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Postimperiale Narrative im zentraleuropäischen Raum

2018
978-3-7720-5649-9
A. Francke Verlag 
Marijan Bobinac
Johanna Chovanec
Wolfgang Müller-Funk
Jelena Spreicer

Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen aus dem internationalen Forschungsprojekt "Postimperiale Narrative in den zentraleuropäischen Literaturen der Moderne" hervor. Im Zentrum stehen die sich literarisch, kulturell und politisch manifestierenden Nachwirkungen von Großreichen in Mitteleuropa. Imperien wie die Habsburgische Monarchie werden als übernationale Räume von erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten verstanden, in denen oft divergierende Narrative und Erzählstrategien entstehen, die sich in veränderter Form bis in unsere Gegenwart perpetuieren. In diesem Zusammenhang beleuchtet der Band Berührungspunkte im kollektiven Gedächtnis der Nachfolgestaaten und Konstruktionsprinzipien gemeinsamer kultureller Strukturen in Zentraleuropa. Mit Beiträgen von Clemens Ruthner, Wolfgang Müller-Funk, Johanna Chovanec, Christian Kirchmeier, Andrea Seidler, Wynfrid Kriegleder, Endre Hárs, Jelena Sesnic, Drago Roksandic, Milka Car, Jelena Spreicer, Marijan Bobinac, Ana-Maria Palimariu, Svjetlan Lacko Vidulic und Fatima Festic.

K U LT U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 25 Marijan Bobinac / Johanna Chovanec / Wolfgang Müller-Funk / Jelena Spreicer (Hrsg.) Postimperiale Narrative im zentraleuropäischen Raum KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Milka Car, Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk, Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler Band 25 • 2018 Kultur - Herrschaft - Differenz ist eine peer-reviewed Reihe (double-blind). Kultur - Herrschaft - Differenz is a double-blind peer-reviewed series. Herausgegeben von Marijan Bobinac, Johanna Chovanec, Wolfgang Müller-Funk und Jelena Spreicer Postimperiale Narrative im zentraleuropäischen Raum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Boris Dundović, Zagreb Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8649-6 Umschlagabbildung: Habsburgergasse, Wien (1., Innere Stadt), mit freundlicher Genehmigung des Fotografen Matthias Schmidt Gedruckt mit der Unterstützung durch das Dekanat der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Inhalt 7 Vorwort 17 Clemens Ruthner Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“. Einige Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung Bosnien- Herzegowinas, 1878-1918 35 Wolfgang Müller-Funk Das Melancholische und das Imperiale. Mit einem Seitenblick auf Joseph Roth 49 Johanna Chovanec Istanbul. Eine melancholische Stadt im Kontext des Osmanischen Mythos 69 Christian Kirchmeier Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern. Zur politischen Topologie des Fremden 85 Andrea Seidler Gratwanderung zwischen Loyalität und Resistenz. Die ungarische Leibgarde Maria Theresias als ambivalentes Symbol eines asymmetrischen Machtkonglomerats 95 Wynfrid Kriegleder Das Habsburger Imperium 1804-1825. Versuche seiner literarischen Legitimierung 109 Endre Hárs Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit. Max Herzigs Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser (1898) und dessen ungarisches Pendant A király könyve (1899) 123 Jelena Šesnić Images of America from the Austro-Hungarian Periphery. The Example of Croatian Travel Narratives of the United States 143 Drago Roksandić The First World War. A History of Hatred in South-East Europe? 153 Milka Car Theater im Krieg. Koexistenz zwischen Nationalem und Imperialem? 173 Jelena Spreicer Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit. Ambivalenzen des Imperialen am Vorabend des Zusammenbruchs im Roman Die Republikaner (1914-1916) von Marija Jurić Zagorka 187 Marijan Bobinac Ein Skandal in der ‚postimperialen Stunde null‘. Zu Miroslav Krležas Text Eine betrunkene Novembernacht 1918 (Requiem für Habsburg) 207 Ana-Maria Pălimariu Psychoanalytiker aus Czernowitz, nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie 231 Svjetlan Lacko Vidulić Konjunkturen des Imperialen. Zur Transfergeschichte von Hermann Bahrs Dalmatinischer Reise nach 1918 251 Fatima Festić Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s Gender-Theatre of Todesarten Inhalt 6 Vorwort Der vorliegende Sammelband ist auf zwei Konferenzen - eine Tagung in Zagreb im März 2016 und ein Panel im Rahmen der ICLA-Konferenz im Juli 2016 in Wien - zurückzuführen, die im Rahmen des in Kroatien situierten internationalen Forschungsprojektes „Postimperiale Narrative in den zentraleuropäischen Literaturen der Moderne“ stattgefunden haben. Die Publikation des ersten Forschungsbandes des Projektes bietet den Herausgerberinnen und Herausgebern die Möglichkeit, die thematischen Schwerpunkte und Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Zusammenarbeit zu skizzieren. Das Vorhaben, das an das Wiener Forschungsprojekt kakanien revisited anschließt, dieses fortführt und weiterentwickelt, geht von der Frage nach Berührungspunkten im kulturellen Gedächtnis 1 und den Konstruktionsprinzipien gemeinsamer kultureller, vor allem literarischer Strukturen in Zentral- (und Südost-) Europa aus. Im Vordergrund steht dabei der Raum der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, wobei der Fokus auf den letzten beiden Jahrhunderten, das heißt auf den mit dem Einbruch der Moderne eingeleiteten Prozessen der Nationsbildung und den damit zusammenhängenden Auflösungstendenzen übernationaler Staatsgebilde liegt. Das komplexe Netz wechselseitiger Beziehungen auf dem Gebiet der Donaumonarchie, ein Netz, welches sich insbesondere durch kulturelle Differenzen und asymmetrische Machtverhältnisse wie auch kulturelle Wechselbeziehungen (z.B. literarische Einflüsse, interkulturelle Dialoge, etc.) konstituiert, wird unter dem Begriff des (Post-)Imperialen gefasst. In Analogie zum Begriff des Postkolonialen verweist die Präposition nicht ausschließlich auf ein Ende beziehungsweise einen abgeschlossenen Prozess, sondern auch auf die fortwährenden Wirkungen des imperialen Erbes in der Kultur, Literatur und Politik. Mit ‚postimperial‘ ist freilich auch eine bestimmte reflexive und retrospektive Fokalisierung intendiert, die Geschichte dieser auf vormoderne Kulturformen zurückgehenden imperialen Komplexe aus einer kulturanalytischen und zugleich transnationalen Perspektive zu beschreiben. Damit ist wie bei den postkolonialen Studien auch eine gewisse Verschiebung des Fokus beabsichtigt, wie eine Umkehrung von Zentrum und Peripherie. Weiters soll ein gewisses Augenmerk auf die marginalisierten und randständigen Literaturen gelegt werden sowie auf die oftmals komplizierten und vielschichtigen Formen von Kulturtransfer. Insbesondere das - in der postkolonialen Theoriebildung aktualisierte - Oppositionspaar Zentrum/ Peripherie verfügt über eine eigene Dynamik. 1 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992. Die Untersuchung dieses oftmals als dichotom charakterisierten Verhältnisses birgt die Möglichkeit, reale gesellschaftliche Machtverhältnisse wie auch die durch sie bedingte Praxis der symbolischen und narrativen Identitätskonstruktionen in der Literatur (und Kultur) zentraleuropäischer Länder zu erforschen. Die Asymmetrie in der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung der Kronländer im Verhältnis zum imperialen Zentrum impliziert das Vorhandensein potenziell imperial(istisch)er Herrschaftsformen. 2 Im Verhältnis von Kultur und Herrschaft ist eine weitere wichtige Frage des Projekts angelegt, die Frage, ob sich die Habsburger Monarchie auch als ein (semi)koloniales Reich begreifen lässt. Bei der theoretischen Beschäftigung mit diesem Sachverhalt darf der Unterschied zwischen dem ‚klassischen‘ Übersee-Kolonialismus und dem sogenannten europäischen Binnenkolonialismus nicht übersehen werden. Magris’ vielzitierte Studie wird dabei nicht allein als ein Meilenstein auf dem Weg zu einer spezifisch ‚österreichischen‘ Literaturgeschichte, sondern auch als ein Text verstanden, der ähnlich wie Stefan Zweigs Erinnerungsbuch Die Welt von gestern den Habsburgischen Mythos maßgeblich mitgeprägt hat. Der Triestiner Germanist und Schriftsteller hat sich mit dieser Studie und mit seinem nachfolgenden literarischen Werk gleichsam in dieses Narrativ eingeschrieben. Kritischen Stimmen 3 folgend soll nicht behauptet werden, dass sämtliche Texte, die vor und nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie geschrieben wurden, dieses habsburgische Narrativ thematisieren oder präsupponieren. Umgekehrt gibt es freilich in den nicht-deutschsprachigen Literaturen wichtige Texte, die sich von Krleža bis Hašek auf unterschiedliche, oft kritische Weise mit dem symbolischen Bestand dieses ‚Mythos‘ auseinandersetzen. Der Begriff des Imperiums ist aus der geopolitischen Geschichte entlehnt und kann sowohl auf das übernationale Staatsgebilde des Habsburgerreiches 2 Vgl. Magris, Claudio: Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna. Torino: Einaudi 1963; Münkler, Herfried: Imperien: die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005; Barth, Boris; Osterhammel, Jürgen: Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz: UVK Verl.-Ges. 2005; Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009. 3 Achberger, Friedrich: Die Inflation und zeitgenössische Literatur, in: Kadrnoska, Franz (Hg.): Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1933. Wien, München, Zürich: Europa-Verl. 1981, S. 29-43; Schmidt-Dengler, Wendelin: Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien: Böhlau 2002; Müller, Karl; Wagener, Hans: Österreich 1918 und die Folgen. Geschichte, Literatur, Theater und Film. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2009; Kucher, Heinz Primus; Bertschik, Julia (Hgg.): „baustelle kultur“. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918-1933/ 38. Bielefeld: Aisthesis 2011. Vorwort 8 wie auch auf andere, für den untersuchten (Zeit-)Raum bedeutende staatliche Formationen wie Osmanisches, Russisches oder Hohenzollern-Reich angewendet werden. Bei diesen territorialen Gebieten handelt es sich um Machtbereiche, an denen sich transnational angelegte Gedächtnispotenziale beleuchten lassen. In unserem Projekt wird das ‚Imperium‘ neben seiner rechtlich, kriegerisch oder religiös legitimierten Verfasstheit als ein komplexes Narrativ verstanden, das unterschiedliche, durch gemeinsame Erfahrungen entstandene Unternarrative im kollektiven Gedächtnis kumuliert. Zugleich wird es auch als ein übernationaler Raum von erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten verstanden, in dem oft divergierende Narrative und Erzählstrategien entstehen, die sich in veränderter Form bis in unsere Gegenwart perpetuieren. Der narratologische Kontext des Imperiums-Begriffs ist mit unserer Überzeugung verbunden, dass sich nationale, zugleich aber auch übernational-imperiale Kulturen als „Erzählgemeinschaften“ 4 betrachten lassen, die sich voneinander gerade hinsichtlich ihres Erzählreservoirs unterscheiden. Wenn von der Habsburgischen Monarchie die Rede ist - und ähnliches gilt auch für den Begriff Zentraleuropa -, so sind die Beiträger und Beiträgerinnen weder am ‚Recycling‘ ihrer nostalgischen Potenziale noch an deren politisch-ideologischer Verdammung (‚Völkerkerker‘) interessiert. In den Vordergrund wird hingegen das Widerspiel der kulturellen Konzepte zwischen der übernationalen und den einzelnen nationalen Sphären wie auch zwischen den nationalen Sphären untereinander gerückt. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei insbesondere auf die Verquickung von Kultur, Sprache und Politik in diesem kulturellen Raum, so etwa auf die Dynamik von zentrifugalen und zentripetalen Kräften, von Partikularismus und Universalismus. Als Untersuchungsbasis dient hier insbesondere die Literatur, jenes Medium, das über die besondere Fähigkeit verfügt, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses und damit auch die Prozesse individueller wie auch kollektiver Identitätsbildung komplex darzustellen. In diesem Zusammenhang wird vor allem der Frage nachgegangen, wie nationale Homogenisierungsprozesse und imperiale Geltungsansprüche im Medium der Literatur funktionieren, wie sie miteinander und gegeneinander in Berührung geraten und wie sie dabei für konkrete (politische, ideologische, ästhetische) Zwecke instrumentalisiert werden können. Der vorliegende Band enthält detaillierte Analysen exemplarischer Texte aus der deutschsprachigen, kroatischen wie auch anderen zentraleuropäischen Literaturen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, wobei 4 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine methodologische Einführung. Wien, New York: Springer 2002. Vorwort 9 in bestimmten Fällen auch ältere Texte herangezogen werden, die der Untersuchung eine historische Tiefendimension verleihen. Wie einige Beiträge zeigen, schließt der vorliegende transdisziplinär Band die Geschichtswissenschaften keineswegs aus, sondern sieht deren Befunde im vorliegenden Themenbereich als essentiell an. Gleichwohl sind der Sammelband wie das gesamte Forschungsprojekt gewissermaßen auf einer Metaebene angesiedelt. Nachgegangen wird nämlich weniger bestimmten historischen Ereignissen selbst, sondern deren symbolischer Bearbeitung: Narrative, Bilder, symbolische Formen, Identitäts- und Gedächtniskonstruktionen, die auf vielfältige Überschneidungen von kulturell produzierten Räumen hinweisen. Somit wirft unser Projekt auch imagologische, 5 an den Prozess der nation building angelehnte Fragen auf, wobei im Vordergrund die Produktion von Auto- und Heterostereotypen stehen. Ungeachtet der Tatsache, dass postkoloniale Kritiker und Kritikerinnen Österreich-Ungarn in der Regel nicht als koloniale Macht bezeichnen, plädiert Clemens Ruthner in seinem Beitrag unter dem Titel Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in Kakanien dafür, österreichische Herrschaft in Bosnien zwischen 1878 und 1918 als Krypto-Kolonialismus zu kategorisieren. Dementsprechend ist für Ruthner der österreichische Kolonialismus ein „Ersatzkolonialismus“, „der den internationalen Wettlauf um Kolonien, den Österreich-Ungarn als traditionelle Landmacht verschlafen hat, stattdessen mit expansiven Ersatzhandlungen auf dem Balkan substituiert“. Während im ersten Teil des Beitrags ein systematischer Überblick über bisherige (post-) koloniale Theorien und die jeweiligen Definitionen der kolonialen Situation geliefert wird, werden im zweiten Teil neun Parameter formuliert, nach denen es möglich wäre, Bosnien und Herzegowina als Kolonie der Doppelmonarchie zu definieren. Eine präzisere Bestimmung des Imperialen versucht der Beitrag Das Melancholische und das Imperiale. Mit einem Seitenblick auf Joseph Roth von Wolfgang Müller-Funk, in dem eine Klärung des Imperialen im Hinblick auf liminale Strategien vorgenommen wird. Müller-Funk stellt in Anlehnung an Herfried Münkler und Jürgen Osterhammel die These auf, der Unterschied zwischen Nationalstaaten und Imperien ließe sich am jeweils unterschiedlichen Stellenwert der Grenze erkennen: Während im Fall von Nationalstaaten innerhalb der Grenze kulturelle Homogenität gepflegt wird, liegt die Anziehungskraft des Imperialen in der Durchlässigkeit seiner Grenzen, die Vielfalt und Heterogenität geradezu stiften. Die Marginalisierung territorialer Imperien in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildet die Basis für 5 Dukić, Davor (Hg.): Imagologie heute. Ergebnisse, Herausforderungen, Perspektiven. Bonn: Bouvier 2012. Vorwort 10 die Entstehung jener nostalgischer Narrative, die Claudio Magris in seiner Studie Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur analysiert. Bei dem führenden Autor des Habsburgischen Mythos - Joseph Roth - wird ein Zustand der Melancholie konstatiert, der von Müller-Funk mit Rekurs auf Sigmund Freud und Wolf Lepenies als Reaktion auf den gewaltigen gesellschaftlich-politischen Umbruch bzw. den Zerfall der Doppelmonarchie gedeutet wird. Mythos und Melancholie sind auch im Beitrag von Johanna Chovanec zentrale analytische Begriffe (Istanbul: eine melancholische Stadt im Kontext des osmanischen Mythos). In Analogie zum Magris’schen Habsburgischen Mythos wird der Umriss eines Osmanischen Mythos in der türkischen Literatur herausgearbeitet, dessen Entwicklung drei Phasen durchlief. Genauso wie beim Habsburgischen rückt im Falle des Osmanischen Mythos in der Literatur eine überindividuelle Melancholie in den Vordergrund, die sich allerdings „von antiken Vorstellungen der schwermütigen Disposition unterscheidet und auf Denker wie Robert Burton zurückgeht“. Die Melancholie ist bei Chovanec als kollektives (post-)imperiales Narrativ gedacht, dass sich mit Themen wie Modernisierung und einem damit verbundenen kulturellen Identitätsverlust auseinandersetzt. Den Beginn des Osmanischen Mythos datiert Chovanec auf das Jahr 1870, als erste osmanische Romane, welche die Themen der Verwestlichung und Europäisierung bearbeiten, veröffentlicht wurden. Der ersten Phase, die sich mit den letzten Jahren des Osmanischen Reiches (1870-1922) deckt, folgten die zweite, die 1923 mit der Gründung der Republik Türkei ansetzt und bis 1979 dauert, und die dritte (vom Militärputsch 1980 bis heute). Die unterschiedlichen Stufen der Durchlässigkeit von Grenze(n) zwischen dem Eigenen und dem Fremden sowie die entsprechenden theoretischen Konzepte, die in der Forschung postimperialer Phänomene eingesetzt werden können, werden im Beitrag von Christian Kirchmeier (Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern. Zur politischen Topologie des Fremden) fokussiert. Kirchmeier entwickelt eine „Typologie von Raumkonzepten des Fremden“, wobei die vorgeschlagenen analytischen Kategorien anhand drei literarischer Beispiele veranschaulicht werden. Unter Alienität, die am Beispiel von Georg Fosters Reise um die Welt (1778/ 1780) analysiert wird, versteht der Verfasser „die […] kognitive Form des Fremden, die topologisch aus dem Jenseits des Erfahrungsraums stammt, […] also in der Tat eine transzendente Fremdheit“ bzw. eine unüberschreitbare Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die als charakteristisch für den europäischen Kolonialismus bezeichnet werden kann. Da Kirchmeier Fremdheit in ihren unterschiedlichen Stufen betrachtet, wird eine gesenkte Stufe der absoluten Fremdheit wie bei Forster als Alterität bezeichnet. Alterität stellt die für Vorwort 11 die Modernität typische Gegenüberstellung vom Ich und dem Anderen dar: Statt absoluter Fremdheit handelt es sich hier, wie im Roman Homo faber von Max Frisch, um eine „Fremdheit des Ichs“. Die aus der Perspektive postimperialer Studien interessanteste ist die anschließende, dritte Kategorie, die anhand von Joseph Roths Roman Radetzkymarsch analysiert wird: Liminalität, die durch ein antagonistisches Verhältnis der Peripherie zur Kultur im imperialen Zentrum entsteht und ausgerechnet in der mit dem Phänomen des Postimperialen beschäftigten Literatur am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Nach Beiträgen, in denen (post-)kolonialen und (post-)imperialen Konzepten aus der theoretischen Perspektive nachgegangen wird, eröffnet der Beitrag von Andrea Seidler (Gratwanderung zwischen Loyalität und Resistenz. Die ungarische Garde Maria Theresias als ambivalentes Symbol eines asymmetrischen Machtkonglomerats) den auf die Analyse konkreter (post-) imperialer Phänomene in der Literatur und Kultur orientierten Teil des Sammelbandes. Seidler schildert den Lebensweg des ungarischen, 1746 geborenen Dichters und Philosophen Georg Bessenyei, der wie zahlreiche andere Adelige aus Ungarn Mitglied der königlich-ungarischen Leibgarde Maria Theresias wurde. Ausgehend von programmatischen Schriften des Dichters wird von Seidler das Paradox von Bessenyeis Loyalität gegenüber Maria Theresia einerseits und seiner kritischen Stellungnahme zu den Reformversuchen Joseph II. als Zeichen einer dem ungarischen Adel inhärenten Ambivalenz gegenüber der imperialen Politik Wiens gelesen. Im Beitrag Wynfrid Kriegleders unter dem Titel Das Habsburger Imperium 1804-1825. Versuche einer literarischen Legitimisierung wird der Frage nachgegangen, inwiefern die literarische Produktion in der Donaumonarchie in der genannten Zeitspanne, in der die ideologische Grundlage für eine erhoffte pandeutsche Einigung entsteht, von diesem Ziel abweicht. Kriegleder stellt die prekäre Situation deutsch schreibender Autoren in der Monarchie dar, die aufgrund der Tatsache, dass sie auf Deutsch schreiben, sich sprachnational als Deutsche definieren, aber gleichzeitig das Habsburgerreich als den logischen Nachfolger des Heiligen Römischen Reichs der Deutschen Nation ansehen. Endre Hárs’ Beitrag Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit. Max Herzigs Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser (1898) und dessen ungarisches Pendant, A király könyve (1899) bietet eine kontrastive Analyse zweier Bücher: Das ist einerseits der von Max Herzig zum fünfzigsten Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs herausgegebene Prachtband Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser (1898) und andererseits dessen ungarisches Pendant, A Király Könyve (Das Buch vom König, 1899). In diesen Werken wird „Viribus unitis“, der berühmte Wahlspruch Kaiser Franz Josephs I. sowohl zum Organisationsprinzip der Vorwort 12 Bände als auch zur ideologischen Matrix des Habsburgerreiches erhoben. Die komparative Analyse dieser beiden Texte zeugt jedoch von einem „gewandelte[n] Erzählstil und eine[r] Umstrukturierung der signifikanten Themen“, anhand derer der Verfasser die politische Differenz und zentripetale Tendenzen in der Doppelmonarchie veranschaulicht. Im ersten englischsprachigen Beitrag des Sammelbandes beschäftigt sich Jelena Šesnić mit Vor- und Darstellungen von den Vereinigten Staaten in Reiseberichten, in denen - am Beispiel des Schicksals kroatischer Emigranten - ein komplexes Bild von ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen in Kroatien nach dem Ungarisch-Kroatischen Ausgleich 1868 wie auch unter den Emigranten in den Vereinigten Staaten gezeichnet wird. Der analysierte Korpus umfasst Reiseberichte zweier prominenter Autoren: Vlaho Bukovac (Moj život) und Ante Tresić Pavičić (Od Atlantika do Pacifika). In ihrer Analyse zeigt Šesnić, dass Kroatien durch den Ungarisch-Kroatischen Ausgleich in eine subkoloniale Position gezwungen wurde, ein Umstand, der sich auch auf die instabilen Identitäten kroatischer Emigranten und Emigrantinnen auswirkt und - wie aus den Reiseberichten hervorgeht - am Mangel des nationalen Bewusstseins und des kulturellen Kapitals abzulesen ist. Eine im Kontext des Sammelbandes neue Perspektive auf den Ersten Weltkrieg und die Doppelmonarchie bietet Drago Roksandić im Beitrag The First World War - A History of Hatred in South-East Europe? an, in dem die prekäre politische Situation in Österreich-Ungarn als Quelle eines gefährlichen und ungezügelten Hasses zwischen verschiedenen Ethnien in der Monarchie geschildert wird. Dies wird in erster Linie anhand der unterschiedlichen Einstellungen zur Okkupation von Bosnien und Herzegowina dargelegt: Während sie von der katholischen Bevölkerung begrüßt wurde, nahmen orthodoxe und muslimische Einwohner des Landes radikal entgegengesetzte Positionen ein, deren Unvereinbarkeit auch spätere tragische Ereignisse in Gang setzte. Die ambivalente nationale Identitätspolitik in Kroatien während des Ersten Weltkriegs wird zum Thema im Beitrag von Milka Car (Theater im Krieg - Koexistenz zwischen Nationalem und Imperialem? ). Am Spielplan des Zagreber Theaters wird die Koexistenz von nationalbildenden und nationalintegrativen Funktionen der Schaubühne in Kriegszeiten festgestellt, welche die Verfasserin aufgrund des „Repertoirebildes“ (N. Batušić) in den Spielzeiten zwischen 1914/ 15 und 1917/ 18 untersucht. Während sich Car mit der Reaktion des zeitgenössischen kroatischen Theaters auf das Kriegsgeschehen und ideologische Ambivalenzen in dessen Repertoire beschäftigt, werden vergleichbare Tendenzen und Strategien in der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur von Jelena Spreicer am Beispiel des Romans Republi- Vorwort 13 kanci (1914-1916) von Marija Jurić Zagorka, der führenden kroatischen Autorin von Unterhaltungsromanen, untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass die didaktisch inspirierte Romanpoetik Zagorkas - trotz ihrer anscheinend klaren antiungarischen und antiimperialen Einstellung - auch ein äußerst ambivalentes Verhältnis zum Konzept der imperialen Herrschaft aufweist. Dieses wird als Symptom grundlegender Orientierungslosigkeit und Paralyse im Zustand einer tiefen gesellschaftlichen und politischen Krise gedeutet. Die narrative Verarbeitung der unmittelbaren Nachkriegszeit wird von Marijan Bobinac im Beitrag Ein Skandal in der ‚postimperialen Stunde Null‘. Zu Miroslav Krležas Text Eine betrunkene Novembernacht 1918 (Requiem für Habsburg) fokussiert, wobei Krležas Rekonstruktion eines Aufsehen erregendenen Skandals die Misere der zeitgenössischen kroatischen Elite in den Vordergrund rückt. Krležas Hoffnung, dass nach der Auflösung der kompromittierten k.u.k-Herrschaftsform die südslawischen Völker zu einer nationalen, politischen und sozialen Emanzipation vorstoßen könnten, wird bald, so Bobinac, durch die nüchterne Erkenntnis ersetzt, dass an die Stelle des imperialen Habsburger Reiches ein kleinformatiges, auf Dominanzverhältnissen aufgebautes postimperiales Gebilde getreten sei. Im Beitrag von Ana-Maria Pălimariu (Psychoanalytiker aus Czernowitz, nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie) wird der Fall des „Bukowiner Exzeptionalismus“ thematisiert, eine Bezeichnung, die die Verfasserin zur Verdeutlichung politischer, geschichtlicher und literaturgeschichtlicher Besonderheiten der Bukowina im Gegensatz zu anderen Kronländern der Monarchie verwendet. Ins Zentrum ihres Interesses rückt die jüdisch-deutsche intellektuelle Elite, derer literarische Leistung längst Eingang in den Kanon der deutschsprachigen Literatur fand (Paul Celan, Immanuel Weißglas, Alfred Gong). Das Anliegen der Verfasserin ist es jedoch, im Einklang mit „einer multidisziplinären Öffnung der germanistischen Literaturwissenschaft, die ohnehin die angemessene zukünftige kulturgeschichtlich orientierte Forschung des zentraleuropäischen Raumes wäre“, die Forschungstätigkeit auf den Bereich der Psychoanalyse in Czernowitz zu erweitern und in diesem Zusammenhang die kulturelle und wissenschaftliche Tätigkeit von Wilhelm Stekel, Wilhelm Reich und Robert Flinker vorzustellen. Mit den Fragen der Rezeption von Hermann Bahrs Reisebericht Dalmatinische Reise setzt sich im Beitrag Konjunkturen des Imperialen. Zur Transfergeschichte von Hermann Bahrs Dalmatinischer Reise nach 1918 Svjetlan Lacko Vidulić auseinander. Die Leitfrage seiner Beschäftigung mit der Bahr-Rezeption ist der postimperiale Umgang mit Bahrs Text in radikal veränderten politischen und gesellschaftlichen Umständen, wobei der Schwerpunkt auf die Übersetzungen und ihre Paratexte gelegt wird. Aus der Analyse geht hervor, dass der Übersetzungstransfer von Bahrs Dalmatinischen Reise in einem Vorwort 14 kausalen Zusammenhang mit den veränderten politischen, bzw. imperialen Verhältnissen steht, dass im Prozess des jeweiligen Transfers unterschiedliche Aspekte des Textes ein- oder ausgeblendet werden sowie dass sich beim untersuchten Korpus von Übersetzungen eine Rückübertragung von z.B. Toponymen in die Sprachen Dalmatiens feststellen lässt. Schließlich geht Fatima Festić in ihrem Beitrag (Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s Gender-Theatre of Todesarten) von Ingeborg Bachmanns feministischem Gestus und ihrer Position an der Schwelle zwischen Modernismus und Postmodernismus aus und stellt die Frage nach dem Einfluss des imperialen Erbes auf die von der Autorin entwickelte Erinnerungspoetik und -kultur: „To Bachmann, the Empire continues into the German language, however, diversifying its moves in the languages of the area’s lands, and if communication is lost, then the loss is ceaselessly, iteratively acted out in the psychic repertoires of her artistic means.