seinem Gefieder versteckt und im letzten Moment über den Adler hinaus flattert und sich 116 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 46 Westphal weist auf die unikalen Einschübe im ‚Zaunkönig‘ hin: Die zusätzlichen Strophen des Engels, Teufels und der bösen Seele ähneln in Inhalt, Modus und in ihrer Obszönität der Tradition der Fast‐ nachtspiele und legen einen unmittelbaren Einfluss nahe, zumal der Text durch die strophische Ge‐ staltung und den dialogischen Modus per se Spielcharakter hat. Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 159ff. so den Sieg sichert. Ist dem Texttypus des Vogelparlaments aufgrund der negativen Rat‐ schläge immer eine parodistische Tendenz inhärent, konterkariert die Textverbindung im Cgm 714 den didaktischen Impetus in besonderem Maße, indem die Grundlage der Ordnung und die Legitimation von Herrschaft durch die Vorgeschichte der Herrscherwerdung frag‐ würdig wird. Der folgende als ‚Dy spehen mayd‘ (6) betitelte Text ist dem ‚Renner‘ Hugos von Trim‐ berg entnommen, der Textbestand weicht nicht signifikant von anderen Textzeugen ab, aber nur der Cgm 714 tradiert allein diesen Auszug. Der Textausschnitt stellt eine Frau‐ enschelte dar, indem das Negativbeispiel einer jungen Frau präsentiert und getadelt wird, die boshaft die Fehler ihrer Heiratskandidaten kommentiert. Diese wird schließlich in ihrer scheinheiligen Gesinnung bloßgestellt, weil sie bekennt, weltlich-körperlicher Liebe ex‐ plizit den Vorzug vor der geistlichen zu geben. Das folgende Bîspel ‚Wolf und Pfaffe‘ (7) bringt die Geistlichkeit in die Reihe der Stän‐ dekritik ein, kritisiert wird die Amoral des Klerus, die tadelnswerter sei als die tierische Natur des Wolfes. Den Schluss der Reihe bilden drei Kleinsttexte unbekannter Herkunft: ‚Die Bettlerin‘ (8) beginnt mit einer Auflistung von Dingen, an denen sich Menschen er‐ freuen, etwa Blumen, Tanz und Turnier, und konterkariert diese Darstellung höfischer Freuden durch die Beschreibung der Freude, die der Sprecher an den obszön geschilderten Genitalien einer Bettlerin hat. ‚Die Kinder der Edelleute‘ (9) und ‚Die edle Abstammung der Bürger‘ (10) treiben die Ständekritik und das Prinzip der persiflierend-verkehrenden Dar‐ stellung, die mit dem ‚Bauernlob‘ begonnen wurde, auf die Spitze: Indem die Abkömmlinge des Adels als Bastarde von Küchenjungen, Priestern und Narren bezeichnet werden, wird die Basis adligen Selbstverständnisses in Frage gestellt. Das Bürgergedicht setzt die Stän‐ depersiflage fort und begründet die Überlegenheit des Bürgertums gegenüber dem Adel mit einer ähnlichen Ehebruchs-Volte: Weil sich die Bürgersfrauen von den Adligen schwän‐ gern lassen, seien die Bürgerkinder häufig edlerer Herkunft als die des Adels. Die Konfiguration der ersten Textgruppe ist offensichtlich durch ein hohes Maß an In‐ tentionalität geprägt, indem Texte aus ganz unterschiedlichen Traditionen zusammenge‐ fügt werden, die aber durch das gemeinsame Prinzip persiflierender Sozialkritik als kohä‐ rente Gruppe in Erscheinung treten. Abgesehen von der einleitenden Minnerede ist allen Texten eine parodistische oder verkehrende Rekurrenz auf verschiedene soziale Gruppen gemeinsam. Etablierte Muster und Wertkonzepte von sozialer Hierarchie, Minne oder Herrschaft werden aufgehoben, womit in der Textgruppe ähnliche Prinzipien wirksam sind wie in den Fastnachtspielen. 46 Vor diesem Hintergrund liest sich die ‚Lügenpredigt vom Backofen‘ als ursprünglicher Eingangstext mit einer anderen Plausibilität: Eine einleitende Erzählung über eine ver‐ kehrte Welt voll absurder Dinge, die sich kohärenter Sinnsuche und den funktionalen Pa‐ rametern des Erzählens verweigert, bedingt einen eigenwilligen Rezeptionsmodus, der aber zu der folgenden Verkehrung sozialer und kultureller Muster passt. 117 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 47 Vgl. S C H N E L L , Höfische Liebe, S. 246-249. Schnell weist darauf hin, dass das literarische Phänomen höfische Liebe als offene Diskussion zu werten ist. Die prägenden Motive stellen damit keinen ver‐ bindlichen Kodex dar, sind aber als ideeller Kern höfischer Liebesauffassung fassbar (vgl. ebd., S. 231- 239; ders., Causa amoris, S. 126-135). Während E G I D I , Höfische Liebe, S. 34, einer verbindlichen Konzeptionalisierung kritisch gegenübersteht, da das Phänomen höfische Liebe nicht durch be‐ stimmte Merkmale konstituierbar sei, sondern jeder Einzeltext einen singulären Entwurf dieses Phä‐ nomens mit eigenen Relationen darstelle, sieht Fritsch-Rößler in dem Modell Schnells eine prakti‐ kable Möglichkeit, sich überhaupt dem divergenten Konzept zu nähern. Vgl. F R I T S C H -R Ö SS L E R , Finis Amoris, S. 12. 48 H Ü B N E R , Die Rhetorik der Liebesklage, S. 94. 6.3.2 Minne zwischen geistlichen und weltlichen Semantiken Auf die einleitende Textformation folgt eine Reihe von Texten (11-35), die überwiegend auf die Liebesthematik rekurrieren, was zunächst keine besonders spezifische Profilierung in einer mittelalterlichen Textsammlung darstellt. Minne ist nicht einfach zentrales Thema der volkssprachigen Literatur, sondern ein komplexer Diskurs, in dem vielschichtige Se‐ mantiken zusammenlaufen und der unter verschiedenen, auch gegenläufigen Paradigmen betrachtet werden kann. Die Minne kann in ihrer genuinen Macht und Wirksamkeit aura‐ tisiert werden, dabei ist häufig der Kontext ihrer gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen Bestandteil der literarischen Verhandlung. Dazu gehört vor allem das Verhältnis von Liebe und Ehe oder die Vereinbarkeit mit anderen, möglicherweise konfligierenden Normativi‐ täten. Der literarische Diskurs höfischer Liebe tritt dabei als ein normatives Verhaltens‐ programm mit eigenen ethischen Ansprüchen in Erscheinung, der auch als Chiffre für ein feudaladliges Selbstverständnis gelesen werden kann. Dabei gibt es keine einheitliche und verbindliche Liebestheorie; unter dem Begriff der höfischen Liebe können divergente, auch gegenläufige Konzepte zusammengefasst werden. Dennoch lassen sich einige grundle‐ gende Motive feststellen, die in der ansonsten offenen Diskussion über höfische Liebe als ‚Leitvorstellungen‘ gelten können. Neben Vorstellungen von Ausschließlichkeit, Bestän‐ digkeit, Selbstlosigkeit und Leidensbereitschaft ist es vor allem die triuwe, die als zentrales ethisches Moment ausgemacht werden kann. 47 Die triuwe ist nicht nur ethische Norm, sie hat in Textbereichen, die vorrangig auf außereheliche Liebeskonzeptionen rekurrieren, auch einen wichtigen funktionalen Status, indem sie als Wertkonzept „zur Legitimierung eines außerhalb der Legitimität situierten sexuellen Begehrens“ genutzt wird. 48 Die Liebes‐ thematik ist auch Gegenstand parodistischer und schwankhafter Darstellung, die diese normativen Implikationen sowie die höfische Situierung des Konzepts konterkariert und subversiv unterläuft. Weiterhin ist Minne ein zentraler Bezugspunkt, in dem das Span‐ nungsverhältnis zwischen geistlicher und laikaler Sphäre in den Blick genommen werden kann, das sich in der Verknüpfung der Semantiken von Gottesliebe und weltlicher Minne 118 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 49 Geistliche und weltliche Liebe werden vielfach als konkurrierende literarische Modelle aufgefasst; die Thematisierung höfischer Liebe in der laikalen Literatur wird als Artikulation eines Geltungs‐ anspruchs für die weltliche Liebe gelesen, der sich gezielt gegen die Dominanz einer klerikalen Schriftkultur und deren Normvorstellungen behaupten will. Dass der Gegensatz zwischen geistlich und weltlich weit weniger prägend ist als vielfach behauptet, belegt Peters u.a. an dem uneindeutigen und spielerischen Umgang mit der Liebesthematik, wie er sich etwa in Andreas Capellanus ‚De amore‘ zeigt (vgl. P E T E R S , Höfische Liebe, S. 96ff.). Kuhn betont, dass die strikte Dichotomie welt‐ lich-geistlich bereits im 14. Jahrhundert weitgehend irrelevant geworden ist. Vgl. K U H N , Versuch einer Literaturtypologie des 14. Jahrhunderts, S. 128f. 50 W E S T P H A L konstatiert für den Cgm 714 ebenfalls eine besondere konzeptionelle Gemachtheit, die sich unter anderem in der Gestaltung einer umfangreichen Textgruppe manifestiert, die die Texte 11-29 umfasst und damit zu großen Teilen mit der hier besprochenen Textreihe über Minne über‐ einstimmt. Westphal sieht in dieser Textreihe im Cgm 714 einen besonders exzeptionellen Vertreter eines häufig in kleinepischen Sammlungen auftretenden und inhaltlich klar konturierten Kombina‐ tionskonzepts, den Westphal als „minne constellations“ bezeichnet. Diese meist 5-8 Texte umfas‐ senden Einheiten kennzeichnen sich durch eine Zusammenstellung von Minnereden mit anderen höfischen Texten, die auf die Themen Minne und Sexualität Bezug nehmen. Den Gruppen ist ein ernsthafter Impetus eigen, indem sie meist mit moralisch-exemplarischen Texten beginnen; sie stehen in der Regel am Anfang der Sammlungen, was als Indiz ihrer besonderen Relevanz gesehen wird. Liebestoderzählungen stellen dabei eine wichtige Markierung dar, da sie meist im Zentrum dieser Gruppierungen stehen. Westphal spricht den „minne constellations“ stringente inhaltliche Implikationen zu, indem sie in ihnen eine Vorführung der Ausdrucksformen der Liebe und der Dar‐ stellung verschiedener weiblicher Rollenmuster und Spielarten weiblicher Macht sieht (vgl. W E S T‐ P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 9-11, S. 109-112). Zweifellos ist die Zusammen‐ stellung verschiedener korrespondierender Texte über Minne zu thematischen Gruppen Bestandteil zahlreicher Sammelhandschriften. Die von Westphal postulierte modellhafte Struktur einer klar fassbaren und wiederkehrenden Textkonstellation ist aber nicht in allen Implikationen plausibel, insbesondere die behauptete thematische Geschlossenheit und klare Abgegrenztheit dieser Gruppen von dem übrigen Textkorpus ist fraglich. In den Kompilationen werden zwar Textreihen mit einer klaren semantischen Stoßrichtung gestaltet, aber zumeist stellen diese nur einen Teil der Gesamt‐ struktur der Sammlung dar, die auch ein gezieltes Gegenüberstellen inhaltlich gegenläufiger Texte und einen Wechsel der Perspektiven beinhaltet. Gerade im Cgm 714 werden die Wertmarkierungen der Liebe, die Westphal der beschriebenen Textreihe zuspricht, massiv konterkariert. Auch bricht die Diskurs- und Konzeptionsstruktur nicht wie von Westphal behauptet nach dem Text Nr. 29 ab (vgl. ebd., S. 180), sondern setzt sich in den folgenden Texten fort. manifestiert. 49 Entsprechend den vielschichtigen Relationen und poetischen Gestaltungs‐ möglichkeiten der Minnesemantiken lässt sich die Textreihe im Cgm 714 in verschiedene Gruppen untergliedern, die jeweils andere Perspektiven auf den Liebesdiskurs vermit‐ teln. 50 6.3.2.1 Minnereden und Schwanktexte Die erste Gruppe der Minne-Textreihe führt vorrangig Minnereden sowie einige Schwank‐ texte zusammen (11-18; 49r-91r). Die einleitende Minnerede ‚Das Herz als Garten der Liebe‘ hätte nach der Kustodenkennzeichnung eigentlich die Reihe der Liebesdiskussion eingeleitet und ihr eine vor allem normative, moralisierende Perspektive vorangestellt. Stattdessen wird der Auftakt der Minnetexte mit ‚Der Guardian‘ (11) gemacht. Die unikal im Cgm 714 überliefert schwankhafte Versnovelle unklarer Datierung hat die klerikale Amoral zum Thema und spielt subversiv Überschneidungen der geistlichen und weltlichen 119 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 51 Die häufige Negativ-Darstellung geistlichen Personals, das durch Geldgier, unmäßiges Essen und Trinken, durch Gewalt und Sexualität gegen Prinzipien der Triebregulierung verstößt, ist bereits aus der mittellateinischen Tradition und auch aus der Großepik des 12. und 13. Jahrhunderts bekannt und wird in den Versnovellen besonders profiliert: „Die moralische Defizienz der Geistlichen, die sich in der Differenz zwischen Norm und Abweichung äußert, ist konstitutiv für die Gattung maere. Gerade Geistliche bieten sich für diese Rolle an, da die ihrem Leben zugrundegelegten nor‐ mativen Verhaltensmodelle in ihrer Rigorosität und hohen Verbindlichkeit einen außerordentlichen Differenzwert zu Verstößen gegen diese Ordnung bilden, wobei die Größe der Abweichung dem Ausmaß an Komik kongruent ist.“ R E U V E K A M P -F E L B E R , Volkssprache zwischen Stift und Hof, S. 327. 52 Die Barfüßer als Ordensgemeinschaften der Bettelorden, insbesondere der Franziskaner und Kar‐ meliter, kennzeichnet eine strenge Auslebung des Entsagungspostulats. Neben dem besonderen Be‐ kenntnis zur Armut kennzeichnet die Barfüßer auch eine intensive Bemühung um die Laienbeleh‐ rung. In Nürnberg war die Barfüßerbewegung sehr präsent und prägte auch die reiche Produktion religiösen Schrifttums (vgl. W I L L I A M S -K R A P P , Literatur und Standesgefüge in der Stadt, S. 15). Ver‐ schiedene mittelalterliche Schwanktexte persiflieren die Divergenz zwischen Norm und Wirklichkeit gerade dieser monastischen Gruppe (vgl. z.B. ‚Die drei Mönche zu Kolmar‘). Dass in einer Kompila‐ tion Nürnberger Provenienz gezielt ein Barfüßer-Mönch zur Darstellung der Verkehrung seiner Aufgabe gewählt wird, überrascht angesichts der umfangreichen Teilhabe dieser Gruppe an der re‐ ligiösen Unterweisung nicht. Relationen von Minne aus. 51 In der Exposition wird der Selbstanspruch der Bar‐ füßer-Mönche vorgestellt, dem Volk ein Leben nach dem Willen Gottes zu predigen und zu erklären. 52 Forum für seine ganz persönliche Laiendidaxe findet der titelgebende Guardian in einer als hilflos und äußerst gutgläubig geschilderten Witwe nebst ihren beiden unver‐ heirateten Töchtern. Er bietet der älteren Schwester ein monastisches Leben an und for‐ muliert dies bereits doppeldeutig, indem er ihr vorschlägt, nach seinem Willen zu leben und sich dadurch das ewige Leben zu sichern (50r). In dem abwägenden Dialog zwischen Mutter und Tochter wird die angedeutete Verkehrung geistlicher Semantik weiter ausgespielt, indem die Frauen in ihrer Naivität das Konzept der Ehe mit Christus wörtlich nehmen und den christlichen Erlöser für den besten Heiratskandidaten befinden: nim zu einem man Jhesum/ der ist ob allen mannen frum (50v). Nachdem dem Mädchen die Haare abgeschnitten und sie in eine Kutte gekleidet wird, trägt der Guardian ihr auf, sich von Rittern, Knechten, Schülern und Schreibern fernzuhalten - dem Personal, das in schwankhaften Texten zu‐ meist die Rolle des Verführers besetzt. Ein Jahr später wiederholt sich die Szene - ein neuer Guardian sucht die gleiche Witwe auf und bietet der zweiten Tochter Jesus als den besten aller Männer an. Durch die Entgegnung der Jüngeren, dass ihre Schwester bereits mit Jesus verheiratet sei und ein Kind von ihm erwarte, wird die verkehrende Verwirklichung der Ehe mit Christus offen gelegt. Die zur Rede gestellte ältere Schwester erklärt, dass ihr der Beischlaf von dem mittlerweile ‚zwangsversetzten‘ Guardian als Buße für ihre Sünden auf‐ erlegt worden war, wobei sie sich immer noch als spirituell legitimierte Braut Christi wähnt. Das Schwankmuster erotischer Naivität und verkehrter Beichte wird ausgedehnt, denn das Mädchen berichtet ohne Argwohn, nach einem neuen Beichtvater gesucht zu haben. Ob‐ wohl sie von einer Mitschwester erfahren hat, dass es noch weiteren Frauen mit dem Gu‐ ardian ergangen ist wie ihr, durchschaut sie die Verkehrung des Prinzips der Braut Christi nicht. Die Versnovelle spielt nicht nur den Kontrast von christlichem Bekenntnis und se‐ xueller Amoral aus, sie führt auch ein häufiges inhaltliches Moment des Cgm 714 vor Augen, indem die geistlichen Semantiken von Beichte und Buße in verkehrender Weise in weltli‐ ches Liebeshandeln überführt werden. 120 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 53 ‚Die treue Magd‘ ist auch in den früher datierten Codices Karlsruhe 408 und Berlin mgo 186 tradiert. 54 ‚Der rote Mund‘ wird auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert (vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 119; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 1ff.). Gegenüber der früheren Parallelüberlie‐ ferung des Gedichts im Codex Karlsruhe 408 überliefert der Cgm 714 eine deutlich kürzere Redaktion, in der unter anderem die lange Klage des Sprechers über die Missachtung durch die Dame weitgehend ausgespart wird; der Fokus liegt in der Münchner Handschrift damit noch stärker auf der Wunder‐ erzählung. 55 Eine Parallelüberlieferung für den Text ist nicht bekannt, der Typus des Quodlibet ist aber auch in anderen Handschriften vertreten und kennzeichnet sich durch lose Reihungen von banalen Lebens‐ weisheiten, die ähnlich den Lügenreden mit großen inhaltlichen Freiheiten variabel gestaltet werden (vgl. H O L T O R F , ‚Lügenreden‘ in 2 VL 5, Sp. 939-942; K E H R , Lügen haben Wachtelbeine, S. 275f.). Eine unmarkiert eingeschobene Partie aus ‚Der Minne Lehen‘ steht in keinem sinnstiftenden Zusam‐ menhang mit den umgebenden Sentenzen des ‚Quodlibet‘. Eine parodierende Verflechtung erotischer Schwankhandlung mit geistlichen Implika‐ tionen stellt auch die ‚Die treue Magd‘ (13) als zweiter versnovellistischer Text im Codex vor. Die Frau eines Ritters hat die Abwesenheit des Ehemannes für eine Liebesnacht mit einem Schreiber genutzt und droht, von dem unerwartet zurückgekehrten Mann mit dem Nebenbuhler im Bett entdeckt zu werden. Ihre findige Magd zündet die Scheune an, durch das Ablenkungsmanöver kann sich die Frau heimlich von ihrem Liebhaber verabschieden, der Betrug bleibt unentdeckt. Die List der Magd wird dabei auf eine Eingebung bzw. den Rat der Heiligen Gertrud zurückgeführt (71v,72r). Im Epilog ist eine Anrufung der Trinität sowie eine ausführliche Fürbitte an Gott formuliert, vor Herzeleid zu bewahren und am Jüngsten Tag Beistand zu leisten. Damit erfährt das ehebrecherische und betrügerische Geschehen vordergründig eine Verbrämung durch die Dignität der geistlichen Formeln, wobei die Unglaubwürdigkeit des Konzepts aber kaum kaschiert wird. In der Rekurrenz auf das Jüngste Gericht werden erneut die Themen Sünde, Beichte und Buße in das Erzählen eingebracht, die in Kontrast zu der fehlenden Problematisierung des Ehebruchs stehen. 53 Zwischen bzw. nach den beiden schwankhaften Versnovellen stehen verschiedene Re‐ detexte, vor allem Minnereden, die gattungstypisch Liebesklagen, Preisungen der Geliebten und Verhaltensregeln der Minne verhandeln: ‚Der rote Mund‘ (12) gestaltet in hyperboli‐ scher Übersteigerung der Liebestopik des roten Mundes eine Grenzüberschreitung der Sphären von Frauenliebe und geistlicher Andacht, indem der Sprecher erklärt, den Mund der Geliebten einer Reliquie vorzuziehen. Im Folgenden beschreibt er ein Farbmirakel, das er in der Kirche beobachtet hat: Während der Andacht überträgt sich das unvergleichliche Rot des Mundes der Geliebten, vor dem selbst das Rot aller Rosen fahl erscheint, zunächst auf die Münder der anderen Kirchgänger, dann auf den Psalter, die Wände und die Fenster der Kirche. 54 Das darauf folgende ‚Quodlibet‘ (15), das hier unter dem rubrizierten Titel Der tor er‐ scheint, steht als Texttyp der Unsinnsdichtung nahe, indem sinnentleerte Sentenzen und Allgemeinplätze ohne ernst zunehmenden Gehalt aneinander gereiht werden, z.B. Das mer ist weilder dann dy see/ Und auch dazu pitter; Schweigen ist dy peßt witz/ An etlichen lewten (79v.). Der Text partizipiert damit an dem belehrenden Modus der Minnereden, ohne aber einen greifbaren Sinn zu präsentieren. 55 Bei den Minnereden ‚Lob der beständigen Frauen‘ und ‚Fluch über die ungetreuen Frauen‘ (17, 18), die, wie die Titulaturen nahelegen, sehr divergent sind in ihrer Perspekti‐ 121 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 56 Verfasser und konkrete Datierung der beiden Minnereden sind unbekannt. Die Minnereden sind als getrennte Texte auch in dem früher datierenden Codex Don. 104 (1433) überliefert. Vgl. K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 426f., S. 450f. Das ‚Lob der beständigen Frauen‘ steht außerdem in dem 1478 entstanden Cpg 313, der eine relativ geschlossene Sammlung positivierender Minne‐ dichtungen tradiert. vierung weiblicher Treue, bedient sich der Cgm 714 wieder des Verfahrens der Textver‐ schmelzung. Der erste Text lobt topisch die Vorzüge der beständigen Frau, die für den Mann höchstes Glück bedeutet und bedient sich dabei einer enthusiastischen und elaborierten Ausdrucksweise. Der zweite Text schildert dagegen zunächst eine gescheiterte Liebesbe‐ ziehung und führt dann eine Reihe drastischer Verwünschungen untreuer Frauen durch den Ich-Erzähler auf, der diesen unter anderem materielle Not und Hässlichkeit wünscht. Die unterschiedlich konzipierten Redesituationen und der divergente Sprachduktus legen eine Entstehung als voneinander unabhängige Texte nahe. 56 Die Reden werden hier den‐ noch als ein einziger Text unter dem Titel frawen stetigkeit aufgeführt, der Titel des zweiten Textes fehlt sowohl im Text als auch im Register. Mit dieser Textgestalt vermittelt der Codex weniger eine Gegenüberstellung der konträren Sinnaussagen, wie es die Aufführung als klar voneinander getrennte Texte bewirkt hätte. Vielmehr erscheint die an das Frauenlob angefügte Beschimpfung und Verwünschung als ein Bruch mit der bisherigen Textaussage und als nachträgliche Negativierung oder Ironisierung der topischen Inszenierung des Frauenlobs im voranstehenden Text. 6.3.2.2 Das ‚Herzmaere‘ in der zentralen Textformation Das ‚Herzmaere‘ ist im Cgm 714 Teil einer besonders fest gefügten diskursiven Formation (19-24; fol.91r-161r), deren zentrale Bedeutung für die Diskursgestaltung der Sammlung sich auch in ihrer zentralen Positionierung widerspiegelt: Die Gruppe steht sowohl bezogen auf die Gesamtzahl der Texte als auch auf den Seitenumfang etwa in der Mitte des ersten Teils des Cgm 714. Auch wenn zählerische Befunde nicht übersemantisiert werden müssen, ist eine gezielte Positionierung angesichts der besonders fest gefügten, durchkonzipierten und optisch hervorgehobenen Textformation plausibel. Im Folgenden werden zunächst die auffälligen Merkmale der Textgestaltung des ‚Herz‐ maere‘ beschrieben, in der anschließenden Betrachtung der Textgruppe werden mögliche Entstehungszusammenhänge zwischen dem spezifischen Textbestand des ‚Herzmaere‘ und dem seiner Co-Texte im Cgm 714 geprüft. Der Cgm 714 überliefert das ‚Herzmaere‘ in der mit 566 Versen zweitlängsten Redaktion und unter dem Titel ‚Der Ritter mit dem herzen‘. [Abb. 1, S. 166] Ob diese abweichende Titulatur durch den Schreiber des Cgm 714 gestaltet wurde oder auf eine Vorlage zurück‐ geht, lässt sich nicht rekonstruieren. Die homogene Titelgestaltung des Textblocks legt eine gezielte Angleichung nahe; da einige Überlieferungsträger aber zumindest ähnliche Titu‐ 122 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 57 Die Wiener Handschrift 10100a überliefert ein Inhaltsverzeichnis der verloren gegangenen ‚Neiden‐ steiner Handschrift‘, die auf 1402 und damit früher als der Cgm 714 datiert wird. Das Verzeichnis nennt als Text Nr. 36 Der Ritter mit dem Herczen Meister Gotfrid von Strasburg. Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Fragment Wien Codex ser. nova 2593 führt das ‚Herzmaere‘ unter dem Titel Dises büchle haysset der rytter mit dem hertzen Vnd sagt von grossem kummer und schmertzen auf (siehe S. 312). Die auf das späte 13./ frühe 14. Jahrhundert datierte Handschrift Archiv Schloss Schön‐ stein Nr. 7693 (Ko), von Stammler irrtümlich als unbetitelt bezeichnet (vgl. S T A M M L E R , Wolframs „Willehalm“ und Konrads „Herzmaere“, S. 3), stellt dem Text den zumindest ähnlichen Titel Dit iz von des ritters hertz und kusst voran (siehe S. 298). 58 In der Handschriftengruppe w/ i und p 1 heißt es an dieser Stelle ganzer tugent. 59 In H heißt es dagegen werlde statt minne. In w/ i fehlt das zweite Verspaar, p 1 fasst die Textpartie gänzlich anders. 60 In w/ i fehlt das Verspaar über die Lauterkeit und Reinheit der Minne und in p 1 steht an Stelle dieser Verse eine ganz andere Formulierung: das man davon mynnen müg/ merk wer zu der mynn tüg (82r). 61 Ähnlich auch im Epilog von Don. 104: und ist so kranck ir orden/ daz sy wal ist worden (132v). laturen für das ‚Herzmaere‘ überliefern, könnten auch diese die Titelkonzeption im Cgm 714 geprägt haben. 57 Wie in den meisten Überlieferungsträgern wird im Prolog Gottfried von Straßburg als Referenz genannt, auch sonst stimmt die Prologgestaltung weitgehend mit der aus der Edi‐ tion vertrauten Textform überein. Allerdings gibt es einige Wortdivergenzen, die andere Akzentuierungen bedingen. Verschiedene Lexeme, die explizit auf die Wertsemantiken der Liebe rekurrieren, werden durch andere Formulierungen ersetzt. So heißt es recht allge‐ mein, dass das Gedicht von guten dingen sayt (147r), nicht von ganzer liebe (H; l; S/ Ed.V. 7). 58 Auch will das ‚Herzmaere‘ hier Sagen vnd auch singen/ Von werltlichen dingen (147v), wo es sonst von herzeclichen dingen (H/ Ed.V. 14), groz lieben dingen (l) oder minneclichen dingen (w/ i+p 1 ; S) heißt. Der Prolog im Cgm 714 akzentuiert damit weniger als die übrigen Redaktionen die Auratisierung oder Eigenwertigkeit der Liebe und betont die weltliche Ausrichtung der Protagonistenliebe. Auch dass es hier der Pfad der hohen mynne (147r) und nicht der wâren mynne (H; l; S/ Ed.V. 10) ist, 59 der betreten wird, kann eine andere Lesart stützen, indem an die Stelle der positiv konnotierten wahren Liebe das Konzept der Hohen Minne tritt, das deutlicher die ambigen Implikationen des literarischen Minnediskurses trägt. Eine Umakzentuierung durch eine geänderte grammatikalische Bezugnahme findet sich in den Schlussversen des Prologs: Ein bilde daz der minne tüge Ain pild das der mynne tug Diu lûter unde reine Das lawter vnd raine Sol sîn vor allem meine (S; l; Ko/ Ed.V. 26ff.). Schol sein vor aller meine (m, 147v). 60 Bezieht sich die Lauterkeit und Reinheit im Cgm 714 auf das Bild, ist es in anderen Hand‐ schriften dagegen die Minne selber, der die Werteigenschaften zugeschrieben werden; auch hierin kann eine geringere Wertzuweisung an die Liebe im Cgm 714 gelesen werden. Im Handlungsteil tritt gleich zu Beginn eine unikale Formulierung in Erscheinung: die mynne was yr payder/ so gewalltig worden/ sie traten baide in yren orden (148r). Der Orden der Minne findet sich in keinem anderen der ‚Herzmaere‘-Prologe, er stellt eine besonders anschauliche Verbildlichung der vollkommenen Ausrichtung der Protagonisten auf ihre (weltliche) Liebe dar und korrespondiert mit einer Formulierung aus dem Epilog: So ist sie nu vail worden/ Vnd ist so krank in yrm orden (160v). 61 123 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 62 Fast identisch in S; l; Ko. Die Gruppe w/ i+p 1 führt den zam-wilde Vergleich übereinstimmend nicht auf. 63 Zur Rolle des Ehemannes im ‚Herzmaere‘ siehe S. 181f. In den übrigen Überlieferungsträgern wird mit großer Übereinstimmung erzählt, dass die Liebe so groß ist, dass sie mit Worten nicht beschrieben werden kann: Daz nimmer mocht ir liber kraft/ Mit worten werden vollenpracht (H, 346v; in den übrigen Handschriften ähn‐ lich). Dagegen steht im Cgm 714: Das mit yr haben lieb pulschaft/ Mit red wird zu ainander praht (148r). Dass die in den übrigen Redaktionen gebrauchte Formulierung von der Kraft der Liebe durch pulschaft ersetzt wird, betont ein tatsächliches Liebesverhältnis anstelle einer allgemein metaphysischen und positiv konnotierten Kraft der Minne. Keine der be‐ schriebenen Lexem-Varianten im Prolog des Cgm 714 verändert die Textaussagen wesent‐ lich gegenüber den übrigen Prologfassungen, in der Summe bedingen sie aber eine gerin‐ gere Positivierung der Minne, als sie in den übrigen Textzeugen fassbar ist. Auch im Handlungsteil stehen verschiedene unikal gebrauchte Lexeme, von denen einige zumindest die Möglichkeit gezielter Umakzentuierungen nahelegen. So spricht der Ehe‐ mann, als er den Plan der Jerusalemfahrt entwickelt, nicht von dem schaden (H; l; S; Ko) bzw. der schenden (w/ i) oder schanden (p 1 ), den seine Frau ihm durch ihre offensichtliche Liebe zu dem Ritter bringen könnte, sondern von dem laster (149v), was die moralische Problematik der ehebrecherischen Protagonistenliebe akzentuiert. Nicht aufgeführt ist ein Verspaar, das in einem Teil der übrigen Überlieferung die Treue der Frau akzentuiert: Do die vrawe stete/ Daz herze gezzen herte (H, 348v; ähnlich in S; l; Ko). Auffällig ist die Ausgestaltung des wilde-zam-Vergleiches, das dem Ehemann in den Mund gelegt wird. Während die übrigen Handschriften diesen in einem Sprachspiel über die Liebeskrankheit des Ritters gestalten, formuliert der Cgm 714 anders: Den freuden wilde ane spot Dein freunt wild sünder on spot Den sorgen zam an vnder las (H, 348v). 62 Dem sorgsam zam on vnterlas (m, 158v). So wird in der Münchner Handschrift durch geringfügige Modifikationen des Verspaares nicht mehr das bereitwillig erduldete Liebesleid des Ritters rezitiert, sondern es werden ganz andere Implikationen aufgerufen: wild wird zum Attribut des Ritters, der außerdem ein Sünder ist. Aus der Verbildlichung der asketischen Haltung des Liebeskranken wird ein Tadel der Zügellosigkeit; der Ritter verdankt sein Schicksal seiner eigenen Unvernunft. Diese Variante fügt sich zwar ebenfalls plausibel in die Handlungslogik des Textes ein, reduziert aber die Ambivalenz der Figur des Ehemannes. Dieser ist im ‚Herzmaere‘ para‐ doxerweise sowohl Antagonist der Liebeshandlung als auch die Instanz, die das besondere Liebesopfer des Ritters erkennt und poetisch artikuliert. Indem der wilde-zam-Vergleich zum Tadel gerät, wird diese widersprüchliche Funktion der Figur zum Teil nivelliert. 63 Eine signifikante Abweichung findet sich bei dem Bekenntnis der Frau, als sie Kenntnis über den Verzehr des Herzens erlangt, künftig keine andere Speise mehr zu sich zu nehmen. Die übrigen Überlieferungsträger führen hier übereinstimmend einige Verse auf, in denen die Frau Gott anruft: Got verbiete mir durch sinen mut / Das nach so werder spise gut / In mich kein swach gerichte ge (H, 349r; in allen übrigen Handschriften ähnlich). Diese Verse finden 124 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 64 „Der echte alte Schluss […] ist in erträglicher Form nur in D [Don. 104], arg verstümmelt in N [Cgm 714] enthalten.“ Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. XX. 65 V. 542-547, 557-560, 564-566 in der Textausgabe. sich im Cgm 714 nicht, die Rede der Frau ist an dieser Stelle der unmittelbaren Bezugnahme des Geschehens auf Gott entkleidet. Der markanteste Unterschied zu der übrigen Überlieferung findet sich aber in der Ge‐ staltung der Schlussrede. Der Cgm 714 überliefert als einziger Textzeuge neben Don. 104 den sogenannten ‚echten‘ Schluss des ‚Herzmaere‘, allerdings in deutlich kürzerer Form. 64 In der Münchner Handschrift sind gegenüber Don. 104 einige signifikante Textstellen nicht enthalten. Der Klage über die gegenwärtige Zeit und dem Vergleich zur vergangenen, lûterlichen minne fehlen unter anderem die folgenden in Don. 104 enthaltenen Verweise, dass wahrhaft Liebende füreinander den Tod und körperliche Schmerzen erleiden würden: Das sy dez grimen todes pin(t) Nü durch ainander liden Man slaichst ez ab der widen Ein bast vil stercker mit der hant Denn iezo sy der mine bant Da nü lieb bi liebi lit […] So durch yr süssikait so güt Daz durch sy manig edel müt Bisz vff den tot verseret waz Nun merckent sy ir art baz […] Dar vmb ieman lüzel tüt Durch sy nü dem libe we Man wil dar vff nit achten me (l, 132v). 65 Diese wiederholte Profilierung außerordentlicher Leidensbereitschaft als Kennzeichen wahrer Liebe bestimmt wesentlich die Geltungsaussage der elaborierten Schlussrede in Don. 104, sie bewirkt eine positivierende Perspektive auf die zuvor verhandelte Protago‐ nistenliebe. Während die Schlussrede in Don. 104 die besondere Exemplarizität und Ex‐ zeptionalität der vorgeführten Minne hervorhebt, stellt die kürzere Redaktion im Cgm 714 dies weitaus weniger exponiert heraus. Bemerkenswert ist aber vor allem die Gestaltung der Schlussverse. In Don. 104 wird hier zum besten Handeln um der reinen Liebe willen aufgefordert, gefolgt von der Ermunterung der edelen herzen: Wer als rain sine hat Das er daz best gern tüt Der sol disz mer in sinen müt Dar vmb setzen gerne Das er da by gelerne 125 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 66 Siehe auch S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, S. 474: „Dann bringt Handschrift N sechs etwas verworren erscheinende Zeilen, in denen das Ende der Geschichte ange‐ kündigt wird und vom guten Rat des Freundes für den Freund die Rede ist. Ein einleuchtender Zu‐ sammenhang zu dem sonstigen Text fehlt“. 67 Für den Hinweis auf den ‚WvO‘ als Quelle der Schlussverse danke ich Annina Sczesny. 68 Zitiert nach Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens, hg. J U N K . Die Edition basiert auf dem Karlsruher Codex Don. 74, einer Pergamenthandschrift aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts. Die mine luterlichenn tragen Kain edel hertz sol verzagen (l, 132v; Ed.V. 582-588). Während Don. 104 eine Verbindung zwischen vollkommener ethischer Gesinnung und der erzählten Geschichte formuliert, die explizit zu einer Anleitung für die Wertschätzung der Liebe erklärt wird, steht im Cgm 714 an dieser Stelle eine rätselhafte und gleichzeitig all‐ gemein klingende Sentenz über guten Rat unter Freunden. Dieser Schlussfassung ist im Gegensatz zu der Redaktion in l kein Fortwirken der erzählten Liebesgeschichte innerhalb der aufgerufenen Publikumsgemeinschaft eingeschrieben, vor allem aber scheint sie wenig zu der erzählten Geschichte zu passen: 66 Von wirczpurk der cunrat Ditz ain zil genumen hat Welch mein freunt meins freunds rat Er zaygen on missethat Vnd mich niht enpfilcht yrrlat Das ist ain freuntlich rat Der leg an mich der trewen wat Wer mein freunt sey der geb mir guten rat (161r). [Abb. 2, S. 167] Die Textpartie ist in ihren grammatikalischen und semantischen Bezügen nicht eindeutig zu bestimmen. So lässt sich nicht verbindlich entscheiden, wie die beiden Versteile Welch mein freunt und meins freunds rat auf einander Bezug nehmen und was es mit dem freund‐ schaftlichen Rat auf sich hat, der zur Ehre gereichen und den Erzähler nicht irren lassen soll. Unmissverständlich ist einzig der Schlussvers: Wer mein Freund sei, der gebe mir guten Rat. Der Textschluss entspricht weitgehend den Schlussversen des gleichfalls im 13. Jahr‐ hundert entstandenen ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von Ems, die in das ‚Herzmaere‘ integriert wurden: 67 Swas min frunt mir fruindes rat Ir zaiget an missetat, Ob mir der rat staten stat Unde mich niht under wegen lat, Der lait an mich der truwen wat Und tut mir wol, swie ez ergat. Dis ist ain vriuntlich getat. Nu helfe uns der erbermde sat! Dis mare alhie an ende hat. (V. 15681-15689). 68 126 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 69 Vgl. W A L L I C Z E K , ‚Rudolf von Ems‘ in 2 VL 8, Sp. 334f. Bei 12 der insgsamt über 30 Textzeugen des ‚WvO‘ handelt es sich um Papierhandschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert 70 Vgl. W A C H I N G E R , Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert. 71 H A U G , Rudolfs ‚Willehalm‘ und Gottfrieds ‚Tristan‘, S. 93. Der Textschluss des ‚WvO‘ ist zwar in Umfang und genauer Formulierung divergent über‐ liefert, gemeinsam ist den Handschriften aber die Aussage guten freundschaftlichen Rates, der vor Irrtümern bewahrt, sowie das Motiv des Treuekleids. Eine Konkretisierung, wer den Rat zu welchem Zweck erteilen soll, lässt sich auch diesem Text nicht entnehmen. Die Bitte um Rat folgt im ‚WvO‘ auf die Quellenhistorie und die Nennung des Auftraggebers: Der Verfasser bezeichnet sich als Auftragnehmer des königlichen Schenken Konrad von Winterstetten, er widmet seine Dichtung aber auch allen tugendliebenden Männern und Frauen und damit einem ähnlich idealen Publikum wie dem in Gottfrieds ‚Tristan‘ entwor‐ fenen (T: V. 15668-15680). Während das ‚Herzmaere‘ sonst durchgängig in Reimpaaren verfasst ist, haben die aus dem ‚WvO‘ adaptierten Schlussverse alle den gleichen Endreim; die Textmontage wurde nicht über eine Homogenisierung des Reimschemas kaschiert. Auch im ‚WvO‘ sind die Schlussverse von dem übrigen im Reimpaarschema verfassten Text abgesetzt, Rudolf von Ems setzt diese Form metrischer Markierung häufiger ein, um bestimmte Aussagen und Textpartien hervorzuheben. Möglicherweise hat der Schreiber des Cgm 714 das Verfahren der metrischen Betonung der Schlussverse bzw. der hier formulierten Belehrung gezielt in das ‚Herzmaere‘ überführt. Ein Grund für die Einbindung von Rudolfs Schlussversen mag die Bekanntheit und große Verbreitung seines Œuvres gewesen sein, die eine besondere Verwendbarkeit für andere Kontexte bedingt. Rudolf von Ems steht für eine Werkkonzeption mit einer prägnanten moraldidaktischen Ausrichtung und gehörte auch im 15. Jahrhundert zum literarischen Kanon. 69 Eine inhaltliche Beziehung zwischen den Texten besteht in der gemeinsamen Rekurrenz auf Gottfrieds ‚Tristan‘. 70 Das thematische Gesamtkonzept der Kinderliebe von Willehalm und Amelie, die nach gewaltsamer Trennung durch Gefangennahme und Verbannung Wil‐ lehalms am Ende wieder vereint werden, wurde auch als „kritische[n] Kontrafaktur“ des ‚Tristan‘ gelesen, 71 indem es der Tristanliebe ein Modell der Harmonisierung von Minne und gesellschaftlichen Anforderungen gegenüberstelle. Ritterliche Bewährung ist dabei ein wichtiges Moment, denn Willehalm ist mehrfach als Retter der Bedrängten erfolgreich, bevor er durch Hochzeit und Herrschaftsgewinn die endgültige Restitution erlangt. Das Muster adliger Lebensführung, die formvollendeten Minnedienst einschließt, ist wesentli‐ cher Gegenstand der Darstellung. Vielleicht soll durch die Übernahme des Textschlusses das im ‚WvO‘ vorgestellte Modell gelungener und gesellschaftlich anerkannter Liebesver‐ wirklichung kontrastierend in das ‚Herzmaere‘ appliziert werden. Abgesehen von gemeinsamen Rekurrenzen auf Gottfrieds ‚Tristan‘ und einer möglichen Berufung auf Rudolfs belehrende Werkkonzeption fehlt ein konkreter Bezug der Schluss‐ verse zum Inhalt des ‚Herzmaere‘. In der Einzellektüre ist die Schlusssentenz nur bedingt sinnstiftend für den Erzählinhalt, im Sammlungskontext ergeben sich aus der Rede über guten Rat aber mögliche Deutungshinweise und Bezugnahmen auf die Co-Texte, was im Folgenden durch eine Betrachtung der Textumgebung nachvollzogen werden soll. 127 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 72 M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 115. 73 In Karlsruhe 408 ist ‚Der Minne Kraft‘ als eigenständiger Text aufgeführt. 74 Vgl. F R I E D R I C H , Poetik des Liebestodes, S. 246. 75 Vgl. K U L L Y , ‚Der Schüler von Paris‘ in 2 VL 8, Sp. 867ff.; G R U B MÜL L E R , Mittelalterliche Novellistik, S. 1133. Von den acht im Cgm 714 tradierten Versnovellen behandeln drei das Motiv des wechsel‐ seitigen Liebestodes, nämlich ‚Der Schüler von Paris‘, die ‚Frauentreue‘ sowie das ‚Herz‐ maere‘. Mihm geht davon aus, dass diese Zusammenstellung zufällig ist, da der Kompilator „keinen Zugang zu den großen Kollektionen dieser Gattung“ hatte. 72 Aber das Heraus‐ greifen der drei exzeptionellsten Vertreter von Erzählungen über den wechselseitigen Lie‐ bestod spricht nicht für einen Überlieferungszufall, sondern legt eine konzeptionelle Zu‐ sammenstellung nahe. Die erste Liebestodgeschichte, ‚Der Schüler von Paris‘ (19), erscheint im Cgm 714 in direktem Verbund mit der anonym überlieferten Minnerede ‚Der Minne Kraft‘ (20), die topisch die große Macht der Minne und ihre vielfältigen Wirkungen benennt. ‚Der Minne Kraft‘ fungiert im Cgm 714 als Epilog des ‚Schüler von Paris‘, wogegen die Minnerede in der Parallelüberlieferung als ein eigenständiger Text tradiert wurde. 73 Im Cgm 714 sind die beiden Dichtungen als ein zusammenhängender Text gestaltet; wie bei den anderen Text‐ verbünden im Codex werden sie ohne Markierung aneinandergefügt und sowohl im Text als auch im vorangestellten Register unter dem gemeinsamen Titel ‚Der mit der grossen mynne kraft‘ aufgeführt. [Abb. 3, S. 168] Die Protagonisten der Liebeshandlung in ‚Der Schüler von Paris‘ sind ein junger adliger Schüler und die Tochter eines Pariser Bürgers. Der Liebestod des Mannes resultiert hier, anders als im ‚Herzmaere‘, nicht aus Trennung und Liebesschmerz, sondern im Gegenteil aus übermäßiger Liebesfreude bei der lang ersehnten Vereinigung mit der Geliebten: so grosser frewden er sich flaiß/ Das ym sein junges hercz rayss (101r). Das klagende Mädchen wünscht sich augenblicklich den eigenen Tod, der sie wenig später auch ereilt, als sie an der Bahre des Schülers an gebrochenem Herzen stirbt. Der Tod der Frau ist als Vergelten der ultimativen Liebesgabe gestaltet, durch das Opfer ihres eigenen Lebens wird die Sym‐ metrie der Minne wiederhergestellt. 74 Der Cgm 714 überliefert den ‚Schüler von Paris‘ als einzige Handschrift in der Fassung C, deren Entstehung auf die Wende des 13./ 14. Jahrhunderts datiert wird. 75 Diese unter‐ scheidet sich nicht nur durch die Einbindung der Minnerede von den Fassungen A und B, sondern auch durch die Ausführung der Elternvorgeschichte und der profunden Ausbil‐ dung des Schülers, die als Reminiszenzen des höfischen Romans den ritterlich-höfischen Kontext betonen. Weiterhin wird die Begegnung der Liebenden divergent gestaltet: Wäh‐ rend das Mädchen in A und B übergroßer elterlicher huote unterstellt und in einem Turm eingeschlossen ist, in den der Schüler erst nach einer umfangreichen List eindringen kann, gestaltet sich die Begegnung in C recht mühelos. Der Schüler als gern gesehener Gast im Haus der Eltern kann im Rahmen eines Gastmahls problemlos ein heimliches Stelldichein im Garten verabreden. Auch schafft das Mädchen in der C-Fassung den toten Schüler nicht heimlich fort und legt ihn vor ein anderes Haus, sondern sie lässt den Toten im Garten zurück. Die C-Version ist ohne die herausgestellte huote und das umständliche Listhandeln stärker an das Muster einer normgerechten höfischen Liebesentstehung angelehnt, vor der 128 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 76 F R I E D R I C H , Poetik des Liebestodes, S. 248, beschreibt den wechselseitigen Liebestod als eine „topische Inversionsfigur, die Analogie und Differenz zum Happy-End-Schema bildet: Dass nämlich wahre Liebe unauflösliche Bindungen bis in den gemeinsamen Liebestod hinein herstellt.“ der Tod durch Liebesfreuden einen markanten Bruch mit Rezeptionserwartungen darstellt und damit eine andere Intensität erhält. Weiterhin steht im Cgm 714 der Erzählung ein Promythion voran, das vor übergroßer Minne warnt und den Ratschlag formuliert, sich in der Liebe zu mäßigen: Wer nach herczen liebe ringet Davon das yn die mynn twinget Vnd sein hercz so gewenet Das er sich nach lieb senet Dem wil ich raten in meim geticht Ob ym von lieb lieb geschicht Das er sich an frewden mazze Und unmasse lieb laße Das ym davon kain schad pestee Davon sein frewd zergee […] In vnuerwintlich vngemach Als zwayen lieben geschach Die etwen auch payde Sulch lieb vnd sulch layde So gar vber maz pflagen Davon sie payde tot gelagen (91r). Auch die Fassung B beginnt mit einem Promythion, das die Erzählung von dem beklagens‐ werten Schicksal der Liebenden einleitet. Während die Vorrede in B aber einen emphati‐ schen, die Macht der Minne auratisierenden Duktus hat, gestaltet C den Prolog als eine dezidierte Mahnung vor zu großer Liebe. Die angekündigte Geschichte wird nicht nur aus‐ drücklich als abschreckendes Beispiel angekündigt, um die einleitende Warnung vor zu großer Liebe zu untermauern; das Unmaß in der Liebe wird auch explizit als Grund für den Tod der Liebenden genannt. In dieser durch die Vorrede geprägten Lesart wird eine dem Motiv des Liebestodes implizite ästhetisierende Lesart als Vereinigung der Liebenden ge‐ mindert, 76 indem das Sterben bzw. das ihm vorausgehende Liebeshandeln ausdrücklich problematisiert wird. ‚Der Schüler von Paris‘ C endet mit der Beschreibung des gemeinsamen Begräbnisses der Liebenden, daran schließt der ‚Der Minne Kraft‘ an, ohne dass ein optischer oder se‐ mantischer Bruch erkennbar wird: In ain grab man sie pegrub Die zway lieben paide Die mynn ließ yr nit schayden Die sie pey dem leben Zu sammen het geben 129 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses Nu seht alle was gewalt Beginn ‚Der Minne Kraft‘ Der mynne kraft hat gezalt Vnd gestellet in allen tagen Niemant kann volsagen Ir kunst yr kraft Yr groß maysterschaft (106v; 107r). Die Minnerede beschreibt in einer Auflistung typischer Bilder und Minneparadoxien die große Macht der Liebe, z.B. Ir gewalt der ist so prayt/ Sie gibt liep sie gibt layt (107r); Sie kann haylen vnd wunden; Sie ist bitter vnd süß (107v). Besonders Wendungen wie Sie kann on waffen morden/ Sie kann pinden on hant (108r) erhalten nach der vorstehenden Erzählung und der mahnenden Vorrede eine andere, bedrohliche Konnotation. Nach dem Präludium des tragischen Sterbens der Protagonisten liest sich ‚Der Minne Kraft‘ weniger als eine staunende Auratisierung der großen Macht der Liebe denn als ein abschließendes Fazit, das den Aspekt unkontrollierbarer Gefährdung betont. Auf diese Texteinheit folgt ein Arrangement von vier Erzählungen, zu denen auch das ‚Herzmaere‘ gehört und das durch visuelle und inhaltliche Gestaltungsmittel als eine be‐ sonders fest gefügte Textgruppe in Erscheinung tritt. Dass der vorangestellte ‚Schüler von Paris‘ auf diesen Textblock Bezug nimmt, gewissermaßen einleitende Funktion hat, wird neben der thematischen Analogie der Liebestoderzählungen auch über die Gestaltung der Schlussverse nahegelegt. Die abschließenden Verse des ‚Schüler von Paris‘ bzw. von ‚Der Minne Kraft‘ können semantisch mit dem Titel des ersten Textes im folgenden Block zu‐ sammen gelesen werden - so heißt es: Got mach uns alle teilhaft Freuden in dem himelreich Des wünscht lieben alle gleich Ende ‚Der Minne Kraft‘ Der Ritter mit den selen (108v) Titel des folgenden ‚Der Württemberger‘ Die so eingeleitete und für den Cgm 714 zentrale Textformation besteht aus den beiden Reimpaarerzählungen ‚Der Württemberger‘ (21) und ‚Der Ritter in der Kapelle‘ (22) sowie aus den Versnovellen ‚Frauentreue‘ (23) und ‚Herzmaere‘ (24). Die Gruppe sticht durch eine vereinheitlichte Titulatur hervor, die alle Werktitel mit „Der Ritter“ beginnen lässt - so heißt es ‚Der ritter mit den selen‘ ‚Der ritter in der cappellen‘, ‚Der ritter mit dem glen reiten‘ ‚Der ritter mit dem herczen‘. 130 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 77 ‚Der Württemberger‘: Des von Wirtenberk pueh (Wien 2885), Der Wirtenberger (Karlsruhe 408), un‐ betitelt bzw. nicht erkennbar im Cgm 5919 und Wien Cod. ser. nova 20231. ‚Die Frauentreue‘: Ditz buchel heizet der vrowen triuwe/ Got helf vns mit gantzer riuwe (Cpg 341, fast identisch in Bodm. 72); unbetitelt in Don. 104 und Berlin mgo 186; eine weitere fragmentarisch erhaltene Handschrift über‐ liefert Textanfang und Titulatur nicht. Zu den Titulaturen der ‚Herzmaere‘-Überlieferung siehe S. 122f. Einzig der ‚Der Ritter in der Kapelle‘ ist mit ähnlichen Titulaturen überliefert. 78 Die übrigen Dichtungen im Codex sind mit maximal 3 Alinea-Zeichen versehen, siehe die Hand‐ schriftenbeschreibung des Cgm 714, S. 105. 79 Die fünf Überlieferungsträger des ‚Württemberger‘ kennzeichnet eine große Divergenz in Umfang und Textgestalt (Wien, Cod. 2885; Karlsruhe 408; Cgm 714; Cgm 5919; Wien, Cod. ser. nova 20231), eine Hierarchie oder Genese lässt sich dabei nicht rekonstruieren. Vgl. zu den ersten vier Hand‐ schriften den synoptischen Abdruck bei H E I N Z L E , Der Württemberger. Die Heinzle noch nicht be‐ kannte Redaktion des ‚Württembergers‘ im Wiener Cod. ser. nova 20231, die auf Grund der starken Beschädigung der Handschrift nur fragmentarisch erhalten ist, weist Pausch als eine mit der Redak‐ tion des Cgm 5919 praktisch wörtlich übereinstimmende Überlieferung aus (vgl. P A U S C H , Eine Bai‐ risch-Österreichische Überlieferungskette des Württembergers, S. 11f). Der Cgm 714 überliefert die längste Redaktion, in der einige Motive und Details umfangreicher ausgeführt werden, ohne dass dies eine unmittelbare Bedeutung für die Handlungsmotivierung hat. Die Ortsnennung Württem‐ berg, die in den Redaktionen in Wien 2885 und in Karlsruhe 408 auch titelgebend ist, bezieht sich nur mittelbar auf den Protagonisten. Der Name bezeichnet eine Burg im Schwabenland, die einem Herrn Hartmann gehört, als dessen Ritter bzw. Dienstmann Ulrich eingeführt wird (fol. 109r). Die Titulaturen sind außerordentlich prägnant, weil sie in den übrigen Textzeugen größ‐ tenteils anders überliefert werden. 77 Die Textüberschriften evozieren einen Zusammenhang innerhalb dieser Textgruppe, der im Register besonders augenscheinlich ist und durch wei‐ tere formale Kriterien verstärkt wird. So ist die Gruppe im Register durch einen größeren Abstand zu den vorhergehenden und nachfolgenden Texten sowie durch eine größere Ini‐ tiale des ersten Titels gekennzeichnet. Ein vorangestelltes Register ermöglicht oder er‐ leichtert eigentlich eine vereinzelte Lektüre der Texte einer Sammelhandschrift; durch die offensichtliche Gestaltung als Gruppe wird bei diesen Texten aber gerade über das Register eine zusammenhängende Rezeption nahegelegt. [Abb. 4, S. 169] Weiterhin wird die Text‐ gruppe im Codex optisch durch die außergewöhnlich große Anzahl von Alinea-Zeichen hervorgehoben, mit denen die ersten beiden Dichtungen versehen sind. Zumeist stehen diese neben Versen, die Sprechhandlungen bzw. Sprecherwechsel zum Gegenstand haben und in der Regel durch die Präteritumform sprach markiert sind. 78 ‚Der Württemberger‘ führt insgesamt 29 Zeichen auf, 22 davon an Versen mit sprach, in ‚Der Ritter in der Kapelle‘ sind es sogar 52 bzw. 39. Neben den Hervorhebungen und formalen Analogisierungen gibt es auch auf inhaltlicher Ebene auffällige Korrespondenzen und Zusammenhänge zwischen den Texten der Ritter-Gruppe. Im ‚Württemberger‘ spielen die Themen Ehebruch sowie Reue, Beichte und Buße eine große Rolle, indem die Erzählung sehr plastisch die jenseitigen Strafen für Ehe‐ bruch vorführt und zu rechtzeitiger Buße gemahnt. 79 Es wird die aventiurehaft gestaltete Jenseitsreise des Ritters Ulrich geschildert, der beim Ausreiten einer Gesellschaft von Rit‐ tern und Frauen zu Pferde begegnet, darunter einer allein reitenden Dame, der er Begleitung anbietet (111r). Die Dame erklärt Ulrich die Ritter und Frauen als eine Gesellschaft von Verstorbenen, die zu Lebzeiten Ehebruch begangen haben und die dafür jeweils gemeinsam mit ihrem Ehebruchpartner durch das Jenseits reiten und ihre Sünden durch andauernde Höllenqualen büßen müssen. Dass Buhlschaft hier als eine genuin ritterlich-höfische Prob‐ 131 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 80 Str. 340-353: Aventiure wie der Ulrich sinen vinger verlos. Vgl. Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst, hg. S P E C H T L E R . lematik verhandelt wird, macht neben dem ausschließlich adligen Figurenpersonal eine Äußerung der Dame deutlich, die unikal in der Redaktion des Cgm 714 steht: Ich lasz euch schier sehen/ Von bulern ain ritterschafft (118v). Konsequenterweise orientieren sich die jenseitigen Strafen am Modus höfischer Lebensart: Ulrich offenbart sich eine Szenerie, die mit den topischen Darstellungsmustern von höfischer Festivität und Freude geschildert ist. Es gibt Festessen, Turnier und Tanz, aber die höfischen Freuden erweisen sich - für Ulrich zunächst nicht sichtbar - tatsächlich als Qualen, indem das Essen aus Kröten, Schlangen und Galle besteht und die Verdammten in Wahrheit die ganze Zeit im Höllenfeuer brennen und gezwungen sind, dabei die rituellen Handlungen höfischer Lebensführung zu voll‐ ziehen. Der ‚Württemberger‘ inszeniert die Anforderungen des höfischen Minnedienstes als Ge‐ fährdung: Wenn Ulrich der allein reitenden Dame Begleitung anbietet, Turnier reiten und sie zum Tanzen auffordern will, handelt er gemäß dem Protokoll eines höfischen Minne‐ ritters. Das courtoise Verhalten wird aber nicht belohnt, denn nur knapp entgeht er bei der Berührung der Dame, als er sie zum Tanz auffordert, dem Tod. Die Elemente höfischer Festlichkeit werden als Herausforderung an die Selbstkontrolle Ulrichs gestaltet, der wie‐ derholt versagt. Trotz der Warnung der Dame greift er nach dem verführerisch riechenden Essen und erleidet schwere Verbrennungen, durch die er vier seiner Finger verliert (116r). Seine Finger bleiben auch bei der Rückkehr in die Welt der Lebenden verbrannt und in ihrer mahnenden Zeichenhaftigkeit erhalten, eine Anspielung auf den als Liebesbeweis abge‐ schlagenen Finger in Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauendienst‘ ist auch auf Grund der Na‐ mensanalogie vorstellbar. 80 Der einzige Dienst, den die Dame annimmt, ist ein transzendenter: Ulrich bietet der Dame seine Hilfe an, er möchte für sie Buße tun, um sie von den Qualen zu erlösen. Die Dame beteuert, dass für sie selbst jede Hilfe zu spät sei, da sie es zu Lebzeiten versäumt habe, ihre Sünden zu beichten. Stattdessen bittet sie Ulrich, den noch lebenden Mann, mit dem sie die Ehe gebrochen hat, in ihrem Namen zu warnen und zu rechtzeitiger Buße zu bewegen, damit wenigstens ihm die jenseitige Strafe erspart bleibt. Der Ritter folgt ihrem Wunsch, das Schicksal und die Mahnung der Frau bringen sowohl Ulrich als auch den ehemaligen Liebhaber dazu, Buße zu leisten und fortan gottesfürchtig zu leben. Beide Männer nehmen das Kreuz und gehen im Dienst Gottes ins Heilige Land, die Erzählung verkündet, dass ihnen Vergebung und Seelenheil gewiss sind. In der Schluss‐ rede wird ein ausdrücklicher Ratschlag formuliert: Wer die Ehe gebrochen hat, der soll unbedingt seine Sünden bekennen und Buße tun, das sichert ihm das ewige Leben; hätte die Dame diesen Rat befolgt, wäre auch ihre Not nicht so groß. Der Text schließt mit einer Marienanrufung, die die Bedeutung der Beichte nochmals akzentuiert: 132 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 81 Auch in anderen Passagen kommt in der Redaktion des Cgm 714 eine ähnliche Akzentuierung der geistlichen Implikationen zum Tragen, etwa wenn schon beim Abschied von der Dame erklärt wird, dass die große Reue, die Ulrichs Herz ergriffen hat, ihm wohltut, dass er Gottes Gericht gesehen hat und in die Schar der Seeligen aufgenommen wird (124r, 124v). 82 Die Teufelserzählung ist in insgesamt sieben, zum Teil nur fragmentarisch erhaltenen Handschriften überliefert. Offenbar hatte der Text einen besonderen Stellenwert im Nürnberger Literaturbetrieb, denn neben dem Cgm 714 sind zwei weitere Überlieferungsträger in Nürnberg entstanden, die den ‚Ritter in der Kapelle‘ im Kontext von Dichtungen Rosenplüts und von Fastnachtspielen aufführen. Auffällig ist, dass der ‚Ritter in der Kapelle‘ auch in dezidiert geistlichen Sammlungen zu finden ist, wo er im Kontext von Beichtspiegeln und Texten zur Ablass- und Messpraxis aufgeführt wird; der Text führt beispielhaft die prinzipielle Offenheit zwischen dezidiert geistlichen und weltlichen Über‐ lieferungstraditionen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vor Augen. Der Stoff kommt ur‐ sprünglich aus der Exempeltradition, es ist sowohl eine mittellateinische als auch eine mittelhoch‐ deutsche Exempelfassung überliefert. Alle Bearbeitungen kommen im Kern zu dem gleichen Ergebnis: Ein Sünder wird durch die Bußhandlung zu einem guten Menschen und erhält Heilsge‐ wissheit. Die inhaltlichen Akzentuierungen divergieren aber deutlich, indem die Exempelfassungen den Fokus stärker auf die theologische Frage nach dem Umgang mit Beicht-Unwilligen und dem richtigen Verhältnis von Verfehlungen und Bußleistungen richten und den Glaubenskampf des Rit‐ ters sowie die Reflexionen zur Beicht- und Bußauffassung in den Mittelpunkt stellen. Die Reim‐ paardichtung gibt dagegen dem Wettkampf der Teufel um die Seele des Ritters großen Raum. Vgl. S L E N C Z K A , Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle, S. 66-89; E I‐ C H E N B E R G E R , Geistliches Erzählen, S. 383-398. Wer sein ee zerprochen hat Der schol sein haben gut rat Und mit rewen dy sund clagen Und dy puß darumb tragen So wirt eim darumb gegeben Vil schier das ewig leben Das gibt yn got sunder on man Het die fraw also gethan Sie wer in nöten nit also vil Die obentewr sich hie enden will Nu helff vns die hymlisch magt Das wir an keiner sund werden verzagt Sie werd gepeihtet vnd gesagt Des helff vns Maria dye rain magt (127r). Diese Schlussverse des ‚Württemberger‘ sind ein Spezifikum des Cgm 714. Die Epiloge der übrigen Redaktionen des Textes ermahnen zwar ebenfalls zur Buße, aber sie fassen diese Belehrung allgemeiner, indem sie nicht noch einmal explizit auf den Ehebruch verweisen und auch nicht die Formulierung vom guten Rat aufführen. Auch wird die Hoffnung auf bzw. die Fürbitte um Sündenvergebung nur im Cgm 714 in dieser pointierten Sakrament‐ logik von Beichte, Buße und Heilsgewissheit verhandelt. 81 Eine vergleichbare Didaxe wird in dem folgenden ‚Der Ritter in der Kapelle‘ entworfen. 82 Der hier beschriebene Ritter zeichnet sich zunächst durch ein äußerst unchristliches Leben aus, er raubt, brandschatzt und schändet Kirchen, bis er letztlich an sein Seelenheil denkt und geistlichen Beistand sucht. Nach der Beichte seiner Untaten verhandelt er die ihm 133 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 83 Slenczka legt ihrer Textedition Hs. 5339a zugrunde, die den vollständigsten Textbestand abbildet (vgl. S L E N C Z K A , Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle, S. 73). Der Cgm 714 überliefert allerdings auch einen vollständigen und intakten Text, datiert aber möglicherweise später. Da der Textbestand des ‚Ritter in der Kapelle‘ in den beiden Überlieferungsträgern fast voll‐ ständig übereinstimmt, kommt den im Folgenden beschriebenen Textdivergenzen eine besondere Signifikanz zu. gestellten Bußauflagen mehrfach in ihrer Höhe bzw. Dauer. Sieben, drei oder ein Jahr Buße sind ihm zu lang, auch Monate und Wochen akzeptiert der Ritter nicht, er besteht auf einer eintägigen Buße. Der Beichtvater gibt nach und trägt dem Ritter auf, eine Nacht in einer Kapelle zu verbringen und diese auf keinen Fall zu verlassen. Der Cgm 714 führt gegenüber der Nürnberger Handschrift 5339a an dieser Stelle einige Plusverse auf, in denen die Buß‐ auflage repetiert und an die Sakramentlogik von Buße und göttlicher Vergebung erinnert wird: 83 Das setz ich dir für dein schuld Vnd gib dir wider gotes huld Der Ritter sprach ich thu es gern Der buß wolt ich nicht enpern Ich will ain naht in der capelln pleibe Vnd darynn die zeyt vertreyben Vnd daraus kumen nicht Wie mir hallt darumb geschicht (130v). In seiner Bußnacht wird der Ritter vier mal den Anfechtungen verschiedener Luzifer un‐ terstellter Teufel ausgesetzt, die diesen durch unterschiedliche Trugbilder und Schreckens‐ szenarien in Bedrängnis bringen. Der erste Teufel erscheint dem Ritter in Gestalt seiner Schwester, von der bereits zu Beginn der Erzählung berichtet wird, dass der Ritter ihr ver‐ traut und ihren Rat wertschätzt: Die kund ym rate wol geben/ wie er sich hielt in all seim leben (127v). Anders als in der Parallelüberlieferung wird im Cgm 714 erneut auf den Rat der Schwester rekurriert: Der tewffel gar wol weste Das sie yn gar offt pat Vnd er vil volget yrem rat (131v). Der Ritter schlägt den Rat der vermeintlichen Schwester aus, die Kapelle zu verlassen und seine Burg vor einer angeblichen Gefahr zu retten. Auch bei den weiteren Anfechtungen bleibt der Ritter standhaft, weder die angedrohte Tötung seiner Kinder, ein Brand der Ka‐ pelle noch der Bann durch einen als Priester maskierten Teufel können ihn von seiner Bußhandlung abbringen. Nach seiner Rückkehr lebt der Ritter gottesfürchtig und die Er‐ lösung ist ihm gewiss. Auch im ‚Ritter in der Kapelle‘ sind die Themen Verfehlung, Beichte und Buße sowie die darauf folgende Erlösung zentral und auch dieser Text endet mit einer Schlussrede, in der ein ausdrücklicher Rat gegeben wird, bei allen Anfechtungen auf Gottes Hilfe zu vertrauen; eine Anrufung der Trinität und der Heiligen Jungfrau beschließt den Text. Dabei ist die 134 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 84 Zitiert nach dem edierten Textbestand bei S L E N C Z K A , Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle. 85 In der Motivik der Liebeswunde sind intertextuelle Anspielungen auf Anfortas im ‚Parzival‘, in der Heilung durch die Frau auf Riwalin und Blanscheflur im ‚Tristan‘ fassbar. 86 Vgl. F R I E D R I C H , Poetik des Liebestodes, S. 250. 87 Zur ‚Gabenlogik‘ des wechselseitigen Liebestodes siehe auch S. 89f. dezidierte Formulierung des Rates in den Schlussversen auch dieses Textes eine spezifische Variante des Cgm 714: Darumb so rat ich euch one spot Das wir darumb schullen piten got Wenn wir angefochten werden Vom bösen gayst hie auff erden Das vns denn pey woll sten got Und vns helffen aus aller not (m, 137v). Und darumb so ist uns auch not, das wir piten den almechtigen got (Hs. 5339a, V. 364). 84 Die auf diese beiden religiös-belehrenden Texte folgenden Versnovellen ‚Frauentreue‘ und ‚Herzmaere‘ sind bereits durch die gemeinsame Thematik des wechselseitigen Liebestodes miteinander verknüpft. In der ‚Frauentreue‘ entbrennt ein auf Frauendienst fokussierter Ritter in unbezwingbarer Liebe zu einer verheirateten Bürgersfrau. Anders als im ‚Herz‐ maere‘ steht der Liebeserfüllung aber nicht die huote des Ehemannes entgegen, sondern die Frau selber weist ihren Werber konsequent ab. Als Beweis seiner Liebe reitet der Ritter ungerüstet ein Turnier und wird lebensbedrohlich durch eine Lanze verletzt, deren Spitze in seiner Brust steckenbleibt. Die Metapher der Liebeswunde wird konsequent fortgeführt, indem er ärztliche Hilfe verweigert, nur die geliebte Frau darf die Lanzenspitze ent‐ fernen. 85 Dass die Heilung durch einen Arzt nicht möglich bzw. gewollt ist, verdeutlicht den Status der Verletzung als einer öffentlichen Liebesgabe, die eine Gegengabe der Geliebten erfordert. Da die Hilfe der Frau aber nur aus caritas und nicht aus (Gegen)Liebe erfolgt, kann die Heilung nicht funktionieren: 86 Die Liebeswunde bricht bei dem Versuch, die Frau gegen ihren Willen zu umarmen, wieder auf, der Ritter verblutet. Erst nachdem die Frau den toten Körper heimlich fortgeschafft hat, wird sie sich der Bedeutung der großen Liebe des Ritters bewusst. Sie bittet ihren Mann, dem Ritter bei der Totenfeier das Totenopfer bringen zu dürfen. In emphatisch ausgestalteter Trauergebärde bringt sie nacheinander Mantel, Kleid und Rock als Opfer dar, bis sie nur im Hemd an der Bahre des Ritters steht, wo sie beim Anblick des Toten erbleicht und ihrerseits an gebrochenem Herzen stirbt. Auf der Ebene kausaler Handlungslogik erscheint der Tod der Frau unmotiviert, hatte sie doch keine Liebesbeziehung zu dem Ritter intendiert. Ihr Liebestod erhält seine Plausi‐ bilität durch das Schema der wechselseitigen Gabenlogik, das als ein eigentlich ökonomi‐ scher Diskurs auch Bestandteil des Minnediskurses ist. 87 Die Reziprozität der Gabenbezie‐ hung wird in der ‚Frauentreue‘ nicht nur durch den Liebestod an sich, sondern auch durch die Analogien der jeweils öffentlichen Inszenierung von Turnier und Totenfeier sowie des 135 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 88 Das Hemdmotiv als „entscheidende Sinnachse“ des Textes hebt Ruh hervor (vgl. R U H , Zur Motivik und Interpretation ‚Frauentreue‘, S. 267). Witthöft verweist auf die besondere Bedeutung, die dem Hemd durch seine Körpernähe zukommt (vgl. W I T T HÖ F T , Kleidergaben im Liebes- und Freund‐ schaftsdiskurs, S. 120). Die besondere Bedeutung der Kleidung als Treuesymbol bedingt eine weitere Motivrekurrenz zum ‚Herzmaere‘, wo im Epilog mit der trewen wat ein metaphorisches Kleid der Treue genannt wird. Siehe S. 126. 89 Vgl. F R I E D R I C H , Poetik des Liebestodes, S. 250-253. 90 Vgl. B R A U N , Historische Semantik als textanalytisches Mehrebenenmodell, S. 62. 91 Neben dem Cpg 341, Bodm. 72 und dem Cgm 714 tradieren auch Don. 104 sowie eine weitere nie‐ derrheinische Textkollektion und ein Fragment die vermutlich um 1300 entstandene ‚Frauentreue‘. Ablegens von Rüstung und Kleidung akzentuiert. 88 Die ‚Frauentreue‘ steht beispielhaft für das novellistische Prinzip der Gegenüberstellung konträrer Geltungsmuster, indem das zentrale Moment der Treue aus seinem ursprünglichen Kontext in ein ganz anderes Register überführt wird: An die Stelle von sittsamer ehelicher Treue zum Ehemann tritt das em‐ phatische Bekenntnis zur Treueverpflichtung dem Ritter gegenüber, die auf den Seman‐ tiken des Minnedienstes basiert. Die ‚Frauentreue‘ inszeniert konventionelle Muster wie das Werbungsschema, Minnedienst und Minnekrankheit sowie die Logiken der Liebesgabe, aber diese werden paradox inszeniert, so dass sich die damit verbundenen Wertsemantiken relativieren. 89 Insbesondere die eingespielten religiösen Semantiken werden ihres theolo‐ gischen Sinnes entkleidet, indem der religiöse Raum der Kirche zum Ort weltlicher Liebes‐ handlungen wird: 90 Der Ritter nutzt den sonntäglichen Gottesdienst für seine Brautschau und die Frau wählt die religiöse Opferzeremonie in der Kirche als Schauplatz der Vergeltung des männlichen Liebesopfers. Neben dem Cgm 714 ist die ‚Frauentreue‘ auch in dem früher datierenden Handschrif‐ tenpaar Cpg 341 (H) und Bodm. 72 (K) überliefert. 91 Diese stellen der Erzählung ein Pro‐ mythion voran, das im Modus der laudatio temporis acti den Verfall wahrer und aufop‐ fernder Liebe beklagt, die erzählte Geschichte als positives Beispiel herausstellt und die Treue der Bürgersfrau lobt, weil sie das Opfer ihres Werbers adäquat aufgewogen hat. Im Münchner Codex ist diese Vorrede nicht enthalten, stattdessen setzt die Erzählung unmit‐ telbar mit der Beschreibung des nach Frauendienst strebenden Ritters ein. Damit verzichtet der Text in dieser Bearbeitung auf die positivierende Voreinstellung des Rezipienten, die Darstellung des sehr dem weltlichen Frauendienst verhafteten Ritters erscheint nach den voranstehenden geistlichen Texten sogar in einem problematischen Kontext. H und K be‐ schließen die ‚Frauentreue‘ mit einem ausführlichen Epimythion, in dem der Dichter zu‐ nächst diejenigen Frauen verwünscht, die ihre Werber nicht erhören. Die Protagonistin der ‚Frauentreue‘ wird dagegen erneut für ihr Opfer gelobt, für das sie von Gott gekrönt werden soll; eine Anrufung der Trinität beschließt den Text. Diese Schlussrede ist im Cgm 714 ebenfalls nicht enthalten, der die weltliche Liebeshandlung damit in einer weit weniger positivierenden Perspektive und ohne geistliche Formeln beschließt. In dem hier betrachteten Textblock evozieren die voranstehenden Texte mit ihrer klar formulierten Didaxe der Notwendigkeit von Buße und Umkehr bei weltlichen Verfehlungen eine kritische Voreinstellung bzw. Lektüre des in der ‚Frauentreue‘ thematisierten Liebes‐ geschehens, die ohne den positivierenden Prolog noch verstärkt wird. Die ‚neue‘ Treue‐ konstellation der Frau erfährt im Cgm 714 eine geringere normative Akzeptanz, als es die übrigen Überlieferungsträger vermitteln. Der exemplarische Charakter und die positive 136 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 92 Zur angedeuteten Schuldhaftigkeit der Dame, die zur alleinigen Reise des Ritters geraten hat, vgl. W A C H I N G E R , Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert, S. 73f. Siehe auch S. 91, FN 36. 93 Zu den geistlichen Semantiken im ‚Herzmaere‘ siehe S. 90-95. 94 F R I E D R I C H , Poetik des Liebestodes, S. 247. 95 Siehe auch S. 123. Wertung der wechselseitigen triuwe von Ritter und Bürgersfrau weichen einer relationa‐ leren Lesart, die den Kontext von weltlicher Verfehlung und Sünde in der Lektüre verankert. Ähnliche Implikationen von Fragwürdigkeit und Fehlverhalten bringt auch die Rede vom guten Rat, die das Epimythion des ‚Herzmaere‘ beschließt, in die Lektüre der Textgruppe ein. Für die Schlussverse, die zunächst keinen signifikanten Bezug zur erzählten Geschichte zu haben scheinen, ergeben sich im Kontext der Textgruppe vielfältige Möglichkeiten in‐ tertextueller Bezugnahmen. So gibt die Schlussrede der Wahrnehmung der Frau im ‚Herz‐ maere‘ retrospektiv eine andere Färbung, denn es war ihr Vorschlag oder Rat, der den Ge‐ liebten zur Reise ins Heilige Land bewog, wo er den Tod durch Trennungsschmerz erlitt. 92 Gleichzeitig stellt die Passage auch eine Analogie zu den ersten beiden Texten der Gruppe her, denn hier ändern die Figuren nicht nur aufgrund der Ratschläge anderer ihr Leben, es wird auch jeweils in den Schlussversen ein moralisierender Rat zur Buße gegeben. Und die Fassung C des ‚Schüler von Paris‘ formuliert, wie eingangs erwähnt, im Prolog den Rat, sich vor zu großer (weltlicher) Liebe in acht zu nehmen. Die in der Einzellektüre unmotiviert wirkende Rede vom guten Rat erscheint in diesen Rückbezügen in einem ganz anderen Kontext: sie verklammert nicht nur die einzelnen Texte miteinander, sondern eröffnet auch eine differente Rezeption des ‚Herzmaere‘ und der ‚Frauentreue‘. Die wechselseitige Durchdringung weltlicher und geistlicher Semantiken, die insbeson‐ dere dem ‚Herzmaere‘ eigen ist, 93 erfährt in der hier gestalteten Sammlungsumgebung eine spezifische Akzentuierung. In der Einzelrezeption evozieren die Texte eine Überhöhung oder zumindest deutliche Positivierung der verabsolutierten Minne. Der Liebestod des Mannes erscheint jeweils als herausragendes Opfer und die Frau folgt ihm einer reziproken Gabenlogik entsprechend nach und wird für diese Treueleistung gelobt. Der weibliche Lie‐ bestod ist in beiden Texten deutlich als Nachvollzug des männlichen Opfers gestaltet, das die Frau durch ihren eigenen Tod aufwiegt. Dem Modell sind Analogien zur Buße imma‐ nent, denn die Frauen vergelten oder sühnen die Liebesgabe, der Liebestod wird über das „christliche Opferparadigma in eine Erlösungsfigur überführt.“ 94 Diese Perspektivierung, die vor allem im ‚Herzmaere‘ im Kontext expliziter geistlicher Motive und Semantiken erfolgt, wird durch den Textverbund im Cgm 714 mehrfach ge‐ brochen. Zunächst wird mit dem ‚Schüler von Paris‘ eine Warnung vor zu großer weltlicher Liebe vorangestellt, und um eine weltliche Liebe geht es schließlich in allen Liebestodge‐ schichten. Der Prolog des ‚Herzmaere‘ im Cgm 714 kündigt sogar an, dass von werltlichen dingen erzählt wird. 95 Weiterhin liest sich die bis zur Selbstaufgabe gesteigerte Liebe zu einer verheirateten Frau nach den mahnenden geistlichen Dichtungen weniger als Aus‐ druck der ideellen Semantik des Minnedienstes, sondern es wird eine problematisierende Rezeption der außerehelichen Liebe begünstigt. Vor allem aber wird eine Opposition zwi‐ schen echter, auf Gott gerichteter Buße aufgeworfen, die tatsächliche Sündenvergebung bewirkt, und der auf weltliche Minne ausgerichteten Treue und Buße in der ‚Frauentreue‘ 137 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses und dem ‚Herzmaere‘, die zu keiner erkennbaren Erlösung führen, denn die Liebestoder‐ zählungen versprechen kein jenseitiges Heil. Während ‚Der Württemberger‘ und ‚Der Ritter in der Kapelle‘ für ihre Protagonisten explizit Sündenvergebung und die Sicherheit des ewigen Lebens verkünden, kann keiner der Protagonisten der drei Liebestoderzäh‐ lungen mit solcher Heilsgewissheit aufwarten. Die Dichotomie von echter Buße und welt‐ lichem Minnehandeln wird durch die christlichen Schlussformeln der beiden geistlichen Texte noch betont. Trotz der deutlichen Konterkarierung dieser textimmanenten Wertsemantiken wird aber der durch die Liebestoderzählungen formulierte Geltungsanspruch weltlicher Liebe und Liebeserfüllung nicht vollständig nivelliert; er steht als eigenes Konzept dem Absolutheits‐ anspruch christlicher Erlösung gegenüber. Das ‚Herzmaere‘ ist im Cgm 714 nicht nur spezifisch gestaltet, es liest sich im Kontext der Sammlung auch anders als in der vereinzelten Lektüre. Die Rezeption im Verbund mit den Co-Texten verdeutlicht, dass die Sinnstiftungen des einzelnen Textes durch die textuelle Rahmung in der Sammlung verändert werden können. Die gezielte Analyse der Einzel‐ textvarianten im Zusammenspiel mit der Sammlungsumgebung zeigt, wie eine scheinbar lose um bestimmte Themen und Motive wie Minne, Treue, Liebestod, Buße und Rat krei‐ sende Textreihe als klar konzipierte diskursive Textformation mit eigenen Bedeutungsim‐ plikationen zu Tage tritt. Schon aus der Sukzession der Texte ergibt sich eine neue Kasuistik der verhandelten Themen, es entstehen axiale Verschiebungen zwischen dem normativen Anspruch der absolut gesetzten Liebe, dem höfischen Register des Minnediskurses und den eingespielten geistlichen Semantiken. Dass die Figur des Ritters in der Textgruppe, auch durch die optische Markierung, besonders hervorgehoben wird, verweist auf ihre ambi‐ valente und konfliktreiche Positionierung zwischen den Konzepten des miles spiritualis und des höfischen Minnedieners, die besondere Möglichkeiten einer spannungsvollen Insze‐ nierung konfligierender Normensysteme bietet. Das literarische Bild des Rittertums erfährt mit der besonders markierten Darstellung im Cgm 714 eine Perspektivierung, die die prob‐ lematischen Implikationen des Konzepts akzentuiert. Das Textarrangement zeigt damit beispielhaft, wie im Cgm 714 die in den Texten insze‐ nierten Themen unter verschiedenen Perspektiven betrachtet und kasuistisch durchge‐ spielt werden. Die im ‚Herzmaere‘ und den anderen Liebestoderzählungen thematisierten Wertsemantiken der Liebe werden im Kontext ihrer Co-Texte durch diametrale Perspek‐ tiven konterkariert, die Zweifel wecken und zu veränderter Rezeption und Perspektivie‐ rung auffordern. Die diskursive Formation prägt eine zusammenhängende Lektüre, in der die eingespielten Sinnsetzungen der unterschiedlichen Texte miteinander in Beziehung ge‐ setzt werden und sich wechselseitig kommentieren. Das Gegenüberstellen unvereinbarer Wertsemantiken, das schon auf der Ebene des Einzeltextes die Poetik von ‚Herzmaere‘ und ‚Frauentreue‘ prägt, wird über die Konfiguration der Texte fortgeführt und gesteigert. Die spezifische Formgebung der Einzeltexte ist Bestandteil der Konzeption dieser Textforma‐ tion, wobei die Dichtungen nicht grundlegend umgestaltet werden, sondern gezielte Ak‐ zentuierungen erfahren. 138 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 96 Die beiden Minnereden, die jeweils mit der Verfassersignatur meister Egen de amore bzw. meister Egen versehen sind, werden bereits auf 1320-40 datiert, sind aber erst im Cgm 714 tradiert. Die Texte sind stilistisch ungewöhnlich, sie stellen zum einen die frühesten bekannten Beispiele für Minne‐ reden im geblümten Stil dar, zum anderen ist die geistliche Exposition des ersten Textes, die isoliert auch in einer weiteren Handschrift überliefert ist, ein für Minnereden unkonventionelles Element. Vgl. K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 42-44, S. 87f.; G L I E R , Artes amandi, S. 121-127; G L I E R , ‚Egen von Bamberg‘ in 2 VL 2, Sp. 363ff.. 97 Siehe S. 123. 6.3.2.3 Fünf unikale Minnereden Auf die prägnante Ritter-Gruppe folgt eine Reihe von fünf unikal im Cgm 714 überlieferten Minnereden (25-29; fol.161v-189r), die thematische Korrespondenzen, zum Teil auch de‐ zidierte Motivanalogien mit der vorangegangenen Textgemeinschaft gestalten. Die zuerst stehende ‚Klage der Minne‘ (25a) Egens von Bamberg stellt eine besonders geschlossene Minnerede dar, die himmlische und irdische Liebe ganz explizit miteinander in Beziehung setzt und der Minnethematik dadurch eine religiöse Aura verleiht. 96 Sie be‐ ginnt mit einer geistlichen Exposition, die in elaborierter Form das Wunder der Trinität beschreibt und Gott als Stifter des mynnen orden benennt, in den die Menschen eintreten sollen, um sowohl Gott als auch einander zu lieben: Er gert in seine horden Von vns das wir in mynnen Stetigklichen mit guten synnen Vnd das wir all ain ander Minnen stet on wander (161v). Der göttliche Wunsch hat den Sprecher zur Frauenliebe bewogen, der Text geht über in eine Liebesklage mit ausführlicher Schilderung des Liebesleids, gefolgt von einem Schön‐ heitspreis der Geliebten. Die Metaphorik des Minneordens semantisiert Minne zunächst als Gottes- und Nächstenliebe, überführt sie aber unmittelbar in den Bereich weltlicher Liebe. Das Motiv korrespondiert mit der beschriebenen unikalen Formulierung im ‚Herzmaere‘, in der der Minneorden ebenfalls für die weltliche Liebe der Protagonisten steht. 97 Auch die Verfluchung untreuer Frauen und die Bitte um Treue, die auf die Liebesklage folgen, stellen inhaltliche Korrespondenzen mit den vorangegangenen Texten und ihrer dezidierten Treuethematik her. Die darauf folgende Liebesklage ‚Das Herz‘ (25b) gestaltet ebenfalls präzise thematische Zusammenhänge zum voranstehenden Textblock, insbesondere zur ‚Frauentreue‘, indem das Liebesleid, das der Sprecher erleiden muss, mit einer ausgeprägten Turnierallegorie gestaltet wird: Sein personifiziertes Herz berichtet, wie es in einer Tjost durch die Lanze des Blickes vergiftet und gespalten wurde. Indem nur die Herzensdame Heilung bringen kann, wird die intertextuelle Verknüpfung zur ‚Frauentreue‘ konkretisiert. Die Verletzung des Herzens wird dabei mit dem durch eine vergiftete Lanze tödlich verwundeten Anfortas analogisiert (167v). In der Minnerede wird der Name Anfortas aber entgegen seinen ur‐ sprünglichen Sinnzusammenhängen verwendet: Anfortas ist geradezu Sinnbild für eine Gefährdung durch die weltliche Minne, denn seine Verletzung ist eine Sündenstrafe, weil er die Erfüllung weltlicher Liebe suchte, die ihm als Gralsritter verboten war. Diese religiöse 139 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 98 Die Zitation eines prominenten literarischen Namens wie Anfortas vermittelt nicht nur Kennerschaft und Teilhabe an einer litteraten Elite. Der Name stellt auch ein markantes Referenzsignal dar, das die entsprechenden Semantiken seines Ursprungstextes einbringt und vielfältige Assoziationen aus‐ lösen kann. In manchen Namen verdichtet sich der gesamte Plot, der mit der Figur verbunden ist; die damit verbundenen Handlungselemente werden zwangsläufig als Subtext in die Rezeption ein‐ gespeist und können sowohl positiv-affirmierend als auch kritisch-korrigierend oder travestierend aufgegriffen werden. Vgl. R E U V E K A M P -F E L B E R , Literarische Formen im Dialog, S. 248ff. 99 Vgl. ‚Metze‘ in G R I M M DWb 12, Sp. 2149-2152. 100 Vgl. S C H W A R Z , derst alsô getoufet daz in niemen nennen sol, S. 267. 101 Vgl. Heinrich Wittenwiler: Der Ring, hg. R ÖC K E , V. 75, Kommentar S. 443. 102 ‚Der Minne Lehen‘ trägt als einziger der Konrad Harder zugeschriebenen Texte eine Autorsignatur. Teile der umfangreichen Minnerede sind, möglicherweise durch einen Bindefehler, ohne Kennzeich‐ nung in das ‚Quodlibet‘ (15) eingefügt. Vgl. B R A N D I S , Der Harder, S. 68; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 831-34. 103 Vgl. Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg, hg. T H O E L E N / H ÄB E R L E I N ; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd.1, S. 4f. Dimension wird in ‚Das Herz‘ unterlaufen, denn die Ursache der Leiden des Herzens ist gerade das meyden (157r), die Nicht-Erfüllung des Minnebegehrens. Auch die ersehnte Heilung, die nur durch Liebeserfüllung erfolgen kann, unterläuft das mit dem Namen An‐ fortas verbundene heilsgeschichtliche Konzept, der Heilung gerade nicht durch die welt‐ liche Liebe, sondern nur durch die erlösende Frage Parzivals als künftigem Gralskönig er‐ fahren kann. 98 Johannes Duros ‚Die fünf Namen‘ (26) spielt mit einem Tugendpreis der Geliebten und der bekundeten absoluten Dienstbereitschaft des Sprechers die normative Ebene des Min‐ nediskurses ein. Dabei bilden die gelobten Tugenden der Geliebten das Namensakrostichon METZE (milt, Edel, Trew, Zucht, erenreich, 171v). Zwar wird ‚Metze‘ nicht ausschließlich in der im Neuhochdeutschen dominanten negativen Bedeutung verwendet, sondern kann auch allgemeine Bezeichnung für eine nicht näher bestimmte junge Frau oder ein Mädchen niederen Standes sein, aber es findet in der spätmittelalterlichen Dichtungspraxis zuneh‐ mend eine Überführung in negativ konnotierte Gebrauchszusammenhänge statt. 99 So findet sich bereits in Neidhart-Liedern fraw mecz als Bezeichnung für eine geschwängerte Frau, die Gegenstand des Spottes wird; 100 ‚Die Bauernhochzeit‘ und Heinrich Wittenwilers ‚Ring‘ knüpfen an diese Tradition an. 101 Möglicherweise rekurriert auch ‚Die fünf Namen‘ auf die negativen Nebenkonnotationen des Begriffs und gestaltet damit einen textimma‐ nenten Bruch und eine Ironisierung des Frauenlobs, das eine Beschimpfung verbirgt. Konrad Harders auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datiertes ‚Der Minne Lehen‘ (27) verhandelt ebenfalls gattungstypische Schwerpunkte wie die Klage über die Untreue der Frau und eine Erläuterung topischer Minnetugenden: 102 Bei einem aventiurehaft geschil‐ derten Spaziergang wird eine Begegnung des Sprechers mit Frau Minne erzählt, die Lehen an diejenigen Liebenden verteilt, die die Regeln des Minnedienstes wie Beständigkeit, Ver‐ schwiegenheit, Ehrung der Frauen und Frauendienst im Turnier befolgt haben. Den Konnex von Minne und Tugend artikuliert die folgende unter dem rubrizierten Titel ‚Ein huebsch lob von einer frawen‘ (28) aufgeführte Minnerede in anderer Akzentuierung, indem die Wirkung der Geliebten auf den Sprecher in einem hyperbolischen Schönheits‐ preis beschrieben wird. Der Text ist ein Auszug aus Konrads von Würzburg ‚Trojaner‐ krieg‘ (V. 19893-20054), 103 die umfangreiche Schilderung der Schönheit Helenas wurde aus 140 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 104 Vgl. S E U S , Heilsgeschichten vor dem Heil, S. 128-135. 105 Denkbar ist aber auch, dass in der langen und elaborierten Schilderung das bekannte Werk Konrads und der Bezug zu Helena wiedererkannt wurde, zumal der Name Paris stehen bleibt. In diesem Fall ist die Lektüre durch die prägnanten Implikationen konnotiert, die die Figur Helenas transportiert: Als Sinnbild der Macht der Liebe, für die kein Preis zu hoch ist, und zugleich der Zerstörung, die daraus resultiert, bringt sie die Semantik der Gefährdung durch weltliche Minne in die Lektüre ein. 106 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 385f. 107 Vgl. K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 463f. Der Text ist auch in Don. 104 tradiert. dem Erzählkontext herausgelöst und zu einer Minnerede ‚umfunktionalisiert‘. Der Textbe‐ stand wurde weitgehend beibehalten und durch vier Zusatzverse eingeleitet, in denen der Sprecher das durch seine Dame verursachte Liebesleid beklagt und dem Textauszug damit den Modus der Minnerede zuweist. Die Beschreibung der überwältigenden Erscheinung Helenas, deren Anblick das Herz eines jeden Mannes hebt (186v), ist anschlussfähig für den neuen Verwendungskontext, denn das ausgestellte ideale Äußere transportiert die topi‐ schen Vorstellungen von der höfischen Minnedame, deren Anblick den Liebenden zur Tu‐ gend anregt. 104 Der Name Helenas wird in dem Auszug getilgt, aus zwaz wirde und êre frowe nimet,/ das het Helêne cleine (V. 19942f.) wird im Cgm 714 Was wird vnd er frawen nympt/ Das hat sie an yr clain (184r). Durch die Aussparung von Helenas Namen bleibt der Text allgemeingültig und wird der problematischen Implikationen der heidnischen Figur ent‐ kleidet. 105 Die fünf Minnereden stellen ihrerseits eine in sich geschlossene Textformation dar. Es han‐ delt sich offenbar durchgängig um bekannte und zum Teil ältere Texte, denen eine an‐ spruchsvolle, elaborierte Gestaltung gemeinsam ist. 106 Durch die Anpassung des ‚Troja‐ nerkrieg‘-Auszugs an den Modus der Minnerede wird eine texttypologische Angleichung erzeugt, die den formalen Zusammenhalt der Gruppe verstärkt. In dieser Gruppe wird die Verhandlung von Minne anders akzentuiert als in den vorangehenden Texten, indem vor allem die ethischen und normativen Vorstellungen, die mit dem Typus der Minnerede ver‐ knüpft sind, im Vordergrund stehen. Die weltlichen und geistlichen Liebessemantiken werden nicht in ihren opponierenden Ansprüchen verhandelt, sondern zumeist der Gel‐ tungsanspruch weltlicher Liebe durch die verwendeten religiösen Anleihen betont. Gleich‐ zeitig bringen die Minnereden aber auch problematisierende Momente in die Minnedis‐ kussion ein, die topische Klage in der ‚Der Minne Lehen‘ und das Metze-Akrostichon in die ‚Die fünf Namen‘ verweisen auf weibliche Untreue, der Name Anfortas sowie der Schön‐ heitspreis Helenas auf das Gefährdungspotential weltlicher Minne. Am Ende des Minneredenblocks steht das anonym überlieferte ‚Viel anders‘ (29), das in der Texttypik zwischen Minnerede und Spruchdichtung steht. 107 Der Text verhandelt die Unentschiedenheit und Gegensätzlichkeit der Welt, indem vil anders als allgegenwärtiges Prinzip erläutert wird, z.B. vil anders schillt und lobet/ vil anders hoht und nidert (187r). Einzig die Trinität ist von dem allumfassenden Kontingenzprinzip ausgenommen: 141 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses Drey namen sind ewig got Das schull wir sunder spot Das da nit vil anders sey (189r). Ein dezidierter Bezug zur Minnethematik und den voranstehenden Minnereden entsteht, indem an die Ausführungen eine Tugendlehre für Frauen und eine Mahnung vor Unbe‐ ständigkeit und Untreue, die aus vil anders entstehen, angefügt ist. Mit der expliziten Re‐ kurrenz auf Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit als prägende Grunddeterminanten der Welt und auch der Minne subsumiert ‚Viel anders‘ inhaltliche Momente, die in den Texten des Cgm 714 immer wieder in den Blick genommen werden. Die Rede markiert gleichzeitig eine Gelenkstelle zwischen dem Minneredenblock und der folgenden Gruppe von geistlichen Texten. 6.3.2.4 Das Herz in geistlicher Semantik Auf den Minnereden-Block folgen vier dezidiert geistliche Texte, die keinen unmittelbaren Bezug zur Minnethematik haben, aber dennoch mit den vorhergehenden Texteinheiten korrespondieren (30-33; 189r-209v). ‚Die heiligen Farben‘ (30), ein unikal und anonym überlieferter Text unklarer Datierung, schließt an die voranstehenden Gruppen an, indem er ebenfalls die Motivik von Herz und Liebeswunde verhandelt, die hier aber in dezidiert christlichen Kontexten steht, denn geschildert wird das durch den Speer verwundete Herz Christi. Den Text kennzeichnet eine umfangreiche und kontrastreiche Bezugnahme auf Herr‐ schaft und die dem Rittertum immanenten Semantiken des miles christi, indem ‚Die heiligen Farben‘ die Kreuzigung in einer ungewöhnlichen Mischung von Religiosität und Heraldik verhandelt. So werden einerseits Wertigkeit und Tugendprogramm des Rittertums aufge‐ griffen, denn Christus wird als idealer Ritter bezeichnet, der mannhaft den Anfeindungen der Juden widerstanden und seine Ehre bewahrt hat. Das Lob Christi umfasst auch eine Schilderung seines Wappens, das die Trinität abbildet; der Text nutzt damit die Tradition der Wappendichtung als Repräsentationsmedium des Adels für ein christliches Preisge‐ dicht. Die höfisch-ritterlichen Semantiken sind einerseits Stilmittel der als Fürstenlob ge‐ stalteten Verherrlichung Christi. Gleichzeitig sind sie Gegenstand der kritischen Textaus‐ sage, denn in der auf das Lob Christi folgenden didaktischen Textpartie wird Demut gegenüber Christus als dem höchsten aller Fürsten gefordert. Mehrfach wird an die Schuld der sündigen Menschen und ihren Verstoß gegen Gottes Gebot erinnert, verbunden mit der Ermahnung, dass nur in der Ausrichtung auf Christi Liebe die Umkehr erfolgen kann. ‚Die heiligen Farben‘ kennzeichnet eine eigenwillige Durchmischung der Liebesseman‐ tiken, denn der Text gestaltet ein emphatisches Liebesbekenntnis Christi an die sündigen Menschen, nach deren Liebe er sich unendlich sehnt, das zwar ganz in der Tradition mys‐ tisch geprägter, die Passionsleiden nachvollziehender Christusliebe steht, in seiner expres‐ siven Schilderung der unbedingten Liebe und Sehnsucht Christi aber auch an höfische Minnerhetorik erinnert. Nach dem ausführlichen Frauenpreis der voranstehenden Minne‐ reden entwirft ‚Die heiligen Farben‘ ein genauso emphatisches Lob und Liebesbekenntnis, aber in dezidiert geistlichen Kontexten: Statt der Frauenliebe wird die vollkommene geist‐ liche Liebesbindung zu Christus gepriesen. 142 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 108 Vgl. S C H N E I D E R , ‚Der Regensburger‘ in 2 VL 7, Sp. 1092f. 109 Die Fassung I findet sich in den mariologischen Einleitungsteilen des Cpg 341 und Bodm. 72. Für die im Cgm 714 unikal tradierte Fassung II wird dieselbe auf das 13. Jahrhundert datierte Vorlage ver‐ mutet. Vgl. K U N Z E , ‚Thomas von Kandelberg‘ in 2 VL 9, Sp. 882ff. Die drei folgenden weit weniger umfangreichen Texte gehören zu unterschiedlichen Bereichen geistlichen Schrifttums. ‚Die Geburt Christi‘ (31) eines sich selbst als ‚der Re‐ gensburger‘ bezeichnenden, nicht näher belegten Verfassers wird aufgrund sprachlicher Merkmale auf das 14. Jahrhundert datiert. 108 Die Dichtung nimmt wie der voranstehende Text Bezug auf das Leben Christi und ist dabei ganz dem Modus religiöser Unterweisung verschrieben, indem der Sprecher seine Rolle als geistlicher Lehrer am Anfang und Ende des Textes herausstellt und zum Befolgen der christlichen Lehre ermahnt. In zum Teil wörtlicher Anknüpfung an die Evangelien werden Versatzstücke aus der Erzählung von der Geburt Christi präsentiert und Glauben angesichts der Wunder Gottes gefordert, wobei das Wunder der Verkündigung und Jungfräulichkeit Mariens einen besonderen Stellenwert hat. Der Thematisierung der Gottesmutter ist per se eine Opposition zum weltlichen Lie‐ beshandeln der novellistischen Erzähltexte und der Minnereden inhärent, die in ‚Die Geburt Christi‘ durch eine Narrativierung des typologischen Zusammenspiels von der Sünde durch Eva und der Sühne durch das Ave noch hervorgehoben wird. Der ebenfalls anonym und im Cgm 714 unikal überlieferte ‚Der Wirt der Seele‘ (32) analogisiert das Wirken des Priesters mit den vier Tugenden eines idealen Wirtes. So wie der Wirt Gruß, Speise, Obdach und Segen für die Reise gibt, ist der Priester Wirt der Seele, indem er von der Sünde entlastet und die Seele mit Gnade und Frieden füllt. Eine Beschrei‐ bung der Tafel Christi, an der 400 Ritter speisen können und die ehrenvoller als die der Gralskönige sei, markiert nicht nur einen intertextuellen Verweis auf Wolframs ‚Parzival‘, sondern stellt die Unterordnung des Gralskönigtums unter die Herrschaft Christi heraus. Der Text ist möglicherweise unvollständig, denn er bricht nach dieser Passage ab. Der letzte Text in der geistlichen Reihe ist der anonym überlieferte ,Thomas von Kan‐ delberg‘ (33), ein Marienmirakel, das auch in anderen Handschriften überliefert ist, im Cgm 714 aber in einer eigenen Fassung erscheint. 