“ * * * Für die finanzielle und logistische Unterstützung bei der Realisierung des Forschungsprojektes, der beiden Tagungen und des vorliegenden Bandes möchten wir den Geldgebern, der Croatian Science Foundation und dem Dekanat der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, wie auch anderen fördernden Institutionen, insbesondere den Universitäten Zagreb und Wien herzlich danken. Unser Dank gilt auch allen Konferenzteilnehmern und Konferenzteilnehmerinnen für rege Diskussionen und gemeinsame Explorationen auf dem Gebiet der postimperialen Narrative im zentraleuropäischen Raum. Last, but not least danken wir auch dem Francke Verlag und den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe „Kultur - Herrschaft - Differenz“ für die freundliche Aufnahme in ihr Verlagsprogramm. Dank gilt auch jenen Kollegen, die sich am Peer Review-Verfahren beteiligt haben. Marijan Bobinac, Johanna Chovanec, Wolfgang Müller-Funk, Jelena Spreicer, Wien und Zagreb im Dezember 2017 Vorwort 15 Clemens Ruthner (Dublin) Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ Einige Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas, 1878-1918 While historians such as Oscar Jászi and Ferenc Eckhardt argued that the eastern and southeastern regions of the Habsburg Empire functioned as internal colonies for Austro-Germans and, in part, for Hungarians, postcolonial critics have rarely considered Austria-Hungary as a case of colonialism. […] While the paradigms developed for the British and French Empires might not be applicable to the Habsburg Empire, they are defined in terms of the East-versus-West distinction that was also at the core of the Habsburg expansion to the East. Just like the British and the French colonizers, the Habsburgs had a mission civilatrice in the ‚barbaric‘ East. […] Unlike the British and French rule in Africa, Asia, and Latin America, however, the Habsburgs’ rule was not characterized by terror and massacre, nor was the conflict colonizer-versus-colonized always spelled out in racial terms. 1 * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Glajar, Valentina: From Halb-Asien to Europe. Contrasting Representations of Austrian Bukovina, in: Modern Austrian Literature 34 (2001), H. 1/ 2, S. 15-35. Die Autorin bezieht sich u.a. auf Jászi, Oscar: The Dissolution of the Habsburg Monarchy. Chicago: University of Chicago Press 1929; sowie auf Arens, Katherine: Central Europe and the Nationalist Paradigm, in: Working Papers of the Center for Austrian Studies 96-1 (März 1996). 2 Paradigmatisch etwa bei Kann, Robert A.: Trends Towards Colonialism in the Habsburg Empire, 1878-1918: The Case of Bosnia-Herzegovina, 1878-1914, in: Rowney, D.K.; Orchard, G.E. (Hgg.): Russian and Slavonic History. Columbus: Slavica Publ. 1977, S. 164-180, hier S. 164. Auch hinter kritischen Bestimmungen der k.u.k. Monarchie auf der Landkarte des internationalen Kolonialismus um 1900 wie dieser hier schimmert immer wieder nolens volens schemenhaft der „habsburgische Mythos“ (Claudio Magris) durch. Zu lange ist das Credo einer Habsburg-Historiografie der alten Schule immer wieder mantrahaft wiederholt worden: dass nämlich Österreich-Ungarn als über andere (sanftere? ) Herrschaftstechniken als die anderen großen Imperien um 1900 verfügte und schon gar nicht als klassische Landmacht Kolonien besaß. 2 Doch ist letztere These tatsächlich immer noch aufrecht zu erhalten? Aus der oben zitierten Passage aus dem Jahr 2001 - erschienen zeitgleich mit den Gründungsakten unseres informellen internationalen Networks Kakanien revisited 3 - klingt zumindest Ambiguität durch. In meinem abgeschlossenen Buch Habsburgs ,Dark Continent‘: ‚Postkoloniale‘ Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert 4 gehe ich davon aus, dass es auch unabhängig davon, wie man zu den Begrifflichkeiten steht, in diesem Textkorpus mal unterschwellig, mal explizit etwas gibt, das Sylvane Leprun „l’imaginaire coloniale“ 5 genannt hat und Susanne Zantop „colonial fantasies“; 6 Bilderwelten, die auch Ulrich Bach jüngst in seinem Buch The Tropics of Vienna (2016) 7 anhand des utopischen Schrifttums der Jahrhundertwende (bei Leopold Sacher-Masoch, Theodor Herzl, Theodor Hertzka, Lazar von Hellenbach, aber auch Robert Müller und Joseph Roth) analysiert hat. In meiner eigenen Monografie soll die Existenz eines Krypto-Kolonialismus in der k.u.k. Kultur von 1815-1914 anhand von vier Fallstudien verdeutlicht werden: Erstens Grillparzers Argonauten-Trilogie Das Goldene Vließ (1818-20), die ich als quasi-koloniale Odyssee durch das alte Österreich und seine ethnischen Differenzen sehe, wobei die Tagebücher des Autors als Vergleichsmenge des Autors herangezogen werden. Zweitens Peter Altenbergs Skizzenbuch Ashantee (1897), das anlässlich einer sogenannten Völkerschau in Wien entstanden ist und antikoloniales Engagement mit unterschwelliger Erotik in eine merkwürdige und auch unangenehme Spannung versetzt. Drittens Alfred Kubins fantastischen Abenteuerroman Die Andere Seite von 1909, den ich als Staatssatire auf Österreich-Ungarn mit stark kolonialen Zügen interpretiere. Meine letzte Fallstudie schließlich hebt auf das 40-jährige historische habsburgische Intermezzo in Bosnien-Herzegowina ab, das im Sommer und Herbst 1878 von k.u.k. Truppen besetzt wurde. Die koloniale Klangfarbe dieses Unternehmens ist bereits nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Zeitalter der Dekolonisierung gerade begonnen hat, einem renommierten Historiker aus Cambridge, A.J.P. Taylor, aufgefallen; in seinem Klassiker The Habsburg Monarchy 1809-1918 (EA 1948) schreibt er: Clemens Ruthner 18 3 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang/ Plener, Peter/ Ruthner, Clemens (Hgg.): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 1). 4 Erschienen 2017 bei A. Francke Tübingen in derselben Buchreihe wie der vorliegende Sammelband. 5 Leprun, Sylvane: Le theâtre des colonies. Scenographie, acteurs et discours de l’imaginaire dans les expositions 1855-1937. Paris: L’Harmattan 1986. 6 Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870. Durham, London: Duke University Press 1997, S. 2. 7 Bach, Ulrich E.: The Tropics of Vienna. Colonial Utopias of the Habsburg Empire. New York, Oxford: Berghahn 2016 (= Austrian and Habsburg Studies 19). The two provinces were the „white man’s burden“ [! ] of Austria-Hungary. While other European Powers sought colonies in Africa for the purpose, the Habsburg Monarchy exported to Bosnia and Hercegovina its surplus intellectual production - administrators, road builders, archeologists, ethnographers, and even remittance-men. The two provinces received all benefits of Imperial rule: ponderous public buildings; model barracks for the army of occupation; banks, hotels, and cafés; a good water supply for the centres of administration and for the country resorts where the administrators and army officers recovered from the burden of Empire. The real achievement of Austria-Hungary was not on show: when the Empire fell in 1918, 88 per cent of the population was still illiterate. 8 Ebenso formuliert Pieter Judson in seiner New History des Habsburger Reichs von 2016 eine Passage, die rhetorische Züge wie den Hang zur Aufzählung durchaus mit Taylor teilt, nicht unbedingt aber deren Polemik - und dabei hinter der Kolonie das Imperium als Konzept nicht aus den Augen verliert: At the end of the 1870s [...], Austria-Hungary became a colonial power by occupying a piece of Ottoman territory. The resulting thirty-year occupation of Bosnia-Herzegovina provided bureaucrats, ideologists, map makers, technicians of all kinds, teachers, and priests (among others) an unparalleled opportunity to realize Austria-Hungary’s new civilizing mission in Europe. At the same time, Austria-Hungary’s experience occupying Bosnia-Herzegovina created a consensus around the liberal civilizational concepts of empire long after the liberal movement itself had faded into political obscurity. 9 In diesen (wenn auch wenig erfolgreichen? ) k.u.k. Interventionen - vor allem jener Fremdformatierung der bosnisch-herzegowinischen Menschen durch die habsburgische Verwaltung und andere Maßnahmen - sehe auch ich einen österreichischen Ersatzkolonialismus am Werk, der den internationalen Wettlauf um Kolonien, den Österreich-Ungarn als traditionelle Landmacht verschlafen hat, stattdessen mit expansiven Ersatzhandlungen auf dem Balkan substituiert, kurz bevor jener Scramble for Africa seinen vorläufigen Abschluss mit der Berliner Kongo-Konferenz von 1884 findet. Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus-Begriff in Bezug auf Bosnien-Herzegowina findet sich ja auch bereits in zeitgenössischen Quellen. 10 Will man nun aus heuristisch-wissenschaftlichen Gründen - das heißt über eine zeitgenössisch-affirmative und spätere polemische Verwendung als Topos hinaus - Bosnien-Herzegowina als k.u.k. Quasi-Kolonie verstehen, Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 19 8 Taylor, A. J. P.: The Habsburg Monarchy 1809-1918. A History of the Austrian Empire and Austria-Hungary [1948]. Harmondsworth: Penguin 1990, S. 166. 9 Judson, Pieter M.: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2016, S. 329. 10 Vgl. etwa die Belege bei Kolm, Evelyn: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus. Frankfurt/ M. u.a.: P. Lang 2001 (= EHHS 3: 900), S. 237f. empfiehlt sich in Ergänzung zu den in einem früheren Aufsatz 11 diskutierten Positionen eine Ausarbeitung spezifischerer Bestimmungen des Kolonialismus als Dispositiv 12 im Sinne Foucaults. Daraus können in einem zweiten Schritt Kategorien entwickelt werden, mit der sich die „koloniale Situation“ auf dem Westbalkan 1878-1918 beschreiben lässt, um abschließend auf die im Titel formulierte Gegenüberstellung - Post/ Kolonialismus versus Post/ Imperialismus - zurückzukommen. Die dabei programmatische Skizzenhaftigkeit ist auch dem Platzmangel geschuldet. Clemens Ruthner 20 1 Theoretische Fokussierungen: Kolonialismus Schon 1951, ebenso wie Taylor zu jener Zeit also, als der europäische Kolonialismus gerade in Umbruch und Auflösung begriffen war, hat der französische Sozialanthropologe Georges Balandier in einem richtungsweisenden Aufsatz die „situation coloniale“, 13 wie folgt beschrieben: 1) „the domination imposed by a foreign minority, racially (or ethnically) and culturally different, acting in the name of a racial (or ethnic) and cultural superiority dogmatically affirmed“; 2) „this domination linking radically different civilisations into some form of relationship“: 3) „a mechanized, industrialized society with a powerful society, a fast tempo of life, and a Christian background, imposing itself on a non-industrialized, ,backward‘ society“; 4) „the fundamentally antagonistic character of the relationship between the two societies“, das heißt zwischen der Kolonialmacht/ dem Mutterland und den Untertanen in der Kolonie; 5) „the need, in maintaining this domination, not only to resort to force, but also a system of pseudo-justification“, das heißt zum Bei- 11 Vgl. Ruthner, Clemens: ‘K.u.k.Kolonialismus’ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: Csáky, Moritz/ Feichtinger, Johannes/ Prutsch, Ursula (Hgg.) Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2003, S. 111-128. Abrufbar unter: www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CRuthner3.pdf [2003] (Zugriff 20.12.2016). 12 Vgl. Mann, Michael: Das Gewaltdispositiv des modernen Kolonialismus, in: Dabag, Mihran/ Gründer, Horst/ Ketelsen, Uwe-K. (Hgg.) Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid. München: Fink 2004 (= Schriftenreihe Genozid und Gedächtnis), S. 11-133, hier S. 116ff.; Foucault, Michel: Dits et Ecrits 1954-1988. Bd. 3: 1976-1979. Hgg. Daniel Defert und François Ewald. Paris: Gallimard 1994, S. 299ff. 13 Balandier, Georges: The Colonial Situation. A Theoretical Approach [1951], in: Wallerstein, Immanuel (Hg.): Social Change. The Colonial Situation. New York: Wiley 1966, S. 34-81, hier S. 38. spiel die Supponierung rassischer Ungleichheit und die mission civilatrice. 14 D.K. Fieldhouse wiederum hat in seiner Studie zum internationalen Imperialismus als Kolonialismus von 1981, die sich als Alternative zu marxistischer Theoriebildung versteht, folgende Schwerpunkte herausgearbeitet, um das Phänomen zu fassen: die juridische Basis, die essentiellen inneren Widersprüche der Kolonialherrschaft, schließlich ihre Institutionen und national verschiedenen Herrschaftssysteme. Sein Buch schließt mit einer Beschreibung der kolonialen Wirtschaft und ihres Erbes, die sie in den beherrschten Gebieten zurückgelassen hat. 15 Diese Schwerpunkte lassen sich durchaus mit etlichen Detailbeobachtungen vernetzen, die sich in Ballandiers Text - der sich auch als zeitgenössischer Forschungsbericht versteht - finden: 16 → „the pacification“ […] „with respect to the [own] interests of the western powers“ (S. 36); → „economic exploitation [...] based on the seizure of political power“ (S. 37); → „the ideologies used to justify colonialism“ (S. 39); → „the color line, political dependency, virtual non-existing ,social‘ benefits, the lack of contact between natives and the ,dominant caste‘“ (S. 38). → „Colonial policy is the child of industrial policy“ (S. 40): „the quest for raw materials“ - deren Ausbeutung und Einfuhr-Ausfuhr weitgehend in den Händen der Kolonialmacht bleibt (S. 41); → „property dispossession“ (S. 41); → „proletarization“ and „de-tribalization of the indigenous people“ (S. 42); → „significant patterns of culture-change“ (S. 43); Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 21 14 Ebenda, S. 54f. - Die eminent wichtige Rolle legitimatorischer Diskurse wie z.B. der ,rassischen‘ Ungleichheit und der mission civilatrice haben neben Balandier auch etliche andere Forscher/ innen herausgestrichen, vgl. Fischer-Tiné, Harald/ Mann, Michael: Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, New-Delhi: Anthem 2004; Barth, Boris/ Osterhammel, Jürgen (Hgg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005. 15 Vgl. Fieldhouse, D. K.: Colonialism 1870-1945. An Introduction. London: Weidenfeld & Nicolson 1981, S. 16. - Die äußerst problematischen Schlussfolgerungen, die Fieldhouse als liberaler Apologet des Kolonialismus zog (vgl. ebenda, S. 48ff.) - nämlich, dass dieser unumgänglich gewesen wäre und dass ohne diesen sich die Staaten der Dritten Welt sich noch schlechter entwickelt hätten - bleiben freilich dezidiert aus der folgenden Argumentation ausgeschlossen. 16 Vgl. ebenda, S. 51-108. Konkrete Seitennachweise erfolgen in der Auflistung. → „the role of the judicial and administrative apparatus charged with maintaining this domination“ (S. 44); → „the arbitrariness of the colonial boundaries and administrative divisions“ (S. 44); → the „juxtaposing of incompatible or antagonistic ethnic groups“ (S. 45) and the creation of „plural societies“ (S. 45) that are not „not perfectly homogenous“ (S. 48); 17 → „the European minority exercises its influence over the native population with a force disproportionate to its numbers“ (S. 45); → a „middle class“ sent to colonies with the „notion of heroic character“ (S. 47); → the „recourse to stereotypes“ (S. 48) and the „racist foundation“ of colonial rule (S. 50); → „the spirit of Divide Et Impera as maxime of colonial rule“ (S. 50); → „colonial societies being both traditionalist and modernist“ - „that particular state of ambiguity noted by several observers“ (S. 53) und → „crises marking the stages of the so-called process of ,evolution‘“ (S. 56). Auf Zentraleuropa abhebend diskutierte auch der Sammelband Eigene und andere Fremde (2005), der im Dunstkreis unseres postkakanischen Netzwerks entstand, die Begrifflichkeit des Kolonialismus und seiner Ausprägungen. In Hinblick auf eine Anwendung dieser Begrifflichkeit auf die Habsburger Monarchie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert beziehungsweise die Sowjetunion und die sozialistischen Länder im 20. Jahrhundert sah die in Frankreich lebende kroatische Philosophin Rada Iveković etwa in einer Kolonie ein „brutal ausgebeutetes“, „nicht-souveränes Land“, dessen Bevölkerung von unterschiedlicher Herkunft und „hinsichtlich der Ordnung der Körper, der Staatsbürgerschaft, der Freiheit und Rechte untergeordnet“ sei; die Ausbeutung der kolonialen Peripherie trage zur Entwicklung des Kapitalismus im imperialen Zentrum bei. 18 Wolfgang Müller-Funk und Birgit Wagner wiederum zählten in Anschluss an Hannah Arendts Imperialismus-Buch 19 folgende auch für eine binneneuropäische Verwendung des Kolonialismus-Begriffs relevanten Kategorien auf: die „systematische und gewaltsame Clemens Ruthner 22 17 Balandier spricht hier - in unseren Zusammenhang nicht uninteressant - von einer „Balkanization“ (ebenda, S. 48). 18 Iveković, Rada: Die Spaltung der Vernunft und der postkoloniale Gegenschlag, in: Müller-Funk, Wolfgang/ Wagner, Birgit (Hgg.): Eigene und andere Fremde. ,Postkoloniale‘ Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia + Kant 2005 (= Reihe Kultur. Wissenschaften 8.4), S. 48-64, hier S. 57f. 19 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Frankfurt/ M.: EVA 1955. Landnahme“, die „weitgehende Rechtlosigkeit der verbliebenen“ autochthonen Bevölkerung, der „Import europäischer Menschen“, die „Einführung der eigenen Kultur“ („in Technik, Verwaltung, Sprache, Gesetzgebung, Schulsystem, Ökonomie“) sowie die „Ausbeutung des kolonialen Reichtums“. 20 2 Koloniale Beschreibungskategorien: Bosnien-Herzegowina Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 23 Aus der im vorangegangenen Abschnitt zusammengefassten Phänomenologie des Kolonialismus heraus können nun neun Parameter formuliert werden, die meines Erachtens zulassen, Bosnien-Herzegowina als das einzige unter den k.u.k. Territorien anzusehen, das völlig unpolemisch und ohne allzu viel Überspannung der Begrifflichkeit als Kolonie bezeichnet werden kann (wobei freilich auch zu fragen wäre, ob nicht auch die osmanische Herrschaft schon gewisse koloniale Züge aufwies): 21 1.) Die militärische Landnahme nach einer Mandatszuweisung durch eine internationale Konferenz, nämlich den Berliner Kongress 1878, ist zweifellos eine wichtige Kategorie für eine historisch-sozialwissenschaftliche Einschätzung des Status von Bosnien-Herzegowina, die aufgrund ihrer Gewalttätigkeit gerne aus dem Narrativ der „Friedens- und Kulturmission“ herausredigiert wird, mit der das Habsburger Reich gleichsam seine staatliche Idee exportiert. 22 Ähnliche Okkupationsmodi kennzeichnen aber auch die koloniale Erwerbung von „Schutzgebieten“ durch die anderen europäischen Mächte etwa im Gefolge der Kongo-Konferenz von Berlin 1884/ 85. 23 2.) Der rechtliche Status des Gebiets. In seinen vier ‚kakanischen‘ Jahrzehnten erhielt Bosnien-Herzegowina nie den Status eines Kronlands (wie die regulären Bestandteile des Reichs), sondern blieb Reichsland(e) 24 (ver- 20 Müller-Funk, Wolfgang/ Wagner, Birgit: Diskurse des Postkolonialen, in: Eigene und andere Fremde. ,Postkoloniale‘ Konflikte im europäischen Kontext. Hgg. dies. Wien: Turia + Kant 2005 (= Reihe Kultur.Wissenschaften 8.4), S. 9-27, hier S. 11f. 21 Vgl. Albrecht, Monika: Comparative Postcolonial Studies. East-Central and Southeastern Europe as a Postcolonial Space. [Unveröff. Vortrag, gehalten auf der Tagung Memory and Postcolonial Studies: Synergies and New Directions an der University of Nottingham (GB), 10. 06. 2016]. 22 Vgl. Judson: The Habsburg Empire, S. 330: „The effective transmission of a civilizing mission to Europe’s East, understood in economic, social, legal, and cultural terms, represented the culmination of a transformed Austrian imperial idea whose role now officially included the export of its work beyond its own borders.“ 23 Vgl. Fieldhouse: Colonialism 1870-1945, S. 16ff. 24 Dieser Terminus wird häufig in Bezug auf Bosnien-Herzegowina verwendet, etwa bei Attems, Moriz Graf: Bosnien einst und jetzt. Wien: L.W. Seidel 1913, S. 32; Michel, Rudolf: Fahrten in den Reichslanden. Bilder und Skizzen aus Bosnien und der Hercegovina. Wien, Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag 1912; u.a. gleichbar mit dem Statut des 1871 annektierten Elsaß-Lothringen im deutschen Kaiserreich) - eine Art Appendix der Monarchie, der keiner der beiden Reichshälften zugeschlagen wurde, sondern in einer komplizierten Konstruktion via das gemeinsame Finanzministerium zu beiden gehörte, was zur österreichisch-ungarischen Konkurrenzsituation beitrug und die weitere Entwicklung behinderte. 25 Eine Folge davon war freilich auch, dass Bosnien-Herzegowina das einzige k.u.k. Territorium war, dass in keinem der beiden Parlamente in Wien und Budapest eine gewählte gesetzliche Vertretung hatte. 26 Ein regionaler Landtag (Sabor) ebenso wie eine Verfassung für die besetzten Gebiete wurden erst 1910 nach deren Annexion (1908) eingeführt; 27 im Parteienzwist wurde diese Volksvertretung jedoch rasch dysfunktional und im Zuge des Ausnahmezustands von 1914 wie auch die anderen k.u.k. Parlamente wieder geschlossen. 28 3.) „Indirect rule“. Ähnlich wie die britische 29 Herrschaft über Indien stützte sich auch die österreichisch-ungarische Besatzungsmacht auf die Re- Clemens Ruthner 24 25 Vgl. Sugar, Peter F.: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, 1878-1918. Seattle: Univ. of Washington Pr. 1963, S. 26; vgl. auch Burián, Stephan Graf: Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im Kriege. Berlin: Ullstein 1923, S. 226. Zu völkerrechtlichen Aspekten s. Classen, Lothar: Der völkerrechtliche Status von Bosnien-Herzegowina nach dem Berliner Vertrag vom 13.7.1878. Bern u.a.: P. Lang 2004 (= Rechts- und sozialwissenschaftl. Reihe 32). 26 Vgl. Aleksov, Bojan: Habsburg’s ,Colonial Experiment‘ in Bosnia and Hercegovina revisited. In: Brunnbauer, Ulf/ Helmedach, Andreas/ Troebst, Stefan (Hgg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geb. München: Oldenbourg 2007 (= Südosteurop. Arbeiten), S. 201-216, hier S. 203. - Ein amerikanischer Historiker hat deshalb auch in Anlehnung an die Sowjetunion vorgeschlagen, von einer bosnischen „satrapy“ zu sprechen (McCagg, William O.: The Soviet Union and the Habsburg Empire. Problems of Comparison. In: Rudolph, Richard L./ Good, David F. (Hgg.): Nationalism and Empire. The Habsburg Empire and the Soviet Union. New York: St. Martin’s Press 1992, S. 45-63, hier S. 50f.). 27 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die Annexion von Bosnien-Herzegowina und die Probleme bei der Erlassung des Landesstatutes, in: Südost-Forschungen [München] 68 (2009), S. 247-297. Zur Annexion vgl. auch Classen: Der völkerrechtliche Status von Bosnien-Herzegowina, S. 264ff. 28 Vgl. Judson: The Habsburg Empire, S. 379: „Yet under the new constitutional situation Bosnia existed in a kind of unacknowledged legal limbo [...]“. Vgl. auch Vgl. Imamović, Mustafa: Bosnia and Herzegovina. The evolution of its political and legal institutions. Sarajevo: Magistrat 2006. 29 Vgl. Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ,Civilizing Mission‘ in Bosnia, 1878-1914. Oxford: Oxford Univ. Press 2007, S. 26f. - Es ist freilich davon auszugehen, dass Österreich-Ungarn ohne den Ersten Weltkrieg zu einer stärkeren Eingliederung der beiden Provinzen ins Reich übergegangen und damit eher dem Vorbild der französischen Herrschaft in Algerien gefolgt wäre. Zum Unterschied des formierbarkeit und Kollaboration existierender autochthoner Eliten, das heißt vornehmlich die Grundherren und andere muslimische Oberschichten. 30 (Dies verhinderte letztlich auch die Durchführung einer dringend nötigen Landreform, 31 was zur Frustration der mehrheitlich christlichen Landbevölkerung beitrug, die gerade in dieser Frage ihre einschlägige Hoffnung auf die neue k.u.k. Herrschaft gesetzt hatte.) 32 4.) Administrative Bevormundung. Österreich-Ungarn setzte eine von außen kommende, 33 ausufernde und paternalistisch 34 agierende Zivilverwaltung ein, die auch in ihren unteren Rängen örtliche Bewerber diskriminierte, insbesondere, wenn es sich um Serben oder Muslime handelte. 35 Die mittlerweile teilweise editierten Akten der k.u.k. Landesregierung lassen einen Einblick auf das gepflogene micro-management zu, das in alle Belange des gesellschaftlichen Lebens eingriff und sich Fragen widmete, wie ob beispielsbritischen ,indirect rule‘ und der französischen Direktherrschaft, vgl. Fieldhouse: Colonialism 1870-1945, S. 29ff. u. 36ff. Vgl. außerdem Gammerl, Benno: Untertanen, Staatsbügrer und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburger Reich 1867−1918. Göttingen: V & R 2010. 30 So äußert sich etwa ein prominenter deutscher Sozialdemokrat retrospektiv äußerst kritisch: „Den [...] Oesterreichern lag vielleicht gar nichts daran, das Morgenland zurückzudrängen. Sie stützten sich ja, weil es am kommodsten war, auf die islamische Herrenschicht der Begs“ (Wendel, Hermann: Von Belgrad bis Bucari. Eine unphilosophische Reise durch Westserbien, Bosnien, Hercegovina, Montenegro und Dalmatien. Frankfurt/ M.: Soc. Dr. 1922, S. 44). Vgl. auch Kolm: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus, S. 240. 31 Vgl. ebenda., 241f., und Aleksov: Habsburg’s ,Colonial Experiment‘ in Bosnia and Hercegovina revisited, S. 209. - Erst 1911 wurde die Kmetenfrage dahingehend - schleppend - gelöst, dass man den abhängigen Landpächtern ermöglichte, sich durch ein neues Landeskreditsystem von ihren Grundherren freizukaufen (vgl. Burián: Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung, S. 227); auf diese Weise hätte eine Neuordnung der Besitzverhältnisse allerdings etliche Jahrzehnte gedauert, wenn nicht diese Entwicklung ohnehin durch den Ersten Weltkrieg obsolet geworden wäre. 32 Vgl. etwa Sugar: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, S. 33ff. 33 Im Vergleich zur osmanischen Zeit nahm die Anzahl der mit der Verwaltung betrauten Landesbeamten bis 1908 von 120 auf rund 9.500 zu (Pinson, Mark: The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1994, S. 119f.; vgl. Sugar: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, S. 29). 34 Vgl. Fieldhouse: Colonialism 1870-1945, S. 43 (über die Zivilverwaltungen der europäischen Kolonialmächte): „most seem to have fallen back on a benevolently conservative paternalism“. 35 1904 waren nur 26,5% aller in der Verwaltung Bosniens tätigen Beamten auch dort geboren, die Mehrheit davon katholisch, lediglich 3% serbisch-orthodox bzw. 5% muslimisch (vgl. Pavlowitch, Stevan K.: A History of the Balkans, 1904-1945. London, New York: Longman 1999, S.117; Dedijer u.a.: History of Yugoslavia. Hg. v. Marie Longyear, Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 25 übers. v. Kordija Kveder. New York u.a.: McGraw-Hill 1974, S. 449; Jelavich, Barbara: History of the Balkans. 2 Bde. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1983, S. 60). 36 Vgl. Sugar: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, S. 26, 30f. 37 Wendel: Von Belgrad bis Bucari, S. 60. 38 Vgl. Heuberger, Valeria/ Illming, Heinz: Bosnien-Herzegowina 1878-1918. Alte Ansichten vom gelungenen Zusammenleben. Vienna: Brandstätter 1994. 39 Vgl. Okey: Taming Balkan Nationalism; Donia, Robert: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878-1918. New York: Columbia Univ. Press 1981. 40 Vgl. etwa Kalpagam, U.: Colonial Governmentality and the Public Sphere in India, in: Journal of Historical Sociology 15 (2002), H. 1, S. 35-58; in Bezug auf Bosnien Aleksov: Habsburg’s ,Colonial Experiment‘ in Bosnia revisited, S. 205. 41 Vgl. Stoler, Ann Laura/ Cooper, Frederick: Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: Dies. (Hgg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley: U of California Pr. 1997, S. 1-56, hier S. 15ff. 42 Vgl. Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule. In: Ruthner, Clemens u.a. (Hgg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, weise der Name für einen örtlichen Amateurchor zulässig sei oder nicht. Diese zivilisatorischen Errungenschaften werden freilich durch wiederholte Korruptionsvorwürfe konterkariert, die vor allem in ausländischer diplomatischer Korrespondenz erhoben werden und ein anderes Bild als das jener selbst zugeschriebenen „Kulturmission“ zeichnen. 36 Ähnliches gilt für die Beobachtung des Zeitzeugen Hermann Wendel über das finanzielle Missverhältnis zwischen Exekutivgewalt und soft power: Er moniert es als „k. und k. Beitrag zur Relativitätstheorie“, dass ein Schulleiter in Bosnien weniger verdiene als ein Gendarmerie-Wachtmeister und generell mehr Mittel für Polizei als für Bildung aufgewendet würden. 37 Für die repressive Natur der österreichisch-ungarischen Präsenz und gegen das Narrativ eines „gelungenen Zusammenleben[s]“ 38 spricht auch der zunehmende politische Widerstand der autochthonen Bevölkerung gegen die k.u.k. Herrschaft, 39 die sich auch hier den Vergleich mit „colonial governmentality“ 40 gefallen lassen muss. 5.) Aufbau eines Wissensregimes. Typisch für Kolonialmächte auf der ganzen Welt ist im 19. Jahrhundert, dass sie sich auf Datensammlung und Wissensgenerierung über ihre neuen Territorien und Untertanen stützen; dies kreiert eine neue hegemoniale epistemè, die zugleich auch existierende native Diskurse entwertet, überschreibt, sie als altmodischen ,Aberglauben‘ abstempelt, aber gleichzeitig auch antiquarisch sammelt. 41 So auch in Bosnien-Herzegowina, wo mit dem von Gouverneur/ Finanzminister Benjámin von Kállay 1888 eröffneten Landesmuseum/ Zemaljski muzej eine zentrale Institution zur Beschaffung von Herrschaftswissen in den Bereichen Natur- und Volkskunde (inklusive Geschichte und Archäologie) eingerichtet wurde; 42 Kállay versuchte zudem mit Hilfe seines Freundes Lajos von Thallóczy, Clemens Ruthner 26 eine bestimmte Version einer gemeinsamen bosnischen Geschichte (die sich von jener der südslawischen Nachbarländer unterscheidet) zur Legitimation der österreichisch-ungarischen Präsenz in der Region durchzusetzen. 43 Dahinter lässt sich auch der koloniale Wille zum Wissen beziehungsweise zur „kulturellen Beschreibung“ sehen, „which demonstrates an anxious impulse to insist that colonized people can indeed be rendered interpretable within the language of the colonizer“. 44 6.a) Othering of the Other. Während und nach der Invasion wurde die österreichisch-ungarische „Kulturmission“ als diskursives Werkzeug verwendet, um zu rechtfertigen, dass die Herrschaft weniger demokratisch war als im Mutterland und die Bosnier/ innen dadurch zu k.u.k. Bürger/ innen zweiter Klasse wurden. Um wiederum die österreichisch-ungarische mission civilatrice zu legitimieren, wurden die in Bosnien-Herzegowina lebenden Menschen im Rahmen eines Populär-Orientalismus 45 als das Fremde imaginiert, das der Zivilisierung bedarf - wobei man sie genauso gut auch als eine Erweiterung von bereits auf dem Gebiet der Monarchie lebenden Volksgruppen hätte ansehen können. Dies schafft eine kulturelle Ökonomie von Stereotypen − Ressourcen, die auch in zahlreichen literarischen und nicht-literarischen Texten bearbeitet werden: „Just as imperialists ,administer‘ the resources of the conquered country, colonialist discourse ,commodifies‘ the native into a stereotyped object and uses him as a ,resource‘ for colonialist fiction.“ 46 Bosnia-Herzegowina, and the Western Balkans, 1878-1918. New York: P. Lang 2015, S. 67-82, hier S. 77; Aleksov: Habsburg’s ,Colonial Experiment‘ in Bosnia revisited, S. 202. 43 Vgl. etwa Donia: The Proximate Colony, S. 75ff. 44 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India. Chicago: Univ. of Chicago Press 1992, S. 7. 45 Vgl. dazu die These eines doppelten bzw. ,schizophrenen‘ österreichischen Orientalismus, der Bosnien als den (reformierbaren) ,nahen Orient‘ und das Osmanische Reich als wesensfremden, bedrohlichen ,fernen Orient‘ imaginiert, bei Heiss, Johann/ Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire, in: Hodkinson, James u.a. (Hgg.): Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, S. 148-165. Vgl. auch Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnographischen Populärliteratur der Habsburger Monarchie, in: Csáky, Moritz/ Feichtinger, Johannes/ Prutsch, Ursula (Hgg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studienverlag 2003, S. 259-288; Ruthner, Clemens: Habsburg’s Little Orient. A Post/ Colonial Reading of Austrian and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878-1918. In: Kakanien revisited, http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ fallstudie/ CRuthner5.pdf (Zugriff 8.12.2017). 46 JanMohamed, Abdul R.: The Economy of Manichean Allegory. The Function of Racial Difference in Colonialist Literature, in: Gates, Henry Louis Jr.: „Race“, Writing, and Difference. Chicago, London: Chicago Univ. Press 1985, S. 78-106, hier S. 83. Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 27 6.b) Identitätspolitik. In den fünfundzwanzig Jahren, die der gemeinsame k.u.k. Finanzminister Kállay den besetzten Gebieten vorstand, versuchte er ihnen eine aus der mittelalterlichen Geschichte (s.o.) bezogene gemeinsame ,bosnische Identität‘ (Bošnjaštvo) 47 aufzuerlegen, um dadurch auf einer symbolischen Gemeinschaftsebene die politischen Partikularbewegungen der Muslime, Orthodoxen und Katholiken zu bekämpfen: Identity Politics, wie sie auch als Herrschaftsinstrument aus kolonialen Kontexten außerhalb Europas bekannt ist. 48 Trotzdem arbeitete diese oppressive Herangehensweise eher in die Hände der Nationalisten und vertiefte die bestehenden kulturellen Differenzen zwischen den drei Bevölkerungsgruppen anstelle sie zum Verschwinden zu bringen; andererseits stiftete sie eine taktische Gemeinsamkeit im politischen Widerstand gegen den Kolon. 49 7.) Wirtschaftliche Erschließung. 50 Die offiziell durch die Monarchie auferlegte Beschränkung, dass Bosnien-Herzegowina einerseits durch eine allmächtige Bürokratie regiert wurde, sich andererseits aber aus den Provinzeinnahmen selbst finanzieren sollte, kennt etliche Präzedenzfälle auch bei Kolonialgebieten sensu stricto. Paradoxerweise verhinderte aber gerade dies - was gerne von Habsburg-Nostalgikern ins Feld geführt wird - eine kapitalistische Ausbeutung der besetzten Gebiete, bis in die letzten Jahre hinein, als privates Kapital in die Region floss und vor allem ungarische Banken eine zunehmende Präsenz als Investoren zeigten. Ebenso wird die infrastrukturelle Erschließung Bosniens (der Bau von rund 2.000 km Straße und 1.000 km Bahnlinien) 51 als Entlastungsmaterial angeführt - aber dies sind genau die ,zivilisatorischen Errungenschaften‘, mit denen sich Kolonisatoren auch in anderen Teilen der Welt geschmückt haben. Die einseitige Entwicklung der besetzten Gebiete, die ihre Abhängigkeit zu einem ,Mutterland‘ eher verstärkt, 52 ist ebenso typisch für koloniale Regimes dieser Zeit; Evelyn Kolm meint dazu: 47 Vgl. etwa Babuna, Aydin: The Story of Bošnjaštvo, in: Ruthner u.a. (Hgg.): Wechsel- Wirkungen, S. 123-138. 48 „Empires messes with identity“ (Gayatri Spivak, zit. nach Suleri: The Rhetoric of English India, S. 7). 49 Vgl. Sugar: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, S. 26 u. 30f. Vgl. auch Hajdarpašić, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840 - 1914. Ithaca: Cornell Univ. Pr. 2015. 50 Siehe insbes. Sugar: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, und Lampe, John/ Jackson, Marvin: Balkan Economic History 1550-1950. From Imperial Borderlands to Developing Nation. Bloomington: Indiana Univ. Press 1982. 51 Vgl. Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck 2010, S. 17. 52 Vgl. auch Kolm: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus, S. 247 u.vv. Clemens Ruthner 28 Ein Transfer von Geld und Gütern als Zinszahlung für gewährte Anleihen, Repatriierung der Gewinne österr. und ungar. Firmen und Ersatz der Besatzungskosten lassen sich ebenso nachweisen, wie die forcierte Ausbeutung der Rohstoffe Bosniens und der Herzegowina und die damit verbundenen ungünstigen ‚terms of trade‘, die einseitige Ausrichtung des Außenhandels und die Verhinderung des Aufbaus bestimmter Wirtschaftszweige durch die schlagartige Inklusion im gemeinsamen Zollgebiet. 53 8.) „Laboratory of Modernity“ vs. administrativer Konservatismus. Dient Bosnien-Herzegowina, wie auch andere imperiale Peripherien, als Experimentierfeld in technologischer wie sozialer Hinsicht (wie zum Beispiel mit dem frühen elektrischen Tramway-System für Sarajevo seit 1885), so steht dieses Phänomen, zu dem sich Vergleichsmengen in anderen europäischen Kolonien finden lassen, 54 in Widerspruch zum inhärenten Traditionalismus der österreichisch-ungarischen Verwaltung, gesellschaftliche Strukturen zu bewahren und verbessern, aber nicht fundamental zu ändern (wobei sie dies letztlich dennoch tut): Das sollte, wie auch Robert Donia ausführt, eine der zentralen Aporien der k.u.k. Administration der besetzten Gebiete werden. 55 9.) Militärische Ausbeutung. Ähnlich wie dies etwa bei den Gurkha-Einheiten der britischen Armee der Fall ist, begann das k.u.k. Militär schon früh (1881), bosnisch-herzegowinische Männer für den Kriegsdienst zu rekrutieren; sie wurden in speziellen Infanterieregimenter zusammengefasst, die nie voll in die k.u.k. Armee integriert, aber doch von und mit deren Offizieren geführt wurden. Auf diese Weise konnte die vermeintliche Grausamkeit des barbarischen Fremden, die angeblich durch die mission civilatrice gezähmt werden sollte, nach Belieben als human resource im Kriegsfall eingesetzt werden. Die „Bosniaken“ wurden so ganz nach kolonialem Vorbild Elitetruppen, deren Effizienz sich vor allem an der italienischen Front im Ersten Weltkrieg gleichsam als self-fulfilling prophecy bewähren sollte. 56 Bei all diesen kolonialen Beschreibungskategorien darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, dass das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten ebenso wie das zwischen Kolonie und Mutterland ein dynamisches ist, das beide Seiten verändert - nicht nur die Peripherie, sondern auch 53 Ebenda, S. 251; vgl. Stoler/ Cooper: Between Metropole and Colony, S. 19. 54 Vgl. Mann, Michael: „Torchbearers Upon the Path of progress“. Britain’s Ideology of a „Moral and Material progress“ in India, in: Ders./ Fischer-Tiné, Harald: Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, Neu-Delhi: Anthem 2004, S. 1-26, hier S. 8; Stoler & Cooper: Between Metropole and Colony, S. 5. 55 Donia: The Proximate Colony, S. 68ff.; ähnlich auch Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, S. 47, und Judson: The Habsburg Empire, S. 330. 56 Zu diesem Thema vgl. die eher affirmativ unkritische Monografie von Schachinger, Werner: Die Bosniaken kommen. Elitetruppen in der k.u.k. Armee. Graz: L. Stocker 1994; weiters Strigl, Daniela: Schneidige Husaren, brave Bosniaken, feige Tschechen: Nationale Mythen und Stereotypen in der k.u.k. Armee, in: Hárs, Endre/ Reber, Ursula/ Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 29 Ruthner, Clemens: (Hgg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, 1867-1918. Tübingen: Francke 2006, S. 129-144; Šehić, Zijad: Das Militärwesen in Bosnien-Herzegowina 1878-1918. In: Ruthner u.a. (Hgg.): WechselWirkungen, S. 139-153. 57 Balandier: The Colonial Situation, S. 38. 58 Ebenda, S. 57: „The history of colonial societies reveals periods during which conflicts are merely latent, when a temporary equilibrium or adjustment has been achieved, and periods during which conflicts rise to the surface.“ 59 Vgl. Donia: The Proximate Colony; Detrez, Raymond: Colonialism in the Balkans. Historic Realities and Contemporary Perceptions. In: Kakanien revisited, www.kakanien. ac.at/ beitr/ theorie/ RDetrez1.pdf (Zugriff 8.12.2017). 60 Vgl. Emerson, Rupert: Colonialism, in: Sills, David L. (Hg.): International Encyclopedia of the Social Sciences. Bd. 3. New York, London: Macmillan 1968, S. 1-5, hier S. 1. das Zentrum. Ebenso ist im Rahmen der gesellschaftlichen Transformation in der Kolonie von einem Wechselspiel aus „external“ (allochthonen) und „internal“ (autochthonen) „factors“ „inherent in social structures and subjugated societies“ auszugehen, die das „crude sociological experiment“ namens Kolonialismus ausmachen. 57 Dieses nimmt notwendigerweise durchaus krisenhafte Züge an, wie Balandier ausgeführt hat 58 - was vor allem im Kontext der sich zur Jahrhundertwende langsam zuspitzenden politischen Verhältnisse in der Quasi-Kolonie Bosnien-Herzegowina, die zu den Schüssen von Sarajevo 1914 führen sollten, von Bedeutung ist. Was zusätzlich für die Kolonie-Hypothese spricht, die ich mit Raymond Detrez und Robert Donia teile, 59 ist, dass ja auch die de facto-Machtübernahme in anderen Rückzugsgebieten des osmanischen Reichs wie Ägypten und Tunis durch England beziehungsweise Frankreich international völlig selbstverständlich im Rahmen eines westlichen Kolonialismus gesehen wird. Verschließt man sich nun aufgrund von wackeligen und selten hinterfragten Kriterien, wonach Kolonie und Mutterland normalerweise durch eine „große Menge Salzwasser“ 60 voneinander getrennt sind, so hält einen paradoxerweise die eigene imaginäre Geografie, was denn nun Europa sei und was nicht - also letztlich Eurozentrismus! - davon ab, den Kolonialismus der Landmächte Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn und der Osmanen ebenso wie auch britische Kolonien auf europäischem Boden (Stichwort: Irland) als das anzusehen, was sie letztlich sind. Clemens Ruthner 30 3 (Post)kolonial vs. (post)imperial: ein Lösungsvorschlag Parallel zum manifesten kakanischen Ersatzkolonialismus in Bosnien und der Herzegowina zwischen 1878 und 1918 sehen wir im kollektiven/ politischen Imaginären des habsburgischen Zentraleuropa quasikoloniale und postkoloniale Formen und Fantasien am Werk, die sich bis zum heutigen Tag 61 Wlislocki, Heinrich von: Aus dem Leben der Siebenbürger Rumänen. In: Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. Hg. von Rudolf Virchow und Wilhelm Wattenbach. Hamburg: Lüderitz 1889/ 90, S. 579-619, hier S. 603. - Zu Wlislocki vgl. auch Patrut, Iulia-Karin: Wlislocki’s Transylvanian ,Gypsies‘ and the Discourses on Aryanism around 1900. In: Romani Studies 17 (2007), H.2. 62 Vgl. dazu das Standardwerk von Torgovnick, Marianna: Gone Primitive. Savage Intellects, Modern Lives. Chicago, London: Univ. of Chicago Press 1990. Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 31 nicht nur in der Literatur, sondern auch in diversen kulturellen Gebrauchstexten der k.u.k. Zeit niederschlagen. Dies kommt nachgerade paradigmatisch in einem 1889 erschienenen ethnografischen Text eines deutschsprachigen Siebenbürgers mit polnischen Wurzeln, des Sprachwissenschaftlers, Volkskundlers und Tsiganologen Heinrich von Wlislocki (1856-1907), zum Ausdruck: Ziehen wir neben diesem Kastenunterschied [! ], der sich auch auf die Jugend erstreckt, noch einen gewissen Hang zum beschaulichen Leben, womöglich ohne Arbeit und Mühe, in Betracht, so dürfen wir uns nicht im geringsten darüber wundern, daß der transsilvanische Rumäne sich selten über die allerprimitivsten Lebensverhältnisse emporschwingt; denn wahr bleibt es immerhin, daß ihm der Wahlspruch gilt: Sitzen sei besser als Gehen, Liegen besser als Sitzen, Schlafen besser als Wachen, das Beste von allem aber ist das Essen! Auf diesen unleugbaren Umstand ist daher zurückzuführen die traurige Bemerkung mancher Philoromanen, daß der rumänische Bauer, trotz aller Gleichheit vor dem Gesetze, noch immer in einer ärmlichen Hütte, der magyarische Herr und der sächsische Bürger aber in einer bequemen Stadt- oder Landwohnung lebt. Dieser Hang zu einem beschaulichen Leben muß auch auf seine Intelligenz übertragen werden; er ist begriffsstutzig und verhält sich abwehrend gegen jede neue Idee, die man ihm beibringen will. 61 Ganz deutlich ist diese Beschreibung durch einen Privatgelehrten keineswegs neutral, sondern insinuiert eine ethnische Hierarchie, wobei den Siebenbürger Sachsen die ,goldene (bürgerliche) Mitte‘ gegenüber den ,unzivilisierten‘ rumänischen Bauern und der latent ,verschwenderischen‘ ungarischen gentry zugewiesen wird. Versionen jenes zentralen Topos eines sturen und faulen nativen Primitivismus, 62 der der zivilisierten ,Anleitung‘ bedarf, finden sich nahezu weltweit - ob es sich nun um Afrikaner/ innen, ,Oriental/ innen‘ oder um Finn/ innen unter zaristischer Herrschaft handelt. Zum einen dient dies der Legitimation einer wie auch immer gearteten mission civilatrice, die ihrerseits (siehe oben) einen der wirkmächtigsten diskursiven Vorwände für den europäischen Überseekolonialismus darstellte. Zum anderen lässt sich kaum leugnen, dass das Differenzmanagement der Imperien in ihren inneren Peripherien und äußeren Kolonien ähnliche Formen annimmt, ja sich verschränkt. Dient eine ,koloniale‘ Sichtweise anderer Völker also nur als Vergleich(smenge), wie etwa bei Wlislocki, oder geht es hier um mehr? 63 Vgl. Foucault, Michel: Abnormal. Lectures at the Collège de France, 1974-1975. Übers. von Graham Burchell. London: Picador 2004. 64 Bayerdörfer, Hans P./ Dietz, Bettina/ Heidemann, Frank/ Hempel, Paul: Einleitung, in: Dies. (Hgg.): Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jh. Berlin: LIT 2007 (= Kulturgeschichtliche Perspektiven 5), S. 7-16, hier S. 7. 65 Mies, Maria: Über die Notwendigkeit, Europa zu entkolonisieren, in: Werlhof, Claudia von/ Bennholdt-Thommsen, Veronika/ Faraclas, Nicholas (Hgg.): Subsistenz und Widerstand. Wien: Promedia 2003, S. 21-28, hier S. 23. Clemens Ruthner 32 Die vorgeschlagene Antwort lautet klarerweise: Ja. Nicht nur ich sehe diese inneren und äußeren Formen der Konstruktion von hierarchischer kultureller Differenz und der damit verbundenen Legitimation eines Herrschaftsgefälles entlang der nach Foucault westlichen Leitdifferenz von Normal/ Abnormal 63 als die beiden Seiten einer imperialen Medaille - oder mit Hans Bayerdörfer formuliert, ein groß angelegtes „Erfassungsprojekt des Fremden im Äußern und Inneren der Staaten im 19. Jahrhundert [...] zu politischen, herrschaftstechnischen und legitimatorischen Zwecken“. 64 Ebenso hat der Überseekolonialismus Europas im 18. und 19. Jahrhundert deutlich von den internen Kolonisationen auf dem Kontinent gelernt, also zum Beispiel das britische Indien-Projekt von Irland und so weiter. Viel weiter geht indes noch Maria Mies, wenn sie schreibt: Europa ist das Ergebnis von Kolonisierungen. [...] es ist das Resultat eines aktiven wie auch passiven Kolonialismus. Diese Verhältnisse betreffen vor allem die Verhältnisse zwischen Mann und Frau, zwischen Stadt und Land, zwischen Mensch und Natur und zwischen Geist und Körper. Kolonialverhältnisse sind dadurch charakterisiert, dass sie hierarchisch und nicht-wechselseitig sind und dass sie letztendlich durch Gewalt aufrechterhalten werden. [...] Kolonialverhältnisse sind die verborgenen Tiefenstrukturen dessen, was wir ‚europäische Zivilisation‘ nennen. 65 Ob die Denunziation der Bemächtigungsstruktur in den hierarchischen Dichotomien dieser Identitätskonstruktionen den Kolonialismusbegriff überdehnen, sei einer weiteren Diskussion überlassen. Wie auch immer diese Debatte ausgeht, bleibt aber der Kolonialismus aus der Perspektive einer historischen Sozial- und Kulturwissenschaft doch eine spezielle Ausprägung imperialer Herrschaft, die damit weiterhin als Oberbegriff fungiert; ähnlich sehe ich auch das Verhältnis von Postkolonialismus und Postimperialismus, nämlich als Dialektik eines Danach, eines Darüber-hinaus, aber auch eines heimlichen Fortwirkens. Im 19. und 20. Jahrhundert gibt es zwei Reaktionen auf die erwähnte Verschränkung von Differenzerzeugung nach Innen und Außen: einerseits nationalstaatliche Homogenisierungsprojekte, die durchaus auch imperial beziehungsweise imperialistisch betrieben wurden, zum Beispiel im deutschen Kaiserreich und im Königreich Ungarn. Auf der anderen Seite der 66 Müller-Funk, Wolfgang: Theorien des Fremden. Tübingen: Franke / UTB 2016 67 Bhatti, Anil/ Kimmich, Dorothee (Hgg.): Einleitung, in: Dies.: Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz: Konstanz Univ. Press 2015, S. 7-31, hier S. 14. Post/ Imperialismus vs. Post/ Kolonialismus in „Kakanien“ 33 habsburgischen Gleichung steht das zisleithanische Österreich, das auf Differenzmanagement in einer frühen Form des Multikulturalismus setzt. Beide politischen Lösungsversuche eines epistemisch selbst geschaffenen Problems finden in späteren Staatsprojekten ihre Fortsetzung, wobei die Nationalstaaten lediglich die inneren Differenzen nach außen zu projizieren versuchen - durch Feindbilder und Assimilierungsprojekte, oder im schlimmsten Fall durch Deportation und Völkermord; dies zur Erinnerung, dass die meisten der Nationalstaaten in unserer Region keineswegs friedlich, sondern auf den Gräbern unzähliger Opfer errichtet wurden. Das zugrundeliegende Strukturmodell des Eigenen und des Fremden oder des Anderen 66 ist indes im Großen und Ganzen erhalten geblieben. Hinter der kulturellen Produktion von ,ethnischen‘ beziehungsweise ,rassischen‘ Differenzen zwischen dem zivilisierten Eigenen und dem latent barbarischen Fremden steckt also eine Rechtfertigungslogik für asymmetrische Machtbeziehungen zwischen Gruppen, die vielleicht besser sozial definiert werden sollten als ,ethnisch‘ - wenn diese kleine postmarxistische Fußnote angebracht ist. Hier sollten wir aber auch selbstkritisch sein und fragen, inwieweit die theoretische Basis der Kulturwissenschaften, nämlichen Kulturen als eine Serie von zwar konstruierten, letztlich aber doch wirkungsmächtigen Differenzen zu beschreiben, nolens volens die oben beschriebene imperiale Differenzerzeugung dupliziert? In diesem Sinn hat auch eine Gruppe von Forscher/ innen rund um den indischen Germanisten Anil Bhatti zu einer kritischen, das heißt nicht-nivellierenden Wiederbelebung des Paradigmas der Ähnlichkeit - anstatt der Differenz - als Grundlage der Kulturwissenschaften aufgerufen; dies auch im Sinne einer philosophischen, ethischen und politischen Überwindung jener wuchernden Erzeugung und Heroisierung von Differenz/ en, die in der Moderne die epistemologische Basis für Imperien, Nationalstaaten und Kolonien gleichermaßen ausmacht. Ähnlichkeit sei, wie Bhatti formuliert, „eine ,Figur des Kontinuierlichen‘, Übergänglichen. Sie bedarf zwar der Markierung von Differenzen, stellt aber nie einen Bruch oder Gegensatz dar.