109 Die Erzählung nimmt ihren Auftakt mit der Schwanksituation eines Wettstreits von 12 Schülern um das kostbarste Liebespfand. Ein Schüler hat keine Geliebte und beteuert in einem Bittgebet vor dem Bildnis der Gottes‐ mutter, stets nur an diese gedacht und nie eine Frau berührt zu haben. Sein Gebet bewirkt eine Marien-Epiphanie, die Heilige Jungfrau tröstet den Schüler und übergibt ihm ein kleines Gefäß, aus dem er bei der vereinbarten Wettzusammenkunft ein kostbares Mess‐ gewand und diverse andere priesterliche Kleinodien zieht, die an Kostbarkeit die Liebes‐ pfänder der übrigen Schüler weit übertreffen. In den anderen Überlieferungsträgern wird die Mirakelhandlung fortgeführt und von der Bischofwerdung des Schülers erzählt, die Cgm-Fassung verzichtet dagegen auf eine Fortsetzung des Geschehens, die Darstellung ist hier auf die Gegenüberstellung von Schwankexposition und der Macht und Dignität des Heiligen fokussiert. Die Reihe der geistlichen Texte tritt trotz der divergenten Texttypen und Erzählinhalte als zusammenhängende Gruppe, als diskursive Formation mit eigenen Implikationen in Erscheinung. Durch die gemeinsame Verhandlung religiöser Inhalte hebt sie sich von den voranstehenden Textgruppen mit ihrer dominierenden Thematisierung weltlichen Liebes‐ 143 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 110 Daneben gibt es noch zwei später datierte Fassungen von Hans Schneeberger und Heinrich Kauf‐ ringer. Vgl. Z I E G E L E R , ‚Der Mönch als Liebesbote‘ A in 2 VL 6, Sp. 654-655. handelns ab, stellt durch verknüpfende Momente wie die Motivik des verwundeten Herzens oder die Liebesrhetorik aber auch Verbindungen her. 6.3.2.5 Die Beichte als Schwankmotiv Die Perspektive religiöser Dignität der geistlichen Textgruppe wird durch die beiden fol‐ genden Versnovellen radikal konterkariert, in denen jeweils das Prinzip der Beichte in einer Schwankhandlung persifliert und verkehrt wird (34+35; 209v-222r). ‚Die zwei Beichten‘ (34) erzählt von der wechselseitigen Laienbeichte eines Ehepaares, während der die Frau eine immer größere Anzahl von Liebhabern bekennt und bei jedem gebeichteten Ehebruch erklärt, dass dieser durch das Abwenden von Schaden bzw. durch einen besonderen Nutzen für den Ehemann legitimiert war. Sie bittet ihren Ehemann, ihr körperlich belastende Bußauflagen wie Fasten, Beten oder Wachen zu ersparen und erhält tatsächlich ohne jede Bedingung dessen ‚Absolution‘. Als der Ehemann bei der Gegen‐ beichte als einzigen Fehltritt eine versehentliche Berührung der Magd bekennt, bei der er Lust empfunden hat, verlangt die Ehefrau zunächst, dass er sich die Hand abschlägt. Nach einer intensiven Ermahnung, die Ehe künftig besser wertzuschätzen, sieht sie allerdings von der drakonischen Bußauflage ab. Die Versnovelle erscheint hier in der Fassung B, die unikal im Cgm 714 überliefert ist und in der die Verkehrung des Prinzips der Laienbeichte gegenüber den älteren Textzeugen stärker akzentuiert wird. Während die Eheleute in der Fassung A die Laienbeichte aus einer Notsituation heraus beschließen - die Kirche kann aufgrund eines Unwetters nicht aufge‐ sucht werden - wird sie in der Cgm-Fassung gänzlich unmotiviert von der Ehefrau vorge‐ schlagen. In A wird die vorgebliche Notlage der Frau als Ursache des Ehebruchs zumindest andeutungsweise plausibilisiert, indem diese angibt, der Amtmann hätte den Eheleuten Schaden und der Pfarrer den Bann angedroht, weswegen der Ehebruch notwendig gewesen sei. In der B-Fassung des Cgm 714 werden die Begründungen für den Ehebruch dagegen in ihrer Vagheit und Absurdität deutlich herausgestellt und immer weiter gesteigert: Die Frau schlief mit dem Richter, um ihn prophylaktisch günstig zu stimmen, falls die Eheleute jemals mit einer Klage konfrontiert sein sollten, mit dem Pfarrer als Vorsorge für das Seelenheil und mit verschiedenen Nachbarn, damit diese den Eheleuten in einer eventuellen Notlage beistehen. Auch der Kontrast zur Gegenbeichte des Mannes ist in B noch grotesker, denn während er in der Fassung A mit der Magd geschlafen bzw. sie intim berührt hat, ist es hier nur noch eine Berührung der Hand, die ihm den Vorwurf eines unverzeihlichen Fehltritts und die Androhung schwerer Körperstrafen einträgt. ‚Der Mönch als Liebesbote‘ (35) erzählt die listreiche Inszenierung eines Ehebruchs, für dessen Realisierung ein Geistlicher instrumentalisiert wird. Die im Cgm 714 unikal tradierte Textfassung A wird auf etwa 1400 datiert und führt eine Autorsignatur Konrads von Würz‐ burg auf. 110 Auch ‚Der Mönch als Liebesbote‘ narrativiert eine Verkehrung der Beichte, indem ein Barfüßer-Mönch in seiner Unwissenheit zum Helfer für den Ehebruch einer reich verheirateten Dame wird. Diese ‚beichtet‘ die angeblichen Nachstellungen eines jungen Adligen und händigt dem Mönch Liebespfänder aus, die sie von dem Mann erhalten zu 144 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 111 Dass der Cgm 714 Einzeltexte aus diesen Korpora aufführt, ist nicht ungewöhnlich. Die breit tra‐ dierten Œuvres beider Autoren wurden häufig als Kompendien genutzt, um Teile des Textmaterials zu entnehmen und in unterschiedliche Funktionszusammenhänge einzuordnen. Zu Heinrich der Teichner siehe auch S. 254. haben vorgibt. Das Schema der Gabenlogik wird hintersinnig ausgespielt und verdreht, indem die Dame den Mönch um die Rückgabe der vermeintlichen Liebespfänder bittet, womit diese aber erst zur Liebesgabe werden - allerdings der Dame an den Mann. Der junge Adlige versteht das Zeichen und das Spiel, er erduldet klaglos die christliche Ermahnung durch den Mönch und nimmt die Gaben an sich. Er übergibt dem Mönch seinerseits Ge‐ schenke‚ die als zurückgeforderte Liebesgaben der Dame deklariert werden, die dieser brav der Dame aushändigt und ihr damit die erhoffte Botschaft übermittelt, dass das Interesse erwidert wird. Das aufrichtige Bemühen des Mönches um das Seelenheil des Paares wird erneut ausgenutzt, indem die Frau eine ihr angeblich vorgeschlagene Verabredung zum Stelldichein beichtet, die der Mönch in ihrem Namen zurückweisen soll. In Wahrheit teilt sie auf diesem Weg ihren sorgfältig konzipierten Ehebruchplan samt genauem Treffpunkt und Uhrzeit mit, der daraufhin auch zustande kommen kann. Der Sinn der Seelsorge und des Beichtsakraments, Sünde zu verhindern bzw. von dieser zu befreien, wird hier in sein Gegenteil verkehrt, indem diese erst durch die Beichte ermöglicht wird. Die beiden Vers‐ novellen stehen in einem eklatanten Kontrast zu der voranstehenden geistlichen Textfor‐ mation, gleichzeitig korrespondieren sie durch die gemeinsamen Motive von Ehebruch, Rat und Beichte mit den Texten der ‚Ritter‘-Textreihe. 6.3.3 Geistliche und moralisierende Texte Die letzte Textgruppe des ersten Teils im Cgm 714 (36-47; 222r-284v) besteht aus einer Reihe von zumeist redeartigen Texten, die alle auf Tugendlehre und zum Teil auf dezidiert geistliche Unterweisung rekurrieren. Die bestimmenden Fragen von Sünde, Beichte und Buße, die sich in den voranstehenden Textformationen als zentrale Themen der Sammlung erwiesen haben, werden hier über Textsorten verhandelt, die ganz andere Perspektiven vermitteln. Den Anfang machen kurze Texte mit sozialkritischer Tendenz, die denen im ersten Sammlungsteil ähnlich sind, darunter Auszüge aus Boners ‚Edelstein‘ und eine Reimpaarrede aus dem Œuvre Heinrichs der Teichner (36, 37), beides Verfasser, deren Texte eine klar konzipierte Didaxe zu religiösem und sozialem Verhalten vorstellen. 111 Das Spott‐ gedicht ‚Der Bauern Hoffart‘ (38) über den inadäquaten Kleideraufwand der Bauern, die dem Adel gleichkommen wollen, ist unikal im Cgm 714 überliefert und konterkariert ‚Der Bauern Lob‘ in der einleitenden Textreihe des Codex. Harders Marienpreisgedicht ‚Frauenkranz‘ (40) folgt unmittelbar auf die Minnerede ‚Die rechte Art der Minne‘ (39). Indem auf das Lob einer weltlichen Geliebten das der Himmli‐ schen Jungfrau folgt, wird erneut eine unmittelbare Gegenüberstellung von Frauen- und Marienpreis gestaltet. Hebt sich der ‚Frauenkranz‘ inhaltlich kaum von anderen Vertretern der Textsorte ab, markiert die Beschreibung des Wappens der Heiligen Jungfrau aber eine 145 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 112 Der Text ist vor 1400 entstanden und in weiteren Handschriften tradiert. Vgl. B R A N D I S , Der Harder, S. 7ff., S. 178-185, S. 282-292. 113 Der Text ist in sieben weiteren Handschriften überliefert, eine davon führt die nicht klärbare Ver‐ fasserangabe Hans Andree auf. Vgl. H A A G E , ‚Andree, Hans‘ in 2 VL 1, Sp. 351f.; ders., Das gereimte Pestregimen. 114 Solche allgemein erscheinenden Regeln zur Mäßigung und Meidung von Extremen finden sich in vielen medizinischen Traktaten, das humoralpathologische Konzept der ausgeglichenen Körpersäfte ist unmittelbar verbunden mit der Vorstellung einer Harmonie der menschlichen Temperamente. 115 In den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts lag die erste Übersetzung des gesamten ‚Decameron‘ vor. Auch wenn eine breitere Rezeption vor dem 16. Jahrhundert verschiedentlich bestritten wurde (vgl. D A L L A P I A Z Z A , Die Bedeutung Nürnbergs für die frühe deutsche Boccaccio-Rezeption, S. 181; B O L‐ S I N G E R , Das Decameron in Deutschland, S. 11), ist eine Kenntnis der Rahmenhandlung mit der Pest‐ erzählung zumindest möglich. Zur Verbreitung und Rezeption des ‚Decameron‘ in Deutschland siehe auch S. 338. 116 Dies fügt sich in den moraldidaktischen Verständniszusammenhang ein, in dem das ‚Decameron‘ im deutschsprachigen Raum offenbar lange gelesen wurde: Die ‚Griseldis‘-Novelle als einer der früher rezipierten ‚Decameron‘-Texte wird in der Adaption durch den Nürnberger Erhart Grosz und noch mehr in Albrechts von Eyb ‚Ehebüchlein‘ in einem normativen Verständnis als Beispiel für das ‚rich‐ tige‘ Verhalten einer Frau vorgestellt. Vgl. D A L L A P I A Z Z A , Die Bedeutung Nürnbergs für die frühe deutsche Boccaccio-Rezeption, S. 183f. 117 Neben dem Cgm 714 überliefern vier weitere Handschriften den vermutlich im 15. Jahrhundert ent‐ standenen Text. Vgl. J A N O T A , ‚Von dem Hurübel‘ in 2 VL 4, Sp. 326-329. stilistische Besonderheit. 112 Analog zu ‚Die heiligen Farben‘ wird die Heraldik zum Mittel der Verknüpfung weltlich-adliger Semantiken mit dem christlichen Glauben. Mit dem ‚Pestgedicht‘ (45) wird die Textsorte des medizinischen Traktats in den Codex eingebunden, 113 wobei dieses primär eine moralisch-didaktische Unterweisung darstellt, denn die Ratschläge zum Schutz vor der Pest beinhalten, neben der Fürbitte an Gott, vor allem Maßhaltung in der Lebensführung und der Emotionalität sowie Keuschheit. 114 Ob sich in dem Einspielen des Pestthemas ein Reflex auf das ‚Decameron‘ zeitigt, für das Nürnberg den wichtigsten und frühesten Rezeptionsort im deutschsprachigen Raum darstellt, kann zumindest in Erwägung gezogen werden. 115 Im ‚Decameron‘ ist die Lektüremöglichkeit angelegt, die Brigata nicht nur durch ihre Ordnung und ideale Sozialität, sondern auch durch die betont sittsame, die Affekte kontrollierende Form des Zusammenlebens als Ge‐ genmodell zu fassen zu dem in der Vorrede dargelegten Verfall von sozialer und sittlicher Ordnung durch das Wirken der Pest. Diese Lesart kann im Cgm 714 adaptiert und in die Sammlung eingespielt worden sein. 116 Offensichtlich in rein funktionaler Verwendung für eine ganz anders gelagerte normative Aussage wird der Modus medizinischer Wissensvermittlung in ‚Von dem Hurübel‘ (43) adaptiert, das im Cgm als Dy groß Blag betitelt ist. 117 Hier wird die Unzucht wie eine Krank‐ heit beschrieben, die sowohl ledige als auch verheiratete Menschen befällt, als einzig pro‐ bates Gegenmittel werden die ‚Kräutlein‘ meyden, abe lan und sellten sehen (266v, 267r) genannt. Obwohl die Adaption des medizinischen Beschreibungsregisters nicht ohne Ironie ist, fügt sich die moraldidaktische Perspektive auf das übergreifende Thema von außer‐ ehelicher Liebe problemlos in die Textreihe ein. Zwei Texte ergänzen das Form- und Motivspektrum der abschließenden Textreihe um die Leib-Seele-Paradigmatik, die mit unterschiedlichen Akzentuierungen verhandelt wird. Die ‚Visio Philiberti‘ (41) führt die Gefahr des Heilsverlusts anhand eines Streits zwischen 146 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 118 Die ‚Visio Philiberti‘ ist eine Adaption eines ursprünglich lateinischen Streitgedichts aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die sowohl in der lateinischen Schultradition als auch in der volksspra‐ chigen Dichtung verankert ist und deren Überlieferung über 130 Handschriften umfasst. Vgl. P A L M E R , ‚Visio Philiberti‘ in 2 VL 10, Sp. 412-418; ders., Visio Tnugdali, S. 417f. 119 Der Text ist auch in Dresden Mscr. M 50 überliefert. Körper und Seele über die Schuld an der Sünde vor Augen. 118 Klagt zunächst die Seele den Körper wegen seiner hoffart und des Strebens nach materiellen Gütern an, tadelt der Körper in seiner Widerrede die Seele, weil sie ihn nicht von seinem Tun abgehalten habe. Dass die Kreatürlichkeit des Menschen nicht als entlastendes Argument für die Sündhaftigkeit ak‐ zeptiert wird, verdeutlicht der Schluss, denn die Seele wird vom Teufel in die Hölle geholt. Rosenplüts ‚Die sechs Ärzte‘ (47) als Schlusstext des ersten Teils inszeniert das Körper-Seele Motiv als Anknüpfungspunkt für eine umfassende christliche Tugendlehre. So wie der Körper mit dem Koch, dem Weinschenk und dem Bader drei Ärzte hat, die ihn erhalten, braucht auch die Seele drei Ärzte: Den Prediger, den Beichtvater und Jesus Christus, der als höchster Arzt das bei der Passion vergossene Blut als Salbe für die Sünd‐ haftigkeit der Menschheit einsetzt. Die medizinische Metaphorik wird in einer allgemeinen moraltheologischen Belehrung fortgeführt, indem die richtige Beichte und Buße als einzig wirksame Behandlung für die Wunden der menschlichen Sünde benannt werden. Neben den ‚Sechs Ärzten‘ sind noch zwei weitere Reimpaardichtungen von Hans Ro‐ senplüt aufgeführt. ‚Die Beichte‘ (42) verhandelt das im Cgm 714 äußerst vielschichtig per‐ spektivierte Motiv in seinem eigentlichen theologischen Zweckzusammenhang, als Beicht‐ spiegel gibt es dem um Belehrung bittenden Sünder Unterweisung in aufrichtiger Beicht- und Bußpraxis. 119 Eingebunden in das dicht gewobene Netz von Redetexten zur Unterweisung in christlicher Lebensführung ist außerdem als einziger narrativer Text Ro‐ senplüts unikal im Cgm 714 tradierte Versnovelle ‚Die Tinte‘ (46), in der das Schwankmotiv klerikaler Unzucht verhandelt, aber mit einer vergleichsweise eindeutigen moralischen Verurteilung verbunden wird: Ein Mönch wird nach einer Liebesnacht im Kloster zu Tode erschreckt, weil die Frau im Dunkeln das Rosenwasser, mit dem sie sich erfrischen will, mit dem Tintenfass verwechselt. Der von der Frühmesse zurückkehrende Mönch hält die schwarz gefärbte Frau für den Teufel und jagt sie gemeinsam mit den Klosterbrüdern fort. Die Frau büßt durch das fehlgeschlagene Liebesabenteuer ihren Rock und Mantel ein, das Epimythion bewertet dies als angemessene Strafe für eine mit Geistlichen buhlende Frau. Die drei Rosenplüt-Texte, die alle die Verfassersignatur hanns Rosenplüt tragen (262v, 278v, 284v), fügen sich in den Duktus moralisierender und religiöser Belehrung der ab‐ schließenden Textreihe des ersten Teils ein. Gleichzeitig stellen ‚Die Tinte‘ und ‚Die sechs Ärzte‘ durch die Positionierung als Abschlusstexte des ersten Teils eine Gelenkstelle zum zweiten Teil des Codex mit seiner homogenen Sammlung von Rosenplüt-Fastnachtspielen dar. Die Autorschaft Rosenplüts fungiert als Bindeglied zwischen den Sammlungsteilen und als Markierung von deren Zusammenhang, gleichzeitig verweist sie auf die Überschreitung der Grenzen zwischen literarischen Genres, Formtypen und Diskursbereichen, die sowohl das Œuvre Rosenplüts als auch die Konzeption des Cgm 714 im Ganzen prägt. 147 6.3 Erster Teil - Perspektiven des Minnediskurses 120 Zahlreiche Belege für Aufführungen in Ratsdokumenten und Chroniken zeugen von einer Verbrei‐ tung des Fastnachtspiels auch im übrigen deutschen Sprachraum. Insbesondere Lübeck stellt ein weiteres wichtiges Zentrum dar, das aber andere Akzente in Poetik und Spielinhalten setzte und auf einer anderen Trägerschaft basierte. Kritisch gegenüber einer Forschungsrezeption, die die Gattung aufgrund der Dominanz in der Überlieferung auf die Nürnberger Spieltradition festschreibt u.a. R A G O T Z K Y , ‚Fastnachtspiel‘ in RL 1, S. 569; S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 1-5. 121 Vgl. R I D D E R , Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, S. 242; G L I E R , ‚Rosenplütsche Fastnachtspiele‘ in 2 VL 8, Sp. 216. Grundlage für die Forschungsdis‐ kussion ist immer noch die Edition von Kellers (Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. V O N K E L L E R ) aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die die Nürnberger Fastnachttradition in ihrer Gesamtheit abzubilden sucht und insgesamt 132 Hans Rosenplüt und Hans Folz zugeschriebene Spiele aufführt. Alle neueren Textausgaben, die zeitgemäßen editorischen Standards entsprechen, sind Auswahledi‐ tionen, die nur Teile des Korpus aufarbeiten. Vgl. R I D D E R , Neuedition und Kommentierung der vor‐ reformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, S. 239ff. Eine Auflistung der Textausgaben bei ders., Frühe Nürnberger Fastnachtspiele, S. 197f. 122 Simon präsentiert als Bilanz einer Auswertung von Nürnberger Ratsdokumenten zwischen 1474 und 1532 zwar nur 27 Belege für die Aufführung von Spielen, geht aber von einer längeren und breiteren Spieltradition aus, die durch den überlieferten Textbestand vermutlich nicht vollständig abgebildet wird. Vgl. S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 301f. 123 Während die Fastnachtspiele in der frühen germanistischen Forschung vor allem auf Grund der dominierenden Thematisierung von sexuellen und skatologischen Elementen als literarische Min‐ derware perspektiviert wurden und wenig Beachtung fanden, hat sich seit den 1960er Jahren unter anderem durch die Arbeiten von Catholy (ders., Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters) und Lenk (ders., Das Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts) allmählich eine Perspektivierung etab‐ liert, die dem literarischen Status der Texte Rechnung trägt. Vgl. H A B E L , Vom Zeugniswert der Über‐ lieferungsträger, S. 107. Ähnlich S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 3. 124 S I M O N , Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 12. Vgl. auch H A B E L , Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger, S. 130f.; S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 2. 6.4 Zweiter Teil - Fastnachtspiele und Verkehrung 6.4.1 Das frühe Nürnberger Fastnachtspiel im Cgm 714 Nürnberg gilt als Hauptentstehungsort der Fastnachtspiele, ca. 110 von 130 überlieferten Spielen der frühen Tradition sind Nürnberger Provenienz. 120 Insgesamt 14 Handschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert tradieren die vorreformatorischen Fastnachtspiele, die ersten Handschriften datieren auf die 50er-Jahre des 15. Jahrhunderts, so dass die Anfänge der Gattung mindestens auf die ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts datiert werden. 121 Der Ursprung der Fastnachtspiele ist in einer lokalen Aufführungstradition verortet und an den situativen Kontext der Fastnacht gebunden. 122 In der Verschriftlichung und Archi‐ vierung in den Handschriften werden die Fastnachtspiele aber zu Lesetexten, denen eine Perspektivierung als nur anlassbedingte Spieltexte und subliterarische Gattung nicht ge‐ recht wird. 123 Die Überlieferung der frühen Nürnberger Spiele kennt kaum dezidierte Auf‐ führungsmanuskripte, insbesondere in den Rosenplüt-Handschriften treten die Fastnacht‐ spiele als „ausgesprochene Lesedramen“ in Erscheinung. 124 Die Konzeption der Texte, die als Reihen- oder Handlungsspiele ausschließlich Figurenreden inszenieren, weist zweifellos auf einen Aufführungszusammenhang bei der Entstehung der Spieltradition zurück, aber eine performative Funktion der tatsächlich überlieferten Texte lässt sich aus den erhaltenen Überlieferungsträgern in der Regel nicht herleiten: 148 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 125 H A B E L , Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger, S. 131. Ridder betont aber die Wichtigkeit von Aufführungskontext und Öffentlichkeit auch für die literarisierten Spiele als Medium der öffentlichen Verhandlung von Ordokritik (vgl. R I D D E R , Fastnachtstheater, S. 71). Linke weist ebenfalls auf die Bedeutung der performativen Inszenierung für die Spiele hin. Auch die Absenz dezidierter Zeichen einer Aufführungspraxis wie Bühnenpläne oder Regieanweisungen legitimieren nach Linke nicht die pauschale Einordnung als Lesehandschriften, textimmanente Verweise wie die Selbstvorstel‐ lungen von Figuren oder Ansprachen an das Publikum seien als Indizien des Theatralischen zu werten (vgl. L I N K E , Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, S. 527f., S. 540- 549). Allerdings stellen solche dramatischen oder theatralischen Textelemente keinen Widerspruch zu einer Lektüreintention der Handschriften dar, diese können wie bei jedem dramatischen Text als Werkbestandteil aus der mündlichen Überlieferung in die Verschriftlichung überführt werden. Die Tatsache, dass die Fastnachtspiele vor allem in den Rosenplüt-Handschriften zumeist in Kombination mit anderen kleinepischen Texten stehen, deutet jedenfalls wenig auf eine Gebrauchsfunktion für die Aufführungspraxis, sondern auf eine lesende Rezeption hin. 126 W I L L I A M S -K R A P P , Überlieferung und Gattung, S. 8f. 127 Vgl. L I N K E , Aspekte der Wirklichkeits-Wahrnehmung, S. 18f. 128 Vgl. R I D D E R , Fastnachtstheater, S. 71f. Aber es sollte nicht übersehen werden, dass manches von dem, was in Ermangelung erhaltener Regiebücher, Aufführungsmanuskripte und sonstiger Spielbelege unwiederbringlich verloren wäre, nun mit Hilfe von Überlieferungsträgern erschlossen wird, die - mögen sie auch ihrerseits auf ursprüngliche Aufführungshandschriften zurückgehen - primär der Lektüre dienten. 125 Damit bestätigt sich im frühen Nürnberger Fastnachtspiel ein Befund, der verschiedentlich für die Überlieferung von geistlichen und weltlichen Spieltexten insgesamt konstatiert wurde, nämlich dass viele Ergebnisse der mittelalterlichen Spielforschung zu einem erheblichen Teil auf Texten be‐ ruhen, die nicht für eine Aufführung bestimmt waren […]. Zwar handelt es sich in vielen - vielleicht sogar den meisten - Fällen um Texte, die an irgendeinem Punkt ihrer Geschichte aus Auffüh‐ rungstexten schöpften, dies läßt sich indes in überraschend wenigen Fällen stringent nach‐ weisen. 126 Die Fastnachtspiele treten in der Verschriftlichung vor allem als ein Lektüregegenstand in Erscheinung, der sich in die Tradition der kleinen Reimpaardichtung einordnet. Auch der Cgm 714 weist keine Indizien einer Aufführungsintention der Spieltexte auf, die einheitliche Verschriftlichung und die gemeinsame Überschrift legt eine lesende Rezeption für beide Sammlungsteile nahe. Auch das Motivrepertoire der Fastnachtspiele verweist auf deren literarischen Status. Die Spiele verhandeln zwar ein breites Spektrum an „Wirklichkeitsbereichen“, indem sie soziale und politische Missstände wie die Vernachlässigung der öffentlichen Sicherheit thematisieren und die Träger der gesellschaftlichen Ordnung vom Ritter bis zum Kaiser dem Spott preisgeben. 127 Diese lokale und historische Verortung bleibt auch für das litera‐ risierte Spiel bedeutsam, indem nicht nur übergreifende kulturelle Ordnungsmodelle, son‐ dern auch spezifische reichsstädtische Obliegenheiten und Normen verhandelt werden. 128 Aber die meisten Motive und Figuren der Fastnachtspiele stehen in dezidiert literarischen Traditionen. Dazu zählt die Bauernrolle, deren Gestaltung sich wesentlich an der dörper-Darstellung Neidharts orientiert; weitere oft adaptierte literarische Traditionen sind die Lieddichtung, Spruchdichtungen und die Versnovellistik, auch werden Heldendichtung, 149 6.4 Zweiter Teil - Fastnachtspiele und Verkehrung 129 Vgl. H A B E L , Zum Motiv- und Stoffbestand des frühen Nürnberger Fastnachtspiels, S. 157; R I D D E R , Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, S. 239; S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 362; R I D D E R , Einleitung: Fastnachtspiel, S. 4. 130 Zur Transformation literarischer Muster in den versnovellistischen Texten siehe Kap. 2.2.1. 131 S P I E W O K , Das deutsche Fastnachtspiel, S. 27. 132 Vgl. H A B E L , Zum Motiv- und Stoffbestand des frühen Nürnberger Fastnachtspiels, S. 146, der die häufigen A-Kohärenzen im Handlungsverlauf der Spiele auch aus dem Collage-Verfahren erklärt. 133 Mit der nachgetragenen ‚Narrenfastnacht‘ sind es 49 Spiele. 134 Neben dem Cgm 714 ist Dresden Mscr. M 50 mit elf Spielen die wichtigste Handschrift für die Ro‐ senplütschen Fastnachtspiele. Beide Handschriften überliefern zusammen 54 (Glier) bzw. 55 (Simon) unterschiedliche Spiele Rosenplüts. Bei 20 (Glier) bzw. 21 (Ridder) weiteren Texten aus anderen Handschriften ist die Zuschreibung zum Rosenplüt-Korpus fraglich. Vgl. G L I E R , ‚Rosenplütsche Fast‐ nachtspiele‘ in 2 VL 8, Sp. 214; S I M O N , Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 88f.; R I D D E R , Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, S. 244f. Artusepik, Elemente der geistlichen Dichtung, der antiken Mythologie und der Artes-Lehre verarbeitet. 129 Ähnlich wie die novellistischen Texte greifen die Spiele tradierte Muster auf und überführen diese in andere Darstellungsregister. 130 Sie zeugen damit nicht nur von literarischer Kenntnis der Verfasser, sondern auch von einem literarischen Status der Spiele selbst: Bei aller Verbundenheit mit brauch- und volkstümlichen Kulturelementen stehen die Fastnacht‐ spiele vor allem in literarischen Traditionen. Nicht zuletzt die Bauernfigur bzw. die an diese Figur gebundene Bauernsatire erweisen die Beziehungen zwischen Fastnachtspiel und anderen litera‐ rischen Genres wie Schwank, Spruchgedicht oder Lied. So findet sich häufig die Gestaltung von Bauernhochzeiten und Bauernprügeleien. Andere Bezüge lassen sich zum höfischen Roman und zur adligen Liedkultur (dem Minnelied) herstellen, so etwa bei der Persiflage des adligen weibli‐ chen Schönheitsideals oder bei der Parodie auf die höfische Minnelehre. 131 Mehr noch als andere kleinepische Textsorten kennzeichnet die Fastnachtspiele eine Poetik der Wiederverwendung. Die Texte arbeiten nicht nur mit gleichen Figurentypen und Mo‐ tiven, sondern auch mit einem Repertoire an festen sprachlichen Mustern und zum Teil identischen Bausteinen, die in einem Collage-Verfahren unterschiedlich zusammengefügt und arrangiert werden. Insbesondere die Pro- und Epiloge werden mit ähnlichen, formel‐ haft verwendeten Textelementen gestaltet. 132 Der Cgm 714 stellt die älteste Fastnachtspielsammlung dar, der Codex tradiert 48 Spiele, 133 die alle Hans Rosenplützugeschrieben werden, zumeist handelt es sich gattungstypisch um kürzere Texte mit weniger als 200 Versen. 134 Rosenplüt bediente vor allem den Typus des Reihenspiels, wo zwischen den rahmenden Reden des Ausschreiers die Reden verschiedener Sprecher inszeniert werden, die entweder miteinander agieren oder auch jeder für sich zum Publikum sprechen. Dabei treten verschiedene Typen und Themen in Erscheinung, etwa ein Viertel von Rosenplüts Fastnachtspielen sind Gerichtsspiele, in denen ein oder mehrere Kläger ihr Anliegen einem Richter vortragen, der wiederum die Schöffen der Reihe nach um ihre Urteile bittet. Fastnachtspiele sind in der Regel nicht mit Autorsignaturen versehen, im Cgm 714 basiert die Zuschreibung der Texte zu Hans Rosenplüt auf der Überschrift über dem zweiten Teil 150 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 135 Vgl. R I D D E R , Neuedition und Kommentierung der vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele, S. 246. Zur Überschrift des Cgm 714 siehe auch S. 104. 136 Auch für die wenigen mehrfach überlieferten Spiele kommt Simon zu dem Ergebnis, dass sich weder Abhängigkeiten und Überlieferungswege nachweisen lassen noch eine besondere Regelmäßigkeit bei den Textvarianten in der Münchner Handschrift gegenüber anderen Textzeugen feststellbar ist (vgl. S I M O N , Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 58-61). So sind z.B. die Titulaturen oder die Zuschreibungen an den Herolt oder Ausschreier in den Epilogüberschriften im gesamten Korpus divergent gestaltet, eine besondere Systematik für den Cgm 714 gibt es offenbar nicht. Vgl. ebd., S. 24f., S. 27-29. 137 Vgl. S I M O N , Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 24f. 138 Zwischen diesen beiden Spielen und damit zahlenmäßig in der Mitte des Fastnachtspielkorpus ist ein Blatt unbeschrieben geblieben (396), eine sinnfällige Zweiteilung des Textkorpus ergibt sich da‐ raus allerdings nicht. des Codex: Vasnacht Spil (3r) Schnepers (3v). 135 Da die meisten Fastnachtspiele nur einfach überliefert sind, ist eine Rekonstruktion von Vorlagenbeziehungen und Textgenesen für den zweiten Teil des Cgm 714 nur begrenzt möglich und wenig aufschlussreich. 136 Festzu‐ halten ist aber, dass der Cgm 714 bei den meisten Titulaturen den Terminus vasnacht ver‐ wendet, während in anderen Spiel-Handschriften die Bezeichnung spil oder vasnachtspil dominiert. 137 Möglicherweise manifestiert sich hierin eine besondere Intention als Lesetext, indem häufiger auf die Bezeichnung spil als Markierung der dramatischen Konzeption ver‐ zichtet wird. Der zweite Teil des Cgm 714 präsentiert im Vergleich zum ersten Teil ein homogenes Textkorpus, indem ausschließlich Texte derselben Gattung und vermutlich auch desselben Verfassers zusammengestellt werden. Damit tritt dieser Sammlungsteil als weniger kon‐ zeptionell durchdachte Textkomposition in Erscheinung als der erste Teil, der divergentes Material spannungsvoll arrangiert und verschiedene diskursive Formationen gestaltet. Im zweiten Teil wird eine Textreihe aus einem gemeinsamen Gattungs- und Bedeutungs‐ spektrum zusammengestellt, prägnante Textformationen wie im ersten Teil stechen nicht heraus. Wohl aber ist immer wieder das für die kleine Reimpaardichtung typische Verfahren der Anordnung in Textpaaren durch gemeinsame Motive fassbar. So korrespondieren die beiden kurzen Spiele Nr. 61 und 62 über das gemeinsame Bild des ‚Einsalzens‘ von Mädchen. ‚Die verhinderten Ehemänner‘ und ‚Frauenverleumder vor Gericht‘ (72, 73) bilden dagegen ein Textpaar über eine oppositionelle inhaltliche Beziehung: Der erste Text stellt Reden von neun verhinderten Ehemännern dar, die reihum Gründe für die nicht erfolgten Eheschlie‐ ßungen angeben, etwa das promiskuitive Verhalten oder körperliche Beeinträchtigungen der Frauen, wobei die Sprecher bei ihren Schmähungen aber auch selber erhebliche kör‐ perliche und moralische Defizite zu erkennen geben. Der zweite Text kann als Entgegnung gelesen werden, denn hier klagen Frauen darüber, dass man ihnen zu leicht die Ehre ab‐ spricht, verschiedene Fürsprecher werden angerufen und schlagen drakonische Strafen für die lästernden Männer vor. 138 Ein markantes Textpaar bilden ‚Streit zwischen Fastnacht und Fastenzeit‘ und ‚Prozeß zwischen Fastnacht und Fastenzeit‘ (57, 58), die beide einen Rechtsstreit zwischen der Fast‐ nacht und der Fastenzeit behandeln: Die Fastnacht beklagt den Verlust ihrer Herrschaft, die Schöffen argumentieren in ihrem Sinne, weil sie den Verlust ihrer Annehmlichkeiten durch 151 6.4 Zweiter Teil - Fastnachtspiele und Verkehrung 139 Während Ortmann/ Ragotzky die beiden Spiele vor allem als Perspektivierung einer übergeordneten Ordnung des Kirchenjahrs sehen, in die Fastnacht als auch Fastenzeit trotz ihrer inhaltlichen Oppo‐ sition durch die gemeinsame Ausrichtung auf Ostern eingebunden sind (O R T M A N N / R A G O T Z K Y , Itli‐ cher zeit tut man ir recht, S. 209ff.), beschreibt Quast die Opposition von Fastnacht und Fastenzeit als eine nur vordergründige. Bei näherer Betrachtung wird ein dialektisches Ineinandergreifen der beiden Sphären erkennbar. Vgl. Q U A S T , Zwischenwelten, S. 206. 140 Der unklare Status von ‚Mantel‘ und ‚Krone‘ als Einzeltexte oder Texteinheit wird auch in der For‐ schungsliteratur verzeichnet, wo die Texte stets als zusammen gehöriges Paar aufgeführt werden (vgl. G L I E R , ‚Rosenplütsche Fastnachtspiele‘ in 2 VL 8, Sp. 219; S I M O N , Die erste deutsche Fastnacht‐ spieltradition, S. 88). Der Stoff, der die Grundlage für den ‚Luneten Mantel‘ liefert, stammt aus der Artustradition (vgl. ‚Der Mantel‘ im Ambraser Heldenbuch) und ist in verschiedenen Varianten in der volkssprachigen deutschen Literatur fassbar. Ähnlich der Erzählstoff um König Artus Horn, der gleichfalls seit dem 12. Jahrhundert in der frz. Dichtung anzutreffen ist und von dort Eingang in die deutschsprachige Literatur gefunden hat. Direkte Quellen für die Rosenplütschen Literarisierungen des Stoffes sind allerdings nicht auszumachen. Vgl. S C H A N Z E , ‚Luneten Mantel‘ in 2 VL 5, Sp. 1068f.; ders., ‚König Artus‘ Horn‘ I in 2 VL 5, Sp. 69f.; W E S T L I N N I N G , ‚König Artus‘ Horn‘ II in 2 VL 5, Sp. 71. die beginnende Fastenzeit beklagen - das Urteil allerdings wird, wie so oft im Fastnacht‐ spiel, aufgeschoben. 139 Die Texte korrespondieren nicht nur miteinander, sie markieren auch eine besondere literarische Selbstreflexion, indem sie das Prinzip der Fastnacht selber zum Gegenstand der Verhandlung machen. Als thematisch besonders dicht verwobenes Textpaar stechen die unikal im Cgm 714 tradierten Texte ‚Krone‘ und ‚Luneten Mantel‘ (65, 66) hervor. Die beiden Spiele treten als textuelle Einheit in Erscheinung, indem sie unmittelbar aneinandergefügt sind. Der Titel des zweiten Textes wird zwar ebenfalls aufgeführt, er steht aber nicht über dem Text, son‐ dern am Rand des Blattes neben dem Textübergang (361v). 140 Die beiden Spieltexte sind auch inhaltlich verknüpft, indem sie das Motiv einer Treueprobe jeweils für die männlichen und die weiblichen Figuren am Artushof inszenieren. Zunächst erhält der Hof eine schöne Krone als Geschenk, die derjenige erhalten soll, dem sie am besten steht. Das Kleinod ent‐ puppt sich als Wahrheitsinstrument, denn auf den Kopf gesetzt verwandelt es sich in ein Paar Hörner, sofern sein Träger Ehebruch begangen hat. Nachdem zwei Könige auf diese Weise entlarvt wurden, setzt die Erzählung von dem Mantel ein, dem eine ähnliche Funktion zukommt, denn er ist nur lang genug, wenn seine Trägerin sich keiner Untreue schuldig gemacht hat. Als Mittel der Unterhaltung wird der Mantel in der Öffentlichkeit des Hofes reihum ausprobiert, hier kann nach einer Reihe von Blamagen immerhin die Frau des Kö‐ nigs von Spanien als einzig ehrbare Frau Lob erlangen. Bemerkenswert ist der Auftritt der Närrin, die unbedingt ebenfalls den Mantel ausprobieren möchte; sie erklärt, dass ihr dieser gut stehen würde, da sie nur drei außereheliche Liebhaber habe (369v). Die Textsymbiose offenbart mit der burlesken Entlarvung ehelicher Untreue die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Selbstinszenierung der hochadligen Handlungsträger. Auch die eingeschobene Narrenepisode reduziert die höfische Dignität erheblich, denn das gemeinsame Moment der triebhaften Natur nivelliert die Unterschiede zwischen Adel und Narren. Die prägnante Textsymbiose sticht nicht nur durch ihren Umfang aus der Reihe der Fastnachtspiele im Cgm 714 heraus, mit der Thematisierung des Artushofes stellt das Text‐ paar eine Besonderheit innerhalb der Fastnachtspieltradition dar, die in ihrem breiten Fi‐ 152 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 141 Zur Darstellung der Ehe als rechtliche Institution im Fastnachtspiel vgl. R A G O T Z K Y , ‚Pulschaft und Nachthunger‘, bes. S. 443. 142 Vgl. ebd., S. 429-432. gurenrepertoire zwar auch adliges Personal aufführt, aber selten unmittelbar auf Stoffe des höfischen Romans Bezug nimmt. Nicht nur in ‚Mantel‘ und ‚Krone‘, sondern im gesamten Fastnachtspielkorpus stehen Ver‐ handlungen von Minne im Fokus; Werbung, Sexualität, Ehe und das Geschlechterverhältnis sind dominierende Themen. Sehr häufig werden Ehe und Eheprobleme verhandelt, die im Fastnachtspiel meist in Form einer Gerichtsverhandlung dargeboten werden. 141 Dabei geht es zumeist um Ehebruch, oft auch um den nahthunger der Ehefrauen, die über sexuelle Vernachlässigung klagen. Komische Verkehrung resultiert aus den lapidaren Erklärungen der Ehemänner, die etwa mit dem Fremdgehen die eigene Frau ‚schonen‘ wollen, aus den absurden und drakonischen Strafen, die von den befragten Schöffen vorgeschlagen werden, und den unverbindlichen Entscheidungen der Richter, die sich meist nur vertagen. Die häufige Darbietungsform der Gerichtsverhandlung demonstriert besonders anschaulich eine aus den Fugen geratene Ordnung, denn mit dem Gericht wird gerade die Institution der Lächerlichkeit preisgegeben und in ihrer Dysfunktion entlarvt, die in besonderem Maße Ordnung symbolisiert und der es eigentlich obliegt, Ordnung wiederherzustellen. Im Fast‐ nachtspiel wird diese Funktion konterkariert; nicht nur sind die zumeist sexuellen ‚Delikte‘ oft so absurd wie die vorgeschlagenen Strafen, das Gericht kommt auch nur in den seltens‐ ten Fällen seiner eigentlichen Aufgabe nach, denn die Urteile sind entweder nichtssagend oder sie werden vertagt. Das oben angeführte Spiel ‚Die verhinderten Ehemänner‘ (72) ist ebenfalls beispielhaft für das Verkehrungsprinzip, indem ein geradezu gegenteiliges Konzept zum Werbungs‐ schema inszeniert wird: Die bäuerlichen Handlungsträger erklären der Reihe nach, warum sie von einer ursprünglichen Eheabsicht zurückgetreten sind. Als Gründe werden zumeist körperliche und moralische Mängel der Kandidatinnen genannt, wobei die Sprecher un‐ freiwillig erhebliche eigene Defizite offenbaren; die Äußerungen geraten zu einer Kaskade missglückter sexueller Abenteuer und körperlicher Mängel. Die Spieltexte verkehren etablierte Muster der Minnedichtung in ihr Gegenteil, indem ‚normgerechtes‘ Minneverhalten durch gegenteilige Verhaltensprinzipien konterkariert wird. Minne wird in den Fastnachtspielen vollkommen auf das Körperliche reduziert - was in Werbungsliedern und Minnereden oft Andeutung bleibt, wird hier schonungslos offen‐ gelegt, es geht ausschließlich um Sexualität und sexuelle Funktionalität. Minne existiert in den Spielen nur als unverbrämte Sexualität ohne Rückbindung an stilisierende oder nor‐ mierende Darstellungstraditionen. Auch werden die Frauen in den Spieltexten nicht gelobt, sondern hemmungslos diskreditiert, an die Stelle des topischen Schönheitspreises tritt das Gegenteil einer vulgären Darstellung körperlicher Vorzüge, häufiger noch eine Schmähung der Defizite. Auch die in der Minnedichtung topisch geäußerte Hoffnung auf Liebeserfül‐ lung verkehrt sich im Fastnachtspiel in ihr Gegenteil, wenn der Mann angeklagt wird, sich dieser zu entziehen. Die Diskreditierung der literarischen Traditionen von Minnewerbung und Minnedienst hat ihrerseits eine eigene Tradition, 142 sie tritt, ebenso wie die Literari‐ 153 6.4 Zweiter Teil - Fastnachtspiele und Verkehrung 143 Vgl. R A G O T Z K Y , ‚Pulschaft und Nachthunger‘, S. 436; G L I E R , ‚Rosenplütsche Fastnachtspiele‘ in 2 VL 8, Sp. 230. 144 Eine parodierende Adaption literarischer Diskurstraditionen des Minnesangs mit einem als anma‐ ßend und roh geschilderten bäuerlichen Personal ist schon seit dem 13. Jahrhundert durch die Neid‐ hart-Tradition etabliert. Die im bäuerlichen Milieu verorteten Lieder präsentieren nicht nur unver‐ hohlenes sexuelles Begehren der Frauen, häufig wird dem am Muster des Minnedienstes orientierten Werben eines Ritters das derbe Bemühen des Bauerntölpels gegenübergestellt (vgl. B E Y S C H L A G , ‚Neidhart und Neidhartianer‘ in 2 VL 6, Sp. 877f.). Mit dem älteren Typus der ‚Neidhart-Spiele‘ ist außerdem das Wirken der Neidhart-Dichtung in einer Spieltradition schon vor dem eigentlichen Fastnachtspiel belegt (vgl. R A G O T Z K Y , ‚Fastnachtspiel‘ in RL 1, S. 568; S I M O N , ‚Neidhartspiele‘ in 2 VL 6, Sp. 893-898). Aus der kleinepischen Dichtungstradition sind im 14. Jahrhundert mit ‚Meier Betz‘ und ‚Metzen hochzit‘ - beide unter dem Titel ‚Die Bauernhochzeit‘ bekannt - zwei wirkungsvolle Texte entstanden, die die parodierende Darstellung von Brautwerbung und Hochzeitsfeierlichkeit zum Gegenstand haben und eine der Vorlagen für Heinrich Wittenwilers ‚Ring‘ bilden. Vgl. B O E S C H , ‚Die Bauernhochzeit‘ in 2 VL 1, Sp. 639f.; B E Y S C H L A G , ‚Neidhart und Neidhartianer‘ in 2 VL 6, Sp. 886. 145 Vgl. S C H A U S T E N , ‚Kuhhandel‘, S. 174f. 146 Vgl. ebd., S. 186-189. 147 Vgl. R A G O T Z K Y , Der Bauer in der Narrenrolle, S. 77, S. 81. sierung von Sexualität und Obszönität, nicht erst im Fastnachtspiel in Erscheinung, aber sie erfährt hier eine Zuspitzung und unverhohlene Drastik der Darstellung. 143 Auch die häufige Thematisierung der Bauernfigur im Fastnachtspiel, die sich zumeist durch despektierliches Verhalten und soziale Anmaßung kennzeichnet, ist nicht erst durch diesen Texttyp geprägt, sondern ebenfalls in eine literarische Darstellungstradition einge‐ bunden. 144 Der Bauernrolle kommen ähnliche Funktionen zu wie der des Narren, indem die exponiert ausgestellte Körperlichkeit und Triebhaftigkeit, mit der der Bauer zumeist in‐ szeniert wird, das kulturelle Ordnungsmuster der Affektkontrolle unterläuft. 145 Sie ist damit besonders geeignet, Erwartungen zu konterkarieren, die an die Darstellung bestimmter Motive oder literarischer Konzepte wie die Brautwerbung geknüpft sind. Die Rolle des Bauern im Fastnachtspiel lässt sich aber nicht nur auf eine Narrentypologie reduzieren, es werden auch soziale bzw. ständische Parameter, die mit der Bauernfigur verbunden sind, in die Spiele eingebunden. Die Darstellung der Bauernfigur in ihrer Rekurrenz auf die Neidhart-Tradition fungiert zum einen als negative Kontrastfolie für eigene Identitätsent‐ würfe, gleichzeitig kann sie auch Chiffre für negativ akzentuierte Verhaltensmuster stadt‐ bürgerlicher Gruppierungen sein. 146 In der häufigen Thematisierung des Bauern im Fast‐ nachtspiel ist aber nicht ein Ausdruck tatsächlicher ständischer Polemik zu sehen, sondern das Ergebnis einer Tradition, in der sich die Bauernfigur als bevorzugte Repräsentation einer Welt der Verkehrung etabliert hat. 147 Beispielhaft für die Literarisierung der Bauernfigur im Fastnachtspiel stehen die ‚Bau‐ ernprahlereien‘ I und II (95, 84). Hier wird gattungstypisch eine hyperbolische Selbstüber‐ schätzung der Akteure in Szene gesetzt, die ihre Unzufriedenheit mit der bäuerlichen Le‐ bensform und ihre Eignung zur Ritterschaft erklären bzw. mit ihrer Liebeskompetenz prahlen. Dabei entlarven sich die Sprecher beständig durch ihre offensichtliche Fress- und Sauflust, ihre Fokussierung auf Sexualität und durch die offensichtlichen Misserfolge, die ihre Liebesabenteuer dominieren. Dass auch der erste und letzte Text der Spielereihe im Cgm 714 die Bauernfigur zum Gegenstand haben, markiert deren Wichtigkeit für den Text‐ typus. 154 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 148 Vgl. S P I E W O K , Das deutsche Fastnachtspiel, S. 20f. 149 Als eines der wenigen Spiele ist die Textentstehung durch die Bezugnahme auf das historische Er‐ eignis der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 konkreter datierbar. Vgl. G L I E R , ‚Ro‐ senplütsche Fastnachtspiele‘ in 2 VL 8, Sp. 228; S I M O N , Die erste deutsche Fastnachtspieltradition, S. 69. 150 Vgl. R A G O T Z K Y , Der Bauer in der Narrenrolle, S. 95ff. 151 Dass die Türkendarstellung zur Selbstversicherung der christlichen Werte genutzt wird, legt A C K E R‐ M A N N , Dimensionen der Medialität, umfangreich dar. 152 Vgl. R A G O T Z K Y , Fastnacht und Endzeit, S. 54ff. Nicht nur die Bauern, auch die übrigen Stände oder gesellschaftlichen Gruppen werden im Fastnachtspiel Gegenstand persiflierender Darstellung. So wird in ‚Wie man Ritter wird‘ (51) die Legitimationsbasis der Ritterschaft der Lächerlichkeit preisgegeben, indem die Sprecher erklären, ihren Ritterstand durch schönes Haar, Singen und Tanzen, kunstvolles Reiten und schönes Springen erworben zu haben. Eine Steigerung erfährt die lächerliche Selbstentlarvung noch, weil die fragwürdigen Qualitäten nicht einmal bewiesen werden können, denn die Ritter geben vor, aufgrund von Verletzungen gerade nicht tanzen, reiten oder das Haar zeigen zu können. Eine völlige Verkehrung der ständischen Ordnung sowohl durch die wechselseitigen Vorwürfe als auch durch die eigenwilligen Bündnisse zeigt sich in dem Spiel ‚Vom Papst, Kardinal und von den Bischöfen‘ (63), in dem ein Bischof angeklagt wird, den Bauernstand auszupressen, als Klageführer fungieren Ritter und Papst. Demge‐ genüber klagen Bischof, Kardinal, Herzog und Graf als Vertreter des weltlichen und geist‐ lichen Hochadels über die Hoffart der Bauern. Der Brauch der Fastnacht, soziale oder politische Missstände zu benennen, ist Bestandteil seiner Literarisierung, die Fastnachtspiele können auch ein Medium der Darstellung sozi‐ aler und gesellschaftlicher Problematiken sein. 148 Am weitreichendsten wird dies in ‚Des Türken Fastnachtspiel‘ (94) verhandelt, das mit sieben Handschriften das am häufigsten überlieferte Fastnachtspiel darstellt und als einer der bedeutendsten Vertreter der Gattung gelten kann. 149 Hier wird die ‚Türkengefahr‘ als zentrales politisches Thema im 15. Jahr‐ hundert Gegenstand der literarischen Verhandlung, indem sich der türkische Sultan ein Wortgefecht mit Vertretern des Papstes, des Kaisers und der Kurfürsten über die Missstände im Heiligen Römischen Reich liefert. Verkehrung wird hier zum Mittel der Herrschafts‐ kritik, denn der Heidenfürst kommt nicht als Eroberer, sondern formuliert eine dezidierte Kritik am christlichen Adel, der seiner Aufgabe nicht nachkomme, für Ordnung und ge‐ rechte Verhältnisse zu sorgen. 150 Dass dies nicht als Ausdruck einer positiven Heidendar‐ stellung, sondern als didaktisches Mittel zu lesen ist, zeigt eine Explikation zum richtigen Glauben: Der Sultan erkennt die prinzipielle Überlegenheit des Christentums an, glaubt aber an einen bevorstehenden selbstverschuldeten Untergang durch die laxe Glaubens‐ praxis der Christen. 151 Auch ‚Des Entchrist Vasnacht‘ (53) behandelt mit dem verbreiteten Motiv des Anti‐ christen ein ernsthaftes Thema, das zugleich eine maximale Zuspitzung des Verkehrungs‐ prinzips darstellt, denn der Antichrist als antithetische Entsprechung zu Christus verkör‐ pert eine Verkehrung heilsgeschichtlichen Ausmaßes. 152 Ihm gelingt es, letztlich alle Stände und gesellschaftlichen Gruppen zu korrumpieren und von seiner Herrschaft zu überzeugen, die der Armut und vermeintlichen Schwäche Gottes überlegen sei, indem er etwa dem Adel Reichtum und Macht und dem Klerus ungezügelte Sexualität und Völlerei verspricht. 155 6.4 Zweiter Teil - Fastnachtspiele und Verkehrung 153 Vgl. die verschiedentlich geäußerte These einer ‚Ventilfunktion‘ der Spiele als Kompensation unter‐ drückter sexueller Triebe. Die Vorstellung, dass die obszönen/ sexuellen Elemente im Fastnachtspiel Ausdruck unterdrückter Sexualität der als Träger der Fastnachtspiele angenommenen Gruppe der Handwerksgesellen seien, findet allerdings keine Bestätigung in historischen Zeugnissen zur Le‐ benssituation der Handwerkerschaft. Vgl. S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 303-310. 154 Vgl. B A C H T I N , Rabelais und seine Welt. Gegen Bachtins These des „karnevalistischen Weltempfin‐ dens“ als einer vermeintlich allgemeinen anthropologischen Konstante u.a. M O S E R , Lachkultur des Mittelalters? , bes. S. 108f. 155 „Eine solche These basiert stillschweigend auf der Annahme eines weitgehend von kirchlichen und weltlichen Regeln dominierten Alltags und - daraus abgeleitet - einer Suche nach Formen, die Normen zeitweise außer Kraft zu setzen bzw. zu dekonstruieren. Zu diesem Zirkelschluss vom Text auf eine soziokulturelle Realität des Spätmittelalters haben die Fastnachtspiele mit ihren uneindeu‐ tigen Aussagen und ihrem nach allen Seiten zielenden Spott nicht wenig beigetragen“. W O L F , Ko‐ mische Inszenierung und Diskursvielfalt, S. 302. 6.4.2 Verkehrung als literarisches Prinzip Der Cgm 714 als eine der Haupthandschriften und damit wichtigsten Quellen, die maß‐ geblich Kenntnis und Vorstellung von der frühen Nürnberger Fastnachtspieltradition prägen, hat repräsentativen Status für die Textsorte. Entsprechend deutet die Auswahl der Fastnachtspiele im Cgm 714 auf keine besondere inhaltliche Akzentuierung hin, sondern präsentiert eine Gesamtschau des Spektrums der frühen Fastnachtspiele hinsichtlich Figu‐ renpersonal, Themen, Motiven und Darstellungsweisen. Es werden sowohl gattungstypi‐ sche kurze Texte als auch einige längere und elaboriertere Spieltexte aufgeführt, die aus dem Korpus hervorstechen und eine ernsthaftere Thematik mit tatsächlicher Didaxe ver‐ mitteln; zumeist sind es die umfangreichen Spiele, die auch breiter tradiert sind. Die historische Verortung in der Karnevalstradition und die Rekurrenz der Spieltexte auf verschiedene politische und gesellschaftliche Themen hat eine auf die soziokulturellen Faktoren bezogene Exegese geprägt. 153 Mit Bachtins Konzept der ‚Karnevalisierung‘ erfuhr die gesellschaftspolitische Interpretation der Fastnachtspiele eine programmatische Zu‐ spitzung, indem der Karneval als Gegenkonzept zur autoritären Welt von Kirche und Feu‐ dalherrschaft stilisiert wurde, das sich literarisch im Fastnachtspiel ausdrücke. Das Ver‐ spotten von Institutionen und Trägern der repressiven Ordnung, die sonst durch eine besondere Dignität geschützt sind, habe eine Ventilfunktion für das allgegenwärtige Le‐ bensgefühl von Angst, Not und Repression gehabt. 154 Die Vorstellungen einer repressiven Lebensrealität und eines rigide normierten Alltags, gegen den die Spiele opponieren würden, stellen nicht nur einen Zirkelschluss dar, indem die Forschung aus den Spielen selber deren soziokulturellen Hintergrund zu erschließen sucht, 155 sie verkürzen die Fast‐ nachtspiele auch auf eine funktionale Lesart als soziales Ventil, das ihrem literarischen Status nicht ausreichend Rechnung trägt. Zweifellos ist die Inszenierung verkehrter Ord‐ nung und das Hinterfragen von Selbstbildern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen konstitutiv für die burleske Komik der Texte, aber die Fastnachtspiele können weder auf 156 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 156 Moser nimmt eine gegenteilige Position ein, indem er die Spiele als ein affirmierendes Instrument im Sinne gängiger moraltheologischer Vorstellungen sieht, das religiöse Ermahnung zum Ziel hat. Moser fasst die Fastnachtspiele als geistliche Texte mit weltlichem Inhalt und betont ihre liturgische Einbindung, deren überzeitliche Funktion es sei, das kreatürliche Wesen des Menschen zur Schau zu stellen und absolut zu setzen. Indem die Spiele eigentlich abgelehnte Verhaltensweisen überdeutlich akzentuieren, würden sie zu Negativexempeln und einem Instrument der Didaktisierung (vgl., M O S E R , Fastnachtsbrauch und Fastnachtsspiel, S. 163ff.) Eine ganz ähnliche Funktion von Komik und Verkehrung in dezidierter Abgrenzung zu Bachtin stellt Schnell für das geistliche Spiel vor, indem er in der komischen Kontrastierung der Normativität und Dignität des Religiösen mit dem Nega‐ tivem/ Ausgegrenzten eine Festigung der religiösen Norm sieht (vgl. S C H N E L L , Geistliches Spiel und Lachen, S. 90f.) Damit wird eine ähnliche Lesart für das geistliche und weltliche Spiel beschrieben, wie sie verschiedentlich für die schwankhaften Versnovellen vorgestellt wird, die durch die Vorfüh‐ rung von Negativbeispielen eine Bestätigung der Ordo demonstrieren würden. Kritisch zu Moser u.a. Q U A S T , Zwischenwelten, S. 218f., der auf den beständigen Wechsel der Perspektiven in den Fastnachtspielen hinweist, die eine Festschreibung auf ein kohärentes Deutungsmuster wie das durch Moser vorgestellte nicht plausibel erscheinen lassen. 157 G U M B R E C H T , Literarische Gegenwelten, S. 97. 158 Vgl. R A G O T Z K Y , ‚Pulschaft und Nachthunger‘, S. 437. 159 Vgl. W O L F , Komische Inszenierung und Diskursvielfalt, S. 303, S. 324f. ein Medium der Sozial- und Herrschaftskritik, noch auf eine gegenteilige Funktion als Ne‐ gativ-Exempel, die die Gültigkeit normativer Konzepte bestätigen, reduziert werden. 156 Die den Karneval kennzeichnende „Suspendierung oder Umkehrung der den gesell‐ schaftlichen Alltag prägenden Ordnung“ schreibt auch dem literarisierten Fastnachtspiel eine besondere „Lizenz zur Aufhebung solcher Normalität“ ein. 157 In den Fastnachtspielen wird immer wieder auf diese besondere Lizenz zur Verkehrung und Aufhebung von Normen verwiesen, indem in nahezu allen Epilogen die Vorrechte der Fastenzeit aufgerufen werden. Aber das Moment der Verkehrung und Aufhebung von Normativität, das als konstitutiv für die Poetik der Fastnachtspiele profiliert wird, ist vor allem als ein literarisches Phänomen, als ein Spiel mit literarischen Regeln und Konventionen zu fassen, das wesentlich aus der Adaption poetischer Gattungs- und Diskurstraditionen resultiert. Die Tatsache, dass die verkehrenden Motive und Darstellungsprinzipien des Fastnachtspiels, etwa die parodisti‐ sche Inszenierung der Bauernfigur, ihrerseits literarische Vorgänger haben, zeigt, dass das hier wirkende Verkehrungsprinzip nicht erst mit dem Fastnachtspiel entstanden ist, son‐ dern eine eigene Tradition hat. 158 Dabei stellt Verkehrung kein universelles Prinzip dar, sondern ist angebunden an konkrete Themen- und Diskursbereiche, die gezielt aufgegriffen werden. 159 Verkehrung als literarisches Prinzip kann mit Bachtins Konzept der Karnevalisierung nicht adäquat abgebildet werden. Bachtins Karnevalsprinzip beansprucht nicht nur Gül‐ tigkeit für das Fastnachtspiel, sondern wird als Oberbegriff für eine bis in die Antike zu‐ rückgehende, aber vor allem im christlichen Mittelalter präsente ‚Volkskultur‘ verwendet, die sich durch eine oppositionelle Haltung gegenüber der ‚ernsten‘ oder ‚offiziellen‘ Kultur kennzeichne. Damit wird eine programmatische Perspektive entworfen, die auf klaren Di‐ chotomien basiert. Diese wurde bezüglich der Annahme einer deutlichen Trennung zwi‐ schen den Trägerschaften der ‚offiziellen‘ und der ‚karnevalistischen‘ oder Volkskultur zwar zurückgewiesen, nicht aber hinsichtlich der Vorstellung des Karnevals als all jenen „kulturellen Manifestationen, die in einem Verhältnis rein rekursiver Negation zur offi‐ 157 6.4 Zweiter Teil - Fastnachtspiele und Verkehrung 160 G U M B R E C H T , Literarische Gegenwelten, S. 97-103, Zitat S. 103. 161 Zur Problematik von Dichotomiekonzepten als häufigem Vorstellungsprinzip in der Mediävistik siehe W O L F , Komische Inszenierung und Diskursvielfalt, S. 301: „Zu den wirkungsvollsten Setzungen innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft gehört bekanntlich ein Dichotomisierungs‐ index, im dem weltlich und geistlich, Fastnacht und Passionszeit, Spiel und Ernst, Normverkehrung und Normaffirmation […] voneinander getrennt erscheinen.“ 162 Barton verweist auf eine Eigengesetzlichkeit von Komik und Ritualität, die eine einseitig auf ein Erkenntnismoment zugespitzte Lesart zumindest einschränken. Vgl. B A R T O N , Was wir do machen, das ist schimpf, S. 182f. 163 Q U A S T , Zwischenwelten, S. 206. ziellen Kultur stehen.“ 160 Fraglich ist aber, wieweit kulturelle Artefakte überhaupt in eine klare Binarität von ‚offizieller‘ Kultur und ihrem Gegenteil eingeordnet werden können. Das Modell der Karnevalisierung impliziert nicht nur eine Vorstellung von kulturellen Di‐ chotomien, 161 sondern auch von klaren oppositionellen Bezugnahmen auf die verhandelten Traditionen und Geltungskonzepte. Eine so eindeutige Positionierung erlauben die Fast‐ nachtspiele aber kaum, im Gegenteil verweigern diese meist konsistente Aussagen, was in den urteilslosen Gerichtsverhandlungen besonders bildhaft wird. 162 Das Wesen des Fast‐ nachtspiels wie auch des Karnevals selber ist nicht die klare Negation, denn die Spiele transportieren in der Negation oft auch eine Affirmation; vielmehr kennzeichnet sich das Fastnachtspiel durch „die Ambiguität, die gesetzte Positionslosigkeit“. 163 Mit dem Prinzip der Adaption und Verkehrung literarischer und kultureller Traditionen folgt das Fastnachtspiel ähnlichen Mustern wie das novellistische Erzählen. Auch in den Spielen wird ein breites Spektrum an tradierten Motiven und Mustern aufgegriffen und, häufig in parodierender Inszenierung, in neue Zusammenhänge überführt. Unterschiede bestehen aber in den Modi der Darstellung: In den novellistischen Erzähltexten werden tradierte Bedeutungsmuster aufgelöst, indem Inkohärenzen, Widersprüche und damit Am‐ biguität erzeugt werden. Dagegen stellt das Fastnachtspiel nicht nur durch die dramatische Konzeption, sondern auch durch seine drastischere Darstellung vor allem des sexuellen und skatologischen Moments die Konterkarierung normativer Muster durch deren ostentative Verkehrung heraus. 6.5 Das ‚Herzmaere‘ im Cgm 714 - Fazit Der Cgm 714 ist eine Sammlung, die unmittelbar mit dem Literaturort Nürnberg verbunden und durch eine spannungsvolle Gleichzeitigkeit von literarischer Tradition und Neuerung geprägt ist. Die Sammlung führt breit gefächertes Material auf, dazu gehören zahlreiche ältere, traditionsreiche Dichtungen, gleichzeitig finden sich viele Texte mit besonderer rhe‐ torischer Gestaltung. Der Cgm 714 zeigt auch eine besondere Offenheit für Texte, in denen verschiedene Formen literarischer Sinnstiftung verschmolzen werden, wie es etwa die christlichen Preisgedichte vorführen, die Darstellungsmittel der Heraldik verwenden, oder das ‚Hurübel‘, das den Modus des medizinischen Traktats zur moralischen Belehrung nutzt. Das innovative Moment des Cgm 714 zeigt sich sowohl in der Einbindung neuen Mate‐ rials - dafür steht schon die umfangreiche Sammlung der Fastnachtspiele als einer noch jungen Texttradition -, als auch in der Darbietungsweise der Texte. Insbesondere der erste 158 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 164 Zum Schreiber/ Kompilator siehe Kap. 3.5.2. Teil des Cgm 714 vermittelt auf verschiedenen Ebenen eine konzeptionelle Gestaltung und redaktionelle ‚Gemachtheit‘, die sich in der Auswahl und dem Arrangement der Texte und in Anpassungen der Textform manifestiert. Im Cgm 714 lassen sich verschiedene Verfahren der Textpräsentation und Textgestaltung ermitteln, die mit gezielten Eingriffen und Veränderungen einhergehen. So gibt es Ver‐ schmelzungen von Texten, indem diese ohne Markierung und unter einem gemeinsamen Titel zusammengefügt werden. Ein regelrechtes Montageverfahren stellt die Einbindung von Auszügen aus anderen Texten dar, wie es beim ‚Herzmaere‘ mit dem Textschluss aus Rudolfs von Ems ‚Willehalm von Orlens‘ vorliegt. Weiterhin finden sich Auszüge aus großen Werken oder Werkkompilationen wie dem ‚Trojanerkrieg‘ oder Boners ‚Edelstein‘, die ohne Verweis auf ihren ursprünglichen Kontext in die jeweiligen Textgruppen des Cgm 714 integriert und für deren Sinnsetzungen funktionalisiert werden. Daneben gibt es markante Varianten in der Textform einzelner Dichtungen, die eine intentionale Anpassung nahelegen, wie es besonders in der das ‚Herzmaere‘ integrierenden Ritter-Gruppe augenscheinlich ist. Insbesondere die Gestaltung von Pro- und Epilogen, die getilgt, hinzugefügt oder spezifisch angepasst werden, bedingt Veränderungen in den Sinn‐ stiftungen einzelner Texte. Diese Bearbeitungen stellen keine grundlegenden Umsemanti‐ sierungen dar, aber sie gestalten unterschiedliche Pointierungen der Sinnpotentiale, die den Texten immanent sind. Schon die ungewöhnlich hohe Zahl nicht nur unikaler Texte, son‐ dern auch unikaler Fassungen von breiter tradierten Texten spricht dafür, dass im Cgm 714 von der Möglichkeit individueller Anpassungen intensiv Gebrauch gemacht wurde; der Codex lässt auf ein hohes Maß an Schreiberautonomie schließen. Bei den unikalen Texten ist nicht auszuschließen, dass zumindest ein Teil davon eigens für diese Sammlung herge‐ stellt wurde. Der Schreiber des Cgm 714 steht paradigmatisch für die Relationalität strikter Distinktionen im mittelalterlichen Textmodell, in dem sich kopierende, kompilierende und genuin poetische Textfunktionen überschneiden können. 164 Als wesentliches Moment der Sinnstiftung lässt sich vor allem die Zusammenstellung der Texte fassen, die sich trotz generischer und thematischer Heterogenität als planvoll erweist. Innerhalb der zunächst lose konzipiert erscheinenden Sammlung treten verschiedene Gruppen und Formationen von Texten zu Tage, die auf unterschiedliche Weise miteinander verklammert sind. Der erste Sammlungsteil gestaltet Textgruppen, zwischen denen the‐ matische und texttypische Analogien bestehen, wie es bei den Gruppen der Minnereden und geistlichen Texte oder der einleitenden Texteinheit mit ihrer persiflierenden Stände‐ thematik der Fall ist. In der zentralen Textformation um das ‚Herzmaere‘ werden die Kor‐ respondenzen zwischen den Texten auch über die äußere Gestaltung und über analoge Textanpassungen erzeugt. Die Sammlung reiht die differenten, zum Teil widersprüchlichen Dichtungen nicht ein‐ fach auf, sondern ihre unterschiedlichen Perspektiven werden in ein System wechselsei‐ tiger Bezugnahmen integriert und verknüpft, die Texte kommentieren und bespiegeln 159 6.5 Das ‚Herzmaere‘ im Cgm 714 - Fazit 165 Zum Prinzip der kleinepischen Kompilationen, durch die Zusammenstellung von Texten Ambiguität zu erzeugen, siehe S. 79ff. 166 Zu konfligierenden Sinnsetzungen auf der Ebene des Einzeltextes siehe S. 26ff.; S. 34ff. einander. Das übergreifende Thema ‚Minne‘ wird zu einem zentralen Ermächtigungsin‐ strument, das axiale Verschiebungen zwischen höfischen/ weltlichen und religiösen/ trans‐ zendenten Registern möglich macht. So stehen die drei Liebestoderzählungen zunächst für eine Auratisierung absoluter Minne und der ihr immanenten Werte und Normen, sie verhandeln insbesondere den kom‐ plexen triuwe-Begriff als zentrales ethisches Moment des literarischen Minnekonzepts. Durch die Verbindung mit geistlichen Dichtungen in der fest gefügten Textformation ent‐ steht in der zusammenhängenden Lektüre aber eine kritische Perspektive auf die norma‐ tiven Geltungsansprüche der höfischen bzw. weltlichen Minne, indem diesen eine geistliche Perspektive gegenübergestellt wird. Semantische Relationen bestehen aber nicht nur innerhalb der einzelnen Textgruppen, vielmehr erweist sich der erste Sammlungsteil insgesamt als ein System der Verbindung verschiedener Einheiten, die durch divergente Rekurrenzen auf den Minnediskurs mitei‐ nander korrespondieren. Der Cgm 714 führt zahlreiche Texte auf, die durch die Konventi‐ onen höfisch-adliger Liebesdarstellung geprägt sind, etwa Minnereden, die die etablierten Muster und normativen Implikationen des Minnediskurses aufrufen. Diese stehen unver‐ mittelt neben geistlichen Texte, die dagegen für die Normativität des Religiösen stehen und religiöse Liebessemantiken verhandeln. Beichte und Buße werden wiederholt in die Min‐ nediskussion eingefügt und sowohl in ihren geistlich-weltlichen Sinnpotentialen als auch schwankhaft-parodierend vorgeführt. Hierin manifestiert sich beispielhaft das diskursive Verfahren der kleinepischen Kompilationen, die Relationalität von Geltungskonzepten he‐ rauszustellen, indem die gleichen Motive und Muster in unterschiedlichen Kontexten ver‐ handelt werden. 165 Durch die textuelle Rahmung in der Sammlung verändert sich die Lek‐ türe der Texte, indem diese zu anderen Textbereichen mit divergenten Sinnsetzungen und Normativitäten in Beziehung gesetzt werden. Die Versnovellen treten im Cgm 714 gattungstypisch als besondere Markierungen von ambigen Sinnsetzungen in Erscheinung, deren besonderes Potential zur konfligierenden Gegenüberstellung verschiedener Normativitäten ausgespielt wird. 166 Nicht nur die Lie‐ bestoderzählungen, auch die übrigen fünf enthaltenen Versnovellen, die alle eine schwank‐ hafte Verhandlung der geistlich-weltlichen Relationen von Minne transportieren, werden zwischen Minnereden sowie im Anschluss an geistliche Dichtungen platziert. Als literari‐ sche Brennpunkte erzeugen sie Widersprüche, komplexe Geltungen und Konterkarie‐ rungen von Sinnsetzungen und bespiegeln die unterschiedlichen Facetten der geistlichen und weltlichen Bezüge von Minne. Dabei können sich die Versnovellen sowohl kontrovers zu den Geltungsansprüchen anderer Texttypen verhalten als auch ihrerseits durch die Kontextualisierung in ihrer Lesart beeinflusst werden. Im zweiten Teil des Cgm 714 als eine der frühesten Kompilationen von Fastnachtspielen wird der enge Bezug der Handschrift zum Literaturstandort Nürnberg besonders augen‐ scheinlich. Dieser Sammlungsteil ist einerseits deutlich vom ersten Teil geschieden, indem er anstelle eines heterogenen Textkorpus mit verschieden akzentuierten Gruppen eine in 160 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 Texttypik und Autorschaft homogene Zusammenstellung von Texten präsentiert und damit ein ganz anderes, kohärenteres Profil hat. Trotz der auch optisch klar markierten Trennung ergeben sich aber semantische und konzeptionelle Zusammenhänge zwischen den beiden Teilen des Codex. Die Fastnachtspiele partizipieren an der Tradition der Auflösung nor‐ mativer Verbindlichkeit, die für die Versnovellen prägend ist und die in den Spielen in einer drastischeren Darstellungsweise narrativiert wird. Eine besondere Korrespondenz ge‐ stalten die Fastnachtspiele daher mit dem einleitenden Textblock des ersten Sammlungs‐ teils. Verknüpfungen bestehen sowohl in der Texttypik als auch in einem ähnlichen Mo‐ tivspektrum der persiflierenden Darstellung verschiedener ständischer Gruppen, bei der insbesondere die fehlende Legitimität der Repräsentanten von Herrschaft und guter Ord‐ nung ein prägendes Moment ist. 161 6.5 Das ‚Herzmaere‘ im Cgm 714 - Fazit 167 In den Titellisten werden in der ersten Spalte die gängigen nhd. Titulaturen aufgeführt, in der zweiten Spalte stehen die in den Handschriften aufgeführten mhd. Überschriften. Die Nummerierung der Texte des Cgm 714 orientiert sich an der Handschriftenbeschreibung von S C H N E I D E R , Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 79-89. Die Überschriften des Registers weichen zum Teil geringfügig von den über den Texten aufgeführten ab. Grau unterlegt: Versnovellen. 6.6 Sammlungsübersicht Cgm 714 167 Register / Das ist das register des buchs darynn vindt man durch dy czal alle dy spruch und alle dy vasnachtspil die in disem buch geschriben sind (Ir-IVr) Titel 1. Teil (Register Ir-IIr) 1 ‚Das Herz als Garten der Liebe‘ Das pluemleingertlein (1r-12v) Eingangstext Lage d? 2 ‚Lügenpredigt vom Backofen‘ Vom packofen (13r-16r) 3 ‚Besuch bei der Geliebten‘ Der groß anhaber (16v-22v) 4 ‚Der Bauern Lob‘ Der bawrn lob (23r-24v, 37r-38r) Ständetexte 5 ‚Der Zaunkönig‘ Der vogel gesprech (38r-48v, 25r-28v) Lage a, c, b 6 Hugo von Trimberg: ‚Renner‘ [Auszug V. 309-462]‘ Dy spehen mayd (28v-32v) 7 Stephan Voh p urg: ‚Wolf und Pfaffe‘ Der wolff und pfaff (32v-35v) S. 113-117 8 ‚Die Bettlerin‘ Dy betlerynn (35v-36r) 9 ‚Die Kinder der Edelleute‘ Von edelewten (36r-36v) 10 ‚Die edle Abstammung der Bürger‘ Von burgern (36v) 11 ‚Der Guardian‘ Der gardian (49r-57r) 12 ‚Der rote Mund‘ Vom roten mündlein (57r-63r) 13 ‚Die treue Magd‘ Der reych schreyber (63v-74r) Minnereden/ Schwanktexte 14 ‚Anrufung der Minne‘ Dy mynne (74r-75r) 15 ,Quodlibet‘ Der tor (75v-76v, 79v-82v) 16 Konrad Harder: ‚Der Minne Lehen‘ o. Titel in Nr. 15 (76v-79v) Lage e-h 17 ‚Lob der beständigen Frauen‘ Frawen stetigkayt (83r-86v) 18 ‚Fluch über die ungetreuen Frauen‘ o. Titel an Nr. 17 angefügt (86v-91r) S. 119-122 19 ‚Der Schüler von Paris‘ C Der mit der grossen mynne kraft (91r-106v) 20 ‚Der Minne Kraft‘ ohne Titel an Nr. 19 angefügt (106v-108v) Ritter-Gruppe 162 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 21 ‚Der Württemberger‘ Der ritter mit den selen (108v-127r) Lage h-o 22 ‚Der Ritter in der Kapelle‘ Der ritter in der cappellen (127r-137v) 23 ‚Frauentreue‘ Der ritter mit dem glen reiten (137v-147r) S. 122-138 24 Konrad von Würzburg: ‚Das Herz‐ maere‘ Der ritter mit dem herczen (147r-161r) 25 Egen von Bamberg: ‚Die Klage der Minne‘ / ‚Das Herz‘ Dy clag der mynn / Das hercz (161v- 170r) 26 Johannes Duro: ‚Die fünf Namen‘ Dy fuenff namen (170r-173v) Minnereden 27 Konrad Harder: ‚Der Minne Lehen‘ (Auszug) Fraw mynne lehen (173v-182v) Lage o-q 28 Konrad von Würzburg: ‚Trojaner‐ krieg‘ [V. 19893-20054] Ein huebsch lob von einer frawen (182v-186v) S. 139-142 29 ‚Viel anders‘ Das vil anders (186v-189r) 30 ‚Die heiligen Farben‘ Dy heyling varb (189r-198v) 31 Der Regensburger: ‚Die Geburt Christi‘ Dy gepurt Xpi (198v-203v) geistl. Texte 32 ,Der Wirt der Seele‘ Der gut wirt (203v-206r) Lage q-s 33 ,Thomas von Kandelberg‘ II Dy zwelff schuler (206r-209av) S. 142ff. 34 ‚Die zwei Beichten‘ B Dy zwu peicht (209av-214v) Schwanktexte Lage s-t 35 ‚Der Mönch als Liebesbote‘ A Dy falsch peicht (214v-222r) S. 144f. 36 Ulrich Boner: ‚Edelstein‘ (Auszug) Dy zwen kawffman/ Der pfaff singer (222r-225r) 37 Heinrich der Teichner: ‚Von Jägern‘ Von jegern (225v-227v) 38 Durst: ‚Der Bauern Hoffart‘ Der bawrn hofart (227v-231v) geistl./ moralis. Texte 39 ‚Die rechte Art der Minne‘ Den die junkfraw fragt der lieb (232r-238v) 40 Konrad Harder: ‚Frauenkranz‘ Unser frawen krancz (238v-247r) Lage t-z (+ eine Lage ohne Kus‐ toden-Kenn‐ zeichnung zwischen y+z) 41 ‚Visio Philiberti‘ C Der sel clag (247v-258v) 42 Hans Rosenplüt: ‚Die Beichte‘ Dy beycht (258v-262v) 43 ‚Von dem Hurübel‘ I Dy groß blag (262v-267r) 44 ‚Der wucherische Wechsler und der Fromme‘ Der wucherisch wechßler und der frumm (267r-273v) 45 Hans Andree (? ): ‚Pestgedicht‘ Dy beßtilencz (274r-276r) 46 Hans Rosenplüt: ‚Die Tinte‘ Dy tyntt (276r-278v) 163 6.6 Sammlungsübersicht Cgm 714 168 Die Nr. in Klammern gibt die Nummerierung in der Edition von Kellers (Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. V O N K E L L E R ) wieder. Die ‚Narrenfastnacht‘ ist der einzige Text von der zweiten Schreibhand, siehe S. 105. 169 Der Titel führt das ‚l‘ am cardina(l) nicht auf, im Register heißt es aber Vom bapst vnd dem cardineln (IIIr). 47 Hans Rosenplüt: ‚Die sechs Ärzte‘ Dy sechs erczt (279r-284v) S. 145ff. Titel 2. Teil (Register IIIr-IVr) : Vasnacht Spil (IIIr) Schnepers (IIIv) 48 ‚Narrenfastnacht‘ (116) 168 (-) (284v-287r) Lage b-t (keine Lage a, k, l) 49 ‚Bauernheirat‘ (65) Die vaßnacht von der bawrnheyrat (289r-291r) 50 ‚Mönch Berchtolt‘ (66) Vaßnachtspil vom muench Berchtolt (291r-296v) 51 ‚Wie man Ritter wird‘ (47) Die verdient ritterschafft spil (297r-300v) 52 ‚Der alte Hahnentanz‘ (67) Vaßnachtspil der allt hannentancz (301r-310v) 53 ‚Des Entchrist Vasnacht‘ (68) Des entkrist vasnacht (310v-322v) 54 ‚Der Bauern Rügefastnacht‘ (69) Der bawrn rug vasnacht (322v-325r) 55 ‚Vom Werben um die Jungfrau‘ (70) Die vaßnacht vom werben uemb dy junckfraw (325r-331r) 56 ‚Aschermittwochfastnacht‘ (71) Aschermitwoch vaßnacht vom peichten (331r-333r) 57 ‚Streit zwischen Fastnacht und Fas‐ tenzeit‘ (72) Der vasnacht und vastten recht spil (333r-335v) 58 ‚Prozeß zwischen Fastnacht und Fas‐ tenzeit‘ (73) Das spyl von der vasnacht und vaßten recht vonn sullczen und broten (335v-338r) 59 ‚Liebhabervasnacht‘ (74) Dy groß liebhaber vaßnacht (338r-340r) 60 ‚Die feigen Ritter (75) Dy kayserlich ritterfechten spil (340v-344r) 61 ‚Gertraud einsalzen‘ (76) Der Gerdrawt einsalczen vasnacht (344r-v) 62 ‚Magdtum einsalzen‘ (77) Dy vasnacht vom maigtum einsalczen (344v-345r) 63 ‚Vom Papst, Kardinal und den Bisc‐ höfen‘/ ‚Klerus und Adel‘ (78) Vom babst cardina und von bischoffen  169 (345r-349v) 64 ‚Der König aus Schnokenland‘ (79) Des kunigs auß schnokenlant vaßnacht (349v-354r) 65 ‚Krone‘ (80) Das vasnachtspil mit der kron (354v-361v) 66 ‚Luneten Mantel‘ (81) Der Luneten mantel (361v-373r) 67 ‚Die Roßkur I‘ (82) Das vasnachtspil vom arczt mit den zwelf pawrn (373r-381v) 68 ‚Die Wiletzkinder‘ (83) Der wileczkinder vasnacht (382r-384v) 164 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 69 ‚Meister Uncian‘ (48) Die appatek vasnacht (385r-387r) 70 ‚Warum die Männer Frauen lieben‘ (84) Das actum vasnacht (387r-389v) 71 ‚Die Harndiagnose‘ (85) Des arcztz vasnacht (389v-392v) 72 ‚Die verhinderten Ehemänner‘ (86) Vom heyraten spil (392v-395v) 73 ‚Frauenverleumder vor Gericht‘ (87) Dy frawenschender vasnacht (397r-400r) 74 ‚Ein Ehebrecher vor Gericht‘ (88) Des bawrn flayschgaden vasnacht (397r-400r) 75 ‚Von Kuchinspeis‘ (49) Dy kuechenspeiz vasnacht (403v-406v) 76 ‚Der kurze Hahnentanz‘ (89) Der kurcz hannentancz (406v-409v) 77 ‚Das Chorgericht I‘ (42) Den allten official vasnacht (409v-416r) 78 ‚Weltabkehr‘ (90) Der blinden sew vasnacht (416r-417v) 79 ‚Wann man heiraten soll‘ (41) Des juengling der ayn weip nemen wil spil (417v-420v) 80 ‚Das Jungferneinsalzen‘ (91) Ain einsalczen vasnacht (420v-421v) 81 ‚Büßerrevue‘ (92) Dy makoecken puz vasnacht (421v-424r) 82 ‚Wettstreit in der Liebe‘ (16) Daz gut liebhaber spil (424r-427v) 83 ‚Die blaue Farbe‘ (93) Dy bloben farb vasnacht (427v-429v) 84 ‚Bauernprahlereien II‘ (94) Dy vasnacht von der muellnereyn (429v-432v) 85 ‚Mädchen und Burschen II‘ (95) Dy jung rott vasnacht (433r-436r) 86 ‚Die sieben freien Künste und die Liebe‘ (96) Dy syben kuenst vasnacht (436v-440r) 87 ‚Die Witwe und ihre Töchter‘ (97) Der wittwen und tochter vasnacht (440v-444r) 88 ‚Das Hofgericht vom Ehebruch‘ (40) Das hofgericht spil vom eepruch (444r-449r) 89 ‚Die vier Ärzte‘ (98) Dy vier erczt vasnacht (449r-451r) 90 ‚Die Geharnischten‘ (99) Dy harrnasch vasnacht (451r-456r) 91 ‚Das Fest des Königs von England‘ (100) Des kuenig von Engellant hochzeyt (456r-460r) 92 ‚Die drei Arztbüchsen‘ (101) Dy drey arcztpuechsen (460r-v) 93 ‚Die verklagten Ehemänner‘ (102) Der new oficial (460v-464v) 94 ‚Des Türken Fastnachtspiel‘ (39) Des tuercken vasnaht (464v-476r) 95 ‚Bauernprahlereien I‘ (45) Dy sechs pawrn (476r-477v) 96 ‚Die sieben Farben‘ (103) Dy syben varb (478r-484r) 97 ‚Die karge Bauernhochzeit‘ (104) Dy karg bawrn hochzeyt (484r-490r) 165 6.6 Sammlungsübersicht Cgm 714 Abb. 1: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 714, fol. 147r - ‚Herzmaere‘ 166 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 Abb. 2: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 714, fol. 161r - Epilog ‚Herzmaere‘ 167 6.6 Sammlungsübersicht Cgm 714 Abb. 3: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 714, fol. 91r - ‚Der Schüler von Paris‘, hier unter dem Titel der als Epilog angefügten Minnerede ‚Der mit der großen Minne Kraft‘ 168 6 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext I: Der Cgm 714 Abb. 4: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 714, fol. Iv - Register / ‚Ritter‘-Gruppe 169 6.6 Sammlungsübersicht Cgm 714 1 Sammlungsübersicht S. 190-200; Abb. S. 201. 2 Es gibt unterschiedliche Zählungen der im Cpg 341 enthaltenen Texte, die unter anderem bei der Berücksichtigung der radierten Texte und der Zählung von im Verbund gestalteten Texten diver‐ gieren. So zählt die ältere Arbeit von Rosenhagen nur 213 Texte, wobei der Verfasser selbst auf die ausstehende Untersuchung der Selbstständigkeit von einigen Texten verweist (vgl. R O S E N H A G E N , Die Heidelberger Handschrift cod. Pal. germ. 341, S. XI). Gesamtzahl und Zählung erfolgt hier nach der Handschriften-Beschreibung von M I L L E R / Z I M M E R M A N N , Die Codices Palatini germanici, S. 129-165. 3 Westphal vergleicht die Bedeutung des Cpg 341 für die Kleinepik mit der der Manessischen Lieder‐ handschrift für die Überlieferung der Liebeslyrik. Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Ma‐ nuscripts, S. 68. 4 Vgl. M I L L E R / Z I M M E R M A N N , Codices Palatini germanici, S. 129. 5 Wolf gibt für das ausgehende 13. Jahrhundert, in dem immer noch kleinformatige, schmuckarme Handschriften überwiegen, eine durchschnittliche Blatthöhe von 245mm an und verweist auf den Kostenfaktor bei großformatigen Pergamenthandschriften, deren Preis überproportional zur Blatt‐ größe steigt. Vgl. W O L F , Buch und Text, S. 124-127. 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 7.1 Der Cpg 341 7.1.1 Die Sammlung - repräsentative Anthologie der Kleinepik Die Heidelberger Handschrift Cpg 341 (H) stellt, 1 gefolgt von dem eng verwandten Cod. Bodm. 72 (K), mit 224 Texten und fast 60.000 Reimpaarversen die umfangreichste mittelal‐ terliche Handschrift mit deutschsprachiger versifizierter Kleinepik dar. 2 Das nahezu alle Typen der kleinen Versdichtung umfassende Handschriftenpaar gehört zu den bedeut‐ samsten Zeugnissen des kleinepischen Schrifttums. 3 Neben einem umfangreichen Stri‐ cker-Korpus überliefert der Cpg 341 mit 39 Versnovellen auch eine der umfangreichsten Sammlungen dieses Texttyps. Die Pergamenthandschrift ist im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden und in mitteldeutscher Schreibsprache mit zahlreichen bairischen Formen verfasst. H stellt damit nach Ko den ältesten Überlieferungsträger des ‚Herzmaere‘ dar und steht am Beginn der Etablierung kleinepischer Sammlungen als eigenem Handschriftentyp. Der Entstehungs‐ kontext von H ist unklar, möglicherweise entstand er als Auftragsarbeit der Grafen von Michelsberg. 4 Mit 308x225 mm hat der Cpg 341 eine überdurchschnittliche Blattgröße, die Handschrift ist in sehr gutem Pergament gefertigt und mit großer Sorgfalt angelegt. 5 Auch durch die akkurate zweispaltige Texteinrichtung und die Ausstattung mit aufwendigen Fleu‐ ronnée-Initialen entspricht der Codex dem Gestaltungsmodus einer repräsentativen Hand‐ schrift. Er übersteigt in Aufwand und Ausstattung auch den Wiener Codex 2705 als einer seiner angenommenen Vorlagen, die Handschrift ragt damit deutlich aus dem Korpus der kleinepischen Sammelhandschriften heraus und vermittelt einen Geltungsanspruch auch 6 „Generell wird der volkssprachige Buchkörper mit seinen neu gewonnenen Attributen Größe und Pracht analog zu seinen lateinischen Vorbildern in einer wachsenden Zahl von volkssprachigen Zi‐ melien selbst zum bedeutungstragenden Zeichen.“ W O L F , Buch und Text, S. 104. 7 Siehe S. 97ff. 8 Vgl. S C H N E I D E R , Paläographie, S. 122. 9 Vgl. M I L L E R / Z I M M E R M A N N , Die Codices Palatini germanici, S. 129. 10 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 60f. Die Untergliederung Mihms ist stark schematisiert, viele Texte reihen sich nicht in dieses Muster ein. 11 Ebd., S. 49. für das tradierte Textgut. 6 Der Codex spiegelt prototypisch die prägenden kodikologischen Gestaltungsmerkmale wieder, die sich im frühen 13. Jahrhundert herausgebildet haben: 7 Die Blätter sind regelmäßig in zwei Kolumnen zu 40 Zeilen mit durchgehend vorgezeich‐ neten Zeilenbegrenzungen beschrieben, wobei die Anfangsbuchstaben aller ungeraden Verse herausgerückt stehen und eine senkrechte Kolonne bilden. Den lückenlos aneinander gefügten Texten werden zweizeilige, gereimte Überschriften in roter Farbe vorangestellt, die die Textgrenzen deutlich markieren. Die Anfangsinitialen der einzelnen Stücke sind durchgängig auf zwei, zum Teil auch drei oder vier Zeilen vergrößert, die Abschnittsini‐ tialen ebenfalls auf zwei, gelegentlich drei Zeilen. Die Initialen erscheinen weitgehend re‐ gelmäßig alternierend in roter und blauer Farbe. Die hervorgehobenen Initialen variieren in der Häufigkeit innerhalb der Texte, auffällig ist eine besondere Häufung bei den ‚Mari‐ engrüßen‘ (4, 16rb), wo die Initialen so dicht gesetzt sind, dass sie ein Bandornament er‐ geben. Einzig den letzten zehn Texten, dem Sammlungsteil von der Schreiberhand e und f, sind keinerlei verzierte Initialen hinzugefügt. Der Codex ist fast durchgängig in Quater‐ nionen angelegt, was für die sorgfältige und planvolle Anlage des repräsentativen Codex spricht. 8 Dem Hauptteil ist ein selbstständiger Faszikel von drei Lagen vorangestellt, der die ersten vier Texte enthält. Der Cpg 341 ist, im Gegensatz zu Bodm.72, nicht in einem Zuge entstanden und wurde von insgesamt sechs Schreiberhänden gefertigt. 9 Der vier Texte umfassende Vorfaszikel wurde durch die Schreiber a und b gearbeitet, der Hauptteil im Umfang von 41 Quaternionen und gut 200 Texten ist durchgängig durch den Schreiber b ausgeführt. Die inserierten Dich‐ tungen lassen sich texttypologisch grob in fünf Einheiten gliedern. Auf eine Gruppe geist‐ licher Gedichte (1-33) folgt eine Reihe mit verschiedenem kleinepischen Textgut, darunter zahlreiche Versnovellen (34-60), weiterhin eine umfangreiche Reihe geistlicher Stri‐ cker-Texte (61-132), dann eine zweite Reihe mit mit versnovellistischen Texten (133-146) sowie eine Sammlung weltlicher Bîspel und Fabeln des Strickers (147-210). 10 Auf den Hauptteil folgt der sogenannte „additionale Teil“ mit ausschließlich versnovellistischen Texten (211-224), die offenbar sukzessive durch unterschiedliche Hände hinzugefügt worden sind (b,c,d,e,f). 11 Die Arbeit von Schreiber b endet mit Sibotes ‚Frauenerziehung‘ (211), auf den der ‚Sperber‘ von Schreiber c folgt, an den dann d das ‚Herzmaere‘ und das ‚Gänslein‘ anfügt. Schreiber e, der identisch mit dem Schreiber von Bodm.72 ist, fügt die restlichen neun Texte hinzu, wobei hier eine Reihe von Fehlern und Unterbrechungen in den Textabfolgen festzustellen ist. Von Schreiber f stammt der Schlusstext ‚Johann von Michelsberg‘, der an anderer Stelle im Codex rasiert und am Ende nachgetragen wurde. Mihm geht von einer systematischen Grobgliederung des Cpg 341 aus, nach der das Material 171 7.1 Der Cpg 341 12 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 60f. 13 Vgl. Z I E G E L E R , Beobachtungen zum Wiener Codex 2705; M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 57-60; Die Heidelberger Handschrift cod. Pal. germ. 341, hg. R O S E N H A G E N , S. XXIX. 14 S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 9. 15 Vgl. Z I E G E L E R , Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen, S. 56; S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 9. 16 ‚Die goldene Schmiede‘ ist in 20 vollständigen und 14 Fragmenthandschriften des 13.-15. Jahrhun‐ derts überliefert und stellt damit den am häufigsten überlieferten Text Konrads von Würzburg dar. Vgl. B R U N N E R , ‚Konrad von Würzburg‘ in 2 VL 5, Sp. 284. 17 „Wenn der Mensch die Sünde durch die strahlende Erscheinung Marias betrachtet, erscheint die Schuld größer, so groß, wie sie faktisch auch ist.“ B E I N , Maria als Vergrößerungsglas, S. 130. aus den Vorlagen gemäß seinem moraldidaktischen Anspruch in der Abfolge geistliche Unterweisung - Wundergeschichten - weltliche Didaxe - Versnovellen arrangiert wurde, konstatiert aber selbst, dass das Prinzip nicht konsequent durchgeführt wurde. 12 Bei der Herstellung des Cpg 341 wird von einer Übertragung mehrerer Vorlagen ausge‐ gangen. Als gesichert gilt die Verwendung des Wiener Codex 2705, weiterhin wird aufgrund von parallelen Überlieferungsbefunden über eine weltliche, evtl. auch eine geistliche Stri‐ cker-Sammlung spekuliert, die dem Heidelberger Codex zugrunde gelegen haben könnte. 13 Der Cpg 341 ist nicht nur aufgrund seines Umfangs, sondern auch wegen des großen Spektrums der enthaltenen Texte äußerst bedeutsam, was ihm den Charakter einer „lite‐ rarischen Rundschau“ der versifizierten Kleinepik gibt. 14 Die Textauswahl schließt prak‐ tisch alle Typen kleiner Reimpaardichtung des frühen 14. Jahrhunderts ein, neben Erzähl‐ texten haben auch geistliche Dichtungen und didaktische Reden einen großen Anteil an der Sammlung. 15 Die Handschrift lässt auf ein generelles Interesse an dem im 13. Jahrhun‐ dert prominent werdenden Bereich kleinepischer Dichtung schließen, die hier in einem repräsentativen Codex gesammelt und tradiert wurde. Zu dem anthologischen Charakter passen die gereimten Titulaturen, die fast durchgängig mit verweisenden Formulierungen wie ditz ist von oder ditz ist ein maere von versehen sind. Die Anlage des Codex erfolgte offenbar nach bestimmten Ordnungsprinzipien, die zu‐ mindest dem ersten Teil eine große innere Geschlossenheit verleihen. Der Codex beginnt mit Konrads von Würzburg breit überliefertem Marienpreisgedicht ‚Die goldene Schmiede‘. 16 Der Text verweist auf die inhaltliche Konzeption im ersten Teil des Codex, in dem ausschließlich Mariendichtungen stehen. Gleichzeitig wird auch eine übergeordnete und einleitende Funktion der ‚Goldenen Schmiede‘ für die ganze Sammlung signalisiert. Der Titel ‚Ditz heizet daz guldin lop vnser vrowen/ Got helf daz wir si mvezen schowen‘ (1v) ist nicht wie die übrigen Titulaturen in die vorgezeichneten Linien einer Spalte eingetragen, sondern steht über der gesamten Seite und hat damit auch den Charakter einer Gesamt‐ überschrift. ‚Die goldene Schmiede‘ gestaltet eine programmatische Eröffnung der Sammlung, denn das Preisgedicht verhandelt nicht nur Maria in ihrer Rolle als Helferin, es stellt die Mari‐ enverehrung auch als ein Mittel der Erkenntnis dar, durch das der Mensch tiefere Einsicht in seine eigene Sündhaftigkeit erlangt. 17 Der Marienpreis ist in der ‚Goldenen Schmiede‘ verwoben mit Kunstreflexionen. Der Sprecher, der in der Schmiede seines Herzens ein 172 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 18 Vgl. S C H N Y D E R , Eine Poetik des Marienlobs, S. 41-61. 19 da wirdiclichen ufe saz,/ von Strazburc miester Gotfrid,/ der als ein waeher hoebetsmit/ guldin getihte worhte (Konrad von Würzburg: Die goldene Schmiede, hg. S C H R ÖD E R , V. 96-99). Die von H abhängige Schwesterhandschrift K führt den Text in der üblichen Abfolge auf. 20 Der Textbeginn des ersten Leichs wird dabei durch zwei freigelassene Zeilen gekennzeichnet, der Textübergang zwischen den Leichs und zur ‚Goldenen Schmiede‘ ist dagegen nicht markiert. 21 Der Cpg 341 überliefert die umfangreichsten und literarisch besonders durchkonzipierten Marien‐ grüße. Vgl. W A C H I N G E R , ‚Mariengrüße‘ in 2 VL 6, Sp. 1-7. 22 Vgl. S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 14; M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 49. 23 Vgl. zum Klagegedicht Z I E G E L E R , ‚Unser vrouen klage‘ in 2 VL 10, Sp. 90-96. Gedicht aus Gold für die Heilige Jungfrau machen möchte, stellt einerseits die Dichtkunst als gottgegebene Fähigkeit heraus, gleichzeitig wird die Bescheidenheitstopik eigener dich‐ terischer Unzulänglichkeit für ein angemessenes Lob der Heiligen Jungfrau eingespielt. 18 ‚Die goldene Schmiede‘ divergiert in der Überlieferung erheblich in ihrem Umfang und zum Teil auch in der Textabfolge, in H weicht diese, möglicherweise durch Bindefehler, signifikant von der übrigen Überlieferung ab. Wie das ‚Herzmaere‘ führt auch ‚Die goldene Schmiede‘ ein Dichterlob Gottfrieds von Straßburg auf, das durch die veränderte Textan‐ ordnung nicht wie üblich am Textanfang, sondern erst an späterer Stelle steht (9v). 19 Die folgenden beiden Texte, je ein Leich Walthers von der Vogelweide und Reinmars von Zweter als einzige lyrische Texte der Sammlung, werden von Schreiber a ohne Titulatur und Autorenverweis in ‚Die goldene Schmiede‘ eingefügt (6va-8vb), womit die ersten drei Gedichte eine Texteinheit bilden. 20 Die durch Schreiber b gefertigten und optisch hervor‐ gehobenen ‚Mariengrüße‘ (4) sind wieder betitelt. In drei Abschnitten mit je 50 Strophen werden Grüße an die Gottesmutter formuliert, die Freude im Jenseits gepriesen und schließ‐ lich Hilfe von der Heiligen Jungfrau erbeten. 21 Die gleichförmige Wiederholung gibt den ‚Mariengrüßen‘ liturgischen Charakter und rückt diese in die Nähe der Litanei. An die ‚Mariengrüße‘ wird ohne Markierung ein weiterer Text angefügt, der ein Sündenbekenntnis mit der Bitte um Marias Fürsprache darstellt. Nach einer allgemein gehaltenen Beichte, sich nicht an Gottes Gebote gehalten zu haben, bekennt die weibliche Stimme Ehebruch: Maria noch klage ich dir me Vil gesundet an der e Leider han ich armez wip Ich un min man solten ein lip Er ich un ich er also sin Sein sam ein tvrteltobelin (21v). Der Text endet mit einer im Plural gehaltenen Fürbitte an Maria, sich der sündigen Men‐ schen zu erbarmen. Möglicherweise gehörten die Texte des Vorfaszikels nicht zur ursprüng‐ lichen Konzeption, sondern wurden später hinzugefügt. 22 Denkbar ist, dass der Vorfaszikel gezielt als Ergänzung konzipiert wurde, um der Sammlung ein ausführliches Marienlob als einleitende Metaperspektive voranzustellen. Die Hauptsammlung beginnt ebenfalls mit geistlichen Texten, zunächst steht die Marien‐ klage ‚Unser vrouwen klage‘ (5). 23 Die Schilderung der Leiden Mariens während des Pas‐ 173 7.1 Der Cpg 341 24 Vgl. zu dieser Textgruppe Z I E G E L E R , Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen, insbes. S. 56- 71. 25 Ebd., S. 56. 26 Vgl. S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 14-17. 27 Mihm sieht in der eingefügten Fürbitte dagegen den Beleg, dass die für den Marienteil des Cpg 341 angenommene Vorlage einer Frau gehört haben müsse; der Schreiber b habe den eingeschobenen Text nicht bemerkt und „aus Versehen“ übernommen. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 51. sionsgeschehens stellt möglicherweise den ursprünglich geplanten Eingangstext dar; dazu passt, dass nur dieser Text in der ansonsten unilluminierten Handschrift eine bebilderte Initiale trägt. Es folgen die Mariendichtung ‚Von dem jungesten tage‘, 22 Marienlegenden aus dem um 1300 entstandenen ‚Passional‘ sowie vier weitere Texte, die ebenfalls den Bei‐ stand der Gottesmutter in schwierigen Situationen zum Inhalt haben (‚Unser Frauen Ritter‘, ‚Thomas von Kandelberg‘, ‚Marien Rosenkranz‘, ‚Frauentrost‘; 30-33). Diese insgesamt 33 Anfangstexte mit dezidiert mariologischer Thematik stellen eine klar konzipierte und inhaltlich stringent gestaltete Textreihe dar, die in ihrer thematischen Ge‐ schlossenheit aus der sonstigen Diversität der Sammlung deutlich hervorsticht und als klar konturierte diskursive Textformation fassbar ist. Entsprechend finden sich in diesem Teil der Sammlung keine Versnovellen, die anderen Erzählzusammenhängen und Semantiken verpflichtet sind. In der Textreihe werden einzelne Gedichte dezidiert an das thematische Programm angepasst, so wird z.B. der in die ‚Goldene Schmiede‘ eingefügte Leich Walthers von der Vogelweide in der Abfolge der Strophen umgestellt, so dass er mit dem Marienpreis beginnt. 24 Die Mariendichtung im Cpg 341 zeigt exemplarisch, dass in Sammelhandschriften klar konzipierte Textgruppen auftreten, die nicht nach klassifikatorischen Aspekten wie Text‐ sorten oder Autoren geordnet werden, sondern in denen die Texte aufgrund inhaltlicher Merkmale und Bezüge zueinander gestellt werden. Die Texte sind verschiedenen Gattungen und Entstehungszeiträumen zuzuordnen, auch ihre Funktion ist unterschiedlich, aber alle sind durch ihren religiösen Subtext deutlich aufeinander bezogen, indem ihnen das Thema der Gottesmutter als Mittlerin und Helferin für die sündigen Menschen gemeinsam ist. Die differenten, zum Teil sogar widersprüchlichen Gedichte werden zu einem „Repertoire auf‐ einander bezogener Texte“ zusammengefügt. 25 In der Summe verweisen die Dichtungen auf die intensive spätmittelalterliche Marienverehrung und diskutieren umfassend die theolo‐ gischen Kernthemen Sünde, Reue und Buße. 26 In der Zusammenstellung ergeben sich in‐ tertextuelle Relationen, die die gemeinsamen Semantiken der Marienverehrung und der Sündenreflexion akzentuieren und eine gleichgerichtete Metaperspektive gestalten. Das durch den Hauptschreiber b in die ‚Mariengrüße‘ eingearbeitete Sündenbekenntnis einer Ehebrecherin fügt sich in diese Perspektive ein, indem es das Thema von Versündigung durch weltliches Minne-Handeln als ein immer wiederkehrendes Motiv, das, in ganz an‐ derer Narrativierung und Sinnsetzung, auch die versnovellistischen Texten kennzeichnet, schon zu Beginn in der Sammlung verankert und in eine Textumgebung einspeist, die um‐ fassend Fürbitte und Sündenvergebung verhandelt. 27 Sammelhandschriften des 13. und 14. Jahrhunderts stellen häufig geistliche Texte an den Beginn, möglicherweise, um die Legitimität und Bedeutung der Sammlungen zu demons‐ 174 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 28 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 72. 29 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 49-51. 30 Vgl. etwa die Texte 140-145, die alle Versnovellen des Strickers darstellen und einer langen Reihe von Fabeln und Bîspeln des Strickers voran gestellt sind. Die Abfolge legt einerseits ein Interesse an der homogenen Zusammenstellung eines Autor-Œuvres nahe, signalisiert andererseits aber auch eine generische Abgrenzung von Bîspeln und Versnovellen. Mit ‚Der Zweikampf ‘ (75) und ‚Das Einhorn‘ (96) sind zwei Bearbeitungen von Parabeln aus dem ‚Barlaam‘ Rudolfs von Ems enthalten. Adaptionen von ‚Barlaam‘-Parabeln werden häufig als lehr‐ hafte Einzeltexte unabhängig von ihrem Ursprungstext tradiert und zumeist wie im Cpg 341 im Kontext von Stricker-Texten überliefert. Diese Überlieferungssymbiose dürfte sich inhaltlichen Pa‐ rallelen zwischen den lehrhaften Stricker-Dichtungen und dem ‚Barlaam‘ verdanken. Vgl. H A B L E , In guter Nachbarschaft, S. 161, S. 187ff.; H O L Z N A G E L , Autorschaft und Überlieferung, insbes. S. 177f. 31 Auch Stutz sieht im Cpg 341 Ordnungsprinzipien wirken, die nicht konsequent eingehalten sind. Der Codex zeigt exemplarisch die Problematik der Klassifizierung von kleinepischen Texten auf, die sich nicht nur einer eindeutigen gattungsmäßigen Abgrenzung entziehen. Auch bei inhaltlichen ‚Grund‐ dichotomien‘ wie weltlich-geistlich oder unterhaltsam-belehrend erweisen sich die Grenzen als flie‐ ßend und viele Texte als mehrdeutig, was eine stringente Unterscheidung der Textgruppen er‐ schwert. Vgl. S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 22f.; W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 72. trieren. 28 Der Umfang des Marienteils im Cpg 341 und die besondere Kohärenz der Text‐ gruppe deuten dabei auf ein besonderes geistliches Interesse des Auftraggebers oder Schrei‐ bers hin. Dazu passt ein ‚säubernder‘ Eingriff an anderer Stelle des Codex, der von der Schreiberhand f durchgeführt wurde: ‚Der Herrgottschnitzer‘ sowie eine weitere unbe‐ kannte, eher derbe Versnovelle im Eingangsteil der Sammlung wurden radiert und durch die geistlich geprägten Stücke ‚Warum Gott sein Haupt neigte‘ (41) und ‚Mönch Felix‘ (43) ersetzt, worauf die einzige größere Leerstelle im Codex folgt (93v). Dem größeren Umfang der eingefügten Texte fiel auch der eigentlich unanstößige ‚Johann von Michelsberg‘ zum Opfer, der ebenfalls radiert, durch Schreiber f aber am Ende des Codex nachgetragen wurde. 29 Aus den redaktionellen Eingriffen wird ersichtlich, dass die Textzusammenstellung auf konzeptionellen Erwägungen basiert. Gleichzeitig verweisen sie auf widersprüchliche Intentionen bei der Erstellung der Handschrift - während Schreiber b durch die Platzierung der ‚anstößigen‘ Texte offenbar ein Nebeneinander von geistlichen und subversiven Texten intendierte, war dem Schreiber f oder dem Auftraggeber an einer Tilgung dieser kontin‐ genten Perspektive gelegen. Während der Eingangsteil des Cpg 341 als klar konzipierte Gruppe identifizierbar ist, kann eine durchgehende programmatische Anordnung der Texte für den Hauptteil nicht fest‐ gestellt werden, vergleichbar kohärente Einheiten sind nicht fassbar. Allerdings gibt es umfangreiche Textreihen von Bîspeln und Fabeln des Strickers, die homogene Abschnitte im Sinne einer Sortierung nach Autor und Texttyp markieren. In die Bîspel- und Fabelreihen des Strickers werden aber immer wieder andere Textsorten wie Versnovellen sowie Texte anderer Verfasser eingefügt. 30 Auch die unter anderem durch Mihm beschriebene Unter‐ gliederung der Stricker-Reihen nach geistlichen und weltlichen Inhalten ist nicht durch‐ gängig gewahrt. 31 Vor allem erweist sich der von Mihm für den Hauptteil des Cpg 341 konstatierte inhalt‐ liche Schwerpunkt einer weltlichen Didaxe als ein Konzept mit vielen Brüchen. Zwar stellen die tendenziell als lehrhaft zu betrachtenden Fabeln und Bîspel einen deutlichen Schwer‐ 175 7.1 Der Cpg 341 32 Die spätantiken ‚Disticha Catonis‘ als didaktisches Lehrwerk gehörten während des gesamten Mit‐ telalters zur kanonischen Schullektüre; in seiner ethisch unspezifischen Formulierung von Regeln der praktischen Lebensführung konnte der antike Text im christlichen Mittelalter problemlos adap‐ tiert werden. Mitte des 13. Jh. entstand der deutsche ‚Cato‘ als Gesamtübersetzung, bei der die la‐ teinischen Distichen in paargereimte Vierzeiler übertragen wurden. Der ‚Cato‘ steht damit paradig‐ matisch für das wachsende Interesse an geistlich-didaktischen Texten im 13. Jahrhundert. Abhängig von der Gesamtübersetzung entstand zum Ende des 13. Jh. die sogenannte ‚Rumpfbearbeitung‘ als kürzere Fassung des Lehrwerks, die auch in vielen kleinepischen Sammlungen verwendet wird. Die Rumpfbearbeitung wird in der Überlieferung häufig mit anderem didaktischen Textgut, etwa mit Freidank-Auszügen, kombiniert; der Cpg 341 gestaltet durch die Verbindung mit geistlich-didakti‐ schen Texten einen ähnlichen Überlieferungsverbund.Vgl. H E N K E L , Beiträge zur Überlieferung der „Disticha Catonis“, S. 166; ders., Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte, S. 35-39; 92f.; 328f.; siehe auch B A L D Z U H N , Textreihen in der Mitüberlieferung von Schultexten. 33 Mihm sieht in den drei Lehrgedichten einen inhaltlichen Übergang von den erbaulichen Wunder‐ geschichten zum Korpus der weltlichen Erzähltexte. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 60. 34 Vgl. ebd, S. 61. punkt in der Sammlung dar, auch finden sich nach dem klar konzipierten mariologischen Eingangsteil zunächst viele Texte, die auf eine explizite Lehrhaftigkeit und Moraldidaxe rekurrieren. So handelt es sich bei den auf die Marienmirakel folgenden Texten ‚Cato‘, 32 ‚Der Magezoge‘ und ‚Der Seele Kranz‘ (35-37) um Lehrdichtungen, 33 auch Texte wie ‚Der Heller der armen Frau‘ (34) oder ‚Mönch Felix‘ (43) transportieren klare moraltheologische Inhalte. Ebenso können einige der enthaltenen Versnovellen durchaus moraldidaktisch ge‐ lesen werden, so zum Beispiel die Textreihe 49-54, die mit ‚Die halbe Decke‘, ‚Der Schlegel‘, ‚Die Heidin‘, ‚Crescentia‘ und ‚Die Frauentreue‘ Dichtungen aufführt, die durchaus normative Sinnsetzungen transportieren. Immer wieder findet sich aber auch Textgut, das sich weniger kohärent in den dominierenden moraldidaktischen Schwerpunkt der Sammlung einfügt, insbesondere die enthaltenen Versnovellen transportieren gat‐ tungstypisch oft auch andere Sinnsetzungen. Die Textabfolge könnte sich wie von Mihm angenommen aus der Vorlagensituation her‐ leiten, indem die zu kopierenden Manuskripte sukzessive vorgelegen haben und entspre‐ chend thematisch inkonsequent kopiert wurden. 34 Möglicherweise widerspricht die erra‐ tische Textzusammenstellung im Cpg 341 aber gar nicht einem angenommenen homogenen Ordnungskonzept, die Anordnung der Texte kann genauso auf eine Unterbrechung der stringenten Korpora durch andere Textarten und Perspektiven und auf ein Nebeneinander von weltlichen und geistlichen Semantiken abzielen. Insbesondere versnovellistische Texte mit ihrem besonderen Potential für eine kontroverse Diskursivierung von etablierten Se‐ mantiken eignen sich für ein Textarrangement, in dem diese auch entgegen dominierenden Sinnsetzungen und bestehenden Ordnungsprinzipien in eine Sammlung inkorporiert werden. Eine Ordnung des Erzählmaterials im Cpg 341 lässt sich nicht allein auf der Ebene großer, gattungsmäßig oder inhaltlich kohärenter Textgruppen beobachten, zentral ist auch das Zusammenspiel einzelner Texte. Immer wieder sind kleinere Einheiten im Codex fassbar, in denen Texte als inhaltlich oder motivlich korrespondierende Textpaare oder Klein‐ gruppen in Erscheinung treten. Sowohl in den generisch homogenen als auch in den scheinbar lose aus divergentem kleinepischen Material zusammen gesetzten Textpartien 176 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 35 Weitere Beispiele bei W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 69f.; S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 21. 36 Die Paaranordnungen bedingen dabei nicht zwingend gleichgerichtete Aussagen der Texte, sondern fügen diese oft nach simplen, assoziativ erscheinenden Parametern zusammen. Dabei sind die Ver‐ knüpfungen im Cpg 341 sicher nicht beliebiger als viele der Textabfolgen im ‚Decameron‘; die Ver‐ knüpfung einer Erzählung über Edelsteine mit einer weiteren Geschichte über einen edelsteinbe‐ setzten Ring im ‚Decameron‘ ist ähnlich assoziativ wie z.B. die von Habicht und Falke (176+177). Zum Prinzip korrespondierender Textpaare und dem Vergleich mit dem ‚Decameron‘ siehe auch S. 68ff. lassen sich Textpaare und Gruppen identifizieren, die auf solchen systematischen Gesichts‐ punkten beruhen. Häufig stehen Texte mit ähnlichen Thematiken nebeneinander: So ver‐ handeln die Versnovellen ‚Die halbe Decke‘ und ‚Der Schlegel‘ (49+50) die Hartherzigkeit von Kindern ihren Eltern gegenüber, ‚Crescentia‘ und die ‚Frauentreue‘ (53+54) korres‐ pondieren über das Thema einer standhaften verheirateten Frau, und die Bîspel 103-105 thematisieren die hochvart. Noch häufiger finden sich einfache Motivanalogien, etwa zwi‐ schen Strickers ‚Der nackte Bote‘ und ‚Der nackte Ritter‘ (191+192). Insbesondere im Bîspel- und Fabelkorpus lassen sich solche Korrespondenzen fast durchgängig nachvollziehen, wobei aus den gemeinsamen Motiven keineswegs immer eine weitergehende inhaltlich belastbare Dialogizität der Texte erwachsen muss, vergleiche z.B. ‚Der Kater als Freier‘, ‚Die Katze‘ und ‚Das Katzenauge‘ (151-153), ‚Der unfruchtbare Baum‘ und ‚Der junge Baum‘ (154+155), ‚Der Wolf und die Gänse‘ und ‚Der Wolf und sein Sohn‘ (199+200), ‚Hase und Löwe‘ und ‚Der Hase‘ (185+186) oder die Texte 176-179, in denen jeweils verschiedene Vögel als ‚Protagonisten‘ auftreten. Es finden sich im Cpg 341 auch kurze Textreihen mit gemeinsamer Thematik, hervorzuheben sind hier zum Beispiel sechs dem Stricker zuge‐ schriebene Versnovellen über den ehelichen Geschlechterkampf (‚Der Gevatterin Rat‘, ‚Das erzwungene Gelübde‘, ‚Ehescheidungsgespräch‘, ‚Die drei Wünsche‘, ‚Der begrabene Ehe‐ mann‘, ‚Das heiße Eisen‘; 140-145). 35 Im Cpg 341 manifestiert sich das für die kleinepischen Sammelhandschriften prägende Prinzip, Texte mit verschiedenen thematischen Gemein‐ samkeiten in einem aggregativen Erzählen aneinander zu reihen, aus dem verschiedene lose Analogien entstehen. 36 Neben den Motivanalogien bei zahlreichen Textpaaren und -gruppen ergeben sich aus der Lektüre auch inhaltliche Relationen zwischen verschiedenen Texten, die häufig kon‐ troverse Bezugnahmen auf die verhandelten Diskurse gestalten können. Insbesondere die versnovellistischen Texte erzeugen im Hauptteil des Cpg 341 wiederholt Brüche mit dem belehrenden Impetus des Bîspel- und Fabelkorpus. So folgt ‚Des Mönches Not‘ (56), eine schwankhafte Versnovelle über einen sexuell vollkommen unwissenden Mönch, der nach einer versuchten Liebesnacht schwanger zu sein glaubt, direkt auf Strickers ‚Der Teufel und die Seele‘ (55) als geistlich-belehrendem Text, der die Versuchungen des Teufels verhandelt. In der ebenfalls schwankhaften Versnovelle ‚Des Teufels Ächtung‘ (60) erklärt ein Mann seiner frisch vermählten Frau den ehelichen Verkehr als Akt der Teufelsächtung, worauf diese öffentlich bekundet, niemals mehr auf andere Art ihre Sünden büßen zu wollen. Auf die abschließenden Verse, in denen die Frau erklärt, die Messe nicht zu besuchen, weil sie den Teufel lieber weiter mit ihrem Mann ächten wolle, folgt Strickers ‚Die Messe‘ (61) als eine allgemeine Ermahnung zur Befolgung der christlichen Lehre und der Abwehr der Versuchungen des Teufels. Die Texte stellen über das gemeinsame Motiv des Teufels ei‐ 177 7.1 Der Cpg 341 37 Vgl. B L A N K , ‚Die maze‘ in 2 VL 6, Sp. 248f. 38 Ko als einzige ältere Handschrift führt keinen Prolog auf, zur vergleichenden Zitation wird daher die nächstältere Handschrift S herangezogen. nerseits eine Kontinuität des Erzählens her, die aber andererseits den Kontrast der diver‐ genten Texttypen und erzählerischen Intentionen deutlich hervortreten lässt. Ein brisantes Thema wird durch ‚Der Borte‘ Dietrichs von der Glezze (133) eingespielt, wo der männliche Protagonist so sehr nach ritterlichem Erfolg strebt, dass er sich für den Erwerb von besonders wertvollen Windhunden und einem Habicht zur Todsünde homo‐ erotischer Handlungen bereit erklärt, die allerdings nicht stattfinden. Im Cpg 341 folgt auf ‚Der Borte‘ der moraldidaktische Text ‚Die Maze‘ (134), in dem die maze als die Mutter aller Tugenden herausgestellt und eine allgemeingültige Belehrung über moralisch legitime Minne angefügt wird. Gefordert wird die Wahrung der tougen minne, die zwar geschlecht‐ liche Liebe einschließt, 37 aber als Topos für die rechte Art der Minne homoerotische Ver‐ bindungen kaum einschließen dürfte. Im Cpg 341 wird das ambige Potential der versnovellistischen Texte wiederholt genutzt, um den moralisierenden Impetus, der den Fabeln und Bîspeln eigen ist, mit kontrastie‐ renden Perspektiven zu kontextualisieren und um besonders kontroverse oder problema‐ tische Themen einzuspielen. 7.1.2 Das ‚Herzmaere‘ im Cpg 341 - aggregatives Erzählen von list Das ‚Herzmaere‘ steht im Cpg 341 (H) im sogenannten additionalen Teil des Codex, der im Anschluss an die Kernsammlung sukzessive durch mehrere Schreibhände gefertigt wurde. Neben der Handschrift Nr. 7693 aus dem Archiv Schloss Schönstein stellt H den ältesten Überlieferungsträger für das ‚Herzmaere‘ dar und ist eine der maßgeblichen Handschriften für die durch Schröder erstellte Edition, mit deren Textbestand sie über weite Teile kon‐ gruent ist. Das ‚Herzmaere‘ umfasst in H 518 Verse und ist, wie fast alle Texte in H, mit einem ge‐ reimten Verspaar betitelt, in dem die triuwe als zentrales Moment der Erzählung akzentuiert wird: ‚Ditz mer ist daz herze genant/ Vnt tut triwe vns bekant‘. [Abb. 5, S. 201] H führt zwar den bekannten Prolog auf, aber im Unterschied zu den übrigen Überliefe‐ rungsträgern wird nicht Gottfried von Straßburg als Referenz für die erzählte Geschichte aufgerufen, sondern an dieser Stelle Konrad von Würzburg genannt: Wan es von ganzer liebe seit Was uns von gantzer liebe seit Des bringet uns gewisheit Und ouch von rechter warheit Von strazburg maister gotfrit (S, V. 7ff.) 38 Von wierzburch meister conrat (H, 346rb). Dabei wird nicht nur der Name ersetzt, sondern auch die Formulierung einer Beglaubi‐ gungsinstanz umgeformt. Es wird nicht die vorbildliche Liebesgeschichte durch die Auto‐ rität Gottfrieds bezeugt, sondern Konrad erscheint als wahrhafter Erzähler der Geschichte. Es ist vorstellbar, dass sich dem Schreiber von H der literarische Bezug des Gottfried-Ver‐ weises nicht erschlossen und er einen vermeintlichen Fehler behoben hat, indem er den Text gleich im Prolog dem ‚richtigen‘ Verfasser zuschrieb. Denkbar ist aber ebenso, dass 178 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 39 In der Forschung wird die Schulung Konrads von Würzburg an Gottfried häufig betont, auch Schulze sieht hierin einen wesentlichen Schlüssel für die Rezeption des ‚Herzmaere‘. In ihrer sonst akribisch die Varianten zwischen den Überlieferungsträgern aufführenden Untersuchung vermerkt sie diese abweichende Gestaltung im Cpg 341 allerdings nicht. Vgl. S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novel‐ listische Gestaltungskunst, S. 470-473. 40 Vgl. w/ i: ein bild daz zu der minne tuge; in Ko, l, m ähnlich; p 1 : merck wer zu der mynn tüg. gezielt auf die Gottfried-Referenz verzichtet wurde. 39 Die Berufung auf Gottfried von Straß‐ burg impliziert zahlreiche Semantiken, die hier vielleicht gar nicht der Rezeption voran‐ gestellt werden sollten. Auffällig ist in jedem Fall, dass mit Ko und H die beiden ältesten Überlieferungsträger des ‚Herzmaere‘ die Gottfried-Referenz nicht aufführen. Die Gott‐ fried-Referenz kann damit ebensogut ein sekundäres Phänomen sein und die dezidierte Rekurrenz auf die Gottfriedsche Liebeskonzeption eine Umsemantisierung durch spätere Bearbeiter. Eine von den übrigen Textträgern abweichende Akzentuierung findet sich auch in den Schlussversen des Prologs. Wo in den anderen Handschriften die erzählte Geschichte der Minne nützen soll, heißt es in H: Daz man dar an kiesen muge Daz man dar an gechiesen muge Ein bilde daz der minnen tuge Ein bilde daz der werlde tuge Die luter unde die reine Die lauter vnd die reine Sol sin vor allem meine (S, V. 25-28) Sal sin vor allem meine (H, 346rb). 40 Der Prolog schließt hier weniger kohärent an die Ankündigung einer Beispielerzählung an, die gemäß der Gottfriedschen Programmatik ein literarisches Beispiel für bessere Minne geben will, sondern das Gedicht wird am Ende des Prologs allgemeiner zum Beispiel für die Welt erklärt, die tugendhaft und rein sein soll. Eine auffällige Abweichung von der aus der Edition vertrauten Textform stellt die Rede der Dame über ihren Plan dar, den Argwohn des Ehemannes zu zerstreuen, die in H er‐ heblich kürzer gestaltet ist. Anstelle von zehn Versen, die in den übrigen Redaktionen ent‐ halten sind, steht hier nur ein Verspaar: Unde wirt der arcwon erwant Vnd wirt der arkwan er want Den sin lip hat uffe mich, Wan er gedenket wider sich Were an disen dingen iht Der min herze sich versiht An minem schoenen wibe guot Der werde ritter hoch gemuot Were niht von dem lande komen Sus wirt der zwifel ime benomen Den wider mich sin herze treit (S, V. 156-165). Den gegen mir sin hertze treit (H, 341r). 179 7.1 Der Cpg 341 41 Auffällig ist, dass H neben der praktisch gleich gestalteten Schlussrede auch eine mit Ko analoge Textaussparung aufweist, die sich in der übrigen Überlieferung nicht findet. Die übrigen in Ko aus‐ gesparten Textpartien führt H wiederum kongruent zu dem ‚vollständigen‘ Textbestand der übrigen Handschriften auf. Die jeweils sehr präzisen Übereinstimmungen varianter Textpartien in unter‐ schiedlichen Textzeugen deuten auf verschiedene, parallel kursierende Redaktionen des ‚Herzmaere‘ hin, die unterschiedlich kombiniert wurden. Ähnlich stellen Berron/ Seebald im Abgleich der ver‐ snovellistischen Texte der Berliner Handschrift mgo 1430 mit ihrer Parallelüberlieferung (‚Studen‐ tenabenteuer‘ A und ‚Die zwei Beichten‘ A) fest, dass es wechselnde, jeweils sehr präzise Überein‐ stimmungen der verschiedenen Redaktionen untereinander gibt, aus denen bestenfalls überlieferungsgeschichtliche Priorisierungen, jedoch keine verbindlichen Abhängigkeiten abgeleitet werden können. Vgl. B E R R O N / S E E B A L D , Die neue Berliner Handschrift mgo 1430, S. 325f., S. 339f. 42 Die vier edierten Verse fehlen analog zu H auch in Ko und in der Handschriftengruppe w/ i + p 1 . 43 Die Verse über die Wirkmächtigkeit der Speise stehen auch nicht in der Textgruppe w/ i+p 1 . Hier korreliert die knappere Darstellung aber mit einer gänzlich anders gestalteten Inszenierung der zentralen Episode des Herzessens. Die Passage steht ebenfalls nicht in Ko, in den übrigen Handschriften ist sie in praktisch übereinstimmender Form aufgeführt. 41 Kürzer gefasst wird auch die Schilderung der Leiden des Ritters; zwar wird seine Sehnsucht nach der Geliebten mit dem Turteltaubenvergleich aufgeführt, aber die empathische, geradezu somatische Schilderung von Siechtum und schwindendem Lebensmut findet sich in H nicht: Und treip so lange dise clage Vnde treip so lange diese clage Bitze er ze jungest wart geleit In also groze sendikeit Daz er nut langer moehte leben Ime wart so grime not gegeben Daz man wol an ime sach Das man vzen an im sach Daz touigenliche ungemach (S, V. 276-282) Das taugenlich vngemach (H, 341v). 42 Unmittelbar nach dem Verzehr des Herzens stehen in Ko, S, l und m vier Verse, in denen dieses zur köstlichsten Speise erklärt wird, die die Frau jemals gegessen habe: Welher slachte es moehte sin Welcher slachte ez mochte sin Daz iemerliche trehtelin Daz iemerliche trechtelin Suezse duht es werden munt Daz su do vor ze keinre stunt Nie dekeine spise gas Der gesmag ir ie geviele bas Do die frowe stete Da die vrauwe stete Daz herze gessen hette (S, V. 435-442) Daz herze gezzen herte (H, 348v). 43 In H stehen diese Verse nicht, hier erklärt die Frau erst auf die Nachfrage des Ehemannes, dass das Essen besonders süß geschmeckt habe. Die wundersame Wirkung der Speise, die auch ohne Kenntnis der Zusammenhänge in ihrer Besonderheit in Erscheinung tritt, ist damit in dieser Gestaltung des Textes weniger akzentuiert. Den augenscheinlichsten Unterschied zum edierten Textbestand des ‚Herzmaere‘ stellt, wie bei allen Überlieferungsträgern außer der ‚Liedersaal‘-Handschrift, der Epilog dar. Die Schlussrede ist in H praktisch identisch mit den übrigen Überlieferungsträgern mit kurzem 180 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 44 Bohnengel weist auf die Konstanz hin, mit der alle Literarisierungen des gegessenen Herzens den Ehemann negativ akzentuieren. Zwar verteidigt sich dieser zu Recht gegen den tatsächlichen oder befürchteten Ehebruch, ist in seiner Rache aber so unmäßig, dass sein Verhalten keine Akzeptanz findet. Häufig wird ein glückloses Ende des Ehemannes als Konsequenz seines Handelns erzählt: So flieht der Ehemann bei Boccaccio vor der befürchteten Wut seiner Untertanen, bei Jakemés wird er von den Verwandten der getöteten Frau verfolgt und verbannt. Vgl. mit weiteren Beispielen B O H N‐ E N G E L , Lieben und nicht wieder geliebt werden, S. 97-103. Schluss gestaltet. Am Ende steht ein zusätzliches Verspaar, in dem erneut das Ende des hercz als Synonym der erzählten Geschichte und eine christliche Schlussformel aufgeführt werden, die dem Gestaltungsmodus von H entsprechen, viele Dichtungen mit formelhaften christlichen Fürbitten zu beenden: Hie hat das herze ein ende Der riche got in schende Das er der spise ie gewuok Die so iemerlichen truk Do gar getreuwem wibe Das leben von irem libe Das muz mich reuwen immer Und vergezze ouch nimmer Siner dorperheite Das er irs ie geseite Hie hat das hercz ein ende Got vns zu himel sende. Amen. (H, 349r). Durch den kurzen Schluss verändert sich die abschließende Perspektive auf das Erzählte, indem nicht die Liebeshandlung selber, sondern der Ehemann im Fokus steht, der hier au‐ ßerdem eine deutliche Umakzentuierung erfährt. Der Ehemann, der im ‚Herzmaere‘ stets mit positivierenden Attributierungen wie werder man und here gut eingeführt und wieder‐ holt, äquivalent zu seinem Nebenbuhler, als ritter bezeichnet wird, ist anders als in den übrigen Literarisierungen des Stoffes bei Konrad nicht dezidiert negativ gekennzeichnet. 44 Er nimmt eine paradoxe Rolle im Geschehen ein, da er einerseits Gegenspieler der Lie‐ benden und Hindernis ihrer Liebeserfüllung ist, aber gleichzeitig auch als erkennende und Erkenntnis vermittelnde Instanz fungiert. Zwar unterschätzt er die Kraft wahrer Liebe, auch bei räumlicher und zeitlicher Distanz gegenwärtig zu bleiben, aber er erkennt die Zeichen‐ haftigkeit des Herzens und schließt daraus auf den Liebestod des Ritters. Der Ehemann ist es, der dieses Wissen an die Frau übermittelt; seine Rache basiert auch auf der Explikation des Liebesopfers, das die Frau durch den Verzehr des Herzens allein nicht hätte erkennen können. Dabei lässt die erklärende Rede des Ehemannes, bei der dieser auf einmal zum auktorialen Erzähler wird, keinerlei Häme und Geringschätzung erkennen, sie ist im Ge‐ genteil von einer auffälligen Ernsthaftigkeit und Getragenheit geprägt. Seine Rolle als Wi‐ derpart der Liebenden und als Rächer tritt angesichts der elaborierten poetischen Schilde‐ rung des Liebesopfers, das das Sprachspiel um den zam-wilde Vergleich einschließt, geradezu in den Hintergrund. Er weiß um die Tiefe des Leids des gestorbenen Ritters und 181 7.1 Der Cpg 341 45 Vgl. auch P H I L I P O W S K I , Die Gestalt des Unsichtbaren, S. 111f. 46 Der kurze Schluss spielt damit die tradierten und eng mit dem Namen Neidharts verbundenen Se‐ mantiken dörperlicher Dichtung ein. Zentrales Motiv ist der zumeist parodierend eingespielte Kon‐ trast zwischen dem am Muster des Minnedienstes orientierten Werben eines Ritters und dem derb-vulgären Verhalten des dörpers. Vgl. B E Y S C H L A G , ‚Neidhart und Neidhartianer‘ in 2 VL 6, Sp. 886. 47 Zur europäischen Erzähltradition und der Profilierung des Rachehandelns im ‚Herzmaere‘ siehe auch S. 84ff. macht der Dame die Tragweite der Minne, das Opfer des Geliebten und ihre Schuld be‐ wusst. 45 In der vorliegenden Epilogfassung erfährt der Ehemann dagegen, indem er für seine Tat verwünscht wird, eine eindeutig negative Wertung. Mit der Bezeichnung seines Handelns als dorperheite findet eine deutliche Umakzentuierung der Figur statt: Der auf die kultur‐ ferne Sphäre der dörper rekurrierende Begriff ist nicht nur negativ konnotiert, er macht den Ehemann durch die implizierten literarischen Semantiken der dörperschelte geradezu zu einem Gegenbild des den Normen höfischen (Minne)Verhaltens entsprechenden Ritters. 46 Möglicherweise ist die kurze Schlussfassung, so sie denn tatsächlich eine Kürzung der um‐ fangreichen ‚echten‘ Schlussrede darstellt, auch einer ‚Korrektur‘ der als inkonsequent empfundenen Figurenzeichnung des Ehemannes geschuldet. Mit der kurzen Schlussfassung wird das ‚Herzmaere‘ näher an die europäische Stofftradition herangerückt, in der der Ehemann für die anthropophagische Handlung und das Unmaß der Rache negativ bewertet wird. 47 Die kurze Epilogfassung setzt ganz andere Akzente als die elaborierte Schlussrede aus Don. 104. Es wird nicht die besondere Beispielhaftigkeit und Vorbildlichkeit des erzählten Geschehens aufgerufen, das ‚Herzmaere‘ wird nicht zum Lehrstück einer exemplifizierten Minneauffassung, sondern zu einem viel profaneren Text über das Rachehandeln des Ehe‐ mannes erklärt, mit dessen klar explizierter Negativkennzeichnung das Geschehen ab‐ schließend kommentiert wird. Ausdrücklich wird nicht nur seine Handlung als solche ge‐ tadelt, sondern auch seine Worte, mit denen er Erkenntnis erzeugt. Es wird keine Anleitung für eine Rezeption gegeben, die die beklagenswerte Geschichte durch ihre Vorbildlichkeit positiviert und ein Fortwirken der erzählten Liebesgeschichte innerhalb der aufgerufenen Publikumsgemeinschaft verheißt, der kurze Epilog gestaltet nur ein knappes Fazit, das das Geschehen beklagt. Das ‚Herzmaere‘ ist ohne den langen Epilog eines wesentlichen Be‐ standteils seiner exemplarischen Wirkung entkleidet. Ohne die abschließende Funktiona‐ lisierung wird die erzählte Geschichte nicht mehr so eindeutig als das angekündigte Bild einer beispielhaften Minne rezipiert, stattdessen tritt die Traurigkeit und Drastik des Ge‐ schehens in den Vordergrund. Die Aufnahme des ‚Herzmaere‘ in die abschließende Textreihe des Cpg 341 kann sich ver‐ schiedenen Aspekten verdanken. Diesen Teil der Sammlung kennzeichnet eine gattungs‐ mäßige Übereinstimmung, es sind ausschließlich versnovellistische Texte, zumeist schwankhafte Formen, aufgenommen worden, die die abschließende Textreihe zu einer generisch homogenen Textformation machen. Die generische Zusammengehörigkeit kann die Aufnahme des ‚Herzmaere‘ als einem der bekanntesten Vertreter der Textsorte bedingt haben. Möglicherweise war auch die Vervollständigung des Œuvres Konrads von Würzburg intendiert, denn neben dem Eingangstext ‚Die goldene Schmiede‘ sind auch Konrads ‚Der 182 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 48 Einen Versuch, im Cpg 341 eine intentionale (Um)Gestaltung von Texten nachzuweisen, nimmt F A S B E N D E R , Hochvart im `Armen Heinrich´, im `Pfaffen Amis´ und im `Reinhart Fuchs´, vor. Fas‐ bender analysiert die titelgebenden Texte unter der Fragestellung, inwieweit „Eingriffe nicht nur als spontane Reflexe von Kopisten, sondern als Ausdruck eines über den Einzeltext hinausgehenden Konzeptes“ zu werten sind (ebd., S. 394). Die Profilierungen des Motivs der hochvart in den drei Dichtungen sind im Cpg 341 gegenüber der Parallelüberlieferung jeweils deutlich abgeändert und zielen nach Fasbender auf eine Entlastung der Protagonisten von den negativen Implikationen der superbia ab. 49 Vgl. D A H M -K R U S E / F E L B E R , Lektüreangebote in der mittelalterlichen Manuskriptkultur. Welt Lohn‘ (135) und ‚Heinrich von Kempten‘ (136) enthalten. In diesem Zusammenhang hätte auch die mögliche Ersetzung der Gottfried-Referenz durch den Verfassernamen Kon‐ rads von Würzburg im Prolog besondere Plausibilität. Die konkrete Textform des ‚Herzmaere‘ in H lässt insgesamt kaum Rückschlüsse auf unmittelbare inhaltliche oder formale Anpassungen an seine Co-Texte oder die Sammlung als Ganzes zu. Zwar kann sich die Tilgung der Gottfried-Rekurrenz einer gezielten Bear‐ beitung verdanken, auch um durch die Aussparung der mit Gottfried verbundenen elabo‐ rierten Liebessemantiken den Text besser in das Korpus der zumeist schwankhaften Vers‐ novellen des additionalen Teils zu integrieren. Auch die kurze Schlussrede fügt sich homogener in die schwankhafte Textumgebung ein. Da diese Schlussfassung angesichts der signifikanten Überzahl in der ‚Herzmaere‘-Überlieferung aber die vorherrschende Text‐ gestalt gewesen zu sein scheint, kann dieser Befund nicht als Spezifikum der Handschrift H plausibilisiert werden. 48 Auch wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Textform und Sammlungskontext für das ‚Herzmaere‘ in H wenig wahrscheinlich ist, kann bei der Abfolge der Texte durchaus eine planvolle Gestaltung wirksam sein, die auf semantische Relationen mit den umge‐ benden Texten abzielt. Felber weist auf eine mögliche, vorrangig auf hermeneutischen Prinzipien basierende Verknüpfung der Texte hin, die auf divergenten Profilierungen der das versnovellistische Erzählen prägenden Thematik von List und Betrug basiert. 49 Die Versnovellen des letzten Sammlungsteils schließen an eine Reihe von Bîspeln des Strickers an, in denen verschiedene Formen von Listhandeln ausgeleuchtet und zumeist problematisiert werden. So erzählt ‚Die beiden Zimmerleute‘ (208) von einem Betrug durch unernst gemeinte Worte: Die Zimmer‐ leute gehen zum Abholzen in den Wald, wo einer der beiden unvermittelt von seinem Kol‐ legen verlangt, sich den Fuß mit einer Axt abschlagen zu lassen, ansonsten werde er ihn töten. Als die Axt niederfährt, zieht dieser gerade noch rechtzeitig den Fuß weg, nimmt seinerseits eine Axt in die Hände und stellt seinen Kollegen zur Rede. Der stellt nun alles als einen Scherz und eine Prüfung der Freundschaft hin, die sein Opfer aber umgehend aufkündigt. Das Epimythion bestätigt, dass man auch demjenigen, der die böse Handlung möglicherweise nur vortäuscht, zwangsläufig mit ständigem Misstrauen begegnen wird, auch der scherzhafte Betrug eines harmlosen Menschen sei damit ethisch bedenklich. Nach der eventuell nur vorgetäuschten bösen Absicht in ‚Die beiden Zimmerleute‘ ent‐ wickelt das folgende Bîspel ‚Der falsche Blinde‘ (209) unter der rubrizierten Überschrift ‚Ditz ist ein hubschez mere/ von einem triegere‘ seine Lehre an einer Figur, deren Betrug planvoll dem eigenen Vorteil dient. Der Protagonist im Handlungsteil gibt vor, blind zu sein, 183 7.1 Der Cpg 341 50 Zur poetologischen Dimension der Versnovelle vgl. S C H A U S T E N , Wissen, Naivität und Begehren. 51 Greulich sieht in der Positionierung des ‚Herzmaere‘ zwischen ‚Sperber‘ und ‚Gänslein‘ als Texten, die sexuelle Naivität und Verführung verhandeln, ein wichtiges semantisierendes Moment. Die se‐ xuellen Handlungen der Co-Texte betonen die ausgesparte Sexualität im ‚Herzmaere‘: Indem die geistlichen Protagonisten offenbar affin sind für Sexualität, sind sie den weltlich liebenden Ehebre‐ chern gegenüber nicht überlegen. Vgl. G R E U L I C H , Kontextualität als Interpretament? [Vortrag beim Germanistentag Bayreuth 2016]. obwohl er sehen kann, und betrügt in der Rolle des Wahrsagers sein Publikum. Erst ein wiser man erkennt den Betrug und sticht dem vermeintlich Blinden die Augen aus. Im Auslegungsteil des Bîspel wird Gott gedankt, dass der Betrüger mit dem Augenlicht gerade das verloren hat, was er zuvor verleugnet hat. Das letzte Bîspel im Codex ‚Gegen Gleichgeschlechtlichkeit‘ (210) stellt eine Klimax der Verhandlung von Betrug dar, denn hier wird Gott selbst durch die männliche Homosexu‐ alität an seiner Schöpfung betrogen. Weil diese für das Menschengeschlecht keinen wucher - also Nachwuchs - bringe, drohe den Homosexuellen der ewige Tod: Er wil den wucher swachen, Des hat billich ir beider lon: Des immer werndes todes ton (339r). Erfährt Lügen und Betrug in den Bîspeln also eine deutliche Problematisierung, werfen die nun anschließenden Versnovellen andere Schlaglichter auf das verhandelte Themenfeld und entwickeln konträre Geltungen. Auf die Bîspel folgt Sibotes ‚Frauenerziehung‘ (211), in der ein Ehemann in einem doppelten Täuschungsmanöver erst seine widerspenstige Ehefrau und anschließend die ihrem Ehemann ungehorsame Schwiegermutter gefügig macht. Hier wird das brutale, die Androhung der Tötung einschließende Listhandeln des Mannes als probates Mittel positiviert, um einem übelen wîp seinen Platz in der ordoge‐ mäßen Geschlechterhierarchie zuzuweisen. Der durch den Schreiber c angefügte ‚Sperber‘ (212) schließt an die positivierende Darstellung von List an, die hier dazu dient, die Naivität einer jungen Nonne sexuell auszunutzen. An dem Sperber als polyvalentem Zeichen wird eine Wissensdiskrepanz aufgefaltet, indem die Nonne die einschlägigen Metaphoriken des Tieres nicht kennt, die dem Ritter, vor allem aber dem Rezipienten vertraut sind; die Ver‐ schränkung sexueller und semiotischer Unwissenheit wird zum Movens der Täuschungs- und Verführungshandlung. 50 Die List wird dabei durch die angedeutete natürliche Dispo‐ sition des Mädchens zur Sexualität positiviert, denn diese wird nicht nur in ihrer sinnlichen Erscheinung hervorgehoben, sondern ermahnt den Ritter beim Tauschhandel Sperber gegen Minne, dass er unbedingt auf vollständige ‚Bezahlung‘ achten soll. Das folgende durch Schreiber d gestaltete ‚Herzmaere‘ kann wiederum als Konterkarie‐ rung zu den voranstehenden Texten gelesen werden, indem der Ehemann im kurzen Schluss wegen seiner listreichen Rachehandlung verwünscht wird. Die Textumgebung der schwankhaften Versnovellen hebt wenig die exemplifizierende Positivierung von Liebesleid hervor, stattdessen steht die Dynamik der wechselseitigen Listhandlungen stärker im Fokus. 51 Der Folgetext, das anonyme ‚Gänslein‘ (214), problematisiert dagegen Unwahr‐ heiten, die in guter Absicht geschehen. Der Text inszeniert ähnlich dem ‚Sperber‘ ein sprachreflexives Moment, indem der Konflikt hier aus der Spannung zwischen konkretem 184 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 52 Auch Zotz konstatiert für den additionalen Teil des Codex signifikante semantische Relationen zwi‐ schen einzelnen Texten. Zotz sieht eine inhaltliche Verknüpfung zwischen ‚Herzmaere‘, ‚Gänslein‘, ‚Bestraftes Misstrauen‘, ‚Das Rädlein‘ und ‚Das Almosen‘ (213-217) über das Motiv der handelnden Frau, die in Liebesangelegenheiten auf verschiedene Art die Initiative ergreift, womit sich die Texte von der sonst vorrangig misogynen Tendenz der Versnovellen abheben würden (vgl. Z O T Z , The Changing (Con)Text, S. 262-265). Das Deutungsmodell bereitet bei einigen Texten Schwierigkeiten, etwa die Lesart des weiblichen Liebestodes im ‚Herzmaere‘ als Willensakt, demonstriert aber das Potential der Versnovellen für eine literarische Anschlusskommunikation, die sich aus verschiedenen inhaltlichen Relationen herleiten kann. und übertragenen Sinn resultiert: Die unbedarfte Bemerkung eines Abtes, der junge Frauen als Gänse bezeichnet, führt dazu, dass sich sein naiver, unaufgeklärter Novize mit gutem Gewissen von einem Mädchen verführen lässt und danach dem Abt die Anschaffung von Gänsen für alle seine Mitbrüder vorschlägt. Das Epimythion formuliert eine Lehre, die das Lügen und Betrügen ohne Ausnahme zur Sünde erklärt, selbst wenn es sich nur um einen Scherz handelt, und läuft damit der Positivierung ‚situationsadäquaten‘ Betrugs in den ersten beiden Versnovellen geradezu entgegen: Het er im die warheit Recht und an spot geseit, So het er sich baz behut. Ligen und triegen ist selten gut: Is ist sunde und unere (351r). Eine widersprüchliche Bewertung von List und Verstellung präsentiert die Versnovelle ‚Bestraftes Misstrauen‘ (215). Hier will ein Ritter seine tugendhafte Frau auf die Probe stellen und beauftragt seinen Knappen, ihr Liebesanträge zu machen, die diese konsequent zurückweist. Sie greift ihrerseits zu einer List und lädt den Werber zu einem vermeintlichen Stelldichein, um ihn von ihren Zofen verprügeln zu lassen. Die Körperstrafe erhält aller‐ dings ihr Mann, der an Stelle des Knappen zu dem nächtlichen Treffen geht, weil er seine Frau zu überführen glaubt. Während die List des Ehemannes hier sanktioniert und im Ab‐ schluss der Erzählung explizit getadelt wird, ist die List der Frau nicht nur überlegen, son‐ dern auch legitim. ‚Das Rädlein‘ (216) von Johannes von Freiberg rechtfertigt wieder ähnlich dem ‚Sperber‘ den listigen Betrug, wenn er dazu dient, weibliche Sexualität verfügbar zu machen. Die Reihe ließe sich weiter fortsetzen, immer wieder zeigt sich, wie die versnovellisti‐ schen Texte divergente Perspektiven auf das dominante Thema von List und Betrug ent‐ werfen. Einerseits werden Betrug und Heuchelei moralisch apodiktisch verurteilt, ande‐ rerseits aber Ausnahmen von dieser Regel diskursiv verhandelt und die zuvor formulierten vermeintlich letztgültigen Wahrheiten in Frage gestellt. 52 Die das ‚Herzmaere‘ integrierende Textreihe im Cpg 341 zeigt beispielhaft, dass auch in einer Textzusammenstellung, die scheinbar auf erratischen Entscheidungen über die Text‐ aufnahme basiert, Zusammenhänge zwischen den inserierten Texten gestaltet werden können. Dabei steht die Ausführung der Textreihe durch mehrere Schreiber der Annahme einer konzeptuellen Gestaltung nicht entgegen. Im Gegenteil kann davon ausgegangen werden, dass dort, wo eine neue Schreiberhand einer bestehenden Sammlung etwas hin‐ 185 7.1 Der Cpg 341 53 Auch Zotz betont, dass sich eine sukzessive Zusammenstellung der Texte und die Möglichkeit der Konzeption thematischer Gruppen nicht ausschließen. Vgl. Z O T Z , The changing (Con)Text, S. 268. 54 Vgl. Waltenberger zur „kontextuellen Valenz“ als diskursivem Profil des versnovellistischen Erzäh‐ lens, das in der kasuistisch organisierten Zusammenstellung von Texten durch die „aggregative[n] Überlagerungen an Situationen gebundener, konfligierender Normen oder Normsysteme“ erfahrbar wird. Vgl. W A L T E N B E R G E R , Situation und Sinn, S. 294. Siehe auch S. 35f. 55 Vgl. S T U T Z , Der Codex Palatinus germanicus 341, S. 22-25. zufügt, besonders über die Auswahl und Reihenfolge der Texte nachgedacht wird. 53 Die Zusammenstellung gestaltet ein aggregatives Erzählen von Text zu Text, das über die ge‐ meinsamen Themen und Motive intertextuelle Relationen herstellt und die verhandelten Thematiken kontrovers diskutiert. In der divergenten Verhandlung von gleichen Themen‐ komplexen, zum Beispiel dem listreichen Handeln, in aufeinanderfolgenden Geschichten wird auf die Relativität von scheinbar sicheren Normativitäten verwiesen, so dass der ad‐ ditionale Teil prototypisch die Narrativierung der Situationsgebundenheit von Normen als Grundprinzip versnovellistischen Erzählens vor Augen führt. 54 Mit der Handschrift H tritt die kleinepische Dichtung als Gegenstand einer aufwendigen, repräsentativen kodikologischen Gestaltung in Erscheinung. Der Cpg 341 erscheint als eine Sammlung, in der offenbar thematische Ordnungsprinzipien wirksam sind, ohne dass diese sich zu einer thematisch geschlossenen Gesamtkomposition zusammenfügen. Der stringent konzipierte mariologische Eingangsteil gibt der Sammlung zunächst ein geistliches Ge‐ präge, das dem Codex zusammen mit der aufwendigen, repräsentativen Gestaltung eine besondere Dignität und einen Geltungsanspruch verleiht, der auch auf die folgenden Texte ausstrahlt. Mit der umfangreichen und geschlossenen geistlichen Textgruppe wird der Sammlung eine übergeordnete Metaperspektive vorangestellt, die das Thema von Sünde, Vergebung und Fürbitte als Voreinstellung impliziert, vor der dann das ganze folgende Pan‐ optikum von lose arrangierten weltlichen Themen, Figuren und Erzählweisen ausgebreitet wird. 55 Der Hauptteil des Cpg 341 schließt zunächst an die geistliche Signifikanz des Eingangs‐ teils an, indem hier dezidiert lehrhafte Dichtungen zahlenmäßig dominieren. Die Verbind‐ lichkeit der moralisierenden Perspektive wird aber durch konträre Sinnaussagen und die schwankhaften Erzählmuster in vielen der folgenden Texte konterkariert. Zumeist sind es versnovellistische Texte, die im Cpg 341 den belehrenden und moralisierenden Impetus der ausführlichen Stricker-Reihen konterkarieren und kontroverse Semantiken in die Samm‐ lung einbringen. Die im Cpg 341 inserierten Versnovellen zeugen damit von dem beson‐ deren Potential des Texttyps, eine Relationalität von Geltung in ein Korpus einzubringen, das eigentlich lehrhaften Sinnsetzungen verpflichtet ist. Der additionale Teil als eine gattungsmäßig kohärente Textformation, in der die zumeist schwankhafte Darstellung von Sexualität und tatsächlichem oder auch nur unterstelltem Ehebruch dominiert, gestaltet am Ende des Codex eine Perspektive, die in eklatantem Ge‐ gensatz zu der einleitenden mariologischen Textformation steht und geradezu gegen deren geistliches Gepräge opponiert. Zugleich schließen die Versnovellen an das Thema weltli‐ cher Verfehlung und Versündigung an, die in anderer Akzentuierung auch die Marientexte prägt. Die beiden Textformationen stehen beispielhaft für das kontrastierende Nebenei‐ nander von geistlicher und weltlicher Textualität und die Vermischung ihrer eigentlich 186 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 56 Ehemals Kalocsa, Kathedralbibl. Ms. 1. 57 Vgl. W E T Z E L , Deutsche Handschriften des Mittelalters in der Bodmeriana, S. 128f. 58 Der Titel von Friedrich Heinrich von der Hagens „Gesammtabenteuer“ als früheste Edition versno‐ vellistischer Texte basiert auf dieser Überschrift im Codex Bodm.72. gegenläufigen Perspektiven als einem wesentlichen Charakteristikum, das das diskursive Profil vieler kleinepischer Sammlungen prägt. 7.1.3 Codex Bodm. 72 - ungleiche Schwesterhandschrift Der Codex Cologny-Genf, Bibl. Bodmeriana 72 (K) hat als ‚Schwesterhandschrift‘ des Cpg 341 mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich ebenfalls das ‚Herzmaere‘ enthalten. 56 Ein eingeschobenes Register nennt das ‚Herzmaere‘ sowie den ‚Johann von Michelsberg‘ als Schlusstexte der Sammlung, diese sind aber durch den Verlust der letzten Lage des Codex nicht mehr erhalten. K ist ebenfalls eine Pergamenthandschrift und wie H im ersten Viertel des 14. Jahrhun‐ derts entstanden. Es findet sich ein Besitzereintrag aus dem 15. Jahrhundert, der den Fa‐ miliennamen Boss nennt, möglicherweise identisch mit einer fränkischen Adelsfamilie, die schon im 14. Jahrhundert im Nürnberger Raum als Lehnsleute der Burggrafen von Nürnberg belegt ist. Der Codex ist in seiner äußeren Gestaltung in deutlicher Analogie zu H angelegt, die Einrichtung der Texte entspricht ganz der Vorlage, wobei K insgesamt noch sorgfältiger gefertigt ist. Das Pergament ist von besserer Qualität, das Schriftfeld genauer eingehalten und die Initialen wurden größer und aufwendiger ausgeführt. 57 Auch im Format übertrifft K mit 345x250 mm die ihrerseits bereits außergewöhnlich großformatige Heidelberger Handschrift noch einmal deutlich. Der Handschrift ist ein Register vorangestellt, auf dessen oberem Rand eine etwas spätere Hand den Titel ‚Daz buche heiset gesampt habentewer‘ (IIr) nachgetragen hat, die ähnliche Titulatur ‚Das haist de gesamt aventhewr‘ findet sich auf der recto-Seite des ersten Blattes der ersten Lage. 58 Der Titel impliziert eine große thematische Breite und Vollständigkeit des Textkorpus und stützt damit die Annahme, dass H und K als umfangreiche kleinepische Anthologien angelegt und rezipiert wurden. K wurde durchgängig von einer Hand geschrieben, die mit dem Schreiber e der Hand‐ schrift H identisch ist. H war sicher Vorlage für K, sämtliche in K aufgeführten Texte bis auf ‚Das Wachtelmäre‘ (139) finden sich auch in H und stehen über weite Teile in der iden‐ tischen Abfolge. Die durch Rasur getilgten Titel von H sind nicht übernommen worden, die Abschrift dürfte also nach dem Eingriff des Purgartors erfolgt sein. Dennoch ist K keine genaue Kopie seiner Vorlage. So sind die Titulaturen zum Teil anders gefasst, auch weisen viele Texte Zusatzverse auf. Einige Versnovellen, z.B. ‚Das Almosen‘, ‚Der Sperber‘ und ‚Das Gänslein‘, liegen in deutlich von H abweichenden Redaktionen vor, was auf die Verwendung anderer Vorlagen schließen lässt; aber auch Umarbeitungen durch 187 7.1 Der Cpg 341 59 Vgl. W E T Z E L , Deutsche Handschriften des Mittelalters in der Bodmeriana, S. 129, der von divergenten Vorlagen ausgeht. Zwierzina weist dagegen Forschungsmeinungen, die eine eigenständige Bearbei‐ tung des K-Schreibers ausschließen und sämtliche Unterschiede auf nicht erhaltene Vorlagen zu‐ rückführen, als letztlich obsolet zurück: „Woher stammen denn unsere abweichenden Laa. in den Hss., wenn sie niemals vom direkten Abschreiber sein sollen? “. Z W I E R Z I N A , Die Kalocsaer Hand‐ schrift, S. 226. 60 Zwierzina geht auf Grund der Berechnung der Zeilen davon aus, dass in K eine kürzere Version des ‚Herzmaere‘ enthalten war, die möglicherweise der in w/ i entsprochen habe (vgl. Z W I E R Z I N A , Die Kalocsaer Handschrift, S. 211). Eine angenommene kurze Version in K kann aber auch analog zur Handschrift Ko gestaltet sein, die in ihrem Umfang nicht signifikant von der Fassung in w/ i abweicht (Ko 480 Verse; w/ i 484 Verse). 61 Nicht übernommen wurden ‚Bestraftes Misstrauen‘, ‚Das Rädlein‘, ‚Der kluge Knecht‘, ‚Rittertreue‘, ‚Die alte Mutter‘ sowie ‚Schrätel und Wasserbär‘. den Schreiber sind möglich. 59 Auch das ‚Herzmaere‘ war möglicherweise anders gefasst als in H, denn abweichend von der Heidelberger Handschrift lautet der Titel im Register von K ‚Ditz ist von dem herzen/ do von liden zwei geliben smerzen‘. 60 Unterschiede gibt es aber vor allem bei der Textanordnung. So wurden die Lehrdich‐ tungen ‚Cato‘, ‚Der Magezoge‘ und ‚Der Seele Kranz‘ (8-10) in den einleitenden mariolo‐ gischen Teil eingefügt, während sie in H den Übergang von den Marientexten zum Hauptteil der Sammlung markieren. Unmittelbar auf den Marienteil folgt in beiden Handschriften zunächst eine Mischung verschiedener Textsorten, darunter zahlreiche Versnovellen; in dieser Partie ist die Textabfolge in K mehrfach verändert. Die umfangreichen und homo‐ genen Fabel/ Bîspelreihen des Strickers finden sich dagegen in praktisch identischer Abfolge auch in K. Große Unterschiede gibt es bei den versnovellistischen Texten, die den additio‐ nalen Teil von H bilden. K endet mit Sibotes ‚Frauenerziehung‘ und dem ‚Gänslein‘, danach bricht der Codex ab, laut Register folgten nur noch das ‚Herzmaere‘ und der ‚Johann von Michelsberg‘. Weitere Texte aus dem additionalen Teil sind in K bereits an früherer Stelle in das Korpus eingeordnet. K übernimmt hier nicht die gattungsmäßig homogene Reihe seiner Vorlage, sondern gestaltet eine andere Anordnung, aus der eigene semantische Re‐ lationen entstehen. So werden ‚Das Almosen‘, ‚Der hohle Baum‘, ‚Der Hasenbraten‘ und ‚Der Sperber‘ zusammen mit dem hinzugefügten ‚Wachtelmäre‘ als eine neue Textgruppe (136-140) zwischen ‚Von der Barmherzigkeit‘ (135) und Hartmanns ‚Der arme Heinrich‘ (141) eingefügt. Dabei steht ‚Das Almosen‘ in Kontrast zu dem voranstehenden Text, denn ‚Von der Barmherzigkeit‘ formuliert eine umfassende moraltheologische Belehrung, in die zahlreiche in roter Tinte gehaltene lateinische Zwischentitulaturen sowie eine besonders aufwendige Verzierung eingefügt sind. Die im ‚Almosen‘ beschriebene barmherzige Tat des Beischlafs mit einem Bettler, den die Protagonistin in Ermangelung anderer Gaben vollzieht und damit ihren Ehemann von seinem Geiz kuriert, kollidiert erheblich mit der normativen Perspektive des voranstehenden Textes. Die übrigen Versnovellen aus dem additionalen Teil in H werden in K nicht übernommen, bemerkenswerterweise handelt es sich dabei ausschließlich um Texte, die in H durch Schreiber e gefertigt wurden, der sich im zweiten Codex offenbar gegen die Aufnahme von Teilen des zuvor von ihm selbst eingefügten Textgutes entschied. 61 Die Anlage von K zeigt, dass die Erstellung von Sammelhandschriften selbst bei einer so engen Verwandtschaft bzw. Abhängigkeit von Überlieferungsträgern keineswegs auf eine 188 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile reine Kopiertätigkeit reduziert werden kann. Die Unterschiede in Textbestand und Anord‐ nung, die trotz der zeitnahen oder gleichzeitigen Erstellung durch die teilweise gleiche Schreibhand zu Tage treten, geben ein Beispiel für das hohe Maß an Intentionalität und die Möglichkeit der Auswahl aus mehreren Vorlagen, mit dem die Fertigung der Sammelcodices verbunden war. Der Vergleich der Handschriften führt die Bedeutung und das unterschied‐ liche Selbstverständnis der Schreiber vor Augen. Offenbar entschied sich der Schreiber von K nicht nur für andere Ausführungen von einzelnen Texten, er bricht auch die Textabfolge seiner Vorlage auf und platziert einzelne Dichtungen in anderen Zusammenhängen. Dabei zeigt sich, dass vor allem Versnovellen Gegenstand unterschiedlicher Schreiberintentionen sind. Während die Fabel- und Bîspel-Reihen weitgehend unverändert bleiben, fallen gerade diese Texte durch eine variable Gestaltung auf und sind Gegenstand der Ergänzung durch verschiedene Schreiberhände in H bzw. einer Umorganisation in K. 189 7.1 Der Cpg 341 62 Texteinteilung, Nummerierung und nhd. Titulaturen entsprechend der Handschriftenbeschreibung von M I L L E R / Z I M M E R M A N N , Die Codices Palatini germanici, S. 129-165. Die Nummerierung in Klammern gibt die ältere Zählung bei Rosenhagen und Mihm wieder (R O S E N H A G E N , Die Heidelberger Handschrift cod. Pal. germ. 341; M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung). Grau unterlegt: Versnovellen 63 Miller/ Zimmermann geben die veränderte Textabfolge der ‚Goldenen Schmiede‘ im Cpg 341 wie folgt an: 1vab, 9ra-vb, 12ra-12vb, 11ra-11vb, 13ra-13vb, 10ra-10vb, 14ra-14vb, 2ra-2vb, 15ra-15vb, 3ra- 6va. 7.1.4 Sammlungsübersicht Cpg 341 62 1. (1) Konrad von Würzburg: ‚Die goldene Schmiede‘ Ditz heizet daz guldin lop vnser vrowen/ Got hel daz wir si mvezen schowen (1va- 15vb) 63 1-4: Vor‐ faszikel/ Scheiber a,b 2. (2) Walther von der Vogelweide: ‚Leich‘ (-) (6va-7vb) 3. (3) Reinmar von Zweter: ‚Leich‘ (-) (7vb-8vb, 16rab) 4. (4) ‚Mariengrüße‘ Hie hebent sich vnser vrowen gruze an/ anderhalb hvndert wol getan (16rb-21vb) 5. (5) ‚Unser vrouwen klage‘ Ditz buch heist vnser vrowen klage/ Die sol man lesen alle tage (22ra-29rb) 5-210: Kern‐ sammlg./ Schreiber b 6. (6) ,Von dem Jungesten tage‘ Ditz ist von dem Jungesten tage/ Da man horet iamers klage (29rb-34ra) 7.-29. (7-29) ,Passional‘ (Auszug: 22 Marien‐ mirakel aus Buch 1) (34ra-61ra) 30. (30) ‚Unser Frauen Ritter‘ Ditz ist ein schones mere/ von einem Ritter lobere (61ra-62rb) 1-33: Ma‐ rientexte 31. (31) ‚Thomas von Kandelberg‘ Ditz ist ein bvch ze horen/ von zwelf schvleren (62rb-64va) 32. (32) ‚Marien Rosenkranz‘ Hie ist ein schones mere/ von einem schvlere (64va-66vb) 33. (33) Siegfried der Dörfer: ‚Frauentrost‘ Ditz mere ist von dem graben mantel/ vnd vnser vrowen wunder an allen wandel (66vb-70vb) 34. (34) ‚Der Heller der armen Frau‘ Wie eines kvnges mvnster volquam/ von einer armen spinnerin helbelinc san/ Mit dem si alle ir not vber quam (70vb-71va) 35. (35) ‚Cato‘ (dt. Rumpfbearbeitung) Ditz bvchel heizet Katho/ vnde liset man ez in der schvele do (71va-75rb) 36. (36) ‚Der Magezoge‘ Ditz bvchel ist geheizen ein spigel aller tu‐ gent/ vnde ein maitzoge aller Jvgent (75rb-78va) 37. (37) ‚Der Seele Kranz‘ Ditz bvchel heizet der tvgent krantz/ Daz mach vns an der sele glantz (78va-80vb) 190 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 38. (38) Der Freudenleere: ‚Der Wiener Meerfahrt‘ Ditz bvchel ist von seltzener art/ vnde heizet der Wienner mer vart (80vb-85ra) 34-60: versch. Reim‐ paar‐ dichtg. 39. (39) ‚Das Frauenturnier‘ Ditz heizet der vrowen tvrneÿ/ vnd ist veste als ein eÿ (85ra-87vb) 40. (40) ‚Der Hauskummer‘ Ditz bvch ist der kvmber genant/ vnd bringet manchen in sorgen bant (87vb-88va) 41. (41) ,Warum Gott sein Haupt neigte‘ Ditz mere hie betzeiget/ war umb got sin haubt neiget (88va-90va) 41+42/ radierte Texte: Schreiber f [42.(-) unbekannte Reimpaardichtung, radiert (-) (88va-90va)] 43. (42) ‚Mönch Felix‘ Ditz ist der mvnch Felix genant/ Der tut vns ditz mere bekant (90va-92vb) [44.(-) Heinrich von Freiberg: ‚Johann von Michelsberg‘, ra‐ diert (-) (90va-92vb)] [45.(-) ‚Der Herrgottschnitzer‘, radiert (-) (92vb-93rb)] 46. (43) ‚Frauenlist‘ Ditz bvchel heizet vrowen list/ Got herre vns selben bie ist (93rb-97ra) 47. (44) ‚Des Hundes Not‘ Ditz bvchel heizet des hvndes not/ wan er was nach hvngers tot (97ra-99ra) 48. (45) ‚Der Reiher‘ Ditz ist von einem Reiger ein mer/ Got vber hebe vns aller swer (99ra-101vb) 49. (46) ‚Die halbe Decke‘ II Ditz heizet des kotzen mere/ Got beneme vns vnser swêre (101vb-103vb) 50. (47) Rüdiger der Hünkhofer: ‚Der Schlegel‘ Ditz mere ist der Slegel genant/ vnd schvf im manic ere bekant (103vb-11rb) 51. (48) ‚Die Heidin‘ B Hie hebet sich an die Heideninne/ Got geb vns die ware minne (111rb-123ra) 52. (49) Konrad von Haslau: ‚Der Jüngling‘ Ditz bvchel heizet der Jvngelinch/ Got der bezzer vnser dinch (123ra-131ra) 53. (50) ‚Crescentia‘ C Ditz bvchel heizet Krescencia/ Die was ein vrowe lobesa (131ra-137va) 54. (51) ‚Frauentreue‘ Ditz bvchel heizet der vrowen triwe/ Got helf vns mit gantzer rvewe (137va-140rb) 55. (52) Stricker: ‚Der Teufel und die Seele‘ Ditz ist von des tevfels swer/ Ein vil seltzenes mer (140rb-141ra) 56. (53) Der Zwickauer: ‚Des Mönches Not‘ Ditz ist ein schones mere gnvc/ Wie ein mvnch ein kint trvc (141ra-144va) 57. (54) ‚Adam und Eva‘ A Ditz bvchel heist Adams klag/ Die er leid mangen tag (144va-147rb) 191 7.1 Der Cpg 341 58. (55) Stricker: ‚Der Pfaffe Amis‘ Ditz bvch heizet pfaf Ameys/ Der gewan mancher hande preis (147rb-161va) 59. (56) ‚Der Feldbauer‘ Ditz ist ein schones mere/ Von einem velt bowere (161va-164vb) 60. (57) ‚Des Teufels Ächtung‘ Ditz heizet des tevfels echte/ Des pflag ein mait mit einem knehte (164vb-166vb) 61. (58) Stricker: ‚Die Messe‘ Hie ist des Stickers mere/ Got bvz vns vnser swere (166vb) 62. (59) ‚Der arme Lazarus‘ Ditz ist von dem richen man vnd von Lazaro alsam (167ra-167va) 63. (-) Stricker: ‚Die feisten Jagdvögel‘ (-) Inc. GOt hat der herren harte vil/ Die tunt recht als daz veder spil (167va) 61-132: v.a. geistl. Bîspel, v.a. Stri‐ cker 64. (60) Heinrich der Glichezare: ‚Reinhart Fuchs‘ Ditz bvch heizet vuchs Reinhart/ Got gebezzer vnser vart (167va-181vb) 65. (61) Stricker: ‚Die Messe‘ Ditz ist von der messe/ Der svlle wir niht vergesse (181vb-183va) 66. (62) Stricker: ‚Der Opfertod Christi des Kö‐ nigs‘ Ditz ist von vnsers herren marter so/ Der vns helfe zv dem himel ho (183vab) 67. (-) Stricker: ‚Christus eine gebärende Frau‘ (-) Inc. Krist hat sich mit dem libe/ Gelichet einem wibe (183vb-184ra) 68. (63) Stricker: ‚Das weiße Tuch‘ (-) Inc. Wer ein tvch so weiz vnd so clar/ Daz man daz welte wol verwar (184rab) 69. (64) Stricker: ‚Der Pfaffen Leben‘ Ditz ist von den pfaffen/ Got hat vns geschaffen (184rb-185ra) 70. (65) Stricker: ‚Der Hund und der Stein‘ Ditz ist von den di da der predige spottent vnd schimpfent (185ra-185va) 71. (66) Stricker: ‚Mahnung zu rechtzeitiger Buße‘ (-) Inc. Daz alter slizet den lip/ Ez machet man vnd wip (185va-186ra) 72. (67) Stricker: ‚Der Taugenichts‘ Hie sait der Strickere/ Eines loters mere (186ra-186va) 73. (68) Stricker: ‚Die Weisheit Salomos‘ Ditz sait der Stricker von Salomon/ Got der gebe vns richen lon (186va-187vb) 74. (69) ‚Von drei Freunden‘ Hie sait der Stricker von drin vrvnden die da raten kvnnen (187vb-188rb) 75. (70) Rudolf von Ems: ‚Der Zwei‐ kampf ‘ (aus ‚Barlaam und Josa‐ phat‘) (-) Inc. OB ein man in kanphe stat/ Sin kanph genoz niht enlat (188rb-188va) 76. (71) ‚Der milde König‘ Ditz ist von einem hazzingen/ Vnde von einem nydigen (188vab) 192 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 77. (72) Stricker: ‚Das Bild‘ Hie wil ich euh bedevten/ Von valschen geistlichen levten (188vb-190ra) 78. (73) Stricker: ‚Die Äffin und ihre Kinder‘ Ditz bvch heist der ieger/ Got si vnser pfleger (190rab) 79. (74) Stricker: ‚Der blinde Dieb‘ Ditz ist von einem blinden diebe/ Got vns zv im geliebe (190rb-190vb) 80. (75) Stricker: ‚Der wahre Freund‘ Ditz ist wie ein man/ Von schvlden vz sines herren hvlden quam (190vb-191va) 81. (76) Stricker: ‚Die drei Gott verhassten Dinge‘ Hie sint drev dinch Die got vnmer sint (191va-192ra) 82. (77) Stricker: ‚Die sieben himmlischen Gaben‘ Ditz ist von dem metzen/ Got mvz vns ze himel setzen (192ra-192vb) 83. (78) Stricker: ‚Die undankbaren Gäste‘ Ditz ist ein wirt herwergte geste/ Vnd tet in ovch daz beste (192vb-193rb) 84. (79) Stricker: ‚Der Sünder und der Einsiedel‘ Ditz ist von einem richen man/ Den sin svnden rewen began (193rb-193vb) 85. (80) Stricker: ‚Die Tochter und der Hund‘ Ditz ist wie ein kvnic zv hove wolde varn/ Got der mveze vns bewarn (193vb-194vb) 86. (81) Stricker: ‚Der ernsthafte König‘ Ditz ist von einem kvnege Der wolde nie niht gelachen (194vb-196rb) 87. (82) ‚Der Spiegel‘ Ditz mere hebet sich also an/ Von vnsers herren lichnam (196rb-197va) 88. (83) ‚Die Eiche und das Rohr‘ Ditz ist von einer eyche/ Got vns von svnden weyche (197vab) 89. (84) Stricker: ‚Der eigensinnige Spötter‘ Ditz ist ein mer/ Von einem vbelen spotter (197vb-199ra) 90. (85) ‚Der Habicht und das Huhn‘ Ditz ist wie ein habch wart Gebvnden vf einen hamel wart (199rab) 91. (86) ,Der Wolf und der Kranich‘ Ditz ist ein mere gote weis/ Wie ein wolf ein vich erbeis (199rb-199vb) 92. (87) ‚Der Löwe und die Maus‘ Ditz ist ein mere/ Von einem wildenere (199vb-200ra) 93. (88) Stricker: ‚Der Gast und die Wirtin‘ Ditz mere ist vns gegeben/ Von den valschen litgeben (200ra-201ra) 94. (89) Stricker: ‚Der Marktdieb‘ Ditz ist ein mere zv dem leben/ Von gelten vnd von wider geben (201ra-202ra) 95. (90) ‚Der Hund am Wasser‘ Ditz ist ein mere/ Von einem hvnde gewere (202ra-202vb) 96. (91) Rudolf von Ems: ‚Das Einhorn‘ (aus ‚Barlaam und Josaphat‘) Hie hebet sich ein mere an/ Von einem wertlichen man (202vb-203vb) 193 7.1 Der Cpg 341 97. (92) Stricker: ‚Die beiden Königinnen‘ Ditz ist ein selzen mere/ Von vier scharen lobebere (203vb-205va) 98. (93) Stricker: ‚Des Königs alte Kleider‘ Ditz ist von gotes alten cleidern/ Nieman des sol geweigern (205va-206rb) 99. (94) ‚Der Baum mit dem dürren Ast‘ Ditz ist von den alten mannen/ Die ivnge hvsvrowen haben (206rb-206va) 100. (95) ‚Vogel, Rose und Distel‘ Ditz ist von den bosen hvsvrowen/ Die sich eren berovben (206vab) 101. (96) ‚Die Bremse im Blütenhaus‘ Ditz ist von einem tvmben man/ Der boeser blicke walten kan (206vb-207ra) 102. (97) Stricker: ‚Von bösen Frauen‘ Welt ir mit vride beliben/ So hvt evh vor vbelen wiben (207rab) 103. (98a) Stricker: ‚Mahnung zu rechtzeitiger Buße‘ Ditz ist von der hochvart/ Die mit dem tevfel ist beswart (207rb) 104. (98b) Stricker: ‚Die Heuschrecken‘ (-) Inc. Die sich von hochvart dvnkent groz/ Di sint der haberschrecken genoz (207rb) 105. (98c) Stricker: ‚Von der Hoffart‘ (-) Inc. Daz machet des vbeln geistes kraft/ Die mit der hchvart sint behaft (207rb-208rb) 106. (99) Stricker: ‚Vom Tode‘ Ditz ist ein mere besvnder/ Von einem hvnde grozev wunder (208rb-209rb) 107. (100) Stricker: ‚Die irdenen Gefäße‘ Ditz mere ist wie ein kvnic waz/ Der macht erdeinev vaz (209rb-210rb) 108. (101) Stricker: ‚Der Salamander‘ Hie stet ein vnd ander/ Vnd von einem tier heizet Salemander (210rb-210vb) 109. (102) Stricker: ‚Die ewige Verdammnis‘ Ditz ist wie ein mensche mvge/ Sich verwurken vnd niht entvge (210vb-211ra) 110. (103) Stricker: ‚Die verlorenen Christen‘ (-) Inc. Khetzer Jvden heyden/ Dvnchent vns die gotes leiden (211ra-211va) 111. (104) Stricker: ‚Die Buße des Sünders‘ Ditz ist ein mere/ Von einem svndere (211va-212vb) 112. (105) Stricker: ‚Die sechs Teufelsscharen‘ Ditz ist von wiben vnd von mannen/ Die vnchevscheit vil han begangen (212vb-214ra) 113. (106) Stricker: ‚Ein Beispiel Salomos‘ Ditz ist von got ein mere/ Vnd zv sagen heilbere (214rb-215ra) 114. (107) Stricker: ‚Das entweihte Gotteshaus‘ (-) Inc. Swelch gotes hvs gemachet stat/ vnd man iz wol gewihet hat (215ra-215va) 194 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 115. (108- 10) Stricker: ‚Die törichten Pfaffen‘ Ditz ist von den pfaffen/ Di sint gelich den affen (215va-217vb) 116. (111) ‚Der Wolf und der Ochsenhirt‘ Ditz ist wie ein man/ Einen wolf iagen began (217vb) 117. (112) ‚Der Tropfen auf dem Stein‘ (-) Inc. Ich chom gegangen eine/ zv einem holen steine (217vb-218ra) 118. (113) ,Glück im Traum‘ (-) Inc. Mir ist geschehen als einem geschach/ Der slief vnd hete gemach (218ra) 119. (114) Stricker: ‚Der Wucherer‘ Ditz ist ein mere/ Von einen wucherere (218ra-219ra) 120. (115) Walther von Griven: ‚Weiberzauber‘ Ditz ist wie die wip ir man/ Mit zovber gewunnen han (219rab) 121. (116) Freidank: ‚Die Rebhühner‘ (-) Inc. Die Rephvner ein ander stelent/ Ir eier daz si sere helnt (219rb) 122. (117) Stricker: ‚Ehemanns Rat‘ Ditz ist wie ein man/ Siner frvmkeit wider sin wip niht geniezen kan (219rb-220vb) 123. (118) Stricker: ‚Hofhund und Jagdhunde‘ Ditz ist ein mere Von den bvren seltzene (220vb-221rb) 124. (119) Stricker: ‚Der Knecht in Herrenkleidern‘ Ditz ist wie ein richer man/ Sinen kneht cleidet san (221va-222ra) 125. (120) Stricker: ‚Die zwei Märkte‘ Ditz ist wie man in einer stat/ Zwene market waren gesat (222ra-222va) 126. (121) Stricker: ‚Die Milch und die Fliegen‘ Ditz ist von den vliegen/ Die manger hande betrigen (222va-223rb) 127. (122) Stricker: ‚Der ungeratene Sohn‘ Ditz ist ein gebere/ Vnd ist von eines herren svn ein mere (223rb-223vb) 128. (123) Stricker: ‚Die Schlange ohne Gift‘ (-) Inc. SLangen sint die lazent ir nit/ In dem iar zv einer zit (223vb-224va) 129. (124) Stricker: ‚Der geprüfte Diener‘ Ditz ist ein mere vil gvte/ Wie ein herre sinen man versvchte (224va-225ra) 130. (125) Stricker: ‚Die Klage‘ Dise dinch claget zv mere Des bvches tichtere (225ra-228va) 131. (126) ‚Der König im Bad‘ Ditz ist von einem kvnge here Der heizet de‐ posvit potentes desede (228va-230vb) 132. (127) Stricker: ‚Die fünf teuflischen Geister‘ Ditz ist von dem tevfel geseit/ Der fvnf geiste in die werlt bereit (230vb-232va) 133. (128) Dietrich von der Glezze: ‚Der Borte‘ Ditz bvchel heizet der Port/ Got gebe vns des himels hort (232va-238rb) 195 7.1 Der Cpg 341 134. (129) ‚Die Maze‘ Ditz bvchel heizet die Maze/ Got helf vns an die himel straze (238rb-239va) 133-146: VN +versch. Reim‐ paardich‐ tung. 135. (130) Konrad von Würzburg: ‚Der Welt Lohn‘ Ditz bvchel heizet der werlt lon/ Vnd stet mir fvr ein bon (239va-241ra) 136. (131) Konrad von Würzburg: ‚Heinrich von Kempten‘ Ditz bvchel ist keyser Otte genant/ Got der helf vns in sin lant (241ra-246ra) [137. unbest. Reimpaardichtung, ra‐ diert (-) (246ra-249ra) ] 138. (132) ‚Von der Barmherzigkeit‘ Ditz mere vns hie sait/ Von der barmeherzikait (246ra-249ra) 139. (133) Hartmann von Aue: ‚Der arme Heinrich‘ Ditz ist der arme Heinrich/ Got mach vns im gelich (249ra-258va) 140. (134) Stricker: ‚Der Gevatterin Rat‘ Ditz mere ist wie ein bloch wart begraben von der kvndigen gevatern rat (258va-262va) 140-145: VN zu Ehekon‐ flikten 141. (135) Stricker: ‚Das erzwungene Gelübde‘ Ditz ist ein seltzenes mere/ Wie ein man sin wip bat daz si nach sinem tode ane man were (262va-264ra) 142. (136) Stricker: ‚Ehescheidungsgespräch‘ Ditz mere ist von man vnd von wibe/ Die bie ein ander wolden niht beliben (264ra-265ra) 143. (137) Stricker: ‚Die drei Wünsche‘ Ditz ist ein mere ze halten/ Von drin wunsch gewalten (265ra-266va) 144. (138) Stricker: ‚Der begrabene Ehemann‘ Ditz mere wie ein wip iren man/ Lebendich begrvb ysan (266va-268ra) 145. (139) Stricker: ‚Das heiße Eisen‘ Ditz ist ein mere gvt genvc/ Wie ein wip daz heize ysen trvc (268ra-269rb) 146. (140) Stricker: ‚Der einfältige Ritter‘ (-) Inc. [I]z reit ein ritter der was tymp/ vf einer straze die was chrvmp 269rb-269vb) 147. (141) Stricker: ‚Der Käfer im Rosenhaus‘ Ditz ist von einem goltvarn kever san/ Der sich gelichet einer vrowen wol getan (269vb-270rb) 148. (142) Stricker: ‚Der Gärtner‘ Ditz ist ein hvbsch mere/ Von einem garthenere (270rb-271rb) 149. (143) Stricker: ‚Die Königin vom Mohrenland‘ Ditz mere von einer kvnigin ist vnd von einer kvnigin vz moren lant (271rb-272rb) 147-210: Stricker, v.a. weltl. Bîspel 150. (144) Stricker: ‚Das Wildpret‘ Ditz mere ist stete/ Von dem wiltprete (272rb-273ra) 151. (145) Stricker: ‚Der Kater als Freier‘ Ditz ist des kathern mere/ Got bvz vns vnser swere (273ra-274rb) 152. (146) Stricker: ‚Die Katze‘ Ditz ist von den katzen/ Die bizen vnd kratzen (274rb-274va) 196 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 153. (147) Stricker: ‚Das Katzenauge‘ Ditz ist wie ein kvnich ysan/ Einer katzen ovge gewan (274va-275rb) 154. (148) Stricker: ‚Der unfruchtbare Baum‘ Ditz ist ein mere/ Von einem lvgenere (275rb) 155. (149) Stricker: ‚Der junge Baum‘ Hie hebet sich ein mere an/ Von einem Jvngen man (275rb-275va) 156. (150) Stricker: ‚Die Gäuhühner‘ Ditz ist ein hvbschez mere/ Von den Gevhvneren loberere (275va-276va) 157. (151) Stricker: ‚Der Tor und das Feuer‘ Ditz ist ein hvbschez mere/ Von einem toren der redet seltzene (276vab) 158. (152) Stricker: ‚Die ungehorsamen Juden‘ Ditz ist ein hvbschez mere/ Von den Jvden wandelbere (276vb-277rb) 159. (153) Stricker: ‚Der Juden Abgott‘ Ditz ist ein mere von einem apgot/ Vnd ist von des tevfels gebot (277rb-278ra) 160. (154) Stricker: ‚Der Turse‘ Ditz schone mere sol man gerne lesen/ Wie ein rise zwelfe man gezse (278ra-278va) 161. (155) Stricker: ‚Die reiche Stadt‘ Ditz ist ein schones mere/ Von einem nidere (278vab) 162. (156) Stricker: ‚Der arme und der reiche König‘ Ditz ist ein hvbsche ler/ Von zwein kvnigen her (278vb-280ra) 163. (157) Stricker: ‚Der wunderbare Stein‘ Ditz ist von einem Ratgebere/ Ein vil hvbsches mere (280ra-281rb) 164. (158) Stricker: ‚Der junge Ratgeber‘ Ditz ist daz ander mere/ Von einem Jvngen Ratgebere (281rb-283ra) 165. (159) Stricker: ‚Frauenehre‘ (Teil 1) Ditz ist von der vrowen ere/ Die die werlt zieret sere (283ra-293rb) 166. (159) Stricker: ‚Frauenehre‘ (Teil 2) Ditz ist ein schone lere/ Von einem ackermanne here (293rb-295ra) 167. (160) Stricker: ‚Die Äffin und die Nuss‘ Ditz ist von einer Effinne/ Die pflag seltzener sinne (295rab) 168. (161) Stricker: ‚Der Wolf und das Weib‘ Ditz ist von dem wolfe ein mer/ Daz leret vns der Stricker (295rb-295vb) 169. (162) Stricker: ‚Von Eseln, Gäuchen und Affen‘ (-) Inc. Esel govch vnd affen/ Den ist wunderlich ere beschaffen (295vb) 170. (162a) Stricker: ‚Frauenleben und Pfaffenleben‘ (-) Inc. Swer got will minnen/ Der mag wol selde gewinnen (295vb-296rb) 171. (163) Stricker: ‚Die Geliehenen Kleider‘ Ditz ist ein schoene mere genvck/ Wie ein Ritter entnomen cleider trvck (296rb-297ra) 172. (164) Stricker: ‚Die zwei Herren‘ Ditz ist von zwein herren ein mere/ Die warn ganczer triwen gewere (297ra-297vb) 197 7.1 Der Cpg 341 173. (165) Stricker: ‚Der Hort‘ Ditz ist ein gvt mere gehort/ Wie ein man vant grozzen hort (297vb-298ra) 174. (166) Stricker: ‚Der Kirchtag‘ Ditz mere ist wie ein Ritter rait/ Vf einen kirchtack wol gemait (298ra-298va) 175. (167) Stricker: ‚Der Krämer‘ Ditz ist von einem kramere/ Ein vil schones mere (298va-299vb) 176. (168) Stricker: ‚Die Eule und der Habicht‘ Ditz ist der Evlen mere/ Got bvzze vns vnser swere (299vb-301ra) 177. (169) Stricker: ‚Der verflogene Falke‘ Ditz ist wie sich ein valke vf den se vervlock/ Daz ist ein seltzen mere noch (301ra-302ra) 178. (170) Stricker: ‚Der Rabe mit den Pfauenfe‐ dern‘ Ditz ist des Raben mere/ Got bvezze vns vnser swere (302rab) 179. (171) Stricker: ‚Der Hahn und die Perle‘ Ditz ist von einem hane ein mere/ Got helfe vns vil gewere (302rb-302va) 180. (172) Stricker: ‚Der Schalk und die beiden Kö‐ nige‘ Ditz ist von einem schalke gvt/ Der was hvbsch vnd wol gemvt (302va-303rb) 181. (173) Stricker: ‚Der Ochse und die Maus‘ Ditz ist von einem ochsen her/ Den baiz ein mavs harte ser (303rb-303vb) 182. (174) Stricker: ‚Das wilde Ross‘ Ditz ist von vnsteten wiben/ Die chvnnen vrevde vertriben (303vb-304va) 183. (175) Stricker: ‚Die freigebige Königin‘ Ditz ist von einer milten kvniginne/ Got gebe vns die waren minne (304va-306ra) 184. (175a) Stricker: ‚Ehre und Seelenheil‘ (-) Inc. Des mannes ist niht mehre/ wan sele lip vnd ere (306ra) 185. (175a) Stricker: ‚Hase und Löwe‘ (-) Inc. Ist der hase also getan/ Daz er der lewen wil bestan (306ra) 186. (175b) Stricker: ‚Der Hase‘ (-) Inc. Ich hore sagen vur war/ Der einen hasen zehen iar (306ra) 187. (176) Stricker: ‚Frau Ehre und Frau Schande‘ Ditz ist von vrowen eren/ Vnd von der schanden strite zv leren (306ra-309va) 188. (177) Stricker: ‚Der Wucherer‘ Ditz sait der Strickere/ Von einem wuchere (309va-310vb) 189. (178) Stricker: ‚Die beiden Knappen‘ Ditz ist von zweier hande knehte phliht/ Der eine wolde Ritter werden der ander niht (310vb-315ra) 190. (179) Stricker: ‚Von Edelsteinen‘ Ditz ist von den edelen steinen/ von den grozzen vnd von den cleinen (315rb-316va) 191. (180) Stricker: ‚Der nackte Bote‘ Hie ist wie ein kneht ane vie/ Vnd nacket vur vrowen in ein stvben gie (316va-318ra) 198 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 192. (181) Stricker: ‚Der nackte Ritter‘ Ditz ist ein selzen vart/ Wie ein Ritter entnacket wart (318ra-318va) 193. (182) Stricker: ‚Der kluge Knecht‘ I [radiert: Ditz ist von einen kvendigen knehte Ein vil seltsene mere] Inc. HOret was einem manne geschach/ an dem sin elich wip zebrach (318va-320vb) 194. (183) Stricker: ‚Die Martinsnacht‘ Hie ist wie an sente Mertines naht/ Ein gebovwer so vaste trank vber maht (320vb-322ra) 195. (184) Stricker: ‚Der unbelehrbare Zecher‘ Ditz ist von einem win slvnt/ Der vertrank manich pfvnt (322ra-322vb) 196. (185) Stricker: ‚Der durstige Einsiedel‘ Ditz ist von einem Lvderere/ Ein vil hvbschez mere (322vb-325rb) 197. (186) Stricker: ‚Edelmann und Pferdehändler‘ Ditz ist wie ein riche arger man hat/ Einen rostevscher vmb veile ros bat (325rb-327vb) 198. (187) Stricker: ‚Des Muses Lehre‘ Ditz ist des mvsez lere/ Got vns zv himel mere (327vb-328ra) 199. (188) Stricker: ‚Der Wolf und die Gänse‘ Ditz ist von dem wolfe vnd von den gensen ein mer/ Daz leret der Stricker (328ra-329ra) 200. (189) Stricker: ‚Der Wolf und sein Sohn‘ Hie ist wie ein wolf waz/ Der einen esel vur einen krebz az (329ra-330rb) 201. (190) Stricker: ‚Der Esel‘ Ditz ist von einem Esel ein mere/ Daz leret vns der Strickere (330rb-331rb) 202. (191) Stricker: ‚Der Weidemann‘ Ditz mere ist von einem weide man/ Daz leret vns der Stricker san (331rb-332rb) 203. (192) Stricker: ‚Der Wolf und der Bauer‘ Ditz ist ein hvbsch mere/ Von einem wolfe zv lere (332rb-332vb) 204. (193) Stricker: ‚Die Herren zu Österreich‘ Ditz ist ein mer rich/ Von dem herren zv Osterich (332vb-334ra) 205. (194) Stricker: ‚Falsche und rechte Freigiebig‐ keit‘ Ditz mere ist hvbsch vnd gvt/ Von einem Ritter hoch gemvt (334ra-336ra) 206. (195) Stricker: ‚Der Richter und der Teufel‘ Ditz ist von dem Richter hie/ Mit dem der tevfel gie (336ra-337va) 207. (196) Stricker: ‚Der Waldschrat‘ Ditz ist ein hvbsch mere/ Von einem waltschreteln zv lere (337vab) 208. (197) Stricker: ‚Die beiden Zimmerleute‘ Ditz ist ein schones mere/ Von zwein zimbermannen gewere (337vb-338va) 209. (198) Stricker: ‚Der falsche Blinde‘ Ditz ist ein hvbschez mere/ Von einem triegere (338va-339rb) 199 7.1 Der Cpg 341 210. (199) Stricker: ‚Gegen Gleichgeschlechtlich‐ keit‘ Ditz ist von den menneleren/ Daz sagt der Strickere ze leren (339rb-339vb) 211. (200) Sibote: ‚Frauenerziehung‘ Ditz bvch ist daz vbel weip/ Der tevfel kvm noch in ir aller lip (339vb-343vb) Schreiber b 212. (201) ‚Der Sperber‘ Ditz ist ein schonez mere/ Von einem sperwere (343vb-346ra) Schreiber c 213. (202) Konrad von Würzburg: ‚Herzmaere‘ Ditz mer ist daz herze genant/ Vnt tut triwe vns bekant (346ra-349rb) Schreiber d 214. (203) ‚Das Gänslein‘ Ditz mere heizzet daz genselin/ Vnd sagt von einem munche vnd von einem magtein (349rb-351ra) 215. (204) ‚Bestraftes Misstrauen‘ Ditz mere vns hie seit/ Von reiner vrowen stetikeit (351ra-354ra) Schreiber e 216. (205) Johannes von Freiberg: ‚Das Rädlein‘ Ditz bvchel heizzet daz Redelin/ Vnd ist von einem maidelin (354ra-357rb) 217. (206) ‚Das Almosen‘ Ditz ist ein seltsen mere gnvc/ Von dem warmen almvsen klvc (357rb-357vb, 364ra) 211-224: additio‐ naler Teil 218. (209) Stricker: ‚Der kluge Knecht‘ Ditz ist von einem pfaffen/ der wart dar nach zeinem affen (360rb-362rb) 219. (210) ‚Der hohle Baum‘ A Ditz ist von einem alweren man/ den sin wip effen began (362rb-363ra) 220. (211) Der Vriolsheimer: ‚Der Hasenbraten‘ Ditz ist von den hasen/ Die man iaget vf den rasen (363ra-363vb, 371ra) 221. (207) ‚Rittertreue‘ (‚Der dankbare Wiedergänger‘) Ditz ist von einem Ritter zart/ Der in einem miste begraben wart (364ra- 369va) 222. (208) Volrat: ‚Die alte Mutter‘ A Hie enpfalch keiser Fridrich einem vremden Ritter eines andern ritters mvter (369vab, 358ra-360rb) 223. (212) ‚Schrätel und Wasserbär‘ Ditz ist von einem Schretel vnd von einem wazzer bern (371ra-372vb, 370ra) 224. (213) Heinrich von Freiberg: ‚Johann von Michelsberg‘ (-) Inc. Des in fremden landen han/ Ob ich icht gutes tichten kann (373ra-374vb) Schreiber f 200 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile Abb. 5: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cpg 341, fol. 346r - ‚Herzmaere‘ 201 7.1 Der Cpg 341 64 Sammlungsübersicht S. 213f. Die genaue Datierung variiert zwischen 1320 und 1350, Sprague hält einen Entstehungszeitraum von 1320-1330 für wahrscheinlich. Vgl. S P R A G U E , St. John’s Manuscript A94, Reconstruction, XIII-XVI. 65 Vgl. ebd., S. xi-xii; G R U N E W A L D , Zur Handschrift A 94, S. 98ff. 66 Unter anderem beschäftigten sich Johann Jakob Bodmer, Johann Ludwig Uhland, Joseph Freiherr von Lassberg sowie Wilhelm und Jacob Grimm mit dem Codex. Zu den frühen Studien der Hand‐ schrift vgl. S P R A G U E , St. John’s Manuscript A94, Reconstruction, S. xxxvii-lii. Die zahlreichen Ab‐ schriften von A 94 bilden geradezu ein Kompendium der verschiedenen philologischen Standards des 18. bis 20. Jahrhunderts. Vgl. ebd., S. x. 67 Vgl. Sammlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII., und XIV. Jahrhundert, hg. M Y L L E R . 7.2 Die Straßburger Handschrift A 94 7.2.1 Die Sammlung - Minne in dialektischer Verhandlung Die Straßburger Johanniter-Handschrift A 94 (S) ist während der ersten Hälfte des 14. Jahr‐ hunderts vermutlich in Straßburg entstanden. 64 Als einziger der aufgeführten Überliefe‐ rungsträger ist A 94 nicht mehr im Original erhalten, die Handschrift wurde durch den Brand der Straßburger Stadtbibliothek im Jahre 1870 zerstört, Inhalt und äußere Gestalt können daher nur indirekt über Abschriften des 18. und 19. Jahrhunderts erschlossen werden. Es handelte sich bei A 94 um eine 80 Blatt starke Pergamenthandschrift in nieder‐ alemannischer Schreibsprache, als Blattgröße werden ca. 14x19 cm angegeben. Die Blätter waren zweispaltig mit 32 linierten Zeilen je Spalte beschrieben, die Textanfänge wurden mit roten und blauen, auf zwei bis vier Verse vergrößerten Lombarden markiert. Die Ab‐ schnittsinitialen waren vergrößert und farbig gehalten, an den Zeilenanfängen standen weitgehend regelmäßig alternierend Majuskel und Minuskel; für Illuminationen gibt es keine Hinweise. 65 Die Handschrift ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehrfach Gegenstand wissen‐ schaftlicher Untersuchungen und Teilabschriften geworden, wobei kein vollständiges Transkript des Codex aus einer einzigen Hand existiert. Den Abschriften liegen unter‐ schiedliche Arbeitsprinzipien zugrunde, auch wurden sie nach den editorischen Standards des 18. bzw. 19. Jahrhunderts gefertigt, die Normalisierungen einschließen und nur mit Einschränkung Rückschlüsse auf die tatsächliche Textgestalt zulassen. 66 Ein Großteil der enthaltenen Texte ist heute ausschließlich über die Ende des 18. Jahrhunderts durch Myller erstellte Edition fassbar, die dieser auf Grundlage eigener Abschriften angefertigt hat. 67 Relevante Ergänzungen erfolgten vor allem durch Roth, der Mitte des 19. Jahrhunderts Abschriften der ‚Halben Birne‘ und des ‚Herzmaere‘ anfertigte und erstmals verlässliche Angaben zur Graphie im Codex A 94 machte. Durch die Abschriften Roths ist zum einen ein detailliertes Inhaltsverzeichnis mit genauen Angaben zur Abfolge der in S inserierten Texte erhalten, weiterhin resultieren aus seinen Arbeiten alle Informationen zur äußeren Gestalt des Codex. Roth beschreibt die Farbigkeit, die Verteilung des Textes auf Blättern und Spalten und die Gestaltung der Textübergänge; alle heute verfügbaren Beschreibungen der Straßburger Handschrift basieren letztlich auf diesen Aufzeichnungen. Der Codex im Gesamtumfang von ca. 10.000 Versen enthielt 28 Texte, vornehmlich ver‐ schiedene Reimpaardichtungen. Zum Korpus gehörten acht zumeist schwankhafte Vers‐ novellen, mit dem ‚Herzmaere‘ (2) und ‚Das Auge‘ (26) sind aber auch zwei Vertreter der 202 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 68 ‚Der arme Heinrich‘ liegt in S unikal in der Fassung A vor, die als die authentischste Version gilt und Grundlage der Editionen des Textes ist. Vgl. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. P A U L , Ein‐ leitung S. Xf. 69 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 98-116. Zum Texttyp Minnerede und seiner Überlieferungsgemeinschaft mit Versnovellen siehe auch Kap. 6, S. 113f. 70 Westphal sieht in Textarrangements, die narrative Texte und Reden kombinieren, eine Imitation der Diskursstrukturen des höfischen Romans, wo häufig Reflexionen und Diskurse zu bestimmten Be‐ griffen und Themen neben den Handlungsepisoden stehen, ohne ganz von diesen getrennt zu sein, etwa die Exkurse im ‚Tristan‘ oder das Gespräch Hartmanns mit der personifizierten Minne im ‚Iwein‘. Dieses Prinzip der Mischung von Narrationen mit Reden, die in einem anderen, reflektier‐ enden Modus auf die gleichen diskursiven Bereiche eingehen, kann durch die Schreiber der Sam‐ melhandschriften adaptiert worden sein. Häufig tritt die Kombination wie im vorliegenden Fall in Sammlungen auf, die auch großepische Dichtungen tradieren. Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 104-108. 71 Vgl. ebd, S. 114f. 72 Die Zitation des ‚Herzmaere‘ folgt dem auf der Basis von Myllers Abschrift erstellten Transkript von S P R A G U E , St. John’s Manuscript A94, Reconstruction. Schaft-s wurden bei der Übertragung aufgelöst. Die Korrekturen, die Roth an dem von Myller erstellten Text vornahm und die von der Hagen in den kritischen Apparat des ‚Gesammtabenteuers‘ aufgenommen hat, führt Sprague ebenfalls auf. Diese betreffen ausschließlich Fragen der Graphie, denen keine semantische Relevanz beizumessen ist, und werden daher in der vorliegenden Arbeit nicht wiedergegeben. Gattung mit einem exemplarischen Gestus aufgeführt. Der Codex tradiert weiterhin Hart‐ manns von Aue ‚Der arme Heinrich‘ (17) sowie den Anfang von Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘ als Schlusstext und einziger großepischer Dichtung (27; V. 1-2666). 68 Einge‐ bunden ist weiterhin eine Textreihe mit verschiedenen Spruchdichtungen (7-12), außerdem führt S eine größere Zahl von Minnereden auf und stellt damit auch für diese Textsorte eine der ältesten umfangreicheren Sammlungen dar. 69 Die Straßburger Sammlung ist damit ein frühes Beispiel für die häufige Überlieferungsgemeinschaft von Versnovellen und Minne‐ reden, die andere Akzente setzt als die Kombination mit Bîspeln und religiösen Texten, wie sie z.B. im Cpg 341 vorliegt. 70 In dieser Konstellation werden die in den Versnovellen the‐ matisierten Minnegeschichten mit Texten kombiniert, die den normativen Gestus des hö‐ fischen Minnediskurses transportieren, der sowohl in affirmierender als auch in persiflie‐ render Form gestaltet wird. 71 7.2.2 Das ‚Herzmaere‘ im Codex A 94 - Meister Gottfrieds Minnelehre Das ‚Herzmaere‘ umfasst in S 544 Verse, die Differenz zu den 588 Versen der Edition ergibt sich fast ausschließlich aus der kürzeren Schlussrede. Die Straßburger Handschrift war wegen ihrer frühen Entstehungszeit und einer Textform des ‚Herzmaere‘, die offenbar Ed‐ ward Schröders ästhetischen Vorstellungen von Konrads Dichtkunst entsprach, die wich‐ tigste Quelle für die Erstellung der kritischen Textausgabe; entsprechend finden sich wenige signifikante Divergenzen zum Textbestand der Edition. Das ‚Herzmaere‘ wird in S unter der Titulatur Dise mére mahte Meister gotfrit/ Von straz‐ burg vn seit vo der minne aufgeführt. 72 Das Dichterlob Gottfrieds wird damit als Indikator seiner Autorschaft verstanden oder zumindest die erzählte Geschichte seinem Schaffen zugeordnet. S ist auch der älteste Überlieferungsträger, der die Gottfried-Referenz im Prolog aufführt. Es ist nicht auszuschließen, dass diese zweifache Zuschreibung an Gottfried eine 203 7.2 Die Straßburger Handschrift A 94 73 Siehe auch S.178f. 74 Das ‚Herzmaere‘ mit dem ausgestellten Gottfried-Bezug prägte den Titel, unter dem der Codex im 18. Jahrhundert in der Straßburger Bibliothek gelistet wurde: Im Katalog wurde die Sammlung unter Nr. 94 mit dem Eintrag „Meister Gotfrit von Strazburg Mere von der Minne. rhythmice. M. 4.“ (W I T T E R , Catalogus Codicum Manuscriptorum, S. 4) geführt. Offenbar wurde das ‚Herzmaere‘ im 18. Jahrhundert als dominanter Text der Sammlung oder die Sammelhandschrift insgesamt als ein Min‐ nebuch mit besonderem Gottfried-Bezug wahrgenommen. 75 Dagegen H: von herzeclichen dingen; l: von groz lieben dingen; m: von werltlichen dingen. Von min‐ neclichen dingen nennt auch die Textgruppe w/ i + p 1 . 76 Ko: na irme libe w[u]nnenclich (7v); w/ i+p 1 : Nâch ir lib minnichleich (11r); l: nach ir libe minnicklich (129r); m: Nach seinem lieb wunnigklich (148v). 77 Ko: du besande in hemeliche (8r); w/ i+p 1 : pesant in tôwgenleichen (11v); l: nach der tugentlichen (130r); m: besan sich ynnigklich (150v). 78 Ko: senfter küsse plagen (9r); w/ i+p 1 : vil senfter chüsse phlâgen (12r); l: vil sanffter küsse plagen (130v); m: vil senffter küß pflagen (152v). 79 Ko: Vnde herzenclicher swere (9r); w/ i+p 1 : in jemerleicher swere (12r); l: vnd inicklicher swaere (130v); einzig m nennt hier ähnlich zu S: von mynnicklicher schwer (153v). genuine Konzeption dieser Handschrift ist, die im weiteren Tradierungsprozeß beibehalten wurde. 73 In jedem Fall ist das ‚Herzmaere‘ der einzige Text in S, bei dem in der Titulatur auf einen Verfasser verwiesen wird, was eine besondere Bedeutung nahelegt, die dem Text bzw. der vermeintlichen Verfasserschaft Gottfrieds beigemessen wird. 74 Zu den wenigen Spezifika der Textgestalt, die die Möglichkeit einer gezielten varianten Gestaltung im Kontext der Sammlung nahelegen, gehören mehrere Wendungen, die ‚Minne‘ an Stelle anderer Lexeme verwenden. So steht im Epilog, dass das Gedicht Von minnenclichen dingen (V. 14) erzählen will. 75 Weiterhin überliefert S unikal die folgenden Wendungen: 70f: Nach irre minnen minnenclich/ Begunde er also vaste queln [H: Nach ir libe minnenklich (346r)] 76 140f: Do besant in minnencliche/ Daz vil keiserliche wip [H: Da besant in heimliche (347r)] 77 224f: In liehten munde rosenrot/ Vil senfter minne pflagen [H: Suzzer kuzze pflagen (347r)] 78 258f: Er wart vil tiefer sorgen wunt/ Unde minnenclicher swere [H: Vnd innenclicher swere (347v)]. 79 Die Formulierungen heben, wie bereits die Titulatur, die Minne als zentrales Motiv hervor. In ihrer Häufung deuten sie nicht auf eine zufällige Variation hin, vielmehr wird über die lexematischen Nuancierungen der Fokus auf die Minnekasuistik verstärkt. Den augenscheinlichsten Unterschied zur edierten Textform des ‚Herzmaere‘ stellt auch in S der Epilog dar. Die Schlussrede präsentiert anstelle der umfassenden Klage über den Verfall der Minne in der gegenwärtigen Zeit und der Ermunterung der edelen herzen sowie dem Autorenverweis auf Konrad von Würzburg ebenfalls nur 10 Verse: Hie hat diese mere ein ende Der riche got in schende Daz er der spisen ie gewuog Die so iemerliche truog So rehten getruwen wibe Daz leben von irme libe 204 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 80 Zur kurzen Schlussrede siehe auch S. 180ff. Daz mich ruwet iemer Unde ich vergissees niemer Sinre toerperheite Das ers ir ie geseite (V. 535-544). Diese Schlussrede stimmt fast vollständig mit der in den älteren Handschriften Ko und H überein. Auch in S stehen die Versündigung des Ehemannes, sein Betrug und Listhandeln und seine dörperheit im Fokus, während die herausragende Exemplarizität und Absolutheit der Minne, die in der langen Schlussrede in l herausgestellt ist, nicht verhandelt wird. 80 Gerade in diesem Überlieferungsträger hätte sich die lange Schlussfassung kohärent in die besondere Profilierung der Liebessemantik und der Gottfried-Rekurrenz eingefügt; dass das ‚Herzmaere‘ auch im Straßburger Codex ohne den langen Epilog überliefert wird, bestärkt die Vermutung, dass dieser nicht die dominierende Überlieferungsform des Gedichts dar‐ stellte. Der Eingangstext der Sammlung ist die unikal in S überlieferte Minnerede ‚Der Traum von der Liebe‘, eine Liebesklage und Traumvision, in der der Erzähler Frau Minne zunächst sein Liebesleid klagt und dann für seine Ungeduld angesichts der Nicht-Erfüllung getadelt wird. Durch die unbetitelte Rede wird die Sammlung mit einer Referenz auf die Verhaltensma‐ ximen des Frauendienstes eröffnet, denn Frau Minne ermahnt ihn zu Geduld und zum Festhalten am tugendhaften Verhalten, das einem Werber um eine adlige Dame angemessen sei; sie fordert die Unterwerfung unter den Willen der Dame, dann sei die Erfüllung seines Liebesbegehrens gewiss. Auf diese Unterweisung in Geduld folgt als zweiter Text das ‚Herzmaere‘, das in S damit eine exponierte Stellung einnimmt. Das ‚Herzmaere‘ liest sich als eine narrative Weiter‐ führung der lehrhaften Implikationen der Minnerede. Die voranstehende Unterweisung zu Geduld und Beständigkeit in der Tugend akzentuiert die Beständigkeit des Ritters im ‚Herz‐ maere‘, der sich auch ohne erfolgte Minneerfüllung bedingungslos dem Willen der Dame fügt. Das ‚Herzmaere‘ ist anschlussfähig für die didaktischen Implikationen des belehr‐ enden Redetextes, denn die lehrhaften und exemplarischen Parameter von Konrads Dich‐ tung treten in dieser Verschränkung besonders hervor. Mit dem ‚Traum von der Liebe‘ und dem ‚Herzmaere‘ wird ein einleitendes Textpaar gestaltet, das zuerst didaktisch-belehrend, dann exemplarisch-vorführend die Thematik unbedingter und selbstloser Liebe in den Fokus stellt und damit einen deutlich positivierenden Einstieg in die Diskussion über Liebe gestaltet. Die Perspektive der eröffnenden Texte wird durch ‚Der Ritter unter dem Zuber‘ von Jakob Appet (3) konterkariert, der durch die schwankhafte Verhandlung listreich gestal‐ teten Ehebruchs ein anderes Register bedient als die zuvor stehenden idealisierenden Texte. Der Text entwirft die gleiche Dreieckskonstellation wie das ‚Herzmaere‘, indem ein Ritter und eine verheiratete Frau sich in großer Liebe zugetan sind: 205 7.2 Die Straßburger Handschrift A 94 81 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 102ff.; dies., ‚Frau Minne warnt vor Lügen‘ in 2 VL 2, Sp. 851; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 507f. Er minnete eine wùrtin Die selbe ouch sere minnet in Su hettent beide anander liep Ir zweiger frùntschaft moeht ein diep Unsanfte in beiden han verstoln (V. 13-17). In ‚Der Ritter unter dem Zuber‘ wird das Motiv aber in konträrer Ausgestaltung realisiert, die Erzählung liest sich geradezu als Kontrafaktur der Liebessemantiken des voranste‐ henden Textpaares. So ist die Liebesbeziehung weniger ideell als vielmehr körperlich be‐ schrieben, auch entspricht die Frau nicht dem Typus einer hohen Dame, um derentwillen Minnedienst zu leisten ist, sondern ist ganz nach dem Schema des übelen wîp gestaltet. In der Schwankerzählung ist ebenfalls die huote des Ehemannes ein wichtiges Handlungsmo‐ vens, die aber nicht die Trennung der Liebenden, sondern die Aufdeckung des Ehebruchs zum Ziel hat. Auch die burleske Inszenierung des Ritters, der sich nackt unter dem Zuber versteckt, markiert einen starken Kontrast zu der Ritter-Figur im ‚Herzmaere‘. In der folgenden, ebenfalls unikal tradierten Minnerede ‚Frau Minne warnt vor Lügen‘ (4), die ähnlich dem ‚Herzmaere‘ mit ‚Dis mère seit von der minnen‘ betitelt ist, wird wieder das Tugendprogramm des Minnedienstes verhandelt, in das hier eine Literaturkritik ein‐ gespielt ist. Frau Minne tadelt den Sprecher nicht für einen eigenen Verstoß, sondern für lùgenliches claffen (V. 91), womit sie keine üble Nachrede, sondern das unangemessene Lob von Männern meint, die dieses nicht verdienen. Unter anderem habe er jemanden, der kein gutes Beispiel für tugent oder stete sei, mit Parzival und Wigalois verglichen. Der Sprecher gelobt Besserung und will nur noch Männer loben, die den Anforderungen von Frau Minne entsprechen. 