“ 67 Ob in diesem liminalen Zustand sich ein Ausweg auftut, oder ob er als potenzielle Gleichmacherei anzusehen ist, die zu neuen Differenz-Wucherungen führt, soll dahingestellt bleiben, bis sich die Kolleg/ innen näher erklärt haben. Beim jetzigen Stand der Dinge ist das Modell noch keine hinlänglich überzeugende Alternative, auf die wir auf unserer - vergeblichen? - Flucht vor dem Selbst und seinem Anderen zählen könnten. Wolfgang Müller-Funk (Wien) Das Melancholische und das Imperiale Mit einem Seitenblick auf Joseph Roth Politische Entitäten lassen sich ihrer räumlichen Logik nach analysieren und unterscheiden. An dieser Stelle werde ich jedoch nur insoweit auf die Unterscheidung zwischen Imperien und Kolonialmacht eingehen, als sie verschiedene Machtstrategien im Hinblick auf den Raum präsentieren. Ganz zweifelsohne sind Territorialreiche, wie wir sie vornehmlich in vormodernen Kulturen antreffen von einem bestimmten Nomos getragen, um einen Ausdruck von Carl Schmitt zu gebrauchen. 1 Die etwas abschätzige Bezeichnung des Landtreters tritt in der Konnotation zu Tage. Es handelt sich um ein statisches Modell von Raumordnung, das in seiner Obsession für das Spatium alles vermisst und mit Grenzen versieht. Insofern entfalten das traditionelle Imperium und der Nationalstaat, der aus dessen Zerfall hervorging, ein genau definiertes Grenzregime. Franz Kafkas Texte spielen, vom Amerika-Fragment abgesehen, auf einen kontinentaleuropäischen Typus von Herrschaft an. Das offene und zugleich verschlossene Tor, das so oft in Kafkas Werk auftritt, lässt sich binnen-, aber auch transkulturell deuten, als eine durchaus wirksame Maßnahme, Menschen von der Grenzübertretung abzuhalten. In beiden Fällen, Nationalstaat wie Großreich dient die Grenze dem jeweiligen Machterhalt, dem Schutz der Bevölkerung und der klaren Unterscheidung von Innen und Außen. Aber es gibt, der deutschen Imperienforschung (Münkler, Osterhammel) folgend, 2 einen gravierenden Unterschied. Programmatisch basieren Nationalstaaten auf der Idee, kulturelle Homogenität durch ein System sichtbarer und unsichtbarer Unterscheidungen und Grenzen zu generieren (zum Beispiel alle Deutschen, Ungarn oder Griechen sollen jeweils innerhalb eines fest umrissenen Raumes leben). Sie müssen die Fremdheit der Anderen, die symbolisch, das heißt in Sprache, Religion, Aussehen und Lebenskultur anders sind, entweder mehr oder minder gewaltsam 1 Nationen, Imperien, Reiche und Kolonialmächte * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Schmitt, Carl: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. Köln: Edition Maschke 1981. 2 Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005. assimilieren und/ oder sie wiederum gewaltsam vertreiben. Dass die Vertreibung als türkisch markierter Menschen aus Griechenland und griechisch markierter Menschen aus der Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches stattfindet - der US-amerikanisch-griechische Romancier Jeffrey Eugenides hat diesem schrecklichen Ereignis in Middlesex ein literarisches Denkmal gesetzt -, ist kein Zufall. 3 Traditionelle Territorialreiche sind hingegen auf Grund ihres expandierenden Charakters fast zwangsläufig heterogen, das heißt sie unterwerfen alle Untertanen ungeachtet ihrer jeweiligen ethnisch-kulturellen Markierung nahezu gleichermaßen. Sie sind dadurch bestimmt Grenzen zu überschreiten, um sich neues Gebiet anzueignen. Sie basieren nicht selten auf einem universalistischen, und das heißt gleichzeitig, grenzüberschreitenden Programm einer Art von göttlichem Königtum. Das gilt, um im mittel- und osteuropäischen Bereich zu bleiben, für die christliche Mission des Habsburger Reichs, für das zweite Byzanz und Dritte Rom, als das sich das Zarenreich präsentiert 4 und natürlich auch für das Osmanische Reich mit seiner Idee vom Islam und den ihm untergeordneten, aber tolerierten abrahamitischen Religionen, Judentum und Christentum. Kafkas Tor beziehungsweise seine chinesische Mauer beziehen sich auf die traditionelle imperiale Grenzordnung - die Figur des etwas einfältigen Mannes, der aus der Peripherie in die Stadt kommt, vielleicht in die Hauptstadt des Reiches, macht das sichtbar. Es gibt also eine mehr oder minder verschwiegene Anziehungskraft des Imperialen: seiner Vielfalt und seiner Heterogenität. Diese Anziehungskraft ist ein Symptom für zwei verschiedene historische Phänomene, die nur eines gemeinsam haben: die Negation der nationalen Religion. Zwischen dem melancholischen Blick auf die untergegangenen Reiche, wie man ihn in den jeweils einschlägigen Literaturen findet (österreichisch, russisch und türkisch) und dem heutigen Transkulturalismus, der die Migration als Hybridisierung und damit als Überwindung des zu engen Nationalstaates interpretiert, besteht ein Zusammenhang, aber auch ein gravierender Unterschied. Denn die programmatische und positiv gefasste Grenzüberschreitung will nicht in einem Konnex mit jenen postimperialen und postkolonialen Bestrebungen verstanden werden, wie sie nach 1989 charakteristisch geworden sind. Die modernen, heute historisch gewordenen europäischen Kolonialreiche stellen eine Kombination von Grenzziehungen, Nomoi und den dazugehörigen Machtoptionen dar. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie entweder 3 Eugenides, Jeffrey: Middlesex. Reinbek: Rowohlt 2003. 4 Kozyrev, Illya: Moskau - das dritte Rom: eine politische Theorie mit ihren Auswirkungen auf die Identität der Russen und die russische Politik. Göttingen: Cuvillier 2011. Wolfgang Müller-Funk 36 gar nicht auf eine vollständige territoriale Kontrolle abzielen (so wie das bei den kleineren Kolonialmächten der Fall ist, exemplarisch ist hier der frühe portugiesische Kolonialismus) oder die Meere, die zwischen Herrschaftszentrum und nationalem Kernland existieren, wie eine Grenze nutzen, die die privilegierten Menschen des Mutterlandes von jenen in den Kolonien trennen, wobei die Kolonien, wie Catherine Hall gezeigt hat, in sich noch einmal getrennt und separiert werden, 5 so dass ein Teil der Bevölkerung zum Mutterland gehört, die anderen aber hierarchisch marginalisiert sind vom indischen Plantagenverwalter bis hinunter zum schwarzen Sklaven. Carl Schmitt hat das Britische Weltreich und seine postkoloniale Nachfolgerin, die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht ohne Bewunderung als „Meerschäumer“ bezeichnet, das heißt, als ein wagemutiges, ausgreifendes Unternehmen, das die Idee eines rein territorialen Nomos zugunsten einer flüssigen und dynamischen Herrschaftsform aufgibt, in der es um die Kontrolle von Verbindungen, Netzwerken und Verbündeten geht und in der die Einverleibung immer größerer Territorien mit all ihren politischen Problemen und ökonomischen Kosten letztendlich aufgegeben wird. 6 Gegenüber vielen Standardtheorien über Imperien hat jene von Schmitt den Vorteil, dass sie diese historisch neue Form transnationaler Herrschaft, diesen demokratischen Imperialismus, kulturgeschichtlich aus den neuen medialen Möglichkeiten - Geld, moderne Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien - heraus erklärt. Sie alle sind überdies im Deutschen mit der Metaphorik des Flüssigen verbunden: Geldfluss, Verkehrsfluss, Kommunikationsfluss. Aber damit entstehen auch neue Formen von Liminalität. Die Membran als ein transkulturelles Begegnungsmodell mit dem, den und der Anderen, ist nur ein Beispiel für all jene Zwischenräume, die eine neue ‚Dialektik‘ von Fremdem und Eigenem entfalten. Aber ein transkulturelles wie post-imperiales Gebilde wie die USA kennen bekanntlich Grenzziehungen, ganz traditionelle wie den Zaun zu Mexiko, aber auch ganz subtile, von den Medien der postmodernen Welt geschaffene: Nischen, Schwellen, membranartige Gebilde, die die älteren stabilen Liminalitäten komplementieren, nicht aber einfach ersetzen. Im Unterschied zu den modernen Kolonialmächten beruhen diese imperialen Komplexe nicht auf der neuen kapitalistischen Ökonomie und nicht auf dem ihr zugrundeliegenden Medium des Geldes. Sie sind nicht die Avantgarde moderner Entwicklung im Bereich von Technik, Medien, moderner 5 Hall, Cathrine: Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination 1830-1867. Cambridge: Polity Press 2002. 6 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur. Wien: Sonderzahl 2009, S. 31-46. Das Melancholische und das Imperiale 37 Bürokratie und Bildung, all jener Elemente, die Gellner als Formen einer Modernisierung betrachtet, mit der die kulturelle Homogenisierung von Räumen Hand in Hand geht. 7 Demgegenüber sind die meisten westeuropäischen Kolonialreiche dadurch gekennzeichnet, dass ihr zentraler Raum mehr oder weniger nationalstaatlich organisiert ist. An diesen Maßstäben gemessen sind sie historisch betrachtet rückständig und das drückt sich auch in ihrer Fremd- und Selbstbildlichkeit aus. Nicht zuletzt ist der Orientalismus Ausfluss jener historischen Situation, in der die traditionellen Imperien unter einem globaleren Blickwinkel betrachtet selbst als peripher erscheinen und letztendlich machtpolitisch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend marginalisiert werden und in die Abhängigkeit der moderneren (kolonialistischen) Nationalstaaten Europas geraten: Die Habsburger Monarchie muss seit 1866 die Suprematie des ‚moderneren‘ preußisch-deutschen Machtkomplexes anerkennen, das Osmanische Reich wird zunehmend Gegenstand nationaler Unabhängigkeitsbewegungen beziehungsweise kolonialer Zugriffe und auch das zaristische Russland, die einstige Führungsmacht der heiligen Allianz, lehnt sich zunehmend an die modernen imperial-kolonialen Mächte Frankreich und England an. In diesen Rahmen lässt sich Joseph Roth als ein Kartograph der alten, über Jahrhunderte gewachsenen und seit 1918 implodierenden Territorialmächte begreifen, der den postimperialen Raum der einstigen Donaumonarchie in einem melancholischen Narrativ formatiert. 8 Sein Gesamtwerk entwirft die symbolische Struktur eines Raumes, der die Peripherien der Habsburger Monarchie und damit auch jene des Osmanischen Reiches und des russischen Zarenreiches umfasst und zugleich die periphere Lage der alten Imperien in einem neuen kapitalistischen imperialen Kontext auslotet. 9 Die Räume, die er beschreibt, sind Galizien und der Raum des ehemaligen Jugoslawiens. Als postimperialer, heimatloser Altösterreicher ist er damit in einem deutschen Kontext ein prädestinierter Fachmann für diese Fragen und nutzt diese kulturelle Sonderstellung zunehmend und auch höchst selbstbewusst aus. Insgesamt ist der von Roth bereiste Raum, das heutige Serbien, Bosnien-Herzegowina und Albanien in mehrfacher Hinsicht postimperial, geprägt durch den Gegensatz der 1918 implodierten Imperien, Österreich- Ungarn und das Osmanische Reich; zugleich aber sind die beschriebenen Raum- und Herrschaftsstrategien von Elementen des Heterogenen und Gegensätzlichen 7 Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch 1991. 8 Schoinz, Julia: Das melancholische Narrativ des Abschieds in Werken von Joseph Roth und Arthur Schnitzler. Bedeutsamkeit im habsburgischen Mythos und der romantischen Liebeskonzeption. Dissertationsschrift, Wien 2017. 9 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth. Besichtigung eines Werks. Wien: Sonderzahl 2012. Wolfgang Müller-Funk 38 überlagert von neuen Strategien, die wie zum Beispiel der italienische Faschismus unverkennbar neo-imperiale Züge in sich tragen. 2 Postimperial oder postkolonial? Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Jenes Forschungsnetzwerk, das unter dem Begriff kakanien revisited bekannt geworden ist, hat von Anbeginn versucht, postkoloniale Fragestellungen für die transnationale Analyse des postimperialen Komplexes der Habsburger Monarchie fruchtbar zu machen, ohne damit eine Gleichsetzung von ‚postimperial‘ und ‚postkolonial‘ zu suggerieren. Die Produktivität solcher Adaptionen lässt sich an Themen wie Zentrum und Peripherie, dem Verhältnis von kultureller und machtpolitischer Asymmetrie, der Konstruktionen des Anderen (zum Beispiel in Gestalt des Balkans als des eigenen Fremden) sowie der für imperiale wie koloniale Konstellationen typischen Form kultureller Mischung und Heterogenität verdeutlichen. Ziel dieses kulturwissenschaftlichen Ansatzes war ein neuer Zugang zum Bild der Habsburger Monarchie jenseits von Nostalgie und undifferenzierter Ablehnung und jenseits auch von nationalen beziehungsweise nationalistischen Perspektiven und neo-imperialer Nostalgie. In einem Vorwort zu einem Sammelband, der die kulturellen Differenzen und politischen Asymmetrien in einem gesamteuropäischen Perspektive auslotet, heißt es: Postkoloniale Forschung beschäftigt sich nicht zuletzt damit, dass der europäische Imperialismus und Kolonialismus alle an ihm Beteiligten, Täter wie Opfer einschneidend verändert haben. […] Weder die HerausgeberInnen noch die in dem Band versammelten AutorInnen möchten den Eindruck erwecken, dass der nach außen gerichtete europäische Kolonialismus und der innereuropäische Prozess der Kolonisierung, Homogenisierung und der Sicherung kultureller Vorherrschaft in all seinen Momenten identisch seien. Gewisse Ähnlichkeiten lassen sich indes nicht leugnen: die Vorstellung von der Rückständigkeit der dominierten Kultur - des katholischen Irland, des Balkans, der polnischen Wirtschaft, der ‚barbarischen‘ Sarden - die Bedeutung der neuen kapitalistischen Ökonomie, die Funktion der großen Erzählung des Fortschritts, das Pathos der Homogenisierung, die latente oder auch offenen Verachtung der so genannten minder entwickelten Kultur, die sich im 19. Jahrhundert zum Rassismus steigern wird. 10 Für die kulturwissenschaftliche und postkoloniale Bearbeitung des Habsburgischen Komplexes waren im Rahmen des Forschungsnetzwerkes vor allem fünf Überlegungen von Belang: 10 Müller-Funk, Wolfgang/ Wagner, Birgit (Hgg.): Eigene und andere Fremde. Postkoloniale Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia 2005, S. 13f. Das Melancholische und das Imperiale 39 • Das Moment des Postischen, das sich mit den Nachwirkungen ‚kolonialer‘ Herrschaft im zentraleuropäischen oder auch im innereuropäischem Kontext befasst. Damit wurde nicht nur der Bruch mit imperialer Herrschaft, sondern auch deren Kontinuität ins Auge gefasst. Mit dem ‚Postischen‘ kommt, ähnlich wie in den postcolonial studies, ein reflexives und herrschaftskritisches Moment ins Spiel. • Der von Autoren wie Raymond Williams, Stuart Hall oder Antonio Gramsci maßgeblich geprägte Diskurs der angelsächsischen Cultural Studies bestimmt Kultur als Feld der Repräsentation, in das Macht und Auseinandersetzung eingeschrieben sind. In diesem methodischen Zugang wurde „Mitteleuropa“ neu gelesen. • Der Ansatz impliziert zugleich einen inneren Zusammenhang zwischen Imperialismus und Kolonialismus, wie ihn schon Hannah Arendt in ihrer großen Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft hergestellt hat. 11 • Die postkoloniale Lektüre von Texten, Ausstellungen und Artefakten rund um den Habsburgischen Komplex ist von einem konstruktivistischen Verständnis getragen, in der diese als Mittel und Medien der Konstruktion und der Repräsentation angesehen werden. Das gilt für die Funktion im historischen Kontext der Habsburger Monarchie wie auch für die retrospektiven narrativen Bezüge im Umfeld des Habsburgischen Mythos, den Claudio Magris sowohl als legitimatorisches aber auch als posteriorisches Narrativ beschrieben hat, das in der deutschsprachig-österreichischen Literatur, zuweilen ironisch gebrochen, eine melancholische Struktur besitzt. 12 • Der postkoloniale Ansatz impliziert einen konsequenten perspektivischen Wechsel. Er beleuchtet das Zentrum aus dem Blickwinkel der Peripherie und erzählt die Geschichte von kultureller Differenz und hegemonialer Herrschaft aus dem Fokus derer, die Spivak im Anschluss an Antonio Gramsci und an Robert Ezra Park als „Marginalisierte“ bezeichnet hat. 13 Insbesondere der letzte Punkt macht den Unterschied zwischen einer primär historischen Imperienforschung und postkolonialen Zugängen sinnfällig. 11 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper 1986ff, S. 207-470. 12 Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Neuauflage. Wien: Zsolnay 2000. 13 Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl. Wien: Turia & Kant 2008. Wolfgang Müller-Funk 40 In diesem Zusammenhang war es Ziel des Forschungsnetzwerks kakanien revisited, die bestehende Sekundärliteratur zu Imperialismus und Postimperialismus kritisch zu erweitern. So beruht die klassische Imperienforschung • auf dem Primat des Zentrums: Sie erzählt die Geschichte von Imperien wie dem British Empire, dem zaristischen Russland, dem Osmanischen Reich oder der Habsburger Monarchie vornehmlich aus der Logik der Herrschaftsperspektive. • Sie betont den niemals absoluten Gegensatz von Imperium und Nation mit dem Verweis auf den Gegensatz von Heterogenität des Imperialen und der programmatischen Homogenität des Nationalen. • Sie ist überwiegend deskriptiv und, wie etwa die Arbeiten von Münkler, Osterhammel, Barkey oder Leonhard/ von Hirschhausen zeigen, liberal. • Sie betont, dass der Untergang dieser Herrschaftskomplexe keineswegs zwingend und determiniert gewesen sei. • Sie betont den Unterschied zwischen Imperialismus und Kolonialismus und postuliert, dass es einen Imperialismus ohne Kolonialismus und einen Kolonialismus ohne Imperialismus gegeben habe. Mit Carl Schmitt lässt sich überdies behaupten, dass die kontinentalen Imperien auf einem anderen, nämlich vormodernen statischen Nomos beruhen, die maritimen indes auf einem neuen, dynamischen. • Das Ausmaß der kolonialen Verbrechen etwa in Afrika (Kongo) verbietet eine Gleichsetzung mit der marginalen oder als marginal empfundenen Position bestimmter ethnischer Gruppen und Völker (Iren, Tataren oder auch Tschechen und andere slawische Völker) in den europäischen Kontinentalreichen. • Jörn Leonhard und Ulrike Hirschhausen haben wiederum in ihrer kulturwissenschaftliche Fragestellungen einbeziehenden komparatistischen Studie Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert auf die Gemeinsamkeiten der drei kontinentalen Empires (Russland, Österreich, Osmanisches Reich) mit dem Britischen Weltreich hingewiesen. 14 Sie verweisen dabei auf auffallende Ähnlichkeiten der imperialen Inszenierungen und Repräsentationen, auf den Zensus als Herrschaftsmittel, auf die multiethnische Komponente und auf die Frage der Wehrpflicht, die die Position der marginalisierten Völker verändert. 14 Leonhard, Jörn/ Hirschhausen, Ulrike von: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. Das Melancholische und das Imperiale 41 3 Melancholie und condition postimperiale. Lepenies und Freud Im Folgenden geht es darum, einen systematischen Zusammenhang zwischen dem, was ich in Analogie zu Lyotard als condition postimperiale bezeichnen möchte, und jenem Phänomen herzustellen, das die Warburg-Schule kulturgeschichtlich prominent gemacht hat: der Melancholie. Um dies plausibel zu machen, ist es indes notwendig, zwei Denker ins Spiel zu bringen, die Melancholie und deren ästhetische Ausgestaltung (etwa bei Dürer) nicht primär als eine existentielle, individuelle menschliche Disposition und auch nicht nur als psychische Krankheit sehen, sondern Melancholie als eine kollektive Disposition begreifen, die an ganz bestimmte historische, politische und kulturelle Bedingungen geknüpft ist. Die Denker, die ich im Sinn habe, sind der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, und der Soziologe Wolf Lepenies, der Anfang der 1970er Jahre die programmatische Studie „Melancholie und Gesellschaft“ vorlegte. Freuds prominenter Text, der Melancholie und Trauer gegenüberstellt 15 und die Melancholie als eine höchst problematische Form von Verlusterfahrung beschreibt, argumentiert über weite Strecken individualpsychologisch; aber Freud selbst hat, etwa im Hinblick auf die Traumaproblematik, nahegelegt, seine individualpsychologischen Befunde psychohistorisch auf ganze Kollektive anzuwenden (etwa auf das jüdische Volk in Der Mann Moses). Insofern ist Alexander Mitscherlichs Studie über die Unfähigkeit der Deutschen nach 1945 zu trauern, 16 die sich ganz konsequent auf die Denkfigur Freuds bezieht, als eine Fortschreibung Freuds zu lesen. Die Pointe Mitscherlichs besteht nämlich nicht, wie man meinen könnte, darin die fehlende Trauer über die ermordeten jüdischen Mitmenschen in den Mittelpunkt zu rücken, sondern die These aufzustellen, wonach die Deutschen melancholisch auf ihren verlorenen Führer, Adolf Hitler, auf ihr Über-Ich fixiert geblieben seien. Sie hadern mit der verlorenen Größe des Dritten Reiches. Freuds Verständnis von „Melancholie“ bedeutet also in zweierlei Hinsicht eine Wende im Diskurs über Melancholie: Sie nimmt der Melancholie, die im klassischen Diskurs als Ausweis von Sensibilität und Subjektivität gilt, die Aura des noblen Leidens, und deutet sie eher als selbst- oder fremdverschuldetes Unvermögen, das ins Zentrum der Therapie rückt. Anders als im traditionellen Diskurs der Melancholie wird ihr auch recht monokausal eine Ursache zugeordnet, nämlich der Verlust des Liebesobjekts. Melancholie ist für Freud die falsche Antwort auf ein reales, nicht eingebildetes Problem. 15 Freud, Sigmund: „Trauer und Melancholie“, in: Ders.: Studienausgabe in 10 Bänden. Frankfurt/ M.: S. Fischer 1969, Band III, S. 193-212. 16 Mitscherlich, Alexander: Die Unfähigkeit zu trauern. München: Piper 1967. Wolfgang Müller-Funk 42 Als Depression ist die Melancholie ein individueller oder auch kollektiver Defekt. Darüber hinaus legt das späte Werk Freuds nahe, Phänomene wie Erinnerung, Trauma und Melancholie nicht nur individuell, sondern auch kollektiv zu verstehen. Darum geht es in der schon erwähnten Studie von Wolf Lepenies, in deren Zentrum sozialgeschichtliche Überlegungen unter Einbezug von marxistischen Fragestellungen stehen. Auch hier hat Melancholie eine handfeste Ursache: Sie wird mit Blick auf den französischen Adel als eine Reaktionsweise auf gesellschaftliche Veränderung angesehen. Die Etablierung einer zentralistischen, aufgeklärt absolutistischen Monarchie fällt mit der Entmachtung des französischen Adels zusammen, der um den Hof herum gruppiert wird. 17 Machtverlust und die Unmöglichkeit, selbst zu handeln, gehen Hand in Hand. Man könnte auch von einer Marginalisierung einer privilegierten Kaste sprechen. Nun greift Lepenies auf eine bekannte Formel des okzidentalen Melancholie-Diskurses zurück: die Acedia, die innere und äußere Bewegungslosigkeit. Melancholie stellt sich nicht zuletzt dort ein, wo kein Handeln möglich ist. Arbeit und aktives Handeln sind in diesem Zusammenhang von der Antike bis zur Ordensregel des Heiligen Benedikts („Ora et labora“) von jeher als Gegenmedizin empfohlen worden. Melancholie kann auch als eine kollektive Disposition ganzer Machtgebilde verstanden werden, die sich auf dem Höhepunkt der Krise als gelähmte Akteure begreifen, die durch bestimmte Machtkonstellation gehemmt und gehindert sind. Der Zusammenbruch von Imperien nach 1918, nach 1945 und nach 1989 bedeutet einen kollektiv erlebten Machtverlust. Das gilt für den russisch-sowjetischen, den haburgisch-zentraleuropäischen, den osmanisch-türkischen aber auch für den britischen Herrschaftskomplex. Hinzu kommt, dass er mit der Marginalisierung von Eliten einhergeht. Dies lässt sich an Joseph Roths Texten wie Die Büste des Kaisers oder Die Kapuzinergruft ebenso schön ablesen wie an den Romanen des türkischen Autors Ahmet Hamdi Tanpınar oder an Orhan Pamuks literarischem ‚Hybrid‘ Istanbul. 18 Die Melancholie ist nichts Erhabenes, sondern eine Art Krankheit, vielleicht auch ein Überhang der Vergangenheit. Pamuk sieht dieses Verhältnis zum eigenen urbanen Raum als einen Identifikationsfaktor „Istanbul [ist] stolz auf seine Melancholie“. 19 Interessant an solchen Sätzen ist auch, dass der 17 Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1972. 18 Chovanec, Johanna: Hüzün - Der Osmanische Mythos als melancholische Rückbesinnung in der türkischen Literatur (Masterarbeit). Wien: Universität Wien 2016. Vergleiche auch Johanna Chovanec’ Beitrag in diesem Sammelband: „Istanbul: eine melancholische Stadt im Kontext des Osmanischen Mythos“. 19 Pamuk, Orhan: Istanbul: Erinnerungen an eine Stadt. München: Hanser 2006, S. 10. Das Melancholische und das Imperiale 43 städtische Raum, die Stadt Istanbul selbst, als ein kollektives Mega-Subjekt erscheint. Im Erinnerungsbuch wird auf Lévi-Strauss’ Traurige Tropen und Dostojewskis Besuch der Stadt Genf verwiesen: „Im Unterschied zu Westeuropa werden allerdings in Istanbul vom Untergang eines großen Reiches zeugende Geschichtsdenkmäler nicht wie Museumsstücke behandelt und stolz zur Schau gestellt, sondern man lebt ganz einfach mitten unter ihnen.