81 An diese Minnerede schließt mit ‚Der Sperber‘ (5) wieder eine schwankhafte Versnovelle an. Der ‚Sperber‘ ist in S ebenfalls unbetitelt, ob der Übergang zwischen dem voranstehenden Text und der Versnovelle anderweitig markiert war oder ob eine Text‐ symbiose unter dem Titel der Minnerede gestaltet wurde, lässt sich nicht rekonstruieren. In jedem Fall markiert ‚Der Sperber‘ mit der Erzählung von dem Ritter, der die sexuelle Unwissenheit einer jungen Nonne in einer listreichen Verführung ausnutzt, nicht nur einen erneuten Bruch mit den in den Minnereden verhandelten Tugendlehren. Die angekündigte neue Rede des Sprechers der Minnerede, der nur noch wirklich würdige Männer loben will, wird mit ‚Der Sperber‘ auf eine mindestens fragwürdige Weise aufgegriffen, was auch die Kommentare der Nonne, die den Ritter in ihrer Naivität als getriuwen und tugentrichen man bezeichnet, in ihrem ironisierenden Potential hervorhebt. Das folgende ‚Neun Männer-Neun Frauen‘ (6), im Texttyp den Minnereden zumindest ähnlich, verhandelt erneut das Tugendprogramm der Minne, indem neun Ehepaare die Vorzüge ihrer Partner als Exempel für besondere Liebe, Beständigkeit etc. anführen; an zwei Stellen wird dies durch den expliziten Vergleich mit Tristan und Isolde ausgeführt (V. 65+138). Die erste Textgruppe im Straßburger Codex gestaltet, indem sie das ‚Herzmaere‘ und die Minnereden alternierend mit schwankhaften Versnovellen arrangiert, ein Chan‐ 206 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 82 Scherer/ Müllenhoff führen diese Textgruppe in ihrer im 19. Jahrhundert entstandenen Arbeit auf eine eigenständige Sammlung von Spielmannsdichtungen zurück, das sogenannte ‚Handbuch eines Reisenden‘ (vgl. M ÜL L E N H O F F / S C H E R E R , Denkmäler deutscher Poesie und Prosa). Sprague geht aus nicht näher explizierten Gründen von einer Vorstufe der Straßburger Sammlung aus, die um die ‚volkstümlichen‘ Texte erweitert wurde. Vgl. S P R A G U E , St. John’s Manuscript A94, Interpretation, S. 269f. 83 Der Text markiert nach Glier den Beginn der wichtigen Tradition des Allegorisierens von Farben, Figuren oder Edelsteinen im Bereich der Minnereden (vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 106-109). Schau‐ sten verweist auf die große Bedeutung von Farben in der mittelalterlichen Literatur, die nicht allein ästhetisch begründet ist, sondern auch eine relevante christliche Bedeutungsebene hat. Das Mittel‐ alter kennt eine überindividuelle Farbdeutung, die sich auf vielen gesellschaftlichen Ebenen, etwa in der Heraldik oder in höfischen Farbencodes, niederschlägt und deren Relevanz sich auch in den vielschichtigen Medialisierungen in der mittelalterlichen Literatur widerspiegelt (vgl. S C H A U S T E N , Die Farben imaginierter Welten, S. 18-23). Der Minnediskurs in seiner Verflechtung mit christlichen Liebessemantiken ist nicht nur anschlussfähig für eine allegorisierende Darstellung, sondern auch für die sakralen Bedeutungsimplikationen der Farben. 84 ‚Minner und Trinker’ ist eine der am häufigsten überlieferten Minnereden, deren Redaktionen sich signifikant voneinander unterscheiden, indem etwa der Ausgangs des Disputs variiert. Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 109ff.; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 691ff. gieren zwischen unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen Bezugnahmen auf den Minne‐ diskurs, das sich als programmatisch für die ganze Sammlung erweist. Zunächst folgt auf diese einleitende Textgruppe aber eine Reihe von Reim- und Spruch‐ dichtungen (7-12), die keinen inhaltlichen Bezug zu den übrigen Texten haben und als deutlich vom übrigen Korpus geschiedene Textgruppe fassbar sind. Verschiedene Unsinns- und Lügendichtungen (8-10) sowie verschiedene Sprüche rekurrieren weder auf den Min‐ nediskurs noch stellen sie anderweitige Bezüge zu den übrigen Texten her. 82 Mit ‚Wer kann allen recht tun‘ (13) wird eine Reihe von Minnereden eingeleitet. Der Text gestaltet eine über die reine Minnelehre hinausgehende Reflexion über die normative In‐ differenz des Menschen. Der Sprecher beklagt die grundsätzlich negative Haltung der Ge‐ sellschaft; in einem langen Katalog von Gegensatzpaaren legt er dar, dass gute Eigen‐ schaften genauso getadelt werden wie schlechte, etwa die Dummheit wie die Klugheit oder die Gottesgläubigkeit wie deren Gegenteil. Abschließend bittet der Sprecher seine Dame, ihn nicht zu hart zu beurteilen. ‚Die sechs Farben‘ (14) als eine der am häufigsten überlie‐ ferten Minnereden stellt eine Belehrung über die Minne-allegorische Ausdeutung der Farben dar, 83 die Rede endet aber mit genau dem, was der Sprecher der voranstehenden Rede befürchtet, denn die Dame tadelt den Brauch der Männer, durch das Tragen be‐ stimmter Farben den Status ihrer Liebesbeziehung zu dokumentieren oder damit zu prahlen. Die beiden folgenden Minnereden ‚Minner und Trinker‘ (15) und ‚Liebe und Schönheit‘ (16) korrespondieren über die narrative Form des belauschten Streitgesprächs, füllen das Format aber mit grundlegend verschiedenen Positionen. Der Disput über die Vorzüge der Liebe und der mit ihr verbundenen Freuden versus denen der Trunk- und Fresssucht gestaltet keinen sonderlich elaborierten Geltungsanspruch für die Minne, auch wenn sich eine Entscheidung zugunsten des Minners andeutet, der das letzte Wort in dem Disput hat. 84 Dagegen formu‐ liert das zweite Streitgedicht ein normativ verbindliches Konzept, denn die Schönheit un‐ terliegt eindeutig der Liebe. Während die Schönheit ihren Wert und ihr Wesen selber im Begehren ausmacht, stellt die Liebe die Tugend als zentralen Wert heraus, ohne den alle 207 7.2 Die Straßburger Handschrift A 94 85 Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. P A U L . 86 C O R M E A U , ‚Hartmann von Aue‘ in 2 VL 3, Sp. 514. 87 ‚Vom mangelnden Hausrat’ ist mit dem Dichterpseudonym König vom Odenwald überliefert, der sonst ausschließlich aus dem Hausbuch Michael de Leones bekannt ist. Vgl. S P R A G U E , St. John’s Manuscript A94, Interpretation, S. 32; K O R N R U M P F , Der König vom Odenwald in 2 VL 5, Sp. 81.‚ Schönheit wertlos sei. Schönheit ohne Liebe sei nichtig, Liebe aber bringe den Menschen in den Himmel. Indem sie die Opposition aufzeigt zwischen einer weltlichen, durch Gier und Sexualität motivierten und einer tatsächlich werthaften Liebe, die ethisch orientiert und damit auch theologisch legitimiert ist, spiegelt die Minnerede die grundlegende Dia‐ lektik wider, die sich in der Straßburger Sammlung entfaltet. Als Verwirklichung dieses ideellen Liebeskonzepts liest sich der anschließende ‚Der arme Heinrich‘ (17) Hartmanns von Aue, der als deutlich umfangreicherer Text aus dem Korpus herausragt und damit besondere Relevanz hat. Auch hier wird eine Minnebeziehung ver‐ handelt, aber diese steht in dezidiert christlichen Kontexten, indem sie Ergebnis einer mo‐ raltheologisch verankerten wechselseitigen Opferbereitschaft ist. Das einzige Heilmittel für den von Heinrich selber als Strafe für seine Entfernung von Gott empfundenen Aussatz, das Herzblut eines unschuldigen Mädchens, das sich freiwillig für den Kranken opfert, kennzeichnet per se eine starke Aufladung mit christlicher Opferparadigmatik. Die Ent‐ scheidung des Mädchens, für Heinrich zu sterben, erfolgt auch nicht aus einer Minnebin‐ dung zu Heinrich, sondern aus einer transzendenten, auf Christus und das Jenseits ausge‐ richteten Liebe. Das jugendliche Selbstopfer verheißt ihr einen sicheren Weg zur jenseitigen Erlösung, bevor sie durch der werlte süeze korrumpiert und sündhaft werden kann: ich wil mich alsus reine/ antwürten in gotes gewalt (V. 798f.). 85 Nach der von Gott gefügten Heilung Heinrichs, die unmittelbarer Lohn ist für seine christliche Entscheidung, das Opfer des Mädchens abzulehnen (dô erzeicte der heilic Krist/ wie liep im triuwe und bärmde ist; V. 1365f.), erfolgt die Hochzeit der Protagonisten. Die Liebesverbindung im ‚Armen Heinrich‘ ist nicht das Resultat von Begehren, sondern von rückhaltloser Selbstlosigkeit, das Eheglück ist göttlicher lôn für Heinrichs Einsicht und sein gerechtes Handeln (V. 1519) und eine „Beglaubigung“ für den erfolgten inneren Wandel des Protagonisten. 86 Auf die innige Gottbezogenheit und ethische Handlungsweise des Mädchens im ‚Armen Heinrich‘ folgt mit der unikal in S überlieferten Versnovelle ‚Das Kerbelkraut‘ (18) wieder ein kontrastreiches Gegenbeispiel: Eine untreue Ehefrau kann ihren Ehemann in listreicher Agitation davon überzeugen, dass es sich bei dem Ehebruch, bei dem er seine Frau in fla‐ granti erwischt hat, um eine Sinnestäuschung handelte, die von dem Genuss von Kerbel herrühre. Die beiden Texte ‚Vom mangelnden Hausrat‘ (19) und ‚Vom Pfennig‘ (20) korrespondieren als Klage über materiellen Mangel und als Preisgedicht über die Macht des Geldes thema‐ tisch miteinander. ‚Vom mangelnden Hausrat‘ schließt aber auch an die Minnediskussion an, 87 indem sich der Text nicht wirklich als eine Klage über die Armut im Ehestand erweist. Der lange Negativkatalog fehlender Besitztümer ist eingebunden in die Klage des Sprechers, sein Gesang und Gedicht über die Minne seien im Alter sinnlos geworden; er verweist damit auf einen Mangel an Minne, nicht an Gütern. Die Diskussion unvollkommener Minne er‐ 208 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 88 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 105. 89 Der auf das späte 13. Jahrhundert datierte Text ist auch in dem später datierenden Codex Karlsruhe 408 sowie in einer verschollenen Handschrift des 14. Jahrhunderts überliefert. Die Abschrift des Straßburger Codex stellt damit den ältesten vollständigen Textzeugen dar. Vgl. Novellistik des Mit‐ telalters, hg. G R U B MÜL L E R , S. 1185. 90 Die Erzählung liegt auch in einer älteren, auf um 1200 datierten Fassung vor, die nur in der Bene‐ diktbeurer Fragmenthandschrift Cgm 5249/ 29b erhalten ist. In der Redaktion in S sind gegenüber dem älteren Fragment verschiedene kommentierende Einschübe und Versatzstücke aus dem ‚Tristan‘ in die Handlung eingefügt worden. So ist die Beschreibung von Alexanders Ausbildung durch Aristoteles in Analogie zu der Tristans gestaltet; ähnliches gilt für die Schilderung von Phyllis äußerer Erscheinung, die eng an die Deskription Isoldes angelegt ist. Fast wörtlich wird aus der Elternvorgeschichte des ‚Tristan‘ das Motiv des an einer Leimrute festklebenden Vogels über‐ nommen, mit dem die Macht der Minne zwischen Riwalin und Blanscheflur versinnbildlicht wird. Hier wird das Motiv aber zur Darstellung der List und Macht der Frau über den verliebten Mann benutzt und in eine negative Lesart überführt (V. 310-319). Nicht enthalten gegenüber der älteren Version ist dagegen eine lange Beschreibung des Sattels, den Aristoteles sich auflegen lässt und die in der Fragmentfassung in deutlicher Analogie zu der Darstellung von Enites Sattel in Hartmanns ‚Erec‘ gestaltet ist. Sprague hält eine gezielte Tilgung der Hartmann-Referenz in S für möglich, um den Gottfried-Bezug umso deutlicher herauszustellen. Vgl. S P R A G U E , St. John’s Manuscript A94, In‐ terpretation, S. 166-177; Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R , S. 1185-1196. 91 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 105. 92 Vgl. ebd., S. 113f. fährt so eine weitere Akzentuierung, indem sie hier in einem Konnex mit Reflexionen zu Materialität und Besitz erscheint. 88 ‚Aristoteles und Phyllis‘ (21) gestaltet ein weiteres Negativbeispiel für eine Minne, die auf affekthafter Sinnlichkeit basiert. Die Warnung vor der Gefahr, die von der schlechten Minne bzw. der Macht der Frauen ausgeht, wird in einer doppelten Volte vorgeführt. 89 Aristoteles warnt seinen Schüler Alexander vor der verderblichen Macht der Minne und trennt diesen von der geliebten Phyllis. Allerdings wird Aristoteles dann selber zum Exempel der verheerenden Wirkung der Minne: Phyllis rächt sich, indem sie den alternden Lehrer verliebt macht und durch lächerliche Handlungen bloßstellt, so dass dieser in Schande das Land verlässt. Das Fazit besteht in einem resignierenden Erzählerkommentar, dass gegen die Verlockungen der Frau nur das Meiden ihrer Gesellschaft hilft, zu dem jedem verständigen Mann geraten wird. 90 ‚Der arme Heinrich‘ einerseits und ‚Das Kerbelkraut‘ und ‚Aristoteles und Phyllis‘ andererseits können als narrative Umsetzung der Gegenüber‐ stellung von ideeller Liebe und Schönheit respektive Begehren gelesen werden, die mit der voranstehenden Minnerede aufgerufen wurde. Das Streitgedicht ‚Der Herbst und der Mai‘ (22) spielt in die Auseinandersetzung der Jahreszeiten eine ähnlich Kontroverse zwischen Liebe und Trunkenheit ein, wie sie in ‚Minner und Trinker‘ verhandelt wird, wobei das minnerlin als Gefolgsmann des Mai am Ende selber durch unmäßiges Essen und Trinken umgeworfen wird. 91 In der letzten Min‐ nerede ‚Sekte der Minner‘ (23) verkündet ein sich als Prediger gebarender Sprecher die zehn Gebote eines Minneordens, die sich als äußerst hedonistisches Konzept erweisen, indem nicht die topischen Normen von triuwe und dienst, sondern ungetrübte körperliche Freuden als höchstes Prinzip gepriesen werden. Der Text verwendet Elemente geistlicher Rede und stellt ein frühes Beispiel für das häufig in Minnereden anzutreffende Prinzip einer paro‐ distischen Analogisierung von geistlichen und weltlichen Liebessemantiken dar. 92 209 7.2 Die Straßburger Handschrift A 94 93 Zu ‚Die halbe Birne‘ siehe auch S. 24ff. 94 Die auf die Mitte des 13. Jahrhunderts datierte Erzählung ist außerdem im Codex Don. 104 überliefert, dort wird sie mit einer 170 Verse umfassenden Schlussrede aufgeführt, die die Straßburger Sammlung nicht tradiert (siehe S. 253). Eine motivähnliche Erzählung gestaltet in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Herrand von Wildonie unter dem Titel ‚Die treue Gattin‘. 95 Der um 1225 entstandene ‚Barlaam und Josaphat‘ endet im Straßburger Codex mit V. 2666. Sprague zieht einen intendierten Textabruch an dieser Stelle in Erwägung (vgl. S P R A G U E , St. John’s manuscript A 94, Reconstruction, S. xiii). Die Textstelle markiert aber keine inhaltliche Zäsur, der Text endet in S mitten in dem ausführlichen Exkurs, in dem Barlaam die christliche Lehre anhand zahlreicher biblischer Figuren erläutert; die daran anschließende Konversion Josaphats wird in A 94 nicht mehr erzählt, was einen gezielten Abbruch der Erzählung an dieser Stelle wenig plausibel macht. Auch ‚Die halbe Birne‘ (24), in der der Ritter Arnolt seine verlorene Ehre über die Bloß‐ stellung der triebhaften Natur der Prinzessin restituiert, stellt erneut ein negatives, weil vor allem sexuell motiviertes Minneverständnis vor. Dieses steht im Kontext einer generellen Problematisierung menschlicher Trieb- und Affektsteuerung und stellt ein weiteres Ge‐ genmodell zu der ideellen Liebesverbindung dar, wie sie in ‚Liebe und Schönheit‘ gefordert und im ‚Armen Heinrich‘ vorgeführt wird. 93 Das anonym und unikal in der Straßburger Handschrift überlieferte ‚Häslein‘ gestaltet einen unmittelbaren Bezug zum ‚Sperber‘ am Anfang des Codex, mit dem es das Motiv sexueller Naivität gemeinsam hat. Auch im ‚Häs‐ lein‘ wird durch ein Tier die Begehrlichkeit eines naiven Mädchens geweckt, das bereit‐ willig seine Minne dafür eintauscht und später die verlorene Unschuld durch erneuten Beischlaf mit dem Ritter zurück kaufen will. In der Versnovelle werden die Differenzen zwischen hoher Minne und einer amor carnalis nivelliert: Wenn der Ritter als Kaufpreis für das Häschen reine minne (V. 104) verlangt, verbrämt der Topos nur oberflächlich sein ei‐ gentliches Begehren nach Sexualität. Dagegen erscheint das rein körperliche Minnehandeln des Mädchens in seiner Unbedarftheit gegenüber der abgebrühten adligen Braut des Ritters, die ihren umfangreichen sexuellen Erfahrungsschatz nicht einmal zu verbergen sucht, tat‐ sächlich als rein. Vor dem abschließenden ‚Barlaam und Josaphat‘ steht ‚Das Auge‘ (26), neben dem ‚Herz‐ maere‘ der zweite versnovellistische Text im Straßburger Codex, der als exemplarische Vorführung von absoluter triuwe gelesen werden kann. 94 ‚Das Auge‘ stellt die Treue, Op‐ ferbereitschaft und aufrichtige Liebe der weiblichen Protagonistin heraus, die ihrem ent‐ stellten Mann ihre Liebe beweist, indem sie sich ein Auge aussticht. Die beiden exempla‐ rischen Minneerzählungen ‚Herzmaere‘ und ‚Auge‘ umklammern das restliche Korpus, indem sie unmittelbar auf den Eingangstext folgen bzw. vor dem Schlusstext stehen. Mit dem Auszug aus ‚Barlaam und Josaphat‘ als umfangreichstem Text der Sammlung wird der Codex mit einer Dichtung geschlossen, die als legendarische Erzählung ganz an‐ deren Semantiken verpflichtet scheint als die voranstehenden Versnovellen und Minne‐ reden. 95 Die Erzählung von der Konversion und Lebensführung Josaphats als konsequente Umsetzung religiöser Unterweisung fügt sich als umfangreiche Verhandlung der Frage des richtigen Lebens und Glaubens aber durchaus sinnstiftend an die Diskussion über moralisch integre bzw. problematische Lebens- und Liebesauffassungen an. Im ersten Prologteil, einem hymnischen Gottespreisgedicht (V. 1-124), wird ausführlich die Wahrhaftigkeit und der lehrhafte Charakter des Werkes herausgestellt. Die daran anschließende Distanzierung des Erzählers von früheren trügelîchen maeren (V. 153) und die Aufforderung, dass die Lek‐ 210 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 96 ich hân dâ her in mînen tagen/ leider dicke vil gelogen/ und die liute betrogen/ mit trügelîchen maeren: / ze trôste uns sündaeren/ wil ich diz maere tihten,/ durch got in tiusche berihten/ und bite, swer dis maere lese./ daz er sich bezzernde wese/ mit staete an dem glouben sîn (V. 150-159). 97 Entgegen einer oft profilierten Lesart als contemtus mundi-Dichtung führt Cordoni an, dass erst der letzte Teil des ‚Barlaam‘ dezidiert die Weltflucht verhandelt, während der Hauptteil vielmehr das Konzept einer Weltbewältigung durch richtigen Glauben und Lebensführung narrativiert. Vgl. C O R‐ D O N I , Barlaam und Josaphat, S. 202-211; hier auch ein Überblick über die Forschungsdiskussion. türe seiner Geschichte zur Besserung und Beständigkeit im Glauben führen soll, liest sich im Rückbezug auf die schwankhaften und parodistischen Texte in A 94 mit einer besonderen Prägnanz. 96 Die beiden legendenhaften Texte ‚Der arme Heinrich‘ und ‚Barlaam und Josaphat‘ setzen damit ähnliche Akzente. In einer Mischung aus Heiligenlegende und weltlicher Erzählung zeigen sie den Weg der Protagonisten zu einem richtigen Glaubensverständnis als Voraus‐ setzung für eine Lebensführung in Übereinstimmung mit der christlichen Lehre, 97 die sich im ‚Armen Heinrich‘ auch als Voraussetzung für die einzig ‚richtige‘, weil ethisch voll‐ kommene weltliche Liebe erweist. Die dialektische Diskussion über wahre und falsche Liebe endet nicht in Unverbindlichkeit, sondern findet einen theologisch geprägten normativen Abschluss, der mit dem ‚Barlaam‘ eine besondere Dignität erhält. Die richtige Liebe erweist sich als verbindliches Konzept; wenn sie nicht affekthaft und selbstsüchtig ist, sondern wie im ‚Armen Heinrich‘ einem christlich determinierten Tugendmodell entspricht, bringt sie den Menschen wie in ‚Liebe und Schönheit‘ verheißen in den Himmel. Die Straßburger Sammlung überliefert eine Zusammenstellung divergenten Materials, in der Texte mit dezidiertem Konnex zum Minnekasus dominieren, die einen deutlichen the‐ matischen Schwerpunkt der Sammlung prägen. Dabei ist offenbar nicht (nur) die Textaus‐ wahl, sondern die gezielte Permutation von Texten, die entweder normativ oder parodie‐ rend auf den Minnekasus referieren, wichtiger Bestandteil der Sammlungskonzeption. Die Sammlung gestaltet einen Auftakt mit einer exemplarisch-belehrenden Perspektive auf den Minnediskurs, die durch die folgenden Texte wiederholt konterkariert wird. Im Kontrast zu den beiden exemplifizierenden Versnovellen am Anfang und Ende der Sammlung lesen sich die schwankhaften Vertreter der Gattung geradezu als Antityp, indem sie Liebe vor allem im Kontext von Sexualität, Ehebruch, Verführung und listreichem Han‐ deln vorführen. Beide Pole der Liebesdiskussion werden ein- und gegeneinander ausge‐ spielt, indem sowohl normative Geltungsbehauptungen und Beispielhaftigkeit als auch die komische Relativierung derselben narrativiert werden. Auch die Minnereden offerieren zwei unterschiedliche Pole der Bezugnahme auf den Minnekasus: Zum einen finden sich Reden mit der gattungstypischen Referenz auf die topischen und didaktisierenden Prinzi‐ pien der höfischen Minnelehre, zum anderen werden aber auch Texte aufgeführt, die die Verbindlichkeit einer ethisch orientierten Liebeslehre in parodistischer Verkehrung relati‐ vieren. Auch wenn nicht alle Texte diesem Profil entsprechen, ist eine Sammlungskonzeption erkennbar, die auf eine dialektische Gegenüberstellung von Dichtungen abzielt, die die poetische Anbindung an den Minnediskurs entweder exemplarisch-belehrend oder sub‐ 211 7.2 Die Straßburger Handschrift A 94 98 Sprague charakterisiert S als ein „parody manuscript“. Vgl. S P R A G U E , St. John’s Manuscript A94, Interpretation, S. 237. 99 Vgl. M A T E J O V S K I , Das Motiv des Wahnsinns, S. 235. versiv-konterkarierend gestalten. 98 Kontrastierende Bezugnahmen auf literarische Dis‐ kurse sind den meisten Sammlungen inhärent, die ernsthafte Erzähltexte mit schwank‐ haften Formen kombinieren, denn das poetische Potential schwankhafter Texte entfaltet sich erst über ihren literarischen Hintergrund und den Bezug auf bekannte Erzähltraditi‐ onen und normative Sinnsetzungen, die sie ironisch zitieren. 99 In S wird der Kontrast von normativen und parodierenden Rekurrenzen auf den Minnediskurs aber besonders deutlich herausgearbeitet und zu einer kontroversen Liebesdiskussion mit moraltheologisch ver‐ bindlichem Abschluss gestaltet. 212 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 100 Numerierung und Titulaturen nach S P R A G U E , St. John`s Manuscript A 94, Reconstruction. Schaft-s und Abbreviaturen wurden bei der Übertragung aufgelöst. Grau unterlegt: Versnovellen. 7.2.3 Sammlungsübersicht Codex A 94 1 ‚Der Traum von der Liebe‘ 100 (-) (1ra-4va) 2 Konrad von Würzburg: ‚Das Herzmaere‘ Dise mére mahte Meister gotfrit von strazburg vn seit vo der minne (4va- 8vb) Versnov./ Minne‐ reden 3 Jakob Appet: ‚Der Ritter unter dem Zuber‘ Dis ist von der wibe list (8vb-11vb) 4 ‚Frau Minne warnt vor Lügen‘ Dis mére seit von der minnen (12ra- 13rb) 5 ‚Der Sperber‘ (-) (13rb-15rb) 6 ‚Neun Männer-Neun Frauen‘ So sint dis liedere (15rb-16vb) 7 ‚Mahnung‘ (-) (16vb) versch. Spruchgut 8 ‚Kettenreime‘ (-) (16vb-17rb) 9 ‚Lügenrede‘ So ist dis von lúgenen (17rb-17va) 10 ‚Traugemundslied‘ (-) (17vb-18va) 10a ‚Lotterspruch‘ (-) (18va) 11 ‚Judeneid‘ Dis ist der iuden eit (18vb-19rb) 12 ‚Vom Tavernenleben‘ (-) (19rb-19va) 13 ‚Wer kann allen recht tun‘ hie stot wie ein man tuot/ so dunket es nieman guot (19va-20vb) 14 ‚Die sechs Farben‘ Dis ist von den sehs varwen (20vb-22va) 15 ‚Minner und Trinker‘ Dis ist der luoderer vnd der minner (22va-23vb) versch. Reden/ Versnov. 16 ‚Liebe und Schönheit‘ Dis ist liebe vnde schoene (23vb-24vb) 17 Hartmann von Aue: ‚Der arme Hein‐ rich‘ Dis ist von dem armen heinriche (24vb-36va) 18 ‚Das Kerbelkraut‘ (‚Weiberlist‘) Dis seit von der wibe list (36va-38vb) 19 Der König vom Odenwald: ‚Vom mangelnden Hausrat‘ Dis ist von dem huerate (38vb-40ra) 20 ‚Vom Pfennig‘ Dis ist von dem pfenninge (40ra-41ra) 21 ‚Aristoteles und Phyllis‘ Dis seit von allexander vnd alestotiles (41ra-45rb) 213 7.2 Die Straßburger Handschrift A 94 22 ‚Der Herbst und der Mai‘ Dis ist von dem herbeste vnd von den meigen (45rb-47ra) 23 ‚Sekte der Minner‘ Dise mére ist von der minnen (47rb- 49ra) 24 Konrad von Würzburg? : ‚Die halbe Birne‘ Dis ist von der bir (49rb-53ra) 25 ‚Das Häslein‘ Dis ist von dem heselin (53ra-57ra) 26 ‚Das Auge‘ Dis ist von eime getruwen ritter (57ra-59rb) 27 Rudolf von Ems: ‚Barlaam und Josaphat‘ [Auszug] Dis ist ein buoch von barlam (59va-80rb) 214 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 101 Sammlungsübersicht S. 244ff.; Abb. S. 247. Nummerierung der Texte nach M E N H A R D T , Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. 102 Das erste Blatt stammt nicht von der Hand Götschls. Schmid geht hier von einer Schreibhand aus der Mitte des 15. Jahrhunderts aus. Vgl. S C H M I D , Codex Vindobonensis 2885, S. 7f. 103 Die häufiger werdende Selbstnennung der Schreiber von Sammelhandschriften im ausgehenden 14. und im 15. Jahrhundert verweist auf ein sich änderndes Selbstverständnis der Schreiber, indem diese gezielt ihre gestalterischen Möglichkeiten und die poetische Signifikanz ihrer Tätigkeit herausstellen. 104 Dem Schreibernamen ist kein Urkundenbeleg sicher zuzuordnen, gesicherte Aussagen zur Person sind daher nicht möglich. Mihm geht auf Grund der Lateinkenntnisse und der gleichmäßigen, of‐ fensichtlich geübten Handschrift von einem Berufsschreiber aus. Vgl. M I H M , Überlieferung und Ver‐ breitung der Märendichtung, S. 65. 105 Vgl. S C H M I D , Codex Vindobonensis 2885, S. 7f. 106 So sind die ersten drei Texte mit besonders großen und verzierten Initialen gestaltet, bei den fol‐ genden Texten ist die Ausstattung merklich weniger aufwendig. Mit Text 10/ fol. 19 beginnt wieder eine Reihe mit stärker verzierten Texten, ab 17/ fol. 37 ist die Ausführung wieder schlichter; sehr große und reich verzierte Initialen tauchen nur noch vereinzelt auf. Hinweise auf eventuelle Sinn‐ abschnitte im Codex ergeben sich aus der unterschiedlichen Initialengröße nicht. 7.3 Codex Vindobonensis 2885 7.3.1 Die Sammlung - Schwankgeschichten und geistliche Parodie Der Codex Wien 2885 (w) ist die älteste erhaltene versnovellistische Sammelhandschrift auf Papier. 101 Die 215 Blatt starke Handschrift wurde 1393 durch den Schreiber Johannes Götschl in Innsbruck hergestellt, 102 der sich selbst durch eine in Latein verfasste Schluss‐ bemerkung ausweist (213v); 103 die Schreibsprache weist auf bairische Mundart hin. Zur Schreiberperson gibt es keine sicher zuzuordnenden Belege, ebenso wenig sind der Auf‐ traggeber oder der Verbleib des Codex bis zum Jahre 1579 bekannt, als die Handschrift für die Bibliothek Ambras erworben wurde. 104 Der Codex misst 280x200 mm, die Blätter sind mit vorgezeichnetem Schriftspiegel in einer schlichten, aber sauber und regelmäßig ausgeführten Bastarda zweispaltig be‐ schrieben, die Zeilenzahl schwankt zwischen 22 und 36. Die Handschrift weist eine Reihe von Korrekturen auf, die größtenteils von der Hand Johannes Götschls zu stammen scheinen. 105 Die Texte stehen durchgehend im Verbund, sind aber durch rote Titulaturen klar voneinander abgegrenzt. Sämtliche Versanfänge werden durchgehend mit roten Stri‐ chen markiert, zu Beginn des Codex stehen diese in vertikaler Ausrichtung, so dass sich eine durchgezogene Linie ergibt. Ab fol.13r ändert der Schreiber die Ausrichtung und setzt die Striche horizontal an. Jeder Text ist mit einer rot geschriebenen Anfangsinitiale ver‐ sehen, die jeweils deutlich größer gestaltet und verziert ist. Innerhalb der Texte gibt es in unterschiedlicher Häufigkeit in Größe und Farbe hervorgehobene Abschnittsinitialen. Bei den Initialen, der einzigen Verzierung, mit der im Codex gearbeitet wird, fallen Unterschiede in Größe und Aufwand auf, auch variiert in den enthaltenen Texten die Häufigkeit der Abschnittsinitialen. 106 Der Codex Wien 2885 beinhaltet 68 Texte, wobei die 34 enthaltenen Versnovellen einen deutlichen Schwerpunkt darstellen. Daneben sind weitere Verserzählungen enthalten, vor‐ rangig Bîspel als zweitgrößte Gruppe. Teile von Wien 2885 (35-42 und 46-52) sind ver‐ mutlich auf den Münchner Codex 2°731, das ‚Hausbuch‘ des Michael de Leone, zurückzu‐ 215 7.3 Codex Vindobonensis 2885 107 Vgl. S C H M I D , Codex Vindobonensis 2885, S. 11. Zu ‚Die Welt‘ siehe auch S. 67; S. 73. Weitere Vorlagenbeziehungen sind nicht belegt, insbesondere scheint, trotz Übereinstimmung von insgesamt 18 enthaltenen Texten, kein Zusammenhang zwischen dem Cpg 341 und Wien 2885 zu bestehen, so dass w als „zweites vollwertiges Zeugnis“ einer Märensammlung des 14. Jahrhunderts gelten kann. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 69f. 108 Während Westphal nicht von einer strikten generischen Geschiedenheit zwischen Bîspel und Vers‐ novelle ausgeht, die ihrer Ansicht nach von den ma. Kompilatoren als gattungsmäßiges Kontinuum empfunden wurden (vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 75f.), bezeugt die Fokussierung auf versnovellistische Texte in Wien 2885 sowie die gezielte Auswahl entsprechender Texte aus ‚Die Welt‘ durchaus eine zeitgenössische texttypologische Differenzierung (vgl. H O L Z‐ N A G E L , Der werlt lauff und ir posait, S. 290f.). Zur Abgrenzung der kleinepischen Textsorten siehe S. 16ff. 109 Wegen der großen Übereinstimmung zwischen den Codices w und i werden die Siglen der beiden Handschriften in der Forschung oft zusammenhängend (w/ i) angegeben. 110 Versnovellen: Unikal in w/ i sind ‚Pyramus und Thisbe‘ und der ‚Schüler von Paris‘ B überliefert. Frühester fassbarer Überlieferungsträger ist der Wiener Codex für ‚Der Ritter im Hemd‘, ‚Die Wette‘, ‚Berchta‘, ‚Der Hellerwertwitz‘, ‚Die Meierin mit der Geiß‘, ‚Tor Hunor‘, ‚Der betrogene Blinde‘, ‚Die Heidin‘ II, ‚Gold und Zers‘ I, ‚Der schwangere Müller‘, ‚Die halbe Decke‘ B, ‚Der Striegel‘, ‚Pfaffe und Ehebrecherin‘. Auch bei weiteren Versnovellen sind in w/ i signifikante Abweichungen in Umfang und Ausgestaltung gegenüber anderen Überlieferungsträgern zu verzeichnen. Minnereden: w/ i überliefern jeweils unikal die ältere Fassung I von ‚Der Minne Klaffer‘ und von ‚Adam und Eva‘, auch ‚Minner und Trinker‘ bildet in w/ i eine eigene Fassung. ‚Der Minne Porten‘ sowie die beiden Predigtparodien von ‚Paternoster‘ und ‚Ave Maria‘ sind unikal in w/ i tradiert. führen, der entweder direkt oder über eine ähnlich gestaltete Sammlung adaptiert wurde. 107 Aus dieser als ‚Die Welt‘ betitelten Sammlung, in der Bîspel gegenüber Versnovellen zah‐ lenmäßig deutlich dominieren, wurden mit sieben Vertretern der Textsorte gezielt versno‐ vellistische Texte ausgewählt. 108 Weiterhin gibt es einige Redetexte, deren Spektrum von Minnereden über Parodien geistlicher Reden bis zu Tannhäusers ‚Hofzucht‘ reicht, au‐ ßerdem wird eine geringe Zahl geistlicher Erzählungen aufgeführt. Der Umfang der ein‐ zelnen Texte ist relativ begrenzt, Stücke mit mehr als 750 Versen finden sich in der Samm‐ lung kaum. Eine große Zahl der enthaltenen Texte bzw. Textfassungen sind unikal in Wien 2885 und dem nah verwandten Codex Innsbruck FB 32001 (i) überliefert oder erstmalig hier fassbar. 109 Dies trifft sowohl auf einen großen Teil des Versnovellen-Korpus als auch auf die enthaltenen Minnereden zu. 110 Dem Textkorpus verleihen verschiedene gestalterische Mittel formale Einheitlichkeit. So sind die Titulaturen überwiegend mit gleichlautenden Wendungen gestaltet, die den nar‐ rativen Charakter der Texte betonen. Zumeist heißt es daz mer von (z.B. daz mer von der stempen, 17v), gelegentlich von der (z.B. von der schön mairin, 30v) oder, wie im Eingangstext, hie hebt sich an (die gut geselschaft, 1v); seltener heißt es einfach daz ist (z.B. daz ist daz hertz mere, 10v). Formalen Zusammenhalt geben auch die stereotyp formulierten Schrei‐ berzusätze, mit denen ein Großteil der Stücke als Schlussformel versehen ist und in denen das Ende der Geschichte erklärt und/ oder ein Wunsch an Gott angefügt wird (z.B. hier hat daz mer ain ende/ Got vns in sölhe herberg sende, 4v). Diese Schlussformeln sind - auf Grund der Diskrepanz zu den zumeist schwankhaften Inhalten - weniger als Indiz für eine tat‐ sächlich christlich-moralisierende Perspektive, sondern als Mittel der narrativen Verein‐ heitlichung zu sehen. Nur 14 der 68 enthaltenen Texte führen keine solchen Schlussformeln 216 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 111 Vgl. Sammlung kleinerer deutscher Gedichte, hg. W O L F , S. 21; Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 354f. Insgesamt 32 Texte enden praktisch gleichlautend mit solchen Formeln, weitere Texte gestalten die Schlusssentenz in einer nur leicht abgeänderten Form. Diejenigen Texte, die keine Zusatzverse haben oder mit anderen Reimworten gestaltet sind, gehören fast ausschließlich zu dem Textkorpus aus ‚Die Welt‘. Schmid vermutet, dass in einer angenommen Vorlage, die durch Auszüge aus anderen Handschriften erweitert wurde, die Schlussverse bereits nach diesem Schema gestaltet waren. Eine ähnlich Gestaltung der Schlussverse findet sich auch im Karlsruher Codex K 408. Vgl. S C H M I D , Codex Vindobonensis 2885, S. 10f. 112 M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 70, hat in der einheitlichen Gestaltung von w bereits eine „Konzeption der Sammlung als Gesamtwerk“ gesehen, hinter deren Gesamtin‐ tention das Interesse an einzelnen Texten zurück getreten wäre. Vgl. weiterhin S C H M I D , Codex Vin‐ dobonensis 2885, S. 14; W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 74. 113 Das anonym überlieferte ‚Studentenabenteuer‘ A wird auf das 13. Jahrhundert datiert (vgl. K U L L Y , ‚Studentenabenteuer‘ A in 2 VL 9, Sp. 461-464). Galt der Wiener Codex bislang als älteste vollständige Überlieferung des Textes, ist mit der 2012 durch die Staatsbibliothek zu Berlin erworbenen und bis dahin unbekannten Pergamenthandschrift Berlin mgo 1430 ein älterer Textzeuge fassbar, der auf das Ende des 13. Jh. bzw. auf das zweite Viertel des 14. Jh. datiert wird und der mit der Fragmenthand‐ schrift um den Status der ältesten Überlieferung des ‚Studentenabenteuers‘ A konkurriert. Zur Handschrift mgo 1430 und ihrer Datierung vgl. B E R R O N / S E E B A L D , Die neue Berliner Handschrift mgo 1430, S. 320f., S. 325. 114 Westphal sieht den Titel des Eingangstextes ebenfalls als sprechend für die ganze Sammlung an. Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 74. auf, diese stehen alle erst an späterer Position und nicht am Anfang der Sammlung, wo die inhaltliche und formale Kohärenz der inserierten Texte stärker ausgeprägt ist. 111 Eine ähn‐ liche Funktion als vereinheitlichende Schlussmarkierung könnte dem Amen zukommen, mit dem insgesamt 22 Texte enden, zum Teil steht dieses eingebunden in Formeln wie Nu sprechent alle amen (180v). Die verschiedenen Elemente des Handschriften-Layouts und der Textgestaltung legen den Schluss nahe, dass die unterschiedlichen Texte in der Sammlung nicht unvermittelt nebeneinander stehen sollen, sondern dass durch die formalen Angleichungen ein homo‐ genes Erscheinungsbild intendiert ist, um die Sammlung visuell als zusammenhängendes Gesamtkonzept zu präsentieren. Die Wiener Sammlung weist auch inhaltlich eine große Kohärenz und thematische Ge‐ schlossenheit auf; die außergewöhnliche Homogenität des Codex wurde in der Forschung verschiedentlich hervorgehoben. 112 Der Schwerpunkt liegt auf erzählender, weltlicher Kleinepik, insbesondere auf versnovellistischen Texten, bei denen gattungstypisch schwankhafte Inhalte deutlich dominieren. Die Redetexte, insbesondere die fünf enthal‐ tenen Minnereden, sind weniger belehrenden, sondern persiflierenden Charakters. Geist‐ liche oder explizit lehrhafte Texte haben dagegen nur geringen Anteil am Korpus und stehen zumeist erst am Ende der Sammlung. Die Wiener Sammlung gestaltet damit ein ungewöhnlich konzises diskursives Profil, das in der zusammenhängenden Lektüre das schwankhaft-parodistische Potential der einzelnen inserierten Texte verstärkt. Der Eingangstext, dem in Sammlungen besonderes Gewicht zukommt, bestimmt er doch wesentlich Modus und Erwartungshaltung der Rezeption, ist das ‚Studentenabenteuer‘ A. 113 Der Versnovelle ist der rubrizierte Titel ‚hie hebt sich an die gut geselschaft‘ vorangestellt, der sich als programmatische Eröffnung für die ganze Sammlung liest und einen Rezep‐ tionsmodus von Geselligkeit und Unterhaltung impliziert. 114 Der Student als „eine Lieb‐ 217 7.3 Codex Vindobonensis 2885 115 F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, hier S. 121f. 116 Diese auf das Epimythion folgende Schlusspartie führt Berlin mgo 1430 als ältere Redaktion nicht auf. Berron/ Seebald gehen auf Grund der Vielzahl von, zumeist inhaltlich nicht relevanten, Minus‐ versen in mgo 1430 gegenüber den späteren Überlieferungen aber eher von der Kürzung einer (nicht mehr vorhandenen) ältereren Vorstufe des Textes in mgo 1430 als von einer Erweiterung in w und den weiteren späteren Überlieferungen aus. Vgl. B E R R O N / S E E B A L D , Die neue Berliner Handschrift mgo 1430, S. 327ff. lingsfigur des Märe“, vor allem im schwankhaften Typus, agiert als Verführer und Ehebre‐ cher, dessen Treiben zumeist nicht sanktioniert wird. 115 So auch im ‚Studentenabenteuer‘, das zwei fahrenden Scholaren eine Liebesnacht mit Frau und Tochter des gastgebenden Wirtes beschert, der aufgrund der listreichen Inszenierung des Betrugs seinen Schaden letztlich nicht bemerkt. Die Erzählung führt gattungstypisch ein Epimythion auf, in dem der Rat gegeben wird, fremde Gäste nicht in der eigenen Kammer unterzubringen, damit es einem nicht ergehe wie dem Wirt. Die Dichtung wird aber nicht mit dem Epimythion beschlossen, sondern kehrt noch einmal zu den beiden Scholaren zurück: Do ez tagen pegan Die schuler schieden von dan Mit vrlawb auf ir strazzen Sa lachten ane mazzen Von diser gemeleichen tat Vnd sich des gelükes rat Vnd ir selden scheiben Sich also liezzen treiben hie hat daz mer ain ende got uns in solhe herberg sende Amen fiat daz bescheh (4v). Indem der Text mit den lachenden Scholaren und dem Verweis auf ihr glückliches Geschick endet, wird der Fokus auf eine positivierend-verharmlosende Rezeption des Betrugsge‐ schehens gelegt. 116 Auch die im typischen Modus der Wiener Sammlung formulierten Schlussverse beschließen die Erzählung ganz im Sinne dieser Lesart. Mit dem Eingangstext wird ein Rezeptionsmodus von schwankhafter Unterhaltung geschaffen, in dem listreiche Verführung und Betrug nicht Gegenstand moralischer Verurteilung, sondern der Belusti‐ gung sind, dessen parodierender Impetus durch die pseudo-christliche Formel noch ver‐ stärkt wird. Ein Großteil der weiteren in w enthaltenen Versnovellen hat ebenfalls die schwankhafte Darstellung von erotischen Verwicklungen und Ehebruch zum Gegenstand, die gattungs‐ typisch entweder mit der Vorführung von Listhandeln zum Schaden des Betrogenen bzw. Verführten oder mit der Bloßstellung, Belehrung oder Bestrafung des Ehebrechers einher‐ gehen: Herrmann Fressants in w erstmalig überlieferter ‚Der Hellerwertwitz‘ (2) beschreibt einen notorischen Ehebrecher, der durch die kluge Agitation seiner Ehefrau eines Besseren belehrt wird. In ‚Berchta‘ (7), ebenfalls zuerst in der Handschrift w fassbar, wird der Ehe‐ bruch einer Ehefrau mit dem Pfaffen augenscheinlich, aber letztlich ignoriert. Eine Blamage erlebt ein Bauer in ‚Die Wette‘ (9), die ebenfalls erstmalig in w tradiert ist, indem er eine 218 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 117 Zu ,Die halbe Birne‘ siehe S. 24ff. 118 In Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R , S. 1238, wird auf den divergenten Textbestand in w hingewiesen. Bereits Mihm konstatiert für das ‚Gänslein‘ in w signifikante „Umdichtungen“. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 68. Wette auf die Treue seiner Ehefrau verliert. ‚Die halbe Birne‘ (12) legt die Zügellosigkeit einer Prinzessin hinter der courtoisen Fassade offen, 117 und in der ebenfalls erstmalig in w überlieferten ‚Die Meierin mit der Geiß‘ (13) gelingt die Liebesbegegnung eines Ritters und einer verheirateten Bäuerin dank der Hilfe einer listigen Kupplerin. Weiterhin führt w den breit überlieferten ‚Sperber‘ (14) und ‚Das heiße Eisen‘ (15) als weitere Schwankgeschichten über Verführung und Ehebruch auf. Zwischen dem Typus der Minnerede und der Versno‐ velle wird die unikal in w überlieferte ‚Frau Seltenrain‘ (6) verortet, die eine parodistische Werbungsszene gestaltet, indem ein Schmiedeknecht in vollendeter höfischer Minnerhe‐ torik um eine alte Frau wirbt, die ihm in grobianischer Weise antwortet. ‚Der Ritter mit den Nüssen‘ (21) verhandelt das topische Motiv des übelen wîp, wobei die Frau hier besonders kaltschnäuzig agiert, indem sie ihren Liebhaber hinter einem Vorhang verbirgt und ihren Ehemann zum Nachschauen auffordert, der dies für einen Scherz hält. In ‚Der betrogene Blinde‘ (22), ebenfalls erstmalig in w fassbar, rechtfertigt sich eine Braut für ihre nicht mehr vorhandene Jungfräulichkeit, indem sie die Blindheit ihres Mannes als weit schlimmeren Mangel bezeichnet. Auch in ‚Tor Hunor‘ (26), ebenfalls zuerst in w tradiert, wird der Betrug des in diesem Fall dörperhaften Ehemannes legitimiert. Erstmalig in w überliefert ist auch der ‚Der Striegel‘ (57); hier glaubt eine Prinzessin, wunschgemäß einen impotenten Ritter geheiratet zu haben und keusch zu leben, da dieser den Beischlaf als ‚striegeln‘ bezeichnet. Sexuelle Unwissenheit wird auch in ‚Der schwangere Müller‘ (43), ebenfalls zuerst in w belegt, narrativiert, indem der Protagonist die Erklärung zum Beischlaf und Kinderzeugen derartig missversteht, dass er sich schwanger wähnt. In einigen versnovellistischen Texten geht die schwankhafte Verhandlung von Sexualität und Ehebruch mit einer ironischen Konterkarierung moraltheologischer Motive und Se‐ mantiken einher. So überzeugt die Delinquentin in ‚Pfaffe und Ehebrecherin‘ (58), für das w ebenfalls den frühesten Textbeleg darstellt, ihren Beichtvater durch geschickte Rhetorik, dass Buhlschaft und christliche Ethik sehr wohl miteinander vereinbar seien. ‚Das Al‐ mosen‘ (55) formuliert im Epilog ein ironisches Lob der Protagonistin für ihr christliches Handeln, weil sie einem Bettler in Ermangelung materieller Güter ihre Minne schenkt. ‚Das Gänslein‘ (24) macht die Mönchsaskese zum Movens sexueller Handlungen, weil der Mönch in der Erzählung gerade wegen seiner strikten klösterlichen Erziehung und sexuellen Un‐ wissenheit von der ersten Frau, der er begegnet und die sein Abt aus Verlegenheit als Gänslein bezeichnet, verführt werden kann. Als die Frau in sein Bett steigt, denkt er nichts Böses, bis er sich in der Weihnachtszeit durch seine Forderung nach einem Gänslein für alle Mönche entlarvt. Auch das ‚Gänslein‘ weist, wie viele Texte in w, einen deutlich von den übrigen Überlieferungsträgern verschiedenen Textbestand auf. 118 So werden bei der Begegnung mit dem Mädchen unikal einige Verse hinzugefügt, durch die das Interesse des Mönches nicht nur aus Neugier motiviert erscheint, sondern auch in seiner sexuellen Kon‐ notation akzentuiert wird: Des jungen münchs augen 219 7.3 Codex Vindobonensis 2885 119 Die thematische Gewichtung entspricht letztlich der des versnovellistischen Korpus insgesamt, in dem die schwankhaften Texte deutlich dominieren. Eine Zusammenstellung wie in w erklärt sich also auch aus dem Gattungsspektrum, was die rezeptionsästhetische Wirkung der kontrastierenden Texte aber nicht mindert. 120 Vgl. die kasuistische Verhandlung der Frage im sechsten Kapitel des ersten Buches von Andreas Capellanus ‚De amore‘ (Andreas: De amore libri tres, hg. K N A P P , S. 322-334). 121 Zur Lesart des ‚Herzmaere‘ im Sammlungskontext siehe das folgende Kapitel. Pegunden fast taugen Pliken von seinem hertzen gar Vnd nam der tochter war (46r). Auch wird das Interesse des Mädchens an dem Mönch stärker hervorgehoben, ihre List wird deutlicher sexuell motiviert. Während in den übrigen Fassungen vor allem das Mo‐ ment vollkommener sexueller Unwissenheit ihr Interesse weckt und zum Movens der ge‐ lungenen Verführung wird, ist in w das beidseitige sexuelle Begehren stärker akzentuiert. Das komische Moment des unbefangenen und wiederholten Wunsches nach einem Gäns‐ lein, auf dem der Mönch trotz der Ermahnung des Abtes insistiert, wird in w ausgebaut, indem er noch ein viertes Mal auf seiner Forderung beharrt (47r). Der Wiener Codex breitet damit das ganze Motivspektrum schwankhafter Narrationen über Sexualität, Ehebruch und listreiche Verführung aus. Auffällig ist, dass w für die über‐ wiegende Zahl dieser Texte und Textfassungen den ersten und oft auch einzigen fassbaren Überlieferungsträger darstellt. In der Wiener Sammlung, die Minne vornehmlich als konkrete Liebesvereinigung und in schwankhaft-parodistischer Weise vorführt, stechen die beiden Erzählungen über den wechselseitigen Liebestod, das ‚Herzmaere‘ (3) und ‚Der Schüler von Paris‘ (29), deutlich hervor. 119 Der elaborierte Duktus und die idealisierende Ausgestaltung der Minneverbin‐ dung stehen in deutlichem Kontrast zu der Sammlungsumgebung, auch wenn diese Impli‐ kationen im ‚Herzmaere‘ durch die spezifische Textgestaltung zum Teil relativiert werden. Ähnlich die unikal in Wien 2885 tradierte Versnovelle ‚Pyramus und Thisbe‘ (10), die eben‐ falls keine schwankhafte Geschichte, sondern den tragischen Tod der Protagonisten einer verbotenen Liebe erzählt. Auch ‚Die Heidin‘ (30) als einer der umfangreichsten Texte in w verhandelt eine ernsthafte Liebesgeschichte. Allerdings bringt das Kernmotiv der Wahl zwischen der oberen und der unteren Hälfte einer Frau, auch wenn dieses etablierter Ge‐ genstand höfischer Minnekasuistik ist, eine schwankhafte Komponente in den Text ein. 120 Das deutlich von schwankhaften und parodistischen Texten geprägte Sammlungsprofil be‐ einflusst die Lektüre der Liebeserzählungen, deren ernsthaftes und exemplarisches Moment weniger akzentuiert in Erscheinung tritt. Der Modus schwankhafter Unterhaltung, der schon durch das einleitende ‚Studentenabenteuer‘ aufgerufen wird, prägt auch die Rezep‐ tion der Liebestodgeschichten. 121 Eine schwankhaft-parodierende Perspektive auf Minnesemantiken wird auch in den ent‐ haltenen Minnereden entworfen, die alle unikal oder erstmalig in w tradiert sind. In w ist die unverblümte Literarisierung von Sexualität und Obszönitäten, die zu einem häufigen inhaltlichen Moment spätmittelalterlicher Textualität wird und vor allem in Versnovellen und Fastnachtspielen begegnet, erstmalig auch in Reden fassbar, die damit dem Textumfeld 220 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 122 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 214f. Lieb sieht in den parodistischen Formen Strategien des Aufbegeh‐ rens gegen die den Minnereden implizite Gattungskonvention einer affirmierenden Wiederholung der Norm. Vgl. L I E B , Eine Poetik der Wiederholung, S. 528. 123 Glier hebt die Darstellung des sonst tabuisierten Geschlechtsbereiches der Frau in der sonst kon‐ ventionell gestalteten Minnerede hervor. Dieser Exkurs ist angesichts der doppeldeutigen Motivik der Porten aber gar nicht so verwunderlich wie von Glier geäußert (vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 214), zumal die sexuelle Konnotation des Lexems in der schwankhaften Textumgebung in w besonders akzentuiert wird. 124 Vgl. ,porte‘ in Lexer Mhd. TWB, Sp. 101; Lexer Mhd. HWB Bd. II, Sp. 286f. 125 Glier verortet das Gedicht als „obszöne Kontrafaktur“ zu den in Minnereden häufiger thematisierten Auseinandersetzungen zwischen Minne und Pfennig. G L I E R , Artes amandi, S. 215. 126 ‚Der Minne Klaffer‘ wird in zwei Fassungen unterschieden, w/ i überliefern unikal die ältere Fassung I, in der sich der Verfasser abweichend von den übrigen Überlieferungen nicht Ruschart, sondern Perchtolt nennt. Vgl. K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 338-342. der Versnovellen angepasst werden. 122 So erscheint ‚Der Minne Porten‘ (27) zunächst als eine typische Minnerede, die einen Schönheitspreis in höfischer Minnerhetorik formuliert. Das Motiv der Minnepforte wird als Konzeption einer exklusiven Minnegemeinschaft auf‐ gebaut und ist durch Wendungen wie edel hertz aufgeladen mit intertextuellen Anspie‐ lungen auf den ‚Tristan‘. Ungeachtet des elaborierten höfischen Duktus lässt sich das titel‐ gebende Motiv als sexuelle Anspielung und verbrämende Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsteil verstehen, zumal in die ansonsten konventionelle Schönheitsbeschreibung eine ausführliche und unverblümte Darstellung der Genitalien eingebunden wird. 123 Wenn emphatisch die Freude angekündigt wird, die nach Öffnung der Pforte zu erwarten ist, wird die Nebenbedeutung der porten als (Himmels)Pforte doppelbödig ausgespielt. 124 Die gattungstypisch zwischen Minnerede und Versnovelle eingeordnete Reimpaardich‐ tung ‚Gold und Zers‘ (34), die in w/ i unikal in der älteren Fassung I vorliegt, gibt ein be‐ lauschtes Streitgespräch zwischen den titelgebenden Kontrahenten um die Frage wieder, wer von beiden den Frauen wichtiger sei. Nachdem die Entscheidung den Frauen selber übertragen wird, unterliegt der Zers zunächst, kehrt aber nach einer Zeit der Trennung zu den Frauen zurück. 125 Das divergent ausgeführte Streitgespräch in ‚Minner und Trinker‘ (11) endet in der Wiener Handschrift zwar mit einer eindeutigen Entscheidung zu Gunsten des Minners, der Disput über die Vorzüge der Liebe versus denen der Trunksucht verortet die Minne aber eher im Kontext von Laster, als dass er ein tatsächliches Liebeslob darstellt. ‚Der Minne Klaffer‘ (53) stellt ein Werbungsgespräch zwischen dem Dichter und einer Dame dar, das mit auffällig vielen Wendungen und Argumenten des höfischen Minnesangs ge‐ staltet ist. 126 Weist die Dame zunächst das Werben insgesamt, dann zumindest noch die körperliche Annäherung zurück, gelingt es dem Sprecher schließlich, sie zum Einver‐ ständnis in die Liebesbeziehung zu bewegen; als Bedingung fordert sie die unbedingte Wahrung der Heimlichkeit. ‚Adam und Eva‘ (16) lässt die Akteure als Liebespaar agieren, die in Persiflierung geistlicher Rede das Nicht-Minnen als Sünde und die Minnegewährung als einzig adäquate Buße bezeichnen und damit das Gebot der Entsagung in sein Gegenteil verkehren. In den unikalen ‚Paternoster‘- und ‚Ave Maria‘- Travestien (59+60), beide als heimliche Dialoge zwischen einem Mönch und einer Nonne mit dem eindeutigen Ziel der Liebesvereinigung narrativiert, werden nicht nur typische Wendungen höfischer Minne‐ sprache, sondern auch Gebetsteile phrasenhaft in die Reden eingebunden und sexuell um‐ gedeutet. 221 7.3 Codex Vindobonensis 2885 127 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 75. Ähnlich S T R A S S E R , Vornovellistisches Erzählen, S. 145f. 128 Tischzuchten als eingeständige Texte finden seit dem 12. und 13. Jahrhundert allmählich Eingang in die volkssprachige Literatur, ihre weitreichendste Verbreitung erreichen sie im 14. und 15. Jahrhun‐ dert (vgl. H E N K E L , Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte, S. 30ff.). Auch wenn die Texte nicht immer geordnet und geschlossen erscheinen, sind sie dennoch im Kontext einer moralischen und religiösen Normvermittlung zu verorten, indem sie Disziplinierung im Sinne eines höfischen Verhaltensprogramms transportieren. Vgl. M ÜL L E R , Die hovezuht und ihr Preis, S. 296f. 129 Zum ‚Cato‘ siehe S. 176. Die drei letztgenannten Stücke arbeiten mit dem Prinzip, vertrauten geistlichen Formeln neue, erotische Inhalte zu geben, die die gewohnte Aussage konterkarieren, wobei gerade die Vertrautheit der Sprachformeln den Kontrast hervorhebt. Die obszönen Dialoge stehen in eklatantem Kontrast zu dem geistlichen Status der Figuren. Der Wiener Codex offeriert damit eine besonders konzentrierte Auswahl von Minnereden, die die Persiflierung geist‐ licher Dignität als poetisches Mittel nutzen. Weitere Motive in den in w inserierten Texten sind die schwankhafte Bloßstellung und die Sanktionierung von moralischen Schwächen und Fehlverhalten. So wird in ‚Die halbe Decke‘ (4) der Geiz von Kindern gegenüber ihren alten Eltern offengelegt. Vermittelt die Versnovelle in der älteren Fassung A einen engen Bezug zu den moraltheologischen Im‐ plikationen des vierten Gebotes, werden in der in w vorliegenden Fassung B andere Sinn‐ setzungen hervorgehoben. Anstelle der Hartherzigkeit des Sohnes werden hier Handlungs‐ momente mit komischem Potential ausgebaut, etwa der eheliche Streit zwischen dem Sohn und seiner geizigen Frau, so dass der moralisierende Impetus zugunsten einer Akzentuie‐ rung der komischen Momente in den Hintergrund tritt. 127 Rüdigers der Hünkhofer ‚Der Schlegel‘ (32) verhandelt ebenfalls die Undankbarkeit von Kindern, die hier durch den alten Vater selber sanktioniert wird. In ‚Der Ritter im Hemd‘ (8), für den w insgesamt den frü‐ hesten Überlieferungsträger darstellt, blamiert sich ein allzu modebewusster Ritter, indem ihm beim Tanzen das offene Gewand verrutscht und sein ungeschickter Knappe ihn schließlich ganz entblößt. Strickers ‚Der Gevatterin Rat‘ (33) und ‚Das erzwungene Ge‐ lübde‘ (40) verhandeln die Restitution der ehelichen Gemeinschaft, indem der trennungs‐ willige Ehemann jeweils durch List bzw. rhetorisches Geschick von seinem Wunsch abge‐ bracht wird. In Sibotes ‚Frauenerziehung‘ (54) folgt auf die brutale Zähmung einer widerspenstigen Frau die ihrer noch boshafteren Mutter. Keine Versnovelle, sondern eine Unsinnsrede ist das ‚Wachtelmäre‘ (45), das in w in einer besonders umfangreichen Redak‐ tion vorliegt. Während am Anfang der Sammlung also vorrangig schwankhafte Texte zusammengeführt werden, findet sich zunehmend auch anderes Material. So wird an die durchgängig schwankhaft-parodistischen Texte im ersten Sammlungsteil eine Kleingruppe (17-20) an‐ gefügt, die mit drei Fabeln des Strickers und Tannhäusers ‚Hofzucht‘ dezidiert moraldi‐ daktische Sinnsetzungen vermittelt; 128 ähnlich sticht auch der ‚Cato‘ (28) aus dem Korpus heraus. 129 Auch die zweite der beiden aus der Sammlung ‚Die Welt‘ übernommenen Text‐ reihen setzt ähnliche Akzente. Während die erste Reihe (35-42) überwiegend versnovel‐ listische Texte umfasst, die den ehelichen Kampf um Überlegenheit oder andere schwank‐ hafte Semantiken verhandeln und sich recht homogen in die bisherige Konzeption einfügen 222 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 130 Vgl. R ÖL L , ‚Friedrich von Saarburg‘ in 2 VL 2, Sp. 959. 131 Vgl. D E R R O N , Des Strickers ernsthafter König, die die Erzählung auch in ihrem motivgeschichtlichen Kontext der ersten ‚Barlaam‘-Parabel untersucht. 132 Hagby weist den Stoff als eine der beliebtesten narrationes in der mittelalterlichen Literatur nach, die in zahlreichen Bearbeitungen vorliegt. Die Gestaltung beim Stricker deute dabei auf eine beson‐ dere Profilierung der Kritik an Lachen im Kontext höfischer Unterhaltung hin, die nach Hagby auch dezidiert als Kritik an literarischer Komik verstanden wurde. Vgl. H A G B Y , man hat uns fur die war‐ heit…geseit, S. 50. 133 Vgl. C U R S C H M A N N , ‚Der König im Bade‘ in 2 VL 5, Sp. 72-75. 134 Mit dem deposuit potentes (de sede) et exaltavit humiles als einem Kernsatz des ‚Magnificat‘, dem Lobgesang Marias im Lukasevangelium, das als eines der prominentesten cantica Eingang in die Liturgie gefunden hat, preist Maria Gott, der die Mächtigen stürzt und die Machtlosen aufrichtet (vgl. J E N N Y , ‚Cantica‘ in TRE 7, S. 624ff). Der Cpg 341 und Bodm. 72 führen die verkürzte Sentenz auch im Titel auf: Ditz ist von einem kvnge here/ Der heizet deposvit potentes desede (Cpg 341, 228v). (‚Die eingemauerte Frau‘, ‚Das Schneekind‘, ‚Die drei Wünsche‘, ‚Der nackte Bote‘, ‚Das erzwungene Gelübde‘), finden sich in der zweiten Reihe (46-52) ausschließlich sehr kurze Texte, zumeist Bîspel, mit eindeutig moralisierend-belehrendem Impetus. Geistliche Dichtungen sind im Korpus der Wiener Sammlung zunächst ausgespart, Aus‐ nahmen sind Konrads von Würzburg ‚Die goldene Schmiede‘ (31), die etwa in der Mitte des Codex positioniert ist und den umfangreichsten Text in w darstellt, sowie Friedrichs von Saarburg ‚Vom Antichrist‘ (56) als Bearbeitung einer lateinischen Antichrist-Dichtung, die in w zwischen schwankhaften Versnovellen steht. 130 Am Ende der Sammlung steht dann eine ganze Reihe von Texten (62-68), die explizit religiös-unterweisenden Semantiken ver‐ pflichtet sind und die eine klar abgegrenzte geistliche Textformation bilden. Diese Text‐ gruppe folgt auf die Ave Maria- und Paternoster-Parodien, die damit auch als subversive Gelenkstelle zwischen den voranstehenden Schwanktexten und den geistlichen Dich‐ tungen gelesen werden können. ‚Von drein wapen‘ (62), bei Menhardt nhd. mit ‚Von drei Wappen‘ betitelt, wobei ‚Waffen‘ wohl die bessere Übertragung wäre, nennt mit dem Glauben als Schwert, dem Herz als Scheide und Buße und Reue als Schild die drei wichtigsten Waffen gegen den Teufel. In Strickers ‚Der ernsthafte König‘ (63) führt der titelgebende König auf die Frage, warum er sich so konsequent jeder Heiterkeit enthält, drastisch das Passionsgeschehen und die Leiden Christi vor Augen, die wie Speere am Körper des Christen wirken und diesen am Lachen hindern müssen. 131 Mit der abschließenden moralisatio, stets an Christi Tod zu denken, konterkariert der Text das Leitmotiv und Profil der Wiener Sammlung und fordert geradezu eine Revision des bisherigen Rezeptionsmodus von freizügiger und parodierender Unter‐ haltung und des Prinzips literarisch erzeugter Komik ein. 132 Die ursprünglich dem Stricker zugeschriebene Mirakelerzählung ‚Der König im Bade‘ (64) steht häufig in didaktischen Überlieferungszusammenhängen, 133 sie führt exemplarisch das deposuit potentes et exaltavit humiles vor, das in einigen Überlieferungsträgern auch titelgebend ist. 134 Die Hybris des Königs wird durch einen Engel kuriert, indem dieser vo‐ rübergehend als Doppelgänger den Platz des Königs einnimmt, während der König selber als ausgestoßener Narr Schmach und Not erlebt und sich daraufhin demütig auf den zuvor zurückgewiesenen Lehrsatz besinnt. Der in w gewählte Titel ‚von dem übermutigen künig’ 223 7.3 Codex Vindobonensis 2885 135 Vgl. E I C H E N B E R G E R , Geistliches Erzählen, S. 284. 136 Heinzle sieht in der verknappenden Paraphrasierung eine Anpassung an das kurze Texte bevorzu‐ gende Sammlungskonzept in w. Vgl. H E I N Z L E , Der Württemberger, S. 113ff. Zu ‚Der Württemberger‘ siehe S. 131ff. 137 Vgl. G Ä R T N E R , ‚Der Magezoge‘ in 2 VL 5, Sp. 1153ff. 138 Vgl. S T E I N H O F , ‚Heinrich von Freiberg‘ in 2 VL 3, Sp. 725. soll möglicherweise eine unmittelbare Korrespondenz zum voranstehenden ‚von dem ernst‐ haften kunig‘ herstellen. 135 ‚Der Württemberger‘ (65) fügt sich durch die problematisierende Verhandlung von Ehe‐ bruch und der ausgestellten Notwendigkeit von Beichte und Buße bei weltlichen Verfeh‐ lungen in das religiös-belehrende Profil des abschließenden Sammlungsteils ein. Der Text liegt in w in seiner kürzesten Redaktion vor, in der auf viele ausschmückende Details ver‐ zichtet wird. 136 ‚Der Magezoge‘ (66) als Spruchsammlung zur religiösen Belehrung eines Sohnes durch den Vater gestaltet die Ratschläge zum rechten Verhalten gegenüber Gott und der Gesellschaft in dezidierter Rückbindung an biblische Lehren. 137 Heinrichs von Freiberg ‚Die Legende vom Heiligen Kreuz‘ (67) ist eine unikal in w überlieferte Nachdichtung einer um 1300 verbreiteten lateinischen Prosalegende über die heilsgeschichtliche Bedeutung des Kreuzigungsholzes, die durch einen Prolog mit einer Anrufung der Trinität ergänzt wird. 138 Die abschließende Versnovelle ‚Heinrich von Kempten‘ (68) stellt keinen geistlichen Text vor und hat durchaus anekdotisches Potential. Aber durch die deutliche Positivierung der Tapferkeit des Protagonisten, dessen manhait und ritterschaft (213v) allen Rittern ein eh‐ renvolles Vorbild sein sollen, schließt die Erzählung dennoch weitgehend kohärent an den belehrenden Duktus des letzten Sammlungsteils an. In der Gesamtschau weist der Wiener Codex eine bemerkenswerte Dichte an schwank‐ haften versnovellistischen Texten auf, die die Sammlung zu einem breiten Panoptikum frivoler und subversiver Narrationen machen. Die Zusammenstellung deutet auf eine ge‐ zielte Auswahl der Texte nach diesen Gesichtspunkten hin, was durch den Vergleich mit der Sammlung ‚Die Welt‘ als einziger konkret ermittelter Vorlage gestützt wird. Eine pa‐ rodierende Perspektive auf den geistlichen Bereich ist Bestandteil vieler Texte, etwa der enthaltenen Minnereden, und spiegelt sich auch in den fast durchgängig als Schreiberzu‐ sätze identifizierbaren geistlichen Schlussformeln wider: Die an Gott gerichteten ‚frommen‘ Wünsche sind oft eindeutig sexueller Natur und pointieren so als Kurzdeutungen die frivole Komponente; so z.B. in ‚Das Gänslein‘: Hie endet sich das merelein/ Got füg vns solhe genselein (47v) oder ‚Die Heidin‘: Hie hat das mer ain end/ Got vns solhe wale send (die Wahl zwischen der oberen und der unteren Hälfte einer Frau; 84v). Auch wenn die Sammlung einen deutlich schwankhaften Schwerpunkt prägt, erstreckt sich das dominante Profil nicht durchgängig auf alle Texte. Es werden auch Einzeltexte und kleine Textreihen aufgeführt, die anderen Semantiken verpflichtet sind und dem schwank‐ haften Duktus zum Teil zuwiderlaufen. Insbesondere die Lehrdichtungen wie der ‚Cato‘ oder Tannhäusers ‚Hofzucht‘ und vor allem die abschließende Partie geistlicher Dichtungen markieren einen tatsächlichen Bruch mit dem dominanten Sammlungsschwerpunkt. Der Codex hat praktisch einen gegenläufigen Aufbau zum Cpg 341, der mit einem ge‐ schlossenen mariologischen Block beginnt und am Ende eine fast homogene Zusammen‐ 224 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 139 Vgl. W E S T P H A L , Textual Poetics of German Manuscripts, S. 72. 140 Der Abgleich zahlreicher Einzeltexte legt bereits für Mihm den Schluss nahe, dass w in besonderem Maße Dichtungen umgestaltet (vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 68f.). Ebenso Z W I E R Z I N A , Die Innsbrucker Ferdinandeumhandschrift, S. 163, der für w konstatiert, dass sie vermutlich keine um Genauigkeit der/ den Vorlage(n) gegenüber bemühte Handschrift war, sondern „den Eindruck individueller Willkür“ vermittele. Statt willkürlich können die Abweichungen von möglichen Vorlagen aber auch Ergänzungen oder Akzentuierungen bestimmter Semantiken darstellen, die der Einpassung in die Sammlung dienen. 141 Die Textform des ‚Herzmaere‘ in der im späten 15. Jahrhundert entstandenen Handschrift Prag X A 12, dem sog. ‚Liederbuch der Clara Hätzlerin‘, stimmt weitgehend mit dem Textbestand von Wien 2885 überein, so dass hier von einem gemeinsamen Überlieferungsstrang ausgegangen werden muss. Die Übereinstimmungen zwischen Wien 2885, Innsbruck 32001 und Prag X A 12 sowie den beiden Parallelüberlieferungen des Prager Codex sind so groß, dass die hier stehende Beschreibung der Textgestalt für die gesamte Gruppe w/ i und p 1 steht. Die Unterschiede im Textbestand der Hand‐ schriften innerhalb dieser Gruppe beschränken sich im Wesentlichen auf Schreibgewohnheiten, die zumeist auf den lokalen und zeitlichen Abstand zurückzuführen sind und keine Änderungen von semantischer Signifikanz darstellen. In der nahezu identischen Tradierung der Textgestalt innerhalb der Gruppe w/ i+p 1 zeitigt sich ein Phänomen, das sonst im Bereich der höfischen Epik häufig beob‐ achtet wurde: Einmal entstandene Parallelfassungen werden ihrerseits wieder konstant tradiert, worin sich für Wolf eine konservative Grundhaltung der meisten Schreiber zeigt, die Texte nicht beliebig verändern Vgl. W O L F , Buch und Text, S. 296. stellung von schwankhaften Versnovellen präsentiert. So wie ein geistlicher Auftakt in kleinepischen Sammlungen als Ausdruck eines Geltungsanspruchs und einer Legitimie‐ rung des Erzählten erwogen wird, 139 können auch die abschließenden geistlichen Texte in der Sammlung w eine legitimierende Funktion haben, indem sie dem Codex am Ende ein ernsthaftes und moraltheologisch konformes Gepräge verleihen, das ein Gegengewicht zu dem anfangs aufgerufenen Modus schwankhafter Unterhaltung darstellt. 7.3.2 Das ‚Herzmaere‘ in Wien 2885 - eine zweite Fassung Der Codex Wien 2885 lässt auf eine gezielte Auswahl von Texten nach generischen und inhaltlichen Aspekten schließen. Dabei legen die zahlreichen unikalen Texte und Textfas‐ sungen den Schluss nahe, dass eine gezielte Anpassung der Form des Textes in dieser Sammlung Bestandteil der Konzeption ist. 140 Die Textgestalt des ‚Herzmaere in w ist ein besonders prägnantes Beispiel für eine mögliche Anpassung des Einzeltextes an den Rahmen der Sammlung. Das ‚Herzmaere‘ ist in w mit 484 Versen in seiner zweitkürzesten Textform tradiert. Dabei überliefert w zusammen mit den fast identischen Redaktionen in der von w abhängigen Innsbrucker Handschrift FB32001 (i), der Prager Handschrift X A 12 sowie deren Parallelüberlieferung eine in vielen Punkten divergente Textform des ‚Herz‐ maere‘. 141 Der Titel in w lautet daz ist daz hertz mere (10v) und entspricht den übrigen Titulaturen im Codex, in dem die Texte durchgängig mit Wendungen wie daz ist oder daz maere von beginnen. [Abb. 6, S. 243] Die Schlussverse des Prologs umfassen nur ein Verspaar. Das zweite Verspaar, das mit großer Festigkeit in den übrigen Handschriften vorhanden ist, steht hier nicht: 225 7.3 Codex Vindobonensis 2885 142 Ähnlich in S; l; m. Ko führt keinen Prolog auf. 143 Mit geringfügigen Varianten auch in Ko (8v); S (V. 200-207); l (130v); m (152r-152v). Daz man dar an gechisen muge Daz man da von nehmen mug Ein bilte daz der werlde tuge Ain pild daz zu der minn tug (w, 10v). Die lauter vnd die reine Sal sin vor allem meine (H, 346r). 142 Indem die besondere Wesenhaftigkeit der Minne nicht ausgeführt wird, verzichtet diese Prologfassung auf einen Teil der exemplarischen Geltungsbehauptung, sowohl bezüglich der beschriebenen Minne als auch der Erzählung selbst. Auffällig ist die Gestaltung des Liebesdialogs zwischen Dame und Ritter vor dessen Reise ins Heilige Land. Die Rede des Ritters zu seiner Geliebten, nachdem diese ihn um die Reise gebeten hat, enthält insgesamt 8 Verse nicht, die in allen anderen Handschriften vorhanden sind: Daz ich euch von rechte pin Eigenlichen vndertan Nv last mich euwer vrlaup han Vzerwelte vrauwe gut Vnd wizzet das min sender mut Nach euch muz grozzen kummer doln Ich pin so sere an euch verholn Mit herze vnd auh mit leibe (H, 347r/ Ed.V. 200-207). 143 Der Rede des Ritters fehlt damit nicht nur das eigentliche Liebesbekenntnis, sondern auch die im Modus des Minne-Dienstes gestaltete Rhetorik. In der Wiener Fassung gibt der Ritter nur die Zustimmung zu der Reise und äußert seine Angst, die Frau zu Lebzeiten nicht mehr wiederzusehen. Dafür fügt die w-Fassung einige Textpassagen ein, die ihrerseits keine Entsprechung in den übrigen Überlieferungsträgern haben. So wird die Bitte der Dame, dass der Ritter an ihrer Stelle ins Heilige Land fahren möge, um vier Verse ergänzt, in denen sie explizit darauf hinweist, dass es ihm nicht leid werden soll, wenn sie ihre eigene Reise nicht antritt: Daz darf dir nicht wesen lait Ob vnser fart nit wendig wirt Div fart vns paiden frawd pirt Peleib aber hie haim wir (w, 11v). Dies korrespondiert mit einem weiteren Zusatz, der an die Schilderung der Liebesleiden und Klagen des Ritters angefügt ist und noch einmal explizit darauf verweist, dass die Dame ihre Reise tatsächlich nicht antritt: Vntz das der werde ritter cluk Da nu der werd ritter klug Waz chömen über mer Sein kraft waz an wer 226 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 144 Die angedeutete Schuld der Dame wird durch die akzentuierte Verantwortung des Ehemannes zum Teil nivelliert. Vgl. W A C H I N G E R , Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert, S. 73f. Zur Schuldhaftigkeit der Dame siehe auch S. 91. 145 Die Textpartie ist in allen Überlieferungsträgern außerhalb der Gruppe w/ i+p 1 mit großer Überein‐ stimmung ausgeführt, einzig Don. 104 (l) führt das Turteltauben-Motiv nicht auf. Gentzleich von bechomen Dar nach het er vernomen Daz seiner lieben frawen fart Erwendet vnd vermiten wart Von des herren wegen Do nv der mer degen Der leiden mere sich versach (H, 347v/ Ed.V. 284f.). Der laidigen mer sich versach (w, 12v,13r). Unmittelbar auf diesen Einschub folgt die Erklärung des Ritters, dass er sterben muss, was sich nach den eingefügten Versen in einer anderen Akzentuierung liest: Die Wiener Fassung betont, dass es die Trennung von der Dame ist, die den Tod des Ritters bewirkt, die Er‐ kenntnis ihres Ausbleibens liest sich als finaler ‚Todesstoß‘. Auch die Verschiebung von leiden mere zur laidigen mer als schlechter Nachricht pointiert diese Lesart. Dabei wird die Schuld am Tod des Ritters in dieser Textgestalt weniger bei der Frau verortet, die die Reise nicht antreten will, sondern bei der Agitation des Ehemannes, der die Reise verhindert. 144 Signifikant abweichend gestaltet ist auch die voranstehende Beschreibung der Liebes‐ leiden des Ritters, die in w deutlich kürzer gefasst ist. Während die übrigen Redaktionen die Schilderung seiner Liebesqualen mit dem Turteltaubenvergleich und dem Verweis auf seinen ostentativen Verzicht auf alle Freuden gestalten, führt w diese Momente nicht auf: Sin alte sorge neuwe Alte sorg waz im new Nach ir suzzen minne wart Der reinen turteltauben art Tet er offenlichen schin Das er nach dem liebe sin Vermeit der grunen vrevden zwei Vnde wonte steticlichen bei Der durren sorgen aste Besaz er durch si vaste Des ward sin [leit] noch also stark Daz im der jamer durch diz mark Dranch biz in der sele grunnt Er wart so sere sorgen wunt Vnd innenclicher swere In jemerleicher swere Der sende merterere (H, 347v; Ed.V. 246-260). 145 Der send martrer (w, 12r). Mit der häufig genutzten literarischen Referenz auf die Turteltaube, die sich nur einmal im Leben bindet und nach dem Verlust des Gefährten stirbt, wird die Absolutheit der triuwe des Ritters verbildlicht und bereits eine Andeutung seines Liebestodes impliziert. Die im 227 7.3 Codex Vindobonensis 2885 146 Ähnlich J O B S T , Konrads von Würzburg „Herzmaere“, S. 22, die die Leiden des Ritters vor allem als topische Darstellung der Minnekrankheit sieht und feststellt, dass durch die Änderungen in w die „minnekasuistische Dimension des Märe deutlich in den Hintergrund tritt“. 147 Das Verspaar findet sich auch nicht in H, in den übrigen Handschriften wird es in vergleichbarer Form aufgeführt. Modus anachoretenhafter Weltabgewandtheit gestaltete Abkehr von der Freude und die gewollte Fokussierung auf den Liebesschmerz zeigt die unbedingte Bereitschaft, um der Minne willen zu leiden. Auch die geradezu physiologisch gestaltete Wirkung des Tren‐ nungsschmerzes, die deutlich auf die Kasuistik der Liebeskrankheit referiert, trägt zur Ab‐ solutierung der Liebesbindung bei. 146 Diese bildreiche Ausführung des Liebesleids ist in w komplett ausgelassen, womit wesentliche Momente der exzeptionellen Minne-Bindung ge‐ tilgt werden. Die w-Fassung kürzt mehrfach die Verweise, mit denen in den übrigen Handschriften wiederholt daran erinnert wird, dass die Dame die Ursache für den Tod des Ritters ist, so etwa in der Rede des sterbenden Ritters zu seinem Knappen: Wan ich enphinde leider wol Ich versich mich des wol Benamen das ich sterben sol Daz ich penamen sterben sol Nach miner lieben vrowen Wen si mich hat verhowen Bis vf den tot mit sender clage Dar vmme tu was ich dir sage Wen ich bin vertorben Vnd alhie erstorben Durch das vil minnencliche wip (H, 347v; Ed.V. 289-297). Durh daz vil raine weib (w, 12v). Auch die Segenswünsche an die Geliebte, die der Ritter unmittelbar vor seinem Ableben ausspricht und die mit einer erneuten Explikation der Dame als ‚Todesursache‘ verbunden werden, sind nicht enthalten: Vnd geruche der vil lieben geben Vreud vnd wunnenclicher leben Durch die ich hie muz ligen tot (H, 348r; Ed.V. 331ff.). Ein ähnlicher Verweis wird bei der Schilderung des Knappen ausgespart, als dieser die Burg der Dame erblickt. Hier wird zumeist ein Verspaar aufgeführt, in dem der unmittelbare Kausalzusammenhang zwischen der Dame und dem Tod des Ritters quasi als Attributierung genannt wird: Durch die der liebe herre sin Leit des grimen todes pin (S, V. 349f.; Ed.V. 346f.). 147 Die Wiener Handschrift reduziert durch diese Aussparungen die in den übrigen Redakti‐ onen oft repetierten Verweise auf die ‚Schuld‘ der Dame am männlichen Liebestod. Ebenfalls ausgespart ist die acht Verse umfassende Reflexion des Ehemannes, der den Knappen nicht nur augenblicklich als Liebesboten des Ritters erkennt, sondern auch, ent‐ 228 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 148 Zur Rolle des Ehemannes im ‚Hermaere‘ siehe auch S. 124; S. 181f. gegen seiner anfänglich geäußerten Überzeugung, durch die Trennung Vergessen zu be‐ wirken, von einem Fortdauern der Liebessehnsucht ausgeht: Wan der ritter in ersach Da gedaht er im santzuhant Zwar der iz her gesant Vmme anders nicht wan vmme diz Daz er der mere ettewas Bringe minem wibe Von sines herzen libe Der nach ir sende minne treit (H, 348r; Ed.V. 358-365). Diese Partie trägt in den übrigen Redaktionen wesentlich zu der Ambivalenz und doppel‐ deutigen Funktionalisierung der Figur des Ehemannes bei. Obwohl dieser als Movens der Trennung der Liebenden und durch sein Rachehandeln grundsätzlich negativ besetzt ist, wird er paradoxerweise zu der Instanz, die das Ausmaß der Liebe und des Leids erkennen und, stellvertretend für den gestorbenen Ritter, artikulieren kann. Weil er die Zeichenhaf‐ tigkeit der Liebe lesen kann, erkennt er in dem Knappen intuitiv den Liebesboten. Dass diese Verse in w fehlen, mindert die ambivalente Darstellung des Ehemannes, es wird aber auch ein Teil der außergewöhnlichen Zeichenhaftigkeit des Liebesgeschehens relati‐ viert. 148 Die umfangreichste Abweichung von der Textform der übrigen Überlieferungen findet sich bei dem Geschehen um das zentrale Motiv des gegessenen Herzens. Im Folgenden werden die umfangreichen Divergenzen in dieser Textpartie anhand der signifikantesten Passagen dargestellt. Die wohl bemerkenswerteste Variante stellt die Beschreibung der Zubereitung des Her‐ zens dar, indem der Ehemann dem Koch den Befehl gibt, alle übrigen Gerichte zu versalzen und damit ungenießbar zu machen: Du solt auch merken da pey Waz speyse hie inder chuchen sey Div sol versaltzen werden Daz ir auf der erden Nieman mug geniezzen Des la dich nicht verdriezzen (w, 13r). Erst nachdem die Frau mehrere versalzene Gerichte probiert hat, erhält sie das Herz: Der koch het nicht vergezzen Versaltzen waz daz ezzen Daz man es wider dannen trug Dar umb wart er gescholten genug So jüngst trug man ze tisch Daz tot herz frische (w, 13v). 229 7.3 Codex Vindobonensis 2885 149 Die Verse stehen ebenfalls nicht in H. 150 Siehe S. 93. 151 In der Frage der Frau nach der Herkunft der Speise ist das Begriffspaar zam-wilde allerdings auch in Wien 2885 enthalten: ist dise spise lobesam/ gewesen wild oder zam (13vb). Im Gegensatz zu den anderen Handschriften wird der Vergleich aber nicht durch den Ehemann für die poetische Expli‐ kation des Liebesleids aufgegriffen. In den übrigen Redaktionen wird das Herz mit Sorgfalt präpariert und unmittelbar nach dem Verzehr erklärt, dass es der Frau als die beste je genossene Speise erscheint; diese besondere Wirkung der Speise wird in w nicht benannt: Also daz su nut wart gewar Daz si me wart gewar Welher slahte es moehte sin Welher hand ez mocht gesein Daz iemerliche trehtelin Dat jemerleich speiselin Suezse duht es werden munt Daz su do vor ze keinre stunt Nie dekeine spise gas Der gesmag ir ie geviele bas Do die frowe stete Daz herze gessen hette Do des der ritter wart gewar Do sprach der herre alzehant (S, V. 434-443; Ed.V. 432-441). 149 Er sprah zu der frawen dar (w, 13v). Auf die Frage des Ehemannes, ob es nicht das Süßeste sei, was sie je gegessen habe, nennt die Frau das Herz nicht wie in den übrigen Textträgern einen überhort aller je gegessenen Speisen (H, 348v; Ed.V. 454). Erst auf die Rückfrage des Ehemannes bemerkt die Dame auch hier analog zu den übrigen Redaktionen, dass die Speise süß war, was nach den vorher‐ gehenden Gerichten allerdings nicht mehr sehr erstaunlich anmutet. Die wundersame Wirkung des Herzens wird hier zu einer auf Sinnestäuschung basierenden List reduziert und damit zu einem weitaus profaneren, menschengemachten Ereignis gemacht. Die christ‐ lichen Assoziationen, die der süeze des Herzens innewohnen, kommen in w nicht zum tragen. 150 Während in den übrigen Textzeugen dem Herzessen eine besondere, religiös auf‐ geladene Zeichenhaftigkeit und Wirkmächtigkeit eigen ist, nimmt die Wiener Fassung dem Text viel von dieser aus sich selbst heraus wirkenden Macht des Liebesgeschehens. Auch die darauf folgende Rede des Ehemannes, als er der Frau die Herkunft der Speise erklärt, unterscheidet sich von den übrigen Überlieferungsträgern. Der zam-wilde Ver‐ gleich, der analog zum Turteltaubenmotiv die vollkommene Fokussierung des Ritters auf sein Liebesleid verbildlicht, ist nicht enthalten: 151 Da sprach der riter aber zu ir Er sprach fraw gelaub mir Vernim was ich nv sage dir Der riter der mit dinst dir Vnd mit worten hie bescheide Zam und wilde peide Was diez gerihte sa mir got Den freuden wilde ane spot Den sorgen zam an underlas Was ye berait an vnderlaz 230 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile Dv hast des ritters herze gas (H, 348v; Ed.V. 459-466). Des selbn herz hast du gaz (w, 13v). Ebenfalls nicht ausgeführt ist in der Wiener Fassung der Hinweis des Ehemannes, dass der Ritter ihr das Herz und den Ring als Urkunde gesandt hat: Vnd hat dir das herze sin Vnd daz gute vingerlin Zu vrkunde her gesant Mit sime knechte in ditz lant (H, 348v; Ed.V. 473-476). Die w-Fassung spart damit wesentliche Momente aus, mit denen die Exzeptionalität der Minne inszeniert wird: Dass gerade der Ehemann als Gegenspieler der Liebenden zur auk‐ torialen Instanz wird, die die Liebessymbolik erkennt und vom Liebestod des Ritters zu berichten weiß, gibt der Protagonistenliebe im ‚Herzmaere‘ eine Eigenlogik und Tragweite, die über zwischenmenschlichen Antagonismen und kausaler Logik steht. Das elaborierte zam-wilde-Sprachspiel und der Verweis auf die Intention von Herz und Ring als Liebesur‐ kunde lassen seine Rolle als Widerpart der Liebenden in der übrigen Überlieferung geradezu in den Hintergrund treten. Dass diese Momente in w ausgespart werden, trägt zu der ko‐ härenteren Inszenierung des Ehemannes als rächende Figur bei. Analog zu dem stark gekürzten Liebesmonolog des Ritters vor seinem Sterben erscheint auch die lange Rede der Frau, als sie Kenntnis über die Herkunft der Speise erlangt, in w in deutlich kürzerer Form. So fehlen gegenüber den anderen Textzeugen acht bezeichnende Verse, mit denen sie das Geschehen durch formelhafte, christlich konnotierte Wendungen in Analogie zur Passion setzt und ihre Verpflichtung zum Vergelten des Liebesopfers an‐ deutet: Einpeizen sol ich nimmer me Ich enpeizz nymmer me Keiner slachte dinges Chainer hande dings Den des vngelinges Wan des vngelings Der geheizen ist der tot Daz gehaizzen ist der tot Ich sol mit sender herzen not Verswenden nv min armes leben Vmb in der durch mich hat gegeben Beide leben vnde lip Ich wer ein treuweloses wip Ob ich gedechte nicht dar an Daz der tugenthafte man Sante mir sin herze tot We das mir ie nach siner not Owe daz mir nach sein not Wart einen tach das leben schin (H, 349r; Ed.V. 498-511). Je tag wart dz leben schein (w, 14r). Auch die unmittelbar anschließende Beschreibung des Liebestodes der Frau ist in w anders gestaltet als in den übrigen Handschriften, indem der wechselseitige Liebestod nicht mehr in unmittelbaren Zusammenhang zur Treue der Liebenden gesetzt wird. In den anderen Textzeugen hebt die Frau Treue des Ritters hervor, die sie vergelten will und es wird auch die besondere Treue herausgestellt, mit der die Frau das Opfer des Geliebten aufwiegt. Diese Momente fehlen in w, stattdessen wird ihr Tod als jemerliche tat bezeichnet: 231 7.3 Codex Vindobonensis 2885 152 Zur kurzen Schlussrede siehe auch S. 181f. 153 Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. XX. 154 Zur europäischen Erzähltradition des Erzählmotivs des gegessenen Herzens und der Akzentuierung des Rachehandelns siehe S. 84ff.; S. 182. Zwar ez mag lenger nicht gesin Ez mag auch nicht gesein Das ich an in emen lebe Daz ich hie allain leb Vnd er in dem tode swebe Vn er dort in dem tod sweb Der vor mir treuwe nie verbarch Sust wart ir not so rechte starch Das si von herzen leide Ir blanken hende beide Mit grimme in ein ander vielt Ir hend si ze samen vielt Das herze ir in dem libe spielt Daz hertz ir in dem leib spielt [ … ] […] Si galt mit gantzer stete Mit vil jemerlicher tat Vnd auch mit hohen treuwen im (H, 349r; Ed.V. 528f.). So vergalt si im (w, 14r). Der Epilog wird auch in w in der kurzen Fassung ausgeführt, die weder die Betonung der besonderen Beispielhaftigkeit des Geschehens noch die erneute Anspielung auf die Gott‐ friedsche Publikumsgemeinschaft der edelen herzen aufführt, sondern in wenigen Versen das Geschehen bedauert und den Ehemann für sein Handeln tadelt. 152 Die Schlussrede in w gleicht weitgehend der in H und S, allerdings führt sie den Verweis auf die dörperheit des Ehemannes nicht aus: Also nam si ir ende Daz got den ritter schende Daz er der speise ye gewug Da von ir hertz jamer trug Ain an aim getrewn weib Dew red also beleib Ditz gut maer hat ain end So got den ritter schend. Amen (w, 14r). Das ‚Herzmaere‘ weicht in w in einigen Bereichen erheblich von den übrigen Handschriften ab. Die veränderte Inszenierung des Herzessens, die Schröder im Kommentar zur Edition als eine „groteske geschmacklosigkeit“ ohne besondere inhaltliche Relevanz bezeichnet, 153 bedingt eine deutliche Umsemantisierung, die aus dem wundersamen, sakral aufgeladenen Geschehen einen profaneren Vorgang von Rachehandeln und List macht, der das ‚Herz‐ maere‘ näher zu der aus der Erzähltradition bekannten Literarisierung einer Rachege‐ schichte zurückführt. 154 Entsprechend wird die Funktion des Ehemannes, die Intensität des Liebesleids zu bezeugen, hier zum Teil relativiert. Stattdessen wird dieser in seiner nega‐ tiven Agitation herausgestellt, die auch unmittelbar als Ursache für die Trennung und damit das Sterben des Ritters benannt wird. In dieser Betonung des kalkulierten Rachehandelns ist es auch sinnhaft, dass der Ehemann nicht wie in den übrigen Textzeugen mit kurzer Schlussrede für seine dörperheit gescholten wird. 232 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 155 J O B S T , Konrads von Würzburg „Herzmaere“, beschreibt die Divergenzen im Textbestand der Wiener Handschrift. Der Entstehungskontext der varianten Textgestalt, insbesondere der Zusammenhang mit der Sammlungsumgebung, ist dabei nicht Gegenstand der Betrachtung. Jobst liest das ‚Herz‐ maere‘ als konsequente Ausführung einer ars amandi und konstatiert durch die Varianten in w eine Fokusverschiebungen von der Minnekasuistik zu einer intensiveren Ausgestaltung des erzähleri‐ schen Elements und einer Handlungsplausibilisierung. Dabei behandelt der Beitrag vorrangig die Veränderungen bei der Beschreibung des Ritters und die Beschreibung der Herzzubereitung; die übrigen Passagen, vor allem die Schlussrede, werden nicht besprochen. Die Verschiebungen in der exemplarischen Wirkung, gerade hinsichtlich der religiösen Konnotationen, sind nicht Gegenstand der Überlegungen von Jobst. 156 Vgl. G Ä R T N E R , Neue Philologie und Sprachgeschichte, S. 11. 157 B U M K E , Der unfeste Text, S. 124. Zur Abgrenzung von Fassungen siehe S. 48f. 158 Zotz stellt bei der Untersuchung der Handschriften w/ i fest, dass die Zusammenstellung und Prä‐ sentation gleichzeitig eine Interpretation der Texte bedingt. Vgl. Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 372. Auch die zahlreichen Kürzungen in den Reden von Dame und Ritter bedingen in der Gesamtschau eine andere Lektüre des Textes. Die herausragende triuwe des Ritters, die Absolutheit seines Liebesschmerzes, wird durch die Aussparung mehrerer signifikanter Passagen teilweise nivelliert. Ebenso ist die Überhöhung des Todes der Frau, bei dessen Darstellung die christlichen Analogien reduziert werden, weniger akzentuiert ausge‐ spielt. 155 In der Summe haben die divergent gestalteten Passagen in w inhaltliche Kohärenz, indem die Beispielhaftigkeit der dargestellten Minnehandlung weniger hervorgehoben wird. Das ‚Herzmaere‘ liest sich nicht mehr konsequent als Auratisierung eines verabsolutierten und überexemplifizierten Minnegeschehens, sondern auch als Rachekasus. In dieser Fassung hat die kurze Schlussrede, die die erzählte Geschichte nicht zu einem Exempel für Liebe und Leidensbereitschaft macht, sondern das Moment ehelicher Rache hervorhebt, eine größere Plausibilität als in anderen Überlieferungsträgern. Das Überlieferungsbeispiel in w verweist exemplarisch auf die Problematik der Vereinze‐ lung von Textvarianten im Lesartenapparat. Selbst wenn die einzelnen Varianten voll‐ ständig im textkritischen Apparat verzeichnet sind - was bei der Edition des ‚Herzmaere‘ nicht der Fall ist -, werden diese kaum in ihrer zusammenhängenden, sinnstiftenden Text‐ gestalt wahrgenommen; die inhaltliche Signifikanz ergibt sich aber erst aus der Summe und dem Zusammenspiel der variierenden Passagen. 156 Trotz der Problematik, die der Katego‐ risierung von eigenständigen Fassungen inhärent ist und die aus den schwer validierbaren Parametern von Sinnveränderung und Intentionalität herrührt - die Textform der Wiener Handschrift stellt nicht nur durch die Quantität der Textvarianten, sondern vor allem durch ihre Qualität, durch ihr sinnveränderndes Potential, eine eigene Fassung des ‚Herzmaere‘ dar, der ein eindeutig bestimmbarer „unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungs‐ wille“ zugrunde liegt. 157 In der Wiener Sammlung, in der Minne vorrangig in schwankhaft-parodistischer Weise im Kontext von Verführung und Ehebruchhandlungen vorgeführt wird, liest sich das ‚Herz‐ maere‘ mit anderen Konnotationen als in der Einzelrezeption oder in Zusammenstellungen, die stärker einer normativen Minnekasuistik verpflichtet sind. 158 Der Text integriert sich nicht durch die exemplifizierend-belehrenden Semantiken des Minnekasus in die Samm‐ 233 7.3 Codex Vindobonensis 2885 159 Sammlungsübersicht S. 244ff.; Abb. S. 247. lung, sondern bildet vor allem durch die narrative Komponente einer Geschichte über ver‐ hinderte Liebe bzw. vereitelte Liebesvereinigung und eheliche Rache intertextuelle Relati‐ onen zum übrigen Korpus. Im Kontext der Sammlung wird eine Lektüre des ‚Herzmaere‘ geprägt, die im Kontrast zu den exemplarischen Semantiken des Textes steht. Insbesondere bietet das textuelle Umfeld keine besonderen Anknüpfungsmöglichkeiten für die geistli‐ chen Sinnebenen des ‚Herzmaere‘ an. Der Sammlungskontext prägt vielmehr eine beson‐ ders säkularisierte Lesart, in die sich die spezifische Textform durch die Aussparung vieler religiös konnotierter Wendungen kohärent einfügt. Das ‚Herzmaere‘ steht zwischen ‚Der Hellerwertwitz‘ und ‚Die halbe Decke‘, die jeweils Ordoverstöße sanktionieren, indem im erststehenden Text eine Ehefrau ihren Mann vom Ehebruch ‚kuriert‘ und im nachstehenden Text ein Sohn seinem Vater die Hartherzigkeit gegenüber dessen Vater bewusst macht. Die Korrektur des Fehlverhaltens wird jeweils über ein komisches Moment erzeugt, dennoch generieren die Texte eine belehrende Aussage. Die beiden Co-Texte implizieren auch für das ‚Herzmaere‘ eine Lesart, die das Moment der listreichen Sanktionierung des Ehebruchs in den Fokus rückt. Das ‚Herzmaere‘ korrespon‐ diert insbesondere mit dem unmittelbar voranstehenden Text über das Moment der Resti‐ tution ehelichen Rechts. Die Ehefrau im ‚Hellerwertwitz‘ verleidet ihrem Mann den Ehe‐ bruch, indem sie ihm eine Loyalitätsprobe seiner Geliebten abfordert, die deren lieblose Berechnung offenlegt und ihn zu seiner Frau zurückbringt. Auch im ‚Herzmaere‘ versucht der Ehemann zunächst eine Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft, indem er die Liebenden trennt. Im Gegensatz zum ‚Hellerwertwitz‘ misslingt seine List allerdings, die folgende unmäßige Rachehandlung macht den Text zu einem kontrastierenden Negativ‐ beispiel zu der gelungenen List im ‚Hellerwertwitz‘. Die spezifische Textform, die das Ra‐ chehandeln betont und die elaborierten Liebessemantiken mindert, machen das ‚Herz‐ maere‘ zwar nicht zu einer Schwankgeschichte, bedingen aber größere Korrespondenzen mit den umgebenden Texten. Die unmittelbaren Co-Texte sowie das schwankhaft geprägte diskursive Profil der Sammlung als Ebenen der kontextuellen Rahmung wirken sich zweifellos auf die Rezeption des ‚Herzmaere‘ aus. Gleichzeitig legen die zahlreichen unikalen Texte und Textfassungen auch die Möglichkeit nahe, dass sich die divergenten Textgestaltungen des ‚Herzmaere‘ und anderer enthaltener Dichtungen der gezielten Einpassung in das thematische Profil der Wiener Sammlung verdanken. Dabei sind die Ebenen der Textauswahl und -zusammen‐ stellung und die der Formgebung des Einzeltextes offenbar sinnstiftend miteinander ver‐ bunden. Auch wenn die genaue Genese der Textzusammenstellung und der varianten Form einzelner Texte nicht verbindlich dem Schreiber von w zugeschrieben werden kann, dürfte w ein Beispiel für eine weitreichende Umsetzung schreiberischer und kompilatorischer Autonomie sein. 7.3.3 Innsbruck FB 32001 - Homogenisierung des Schwankhaften Der Codex Innsbruck FB 32001 (i) 159 ist nah verwandt mit Wien 2885. Vermutlich handelt es sich bei der ebenfalls in Innsbruck entstandenen Handschrift i um eine über eine Zwi‐ 234 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 160 Vgl. S C H M I D , Codex Vindobonensis, S. 7. Die neuere Handschriftenbeschreibung von Sandbichler (ders., Handschriftenkatalog des Museum Ferdinandeum, S. 154) führt Brixen als möglichen Entste‐ hungsort der Handschrift an. Während Schröder auf Grund der großen Übereinstimmung im Textbestand des ‚Herzmaere‘ i als unmittelbare Abschrift von w ausgewiesen hat (vgl. Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. XX), geht Zwierzina auf Grund von Lücken in anderen Partien der Handschrift (21v, 22r), die auf eine beschädigte Vorlage schließen lassen, von einer verloren gegangenen Zwi‐ schenstufe aus, da Wien 2885 an diesen Stellen unbeschädigt und gut lesbar ist. Vgl. Z W I E R Z I N A , Die Innsbrucker Ferdinandeumhandschrift, S. 158f.; ebenso Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 352. 161 Vgl. Sammlung kleinerer deutscher Gedichte, hg. W O L F , S. 13f. 162 Vgl. z.B. Z O T Z , Sammeln als Interpretieren; Sammlung kleinerer deutscher Gedichte, hg. W O L F . Mihm geht davon aus, dass der zweite Schreiber seine Arbeit nicht viel später beendet hat als der des ersten Teils. Vgl. M I H M ,Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 96. 163 S A N D B I C H L E R , Handschriftenkatalog des Museum Ferdinandeum, S. 154. 164 Vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 243. schenstufe entstandene Kopie von w. 160 Die in bairisch-österreichischer Schreibsprache verfasste Handschrift besteht aus zwei Teilen, die jeweils von einer Schreibhand gefertigt wurden. Der erste Teil (1-57; fol.1-88) entspricht im Wesentlichen dem Bestand von w, ein Kolophon auf der letzten beschriebenen Seite (88v) nennt das Jahr 1456 als Zeitpunkt der Fertigstellung. Ein Zusatzvers am Ende des zweiten Textes ‚Der Hellerwertwitz‘ also spricht der peterman (7v) verweist möglicherweise auf den Schreibernamen Petermann, der als Personenname seit dem 14. Jahrhundert in Tirol belegt ist, gesichert ist dieser Befund jedoch nicht. Zu Auftraggeber oder Entstehungshintergrund der Handschrift lassen sich keine Angaben machen. 