“ 20 4 Noch einmal Joseph Roth: Die Kapuzinergruft Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt, der Gegenüberstellung und Überlappung von Postkolonialem und Postimperialem zurück. Wenn Lepenies’ Befund stimmt, wonach Melancholie auch als eine kollektive, kulturelle Reaktionsform auf gesellschaftliche Veränderungen, etwa sozialen und politischen Machtverlust verstanden werden kann, dann liegt es nahe, die post-imperiale Disposition mit dem Phänomen kollektiver Melancholie zu verknüpfen. Vermutlich besteht hier auch die entscheidende Differenz zwischen all jenen zentraleuropäischen Literaturen, in denen dieses Post-Imperiale eine gravierende Rolle spielt und gespielt hat. Wo das Ende des Imperiums als ein positiver Neuanfang gesehen wird (wie im tschechischen Kontext), da wird sich kaum Trauer einstellen. Exemplarisches Beispiel wäre hierfür etwa das Werk des deutschsprachigen, dem Prager Kreis um Kafka zugerechneten Autors Ludwig Winder (Nachgeholte Freuden). Der Erzähler des Romans berichtet ohne Melancholie vom Untergang des alten Adels in Böhmen, ohne freilich die Kehrseite in Gestalt eines rabiaten Kapitalismus zu unterschlagen. Die Szene, in der Kroate Dupic, ein Mensch aus eingeengten und kleinen sozialen Verhältnissen, das Schloss der Grafen Thun kauft, ist ein zentrales narratives Scharnier im Roman, etwa wenn er sich gegenüber der jungen Komtesse verteidigt: Ich kaufe alles in Bausch und Bogen, das Schloß, den Grundbesitz, alles, was da ist. Ich biete für jedes Objekt eine Summe, die jeder Sachverständige angemessen, wenn nicht sogar zu hoch findet. Ich befreie Ihre verehrten Eltern von allen Sorgen. Ich garantiere Ihnen eine Rente. Ich überlasse Ihnen das Schloß bis auf weiteres. Sie können hier wohnen, als ob sie es nicht verkauft hätten […]. Ich übergebe den Park der Öffentlichkeit, für mich hat er keinen Wert, folglich kann ich ihn nicht kalkulieren. Zweitens soll das Eckhaus gegenüber dem Schloß geräumt werden, weil ich selbst dort wohnen will. Ich bitte, ist das ein Malheur? Ist das ein Grund sich aufzuregen? 21 Melancholie kann also nur bei jenen Völkern und Gruppen aufkommen, für die das Ende der Empires einen Machtverlust, real wie symbolisch, bedeutet, 20 Ebenda, S. 120. 21 Winder, Ludwig: Die nachgeholten Freuden. Wien: Zsolnay 1987, S. 38. Wolfgang Müller-Funk 44 etwa für die Herrschaftseliten des zaristischen Russlands, der Habsburger Monarchie und des Osmanischen Reiches. Möglicherweise aber auch bei jenen, die sich im Habsburgischen Staat geschützt fühlten, wie im Falle der Juden. Um einen Blick über den Zaun zu werfen: Vielleicht unterscheidet das einen Danilo Kiš von Miroslav Krleža und Ivo Andrić. Ähnliche Differenzierungen würde man wohl auch bei ungarischen oder tschechischen Autoren finden. Das Besondere an Joseph Roth besteht nicht zuletzt darin, dass er die postkoloniale Perspektive, in deren Zentrum die marginalisierten Menschen von den Rändern stehen, mit einer postimperialen Sichtweise, die um den Verlust nicht nur von Größe, sondern von Großzügigkeit kreist, suggestiv, aber scheinbar plausibel zu vereinigen imstande ist. So wird das Habsburgische Reich in retrospektiver und melancholischer Rekonstruktion selbst zu einem marginalisierten Komplex. Die Handlung in Die Kapuzinergruft setzt damit ein, dass der Protagonist des Romans, ein Nachfahre des ruhmreichen Trotta aus Radetzkymarsch, des Retters des Kaisers in der Schlacht von Solferino, sich in Wien mit seinen slowenischen Verwandten trifft, einfachen Menschen wie dem Maronibrater und Bauern Joseph Branco aus seiner Heimat. Diese Verwandten kommen als Fremde aus der Peripherie in die entlegene Hauptstadt, die in Roths literarischem Kosmos übrigens eine völlig nebensächliche Rolle spielt. Mein Vetter Joseph Branco saß neben mir, schwarz und südlich, heiter, wach und gesund, ich schämte mich meiner blassen Blondheit und meiner übernächtigen Müdigkeit. Ich war auch ein wenig verlegen. Was sollte ich ihm sagen? Er vergrößerte noch meine Verlegenheit, als er sagte: „Ich trinke keinen Kaffee am Morgen. Ich möchte eine Suppe.“ Freilich! In Sipolje aßen die Bauern des Morgens eine Kartoffelsuppe. 22 Der Roman spielt mit einer Gemeinsamkeit im Unterschied. Der bäuerliche Mann aus der slowenischen Provinz und sein urbanisierter Verwandter in Wien unterscheiden sich vollständig in ihrem gesamten Habitus, in ihrer Stellung zum Leben, aber auch in ihren Lebensgewohnheiten. Kartoffelsuppe gegen Kaffee. Und doch stellt sich zwischen den beiden sehr bald ein herzliches verwandtschaftliches Einvernehmen ein. Kurzum, sie sind Figuren des habsburgischen Mythos, der Bauer aus der Peripherie und der andere, dessen Familie dem Kaiserhaus nahegekommen ist und somit so sehr gentrifiziert worden ist, dass er den Lebensstil der Aristokraten zu seinem Programm macht: Ich teilte mit ihnen (den Aristokraten, A.v.m.) den skeptischen Leichtsinn, den melancholischen Fürwitz, die sündhafte Fahrlässigkeit, die hochmütige Verlorenheit, 22 Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft. Romane 2. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975, S. 234. Das Melancholische und das Imperiale 45 alles Anzeichen des Untergangs, den wir damals noch nicht kommen sahen. […] Vielleicht schliefen in den verborgenen Tiefen unserer Seelen jene Gewißheiten, die man Ahnungen nennt, die Gewißheit vor allem, daß der alte Kaiser starb, mit jedem Tag, den er länger lebte, und mit ihm die Monarchie, nicht so sehr unser Vaterland wie unser Reich, etwas Größeres, Weiteres, Erhabeneres als nur ein Vaterland. 23 Der Roman, nicht Roths gelungenstes Werk, aber für unsere Fragestellung durchaus ergiebig, lässt das Leben Trottas noch einmal Revue passieren, seine gescheiterte Ehe und die schäbige Gegenwart, die in die Apokalypse des Dritten Reiches mündet. Persönliches Scheitern und jenes des Vielvölkerstaates werden narrativ zu einer Folie verwoben. Es ist die Gegenwart, die die Melancholie des Protagonisten in Gang setzt: Zum Verlust der einstigen imperialen Größe gesellt sich eine Handlungsohnmacht angesichts des „Anschlusses“ an das Dritte Reich. Verloren hat dieser späte Trotta aber auch sein persönliches Liebesobjekt, seine Frau, die eine lesbische Beziehung zu einer Kunstmanagerin eingegangen ist. Die Melancholie wird ähnlich wie zuvor die imperiale Macht inszeniert und ritualisiert. Bevor er in den Zug steigt, der ihn ins rettende Exil bringen wird, besucht er noch einmal sein symbolisches Liebesobjekt, die Gedenkstätte des dynastischen Hauses Österreich, die Kapuzinergruft. Dieser schmerzhafte Verlust wird, Stärke und Schwäche von Roths Habsburgischem Kosmos zugleich, pathetisch und plakativ vorgeführt, wenn der sozusagen letzte Trotta als bekennender Monarchist vor seiner Flucht aus Österreich den Ort des habsburgischen Mythos schlechthin, die Familiengruft des Kaiserhauses, aufsucht. Zur Melancholie gehören freilich nicht bloß Ohnmacht und das Gefühl von Vergeblichkeit, sondern auch der Zustand einer existenziellen Ortslosigkeit, die weit über den Zustand des Exils hinausgeht: „Ein Exterritorialer war ich eben unter den Lebenden.“ 24 Wie bei so vielen melancholischen Figuren Roths ist die Melancholie dieses Trotta nicht grundlos. Seine Melancholie ist kein unbestimmter existenzieller Weltschmerz. Sie hat sowohl im Sinne Freuds wie in jenem Lepenies’ durchaus nachvollziehbare Gründe: den Verlust des Liebesobjekts, die Einbuße der Handlungsfähigkeit, die Ohnmacht als Mann in einer Zeit, in der sich das Verhältnis der Geschlechter radikal verändert hat. Hier an dieser Stelle rückt das konservative Momentum von Roths habsburgischem Mythos in den Vordergrund, wenn im mnemotechnischen Ritual des Kapuzinerpaters die Einheit von Thron und Altar beschworen wird: Der Morgen graute über den wildfremden Kreuzen. Ein leiser Wind ging und schaukelte die greisen Laternen, die noch nicht, in dieser Nacht nicht, erloschen waren. 23 Joseph Roth: Die Kapuzinergruft, S. 237. 24 Ebenda, S. 345. Wolfgang Müller-Funk 46 Ich ging durch leere Straßen, mit einem fremden Hund. Er war entschlossen, mir zu folgen. Wohin? - Ich wußte es ebensowenig wie er. Der Bruder Kapuziner kam mir entgegen und fragte: „Was wünschen Sie? “ Ich will den Sarg meines Kaisers Franz Joseph besuchen“, erwiderte ich. „Gott segne Sie! “ sagte der Bruder und er schlug das Kreuz über mich. „Gott erhalte ….! “ rief ich. „Pst! “ sagte der Bruder. Wohin soll ich jetzt, ein Trotta? … Der Text lässt beide Interpretationsmöglichkeiten im Sinne Freuds zu: Man kann diesen Akt als Trauer deuten, weil der rituelle Akt einen Abschluss signalisiert, man kann ihn aber auch als ein Festhalten am imperialen Liebesobjekt verstehen, als eine Melancholie, die durch das Medium des Romans perpetuiert wird. In diesem interpretatorisch wahrscheinlicheren Fall nimmt der Emigrant seine Heimat, das verlorene Liebesobjekt mit in die Fremde. Das Melancholische und das Imperiale 47 Johanna Chovanec (Wien) Istanbul Eine melancholische Stadt im Kontext des Osmanischen Mythos Einleitung In seinem autobiographischen Stadtroman Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt 1 (İstanbul - Hatıralar ve Şehir, 2003) beschreibt der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk die von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt gefühlte Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit gegenüber einer als prunkvoll erachteten osmanischen Vergangenheit: Als ich auf die Welt kam, war Istanbul so heruntergekommen, geschwächt und isoliert wie nie zuvor in seiner zweitausendjährigen Geschichte. Seit ich denken kann, ist die Stadt von Armut gekennzeichnet, von Untröstlichkeit über den Verfall des Reiches, von der Melancholie, die von den Überresten aus großer Zeit ausgeht. 2 Pamuk bezieht sich auf ein Gefühl der Entfremdung, ausgelöst durch den kulturellen und politischen Bruch seit der Gründung der Republik Türkei und den mit ihr einhergehenden Reformen, das zur Melancholie über die verlorene Kultur eines für viele Jahrhunderte bestehenden Reiches führt. Ausgehend von Orhan Pamuks Zitat stellt sich die Frage nach melancholischen Narrativen in der türkischen Literatur, die sich nicht nur auf den Untergang des Osmanischen Reiches als politischer Entität, sondern auch auf damit verbundene kulturelle, soziale und wirtschaftliche Veränderungen beziehen. Die Rückbesinnung auf bereits verlorengegangene, oder sukzessive verschwindende Traditionen, Räume und Orte, sowie die Glorifizierung der imperialen Vergangenheit im Vergleich zur nationalen Gegenwart stehen im Mittelpunkt des von mir bearbeiteten Osmanischen Mythos. 3 Der Genese des Osmanischen Mythos liegt ein Drei-Phasen-Modell 4 zugrunde: Der Ursprung des Mythos in der türkischen Literatur wird mit dem * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Pamuk, Orhan: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Frankfurt/ M.: Fischer 2012. 2 Ebenda, S. 13. 3 Chovanec, Johanna: „Melancholie in der Literatur als Ausdruck des Habsburgischen und Osmanischen Mythos“, in: Karakassi, Katerina; Laskaridou, Olga; Petropoulou, Evi; Sturm-Trigonakis, Elke (Hgg.): Turns und kein Ende: Aktuelle Tendenzen in Germanistik und Komparatistik. Frankfurt/ M. u.a.: Peter Lang 2017, S. 171−186. 4 Chovanec, Johanna: Hüzün - Der Osmanische Mythos als melancholische Rückbesinnung in der türkischen Literatur (Masterarbeit). Wien: Universität Wien 2016. S. 41f. Jahr 1870 festgelegt, da in dieser Zeit die ersten osmanischen Romane publiziert werden, deren Fragestellungen, Verwestlichung und Europäisierung wesentlich zu seiner Bildung beigetragen haben. Die erste Phase umfasst demnach die letzten Jahrzehnte der Existenz des Osmanischen Reiches von 1870 bis 1922, der zweite Abschnitt beginnt mit der Gründung der Republik Türkei 1923 bis 1979, die dritte Periode setzt mit dem Militärputsch 1980 ein. Narrativer Kern des Osmanischen Mythos ist eine kollektive, (post-) imperiale Melancholie, die sich auf jene verlorengegangenen oder verlorengehenden Elemente bezieht, die im Zuge der Transformation vom Imperium zum Nationalstaat unberücksichtigt geblieben, verleugnet oder vergessen worden sind. Zentraler Bezugsort ist dabei Istanbul: Die Hauptstadt des Osmanischen Reiches tritt in der Literatur oftmals als Spiegel der türkischen Gesellschaft auf; an ihr werden soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Veränderungen beobachtet. Nicht nur in Orhan Pamuks Werk, sondern auch bei anderen Autoren wie Yakup Kadri Karaosmanoğlu oder Ahmet Hamdi Tanpınar, die wesentlich zur Genese des Mythos beigetragen haben, kommt Istanbul eine besondere Bedeutung zu. Im Zuge der vorliegenden Arbeit wird auf die Rolle Istanbuls als melancholische Stadt im Kontext des Osmanischen Mythos anhand von je einem literarischen Beispiel pro Phase näher eingegangen: Yakup Kadri Karaosmanoğlus Kiralık Konak (Der vermietete Konak), Ahmet Hamdi Tanpınars Beş Şehir (Fünf Städte) und Orhan Pamuks İstanbul - Hatıralar ve Şehir (Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt). Charakteristisch für alle Phasen ist das Moment des kollektiv Melancholischen, das sich von antiken Vorstellungen der schwermütigen Disposition unterscheidet und auf Denker wie Robert Burton zurückgeht. 1 Die Lokalisierung einer kollektiven Melancholie Seit der Antike ist die Melancholie vor allem Merkmal des/ der einzelnen - sei es als Krankheit, die in die Nähe zur Depression gerückt wird, oder als Hinweis auf die Genialität des/ der Leidenden. Diese zwei unterschiedlichen Auffassungen bestehen, bis der Theologe Robert Burton (1577-1640) in seinem Werk The Anatomy of Melancholy (1621) eine Erweiterung des Begriffs auf Kollektive vollzieht: Symptome von Melancholie beobachtet er nämlich nicht nur bei Menschen sondern auch bei Tieren, Pflanzen und sogar bei Staaten. 5 Tyrannische Regierungen, Barbarei und Unterdrückung sind unter anderem Ursachen von schwermütigen Staatsgebilden: „Kingdoms, provin- 5 Burton, Robert: The Anatomy of Melancholy. What it is: With all the Kinds, Causes, Symptoms, Prognostics, and Several Cures of it. In Three Partitions with their Several Sections, Members, and Subsections, Philosophically, Medically, Historically, Opened and Cut up. Philadelphia: Claxton & Company 1883, S. 51. Johanna Chovanec 50 ces, and politic bodies are likewise sensible and subject to this disease.“ 6 Hier findet mit Burtons Melancholie-Konzeption die bereits erwähnte diskursgeschichtliche Verschiebung statt, die über die auf Hippokrates beruhenden medizinisch-pathologischen Erklärungen (Humorallehre) hinausgeht und auch nicht mit dem von Aristotles geprägten Geniebegriff in Zusammenhang steht: „Beide Auffassungen standen einer Deskription wie der Burtons eigentlich entgegen, weil diese nicht selektiv, sondern universal war, Melancholie weder als singuläre Krankheit noch als vereinzeltes Genie - Merkmal auffassen wollte.“ 7 Burtons schwermütige Staatsgebilde haben vor allem eines verloren: Ordnung. Die aus diesem Verlust resultierende Unordnung, die Armut, Unglück und Missstände umfasst, führt zu einer kollektiven Melancholie: But whereas you shall see many discontents, common grievances, complaints, poverty, barbarism, beggary, plagues, wars, rebellions, seditions, mutinies, contentions, idleness, riot, epicurism, the land lie untilled, waste, full of bogs, fens, deserts, cities decayed, base and poor towns, villages depopulated, the people squalid, ugly, uncivil; that kingdom, that country, must needs be discontent, melancholy, hath a sick body, and had need to be reformed. 8 Der Verlust rückt in Sigmund Freuds 1917 publizierter Abhandlung über Melancholie und Trauer als individualpsychologischer Befund in den Vordergrund. 9 Freud hebt hervor, dass die Anlässe dafür, melancholisch zu werden oder zu trauern, zumeist die gleichen sind. Der Grund für Trauer kann die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person sein aber auch auf den Verlust einer Abstraktion wie Vaterland, Freiheit oder ein Ideal. 10 Die gleichen Umstände können bei manchen Personen auch Melancholie auslösen, die jedoch - im Gegensatz zur Trauer - eine krankhafte Disposition sei. Slavoj Žižek bezieht sich in seinem Aufsatz „Melancholy and the Act“ auf Freud und wertet die Melancholie gegenüber der Trauer im Sinne einer ethischen Vorrangstellung auf: „Against Freud one should assert the conceptual and ethical primacy of melancholy. […] Mourning is a kind of betrayal, the second killing of the (lost) object, while the melancholic subject remains faithful to the lost object, refusing to renounce his or her attachment to it.“ 11 6 Burton: The Anatomy of Melancholy, S. 52. 7 Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1969, S. 28. 8 Burton: The Anatomy of Melancholy, S. 52. 9 Freud, Sigmund: „Trauer und Melancholie“, in: Mitscherlich, Alexander/ Richards, Angela/ Strachey, James (Hgg.): Studienausgabe. Band 3. Psychologie des Unbewußten. Frankfurt/ M.: Fischer 2001, S. 197-212. 10 Freud: Trauer und Melancholie, S. 197. 11 Žižek, Slavoj: „Melancholy and the Act“, in: Critical Inquiry 26, Nr. 4 (2000), S. 657-681, hier S. 658. Istanbul 51 Wie auch Burton vollzieht Žižek in seinem Aufsatz eine Erweiterung vom Individuum hin zur Melancholie als kollektive Disposition von bestimmten Gruppen. Dabei hebt Žižek hervor, dass Melancholie das sehr bewusste Festhalten an etwas Verlorenem oder Verdrängtem zum Ausdruck bringt. Er weist ihr eine ethische Bedeutung in Bezug auf die Notwendigkeit des Erinnerns und Nicht-Vergessens in vor allem post-kolonialen Gesellschaften zu. Die Schwermut des/ der Einzelnen kann aus dem insgesamt vorherrschenden Unmut einer Gemeinschaft resultieren. Literarisch ausgedrückte, kollektive Melancholie über eine verlorengegangene politische und kulturelle Entität als kollektive Grundstimmung ist der literaturwissenschaftliche Befund von Claudio Magris: Er setzt einen gesellschaftlichen und politischen Umbruch, nämlich den Wechsel vom Imperium zum Nationalstaat, in Verbindung mit den Spuren dieses Wandels in der österreichischen Literatur. Im Zentrum von Magris Werk steht die These des „Habsburgischen Mythos“. 12 Der Leitgedanke ist, dass die Rückbesinnung auf die monarchische Ordnung vor dem Ersten Weltkrieg zum Leitmotiv der österreichischen Literatur nach 1918 wird. Die Mythisierung der habsburgischen Welt setzt jedoch bereits früher ein, und zwar als politisches Instrument des Herrscherhauses, um Einheit und Zusammenhalt im Reich zu stiften. Sie ist keine einfache Evokation der Vergangenheit, sondern gliedert sich an den „Prozeß der Deformierung der österreichisch-ungarischen Realität“ 13 an. Schriftsteller wie Joseph Roth (1894-1939), Stefan Zweig (1881- 1942) und Franz Werfel (1890-1945) gehören zur letzten Phase des Habsburgischen Mythos, der davor politisches Tool war, um das untergehende, separatistischen Tendenzen ausgesetzte Reich mit Hilfe einer übernationalen Ideologie zu retten. Auch im osmanischen Kontext zielte die osmanistische Identitätspolitik im 19. Jahrhundert darauf ab, ein Gegenmodell für die separatistischen Tendenzen zu entwerfen und nationale Autonomiebestrebungen zu verhindern. Die völkervereinende, inklusive Ideologie des Osmanismus konnte zwar nicht die zentrifugalen Kräfte bannen, die zur Auflösung des Reiches beigetragen haben, sie hatte jedoch bis ins 20. Jahrhundert einen wichtigen Einfluss nicht nur auf das politische, sondern auch auf das kulturelle Leben. Der Osmanismus war der Versuch einer ideologischen Antwort auf die Prozesse der Modernisierung und Europäisierung, auf die wirtschaftliche, semi-koloniale Abhängigkeit, in die das Reich geraten war. 12 Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Zsolnay 2000. 13 Ebenda, S. 22. Johanna Chovanec 52 Die dem Osmanischen Mythos zugrundeliegende Melancholie ist das Bestreben eines Kollektivs, sich an das, was verlorengeht, zu erinnern, es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Reformen, die die Transformation vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei begleitet haben, die Nationalisierung der Wirtschaft und später die Einbettung in den weltweiten kapitalistischen Markt haben sich signifikant auf die nun national orientierte Kultur ausgewirkt. Melancholie hat in diesem Zusammenhang eine gesellschaftliche Bedeutung: Autochthone Strukturen sollen beibehalten werden und nicht in einer globalen Kultur aufgehen. Darüber hinaus impliziert Melancholie eine Verantwortung im Sinne Žižeks. Auf Basis eines Festhaltens an der Erinnerung soll gerade nicht, wie Freud schreibt, alle Libido vom verlorengegangenen Objekt abgezogen werden. Istanbul, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, kommt in der Genese des Osmanischen Mythos und der Lokalisierung der ihm zugrundeliegenden kollektiven Melancholie eine besondere Bedeutung zu. Die europäisierenden Reformen im 19. Jahrhundert und der mit der Gründung der Republik Türkei einhergehende Bruch mit dem kulturellen Erbe des Osmanischen Reiches führen zu einem Gefühl der Entfremdung, das in unterschiedlicher Weise literarisch ausgedrückt wird. Diese Entzweiung spiegelt sich in verschiedenen Bereichen des Stadtlebens Istanbuls wider und repräsentiert die Krise einer sich rasant unter europäischem Vorbild modernisierenden Gesellschaft. Besonders sichtbar ist dies anhand der sich bereits im 19. Jahrhundert wandelnden Wohnkultur: Kleinfamilien mit ihren individuellen Bedürfnissen und Lebensweisen ziehen neue Formen des Zusammenlebens dem gemeinschaftlichen Lebensziel des Großfamilienverbandes vor. Einschneidende Veränderungen bringen die neuen, kapitalistischen Markstrukturen, die zur Zerstörung lokaler Formen des Wirtschaftens führen. Melancholische Nuancen beruhen auf der Tatsache, dass für viele Istanbullus Istanbul nicht mehr verstehbar, unlesbar geworden ist. Bezugnehmend auf Roland Barthes ist nämlich jeder Stadt eine gewisse „Stadtsemantik“ zu eigen: So ist die Stadt „ein Diskurs, und dieser Diskurs ist wirklich eine Sprache: Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen“. 14 Das Wohlbefinden von Individuen in einer Stadt hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut sie die Sprache der Stadt verstehen, beziehungsweise das Diskursuniversum mitsamt seiner unterschiedlichen Zeichen dechiffrieren können. Es geht also um die Betrachtung einer Stadt als Text, den man lesen oder gelegentlich auch nicht verstehen kann. Andreas Mahler zur Fol- 14 Barthes, Roland: „Semiologie und Stadtplanung“, in: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1988, S. 199-209, hier S. 202f. Istanbul 53 ge hat jede Stadt „eine Textur, eine jeweils spezifische Semiotik, in der sich Zeichen neben Zeichen stellen, Bedeutung tragen, gewinnen oder verlieren und so das Handeln ihrer Benutzer - Bewohner wie Besucher - prägen“. 15 Nicht zuletzt aus diesem Grund sind Städte oftmals wichtige Handlungsräume oder gar Protagonisten in der Literatur. Die rasanten Veränderungen des Stadtbildes entfremden die Istanbuler Bevölkerung jedoch von ihrer eigenen Stadt und machen sie für diese nicht mehr lesbar. Die osmanische Hauptstadt tritt in der Literatur als Erinnerungsraum auf. Beschwört wird ein Osmanischer Mythos: eine heile Welt, in der alles in Ordnung schien, und deren Zentrum Istanbul war. 15 Mahler, Andreas: „Stadttexte - Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Mahler, Andreas (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination. Heidelberg: Winter 1999, S. 11-36, hier S. 11. 16 Karaosmanoğlu, Yakup Kadri: Kiralık Konak. Istanbul: Iletişim 1995. 2 Phase 1: Yakup Kadri Karaosmanoğlu und der Auszug aus dem Konak Die erste Phase des Osmanischen Mythos (1870-1922) ist vor dem Hintergrund der europäischen Einflussnahme und Interventionen zu sehen, die das 18. und vor allem das 19. Jahrhundert geprägt haben. Die europäischen Großmächte treten nicht nur als Geldgeber für das zunehmend wirtschaftlich schwächelnde Reich, den „kranken Mann am Bosporus“, auf, sondern auch als Schutzmächte für die nicht-muslimischen Minderheiten. Das ambivalente Verhältnis zu Europa pendelt zwischen den Bestrebungen, sich am westlichen Fortschrittsmodell zu orientieren und sich gleichzeitig abzugrenzen, um politische sowie kulturelle Autonomie zu bewahren. Um den Forderungen der Großmächte zu entsprechen, aber auch um das Reich vor Einflussnahmen von außen zu schützen, werden ab 1839 die so genannten Tanzimat-Reformen umgesetzt. Diese im Türkischen als „Tanzimat dönemi“ bezeichnete Periode der Neuordnung dauert bis 1878 an. In diese Zeit wird auch der Roman als literarisches Genre ins osmanische Reich „importiert“: Ab den 1840ern werden die ersten Übersetzungen europäischer, vor allem französischer Romane publiziert, ab 1870 entstehen die ersten osmanischen Romane. Letztere zeichnen sich durch Anzeichen einer Melancholie aus: Sie stehen unter den Vorzeichen des Reform-Zeitalters und beziehen sich auf eine Angst vor dem Verlust der traditionellen osmanischen Ordnung und den Verfall osmanisch-islamischer Werte. Als literarisches Beispiel für die erste Phase des Osmanischen Mythos wird im Folgenden der Debutroman Kiralık Konak 16 von Yakup Kadri Karaosmanoğlu (1889-1974) näher beleuchtet. Er wurde ab 1920 in Fortsetzungen Johanna Chovanec 54 publiziert und erschien 1922 in Buchform. Die erzählte Zeit umfasst die Jahre von 1908 bis 1917: „Geschildert wird die Auflösungsphase der osmanischen Gesellschaft, aufgezeigt durch drei Generationen einer Familie, den Verfall der alten Werte und ihre Ablösung durch eine fragwürdige neue Ordnung (Jungtürkenherrschaft), die einen Sittenverfall mit sich bringt […].“ 17 Zentrales Thema in diesem Werk ist Verwestlichung (alafrangalık), ein Prozess, der sich unter anderem in einem Wandel der Wohn- und Alltagskultur Istanbuls niederschlägt. 18 Wie der Titel des Romans suggeriert, ist der Ort der Handlung ein Konak in Istanbul. Als Konak wird der Wohnsitz gutbürgerlicher Familien im Osmanischen Reich bezeichnet, der einer Villa oder einem Herrenhaus ähnelt. Diese Wohnform umfasst das gemeinsame Zusammenleben der Großfamilie samt einer entsprechenden Anzahl an Bediensteten. Insofern symbolisiert das Leben im Konak eine kommunitaristische Lebensführung: Im Zentrum ist die Gemeinschaft, beziehungsweise die gemeinschaftlich organisierte Lebensweise der Familienmitglieder, und nicht das Individuum. Der Konak symbolisiert das spätosmanische, sowohl östlich als auch zunehmend westlich geprägte Kulturleben des 19. Jahrhunderts. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollziehen sich in Istanbul sukzessive umfassende, städtebauliche Veränderungen. Mit dieser Entwicklung ging eine Umgestaltung der Wohnkultur einher: Der Konak, ein Symbol spätosmanischer Lebensweise, weicht zunehmend neuen Wohnformen, dem Leben im Apartman. Letzteres steht für den Aufbruch in eine ausschließlich westlich ausgerichtete Moderne, die sich von der islamisch-osmanischen Tradition distanziert. Die Bezeichnung Apartman für modernes Wohnen ist vom Französischen übernommen und kennt zunächst kein sprachliches Äquivalent im Türkischen. Dieses Wort ist nur ein Beispiel dafür, dass es im kulturellen Zentrum Istanbul vermehrt Bestrebungen gibt, die osmanisch-türkische (Literatur-) Sprache, bis dahin geprägt von arabischen und persischen Wörtern, zu vereinfachen und gleichzeitig mit französischen Wörtern anzureichern. Als zentraler Ort sozialen Zusammentreffens nimmt der Konak eine wichtige Stellung in der türkischen Literatur ein: „The Ottoman-period house also took on value and meaning in the realm of literature where it was imagined according to what was believed to have gone inside it and how that lifestyle was interpreted.“ 19 Konaks fielen oft Feuern anheim und wurden in der 17 Caner, Beatrix: Türkische Literatur: Klassiker Der Moderne. Hildesheim: Olms 1998, S. 231. 18 Akpınar, Soner: „Yakup Kadri Karaosmanoğlu’nun romanlarında ‚alafrangalık‘ teması“, in: Journal of International Social Research 1, Nr. 4 (2008), S. 62-76, hier S. 67. 19 Bertram, Carel: Imagining the Turkish House: Collective Visions of Home. Austin, Texas: Univ. of Texas Press 2008, S. 17. Istanbul 55 Tanzimat-Zeit zunehmend durch Ziegelhäuser ersetzt. Mit dem sukzessiven Verschwinden der alten Holzhäuser verschwand gleichzeitig auch eine Form der sozialen Ordnung: „As a novel Kiralık Konak preserves - or constructs - the memory of this order by referring not to a comfortable Turkish wooden architecture but to a carefully delineated system of rules and hierarchies, a space of defined social behavior with the family’s father at its apex.“ 20 In Karaosmanoğlus Roman ist das Familienoberhaupt und die damit höchste Autorität im Roman Naim Efendi, ein pensionierter Staatsbeamter und Witwer, der zusammen mit seiner Großfamilie in einem Istanbuler Konak wohnt. Er wird als einer der letzten „wahren Osmanen“ charakterisiert, der islamisch-osmanische Werte hochhält und in Bescheidenheit und Ehrlichkeit lebt. Das Familienoberhaupt reflektiert hier, wie in vielen Romanen, den Sultan. Sein Haus ist der Mikrokosmos, der das Osmanische Reich spiegelt. Sultan wie Familienoberhaupt haben die Verantwortung, für Stabilität und Ordnung zu sorgen. Doch Naim Efendi entgleitet die Führung seiner nach materiellen Gütern und westlicher Kultur strebenden Familie im Konak. So ist er zwar schockiert über den neuen Lebensstil seiner Verwandten, jedoch gleichzeitig gelähmt, etwas dagegen zu unternehmen. Er kann die leitenden Prinzipien und Werte, die vormals osmanische Autorität ausgezeichnet haben, nicht mehr vermitteln und bezahlt für die Erfüllung der materiellen Wünsche seiner Kinder und Enkel bis er in finanzielle Nöte gerät. Genauso wie das Osmanische Reich, das 1875 seinen Staatsbankrott erklären musste, gelangt Naim Efendi in wirtschaftliche Abhängigkeiten und muss den Konak vermieten („Kiralık“). Naim Efendi verliert zunehmend den Bezug zu der sich rasant wandelnden Kultur und kann nicht mehr am sozialen und kulturellen Leben der jüngeren, am Westen orientierten Generationen teilhaben. Nicht nur Lebensgewohnheiten und Werte verändern sich, sondern auch die Sprache. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird die Sprachvereinfachung zu einem der Hauptthemen in der osmanischen Kulturszene. Das von Arabismen und Persismen geprägte osmanische Türkisch soll „alltagstauglicher“, die Literatur von der breiten Bevölkerung verstanden werden. Gleichzeitig gelangen Modewörter aus dem Französischen in den alltäglichen Sprachgebrauch. Naim Efendi kann schließlich nicht einmal mehr die neuen Romane verstehen, die seine Verwandten lesen. Sprache und Literatur sind ihm nicht mehr vertraut, zwischen den Zeilen findet er „yabancılık“ (Fremdheit) und „gariplik“ (Merkwürdigkeit). 21 20 Bertram: Imagining the Turkish House, S. 106. 21 Karaosmanoğlu: Kiralık Konak, S. 23. Johanna Chovanec 56 In Yakup Kadri Karaosmanoğlus Werk findet sich die Figur des züppe oder alafranga züppesi, einem türkischen Dandy, der die eigene Kultur ablehnt und europäische Moden, Sprachen oder Verhaltensweisen nachahmt. In diesem Roman ist es beispielsweise Servet Bey, Naims Efendis Schwiegersohn, der die türkische Sprache komplett ablehnt und nur noch französisch sprechen möchte. An anderer Stelle im Roman heißt es, dass Servet Bey für eine mögliche Reise nach Europa immer einen gepackten Koffer bereithält. Neben dem Koffer liegt auch eine Hutschachtel: „Daima muhayyel bir Avrupa seyahati için hazırlanmış bir bavulu vardı, bu bavulun yanıbaşında bir de şapka kutusu dururdu.“ 22 Wenn ihm langweilig ist, steht er vor dem Spiegel und probiert voller Begeisterung unterschiedliche Hüte an. Die neue Generation, zu der Servet Bey zählt, verleugnet die moralische Autorität ihrer Väter und bevorzugt den westlichen und individualistischen Lebensstil, der Reform und Fortschritt verspricht. Genauso wie der Sultan verliert Naim Efendi an Einfluss sowie Autorität und kann den Zusammenhalt im Konak nicht mehr gewährleisten. Auch im Reich treten anstelle eines inklusiven Zusammenlebens im Sinne der politischen Ideologie des Osmanismus separatistische, nationalistische Tendenzen. Bevölkerungsgruppen streben nach Autonomie und favorisieren die Idee der eigenen Nation. In Kiralık Konak ziehen die unterschiedlichen Individuen letztendlich aus dem Konak aus, um in eigenen kleinen Appartements in Istanbul zu wohnen. 3 Phase 2: Eski Istanbul’da - Ahmet Hamdi Tanpınars altes Istanbul Das Osmanische Reich geht nach dem Ersten Weltkrieg als rechtliche Entität unter, Teile seines vormaligen Territoriums bilden seit 1923 die Republik Türkei. Die zweite Phase des Osmanischen Mythos umfasst die Zeit zwischen 1923 und 1980. In dieser Periode verhindert die von den kemalistischen Eliten vollzogene politische Loslösung vom Osmanischen Reich auch Bezugnahmen auf seine multinational und multikonfessionell geprägte Kultur: Das Osmanische Reich, seine Geschichte und seine kulturellen Traditionen werden im Zeichen des ‚nation building‘ als rückständig abgelehnt. Die imperiale Vergangenheit wird als das abzulehnende ‚Andere‘ zu Gunsten des modernen, türkischen Nationalstaates, den es herauszubilden gilt, aufgegeben. In diesem Sinne haben sich die Befürchtungen jener Autoren, die zunehmend melancholisch auf einen drohenden Kulturverlust hinweisen, bewahrheitet. Auf politischer Ebene signalisieren die Aufhebung des Sultanats (1922) und die Abschaffung des Amtes des Kalifen (1924) den Neubeginn. 22 Ebenda, S. 25. Istanbul 57 Im gesellschaftlichen Bereich und im Kulturwesen kommt es ebenfalls zu Reformen, die den klaren Schnitt von der imperialen Vergangenheit ziehen sollten. Beispiele dafür sind die Annahme des lateinischen Alphabets (1928), die Schließung der Derwischklöster oder die Hut- und Bekleidungsneuordnungen (1925). In der Literatur werden konkrete politische Referenzen, die den Übergang vom Imperium zum Nationalstaat kritisch beleuchten, vermieden. Die Melancholie knüpft sich vorwiegend an das vormalige imperiale Zentrum Istanbul, das nun einen Status- und Machtverlust erfahren hat. Obwohl Ankara 1923 zur Hauptstadt der Republik Türkei erklärt wird, bleibt Istanbul, wenn auch nicht mehr das politische, so das kulturelle Zentrum des Landes. Der Schnitt mit der imperialen Vergangenheit, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Reformen sowie die demographischen Verschiebungen führen zu städtischen Veränderungen. Viele Schriftsteller/ innen leben und wirken in Istanbul, so auch der türkische Literaturwissenschaftler Ahmet Hamdi Tanpınar (1901-1962). In einem Brief schreibt Tanpınar: „Bis 1932 war ich tief im Westen verwurzelt. Ich lehnte den Orient komplett ab. Ab 1932 lebte ich dann im Orient. Ich glaube, dass unser ‚Lebensklima‘ eine Synthese aus beidem sein sollte.“ 23 Sein erstmals 1946 publiziertes essayistisches Werk Beş Şehir 24 (Fünf Städte 25 ) nennt der Autor eine Studie über diese Synthese. Istanbul wird hier das umfangreichste und längste Kapitel gewidmet. Mit den Worten „Eski İstanbul‘da“, „im alten Istanbul“, leitet er viele Absätze ein und entsinnt sich der verlorenen imperialen Hauptstadt. Da die deutsche Übersetzung an mehreren Stellen unzureichend ist, wird die türkische Ausgabe teilweise paraphrasiert und der Originaltext in den Fußnoten angeführt. Tanpınar beschreibt, dass sich seit der Tanzimat-Zeit die Wahrnehmung der Menschen von Istanbul verändert habe: „Das Tanzimat sah Istanbul mit völlig anderen Augen. Es erblickte in ihr einen Schmelztiegel einer neuartigen Synthese, die durch die Vereinigung zweier Kulturen entstehen würde.“ 26 Seine eigene Generation hingegen hätte jedoch wieder einen anderen Blick auf die Stadt: War Istanbul vormals das Zentrum des Osmanischen Reiches und der islamischen Welt gewesen, könne man nun „keine golddurchwirkten 23 Tanpınar, Ahmet Hamdi: „Luxe, calme et volupté“, in: Kirchner, Mark (Hg.): Geschichte der Türkischen Literatur in Dokumenten: Hintergründe Und Materialien Zur „Türkischen Bibliothek“. Wiesbaden: Harrassowitz 2008, S. 117-119, hier S. 119. 24 Tanpınar, Ahmet Hamdi: Beş Şehir. Istanbul: Milli eĝitim basımevi 1969. 25 Tanpınar, Ahmet Hamdi: Fünf Städte. Ankara: Kültür Bakanlığı 1996. 26 Tanpınar: Fünf Städte, S. 176 bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 141: „Tanzimat İstanbul’a büsbütün başka bir gözle baktı. O, bu şehirde, iki medeniyeti birleştirerek elde edilecek yeni bir terkibin potasını görüyordu.“ Johanna Chovanec 58 und verzierten Ehrengewänder“ erträumen und die Stadt auch nicht mehr „von einer religiösen Warte aus“ betrachten. 27 Vielmehr wende man sich nun den Sehnsüchten nach der Vergangenheit und der Erinnerung zu. In diesem Zusammenhang verwendet Tanpınar einen Begriff arabischen Ursprungs: „dâüssıla“. 28 Dieser Begriff kann, wie in der deutschen Version, als Nostalgie übersetzt werden, aber auch Sehnsucht („hasret“, diesen Begriff verwendet Tanpınar ebenfalls) oder Heimweh („sıla hastalığı“, „sıla hasreti“) bedeuten. 29 Diese insgesamt wehmütigen Stimmungen beziehen sich auf ein Istanbul, das seinen ursprünglichen Charakter unwiederbringlich verloren hat. Der türkische Autor beschreibt im Folgenden die jeweils sehr unterschiedlichen Stadtviertel und Landstriche, die verschiedene Emotionen und Fantasien evozieren. In diesem Kontext verwendet er den Begriff hüzün, der in Orhan Pamuks Istanbul zum Leitmotiv der Stadtbeschreibung werden wird. In der deutschen Übersetzung heißt es, „jeder Istanbuler weiß […], daß von den Gipfeln von Camlica aus das Lichtermeer des abendlichen Istanbuls den Menschen auf andere Weise schwermütig stimmt“. 30 In der türkischen Originalfassung ist von „hüzünle doldurmak“ die Rede, also davon, mit Melancholie oder Schwermut erfüllt zu werden. 31 Die Melancholie bezieht sich auch auf die zunehmende Modernisierung des alltäglichen Lebens und auf den Einfluss europäischer Strömungen. Früher konnten die Bewohner/ innen Istanbuls die Jahreszeiten anhand von Besonderheiten der Stadt ablesen („Jetzt haben wir den April, auf den Hügelrücken am Bosporus sind die Judasbäume erblüht! “). 32 Tanpınar beschreibt, dass die alten Istanbullus deshalb wie in einem Märchen gelebt hätten. 33 Dieses Reich der Poesie beziehungsweise der Gedichte sei jedoch in der Ge- 27 Tanpınar: Fünf Städte, S. 176, bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 141: „Bizim nesil için İstanbul dedelerimiz, hattâ babalarımız için olduğundan çok ayrı bir şeydir. O muhayyilemize sırmalı, altın işlemeli hil’atlere bürünerek gelmiyor, ne de din çerçevesinden onu görüyoruz.“ 28 Tanpınar: Fünf Städte, S. 141: „O kadar ki istanbul’un bugün bizde yaşayan asıl çehresini bu dâüssıla verir, diyebiliriz.“ 29 Vgl. http: / / www.etimolojiturkce.com/ kelime/ da%C3%BCss%C4%B1la (Zugriff 15.1.2017). 30 Tanpınar: Fünf Städte, S. 177. 31 Tanpınar: Beş Şehir, S. 142: „Her İstanbullu Boğaziçi’nde sabahın başka semtlerinden büsbütün ayrı bir lezzet olduğunu, Çamlıca tepelerinden akşam saatlerinde İstanbul’da ışıkların yanmasını seyretmenin insanın içini başka türlü bir hüzünle doldurduğunu bilir.“ 32 Tanpınar: Fünf Städte, S. 181, bzw. Tanpınar: Beş şehir, S. 145: „‚Teşrinler geldi, lüfer mevsimi başlayacak‘ yahut ‚Nisandayız, Boğaz sırtlarında erguvanlar açmıştır‘ diye düşünmek, yaşadığımız ânı efsaneleştirmeğe yetişir.“ 33 Tanpınar: Beş Şehir, S. 145: „Eski İstanbullular bu masalın içinde ve sadece onunla yaşarlardı.“ Istanbul 59 genwart weitgehend verlorengegangen, fremdbestimmte Sehnsüchte würden es nun prägen. 34 Istanbul hat jene Balance verloren, die es früher zu einer der wichtigsten Städte weltweit gemacht habe: „Das alte Istanbul war eine Synthese. Es war aus der Verschmelzung - selbst nach heutigen Maßstäben - vielfältigster großartiger und unscheinbarer, bedeutender und unbedeutender, alter und neuer, einheimischer und fremdländischer Momente entstanden.“ 35 Tanpınar spielt auch auf die multikulturelle, multiethnische, multinationale und multireligiöse Bevölkerung an, die im osmanischen Istanbul gelebt und das Stadtbild geprägt hat. Sie ist für den wirtschaftlichen Erfolg der Stadt verantwortlich gewesen, für den nun verblassten Glanz vergangener Tage: „Durch diese Märkte strömte eine kunterbunte Menschenmenge an deren Gewändern man auf den ersten Blick die Konfessions-, Sprach- und Rassenunterschiede, ja sogar die Herkunft der Menschen nach Kontinenten erkennen konnte.“ 36 Zur vielfältigen Bevölkerung gehörten die Straßenverkäufer, die sich in den Stadtvierteln, mahalle, aufhielten und ihre jeweiligen Produkte verkauften. Sowohl die Straßenverkäufer als auch das reichhaltige Leben der mahalleler existieren nur mehr in der osmanischen Vergangenheit: „Weder der Alte, der Lampen und Zylinder verkaufte, noch der Sesamkringelverkäufer oder diejenigen, die mit Surahis, einer Art Wasserkaraffe, Trinkgläsern oder Tellern handelten, existieren heute noch.“ 37 Lediglich Yoghurtverkäufer gibt es in den 1940ern noch in manchen Stadtteilen. Ihnen hat Orhan Pamuk in seinem Roman Diese Fremdheit in mir (Kafamda bir Tuhaflık, 2014) ein Denkmal gesetzt. Mit den Straßenverkäufern verschwinden auch ihre spezifischen Rufe, die den Tagesrhythmus Istanbuls prägten und zur ganz typischen, städtischen Geräuschkulisse gehörten. 38 In den traditionellen Stadtvierteln, in denen Verkäufer ihren Geschäften nachgingen, werden lokale Strukturen zunehmend durch den Bau von Wohnblöcken abgelöst. Tanpınars mahalleler des alten Istanbuls gehören 34 Ebenda, S. 145: „Onu şimdi daha ziyade yabancı daüssılalar idare ediyor. Paris, Holivud, - hattâ dünkü Peşte ve Bükreş - istanbul‘un ışıklarını içimizde her gün biraz daha kıstılar.“ 35 Tanpınar: Fünf Städte, S. 186f., bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 150: „Eski İstanbul bir terkipti. Bu terkip küçük büyük, manalı mânâsız, eski yeni, yerli yabancı, güzel çirkin - hattâ bugün için bayağı - bir yığın unsurun birbiriyle kaynaşmasından doğmuştu.“ 36 Tanpınar: Fünf Städte, S. 183, bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 147: „Bu çarşılarda çok değişik kıyafetlerinin aralarındaki mezhep, dil, ırk, hattâ kıt’a ayrılıklarını ilk bakışta kavranacak hale getirdiği rengârenk bir insan kalabalığı akardı.“ 37 Tanpınar: Fünf Städte, S. 190, bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 153: „Artık ne lâmba ve lâmba şişesi satan ihtiyar, ne simitçi, ne de sürahi, bardak, tabak satanlar kalmadı.“ 38 Tanpınar: Beş Şehir, S. 152: „Satıcı sesleri bunlardan biriydi. Eski İstanbul mahallelerinde bu sesler bütün bir günü baştanbaşa idare eder, saatlerin rengini verirdi.“ Johanna Chovanec 60 nun der Erinnerung an. 39 Während im alten Istanbul die Bewohner/ innen aufeinander angewiesen sind und im Konak gemeinschaftliches Leben pflegen, setzt sich zunehmend eine individualistische Lebensweise durch. Wie schon Yakup Kadri Karaosmanoğlu, kritisiert Tanpınar diesen Wandel: Der Wohnblock „unterbindet die Kommunikation zwischen den Bewohnern der oberen und unteren Stockwerke, schert sich nicht um Leben oder Tod“. 40 An die Stelle des generationsübergreifenden, familiären Holzhauses treten kleine Appartements. Zudem sei die Gesellschaft in Tanpınars Kindheit, die er noch im osmanischen Reich verbracht hat, nicht gespalten gewesen. Der türkische Autor stellt fest, dass reiche und arme Menschen keine gemeinsamen Ausflüge mehr miteinander unternehmen, da „eine Reihe importierter Modeerscheinungen und Sehnsüchte“ die Istanbuler auseinanderdividiert hat. 41 Neben dem Kulturverlust und den bereits genannten Veränderungen des Istanbuler Stadtbildes ist auch der Rückgang von Natur ausschlaggebend für melancholische Reflexionen: „Das einzige, das im alten Istanbul mit der Schönheit der Baukunst konkurrieren konnte, war die Pracht der Bäume.“ 42 Tanpınar bezieht sich auf diverse Istanbul-Reisende wie Elisabeth Craven oder Alphonse de Lamartine, die ebenfalls die Besonderheit der „grünen“ Stadt hervorgehoben haben. Wichtige Architekten wie Sinan haben durch das Anlegen von Grünanlagen und das Pflanzen von Bäumen wie Platanen und Zypressen eine Synthese zwischen Baukunst und Natur geschaffen. An dieser Stelle erwähnt Tanpınar wieder das Wort Hüzün, 43 denn Kiefern und Pinien würden zu Istanbuls schwermütiger Gemütsverfassung beitragen. Die demographischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts, die ihre Gründe vor allem in der Landflucht haben, sind ausschlaggebend für einen Bauboom, der bis heute anhält und innerstädtische Grünflächen zerstört. Gleichzeitig werden historische Gebäude abgerissen und durch moderne Hochhäuser ersetzt. 39 Ebenda, S. 157: „eski İstanbul mahalleleri artık sadece bir hâtıradır“. 40 Tanpınar: Fünf Städte, S. 95f., bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 156f.: „Bugünün mahallesi artık eskiden olduğu gibi her uzvu birbirine bağlı yaşaman topluluk değildir; sadece belediye teşkilâtının bir cüzü olarak mevcuttur. Zaten mahallenin yerini yavaş yavaş alt kattaki üsttekinden habersiz, ölümüne, dirimine kayıtsız, küçük bir Babil gibi, her penceresinden ayrı bir radyo merkezinin nağmesi taşan apartman aldı.“ 41 Tanpınar: Fünf Städte, S. 196, bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 157: „Bir yandan iktisadî şartların değişmesi, öbür yandan bu zevkin kalmaması, dışarıdan gelen bir yığın yeni modanın ye hasretin her gün bizi birbirimizden biraz daha ayırması, eskiye karşı duyulan haklı haksız bir yığın tepki, İstanbul’u bütün halkının beraberce eğlendiği bir şehir olmaktan çıkardı.“ 42 Tanpınar: Fünf Städte, S. 235, bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 188: „Eski İstanbul’da mimarînin saltanatına rekabet eden başka güzellik varsa o da ağaçlardı.“ 43 Tanpınar: Beş Şehir, S. 191: „İstanbul peyzajındaki asil hüznü biz bu iki ağaçla çam ye fıstık çamlarına borçluyuz.“ Istanbul 61 Das natürliche und architektonische Erbe der Stadt geht verloren und wird für künftige Generationen nicht gewahrt. Der Tod eines Baumes gleicht dem Verlust eines großen Bauwerks. Wir haben uns jedoch seit mehr als 100 Jahren an beides gewöhnt. Vor unseren Augen verfallen die Meisterwerke wie Steinsalz, das man im Wasser auflöst, und werden zu Asche- und Erdhaufen. In jedem Stadtteil Istanbuls stehen Medressen und reizende kleine Moscheen, deren Säulen umgestürzt, deren Dächer zerfallen sind und deren Inneres voller Kehricht ist, und eingestürzte Brunnen. Diese Bauwerke, die man mit geringer Anstrengung pflegen könnte, verfallen täglich mehr. Und sie liegen darniedergestreckt am Boden, gleichsam wie die toten Opfer einer Seuche, die sich nicht mehr erheben können. Erst dann, wenn wir lernen, daß die wahre Schöpfungskraft damit beginnt, Vorhandenes zu wahren, werden wir unser Glück (wieder-) finden. 44 4 Phase 3: Istanbuls schwarzweiße Melancholie - Orhan Pamuks hüzün Ein kritischer Zugang zum kemalistischen Nationalstaatsprojekt, das auf den Prinzipien des Staatsgründers Mustafa Kemal (später: Atatürk) beruht, zu den damit verbundenen Reformen, den homogenisierenden Maßnahmen und zu dem historischen sowie kulturellen Erbe des Osmanischen Reiches ist ab 1980 sukzessive möglich. In dieser postmodernen Phase ist es unter anderen Orhan Pamuk, der sich intensiv mit den historischen Wirklichkeiten des Imperiums, seinen Auswirkungen auf den neugegründeten Nationalstaat und den Verlust der multikulturellen Vielfalt der Bevölkerung beschäftigt. Im Zentrum von Pamuks städtischem Diskursuniversum steht eine schwermütige Rückbesinnung auf das imperiale Leben in seinen unterschiedlichen Facetten. Pamuk hält in seinem gesamten Werk das sich rasant verändernde Stadtleben fest. Er achtet auf die im Wandel begriffenen kulturellen Gewohnheiten und Bräuche, die verfallenen alten oder neuerrichteten modernen Gebäude, Alltagsgegenstände, traditionelle Berufe, die vielfältige Bevölkerung Istanbuls und noch vieles mehr. Besonderes Augenmerk legt er auf all jene Details, die seines Erachtens dem Verfall preisgegeben sind beziehungsweise sukzessive verschwinden. Der Protagonist Kemal in Pamuks Museum der Unschuld (Masumiyet Müzesi, 2008) sammelt verschiedene All- 44 Tanpınar: Fünf Städte, S. 240, bzw. Tanpınar: Beş Şehir, S. 192: „Bir ağacın ölümü, büyük bir mimarî eserinin kaybı gibi bir şeydir. Ne çare ki biz bir asırdanberi, hattâ biraz daha fazla, ikisine de alıştık. Gözümüzün önünde şaheserler birbiri ardınca suya düşmüş kaya tuzu gibi eriyor, kül, toprak yığını oluyor, İstanbul’un her semtinde sütunları devrilmiş, çatısı harap, içi süprüntü dolu medreseler, şirin, küçük semt camileri, yıkık çeşmeler var. Ufak bir himmetle günün emrine verilecek halde olan bu eserler her gün biraz daha bozuluyor. Âdeta bir salgının, artık kaldırmaya yaşayanların gücü yetmeyen ölüleri gibi oldukları yerde uzanmış yatıyorlar. Gerçek yapıcılığın, mevcudu muhafaza ile başladığım öğrendiğimiz gün mesut olacağız.“ Johanna Chovanec 62 tagsgegenstände, die er einerseits mit seiner Geliebten Füsun in Verbindung bringt und die andererseits auch von Istanbuls einfachem Leben vergangener Jahrzehnte zeugen. Diese Fremdheit in mir (Kafamda Bir Tuhaflık, 2014) ist ein Familienepos, in dem Pamuk das Leben einer Großfamilie aus der Sicht des Straßenverkäufers Mevlut schildert. Gezeigt wird der Verfall des Kleingewerbes, wie des Yoghurt- oder Boza-Verkaufs, das im öffentlichen Leben des heutigen Istanbuls kaum mehr zu finden ist. Der Roman Istanbul - Erinnerung an eine Stadt (İstanbul - Hatıralar ve Şehir, 2003), ist ein Mosaik historischer Stadtreferenzen, die nicht nur textlich, sondern auch mit alten Schwarzweißfotografien Bilder vergangener Alltagskulturen und Bräuche evozieren. In vielen von Pamuks literarischen Werken schwingt eine Schwermut mit, die sich auf den Verlust des ‚alten‘ Istanbul bezieht. In diesem Stadtroman hat Pamuk dem Gefühl einen Namen gegeben: hüzün. Wie bereits oben ausgeführt handelt es sich dabei um einen Begriff, den bereits Ahmet Hamdi Tanpınar im Zuge seines Essays über Istanbul verwendet hat, der aber nun bei Pamuk zum Leitmotiv seiner Stadtbeschreibung wird. Der Einfluss Tanpınars auf Pamuk zeigt sich auch darin, dass Orhan Pamuk ein Kapitel „vier einsamen, melancholischen Schriftstellern“ widmet, von denen einer Tanpınar ist. 45 Das Lehnwort arabischen Ursprungs bedeutet im Türkischen Traurigkeit, Tristesse oder Melancholie. Das dazugehörige Adjektiv ist hüzünlü, also traurig, schwermütig oder melancholisch. Es gibt im Türkischen einige Begriffe, die eine schwermütige oder vergangenheitsbezogene Gemütsverfassung meinen: Hüzün muss unterschieden werden von melankoli, karasevda und üzgünlük. Karasevda, wörtlich übersetzbar als „schwarze Liebe“, meint die melancholische und unglückliche, weil unmögliche Liebe. Üzgünlük bzw. üzüntü bezeichnen eine alltäglichere Form von Traurigkeit oder Betrübnis. Bei Ahmet Tanpınar wurde bereits der Begriff dâüssıla erwähnt, der als Nostalgie (nostalji) übersetzt wird und ebenfalls mit einer Sehnsucht (hasret) nach der Vergangenheit (geçmişe özlem) konnotiert ist. Angesichts der Fülle an Begrifflichkeiten stellt sich die Frage, weshalb sich Orhan Pamuk für den Begriff hüzün entschieden hat. Dabei ist entscheidend, wie der Schriftsteller das Wort in seinem Werk Istanbul definiert und prägt. Zunächst bezieht er sich auf den religiösen Ursprung von hüzün: Im Koran kommt es in der Bedeutung, die es etwa im heutigen Türkisch hat, in zwei Versen und in abgewandelter Form in drei weiteren Versen vor. Die Bezeichnung des Todesjahres von Mohammeds Frau Hatice und seinem Onkel Ebu Talip als „senetul huzun“, also „Hüzün-Jahr“, deutet bereits an, daß der Begriff einen schmerzlichen Verlust charakterisiert. 46 45 Pamuk: Istanbul, S. 128-136. 