161 Die zeitliche Fertigstellung des zweiten Teils (89-113), der Konrads von Stoffeln ‚Gauriel von Muntabel (58) und den Anfang von Rudolfs von Ems ‚Willehalm von Orlens‘ (59) ent‐ hält, ist im Codex nicht vermerkt; in der Forschung wird zumeist der Kolophoneintrag des ersten Teils als Datierung für den gesamten Codex herangezogen. 162 In der äußeren Gestaltung unterscheidet sich i deutlich von w. So ist das Format mit 295x210mm etwas größer gewählt, die ebenfalls zweispaltig angelegten Blätter sind dichter beschrieben und umfassen im ersten Teil jeweils zwischen 42 und 53 Zeilen, im zweiten Teil 42-52 Zeilen, auch sind die Schreibschriften, jeweils eine kursive Bastarda, weniger regelmäßig und sorgfältig ausgeführt. 163 Wie in w stehen die Texte im Verbund und werden durch rote Titulaturen klar voneinander abgegrenzt. Der Vorlage entsprechen auch die durchgehend vertikal ausgerichteten roten Striche in allen Versanfängen, die von der ersten Schreiberhand ebenfalls zu einer durchgehenden roten Linie verbunden wurden, im zweiten Teil dagegen gestrichelt sind, weiterhin die zweibis fünfzeiligen roten, in einigen Fällen auch grünen und blauen Anfangs- und Abschnittsinitialen, die aber mit merklich weniger Aufwand hergestellt worden sind als in w. Der Innsbrucker Codex ist mit kolorierten Federzeichnungen ausgestattet und stellt damit die einzige bebilderte Kleinepiksammlung dar. 164 48 der 57 Texte des ersten Teils sind mit Illustrationen versehen, vier weitere Texte waren ursprünglich offenbar ebenfalls illu‐ 235 7.3 Codex Vindobonensis 2885 165 Vgl. Z W I E R Z I N A , Die Innsbrucker Ferdinandeumhandschrift, S. 160; Z O T Z , Sammeln als Interpre‐ tieren, S. 364. Lediglich ‚Der Hellerwertwitz‘, ‚Die drei Wünsche‘, ‚Adam und Eva‘ sowie die Pre‐ digtparodien von ‚Ave Maria‘ und ‚Paternoster‘ sind unbebildert. Zotz mutmaßt, dass die Predigt‐ parodien auf Grund eines fehlenden szenischen Gehalts und die Versnovellen durch ihre abstrakten Überschriften schwer zu bebildern waren (vgl. Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 364ff.). Fraglich ist allerdings, warum gerade diese Texte als abstrakter empfunden werden sollten als z.B. ‚Der Minne Klaffer‘ oder andere Redetexte, die ebenfalls keinen szenischen Gehalt haben bzw. warum die Illust‐ rationen nicht auf Basis einer genaueren Textkenntnis erstellt worden sein sollten. 166 Einzig ‚Pyramus und Thisbe‘, ‚Minner und Trinker‘, ‚Der Sperber‘, ‚Der Schlegel‘ und auch das ‚Herzmaere‘ sind mit zwei bzw. zweiteiligen Zeichnungen versehen. Die beiden Illuminationen zum ‚Herzmaere‘ stellen ein rotes Herz in einem grünen Gefäß dar (8v, siehe Abb. 7, S. 247), das zwischen die Textspalten gemalt ist. Im Text findet sich noch eine zweite Zeichnung auf fol. 10v, die zumeist als Amor mit Pfeil und Bogen identifiziert wird (vgl. H E R M A N N , Die illuminierten Handschriften in Tirol, S. 103). Zotz ordnet die Zeichnung dagegen nicht dem ,Herzmaere’, sondern der auf der ge‐ genüberliegenden Seite beginnenden ‚Die halbe Decke‘ zu. Die Abbildung stelle nicht Amor, sondern einen Jungen mit einer Armbrust dar, damit passe sie zur ‚Halben Decke‘, in der der Sohn des geizigen Mannes beim Schießen mit seiner Armbrust zufällig seinen bettlägerigen Großvater findet, welcher direkt gegenüber im unteren Teil von fol. 11r abgebildet ist. Die Zuordnung hat auch deshalb Plau‐ sibilität, da Amor nur sehr indirekt im Zusammenhang mit dem Inhalt des ‚Herzmaere‘ steht, wäh‐ rend die übrigen Illustrationen in i stets ganz unmittelbar Figuren und Motive der Texte aufgreifen (vgl. Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 362f.). Ganz eindeutig ist die Neuzuordnung der Abbildung allerdings nicht, da die Figur nackt dargestellt ist, was wiederum ein Indiz für eine Amor-Darstellung sein kann. 167 Vgl. Hermann, für den die Federzeichnungen „höherer künstlerischer Bedeutung“ entbehren und „nur zur Erläuterung des Textes“ dienen (H E R M A N N , Die illuminierten Handschriften in Tirol, S. 103). Wolf hält dagegen einen Zusammenhang von Text und Bildern für möglich (vgl. Sammlung kleinerer deutscher Gedichte, hg. W O L F , S. 18). Erst Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, geht der Frage nach dem Text-Bild-Zusammenhang und einer Funktion der Bilder jenseits ihrer qualitativen Einordnung nach. 168 Illustrationen in Handschriften dienen keineswegs nur der Dekoration, sondern stellen wichtige Repräsentationsformen für die enthaltenen Texte dar. Abbildungen können verschiedenste Funkti‐ onen zukommen, indem sie den Text z.B. ordnen und gliedern, kommentieren, akzentuieren oder vorab über seinen Gegenstand informieren und damit den Zugang zum Text erleichtern. Vgl. M E I E R , Paratextuelle Introduktion, S. 167ff. miniert, wobei die Zeichnungen durch Blattverlust verloren gegangen sind. 165 Erhalten sind insgesamt 51 Zeichnungen, zumeist ist jeder Text mit einem Bild versehen. 166 Bei der Aus‐ führung waren offensichtlich zwei verschiedene Illustratoren beteiligt, die Zeichnungen unterscheiden sich deutlich hinsichtlich der Ausführung von Gesichtern, Faltenwurf und Farbigkeit. Die Illuminationen stehen unterhalb oder am Rand der Texte, offenbar ist gezielt Platz dafür gelassen worden, so dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit von vornherein in der Handschrift eingeplant waren. Inhaltlich bzw. in ihrem Text-Bild-Bezug sind sich die Illustrationen sehr ähnlich, es handelt sich immer um die Abbildung einer kennzeichnenden Szene oder eines prägnanten inhaltlichen Merkmals. Die Referenzen der Bilder auf die Textinhalte sind recht eindeutig, Rückschlüsse auf eine weitergehende diskursive oder kommentierende Vermittlungsebene lassen sich nicht ableiten. Den Zeichnungen wurde, auch aufgrund ihrer schlichten, zum Teil flüchtigen Gestaltung, in der Forschung wenig Bedeutung beigemessen. 167 Indem die Zeichnungen stets auf der Seite des jeweiligen Textbeginns stehen, kommt ihnen aber eine textgliedernde Funktion zu, sie markieren deutlich die durch die Einzeltexte gesetzten Zäsuren im Codex. 168 Die Bilder kennzeichnen die Textanfänge; auch wenn meh‐ 236 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 169 Vgl. Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 362. Problematisch erscheint allerdings die Schlussfolge‐ rung von Zotz, die die Textpräsentation als Beleg für eine ausschließlich punktuelle Einzeltextre‐ zeption sieht und eine „lineare Rezeption“ kategorisch ausschließt. Es ist aber fraglich, warum eine formale Gleichheit in der Textgestaltung und die Markierung von Textanfängen durch Bilder einer sukzessiven, zusammenhängenden Lektüre und einer wechselseitigen Beeinflussung in der Rezep‐ tionswirkung entgegen stehen und auch noch als Befund für alle kleinepischen Sammlungen gene‐ ralisiert werden sollten. 170 Zwar finden sich in i gegenüber w Varianten in der Graphie, diese lassen sich aber zum großen Teil auf geänderte Schreibgewohnheiten und Fehlerausgleich im Abschreibevorgang zurückführen. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 97f. 171 Die Umstellung könnte in thematischen Analogien zu den Co-Texten begründet sein. Zum einen stellt die Kaufmannsfigur eine Parallele zum voranstehenden ‚Der Hellerwertwitz‘ her, außerdem sind die beiden Versnovellen durch das gemeinsame Thema der listreichen Revanche für eheliche Untreue miteinander verknüpft (vgl. W E S T P H A L , Textual poetics of German manuscripts, S. 80; M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 98f.). An dieses Motiv schließt auch das folgende ‚Herzmaere‘ an, so dass die drei Texte in i eine thematisch korrespondierende Kleingruppe bilden. 172 Nicht aus w übernommen sind ‚Der Rabe mit den Pfauenfedern‘, ‚Cato‘, ‚Die goldene Schmiede‘, ‚Der milde König‘, ‚Vom Antichrist‘, ‚Von drei Wappen‘, ‚Der ernsthafte König‘, ‚Der König im Bade‘, ‚Der Württemberger‘, ‚Der Magezoge‘, ‚Die Legende vom heiligen Kreuz‘. 173 Z I E G E L E R , Kleinepik im spätmittelalterlichen Augsburg, S. 321. rere kurze Texte auf derselben Seite beginnen, wird jeder einzelne mit einer Illustration versehen. Ihnen kommt damit auch eine Finde- oder Registerfunktion zu, durch die ein direkter Zugriff auf einzelne Texte erleichtert wird. 169 Die Zeichnungen führen durch die regelmäßige Anordnung von einem Bild je Text die homogenisierende Konzeption des Codex auch auf der Bildebene fort. Ist die äußere Gestaltung von i vor allem aufgrund der Illuminationen markant von der in w geschieden, stimmen Textreihenfolge und Wortbestand der Einzeltexte weitgehend überein. 170 Lediglich das ‚Wachtelmäre‘ wurde nur teilweise abgeschrieben, außerdem wurde ‚Das Schneekind‘, das in w an 37. Stelle steht, in i an 3. Stelle im Anschluss an ‚Der Hellerwertwitz‘ platziert. 171 Auch die Gestaltung des ‚Herzmaere‘ in i weicht nicht von der Vorlage ab, der Text ist, abgesehen von geringfügigen Divergenzen in einigen Schreib‐ weisen, praktisch wortgetreu übernommen worden; auch die Anzahl und Positionierung der Abschnittsinitialen stimmt überein. Von den 68 in w enthaltenen Texten wurden insgesamt 11 nicht in i übernommen, wobei die Aussparungen eine gezielte Eliminierung von Dichtungen nahelegen, die nicht in das schwankhafte Sammlungsprofil passen. 172 Nicht aufgenommen wurden vorrangig Texte mit ernsthaftem und belehrendem Impetus, insbesondere geistliche Texte. So sind der ‚Cato‘, ‚Die goldene Schmiede‘ und ‚Vom Antichrist‘ nicht enthalten, die in w Zäsuren in der the‐ matischen Konzeption markieren. Auch ‚Der ernsthafte König‘ ist nicht aufgeführt, der mit seiner moralisierenden Negierung des Lachens konträr zu dem dominanten Modus schwankhafter Unterhaltung steht. Nicht aufgenommen ist weiterhin die gesamte ab‐ schließende Textformation geistlicher Texte. Die Innsbrucker Abschrift erreicht damit noch stärker eine inhaltliche Einheitlichkeit von Texten mit unterhaltendem, weltlichem und wenig lehrhaftem Charakter, aus der ge‐ genüber w „alles Nicht-Komische eliminiert wurde“. 173 Die Sammlung ist damit „fast ganz 237 7.3 Codex Vindobonensis 2885 174 M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 98. 175 Z O T Z , Sammeln als Interpretieren, S. 360. 176 Nicht nur entspricht der erste Teil weitgehend der Vorlage und wird dieser entsprechend mit dem ‚Heinrich von Kempten‘ abgeschlossen, es ist auch nur dieser Teil des Codex mit Illustrationen ver‐ sehen. Der zweite Schreiber hat zunächst die frei gebliebenen fünf Blätter mit dem Anfang des ‚Gau‐ riel‘ gefüllt und dann weitere 20 Blätter einer anderen Papiersorte beschrieben, die dem Codex of‐ fenbar nachträglich hinzugefügt wurden. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 96. 177 In der Handschrift ist der Beginn des ‚WvO‘ durch eine neuzeitliche Bleistiftnotiz markiert. 178 Der ‚Gauriel‘ wird in i ohne den Schluss aufgeführt, gegenüber der insgesamt umfangreicheren Re‐ daktion in der Parallelüberlieferung fehlen gut 120 Verse. Die eingefügte Partie aus dem ‚WvO‘, ein Abschnitt aus der Jugendgeschichte Willehalms, als dieser nach Empfang der Lehen seines Ziehvaters in Brabant freudig als neuer Herrscher empfangen wird, kann kaum als eine sinnstiftende Fortfüh‐ rung des ‚Gauriel‘ aufgefasst werden. Gemeinhin wird deshalb nicht von inhaltlichen Zusammen‐ hängen zwischen den aneinandergefügten Textpartien ausgegangen. Der unvermittelte Abbruch des ‚Gauriel‘ wurde zumeist durch eine fehlerhafte Bearbeitung des Schreibers begründet, der bei der Kopie einer beide Romane umfassenden Vorlage eine falsche Lage abzuschreiben begann, so dass das Ende des ‚Gauriel‘ und der Anfang des ‚WvO‘ ausgelassen wurden. Achnitz bezweifelt zwar, dass eine so umfangreiche Textpartie (über 3000 Verse beim WvO) ‚übersehen‘ wurde, da es aber auch keine Hinweise auf eine Fortführung des ‚WvO‘ im Innsbrucker Codex gibt, bleibt die Frage nach dem Hintergrund der Zusammenführung der Texte ganz offen. Vgl. Der Ritter mit dem Bock, hg. A C H N I T Z , S. 44f. 179 Vgl. Sammlung kleinerer deutscher Gedichte, hg. W O L F , S. 17f. zu einer Revue merkwürdiger und unterhaltsamer Fälle geworden“, 174 die das schwankhafte Profil der Wiener Sammlung noch kohärenter umsetzt. Einen Unterschied zu w stellen auch die Schreiberzusätze an den Textenden dar, die praktisch wörtlich mit w übereinstimmen, in denen aber das „Amen“, das in w viele Texte beschließt, grundsätzlich nicht übernommen wird, womit die „Entgeistlichung“ der Sammlung fortgeführt wird. 175 Der von der zweiten Schreiberhand erstellte zweite Teil des Codex stellt offenbar eine nachträgliche Erweiterung dar. 176 Der ursprüngliche Schlusstext ‚Heinrich von Kempten‘ wird durch Konrads von Stoffeln ‚Gauriel von Muntabel‘, an den ohne Titel und sonstige Markierung ein Auszug aus Rudolfs von Ems ‚Willehalm von Orlens‘ (V. 3213-3258) ange‐ fügt ist, 177 zu einem epischen Teil der Handschrift erweitert, wobei die hinzugefügten groß‐ epischen Dichtungen keine besonderen Bezüge zu der voranstehenden kleinepischen Sammlung erkennen lassen. 178 Der Vergleich von w und i bringt einen ähnlichen Befund zu Tage wie der von H und K: Selbst bei der offensichtlichen Adaptation einer Vorlage können neben der reinen Kopier‐ tätigkeit signifikante Umgestaltungen stattfinden. Diese sind offensichtlich Ergebnis einer redaktionellen Bearbeitung des Sammlungskonzepts, das eine stärkere Akzentuierung des säkularen und unterhaltsamen Profils zum Ergebnis hat. Wolf hat die textuelle Homoge‐ nisierung und die den profanen Inhalt betonende Bebilderung in i im Kontext einer besseren ‚Marktfähigkeit‘ der Handschrift verortet. Die eher flüchtige Gestaltung, die im Schriftbild und der Ausführung der Federzeichnungen erkennbar wird und die auf eine vergleichs‐ weise schnelle und wenig kostenintensive Herstellung schließen lässt, kann Indiz für eine Herstellung durch eine professionelle Schreibwerkstatt sein, die die Handschrift ohne kon‐ kreten Auftraggeber für den freien Verkauf gefertigt hat. 179 Die Schlussfolgerungen auf die Entstehungsintention und deren Verortung in einem Marktinteresse mögen spekulativ sein, 238 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile aber die besondere inhaltliche und generische Homogenität des Korpus ragt zweifellos aus dem Spektrum der kleinepischen Sammlungen hervor und könnte bereits auf Prinzipien vorausweisen, wie sie im 16. Jahrhundert mit dem Typus der Schwanksammlung fassbar werden. 239 7.3 Codex Vindobonensis 2885 180 Mhd. Titulaturen nach S C H M I D , Codex Vindobonensis. Schaft-s wurden bei der Übertragung aufgelöst. Grau unterlegt: Versnovellen. 7.3.4 Sammlungsübersicht Wien 2885 180 1 ‚Studentenabenteuer‘ A Hye hebt sich An die gut geselschaft (1r-4va) 2 Hermann Fressant: ‚Der Hellerwertwitz‘ Hie hebet an div helbert witz (4va-10rb) 3 Konrad von Würzburg: ‚Das Herzmaere‘ Daz ist daz hertz mëre (10va-14rb) 4 ‚Die halbe Decke‘ B Daz mer von dem chotzen (14rb-16ra) 5 ‚Die Bärenjagd‘ Daz mer von dem peren (16ra-16vb) 6 ‚Frau Seltenrain‘ Daz ist von fraw Selten rain (16vb-17va) 7 ‚Berchta‘ Daz mer von der stempen (17vb-18rb) 8 ‚Der Ritter im Hemd‘ Der ritter mit der niderwat (18rb-18vb) 9 ‚Die Wette‘ (‚Der Bauern Kirchweih‘) Von der pauren Chirchweihe (18vb-19vb) 10 ‚Pyramus und Thisbe‘ Von Pÿramo vnd Tispe/ Den zwain lieben geschah vil we (19vb-24ra) 11 ‚Minner und Trinker‘ I Von dem ludrer vnd von dem Minner ain gut mer (24ra-26rb) 12 Konrad von Würzburg? : ‚Die halbe Birne‘ Der ritter mit der halben piren (26rb-30va) 13 ‚Die Meierin mit der Geiß‘ Von der schon mairin (30va-31vb) 14 ‚Der Sperber‘ Hye hebt an der sparber (32ra-34vb) 15 Stricker: ‚Das heiße Eisen‘ Von dem haizzen eisen (34vb-36rb) 16 ‚Adam und Eva‘ Daz ist ain gut predig (36rb-37vb) 17 Stricker: ‚Der Käfer im Rosenhaus‘ Daz mër von dem kefer (37vb-38va) 18 Stricker: ‚Von einem Hofhund‘ Hie hebt an der hofwart (38vb-39ra) 19 Stricker: ‚Der Rabe mit den Pfauenfe‐ dern‘ Daz mer von dem rappen (39ra-39va) 20 Tannhäuser ‚Hofzucht‘ Daz ist des tanhawsers geticht vnd ist gut hofzucht (39va-41vb) 21 ‚Der Ritter mit den Nüssen‘ Von dem ritter mit den Nuzzen (41vb-43va) 22 ‚Der betrogene Blinde‘ Daz mër von dem plinden (43va-44rb) 240 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 181 In der Übersicht von M E N H A R D T , Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften, irrtüm‐ lich als ‚Der gestohlene Schinken‘ aufgeführt. 23 Stricker: ‚Der wahre Freund‘ Ain eben pild von dem tummen mann (44rb-45rb) 24 ‚Das Gänslein‘ Daz mer von der gens (45rb-47vb) 25 Volrat: ‚Die alte Mutter‘ Daz mer von der alten Muter (47vb-50ra) 26 ‚Tor Hunor‘ Daz mer von dem toren (50ra-52rb) 181 27 ‚Der Minne Porten‘ Daz ist der minne porten (52rb-56va) 28 ‚Cato‘ (dt. Rumpfbearbeitung) Hie hebt an der kato (56va-61vb) 29 ‚Der Schüler von Paris‘ B Hie hebt an div red von Paris von zwain lieben (61vb-67vb) 30 ‚Die Heidin‘ II Hie hebet an div haidimne (67vb-84va) 31 Konrad von Würzburg: ‚Die goldene Schmiede‘ Hie hebt an div Guldein smitt (84va-103rb) 32 Rüdeger der Hünkhofer: ‚Der Schlegel‘ Hie hebt an daz mer von dem schlegl (103rb-114ra) 33 Stricker: ‚Der Gevatterin Rat‘ Daz mer von dem ploke (114ra-120ra) 34 ‚Gold und Zers‘ I Ain gut mer von dem Gold Vnd von dem zers (120ra-122va) 35 Stricker: ‚Die eingemauerte Frau‘ Von ainem vbeln weib (122va-126ra) 36 ‚Von einer Kröte‘ Ain mer von ainer kroten (126ra-126va) 35-42 aus ‚Die Welt‘ 37 ‚Das Schneekind‘ A Daz mer von ainem sne pallen (126va-127rb) 38 Stricker: ‚Die drei Wünsche‘ Ain mer von drein wunschen (127rb-129rb) 39 Stricker: ‚Der nackte Bote‘ Ain mer von des herren kneht Vnd von der pad stuben (129rb-131rb) 40 Stricker: ‚Das erzwungene Gelübde‘ Daz mer von dem weib an man (131va-133vb) 41 Stricker: ‚Der Wolf und sein Sohn‘ Ain mer von dem wolfe (133vb-135rb) 42 Stricker: ‚Die Kupplerin‘ Ain mer von der kawflerin (135rb-137rb) 43 ‚Der schwangere Müller‘ Ain mer von ainem mulner (137rb-139ra) 44 Stricker: ‚Die Martinsnacht‘ Ain mer von sant marteins dieb (139ra-140vb) 241 7.3 Codex Vindobonensis 2885 45 ‚Das Wachtelmäre‘ Hie hebt sich an daz puch Von den wachteln (141ra-142vb) 46 ‚Der milde König‘ Von dem milten kunig (143ra-143va) 46-52 aus ‚Die Welt‘ 47 Stricker: ‚Der nackte Ritter‘ Von des wirts gaste (143va-144rb) 48 ‚Die Blume und der Reif ‘ Von der Maid plumen (144rb-144vb) 49 ‚Fink und Nachtigall‘ Von dem vinkhen vnd Von der Nachtigal (145ra-145va) 50 Stricker: ‚Der einfältige Ritter‘ Von dem schon perg (145va-146ra) 51 ‚Rat der Vögel‘ (‚Des Vögleins Lehren‘) Von der lerchen (146ra-146va) 52 Stricker: ‚Der Gast und die Wirtin‘ Von der leitgebin (146va-148ra) 53 Perchtolt: ‚Der Minne Klaffer‘ I Der klaffer (148ra-154rb) 54 Sibote: ‚Frauenerziehung‘ Von der frawn zucht (154rb-163ra) 55 ‚Das Almosen‘ Von der frawn Almusen (163ra-164ra) 56 Friedrich von Saarburg: ‚Vom Anti‐ christ‘ Von dem end christ (164ra-174ra) 57 ‚Der Striegel‘ Von dem strigl (174ra-178va) 58 ‚Pfaffe und Ehebrecherin‘ A Von der phaffen panne (178va-179rb) 59 ‚Paternoster-Parodie‘ Der pater noster (179rb-180ra) 60 ‚Ave Maria-Parodie‘ Daz Aue maria (180ra-180rb) 61 Stricker: ‚Des Gastes Hofzucht‘ Von des gasts hofzuft (180rb-181rb) 62 ‚Von drei Wappen‘ Von drein wapen (181va-181vb) 63 Stricker: ‚Der ernsthafte König‘ Von dem ernsthaften kunig (181vb-184rb) geistl. Texte 64 ‚Der König im Bade‘ Von dem vbr mutigen kunig (184va-188ra) 65 ‚Der Württemberger‘ Des von wirtenberk pueh (188ra-192rb) 66 ‚Der Magezoge‘ (‚Spiegel der Tugend‘) Daz ist der eren spiegl (192va-196rb) 67 Heinrich von Freiberg: ‚Die Legende vom heiligen Kreuz‘ Von dem heiligen chrawtz (196rb-205va) 68 Konrad von Würzburg: ‚Heinrich von Kempten‘ Von Kaiser Otten (205va-213vb) 242 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile Abb. 6: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2885, fol. 10v - ‚Herzmaere‘ 243 7.3 Codex Vindobonensis 2885 182 Transkript der mhd. Titulaturen nach Sammlung kleinerer deutscher Gedichte/ Faksimile Codex FB 32001, hg. W O L F . Grau unterlegt: Versnovellen Titel in eckigen Klammern: nicht aus Codex Wien 2885 übernommene Texte. 7.3.5 Sammlungsübersicht FB 32001 182 1 ‚Studentenabenteuer‘ A [Überschrift weggeschnitten] (1ra-3vb) 2 Hermann Fressant: ‚Der Hellerwertwitz‘ Hie hebt sich an die helbert wiczs(wirth) (3vb-7vb) 3 ‚Das Schneekind‘ A Das mär von dem snee pallen (8ra-8rb) 4 Konrad von Würzburg: ‚Das Herzmaere‘ Daz ist daz herczs mare (8rb-10vb) 5 ‚Die halbe Decke‘ B Daz mär von dem choczen (11ra-12ra) 6 ‚Die Bärenjagd‘ Das mär von der perhawt (12ra-12va) 7 ‚Frau Seltenrain‘ Das mär von dem smid kneht (12va-13rb) 8 ‚Berchta‘ Das mär von der stempen (13rb-13va) 9 ‚Der Ritter im Hemd‘ Von dem ritter mit der nider wat (13va-13vb) 10 ‚Die Wette‘ (‚Der Bauern Kirchweih‘) Von der pawren chirbeiche (14ra-14va) 11 ‚Pyramus und Thisbe‘ Von piramon vnd von tyspe/ den czwain lieben geschach gar wee (14va-17ra) 12 ‚Minner und Trinker‘ I Von dem luderer vnd von dem minner ain güt mär (17ra-18rb) 13 Konrad von Würzburg? : ‚Die halbe Birne‘ Vom dem ritter mit der halben pirn (18rb-20vb) 14 ‚Die Meierin mit der Geiß‘ Von der Schön mayrin (20vb-21va) 15 ‚Der Sperber‘ Hie hebt sich an von dem sparber (21va-23va) 16 Stricker: ‚Das heiße Eisen‘ Von dem haissen eysen (23va-24va) 17 ‚Adam und Eva‘ Ain gute predig stat hier geschriben (24va-25rb) 18 Stricker: ‚Der Käfer im Rosenhaus‘ Daz mar von dem chefer etc (25rb-25vb) 19 Stricker: ‚Von einem Hofhund‘ Hie hebt an der hofwart (25vb-26ra) [Stricker: ‚Der Rabe mit den Pfauenfe‐ dern‘ Daz mer von dem rappen] 20 Tannhäuser ‚Hofzucht‘ Das ist des tanhawsers geticht vnd ist güte hoff zücht etc (26va-27rb) 21 ‚Der Ritter mit den Nüssen‘ Von dem ritter mit den nüssen (27rb-28rb) 244 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 22 ‚Der betrogene Blinde‘ Das mär von dem plinden (28rb-28vb) 23 Stricker: ‚Der wahre Freund‘ Ain eben pild von dem tummen man (28vb-29va) 24 ‚Das Gänslein‘ Daz mär von der gense (29va-31ra) 25 Volrat: ‚Die alte Mutter‘ Das mär von der alten müter (31ra-32rb) 26 ‚Tor Hunor‘ Daz mär von dem tören (32rb-33va) 27 ‚Der Minne Porten‘ Das ist der minne porten etc (33va-35vb) [‚Cato‘ (dt. Rumpfbearbeitung) Hie hebt an der kato] 28 ‚Der Schüler von Paris‘ B Hie hebt sich an die red von paris von czwain lieben (36ra-39va) 29 ‚Die Heidin‘ II [Überschrift weggeschnitten] (39va-49rb) [Konrad von Würzburg: ‚Die goldene Schmiede‘ Hie hebt an div Guldein smitt] 30 Rüdiger der Hünkhofer: ‚Der Schlegel‘ Hie hebt sich an das mär von dem slegl (49rb-55va) 31 Stricker: ‚Der Gevatterin Rat‘ Das mär von dem plockhe (55va-58vb) 32 ‚Gold und Zers‘ I Ain güt mär von dem Gold vnd von dem Zers (58vb-60ra) 33 Stricker: ‚Die eingemauerte Frau‘ Von ainem vbeln pösen alten weib/ Als vngelckh gee an jren leib etc (60ra-62ra) 33-39 aus ‚Die Welt‘ 34 ‚Von einer Kröte‘ Ain mär von ainer chroten etc (62ra- 62va) 35 Stricker: ‚Die drei Wünsche‘ Ain mär von drein wünschen (62va-63va) 36 Stricker: ‚Der nackte Bote‘ Ain mär von des hern knecht vnd von der padstuben (63va-64vb) 37 Stricker: ‚Das erzwungene Gelübde‘ Das mär von dem weib an man etc (64vb-66ra) 38 Stricker: ‚Der Wolf und sein Sohn‘ Ain mär von dem wolfe etc (66ra-66vb) 39 Stricker: ‚Die Kupplerin‘ [flärin, restliche Überschrift wegge‐ schnitten](66vb-67ra) 40 ‚Der schwangere Müller‘ Ain mär von ainem mülnär etc (67ra-68ra) 41 Stricker: ‚Die Martinsnacht‘ Ain mär von sand marteins dieb (68ra-69rb) 42 ‚Das Wachtelmäre‘ hie hebt sich an das püch von der wachteln etc (69rb-69va) [‚Der milde König‘ Von dem milten künig] 245 7.3 Codex Vindobonensis 2885 43 Stricker: ‚Der nackte Ritter‘ Von des wirtes gaste (69va-70rb) 44 ‚Die Blume und der Reif ‘ Von der maid plümen etc (70rb-70va) 45 ‚Fink und Nachtigall‘ Von dem vinckhen und von der nachigal etc (70va-70vb) 46 Stricker: ‚Der einfältige Ritter‘ Von dem schöm perg (70vb-71rb) 43-47 aus ‚Die Welt‘ 47 ‚Rat der Vögel‘ (‚Des Vögleins Lehren‘) Von der lerchen (71rb-71va) 48 Stricker: ‚Der Gast und die Wirtin‘ Von der leytgebin (71va-72rb) 49 Perchtolt [Ruschart]: ‚Der Minne Klaffer‘ I Von dem klaffer (72rb-76ra) 50 Sibote: ‚Frauenerziehung‘ Von der frawn zucht (76ra-80va) 51 ‚Das Almosen‘ Von der frawen almusen (80vb-81rb) [Friedrich von Saarburg: ‚Vom Antichrist‘ Von dem end christ] 52 ‚Der Striegel‘ Von dem Strigel (81rb-83va) 53 ‚Pfaffe und Ehebrecherin‘ Von der pfaffen panne (83va-83vb) 54 ‚Paternoster-Parodie‘ Der pater noster (83vb-84ra) 55 ‚Ave Maria-Parodie‘ Das Aue maria (84va-84rb) 56 Stricker: ‚Des Gastes Hofzucht‘ Von des gasts hoffzucht (84rb-84rb) [‚Von drei Wappen‘ Von drein wapen] [Stricker: ‚Der ernsthafte König‘ Von dem ernsthaften künig] [‚Der König im Bade‘ Von dem übrmutigen künig] geistl. Texte [‚Der Württemberger‘ Des von wirtemberk puch] [‚Der Magezoge‘ (‚Spiegel der Tugend‘) Daz ist der eren spiegl] [Heinrich von Freiberg: ‚Die Legende vom heiligen Kreuz‘ Von dem heiligen chrawtz] 57 Konrad von Würzburg: Heinrich von Kempten‘ Von chaiser otten (84vb-88vb) 58 Konrad von Stoffeln: ‚Gauriel von Muntabel‘ Do hebt sich an daz mär von dem Ritter mit dem pockhen (89ra-113va) großep. Texte/ 2. Schreiber 59 Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens‘ (Auszug) [kein Titel, Textverbund mit 58] (113va-113vb) 246 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile Abb. 7: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck, Cod. FB 32001, fol. 8v - ‚Herzmaere‘ 247 7.3 Codex Vindobonensis 2885 183 Sammlungsübersicht S. 263-271; Abb. S. 272. Zur Datierung auf 1425 vgl. S C H L E C H T E R , Liedersaal-Handschrift, S. 98. Mihm weist, ausdrücklich unter Vorbehalt, auf eine auf fol. 75r am oberen Blattrand eingetragene Jahreszahl 1433 hin; sollte diese einen Eintrag zum Stand der Arbeit bei einem Jahreswechsel darstellen, wäre eine Entstehung erst in den 30er Jahren wahrscheinlich (vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendich‐ tung, S. 79). E I C H E N B E R G E R / M A C K E R T , Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Hand‐ schriften, gehen bei der Datierung nicht von einem Eintrag zum Arbeitsstand, sondern von einer späteren Benutzernotiz aus. 184 Die Liedersaal-Handschrift ist eines der bedeutendsten Artefakte aus der umfangreichen privaten Handschriftensammlung Joseph von Laßbergs, dessen spektakulärster Erwerb die Nibe‐ lungen-Handschrift C (Don. 63) war. Einen großen Teil der enthaltenen Texte hat Laßberg in der 1820-1825 entstandenen Reihe ‚Liedersaal‘ herausgegeben, deren erste drei Bände die kleinepischen Gedichte aus Don. 104 aufführen; der vierte Band enthält eine Abschrift des ‚Nibelungenlied‘. Laß‐ bergs ‚Liedersaal‘ stellt im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Textausgaben keine Rekonstruk‐ tion eines Archetyps, sondern eine diplomatische Abschrift der Handschrift dar (vgl. Lieder-Saal, hg. L A SS B E R G ). Neben seiner Sammlertätigkeit stand Laßberg auch in engem Austausch mit verschie‐ denen Vertretern der frühen germanistischen Forschung wie Jakob Grimm und Karl Lachmann. Die Hinwendung zur mittelalterlichen Literatur und ihren Überlieferungsträgern war mit einem beson‐ deren Selbstverständnis traditionserhaltender Kulturpflege verbunden, Laßberg verstand sich als Repräsentant einer im Niedergang befindlichen adligen Kultur, deren Pflege und Erhalt er sich wid‐ mete. Die Liedersaal-Ausgabe spiegelt dieses Verständnis wieder, Laßberg wandte sich mit der in sehr kleiner Auflage erschienenen und aufwendig ausgestatteten Textausgabe nicht primär an ein germanistisches Fachpublikum, sondern zirkulierte die Bände ausschließlich als Geschenk, als Gunst- und Ehrenbezeugung unter privaten, zumeist adligen Freunden. Erst mit einer späteren Buchhan‐ delsausgabe wurde die Reihe frei verfügbar (vgl. S C H U P P , Joseph von Laßberg als Handschriften‐ sammler, S. 29; G A N T E R T , Joseph von Laßbergs „Liedersaal“). Laßberg steht damit für ein elitäres und konservatorisches Kulturverständnis, das in ähnlicher Form auch ein wichtiges Movens im mittel‐ alterlichen Literaturbetrieb gewesen sein dürfte. Die oft konstatierte Kontinuität feudaladlig ge‐ prägter literarischer Traditionen kann auch als Bewahrung einer identitätsstiftenden Kultur ver‐ standen werden, die in mehr oder weniger aufwendig gearbeiteten Codices als repräsentativen Artefakten ein exklusives Medium hat. Der Codex Don. 104 deutet auf einen normativ-tradierenden Umgang mit Literatur hin, indem er vorrangig Textgut des 13. und 14. Jahrhunderts aufführt, das ganz im Zeichen adlig-höfisch geprägter Traditionen von Minnedichtung und didaktischer Literatur steht. Sammlungen wie Don. 104 verweisen nicht nur auf eine Kontinuität literarischer Interessen, sie können auch Zeugnisse eines normativen Traditions- und Kulturerhalts sein. 185 Es fehlen die Bl. 1-4, 10-13, 24, 264, 265, 270-276 (nach der alten Blattzählung). Vgl. M I H M , Über‐ lieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 80. 7.4 Codex Donaueschingen 104 7.4.1 Die Sammlung - Belehrung in alphabetischer Ordnung Der auf ca. 1425 oder die 1430er Jahre datierte Codex Donaueschingen 104 (l), 183 nach einer Bezeichnung durch seinen Vorbesitzer Joseph Freiherr von Laßberg auch ‚Liedersaalhand‐ schrift‘ genannt, stellt eine der Haupthandschriften der kleinen Reimpaardichtung dar. 184 Die Papierhandschrift im Format 300x220 mm ist in südalemannischer Schreibsprache ver‐ fasst und vermutlich im Konstanzer Raum entstanden. Zu Auftraggeber, Schreiber und früher Besitzgeschichte gibt es keine Belege, Laßberg vermutet die Grafen von Helfenstein als ursprüngliche Besitzer der Handschrift. Der Codex hat nach Blattverlusten noch einen Umfang von 258 Blatt, ursprünglich dürfte er, wie aus der alten Foliierung hervorgeht, 278 Blatt umfasst haben. 185 Der Codex ist hauptsächlich von einer Hand geschrieben, die 248 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 186 Bei den vor allem im ersten Teil des Codex enthaltenen Textanfangs-Initialen und Titulaturen handelt es sich um mittelalterliche Lombarden und Schriftzüge imitierende Nachträge Laßbergs. Vgl. E I‐ C H E N B E R G E R / M A C K E R T , Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften. 187 Gesamtzahl und Textnummerierung nach Lieder-Saal, hg. L A SS B E R G . 188 Da sowohl die ersten vier Blätter des Codex als auch weitere vier innerhalb des Briefteils fehlen, ist davon auszugehen, dass das Briefkorpus ursprünglich umfangreicher war. Vgl. K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden Bd. 1, S. 142. Schreibschrift ist eine relativ klein ausgeführte, nur mäßig gut lesbare Bastarda. Der Text ist auf zwei durch senkrechte Striche begrenzte Spalten angelegt, die Kolumnen sind mit 38-44, zumeist 40 Versen beschrieben. Die Handschrift ist vergleichsweise einfach und nicht sonderlich sorgfältig gefertigt, das Papier wird sehr sparsam ausgefüllt, die Verse stehen häufig trotz der Schriftspiegelbegrenzung nicht senkrecht untereinander. Schriftbild und Seitengestaltung sind dennoch regelmäßig und weisen auf eine geübte Schreibhand hin. Illuminationen oder anderen Schmuck wie verzierte Initialen gibt es nicht, es wird auch keine rote Tinte verwendet. Die Texte sind nicht betitelt, aber zwischen den einzelnen Texten ist ein kleiner Abstand gelassen, außerdem sind die ersten Verse eines jeden Textes eingerückt gesetzt. Vermutlich war der Nachtrag von großen Initialen und Titulaturen durch einen Rubrikator geplant. 186 Auch innerhalb der Texte werden Absätze durch einge‐ rückte Verse markiert, die auf den geplanten Nachtrag von Initialen hindeuten. Gelegentlich wird zwischen den Anfangstexten der alphabetisch definierten Gruppen ein etwas größerer Abstand gelassen, ansonsten gibt es keine Passagen oder Einzeltexte, die durch eine be‐ sondere Gestaltung hervorstechen. Auch eingedenk einer möglicherweise geplanten far‐ bigen Rubrizierung der Textanfänge ist die Gestaltung des Codex insgesamt wenig auf‐ wendig. Don. 104 beinhaltet mit 261 Gedichten die größte Gesamtzahl an Texten unter den kleine‐ pischen Sammelhandschriften. 187 Da die Stücke aber im Durchschnitt relativ kurz sind, bleibt der Umfang der Handschrift deutlich hinter H und K zurück. Das Textkorpus umfasst ein breites Spektrum an Textsorten, den zahlenmäßig größten Anteil haben Reden von Heinrich der Teichner (54), Texte aus Freidanks ‚Bescheidenheit‘ (43) und ein Zyklus von 23 gereimten Liebesbriefen, der am Anfang der Sammlung steht. 188 Dazu kommen über 70 weitere Reden, vorrangig Minnereden, die verbliebenen ca. 70 Stücke setzen sich aus Vers‐ novellen, Bîspeln und Fabeln sowie einigen geistlichen Erzählungen zusammen. Don. 104 stellt damit eine sehr heterogene Sammlung dar, das Spektrum der kurzen Reimpaardich‐ tung wird breit ausgeschöpft. Im Gegensatz zu m, H/ K und w/ i ist aber ein deutliches Über‐ gewicht von nicht-narrativen, redeartigen Stücken erkennbar. Dezidiert geistliche Texte gibt es wenig, allerdings transportieren vor allem die Texte von Freidank und Heinrich der Teichner moraltheologische Sinnstiftungen. Zu den Vorlagen und der Parallelüberlieferung von l hat Niewöhner umfangreich gear‐ beitet, zum Teil wurden die Befunde problematisiert und modifiziert. Als Vorlagen sind aufgrund der großen Anzahl an Texten je eine Autorsammlung von Freidank und Heinrich der Teichner wahrscheinlich, wobei Glier für die Teichner-Vorlage eine reine Autorsamm‐ lung in Frage stellt. Bei den Minnereden fällt eine große Übereinstimmung mit der Min‐ nereden-Handschrift Cpg 313 auf, die gemeinsame Vorlagen wahrscheinlich macht; Glier geht im Gegensatz von Niewöhner aber von mehreren Vorlagen für das umfangreiche 249 7.4 Codex Donaueschingen 104 189 Zu möglichen Verwandtschaftsbeziehungen und Vorlagen vgl. N I E WÖH N E R , Der Inhalt von Laßbergs Liedersaalhandschrift, S. 158-181; M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 80- 85; G L I E R , Artes amandi, S. 380ff.; G R U B MÜL L E R , ‚Liedersaal-Handschrift‘ in 2 VL 5, Sp. 819ff. 190 Die Anordnung nach den Anfangsbuchstaben ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, da die Rub‐ rizierung der Textanfangsinitialen nicht erfolgt ist. In der Durchsicht der Texte lässt sich das Ord‐ nungsprinzip aber deutlich nachvollziehen. Vgl. N I E WÖH N E R , Der Inhalt von Laßbergs Liedersaal‐ handschrift, S. 153f.; M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 80f. 191 Seit dem 13. Jahrhundert findet das zunächst in lexikographischen Werken etablierte alphabetische Ordnungsmuster zunehmend Anwendung auch in anderen Kompilationstypen, etwa in Exempel‐ sammlungen. Vgl. dazu mit verschiedenen Beispielen K ÜH N E , Der informierte Text, S. 188f. Minnereden-Korpus aus. Niewöhner schließt für 29 Stücke, die eine auffällig übereinstim‐ mende Gestaltung der Texteingänge und Schlussreden aufweisen und in Teilen auch in der Dresdner Handschrift Mscr. M 67 tradiert sind, auf die Verwendung einer zusammenhän‐ genden Kollektion von Bîspeln und Fabeln. Umstritten ist die Genese der übrigen Reden und Bîspel sowie der Versnovellen. Zusammenhänge mit dem Cpg 341 wurden, trotz großer Schnittmengen bei den enthaltenen Texten, verschiedentlich zurückgewiesen. 189 Das Redaktionsprinzip, nachdem die Texte aus den Vorlagen in Don. 104 arrangiert wurden, lässt sich hingegen gut nachvollziehen. Die Stücke sind nach einem präzisen Ordnungs‐ muster zusammen gestellt, das in keiner anderen kleinepischen Sammelhandschrift eine Entsprechung hat, indem diese nach den Anfangsbuchstaben der ersten Verse sortiert sind. Zunächst stehen unterschiedlich umfangreiche Textgruppen mit den Buchstaben A, E, G, D, I, U/ V/ W, S, danach werden in weniger fester Ordnung weitere Texte zu verschiedenen Buchstaben zusammengestellt. 190 Das Arrangement der Texte innerhalb der einzelnen Buchstabengruppen gliedert sich meist in fünf Teile, die in gleicher Reihenfolge erscheinen. Zu Beginn stehen narrative Texte wie Versnovellen oder Bîspeln, gelegentlich auch Reden, es folgen Bîspel aus dem von Nie‐ wöhner ermittelten Korpus, das Don. 104 mit Mscr. M 67 gemeinsam hat. An dritter Stelle stehen vorrangig Reden, gelegentlich auch weitere narrative Texte, an vierter und fünfter Stelle sind die Texte von Heinrich dem Teichner und Freidank aufgeführt. Vermutlich wurden aus den verschiedenen Vorlagen Texte zu dem jeweiligen Buchstaben ausgewählt und in der beschriebenen Reihenfolge abgeschrieben. Die Handschrift l stellt damit das einzige Beispiel einer kleinepischen Sammlung dar, die nach einem durchgängigen Ord‐ nungsschema konzipiert ist. Das Verfahren des Schreibers/ Kompilators ist außergewöhnlich, indem er sich nicht an generischen oder thematischen Gesichtspunkten, sondern an einer formalen bzw. sprach‐ lichen Ordnung orientiert, wie sie vorrangig in lexikographischen Werken anzutreffen ist. 191 Die alphabetische Anordnung in Don. 104 geht nicht mit einer Homogenität der Texte innerhalb der Gruppen einher, es werden in der Regel keine thematisch oder gattungsmäßig determinierten Textgruppen gestaltet oder einzelne Texte miteinander verklammert. Im Gegenteil löst der Codex mögliche Kompositionsprinzipien seiner Vorlagen zu Gunsten der spezifischen Textorganisation auf und schafft durch die formale Stringenz inhaltliche A-Kohärenz; das alphabetische System gestaltet damit eine Spannung zwischen systema‐ 250 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 192 Auch wenn die Zusammenführung nach thematischen Mustern nicht das dominierende Kompilati‐ onsprinzip in Don. 104 ist, sind innerhalb der einzelnen Buchstabengruppen gelegentlich thematische Analogien zwischen den inserierten Texten fassbar. Vgl. z.B. B E R R O N / S E E B A L D , Die neue Berliner Handschrift mgo 1430, S. 336, die auf eine ähnliche Handlungskonstellation in ‚Die zwei Beichten‘ A (33) und die ‚Tierbeichte‘ (36) hinweisen, indem auch in der Fabel nach der wechselseitigen Beichte die geringe Verfehlung hart bestraft wird, während die gravierenden Sünden unsanktioniert bleiben. 193 Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 80f. 194 Vgl. S C H U L Z -G R O B E R T , Deutsche Liebesbriefe in spätmittelalterlichen Handschriften, S. 44f. Ob nur die Briefe oder auch die folgenden Texte 24-29 auf den Schreiber von l zurückzuführen sind, ist umstritten. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 80f. 195 Auch ‚Karlsruher Liebesbriefe‘ oder ‚Donaueschinger Liebesbriefe‘ (vgl. B L A N K , ‚Konstanzer Liebes‐ briefe‘ in 2 VL 5, Sp. 308ff.; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden, Bd. 1, S. 142-163). Die vermutlich um 1350 entstandenen Briefe im Umfang von 20 bis 158 Versen werden aufgrund sprachlicher Merk‐ male im Konstanzer Raum verortet. Die Briefe 1, 10 und 11 sind unvollständig, aufgrund der erheb‐ lichen Blattverluste innerhalb des Briefkorpus ist auch davon auszugehen, dass ursprünglich weitere Briefe enthalten waren. tischer und narrativer Ordnung. 192 Die Versnovellen nehmen innerhalb dieses Anordnungs‐ systems keine Sonderstellung ein, sie stehen in den alphabetischen Textgruppen auch nicht in geschlossenen Blöcken beieinander. Das zweifellos ungewöhnliche Kompositionsschema der Texte sollte nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass neben der alphabetischen Anordnung keine weiteren Prinzipien der Sammlungsgestaltung wirksam gewesen sind. Auch eine formalistische Zu‐ sammenstellung basiert auf Entscheidungen bezüglich der Auswahl der Vorlagen und der Texte aus den Vorlagen, der Kombination verschiedener Korpora und der Schwerpunkt‐ setzung auf redeartige Texte. Auch eine gezielte Gestaltung und Anpassung einzelner Texte ist durch das alphabetische Muster nicht ausgeschlossen. Seit Niewöhners Untersuchung wird angenommen, dass die Zusammenstellung und al‐ phabetische Ordnung nicht genuin in l entstanden ist, sondern aus einer Vorlage über‐ nommen wurde. Dafür sprechen unter anderem einige Stücke, die sich nicht in die alpha‐ betische Struktur einfügen. 12 über den ganzen Codex verteilte, zumeist redeartige Texte sind jeweils am Ende von Buchstabengruppen platziert. In der Forschung wurde erwogen, dass diese in der angenommenen Vorstufe von l durch einen späteren Bearbeiter, dem die alphabetische Anordnung nicht bewusst (oder nicht wichtig) war, auf dem freigebliebenen Raum am Ende der Buchstabengruppen nachgetragen wurden. 193 Weiterhin sind die ersten 29 am Anfang der Sammlung stehenden Texte nicht in das alphabetische Anordnungsschema integriert, diese werden deshalb nicht dem Bestand der angenommenen Vorlage von l zugerechnet. 194 Es handelt sich vor allem um die unikal in l überlieferten 23 ‚Konstanzer Liebesbriefe‘, eine Sammlung von literarischen Liebesbriefen, die keine private Korrespondenz, sondern eine der ältesten mittelalterlichen Musterbrief‐ sammlungen darstellen. 195 Abgefasst in Reimpaarversen und inkorporiert in ein literarisches Umfeld, sind die Liebes‐ briefe als poetische Texte fassbar. Als Anleitung und Stilmuster stellen sie einerseits eine ars dictandi für die Liebeskommunikation dar, in ihrem inhaltlichen Spektrum, der topi‐ schen Motivik und dem redeähnlichen Modus sind sie aber auch den Minnereden ähn‐ 251 7.4 Codex Donaueschingen 104 196 Die Zuordnung von Liebesbriefen zum Korpus der Minnereden problematisiert A C H N I T Z , Kurz rede von guoten minnen, S. 142. 197 Vgl. S C H U L Z -G R O B E R T , Deutsche Liebesbriefe in spätmittelalterlichen Handschriften, S. 40f.; K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Minnereden, Bd. 1, S. 163. 198 In Johanns von Konstanz ‚Minnelehre‘ wird in die exemplarisch vorgeführte Werbung um ein Mäd‐ chen eine längere Traumsequenz eingebunden, in der dem Sprecher durch Cupido und Frau Venus eine allgemeine Minnetheorie dargelegt wird. Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 84-94. 199 Ruh sieht in dem Zusatz eine Plausibilisierung des Handlungsverlaufs. Vgl. R U H , Zur Motivik und Interpretation der ‚Frauentreue‘, S. 267. 200 Zur ‚Frauentreue‘ siehe auch S. 135ff. lich. 196 So finden sich verschiedene Liebesklagen über Zurückweisung, Trennung oder Be‐ trug (3, 8, 10, 11, 12, 20), Bitten um Gegenliebe und Vertrauen (5, 6), Liebesgrüße und Danksagungen an die Geliebte (2, 7, 13, 14, 15, 22), ein Abschiedsbrief (18), aber auch ein ‚Trennungsgesuch‘ aufgrund des Spotts der Geliebten (4). Brief Nr. 19 gestaltet mit einem Dialog zwischen dem Sprecher und der allegorisierten Frau Minne ein typisches Moment der Minnereden. Der letzte Brief beschließt und kommentiert die voranstehende Sammlung wie ein Epilog, er verweist auf ein vermutlich im verlorenen gegangenen ersten Brief formuliertes prohemio zurück (11r), das die Briefsammlung als ein musterhaftes Kompendium ange‐ kündigt hat, aus dem Liebende das für sie Nützliche entnehmen sollen. Der Schlussbrief weist die Musterbriefe damit deutlich als einen zusammenhängenden Zyklus mit einem übergeordneten didaktischen Konzept aus. Er schließt mit Segenswünschen und einer christlichen Fürbitte um wahre Minne. 197 Die ‚Konstanzer Liebesbriefe‘ lesen sich als Kanon der Minne-Didaxe, dabei greifen sie auf tradierte Vorbilder der lehrhaften Minnedichtung zurück. Die um 1300 entstandene ‚Minnelehre‘ Johanns von Konstanz, nach Glier die erste umfangreichere selbständige ars amandi in der spätmittelalterlichen Literatur, wird zum Teil wörtlich eingespeist; weiterhin lässt sich auf eine Kenntnis Ulrichs von Lichtenstein und Konrads von Würzburg schließen. 198 Die Briefe stellen nicht (nur) pragmatische Stilmuster und eine Anleitung für das Schreiben/ Sprechen über Liebe dar, sie verweisen als Auftakt der Sammlung l pointiert auf den normativen Charakter der Minnekasuistik, die festen (Sprach)Regeln folgt und dabei lehr- und lernbar ist. Auch die folgenden, ebenfalls nicht alphabetisch eingeordneten Texte, haben eine Ver‐ handlung richtigen Minneverhaltens gemeinsam. Im unmittelbaren Anschluss an die Briefe steht ‚Die Frauentreue‘ (24), die als Erzählung über exzeptionelle Treue einen ausgeprägten exemplarischen Charakter hat. Die Textgestalt weicht von den älteren handschriftlichen Zeugnissen in H und K ab. So dringt der Ritter nach seiner vorläufigen Heilung nicht heim‐ lich ins Schlafzimmer der Frau ein, sondern erbittet die Verabredung, weil er der Frau seine triuwe beweisen will. Sie stimmt der Unterredung zu, um ihn von seinem Werben abzu‐ bringen. 199 Im Schlussteil werden zwei zusätzliche Verse aufgeführt, die zum einen die triuwe der Frau betonen, zum anderen ihre unbeschädigte Ehre herausstellen und damit mögliche problematische Implikationen aufgrund des ‚gewechselten‘ Treueregisters der Frau zurückweisen: 200 252 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 201 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 200f. 202 Der vier Verse umfassende Vorspruch, der alle Sammlungen von Freidank-Sprüchen einleitet (Ich bin genant Bescheidenheit […]) steht in l aufgrund der alphabetischen Ordnung nicht vor der ersten Freidank-Einheit, sondern erst in der Gruppe I. Diu frow lag vor laide tot (ähnlich auch in H+K) Von rechter trüwe die sy het Vnd belaib an allen eren stet (l, 13v). Mit ‚Das Auge‘ (27) wird eine weitere Versnovelle aufgeführt, die eine exemplarische Dar‐ stellung idealisierten weiblichen Minnehandelns zum Gegenstand hat. Im Gegensatz zu der Parallelüberlieferung in der älteren Straßburger Sammlung S wird an die Narration über die Frau, die sich aus unverbrüchlicher Liebe zu ihrem entstellten Mann ein Auge aussticht, ein 170 Verse umfassender Exkurs angefügt, der zunächst in wenigen Versen die Frau für ihre große Liebe und die Bereitschaft lobt, das Leid des Mannes zu teilen, und dann in eine allgemeine Minne- und Tugendlehre übergeht, die umfangreich die Ein-Leib-Topik als Ideal der Liebesbindung verhandelt. Neben den beiden Versnovellen sind im ersten Sammlungs‐ teil auch Minnereden aufgeführt, die auf unterschiedliche Art belehrende Liebessemantiken verhandeln. So belehrt ‚Die sechs Farben‘ (26) über die Minne-allegorische Bedeutung der Farben und ‚Die Minne vor Gericht‘ (29) vermittelt Belehrung über das Motiv des Minne‐ gerichts, vor dem sich die Minne in aufwendiger Argumentation gegen die Anschuldi‐ gungen der Gerechtigkeit verteidigt, ihre Gunst unabhängig von einer integren Gesinnung zu gewähren. 201 Nach den Musterbriefen als Anleitung und Beispiel für das richtige Minneverhalten werden in l Versnovellen und Minnereden mit einem normativen Bezug auf den Minne‐ diskurs aufgeführt. Damit wird dem alphabetisch geordneten Korpus der Liedersaalhand‐ schrift eine Textformation vorangestellt, in der belehrende und exemplifizierende Minne‐ semantiken im Fokus stehen. Die Texte der einzelnen Gruppen im alphabetisch geordneten Hauptteil der Sammlung können nicht zu einem vergleichbar kohärenten thematischen Konzept zusammengefasst werden. Es ist aber eine deutliche Dominanz von belehrenden und moralisierenden Texten zu verzeichnen, insbesondere das große Korpus von Freidank und Heinrich dem Teichner spricht für ein Interesse an Dichtungen, die konventionalisiertes Wissen mit einem didak‐ tischen Impetus verbinden. Die Auszüge aus Freidanks im 13. Jahrhundert verfasster ‚Be‐ scheidenheit‘ lassen sich nicht einer bestimmten Thematik zuordnen. 202 Als Inbegriff des Allgemeinplatzes verhandeln Freidanks Sprüche im wahrsten Sinne des Wortes ‚Gott und die Welt‘; menschliche Verhaltensweisen, Glauben und Wissen, Kataloge von Tugenden und Lastern, aber auch Kommentare zu lebensweltlichen Dingen sind der Gegenstand des zumeist unspezifischen Spruchguts. In allen thematisierten Bereichen wird dabei der Gott‐ bezug der Welt herausgestellt, die Texte sind von einer konventionellen christlichen Ethik 253 7.4 Codex Donaueschingen 104 203 N E U M A N N , ‚Freidank‘ in 2 VL 2 Sp. 897-903, Zitat Sp. 902. Grubmüller sieht gerade in der Allgemein‐ gültigkeit und ethischen Selbstverständlichkeit den Grund für die umfangreiche und langanhaltende Tradierung der Freidank-Sprüche (vgl. G R U B MÜL L E R , Freidank, S. 39-48). Die ‚Bescheidenheit‘ ist dabei keine Sprichwortsammlung, denn in den Sprüchen werden verschiedene Sprachhaltungen des ‚Ich‘ artikuliert, das sowohl Sprachrohr einer allgemeinen Erfahrung als auch Ausdruck von Ge‐ lehrsamkeit sein kann (vgl. ebd., S. 50-55). 204 Vgl. H E N K E L , Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte, S. 92, S. 152. 205 Vgl. G L I E R , ‚Heinrich der Teichner‘ in 2 VL 3 Sp. 884-892. 206 Zu den ‚Barlaam‘-Parabeln in Don. 104 vgl. H A B L E , In guter Nachbarschaft, insbes. S. 166-170. 207 Fischer hat Niewöhners Annahme einer einheitlichen Verfasserschaft der Bîspel-Kollektion zurück‐ gewiesen (vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 72f.). Zumindest einen vereinheit‐ lichenden Bearbeiter sieht Grubmüller aber als gesichert an. Vgl. G R U B MÜL L E R , Meister Esopus, S. 282ff. geprägt: Freidank „will nichts Neues sagen, er will Gültiges in Verse binden.“ 203 Als didak‐ tische Texte mit Sentenzcharakter bringen die Sprüche einen deutlichen Impetus von An‐ leitung und Belehrung in die Sammlung ein. 204 Ähnliches lässt sich für die im Modus der Laienpredigt gestalteten Reden Heinrichs der Teichner konstatieren. In der Summe eines der umfangreichsten Werke des Spätmittelalters (knapp 70.000 Verse), werden die im 14. Jahrhundert entstandenen Reden des Teichner-Korpus häufig in Auszügen tradiert. Die thematisch ebenfalls breit und allgemein gefassten Texte lassen durchgängig eine klare moraldidaktische Intention mit deutlicher Tendenz zur Verteidigung traditioneller kirchlicher Lehrmeinungen erkennen. 205 Die Freidank- und Teichner-Auszüge werden mit einer großen Regelmäßigkeit in die einzelnen alphabetisch geordneten Textzyklen eingespeist und führen die Rezeption damit immer wieder auf ihre klaren moraldidaktischen Implikationen zurück. Auch die zahlrei‐ chen Minnereden, die gattungstypisch auf didaktisierende Prinzipien der höfischen Min‐ nelehre Bezug nehmen, tragen zum lehrhaften Duktus der Sammlung bei. Zwischen diesen unterschiedlichen Arten von Reden und Spruchdichtungen, denen der Gestus einer normativen Vermittlung von Werten und Verhaltensregeln gemein ist, stehen in l auch verschiedene narrative Texte mit dezidiert lehrhaftem Charakter. Dazu gehören neben Adaptionen von ‚Barlaam‘-Parabeln vor allem die zahlreichen Bîspel. 206 Aus der o.g. von Niewöhner als Vorlage von l angenommenen Bîspel-Sammlung stammt unter anderem der größte Teil des Fabel-Korpus, 15 der 17 in Liedersaal enthaltenen Fabeln werden auf‐ grund ihrer homogenen Gestaltung dieser Kollektion zugeordnet. Die Texte entstammen offenbar verschiedenen Tierepen, sind aber sehr ähnlich gestaltet, so dass verschiedentlich ein vereinheitlichender Bearbeiter angenommen wird. 207 Bei diesen Fabeln fällt eine unty‐ pische Gestaltung auf, indem den lehrhaften Epilogen häufig eine zweite Auslegung hin‐ zugefügt wird, die die Lehre auf Minneunterweisung als einem für Fabeln unüblichen The‐ menbereich überträgt. So wird zum Beispiel in ‚Krähe und Taube‘ (204) die Narration von der Krähe, die sich ihren wenig eleganten Gang nicht abgewöhnen kann, mit einer Beleh‐ rung über die Macht der Gewohnheit beschlossen. Auf diese folgt eine zweite Auslegung als Belehrung über Frauen, die nicht zu tugendsamer Minne zurückfinden. Sieben weitere Fabeln führen vergleichbare zusätzliche Lehrreden auf, in denen sich Belehrung und mi‐ 254 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 208 Vgl. G R U B MÜL L E R , Meister Esopus, S. 386-389. 209 Eine Übersicht über die Quantität der Divergenzen im Textbestand zwischen parallel überlieferten Texten in Don. 104 und dem Cpg 341 bzw. Karlsr. 408 bei M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 84f. 210 G R U B MÜL L E R , Novellistik des Mittelalters, S. 1058. Zur Fassung B des ‚Schneekind‘ vgl. neuerdings E C H E L M E Y E R / K I R C H H O F F , List, Lüg und Snöder Reichtum, die die Eigenständigkeit der Redaktion in Don. 104 betonen. 211 Zu ‚Die zwei Beichten‘ siehe auch S. 144. sogyne Polemik verbinden, indem sie zumeist eine Warnung vor bösen Frauen und der Verfänglichkeit weiblicher Minne formulieren. 208 Vor dem Hintergrund des dominanten lehrhaften Duktus in l stellt sich die Frage, ob auch bei den enthaltenen Versnovellen, die im Gegensatz zu den übrigen in l präferierten Texttypen weniger auf stringente Belehrung setzen, besondere Auswahlprinzipien wirksam waren bzw. Vorlagen mit spezifischer Konzeption verwendet wurden. Die Sammlung führt eine Reihe schwankhafter Vertreter der Gattung auf, etwa ‚Der Sperber‘ (31), ‚Der betrogene Blinde‘ (38), ‚Des Mönches Not‘ (136), ‚Die halbe Birne‘ (191), ‚Die zwei Beichten‘ A (33), ‚Ehren und Höhnen‘ (80) oder ‚Die Bauernhochzeit‘ (226). Ebenso groß ist aber auch der Anteil an Versnovellen mit einem belehrenden oder exemplarischen Schwerpunkt, obwohl dieser Typus im versnovellistischen Korpus seltener vertreten ist; einige davon sind unikal in l überliefert. So etwa ‚Der warnende Ehemann‘ (157) als Erzählung über die entlarvte Untreue einer Ehefrau, in der eine dezidierte Verurteilung der Bosheit der Frauen formuliert wird. In ‚Konni‘ (73) wird vor der spöttischen Selbsterhebung über andere gewarnt und ‚Der Sohn des Bürgers‘ (164) narrativiert das aus ‚Der Hellerwertwitz‘ bekannte Motiv der Loyalitätsprobe, hier aber in der Konstellation eines Vaters und seines verschwenderischen Sohnes, der auf Anraten des Vaters seine falschen Freunde entlarven kann. Neben dem ‚Herzmaere‘ (133) und der ‚Frauentreue‘ (2) wird mit ‚Hero und Leander‘ (45) auch eine weitere, unikal überlieferte Erzählung über den wechselseitigen Liebestod aufgeführt. Die unikal überlieferte Versnovelle ‚Der Zahn‘ (37) präsentiert einen schwankhaften Stoff mit einer klaren moraldidaktischen Botschaft sowohl in der narratio als auch der moralisatio: Eine untreue Ehefrau übergibt ihrem Liebhaber den als Liebesbeweis geforderten gezo‐ genen Zahn des Ehemannes, worauf der Liebhaber die Frau aus Entsetzen über ihre Skru‐ pellosigkeit verlässt; auch in Pro- und Epimythion wird die Frau für ihre Amoral verurteilt. Viele der enthaltenen Versnovellen und auch ein Teil der Bîspel unterscheiden sich in ihrem Textbestand signifikant von den Redaktionen in anderen Überlieferungsträgern, 209 was vielfach mit einer Akzentuierung exemplarischer Vorbildlichkeit und/ oder moralisier‐ ender Sinnsetzungen einhergeht. So ist ‚Das Schneekind‘ (242) unikal in der Fassung B tradiert, die im Gegensatz zu A durch eine knappere Handlungsdarstellung und dafür länger ausgeführte Redeszenen gekennzeichnet ist und in der Gesamtheit der Varianten stärker eine „exempelhafte Lehrhaftigkeit“ betont. 210 Im Epilog von ‚Die zwei Beichten‘ A wird eine moralisatio formuliert, 211 die von der Parallelüberlieferung abweicht. In den übrigen Hand‐ schriften wird übereinstimmend eine ‚Einsicht‘ des Ehemannes sowie der ironische Rat an die Männer artikuliert, die Laienbeichte zu meiden, um eheliche Auseinandersetzungen wie in der erzählten Geschichte zu vermeiden. Diese Partien finden sich in l nicht, stattdessen 255 7.4 Codex Donaueschingen 104 212 Einen ausführlichen Vergleich des Textbestandes von ‚Die zwei Beichten‘ A nebst tabellarischer Übersicht der Erzähleinheiten bei S C H R ÖD E R , Niewöhners Text des ‚Bîhtmaere‘ und seine überlie‐ ferten Fassungen. Einen Abgleich mit der Schröder noch unbekannten Redaktion in Berlin mgo 1430 bei B E R R O N / S E E B A L D , Die neue Berliner Handschrift mgo 1430, S. 335-342. 213 Vgl. E I C H E N B E R G E R , Geistliches Erzählen, S. 284. 214 Vgl. J A N O T A , ‚Heinrich von Pforzen‘ in 2 VL 3, Sp. 862ff. 215 Diese 10 zusätzlichen Verse wurden in praktisch identischer Form auch in sechs verschiedenen Texten anderer Handschriften nachgewiesen. Offenbar handelt es sich um einen beliebten Zusatz, der an unterschiedliche Dichtungen angefügt wurde. Vgl. S O N N T A G , Sibotes ‚Frauenzucht‘, S. 53f. endet der Text hier unikal mit 11 Versen, in denen das Sakrileg des von einer Frau verprü‐ gelten Mannes Anlass einer Frauenschelte ist: 212 Daz hailet nimmer mer Wo ain man von wiben wird geslagen Sust hör ich das märe sagen Vnd wil sin machen ain end Das got die valschen wib schend Die grosser schuld han dan ir man (35v). Der Text schließt mit einer Verwünschung der Frauen, die der Minne- und Frauenpolemik in den Epimythien des Fabelkorpus ähnlich ist. Häufig erscheinen die Versnovellen in l mit einem größeren Versbestand als in der Pa‐ rallelüberlieferung, der in mehreren Fällen durch das Hinzufügen oder die umfangreichere Ausführung von Schlussreden bedingt ist. Neben ‚Das Auge‘ ist dies z.B. bei ‚Der König im Bade‘ (147) augenscheinlich, hier sind 14 epilogartige Zusatzverse aufgeführt, die den Re‐ zipienten zur Demut auffordern und damit zwar keine neue inhaltliche Deutungsebene einbringen, aber prononciert die didaktischen Aussagen des Textes wiederholen und he‐ rausstellen. 213 Die längste Redaktion liegt in l auch von ‚Der Pfaffe in der Reuse‘ (202) vor, wo das Schwankmotiv der Entdeckung und Bestrafung von Ehebruch auch Anschauungs‐ material für eine Belehrung über ständisch motivierte Gehorsamkeit liefert, denn der be‐ trogene Fischer kann den buhlerischen Kaplan nur überführen, weil er sich strikt an die zunächst unsinnig erscheinenden Weisungen seines Burgherren hält. 214 Auch Sibotes ‚Frau‐ enerziehung‘ (148) ist in l umfangreicher als in der Parallelüberlieferung und fügt unikal eine ausführliche Verwünschung böser Frauen in das Epimythion ein: Während sich in den Epimythien der übrigen Handschriften nur ein knapper, acht Verse umfassender Rat des Sprechers an die Frauen findet, ihre Männer besser zu behandeln, stehen in l 34 Verse, in denen umfangreich ausgeführt wird, dass sich Frauen der Herrschaft ihrer Männer beugen sollen, damit ihnen solche Strafe erspart bleibt. Angefügt ist auch ein 10 Verse umfassender weiterer ‚Rat‘ an die Männer, ein vbel wyb (155v) an einem Ast aufzuhängen. 215 Zu überlegen ist, ob sich die unikalen Textfassungen und langen Schlussreden in l gezielten Bearbeitungen verdanken, um einzelne Texte im Kontext des Sammlungsprofils spezifisch zu akzentuieren. Niewöhner hat Don. 104 in seiner frühen Untersuchung eine deutliche Tendenz zur Zudichtung und Erweiterung eines Teils der Texte attestiert, die sich vor allem in der Ergänzung um ausführliche moralisierende Schlussreden bemerkbar mache, die nicht zu Änderungen der Erzählinhalte führen, aber die moralisierende Ebene betonen. Dies trifft 256 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 216 N I E WÖH N E R , Der Inhalt von Laßbergs Liedersaalhandschrift, S. 187, weiterhin S. 175-188. 217 Es gibt in der Liedersaalhandschrift nicht nur längere, sondern auch signifikant kürzere Versionen von Texten als in der Parallelüberlieferung. Die Varianten betreffen außerdem nur zum Teil die Schlussreden, vielfach sind sie auch an anderen Stellen zu finden. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 85-90. primär auf die versnovellistischen Texte zu, während die Dichtungen aus dem Freidank-, Teichner- und Minnereden-Korpus, aber auch das Gros der Bîspel des Strickers, nicht ver‐ ändert werden. Niewöhner verortet die Entstehung dieser Textspezifika in einer angenom‐ menen Vorlage für die in l inserierten Versnovellen, in der diese durch „ein und denselben Bearbeiter“ gleichförmig verändert worden seien und in dieser Form Eingang in die Lie‐ dersaal-Handschrift gefunden hätten. 216 Diese Annahme wurde in der Forschung mit Ver‐ weis auf die Heterogenität der Textgestaltungen in l zurückgewiesen, da nicht alle Versno‐ vellen auf die gleiche Art und Weise bearbeitet worden sind. 217 Aber auch wenn sich keine durchgängige und einsträngige Systematik für die Umge‐ staltung der Textverhältnisse konstatieren lässt, ist die Häufung von unikalen Textmerk‐ malen augenscheinlich, die die belehrenden oder misogynen Tendenzen der Erzählungen pointieren. Dass nicht das gesamte Korpus von Erzähltexten in l systematisch in der glei‐ chen moralisierenden und ausweitenden Weise angepasst wurde, muss keinen Wider‐ spruch zu der Annahme intendierter Bearbeitungen darstellen, sind kleinepische Samm‐ lungen doch selten durchgängig nach gleichförmigen Prinzipien gestaltet. Der übergeordnete lehrhafte Impetus, den die Sammlung vermittelt, macht eine Korrelation der spezifischen Textform insbesondere der versnovellistischen Dichtungen mit der Textum‐ gebung in l möglich. Versnovellen mit ihren vielschichtigen Bedeutungsimplikationen und der Offenheit für verschiedene Semantisierungen bieten besondere Möglichkeiten für ak‐ zentuierende Textanpassungen, von denen bei den in l inserierten Texten offensichtlich verschiedentlich Gebrauch gemacht wurde. Dies kann durch den Schreiber von l, in einer unmittelbaren Vorstufe der Sammlung oder bei der Erstellung einer Sammlung moraldi‐ daktisch erweiterter Versnovellen, die als Vorlage diente, geschehen sein; die letztlich nicht auflösbaren Schichtungen und Genesen der Entstehung spätmittelalterlicher Kompilati‐ onen erlauben viele, aber keine verbindliche Erklärung für die zahlreichen unikalen Text‐ formen in der Liedersaal-Handschrift. 7.4.2 Das ‚Herzmaere‘ in Don. 104 - der ‚echte Schluss‘? Das ‚Herzmaere‘ wird in l mit 602 Versen in seiner längsten Redaktion überliefert. Der Text ist hier dem Gestaltungsmodus der Handschrift entsprechend unbetitelt. [Abb. 8, S. 272] Bei den im Überlieferungsvergleich ermittelten varianten Textpartien weist l praktisch durchgängig die ‚typische‘ Gestaltung auf: Die Liebesrede des Ritters beim Abschied, die Zubereitung des Herzens, die Rede der Dame nach dem Verzehr des Herzens entsprechen durchgängig dem aus der Edition vertrauten Textbestand, einzig der Turteltaubenvergleich wird in l nicht aufgeführt (130v). Die Liedersaalhandschrift ist für die Überlieferung des ‚Herzmaere‘ von besonderer Re‐ levanz, weil sie als einzige den vollständigen ‚echten Schluss‘ nebst der Selbstnennung Konrads enthält. In l stehen die 55 in der Edition aufgeführten Verse, in denen in einer 257 7.4 Codex Donaueschingen 104 218 Unter den zahlreichen Konjekturen Schröders sticht dieser Vers besonders hervor, steht er doch geradezu konträr zu der durch den edierten Textbestand implizierten Aussage. 219 Auch hier bedingt die Konjektur eine erhebliche Umsemantisierung. Auch m überliefert an dieser Stelle nicht tiuren, sondern eine l ganz ähnliche Wendung: Das es kaine rewet mich (160v). ausführlichen laudatio temporis acti über die verlorene Exklusivität der Minne und die feh‐ lende Leidensbereitschaft für die Liebe geklagt wird und die mit einer Ermunterung der edelen herzen endet: Ich wan das an kainer stat ich wæne daz an keiner stete War nie vergolten also gar wart nie vergolten alsô gar Noc nimmer wirt das ist war noch niemer wirt: des nim ich war An den lüten die nü sint an den liuten die nu sint; Wan nü fro min vnder bint wand in froun Minnen underbint Lit nit so [s]eniclichen an lît niht sô strengeclichen an Das baide frowen vnde man daz beidiu frouwen unde man Zesamen nit gebunden sind zesamene gebunden sîn, Das sy dez grimen todes pint daz si des grimmen tôdes pîn Nü durch ain ander liden nu durch einander lîden. Man slau[s]t ez ab der widen man slîzet ab der wîden Ein bast vil sterker mit der hant ein bast vil sterker mit der hant, Dann iezo sy der minne bant ann iezuo sî der minne bant Da nü lieb bi liebi lit dâ nur liep bî liebe lît. An dez grimen todes strit âne grimmes tôdes strît Werdent si geschaiden wol werdent si gescheiden wol Die nun komberlichen dol die nu kumberlîche dol Durch ain ander wallen tragen durch einander wellent tragen. Fro minne git by dysen tagen frou Minne gît bî disen tagen Ir selber also güten koff in selten alsô guoten kouf. Wissent das sy nie gesloss wîlen dô sie niender slouf Zu togenlicher diete ze tugentlôser diete Vmb so swacher miete umb alsô swache miete, So durch ir süssikait so güt dô dûhte ir süezigkeit sô guot Dar durch sy manic edel müt daz durch si maic edel muot Bis vff den tot verseret was biz ûf den tôt versêret wart. Nu merckent sy ir art bas  218 nu hât verkêret sich ir art Vnd ist so krank ir orden und ist sô cranc ir orden, Daz sy wal ist worden daz sie wol veile ist worden Den argen vmbe ain klaines güt den argen umbe ein cleinez guot. Dar vmb [ie]man lützel tüt dar umbe lützel iemen tuot Durch sy nü dem libe we durch si nû dem lîbe wê. Man will darvff nit achten me man will dar ûf niht ahten mê, Nun rüwet daz vil klaine mich  219 und tiuret daz vil cleine [Sid] sy nü gelichet sich daz sich algemeine Den liuten allen gemain den liuten hât gemachet, 258 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 220 Die beiden abschließenden Verse hat Schröder als einen Schreiberzusatz eingestuft und nicht in den kritischen Text aufgenommen. Schulze argumentiert dagegen ausführlich für die Zugehörigkeit der letzten beiden Verse zum echten Schluss. Vgl. S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novellistische Ge‐ staltungskunst, S. 475. 221 Vgl. K E L L N E R , Eigengeschichte und literarischer Kanon, S. 169f. 222 Vgl. Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. VII und X. Man acht dar vff vil klain daz ist dâ von geswachet. Als ist ez vmb die minne als ist ez umb die minne: Gewint aber sy die sinne gewünne si die sinne Das sy türe wirde daz si noch tiurre würde, Ez wär dez jamers burde ez wære jâmers bürde [n]ie gelait so vest an nie geleget vaster an Denn iezunt tätten frowen vnde man dann iezuo frouwen unde man: Ez wirt nach ir also gestritten ez würde nâch ir sô gestriten Vnd ain für den andern litten und für einander sô geliten Daz man ez gern möchte sehen daz man ez gerne möhte sehen. Nit and[er]s kann ich iuch [? ]hen Niht anders kann ich iz verjehen, Von wirtzburg ich conrat von Wirzeburc ich Cuonrât. Wer als rain sine hat swer alsô reine sinne hât Das er daz best gern tüt daz er daz beste gerne tuot, Der sol disi mer in sinem müt der sol diz mære in sînem muot Dar vmb setzen gerne dar umbe setzen gerne, Das er da by gelerne daz er dâ bî gelerne Die mine luterlichen tragen die minne lûterlichen tragen. Kain edel hertz so verzagen kein edel herze sol verzagen! (Ed.V. 534-588) Da mit hat das red ain end Das got die falschen hertzen schend (132v). 220 Die Erzählung endet in l mit einer umfangreichen Stilisierung von Leid als Maßstab der Liebe, die in verschiedenen, zum Teil geradezu materiell anmutenden Bildern (koff, miete, güt) ausgespielt wird. Indem die Bereitschaft zum Liebestod zum höchsten Ausdruck der luterlich getragenen Minne erklärt wird, erfährt das Geschehen rückblickend eine Aufwer‐ tung, die Protagonistenliebe wird zum Musterbeispiel für die ideale Liebe vergangener Zeiten. Mit der akzentuierten Liebe-Leid-Programmatik knüpft der Epilog wieder an die Liebessemantiken Gottfrieds an, der Aufruf an die edelen herzen spielt dabei den transzen‐ denten Ausblick des ‚Tristan‘ ein, indem über die literarische Vergegenwärtigung durch die aufgerufene ideale Publikumsgemeinschaft der edelen herzen ein Weiterleben der Liebenden bzw. der Liebesgeschichte verheißen wird. 221 Schröder sieht die lange Schlussrede in l als eindeutig der Sprach- und Gestaltungskunst Konrads von Würzburg entsprechend an, 222 auch in der neueren Forschung ist die Zuord‐ 259 7.4 Codex Donaueschingen 104 223 Vgl. z.B. S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, insbes. S. 463; zumindest die Möglichkeit einer sekundären Bearbeitung erwägt dagegen K R A G L , Wie man in Furten ertrinkt, FN 76: „Wenn der Epilog aber nicht von Konrad stammt, dann wenigstens von einem zeitnahen und ähnlich versierten Autor, ein Stilbruch ist nicht zu erkennen.“ Siehe neuerdings auch ders., Die (Un)Sichtbarkeit des Paratextes. 224 Vgl. R E U V E K A M P , Perspektiven mediävistischer Stilforschung, S. 2-5. 225 Ebd., S. 5. Indem der Stil eines Textes sich immer in einem Spannungsfeld zwischen den Polen tra‐ ditioneller und individueller Gestaltungsweisen bewegt, ist er nur durch den zumindest impliziten Vergleich mit anderen Texten beschreibbar (ebd.). 226 Vgl. W O L F , ‚Die halbe Birne A‘ in 2 VL 3, Sp. 404f. 227 Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R , S. 1084f. In verschiedenen Arbeiten wurde mittlerweile eine Neujustierung dieser Forschungsposition vorgenommen (vgl. z.B. M A T E J O V S K I , Das Motiv des Wahnsinns, S. 235-252). Die Problematik von Echtheitsdiskussionen hat die Neidhart-Forschung nachhaltig ins Bewusstsein gerufen. Die Neuedition der Neidhart-Lieder von Müller/ Bennewitz/ Spechtler nimmt alle unter der Verfassersignatur Neidharts überlieferten Lieder, unabhängig von Vorentscheidungen über deren Echtheit, in das Korpus auf. Vgl. Neidhart-Lieder, hg. M ÜL L E R u.a. 228 Nur die Handschriften mit der langen Schlussrede (l und m) führen die Verfassersignatur im Epilog auf. H schreibt das Gedicht im Prolog Konrad von Würzburg zu, siehe S. 178f. 229 Novellistik des Mittelalters, hg. G R U B MÜL L E R , S. 1122. nung zu Konrad fest etabliert. 223 Die auf Fragen von Stilistik und kohärenter Pro- und Epi‐ loggestaltung basierenden Echtheitsdiskussionen entbehren aber nicht einer gewissen Problematik. Die Stilpostulate, mit denen vor allem die ältere Forschung nicht nur die Qua‐ lität von Texten beurteilte, sondern auch deren ‚Echtheit‘ begründete, sind häufig durch positivistische Vorstellungen einer Einheitlichkeit von ‚Autorstilen‘ geprägt, die zum einen die Möglichkeit unterschiedlicher poetischer Ausdrucksweisen ausblenden, zum anderen aber auch der Komplexität des Konzepts Stil nicht ausreichend Rechnung tragen. 224 Stil bezieht sich als Ausdruck für die sprachliche Formgebung oder Wortkunst auf den zentralen Bereich des poetologischen Selbstverständnisses gerade in der mittelalterlichen Dichtungs‐ praxis. Dabei ist der Kategorie eine Unschärfe implizit, weil sich Stil in der Verwendung zumeist „kollektiv verfügbarer Darstellungsmittel“ äußert und damit sowohl eine „indivi‐ duelle als auch eine überindividuelle Komponente“ hat. 225 Auf die Fragwürdigkeit, literarische Texte allein aufgrund von Stilanalysen verbindlich den Œuvres bestimmter Verfasser zuzuordnen bzw. davon auszuschließen, vermag die Dis‐ kussion um die Verfasserschaft Konrads von Würzburg für ‚Die halbe Birne‘ beispielhaft zu verweisen: Obwohl in vier von fünf Handschriften, die den Schluss der ‚Halben Birne‘ überliefern, Konrad von Würzburg als Verfasser benannt wird - lediglich Karlsruhe 408 gestaltet einen anderen Schluss -, hat die ältere Forschung die Verfasserschaft Konrads bezweifelt. 226 Das Urteil basierte vor allem auf einem „subtil ausgearbeiteten Stil- und Rein‐ heitsideal, dem Dichter wie Konrad von Würzburg unter allen Umständen […] gefolgt seien“ und wurde in der neueren Forschung verschiedentlich problematisiert. 227 Beim ‚Herzmaere‘ wird dagegen die Zuordnung zu Konrad von Würzburg nicht be‐ stritten, obwohl nur drei der zwölf Handschriften die Verfassersignatur Konrads auf‐ führen: 228 „Dennoch leidet es keinen Zweifel, daß diese Verfassersignatur den Sachverhalt richtig darstellt; das Herzmäre fügt sich nach Stil und Tendenz aufs beste in das Œuvre Konrads von Würzburg […] ein“. 229 Auch wenn es konsequent ist, die handschriftliche Au‐ torzuschreibung sowohl für den Gesamttext wie auch für die Schlussrede zu akzeptieren, ist es dennoch irritierend, dass bei der affirmierenden Argumentation die gleichen Kate‐ 260 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 230 Vgl. B U M K E , Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte, S. 303. 231 S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, S. 463. 232 B O H N E N G E L , Das gegessene Herz, S. 109. 233 Vgl. B R A N D T , Konrad von Würzburg, S. 88; B O H N E N G E L , Das gegessene Herz, S. 109; W A C H I N G E R , Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert, S. 73f. gorien von Stil und Kohärenz bemüht werden, die bei der Negation einer Verfasserschaft als problematisch gelten. Auch wenn man die Verfasserschaft Konrads für die lange Schlussfassung als gesichert voraussetzt, bleibt deren Singularität ein bemerkenswerter Befund. Unabhängig von der Frage der Originalität, die für das mittelalterliche Publikum im Übrigen nicht die gleiche Relevanz hatte wie für die germanistische Forschung, 230 ist das ‚Herzmaere‘ offensichtlich mehrheitlich nicht mit der langen Epilogfassung rezipiert worden. Man kann die überlie‐ ferungsgeschichtliche Realität in den nicht validierbaren Bereich des Überlieferungszufalls verschieben und aus der Debatte ausklammern - oder sie als Zeugnis eines Reproduktions- und Rezeptionsinteresses ernst nehmen. Offensichtlich gab es zwei Arten, das ‚Herzmaere‘ zu beenden: Eine elaboriert-exemplifizierende Form, die sich in die Gottfried-Semantiken einschreibt, und eine einfache Form, die auf das Skandalon des anthropophagischen Aktes reagiert und den Ehemann, kohärent zu der europäischen Erzähltradition vom gegessenen Herzen, explizit verurteilt. Die kurze Schlussrede, ob sie sich nun ebenfalls Konrad oder einem intentional als Co-Autor arbeitenden Redaktor verdankt, war die etabliertere, viel‐ leicht auch die bevorzugte Variante, um die Dichtung zu beenden. Die lange Schlussrede mag dem Duktus Konrads und den aufgerufenen Semantiken des Prologs entsprechen, aber sie gibt der erzählten Geschichte, gerade weil diese nicht von „Deutung und Paränese“ durchsetzt ist, 231 eine entschieden moralisch-exemplarische Prä‐ gung, die den vielschichtigen poetischen Implikationen des ‚Herzmaere‘ eine bestimmte Lesart und Deutung zuweist. Die Aussagen des Erzählers in Prolog und der langen Schluss‐ rede, die als „Rahmentexte […] beinahe quer zu den Schilderungen der Erzählung zu stehen oder sich selbst zu widersprechen scheinen“, finden in der erzählten Geschichte keine un‐ missverständliche Bestätigung. 232 Die Erzählung selber stellt - entgegen der Ankündigung im Prolog - kein so eindeutiges Beispiel für eine Minne dar, die lûter und reine ist (V. 27); zu fragwürdig ist die Liebeskonzeption schon durch die ehebrecherische Konstellation und die implizierten Zweifel am Handeln der Frau, die sowohl vom Sprecher als auch von ihrem Geliebten ambivalent betrachtet wird. 233 Das ‚Herzmaere‘ ist nicht allein ein beispielhafter Kasus über Liebe und Treue, vielmehr laufen verschiedene Deutungskonzepte parallel, deren problematisierende Implikationen durch den Epilog in seiner expressiven Aufwer‐ tung von Liebesleid und Liebestod überschrieben werden. Zweifellos kann der ‚echte‘ Schluss in der Retextualisierung des ‚Herzmaere‘ eine nachträgliche Reduktion erfahren haben, um eben diese aufwertenden Sinnsetzungen, die vielleicht nicht jedem Schreiber als co-produzierendem Rezipienten plausibel waren, zu nivellieren. Es ist aber gleichfalls nicht auszuschließen, dass zunächst ein ‚Herzmaere‘ mit dem kurzen Schluss tradiert wurde, der einen Schreiber bewogen hat, einen Konrad stilistisch entsprechenden Epilog zu verfassen, um die Geschichte mit den aufwertenden Sinnsetzungen zu beschließen. In jedem Fall ist es problematisch, bei der Edition eines so divergent gestalteten Textes die häufiger erhaltene 261 7.4 Codex Donaueschingen 104 234 In der neuesten, insgesamt äußerst sparsam kommentierten Ausgabe der ‚Herzmaere‘-Edition wird die kurze Schlussfassung nicht einmal erwähnt. Vgl. Konrad von Würzburg: Das Herzmære, hg. M I K L A U T S C H . Schlussfassung nicht stärker in den Blick zu nehmen und die Überlieferungsrealität ästhe‐ tischen Erwägungen und Echtheitsfragen unterzuordnen. 234 Dass die lange Schlussfassung erst in l als einem der spätesten Überlieferungsträger des ‚Herzmaere‘ aufgeführt wird, kann Zufall sein. Aber auch wenn man einen Entstehungs‐ zusammenhang mit der Sammlung nicht gelten lassen möchte, so steht der einzige voll‐ ständige und ‚echte Schluss‘ in einer Sammlungsumgebung, die angesichts der offensicht‐ lichen Präferenz für belehrende Texte und der Vielzahl unikal gestalteter moralisierender Textschlüsse eine intentionale Entscheidung für dieses exemplifizierende Ende plausibel macht. Unabhängig von Fragen der Textentstehung bilden die einleitende Textformation der ‚Konstanzer Liebesbriefe‘ als Muster und Anleitung für eine den Prinzipien höfischer Minnelehre entsprechende und moralisch vertretbare Minnekonzeption und das folgende alphabetische Arrangement von Reden und Erzähltexten, die überwiegend kritisch-morali‐ sierende Inhalte transportieren, in l den Hintergrund für die Rezeption des ‚Herzmaere‘. Anleitung und Beispiel für richtige Minne und moralische Belehrung als prägnante Impli‐ kationen, die das diskursive Profil von l prägen, sind auch dem ‚Herzmaere‘ inhärent. Durch die Ausgestaltung der Schlussrede kumulieren diese Semantiken zu einer Minneerzählung mit eindeutigem moralisch-exemplarischem Anspruch, wie sie sich in dieser Konsequenz in keiner anderen Sammlungsumgebung darstellt. 262 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 235 Die Nummerierung der Texte folgt der Zählung in Lieder-Saal, hg. L A SS B E R G . Die Texte im Codex Don. 104 sind nicht betitelt, anstelle von mhd. Titulaturen wird das erste Verspaar als Basis der alphabetischen Zuordnung wiedergegeben (nach der Transkription bei E I C H E N B E R G E R / M A C K E R T , Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften). Blattzählung nach der modernen Bleistiftfoliierung, die die erhaltenen 258 Bll. ungeachtet der fehlenden Blätter lückenlos fortzählt; die Tintenfoliierung des 15. Jahrhunderts in röm. Ziffern wird nicht wiedergegeben. Grau unterlegt: Versnovellen. A: alphabetische Ordnung der Textgruppen; (-): Texte außerhalb der Einordnung in die alphabetische Struktur. 7.4.3 Sammlungsübersicht Don. 104 235 1- 23 ‚Konstanzer Liebesbriefe‘ (1r-11r) 24 ‚Frauentreue‘ Ain ritter vnd ain stoltzer tegen/ Liebes vnd mütes gar erwegen (11r-14r) (-) 25 ‚Das Zelt der Minne‘ Mir trombt ain waidenlicher trom/ Könd ich dez geloben schon (14r-18r) 26 ‚Die sechs Farben‘ I Mich fragt ain frowe minicklich/ Sy sprach geselle bewise mich (18r-19r) 27 ‚Das Auge‘ Man sait mir ain mär/ Daz ain ritter wär/ Milt sines gütes (19r-22r) 28 Ruschart: ‚Der Minne Klaffer‘ Noch kurtzi wil so vach ich an/ Wie ich da her geworben han (22r-26v) 29 ‚Die Minne vor Gericht‘ Ich rait durch ainen walt/ Min trüren waz manigualt (26v-29r) 30 ‚Das Zauberkraut‘ Ains tages ze ainer summer zitt/ So lob vnd groß gemüte git (29r-30v) 31 ‚Der Sperber‘ Als mir ain mär ist gesait/ War für ain warhait (31r-33r) 32 ‚Frau Venus und die Minn‐ enden‘ Ach Venus wes du wunders kanst (33r-35r) 33 ‚Die zwei Beichten‘ A Ain man vor ainem walde saß/ In düchte er säß niendert baß (35r-35v) A(E) 34 ‚Die Jagd des Lebens‘ Ain jeger hin ze walde gie/ Der dick groß wild gevie (35v-36r) 35 ‚Henne und Fuchs‘ Ein bispell man mercken sol/ Welh jungfro gar ze wol (36r-36v) 36 ‚Die Tierbeichte‘ Ein bi[s]pell wil ich zellen/ Ez würdet her gesellen/ Ain esel vnd ain fuchs vil arck (36v-37r) 37 ‚Der Zahn‘ Ein züchtig erber raine wib/ Das ist ain uber sälig lib (37r-37v) 38 ‚Der betrogene Blinde‘ Ein blind hette guttes vil/ das jm alli sini zil (37v-38r) 39 Elsässischer Anonymus: ‚Der Streit um Eppes Axt‘ Ein gebüre gütes riche/ Der was gewaltigliche/ In ainem dorff (38r-38v) 263 7.4 Codex Donaueschingen 104 236 Die Texte aus den Korpora von Heinrich der Teichner und Freidank werden in l oft in Einheiten mehrerer Texte aufgeführt. Hier wird nur die Gesamtzahl der Texte ohne Zitation der Anfangsverse wiedergegeben. 40 Elsässischer Anonymus: ‚Der gestohlene Schinken‘ Ein man jn ainem dorfe saß/ Dar jn er manig zit genaß (38v-39v) 41 ‚Der Wolf an der Wiege‘ Ain frowe nach gewonhait/ Ir korn vor ainem walde snit (39v-40r) 42 ‚Die gezähmte Wider‐ spenstige‘ Ein biderb man als ich vernam/ Hett ain wib dü waz jm gram (40r-41v) 43 Niemand: ‚Die drei Mönche zu Kolmar‘ Als mir ain mär ist gesait/ Für ain gantz warhait (41v-44r) 44 Konrad von Würzburg: ‚Der Welt Lohn‘ Armer welt minäre/ Vernäment wol diß märe (44r-46r) 45 ‚Hero und Leander‘ Ach min din süsser anfang/ Git mangen bittern vzgang (46r-49r) 46 ‚Klage über die Trennung von der Geliebten‘ G Ach süsser anfang/ Wie hat din grimer abgang (49r-49v) 47 Stricker: ‚Der ernsthafte König‘ Ain kunig was so ernsthaft/ Das sin künst vnd sin craft (49v-51r) 48 Stricker: ‚Vom heiligen Geist‘ (Auszug) Ain wissag sach das siben wib/ Stritten vmb ains manes lib (51r-51v) 49 ‚Die Kohlen‘ An ain mär ich komen bin/ Das schaft min wünderlicher sin (51v-52r) 50 ‚Frau Ehrenkranz‘ An ainem morgen eben frú/ Do ez begund tagen zu (52r-54v) 51 ‚Viel anders‘ Ain frowe batt mich betichten/ Vnd mich dez berichten (54v-55r) 52- 53 Heinrich der Teichner: 2 Gedichte (55v-56v) 236 54 ‚Fluch über die ungetreuen Frauen‘ Ain wib von rainer art erplüt/ Der luter hertz ir sin vnd müt (56v-57v) 55- 69 Heinrich der Teichner: 15 Gedichte (57v-67r) 70 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (67r) 71 ‚Minnedurst‘ Es ist was daz ich uch sag/ Das frowen konnent alle tag (67r-69r) 72 Stricker: ‚Frau Ehre und die Schande‘ Ain ritter saß vor sinem tor/ Bi den rittern hie vor (69r-72r) 73 Heinz der Kellner: ‚Konni‘ Es ist war daz ich uch sag/ Vnd bewärt sich alle tag (72r-73r) 74 Hermann Fressant: ‚Der Hellerwertwitz‘ Es frumet manes libe/ Der sinem getrüwen wibe (73r-74r) 264 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 75 Stricker: ‚Der wahre Freund‘ Es kam ain man von schulden/ Von sines herren hulden (74r-74v) E 76 ‚Facetus Cum nihil utilius‘ Es stat geschriben jn latin/ An ainem clainen büchalin/ Von wiser ler michel rat (74v-77v) 77 ‚Von den Buchstaben‘ Es fraget dick manig man/ Der sach der er nit enkan (77v-78v) 78 ‚Die halbe Decke‘ I Er was noch tumber den ain tor/ Der ye durch sinü kint verlor (78v-79v) 79 ‚Stricker: ‚Der Sünder und der Einsiedel‘ Es waz ain rich sundig man/ Der ser rüwen began (79v-80r) 80 ‚Ehren und Höhnen‘ Es hät ain biderb man ain wib/ dü was jm lieb als der lib (80r-80v) 81 Stricker: ‚Vom Tode‘ Es ist ain ding daz dick beschicht/ Ain man der auentür besicht (80v-81r) 82 ‚Die Weintrauben‘ Es gieng ain stoltzer knab güt/ Durch sinen höflichen müt (81r-81v) 83 ‚Die Gevatterinnen‘ Es waren ze ainer zitt/ Zwü gefatrü on nitt (82r-83r) 84- 89 Heinrich der Teichner: 6 Gedichte (83r-88r) 90 ‚Der Minner und der Kriegsmann‘ Ein tumber vz durch dienst rait/ Der kam vff ain straß brait (88r-89r) 91 Heinrich der Teichner: Ge‐ dicht (89r-89v) 92 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (89v) 93 ‚Fuchs und Wolf im Brunnen‘ Gelobent daz wibes minne/ Mangem nimpt die sinne (89v-90r) 94 ‚Die Katze als Diener‘ Gewonhait so stark nit wart/ Gerner treffe für die art (90r) G/ D 95 Heinrich der Teichner: Gedicht (90r-91r) 96- 117 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (91r-98v) 118 ‚Scheidsamen‘ Ich vnd ain warent ain/ Ains zwaÿ vnd an den zwain (98v-99v) 119 ‚Der Allenfrauenhold‘ Ich han gehört al min tag/ Wer von jm selber arges sag (99v-100r) 120 ‚Fuchs und Rabe‘ Ich bin ze sagent berait/ Von ainem mer so gemait (100r-101r) I 121 ‚Der unentschlossene Minner‘ In endeloser bitterkait/ Bezwungenlich min hertze trait (101r- 103r) 122 ‚Klage eines Liebenden‘ Ich han gehört manig zit/ Vnd ist och war ane stritt (103r-105r) 265 7.4 Codex Donaueschingen 104 123 ‚Beteuerung ewiger Treue‘ Ich han da her bÿ minen tagen/ Gehoeret singen vnd sagen (105r-105v) 124 ‚Das Kloster der Minne‘ Ich wólt ains tages mich ergan/ Als ich dick me han getan (105v-116v) 125 ‚Totenklage um die Hzgin. Beatrix von Tirol‘ Ich stunt vff ainez morgens frü/ Minem knecht rieff ich zu (116v-120v) 126 ‚Die Jagd der Minne‘ Ich wolt jagen durch frien müt/ Als noch manig geselle tüt (120v-123v) 127 Meister Irregang: Reim‐ rede Ich wil uch sagen hüre/ Von stoltzer auentüre (123v-124v) 128 ‚Totenklage auf Graf Wernher von Hohenberg‘ Ich kam vff ainen grünen plän/ Da fant ich jn vnmüte stan (124v-125v) 129 ‚Minner und Trinker‘ Ich kam vff ain gefilde/ Da ich zwaÿ menschen bilde (125v-126v) 130 ‚Ein Traum vom Liebes‐ glück‘ Ich lag ains kalten winters zit/ Allain als noch vil manger lit (126v-127r) 131 Suchensinn: ‚Von Frauen und Jungfrauen‘ Ich kam vff ainen anger witt/ Da hort ich ainen herten strit (127r-128r) 132 Stricker: ‚Der Richter und der Teufel‘ In ainer stat was ain man/ Des súnde mag ich noch enkan (128r-129v) 133 Konrad von Würzburg: ‚Herzmaere‘ Ich brüff jn minem sine/ Das luterlichi mine (129v-132v) 134 ‚Segen der fernen Ge‐ liebten‘ Ich han den sin vnd den müt/ Das ich durch ubel noch durch güt (133r-133v) 135 ‚Lügenpredigt‘ Ich bin komen an die stat/ Daz man rot snecken wat (133v-134r) 136 Der Zwickauer: ‚Des Mönches Not‘ Ich sait uch gern ettwas/ So enwaiß ich nit (134r-137v) 137 ‚Harm der Hund‘ Ich hort sagen mer/ Wie ain ritter wer (137v-138v) 138 ‚Von treulosen Männern‘ Ich han dick gehoret wol/ Wan ain ding beschechen sol (138v-141r) 139 ‚Beständigkeit und Wan‐ kelmut‘ Ich minne aller tugent waiß/ Vnd was der [gestrichen: ban] blaneten kraiß (141r-142v) 140- 145 Heinrich der Teichner: 6 Gedichte (142v-146v) 146 Freidank: Vorrede ‚Bescheidenheit‘ Ich bin genant beschaidenhait/ Dü aller tugent krone trait (146v-147r) 147 ‚Der König im Bad‘ Wer an sim selber nit bewart/ Vnzúcht vnd vnrecht hoffart (147r-149v) 148 Sibote: ‚Frauenerziehung‘ Wönd ir hören als ich vernam/ Ain mer als ez mich für kam (149v-155v) 266 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 149- 152 Heinrich der Teichner: 4 Gedichte (155v-159v) U/ V/ W 153- 154 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (159v-160r) 155 ‚Das Unglück‘ Faig er sy der dar vf stelle/ Wie er sich vnuerschult vergelle (160r-160v) 156 ‚Der Wechsler und sein Sohn‘ Vil recht er sich versinnet/ der mit recht gút gewinnet (161r) 157 ‚Der warnende Ehemann‘ Wib konnent boßhait vil/ Vnd foltzien irren ane zil (161r-162r) 158 ‚Kinder soll man ziehen‘ Wer durch liebi kint verzert/ Noch jn vnzucht nit enwert (162r-162v) 159 ‚Löwe und Sohn‘ Wer getriuwer frunde lere/ Behielt gerne sere (162v) 160 ‚Die Ermordung eines Juden und die Rebhühner‘ Wissent das vntruwe/ Birt vil manig rüwe/ Dem der kaine schulde hat (162v-163r) 161 ‚Wolf beim Schachspiel‘ Wer ist gar vntugenthafft/ An dem ist die maisterschafft (163r-163v) 162 ‚Von zwei Hunden‘ Wir hörent ofte sagen/ Man müg ze vil vertragen (163v) 163 ‚Der Weiber Kleiderpracht‘ Wer den wolff ze húse ladet/ Der merck daz es jm schadet (163v-164r) 164 ‚Der Sohn des Bürgers‘ Wer gütten frunden volgen/ Gar vngelogen/ Der gelept wol den tag (164r-165r) 165 ‚Die beiden Freier‘ Wer dem vngeslachten dient/ Sin dienst ze leste grient (165r-166r) 166 Der arme Konrad: ‚Frau Metze‘ Wa man von wunder listen sait/ Da gedenckt man der listikait (166r-169r) 167 ‚Rat der Vögel‘ (Des Vögleins Lehren) Wer güti ler kan behalten/ Der mag an sunder spot alten (169r-169v) 168 ‚Die Messerlein‘ Wer sich enzit bedächte/ Vil frümen ez jm brächte (169v) 169 Stricker: ‚Die Martinsnacht‘ Wöllen jr ain wil gedagen/ So wölt ich uch kurtzwile sagen (169v-171r) 170 ‚Venite lieben gesellen‘ Wirt wiß munder/ Vnd gib vns wunder/ Alles des man haben sol (171r-171v) 171- 172 Heinrich der Teichner: 2 Gedichte (171v-172v) 173 ‚Der unentwegte Lieb‐ haber‘ Von stetter trü min herze wüt/ Ze aller zit nach minne gút (172v-175v) 174 ‚Lob der beständigen Frauen‘ Vernement raini maid vnd wib/ Ich wil hert wagen minen lib (175v-176v) 175 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (176v-177v) 267 7.4 Codex Donaueschingen 104 176 ‚Drei buhlerische Frauen‘ Wenn ich so gemiet was/ Vnd gern sagt vnd laß (177v-180r) 177 ‚Minneklage‘ Es hat gewert lang/ Vnd ist erst ain anfang (180r-180v) (-) 178 ‚Das Gnaistli‘ Syd ich vff der ellenden ban/ Far alz ain fromder weg man (180v-186v) 179 ‚Die Ratte‘ Siner kündikait ze wol/ Nieman getrüwen sol/ Ez wont ain ubel ratte (186v-187r) 180 Peter Suchenwirt: ‚Der Widerteil‘ Sich fügt ains tages so daz ich/ In hochem müt frowet mich (187r-189r) S 181 Ehrenfreund: ‚Der Ritter und Maria‘ Sprach Erefrunt der sinne ein kint/ Gelopt rain frowen von jm sint (189r-191r) 182 ‚Die alte und die neue Minne‘ Sich fügt ains males daz ich wart/ Anthaissig ainer bettevart (191r-193v) 183 ‚Der schlaflose Minner‘ So ich dez nachtes nit slaffen mag/ So tenck ich dick wer es tag (193v-194v) 184- 185 ‚Minnesprüche an die Ge‐ liebte‘ Lasters werd er nimmer frÿ/ Der rainen wiben vigent sÿ (194v-195r) (-) 186 ‚Liebesklage‘ Frömder kint wirt vil geslagen/ Das hör ich wittwen waisen sagen (195r) 187 ‚Spottgedicht auf Kaiser Ludwig den Bayern‘ Lantvogt Humpis vnd der kaiser/ Sint von schrien worden haiser (195r-196r) 188 ‚Adam und Eva‘ (Predigtparodie) Liebi frunt min/ Ich han jn der latin/ Zwaÿ ding gelait für (196r-197v) L 189 Heinrich der Teichner: Gedicht (197v) 190 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (198r) 191 Konrad von Würzburg ? : ‚Die halbe Birne‘ Hie vor ain richer konig was/ Als ichs von im geschribn las (198r-201r) 192 ‚Cato‘ (dt. Rumpfbearbei‐ tung) Hettent die köndigäre/ Güte red gewere (201r-204r) H 193 ‚Der Müller und sein Sohn‘ Hie niemant vff der erde sy/ Weltliches spottes frÿ (204r) 194- 195 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (204r-204v) 196 ‚Liebesseufzer‘ Hab vrlob der vnstett sy/ Ich wil mim bülen dÿ (204v) 197 ‚Alter Ehemann, junge Ehefrau‘ Ainer vz der ander jn/ In dem gedreng wil ich nit sin (204v) (-) 198 ‚Liebesklage‘ Ach sússi frucht dú bist mir wert/ Ich find hie dez min hertz begert (205r) 199 ‚Liebesklage‘ Ich hett ain buln daz wond ich/ Die hett ain andern das waiß ich (205r) 268 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 200 ‚Der Eselsgeselle‘ Esels gesell dü clegst es sy verdrossen hie/ Esels gesell wiltü wissen wie (205r) 201 Stricker: ‚Von Eseln, Gäu‐ chen und Affen‘ Esel göch vnd affen/ Den ist wunderlich erschaffen (205r) 202 Heinrich von Pforzen: ‚Der Pfaffe in der Reuse‘ Mercke nach der welte phlicht/ Ir kurtze wil ist anders nicht (205v-208r) 203 ‚Der Würfel‘ Mich hett ains tages des zu bracht/ Der würfel daz ich waz verdacht (208r-208v) M 204 ‚Krähe und Taube‘ Man trib ez wenig oder vil/ Wes nature nit enwil/ Das mag man kom gelernen (208v) 205 ‚Die Minne und die Ehre‘ Man minegernder tumber sin/ Tüt mich der welte toren sin (208v-210r) 206 ‚Der Ritter und der Teufel‘ Maria güt verliche mir/ Das ich hút volbring an dir (210r-213r) 207- 212 Heinrich der Teichner: 6 Gedichte (213r-217r) 213 ‚Der Knappe und die Frau‘ Mit ainfaeltiger clag/ Kam ich an ainem tag/ Zu ainer magt minicklich (217r-219r) 214 Heinrich der Teichner: Gedicht (219r-219v) 215 Freidank: aus Bescheidenheit (220r) 216 ‚Das neue Deutsch‘ Man redet ditz vnd mainet daz/ Der tutsch wil lernen der be‐ darf baz (220r-220v) 217 ‚Die zwölf Trünke‘ Man sait gesten wirt dü wort (220v-221v) 218 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (221v-225v) 219 Freidank: ‚Spruchgedicht von der Minne‘ (225v-226v) 220 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (226v-227r) 221 ‚Liebesklage‘ IV Manger lobt dez maien wünn/ So lob ich ain frowen jüng (227r) 222 ‚Meiden und Leiden‘ Myden dü jämerliches lait/ Was von miden ist gesait (227r-227v) 223 Heinrich der Teichner: Gedicht Man spricht trü sy nichtz wert (227v-228r) 224 ‚Klage‘/ ‚Sprüche von der Armut‘ Ich wer wiser denn ich bin/ Könd ich jn ie dez menschen sin (228r) (-) 225 ‚Von den Barfüßermön‐ chen‘ Diü welt ist wunderlich geschaffen/ Ich main die barfüssen pfaffen (228r-229r) 226 ‚Die Bauernhochzeit‘ Der jung maiger Baerschi/ Hett ain lieb hieß Metzi D 269 7.4 Codex Donaueschingen 104 237 Laßberg hat ‚Von Verschwiegenheit‘ und das erste der nachfolgenden Teichner-Gedichte als textuelle Einheit aufgefasst. (229r-233r) 227 ‚Wer kann allen recht tun? ‘ Die fro minen dienst versprach/ Durch wandel den sy an mir sach (233r-234r) 228 ‚Von Verschwiegenheit‘ Das bispel man mercken sol/ Wann ez sait der mine dol (234r) 229- 231 Heinrich der Teichner: 237 Gedichte (234r-237v) 232 ‚Urkunde der Minne‘ Ich diener miner frowen genant/ Nach wisung miner sin er‐ mant (237v-239r) 233 Heinrich der Teichner: Gedicht (239r-239v) 234 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (239v) I 235 ‚Die Wünsche‘ Ich wunsch mir alles durch daz iar/ Ich wän vnd wird ez halbes war (239v-240v) 236- 237 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (240v-241r) 238 ‚Sprüche‘ Ich gefie nie kain ding an/ Ich müst sorg der zil han (241r-241v) 239- 241 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (241v-243r) 242 ‚Das Schneekind‘ B Kain laster er gesat/ Der vntrü wider gat/ Der ist och ain wiser man (243r-243v) K 243 ‚Verlorene Mühe‘ Könd ich mit worten vz gerichten/ Ald beschaiden ald be‐ tichten (243v-244v) 244 ‚Lob der Jungfrau Maria‘ Könd ich vz mines hertzen grund/ Finden ainen klugen fund (244v-246v) 245 ‚Der Spalt in der Wand‘ Von lieb mir selten lieb beschach/ Mir ist alz ainem der da sprach (246v-248v) (-) 246 ‚Des Buben Paternoster‘ Nü hört jr herschaft alle/ Wie uch die red geualle (248v-249v) 247 ‚Die Katze als Nonne‘ Nieman wese so ze gail/ Durch sinez fiendes vnhail (249v) 248 ‚Quodlibet‘ (‚Von der stampeney‘) Nü hör wie gar ain tor ich bin/ Ich trunck durch die wochen win (249v-250v) N 249 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (250v-251r) 250 ‚De contemptu mundi‘ Owe daz ich armer man/ Laider nit gedencken kan (251r-251v) O 251 ‚Schule der Minne‘ I O min wie kreftig ist din macht/ Wa man slaft oder wacht (252r-254v) 270 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 252 Heinrich der Teichner: Gedicht (255r) 253- 254 Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (255r-256v) 255 Stricker: ‚Der Wolf und der Bauer‘ Ain wolf jagt ain wider man/ Do floch er angstlichen dan (256v-257r) A 256 Stricker: ‚Der Tor und das Feuer‘ Ain tor sprach zu ainem für/ Waz ich fernd vnd hür (257r) 257 ‚Klage eines Impotenten‘ Ach waz sol ich vachen an/ Min gesell wil nit me stan (257r-257v) 258 ‚Der Pfau und der Esel‘ Zucht er vnd gelimpf/ Worden ist der wibe schimpf (257v) Z 259- 260 Heinrich der Teichner: 2 Gedichte (257v-258v) 261 ‚Der Minnegerende‘ Ich bin ellend vnd ain/ Vnd han nieman der mich main (258v) (-) 271 7.4 Codex Donaueschingen 104 Abb. 8: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 104, fol. 129v - ‚Herzmaere‘ 272 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 238 Sammlungsübersicht S. 290-295; Abb. S. 296. 239 Liederbuch der Clara Hätzlerin, hg. H A L T A U S . Die Bezeichnung von Haltaus ist insofern irreführend, als dass der Codex neben dem lyrischen Teil auch eine - zuerst stehende und umfangreichere - Kollektion von Reimpaardichtungen enthält. Auch suggeriert der Titel, dass die Kompilation originär durch die Schreiberin Clara Hätzlerin zusammengestellt wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit han‐ delt es sich aber um die ergänzte Kopie einer tradierten Sammlung. Vgl. G L I E R , ‚Hätzlerin, Clara‘ in 2 VL 3, Sp. 547f.; K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 137. 240 Neben dem ‚Herzmaere‘ ist Hans Rosenplüts ‚Der Knecht im Garten‘ aufgeführt. ‚Die Bauernhoch‐ zeit‘ und Hermanns von Sachsenheim ‚Grasmetze‘ werden von Fischer zu den ‚Grenzfällen‘ der Gattung gezählt. Vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 74. 241 Vgl. H O M E Y E R u.a., Überlegungen zur Neuedition des sogenannten ‚Liederbuches der Clara Hätzlerin‘, S. 66; G L I E R , ‚Hätzlerin, Clara‘ in 2 VL 3, Sp. 548. 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 7.5.1 Die Handschrift und ihre Schreiberin Der Prager Codex X A 12 (p 1 ), 238 seit der Edition durch Carl Haltaus auch ‚Liederbuch der Clara Hätzlerin‘ genannt, 239 wurde 1471 von der Augsburger Lohnschreiberin Clara Hätz‐ lerin gefertigt. Das ‚Liederbuch‘ tradiert überwiegend Minnereden und Liebeslyrik, aber auch einige andere kleine Reimpaardichtungen, darunter Auszüge aus Freidanks ‚Beschei‐ denheit‘, geistliche Dichtungen des Mönchs von Salzburg sowie vier Versnovellen. 240 Der Codex stellt eine der bedeutendsten Sammlungen von Liedern und Reimpaardichtungen des 15. Jahrhunderts dar. Überwiegend wird anonym überliefertes Material aufgeführt, unter den Verfassern, die genannt sind oder ermittelt werden konnten, finden sich promi‐ nente Autoren des Spätmittelalters, etwa der Mönch von Salzburg, Oswald von Wolkenstein und Hans Rosenplüt. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt deutlich auf der Liebesdichtung des Spätmittelalters, älteres Textgut aus dem 13. oder frühen 14. Jahrhundert wie das ‚Herz‐ maere‘ oder die Freidank-Auszüge ist in dieser Kompilation die Ausnahme. 241 Sie Sammlung ist in zwei Teilen angelegt, auf eine Kollektion von Minnereden und einigen anderen kleinen Reimpaardichtungen folgt ein Liedteil, der wiederum in eine Reihe von Tageliedern und eine von Liebesliedern unterteilt ist. Bei der Handschrift handelt es sich um einen 360 Blatt starken Papiercodex im Format 315x210 mm, der gleichmäßig in Sexternionen als typischer Lagenstärke spätmittelalterli‐ cher Papierhandschriften angelegt ist. Der Prager Codex ist, abgesehen von der zweispaltig inserierten Kleinstdichtung auf den ersten Blättern, einspaltig beschrieben. Die Texte stehen im Verbund, sind aber durch eingerückte Überschriften markiert, zwischen den Ti‐ tulaturen und den Texten ist stets etwas Freiraum gelassen. Der Liedteil der Handschrift ist fast durchgängig strophisch gegliedert. Titulaturen und größer gestaltete Initialen sind in rot gehalten, die Anfangsbuchstaben der Verse sind mit roten Längsstrichen versehen. Die Sammlung erlaubt Einblicke in ihre unmittelbare Entstehungsgeschichte, indem die Person der Schreiberin urkundlich belegt und als Person historisch fassbar ist; auch der Auftraggeber ist bekannt. Die um 1430 geborene und nach 1476 gestorbene Clara Hätzlerin war die Tochter des Berufsschreibers und Notars Bartholomäus Hätzler. Sie lebte im Haus‐ halt des Vaters und später des gleichnamigen Bruders, der von 1457-96 als kaiserlicher Notar bezeugt ist. Einträge aus Steuerbüchern belegen, dass Clara Hätzlerin ebenfalls eine 273 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 242 Vgl. S C H N E I D E R , Berufs- und Amateurschreiber, S. 10. 243 Glier bezeichnet Clara Hätzlerin als einzige bekannte spätmittelalterliche Berufsschreiberin, Classen geht dagegen von weiteren berufsmäßigen Schreiberinnen in Augsburg aus. Vgl. G L I E R , ‚Hätzlerin, Clara‘ in 2 VL 3, Sp. 547; C L A S S E N , Die deutschen Liederbücher, S. 58. 244 Vgl. K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 64f. Ziegeler ermittelt für die Augsburger Kleinepik Handschriften, dass sich praktisch alle Codices im Besitz der vermögenden städtischen Oberschicht befanden. Vgl. Z I E G E L E R , Kleinepik im spätmittelalterlichen Augsburg, S. 319. 245 Vgl. J A N O T A , Literarisches Leben in Augsburg, S. 1. 246 Ebd., S. 7. 247 Vgl. B U S B Y , Codex and context Vol. II, S. 723. Ziegeler stellt in einer Auswertung Augsburger Sam‐ melhandschriften fest, dass es keine Hinweise auf spezifische stadtbürgerliche Interessenschwer‐ punkte gibt. Vgl. Z I E G E L E R , Kleinepik im spätmittelalterlichen Augsburg, S. 319, S. 327. Zur Konti‐ nuität literarischer Interessen siehe auch S. 108. 248 B R A N D I S , Der Harder, S. 199. Berufsschreiberin war. 242 Eine berufsmäßige Schreibtätigkeit von Frauen war vielleicht keine absolute Ausnahmeerscheinung im spätmittelalterlichen Schreibbetrieb, aber die Professionalität der von ihr gefertigten Bücher und die gute Datenlage lassen Clara Hätz‐ lerin als besonders profilierte Schreiberin in Erscheinung treten. 243 Die Käufer oder Auf‐ traggeber ihrer Handschriften, sofern diese über die Besitzereinträge fassbar sind, gehörten zum Patriziat oder zumindest zum gehobenen Augsburger Bürgertum; so war der als Erst‐ besitzer des ‚Liederbuches‘ verzeichnete Jörg Roggenburg ein Augsburger Kaufman mit verwandtschaftlicher Beziehung zu den Fuggern. 244 Der vergleichsweise gut rekonstruierbare Entstehungshintergrund der Handschrift er‐ laubt Einblicke in die zugrunde liegende literarische Interessenlage, so dass die literarische Landschaft des spätmittelalterlichen Augsburg in die Betrachtung des Codex einbezogen werden kann. Augsburg als eine der größten spätmittelalterlichen Städte war nach Nürn‐ berg auch eines der bedeutendsten Zentren literarischen Lebens im 15. Jahrhundert. 245 Die handschriftliche Überlieferung spiegelt eine ähnliche literarische Interessenlage wieder, wie sie auch für Nürnberg konstatiert wurde, indem eine Weiterführung literarischer Tra‐ ditionen und eine ausgeprägte Rezeption tradierter Texte erkennbar sind. Neben der „kon‐ servative[n] Literaturpflege“ gab es aber auch in Augsburg Raum für literarische Neu‐ erungen. 246 Das Beispiel Augsburg verweist erneut auf die Unmöglichkeit einer klaren Trennung von adlig-höfischem und städtischem Literaturbetrieb, da sich die Interessen als ähnlich erweisen. Auch in der Augsburger Literatur- und Handschriftenproduktion zeigt sich, dass die Literatur, die ursprünglich für ein feudaladliges Publikum gemacht war, zu‐ meist im Stadtadel eine weitere Interessentenschicht mit ähnlich gelagertem Selbstver‐ ständnis und Wertvorstellungen fand. 247 Neben Adel, Stadtadel und hohem Klerus erlangten wie in allen städtischen Literaturzentren auch vermögende Gruppierungen der städtischen Oberschicht, etwa Juristen und Ärzte, zunehmend Bedeutung als Auftraggeber und Besitzer von Handschriften. 248 Eine Beteiligung der illiteraten Handwerkerschaft mit den entsprechenden literarischen Institutionen wie Spielvereinigungen und Singschulen und deren genuinen Texttraditi‐ onen, die einen wichtigen Bestandteil des Nürnberger Literaturbetriebs darstellen, ist in Augsburg aber nicht fassbar. Des Weiteren zeigt sich, dass das literarische Leben in Augs‐ burg nur wenig durch Schulen geprägt war, sondern vorrangig durch das private Sammeln und Kopieren von Texten stattfand, was auf die eminente Bedeutung der Schreibertätigkeit 274 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 249 Vgl. J A N O T A , Literarisches Leben in Augsburg, S. 3. 250 Schneider ermittelt etwa 30 Schreibernamen für das spätmittelalterliche Augsburg, für 10 davon lässt sich sicher ermitteln, dass es sich um Berufsschreiber aus dem juristischen oder administrativen Bereich handelte. Vgl. S C H N E I D E R , Berufs- und Amateurschreiber, S. 10. 251 Vgl. ebd., S. 13ff. 252 Vgl. G L I E R , ,Hätzlerin, Clara‘ in 2 VL 3, Sp. 547; K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 51f. Folgende weitere Handschriften konnten Clara Hätzlerin zugeordnet werden (Auflistung nach S C H N E I D E R , Berufs- und Amateurschreiber): - Donaueschingen, Hs. 830 (1468): ‚Jüngere deutsche Habichtslehre‘ - Stuttgart, HB XI 51 (1473): Heinrich Münsinger: ‚Jagdbuch‘ - Heidelberg, Cpg 478 (undatiert): Johannes Hartlieb: ‚Buch aller verbotenen Kunst‘ - Heidelberg, Cpg 677 (undatiert): ‚Krönung Friedrichs III.‘ - Salzburg, St. Peter. B XII. 19a-b (undatiert): ‚Der Heiligen Leben‘, Sommer- und Winterteil; Auf‐ traggeber Johannes Wildsgefert, Augsburger Archediakon und Dompfarrer (ca. 1437-70), der das Legendar den Salzburger Petersfrauen schenkte - Augsburg, SuStB. 2° Cod. Aug. 160 (undatiert): ‚Stadtrecht von Augsburg‘ - Wien, NB. ser.nova 3614 (ehem. Lambach Cod. 147) 17 v -32 r (undatiert): ‚Schwabenspiegel‘, Vor‐ besitzer und evtl. Auftraggeber Konrad Graff, wohl identisch mit dem 1472 tödlich verunglückten Zunftmeister der Augsburger Kürschner. 253 Vgl. S C H N E I D E R , Paläographie, S. 122. verweist. 249 Die literarische Produktion fand zum Teil durch Berufsschreiber wie Clara Hätzlerin statt, für die die Anfertigung von Büchern einen Nebenerwerb neben der Tätigkeit für Kanzlei und Notariat darstellte. 250 Daneben hatten Amateurschreiber, die Auftragsar‐ beiten erledigten, einen hohen Anteil an der Handschriftenproduktion, teilweise wurden Handschriften auch von ihren Eigentümern selber hergestellt. 251 Von den von Clara Hätzlerin erstellten Handschriften sind noch acht erhalten, zumeist handelt es sich um Abschriften von umfangreicheren und ‚prominenten‘ Texten; in der germanistischen Forschung stellt das ‚Liederbuch‘ dabei den meist beachteten Codex von ihrer Hand dar. 252 Die von Clara Hätzlerin gefertigten Handschriften dokumentieren die Kontinuität feudaladliger Interessenslagen, gleichzeitig bezeugen sie ein Interesse an Rechtstexten. Alle Handschriften kennzeichnen sich durch einen ähnlichen Gestaltungs‐ modus, es sind schlicht gehaltene Gebrauchshandschriften ohne Vergoldungen und Illu‐ minationen, wobei die äußere Gestaltung, insbesondere das Schriftbild, immer sehr sorg‐ fältig und regelmäßig ausgeführt ist. Auch die regelmäßige Lagenzusammenstellung der Handschrift X A 12 demonstriert eine planvolle und sorgfältige Anlage des Codex und steht für die Professionalität der Schreiberin. 253 Alle erhaltenen Codices aus der Hand von Clara Hätzlerin sind mit ihrer Signatur versehen. Dies mag der generell bei spätmittelalterlichen Handschriften zu verzeichnenden Tendenz geschuldet sein, Schreibernamen zunehmend aufzuführen. Die Konstanz, mit der Clara Hätzlerin ihre Signatur setzt, zeugt dennoch von einem ausgeprägten Selbstbewusstsein für ihre eigene Arbeit und für den Stellenwert ihrer professionellen Schreibtätigkeit. Das ‚Liederbuch‘ ist mit großer Wahrscheinlichkeit keine originär durch die Schreiberin erstellte Kompilation, sondern die erweiterte Abschrift einer bereits bestehenden Samm‐ lung. Dies legt die Parallelüberlieferung zweier Handschriften nahe, die einen mit p 1 iden‐ tischen Kernbestand von 127 Texten aufweisen, aber nicht unmittelbar auf p 1 , sondern auf 275 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 254 Es handelt sich um die sog. ‚Bechsteinsche Handschrift‘ Leipzig Ms. 1709 (B) und den Berliner Codex mgf 488 (E). Für B und E wurde der Prager Codex als Vorlage ausgeschlossen. Geuther ermittelt identische Textlücken in B und E in verschiedenen Texten der Sammlung, die auf eine gemeinsame Vorlage von B und E schließen lassen. Da p 1 an diesen Stellen einen vollständigen Textbestand auf‐ weist, wird die Handschrift als Vorlage ausgeschlossen (vgl. G E U T H E R , Studien zum Liederbuch der Klara Hätzlerin, S. 7-16; G L I E R , ,Hätzlerin, Clara‘ in 2 VL 3, Sp. 549). Zum gemeinsamen Kernbestand von p 1 und B/ E sowie zu weiteren Vorlagenbeziehungen vgl. H O M E Y E R u.a., Überlegungen zur Neu‐ edition des sogenannten ‚Liederbuches der Clara Hätzlerin‘, S. 69; K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 162-167. 255 Vgl. K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 143f.; R E T T E L B A C H , Lied und Liederbuch im spät‐ mittelalterlichen Augsburg, S. 286; W A C H I N G E R , Liebe und Literatur, S. 401f. 256 Kernbestand und Ergänzungen in X A 12: 53 + 33 Minnereden, 17+11 Tagelieder, 57+48 Liebeslieder. Vgl. K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 149. 257 In der Edition durch Haltaus wird die Sammlung in eine episch-didaktische und eine lyrische Ab‐ teilung untergliedert, die - auf Grund eines Fehlers bei der Drucklegung - in umgekehrter Reihen‐ folge aufgeführt wurden. Die Edition hat einige Kritik erfahren, da durch die z.T. selektive Übernahme von Texten und durch Änderungen in der Abfolge Eingriffe in das Korpus vorgenommen wurden. Vgl. das Nachwort von Fischer im Neudruck der Edition von 1966 (Liederbuch der Clara Hätzlerin, hg. H A L T A U S , S. 367f.). 258 Vgl. W A C H I N G E R , Liebe und Literatur, S. 391. eine gemeinsame Vorstufe zurückzuführen sind. 254 Die Entstehung der Kernsammlung wird zwischen 1447 und 1471 angenommen und unter anderem aufgrund der Aufnahme von Texten überregional kaum bekannter fränkischer Autoren im fränkischen Raum verortet. 255 Dieser Kernbestand wurde in p 1 erheblich erweitert, indem dem ersten Teil 33, dem zweiten 59 Stücke hinzugefügt wurden. 256 Weiterhin wurde dem Textkorpus der Kernsammlung neben einem Register der Reimpaardichtung auch ein Priamelteil mit unterschiedlichem Spruchgut vorangestellt, der sich deutlich vom Rest der Sammlung abhebt und in der Pa‐ rallelüberlieferung nicht zu finden ist. Für den Prager Codex ergibt sich folgende Struktur: Priamelteil (1-17; 2r-6r); Minnereden (18-103; 6r-248v); Lyrik (133 Texte; 249r-359v). 7.5.2 Die Kernsammlung als Minnebuch Während die kleinepischen Sammelhandschriften in der Regel kein stringentes generisches Profil oder eine durchgehende Thematik haben, stellt die Kernsammlung von X A 12 eine bemerkenswert kohärente Zusammenstellung von Texten dar. Es handelt sich praktisch ausschließlich um Minnereden und Minnelieder, Texte anderer Gattungen finden sich nur vereinzelt. Die Sammlung ist nach generischen Gesichtspunkten strukturiert, indem sie sich in zwei klar unterscheidbare Teile gliedert. Der deutlich umfangreichere erste Teil, der hier im Fokus stehen wird, enthält ein beinahe homogenes Korpus von Minnereden, weiterhin einige andere Reimpaardichtungen, unter anderem das ‚Herzmaere‘. Der namengebende zweite lyrische Teil des ‚Liederbuchs‘ unterteilt sich noch einmal in Tagelieder und Lie‐ beslieder. 257 Während geschlossene Liedsammlungen kein Novum sind, stellt die Zusammenführung eines Liederkorpus mit einem ähnlich homogenen Minneredenteil eine ungewöhnliche Konzeption dar. Die der Prager Handschrift zugrunde liegende Kernsammlung ist als ein geschlossenes Minnebuch fassbar, 258 das durch den Überlieferungsverbund von Lieddich‐ 276 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 259 H Ü B N E R , Die Rhetorik der Liebesklage, S. 83f. 260 Vgl. ebd., S. 86. 261 Vgl. ebd., S. 87f., S. 97f. 262 Vgl. W A C H I N G E R , Liebe und Literatur, S. 386. In der Sammlung manifestiert sich nach Wachinger ein Bedürfnis der städtischen Oberschicht, an adlige Traditionen anzuknüpfen und diese Traditionen mit besonderer Korrektheit zu pflegen. Vgl. ebd., S. 402. 263 Vgl. L I E B , Eine Poetik der Wiederholung. tung und Minnereden als einer gleichfalls durch die Semantiken und Topoi der Minnelyrik bestimmten Textform ein außergewöhnlich kohärentes Profil prägt. Die Liederbücher des 15. Jahrhunderts unterscheiden sich von den Liederhandschriften des 13. und 14. Jahrhunderts, indem sie einen anderen Typus der Liebeslyrik tradieren. Hübner arbeitet am Beispiel des Prager Liederbuchs markante Differenzen zwischen der Liebes‐ konzeption im Minnesang des 12. und 13. Jahrhunderts und den in den Liederbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts dominierenden Texttypen heraus, die einen „Systemwechsel“ in der Liebesdichtung markieren. 259 Die neuen Liedtypen kennzeichnen sich demgemäß durch einen veränderten Fokus, indem die männlichen Sprecher ihre Reflexionen zumeist aus einer Perspektive erfüllter und einvernehmlicher Liebesverbundenheit artikulieren, für die sie sich Beständigkeit wünschen. 260 Dies zeigt sich etwa in Liebes- und Treueversicherungen sowie Grüßen und guten Wünschen, die zumeist an eine tatsächliche Geliebte, nicht an eine umworbene Frau gerichtet sind. Während im klassischen Minnesang die Klage über unerfüllte Liebe dominiert, ist diese nicht mehr der dominierende Tenor der neueren Lied‐ texte. Die Klage ist zwar immer noch ein zentrales Moment, aber diese hat zumeist nicht mehr die ausbleibende Gegenliebe zum Gegenstand, sondern die Gefährdung der Liebes‐ beziehung durch die Außenwelt. Dies wird schon durch den Typus des Tagelieds artikuliert, mit dem der lyrische Teil der Sammlung eingeleitet wird. Die Gefährdung der Liebe findet in der oft formulierten Missgunst der klaffer ihren Ausdruck, die die Heimlichkeit als Basis der zumeist immer noch illegitimen Liebesbeziehungen bedrohen oder die Treue der Lie‐ benden durch Verleumdung gefährden. 261 Die semantischen Implikationen dieser Form der Liebesdarstellung spiegeln sich auch in den Texten des kleinepischen Sammlungsteils wider. In den Minnereden als einem eng mit der Liebeslyrik korrelierten Bereich sind vergleichbare thematische Bewegungen fassbar. Der erste Teil der Sammlung überliefert die umfangreichste Minneredengruppe in einer spätmittelalterlichen Handschrift, die außerdem in einer ungewöhnlich homogenen Zusammenstellung erscheint. Die Texte unterscheiden sich in Qualität, Stil und Bekannt‐ heit, bezüglich der abgebildeten Minneauffassung lassen sie sich aber zu einem bemer‐ kenswert geschlossenen thematischen Konzept subsumieren. Dieses kennzeichnet sich durch eine zunächst konventionell erscheinende Auffassung von Liebe in höfischer Tradi‐ tion, die Minne topisch als Quelle der Tugend präsentiert, die Kardinaltugenden von êre und triuwe betont und in der auch wiederholt das Rittertum als Träger der vorgestellten Minneauffassung aufgerufen wird. 262 Die ‚Poetik der Wiederholung‘, die Lieb als wichtiges Konstituens der Textsorte Minne‐ rede herausgestellt hat, wird in dieser generisch homogenen Zusammenstellung in beson‐ derem Maße zu einem sinntragenden Moment. 263 Die Variationen formelhafter Textele‐ mente und oft stereotyper Inhalte erzeugen zunächst keine signifikanten Divergenzen in 277 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 264 Vgl. L I E B , Eine Poetik der Wiederholung, S. 516ff. Die Wiederholungsfunktion, mit der „die Macht und Kraft der Minne selbst, die Idee der Minne präsent“ gemacht wird, dabei als „entsemantisie‐ rend[en]“ einzustufen (ebd., S. 515), kann aber nur eingeschränkt Gültigkeit haben. Zweifellos wird mit der Wiederholung weitgehend konsensualer Minnetugenden und Grundannahmen über das Wesen der Minne dieses Wissen auch affirmativ vergegenwärtigt. Aber auch in der formalisierten Darstellungsweise gibt es Variationen und ein differenziertes Spektrum an Bedeutungsimplikationen - auch Brüche mit konventionalisierten Erwartungen werden keineswegs selten eingespielt -, mit denen die einzelnen Minnereden innerhalb des formelhaften Sprach- und Motivspektrums indivi‐ duelle Sinnpointierungen gestalten. 265 Vgl. W A C H I N G E R , Liebe und Literatur, S. 391f. den Grundaussagen der Minnereden, sondern vergegenwärtigen durch die Wiederholung des Typischen die Traditionen des Redens über Minne. Das Repetieren stereotyper Kon‐ flikte, das Bestandteil nahezu aller Minnereden ist, prägt dabei eine Herausforderung dieser Konsense, die eine erneute Rückbindung und Bestätigung der Werte und Normen provo‐ ziert. 264 In der Sammlung p 1 werden Minnereden kaum in semantischen Kontrasten zu an‐ deren Textsorten arrangiert, sondern verbleiben kohärent in ihrer eigenen Diskursstruktur. Die Geltung der Norm, die Tradition des richtigen Redens über Minne, wird in einer be‐ sonderen additiven Verdichtung vergegenwärtigt. Die in p 1 inserierten vorrangig spätmittelalterlichen Minnereden transportieren dabei nicht nur die etablierten Konzepte, die in den Minnereden des 13. und frühen 14. Jahrhun‐ derts vorherrschen, sondern gestalten auch eine Neuakzentuierung der Liebesreflexion, in der sich ähnliche thematische Akzente wiederfinden, wie sie für die Liebeslieder konstatiert wurden. So wird in den Texten durchgängig, trotz der Darstellung von Liebesschmerz, eine im Grunde positive Minneauffassung propagiert, die auch als konform mit christlicher Ethik heraus gestellt wird. Die Texte legen einen deutlichen Fokus auf die Positivierung von Minnegewährung: Sexualität wird kaum noch problematisiert, sondern ist in den ab‐ gebildeten Wertekanon integriert. 265 Die Sammlung wird - nach dem vorangestellten Priamelteil - durch die thematisch kor‐ respondierenden Reden ‚Lob der Frauen‘ (18) und ‚Die Beichte einer Frau‘ (19) eröffnet, die programmatisch das inhaltliche Profil der Kernsammlung entfalten. Die erste Rede mit dem rubrizierten Titel ‚das nyemands frawen übel red‘ formuliert ein umfangreiches Frauenlob und eine Positivierung von Liebeserfüllung als höchstem Glück, das in überwiegend theo‐ logischer Argumentation dargelegt wird: Die von Gott geschaffene Frau sei auch Ursprung einer von Gott gewollten Freude, für die jede Frau zu ehren sei. Wiederholt werden die claffer getadelt, die Frauen Böses nachsagen. Auch Ehebruch legitimiere keine üble Nach‐ rede, denn Christus trat für die Ehebrecherin ein: Hätte er ihre unstätt verurteilt, wäre sie tot. Der zweite Text mit der rubrizierten Überschrift ‚das pulschafft nit sünd sey ain hübsche peicht‘ entspricht im Kern der Versnovelle ‚Pfaffe und Ehebrecherin‘, in der eine Frau den Pfarrer bei der Beichte mit argumentativer Raffinesse davon überzeugt, dass Buhlschaft grundsätzlich rechtschaffen und in Übereinstimmung mit christlicher Ethik zu sehen sei. Der Plot wird hier als belauschte Beichte gestaltet, bei der die Frau mit topischen Mustern des Minnedienstes argumentiert, indem sie die große Tugendhaftigkeit und triuwe betont, die das Streben nach Minne hervorbringe und die Gegenliebe und Liebeserfüllung recht‐ 278 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 266 G L I E R , Artes amandi, S. 151. 267 Vgl. S I M O N , Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels, S. 326. fertige. Sie weiß sich in ihrer außerehelichen Liebe aber auch in Übereinstimmung mit der christlichen Ethik, denn Gott fordere, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, und sie liebe ihren gesellen sogar mehr als sich selbst. Auch würden die Männer nur um der Liebe willen nach Ritterschaft streben, ohne Buhlschaft gäbe es daher keinen Dienst an Gott im Hei‐ denkampf. Am Ende dankt der Pfaffe für die Belehrung, er will künftig alle Männer und Frauen zu hoher Minne anhalten; auch der ergriffene Sprecher beschließt die Rede mit einem Frauenlob und einer Verurteilung der claffer, die die gerechte Liebe verleumden. In dem einleitenden Textpaar finden sich damit die Semantiken der Positivierung von Liebe und Liebeserfüllung und die Klage über die Bedrohung durch die Außenwelt wieder, die auch als konstitutive Semantiken des lyrischen Teils der Sammlung herausgestellt wurden. Die Verknüpfung geistlicher und weltlicher Liebessemantiken als häufigem Mo‐ ment von Liebesdichtungen wird hier in einer parodistischen Zuspitzung narrativiert. In den folgenden Texten setzt sich diese inhaltliche Prägung fort. Die Minnereden verhandeln gattungstypisch die topischen Minnetugenden wie Treue, Beharrlichkeit und das Streben nach Tugend. Zum Korpus gehören elaborierte und komplexe Texte wie ein Auszug aus ‚Die Minneburg‘ (42), die eine dichte und im Gegensatz zur einleitenden ‚Die Beichte einer Frau‘ keinesfalls ironische Analogisierung weltlicher und geistlicher Liebe gestaltet. Als „systematischste deutsche ars amandi des Mittelalters“ lässt ‚Die Minneburg‘ eine ausge‐ prägte didaktische Absicht erkennen, in der auch der Schutz der Liebe vor innerer und äußerer Bedrohung Gegenstand der Verhandlung ist. 266 Es finden sich weiterhin Texte, die zum beständigen Werben auch bei Nichterfüllung auffordern (6+7) oder die Frauen zur Beständigkeit ermahnen (31+32). Auffällig häufig wird, wie in den Liedern des lyrischen Teils, nicht aus einer Perspektive der Werbung und ausbleibenden Gegenliebe, sondern der wechselseitigen Liebe gesprochen. So gibt es verschiedene Formen wechselseitiger Klage über die Trennung von Liebenden (z.B. 27, 33, 47+48). Weiterhin gibt es Texte, die eine Gefährdung einer bestehenden Liebesbeziehung durch die Untreue der oder des Geliebten verhandeln (21, 25, 31). Es ist eine ganze Reihe von Liebesbekenntnissen an eine nicht nur umworbene, sondern tatsächlich mit dem Sprecher verbundene Geliebte aufgeführt, dazu gehört auch die Reihe der ‚Neujahrsgrüße‘ (51-58), die gute Wünsche an die Geliebte zum Neuen Jahr formulieren. Neujahrsgrüße werden zum Korpus der Minnereden gezählt, sie ähneln der zuerst durch Hans Rosenplüt literarisierten Tradition der ‚Klopfan-Sprüche‘; beide Kleinformen gestalten aus einer wohl ursprünglich mündlichen Tradition einen wei‐ teren Modus des literarischen Minneausdrucks, der weniger ein Werbungsbegehren als eine Bestätigung der Liebe ausdrückt. 267 Auch in p 1 ist das für kleinepische Sammlungen typische Verfahren der Zusammenstel‐ lung thematisch korrespondierender Textpaare und Textgruppen augenscheinlich. Es finden sich neben einfachen Motivanalogien (z.B. 21+22 über das gemeinsame Motiv des Traumes ) auch weiterreichende inhaltliche Korrespondenzen, etwa das Streben nach Tu‐ gend um der Liebe willen (24+25). ‚Die Beständige und die Wankelmütige‘ (25) und das ‚Streitgespräch zweier Frauen über die Minne‘ (26) haben die Situierung des belauschten Streitgesprächs zweier Frauen gemeinsam, in dem die Bereitschaft zur Treue bzw. zum 279 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 268 Auch im Liedteil finden sich zahlreiche Texte, die die Problematik des claffens verhandeln. So trägt das einzige weltliche Lied des Mönchs von Salzburg den Titel ‚Pfuch römer lieger claffer‘ (296r), auch das voranstehende Lied handelt von klaffern. Vgl. M Ä R Z , Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg, S. 86f. 269 Vgl. H O M E Y E R u.a., Überlegungen zur Neuedition des sogenannten ‚Liederbuches der Clara Hätzlerin‘, S. 70. Liebesleid gegen die jeweils gegenläufigen Positionen verteidigt wird. Die Texte 34 und 36- 39 stellen eine Gruppe verschiedener Minne-Farb-Allegorien als Kataloge für das richtige Verhalten in der Liebe dar. Die Begrifflichkeit des claffers bzw. des claffens erweist sich als Schlüsselwort der Min‐ neredensammlung, das in einem Großteil der Texte des Kernbestands immer wieder auf‐ gegriffen wird. 268 Liebe wird im Liederbuch nicht mehr nur als unerfülltes Streben verhan‐ delt, sondern vor allem als kostbares Gut gepriesen, das durch eine missgünstige oder unverständige Außenwelt oder durch fehlende Verschwiegenheit gefährdet ist. Auch der Teichner-Auszug ‚Das die welt alles ding zu dem pösten verstat‘ (29) als einer der wenigen nicht dem Typus der Minnereden zugehörigen Texte in der Kernsammlung fügt sich als Klage über die Welt, die jedes Handeln schlecht redet, in diese Leitmotivik ein. Das claffen wird nicht nur als Gefährdung der Liebesbeziehung getadelt, es ist auch negativer Gegenpol zu der geforderten ‚schönen Rede‘ über Frauen, die immer wieder als grundlegende ethische Handlungsmaxime herausgestellt wird. Die Semantik des claffens wird zu einer zentralen Markierung der intertextuellen Relationen zwischen den Dichtungen, die Zusammenstel‐ lung der Texte gestaltet sich als ein Netz von Bezugnahmen auf das gemeinsame Schlüs‐ selwort. Durch die Textauswahl und -anordnung prägt das Liederbuch in der zusammenhän‐ genden Lektüre ein thematisch kohärentes Gesamtkonzept. Die inserierten Reden haben zwar unterschiedliche Schwerpunkte und Motive - auch gibt es divergente Erzählhal‐ tungen, die sowohl dezidiert belehrende als auch parodistische Perspektiven einschließen -, aber sie haben mit der positiven Minneauffassung und der praktisch uneingeschränkten Forderung des Frauenlobs einen gemeinsamen Modus des Redens über Minne. 269 Die Di‐ vergenz der Texte wird in der zusammenhängenden Lektüre durch die gemeinsame Pers‐ pektive dieser positivierenden Liebesauffassung homogenisiert. Die ironisierenden und persiflierenden Momente, die vor allem durch die einleitende ‚Beichte einer Frau‘ trans‐ portiert werden, werden im Kontext des gesamten Korpus weniger zu einer Bloßstellung der buhlenden Frau oder des übelen wîp, wie dies in den Sammlungen S und w fassbar ist, vielmehr lässt die dominante Positivierung von Liebeserfüllung moraltheologische Ein‐ wände weniger relevant erscheinen. Texte, die diese leitenden Semantiken explizit konter‐ karieren, finden sich im Kernbestand der Sammlung nicht. 7.5.3 Das ‚Herzmaere‘ als Minnerede Das ‚Herzmaere‘ (40) wird in in p 1 in ein außergewöhnlich kohärentes Sammlungsprofil integriert. Es gehört zu den wenigen Texten des 13. Jahrhunderts, die in das überwiegend spätmittelalterliche Korpus des Prager Codex eingefügt wurden und stellt außerdem die einzige versnovellistische Dichtung im Kernbestand der Sammlung dar. 280 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 270 Zur Textgestalt in w/ i als zweiter Fassung des ‚Herzmaere‘ siehe Kap. 7.3.2. Haltaus stellt der Edition eine kommentierende Einleitung voran, die hinsichtlich des ‚Herzmaere‘ eine Fehldeutung vermittelt, indem er Nahrungsverweigerung als konkrete und physische Ursache des Todes der Frau interpretiert (vgl. Liederbuch der Clara Hätzlerin, hg. H A L T A U S , S. XVIIIf). Der Textbestand in p 1 führt das Sterben der Frau aber vollkommen analog zu der übrigen Überlieferung aus. Diese Variante des freiwilligen Hungertodes ist in anderen Versionen des Erzählstoffes vom gegessenen Herzen fassbar und wurde z.B. in Uhlands ‚Kastellan von Couci‘ realisiert (vgl. B O H N‐ E N G E L , Dialektik der Affekte, S. 296), möglicherweise hat diese literarische Tradition eine entsprech‐ ende Lesart bei Haltaus motiviert. 271 Zur Vorlagenbeziehung von p 1 , B und E siehe S. 287ff. 272 Konrad von Würzburg: Die goldene Schmiede, hg. S C H R ÖD E R . Schröder äußert im Kommentar zur ‚Herzmaere‘-Edition die These, der Schreiber der Vorlage von X A 12 hätte die Gedichtanfänge bei der fehlerhaften Niederschrift aus dem Gedächtnis „zusammen geworfen“. Vgl. Konrad von Würz‐ burg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. X. Das ‚Herzmaere‘ umfasst in p 1 486 Verse und wird unter dem Titel der herzspruch ver‐ zeichnet. [Abb. 9, S. 296] Die Textgestalt entspricht im Wesentlichen derjenigen im Wiener Codex 2885. Alle signifikanten Punkte, die dort abweichend von den übrigen Überliefe‐ rungsträgern gestaltet sind, insbesondere die veränderte Inszenierung der Zubereitung des Herzens, finden sich, abgesehen von regional und historisch bedingten Schreibgewohn‐ heiten, auch im Liederbuch in praktisch identischer Form wieder, so dass hier mit dem Verweis auf das Kapitel zu Wien 2885 auf eine ausführliche Beschreibung der Textgestalt verzichtet werden kann. 270 Die Parallelhandschriften des Liederbuches B und E gestalten den Textbestand des ‚Herzmaere‘ nahezu synchron zu p 1 , auch in den wenigen Punkten, in denen p 1 nicht mit w/ i kongruent ist. Wenn man eine Vorlagenbeziehung von p 1 zu B und E ausschließt und stattdessen eine voneinander unabhängige Entstehung der Handschriften auf der Basis einer gemeinsamen Vorlage annimmt, 271 dürfte Clara Hätzlerin den Textbe‐ stand des ‚Herzmaere‘ ohne signifikante Veränderungen aus dieser übernommen haben. Als einzige von w/ i signifikant abweichende Variante ist in p 1 der Verweis auf Gottfried von Straßburg im Prolog durch zwei Verse ergänzt, die der Gottfried-Referenz im Prolog der ‚Goldenen Schmiede‘ Konrads von Würzburg ähnlich sind: Das pringet vns die weisshait da wirdeclichen ufe saz, Von strassburg meister gotfrid von Strazburc meister Gotfrit, Der worcht als ein haubtschmid der als ein waeher houbetsmit Alles sein geticht in gut (p 1 , 82r). guldin getihte worhte (GS, V. 96-99). 272 Mit der Ergänzung der Dichter-Referenz ist Gottfried in p 1 nicht nur Beglaubigungsinstanz für die erzählte Geschichte, es wird auch explizit seine Verskunst als Beispiel besonders gelungenen Dichtens und damit des ‚richtigen‘ Redens über Minne eingespielt. Die Schlussverse des Prologs, in denen auf die Vorbildfunktion der angekündigten Ge‐ schichte verwiesen wird, sind wie in w/ i auf zwei Verse reduziert. Im Unterschied zu allen übrigen Überlieferungsträgern wird im Liederbuch dabei nicht die Metaphorik des Bildes benutzt: 281 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 273 Ähnlich in S; l; m. Ko führt keinen Prolog auf. 274 W A C H I N G E R , Liebe und Literatur, S. 392. Das man da von nemen mug Daz man dar an gechisen muge Das man davon mynnen müg Ain pild daz zu der minn tug Ein bilte daz der werlde tuge Merck wer zu der mynn tüg Die lauter vnd die reine (w, 10v). (p 1 , 82r). Sal sin vor allem meine (H, 346r). 273 Hier liegt eine intentionale Variation nahe, denn es wird nicht auf die Wirksamkeit der Dichtung als bildhaftes Beispiel abgezielt, sondern der folgenden erzählten Geschichte wird die explizite Frage vorangestellt, wer hier als beispielhaft liebend in Erscheinung treten wird. Analog zu w/ i führt p 1 den kurzen Schluss mit nur acht Versen auf, in denen der Ehemann für den anthropophagischen Akt getadelt wird, ohne die Begrifflichkeit der dör‐ perheit zu verwenden, die in Ko, H und S enthalten ist. Als einziger versnovellistischer Text sticht das ‚Herzmaere‘ zunächst aus dem Minne‐ reden-Korpus der Kernsammlung heraus, inhaltlich integriert es sich aber durchaus kohä‐ rent in das Sammlungsprofil. Die Kategorisierung Wachingers, für den das ‚Herzmaere‘ im Liederbuch als „ein Exempel der lauterlichen Minne vergangener Zeiten“ dient, 274 ist aber zu ergänzen. Das ‚Herzmaere‘ ist zunächst eine beispielhafte Erzählung über Minne; die Geschichte von Ritter und Dame, die offensichtlich zur Minne tougen, liest sich im Kontext der zahlreichen Minnereden, die Liebesverwirklichung explizit gut heißen, in einer fast uneingeschränkten Positivierung. Die problematischen Implikationen der illegitimen Lie‐ besverbindung, wie sie zum Beispiel im Cgm 714 durch die Überlieferungsgemeinschaft mit geistlichen Texten betont werden, treten hier in den Hintergrund. Das ‚Herzmaere‘ ist in dieser Textumgebung aber auch Beispiel für das im Liederbuch getadelte Fehlverhalten gegenüber Frauen, die in der Kritik des Ehemannes zum Tragen kommt. Dessen Rolle ist im Kontext des Liederbuches besonders negativ konnotiert, da er Widersacher der Liebenden ist und die grundsätzlich positivierte Liebesverwirklichung vereitelt. Die Sorge vor der missgünstigen und feindlich gesonnenen Außenwelt, die als Grundtenor das Liederbuch durchzieht, wird im ‚Herzmaere‘ in einem konkreten Kasus verhandelt. Die Sorge vor dem Bekanntwerden der Liebe und dem Gerede der Öffentlich‐ keit, die im ‚Herzmaere‘ die Heimlichkeit der Liebenden bedroht und die tödliche Jerusa‐ lemfahrt motiviert, rekurriert auf die Semantiken des claffens. Die aus w/ i bekannte Textform des ‚Herzmaere‘, die das Listhandeln des Ehemannes fokussiert und an Stelle der langen Schlussrede mit dem Lob vergangener Zeiten den sehr gegenwärtigen Tadel des fehl handelnden Ehemannes aufführt, fügt sich schlüssig in das Liederbuch ein. Unabhängig davon, ob diese Textfassung durch die Vorlagensituation vor‐ gegeben war oder aufgrund einer gezielten Entscheidung Aufnahme in die Sammlung ge‐ funden hat, liest sich das akzentuierte Rachehandeln des Ehemannes im Sammlungskontext von p 1 mit einer besonderen Plausibilität. Das männliche Fehlverhalten der Frau gegenüber, das im kurzen Schluss getadelt und ins Zentrum der Rezeption gestellt wird, fügt sich auch gut an den Anschlusstext ‚Belehrung 282 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 275 Wachinger schließt eine Erweiterung durch Clara Hätzlerin selber aus, ohne diese Einschätzung weiter auszuführen (vgl. W A C H I N G E R , Liebe und Literatur, S. 390). Knor stellt nach der Auswertung der Parallelüberlieferung des Prager Codex fest, dass sich letztlich nicht sicher bestimmen lässt, ob Clara Hätzlerin „die Erweiterung der ursprünglichen Kernsammlung gegebenenfalls durch die Ab‐ schrift kleinerer Faszikel persönlich gesteuert hat oder ob ihr bereits eine modifizierte an die aktu‐ ellen Rezeptionsbedürfnisse in Augsburg angepasste Fassung als Vorlage gedient hat“. K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 140. 276 Aus den beiden Dichtungen ‚Spiegel‘ und ‚Schleiertüchlein‘ wurden jeweils 13 bzw. 71 Verse he‐ rausgelöst und unmarkiert unter dem Titel ‚Vnderweisung aines der Ritter wolt werden‘ aneinander‐ gefügt. Bei den Textpartien handelt es sich jeweils um lehrhafte Redepartien, die in der Prager Handschrift als eine allgemein gehaltene Ritterlehre präsentiert werden, die zum Einhalten des ty‐ pischen Tugendprogramms auffordert. 277 Zu den Erweiterungen, die auf ein spezifisches Auftraggeber-Interesse zurückgeführt werden, zählt etwa ‚das hus geschirr‘, das die konkreten materiellen Nöte des Ehelebens darstellt. Insbesondere aufgrund dieses Textes mit seiner ökonomischen Perspektive wird der erweiterten Sammlung in der Forschung verschiedentlich der Charakter eines Hausbuches zugesprochen, das der spezifischen In‐ teressenlage des neu verheirateten Auftraggebers Rechnung tragen würde (vgl. R E T T E L B A C H , Lied und Liederbuch im spätmittelalterlichen Augsburg, S. 305f.). Allerdings stellt die Verhandlung öko‐ nomischer Nöte und die hûssorge-Thematik kein ungewöhnliches Moment in der Liebesdichtung dar und muss keineswegs als pragmatischer Text gelesen werden. eines jungen Mannes‘ (41) an. Die hier aufgeführte Minne-Tugend-Lehre betont, neben den üblichen Aufforderungen zu zucht, maze, êre und Gottesfurcht, ausführlich die Notwen‐ digkeit, den Zorn gegenüber Frauen zu mäßigen und angesichts all des Guten, das Frauen bewirken, in liebevolles Denken zu verwandeln. In der zusammenhängenden Lektüre liest sich die Minnerede wie ein mahnender Kommentar zu dem Handeln des Ehemannes im ‚Herzmaere‘. 7.5.4 Suberversive Ergänzung des Minnebuches Während in den Parallelhandschriften B und E an das Korpus der Minnereden unmittelbar der Liedteil anschließt, wird der Minneredenteil in p 1 signifikant durch Texte erweitert, die in Thematik und Texttyp zum Teil von dem klar konturierten Profil der Kernsammlung abweichen. Ob Clara Hätzlerin die Kernsammlung eigenständig erweitert oder die Samm‐ lung bereits mit dem ergänzten Bestand einer Vorlage entnommen hat, lässt sich dabei nicht bestimmen. 275 Zum ergänzten Bestand gehören vor allem Texte bekannter Autoren. Neben weiteren Minnereden sind auch verschiedene andere Texttypen aufgeführt, so dass die Erweiterung nicht mehr der kohärenten Konzeption einer Minneredensammlung entspricht. Es werden einige geistliche Lieder von dem Mönch von Salzburg aufgeführt (80-83, 101, 102), die zusammen mit der voranstehenden ‚Christlichen Lebenslehre‘ (78) und einem zu einer Rit‐ terlehre zusammen geführten Exzerpt aus zwei Dichtungen Hermanns von Sachsenheim (79) 276 eine vor allem geistlich-belehrend geprägte Textformation bilden. Weiterhin sind Auszüge aus Freidanks ‚Bescheidenheit‘ (95-99), der mittelhochdeutsche ‚Cato‘ (87) und eine Tischzucht (88) hinzugefügt, die mit ihrer allgemeinen Tugendbelehrung ebenfalls andere Akzente setzen als die Minnereden. Diese Ergänzungen können dem für den Augs‐ burger Literaturbetrieb konstatierten Interesse an einer Pflege literarischer Traditionen geschuldet sein, das sich in dem Codex des stadtadligen Auftraggebers niederschlägt. 277 283 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 278 Vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 74. 279 H U S C H E N B E T T , ‚Hermann von Sachsenheim‘ in 2 VL 3, Sp. 1098. 280 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 330-33; S C H L E C H T W E G -J A H N , Eine Pilgerfahrt, S. 151. Neben diesen belehrenden Texten werden verschiedene kurze Reimpaardichtungen hin‐ zugefügt, die dem versnovellistischen Typus zumindest nahestehen und die durch schwank‐ hafte und derbe Inszenierungen von Minnehandlungen einen Kontrast zu den Implikati‐ onen des eigentlichen Minnebuches darstellen. So erzählt Rosenplüts ‚Der Knecht im Garten‘ (94) eine besonders listreiche und gleichzeitig brutale Inszenierung von Ehebruch, die wenig mit den emphatischen Liebesbekenntnissen der Minnereden gemein hat. Mit ‚Die Bauernhochzeit‘ (84) und Hermanns von Sachsenheim ‚Grasmetze‘ (90) sind außerdem zwei Dichtungen aufgenommen, die als persiflierende Kontrastimitationen einer normativ ge‐ stalteten Minneredentradition gefasst werden können. ‚Die Bauernhochzeit‘, die als paro‐ dierende Darstellung von Brautwerbung und Hochzeitsfeierlichkeit eine der Vorlagen für Wittenwilers ‚Ring‘ bildet, markiert mit ihrem anti-höfischen Personal und der ausgespro‐ chen derben Schilderung der ausartenden Hochzeitsfeier einen starken Kontrast zum Modus der Minnereden. Besonderes Augenmerk muss auf der ‚Grasmetze‘ liegen, die die Schreiberin durch eine optische Markierung deutlich hervorgehoben hat: Über einer unbetitelten 10 Verse umfas‐ senden Spruchdichtung, auf die unmittelbar die ‚Grasmetze‘ (90, 215v) folgt, steht der Au‐ torenname Hermann von Sachsenheim in einem wie eine Schriftrolle gestalteten und in grüner Farbe gehaltenen Kasten. Die ‚Grasmetze‘ wird zumeist dem Minneredenkorpus zugeordnet, Fischer zählt diesen Text wie auch ‚Die Bauernhochzeit‘ zu den ‚Grenzfällen‘ der versnovellistischen Dichtung. 278 Die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstan‐ denen Minnereden Hermanns von Sachsenheim gelten als „eine der letzten großen und interessantesten Manifestationen dieser Gattung“, 279 indem der Verfasser kenntnisreich mit den topischen Motiven und Konventionen der Minnereden arbeitet, aber die gattungsty‐ pischen Erwartungen immer wieder durch die Kombination höfischer und dörperlicher Elemente durchkreuzt. Hermann von Sachsenheim vermittelt eine präzise Kenntnis der Tradition höfischer Minnedichtung und eine souveräne Umdeutung derselben ins Komi‐ sche. 280 Damit wird im Bereich der Minnereden eine ähnliche Genese fassbar wie in der Entwicklung der Versnovellen aus der Tradition der Exempeldichtung, indem Darstel‐ lungsmodus und topische Motive und Schemata eines zunächst normativen und lehrhaften Texttyps adaptiert und in eine relativierende und subvertierende Form überführt werden. So gestaltet die ‚Grasmetze‘ ein parodistisches Werbungsgespräch zwischen dem Spre‐ cher und einer wenig ansprechend skizzierten Dienstmagd. Der alte Werber trägt seine Liebesklage in herkömmlichen höfischen Formeln vor, auf die die Frau ihm ausschließlich abweisend und derb antwortet und seine metaphorische Sprache dabei oft missversteht. Der Werber erweist sich letztlich als nicht minder dörperlich als die Magd, seine Gedanken und Reaktionen stellen den ritterlich-höfische Habitus als eine aufgesetzte formelhafte Sprechweise bloß, die seine eigentliche Intention nur unzureichend verbrämen kann. Nach einem erfolglosen Vergewaltigungsversuch zieht sich der Sprecher gedemütigt und resig‐ niert zurück. 284 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 281 P E T E R S , Mittelalterliche Literatur - ein Krisenphänomen? , S. 143. 282 Was genau als literarische ‚Kleinstformen‘ gefasst wird, ist nicht fest fixiert. Wachinger nennt Rätsel, Scherzfragen, Witze, Sprüche und Epigramme als häufige Typen. Die kleine Sammlung am Beginn der Prager Handschrift ist nach Wachinger typisch für die Verschriftlichung von Kleinstformen, die zumeist als „Gelegenheitseinträge auf freigebliebenen Stellen einer Handschrift, manchmal als Fe‐ derproben, öfter als Kleinsammlungen“ innerhalb einer Sammlung aufgeführt werden. W A C H‐ I N G E R , Kleinstformen der Literatur, S. 2-9, Zitat S. 16. 283 Matter geht davon aus, dass die sechs Vorsatzblätter zunächst frei geblieben sind, um das Register des Redeteils nachzutragen; die Kleinstdichtung wurde dann auf der letzten Produktionsstufe zu‐ sammen mit dem Register verschriftlicht, um den frei gebliebenen Raum zu füllen. Vgl. M A T T E R , Was liest man, wenn man in Minneredenhandschriften liest? , S. 284f. Die eingespielte Dörperthematik in ‚Die Bauernhochzeit‘ und ‚Die Grasmetze‘ kann, wie es für die Neidhart-Tradition herausgestellt wurde, im Kontext einer „ständisch akzentu‐ ierte[n] adelige[n] Gruppenbestätigung“ als Selbststilisierung der adeligen Elite über das Medium literarischer Unterhaltung gelesen werden. 281 In der Erweiterung des Minnebuches in p 1 liest sich diese aber auch als Bestandteil des parodistischen Spiels mit den literarischen Konventionen des schönen Redens über Minne. Ebenfalls besonders markiert durch eine optisch hervorgehobene Überschrift ist die anonym überlieferte Rede ‚Die sieben größten Freuden‘ (96), die die Positivierung von Lie‐ beserfüllung als leitender Semantik der Minnereden deutlich karikiert. In einem Reihen‐ gespräch, in dem sieben Männer die jeweils für sie größte Freude des Lebens schildern, wird die Minne in einer Gleichsetzung mit Sexualität ausführlich in derber und obszöner Sprache gelobt und auch noch recht profan in die anderen geschilderten Freuden Trinken, Essen, Körperausscheidungen, Schlafen und Baden eingereiht. Den Schlusstext des kleinepischen Teils bildet die Minnerede ‚Stiefmutter und Tochter‘ (103), der der bezeichnende Titel ‚Wie ain muter ir dochter lernet pulen‘ vorangestellt ist. In einem belauschten Gespräch äußert ein junges Mädchen den Wunsch nach einem Mann, der ihr körperliches Begehren befriedigt. Sie wird von ihrer Mutter über die Notwendigkeit belehrt, nach Möglichkeit mehrere Liebhaber gleichzeitig zu haben und sich von diesen bezahlen zu lassen. Die Handlungsanweisung belegt sie ausführlich durch ihren eigenen Erfahrungsschatz, der zu sieben unehelichen Kindern geführt hat. Auch wenn der Erzähler abschließend die Lasterhaftigkeit der Frauen tadelt, wird das Moment der Belehrung über richtiges Verhalten in der Minne als konstitutivem Moment des Typus Minnerede deutlich parodiert, indem anstelle einer normativen Belehrung eine Anleitung zur Prostitution steht. Während die Genese der hinzugefügten Texte im Lieder- und Minneredenteil der Samm‐ lung umstritten ist, werden die dem Hauptteil vorangestellten Kleinstdichtungen Clara Hätzlerin zugeordnet. 282 Der sechs Blätter umfassende Priamelteil, in den auch das Register integriert ist, steht abgegrenzt von der Hauptsammlung auf den Vorsatzblättern des Codex, er ist damit als eigenständiger Teil der Sammlung fassbar. 283 Neben verschiedenen didakti‐ schen und satirischen Redensarten steht hier je eine alphabetische Liste mit Kose- und Schimpfnamen für Frauen (z.B. Allerliebsts - Abgerittene, Beschaidens - Böswichtin, Czu‐ ckersüsz - Czerrüfne; 2r,2v), die einander gegenüberstehenden Listen gestalten eine unmit‐ telbare Kontrastierung von Frauenlob und misogyner Polemik. Eine weitere Ergänzung des Kernbestands ist eine mit den Haupttexten beginnende Randbeschriftung, die von Blatt 6r 285 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 284 Der ‚Ironische Frauenpreis‘ ist allein in der Prager Handschrift vollständig überliefert, daneben gibt es noch eine ältere, aber deutlich kürzere Redaktion, in der die Reimpaare aber in anderer Reihenfolge aufgeführt und außerdem zusammenhängend verschriftlicht sind. K L I N G N E R / L I E B , Handbuch Min‐ nereden, Bd. 1, S. 28. 285 Vgl. M A T T E R , Was liest man, wenn man in Minneredenhandschriften liest? , S. 302ff. 286 W A C H I N G E R , Liebe und Literatur, S. 391, S. 403. Ähnlich H O M E Y E R u.a., Überlegungen zur Neuedition des sogenannten ‚Liederbuches der Clara Hätzlerin‘, S. 69 und G L I E R , ‚Hätzlerin, Clara‘ in 2 VL 3, Sp. 549. bis 65r auf dem unteren Rand jeder Seite ein Verspaar des ‚Ironischen Frauenpreis‘ (17) deutlich abgesetzt vom Haupttext aufführt, wobei immer alternierend ein positiv (auf der r-Seite) und ein negativ (auf der v-Seite) formulierter Zweizeiler über Frauen eingetragen wird. Die positiven Reimpaare bedienen im Wesentlichen vertraute Muster des Frauenlobs; wie das Gros der Minnereden werden sie von dem Sprecher aus einer Perspektive besteh‐ ender und erfüllter Liebesbeziehung artikuliert. In den negativen Verspaaren werden dras‐ tische Beschimpfungen formuliert, in denen das Äußere und das Wesen der Frau sowie die Minnebeziehung in derber, zum Teil skatologischer und obszöner Sprache herabgewürdigt werden, oft unter Verwendung von Formulierungen, die auf die bäuerliche Lebenswelt verweisen. 284 So alterniert, ähnlich den Listen der Kose- und Schimpfnamen, die Bestätigung topischer Frauenlob-Stereotype beständig mit deren Verkehrung und Pervertierung. Der ‚Ironische Frauenpreis‘ macht in den negativen Verspaaren genau das Gegenteil von dem, was die positiven Zweizeiler und auch die Texte der Kernsammlung fordern - nicht übel von Frauen zu reden oder zu claffen. Dass der ‚Ironische Frauenpreis‘ parallel zu dem Ein‐ gangstext ‚Das nyemands frawen übel red‘ beginnt, macht den Kontrast zu der Kernforde‐ rung der Minneredensammlung noch augenscheinlicher. Die Zweizeiler korrespondieren inhaltlich zumeist nicht unmittelbar mit dem darüber stehenden Haupttext, es ist bei der lesenden Rezeption aber unvermeidlich, dass der Kontrast zwischen den positiven und ne‐ gativen Zweizeilern und auch zu den darüber stehenden Haupttexten wahrgenommen wird. 285 Der ‚Ironische Frauenpreis‘ und das Spruchgut können als ironisierende Kommen‐ tare zu den konventionellen Haupttexten gelesen werden, womit dem mise en page im Codex eine besondere sinnstiftende Funktion zukommt. Die Ergänzungen der Kernsammlung im Prager Codex wurden verschiedentlich als Auf‐ weichung der geschlossenen Konzeption gewertet, in p 1 werde demnach eine „program‐ matische Sammlung unprogrammatisch erweitert“. 286 Zweifellos verliert das Programm durch das Hinzufügen von Texten aus verschiedenen Gattungsbereichen, die zum Teil ganz anderen Semantiken verpflichtet sind, an Stringenz. Die Erweiterung des Korpus ist aber nicht nur als unprogrammatische Ergänzung zu sehen, denn viele der hinzugefügten Texte transportieren Textaussagen, die die Implikationen der Kernsammlung gezielt konterka‐ rieren. Sie unterlaufen die ursprüngliche Sammlungsdidaxe, indem sie Frauen als buhle‐ risch, dörperlich und in grotesker Verzerrung der üblichen Darstellungsmodi abbilden und damit die Forderungen des ‚Frauenpreises‘ ad absurdum führen. Die tradierten Konzepte und Wertvorstellungen der Kernsammlung werden in der erweiterten Handschrift der Clara Hätzlerin zwar nicht nivelliert, aber das in der Kernsammlung kohärent formulierte Bekenntnis zum Frauenlob und die Verurteilung des claffens wird durch viele der ergänzten Texte mit gegenläufigen Sinnsetzungen konfrontiert, die die Ernsthaftigkeit dieser Position 286 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 287 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 378. 288 Vgl. H O M E Y E R / K N O R , Überlegungen zur Neuedition des sogenannten ‚Liederbuches der Clara Hätz‐ lerin‘, S. 74. 289 Vgl. H O M E Y E R u.a., Vorlagenreflexe und Edition, S. 146f. B gilt als die der ursprünglichen Kernsamm‐ lung näherstehende Fassung des Liederbuches. 290 Früher Ms 1709, davor Halle (Saale) Universitäts- und Landesbibliothek Codex 14 A 39. 291 P F E I L , Katalog der deutschen und niederländischen Handschriften des Mittelalters in der Universi‐ täts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle (Saale), S. 226. in Frage stellen. Dass diese Texte zumindest einen den Versnovellen ähnlichen Typus dar‐ stellen, verweist erneut auf das besondere Potential der Textsorte, in der Kombination mit anderem Material kontroverse Sinnsetzungen zu erzeugen. 7.5.5 Die Parallelüberlieferung Neben der Handschrift der Clara Hätzlerin liegt die Kernsammlung in den beiden deutlich später datierenden Handschriften Leipzig, Ms. Apel 08 (B) und Berlin, mgf 488 (E) vor. Die dreifach-Überlieferung des Kernbestands oder ursprünglichen ‚Liederbuchs‘, zu der noch eine parallele Streuüberlieferung von Sammlungsteilen hinzutritt, 287 verweist auf die große Popularität und Verbreitung dieser Sammlung. Der Vergleich ergibt eine außergewöhnliche Parallelität im Textbestand aller drei Codices, der in der Überlieferungsgeschichte mittel‐ alterlicher Sammelhandschriften exzeptionell ist. 288 Trotz der engen Parallelen gilt es als unbestritten, dass die Handschriften B und E nicht unmittelbar auf p 1 bzw. eine gemeinsame Vorlage zurückgehen, zumal die jüngeren Handschriften nicht die Erweiterungen des Text‐ bestands aufführen, die im Codex der Clara Hätzlerin vorgenommen werden, sondern ei‐ gene Ergänzungen vornehmen. 289 Da mit p 1 sowohl die Textgestalt des ‚Herzmaere‘ be‐ schrieben ist, die in allen drei Handschriften nahezu identisch ausgeführt wird, als auch dessen Einbindung und Funktionalisierung im unmittelbaren Kontext der Kernsammlung dargestellt wurde, werden die Handschriften B und E hier nur knapp in ihrem jeweiligen Profil skizziert. Der 1512 im ostfränkischen Raum entstandene Leipziger Codex Ms. Apel 08 (B), 290 der nach dem Dichter und Märchensammler Ludwig Bechstein, der die Handschrift 1835 erwarb, auch „Bechsteinsche Handschrift“ genannt wird, wurde durch verschiedene stammbuch‐ artige Einträge von späterer Hand ergänzt, die auf Angehörige der fränkischen Reichsrit‐ terschaft als vorige Besitzer der Handschrift verweisen. 291 Die Handschrift wurde, nachdem sie über einen langen Zeitraum verschollen war, 2004 aufgefunden und seither einer ein‐ gehenden philologischen Untersuchung unterzogen, die auch das Verwandtschaftsver‐ hältnis zwischen den Überlieferungsträgern des ‚Liederbuches‘ erhellt hat. Die äußere Ge‐ stalt ist der in p 1 ähnlich, die Handschrift ist ebenfalls von einer Schreibhand gefertigt und einspaltig angelegt. In der Ausführung ist die Bechsteinsche Handschrift weniger sorgfältig und regelmäßig angelegt als p 1 , es gibt eine Reihe von Streichungen und Korrekturen, die teilweise von einer späteren Hand nachgetragen wurden. Unter anderem wurde im ‚Herz‐ 287 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 292 Das Lexem ‚Minne‘ erfährt eine allmähliche Bedeutungsverengung, indem es zunehmend als Ter‐ minus für die geschlechtliche und körperliche Liebe verwendet wird, während die Implikationen der Gottesliebe und der Liebesempfindung in den Hintergrund treten, was den Begriff im ausgehenden 15. Jahrhundert allmählich zu einem anstößigen Wort werden lässt, das seit dem 16. Jahrhundert weitgehend gemieden wird. Vgl. ‚Minne‘ in G R I M M DWb 6, Sp. 2238-2241; siehe auch S C H U L Z E , Konrads von Würzburg novellistische Gestaltungskunst, S. 477. 293 Vgl. G L I E R , Artes amandi, S. 321-328; H U S C H E N B E T T , ‚Hermann von Sachsenheim‘ in 2 VL 3, Sp. 1099. 294 Vgl. K N O R , Das Liederbuch der Clara Hätzlerin, S. 142f. maere‘ durchgängig das Lexem minne durchgestrichen und mit liebe überschrieben. 292 An‐ sonsten entspricht der Textbestand des ‚Herzmaere‘ praktisch durchgängig dem in p 1 , es erscheint hier ebenfalls unter dem Titel ‚der herzspruch‘, der einzige signifikante Unter‐ schied zu p 1 ist ein ‚Amen‘ am Textende. Vor dem Minneredenteil, der hier geschlossen alle 53 Minnereden des Kernbestands auf‐ führt, steht die ‚Mörin‘ Hermanns von Sachsenheim (4r-128v) als Großform der Minnerede. Der Überlieferungsverbund ist insofern bemerkenswert, als dass in der deutlich späteren Abschrift des ‚Liederbuchs‘ der Verbund mit einem prominenten Text Hermanns von Sach‐ senheim als einem Verfasser gewählt wird, der auch in der Erweiterung der Prager Hand‐ schrift einen besonderen Stellenwert hat. Die ‚Mörin‘ verhandelt umfangreich das Motiv des Minnegerichts, dabei erweist sich die als Erlebnisbericht des Ritters Hermann von Sachsenheim deklarierte Dichtung als großes Spiel mit den literarischen Traditionen der Minnerede; der Modus der fingierten Autorbiographie und verschiedene Motivparallelen legen auch Anspielungen auf den ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein nahe. Es werden zahlreiche topische Momente verwendet und gleichzeitig die mit diesen verbundenen Er‐ wartungen durchkreuzt. So beginnt die Rede mit einer prototypischen Spaziergangsschil‐ derung des Ich-Erzählers, der dann aber gewaltsam von einem Ritter und einem Zwerg entführt und vor das Gericht der Frau Venus gestellt wird. Der Hof der Venus erweist sich mehr und mehr als eine Sphäre, in der sich Höfisches und Dörperliches vermischt: Die ‚Mörin‘ als Anklägerin tritt einerseits als konventionelle höfische Dame auf, andererseits benimmt sie sich oft ungehobelt und bricht in unkontrollierten Zorn aus; auch bleibt die Schuld des angeklagten Dichters bis zum Schluss recht vage. 293 In der Leipziger Handschrift zeigt sich damit ein ähnliches Prinzip wie in p 1 , Texte, die eine ironisierende Gattungsreflexion transportieren, in die traditionellen Semantiken ver‐ pflichtete Minneredensammlung einzubringen und dadurch deren normativen Anspruch zu konterkarieren. Offenbar ist das ‚Liederbuch‘ anschlussfähig für eine Ergänzung durch kontrastierendes Material, das die homogenen Semantiken von Liebes- und Frauenlob per‐ sifliert. Die um 1530 datierte Berliner Handschrift mgf 488 (E) wurde nach dem Wiederauffinden der Bechsteinschen Handschrift mittlerweile als eine direkte Abschrift derselben identifi‐ ziert. 294 Der Befund ergibt sich unter anderem aus den in B stehenden Korrekturen, die in E in den Text übernommen wurden, so steht im ‚Herzmaere‘ fast durchgängig liebe statt minne. Der Berliner Codex wurde durch Martin Ebenreuther geschrieben, der die Fertig‐ stellung im Kolophon auf den 10.06.1530 datiert. Er hat aus seiner Vorlage nicht die ‚Mörin‘, sondern nur den Kernbestand des Liederbuchs übernommen und den Textbestand durch verschiedenes kleinepisches Material und weitere Lieder ergänzt. Im Gegensatz zu 288 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 295 Vgl. H O M E Y E R u.a., Vorlagenreflexe und Edition, S. 141. p 1 wird das zusätzliche Textmaterial aber geschlossen im Anschluss an die gesamte Kern‐ sammlung aufgeführt. Während es bei unikalen Überlieferungsverbünden kaum möglich ist, zwischen Kopien einer Vorlage und individuellen Schreiberentscheidungen zu unterscheiden, lassen sich beim Liederbuch aufgrund der Parallelüberlieferung beide Pole dieses Spektrums aus‐ leuchten. 295 Auf der einen Seite zeigt die Handschriftengruppe einen Kernbestand von Dichtungen, der mit großer Übereinstimmung tradiert wird. Dies kann als Moment der Traditionspflege gesehen werden, indem eine bestehende Sammlung, die durch eine ko‐ härente Zusammenstellung von Texten gekennzeichnet ist, die auf tradierte Konventionen und Semantiken des Minnediskurses rekurrieren, konstant fortgeführt wird. Auf der an‐ deren Seite werden aber auch individuelle Ergänzungen vorgenommen, die das Konzept zum Teil unspezifisch ergänzen, aber auch gezielt konterkarieren. 289 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 296 Nummerierung nach der Übersicht bei K N O R , Liederbuch der Clara Hätzlerin. Die Nummerierung nach der Edition von Haltaus ist in Klammern angegeben. Es werden ausschließlich die Texte aus dem ersten Teil des Codex aufgeführt (Minnereden, Haltaus Abteilung II). Grau unterlegt: Texte der sog. ‚Kernsammlung‘, die sich auch in der Parallelüberlieferung B und E wiederfinden, entsprechend der Darstellung bei K N O R , Liederbuch der Clara Hätzlerin. Bei den mhd. Titulaturen wurden Schaft-s und Abbreviaturen aufgelöst. 7.5.6 Sammlungsübersicht Prag X A 12 Titulatur: Liederbuch der Clara Hätzlerin (von jüngerer Hand) (1r) 296 Datierung: jhus 1470 xpus, darunter ein Monogramm JR ( Jörg Roggenburg) (1v) 1.(1.) ‚Wer lügt? ‘ (-) (2ra) 2.(2.) ‚Lob einer Frau nach dem ABC‘ (-) (2ra-2rb) 3.(3.) ‚Wie der Mensch sein soll‘ (-) (2rb) 4.(4.) ‚Schelte einer Frau nach dem ABC‘ (-) (2rb-2va) 1-16: Pria‐ melteil 5.(5.) ‚Wer an den einzelnen Wochentagen badet‘ (-) (2va) 6.(6.) ‚Schelte einer Frau nach dem ABC‘ (-) (2va-2vb) 7.(7.) ‚Die neun Merkmale einer schönen Frau‘ (-) (2vb) 8.(8.) ‚Buchstabenspiel‘ (-) (3r) Register Das Register der Rede (3v-4v) (-) (-) (-) Inc. Das maria gottes muoter sey (5r) 9.(9.) ‚Bauernregel‘ (-) Inc. Kleyb stuben kalyxti (5ra) 10.(10.) (-) (-) Inc. Manger von frawen übel redt (5ra) 11.(11.) ‚Liebe und Leid‘ (-) Inc. Hab ich lieb so hab ich not (5ra) 12.(12.) ‚Niemand kennt den anderen‘ (-) Inc. Laid chomt uß lieb (5rb) 13.(13.) ‚Die zehn Lebensalter‘ (-) Inc. No x Ja rain kitz (5rb) 14.(14.) ‚Das Alter von Zaun,Hund,Pferd usw.‘ (-) Inc. Ain zaun wert dirü Jar (5rb) 15.(15.) ‚Warum Jagdtiere jagen‘ (-) Inc. Nota waidman (5v) 16.(16.) ‚Lehren des Aristoteles‘ Die nachgeschriben ler gab Aris‐ totiles küng Allexandro (5v) 17.(-) ‚Ironischer Frauenpreis‘ (-) Inc. Meins hertzens fraw vnd schönstes pild (6r-65r) [Randbe‐ schriftung] 290 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 18.(II,1) ‚Lob der Frauen‘ I Das nyemands frawen übel red (6r-9r) 19.(II,2) ‚Die Beichte einer Frau‘ Das půlschafft nit sünd sey/ ain hübsche peicht (9r-17v) 20.(II,3) ‚Verschwiegene Liebe‘ Von der welt lauff (18r-21r) 21.(II,4) ‚Der Schwere Traum‘ Von ainem swären tramb ainer frawen (21r-23v) 22.(II,5) ‚Der Traum‘ Von ainem lieplichen tramb ains gesellen (23v-28v) 23.(II,6) ‚Die rechte Art der Minne‘ Wie aine iren půlen hieß leben (28v-32v) 24.(II,7) ‚Der unentwegte Liebhaber‘ Das chain puoler ablassen sol, ob Im halt ain fraw mit vngenad sein werben abschlecht (32v-37v) 25.(II,8) ‚Die Beständige und die Wankelmü‐ tige‘ Von ainer stätten und von ainer fürwitzen (37v-44r) 26.(II,9) ‚Streitgespräch zweier Frauen über die Minne‘ Ain krieg von zwei frawen ob pesser sey lieb ze haben oder on lieb zu beleiben (44r-46v) 27. (II,10) Gozold: ‚Der Liebesbrief ‘ Wie lieb ain fraw ain knaben hett (47r-49r) 28. (II,11) ‚Der erste Buchstabe der Geliebten‘ Von dem ersten půchstaben seins Bůlen (49r-51v) 29. (II,12) Heinrich der Teichner: Nr.640 (-) Das die welt alles ding zu dem pösten verstat (51v-52v) 30. (II,13) ‚Wer kann allen recht tun‘ Wie die welt ains yeglichen spottet (52v-55r) 31. (II,14) ‚Das Schloß Immer‘ Von dem Schloß ymmer (55r-64v) 32. (II,15) ‚Von der Harre‘ (-) Inc. IN meinen orden ist be‐ channt (64v-65r) 33. (II,16) ‚Die Heimkehr des gefangenen Ge‐ liebten‘ Von plömlen delectar (65r-67v) 34. (II,17) ‚Was Blütenfarben bedeuten‘ Von manigerlay plümlen (67v-69v) 35. (II,18) ‚Die beiden Schwestern‘ Von zwain swestern wie aine die andern straffet (69v-72r) 36. (II,19) ‚Die acht Farben‘ Von allerlay varben (72r-73v) 37. (II,20) ‚Lob der grünen Farbe‘ Von der Grönen varbe (73v-75v) 38. (II,21) ‚Die sechs Farben‘ Von vßlegung der sechs varb (75v-79r) 291 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 39. (II,22) (-) Was allerlay pletter bedeüten (79r-81v) 40. (II,23) Konrad von Würzburg: ‚Herzmaere‘ Der hertz spruch (82r-89r) 41. (II,24) ‚Belehrung eines jungen Mannes‘ Ain Lere Junger mann (89v-90v) 42. (II,25) Auszug ‚Die Minneburg‘ Wie ainer sein fräd wolt begraben (90v-94r) 43. (II,26) ‚Rätsel‘ Ain rättnusz (94r) 44. (II,27) ‚Besuch bei der Geliebten‘ Wie ainer sein lieb vand in gehaym an ainem pett ligen (94v-98v) 45. (II,28) Heinrich der Teichner: Nr.669 (-) Ainer frawen clag (98v-100r) 46. (II,29) ‚Das Strohkränzlein‘ Von ainem ströin krentzlin (100r-104r) 47. (II,30) ‚Das Meiden‘ Von meiden (104r-106v) 48. (II,31) ‚Das Scheiden‘ Von schaiden (106v-107r) 49. (II,32) ‚Abschiedsgruß‘ Ain vrlaub (107v-108r) 50. (II,33) ‚Die goldene Fessel‘ Von ainem guldin notfall (108r-110v) 51. (II,34) ‚Neujahrsgruß auf 1441‘ Ain newes Jar ymm ains vnd viert‐ zigisten (110v-111r) 52. (II,35) ‚Neujahrsgruß auf 1442‘ Ain newes Jar ymm zway vnd viertzigisten (111r-111v) 53. (II,36) ‚Neujahrsgruß auf 1443‘ Ain newes Jar ymm drey vnd viertzigisten (111v-112v) 54. (II,37) ‚Neujahrsgruß auf 1444‘ Ain newes Jar ymm vier vnd viert‐ zigisten (112v-113r) 55. (II,38) ‚Neujahrsgruß auf 1445‘ Ain newes Jar ymm fünff vnd viertzigisten (113v-114r) 56. (II,39) ‚Neujahrsgruß auf 1446‘ Ain newes Jar ymm sechs vnd viertzigisten (114r-114v) 57. (II,40) ‚Neujahrsgruß auf das Jahr 1447‘ Ain newes Jar ymm sieben vn viertzigisten (115r-115v) 58. (II,41) ‚Neujahrsgruß auf 1448‘ Ain newes Jar ymm acht vnd viertzigisten (115v-116v) 59. (II,42) ‚Quodlibet‘ Ain aubentewrliche rede vnd vellt von ainem zu dem andern 292 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile (116v-118v) 60. (II,43) Peter Suchenwirt: ‚Das Würfelspiel‘ Was übels ainem yeglichen vß Spil chomm (118v-121v) 61. (II,44) ‚Klage eines verlassenen Liebhabers‘ Ainer clagt sein ellends wesen (121v-122r) 62. (II,45) ‚Die versuchte Treue‘ Von ainer gar frölichen frawen (122r-127v) 63. (II,46) ‚Minneklage eines Mannes‘ Ain iämerliche clag ains da sein půle angesprochen hett (127v-129v) 64. (II,47) ‚Herz und Leib‘ Ain mynn red von hertzen und von leib (129v-133r) 65. (II,48) ‚Liebesklage eines Mannes‘ Ain ellende clag (133v-134r) 66. (II,49) ‚Sehnsuchtsklage einer Frau‘ Von grossem senen ainer frawen (134v-136r) 67. (II,50) Walther von Griven: ‚Weiberzauber‘ Von krewtern damit frawen ir mann bezaubern (136v-137r) 68. (II,51) ‚Warnung vor Hoffart‘ Von weltlichem lauff (137r-138v) 69. (II,52) ‚Die böse Frau und der Teufel‘ Von ainem zornigen weib (139r-140r) 70. (II,53) ‚Schönheitspreis‘ Der guldin stain (140r-141v) 71. (II,54) ‚Gespräch mit einem alten Liebhaber‘ Ain aubentewerliche red von ainem der da peysset (141v-148r) 72. (II,55) ‚Der Minne Gericht‘ III Der mynn gericht (148r-153r) 73. (II,56) ‚Wahre und falsche Liebe‘ Von der frawen alenfantz ain rede (153r-158r) 74. (II,57) ‚Der Maienkranz‘ Von dem Mayen krantz (158r-163v) 75. (II,58) ‚Der Minne Regel‘ mynn regel (163v-170r) 76. (II,59) ‚Der Krautgarten‘ Von ainem wurtzgarten (170r-175v) 77. (II,60) ‚Streitgespräch zwischen Mai und Au‐ gust‘ Ain krieg von dem Mayen vnd von dem Augst Mon (175v-178v) 78. (II,61) ‚Christliche Lebenslehre‘ Ain gemaine lere (178v-180r) 79. (II,62) Herrmann von Sachsenheim Auszüge aus ‚Spiegel‘ und ‚Schleiertüchlein‘ Vnderweisung aines der Ritter wolt werden (180r-181v) 293 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 80. (II,63) Mönch von Salzburg (-) Von dem haligen Gaist/ der Mü‐ nich von swaltzburg (181v-183v) 81. (II,64) Mönch von Salzburg (-) Von dem hailigen fronleichnam Cristi (183v-185v) 82. (II,65) Mönch von Salzburg (-) Von der hailigen driualtigkait/ der Münich von Saltzburg (185v-187v) 83. (II,66) Mönch von Salzburg (-) Von vnser frawen/ der Münich (187v-189v) 84. (II,67) ‚Die Bauernhochzeit‘ Von Mayr Betzen (189v-196r) 85. (II,68) Ebelin von Eselsberg: ‚Das nackte Bild‘ Das nackent pilde/ vnd ain Mais‐ terliche tieffe rede (196r-204v) 86. (II,69) ‚Die sieben größten Freuden‘ Von siben größten fräden (205r-208v) 87. (II,70) ‚Cato‘ (dt.Rumpfbearbeitung) Ain lere wie Katho sein Sun hieß leben (208v-211v) 88. (II,71) ‚Tischzucht‘ Von tisch zucht (211v-214v) 89. (II,71) Hermann von Sachsenheim: ‚Grabin‐ schrift‘ (-) Inc. O Welt du hast gelassen mich (215r) 90. (II,72) Hermann von Sachsenheim: ‚Die Grasmetze‘ Von der Gras Metzen/ herman von Sachsenhayn (215r-219v) 91. (II,73) Kaltenbach: ‚Rechte Liebe‘ Was die liebe sey/ kaltenpach (220r-222v) 92. (II,74) ‚Der Reiterorden‘ Von der scharpffen Rewtter orden (222v-225r) 93. (II,75) Hans Raminger (-) Von der natur des chinds (225r-229v) 94. (II,76) Hans Rosenplüt: ‚Der Knecht im Garten‘ Wie ain fraw iren man betrog (229v-232r) 95. (II,77) Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ Freydanck/ von wůchreren (232r-233r) 96. (II,78) Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ Freydanck/ von trincken (233r-233v) 97. (II,79) Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ Von Spilen (233v) 98. (II,80) Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ Von dem tode (233v-234v) 99. (II,81) Freidank: aus ‚Bescheidenheit‘ (-) Inc. Wer lebt nach der weisen sitt (234v-239v) 100. (II,82) (-) Von den groszen hauptsünden (239v-241r) 294 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 101. (II,83) Mönch von Salzburg (-) Die sieben tagzeitt des Münichs von Saltzburg (241v-244r) 102. (II,84) Mönch von Salzburg (-) Tagzeitt vnser frawen (244v-245r) 103. (II,85) ‚Stiefmutter und Tochter‘ Wie ain můter ir dochter lernet půlen (245r-248v) 2. Teil: Minne- und Tagelieder [Haltaus Abteilung I] (249r-359v) Datierung und Signatur der Clara Hätzlerin (359v) 295 7.5 Die Prager Handschrift X A 12 Abb. 9: Prag, National Museum, Cod. X A 12, fol. 82r - ‚Herzmaere‘ 296 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 297 Die Handschrift wird in der ‚Willehalm‘-Überlieferung als Fragment 35 geführt. 298 Mihm stellt vor allem eine häufige Überlieferungssymbiose von Heldenepik und Märe fest. Diese resultiere aus einem Interesse an einer besonderen ‚Handlungsintensität‘, die beide Texttypen mit‐ einander verbinde. Vgl. M I H M , Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung, S. 116f. Auf den häufigen Verbund von Versnovellen mit großepischen Dichtungen in der Frühphase der versnovel‐ listischen Überlieferung verweist auch M E Y E R , Mittelalterliche Kurzerzählungen, S. 36. 299 Vgl. S T A M M L E R , Wolframs „Willehalm“ und Konrads „Herzmaere“, S. 3. 300 Der ‚Willehalm‘ endet in dem Fragment wie in den meisten seiner Überlieferungsträger mit 467,8. 301 Aufgrund des Textumfangs des ‚Willehalm‘ vermutet S T A M M L E R einen ursprünglichen Gesamtum‐ fang des Codex von ca. 152 Blättern (vgl. S T A M M L E R , Wolframs „Willehalm“ und Konrads „Herz‐ maere“, S. 2). Diese Einschätzung muss nach oben offen bleiben, da das Fragment keinen Aufschluss darüber gibt, ob vor dem ‚Willehalm‘ und nach dem ‚Herzmaere‘ noch weitere Texte aufgeführt wurden. 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 7.6.1 Das ‚Herzmaere‘ ohne Gottfried-Referenz Den vermutlich ältesten Überlieferungsträger des ‚Herzmaere‘ bildet das auf das Ende des 13./ Anfang des 14. Jahrhunderts datierte Handschriftenfragment Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 (Ko). 297 Ko überliefert das ‚Herzmaere‘ nicht im Kontext einer kleinepischen Sammlung, sondern im Anschluss an eine großepische Dichtung, den ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, auf den sich auch der Fragmentstatus der Handschrift bezieht. Die Über‐ lieferungsgemeinschaft von Versnovellen und großepischen Dichtungen ist kein Einzelfall, Mihm nennt weitere Codices des 14. und 15. Jahrhunderts, die die beiden Texttypen ge‐ meinsam tradieren. 298 Es handelt sich um eine 243x180 mm große, in mittelrheinischer Schreibsprache verfasste Pergamenthandschrift, gefertigt vermutlich durch eine einheitliche Schreibhand. Stammler vermutet eine Auftragsarbeit, möglicherweise der Herren von Hatzfeld, einer seit 1138 ur‐ kundlich belegten hessischen Adelsfamilie. 299 Die Handschrift ist zweispaltig mit 46 Zeilen angelegt, eine eingekratzte Linierung ist erkennbar, Zeilenanfänge sind mit senkrechten roten Strichen in den Anfangsbuchstaben versehen. Weiterhin gibt es blaue und rote Ini‐ tialen im Text. Soweit aus den wenigen erhaltenen Blättern ersichtlich, ist die Handschrift in Aufwand und Ausstattung nicht vergleichbar mit den wenig später entstandenen reprä‐ sentativ gestalteten Codices H und K. Die Handschrift wurde zerstört und zum Einbinden und Verstärken anderer Codices verwendet, erhalten sind sechs ganze Doppelblätter und zwei Querstreifen von zwei wei‐ teren Blättern. Während das ‚Herzmaere‘ vollständig lesbar ist, sind von seinem Co-Text nur einige Partien verblieben. Das Fragment überliefert Textstücke aus verschiedenen Be‐ reichen des ‚Willehalm‘ und den gesamten Textschluss, 300 woraus geschlossen wird, dass der gesamte Roman enthalten war. 301 Das ‚Herzmaere‘ beginnt unmittelbar nach den Schlussversen des ‚Willehalm‘ auf demselben Blatt, es wird kein Raum zwischen den beiden Texten frei gelassen. Dennoch ist der Übergang vom ‚Willehalm‘ zum ‚Herzmaere‘ deutlich 297 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 302 Das ‚Herzmaere‘ wird von Stammler irrtümlich als unbetitelt bezeichnet, obwohl eine deutlich durch rote Farbe abgesetzte Titulatur vorhanden ist. Vgl. S T A M M L E R , Wolframs „Willehalm“ und Konrads „Herzmaere“, S. 3. 303 Die vergleichende Zitation erfolgt nach dem Cpg 341 (H) als nächstältestem Überlieferungsträger. Wo H nicht herangezogen werden kann, wird auf den Straßburger Codex A 94 (S) zurückgegriffen. 304 Siehe S. 179f. 305 Siehe S. 180. markiert, indem die in rot gehaltene Titulatur ‚Dit iz von des ritters hertz und kusst‘ voran‐ gestellt wird. 302 [Abb. 10, S. 310] Die Handschrift hebt sich von der übrigen ‚Herzmaere‘-Überlieferung ab, weil sie als einzige keinen Prolog aufführt: Der Text beginnt unmittelbar mit der Erzählung von der Dame und dem Ritter. Damit ist nicht nur die Referenz auf Gottfried von Straßburg, sondern die ganze Voreinstellung von Beispiel und Belehrung durch das literarische Vorbild getilgt. Die Lek‐ türe verändert sich dadurch erheblich, der Fokus liegt nicht mehr auf der besonderen Bei‐ spielhaftigkeit des Erzählten, sondern auf dem Geschehen selber, das keine rezeptionslen‐ kende Ankündigung als vorbildliche Geschichte und keine Anbindung an die Minnesemantiken Gottfrieds erfährt. Ko überliefert mit 480 Versen die kürzeste Redaktion des ‚Herzmaere‘. Neben dem Prolog sind weitere Textpartien nicht enthalten, die in den übrigen Überlieferungsträgern zumeist in großer Übereinstimmung aufgeführt werden. So wird der innere Monolog des Ehe‐ mannes, als er über seinen Plan sinniert, die Liebenden durch eine Reise ins Heilige Land zu trennen, in kürzerer Form dargestellt. Während in den übrigen Handschriften überein‐ stimmend das Vergessen der Liebe als Intention und das Heilige Grab als Reiseziel benannt wird, führt Ko diese Konkretisierung nicht auf: Ich horte ie sagen das deme Jch hore i sagen dat deme Sin liep vil sanfte werde leit Sin lief vil senfte werde leit Das mit langer stetikeit Von im gescheiden werde gar Durch daz ich gerne mit ihr var Zu dem vronen gotes grabe Vntz daz si gar vergessen habe Der hohen minne die nv treit Sein ir der riter so gemeit (H, 346v). 303 Zy deme werden ritter vil gemeit (Ko, 7v). Auch die Reflexion der Frau über ihre Gegenlist, mit der sie den Argwohn ihres Mannes zerstreuen und die eigene Reise verhindern will, wird in kürzerer Form dargestellt; diese Aussparung ist analog zu der in H beschriebenen: 304 Auch Ko führt hier acht Verse weniger als die übrigen Textträger auf und gestaltet damit eine knappere Darstellung des listreichen Kalküls der Ehefrau. Weiterhin führt Ko, zusammen mit H sowie der Gruppe w/ i+p 1 , nicht den vier Verse umfassenden Verweis auf den schwindenden Lebensmut des Ritters auf. 305 In Ko sind damit die ‚psychologisierenden‘ Überlegungen von Ehemann und Dame ge‐ tilgt, mit denen diese versuchen, das Denken und Handeln anderer zu kalkulieren, wodurch ihr Handeln als planvoll und taktierend ausgewiesen wird. Das Handeln erscheint durch die Kürzungen unmittelbarer und weniger berechnend, gleichzeitig wird mit der geringeren 298 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 306 S I M O N , Thematisches Programm und narrative Muster, S. 379. 307 Wolfram von Eschenbach: Willehalm, hg. H E I N Z L E . Akzentuierung des Listhandelns der Frau eine prägnante inhaltliche Parallele zum ‚Tristan‘ weniger intensiv ausgespielt, denn das Listenspiel der Liebenden gegen den Ehemann ge‐ hört zum „Kern des Tristanstoffes“. 306 In der Summe bewirken die kürzeren Textpartien im Handlungsteil des ‚Herzmaere‘ eine Straffung der Darstellung, die Redaktion in Ko fokus‐ siert mehr als andere Überlieferungsträger die Handlungsmotivation und lässt weniger Raum für die Verhandlung der inneren Motivation der Figuren. Besonders prägnant ist eine weitere gegenüber der übrigen Überlieferung kürzer aus‐ geführte Textpartie. In Ko stehen unikal 10 Verse nicht, in denen der Ritter seinem Knappen die Anweisung zur Einbalsamierung des Herzens gibt: Dar vmme tu was ich dir sage Herumbe du dat ich dir sage Wen ich bin vertorben Vnd allhie erstorben Dvrch das vil minnencliche wip So heiz vf sneiden minen lip Dar vz nim min herze gar Plutiges vnde reuwen var Vnde heiz es vaste salben Mit balsamen allenthalben Durch daz es lange vrisch beste Vernim was ich dir sage me Frume ein ledelin cleine Gwin eine lade reine Von golde unde von gesteine Von golde vnde von gesteyne Dar in mein totes herze tu (H, 347v, 348r). Dar in min dodit herze du (Ko, 9v). In Ko wird damit nicht die Frau als unmittelbare Ursache oder Schuldige für den Tod des Ritters benannt. Vor allem aber wird mit der Aussparung der ‚technischen‘ Unterweisung zur Balsamierung auch auf ein wichtiges Moment verzichtet, das die Drastik der folgenden körperlichen Einverleibung des Herzens akzentuiert: Das Aufschneiden des Leibes, das Herz als blutiges Organ und der Hinweis auf die Verwesung, die vermieden werden soll, verdeutlichen, dass nicht ein metaphorisches Herz, sondern ein physisches Organ versendet und gegessen wird. In Ko wird das zentrale Motiv des Herzens damit weniger in seiner Gleichzeitigkeit von Körperorgan und Liebeszeichen inszeniert, die Entsendung des Her‐ zens verbleibt stärker auf einer Ebene zeichenhafter Symbolik. Die Aussparung der Ein‐ balsamierung kann einer Akzentuierung christlicher Implikationen geschuldet sein: Ohne den Vorgang der Einbalsamierung ist die süeze des verzehrten Herzens noch stärker in ihrer wundersamen und christlich konnotierten Wirkung hervorgehoben. Dieses Moment kor‐ respondiert mit einer ähnlich sakral aufgeladenen Sinneswahrnehmung im ‚Willehalm‘, wo der Körper des toten Vivianz, der in der ersten großen Schlacht einen tatsächlichen christ‐ lich motivierten Märtyrertod stirbt, einen Wohlgeruch verströmt, der ihm das Signum einer besonderen Heiligung zuweist (69,12-15). 307 299 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 308 Ähnlich in H; S: Hie hat diese mere ein ende; w/ i: Also nam sie ir ende, p 1 : also nam sy ain end. Die Überlieferungsträger mit der langen Schlussrede Don. 104 und Cgm 714 führen diesen Vers nicht auf. 309 Zur kurzen Schlussrede siehe S. 181f. 310 Neben 12 vollständigen Handschriften, die vom 13. bis in das 15. Jahrhundert datieren, zählt Heinzle 75 Fragmente und Exzerpte, Bumke weist über 90 aus. Die einzige vollständige Handschrift aus dem 13. Jahrhundert ist der Codex Sangallensis 857, der allen drei kritischen Werkausgaben des ‚Wille‐ halm‘ zugrunde liegt. Vgl. B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 390; Wolfram von Eschenbach: Wil‐ lehalm, hg. H E I N Z L E , S. 802. 311 Vgl. ebd., S. 796ff.; Aliscans, hg. K N A P P . Das ‚Herzmaere‘ ist in Ko nicht nur ohne Prolog gestaltet, es wird auch der 10 Verse umfassende kurze Schluss überliefert: Hie hat dat herze ein ende Der richer got in schende Dat he der spisen ie gewuoch Die also iemerlichen druch Deme getruwen wiue Ir leuen vz irm liue Dat mich ruwet immer Vnde ich in vergeszens nimmer Sinre dorperheide Dat he it ir ie geseite (Ko, 12r). Das Herz wird durch die einleitende Formulierung der Schlussrede hie hat dat herze ein ende zum Synonym für die erzählte Geschichte. 308 Die Handschrift gestaltet damit eine stärker metaphorisierende Lesart des Herzmotivs, die sich kohärent mit der Aussparung der Balsamierung als körperlichen Vorgang zusammenfügt. Mit der kurzen Schlussrede wird eine abschließende Perspektive auf die erzählte Geschichte gestaltet, die nicht die herausragende Exemplarizität und Absolutheit der Minne hervorhebt, sondern die Versün‐ digung des Ehemannes, seinen Betrug und sein Listhandeln hervorhebt. 309 Indem in Ko weder die lange Schlussrede noch der Prolog aufgeführt sind, entsteht eine andere Lesart der erzählten Geschichte. Ohne die exemplarische Geltung behauptende Rahmung des Ge‐ schehens ist das ‚Herzmaere‘ weit weniger durch die Semantiken einer exzeptionellen und vorbildlichen Liebe bestimmt. 7.6.2 Wolframs ‚Willehalm‘ - Liebe, Leid und christliches Bekenntnis Der ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, dessen Entstehung zwischen 1210 und 1220 angenommen wird, gehört zu den am häufigsten überlieferten Werken der mhd. Erzählli‐ teratur. 310 Vorlage für das ca. 14.000 Verse umfassende Heldenepos war die wahrscheinlich Ende des 12. Jahrhunderts entstandene chanson de geste ‚Aliscans‘ als Schwerpunkt eines breit überlieferten Epenzyklus um den provencalischen Grafen Guillaume d`Orange. 311 Kern der ‚Willehalm‘-Handlung ist wie in der chanson de geste die Erzählung über den Kampf zwischen Willehalm und dem heidnischen König Terramer, der mit seinem Heer in die Provence zieht, um sich für den Verlust seiner Tochter Arabel zu rächen. Arabel hat aus 300 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 312 Bumke weist auf die große Variationsbreite in der chanson de geste im Allgemeinen und in den Epen um Guillaume d`Orange im Besonderen hin. Wie die konkrete Vorlage Wolframs ausgesehen hat, lässt sich nicht sicher ermitteln, so dass alle Aussagen zur spezifischen Bearbeitung Wolframs „mit Unwägbarkeiten belastet sind.“ B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 380-388, Zitat S. 388. 313 Vgl. ebd.; W O L F , Wolframs ‚Willehalm‘, S. 231. 314 Vgl. K I E N I N G , Reflexion - Narration, S. 169; B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 389f. 315 Zitation nach Wolfram von Eschenbach: Willehalm, hg. H E I N Z L E . Liebe zu Willehalm ihren Ehemann, den König Tybalt von Arabia, verlassen, sie ließ sich taufen und hat ihren neuen, christlichen Namen Gîburc angenommen. Der Kampf zwischen Christen und Heiden wird in zwei großen Schlachten geschildert, deren erste mit einer schweren Niederlage des christlichen Heeres endet, woraufhin Willehalm die Hilfe des französischen Königs erbittet. Die zweite Schlacht endet trotz der Übermacht des heidni‐ schen Heeres siegreich, wobei sich der Sieg wesentlich der Hilfe von Gîburcs Bruder Renne‐ wart verdankt. Rennewart wurde als Kind an den Hof des französischen Königs verschleppt, wo sich eine (noch unverwirklichte) Kinderliebe zwischen ihm und der Königstochter Alize entspann. Wegen seiner Verweigerung der Konversion war Rennewart am Königshof in Ungnade gefallen, wird aber im entscheidenden Kampf gegen die Heiden zum Movens im Schlachtgeschehen. Gegenüber der französischen Vorlage nimmt Wolfram erhebliche Änderungen und Neu‐ akzentuierungen vor. 312 Stehen in der ‚Aliscans‘ Heldenmut und die Verherrlichung des Protagonisten im Fokus, der sich in einem uneingeschränkt gut geheißenen Kampf gegen die Heiden beweist, dominieren bei Wolfram Trauer und Verzweiflung über das vielfältige Leid, das aus dem Glaubenskonflikt, aber auch aus der unmittelbaren und konfliktreichen Verflechtung von Religion und Minne erwächst. 313 Der Liebesgeschichte von Willehalm und Gîburc wird bei Wolfram erheblich mehr Raum und Bedeutung gegeben als in der chanson de geste, der ‚Willehalm‘ ist auch ein Liebes‐ roman. Zwei umfangreiche Minneszenen, mehrere Klagereden Gîburcs und verschiedene Exkurse und programmatische Bemerkungen rücken die Protagonistenliebe ins Zentrum der Betrachtung, wobei diese von vornherein in einer konstitutiven Verflechtung von Liebe und Leid erscheint. 314 So kündigt bereits der Prolog von der dicke herzenôt, das der Prota‐ gonist durh minne eines wîbes erlitt (3, 6f.). 315 In einer der Liebesszenen wird die unauflösbare Verflechtung von Liebe und Leid wieder aufgegriffen, wenn der Erzähler erklärt, dass manlîch arbeit zu liep und leit führen muss und dass diese Erfahrung auch zu einem rechten Frauenleben gehöre (281,7-10); Liebe erfordere grundsätzlich Bewährung durch leidvolle Prüfung. Im ‚Willehalm‘ überwiegt das Leid die Freude eindeutig, indem selbst die Momente des Liebesglücks der Protagonisten unmittelbar in den leidvollen Kontext des Krieges einge‐ bunden und von diesem überschattet sind. Die unlösbare Liebe-Leid-Dichotomie steht aber nicht nur für sich, sondern auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Glaubenskon‐ flikt; bereits der Prolog kündet von der engen Korrelation zwischen Liebe, Leid und christ‐ lichem Bekenntnis: 301 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 316 An die Rede Gyburcs, insbesondere 307, 26-30, bindet sich eine kontroverse Debatte über eine mög‐ liche religiöse Positionierung Wolframs zur Heidenfrage an. Heinzle wertet den ‚Willehalm‘ als ein „Werk gegen die Kreuzzugsideologie des Mittelalters, eines der großen Dokumente der Menschlich‐ keit“, das eine dezidierte, gegen die gängige theologische Lehrmeinung opponierende Positionierung formuliere, die wesentlich auf einer Beanspruchung der ‚Gotteskindschaft‘ auch für die Heiden ba‐ siere (Wolfram von Eschenbach: Willehalm, hg. H E I N Z L E , Zitat im Klappentext u. Kommentar S. 801). F A S B E N D E R , ‚Willehalm‘ als Programmschrift, sieht dagegen im ‚Willehalm‘ zumeist allgemeine und gängige religiöse Anschauungen wirken. In der Frage der Gotteskindschaft plädiert Fasbender für eine Lesart, nach der mit dem Vater, der den Verlust seiner (ungetauften) Kinder beklagt, nicht Gott, sondern ein irdischer Vater gemeint sei (vgl. ebd., S. 25f). Schnell betont dagegen, dass der klagende Vater sehr wohl den Christengott impliziere (vgl. S C H N E L L , Die Christen und die ‚Anderen‘, S. 195), korrigiert aber dennoch die u.a. von Heinzle vertretene These einer grundlegenden Neupositionie‐ rung Wolframs in der Heidendarstellung. Die Rede Gîburcs ziele auf ein Konzept christlicher Ver‐ antwortung für das Seelenheil der Heiden ab, die nicht vernichtet, sondern bekehrt werden sollen. Anhand verschiedener Quellenzeugnisse zeigt Schnell, dass Wolfram seine Protagonistin eine viel‐ leicht nicht dominierende, aber durchaus bekannte und etablierte theologische Position formulieren lässt, da „Vorstellungen von der gemeinsamen Gottesgeschöpflichkeit von Heiden und Christen und das daraus folgende Schonungsgebot tatsächlich so singulär in der mittelalterlichen Literatur nicht sind“ (ebd., S. 200). sô sag ich minne und ander klage, der mit triuwen pflac wîp und man, sît Jêsus in den Jordân durh toufe wart gestôzen (4, 26-29). Im Kontext der Liebeshandlung erhält vor allem die Figur Gîburcs einen ungleich größeren Stellenwert als in der französischen Tradition. Gîburc agiert nicht nur erfolgreich als Kämpferin, die die Stadt Oransche gegen den Ansturm der Heiden verteidigt, sie nimmt auch eine tragende Rolle in der Diskussion des religiösen Konflikts ein. In einem Religi‐ onsgespräch mit ihrem Vater legt Gîburc diesem die Überlegenheit des christlichen Glau‐ bens dar und bekräftigt damit ihren Wunsch, die Ehe mit Willehalm aufrecht zu erhalten (215,8-221,27). In einer weiteren Rede wird sie aber auch zur Fürsprecherin der Heiden: Vor den zum Kampf entschlossenen und von Hass erfüllten Mitgliedern des Fürstenrats gemahnt sie zur Barmherzigkeit den Heiden gegenüber, die auch Geschöpfe Gottes seien (306,1-310,30). Gîburc legt dar, dass nicht alle Heiden vom christlichen Heil ausgeschlossen bleiben, sie zieht biblische Beispiele von zunächst heidnischen Figuren heran und erinnert an die heidnische Geburt aller Menschen, die zur Erlangung des Status christlicher Gnade erst der Taufe bedürfen. Vor allem an der Rede Gîburcs, aber auch an der dem ritterlich-hö‐ fischen Tugendprogramm entsprechenden Darstellung der Heiden und verschiedenen Er‐ zählerkommentaren, die die Toten auf beiden Seiten beklagen, wurde eine neue, von Tole‐ ranz geprägte Qualität der Heidendarstellung und eine Problematisierung der Kreuzzugsideologie durch Wolfram festgemacht. 