46 Ebenda, S. 109. Istanbul 63 Davon ausgehend haben sich im Laufe der Jahrhunderte vor allem zwei Sinnvarianten herausgebildet. Die erste bezieht sich auf eine unverhältnismäßige Zuwendung zu materiellen Gütern und diesseitigen Genüssen sowie Profitstreben. Es wird impliziert, dass man sich nicht an Vergängliches klammern soll, dann würden weltliche Verluste nicht sonderlich stören. Diese Konnotation erinnert an die christlich-theologische Auffassung der Acedia, die den übermäßigen Konsum und die Hingabe an diesseitige Güter als Sünde verurteilt. Die zweite Bedeutung bezieht sich auf eine sufistische Auffassung von hüzün, die eher positiv konnotiert ist. Ihr zufolge resultiert das Gefühl aus der Unzulänglichkeit, Allah nicht nahe genug sein zu können. Auch ein Sufi dürfe sich nicht um diesseitige Verluste kümmern, weshalb „nicht etwa das Auftreten von hüzün als schmerzlich empfunden [wird], sondern vielmehr seine Abwesenheit“. 47 Diese zwei Sinnvarianten erklären laut Pamuk jedoch nicht, weshalb hüzün in der modernen türkischen Poesie und Musik zu einem derart bedeutsamen Topos geworden ist. Um seine Melancholie in der Kindheit zu verstehen, spürt er diesem Gefühl in der gesamten Stadt nach: Es „muß aufgezeigt werden, wie sich in den Bewohnern Istanbuls und den ‚Bilderbuchansichten‘ der Stadt der Untergang des Osmanischen Reiches widerspiegelte“. 48 In diesem Sinne zeigt Pamuk in seinem Roman die unterschiedlichen Veränderungen und Elemente, die seines Erachtens das post-imperiale Istanbul ausmachen und prägen. Hüzün ist demnach wesentlicher Bestandteil der nunmehr nationalen, türkischen Kultur. Es ist nicht nur, wie die antike Vorstellung von Melancholie suggeriert, Disposition eines Individuums, sondern kulturelles Merkmal der Generationen seit der Gründung der Republik Türkei 1923. 49 In diesem Sinne steht Pamuk in der Tradition von Denkern wie Robert Burton, die melancholische Gefühlsstimmungen als kollektive Disposition betrachten. Hüzün ist „Ausdruck dessen, was die Stadt eigentlich ausmacht“, ist also „in Istanbul zentraler Bestandteil des Musikempfindens, ist Grundelement der Poesie, Lebensanschauung, Seelenzustand“. 50 Pamuk simplifiziert die europäische Diskursgeschichte der Melancholie, indem er den Unterschied zwischen Melancholie und hüzün wie folgt festmacht: Die Melancholie sei etwas individuell Gefühltes, während hüzün die Stimmung einer gesamten Gemeinschaft sogar über mehrere Generationen hinweg ausdrückt. Dabei ignoriert Pamuk die diskursgeschichtliche Verschiebung in 47 Ebenda, S. 109. 48 Ebenda, S. 110. 49 Konuk, Kader: “Istanbul on fire. End-of-Empire Melancholy in Orhan Pamuk’s ‘Istanbul’”, in: The Germanic review: literature, culture, theory, Jg. 86 (2011), Heft 4, S. 249−266, hier S. 257f. 50 Ebenda, S. 110. Johanna Chovanec 64 der europäischen Geistesgeschichte, die ab Robert Burton Melancholie auch als Disposition von Kollektiven betrachtet. Während die Melancholie für Pamuk „nur den Seelenzustand eines Individuums darstellt“, 51 schreibt Pamuk das hüzün-Gefühl einer ganzen Stadt, nämlich Istanbul zu. Wenn man dieses Gefühl, das von all diesen Ecken und Winkeln und Menschen ausgeht und sich über die Stadt verströmt, erst einmal tief in sich aufgesogen hat und es wirken läßt, dann wird man irgendwann, wohin man auch blickt, in der Lage sein, es förmlich zu sehen, so wie man an kalten Wintermorgen, wenn plötzlich die Sonne durchbricht, über den Wassern des Bosporus zitternd einen hochdünnen Dunst aufsteigen sieht. 52 Wie entsteht das Gefühl? Hüzün ist eine Gemütsstimmung, die durch „Armut, Niederlagen und Verluste ausgelöst wird“. 53 In diesem Zusammenhang bedeutet hüzün Solidarität: ein gemeinschaftliches Zusammenhalten in Zeiten der Knappheit. Es ist das Gegenteil von Individualismus und Profitstreben und geht einher mit einer Moral des Konformismus, der Bescheidenheit und des Sichbegnügens. Armut und Daseinsöde sind nicht Zeichen der Erfolgslosigkeit, sondern der Ehre. 54 Die wehmütige Stimmung ist eng verknüpft mit den Farben Schwarz und Weiß: Es sind die Farben der Vergangenheit, der Nostalgie und der Erinnerung. So drückt sich das schwermütige Gefühl im Stadtbild vor allem in einer so genannten Schwarzweiß-Melancholie aus. Diese prägt das Istanbul der 1950er-1970er Jahre und verweist gleichzeitig auf eine farbenfrohe Vergangenheit, in der Istanbul Hauptstadt des Osmanischen Reiches gewesen ist: Die schwarzweißen Gestalten, die an Wintertagen im frühen Abenddunkel nach Hause hasten, vermitteln mir das Gefühl, daß ich zu dieser Stadt gehöre und mit diesen Menschen etwas gemein habe. Und mir ist, als würde das Dunkel der Nacht die Armseligkeit des Lebens, der Straßen und der Dinge überdecken und wir in unseren Häusern, unseren Zimmern, unseren Betten gleich in einer Welt der Träume und Phantasien eintauchen, die sich aus dem längst verblaßten Glanz Istanbuls nährt, aus verschwundenen Bauten und alten Legenden. 55 Weitere Anzeichen dieses Gefühls sind die Verwitterung und der Verfall von Gebäuden: Pamuk erklärt sich diese triste Erscheinung Istanbuls dadurch, dass historische, osmanische Bauten nicht renoviert werden und verfallen. 56 Vor allem die hölzernen Konaks weisen im früheren Istanbul aus Pamuks Kindheit aufgrund von Feuchtigkeit sowie Schmutz „diese melancholisch 51 Ebenda, S. 120. 52 Ebenda, S. 119f. 53 Ebenda, S. 123. 54 Ebenda, S. 124f. 55 Ebenda, S. 13. 56 Ebenda, S. 56. Istanbul 65 stimmende, aber zugleich beängstigend schöne Schwarzweißkomposition“ auf. 57 Wie Carel Bertram hervorhebt, ist der Konak ab den 1980ern zunehmend zum Symbol für die rasant verschwindende, autochthone Architektur geworden: By the late 1980s, not only was this wooden or sometimes half-timbered house with its projecting upper floor widely understood as a signifier of the lost beauty of the Turkish architectural past, its use as an icon of this past was encouraged and rewarded. 58 Oft werden alte Gebäude bedenkenlos abgerissen. An ihrer Stelle entstehen stillose, überdimensionale Zweckbauten. Durch die Zerstörung und Vernachlässigung wird das hüzün-Gefühl jedoch nur noch gesteigert. 59 Hier drückt sich das problematische Verhältnis zur eigenen, türkischen Geschichte aus, das Pamuk scharf kritisiert. Istanbul zeichnet sich durch eine Fülle an „Überreste[n] historischer Siege und alter Zivilisationen“ aus. 60 Pamuk beklagt jedoch, dass diese geschichtsträchtigen Orte nicht wie in Westeuropa renoviert oder wie Ausstellungsstücke in (Freiluft-)Museen behandelt werden. Ganz im Gegenteil: In Istanbul verfallen Baudenkmäler, die Zeugen der Alltagkultur früherer Epochen. Neben den großen Moscheen und geschichtsträchtigen Bauten erinnern nämlich an allen Ecken und Enden der Stadt auch zahlreiche Gewölbe, Brunnen und kleinere Moscheen - wie vernachlässigt, unbeachtet und zwischen Betonklötzen eingepfercht sie auch sein mögen - die zwischen ihnen lebenden Millionen von Menschen schmerzlich daran, daß sie Überbleibsel eines großen Reiches sind. 61 Diese Nachlässigkeit, sich nicht um die gewachsene, traditionelle Baukunst zu kümmern, ist Indiz dafür, dass mit dem Zerfall der osmanischen Kultur auch das Wissen über diese unwiederbringlich verlorengegangen ist. Der türkische Nobelpreisträger verweist bei seinen Schilderungen über Istanbuls Melancholie auf Ara Güler, der diese in seinen schwarzweißen Fotografien festgehalten hat. An vielen Stellen in seinem Text Istanbul hat Pamuk Fotos von dem berühmten türkischen Fotografen eingefügt. Susan Sontag schreibt in ihrem Werk On Photography: „To collect photographs is to collect the world.“ 62 Pamuk wählt bestimmte Fotos aus, die seine textliche Darstellung von Istanbul als „melancholische Welt“ untermalen. Gülers Photographien zeigen ein historisches Istanbul der Vergangenheit, das es 57 Ebenda, S. 50. 58 Bertram: Imagining the Turkish House, S. 17. 59 Pamuk: Istanbul, S. 122. 60 Ebenda, S. 120. 61 Ebenda, S. 120. 62 Sontag, Susan: On Photography. New York: RosettaBooks 2005, S. 1. Johanna Chovanec 66 nicht mehr gibt. Die Photographien als „pieces of reality“ 63 führen dazu, dass die Grenze zwischen imaginierter Textstadt und real existierendem Istanbul scheinbar aufgeweicht wird. Der multimediale Text suggeriert, dass jenes Istanbul, an das Pamuk sich erinnert, nicht nur eine subjektive Imagination des Autors ist, sondern auch ein tatsächliches Korrelat in der vergangenen Wirklichkeit hat, wie die Photographien Gülers beweisen sollen. Die subjektive Erinnerung wird mit einer vorgeblich objektiven Vergangenheit synthetisiert. Pamuk verwendet die Photographien als konkrete Referenzen auf die real existierende Stadt, ähnlich wie das Miteinbeziehen von Stadtplänen oder topographischen Hinweisen. Er schließt die Fotos in seine semantische Stadtkonstitution ein, lädt sie mit Bedeutung auf, um sein Narrativ von Istanbul zu entwerfen. 64 Ara Güler selbst hat sich zu Istanbuls hüzün wie folgt geäußert: „Hüzün heißt, dass unsere Stadt im Sterben liegt, vielleicht bereits gestorben ist. Wir gehen auf einer Leiche. Die Kinder, die heute geboren werden, kennen diese Stadt nicht mehr. Meine Fotografien sind Zeugnis dessen, was sie einmal war.“ 65 Der Photograph beklagt den sukzessiven Untergang des alten Istanbuls, und damit den Verlust seiner Eigenheiten, Spezifika, seiner Lebensqualität und auch seiner Geschichte: Istanbul verschwindet. Die Stadt wird zubetoniert, und wir werden unter diesen Betonmassen sterben. Das Kanalwasser, das dazwischen fließt, wird unsere Leichen in den Bosporus schwemmen, und die Haie werden uns fressen. Zuletzt wird der Bosporus zubetoniert. 66 5 Resümee Das dem Osmanischen Mythos zugrundeliegende Narrativ einer (post-)imperialen Melancholie hat sich in Auseinandersetzung mit dem radikalen kulturellen Wandel, der im 19. Jahrhundert eingesetzt und seinen Höhepunkt in den Reformen Atatürks erfahren hat, entwickelt. Es bezieht sich auf verlorengegangene Elemente des kulturellen und städtischen Lebens im Osmanischen Reich und auf die Übernahme westlicher Normen, die zum stetigen Vergleichsparameter für die eigene Kultur werden. Die osmanischen Roma- 63 Sontag: On Photography, S. 2. 64 Santesso, Esra Mirze: „Vision and Representation: Photography in Orhan Pamuk’s Istanbul: Memories and the City“, in: The Comparatist 35, Nr. 1 (2011), S. 152-160, hier S. 158. 65 Güler, Ara: „‚Die Haie werden uns fressen‘ Ara Güler, fotografischer Chronist Istanbuls, im Gespräch mit Janet Riedel über die Opfer der Moderne“, in: Genazino, Wilhelm; Groothuis, Rainer (Hgg.): Istanbul, „sterbende Schöne“ zwischen Orient und Okzident? Hamburg: Corso 2014, S. 104-106, hier S. 105. 66 Pamuk: Istanbul, S. 106. Istanbul 67 ne der Periode von 1870-1922 zeichnen sich durch erste Anzeichen einer Melancholie aus. Sie stehen unter den Vorzeichen des Tanzimat-Zeitalters und beziehen sich auf eine Angst vor dem Verlust der traditionellen osmanischen Ordnung, die durch ein europäisch orientiertes Staatsmodell ersetzt werden soll. Yakup Kadri Karaosmanoğlu schildert den sukzessiven Verfall des Osmanischen Reiches und seiner Lebenswelten in Analogie zur sich auflösenden familiären Ordnung im Konak. Ahmet Hamdi Tanpınar wählt das Großreich als ästhetischen Bezugsrahmen seines literarischen Schaffens. Er vermeidet konkrete politische Referenzen, die den Übergang vom Imperium zum Nationalstaat kritisch beleuchten. Die Melancholie, wie sie in Tanpınars Essay über Istanbul verdeutlicht wird, knüpft sich an das vormalige imperiale Zentrum, das nun einen Status- und Machtverlust erfahren hat: Istanbul ist die Identität abhandengekommen beziehungsweise genommen worden. Diesen Gedanken greift Orhan Pamuk in seinem Werk Istanbul auf, wenn er sich an die verlorene Größe und Bedeutsamkeit der imperialen Hauptstadt erinnert. Hüzün wie es zunächst bei Tanpınar und dann noch expliziter bei Pamuk formuliert wird, ist ein Gegendiskurs zur offiziellen Geschichtskonstruktion. Es bezieht sich auf historische Ereignisse, auf politische Entwicklungen und auf die Veränderungen in der Stadt, die nicht Teil des offiziellen Umgangs mit der Geschichte sind. Autoren wie Pamuk und Tanpınar setzen der national geprägten Geschichtsauffassung individuelle, subjektiv bedeutsame Gedächtnisinhalte entgegen und finden so eine Möglichkeit, hüzün produktiv zu begegnen. Auf diese Weise Brücken zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schlagen, erscheint als Lösungsweg, die Verlusterfahrungen, an die sich die post-imperiale Melancholie knüpft, aufzuarbeiten. Johanna Chovanec 68 Christian Kirchmeier (München) Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern Zur politischen Topologie des Fremden Seit dem spatial turn ist es in den Kulturwissenschaften kaum noch möglich, über Fremdheit zu reflektieren, ohne an die Differenz zwischen eigenem und fremdem Raum zu denken. 1 Das gilt insbesondere für unsere Vorstellungen vom politisch Fremden: Scheinbar können wir ‚den‘ Fremden nicht unabhängig davon imaginieren, aus welchem Raum er zu uns kommt. Damit ist nicht so sehr der konkrete geographische Raum gemeint, aus dem sich ja auch keine konkrete Fremdheitsvorstellung ableiten lässt (selbst wenn man gegenwärtig beobachten kann, wie beispielsweise ‚Nordafrika‘ zur Chiffre einer obskuren Fremdheitserfahrung wird). Vielmehr geht es um die Struktur desjenigen Raumes, aus dem ‚der‘ Fremde das Wahrnehmungsfeld betritt, und darum, wie dieses Gebiet im Vergleich zum eigenen Raum semantisiert wird. Denn es macht für die Konzeption des Fremden einen gewaltigen Unterschied, ob der eigene Raum in einem emphatischen Sinne als Heimat verstanden wird oder nicht, ob der Fremde durch eine Grenzüberschreitung in diesen Raum gelangt, ob er aus der Peripherie oder gleichsam aus dem Nichts erscheint. Dieser Beitrag will solchen Unterschieden nachgehen und eine kleine Typologie von Raumkonzepten des Fremden entwerfen. Er skizziert drei topologische Fremdheitsvorstellungen, die sich bestimmten politischen Organisationsprinzipien zuordnen lassen, ohne dabei den Anspruch auf systematische Vollständigkeit oder historische Spezifizität zu stellen. Alle drei Fremdheitstypen lassen sich zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformen finden - allerdings, und das ist wesentlich, in unterschiedlicher Ausprägung, da sie das ihnen zugrundeliegende politische Referenzsystem unterschiedlich gut repräsentieren können. Die These dieses Beitrags lautet also, dass 1 Vgl. dazu jüngst Müller-Funk, Wolfgang: Theorien des Fremden. Eine Einführung. Tübingen: Francke 2016, S. 24-29. Herfried Münkler und Bernd Ladwig haben mit Blick auf die Etymologie des Wortes ‚fremd‘ von einer „sozialen Topographie“ gesprochen: „Das vertraute Eigene bildete das Zentrum der Welt; der Grad der Fremdheit war eine Funktion des Abstands von diesem Zentrum. Diese raumbezogene Sicht der Dinge sicherte dem Fremden eine gewisse Signifikanz als soziale Figur, so wie die Fremde einen unermeßlichen Raum bildete, in den sich allerlei Staunenswertes und Grauenerregendes einzeichnen ließ; ein weites Feld für Berichte und Gerüchte, für Verbannungen und Bewährungen aller Art.“ (Münkler, Herfried/ Ladwig, Bernd: „Einleitung“, in: Münkler, Herfried (Hg.): Die Herausforderung durch das Fremde. Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 11-25, hier S. 13) Fremdheitstypen bestimmten Gesellschaftstypen entsprechen. Insofern geht es im Folgenden darum, eine Art historischer Typologie von politisch-topologischen Fremdheitskonzepten zu rekonstruieren. 2 Die ersten beiden Abschnitte dieses Beitrags untersuchen die etablierte Unterscheidung von Alienität und Alterität nach den zugrundeliegenden Raumkonzepten. In einem dritten Schritt soll das Argument entwickelt werden, dass diese Unterscheidung um einen dritten Typus ergänzt werden muss, der sich unter dem Begriff der Liminalität fassen lässt. Mit Blick auf die politische Dimension soll im Verlauf dieser Typologie gezeigt werden, dass Alienität, Alterität und Liminalität einer präimperialen, imperialen und postimperialen Strukturierung des Raumes entsprechen. 1 Alienität 2 Zur Methode einer solchen historischen Typologie vgl. Kirchmeier, Christian: Moral und Literatur. Eine historische Typologie. München: Fink 2013, S. 77-150. Einen alternativen, transhistorischen Zugang zu Fremdheitstypologien haben Peter-Ulrich Merz-Benz und Gerhard Wagner vorgeschlagen: Sie verorten die verschiedenen Typen des Fremden in einem Koordinatensystem mit den Achsen ‚Mobilität‘ und ‚Integration‘ (Merz-Benz, Peter-Ulrich/ Wagner, Gerhard: „Der Fremde als sozialer Typus. Zur Rekonstruktion eines soziologischen Diskurses“, in: Dies. (Hgg.): Der Fremde als sozialer Typus. Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen. Konstanz: UVK 2002, S. 9-37). 3 Im Sinne von Scherpe, Klaus R.: „Die First-Contact-Szene. Kulturelle Praktiken bei der Begegnung mit dem Fremden“, in: Neumann, Gerhard/ Weigel, Sigrid (Hgg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München: Fink 2000, S. 149-166. 4 Zu den verschiedenen, mehr oder weniger offenen Kontaktaufnahmen in Forsters Reise um die Welt und die Reaktionen der Insulaner vgl. May, Yomb: Georg Forsters literarische Weltreise. Dialektik der Kulturbegegnung in der Aufklärung. Berlin/ Boston: de Gruyter 2011, S. 172-183. Eine der berühmtesten ‚First-Contact-Szenen‘ 3 der deutschen Literaturgeschichte findet sich in Georg Forsters Reise um die Welt (1778/ 80): 4 Auf dem Rückwege kamen wir an einer Insel vorbey, die eine weit hervorragende Felsenspitze hatte, auf welcher wir einen Menschen sehr laut rufen hörten. Da dies niemand anders als einer von den Eingebohrnen seyn konnte, so nannten wir diese Insel Indian-Island, d. i. Indianer-Insel, und näherten uns dem Ufer derselben, um zu erfahren, von wem die Stimme herkäme. Als wir weiter heran kamen, entdeckte man, daß es ein Indianer war, der mit einer Keule oder Streit-Axt bewafnet, auf der Felsenspitze stand, und hinter ihm erblickte man in der Ferne, am Eingang des Waldes, zwo Frauenspersonen, deren jede einen Spieß in der Hand hielt. Sobald wir mit dem Boot bis an den Fus des Felsen hingekommen waren, rief man ihm in der Sprache von Taheiti zu: Tayo Harre maï, d. i. Freund komm hier! Allein das that er nicht, sondern Christian Kirchmeier 70 blieb an seinem Posten, auf seine Keule gelehnt stehen und hielt in dieser Stellung eine lange Rede, die er bey verschiednen Stellen mit großem Nachdruck und Heftigkeit aussprach, und alsdenn zugleich die Keule um den Kopf schwenkte. Da er nicht zu bewegen war näher zu kommen, so gieng Capitain Cook vorn ins Boot, rief ihm freundlich zu und warf ihm sein und andrer Schnupftücher hin, die er jedoch nicht auflangen wollte. Der Capitain nahm also etliche Bogen weiß Papier in die Hand, stieg unbewaffnet auf dem Felsen aus und reichte dem Wilden das Papier zu. Der gute Kerl zitterte nunmehro sichtbarer Weise über und über, nahm aber endlich, wiewohl noch immer mit vielen deutlichen Merkmalen von Furcht, das Papier hin. Da er dem Capitain jetzt so nahe war, so ergrif ihn dieser bey der Hand und umarmete ihn, indem er des Wilden Nase mit der seinigen berührte, welches ihre Art ist sich unter einander zu begrüßen. Dieses Freundschaftszeichen benahm ihm mit einemmale alle Furcht, denn er rief die beyden Weiber zu sich, die auch ungesäumt herbey kamen, indeß daß von unsrer Seite ebenfalls verschiedne ans Land stiegen, um dem Capitain Gesellschaft zu leisten. Nunmehro erfolgte zwischen uns und den Indianern eine kleine Unterredung, wovon aber keiner etwas rechtes verstand, weil keiner in des andern Sprache hinreichend erfahren war. Herr Hodges zeichnete gleich auf der Stelle einen Umriß von ihrer Gesichtsbildung und aus ihren Minen ließ sich abnehmen, daß sie begriffen was er vor hatte. 5 Was Georg Forster hier festhält, ist ein Prozess fortschreitender Kommunikation mit dem Fremden und damit auch der Prozess seiner Integration in ein vertrautes, aufklärerisches Kultursystem. 6 Der Bericht beginnt mit den Rufen des Maori und dem Schwingen seiner Axt, was offenbar noch der Verhinderung des Kontakts mit den Forschern dienen soll. James Cook verfügt jedoch über einen entscheidenden Wissens- und Materialvorsprung: Er kann es in einer Fremdsprache versuchen, er besitzt Schnupftücher und Papier, 7 die 5 Forster, Georg: Reise um die Welt. 1. Teil. Hg. Gerhard Steiner. Berlin: Akademie Verlag 1965 (= Georg Forsters Werke 2), S. 132f. 6 Russell Berman hat argumentiert, dass sich bereits dabei die Dialektik einer aufklärerischen Perspektive zu erkennen gibt, da der kommunikative Umgang mit der alteritären Kultur ein Moment emanzipatorischer Vernunft sichtbar macht, sich zugleich aber, da es Cook als Mittel der Proviantversorgung nach einer langen Schiffsreise dient, das Gesicht einer instrumentellen Vernunft zeigt (vgl. Bermann, Russell A.: Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture. Lincoln/ London: University of Nebraska Press 1998, S. 21-64). Das Modell einer fortschreitenden Vermittlung mit den Fremden findet sich häufig in Forsters Bericht, allerdings gibt es auch gescheiterte Momente der Vermittlung, etwa in der Feuerland-Episode (vgl. Möller, Reinhard M.: „Die Feuerland-Episode in Forsters Reise um die Welt im Kontext einer anekdotischen Poetik der Interkulturalität“, in: Greif, Stefan/ Ewert, Michael (Hgg.): Georg Forster als interkultureller Autor. Kassel: University Press 2014 (= Georg-Forster-Studien 19), S. 79-107). 7 Anders als das Schnupftuch ist allerdings das Papier nicht nur Bestandteil eines Gabentauschs, sondern ein etabliertes mediales Motiv europäischer First-Contact-Szenen, das in vielen Reiseberichten die mediale ‚Überlegenheit‘ der Schriftkultur demonstriert Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern 71 (vgl. Werkmeister, Sven: „Postkoloniale Mediengeschichte. Historische Argumente für ein zukünftiges Forschungsfeld“. In: Beck, Laura/ Osthues, Julian (Hgg.): Postkolonialismus und (Inter-)Medialität. Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film. Bielefeld: transcript 2016, S. 27-45). 8 Scherpe: Die First-Contact-Szene, S. 156, der die Asymmetrie noch weiter erläutert: „Sein [= des Maori, C.K.] ‚Text‘ versteht sich, ist das Getöse und das Keuleschwingen; man stelle sich eine enthierarchisierte Kulturbegegnung vor, nach der ‚sie‘ unsere Schriftkultur annehmen und ‚wir‘ ihre Kultur des Getöses und des Keuleschwingens…“ (ebenda) 9 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1981. 10 Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Maori Cooks Schiff schon einige Tage zuvor beobachten konnten und dies bereits der fünfte Versuch einer Kontaktaufnahme ist. Denn erst jetzt wird der Kontakt nicht mehr vermieden, nachdem die Maori zuvor sogar die am Strand hinterlassenen Geschenke ignoriert hatten (vgl. zu den Etappen der Kontaktaufnahme Stummann-Bowert, Ruth: „Von der Schwierigkeit, den Anderen zu verstehen. Georg Forster in der Dusky-Bay und in Charlottensund (Neuseeland)“, in: Greif, Stefan/ Ewert, Michael (Hgg.): Georg Forster und die Berliner Aufklärung. Kassel: University Press 2013 (= Georg-Forster-Studien 18), S. 113-133, hier S. 119- 127). er dem Fremden anbieten kann, und als alles das nichts hilft, bringen ihm seine Kenntnis des Begrüßungsrituals der indigenen Völker und schließlich die Zeichnungen des Malers William Hodges das Vertrauen des Fremden ein. Als Forscher rechnet Cook von Beginn an mit dem Fremden, und er verfügt über hermeneutische Strategien, um sich dieses Fremde anzueignen. Doch sein größter Vorteil gegenüber den Maori besteht darin, dass er als Forschungsreisender immer schon mit dem Fremden rechnet. Seine Begegnung mit den Inselbewohnern ist für ihn, so überraschend sie auch sein mag, zu keinem Zeitpunkt die Begegnung mit dem schlechthin Anderen. Offensichtlich unterscheidet sich seine Erfahrung damit von derjenigen der drei Maori, die ihre Insel nicht als Forschungsreisende durchwandern. Das macht die Situation geradezu hoffnungslos asymmetrisch: Für den männlichen Maori ist sie, wie Klaus Scherpe argumentiert hat, „das Unbekannte und Schockierende schlechthin, als Operation der Annäherung absolut inkommensurabel, da nicht anschlußfähig an seinen kulturellen Text“. 8 Sie ist damit der plötzliche Augenblick par excellence, 9 eine Art Schockmoment, mit dem die Maori nicht gerechnet haben und nicht rechnen konnten. 10 Diese asymmetrische Fremdheitserfahrung macht deutlich, dass auch die aufklärerische interkulturelle Verständigung ein imperialer Akt ist, der eine Wissensdifferenz voraussetzt, die immer auch eine Machtdifferenz ist. Genau betrachtet liegen in dem Textausschnitt also zwei asymmetrische Fremdheitserfahrungen vor, von der nur die imperiale durch die Erzählper- Christian Kirchmeier 72 spektive vermittelt wird. 11 Die andere, weitaus radikalere Fremdheitserfahrung lässt sich lediglich durch Negation dieser Perspektive erschließen: Es ist die präimperiale Perspektive des männlichen Maori, der ein fremdartiges Gebilde am Horizont erkennt und darauf mit lauten Rufen reagiert. Es ist ebenso die Perspektive seiner beiden Begleiterinnen, die am Waldesrand an der Binnengrenze zum Inneren der Insel verharren, dort, wo sie schnell ein Versteck finden können, wenn sich das Fremde als feindlich erweisen sollte. Der Kontakt mit den Fremden ist für die Maori damit unlösbar mit einer bestimmten Haltung im eigenen Raum verbunden, den sie „auf der Felsenspitze“ am Rande der Insel verteidigen. Diese Felsenspitze markiert als topologische Grenze nun nicht die Grenze zu einer anderen Kultur, geschweige denn Nation. Es wäre zu wenig zu sagen, dass sie einfach nur das Ende der Insel ist, hinter der andere Inseln mit andersartigen Menschen liegen könnten. Viel eher markiert sie für die Inselbewohner das Ende der Welt, und genau das macht ihre Fremdheitserfahrung - im Gegensatz zu derjenigen der Forschungsreisenden - zu einer präimperialen Erfahrung. Die europäischen Forscher kommen nicht aus einem kulturell anderen Raum, sondern erscheinen aus dem Nichts im Diesseits der Welt. Es ist diese kognitive Form des Fremden, die topologisch aus dem Jenseits des Erfahrungsraums stammt, die also in der Tat eine transzendente Fremdheit ist, die das Wesen der Alienität ausmacht. Mit diesem Begriff ist eine Fremdheit gemeint, über die Georg Simmel in einer berühmten Stelle aus seinem Exkurs über den Fremden (1908) schreibt: „[D]ie Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd […], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah.“ 12 Man könnte zur Erläuterung des Konzepts auch an Rudolf Stichwehs Theorie der Inklusion und Exklusion denken, in der von „schwarzen Löchern“ die Rede ist, von „fast unbeobachtbar[en]“ Räumen, in denen der absolut Fremde verortet ist, derjenige, der in allen Hinsichten aus der Weltgesellschaft exkludiert ist. 13 Und man müsste tatsächlich an die Besuche von Außerirdi- 11 Das gilt gerade auch für die Wahrnehmung des jeweiligen Raumes der Fremden: Während die Maori das Schiff Resolution nur als ein nicht näher identifizierbares technisches Gebilde deuten können (gewissermaßen als ein ‚Unidentified Floating Object‘), appropriieren die Forscher das fremde Land sogleich nach dem sehr europäischen Modell eines ‚locus amoenus‘ (vgl. Heinritz, Reinhard: „Andre fremde Welten“. Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg: Ergon 1998, S. 109-113). 12 Simmel, Georg: „Exkurs über den Fremden“, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hg. Otthein Rammstedt (= Georg Simmel Gesamtausgabe 11), S. 764-771, hier S. 765. 13 Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. 2., erw. Aufl. Bielefeld: transcript 2016, S. 60. Für die Systemtheorie ist das Phänomen einer To- Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern 73 talexklusion ein heikler Punkt, da diese Theorie für moderne Gesellschaften davon ausgeht, dass alle Mitglieder in die Funktionssysteme multiinkludiert sind. Luhmann hat spät, vor allem mit Blick auf die südamerikanischen Favelas, dann allerdings doch nicht übersehen können, dass es auch in der Weltgesellschaft zu massenhafter Totalexklusion kommt (so etwa Luhmann, Niklas: „Jenseits von Barberei“, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1999, S. 138-150, hier S. 147-150; vgl. Eckstein, Lars/ Reinfandt, Christoph: „Luhmann in the Contact Zone. Zur Theorie einer transkulturellen Moderne“, in: Grizelj, Mario/ Kirschstein, Daniela (Hgg.): Riskante Kontakte. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie? Berlin: Kadmos 2014, S. 107-124). 14 Wie einige ‚spät-postmoderne‘ Autoren eingewandt haben, bedeuteten noch nicht einmal die Terroranschläge vom 11. September 2001 einen Einbruch des Realen, bewirkten also auch keine wirkliche Alienitätserfahrung, sondern hätten ihre Wirkung gerade im Feld des Symbolischen entfaltet, und zwar durch die Macht der Bilder der in das World Trade Center einstürzenden Flugzeuge (vgl. Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus. 2., durchges. Aufl. Wien: Passagen 2011). 15 Aleida und Jan Assmann beschreiben es als eine der wichtigsten Konsequenzen der Entstehung von Schriftlichkeit, dass neben ein identitätsstiftendes Funktionsgedächtnis ein wucherndes Speichergedächtnis tritt, in dem das Individuum mit Fremdem konfrontiert wird. Hinsichtlich einer Frage der Topologie des Fremden ist interessant, wie sie zur Beschreibung dieses Sachverhalts selbst auf eine Raummetaphorik zurückgreifen: „Das Speicher-Gedächtnis umschreibt eine Region, die stets größer ist als das Bewußtsein; das Funktions-Gedächtnis dagegen bezieht sich nur auf den jeweils bewohnten Bezirk.“ (Assmann, Aleida/ Assmann, Jan: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis“, in: Merten, Klaus/ Schmidt, Siegfried J./ Weischenberg, Siegfried (Hgg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140, hier S. 122) schen oder an schwarze Löcher denken, um sich vorstellen zu können, wie politische Alienitätserfahrungen in der Gegenwart topologisch noch möglich sind. 14 Natürlich ist es problematisch, aus dem vorliegenden Textausschnitt Forsters einen präimperialen Alienitätstypus abzuleiten. Der Text erzählt schließlich nichts über die Sicht der Maori, ihre Perspektive liegt uns nicht in Form eines Berichtes vor. Das allerdings hat systematische Gründe: Schriftkulturen müssen immer schon mit dem Fremden rechnen, das sich ihnen im Medium des Textes entgegenstellt. 15 Dass sie aber immer schon mit Kontingentem kalkulieren, macht auch ein bestimmtes ‚toxisches‘ Moment des Kolonialismus aus, das beispielsweise Dirk Baecker beschreibt: Man muß sich das vorstellen: Ein Gläubiger kniet nieder und beginnt ein Gebet. Ein Intellektueller [beispielsweise ein Forscher auf Cooks Schiff Resolution, C.K.] stellt sich neben ihn und sagt: „Wie interessant! Weißt du, daß andere Völker an ganz andere Götter glauben? “ Wie kann der Gläubige, der an seinen Gott glaubt, darauf reagieren? Natürlich lehnt er die Zumutung des Vergleichs ab, hält den Intellektuellen für einen Neunmalklugen und die anderen Völker für ungläubig. Aber in Wahrheit Christian Kirchmeier 74 ist er bereits erschüttert. In Wahrheit hat ihn bereits eine Unruhe erfaßt. Wie kann er glauben, wenn andere anders glauben? Was kann er wissen, wenn andere anderes wissen? Wer ist sein Gott, wenn andere ihn nicht kennen? Wie weit reicht die Macht seines Gottes, wenn andere ungestraft ihren Götzen huldigen dürfen? 16 Es sind gerade die segmentär differenzierten Gesellschaften, die aufgrund ihrer sozialen Homogenität nur ein geringes Maß an internen Fremdheitserfahrungen machen, während die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ständig interne Fremdheiten miteinander abgleichen muss, ständig also eigene und fremde Beobachtungen miteinander vergleicht. Die alltägliche soziale Erfahrung von Fremdheit, die Herausforderung, eigene und fremde Beobachtungen miteinander zu vergleichen, ist vermutlich sogar das charakteristische Merkmal für moderne Gesellschaften schlechthin. Und sie lässt gerade deshalb Alienitätserfahrungen extrem unwahrscheinlich werden. 16 Baecker, Dirk: Wozu Kultur? 3. Aufl. Berlin: Kadmos 2003, S. 48; vgl. dazu Strohschneider, Peter: „Fremde in der Vormoderne. Über Negierbarkeitsverluste und Unbekanntheitsgewinne“, in: Becker, Anja/ Mohr, Jan (Hg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Berlin: Akademie Verlag 2012, S. 387-416, hier S. 414-416. 17 Vgl. dazu Tomlinson, John: Cultural Imperialism. A Critical Introduction. London/ New York: continuum 1991, S. 70-75. 2 Alterität Ein Beispiel für die Anthropologie einer nicht mehr alienitären Fremdheitserfahrung ist Max Frischs Homo faber, der Roman also, in dem der Protagonist schon im Titel als paradigmatische Figur einer rationalisierten Moderne erscheint. Der Text beginnt mit Walter Fabers Flug von New York nach Caracas, wo er für die UNESCO einen Beitrag zur Entwicklungshilfe leisten soll. Schon damit spielt der Roman auf eine imperialistische Asymmetrie an, die - aller humanistischen Rhetorik zum Trotz - aus der institutionellen Logik der UNESCO nicht zu tilgen ist. 17 Bei einer Zwischenlandung in Houston entschließt sich der Protagonist, die Reise abzubrechen. In einer Toilettenkabine, die ihm als Versteck dient, lauscht er den Lautsprecherdurchsagen: Passenger Faber, passenger Faber. Es war eine Frauenstimme, ich schwitzte wieder und mußte mich setzen, damit mir nicht schwindlig wurde, man konnte meine Füße sehen. This is our last call. Zweimal: This is our last call. Ich weiß nicht, wieso ich mich eigentlich versteckte. Ich schämte mich; es ist sonst nicht meine Art, der letzte zu sein. Ich blieb in meinem Versteck, bis ich festgestellt hatte, daß der Lautsprecher mich aufgab, mindestens zehn Minuten. Ich hatte einfach keine Lust weiterzufliegen. Ich wartete hinter der geriegelten Tür, bis man das Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern 75 Donnern einer startenden Maschine gehört hatte - eine Super-Constellation, ich kenne ihren Ton! - dann rieb ich mein Gesicht, um nicht durch Blässe aufzufallen, und verließ das Cabinet wie irgendeiner, ich pfiff vor mich hin, ich stand in der Halle und kaufte irgendeine Zeitung, ich hatte keine Ahnung, was ich in diesem Houston, Texas, anfangen sollte. Es war merkwürdig; plötzlich ging es ohne mich! Ich horchte jedes Mal, wenn der Lautsprecher ertönte - dann ging ich, um etwas zu tun, zur Western Union: um eine Depesche aufzugeben, betreffend mein Gepäck, das ohne mich nach Mexico flog, ferner eine Depesche nach Caracas, daß unsere Montage um vierundzwanzig Stunden verschoben werden sollte, ferner eine Depesche nach New York, ich steckte gerade meinen Kugelschreiber zurück, als unsere Stewardeß, die übliche Liste in der andern Hand, mich am Ellbogen faßte: „There you are! “ Ich war sprachlos - „We’re late, Mister Faber, we’re late! “ 18 Faber und Forster stehen sich typologisch näher, als man vermuten könnte: Wieder ist es ein „Bericht“ (so nennt sich der Roman selbst), wieder die kolonialistisch gefärbte Perspektive des weißen Mannes, 19 wieder eine Kontaktszene, wieder beginnt sie mit einer körperlosen Stimme. Bei Forster muss das Schiff erst auf die Insel zusteuern, um den Rufenden zu erkennen, bei Frisch ist es die Frauenstimme aus dem Lautsprecher und schließlich die Stewardess, die Walter Fabers Fatum vollstreckt. Fabers Fremdheit ist die einer völligen Anonymität und Beziehungslosigkeit zu seinem Aufenthaltsort. Nachdem ihn der Lautsprecher „aufgab“, verlässt er sein Versteck „wie irgendeiner“, kauft „irgendeine Zeitung“ und befindet sich an irgendeinem Ort, dessen Bedeutungslosigkeit durch das Demonstrativpronomen („dieses Houston, Texas“) nur noch verstärkt wird. Die Beliebigkeit seines Aufenthaltsortes korrespondiert dabei mit einem Kontinente übergreifenden Kommunikationsnetzwerk nach Mexiko, Caracas und New York, das der Protagonist sogleich aufspannt. Die Fremdheit setzt also eine imperialistische globale Struktur voraus, die sich idealtypisch an den überall gleich strukturierten Flughäfen erkennen lässt. Faber ist ein Jetsetter par excellence - und schon das Herkunftsfeld dieser Metapher signalisiert, dass dieser Lebensentwurf aus den Flughäfen stammt. 20 Es war diese hybride Raumerfahrung moderner Transitorte, in der das Hier ein Irgendwo ist, die diese Art der Fremdheit hervorgebracht hat. 18 Frisch, Max: Homo faber. Ein Bericht, in: Ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Bd. 4.1. 1957-1963. Hg. v. Hans Mayer. 2. Aufl. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1976, S. 5-203, hier S. 13f. 19 Vgl. Rohner, Melanie: Farbbekenntnisse. Postkoloniale Perspektiven auf Max Frischs Stiller und Homo faber. Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 76-104. 20 Vgl. Wilhelmer, Lars: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn - Hotel - Hafen - Flughafen. Bielefeld: transcript 2015, S. 252f. Christian Kirchmeier 76 Dieser Typus von Fremdheit kann am genauesten mit dem Begriff der Alterität bezeichnet werden. Im Gegensatz zur Alienität, die eine völlige Andersartigkeit bezeichnet, meint Alterität zunächst den anderen von zweien, also das Gegenüber als ein ‚alter ego‘, wobei sich alter und ego einen ähnlich strukturierten Raum teilen. Der Begriff verweist darauf, dass Individuen in der modernen Gesellschaft ständig verschiedene Perspektiven miteinander abgleichen müssen und dass dadurch auch der eigene Raum heterogen, ja geradezu mit Fremdheit durchsetzt wird. In phänomenologischer (wie auch in psychoanalytischer) Hinsicht ist damit letztlich auch die Fremdheit des Ich selbst gemeint. Bernhard Waldenfels etwa zitiert Rimbauds Satz „Ich ist ein Anderer“ 21 , um darauf zu verweisen, dass sich das Ich erst durch den Blick der Anderen konstituiert. In topologischer Hinsicht ist dieser alteritäre Fremdheitstypus, der zugleich im Hier und im Irgendwo lokalisiert ist, durch das Paradox eines ortlosen Ortes gekennzeichnet, wie ihn Michel de Certeau und Marc Augé beschrieben haben. 22 Es ist ein Raum, der die Fremdheit eines Subjektes erzeugt, das als Grenzgänger in einem anthropologischen Sinne heimatlos geworden ist - und gerade die Negation von Heimat ist für diesen Fremdheitstypus charakteristisch. Wer permanent auf Reisen ist, kommt nie zu Hause an, und wer überall zu Hause ist, ist überall fremd. Genau betrachtet, ist der alteritäre Fremdheitstypus sogar durch eine doppelte Negation bestimmt: Er negiert einen emphatischen Begriff von Heimat ebenso wie die Differenz zwischen Heimat und Fremde. Als Negation von Heimat ist der alteritär fremde Raum derjenige Ort, der nicht Geburtsort, nicht Wohnort und nicht Herkunftsort der Vorfahren ist. Diese sehr basale Erfahrung von Fremdheit alleine wäre allerdings nicht spezifisch modern; sie erlebt jeder Stammesbewohner, der sein Dorf verlässt. Indem der Transitort aber auch die Differenz zwischen Heimat und Fremde zurückweist, ist es ihm - und erst das macht diese Fremdheitserfahrung typisch modern - nicht möglich, von ihm aus einfach eine Grenze zu überschreiten, um in eine Heimat zurückzukehren. Simmel sieht in diesem Fremdheitstypus eine „Synthese von Nähe und Ferne“. 23 Der Fremde (des Alteritätstypus, um in der hier verwendeten Begrifflichkeit zu bleiben) sei nicht zu verstehen „als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen 21 Waldenfels, Bernhard: „Phänomenologie des Eigenen und des Fremden“, in: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin: Akademie Verlag, S. 65-83, hier S. 70. 22 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988, S. 197-208; Augé, Marc: Nicht-Orte. 3. Aufl. München: Beck 2012. 23 Simmel: Exkurs über den Fremden, S. 766. Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern 77 bleibt - sozusagen der potenziell Wandernde, der obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“. 24 Der alteritär Fremde unterscheidet sich in Simmels Verständnis vom Wandernden, weil dieser immer in die stabile Polarität von Herkunft und Ziel eingeordnet ist, also immer noch eine Heimat hat. 25 In einer globalisierten Welt ist dieser alteritär Fremde fast überall anzutreffen. Doch bereits zu Forsters Lebzeiten, in der Frühphase des modernen Imperialismus des 18. Jahrhunderts, ist dieser Typus unter dem Begriff des Kosmopoliten bekannt. So heißt es etwa im Dictionnaire de l’Académie Françoise (wie das Lexikon damals noch hieß) unter dem Lemma ‚Cosmopolite‘: „Celui qui n’adopte point de patrie.“ 26 Und der Adelung definiert den ‚Weltbürger‘ entsprechend als „der Mensch, als ein Bürger oder freyer Einwohner der Welt, d.i. des Erdbodens, betrachtet; der Kosmopolit, nach dem Griechischen.“ 27 Schon früh zeichnet sich hier ab, dass sich mit dem alteritären Fremdheitstypus eine exemplarische moderne Anthropologie ausbildet. 24 Ebenda, S. 764. 25 Er sieht ihn idealtypisch in der Figur des Händlers verwirklicht, der eine Wirtschaftsgemeinschaft mit denjenigen Gütern versorgt, die sie nicht selbst hervorzubringen vermag, und der erst durch Geld als universales Kommunikationsmedium ermöglicht wurde. Auch hier liegt eine typologische Nähe zu Walter Faber vor, der als Ingenieur der UNESCO sein technisches Know-how an „unterentwickelte Völker“ (Frisch: Homo faber, S. 10) weitergibt. 26 Dictionnaire de l’Académie Françoise. Bd. 1. 4. Aufl. Brunet: Paris 1762, S. 409. 27 [Adelung, Johann Christoph]: Versuch eines vollständigen grammatisch=kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Bd. 5.1. Breitkopf: Leipzig 1786, Sp. 162. 28 Entsprechend konnte Horst Turk dann beispielsweise die Frage anschließen, unter welchen Bedingungen darüber entschieden wird, „[o]b die Fremdheit zu alterisieren oder die Andersheit zu alienisieren ist“ (Turk, Horst: „Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik“, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 22.1 (1990), S. 8-31, hier S. 25). 3 Liminalität Für die Fremdheitsforschung war die Differenz zwischen Alienität und Alterität eine Leitunterscheidung, weil sie zwei Pole von Fremdheit gegenüberzustellen vermochte: das völlig Andere, das aus dem Nirgendwo kommt, und schon in dem Moment, in dem es sichtbar wird, seinen Status radikaler Alienität aufgibt, und das ortlose Fremde im sozialen Gegenüber, das gerade in der modernen Gesellschaft Bestandteil prekärer Identität selbst ist. 28 Für eine postimperialistische Topologie des politisch Fremden muss diesem Antagonismus jedoch noch ein dritter Typus hinzugefügt werden, den Christian Kirchmeier 78 ich ausgehend von einem Textausschnitt aus Joseph Roths Radetzkymarsch (1932) diskutieren möchte. Es ist ein Textausschnitt aus dem zweiten Teil des Romans, in dem Carl Joseph von Trotta die namenlose ostgalizische Grenzstadt erreicht, die unverkennbare Züge von Roths Geburtsstadt Brody trägt: 29 Sumpfgeborene waren die Menschen dieser Gegend. Denn die Sümpfe lagen unheimlich ausgebreitet über der ganzen Fläche des Landes, zu beiden Seiten der Landstraße, mit Fröschen, Fieberbazillen und tückischem Gras, das den ahnungslosen, des Landes unkundigen Wanderern eine furchtbare Lockung in einen furchtbaren Tod bedeutete. Viele kamen um, und ihre letzten Hilferufe hatte keiner gehört. Alle aber, die dort geboren waren, kannten die Tücke des Sumpfes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. […] Wer immer von Fremden in diese Gegend geriet, mußte allmählich verlorengehn. Keiner war so kräftig wie der Sumpf. Niemand konnte der Grenze standhalten. Um jene Zeit begannen die hohen Herren in Wien und Petersburg bereits, den großen Krieg vorzubereiten. Die Menschen an der Grenze fühlten ihn früher kommen als die andern; nicht nur, weil sie gewohnt waren, kommende Dinge zu erahnen, sondern auch, weil sie jeden Tag die Vorzeichen des Untergangs mit eigenen Augen sehen konnten. Auch von diesen Vorbereitungen noch zogen sie Gewinn. So mancher lebte von Spionage und Gegenspionage, bekam österreichische Gulden von der österreichischen Polizei und russische Rubel von der russischen. Und in der weltfernen, sumpfigen Öde der Garnison verfiel der und jener Offizier der Verzweiflung, dem Hasardspiel, den Schulden und finsteren Menschen. Die Friedhöfe der Grenzgarnisonen bargen viele junge Leiber schwacher Männer. 30 An dem Fremdheitskonzept, das in diesem Textausschnitt formuliert wird, ist zunächst bemerkenswert, um welche Fremdheit es nicht geht: Nicht fremd sind sich das Habsburger- und das Zarenreich in ihrer politischen Organisation. Die „hohen Herren in Wien und Petersburg“ verbindet nach einer jahrhundertelangen höfischen Entwicklung mehr als sie trennt. Die wechselseitige Spionage ist also auch keine hermeneutische Methode, die wie in Forsters Bericht Übersetzungsprozesse steuern könnte, sondern ein machtpolitisches Instrument, das die Kontrolle über imperiale Informations- und Kommunikationsnetze gewährleisten soll. 29 Zur historischen Entwicklung der galizischen Grenzstädte bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Kuzmany, Börries/ Cohen, Laurie R./ Adelsgruber, Paulus: „Kleinstädte entlang der galizisch-wolhynisch/ podolischen Grenze. Ein Vergleich“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 55.2 (2007), S. 210-241. Für biographische Bezüge von Roth zu Brody vgl. Kłańska, Maria: „Joseph Roths Beziehungen zu seinen galizischen Heimatstädten Brody und Lemberg“, in: Enklaar, Jattie/ Ester, Hans/ Tax, Evelyne (Hgg.): Städte und Orte. Expeditionen in die literarische Landschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 13-22. 30 Roth, Joseph: Radetzkymarsch. Roman. 1932, in: Ders.: Werke 5. Romane und Erzählungen. 1930-1936. Hg. Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 137- 455, hier S. 258f. Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern 79 Die Grenze zwischen den beiden Reichen ist bei Roth keine Linie zwischen zwei Nationen, sondern ein breiter Raum in der Peripherie, der über eine eigene normative Identität verfügt und geopolitische Differenzen unterminiert, die einer Logik des Antagonismus politischer Zentren folgen. Hans Richard Brittnacher beschreibt diese politische Dimension der Grenze bei Roth treffend: „Sie bildet eben nicht, wie es ihre politischen Propagandisten wollen, den Ort einer Politik der Reterritorialisierung, die nach Phasen kriegsbedingter Diffusion wieder säuberlich das eine Staatsgebiet vom andern trennt, sondern sie ist im Universum Roths der Anlass der Deterritorialisierung, ihr wird geradezu der Zweck zugeschrieben, überschritten zu werden.“ 31 Dieser fremde Zwischenraum wird zum Telos von Roths nomadischen Protagonisten. 32 Für Carl Joseph von Trotta ist es die topologische Fremdheit des Sumpfes als antagonistischer Raum zu den politischen Zentren in Wien und St. Petersburg, die seine Identität problematisiert, ihm aber auch ein Identitätsangebot macht. 33 Für die Figur von Carl Josephs Vater hingegen, den Bezirkshauptmann Franz von Trotta, ist diese Opposition unhintergehbar. „[S]eine Heimat war die Kaiserliche Burg zu Wien“, heißt es zu Beginn des Kapitels, und im Brief an seinen Sohn schreibt er: „Das Schicksal hat aus unserm Geschlecht von Grenzbauern Österreicher gemacht. Wir wollen es bleiben.“ 34 Für seinen Sohn Carl Joseph gestaltet sich die Abgrenzung zur neuen Fremde der Grenzgebiete schwieriger, er ist dem Zentrum und der Peripherie zugleich verhaftet. Vor die Wahl gestellt, „im Innern des Reiches zu dienen oder an dessen östlicher Grenze“ 35 entscheidet sich der Bezirkshauptmann für die fremde Peripherie, die ihm als „nördliche Schwester Sloweniens“ 36 ein Ersatz für die Heimat seiner Vorfahren sein soll. Wenn Carl Joseph den galizischen Sumpf der kaiserlichen Burg vorzieht, dann bevorzugt er die Peripherie vor dem Zentrum, auch wenn er deren Fremdheit nicht über- 31 Brittnacher, Hans Richard: „Von Heimkehrern, Vagabunden und Hochstaplern. Glück und Fluch des improvisierten Lebens bei Joseph Roth“, in: Amthor, Wiebke/ Brittnacher, Hans Richard (Hgg.): Joseph Roth. Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin/ Boston: de Gruyter 2012, S. 165-182, hier S. 178. 32 Vgl. zu den Figuren der Vagabunden ebenda, passim. 33 Ohne die zumindest implizite Opposition zwischen Zentrum und Peripherie ist die Bedeutung dieses Raumes nicht zu erfassen, auch wenn Wien nur einen kleinen Teil der Handlungsorte im Roman ausmacht, worauf Chambers, Helen: „Großstädter in der Provinz. Topographie bei Theodor Fontane und Joseph Roth“, in: Dies.: Fontane-Studien. Gesammelte Aufsätze zu Romanen, Gedichten und Reportagen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 285-293, hier S. 285-287, hingewiesen hat. 34 Roth: Radetzkymarsch, S. 255f. 35 Ebenda, S. 256. 36 Ebenda. Christian Kirchmeier 80 winden wird. Er selbst bleibt zwischen den beiden Räumen gespalten. Der „Zweifel an der eigenen Identität“, 37 den Wolfgang Müller-Funk als Prinzip des Roth’schen Werkes ausgemacht hat, und der sich tatsächlich als zwîvel, als eine Gespaltenheit des Protagonisten bemerkbar macht, ist das Ergebnis der Dualität von Zentrum und Peripherie. In topologischer Hinsicht ist der Fremdheitsraum doppelt determiniert. Im Verhältnis zu den politischen Zentren ist er Peripherie, im Verhältnis zu den beiden geopolitischen Imperien ist er ein Grenzraum - „zwischen dem Osten und dem Westen, eingeklemmt zwischen Nacht und Tag“, heißt es dazu im Text. 38 Was aber von den politischen Zentren aus betrachtet als eingeengter Zwischenraum erscheint, ist für die Einwohner eine eigene Welt, die von einem „unendlichen Horizont“ 39 umgeben wird. Als solche kann sie sich (anders als die Orte der beiden anderen Fremdheitstypen) als eigenständiger Kulturraum gegen die politischen Zentren behaupten. Für den Fremdheitstypus, der topologisch in einem solchen Grenzraum verortet ist, möchte ich den Begriff der Liminalität vorschlagen (und dabei nicht, jedenfalls nicht primär, an den ethnologischen Sinn des Begriffs bei Victor Turner denken 40 ). Seine Charakteristik wird in Abgrenzung zu den beiden anderen Fremdheitstypen deutlich: Der Alienitätstypus ist in einem Transzendenzraum verortet, in einem Raum außerhalb der Wahrnehmung, der sich außerhalb der politischen Welt befindet, die als identitätsstiftender Heimatraum fungiert. Der Transitraum des Alteritätstypus hingegen ist ein Raum, der niemandes Heimat mehr ist. Transiträume konstituieren sich gerade dadurch, dass sich die Individuen ihnen als nicht zugehörig erfahren. Es sind beliebig austauschbare Punkte eines Kommunikationsnetzwerks, von dem aus alle anderen Knotenpunkte erreicht werden könnten. Houston, Texas, ist so gut wie irgendein anderer Ort, solange er sich nicht mitten in einer Wüste befindet, in die man abstürzt. Der Transitraum ist der Mikrokosmos in einer kosmopolitischen Ordnung der Weltgesellschaft, die kein Außen mehr kennt. Von den Transiträumen unterscheiden sich wiederum die Grenzräume des Liminalitätstypus: Die liminale Fremdheitserfahrung entsteht durch den 37 Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth. Besichtigungen eines Werkes. 2., erw. Aufl. Wien: Sonderzahl 2012, S. 27. 38 Roth: Radetzkymarsch, S. 257. 39 Ebenda. 40 Nicht gemeint ist also das Liminale als Übergangsphase zwischen einem Anfangs- und einem Endzustand. Eine Verbindung findet sich allerdings dort, wo Turner das Merkmal von Schwellenzuständen herausstellt, dass sich Personen an den „Grenzen“ der „Sozialstruktur“ aufhalten (Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/ M./ New York: Campus 1989, S. 123). Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern 81 Antagonismus zur Kultur im Zentrum eines Imperiums. „Anders als in den kleinen Städten Westeuropas ist der Mensch in den galizischen Kleinstädten“, schreibt Roth in einem Reisebericht über Galizien für die Frankfurter Zeitung. 41 Der Grenzraum kann durchaus Heimat sein, wie es ja im Radetzkymarsch auch der Fall ist. Grenzräume der Peripherie sind keine Nicht-Orte, in denen sich die Heimatlosigkeit des Individuums Raum schafft, sondern Orte, die ein kulturelles Identifikationsangebot machen. Dabei werden sie von einer paradoxalen Struktur charakterisiert: Gerade in ihrer Opposition zum politischen Zentrum erzeugen sie die plurale Identität des nach Zentrum und Peripherie ausdifferenzierten politischen Systems. Während der Transitraum also ein ortloser Ort ist