316 Der Kampf zwischen Christen und Heiden ist der Rahmen, innerhalb dessen sich die Liebesgeschichte von Willehalm und Gîburc entfaltet, deren Minne untrennbar mit dem religiösen Konflikt verknüpft ist. Gîburc wird gleich der Helena des Trojanischen Krieges immer wieder als Ursache genannt für das Sterben vieler Unschuldiger: 302 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 317 Bumke betont dabei aber die Gültigkeit der positiven Figurenbewertung. Der Gîburc-Exkurs sei eine Demonstration perspektivischen Erzählens, die die ‚Richtigkeit‘ der abschließenden Aussage nicht in Frage stelle. Vgl. B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 368f. Arabeln Willalm erwarp, dar umbe unschuldic volc erstarp. diu minne im leiste und ê gehiez, «Gîburc» si sich toufen liez. (7,27-8,1) Gîburge süeze wart in sûr den heiden und der kristenheit (12,30f.) ei, Heimrîch von Narbôn, dînes sunes dienst jâmers lôn durch Gîburge minne enpfie. swaz si genâde an im begie, diu wart vergolten tiure, alsô daz diu gehiure ouch wîplîcher sorgen phlac. (14,1-7) Der Erzähler formuliert in einer in die Schilderung der ersten Schlacht eingefügten Apos‐ trophe sogar einen expliziten Vorwurf an Gîburc: Arabele-Gîburc, ein wîp, zwir genant, minne und dîn lîp sich nû mit jâmer vlihtet. dû hâst zem schaden gephlihtet: dîn minne den touf versnîdet; […] mîn herze dir ungünste giht. (30,21-30) Weil Gîburc den Christen den Tod bringe, versagt der Erzähler ihr seine Gunst. Zwar tadelt er sich umgehend selber für seine Worte und betont die Unschuld Gîburcs: oder war tuon ich mînen sin? / unschuldic was diu künegîn (31,3f.); die Rede geht über in eine theologische Rechtfertigung des Leids, das um Christi Willen geschieht. Dennoch deutet sich in dem impulsiv geäußerten Vorwurf, der die Doppelnamigkeit Arabels-Gîburcs als Symbol ihrer Verortung in zwei Religionen und in zwei Ehen in den Fokus stellt, eine Skepsis der Figur gegenüber an. 317 Der Konnex von Liebe, Religion und Leid bildet ein unlösbares Dilemma für Gîburc, die der heidnischen Herkunftsfamilie trotz ihrer Konvertierung in Liebe ver‐ bunden bleibt. In ihren Reden vor Terramer und vor dem Fürstenrat bekennt sie sich zu einer Schuld an dem allumfassenden Leid, aus der sie nicht erlöst werden kann: Ich schûr sîner hantgetat, der bêde machet unde hat den kristen und den heiden! (253,9ff.) 303 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 318 In der chanson de geste ist Rennewart bzw. Rainouart dagegen aus Wut über Guillaume, der es im Anschluss an die Schlacht versäumt, ihn zum Festessen zu laden, auf das Schlachtfeld zurückgekehrt und droht ihm Rache an (V. 7073ff.; 7100-7149). Guiborc gelingt es, den Bruder zu versöhnen, der sich taufen lässt und Aélis heiraten kann (V. 7377-7409). Textverweise nach Alsicans, hg. K N A P P . 319 In der Mehrzahl der Überlieferungsträger endet der Text mit Vers 467,8, wo erklärt wird, dass Mat‐ ribleiz das Land der Provenzalen räumt. Vgl. Wolram von Eschenbach: Willehalm, hg. H E I N Z L E , S. 1091f. 320 Vgl. B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 318f. Hypothesen zu einem intendiert offenen Ende, das durch das Nicht-Fortführen von Handlungssträngen Kontingenz erzeugen will, wurden in der For‐ schung zumeist zurückgewiesen. Vgl. K I E N I N G , Reflexion - Narration, S. 235f. si sprach: »der tôtlîche val, der hie ist geschehen ze bêder sît, dar umbe ich der getouften nît trag und ouch der heiden, daz bezzer got in beiden an mir, und sî ich schuldic dran. (306,12-17) Dennoch erfährt auch Gîburc analog zu Willehalm zum Ende eine Heiligung durch den Erzähler. In die Schilderung der zweiten Schlacht wird eine weitere kurze Apostrophe ein‐ geschoben, die mit Ei Gîburc, heilic vrouwe beginnt und in dem der Erzähler ihre saelde preist (403,1-10). Der Roman endet nach der langen Schilderung der zweiten großen Schlacht, aus der die Christen siegreich hervorgehen, die aber dennoch Anlass umfangreicher Klagen ist. Wil‐ lehalm klagt ausgiebig um den verschwundenen Rennewart, den er für tot oder gefangen hält, und der Erzähler beklagt das Abschlachten der Heiden als Sünde (450, 17-18). 318 Am Ende steht eine versöhnliche Geste gegenüber den Heiden, denn Willehalm bietet Terramer Frieden und Versöhnung an, sofern dieser die Christen nicht mehr bekämpft und von der Rückforderung Gîburcs absieht. Die letzte Szene beschreibt die Entsendung des heidnischen Königs Matribleiz, der von Willehalm aus der Gefangenschaft entlassen wird und die ge‐ fallenen Heidenkönige beider Schlachten mit sich nehmen darf, um diese gemäß dem ei‐ genen religiösen Brauch zu bestatten. 7.6.3 Kontextualisierung: Das offene Ende des ‚Willehalm‘ Wolframs ‚Willehalm‘ gilt als unvollendetes Werk. Zwar bricht der Text an einem Hand‐ lungspunkt ab, der eine partielle inhaltliche Abgeschlossenheit markiert, denn die Kriegs‐ handlung ist mit der Heimführung der toten Heidenkönige zu einem Ende geführt worden. 319 Dennoch wird der fragmentarische Status kaum in Frage gestellt, insbesondere die offenen Fragen nach Schicksal und Verbleib Rennewarts, nach einer Klärung seiner religiösen Zugehörigkeit und nach der Fortführung der Liebesgeschichte mit Alize mar‐ kieren eine Leerstelle, die eine Fortsetzung verlangt. Die Gründe für den Abbruch bleiben vage, Ulrich von Türheim schreibt, dass Wolfram vor der Fertigstellung gestorben sei; möglicher Grund für das Ende der Arbeit kann auch der Tod von Wolframs Gönner Her‐ mann von Thüringen im Jahre 1217 sein. 320 Ungeklärt bleiben muss auch die Frage, wie eine Fortführung ausgesehen hätte; Wolfram weicht in den abschließenden Partien, insbeson‐ 304 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 321 K I E N I N G , Reflexion - Narration, S. 241. 322 Vgl. B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 397f. 323 Vgl. B A S T E R T , Rewriting ‚Willehalm‘? , S. 121f. 324 Vgl. W O L F , Wolframs ‚Willehalm‘, S. 243f.; S T R O H S C H N E I D E R , ‚Ulrich von Türheim‘ in 2 VL 10, Sp. 28- 36. 325 Vgl. B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 398f.; S C H R ÖD E R , ‚Ulrich von dem Türlin‘ in 2 VL 10, Sp. 39- 50. dere in der Rennewarthandlung, signifikant von der Gestaltung der ‚Aliscans‘ ab, so dass es keine verbindlichen Anhaltspunkte gibt, zu welchem Ende das Epos kommen sollte: Der ›Willehalm‹ entzieht sich einem klärenden Abschluß, und auch die Analyse steht vor dem Problem, einen vielschichtigen, komplexen epischen Prozeß zu bündeln, der die Grenzen des Apo‐ retischen ebenso wie die Grenzen des Verstehbaren tangierte. Der Weg, an Markierungspunkten des Textes entlang, mündet in keinen eindeutigen Zielpunkt. 321 Dass der ‚Willehalm‘ auch von den Zeitgenossen als unvollendeter Text empfunden wurde, legt die Fortsetzung Ulrichs von Türheim nahe, der bereits in den 40er Jahren des 13. Jahr‐ hunderts mit dem ‚Rennewart‘ eine Fortsetzung der ‚Willehalm‘-Handlung schuf, die ver‐ mutlich auf Grundlage einer Sammelhandschrift mit mehreren Epen aus dem französischen Willehalm-Zyklus entstand. 322 Der mit über 36.000 Versen weit umfangreichere Roman schließt sowohl inhaltlich als auch, durch ein Zitat der Schlussverse, wörtlich unmittelbar an den ‚Willehalm‘ an, Verweise auf den fortgesetzten Text durchziehen den ganzen ‚Renn‐ ewart‘. 323 Vorrangig führt Ulrich die Rennewarthandlung zu einem Ende, der Verschollene taucht wieder auf und wird zum neuen Handlungsmittelpunkt. Ulrich lässt Rennewart zum Christentum konvertieren und Alize heiraten. Aber auch die Geschichte von Willehalm und Gîburc wird aufgegriffen und beendet, indem Gîburc Klausnerin wird und Willehalm nach einem letzten Heidenkrieg zunächst als Mönch, dann als Einsiedler lebt, als der er schließlich, der angekündigten Heiligkeit im ‚Willehalm‘-Prolog entsprechend, auch stirbt. 324 Eine Vervollständigung des Epos strebte offenbar auch Ulrich von dem Türlin an, der im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts einen Roman zur Vorgeschichte der ‚Willehalm‘-Hand‐ lung verfasste, der in der Forschung als ‚Arabel‘ bezeichnet wird. Ulrich erzählt die Begeg‐ nung von Arabel und Willehalm, die bei Wolfram nur in Form kurzer Rückblicke eingespielt wird. Für die ‚Arabel‘ wird keine frz. Vorlage angenommen, sondern eine unmittelbare Orientierung an Wolframs Andeutungen zur Vorgeschichte seiner Protagonisten. 325 Beide Romane wurden gezielt als Ergänzungstexte des ‚Willehalm‘ konzipiert, wobei die Anbindung an Wolfram vorrangig in dem Aufgreifen der Handlungsstränge besteht; wie‐ weit auch spezifische Semantiken, insbesondere die Perspektivierung des Glaubenskon‐ 305 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 326 „Beide Ulriche nehmen trotz gegenteiliger Bekundung keine Rücksicht auf die Ideen Wolframs. Ihre Geschichten sind ungleich konventioneller, einsträngig, dem Zeitgeist verpflichtet. Die dezidierte Anbindung an Wolfram von Eschenbach beschränkt sich auf die Handlungsstränge. Der ideelle Kern des ‚Willehalm‘ bleibt ohne Nachfolge.“ (W O L F , Wolframs ‚Willehalm‘, S. 244). Gegenüber einer viel‐ fach formulierten Forschungsansicht, die Fortsetzungen würden die als problematisch empfundene Perspektive Wolframs auf den Glaubenskonflikt im Sinne einer eindeutigen Negativkennzeichnung der Heiden einzudämmen suchen, führt Bastert an, dass die Unterschiede zwischen Wolframs Dich‐ tung und der seiner Fortsetzer weniger programmatisch seien als zumeist angenommen; auch die Ergänzungen deuten die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz von Christen und Heiden an. Vgl. B A S T E R T , Rewriting ‚Willehalm‘, insbes. S. 128-132. 327 Vermutlich erfolgte die Zusammenführung der drei Werke zu einem Zyklus noch im 13. Jahrhundert. ‚Arabel‘ und ‚Rennewart‘ sind dabei stets durch Prologe und Autorsignaturen als eigene, vom ‚Wil‐ lehalm‘ abgegrenzte Werke identifizierbar. Vgl. ebd., S. 123. 328 B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 399. Vgl. auch W O L F , Wolframs ‚Willehalm‘, S. 244f. 329 Vgl. B A S T E R T , Rewriting ‚Willehalm‘? , S. 118. Zur Kontextualisierung des ‚Willehalm‘ mit ‚Arabel‘ und ‚Rennewart‘ vgl. K R E F T , Perspektivenwechsel, zu anderen Überlieferungssymbiosen vgl. V E T T E R , Textgeschichte(n). 330 Vgl. B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 396. flikts, fortgeführt wurden, ist zumindest umstritten. 326 In jedem Fall fand die primäre In‐ tention eines Forterzählens des ‚Willehalm‘ Bestätigung durch die Überlieferung, denn die Einbindung in eine zyklische Romantrias ist die häufigste Form, in der der ‚Willehalm‘ tradiert wurde. In acht der zwölf vollständigen Handschriften steht der ‚Willehalm‘ zwi‐ schen ‚Arabel‘ und ‚Rennewart‘, auch in der Fragmentüberlieferung gibt es Hinweise auf diesen Überlieferungsverbund: 327 Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind die drei Epen zusammen als eine große ›Ge‐ schichte von Willehalm‹ gelesen worden; in dieser zyklischen Einbindung hat Wolframs Dichtung ihre weiteste Verbreitung gefunden. 328 Die zeitnah auf die Textentstehung des ‚Willehalm‘ folgenden ‚Rennewart‘ und ‚Arabel‘ und die dominierende Überlieferung im Zyklus deuten auf ein Rezeptionsbedürfnis nach Ergänzung hin. Durch die Erweiterungen wird der ‚Willehalm‘ in einen größeren stoffli‐ chen Zusammenhang eingebunden, der möglicherweise ein verändertes Textverständnis, vor allem aber eine inhaltliche Vervollständigung anstrebt. 329 Auch in den übrigen Hand‐ schriften wird der ‚Willehalm‘ nicht als Einzeltext überliefert, einen weiteren bedeutenden Traditionszusammenhang bildet die Verbindung mit Strickers ‚Karl‘ als einer zeitnah auf Wolframs Text folgenden Neubearbeitung des ‚Rolandslieds‘, die sich in zwei der bedeu‐ tendsten ‚Willehalm‘-Handschriften findet. 330 Der ‚Willehalm‘ wurde analog zur chanson de geste also überwiegend im Kontext mit stoffähnlichen Dichtungen tradiert und rezipiert. Demgegenüber stellt der Textverbund mit Konrads ‚Herzmaere‘ eine gänzlich andere Überlieferungssymbiose dar. Die Fragmenthandschrift lässt zwar keine Rückschlüsse auf mögliche weitere enthaltene Text zu, aber der unmittelbare, nur durch die lückenlos ein‐ gefügte Titulatur markierte Anschluss des ‚Herzmaere‘ an den ‚Willehalm‘ gestaltet eine enge Textverbindung, die einen intendierten Rezeptionszusammenhang plausibel macht. Zu fragen ist, wie das ‚Herzmaere‘ auf den ‚Willehalm‘ und sein offenes Ende reagiert und wie die Lesart von Konrads Dichtung durch den dominanten großepischen Text geprägt wird. 306 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 331 Dass der ‚Willehalm‘ auch, vielleicht sogar vorrangig als Liebesgeschichte wahrgenommen wurde, legt die ‚Arabel‘ nahe, die praktisch ausschließlich die Protagonistenliebe verhandelt. Vgl. S C H R ÖD E R , ‚Ulrich von dem Türlin‘ in 2 VL 10, Sp. 45. 332 Zu Jerusalem als Handlungsort im ‚Herzmaere‘ siehe auch S. 90f. Im Überlieferungsverbund treten verschiedene semantische Relationen zwischen den beiden Texten zu Tage, das ‚Herzmaere‘ erweist sich als anschlussfähig für eine Kontextu‐ alisierung mit dem ‚Willehalm‘. So bildet schon die Thematisierung einer unbedingten Liebe, die sich in Trennung und leidvoller Prüfung bewähren muss und mit einer Fatalität des Liebesgeschehens einhergeht, ein signifikantes Anknüpfungsmoment. 331 Die Prüfung Willehalms und Gîburcs besteht in den anhaltenden Kämpfen und dem Glaubenskonflikt, in deren Kontext sich ihre Liebe bewähren muss, im ‚Herzmaere‘ stellt die Trennung von der Geliebten durch die Reise des Ritters ins Heilige Land ebenfalls eine Bewährungsprobe für seine Minne dar. Auch die ehebrecherische Konstellation, aus der die Liebesverbindungen hervorgehen, und das daraus resultierende Rachehandeln der Ehemänner markieren eine inhaltliche Pa‐ rallele, zumal sowohl Tybalt als auch der Ehemann im ‚Herzmaere‘ nicht durchgehend als negative Figuren gekennzeichnet sind. Eine Verbindung kann auch in der Ambivalenz der Frauen-Figuren bestehen. Die Dame im ‚Herzmaere‘ wird durch die ehebrecherische Liebe, ihr Listhandeln und die Initiative zur todbringenden Jerusalemfahrt des Ritters zunächst ambivalent perspektiviert, erst am Ende schließt sie durch ihr Gegenopfer zu der Vorbild‐ lichkeit des Geliebten auf. Gîburcs Ehebruch ist dagegen durch den Kontext der christlichen Bekehrung in höchstem Maße legitimiert, auch erfährt sie analog zu Willehalm eine Hei‐ ligung durch den Erzähler (403,1-10). Aber die zahlreichen Verweise auf Gîburc als Ursache des vielfältigen Leids und die affekthafte Anklage des Erzählers deuten gleichfalls eine Problematisierung der Figur an. Mit der Semantik des versnîdens finden die Texte einen analogen Ausdruck für die zerstörerische Wirkung der Liebe der bzw. zu den Frauenfiguren: Die Liebe Gîburcs bringt den Christen den Tod (dîn minne den touf versnîdet [30,25]), die der Dame dem Ritter tödliche Herzensqual (Vnde wie min herze si versniden/ Na irre suzer minen [Ko, 9v]). Beide Texte situieren die Liebeshandlung in christlichen Kontexten, allerdings auf di‐ vergente Art. Im ‚Willehalm‘ stellt der tatsächliche Kampf zwischen Christen und Heiden den Rahmen des Geschehens dar, während im ‚Herzmaere‘ das Heilige Land zum Schauplatz des Sterbens des Ritters wird, der durch die vollkommene Fokussierung auf die inneren Vorgänge des Liebesleids aber nur noch eine christliche Kulisse bildet, die in ihrer heilsge‐ schichtlichen Signifikanz gar nicht zum Tragen kommt. 332 Die augenscheinlichste inhaltliche Relation zwischen den Texten ist die Verknüpfung von Liebe und Leid, dem Epos und der Versnovelle ist ein dominierender Grundton von Leid und Traurigkeit gemeinsam. Das ‚Herzmaere‘ schildert gleich zu Beginn die unbe‐ dingte Liebe und den daraus resultierenden Schmerz der Protagonisten: Die mine was ir beider Worden so geweldich Dat si vil manigveldich Machte ir herze smerzen 307 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 333 Für Köbele ist die „strukturell unentscheidbare“ brôt-Metapher, die als Analogon zur Eucharistie, allgemeiner als ‚Brot des Lebens‘ oder als Metapher für geistige Nahrung gelesen wurde, beispielhaft für die Verwobenheit des Geistlichen und Weltlichen im ‚Tristan‘ (vgl. K ÖB E L E , Mythos und Metapher, S. 222-230; Zitat S. 228). Diese Semantiken „markieren Punkte, an denen Analogien in Inkommen‐ surabilitäten übersetzt werden, in Anspielungen, die, zwischen wörtlicher und übertragener Bedeu‐ tung schwankend, einerseits am christlichen […] Paradigma festhaltend, es andererseits überschrei‐ tend, indem sie es umerzählen: als Liebes-Geschichte“ (ebd., S. 245). 334 Bumke verweist auf die große Wirkung des ‚Willehalm‘-Prologs, der häufig abgeschrieben, para‐ phrasiert und nachgeahmt wurde. Vgl. B U M K E , Wolfram von Eschenbach, S. 399. Groz smerze wart irme herzen Von der suzer minnen kunt (Ko, 7r). Auch bei Wolfram ist die Verbindung Willehalms mit der zum Christentum konvertierten Gîburc mit größtmöglichem Leid verbunden, und auch die proleptisch als Liebe bis in den Tod angekündigte Kinderliebe von Rennewart und Alîse bedingt beiderseitige Not (284,10- 16). Damit scheint der ‚Willehalm‘ zunächst, ähnlich dem ‚Herzmaere‘, Parallelen zu Gott‐ frieds ‚Tristan‘ zu zeitigen, aber die Konzeptionen der Liebe-Leid Dialektik unterscheiden sich signifikant, was sich programmatisch in den Prologen widerspiegelt: Der ‚Tristan‘-Prolog ruft eine Publikumsgemeinschaft der edelen herzen auf, die über die ge‐ meinsame Basis der dialektischen Erfahrung von Liebe und Leid sowie Leben und Tod hergestellt wird. Gottfried konstituiert eine Funktion des Erzählens, die auch in der nach‐ vollziehenden Erfahrung und Vergegenwärtigung von Leid und Tod besteht; diese Partizi‐ pation wird zur Grundlage des exklusiven Daseins der edelen herzen und sichert das Fort‐ leben der Liebesgeschichte bzw. der Liebenden in der teilhabenden Erinnerung: Deist aller edelen herzen brôt. hie mite sô lebet ir beider tôt. Wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt und ist uns daz süeze alse brôt. Ir leben, ir tôt sint unser brôt. sus lebet ir leben, sus lebet ir tôt. Sus lebent si noch und sint doch tôt und ist ir tôt der lebenden brôt. (Tristan, V. 233-240) Bei Gottfried bildet das Erzählen von Liebe einen semantischen Raum, in dem weltliche und geistliche Momente miteinander verwoben werden. 333 Dagegen gestaltet Wolfram durch die Exposition mit Schöpferpreis und Gebet einen dezidiert geistlichen Prolog, der an die invocatio im ‚Rolandslied‘ des Pfaffen Konrad angelehnt ist: Auf ein Eingangsgebet an die Trinität folgt das Lob des Protagonisten, der als sanct Willehalm angesprochen wird und an dessen Heiligkeit der Erzähler appelliert (4,7-18), womit auch eine Heilserwartung für die erzählte Geschichte entworfen wird. Wolfram entfaltet ein literarisches Programm, in dem Erkenntnisfähigkeit und die Inspiration zum Erzählen unmittelbar von Gott kommen; der sich selbst als künstelos bezeichnende Erzähler differenziert deutlich zwischen weltlicher (Buch)Gelehrsamkeit und göttlich inspiriertem Wissen (2,16-27). 334 308 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 335 Vgl. K I E N I N G , Reflexion - Narration, S. 175. 336 Zur Echtheitsfrage der langen Schlussfassung siehe S. 259-262 . Entsprechend wird auch keine Verbindung zu einem exklusiven literaten Publikum ge‐ sucht und keine belehrende, verbessernde Funktion der Literatur postuliert, sondern das Erzählen wird unmittelbar in den Kontext von göttlicher Offenbarung und Schöpfungsge‐ schehen gestellt. Liebe und Leid stehen in unmittelbarer Verbindung mit dem christlichen Bekenntnis, sie erfahren bei Wolfram keine Ästhetisierung oder Einbindung in eine poeti‐ sche Programmatik. Das Leid im ‚Willehalm‘ ist eine unmittelbare Erfahrung, die nicht im Zuge einer elitären Rezeptionserfahrung positiviert wird. 335 Im Kontext der geistlichen Semantiken des ‚Willehalm‘ gewinnt die Tilgung des ‚Herz‐ maere‘-Prologs besondere Plausibilität. Die Dichtung fügt sich durch den unmittelbaren Einstieg in die Handlung nahtloser an den voranstehenden Text an; ohne Prolog erscheinen die Texte stärker verklammert, das ‚Herzmaere‘ kann unmittelbar im Kontext des voran‐ stehenden ‚Willehalm‘ gelesen und zu diesem in Beziehung gesetzt werden. Vor allem aber hätte die namentliche und programmatische Anknüpfung an Gottfried auch ein divergentes poetisches Konzept in die Lektüre eingebracht, das der geradezu hyperbolischen Inszenie‐ rung der göttlichen Autorität im ‚Willehalm‘ entgegen gestanden oder zumindest eine an‐ dere Perspektive in die Lektüre eingebracht hätte. Ohne den Prolog sind die mit der lite‐ rarischen Instanz Gottfrieds verbundenen Semantiken im ‚Herzmaere‘ weitgehend nivelliert. Die Engführung der beiden Dichtungen sowohl durch das mise en page als auch durch den ausgesparten Prolog macht die Annahme plausibel, dass sich die spezifische Textform in Ko hier einer unmittelbaren Anpassung verdankt, die im Kontext einer Funk‐ tionalisierung für den Überlieferungsverbund mit dem ‚Willehalm‘ zu verorten ist. Dass neben dem Prolog auch der umfangreiche Epilog nicht aufgeführt wird, fügt sich kohärent in die Aussparung der Gottfried-Rekurrenz und ihrer spezifischen Liebesseman‐ tiken ein, wobei angesichts der Überlieferungsdominanz der kurzen Schlussrede die Frage offen bleiben muss, ob die lange Schlussrede in Ko getilgt wurde oder einfach nicht vor‐ handen bzw. bekannt war. 336 Unabhängig von der Intentionalität wird das ‚Herzmaere‘ in Ko ohne eine ausgesprochene exemplarische Funktionalisierung und ohne Einspielung der Gottfried-Semantiken rezipiert. Das offenbar als problematisch empfundene offene Ende des ‚Willehalm‘ wird in der Handschrift Ko durch den Anschluss des ‚Herzmaere‘ überschrieben. Durch die Namenlo‐ sigkeit der Figuren und die unspezifische Gestaltung der Handlungsräume lässt sich das ‚Herzmaere‘ grundsätzlich an einen anderen Text und dessen Protagonisten anlagern. Die Dichtung Konrads kann dabei nicht als Fortführung der offen gebliebenen Handlungs‐ stränge des ‚Willehalm‘ gelesen werden, sondern als Kommentierung und Verbildlichung zentraler Semantiken. Die von der thematischen Profilierung in Pro- und Epilog entkleidete Erzählung vom gegessenen Herzen bildet die im ‚Willehalm‘ zentralen thematischen Felder von Liebe und Leid, von Treue und Bewährung sowie die konfliktreiche Korrelation von Liebe und Religiösität in verdichteter Form ab. 309 7.6 Archiv Schloss Schönstein Akte Nr. 7693 Abb. 10: Archiv Schloss Schönstein (Fürsten und Grafen von Hatzfeldt-Wildenburg), Akte Nr. 7693 - ‚Herzmaere‘ 310 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 337 Vgl. K U R R A S , Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 163; Z A C H E R , Bruchstücke aus der Sammlung des Freiherrn von Hardenberg II, S. 432. 338 Text nach dem Transkript von Z A C H E R , Bruchstücke aus der Sammlung des Freiherrn von Harden‐ berg II, S. 432f. 7.7 Fragmente Neben den vollständigen Textträgern ist das ‚Herzmaere‘ auch in zwei Fragmenthand‐ schriften überliefert. Diese Textzeugen erlauben zwar keine Rückschlüsse auf Korrespon‐ denzen mit einer möglichen Überlieferungsgemeinschaft, da die Arbeit aber Vollständigkeit in der Darstellung der Überlieferungsbreite des Referenztextes anstrebt, werden die Frag‐ mente in die Betrachtung einbezogen. Auch zeigen sich in der Wiener Fragmenthandschrift als jüngstem Überlieferungsträger des ‚Herzmaere‘ signifikante Ergänzungen im Textbe‐ stand, die Hinweise auf ein spezifisches frühneuzeitliches Rezeptionsbedürfnis geben und damit das Spektrum der Lektüreformen des Textes ergänzen. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 42575 Bei dem Nürnberger Fragment handelt es sich um ein in vier Streifen zerschnittenes Per‐ gamentblatt, das zum Verstärken einer 1404 erstellten Papierhandschrift verwendet wurde und auf dem 40 Verse des ‚Herzmaere‘ (Ed.V. 351-390) erhalten sind. Das Blatt im kleinen Quartformat (11x9,5 cm) ist vorder- und rückseitig mit je 20 unlinierten Zeilen beschrieben, Minuskeln und Majuskeln wechseln unregelmäßig. Das in alemannischer Sprache verfasste Fragment wird auf den Anfang des 14. Jahrhunderts datiert und gehört somit zu den frü‐ hesten Textbelegen des ‚Herzmaere‘. 337 Der erhaltene Textausschnitt stimmt im Wortbestand weitgehend mit den Handschriften H und S und somit auch mit dem edierten Textbestand überein. Die Textpartie überliefert die Begegnung des Knappen mit dem Ehemann und endet unmittelbar bevor sich dieser das Kästchen mit dem Herzen aneignet. Die Passage gestaltet die übliche Variante, bei der der Ehemann die Herkunft des Boten erkennt, nicht die der später datierenden zweiten Fassung von w/ i + p 1 , in denen dieser Bezug nicht reflektiert wird: Wan do der [rit]ter in gesach Do gedaht [er] al zehant Zware dirre ist her gesant vmb anders niht wan vmbe daz wie balde er daz entsaz Von sinem rainen wibe Von sinez her[ren] libe Der nach ir minne iamer [t]ra[it].  338 Für weitere Rückschlüsse auf den Textbestand oder Zusammenhänge mit anderen Über‐ lieferungsträgern bietet das Fragment keinerlei Anhaltspunkte. Die Mutmaßung Schröders, dass diese Handschrift den „echten Schluss“ enthalten haben müsse, weil die „Verstümme‐ lung“ des Epilogs erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem der Erstellung des Nürnberger 311 7.7 Fragmente 339 Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. XX. Schröder macht mögliche Be‐ ziehungen zwischen den Handschriften der ‚Herzmaere‘-Überlieferung vor allem am Textschluss fest und schließt deshalb eine Zusammengehörigkeit des Fragments mit der gesamten von ihm defi‐ nierten Gruppe H, S, w/ i + p 1 aus. 340 Schröder geht bei dem Wiener Fragment von einer Einzelmiscelle aus. Die Annahme, die kleinepi‐ schen Dichtungen Konrads seien ursprünglich grundsätzlich in Einzelausgaben erschienen und erst später in Sammelcodices eingegangen (vgl. Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. XVIIIf.), ist allerdings nicht validierbar, da außer dem Wiener Fragment kein einziges Zeugnis für eine mögliche Einzelausgabe, insbesondere keine früh datierbare, vorliegt. 341 M A Z A L / U N T E R K I R C H E R , Katalog der abendländischen Handschriften der Österreichischen National‐ bibliothek, S. 261.; M E N H A R D T , Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Öster‐ reichischen Nationalbibliothek, S. 1463. 342 Vgl. m: ‚Der Ritter mit dem herczen‘; Ko: Dit iz von des ritters hertz und kusst. Die Bezeichnung des Textes als büchle deutet tatsächlich eine Einzelüberlieferung an. Fragments erfolgt sei, 339 kann an keinen konkreten textuellen Befund rückgebunden werden; auch die Entstehungszeit ist angesichts der wahrscheinlich früher datierenden Handschrift Ko, die den kurzen Schluss überliefert, kein hinreichendes Argument. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex series nova 2593 Der Wiener Codex series nova 2593 wird auf das erste Viertel des 16. Jahrhunderts datiert und gehört damit zu den jüngsten Überlieferungsträgern des ‚Herzmaere‘. Die Handschrift in niederschwäbischer Mundart überliefert ausschließlich das ‚Herzmaere‘; ob ursprünglich weitere Texte enthalten waren, lässt sich nicht erschließen, zumal keine Blattzählung aus der Entstehungszeit vorhanden ist. 340 Der Papiercodex umfasst acht Blätter, die einspaltig mit 27-32 Zeilen von einer Schreibhand in einer wenig aufwendigen, aber regelmäßigen und gut lesbaren gotischen Eilschrift beschrieben sind. Die Ausführung ist schlicht, die Handschrift verzichtet auf rote Farbe, Verzierungen und hervorgehobene Initialen; der Text wird auch nicht durch Absätze oder andere Markierungen untergliedert. 341 Das ‚Herzmaere‘-Fragment bricht nach der Beschreibung des Herz-Essens ab (Ed.V. 440), gestaltet zuvor aber gegenüber der älteren Überlieferung einige markante Besonderheiten, die im Folgenden skizziert werden sollen, auch wenn diese nicht in Rückbindung an ein Sammlungsprofil semantisiert werden können. Der Titel des ‚Herzmaere‘ ist als gereimtes Verspaar gestaltet und steht eingerückt mit etwas Abstand über dem Text: Dises büchle haysset der rytter mit dem herzen/ Vnd sagt von grossem kummer vnd schmerzen‘. Das Fragment führt damit einen ähnlichen Titel wie m, ähnlich den Überschriften in Ko und m wird auch hier der ritterliche Protagonist in den Vordergrund gestellt. 342 Das Fragment weist einige unikale Wortvarianten auf. Während alle übrigen Überliefe‐ rungsträger konstant mit der Klage über die lûterlichiu minne beginnen, die der Welt wilde geworden ist, wird hier rytterliche mynne angeführt. Die beispielhafte Minne wird damit dezidiert als ein adlig-ritterliches Konzept ausgewiesen, was kohärent an die Titulatur an‐ schließt. Am Ende des Prologs wird ein zusätzliches Verspaar eingefügt: Vernemend wie disem rytter gelang/ Der nach der mynnen lon rang. Erneut wird hier der Ritter als zentraler Protagonist der Erzählung profiliert und explizit auf die Dienst-Lohn-Semantik des Min‐ nedienstes verwiesen. 312 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 343 Auch in den Erweiterungen der Wiener Fragmenthandschrift zeigt sich die dem Bedeutungswandel geschuldete Ersetzung von ‚Minne‘ durch ‚Liebe‘, siehe auch S. 288. Unikal sind zwei erhebliche Texterweiterungen. So wird in die Rede der Dame, als sie den Ritter um die Reise ins Heilige Land bittet, eine Partie von 44 Versen eingefügt (3v,4r). Wo in den übrigen Handschriften in einem Verspaar der Wunsch artikuliert wird, dass der Ritter alleine fahren möchte, damit die Dame bleiben kann (Var alters eine hin vber e/ Durch da ich allhi beste; H, 347r/ Ed.V. 151f.), schildert die Dame in dem ausführlichen Einschub zunächst wiederholt ihre große Liebe und vor allem ihr Leiden an der Liebe (z.B. Die herzlich liebe die mich hat; Deins lieb will mich ermorden). 343 Weiterhin führt die Dame umfangreich aus, dass die vorübergehende Trennung notwendig sei, um die Liebe geheim zu halten. Auf die Rede der Dame antwortet der Ritter mit einer umfassenden Beteuerung, alles zu tun, was die Dame verlangt und alles um ihretwillen zu erleiden. Die erweiterte Rede der Frau betont zunächst das Ausmaß ihrer Liebe und stellt schon zu Beginn der Erzählung die Liebe-Leid-Verknüpfung auch für die weibliche Figur heraus; ein mögliches Ungleichgewicht in der Liebesintensität der Protagonisten scheint damit ni‐ velliert. Gleichzeitig erscheint die eingefügte Rede aber auch als eine besonders sorgfältig gestaltete Überredung des Ritters, der dem umfangreich herausgestellten Leid der Dame nur mit der umfassenden Dienstbeteuerung begegnen kann. Der Ritter wird durch die Zu‐ satzverse noch mehr als in der übrigen Überlieferung als vollkommen den Konventionen eines der Dame dienenden höfischen Minneritters entsprechend gezeichnet. Die akzentu‐ ierte Rollenverteilung von fordernder Dame und erfüllendem Minnediener hebt die tradi‐ tionellen Semantiken des Minnedienstes geradezu stereotyp hervor. Nach dieser Partie erfolgt die Darstellung wieder in weitgehender Übereinstimmung mit dem bekannten Textbestand. Nach dem Abschied der Liebenden findet sich eine weitere erhebliche Erweiterung des Textes: Zwischen das Verspaar Der werde ritter kerte hin/ Mit jamer an das mer zv hant (H, 347v; Ed.V. 228/ 229) wird eine 20 Verse umfassende Reflexion des Ehemannes eingeschoben, in der dieser, nachdem er Kenntnis von der Fahrt des Ritters erlangt hat, die Mühsal der Meerfahrt bedenkt und diese gegen ihren geringen Nutzen abwägt. Er entscheidet sich, zu bleiben, da ihn nun niemand mehr an einer Fortsetzung seines Ehelebens hindern kann: Darumb wolt er sein merfart lan Vn mit ir bas dahaim beleyben Mit seiner frawen kurzwayl treyben Die im nun wurd belayben stat Daran in niemand hinderen that Das lassent wir nun also beleyben Vnd wollend von dem rytter schrayben (5v). Die fast schon perfide wirkende Ankündigung ungestörter Sexualität, von deren Betrach‐ tung der auktoriale Erzähler sich gezielt abwendet, um sich wieder der Erzählung von dem Ritter zuzuwenden, lässt die im Folgenden geschilderten Leiden des Ritters umso stärker hervortreten. Auch wird durch die beiden eingeschobenen Partien ein Kontrast zwischen dem selbstlosen Ritter und dem Ehemann, der die Mühsal der Reise fürchtet, aufgeworfen, 313 7.7 Fragmente 344 Schröder vermutet auch hier die lange Schlussfassung wie in Don. 104, allerdings ohne dies an kon‐ kreten Parametern festmachen zu können. Vgl. Konrad von Würzburg: Kleinere Dichtungen, hg. S C H R ÖD E R , S. XX. der mit divergenten Attribuierungen des Ehemannes korreliert. So wird dieser im Gegen‐ satz zu allen übrigen Handschriften nicht als werder man eingeführt, auch wird durch einen Zusatzvers auf den Kummer der Frau über ihre Ehe verwiesen: Die hat ain man zuo der ee/ Des ward ierem herzen dick wee (2r). Der Ehemann wird in der Wiener Fragmenthandschrift auch nicht analog zu dem Geliebten als ritter, sondern als man oder der frouwen man bezeichnet. Diese Redaktion ist offenkundig auf eine stärker konturierte Unterscheidung der Figuren ausgerichtet, die die Wertigkeit des Geliebten/ Ritters umso stärker hervortreten lässt. Auf den Fortgang der Erzählung, insbesondere auf die Schlussgestaltung, erlaubt das Fragment keine Rückschlüsse, ebenso wenig auf Vorlagenbeziehungen zu anderen Hand‐ schriften. Ausgeschlossen werden kann lediglich eine Orientierung an der Gruppe w/ i+p 1 , da die Episode der Herzzubereitung nicht in der dort vorliegenden Variante gestaltet ist. 344 In der Summe legen die Textänderungen bzw. Erweiterungen dieser jüngsten Redaktion des ‚Herzmaere‘ eine intentionale Umgestaltung nahe, die das Schema des vollkommenen Minnedienstes und eine klare Figurenkonzeption des Ritters als idealem Liebenden betont und in den Fokus der Rezeption stellt. Das Wiener ‚Herzmaere‘-Fragment zeigt eine gezielte Bearbeitung im Erzählteil, in der sich die Gleichzeitigkeit von Textfestigkeit und varianter Gestaltung zeigt: Einerseits wird der tradierte Wortbestand nicht signifikant verändert, aber der Text wird durch ergänzende Partien verändert, die eine Akzentuierung bestimmter Sinnsetzungen erzeugen. 7.8 Textformen und Sammlungsprofile - Fazit Die vergleichende Analyse der verschiedenen Redaktionen des ‚Herzmaere‘ ergibt den zu‐ nächst widersprüchlichen Befund einer großen Textfestigkeit bei gleichzeitiger Variabilität im Zugriff auf die Dichtung. Dem ‚Herzmaere‘ ist trotz der Vielzahl der Handschriften und der Tradierung über einen langen Überlieferungszeitraum eine bemerkenswerte Bestän‐ digkeit eigen. Insbesondere im Erzähl- oder Handlungsteil gibt es zwischen den einzelnen Überlieferungsträgern zumeist nur wenige markante Divergenzen, die substanziell über individuelle, regionale und historische Schreibgewohnheiten hinausgehen. Die verschie‐ denen Redaktionen rekurrieren nicht einfach auf den gleichen Stoff, sondern zeigen auch eine große Äquivalenz in der Form, die sich in weitreichenden Übereinstimmungen in Wortbestand und Textstruktur manifestiert. Anders als in der Adaption von Vorlagen durch die Verfasser als primäre Form der Retextualisierung, die sich auf den Stoff, die materia bezieht, zeigt sich in der retextualisierenden Weiterbearbeitung durch die Schreiber trotz der prinzipiellen Verfügbarkeit und Offenheit des Textes eine große Stabilität der Textform. Vor allem stellen die variierenden Redaktionen keine Neubearbeitungen oder grundle‐ genden Umsemantisierungen dar, sondern gestalten differente Pointierungen der dem Text 314 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 345 Zur Retextualisierung und zur Dichotomie von Textfestigkeit und Textoffenheit siehe Kap. 3.4. 346 Blamires führt die in Pro- und Epilogen gehäuft auftretende Varianz auf eine Textaufzeichnung „aus dem Gedächtnis“ zurück (B L A M I R E S , Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘, S. 252). Selbst wenn man Varianzvorgänge auf mangelhafte Memorierfähigkeit zurückführen möchte, stellt sich die Frage, warum gerade die Textanfänge und -abschlüsse besonders betroffen sein sollten, plausibel wäre das Gegenteil. 347 Zur Relevanz der Pro- und Epiloge siehe Kap. 2.2.3. immanenten Sinnpotentiale. Die ‚Identität‘ von Konrads ‚Herzmaere‘, das eigentliche ‚Werk‘, bleibt in all seinen varianten Ausformungen präsent. 345 Neben divergent gewählten Titulaturen variiert der Text vor allem bei der Gestaltung der Pro- und Epiloge und damit in den Bereichen des Textes, die nicht nur in der Kleinepik in besonderem Maße Raum für individuelle poetische Gestaltungen und Pointierungen bieten. 346 Die Prologe bestimmen maßgeblich den Fokus der Rezeption, indem sie bestimmte Aspekte der Narrationen hervorheben. Wie das Fehlen des Prologs und damit der einlei‐ tenden Rekurrenz auf die Liebeskonzeption Gottfrieds von Straßburg als rezeptionslen‐ kendem Moment die Lektüre des ‚Herzmaere‘ verändert, zeigt beispielhaft die Handschrift Schloss Schönstein Nr. 7693. Weiterhin sind vor allem die Epimythien von entscheidender Bedeutung für die Lektüre, hier werden zumeist die gattungstypischen - tatsächlichen oder fragwürdigen - exempla‐ rischen Geltungsbehauptungen formuliert. 347 Auch im ‚Herzmaere‘ hat die unterschiedliche Gestaltung der Schlussrede besondere Relevanz für die Rezeption. Die aus der Edition be‐ kannte lange und elaborierte Schlussfassung des ‚Herzmaere‘ stellt eine Positivierung und Ästhetisierung der Liebe-Leid-Dichotomie dar, sie erklärt das erlittene Liebesleid der Pro‐ tagonisten zu einem beispielhaften Kasus. Aber nur der Codex Don. 104 beschließt die Erzählung tatsächlich auf diese Weise, dagegen tradiert das Gros der Überlieferungsträger eine, praktisch übereinstimmend ausgeführte, kurze Schlussfassung. Diese befördert mit der knappen Verwünschung des Ehemannes eine andere Rezeption, die an die Tradition der übrigen bekannten Literarisierungen des Erzählmotivs des gegessenen Herzens an‐ knüpft. Die Epiloggestaltung im ‚Herzmaere‘ führt exemplarisch die Problematik von Echt‐ heitspostulaten vor Augen, aber mehr noch verweist sie auf die Frage nach deren Relevanz, wurde der Text doch offenbar mehrheitlich nicht mit der als echt befundenen Schlussfas‐ sung rezipiert. Bei den in der Textform des ‚Herzmaere‘ praktisch identischen Handschriften Wien 2885, Innsbruck FB 32001 und Prag X A 12 treten prägnante Varianten auch in der Hand‐ lungsgestaltung zu Tage, die die geistlichen Semantiken des zentralen Motivs des gege‐ ssenen Herzens zum Teil nivellieren, und deren sinnveränderndes Potential eine gezielte Umgestaltung des Textes nahelegt. Mindestens die Textform dieser Handschriften-Gruppe ist als eine eigenständige, deutlich von der übrigen Überlieferung geschiedene Fassung des ‚Herzmaere‘ fassbar. In der synchronen Betrachtung der Textzeugen zeigt sich immer wieder, dass spezifische Varianten, etwa die Aussparung bestimmter Textpartien, oft nicht unikal in einer Hand‐ schrift zu Tage treten, sondern sich praktisch kongruent in verschiedenen Überlieferungs‐ trägern wieder finden können. Dabei kann ein Textzeuge aber sehr präzise Übereinstim‐ mungen mit verschiedenen Parallelüberlieferungen aufweisen, so dass von 315 7.8 Textformen und Sammlungsprofile - Fazit 348 Siehe auch S. 180, FN 41. unterschiedlichen, parallel kursierenden Redaktionen des ‚Herzmaere‘ auszugehen ist. Die Textzeugen des ‚Herzmaere‘ können daher nicht in einer konkreten Historie oder gar einer stemmatologisch geordneten Genese erfasst werden, sondern müssen in einem prinzipiell nicht hierarchisierbaren Nebeneinander der unterschiedlichen Redaktionen betrachtet werden. 348 Gerade weil signifikante Divergenzen im Textbestand sehr pointiert und übereinstimmend nur in bestimmten Bereichen des Textes, zumeist am Textanfang und -ende, zu Tage treten, während sich die Überlieferung sonst durch große Genauigkeit und Übereinstimmung kennzeichnet, legen disparate Gestaltungen die Möglichkeit einer gezielten Formgebung durch den Schreiber nahe, der als fester Bestandteil des mittelalterlichen Textmodells mit‐ gedacht werden muss. In nicht wenigen Fällen zeigen sich sinnstiftende Zusammenhänge zwischen varianten Textpartien des ‚Herzmaere‘ und den jeweiligen Sammlungsumge‐ bungen, was eine Anpassung der Textform an den jeweiligen Überlieferungskontext plau‐ sibel macht. Im Cgm 714 ist ein Zusammenhang von Textform und Sammlung besonders augen‐ scheinlich, indem innerhalb einer Textgruppe, die als klar konturierte Textformation fassbar ist, analoge Anpassungen einzelner Dichtungen vorgenommen werden. Von einem unmit‐ telbaren Zusammenhang zwischen der Form des Textes und dem Kontext der Sammlung zeugt aber auch die Handschrift Schloss Schönstein Nr. 7693, bei der die Aussparung des Prologs in der Zusammenführung mit der voranstehenden großepischen Dichtung be‐ gründet sein dürfte. Weiterhin legt die Textform im Codex Wien 2885 einen Zusammenhang von Textform und dem schwankhaft geprägten Profil der Sammlung nahe, wobei auch die Vielzahl der unikalen Textfassungen in dieser Handschrift, in denen verschiedentlich eine Pointierung unterhaltsamer und schwankhafter Momente fassbar wird, diese Annahme plausibilisiert. Die lange Schlussrede als Spezifikum der Handschrift Don. 104 wirft eben‐ falls die Frage nach einem Entstehungszusammenhang mit der Sammlung auf, wobei dieser in einer Opposition zur angenommenen Verfasserschaft Konrads steht, dessen Autoren‐ signatur nur in der langen Schlussrede aufgeführt wird. Daneben gibt es auch Hand‐ schriften, in denen die Textform des ‚Herzmaere‘ keine signifikanten Rückbindungen an den Sammlungskontext nahelegt, etwa der Cpg 341. Unabhängig von einer durch die Sammlung geprägten konkreten Anpassung der Textform ist davon auszugehen, dass die Sammlungen als Lektürerahmen die Lesart des Textes un‐ terschiedlich beeinflussen. Der Vergleich der das ‚Herzmaere‘ tradierenden kleinepischen Sammlungen gibt einen Einblick in das breite Spektrum dieses Überlieferungstyps. Alle untersuchten Sammlungen haben spezifische Schwerpunkte und konzeptionelle Struk‐ turen, die sich in der Auswahl und Zusammenstellung der Texte manifestieren. Eine stati‐ sche Betrachtung der Sammlungen als Artefakte eines mehr oder weniger zufälligen Über‐ lieferungsprozesses trägt dem sinnstiftenden Zusammenspiel der Texte, das immer wieder in den Sammlungen fassbar wird, nicht ausreichend Rechnung. Trotz ihrer Heterogenität und dem oft sprunghaften Arrangieren divergenter Texttypen zeugen die analysierten Bei‐ spiele von einer Intentionalität und Konzeptionalität der Zusammenstellung, die den 316 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile Sammlungen unterschiedlich klar konturierte diskursive Profile zuweist. Diese kenn‐ zeichnen sich weniger durch eine stringente Abfolge von Texten, die der Sammlung eine kohärente Didaxe zuweisen und das ambige Potential einzelner Texte in eine übergeordnete Paradigmatik integrieren, sondern durch spannungsvolle Arrangements, in denen die Be‐ deutungsmuster von verschiedenen Texten und Texttypen in Beziehung zueinander treten. Die kleinepischen Sammlungen sind Medien einer dialektischen Verhandlung unterschied‐ licher literarischer Traditionen und Geltungskonzepte, sie gestalten literarische Räume, in denen insbesondere die Transgression zwischen weltlichen und geistlichen Semantiken vielschichtig ausgespielt werden kann. Dabei können unterschiedliche Sammlungsprofile die Aufnahme des gleichen Einzel‐ textes begründen: Das ‚Herzmaere‘ wird in divergente thematische und texttypologische Kontexte eingefügt, die jeweils andere Sinnsetzungen und Bedeutungsmomente betonen und andere Lesarten prägen. Das Zusammenspiel von Einzeltext und Sammlung manifes‐ tiert sich damit nicht nur in etwaigen Anpassungen der Textform, sondern auch in den intertextuellen Relationen des einzelnen Textes zu seinen Co-Texten und zum Profil der Sammlung. Der Cgm 714 gestaltet über verschiedene Textgruppen sowohl normative, problemati‐ sierende, ironisch-subversive als auch dezidiert geistliche Bezugnahmen auf die übergrei‐ fende Liebesthematik und lässt den Minnediskurs in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit in Erscheinung treten. Das ‚Herzmaere‘ steht im Zentrum der Samm‐ lung in einer dicht gefügten Textformation, in der die Geltungsansprüche weltlicher Liebe spannungsvoll mit geistlich-normativen Sinnsetzungen konfrontiert werden. Der Cpg 341 integriert das ‚Herzmaere‘ in den sogenannten ‚additionalen Teil‘ als Formation ausschließ‐ lich versnovellistischer, zumeist schwankhafter Texte, die dem einleitenden Marienteil als klar konturierter geistlicher Textformation geradezu diametral gegenübersteht. Das ‚Herz‐ maere‘ wird ohne erkennbare Anpassung an seine Co-Texte in diese abschließende Gruppe integriert; in der Sukzession der Texte kann es aber als Bestandteil einer Textreihe rezipiert werden, die die Variabilität von normativen Geltungskonzepten als wesentlichem Moment der versnovellistischen Poetik pointiert zum Ausdruck bringt. Die Straßburger Sammlung A 94 gestaltet eine dialektische Diskussion über die Frage richtiger und falscher Liebe, die über die opponierende Zusammenstellung exemplarischer und parodistischer Minnereden und Verserzählungen ausgespielt wird. Das exemplarische Potential des ‚Herzmaere‘ wird hier betont und verschiedenen schwankhaften Texten gegenübergestellt, die als negative Gegenbilder in Kontrast zu der beispielhaften Minne im ‚Herzmaere‘ stehen. Das Hand‐ schriftenpaar Wien 2885/ Innsbruck FB 32001 legt einen deutlichen Schwerpunkt auf un‐ terhaltende und schwankhafte Texte, moralisch-belehrende Stücke werden dagegen weit‐ gehend ausgespart. Die Sammlung fokussiert eine schwankhafte Darstellung von Minne, Sexualität und List, in der die geistliche Sphäre oft durch parodistische Texte eingespielt wird und generiert einen dominanten Modus von Unterhaltung und Belustigung. In diesen Kontext wird das ‚Herzmaere‘ weniger als Minnekasus denn als listreiche Sanktionierung des Ehebruchs semantisiert. Im Codex Don. 104 liegt der Schwerpunkt auf Reden und di‐ daktischen Texten, denen mit einer Reihe von Muster-Liebesbriefen eine Textformation vorangestellt ist, die vor allem Belehrung zu normgerechtem Minnehandeln transportiert. Dieses normativ-lehrhafte Profil prägt eine Rezeption, die die exemplarischen Geltungs‐ 317 7.8 Textformen und Sammlungsprofile - Fazit 349 Vgl. M A T T E R , Was liest man, wenn man in Minneredenhandschriften liest? , S. 283f. Für den Bereich der Lieddichtung führt R E U V E K A M P -F E L B E R , Der Codex als Kontext, am Beispiel eines Tageliedes exemplarisch vor, wie die divergenten handschriftlichen Kontexte ein je eigenes Textverständnis evozieren; dieses Spektrum der Rezeptionsmöglichkeiten kann die vereinzelte Lektüre in der Edition nicht abbilden. 350 Vgl. L U T Z , Text und ‚Text‘, S. 19. aussagen des ‚Herzmaere‘ akzentuiert. Der Prager Codex X A 12 wiederum überliefert in seinem Kernbestand vor allem Minnereden mit einer überwiegend konventionellen und zugleich positivierenden Rekurrenz auf das höfisch geprägte Minnekonzept und prägt damit ein konzises Profil. Innerhalb dieses generisch und thematisch weitgehend homo‐ genen Korpus treten die ambigen und problematisierenden Implikationen des ‚Herzmaere‘ weitgehend in den Hintergrund, die Dichtung wird als Beispiel für richtige Minne bzw. als Negativbeispiel für unangemessenes Verhalten gegenüber Frauen semantisiert. Die Hand‐ schrift Schloss Schönstein Nr. 7693 ist ein Spezifikum innerhalb der ‚Herzmaere‘-Überlie‐ ferung, weil die Dichtung hier nicht in einer Sammlung, sondern im Anschluss an Wolframs ‚Willehalm‘ aufgeführt wird. Die Versnovelle wird im Kontext der Sinnstiftungen des vo‐ ranstehenden Romans gelesen, der das ‚Herzmaere‘ zu einem verdichteten Kommentar über die Fatalität unbedingter Liebe und die prägnanten Liebe-Leid Relationen macht. Das ‚Herzmaere‘ als Modellfall für den Überlieferungsvergleich von Einzeltext und Sammlung zeigt beispielhaft, wie variabel ein einzelner Text verwendet werden kann, wie unterschiedlich seine Funktionalisierung und seine Rezeption sein können. Der Samm‐ lungsvergleich zeigt die grundsätzliche Problematik, die entsteht, wenn kürzere Texte aus Sammlungen in der Edition vereinzelt und damit in ihren durch Mitüberlieferung und Ver‐ wendungskontext geprägten Sinnpotentialen verkürzt werden. 349 Der einzelne Text defi‐ niert sich auch über seine Funktion und Stellung in der Textgemeinschaft, im Kontext der Co-Präsenz seiner Mitüberlieferung. 350 Erst im Gesamtbild der Sammlung wird der einzelne Gegenstand spezifisch realisiert, sowohl die Bedeutung als auch bereits die Form des ein‐ zelnen Textes bestimmen sich auch durch die Interferenz mit seinem Kontext. Es ist davon auszugehen, dass das ‚Herzmaere‘ in seiner Überlieferungsbreite und variablen Textform zwar ein besonders prägnantes Beispiel für die vielschichtigen Text-Kontext-Re‐ lationen in den kleinepischen Sammelhandschriften des Mittelalters, aber dennoch keinen Sonderfall darstellt. Eine große Anwendungsbreite ist vielmehr typisch für die Überliefe‐ rung versnovellistischer Texte. So zeigt der ähnlich breit überlieferte ‚Sperber‘ als schwank‐ hafter Vertreter der Textsorte ein ebenso divergentes Verwendungsspektrum wie das ‚Herz‐ maere‘: Neben dem Cpg 341, Straßburg A 94, Wien 2885, Innsbruck FB 32001 und Don. 104, die auch das ‚Herzmaere‘ tradieren, steht der ‚Sperber‘ noch in den Codices Bodm. 72, Karlsruhe 408 und Dresden Mscr. M 68 und damit in praktisch allen zentralen kleine‐ pischen Sammelhandschriften. Dazu kommen noch drei Handschriften mit gänzlich an‐ deren Profilen: Die Berliner Handschrift Ms. germ. 4°284 überliefert den ‚Sperber‘ mit einer Chronik und Gottfrieds ‚Tristan‘, der Cgm 717 inkorporiert die schwankhafte Dichtung in eine dezidiert geistliche Sammelhandschrift und der Wiener Codex 2931 tradiert neben dem ‚Sperber‘ Hadamars von Laber ‚Die Jagd‘ sowie die parodistische Minnerede ‚Adam und Eva‘. Insbesondere für die beiden letztgenannten Handschriften wurden relevante Diver‐ 318 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 351 Vgl. G R U B MÜL L E R , Novellistik des Mittelalters, S. 1212f. 352 Zum Vergleich mit dem ‚Decameron‘ als divergentem Sammlungstyp siehe das folgende Kapitel. genzen im Textbestand gegenüber den übrigen Überlieferungsträgern konstatiert, 351 was die Frage nach einer intentionalen Anpassung der Textform an die ungewöhnlichen Über‐ lieferungskonstellationen aufwirft. Das Beispiel ‚Sperber‘ zeigt, dass auch der schwankhafte Typus der Versnovellen in ganz unterschiedliche Sammlungsprofile und Textgruppen ein‐ gespeist werden kann, die divergente Lesarten prägen. Das dominante List- und Verfüh‐ rungsmotiv kann durch divergente Co-Texte unterschiedlich perspektiviert werden und entweder in seinem komischen Potential hervorgehoben oder aber moralisch problemati‐ siert werden. Ganz anders dagegen Schondochs ‚Königin von Frankreich‘ als am breitesten überlie‐ ferten Vertreter der Textsorte. Die umfangreiche Versnovelle über die grausame Vertrei‐ bung und darauf folgende Restitution der zu Unrecht des Ehebruchs bezichtigten Königin findet sich in gänzlich anderen Überlieferungskonstellationen wieder als das Gros der vers‐ novellistischen Texte. Sie wird häufig mit legendarischen und anderen geistlichen Texten überliefert, weiterhin mit didaktischer Dichtung, lehrhaften Erzählungen und Chroniken, wobei die tradierenden Codices zumeist nur wenige, dafür ausführlichere Texte integrieren. Die Auswahl der Co-Texte dürfte sich einer thematischen Korrespondenz mit der Versno‐ velle verdanken, die mit der ausgeprägten Tugend- und Beständigkeitsmotivik sowie der ungerechten Leiderfahrung der moralisch integren Protagonistin in semantische Nähe zur Märtyrerlegende rückt. Einzig die Nürnberger Handschrift Nr. 5339a aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts fügt ‚Die Königin von Frankreich‘ in eine überwiegend schwankhaft geprägte kleinepische Textsammlung ein. Ein Vergleich des Textbestandes der Nürnberger Handschrift mit den dezidiert geistlichen Kompilationen dürfte für die Frage nach Text-Kontext-Relationen aufschlussreich sein, vor allem aber zeigt dieses Überlieferungs‐ beispiel noch einmal ganz andere Facetten hinsichtlich der Verfügbarkeit versnovellisti‐ scher Dichtungen für dezidiert geistliche Sinnstiftungen auf. Die untersuchten kleinepischen Kompilationen demonstrieren beispielhaft, dass sich die spezifische Gattungsästhetik der versnovellistischen Texte in ihrer Überlieferung wider‐ spiegelt. Als ein Texttyp mit einer besonderen diskursiven Offenheit kennzeichnet die Vers‐ novellen auch eine ausgeprägte literarische Anschlussfähigkeit. Die vieldeutigen Sinnpo‐ tentiale sind auf die Korrespondenz mit anderen Texten und deren Sinnsystemen ausgelegt und damit für eine Überlieferung und Rezeption im Sammlungskontext prädestiniert. So erweist sich die Sammlung nicht erst in der zyklischen Gesamtkonzeption von Boccaccios ‚Decameron‘ als das authentische Überlieferungsmodell novellistischen Erzählens, 352 son‐ dern dieses ist per se auf die Kombination mit anderen Texten ausgerichtet, wobei diese sowohl dem gleichen Gattungsspektrum als auch anderen Bereichen mittelalterlicher Tex‐ tualität entstammen können. Die Überlieferung der kleinen Reimpaardichtung des Mittel‐ alters erfolgt nicht nur in generisch und thematisch homogenen Zusammenstellungen, etwa Fabel- und Exempelsammlungen. Auch texttypologisch und inhaltlich heterogene Kompilationen stellen einen wichtigen Sammlungstyp dar und markieren die bevorzugte Überlieferungskonstellation für die Integration versnovellistischer Texte. Die hier betrach‐ teten kleinepischen Sammlungen, unter ihnen viele der Haupthandschriften der kleinen 319 7.8 Textformen und Sammlungsprofile - Fazit Reimpaardichtung, gestalten in der Regel keine einheitliche Programmatik, die das ambige Potential des Einzeltextes in eine übergeordnete Paradigmatik integriert und darin auflöst. Sie führen zwar häufig Textmaterial auf, das normativen Geltungskonzepten verpflichtet ist, auch finden sich Beispiele, wo durch Textarrangements und die variable Gestaltung von einzelnen Texten gezielt exemplarische Sinnsetzungen pointiert werden. Diesen stehen aber zumeist auch Texte und Textreihen gegenüber, die gegenläufige Geltungskonzepte transportieren. Das literarische Profil der kleinepischen Sammlungen besteht damit gerade nicht in einer klaren Ausrichtung auf das Exemplarische und in einer Einsträngigkeit der Sinnpotentiale, sondern in einer Akzentuierung von Divergenz und Relationalität, die gerne zum Signum der Neuzeit erklärt wird. 320 7 Das ‚Herzmaere‘ im Kontext II: Textformen und Sammlungsprofile 1 J A U S S , Theorie der Gattungen, S. 342. 2 Michler beschreibt die moderne Novelle, die immer in besonderem Maße Gegenstand von Gattungs‐ diskussionen war, als eine gestiftete Gattung des 18. Jahrhunderts, für die Boccaccio erst rückwirkend zum Prototyp stilisiert wurde. Vgl. M I C H L E R , Kulturen der Gattung, S. 347-411. 3 „Das Decameron wird in der Forschung gern als singuläres Werk präsentiert, um seine Bedeutung zu untermauern. Tatsächlich aber gab es vor, neben und nach Boccaccio andere Novellisten“ (K O‐ C H E R , Boccaccio und die deutsche Novellistik, S. 84). Boccaccios Novelle baut auf griechischen, la‐ teinischen und auch volkssprachigen Traditionen auf, hier vor allem der des ‚Novellino‘. Vgl. ebd., S. 61f.; K O C H E R , Bilder als Mittel der Erkenntnissteuerung, S. 315. Ähnlich bereits bei S T U T Z , Frühe deutsche Novellenkunst, S. 141. 4 H E I N Z L E , Boccaccio und die Tradition der Novelle, S. 42. Vgl. außerdem K A S T E N , Erzählen an einer Epochenschwelle, S. 165f. 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 8.1.1 Das ‚Decameron‘ als Epochenwandel In der Literaturwissenschaft ist die Vorstellung einer klaren Dichotomie zwischen vormo‐ derner und moderner Textualität ein etabliertes Denkmodell. Der Übergang vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit markiert danach auch eine Modernitätsschwelle in der literarischen Entwicklung, die in einem deutlichen Paradigmenwechsel in der Ausgestaltung der ver‐ schiedenen Erzählformen ihren Ausdruck findet. In der kleinepischen Textualität ist diese systematische Geschiedenheit in besonderer Weise fassbar, indem die Alteritätsthese häufig an dem Gegensatz zwischen ‚mittelalterlichem Märe‘ und ‚neuzeitlicher Novelle‘ festge‐ macht wird. Als Schwellen- oder Gründungstext, der den Übergang zum modernen Er‐ zählen markiere, wird gemeinhin Boccaccios ‚Decameron‘ angeführt, das als Stiftungstext einer neuen Gattung ‚Novelle‘ gesehen wird: Der klassische Fall dafür ist die von Boccaccio geprägte Form der toskanischen novella, die für die ganze spätere Entwicklung der modernen Gattung Novelle normgebend wurde. 1 Dabei ist zum einen die Vorstellung einer Kontinuität vom Erzählen Boccaccios zur Novelle der Neuzeit umstritten, 2 zum anderen wurde verschiedentlich darauf verwiesen, dass Boc‐ caccios Erzählen seinerseits eingebunden ist in traditionsstiftende literarische Entwick‐ lungen. 3 Die Neustiftung einer, wie auch immer definierten, Gattung Novelle ist Boccaccio daher nicht uneingeschränkt zuzusprechen. Dennoch stellt die Vorstellung, dass die Novellenstruktur Boccaccios aus einem Bruch mit bisherigen Erzählpraktiken erwachse und eine klare epochale Geschiedenheit markiere, die das ‚Decameron‘ als einen Schwellentext zum modern-novellistischen Erzählen deutlich von einem mittelalterlich-exemplarischen Erzähltypus unterscheide, eine wirkmächtige „Denkschablone“ dar und prägt nachhaltig den Forschungsdiskurs. 4 Die starke Setzung der 5 Siehe auch R E U V E K A M P -F E L B E R , Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. XXV- XXVIII, der anmerkt, dass die Vorstellung einer Epochengrenze nicht nur die Rezeption der mittel‐ alterlichen Versnovelle, sondern auch die Boccaccios prägt, dessen Werk oft einseitig im Kontext der These seiner besonderen Modernität gelesen wird. 6 Vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 30f. 7 Vgl. T H O M É / W E H L E , ‚Novelle‘ in RL 2, S. 726, die sich explizit gegen die Bezeichnung ‚Versnovelle‘ für das mhd. Märe aussprechen. 8 N E U S C HÄ F E R , Boccaccio und der Beginn der Novelle. 9 So gestalte erst die Novelle Boccaccios eine ambivalente Personendarstellung, während die mittel‐ alterliche Kurzerzählung durch eine Einpoligkeit der Figuren gekennzeichnet sei (vgl. ebd., S. 27). An die Stelle eines modellhaften und auf eindeutige Gegensätze reduzierten Erzählens trete eine Komplizierung traditioneller Handlungsschemata; die Erscheinungen der Welt, die zuvor „gesetz‐ mäßig, typisch, exempelhaft, letztlich unproblematisch“ seien, würden in der Novelle „vergleichs‐ weise kompliziert und problematisiert“ werden (ebd., S. 49). Die Novelle als „Antiexemplum“ (ebd., S. 52) setze sich damit klar von einem gesetzmäßigen, exempelhaften und letztlich unproblemati‐ schen Weltverständnis mittelalterlicher Textualität ab und markiere eine für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit charakteristische „Entdeckung der Wirklichkeit“ (ebd., S. 51). Die Positionen Neuschäfers sind umfangreich und widersprüchlich diskutiert worden, einen Überblick über die Debatte gibt Z I E G E L E R , Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen, S. 9-13. Modifizierende Relektüren z.B. bei E M M E L I U S , Kasus und Novelle, S. 48f.; K A B L I T Z , Boccaccios Decameron zwischen Archaik und Modernität, S. 148; K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 47ff. Epochensignatur bedingt dabei eine Diskursbeschränkung, die den Blick auf Kontinuitäten der narrativen Verfahren und Denkmuster verstellen kann. 5 So hat die Vorstellung einer fundamentalen Geschiedenheit der durch Boccaccio mar‐ kierten Gattung Novelle von den mittelalterlichen Erzählgattungen maßgeblich die Rezep‐ tion der mittelhochdeutschen Versnovelle geprägt, was sich schon der Tatsache verdankt, dass diese Alterität integraler Bestandteil der Märendefinition Fischers ist, dessen Gat‐ tungsdefinition auch durch die Abgrenzung von der modernen Novelle expliziert wird. 6 Eine grundsätzliche Verschiedenheit der Gattungstraditionen ist zweifellos durch die Pro‐ saform als konstitutivem Merkmal der Novelle gegeben, 7 in der Forschungsdiskussion wird die Unterscheidung aber zumeist an andere, auch genuin inhaltliche Momente rückge‐ bunden. Wirksam für eine Rezeption des ‚Decameron‘ als epochalen Einschnitt, der einen deutlichen Paradigmenwechsel zwischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kurzer‐ zählungen markiere, ist vor allem die Arbeit Neuschäfers, für den die durch Boccaccio begründete moderne Novelle eine Weiterentwicklung aus mittelalterlichen Erzählgat‐ tungen und eine Abkehr von deren tradierten Gattungsmustern darstellt. 8 Neuschäfer grenzt die moderne Novelle von exemplarischen Erzählformen ab, die er als konstitutiv für die mittelalterliche Literatur sieht, und macht einen Wandel in der Poetik geltend, der auf eine Relativierung absoluter Normen abzielt. Während die Welt in mittelalterlichen Er‐ zählformen noch exempelhaft und unproblematisch sei, würde erst die Novelle, unter an‐ derem durch eine ambivalente Figurengestaltung und die Komplizierung traditioneller Handlungsschemata, Vieldeutigkeit und Pluralität narrativ umsetzen. 9 Nachdem verschiedene Forschungsarbeiten darauf hingewiesen haben, dass die für Boc‐ caccios Novellen konstituierten Merkmale keineswegs immer ein Spezifikum und einen 322 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 10 Vgl. H E I N Z L E , Boccaccio und die Tradition der Novelle; ders., Märenbegriff und Novellentheorie, insbesondere S. 126f.; weiterhin Z I E G E L E R , Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen, der nach vergleich‐ ender Lektüre stoffähnlicher Erzählungen aus den titelgebenden Textkorpora zusammenfassend konstatiert: „Eine auch nur in Maßen zielgerichtete Gattungsdifferenzierung in Richtung auf die ‚komplexe Form‘ Novelle, einen vom gesellschaftlichen Wandel abhängigen literarischen Prozess kann ich für diese Textreihe nicht erkennen, ebenso wenig freilich auch einen Unterschied von Fab‐ liaux bzw. Mären auf der einen und Novellen auf der anderen Seite, der als ein Unterschied von Gattungen zu bezeichnen wäre“ (ebd., S. 30f.). Auch aus romanistischer Perspektive ist die paradig‐ matische Abgrenzung der Boccaccio-Novelle von vorgängigen Werken wie dem ‚Novellino‘ be‐ stritten worden. Vgl. Il Novellino, hg. R I E S Z , Nachwort S. 325f. 11 F R I E D R I C H , Metaphorik des Spiels, S. 3f., fasst die Versnovelle als Übergangsform zwischen der ein‐ fachen Form des Exempels und der komplexeren Novelle. Die Kontinuität von mittelalterlichen Er‐ zählformen und Novelle stellen auch von V O N M O O S / M E L V I L L E , Rhetorik, Kommunikation und Me‐ dialität, heraus, die die ‚eigentlichen‘, sich aus der homiletischen Tradition herleitenden Exempla von Textformen unterscheiden, die nicht mehr dem Prinzip der eindeutigen Vermittlung normativer Prinzipien verpflichtet sind. Im 12. Jahrhundert entstehe ein als ‚casus‘ bezeichneter Texttyp, der „sich im 14. Jahrhundert zur Novelle fortentwickelt“ (ebd., S. 126). Ähnlich macht E M M E L I U S , Kasus und Novelle, in Rekurrenz auf Grubmüller eine „Mittlerrolle“ für die Versnovellen geltend, in der sich bereits die narrativen Prinzipien Boccaccios zeigen würden (ebd., S. 50). Eine vergleichbare Genese des Erzählens formuliert B R O W N , Boccaccio’s Fabliaux, im Vergleich von ‚Decameron‘ und dem Fabliau. Die Novelle Boccaccios führe einen bereits im Fabliaux erkennbaren Wandel der volks‐ sprachigen Literatur von didaktisch-moralisierender Funktionalisierung zu einem hermeneutisch orientierten Literaturverständnis fort, markiere dabei aber einen genuin neuen Erzähltypus, den Brown vor allem in einer Zusammenführung von Exempel und Fabliau-Typ sieht (vgl. ebd., S. 5-9). K O C H E R , Boccaccio und die deutsche Novellistik, geht in ihrer vergleichenden Untersuchung von ‚Decameron‘ und der deutschsprachigen kleinepischen Erzähltradition dagegen davon aus, dass eine Boccaccio vergleichbare Textform ‚Novelle‘ in Deutschland erst ab dem 15. Jahrhundert entsteht; die deutschsprachige Novellendichtung der Vormoderne sei damit ein Boccaccio nachfolgendes Phä‐ nomen (vgl. ebd., S. 16f., S. 30). Das mhd. Märe sieht Kocher dabei als eine deutlich von Boccaccios Novelle geschiedene, sogar rivalisierende Textform. Zwar kennzeichne das Märe eine Diskurstradi‐ tion, deren Regeln denen der Novelle ähnelten, so dass es unmöglich sei, „das Märe ohne die Novelle zu denken“ (ebd., S. 477; weiterhin S. 32, S. 494), die Novelle markiere aber eine „ganz neue Art des Interdiskurses“ (ebd., S. 102). Allerdings bleiben die Parameter, an denen Kocher das Novum der Boccaccio-Novelle festmacht, letztlich unklar. Der allein für die Novelle in Anspruch genommenen Offenheit und Diskursvielfalt wird eine vermeintliche Geschlossenheit des Märe gegenübergestellt, die Kocher vor allem mit einer anderen Art der Figurenkonzeption und Erzählperspektive begründet, die aber unkonturiert bleibt und letztlich eine Reformulierung der in der älteren Forschung konsta‐ tierten exempelhaften Eindeutigkeit des Märe darstellt. Bruch mit bisherigen Erzählpraktiken darstellen, 10 wurde anstelle einer dichotomischen Unterscheidung der Texttypen das Profil versnovellistischer Texten und verwandter Er‐ zählformen wie dem Fabliau als Zwischenstufen in der Entwicklung zu dem von Boccaccio vertretenen Novellentyp bestimmt. 11 Das ‚Decameron‘ stellt damit nach wie vor eine mar‐ kante Zäsur und einen wichtigen Referenztext innerhalb der europäischen kleinepischen Erzähltradition dar. Als eine eigentlich kontemporäre Vergleichskonstellation - das ‚De‐ cameron‘ ist zeitgleich zur Hochphase der versnovellistischen Dichtungen und des kleine‐ pischen Sammelschrifttums entstanden - kann das ‚Decameron‘ in einer vergleichenden Analyse vorgängigen bzw. anderweitig verorteten Erzähltraditionen gegenübergestellt 323 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 12 Die Gleichzeitigkeit der Entstehung des ‚Decameron‘ mit der Hochphase der kleinepischen Dichtung wird zumeist nicht als Widerspruch gegen die Annahme einer größeren Modernität erachtet, da der literarische Epochenwandel in Italien gemeinhin früher terminiert wird als im deutschsprachigen Raum (vgl. K A S T E N , Erzählen an einer Epochenschwelle, S. 166). Während die italienische Literatur bereits im 13. und 14. Jahrhundert durch den Frühhumanismus geprägt ist, wird Deutschland am „Ende der europäischen Rezeptionsketten“ verortet. D A L L A P I A Z Z A , ‚Decamerone‘ oder ‚De Claris Mulieribus‘, S. 104. 13 Vgl. K A S T E N , Erzählen an einer Epochenschwelle, S. 168-174. 14 Boccaccio: Das Decameron, hg. B R O C K M E I E R . 15 ‚Der Hasengeier I‘ in: Deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. F I S C H E R . werden. 12 So lassen sich sowohl die narrativen Parameter, die für das versnovellistische Erzählen bestimmt wurden, als auch die Paradigmen der kleinepischen Sammlungskon‐ zeptionen aus einer komparatistischen Perspektive beleuchten. Es ist offenkundig, dass das exemplarische Erzählen, insbesondere in der von Neuschäfer aufgerufenen Opposition von Einsinnigkeit versus Pluralität, keine hinreichende Distink‐ tion darstellt, um das Erzählen Boccaccios von der mittelhochdeutschen Versnovelle zu unterscheiden. Kasten stellt mit der vergleichenden Analyse von Boccaccios ‚Falkenno‐ velle‘ und Rosenplüts ‚Hasengeier‘ ein Beispiel vor, bei dem das ‚moderne‘ Erzählen Boc‐ caccios sogar exemplarischer gelesen werden kann als das einer motivähnlichen mittel‐ hochdeutschen Versnovelle: 13 In der ‚Falkennovelle‘ (V,9) wirbt Frederigo degli Alberighi vergeblich um die von ihm sehr geliebte, aber verheiratete Giovana; 14 er verwendet all seinen Besitz, um durch Turniere und große Feste ihre Gunst zu gewinnen, bis ihm am Ende nur ein wertvoller Jagdfalke bleibt. Als das Kind der mittlerweile verwitweten Giovana lebensbedrohlich erkrankt und seinen sehnlichen Wunsch nach eben diesem Falken äußert, sucht Giovana Frederigo auf, um ihn um den Falken zu bitten; mit dem Geschenk verbindet sie die Hoffnung auf eine Genesung des Sohnes. Bevor sie ihren Wunsch äußern kann, lässt Frederigo allerdings in Ermangelung einer Speise, mit der er Giovana angemessen bewirten kann, den Falken als Mittagessen zubereiten. Betrübt über den Verlust des Falken, aber innerlich beeindruckt von seiner Hochherzigkeit, verlässt Giovana Frederigo. Nachdem das Kind gestorben ist und Giovana von ihrer Familie zu einer neuen Ehe gedrängt wird, wählt sie Frederigo, der durch die Heirat auch aus seiner Armut befreit wird. In dem konsequent durchgeführten Schema der rückhaltlosen Großzügigkeit Frederigos, die letztlich belohnt wird, sowie in der Semantik der verweigerten Minne, die als Ursache für den Tod von Giovanas Kind zumindest indirekt impliziert wird, lassen sich zwei Mo‐ mente ausmachen, die sich konsequent in die der Erzählung vorangestellte Ermahnung zu Großzügigkeit einfügen und damit als exemplarisches Moment auch im Sinne der De‐ monstration einer gültigen moralisch-ethischen Normativität gelten können. In Rosenplüts ‚Hasengeier‘ wirbt ebenfalls ein Edelmann erfolglos um eine verheiratete Frau, die den Werber aber nur aufgrund seiner Armut abweist, einem wohlhabenden Pfaffen dagegen ihre Gunst gewährt. 15 Der Abgewiesene zieht sich nicht in Trauer zurück, sondern nimmt Rache, indem er einen Hasengeier als Geschenk überbringt, der angeblich die Fä‐ higkeit besitzt, Heimlichkeiten zu offenbaren. Da die Frau befürchtet, dass der Vogel ihrem Ehemann ihre Untreue offenlegt, machen sie und der Pfaffe genau das, wovon der Edelmann 324 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 16 Gegen die von Kasten gewählte Vergleichskonstellation ließe sich anführen, dass Hans Rosenplüt bereits am Ende der Gattungstradition steht und der ‚Hasengeier‘ etwa 100 Jahre später datiert als die ‚Falkennovelle‘. Das hier wirksame narrative Prinzip des ins Leere laufenden exemplarischen Moments ist jedoch kein Spezifikum dieses späten Textes, der durchaus beispielhaft für das versno‐ vellistische Erzählen herangezogen werden kann. 17 Die für die mhd. Versnovelle konstitutive Verwendung tradierter und typisierter narrativer Konfi‐ gurationen und Schemata ist nicht, wie von Neuschäfer postuliert, Indiz einer stereotypen Norm‐ vermittlung, sondern wird auch als Mittel zur Erzeugung von Ambiguität genutzt. Schon die immer neue Gestaltung der Konfigurationen und Schemata widerspricht einer Einheitlichkeit der ma. Vers‐ novellen (vgl. K A S T E N , Erzählen an einer Epochenschwelle, S. 167-171). Zwar werden tradierte Muster narrativiert, aber diese erscheinen oft in widersprüchlichen Konfigurationen, so dass die Erwartungen an konventionelle Sinngebungen gerade nicht erfüllt, sondern vielmehr auf die Rela‐ tionalität der Gültigkeit von Normen verwiesen wird. Siehe auch Kap. 2.2.2. 18 „Die entscheidende und für die Bestimmung der Epochengrenze relevante Frage ist, ob die Reduktion auf einen höheren, abstrakten Sinn gelingt oder nicht.“ K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 57. 19 K A B L I T Z , Boccaccios Decameron zwischen Archaik und Modernität, S. 150. zuvor behauptet hat, dass es den Vogel tötet: Sie urinieren auf seinen Kopf, wobei der Geier allerdings nicht stirbt, sondern ihnen in die Genitalien beißt. Zwar stellt die perfide und brutale Rachehandlung eine Sanktionierung der habgierigen Frau durch den abgewiesenen Werber dar, aber das Handeln fügt sich in keinerlei überge‐ ordnete Normativität ein. Durch die Verletzung des buhlenden Paares wird auch keine Ordnung restituiert, denn die Strafe erfolgt nicht für die eheliche Untreue, sondern für die Abweisung eines Werbers. Der Epilog formuliert zwar eine Belehrung, deren Gegenstand sind aber nicht etwa untreue oder habgierige Frauen, die nur monetär potenten Werbern ihre Gunst gewähren, sondern Werber, die zu wenig Geld haben: Wer pulen wol, der gedenk daran/ das er ain volle taschen hab (V. 148f.). Damit wird zwar auf struktureller Ebene ein exemplarisches Moment gestaltet, das aber bestenfalls als illustrierendes Beispiel für die Schlechtigkeit der Frauen fungieren kann, jedoch mit keiner sinnvollen normativen Funk‐ tion verknüpft ist. 16 Von einer eindeutig exemplarischen Erzählfunktion der Versnovellen kann nicht ausge‐ gangen werden, zu oft erweist sich die Vermittlung von Sinn und verbindlicher Normati‐ vität als nur vorgegeben, werden die suggerierten didaktischen Ansprüche gar nicht ein‐ gelöst. 17 Daher ist zu fragen, ob die Art und Weise, wie auf exemplarische Erzähltraditionen rekurriert wird, tatsächlich konstitutiv für den besonderen poetischen Status, die ‚Moder‐ nität‘ des ‚Decameron‘ im Vergleich zu den mhd. Versnovellen ist. 18 Kablitz modifiziert die These Neuschäfers, indem er die Modernität des ‚Decameron‘ nicht mehr aus der „Gegenüberstellung von neuzeitlicher Komplexität und mittelalterlicher Eindeutigkeit“ heraus entwickelt, sondern statt dessen von einer Neujustierung „mittelal‐ terliche[r] Kontroversität“ durch Boccaccio ausgeht. 19 Eingebettet in veränderte Denk‐ strukturen der Spätscholastik zeitige das Erzählen Boccaccios eine Auflösung des tradierten scholastischen Moralsystems, das in die narrative Umsetzung eines konsequenten Kontin‐ genzprinzips münde; das ‚Decameron‘ führe vor, dass die sittlichen Gebote nicht mehr in eine natürliche Ordnung eingebunden und klar erkennbar seien. Die, zumindest implizit, im Nominalismus Wilhelms von Ockham verankerte Vorstellung, dass die Freiheit des göttlichen Willens ein unbegrenztes Prinzip ist, führe in die Absage an jedwede Universa‐ 325 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 20 Vgl. K A B L I T Z , Boccaccios Decameron zwischen Archaik und Modernität, S. 158f., S. 179. Den zumin‐ dest indirekten Einfluss Wilhelms von Ockham auf das ‚Decameron‘ macht auch Küpper geltend. Vgl. K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 84ff. 21 Vgl. R E I C H L I N , Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur, insbes. S. 16ff., S. 45; H E R B E R I C H S / R E I C H L I N , Vorwort: Kein Zufall, S. 9f. Der Umgang mit Kontingenzerfahrung markiert auch für Kocher ein Spezifikum von Boccaccios Erzählen. Die Gemeinsamkeit und das markante Merkmal seiner Novellen würden im Aufzeigen von Täuschung und Unwahrheit liegen, wodurch die Erkenntnis vermittelt würde, dass es keine Verlässlichkeit und Eindeutigkeit gibt. Das ‚Deca‐ meron‘ führe vor, wie sich der Mensch in einer von kontrastierenden Diskursen beherrschten Welt verhält, in der es letztlich keine verbindlichen Regeln und lebenspraktischen Hilfen gibt; der „nütz‐ liche Rat“ müsse in jeder Situation neu durch Interpretation erschlossen werden (vgl. K O C H E R , Boc‐ caccio und die deutsche Novellistik, S. 31f., S. 102, S. 506-512). Ähnlich Sanders, für den die narrative Konzeption des ‚Decameron‘ einen Kontrast gestalte zwischen einem ausgestellten Kontingenz‐ prinzip und einer Handlungsfähigkeit auf zwischenmenschlicher Ebene, die als kontingenzbegren‐ zendes Moment die Welt als eine „prinzipiell positive Möglichkeitswelt“ erscheinen lasse, die dem aktiv Handelnden meist den Erfolg sichere (S A N D E R S , Lebenswelten, S. 101). Damit beschreiben Ko‐ cher und Sanders allerdings ein ähnliches Prinzip, das sich auch in dem von Ragotzky vorgestellten Moment der gefüegen kündikeit als konstituierendem Bestandteil des versnovellistischen Erzählens beim Stricker findet. Auch hier wird situationsadäquates kluges Verhalten als positive Handlungs‐ maxime in einer in Unordnung geratenen Welt vorgeführt. Vgl. R A G O T Z K Y , Die ›Klugheit der Praxis‹; siehe S. 30-36. 22 Dabei ist Boccaccios Pestschilderung möglicherweise nicht (nur) Ausdruck einer tatsächlichen epo‐ chalen Wende im Ordoempfinden; genauso kann die literarische Darstellung in der Retrospektive die Deutung eines realhistorischen Krisenereignisses als mentalitätsgeschichtliche Zäsur geprägt haben. 23 W A L T E N B E R G E R , „… so ist es nun von nöten, das ich etwas von kläglichen dingen schreibe…“, S. 6. lien; das göttliche Handeln sei damit nicht mehr an allgemeine und verstehbare ethische Normativitäten gebunden. 20 Reichlin stellt dagegen die verbreitete Vorstellung von mittel‐ alterlicher Kontingenzwahrnehmung an sich in Frage. Das Denkmodell, dass die Vormo‐ derne Kontingenz zunächst nur als vordergründige Instabilität wahrnehme, die letztlich in einer höheren Ordnung aufgehoben sei und die dann durch den Nominalismus nach Ockham und Scotus eine tiefe Erschütterung erfahre, sei einzuschränken. Tatsächlich be‐ dinge der Nominalismus keine allumfassende Absage an eine kosmologische Verlässlich‐ keit. Ockham postuliert zwar die absolute Freiheit Gottes, betont aber dennoch eine Einheit von Gottes Allmacht und Ordnung, die die Veränderungen im Kontingenzverständnis als nicht so krisenhaft erscheinen lasse, wie vielfach angenommen. Reichlin geht von einer komplexeren Historie des Kontingenzverständnis im Mittelalter aus, das auch verschiedene Modelle der literarischen Verhandlung geprägt hat. 21 Dass die Boccaccio zugesprochene Neuformierung des novellistischen Erzählens oft mit einer epochalen Neujustierung der Kontingenzerfahrung verbunden wird, ist wesentlich in der vorangestellten Pesterzählung begründet. 22 Der Pest-Kontext spielt eine wichtige Rolle nicht nur für die erzählte Handlung, sondern für die literarische Konzeption des ‚De‐ cameron‘ insgesamt, denn die absolute Destruktivität und herausgestellte Unerklärlichkeit der Pest bedingt eine „textübergreifende[n] Relativierung diskursiver Geltungsan‐ sprüche“. 23 Zweifellos wird auf der Ebene der Rahmenhandlung durch die einleitende Pest‐ erzählung in besonderem Maße Kontingenz markiert und eine rezeptive Haltung der Skepsis gegenüber möglichen im Folgenden verhandelten normativen Geltungen evo‐ 326 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 24 Auch das Ende des ‚Decameron‘ stellt in höchstem Maße Kontingenz im Sinne einer Unvorherseh‐ barkeit des Schicksals heraus, indem auf die geradezu überstrukturierte Ordnung und Vorherseh‐ barkeit des idyllischen Landlebens die angekündigte Rückkehr der Brigata in die Peststadt Florenz erfolgt, wobei das weitere Schicksal der Figuren offen gelassen wird. 25 Vgl. K A B L I T Z , Boccaccios Decameron zwischen Archaik und Modernität, S. 164ff. 26 Li romanz d`Athis et Prophilias, hg. H I L K A . 27 Vgl. die Beispielanalysen in Kap. 2.2. ziert. 24 Entscheidend für den Status der Boccaccio-Novelle als neuem Erzähltyp ist aber die Frage, mit welchen Verfahren Kontingenz auf der Ebene der erzählten Geschichten narra‐ tiviert wird. Kablitz führt aus, dass Boccaccio hierfür die scheinbare Eindeutigkeit exemp‐ larischer Erzählstrukturen nutzt und in Widerspruch zu textimmanenten Normverlet‐ zungen arrangiert; damit legen die Texte die Brüchigkeit eben dieser normativen Kategorien offen, die so instabil sind, dass sie nicht einmal mehr Konflikte verursachen können: 25 Kablitz führt dies am Beispiel der Novelle X,8 aus, die als ein Exempel für die über allem stehende Freundschaft gestaltet ist. Aber gerade aus dem absoluten Postulat der freund‐ schaftlichen Treue, dem die Protagonisten bedingungslos folgen, erwächst ein zutiefst amoralisches Verhalten, indem Gisippo seinem für die eigene Braut Sofronia entflammten Freund Tito großmütig die künftige Frau überlässt, allerdings ohne diese darüber in Kenntnis zu setzen. Um einen gesellschaftlichen Skandal zu vermeiden, nimmt Gisippo seine Braut offiziell zur Frau, lässt diese aber, in Umkehrung des Motivs des Brautunter‐ schubs, ohne ihr Wissen die Hochzeitsnacht mit Tito verbringen. Zu einem für ihn pas‐ senden Zeitpunkt setzt er Sofronia darüber in Kenntnis, dass sie die Ehe in Wahrheit mit Tito vollzogen hat und deshalb auch mit diesem zusammen leben soll. Die Klagen der Braut und ihrer Familie über den Betrug werden von Tito in einer flammenden Rede zurückge‐ wiesen, der die Selbstlosigkeit Gisippos lobt und die Vernünftigkeit ihres Handelns ‚be‐ weist‘. Später revanchiert er sich auch für die Selbstlosigkeit des Freundes, indem er diesen aus einer lebensgefährlichen Situation rettet und mit der eigenen Schwester verheiratet. Die Protagonisten reflektieren, anders als in dem von Kablitz zum Vergleich angeführten stoffgleichen altfranzösischen Roman ‚Athis et Prophilias‘, 26 in keiner Weise die Wider‐ sprüchlichkeit und Amoral ihres Handelns. Auch die lobenden Kommentare der Brigata überspielen die Fragewürdigkeit der vorgestellten ethischen Maxime in eklatanter Weise und tun ihr übriges, um für die erzählte Geschichte exempelhafte Eindeutigkeit zu sugge‐ rieren. Diese von Kablitz beschriebene Überlagerung normativer Indifferenz durch eine vorder‐ gründige Exemplarizität kennzeichnet aber bereits die Poetik versnovellistischen Erzäh‐ lens, denn auch in den Versnovellen erweist sich der exemplarische Geltungsanspruch oft als leere Geste, der keinerlei normative Geltung entfalten kann. Vielfach ist eine offenkun‐ dige Amoral der Protagonisten oder die Kontroverse zwischen konfligierenden Normen augenscheinlich, die aber nicht zum Gegenstand expliziter Verhandlung werden. Der exemplarische Erzählmodus erweist sich als fragwürdig, was besonders in der Inkohärenz zwischen narratio und moralisatio als häufigem Kennzeichen versnovellistischen Erzählens augenscheinlich wird und auf die gleiche von Kablitz beschriebene Brüchigkeit oder Kon‐ tingenz normativer Kategorien rekurriert. 27 Das narrative Prinzip Boccaccios, der „seinen 327 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 28 K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 64. 29 Küpper konstatiert, dass auch die mittelalterlichen Versnovellen mit Mehrdeutigkeit operieren und dass die durch Neuschäfer angeführten textuellen Merkmale wie die angebliche Einpoligkeit der Figuren nicht als Unterscheidungskriterien tragen; in der Perspektivierung des Gesamtwerkes würde sich die These Neuschäfers hingegen bestätigen. Es zeige sich, dass „die Differenzen zu mittelalter‐ lichen Kurzerzählungen weniger grundsätzlich sind als bei dem Zitierten behauptet, im Hinblick auf das Decameron als Ganzes indes die gemeinten Thesen sich aus einer diskurshistorischen Sicht nicht nur bestätigen, sondern, so scheint es, erst eigentlich ihr Profil gewinnen.“ Vgl. K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 47ff., Zitat S. 47. 30 Als Beispiel führt Küpper die Novellen IV,5 und V,5 an, in denen jeweils von der Entdeckung der heimlichen Liebschaft einer jungen Adligen erzählt wird, wobei die Familien die Schande der au‐ ßerehelichen Beziehung auf denkbar konträre Weise abwenden, indem nämlich im ersten Fall der Liebhaber heimlich getötet, im zweiten Fall dagegen schnell eine Hochzeit arrangiert wird. Gänzlich konträre Verhaltensmuster, die vergleichbare Ergebnisse erzielen, stellen die Novellen II,7 und II,9 vor. Die Sultanstochter Alatiel wird auf der Reise zu ihrem Bräutigam entführt und geht während der darauffolgenden Irrfahrt durch die Hände von insgesamt neun Männern. Dabei erweist sie sich sexuellen Freuden und ihren verschiedenen Liebhabern gegenüber als äußerst aufgeschlossen, die nicht lange um sie werben müssen. Dennoch wird Alatiel am Ende als ‚jungfräuliche‘ Braut glücklich mit dem König von Garbo verheiratet. Sie erfährt damit das gleiche vollkommene Glück wie die Ehefrau des Kaufmanns Bernabo aus Genua, die auch unter widrigen Umständen ihre Tugend be‐ wahrt und am Ende glücklich mit ihrem Mann wiedervereint wird. Vgl. K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemp‐ larität‘, S. 70-75. 31 Ebd., S. 73. Geschichten die in Richtung des Exemplum deutenden Strukturen eingeschrieben hat, um die tatsächliche Differenz bewusst zu machen“, 28 ist ein eingespielter Bestandteil novellis‐ tischer Erzählverfahren, der nicht erst das ‚Decameron‘ kennzeichnet. Küpper konstatiert gleichfalls eine epochale Geschiedenheit des ‚Decameron‘ von Text‐ sammlungen, die noch den mittelalterlichen Paradigmen eines ordnenden Diskurses ver‐ schrieben seien und den Bruch mit dem exemplarischen Erzählprinzip noch nicht vollzogen hätten. Küpper verortet diese Differenz aber nicht primär auf der Ebene der einzelnen Nar‐ ration, sondern vor allem in der Konfiguration der Texte. 29 Das ‚Decameron‘ ist durch eine ‚A-Systematik‘ in der Zusammenstellung der Texte gekennzeichnet, durch die die Irrele‐ vanz der exemplarischen Aussagen vieler Einzeltexte erst augenscheinlich wird: Die Ge‐ samtkonzeption unterläuft die Moral der Einzelgeschichten, indem Texte einander gegen‐ über gestellt werden, die zum Beispiel dieselben Verwicklungen different, aber jeweils in sich schlüssig lösen oder in denen konträre Verhaltensmuster zu einem vergleichbaren Ende führen. 30 So erzeugt vor allem die Kombinatorik der Geschichten das ausgestellte Kontin‐ genzprinzip des ‚Decameron‘, das „dem Gedanken der Verhaltensnormierung, dem Konzept des Exemplarischen, jede Grundlage entzieht.“ 31 Diese den Einzeltext überschreitende Relativierung normativer Geltungsbehauptungen ist aber genauso Kennzeichen der Textarrangements in den mittelalterlichen kleinepischen Sammlungen, denn auch hier stehen Texte nebeneinander, die sich in ihren Aussagen wi‐ dersprechen und durch variable Lösungen gleicher Probleme ihre Sinnaussagen relativieren können. Häufig werden moralisch disparate Texte zusammengeführt, etwa wenn schwank‐ hafte Erzählungen, in denen der Ehebruch sanktioniert und das übele wîp bestraft wird, neben solchen stehen, in denen der Ehebruch unbestraft bleibt und die Komik zu Lasten des Betrogenen geht. Auch die kleinepischen Sammlungen führen durch die Sukzession der 328 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 32 Vgl. Kap. 7.1.2, insbes. S. 182-187. Auch die Gegenüberstellung divergenter Texttypen kann zum Konfligieren widersprüchlicher Geltungskonzepte führen, vgl. z.B. den Prager Codex X A 12, in dem Minnereden, die den Verhaltensnormen höfischer Minnewerbung verpflichtet sind, mit sub‐ versiv-persiflierenden Texten wie der ‚Grasmetze‘ oder der ‚Bauernhochzeit‘ kombiniert werden, in denen diese Geltungsansprüche zur Farce geraten (siehe S 284f.). Insbesondere die Kombination mit versnovellistischen Texten bedingt häufig eine Relativierung von etablierten Sinnsetzungen (siehe Kap. 2.2.2; 4.2.) 33 Vgl. K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 47. 34 Lückenhafte Handschriften und Auszüge aus dem Gesamtwerk wurden, anders als z.B. bei der ‚Novellino‘-Überlieferung, im italienischsprachigen Raum kaum tradiert. Weiterhin ähneln sich die ‚Decameron‘-Handschriften auch in der Gestaltung und Ausstattung. ‚Prototyp‘ ist der um 1370 entstandene Codex Ms.Ham. 90, der als Autograph Boccaccios gilt und dessen Format und reprä‐ sentative Ausstattung in nahezu allen ‚Decameron‘-Handschriften anzutreffen ist. Vgl. G R U B‐ MÜL L E R , Überlieferung-Text-Autor, S. 8f. Texte die Relationalität von Geltungsaussagen vor, etwa in der vorgestellten Textreihe über List und Betrug im Cpg 341: Durch die Abfolge von Erzählungen, die Listhandeln mal sanktionieren und tadeln, mal als probates Mittel zum Erreichen legitimer Anliegen vor‐ stellen, wird die Irrelevanz eindeutiger Normativitäten umfangreich ausgespielt. 32 Während der Einzeltext, auch durch das Konzept lehrhafter Rede in den Pro- und Epi‐ mythien, noch exemplarische Geltung beanspruchen kann, auch wenn diese oft durch ab‐ surde und den Lehren widersprechende Handlungsverläufe bereits fragwürdig wird, büßt er diese Geltung möglicherweise endgültig durch die Relation zu anderen Texten ein. Der Erzählzusammenhang erzeugt so Skepsis gegenüber dem Einzeltext, die Konfiguration re‐ lativiert dessen Geltungs- und Wahrheitspostulat, womit der dem Einzeltext immanente exemplarische Impetus in Frage gestellt wird. So kann die Sammlung Wahrheitskonzepte nicht nur bestätigen oder negieren, sondern deren Relevanz durch diametrale Gestaltung der Lehren per se in Frage stellen und damit das Prinzip exemplarischen Erzählens in die gleichen Aporien führen, die für das ‚Decameron‘ konstatiert wurden. 8.1.2 Narrative Pluralität und rahmende Ordnung Weder auf der Ebene der erzählten Geschichten noch in der Konfiguration der Texte in der Sammlung lässt sich für die mhd. Versnovellen konstatieren, dass diese, im Gegensatz zu den Novellen des ‚Decameron‘, einer ‚vormodernen‘ Verbindlichkeit des Exempels verhaftet wären. Ein markanter Unterschied stellt dagegen die zyklische Struktur und die geschlos‐ sene Gesamtkonzeption dar, die in der Forschung verschiedentlich als wesentliches Merkmal für die Modernität des ‚Decameron‘ gesehen und anhand der die These einer epochalen Geschiedenheit von mittelalterlichen Erzählverfahren fortgeschrieben wird. 33 Das ‚Decameron‘ ist das wohl bedeutendste Beispiel einer novellistischen Sammlung, die ihre Konzeption als Gesamtwerk deutlich herausstellt und die auch entsprechend rezipiert wurde: Die italienischen Handschriften überliefern das ‚Decameron‘ zumeist selbstständig und vor allem vollständig mit allen Erzählungen und der gesamten Rahmenhandlung. 34 Ganz anders dagegen die kleinepischen Sammelhandschriften, bei denen sich weder in der Auswahl und Abfolge von Texten noch in der äußeren Gestaltung Beispiele für eine kon‐ 329 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 35 Selbst Sammlungen, die in einer unmittelbaren Vorlagenbeziehung stehen, weichen in der Auswahl und Abfolge von Texten sowie im Textbestand einzelner Dichtungen voneinander ab, siehe beispiel‐ haft die in dieser Arbeit besprochenen Codices Cpg 341/ Bodm. 72 und Wien 2885/ FB 32001. Auch in der äußeren Gestaltung gleicht, von grundlegenden Gestaltungsparametern abgesehen, keine Samm‐ lung der anderen; Formate, Textbild und Schmuck sind im Vergleich zur ‚Decameron‘-Überlieferung divergent. 36 Vgl. G R U B MÜL L E R , Überlieferung-Text-Autor, S. 9f. 37 Vgl. B R O W N , Boccaccio’s Fabliaux, S. 2f., S. 95; H E I N Z L E , Boccaccio und die Tradition der Novelle, S. 61; G R U B MÜL L E R , Mittelalterliche Novellistik, S. 3. 38 Vgl. W E H L E , Novellenerzählen, S. 12, S. 239. 39 T H O M É / W E H L E , ‚Novelle‘ in RL 2, S. 727. 40 G R U B MÜL L E R , Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 288. 41 Zur Sammlung ‚Die Welt‘ und der Bedeutung des Werktitels siehe S. 73. stante Überlieferung von Sammlungen finden. 35 Gründe für die Überlieferungskonstanz des ‚Decameron‘ macht Grubmüller in den Besitzverhältnissen der Handschriften aus, die im Gegensatz zu den deutschsprachigen Sammelhandschriften vergleichsweise gut belegt sind: Die Boccaccio-Handschriften wurden überwiegend für die großen Familien in Florenz und anderen toskanischen Städten geschrieben. Diese lassen sich nach Grubmüller als ein an‐ spruchsvolles und vergleichsweise geschlossenes Publikum fassen, dessen hohe literarische Maßstäbe einen besonderen Respekt vor der Integrität des ‚Werkes‘ bedingten, der auch die Bewahrung der äußeren Form einschloss. 36 Neben einem möglicherweise stärker ausgeprägten Verständnis von Werkautorität dürften aber vor allem die Verfasserschaft Boccaccios sowie die Rahmenhandlung maß‐ geblich zur Überlieferungsstabilität des ‚Decameron‘ beigetragen haben. Insbesondere der Erzählrahmen macht das ‚Decameron‘ zu einer geschlossenen Gesamtkonzeption, indem er die einzelnen Novellen in einen Erzählzusammenhang einordnet, der den Narrationen einen gemeinsamen Kontext und eine zyklische Struktur gibt. 37 Wehle hat das prägende Charakteristikum der Novelle des Frühhumanismus in der zyklischen Konzeption des No‐ vellenerzählens ausgemacht, bei dem der Sinnzusammenhang erst im Erzählkontext ent‐ steht. 38 Die Novelle sei nur als plurale tantum denkbar - nicht die einzelne Novelle, sondern die Novellensammlung sei ihr authentisches Erscheinungsbild: Die frühe Novelle tritt, ihrem Begriff nach, als Plurale tantum auf, ihr angemessener Gattungs‐ grundriss ist das ‚Novellarium‘ […]. Die Abfolge aufeinander antwortender, sich gegenseitig be‐ stätigender oder widersprechender Begebenheiten dokumentiert, was alles der Fall sein kann. 39 Auch für Grubmüller zeitigt sich in der zyklischen Konzeption ein durch das ‚Decameron‘ markierter Formwandel des novellistischen Erzählens: „die ehedem selbständige Kurzer‐ zählung wird zum Baustein eines Textgewebes, das als ganzes Welt gestaltet“. 40 Nun sind die kleinepischen Sammlungen zwar nicht zyklisch angelegt, aber es ist zu überlegen, ob nicht auch ohne die narrative Geschlossenheit einer Rahmenhandlung eine Gesamtheit des Erzählens als ‚Weltabbildung‘ intendiert sein kann. Der Titel ‚Die Welt‘ für die in Michaels de Leone sogenanntem ‚Hausbuch‘ inkorporierte Mären- und Bîspelsamm‐ lung sowie die dem Codex Bodm. 72 vorangestellte Überschrift ‚Daz buche heizet gesampt habentewr‘ (Bodm.72; IIr) legen eine solche Perspektive für die Summe des Erzählten nahe. 41 Im Unterschied zu den kleinepischen Kompilationen expliziert das ‚Decameron‘ aber 330 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 42 Vgl. K A S T E N , Erzählen an einer Epochenschwelle, S. 178f. 43 Wehle betont die Explizierung des Erzähltwerdens als wesentliches Konstituens der Renaissance-No‐ velle, es „besteht eines der entscheidenden Konstitutionsmerkmale der Novellistik darin, dass ihre einzelnen Geschichten ebenso wie die Sammlungen, die sie vereinigen, mit Beharrlichkeit das Er‐ zähltwerden als eine ihrer Grundvoraussetzungen demonstrieren.“ W E H L E , Novellenerzählen, S. 12. 44 Wehle verweist auf die Unvollkommenheit der „formal vollendete[n] Gesittung“ der Brigata, die erst durch den exklusiven Rückzug aus der Gemeinschaft verwirklicht wird. Am Ende jedoch erweist sie sich durch die Bereitschaft, den Lustort zu verlassen und in die Peststadt zurückzukehren, als ge‐ wandelt; die Brigata wird Ausdruck einer neuen Gemeinschaftsidee, die im Gegensatz zu der bishe‐ rigen Gemeinschaftsordnung nicht mehr durch das katastrophale Pestgeschehen außer Kraft gesetzt werden kann. Die abschließende ‚Griselda‘-Novelle liest Wehle als Gleichnis für das Anliegen des ‚Decameron‘, einem formalisierten und damit angreifbaren Moraldiskurs eine unerschütterliche, fest verankerte Sittlichkeit, die jeder Prüfung standhält, gegenüberzustellen. Vgl. W E H L E , Boccaccios Decameron, S. 212ff.; ders., Der Tod, das Leben und die Kunst, S. 224ff., S. 234-246. deutlich seine eigene Gesamtkonzeption. Durch Vorrede, Schlusswort und Rahmenhand‐ lung wird die Wahrnehmung der Einzelgeschichten als Bestandteil eines zusammengehö‐ renden Korpus ausdrücklich eingefordert und eine Rezeption geprägt, die die inkorpo‐ rierten Narrationen als Bestandteil eines geschlossenen Gesamtwerkes wahrnimmt. Damit markiert aber nicht die Pluralität der Einzeltexte einen signifikanten konzeptionellen Un‐ terschied zum Formtyp der kleinepischen Sammlung des Mittelalters, sondern die narra‐ tiven Mittel, mit denen die divergenten Einzeltexte zu einer übergeordneten Konzeption subsumiert werden. Das ‚Decameron‘ erzeugt auf verschiedenen Ebenen eine programmatische Spannung zwi‐ schen der Pluralität der Novellensammlung und der Homogenität eines geschlossenen Ge‐ samtwerkes; der Divergenz der Einzeltexte stehen verschiedene Kohärenzmomente auf der Ebene der Rahmenhandlung gegenüber. So kündigt die Vorrede mit den scheinbar autobiographischen Aussagen über erfahrenes Liebesleid eine konkrete Funktion des Erzählens, den Trost der Frauen an. Dem heterogenen Erzählmaterial wird damit die Metaperspektive des auktorialen Erzählers vorgeschaltet, der die folgenden divergenten Narrationen einem gemeinsamen, übergeordneten Anliegen zu‐ ordnet. Auf die Vorrede folgt zu Beginn des ersten Erzähltages die Erzählung über die cha‐ otischen Zustände in Florenz während der Pestepidemie, die den Hintergrund für das Zu‐ sammenkommen der Brigata bilden. Durch die Rahmenhandlung wird die Fiktion einer konkreten und einheitlichen Situierung des Erzählens entworfen, auf die letztlich alle Nar‐ rationen, unabhängig von Thema, Texttyp und Geltungsaussagen, bezogen sind. Weiterhin transportiert das vorgestellte Modell der Brigata mit ihrem untadligen und wohlgeordneten Landleben, das als Utopie idealer Sozialität gelesen werden kann, eine erneute Funktiona‐ lisierung des Erzählens auf der Ebene der Erzählerfiguren: Der haltlosen Wirklichkeit sich auflösender Normen im von der Pest heimgesuchten Florenz wird ein kultiviertes und re‐ gelhaftes Gesellschaftsmodell gegenüberstellt, dessen konstitutiver Bestandteil das Er‐ zählen ist. 42 Literatur wird als Gegenmodell zur universellen Katastrophe der Pest etabliert, wodurch dem Erzählen an sich eine sinnstiftende Funktion zugewiesen wird. Der Vorgang des Erzählens wird im ‚Decameron‘ umfangreich in Szene gesetzt und dadurch in seiner Bedeutung herausgestellt. 43 Die Brigata betreibt Erzählen als eine ästhetische Lebensform, die die Krise des Gemeinschaftslebens durch Kunsthandeln einer Revision unterzieht. 44 331 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 45 Die umfangreiche Forschung zum Erzählrahmen kann an dieser Stelle nicht abgebildet werden, vgl. aber neuerdings B R O W N , Boccaccio’s Fabliaux, S. 95, S. 101, die darauf hinweist, dass auch das spe‐ zifische Setting, das im Rahmen des ‚Decameron‘ entworfen wird, literarische Vorgänger hat. Die festgelegte Anzahl von Erzähltagen und Geschichten, der Wechsel von weiblichen und männlichen Stimmen, vor allem aber das Prinzip der narrativen Rahmung einer Erzählsammlung an sich basieren auf orientalischen Traditionen, die Boccaccio mit dem westlichen/ europäischen Sammlungstypus kombiniert, bei dem diese Form der Kohärenzbildung über einen Rahmen ursprünglich wenig etab‐ liert war. 46 Auch die verschachtelten Bindungen der Figuren untereinander und die durchorganisierte Hetero‐ sozialität der Gruppe, die durch den programmatisch herbeigeführten Zuzug der Männer entsteht, sind Bestandteil eines ordnungsstiftenden Konzepts. Vgl. E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 258-281. 47 K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 62. 48 E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 290. Damit wird über die Rahmengeschichte eine übergeordnete Sinnhaftigkeit behauptet, die als erzählerische Kohärenzbehauptung über den Einzelnarrationen in ihrer Pluralität steht. Eine Kohärenz des Erzählens entsteht aber vor allem, weil mit der Rahmenhandlung ein narrativer Zusammenhang gestaltet wird, der die einzelnen Novellen in eine geschlossene Metaerzählung integriert und innerhalb derer die Abfolge der Narrationen organisiert wird. 45 Dabei erweist sich die Organisation des Erzählens als ein Konzept mit einer strin‐ genten Systematik. In der Rahmenhandlung wird auf verschiedenen Ebenen Ordnung the‐ matisiert: Zunächst durch die an den Normen einer ideal-höfischen Sozialität orientierte Selbstorganisation der Brigata, die eine durch das rotierende Amt des Königs zugleich stra‐ tifikatorische als auch egalitäre soziale Ordnung statuiert, Regeln zum sittlichen Umgang aufstellt und einen strukturierten Tagesablauf entwirft. 46 Diese überakzentuierte „Illusion einer strukturell geordneten Welt“, 47 die in offensichtlichem Kontrast steht zu der zuvor beschriebenen Auflösung aller Ordnung durch die Pestepidemie, wird auch auf das Er‐ zählen übertragen, das durch die Rotation der Erzähler sowie die tageweise festgelegten Themen nach verbindlichen Regeln erfolgt. Die Rahmenhandlung ist auch ein wichtiges Kohärenzmittel, indem sie die an sich ei‐ genständigen Novellen miteinander verknüpft. Durch die gemeinsamen Themen der ein‐ zelnen Erzähltage, aber mehr noch durch die Gespräche der Erzählerfiguren, die die Bei‐ träge kommentieren und die eigenen Erzählungen durch einleitende Worte auf die vorgängigen Narrationen beziehen, werden die Texte miteinander verbunden und zu einer strukturellen Gesamtheit zusammengeführt. Die Erzähler ordnen die „Sukzession der Novellen durch die Bildung von Kohärenz‐ strukturen“, 48 sie verbinden die inhaltlich disparaten Texte über unterschiedliche Anknüp‐ fungsmomente, indem sie jeweils thematische Gemeinsamkeiten oder auch Oppositionen zu den vorangegangenen Geschichten benennen, wobei der inhaltliche Zusammenhang zwischen den Texten des ‚Decameron‘ dabei zumeist ähnlich lose und allgemein ist wie in 332 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 49 Vgl. E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 285. Siehe auch die vergleichenden Beispiele in Kap. 4, S. 69f. Auch die Wahl der Tagesthemen basiert auf einem ähnlichen Prinzip unspezifischer inhaltlicher Anknüpfung, indem z.B. nach dem vierten Erzähltag mit dem Thema Liebesgeschichten mit un‐ glücklichem Ausgang für den folgenden Tag das Thema Liebe mit glücklichem Ausgang gewählt wird. Weiterhin stellen die Lieder, die am Ende eines jeden Erzähltages von einer der Erzählfiguren vorgetragen werden, eine weitere kommentierende und inhaltlich verknüpfende Ebene dar. Es han‐ delt sich um Liebesballaden, die das Wirken Amors in seinen verschiedenen Fazetten entfalten. Die Balladen gestalten eine eigene Diskursebene, die mit der Vor- und Schlussrede korrespondiert, in der der Erzähler eigenes erfahrenes Liebesleid als Anlass und den Trost liebender Frauen als Zweck des Erzählens benennt. Eine ganz ähnliche Verknüpfung von Rahmenhandlung und erzählten Geschichten gestaltet Geoffrey Chaucer mit den ‚Canterbury tales‘. Hier fügt sich der Rahmenerzähler sogar in die Erzählergruppe von insgesamt 30 Reisenden ein, die sich während einer Pilgerfahrt unterhaltsame Geschichten er‐ zählen; das Ineinandergreifen der Ebenen von Erzähler und Publikum wird noch weiter geführt als im ‚Decameron‘. In der Konzeption der heterogenen Erzählergruppe setzt Chaucer andere Akzente als Boccaccio. An die Stelle der idealen, homogenen Sozialität der Brigata tritt eine heterogene Zu‐ sammenstellung praktisch aller sozialen bzw. gesellschaftlichen Gruppen und Berufsstände, die um‐ fassend vorgestellt und dabei in ihren Schwächen und Lastern beschrieben werden, womit die ‚Can‐ terbury tales‘ in der Summe ein satirisches Gesellschaftspanorama entwerfen. Die in ihrer Defizienz bloßgestellten Erzählerfiguren ähneln vielfach den schwankhaften Figuren in den erzählten Ge‐ schichten, so dass die Differenz zwischen Rahmen und erzählten Geschichten auf der Figurenebene zum Teil nivelliert wird. Die in ihrer Heterogenität herausgestellte Erzählergruppe ordnet das viel‐ fältige Erzählmaterial keiner homogenen, idealisierten Sozialität zu und impliziert so von vornherein eine größere Pluralität der Perspektiven. In der Verknüpfung der einzelnen Narrationen werden in den ‚Canterbury tales‘ aber ähnliche Prinzipien verwendet wie im ‚Decameron‘, indem die Erzähler ganz unterschiedliche Geschichten mit divergenten Thematiken aufeinander folgen lassen, dabei aber ebenfalls häufig auf vorausgehende Geschichten Bezug nehmen und so eine erzählerische Kon‐ tinuität erzeugen. 50 Wetzel stellt die Getrenntheit von Rahmenerzählung und Einzelnarrationen heraus, da die Erzäh‐ linhalte der Novellen weder Einfluss auf den Fortgang der Rahmenhandlung haben, noch durch deren Normensystem bestimmt werden (vgl. W E T Z E L , Zur narrativen und ideologischen Funktion des No‐ vellenrahmens, S. 406). Kocher verweist auf den Kontrast zwischen den vielfach derben und schwankhaften Erzählinhalten und der den Paradigmen höfischer Kultiviertheit verpflichteten Rah‐ menhandlung um die Brigata, die die Getrenntheit der narrativen Sphären betont. Vgl. K O C H E R , Geschichten aus Truffia, Buffia und Menzogna, S. 77f. den ungerahmten kleinepischen Sammlungen. 49 Diese unterscheiden sich damit nicht durch die Heterogenität und inhaltliche Disparität der Texte vom ‚Decameron‘, sondern durch die fehlende narrative Instanz, die die Anknüpfungsmomente offenlegt bzw. vorgibt. Gleich‐ zeitig bedingt die zwischengeschaltete Instanz der Erzählerfiguren aber auch eine - schon im mise en page wirksame - Trennung der Einzeltexte im ‚Decameron‘: In Sammlungen ohne Rahmenhandlung gibt es keine Unterbrechungen in der Sukzession der Texte, dagegen werden die Novellen des ‚Decameron‘ durch die zwischengeschalteten Rahmenmomente zunächst vereinzelt. Die Einzelgeschichten und die Rahmenhandlung des ‚Decameron‘ stellen unterschied‐ liche narrative und inhaltliche Ebenen dar, 50 die aber eng miteinander verflochten sind. Die Handlungen der Brigata werden nicht nur abgesetzt von den erzählten Geschichten auf‐ geführt, sondern bilden stets auch den Anfang und Abschluss der Narrationen. Auch be‐ dingt die Rahmenhandlung einen beständigen Wechsel in der Erzählautorität, indem zwi‐ 333 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 51 Vgl. G R U B MÜL L E R , Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 271. 52 E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 284f. 53 Siehe auch S. 69f.; S.77, FN 52. 54 Boccaccio: Decameron, hg. B R A N C A . „Aus denselben werden die Frauen, die ich meine und die sie lesen werden, ebenso viel Vergnügen an den dargebotenen ergötzlichen Dingen wie nützlichen Rat gewinnen können, insofern sie er‐ kennen, was zu meiden und was zu befolgen ist - und beides kann, so glaube ich, nicht eintreten, ohne dass die Traurigkeit vertrieben wird“ (der übersetzte Text wird zitiert nach: Boccaccio: Das Decameron, hg. B R O C K M E I E R ). Auf die topische Programmatik von Belehrung durch anschauliche Beispiele beruft sich bereits das ‚Novellino‘, das insbesondere Anleitung für höfische Umgangs‐ formen und gelungene oder geziemende Rede sein will. Vgl. Il Novellino, hg. R I E S Z , I (Vorrede). 55 Zur Referenz der Vorrede auf Ovids ‚Remedia amoris‘ vgl. B R O W N , Boccaccio’s Fabliaux, S. 105. schen Autor-Kommentaren und den verschiedenen Erzählerreden gewechselt wird; gleichzeitig sind in der Brigata Erzähler- und Publikumsinstanz miteinander verwoben. 51 Die „organische Einheit von Narration und diskursiver Reaktion“ wird dabei regelmäßig aufgebrochen, indem die Zwischenüberschriften die Kontinuität von erzählten Geschichten und der Unterhaltung über dieselben immer wieder unterbrechen und auf die vom Autor gesetzte Ordnung des Erzählens und damit auf die Gemachtheit und Fiktionalität des Textes in seiner Gesamtheit verweisen. 52 So entfaltet sich im ‚Decameron‘ ein beständiges Oszil‐ lieren zwischen einer Sammlung eigenständiger Texte und einem geschlossenen Gesamt‐ text. 53 Das spannungsvolle Zusammenspiel von Rahmenhandlung und erzählten Geschichten ist gleichzeitig Basis einer weiteren Verhandlung des exemplarischen Moments. Nach der Ebene der einzelnen Narrationen und der der Textkonfiguration wird das novellistische Prinzip, eine suggerierte exemplarische Geltung durch deren offensichtliche Irrelevanz zu konterkarieren, auf einer dritten Ebene fortgeführt. So entwirft die an liebeskranke Frauen gerichtete Vorrede eine Funktionalisierung des Erzählten, die auch auf dessen normativer Gültigkeit basiert, indem ein Nutzen durch gute und schlechte Beispiele angekündigt wird, aus denen lebenspraktische Handlungsanweisung gewonnen werden soll: delle quali le già dette donne, che queste leggeranno, parimente diletto delle sollazzevoli cose in quelle mostrate e utile consiglio potranno pigliare, in quanto potranno cognoscere quello che sia de fuggire e che sia similmente da seguitare: le quali cose senza passamento di noia non credo che possano intervenire. (Proemio, 14) 54 Boccaccio ruft, verbunden mit der topischen Funktionalisierung von Literatur als Mittel zur Vertreibung von Traurigkeit, 55 programmatisch die Konzeption des prodesse et delectare auf; 334 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 56 Vgl. K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 56. Allerdings thematisiert der Erzähler selber einen möglichen Widerspruch zwischen den vielfach derben Erzählinhalten und der belehrenden Intention, wenn er sich im Schlusswort mit dem Vorwurf auseinandersetzt, die Geschichten seien zu anstößig für die Ohren ehrbarer Frauen. Gekontert wird der - tatsächliche oder fiktive - Vorwurf mit dem Verweis auf die sittlich-moralische Integrität, die die Voraussetzung für eine angemessene Rezeption darstellt und die auf die Idealität der Brigata verweist: „Niuna corrotta mente intese mai sanamente parola: e così come le oneste a quella non giovano, così quelle che tanto oneste non sono la ben disposta non posson contaminare“ (Conclu‐ sione, 11) [Kein kranker Geist hat je ein Wort gesund verstanden. Und so wie anständige Worte dem verdorbenen Geist nicht nützen, so können auch nicht die Worte, die nicht ganz so anständig sind, den wohlgeratenen Geist beschmutzen]. 57 Indem die oft schwankhaften und moralisch fragwürdigen Erzählinhalte einer überakzentuiert sitt‐ lich tadellosen Gesellschaft in den Mund gelegt werden, wird zunächst eine Distanz zu den moralisch disparaten Sinnpotentialen erzeugt. Verschiedentlich werden aber Störmomente in das Verhaltens‐ programm vollkommener Sittlichkeit eingespielt, indem die Damen in ihren Kommentaren zu den erzählten Novellen sexuelle Sehnsüchte und Freude an derben Schwankerzählungen bekunden. So wird über die angenehme Liebesnacht geplaudert, die eine schöne Witwe in der Novelle II,2 mit einem in Not geratenen Kaufmann verbracht hat; ihr beherztes Ergreifen dieser Chance erfährt Lob und Bewunderung (II,3, 2f.). Nach der Erzählung über die verschleppte Sultanstochter, die willig durch die Hände von insgesamt neun Männern gegangen ist (II,7), seufzen die Damen tief und der Erzähler deutet eine heimliche Sehnsucht nach „di così spesse nozze“ [so häufig wiederholten Hoch‐ zeiten] an (II,8, 2). In diesem Zusammenhang ist auch die Einleitung zum sechsten Tag interessant, als die Brigata mit einer ‚realen‘ Schwankepisode konfrontiert wird: Ein lauter und in derber Sprache ausgetragener Streit unter dem Küchenpersonal über die Frage, ob die Frau eines bezeichnenderweise als ‚Sykophant‘ benannten Mannes jungfräulich in die Ehe gegangen sei bzw. ob das überhaupt auf irgendeine Frau zuträfe, amüsiert die Damen so sehr, dass sie in unbändiges Gelächter ausbrechen (VI, Einleitung, 4-16). Dass die betont sittliche Lebensführung der Gesellschaft von den Erzählin‐ halten aber dennoch unberührt geblieben ist, wird am Ende des 10. Tages lobend durch den Erzähler Panfilo herausgestellt (X, Schluss, 4-5). 58 E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 292-297, Zitat S. 297. die Vorrede stilisiert das Erzählen so zu einem didaktisch-exemplarischen Programm. 56 Auch die Brigata selber, die in ihrer vollkommenen sittlichen Lebensführung zu keinem Zeitpunkt angezweifelt wird, gerät zum Exempel für eine moralisch integre Verfassung als Grundvoraussetzung gelungener literarischer Unterhaltung, auch wenn gelegentlich Brüche und Ironisierungen dieser vollkommenen Sittlichkeit angedeutet werden. 57 Für die einzelnen Geschichten wird durchgängig eine strukturelle Exemplarizität be‐ hauptet, indem sie als Beispielerzählungen auf das jeweilige übergeordnete Tagesthema rekurrieren sollen, vor allem aber formulieren die Erzähler oft eine konkrete exemplarische Funktion für ihre Novellen. Aber dieser „Gestus exemplarischen Erzählens läuft ins Leere“, indem die erzählten Geschichten selten tatsächliche Lehrhaftigkeit vermitteln, 58 zum Teil 335 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 59 Bemerkenswert ist eine offenkundige Fehlinterpretation, mit der die Brigata auf die Erzählung II,9 reagiert: Die Erzählung von dem Kaufmann Bernabò aus Genua, der, selber ein treuer Ehemann, auch von der Treue seiner Ehefrau fest überzeugt ist, sich aber dennoch zu einer Wette auf ihre Stand‐ haftigkeit einlässt, endet letztlich mit einer Bestätigung der ehelichen Treue. Die Frau hat dem Werber konsequent widerstanden und kann beweisen, dass die unterstellte sexuelle Begegnung von diesem erfunden war; die Ehe und der Ruf ihrer besonderen Tugendhaftigkeit werden restituiert. In den Kommentaren der Brigata wird aber der Ehemann nicht für sein Misstrauen, sondern gerade für seine Überzeugung von der Treue verlacht: „e questa è la bestialità di Bernabò, come che bene ne gli avvenisse, e di tutti gli altri che quello si danno a credere che esso di creder mostrava: cioè che essi andando per lo mondo e con questa e con quella ora una volta ora un’altra sollazzandosi, s’immaginan che le donne a casa rimase si tengan le mani a cintola, quasi noi non conosciamo, che tra esse nasciamo e cresciamo e stiamo, di che elle sien vaghe“ (II,10, 3) [Es ist das bestialische Verhalten des Bernabò; denn recht geschieht es ihm und allen anderen, die sich bemühen das zu glauben, was er selbst so demonstrativ glaubte: Dass sie nämlich durch die Welt ziehen, sich mit der ein oder anderen ver‐ gnügen und annehmen, dass ihre Frauen daheim die Hände in den Schoß legen; so als wenn wir, die wir unter ihnen geboren werden, aufwachsen und leben, nicht wüssten, wonach ihnen der Sinn stünde]. Indem das Mißverstehen Bestandteil der Rahmenerzählung ist, erscheint es geradezu als ein Mittel erzählerischer Unzuverlässigkeit. 60 Siehe Kap. 2.2.3. 61 Vgl. E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 290ff. Eine Ausnahme stellt die abschließende ‚Griselda‘-No‐ velle dar, die unterschiedliche Reaktionen innerhalb der Brigata erfährt. 62 Die Heterogenität mittelalterlicher Sammlungen sei nicht Indiz eines pluralistischen Weltmodells, sondern stelle eine „oberflächenhafte Verschiedenheit“ dar, die in einer einheitlichen Paradigmatik aufgehoben sei. K Ü P P E R , Affichierte ‚Exemplarität‘, S. 89. erfahren die Geschichten auch unpassende Auslegungen. 59 Auch zeigt sich bei vielen No‐ vellen ein Kontrast zwischen dem formulierten normativ-exemplarischen Geltungsan‐ spruch und dem fragwürdigen Figurenhandeln in den Narrationen, wie die beispielhafte Darstellung von Kablitz anhand der Novelle X,8 gezeigt hat, wobei diese Brüche durch das Erzählerkollektiv aber systematisch ausgeblendet werden. Die in den mhd. Versnovellen häufig zu konstatierende Inkongruenz zwischen morali‐ satio und narratio, zwischen behauptetem Geltungsanspruch und erzählter Geschichte, 60 wird im ‚Decameron‘ auf den Erzählrahmen ausgedehnt, indem die Mitglieder der Brigata häufig lehrhafte Auslegungen formulieren, die den Narrationen nicht entsprechen oder eine Reaktion auf fragwürdige Erzählmomente verweigern. Die auf Konsens ausgerichtete ideale Sozialität der Brigata überdeckt das kontroverse Potential der Novellen, die Erzähler beschränken sich auf eine rein positive Affirmation, indem sie die Geschichten loben und darüber lachen, aber nicht auf normwidrige Erzählinhalte oder die widersprüchlichen Aus‐ legungsmöglichkeiten der Texte reagieren. 61 Für Küpper manifestiert sich in der Gesamtkonzeption des ‚Decameron‘ eine „Grundsätz‐ lichkeit der A-Systematik“, die er von den Verfahren der mittelalterlichen kleinepischen Sammlungen unterscheidet. 62 Zweifellos markiert das kontroverse Zusammenspiel von Rahmen und Einzelnarrationen einen fundamentalen Unterschied zu den ungerahmten Sammelhandschriften. Das darüber erzeugte Spiel mit erzählerischer Exemplarizität stellt aber eine Fortschreibung eingespielter Prinzipien novellistischen Erzählens dar, die kon‐ zeptueller Bestandteil auch der kleinepischen Kompilationen sind. Das ‚Decameron‘ schafft nicht originär den Bruch mit dem exemplarischen Erzählprinzip und auch nicht das Konzept des plurale tantum. Boccaccio überführt vielmehr die Pluralität und normative Disparität, 336 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 63 E M M E L I U S , Gesellige Ordnung, S. 289. Die Perspektive der Brigata, in der kein Versuch einer Deutung unternommen wird, vermittelt gerade keine Pluralität (ebd.). 64 Siehe auch B O L S I N G E R , Das Decameron in Deutschland, S. 156, die der Rahmenhandlung eine homo‐ genisierende Wirkung zuschreibt: „Die Einbettung in einen vermittelnden Rahmen scheint gleich‐ wohl als ideale Lösung, Inkohärenzen zu nivellieren“. die dem novellistischen Erzählen im Sammlungsverbund per se eigen ist, auf eine weitere Ebene der Verhandlung. Der Erzählrahmen wird genutzt, um die Brüche mit dem exemp‐ larischen Prinzip als konstitutivem Moment novellistischen Erzählens auf der Ebene einer übergeordneten Metaerzählung fortzuführen. Dabei stellt die Konsens betonende Rahmenhandlung aber nicht nur einen Kontrast zu der „Deutungspluralität des Novellenkollektivs“ dar, 63 sie überdeckt auch die Heterogenität der Sammlung, zumindest vordergründig, durch die übergeordnete homogenisierende Ord‐ nung des Erzählens. Durch die Verteilung auf die zehn verschiedenen Erzählstimmen der Brigata wird einerseits eine Polyphonie des Erzählens erzeugt, aber die in ihrer Idealität kaum auseinanderzuhaltenden Figuren - einzig Dioneo hebt sich mit seiner besonderen Lizenz zu erzählerischer Freiheit von den übrigen Mitgliedern der Brigata ab - nivellieren zugleich das Erzählkonzept divergenter Perspektiven. Das ‚Decameron‘ ist geprägt von einer widersprüchlichen Spannung zwischen der Plu‐ ralität und Heterogenität der Einzelnovellen und der Geschlossenheit und Vereinheitli‐ chung der Gesamtkomposition. Die konzeptionelle Vorrede unterstellt die Novellen einer gemeinsamen Funktion, die Systematik und Ordnung stiftende Rahmengeschichte und die Situierung in einer einheitlichen Erzählsituation implizieren eine vordergründige Ge‐ schlossenheit des Erzählens. 64 Weiterhin stellt auch die umfangreiche Inszenierung von Boccaccios Autorschaft ein Mittel der Homogenisierung dar. Während in den kleinepischen Sammlungen die divergenten Texte weitgehend unvermittelt nebeneinander stehen, tritt das gleichfalls disparate Erzählmaterial im ‚Decameron‘ schon durch die zentrierende Autor- und Erzählinstanz als buchliterarisch konzipiertes Gesamtwerk in Erscheinung. Gegenüber den zumeist anonym erstellten kleinepischen Sammlungen oder auch dem ‚No‐ vellino‘ transportiert die Autorschaft Boccaccios ein Moment der Autorität, gleichzeitig bedingt die Selbststilisierung als Rahmenerzähler eine Perspekte übergeordneter Geschlos‐ senheit. Zwar erfährt das Erzählen im ‚Decameron‘ durch die Verteilung auf die verschie‐ denen Figuren der Rahmenhandlung zunächst eine Pluralisierung und Dezentralisierung, aber der Polyphonie des Erzählens wird die übergeordnete Kohärenzfigur des Rahmener‐ zählers und Autors gegenübergestellt, der der Ebene der erzählten Welt übergeordnet ist. Die Erzählerfigurationen sind klar als fiktive Instanzen in der durch den auktorialen Er‐ zähler narrativierten Rahmengeschichte eingeführt, die einzelnen Novellen bleiben so stets als Narration des übergeordneten Rahmen-Erzählers und das ‚Decameron‘ als Ganzes als geschlossenes ‚Werk‘ des Autors fassbar. Vor allem aber stellt die Autorinstanz ein Moment der Vereinheitlichung dar, denn Boccaccio agiert nicht als Kompilator des verwendeten Materials, der hinter der Autorität ursprünglicher Verfasser zurücktritt, sondern als ver‐ antwortlicher Autor, der Verfasserschaft sowohl für das Geschehen um die Brigata als auch für die Summe der Novellen beansprucht. 337 8.1 ‚Mittelalterliche Exemplarizität‘ und ‚moderne Novellistik‘ 65 Eine detaillierte Rekonstruktion der Rezeption Boccaccios in Deutschland bei B E R T E L S M E I E R -K I E R S T , Wer rezipiert Boccaccio? Zum Stellenwert Nürnbergs innerhalb der deutschen Boccaccio-Rezeption vgl. D A L L A P I A Z Z A , Die Bedeutung Nürnbergs für die frühe deutsche Boccaccio-Rezeption. Das ‚Decameron‘ wurde zunächst nicht als Gesamtwerk rezipiert, sondern nur in Form einzelner Texte, gelesen und adaptiert; insbesondere die Schlussnovelle ‚Griselda‘ wurde häufig aufgegriffen. In den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts lag die erste Gesamtübersetzung des ‚Decameron‘ von Arigo vor (die kontrovers diskutierte Identität Arigos mit dem Nürnberger Heinrich Schlüsselfelder weist Müller zurück, vgl. M ÜL L E R , ‚Schlüsselfelder, Heinrich‘ in 2 VL 8, Sp. 753; anders dagegen D A L L A P I‐ A Z Z A , Die Bedeutung Nürnbergs für die frühe deutsche Boccaccio-Rezeption, S. 181). Eine breitere Rezeption vor dem 16. Jahrhundert, als das ‚Decameron‘ vor allem durch Hans Sachs größere Be‐ kanntheit erreichte, wurde verschiedentlich bestritten. Vgl. ebd.; B O L S I N G E R , Das Decameron in Deutschland, S. 11. 66 So ermittelt Bolsinger z.B. für den ‚Wegkürzer‘ von Martin Montanus sechs und für Jakob Freys ‚Gartengesellschaft‘ 20 Bearbeitungen von ‚Decameron‘-Novellen. Vgl. B O L S I N G E R , Das Decameron in Deutschland, S. 32f. 67 Vgl. M E I E R H O F E R , Alles neu unter der Sonne, S. 8. 68 K I P F , Von der Sammelhandschrift zum gedruckten Schwankbuch, S. 329. Kipf verweist auf das De‐ siderat einer systematischen Untersuchung von Vorläufern und verwandten Formen der frühneu‐ zeitlichen Schwankbücher: „noch seltener wurde der Übergang von den ganz überwiegend in Sam‐ melhandschriften überlieferten spätmittelalterlichen Mären zu den gedruckten Schwankbüchern und -romanen in überlieferungs- und mediengeschichtlicher Fragestellung beleuchtet“ (ebd., S. 300). 8.2 Kleinepische Sammlungen nach dem Medienwandel 8.2.1 Frühneuzeitliche Schwanksammlungen Die Spannung zwischen ambiguitätsstiftender Pluralisierung des Erzählens und Momenten der Homogenisierung, insbesondere durch die Profilierung von Autorschaft, ist ein zen‐ trales Moment, das auch für Sammlungen volkssprachiger Texte im deutschsprachigen Raum konstitutiv wird und an dem sich, im Gegensatz zur Rekurrenz auf das exemplarische Moment, tatsächlich eine Epochensignatur in der Konzeption von Sammlungen kurzer Texte festmachen lässt. Dem ‚Decameron‘, das im deutschsprachigen Raum zunächst wenig und meist nur in Form einzelner Novellen rezipiert wurde, wird spätestens für das erste Drittel des 16. Jahr‐ hunderts eine größere Wirksamkeit für die literarische Entwicklung attestiert. 65 Es gehört unter anderem zu den Vorlagen vieler frühneuzeitlicher Schwanksammlungen, 66 die sich im 16. Jahrhundert als einer der erfolgreichsten Buchtypen in dem per se stark durch das Sammelschrifttum geprägten frühen Buchmarkt etablieren. 67 Die Schwanksammlungen greifen nicht nur das ‚Decameron‘ auf, sie führen auch verschiedene Text- und Erzähltra‐ ditionen weiter, die bereits die mittelalterlichen kleinepischen Sammlungen prägen: In literaturgeschichtlichen Überblickswerken scheint jedoch Konsens darüber zu bestehen, dass die frühneuzeitlichen Prosaschwänke und ihre Sammlungen in Buchform stoff- und formge‐ schichtlich als Fortführung der Tradition der weltlichen Kleinepik, besonders der Reimpaarerzäh‐ lungen zu sehen sind. 68 Die Schwankbücher führen verschiedene Gattungstraditionen zusammen, vorrangig werden Schwänke und Fazetien, aber auch Fabeln, Exempla und andere kurze Texttypen 338 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 69 Als Zwischenformen bei der Genese von der Märensammmelhandschrift zum gedruckten Schwank‐ buch weist Kipf vor allem Fazetiensammlung, Schwankroman, Fabelbuch und Exempelsammlung aus. Vgl. K I P F , Von der Sammelhandschrift zum gedruckten Schwankbuch, S. 321. 70 Beispielhaft sei auf Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘ (Wickram: Das Rollwagenbüchlin, hg. E N D R E S ) verwiesen, wo sich ähnliche Prinzipien der Textzusammenstellung finden, wie sie auch für die klein‐ epischen Sammlungen festgestellt wurden. Es gibt Korrespondenzen durch einfache Motivanalogien (z.B. 8+9: Motiv Schulden), analoges Figurenpersonal (z.B. 14+15: Landsknecht; 16+17: Schneider), parallele Situierungen (52+53: Handlungsraum Wirtsstube) oder ähnliche Thematiken (1+2: Heili‐ genverehrung; 68+69: Unfähigkeit zum Gebet). Kipf vergleicht die Kompositionsprinzipien von klein‐ epischen Sammelhandschriften und gedruckten Schwankbüchern; am Beispiel von Wickrams ‚Roll‐ wagenbüchlein‘ und der Dresdner Sammelhandschrift Mscr. M 68 weist er ähnliche Prinzipien der Textzusammenstellung nach. Über korrespondierende Textpaare und -gruppen hinausgehende Ord‐ nungsprinzipien seien weder für das ‚Rollwagenbüchlein‘ noch für die übrigen Schwankbücher fest‐ stellbar (vgl. K I P F , Von der Sammelhandschrift zum gedruckten Schwankbuch, S. 303-320, insbes. S. 304). Ähnlich L A S C H , Überlegungen zur ›Logik‹ der Sammlung, S. 273, der für Jakob Freys ‚Garten‐ gesellschaft‘ eine lediglich lockere Assoziativität der Texte feststellt, die aus der sukzessiven Lektüre entsteht. Vgl. auch W A L T E N B E R G E R , „… so ist es nun von nöten, das ich etwas von kläglichen dingen schreibe…“, S. 8-11, der für Martin Montanusʼ ‚Wegkürzer‘ verschiedene durch semantische Relati‐ onen geprägte Textgruppen beschreibt; eine stringente übergeordnete Systematik wird aber auch hier nicht geprägt. 71 Montanus verweist in der Widmung des ‚Wegkürzers‘ explizit auf Paulis ‚Schimpf und Ernst‘ sowie auf Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘ als vorgängige Werke mit ähnlicher Intention (Montanus: Weg‐ kürzer, hg. B O L T E , S. 4). Damit schreibt sich Montanus zwar formal in die junge Tradition eines erfolgreichen unterhaltsamen Buchtyps ein, aber tatsächlich werden kaum Texte aus diesen Korpora adaptiert. Ähnlich auch Frey in der ‚Gartengesellschaft‘, der sich ebenfalls auf Pauli und Wickram beruft, aber vorrangig Poggios Fazetien adaptiert (vgl. W A L T E N B E R G E R , ‚Wickram‘ in VL 16, Sp. 469f.; ders. ‚Frey‘ in VL 16, Sp. 451f.). Zu Paulis ‚Schimpf und Ernst‘ als gattungstypologischer und litera‐ turgeschichtlicher Schwellentext zur Schwanksammlung vgl. V O N A M M O N / W A L T E N B E R G E R , Wim‐ meln und Wuchern, S. 276. 72 So heißt es programmatisch im Titel: ‚Schimpf vnd Ernst heiset das buch mit namen, durchlaufft es der welt handlung mit ernstlichen vnd kurtzweiligen exemplen, parabolen vnd hystorien nützlich vnd guot zuo besserung der menschen‘ (Pauli: Schimpf und Ernst, hg Ö S T E R L E Y ). Die Nennung ver‐ schiedener Textsorten ähnelt der in Boccaccios Vorrede zum ‚Decameron‘: „intendo di raccontare cento novelle, o favole o parabole o istorie“ (Proemio, 13) [werde ich […] hundert Novellen oder Fabeln oder Parabeln oder Geschichten erzählen]. verarbeitet; diskursive Textformen wie Reden spielen dabei keine signifikante Rolle. 69 Auch in den Schwankbüchern gibt es keine stringenten Kompositionsprinzipien, die das gesamte Korpus einer kohärenten Ordnung unterstellen. Analog zu den kleinepischen Sammel‐ handschriften finden sich häufig thematisch korrespondierende Textpaare und Klein‐ gruppen, deren Verknüpfung zumeist in Analogien des Erzählstoffs oder des Figurenper‐ sonals besteht, und die kein durchgängiges inhaltliches Programm, sondern eine lockere Kontinuität der Texte erzeugen. 70 Beispielhaft dafür ist Johannes Paulis 1522 entstandene und äußerst erfolgreiche Exempel‐ sammlung ‚Schimpf und Ernst‘, die als Vorstufe der frühneuzeitlichen Schwankbücher gilt; Jörg Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘ (1555), Jakob Freys ‚Gartengesellschaft‘ (1557) und der ‚Wegkürzer‘ von Martin Montanus (1557) beziehen sich unmittelbar auf Pauli. 71 Gleich den kleinepischen Sammelhandschriften führt auch Pauli heterogenes Material zusammen, dazu gehören auch Adaptionen einiger Novellen des ‚Decameron‘. 72 Pauli formuliert in der Vorrede aber eine geschlossene moraldidaktische Funktion und Zweckgebundenheit seines 339 8.2 Kleinepische Sammlungen nach dem Medienwandel 73 Pauli leitet seine Vorrede mit einer Klage über die „irrungen“ ein, die seit einiger Zeit aus verschie‐ denen Büchern entstanden seien, während die „heilsamen bücher ewiger seligkeit vnd fridsamens lebens etliche zeit geschlaffen haben“ und nun wiedererweckt werden müssten. ‚Schimpf und Ernst‘ soll ein solches heilsames Buch sein, aus dem „ein iechlich mensch im selber davon exempel vnd leren nehmen“ soll (Pauli: Schimpf und Ernst, hg Ö S T E R L E Y , S. 13). Mit der Vorrede ordnet Pauli sein Werk in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang ein; gleichzeitig partizipiert er an einem über‐ historischen Topos der Klage über geringe Qualität und mangelnde Legitimität des Schrifttums, der bereits im Manuskriptzeitalter virulent ist. Vgl. N E D D E R M E Y E R , Von der Handschrift zum gedruckten Buch, S. 84. 74 Ähnlich wie in den Exempelsammlungen wird auch eine strukturelle Ordnung des Materials durch die Einteilung in verschiedene thematische Abschnitte entworfen, die aber kaum zu einer tatsächli‐ chen Ordnung führt: Die entworfene Gliederung benennt eine solche Vielzahl unterschiedlicher und thematisch nicht hierarchisierbarer Abschnitte, dass die Disparatheit der aufgeführten Texte nicht kompensiert, sondern sogar betont wird. Vgl. V O N A M M O N / W A L T E N B E R G E R , Wimmeln und Wuchern, S. 279ff. 75 Vgl. T E G E L E R , Schwankrecycling im 16. Jahrhundert, S. 62f.; C L A S S E N , Die deutsche Predigtliteratur des Spätmittelalters, S. 235, der Pauli als „Meister der kurzen, moraldidaktischen Erzählung an der Wende zur Frühneuzeit hin“ bezeichnet. 76 Vgl. etwa für die Boccaccio-Adaption die ‚Gartengesellschaft‘ von Martin Montanus. G R U B MÜL L E R , Das Böse ohne Balance, insbesondere S. 266. 77 Bolsinger untersucht die Bearbeitungstendenz der ersten deutschen ‚Decameron‘-Übersetzung durch Arigo und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser den Text in der Übertragung signifikant verändert und einer anderen Erzählerwartung anpasst, die eine explizite Tugendlehre und Moraldidaxe bein‐ haltet (vgl. B O L S I N G E R , Das Decameron in Deutschland, S. 153). Damit gestaltet bereits die Überset‐ zung eine Vereinfachung der ambigen Sinnpotentiale und der poetischen Komplexität des ‚Deca‐ meron‘, die sich in der Adaption durch die Schwankbücher fortsetzt. Siehe auch D A L L A P I A Z Z A , Die Bedeutung Nürnbergs für die frühe deutsche Boccaccio-Rezeption, S. 183f., der vor allem für die ‚Griselda‘ im deutschsprachigen Raum eine Rezeption und Bearbeitung in einem bestimmten Verständniszusammenhang konstatiert, die die Tugendlehre und Belehrung über das ‚richtige‘ Verhalten der Frau in den Vordergrund stellt. Dass die reichhaltige Übersetzungs‐ literatur des 16. Jahrhunderts zumeist eine ‚konfliktfreie‘ Adaption der antiken, frühhumanistischen oder spätmittelalterlichen Traditionen gestaltet, die Ambiguitäten und Pluralität eher überspielt denn hervorhebt, stellen auch M ÜL L E R / R O B E R T , Poetik und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit, S. 18, heraus. Buches, das durch positive (‚Ernst‘) und negative (‚Schimpf ‘) Beispiele eine konkrete le‐ benspraktische Anleitung darstellen soll. 73 Die Konzeption des Buches ähnelt den mittel‐ alterlichen Exempelsammlungen mit ihren Tugend- und Lasterkatalogen und entwirft eine konkrete Funktion der Belehrung und Erbauung. 74 Pauli ist verschiedentlich eine Vereindeutigung oder Entproblematisierung bei der Adap‐ tion von Erzählungen unterstellt worden, indem er Texte im Sinne einer konsequenten moraltheologischen Aussage umgestaltet. 75 Aber nicht nur Paulis ‚Schimpf und Ernst‘, auch den Schwankbüchern wurde verschiedentlich eine Rücknahme von Ambiguitäten bei der Adaption des ‚Decameron‘ und anderer Texttraditionen attestiert; Widerständiges wie List und Betrug wird gegenüber der Vorlage zum Teil zurückgenommen und erneut in feste Deutungshorizonte eingebunden. 76 Die Schwankbücher stehen beispielhaft für die oft kon‐ statierte Tendenz in der frühneuzeitlichen Literatur, bei der Adaption vorgängiger Texte wie auch bei der vielfältigen Übersetzungsliteratur eine Entproblematisierung oder inhalt‐ liche Vereindeutigung im Sinne einer Betonung moraldidaktischer Aussagen, mindestens aber eine Simplifizierung zu gestalten. 77 Tatsächlich ist vielen Schwankbüchern trotz der ausgestellten Unterhaltungsabsicht auch ein moralisierendes Moment eigen. So versieht 340 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 78 Siehe zum Beispiel die Episoden 1 und 2 als Texte über mangelnden Einsatz bei der Wallfahrt bzw. das Vorhaben, einen Heiligen um das versprochene Opfer zu ‚prellen‘, oder Episode 49, die eine Klage über den scheinheiligen Fastenbrauch vorstellt. 79 „Diese histori hab ich auffs kurtzest hieher mussen setzen, damit menicklich ein genugen hab an demjenigen, so im vonn gott beschert ist, dasselbig nicht also in windt schlagen, als wann er die gaben gottes wolt verachten. Darumb lond uns semlich unerbar tauschen und solch geferliche keuff vermeiden.“ Wickram: Das Rollwagenbüchlin, hg. E N D R E S , S. 105f. 80 Zwar sind Kontinuitäten und Parallelen zwischen kleinepischen Sammlungen und Schwankbüchern vorhanden (vgl. K I P F , Von der Sammelhandschrift zum gedruckten Schwankbuch, S. 300), aber eine unmittelbare Anknüpfung an die Tradtion der Versnovelle ist, abgesehen von der Adaption einiger Erzählmotive, kaum fassbar. Vgl. K E L L N E R u.a., Erzählen und Episteme, S. 14. 81 Waltenberger führt am Beispiel des ‚Wegkürzers‘ von Martin Montanus aus, dass der, oft nur impli‐ zite, Vergleich mit dem ‚Decameron‘ häufig eine undifferenzierte Wahrnehmung der Schwankbücher bedingt, indem ein vordergründiger literarischer Qualitätsvergleich den Blick auf ähnliche diskursive Prinzipien verstellt. Vgl. W A L T E N B E R G E R , „… so ist es nun von nöten, das ich etwas von kläglichen dingen schreibe…“, S. 6-10, weiterhin ders., Geltendes im Nichtigen, S. 309. 82 Vgl. M ÜL L E R / R O B E R T , Poetik und Pluralisierung in der frühen Neuzeit, S. 34. Wickram im ‚Rollwagenbüchlein‘ Teile des Textkorpus mit Deutungen und Kommentaren. Die einleitende Erzählung schließt mit einer Auslegung, die eine moraltheologische Beleh‐ rung vorstellt und die erzählte Geschichte zum schlechten Beispiel für eine unzureichende Frömmigkeitspraxis erklärt. Auch andere Erzählungen, insbesondere Geschichten, die die Glaubenspraxis verhandeln, werden mit moralisierenden Kommentaren versehen. 78 Texte, die deutlich vom dominierenden Typus der anekdotischen Kurzerzählungen abweichen, sind in ihrer Funktion für die Sammlung expliziert, etwa die Erzählung über einen Mordfall (55), dessen Bericht zur direkten Belehrung gestaltet wird. 79 Auch andere Schwankbücher führen Texte mit lehrhaften Inhalten oder Kommentaren auf, die gegenüber den adaptierten Vorlagen vereindeutigt wurden. Nun transportieren die meisten Texte allerdings keine so explizit lehrhaften Momente, so dass man den meisten Schwanksammlungen, anders als ‚Schimpf und Ernst‘, kaum ein konzises moraldidaktisches Profil zusprechen kann. Sie führen aber vor allem einfache Er‐ zähltypen auf, die weniger auf kontroverse Sinnsetzungen abzielen, als dies in versnovel‐ listschen Texten der Fall ist. Die Schwanksammlungen tradieren überwiegend kurze, anek‐ dotische Erzählungen, in denen verschiedenste, auch alltägliche Begebenheiten dargeboten werden. Schon die Kürze dieser Texte prägt ein Erzählen, in dem poetische Merkmale wie die kasuistische Gegenüberstellung konfligierender Normen oder eine Inkongruenz zwi‐ schen narratio und moralisatio weniger umfangreich ausgespielt werden als dies im Typus des novellistischen Erzähltextes fassbar ist. Einen den Versnovellen ähnlichen Texttyp, der in den Sammlungen in besonderem Maße Ambiguität und Pluralität markiert, gibt es kaum. 80 Unabhängig von der Frage, ob die Schwanksammlungen tatsächlich auf die Parameter Vereindeutigung und Entproblematisierung heruntergebrochen werden können, 81 ist die ‚Einfachheit‘ des Erzählens nicht nur ein prägnantes Merkmal, sondern auch Bestandteil des poetischen Konzepts der Schwankbücher. In der frühneuzeitlichen Literaturperiode wird eine Opposition von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Literatur geprägt und häufig programma‐ tisch aufgegriffen; die Schwanksammlungen sind ein literarischer Typus, der explizit keine Anbindung an die Sphäre der lateinisch-humanistischen Bildungskultur sucht. 82 Bereits 341 8.2 Kleinepische Sammlungen nach dem Medienwandel 83 Vgl. M E I E R H O F E R , Alles neu unter der Sonne, S. 23; W A L T E N B E R G E R , „… so ist es nun von nöten, das ich etwas von kläglichen dingen schreibe…“, S. 7. 84 Wickram: Das Rollwagenbüchlin, hg. E N D R E S , S. 7. Dennoch grenzt sich Wickram in der auf das Widmungsschreiben folgenden Vorrede an den Leser ab von allzu unsittlichen oder zotigen Ge‐ schichten, die vor allem für die Ohren von Frauen ungeeignet seien. Wickram kündigt eine ange‐ messene Form der kurzweiligen Unterhaltung an, die nicht verärgert, womit das Erzählen durchaus in eine übergordnete sittliche Normativität eingeordnet wird. Ähnlich stellt Grubmüller am Beispiel der ‚Gartengesellschaft‘ von Martin Montanus fest, dass das scheinbar zweckfreie und ausschließlich heitere Erzählen in den Schwankbüchern durch die Vorreden eine Begrenzung erfährt, indem die Grenzen der ‚Schicklichkeit‘ bindend und das Ausmaß an Provokation überschaubar bleiben. Vgl. G R U B MÜL L E R , Das Böse ohne Balance? , S. 259. 85 M E I E R H O F E R , Alles neu unter der Sonne, S. 10. 86 W A L T E N B E R G E R , „… so ist es nun von nöten, das ich etwas von kläglichen dingen schreibe…“, S. 7. 87 Ähnlich bereits in der wesentlich durch Poggios ‚Liber facetiarum‘ geprägten Tradition der huma‐ nistischen Fazetiensammlung: Poggio formuliert ebenfalls eine reine Unterhaltungsfunktion; die narrativierten Ordobrüche sollen nicht der Belehrung, sondern der Belustigung dienen. Dabei wird dem Erzählen eine konkrete Situierung im ‚Bugiale‘, dem angeblichen Lästerstübchen des Vatikans, gegeben. Solche begrenzten Räume des Erzählens fungieren einerseits als besondere Lizenz für an‐ stößige oder belanglose Erzählinhalte, gleichzeitig bedingen sie auch eine Konkretisierung und Ver‐ einheitlichung der Erzählsituation, die situativ gebunden und perspektivisch gebündelt wird. Vgl. Die Facezien des Florentiners Poggio, Hg. F L O E R K E / B A R N E R , ‚Fazetie‘ in RL 1, S. 571ff. ‚Schimpf und Ernst‘ artikuliert neben dem moraltheologischen Zweck des Erzählens auch den der Kurzweil und rückt damit als eine der ersten frühneuzeitlichen Sammlungen die komplementäre Relation von Ernst und Heiterkeit als konstituierendes Moment des Er‐ zählens in den Fokus. 83 Im Vergleich zu Pauli spielen die Autoren der Schwankbücher das Spektrum des prodesse et delectare deutlich einseitiger aus, indem sie eine reine Unterhal‐ tungsfunktion betonen, was in dem Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘ vorangestellten Wid‐ mungsschreiben symptomatisch abgebildet wird: „dann diß mein buechlein allein von guter kurtzweil wegen an tag geben [is], niemants zu unterweysung noch leer, auch gar nie‐ mandts zu schmach, hon oder spott.“ 84 Meierhofer beobachtet in der diachronen Betrachtung der frühneuzeitlichen Kompilati‐ onsliteratur eine fortschreitende Entsemantisierung des Erzählens: Kurzweil würde nicht nur zum wesentlichen, sondern auch zum eigenzwecklichen Moment der kurzen Prosa in der Frühen Neuzeit werden. Die Texte seien zunehmend zweckfreie Darstellungen dessen, was in der Welt möglich ist, und als Ausdruck eines entfunktionalisierten Mitteilungsbe‐ dürfnisses zu verstehen, dass die „Etablierung eines neuen Begriffs von Welt als Summe des derart offerierten und wissenswerten Geschehens“ prägt. 85 Ein solch „konventionalisierte[r] Eigenwert des von repräsentativen Ansprüchen frei‐ gestellten Exzeptionellen“ dürfte allerdings für die Schwanksammlungen des 16. Jahrhun‐ derts noch nicht gelten. 86 Die Autorisierung des Nichtigen ist als Geltungskonzept ver‐ stehbar, mit dem die Autoren die narrative Reproduktion scheinbar selbstverständlichen Wissens legitimieren. In den Vorreden akzentuieren die Autoren zumeist das Moment wenig anspruchsvoller Unterhaltung, was sich auch in der intendierten Situierung des Er‐ zählens/ Lesens auf der Reise, im Wirtshaus oder in ähnlich alltäglichen Kontexten wider‐ spiegelt. 87 Dabei kann schon die Überdeterminiertheit, mit der die Belanglosigkeit des Er‐ zählten herausgestellt wird, Zweifel wecken und die Behauptung der Nichtigkeit 342 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 88 Vgl. K E L L N E R u.a., Erzählen und Episteme, S. 7. Waltenberger beschreibt die ‚Einfachheit‘ des Erzäh‐ lens in den frühneuzeitlichen Schwanktexten in seinen besonderen Möglichkeiten zur Verhandlung epistemischer Geltung: Durch die Kürze der Texte, die einfache Sprache, eine klare Strukturierung des Geschehens sowie stereotyp gestaltete Figuren und Handlungsmuster sowie das modellhafte Ausspielen von Grenzüberschreitung und Sanktion können die „Grenzen soziokultureller Ord‐ nungen“ konturiert werden. Gerade in ihrer Einfachheit und Stereotypie stellen die Texte „narrative Formen der Speicherung, Reproduktion und Bearbeitung kulturellen Wissens“ dar, die ein evidentes Wissen der verhandelten Ordnungen implizieren. W A L T E N B E R G E R , ‚Einfachheit‘ und Partikularität, S. 267.; siehe auch ders., Geltendes im Nichtigen, S. 303, S. 324f. 89 W A L T E N B E R G E R , ‚Einfachheit‘ und Partikularität, S. 266f., S. 283f.; Weiterhin ders., „… so ist es nun von nöten, das ich etwas von kläglichen dingen schreibe…“, S. 6-10. Meierhofer sieht in der Zusam‐ menführung von etabliertem Wissen und Kontingenzmomenten ein Epochenspezifikum der früh‐ neuzeitlichen Kompilationsliteratur (vgl. M E I E R H O F E R , Alles neu unter der Sonne, S. 9). Ähnlich Lasch, für den die kleinen Erzählformen der Frühen Neuzeit „nicht mehr selbstverständlich als Teil und Repräsentation einer universalen Ordnung gelten, sondern zunehmend die Singularität und Kontingenz des Erzählten ausstellen“ (L A S C H , Überlegungen zur ›Logik‹ der Sammlung, S. 268). Dass die Brüchigkeit von Ordnungsmustern und die Erzeugung von Kontingenz keineswegs erst in den frühneuzeitlichen Text- und Buchtypen zu Tage treten, soll an dieser Stelle nicht erneut ausgeführt werden. 90 B R E N D E C K E , Papierfluten, S. 20. 91 M ÜL L E R / R O B E R T , Poetik und Pluralisierung in der Frühen Neuzeit, S. 8. 92 Vgl. ebd. unterlaufen. Die Akzentuierung einer rein unterhaltenden Gebrauchsfunktion und -inten‐ tion wie auch die Einfachheit des Erzählens können als Teil einer diskursiven Strategie verstanden werden, die sich gezielt von gelehrtem Wissen abgrenzt und auf die Etablierung einer neuen Form des Wissens abzielt, das aus einfacher Alltagserfahrung begründet wird. 88 Die frühneuzeitlichen Schwänke transportierten gerade in ihrer Einfachheit eben‐ falls kulturelles Wissen. Gleichzeitig können die Schwanksammlungen in der programma‐ tischen Zusammenführung verschiedener Texte spannungsvolle Überlagerungen unter‐ schiedlicher Geltungsaussagen und einschneidende Kontingenzmomente erzeugen. 89 Die Erfahrung von Pluralität und Heterogenität, die nicht in einer übergeordneten funktiona‐ lisierenden Paradigmatik aufgehoben sind, wird in den untersuchten kleinepischen Samm‐ lungen des Mittelalters durch eine dialektische Zusammenführung konfligierender Nor‐ mativitäten und häufig unter Bezugnahme auf literarische Traditionen erzeugt. Dagegen ist es in den Schwanksammlungen vor allem die Pluralität der Welterfahrung, die Kontin‐ genz bedingt. Pluralisierung als „Nebeneinander kompetitiver Teilwirklichkeiten“ kenn‐ zeichnet nicht erst die frühneuzeitliche Literatur, 90 aber durch die exzeptionelle Zunahme und Verfügbarkeit von Literatur und Wissen wird die „gesteigerte Pluralität und Plurali‐ tätserfahrung“ zu einem maßgeblichen Epochensignum. 91 8.2.2 Kohärenz durch Autorschaft Der Pluralisierung, die zum einen ein quantitatives Phänomen darstellt, zum anderen in einer besonderen Erfahrung von Dissens und Disparität besteht, werden in den Schwank‐ sammlungen auf verschiedenen Ebenen Verfahren der ‚Autorisierung‘ entgegengesetzt. 92 Im frühneuzeitlichen Schrifttum zeitigt sich eine Spannung und zugleich wechselseitige Bedingtheit von Pluralität mit Autorisierungsbewegungen, die eine Begrenzung von Plu‐ 343 8.2 Kleinepische Sammlungen nach dem Medienwandel 93 Vgl. M ÜL L E R u.a., Pluralisierungen, S. Vff.; K E L L N E R u.a., Erzählen und Episteme, S. 4 94 J A H N u.a., Metamorphosen des Schwanks, S. 9f. 95 Bei den Sammelhandschriften überwiegen dagegen auch im 15. Jahrhundert noch Kompilationen, die verschiedene Typen von literarischen Kleinformen zusammen stellen, ohne dass ein bestimmter Texttyp ähnlich dominant fassbar ist wie in den gedruckten Schwankbüchern. Vgl. K I P F , Von der Sammelhandschrift zum gedruckten Schwankbuch, S. 328f. 96 Siehe auch S. 314f. 97 M E I E R H O F E R , Alles neu unter der Sonne, S. 359. Meierhofer konstatiert eine übergreifende Tendenz der Relativierung von Gattungsdifferenzen in den frühneuzeitlichen Sammlungen: „Aus einer so entstandenen Direktive folgt aber auch, dass die Sammlungen ihre Gegenstände gewissermaßen kontrastmindernd verhandeln. Herkunft, Funktion und Gattungszuweisung verschwimmen durch das Kompilieren“ (ebd., S. 31). ralisierungsphänomenen bedingen und neue Muster narrativer Kohärenzbildung aus‐ prägen. 93 Auch in den Schwanksammlungen wird eine „Balance zwischen Kohärenz und Inkohärenz“ entfaltet, 94 indem der Heterogenität des Materials mit verschiedenen Strate‐ gien der Homogenisierung begegnet wird. Signifikantes Moment der Kohärenzstiftung in den Schwanksammlungen ist die Autorschaft, die sowohl auf der Ebene textueller Form‐ gebung als auch durch die Präsenz einer vermittelnden und zentrierenden Instanz einen signifikanten Unterschied zu den anonymen Schreiber-Kompilationen des Mittelalters markiert. Die frühneuzeitlichen Schwanksammlungen verarbeiten zwar zum Teil ein ähnliches Motiv- und Themenrepertoire wie die mittelalterlichen kleinepischen Kompilationen, sind aber als ein von diesen deutlich geschiedener Sammlungstyp zu fassen. Die Schwank‐ sammlungen treten als homogenerer Buchtyp in Erscheinung, was zunächst durch die deutliche Überzahl des dominierenden Typus kurzer schwankbzw. fazetienhafter Texte erzielt wird; 95 bereits die einheitlichere Textauswahl prägt konzisere Sammlungsprofile. Weiterhin bedingt, ähnlich wie im ‚Decameron‘, schon die explizit durch einen Autor ver‐ antwortete Textpräsentation, dass generische und stilistische Unterschiede zwischen den Texten weniger akzentuiert wahrgenommen werden als dies bei einer anonym präsen‐ tierten Zusammenstellung von Texten verschiedener Verfasser der Fall ist. Gleichzeitig er‐ fahren die Texte in den frühneuzeitlichen Sammlungen, wie bereits die Novellen des ‚De‐ cameron‘, zumeist eine durchgängige Re-Formulierung durch die Autoren. Das Nebeneinander von varianter Gestaltung und Textfestigkeit als Kennzeichen der Retextu‐ alisierungspraxis in den mittelalterlichen kleinepischen Sammlungen, die zumeist nur pointierte Veränderungen vornehmen, während der Text zu großen Teilen in seinem Wort‐ bestand bewahrt wird, 96 weicht einem grundlegend veränderten Zugriff auf das tradierte Material. Dadurch müssen die jeweiligen generischen Strukturen der adaptierten Texte nicht nivelliert werden, aber die Ausarbeitung durch die Autoren bedingt in jedem Fall ein höheres Maß an Vereinheitlichung, als es in den mittelalterlichen Kompilationen der Fall ist. Entsprechend ist im frühneuzeitlichen Sammelschrifttum die Auflösung der „genre‐ spezifische[n] Kontur“ vormals unterschiedlicher Erzählmuster und -funktionen stärker ausgeprägt, 97 texttypologische Unterschiede treten weniger deutlich hervor. Auch zeigt sich, dass die Verfasser der Schwankbücher zwar auf die Bekanntheit der erzählten Ge‐ schichten hinweisen, aber ihre eigene Autorschaft steht dabei über der der ursprünglichen Verfasser der verwendeten Texte, die in der Regel gar nicht explizit benannt werden. Darin 344 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 98 Vgl. T E G E L E R , Schwankrecycling im 16. Jahrhundert, S. 58f. Müller unterscheidet zwischen textueller und paratextueller Rahmung. Während im ‚Decameron‘ beide Ebenen ineinander verschachtelt sind, werden die Schwankbücher ausschließlich paratextuell gerahmt. Vgl. M ÜL L E R , Vom Kipp-Phänomen überrollt, S. 72, S. 95. 99 Vgl. S C H W I T Z G E B E L , Noch nicht genug der Vorrede, S. 118f. Dieses Vorgehen haben die Schwank‐ sammlungen mit der gesamten Kompilationsliteratur des 16. Jahrhunderts gemeinsam, die praktisch durchgängig Vorreden mit Explikationen zur Intention der Texte aufführt. Vgl. ebd., S. 8-11. 100 Pauli nennt sich explizit „samler dis buochs“. Pauli: Schimpf und Ernst, hg. Ö S T E R L E Y , S. 14. 101 Montanus: Wegkürzer, hg. B O L T E , S. 4. 102 Montanus: Wegkürzer, hg. B O L T E , S. 6: „Die historien, so hieher gstelt,/ Wirst befinden bald und gar frey,/ Ob dir das buoch nicht nützlich sey,/ Ja wirsts loben und schetzen wolgethon,/ Das ich ein solch arbeit für dhand hon gnon.“ 103 Montanus: Gartengesellschaft, hg. B O L T E , S. 255ff. 104 Vgl. Wickram: Das Rollwagenbüchlin, hg. E N D R E S , S. 7. zeitigt sich eine signifikante Veränderung im Selbstverständnis der Akteure der Samm‐ lungen, indem das Sammeln und Kompilieren eine Grundlage für eigene Autorschaft wird. Vor allem aber werden die Schwanksammlungen gezielt als Gesamtwerke präsentiert. Dies wird nicht wie im ‚Decameron‘ über die geschlossene Struktur einer Rahmenhandlung, sondern primär über die Sichtbarmachung des einheitlichen Autors erzielt. Schon der Au‐ torname an sich, der über der gesamten Sammlung steht, stellt ein wesentliches Kohärenz‐ moment dar, das Implikationen von Einheitlichkeit und Geschlossenheit transportiert. In den Schwanksammlungen wird Autorschaft aber auch umfassend über paratextuelle Ele‐ mente inszeniert. Neben Werktiteln sind diese vor allem in Form der Vorreden und Wid‐ mungsbriefe fassbar, mit denen sich die Autoren dezidiert als Sammler und Herausgeber der Texte ausweisen. 98 Die Vorreden geben Erläuterungen zu Inhalt und Entstehung der Sammlung, zum adaptierten Material und möglichen literarischen Vorbildern; weiterhin äußern sich die Autoren mit der Betonung der Kurzweil auch zu einer intendierten Funktion oder Wirkungsabsicht des Erzählens. 99 Die Autoren der Schwanksammlungen präsentieren sich damit ähnlich Boccaccio im ‚Decameron‘ als vorgeschaltete Erzähl- und auch Autoritätsinstanzen. Dabei lassen sie durchaus erkennen, dass sie ihre Bücher aus vorhandenem Material zusammenstellen. Zwar bezeichnen sie sich, im Gegensatz zu Johannes Pauli, meist nicht explizit als Sammler, 100 aber es wird auch keine originäre Verfasserschaft für die einzelnen Texte be‐ hauptet. Montanus grenzt sich im Widmungsschreiben des ‚Wegkürzers‘ im Rückgriff auf tradierte Bescheidenheitsfloskeln als „unverstendiger unnd unwürdiger sollischer liebli‐ chen stücken zuschreyben“ sogar von einer Verfasserschaft für die Texte ab, die er „inn truck geben lassen“ hat. 101 Für die Sammlung in ihrer Gesamtheit wird aber durchaus Au‐ torität beansprucht und durchgängig in den Vorreden artikuliert. So formuliert Montanus im ‚Wegkürzer‘ noch recht bescheiden, dass der Leser die Arbeit, die Montanus in das „buoch“ investiert hat, goutieren werde. 102 In der ‚Gartengesellschaft‘ spricht er dagegen wiederholt von „dis buechlin mein“ bzw. „mein buechlin“, 103 ähnlich auch Wickram in der Vorrede zum ‚Rollwagenbüchlein‘. 104 Auch werden Bitten um die Gunst der Widmungs‐ nehmer und Leser oder Aufforderungen zum Kauf formuliert, die eine unmittelbare Iden‐ tifikation mit den Büchern herausstellen. 345 8.2 Kleinepische Sammlungen nach dem Medienwandel 105 G L A U C H , An der Schwelle zur Literatur, S. 79; ähnlich in dies., Ich-Erzähler ohne Stimme, S. 176. Genette fasst ‚Stimme‘ dagegen allgemein als das Subjekt, das von der Handlung berichtet und be‐ zeichnet damit die grundlegende narrative Funktion der Präsentation einer erzählten Geschichte. Vgl. G E N E T T E , Die Erzählung, S. 137f. 106 Das Gros der Texte in den Schwanksammlungen ist durchgängig in der dritten Person formuliert. Montanus verwendet aber sowohl im ‚Wegkürzer‘ als auch in der ‚Gartengesellschaft‘ in einer Reihe von Texten die erste Person für Kommentare und Schlusssentenzen. Vgl. z.B. im ‚Wegkürzer‘ die Episoden 9, 14 und 17; in der ‚Gartengesellschaft‘ die Episoden 3, 18, 94, 98-101. 107 Vgl. zum Beispiel im ‚Rollwagenbüchlein‘: „Do ward fuchs mit fuchs gefangen, wie dann billich und recht ist“ (43, S. 75) oder „Diß was deß unverschamten schwetzigen bauren straff “ (64, S. 118). 108 Dass die Vorreden frühneuzeitlicher Kompilationen die Heterogenität der Texte zu simplifizieren suchen, stellt S C H W I T Z G E B E L , Noch nicht genug der Vorrede, S. 195, heraus. Das Erstellen der Schwanksammlungen bedingt damit nicht nur Verantwortung für die Auswahl und Zusammenstellung des Materials. Indem die Autoren über die Vorreden ihre persönlichen Beweggründe und Intentionen darlegen, die angeblich die Genese der Bücher geprägt haben, stellen sie den Sammlungen die Präsenz einer einheitlichen vermittelnden Instanz voran, die auch für die Rezeption der einzelnen Narrationen prägend ist. Die vo‐ rangestellte Stimme der zentrierenden Autorfigur markiert einen signifikanten Unterschied zu den meist anonym tradierten kleinepischen Kompilationen. Glauch spricht, in Abgren‐ zung von Genettes allgemeingültiger Definition, dann von Stimme, wenn die Erzählinstanz besonders spürbar wird, wenn das Erzählen mit dem „Hörbarwerden einer persönlichen Anwesenheit“ einhergeht. 105 Indem die Vorreden die Illusion authentischer Artikulationen eines persönlichen Erzählinteresses und damit eine besondere Präsenz erzeugen, leisten sie einer Rezeption Vorschub, die die erzählende Stimme in den Narrationen als die des Autors der Vorrede identifiziert. Insbesondere Texte, die Kommentare eines erzählenden ‚Ich‘ for‐ mulieren, suggerieren eine Identität mit dem Autor. 106 Aber auch Erzählerreden in der dritten Person wie die Klagen über soziale oder moralische Missstände, die in Teilen der Texte artikuliert werden, sowie die häufigen Kommentare oder Sentenzen am Ende der Geschichten und Anekdoten, in denen eine auktoriale Erzählinstanz das Geschehen sub‐ sumiert, das komische Moment hervorhebt, eine lebenspraktische Erfahrung betont oder eine kappe Wertung vorstellt, 107 werden implizit als Äußerungen des Autors der Vorrede wahrgenommen. Die ausführliche Selbstpräsentation der Autoren und die direkten An‐ sprachen an das Publikum erzeugen den Eindruck eines konsistenten Erzählers, der mit dem Autor identisch ist. Mit der Präsenz des Autors als zentrierender und vorgeschalteter Instanz wird eine Ein‐ heitlichkeit des Erzählens hergestellt, die der Pluralität der zusammengeführten Texte in einem Spannungsverhältnis gegenübersteht. 108 Die Schwanksammlungen gestalten dabei keine rahmende Fiktion wie das ‚Decameron‘ oder die ‚Canterbury tales‘, die mit der Ge‐ schlossenheit einer zyklischen Rahmenstruktur einen sowohl von den kleinepischen Kom‐ pilationen als auch den frühneuzeitlichen Schwanksammlungen klar geschiedenen Samm‐ lungstyp darstellen. Durch die Vorreden wird zwar das Erzählen in den Schwanksammlungen ‚eröffnet‘, aber es wird keine Abgeschlossenheit expliziert. Die Sammlungen bleiben prinzipiell offen und erweiterbar, was die vergleichende Betrachtung verschiedener Auflagen etwa von Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘ belegt, die durch zusätz‐ liche Texte ergänzt wurden. Aber auch ohne Einordnung der Texte in die vereinheitlichende 346 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel 109 B A R N E R , ‚Fazetie‘ in RL 1, Sp. 573. 110 Der mediale Wandel bedingt eine Ausrichtung auf ein anonymes Publikum und den Markt als „Se‐ lektions- und Kanonisierungsinstrument“. M ÜL L E R , Medialität, S. 56. 111 Vgl. M ÜL L E R , Medialität, S. 57f. Diegese einer Rahmenhandlung stellen die paratextuellen Explikationen zu Anlass und Funktion des Erzählens, auch wenn diese als konzeptuelle Elemente zu verstehen sind, der Divergenz des Textmaterials eine einheitliche vermittelnde Instanz voran. Gleichzeitig be‐ dingen die in den Vorreden entworfenen modellhaften Situierungen des Erzählens, neben der rhetorischen Legitimierung der Einfachheit, eine „perspektivische Bündelung“ des di‐ vergenten Materials. 109 8.3 Heterogenität ohne Homogenisierung In der vergleichenden Betrachtung der untersuchten kleinepischen Sammlungen mit dem ‚Decameron‘ und den Schwanksammlungen als Vergleichskonstellationen zeigt sich, dass nicht nur viele ‚moderne‘ Parameter wie das Erzeugen ambiger Sinnsetzungen und das Unterlaufen normativer Geltungsbehauptungen bereits fester Bestandteil der Poetik mit‐ telalterlicher Versnovellen sind, sondern dass auch das als Indiz für Boccaccios besondere Modernität hervorgehobene Prinzip einer planvollen und häufig kontroversen Gegenüber‐ stellung divergenter Erzählinhalte, die eine Subvertierung des exemplarischen Erzählprin‐ zips bedingt, in vielen kleinepischen Sammelhandschriften fassbar ist. Distinktes Unterscheidungsmerkmal ist dagegen die Verbindung mit verantwortlicher Au‐ torschaft. Mit der umfangreichen Selbststilisierung des Autors nimmt das ‚Decameron‘ ein wichtiges Epochensignum frühneuzeitlicher Sammlungen vorweg. Auch andere Vorgänger der Schwanksammlungen wie die humanistische Fazetiensammlung stellen bereits ähn‐ liche Muster der Kohärenzstiftung durch Autorschaft, Vorrede und Situierung des Erzählens vor, wie sie nach dem medialen Wandel konstitutiv werden. Im 16. Jahrhundert dominiert dann ein Sammlungstyp, der die Pluralität des Erzählens mit Verfahren der Homogenisie‐ rung und einer zentralisierenden Autorinstanz verbindet. Dabei kann die Homogenisierung in den frühneuzeitlichen Schwanksammlungen mit den Präferenzen eines frühen Buchmarktes und der veränderten Medialität des gedruckten Buches zusammenhängen, die eine andere Systematisierung der Texte erforderlich ma‐ chen. 110 So wie die Paratexte auch als Strategien der Vermittlung und Vermarktung ver‐ stehbar sind, 111 vermittelt das gedruckte Schwankbuch seine - tatsächlich vorhandene oder nur suggerierte - generische und inhaltliche Homogenität auch, um einem Rezipientenin‐ 347 8.3 Heterogenität ohne Homogenisierung 112 Klaus Kipf hat in seinem Beitrag bei der Basler Tagung „Schwanksammlungen im frühneuzeitlichen Medienwandel“ unterschiedliche Arten der Intentionalisierung von Handschrift und gedrucktem Buch in Erwägung gezogen: Während der frühe Druck für das Interesse der Rezipienten konzipiert wird, ist dem Medium Handschrift eine offenere Heterogenität möglich. Möglicherweise erlaubt der mittelalterliche Mediengebrauch, das Manuskript an sich, eine Nicht-Systematik der Texte, die im gedruckten Buch nicht fortgeführt wird. Ähnlich Nora Vogel-Viet, die in ihrem Beitrag bei derselben Tagung mit dem ‚Parangon des nouvelles‘ ein Beispiel aus dem französischen Sprachgebiet vorstellt, das als Kanon der Novellenkunst vermarktet wurde, wobei zur besseren Marktgängigkeit die gat‐ tungstypologische Textmischung gezielt überspielt wurde. 113 Vgl. G L A U C H , Ich-Erzähler ohne Stimme, S. 181f. 114 Zur Verantwortung als Markierung von Autorschaft in Abgrenzung zur Kompilation vgl. Q U A S T , Sebastian Francks ‚Kriegbüchlin des Frides‘, S. 21, S. 33ff.; siehe auch S. 63. 115 Die von Hans Folz im Eigenverlag hergestellten Drucke seines das Spektrum der kleinen Reimpaar‐ dichtung breit ausschöpfenden Œuvres sind bereits durch den medialen Umbruch geprägt und können als Übergangserscheinung zu den frühneuzeitlichen Sammlungstypen gefasst werden. Zu Hans Folz vgl. F I S C H E R , Studien zur deutschen Märendichtung, S. 160ff. teresse nach systematischer Erfassbarkeit entgegenzukommen. 112 Ebenso steht die Neufor‐ mierung der Autorinstanz, die in der Autornennung und in den Paratexten augenscheinlich wird, auch in einem Konnex mit veränderten Lektürebedingungen: Die zunehmend ano‐ nymen, entpersonalisierten Rezeptionsbedingungen des frühen Buchmarktes befördern die Erwartung einer kohärenten Autorschaft als klar konturierte Produktionsinstanz des ge‐ druckten Buches. 113 Beispiele für Autor-Sammlungen gibt es auch in der mittelalterlichen Dichtungspraxis, etwa im Bereich der Exempelsammlungen und Enzyklopädik, diese sind aber überwiegend auf die lateinische Dichtung beschränkt; auch zeigt sich bei den Autoren dieser Samm‐ lungen eine andere Auffassung bezüglich der Abgrenzung des Kompilierens von Verfas‐ serschaft. 114 Zwar werden in den betrachteten mittelalterlichen Sammlungen verschiedent‐ lich umfangreiche Autor-Œuvres, etwa des Strickers oder Hans Rosenplüts, in die Sammlungen eingespeist, aber erst in der Frühen Neuzeit tritt die volkssprachige Autor-Sammlung mit der entsprechenden Selbstinszenierung geballt in Erscheinung, so dass dieses Moment als Epochensignatur greifbar wird. 115 Nicht in der Pluralität und Anti-Exemplarizität, sondern in den veränderten Formen der Autorisierung und Vermittlung unterscheiden sich sowohl Boccaccios ‚Decameron‘ als auch die frühneuzeitlichen Schwanksammlungen von den untersuchten mittelalterlichen Sammelhandschriften. Die Schreiber als Akteure der mittelalterlichen Kompilationen können durch die spezifische Formgebung des Einzeltextes dessen Sinnstiftung beein‐ flussen, über die Auswahl und Konfiguration der Texte prägen sie die Sammlung in ihrem jeweiligen Profil. Sowohl auf der Ebene der einzelnen Dichtung als auch auf der der Samm‐ lung treten die Schreiber aber immer hinter den durch sie verschriftlichten und zum Teil auch veränderten Texten zurück. In der Gleichzeitigkeit kopierender und kompilierender Tätigkeit üben die Schreiber zwar gestalterische, auch genuin poetische Funktionen aus, aber sie treten weder auf der Ebene des Einzeltextes noch der der Sammlung als verant‐ wortliche Autoren in Erscheinung. Boccaccio und die Autoren der frühneuzeitlichen Schwanksammlungen adaptieren gleichfalls tradierte Stoffe, aber sie stellen ihre eigene Verantwortung und Funktion für die 348 8 Exkurs: Kontinuitäten und Wandel Zusammenstellung und Gestaltung der Textsammlung deutlich heraus, während Refe‐ renzen auf die ursprünglichen Verfasser zumeist getilgt werden. Dabei zeigt sich, dass die umfangreiche Inszenierung von Autorschaft mit den paratextuellen Explikationen zur In‐ tention des Erzählens als zentralisierendes Moment in einem Spannungsverhältnis zur Plu‐ ralität der Narrationen steht. In den mittelalterlichen kleinepischen Sammlungen gibt es noch keine zentralisierende Perspektive und keine vermittelnde Instanz, die das divergente Material verantwortet und eine einheitliche Stimme für das Erzählen impliziert. Die Schreiber inszenieren sich nicht als Autoren, die die Erzählinhalte mit ihrer eigenen Stimme wiedergeben, kommentieren oder in einem explizierten Erzählzusammenhang zusammenführen; sie sind keine Verfasser der von ihnen verantworteten Bücher. Die Genese von anonymen Kompilationen zu Autor-Sammlungen stellt damit einen entscheidenden Wandel in der Überlieferung kurz‐ epischer Texte dar. Während in den frühneuzeitlichen Schwanksammlungen und dem ‚Decameron‘ die durchgängige Ausarbeitung der Texte durch die Autoren eine homogeniserende Anglei‐ chung des Materials bedingt, erfahren die einzelnen Texte in den kleinepischen Samm‐ lungen keine vollständigen Reformulierungen, sondern zumeist nur pointierte variante Anpassungen. Die kleinepischen Sammlungen des Mittelalters sind damit nicht nur durch das Nebeneinander unterschiedlicher Erzählinhalte, sondern auch divergenter Darstel‐ lungsweisen und Texttypen geprägt. Es ist das kennzeichnende Prinzip dieser Sammlungen, unterschiedliche, auch nicht genuin poetische Texttraditionen zu integrieren und die Di‐ vergenz des inserierten Textmaterials unvermittelt in Erscheinung treten zu lassen. Geist‐ liche Texte, didaktische Reden und weltliche Erzähltexte treten auch als solche in Erschei‐ nung und bleiben als unterschiedliche Texttypen fassbar. Das genuin mittelalterliche Profil, die Alterität der kleinepischen Sammlungen, manifestiert sich in einer Textpräsentation, die ein anonymes und unvermitteltes Nebeneinander des Divergenten intendiert, bei dem die unterschiedlichen Formen literarischer Sinnstiftung in einer konzeptionellen Dialektik noch unvermittelt herausgestellt werden. 349 8.3 Heterogenität ohne Homogenisierung 9 Handschriften Archiv Schloß Schönstein (Fürsten und Grafen von Hatzfeldt-Wildenburg), Akte Nr. 7693 [eingesehen über Digitalisat] Cologny, Fondation Martin Bodmer, Codex Bodmer 72 (ehem. Kalocsa, Kathedralbibliothek, Ms. 1) [http: / / www.e-codices.unifr.ch/ de/ list/ one/ fmb/ cb-0072]. Dresden, Landesbibliothek, Mscr. M 68 [urn: nbn: de: bsz: 14-db-id2768790662] Heidelberg, Universitätsbibliothek, Codex palatinus germanicus 341 [urn: nbn: de: bsz: 16-diglit-1511] Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, Codex FB 32001 [eingesehen über: Sammlung kleinerer deutscher Gedichte. Vollständige Faksimile-Ausgabe des Codex FB 32001 des Tiroler Landesmu‐ seums Ferdinandeum. Einführung: Norbert Richard W O L F (Codices selecti 29), Graz 1972] Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Codex Donaueschingen 104 [urn: nbn: de: bsz: 31-1289] Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Codex 408 [urn: nbn: de: bsz: 31-1298] Leipzig, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Ms. Apel 08 (vormals Ms. 1709; davor Halle, Universitäts- und Landesbibliothek, Codex 14 A 39) [urn: nbn: de: gbv: 3: 3-42819] München, Bayerische Staatsbibliothek, Codex germanicus monacencis 714 [urn: nbn: de: bvb: 12-bsb00024106-2] Prag, Knihovna Národního muzea v Praze, Codex X A 12 [http: / / v2.manuscriptorium.com/ apps/ main/ en/ index.php? request=show_tei_digidoc&docId=rep_remake160&client=] Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Codex mgf 488 [http: / / resolver.staatsbiblio‐ thek-berlin.de/ SBB0000531D00000000] Straßburg, Stadtbibliothek, Codex A 94 [Transkript: Sprague, W. Maurice: The lost Strasbourg St. John's manuscript A 94: ("Strassburger Johanniter-Handschrift A 94"). Reconstruction and histo‐ rical introduction. Göppingen 2007 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 742)]. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex Vindobonensis 2885 [http: / / data.onb.ac.at/ rec/ AL00159743] 10 Literaturverzeichnis 10.1 Primärliteratur Die untersuchten kleinepischen Einzeltexte werden nicht gesondert im Literaturver‐ zeichnis aufgeführt. Grundlage der Textdiskussion ist, wo nicht anders angegeben, immer der handschriftliche Textbestand; ein Verweis auf Textausgaben erfolgt nur, wenn explizit auf edierte Texte zurückgegriffen wird. Aliscans. Das altfranzösische Heldenepos nach der venezianischen Fassung M. Eingeleitet und über‐ setzt von Fritz Peter K N A P P . Berlin/ Boston 2013. Andreas aulea regiae capellanus: De amore libri tres. Text nach der Ausgabe von Emil T R O J E L . 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Das Register führt die in der Arbeit genannten, nicht aber alle in den untersuchten Sammlungen enthaltenen Texte auf; zur Übersicht über den Gesamtbestand sei auf die Titellisten zu den jeweiligen Sammlungen verwiesen. ›Adam und Eva‹ 191, 216, 221, 236, 240, 244, 268, 318 Albrecht von Eyb ›Ehebüchlein‹ 146 ›Aliscans‹ 300, 301, 305 Andreas Capellanus ›De amore‹ 119, 220 Appet, Jakob ›Der Ritter unter dem Zuber‹ 205 f., 213 ›Aristoteles und Phyllis‹ 86, 209, 213 ›Athis et Prophilias‹ 327 ›Ave Maria‹ (Predigtparodie) 216, 221, 223, 236, 242, 246 ›Belehrung eines jungen Mannes‹ 283, 292 ›Berchta‹ 216, 218, 240, 244 ›Bestraftes Misstrauen‹ 185, 188, 200 ›Besuch bei der Geliebten‹ 116, 162, 292 Boccaccio, Giovanni ›Das Decameron‹ 14, 69 f., 77, 84 f., 146, 177, 181, 319, 321 ff., 338, 339, 340, 344 ff., 347 ›Die Falkennovelle‹ 324 ›Griselda‹ 331, 336, 338, 340 Bonaventura ›Opera omnia‹ 63 Caesarius von Heisterbach 24 ›Carmina Burana‹ 36 ›Cato‹ (dt. Rumpfbearbeitung) 176, 188, 222, 224, 237, 241, 245, 268, 283, 294 Chaucer, Geoffrey ›The Canterbury tales‹ 69 f., 77, 323, 333, 346 Chrétien de Troyes ›Erec et Enide‹ 54 ›Crescentia‹ 176, 177, 191 ›Das Almosen‹ 82, 185, 187, 188, 200, 219, 242, 246 ›Das Auge‹ 202, 210, 214, 253, 256, 263 ›Das Gänslein‹ 171, 184, 185, 187, 188, 200, 219 f., 224, 241, 245 ›Das Häslein‹ 210, 214 ›Das Herz als Garten der Liebe‹ 113, 119, 162 ›Das Kerbelkraut‹ 208, 209, 213 ›Das Schneekind‹ 223, 237, 241, 244, 255, 270 ›Das Wachtelmäre‹ 114, 187, 188, 222, 237, 242, 245 ›Der Bauern Lob‹ 114, 116, 145, 162 ›Der betrogene Blinde‹ 216, 219, 240, 245, 255, 263 ›Der große Seelentrost‹ 78 ›Der Guardian‹ 119, 162 ›Der Heller der armen Frau‹ 176, 190 ›Der Herbst und der Mai‹ 209, 214 ›Der Herrgottschnitzer‹ 175, 191 ›Der König im Bade‹ 223, 237, 242, 246, 256 ›Der Magezoge‹ 176, 188, 190, 224, 237, 242, 246 ›Der Mantel‹ 152 ›Der Minne Kraft‹ 128 f., 129, 162, 168 ›Der Minne Porten‹ 216, 221, 241, 245 ›Der Mönch als Liebesbote‹ 49, 144 f. Der Regensburger ›Die Geburt Christi‹ 143, 163 ›Der Ritter im Hemd‹ 216, 222, 240, 244 ›Der Ritter in der Kapelle‹ 105, 130, 133 ff., 138, 163 ›Der Ritter mit den Nüssen‹ 219, 240, 244 ›Der rote Mund‹ 121, 162 ›Der Schüler von Paris‹ 49, 86, 128 ff., 137, 168, 216, 220, 241, 245 ›Der schwangere Müller‹ 216, 219, 241, 245 ›Der Seele Kranz‹ 176, 188, 190 384 11 Autoren- und Werkregister ›Der Seelenwurzgarten‹ 78 ›Der Sohn des Bürgers‹ 255 ›Der Sperber‹ 99, 171, 184 f., 187, 188, 200, 206, 210, 213, 219, 236, 240, 244, 255, 263, 318 ›Der Striegel‹ 216, 219, 242, 246 ›Der Traum von der Liebe‹ 205, 213 ›Der warnende Ehemann‹ 255 ›Der Wirt der Seele‹ 143, 163 ›Der wucherische Wechsler und der Fromme‹ 163 ›Der Württemberger‹ 105, 130 ff., 138, 163, 224, 237, 242, 246 ›Der Zahn‹ 255, 263 ›Der Zaunkönig‹ 114, 116, 117, 162 Der Zwickauer ›Des Mönches Not‹ 177, 191, 255, 266 ›Des Teufels Ächtung‹ 177, 192 ›Die Bauernhochzeit‹ 140, 154, 255, 269, 273, 284, 285, 294, 329 ›Die Beichte einer Frau‹ 278, 279, 280, 291 ›Die Beständige und die Wankelmütige‹ 279, 291 ›Die Bettlerin‹ 117, 162 ›Die Buhlschaft auf dem Baume‹ 36 f. ›Die edle Abstammung der Bürger‹ 114, 117, 162 ›Die Frauentreue‹ 49, 86, 94, 128, 130, 135 ff., 139, 163, 176, 177, 191, 252, 255, 263 ›Die halbe Decke‹ 176, 177, 191, 216, 222, 234, 236, 240, 244, 265 ›Die Heidin‹ 86, 176, 191, 216, 220, 224, 241, 245 ›Die heiligen Farben‹ 142, 146, 163 ›Die Kinder der Edelleute‹ 117, 162 ›Die Maze‹ 178, 196 ›Die Meierin mit der Geiß‹ 216, 219, 240, 244 ›Die Minneburg‹ 279, 292 ›Die Minne vor Gericht‹ 253, 263 ›Die rechte Art der Minne‹ 145, 163, 291 ›Die sechs Farben‹ 207, 213, 253, 263, 291 ›Die sieben größten Freuden‹ 285, 294 ›Die Tierbeichte‹ 251, 263 ›Die treue Magd‹ 105, 121, 162 Dietrich von der Glezze ›Der Borte‹ 86, 178 ›Die Welt‹ (siehe auch Michael de Leone ‚Hausbuch‘) 67, 73, 216, 222, 224, 241, 242, 245, 246, 330 ›Die Wette‹ 216, 218, 240, 244 ›Die zwei Beichten‹ 144, 180, 251, 255, 256, 263 ›Disticha Catonis‹ 176 Durst ›Der Bauern Hoffart‹ 145, 163 Egen von Bamberg ›Das Herz‹ 139, 163 ›Die Klage der Minne‹ 139, 163 ›Ehren und Höhnen‹ 265 ›Fluch über die ungetreuen Frauen‹ 121 f., 162, 264 Folz, Hans 348 ›Fastnachtspiele‹ 148 Franck, Sebastian ›Kriegbüchlin des Frides‹ 63 ›Frau Minne warnt vor Lügen‹ 206, 213 ›Frau Seltenrain‹ 219, 240, 244 Freidank 176 ›Bescheidenheit‹ 59, 249, 253, 264, 265, 267, 269, 273, 283, 294 Fressant, Hermann ›Der Hellerwertwitz‹ 216, 218, 234, 235, 236, 237, 240, 244, 255, 264 Frey, Jakob ›Gartengesellschaft‹ 338, 339 Friedrich von Saarburg ›Vom Antichrist‹ 223, 237, 242, 246 Galfried von Vinsauf 54 ›Gesta Romanorum‹ 78 ›Gold und Zers‹ 216, 221, 241, 245 Gottfried von Straßburg 90, 123, 173, 178 f., 183, 204, 281, 298, 309, 315 ›Tristan‹ 32, 58, 86 ff., 94, 95, 127, 135, 203, 209, 221, 308, 318 Guillem de Cabestanh 84, 94 11 Autoren- und Werkregister 385 Hans Andree (? ) ›Pestgedicht‹ 146, 163 Harder, Konrad ›Der Minne Lehen‹ 105, 121, 140, 141, 162, 163 ›Frauenkranz‹ 145, 163 Hartmann von Aue ›Der arme Heinrich‹ 188, 196, 203, 208, 209, 211, 213 ›Erec‹ 54, 209 ›Iwein‹ 203 Heinrich der Teichner 145, 163, 249, 254, 264, 265, 266, 269, 280, 292 Heinrich von Freiberg ›Die Legende vom heiligen Kreuz‹ 224, 237, 242, 246 ›Johann von Michelsberg‹ 171, 175, 187, 188, 191, 200 Heinrich von Pforzen ›Der Pfaffe in der Reuse‹ 256, 269 Heinz der Kellner ›Konni‹ 255, 264 Hermann von Sachsenheim 283 ›Die Grasmetze‹ 273, 284, 285, 294, 329 ›Die Mörin‹ 288 Hermann von Thüringen 304 ›Hero und Leander‹ 86, 255, 264 Herrand von Wildonie ›Die treue Gattin‹ 210 Hugo von Trimberg ›Der Renner‹ 73, 117, 162 ›Il Novellino‹ 321, 323, 329, 337 ›Ironischer Frauenpreis‹ 286 f., 290 Jakemés ›Roman du castelain de Couci‹ 85 f., 90 f., 94, 181 Johannes Duro ›Die fünf Namen‹ 140, 141, 163 Johannes von Freiberg ›Das Rädlein‹ 185, 188, 200 Johann von Konstanz ›Minnelehre‹ 252 Kaufringer, Heinrich 31, 38, 75 ›Die unschuldige Mörderin‹ 39 ff. König vom Odenwald ›Vom mangelnden Hausrat‹ 208, 213 Konrad von Fußesbrunnen ›Die Kindheit Jesu‹ 55 Konrad von Heimesfurt ›Diu urstende‹ 58 Konrad von Stoffeln ›Gauriel von Muntabel‹ 235, 238, 246 Konrad von Würzburg 13 ›Das Herzmaere‹ 29, 49, 52, 57, 58, 84 ff., 95 ff., 100 ff., 107, 122 ff., 130, 135, 137, 138, 139, 158 ff., 170 f., 178 ff., 184, 185, 188, 200, 202, 203 ff., 205, 206, 210, 213, 220, 225 ff., 236, 237, 240, 244, 255, 257 ff., 259, 266, 273, 280 ff., 292, 297 ff., 306 ff., 311 ›Der Welt Lohn‹ 94, 183, 196, 264 ›Die goldene Schmiede‹ 172 f., 174, 182, 190, 223, 237, 241, 245, 281 ›Die halbe Birne‹ [? ] 24 f., 59, 202, 210, 214, 219, 240, 244, 255, 260, 268 ›Heinrich von Kempten‹ 183, 196, 224, 238, 242, 246 ›Trojanerkrieg‹ 107, 140, 141, 159, 163 ›Konstanzer Liebesbriefe‹ 251 f., 262, 263 ›Krähe und Taube‹ 254, 269 ›Liebe und Schönheit‹ 207, 210, 211, 213 ›Lob der beständigen Frauen‹ 121 f., 162, 267 ›Lob der Frauen‹ 278, 291 ›Lügenpredigt vom Backofen‹ 114 ff., 117, 162 ›Mariengrüße‹ 171, 173, 174, 190 ›Marien Rosenkranz‹ 174, 190 Michael de Leone ›Hausbuch‹ 67, 73, 208, 215, 222, 224, 330 ›Minner und Trinker‹ 207, 209, 213, 216, 221, 236, 240, 244, 266 ›Mönch Felix‹ 175, 176, 191 Mönch von Salzburg 273, 280, 283, 294 Montanus, Martin ›Das ander Teil der Gartengesellschaft‹ 342, 345, 346 ›Wegkürzer‹ 338, 339, 341, 345, 346 Neidhart 140, 149, 154, 182, 260 386 11 Autoren- und Werkregister ›Neujahrsgrüße‹ 279, 292 ›Neun Männer-Neun Frauen‹ 206, 213 ›Nibelungenklage‹ 47, 67 ›Nibelungenlied‹ 67, 248 Niemand ›Die drei Mönche zu Kolmar‹ 34, 120, 264 ›Parangon des nouvelles‹ 348 ›Passional‹ 174, 190 ›Paternoster‹ (Predigtparodie) 216, 221, 223, 236, 242, 246 Pauli, Johannes ›Schimpf und Ernst‹ 339 f., 342, 345 Pfaffe Konrad ›Rolandslied‹ 306, 308 Pfaffe Lambrecht ›Alexanderroman‹ 82 ›Pfaffe und Ehebrecherin‹ 216, 219, 242, 246, 278 Poggio Bracciolini ›Liber facetiarum‹ 339, 342 ›Pyramus und Thisbe‹ 86, 216, 220, 236, 240, 244 ›Quodlibet‹ 121, 140, 162, 270, 292 ›Rat der Vögel‹ 116, 242, 246, 267 Reinmar von Zweter ›Leich‹ 173, 190 Rosenplüt, Hans 104, 106, 107, 112 f., 133, 147, 273, 279, 348 ›Bauernprahlereien‹ 154, 165 ›Der Hasengeier‹ 324 f. ›Der Knecht im Garten‹ 273, 284, 294 ›Des Entchrist Vasnacht‹ 155, 164 ›Des Türken Fastnachtspiel‹ 155, 165 ›Die Beichte‹ 147, 163 ›Die sechs Ärzte‹ 147, 164 ›Die Tinte‹ 147 ›Die verhinderten Ehemänner‹ 151, 153, 165 ›Fastnachtspiele‹ 112, 147, 148, 150 ff. ›Frauenverleumder vor Gericht‹ 151, 165 ›Krone‹ 152, 164 ›Luneten Mantel‹ 152, 164 ›Prozeß zwischen Fastnacht und Fastenzeit‹ 151, 164 ›Streit zwischen Fastnacht und Fastenzeit‹ 151, 164 ›Wie man Ritter wird‹ 155, 164 Rüdiger der Hünkhofer ›Der Schlegel‹ 176, 177, 191, 222, 236, 241, 245 Rudolf von Ems 58, 127, 193 ›Barlaam und Josaphat‹ 175, 192, 193, 203, 210 f., 214, 223, 254 ›Willehalm von Orlens‹ 126 f., 159, 235, 238, 246 Ruschart ›Der Minne Klaffer‹ 216, 221, 236, 242, 246, 263 Schondoch ›Die Königin von Frankreich‹ 99, 319 ›Sekte der Minner‹ 209, 214 Sibote ›Frauenerziehung‹ 171, 184, 188, 200, 222, 242, 246, 256, 266 Siegfried der Dörfer ›Frauentrost‹ 174, 190 ›Stiefmutter und Tochter‹ 285, 295 ›Streitgespräch zweier Frauen über die Minne‹ 279, 291 Stricker 12, 15, 17, 20, 21, 29 ff., 59, 171, 175, 188, 223, 348 ›Das erzwungene Gelübde‹ 177, 196, 222, 223, 241, 245 ›Das heiße Eisen‹ 32 f., 34, 177, 196, 219, 240, 244 ›Der begrabene Ehemann‹ 31 f., 34, 177, 196 ›Der ernsthafte König‹ 223, 237, 242, 246, 264 ›Der falsche Blinde‹ 183, 199 ›Der Gevatterin Rat‹ 177, 196, 222, 241, 245 ›Der kluge Knecht‹ 31, 34, 188, 199, 200 ›Der nackte Bote‹ 177, 198, 223, 241, 245 ›Der nackte Ritter‹ 177, 199, 242, 246 ›Der Richter und der Teufel‹ 24, 266 ›Der Teufel und die Seele‹ 177, 191 ›Die beiden Zimmerleute‹ 183, 199 11 Autoren- und Werkregister 387 ›Die drei Wünsche‹ 177, 196, 223, 236, 241, 245 ›Die Messe‹ 177, 192 ›Edelmann und Pferdehändler‹ 42, 199 ›Ehescheidungsgespräch‹ 177, 196 ›Gegen Gleichgeschlechtlichkeit‹ 184, 200 ›Karl‹ 306 ›Studentenabenteuer‹ 180, 217 f., 220, 240, 244 Tannhäuser ›Hofzucht‹ 216, 222, 224, 240, 244 Thomas von Bretagne ›Tristan‹ 84 ›Thomas von Kandelberg‹ 143, 163, 174, 190 ›Tor Hunor‹ 216, 219, 241, 245 Ulrich Boner ›Der Edelstein‹ 68, 107, 145, 159, 163 Ulrich von dem Türlin ›Arabel‹ 305 Ulrich von Lichtenstein ›Frauendienst‹ 132, 288 Ulrich von Türheim ›Rennewart‹ 305 ›Unser Frauen Ritter‹ 174, 190 ›Unser vrouwen klage‹ 173, 190 ›Viel anders‹ 141, 163, 264 Vinzenz von Beauvais ›Speculum maius‹ 63, 71 f. ›Visio Philiberti‹ 105, 146, 163 Vohpurk, Stefan ›Wolf und Pfaffe‹ 117, 162 ›Von dem Hurübel‹ 146 f., 158, 163 ›Von dem jungesten tage‹ 174, 190 ›Von drei Wappen‹ 223, 237, 242, 246 Walther von der Vogelweide 36 ›Leich‹ 173, 174, 190 ›Warum Gott sein Haupt neigte‹ 175, 191 ›Wer kann allen recht tun‹ 207, 213, 270, 291 Wickram, Jörg ›Das Rollwagenbüchlein‹ 339, 341, 342, 345, 346 Wirnt von Grafenberg ›Wigalois‹ 206 Wittenwiler, Heinrich ›Der Ring‹ 140, 154, 284 Wolfram von Eschenbach ›Parzival‹ 135, 139, 206 ›Willehalm‹ 297, 299, 300 ff., 318 388 12 Handschriftenregister 12 Handschriftenregister Berlin, Staatsbibliothek ›mgf 488‹ [E] 102, 276, 283, 287 ff. ›mgo 1430‹ 65, 180, 217, 218, 256 ›mgo 186‹ 121, 131 ›Ms. germ. 4°284‹ 318 ›Ms. Ham. 90‹ 329 Cologny-Genf, Bibl. Bodmeriana ›Cod. 72‹ [K] 73, 114, 131, 136, 143, 170, 171, 187, 223, 297, 318, 330 Dresden, Landesbibliothek ›Mscr. M 50‹ 66, 147, 150 ›Mscr. M 67‹ 250 ›Mscr. M 68‹ 66, 318, 339 Heidelberg, Universitätsbibliothek ›Cpg 313‹ 122, 249 ›Cpg 341‹ [H] 15, 65, 66, 68, 70, 87, 96, 97, 99, 102, 131, 136, 143, 170 ff., 187, 201, 203, 216, 223, 224, 255, 297, 316, 317, 318, 329, 330 Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum ›FB 32001‹ [i] 66, 99, 102, 114, 216, 225, 234 ff., 247, 280, 282, 315, 317, 318, 330 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek ›Cod. Donaueschingen 104‹ [l] (‚Liedersaalhandschrift‘) 15, 87, 96, 97, 99, 102, 122, 125, 131, 136, 141, 180, 187 ff., 210, 248 ff., 272, 315, 316, 317, 318 ›Cod. Donaueschingen 63‹ 248 ›Cod. Karlsruhe 408‹ 114, 121, 128, 131, 209, 255, 260, 318 Leipzig, Universitätsbibliothek ›Ms. Apel 08‹ [B] (‚Bechsteinsche Handschrift‘) 102, 283, 287 ff. München, Bayerische Staatsbibliothek ›Cgm 270‹ 66, 75 ›Cgm 5919‹ 66, 131 ›Cgm 714‹ [m] 13, 87, 99, 102, 104 ff., 131, 166, 167, 168, 169, 282, 316 ›Cgm 717‹ 318 München, Universitätsbibliothek ›2° Cod. ms. 731‹ (‚Hausbuch‘ des Michael de Leone) 215 ›Neidensteiner Handschrift‹ 123 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum ›Cod. Merkel 2° 966‹ 66 ›Hs. 42575‹ 102, 311 ff. ›Hs. 5339a‹ 134, 319 Prag, Nationalmuseum ›Cod. X A 12‹ [p1] (‚Liederbuch der Clara Hätzlerin‘) 57, 66, 99, 102, 225, 273 ff., 296, 315, 318, 329 Schönstein (Wissen), Archiv Schloss Schönstein (Fürsten und Grafen von Hatzfeldt-Wildenburg) ›Akte Nr. 7693‹ [Ko] 87, 99, 102, 123, 170, 178, 297 ff., 310, 315, 316 St. Gallen, Stiftsbibliothek ›Cod. 857‹ 67 Straßburg, ehem. Stadtbibliothek ›Cod. A 94‹ [S] 15, 96, 102, 202 ff., 253, 280, 317, 318 Vorau, Stiftsbibliothek ›Cod. 276‹ 67, 82 Wien, Österreichische Nationalbibliothek ›Cod. 10100a‹ 123 ›Cod. 2705‹ 66, 68, 170, 172 ›Cod. 2885‹ [w] 15, 66, 97, 99, 102, 114, 131, 215 ff., 243, 280, 282, 315, 316, 317, 318, 330 ›Cod. 2931‹ 318 ›Cod. ser. nova 20231‹ 131 ›Cod. ser. nova 2593‹ 102, 123, 312 ff. Mittelhochdeutsche Versnovellen sind überwiegend in thematisch und texttypologisch heterogenen Sammelhandschriften überliefert. Die Untersuchung nimmt ein repräsentatives Korpus dieser Kompilationen in einer Zusammenschau überlieferungsgeschichtlicher, philologischer und hermeneutischer Fragestellungen in den Blick. An Konrads von Würzburg ‚Herzmaere‘ als Modellfall einer vergleichenden Text-Kontext-Analyse wird gezeigt, dass die Sammlungsverbünde einen maßgeblichen Faktor für die Sinnkonstitution der inkorporierten Versnovellen darstellen, indem sie als Rezeptionskontexte den Einzeltext durch divergente Profile jeweils unterschiedlich semantisieren. Gleichzeitig ist die Sammlung als Produktionsrahmen des einzelnen Textes auch ein zentraler Parameter für dessen individuelle Formgebung. Zahlreiche sinnstiftende Korrelationen zwischen spezifischen Textvarianten und tradierender Sammlung machen eine intentionale Anpassung an das textuelle Umfeld plausibel, wodurch sich neue Perspektiven auf textkritische Überlegungen und die Rolle des Schreibers im mittelalterlichen Textmodell ergeben. ISBN 978-3-7720-8646-5 Dahm- Kruse Versnovellen im Kontext BIBL. GERM. 68 Margit Dahm-Kruse Versnovellen im Kontext Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften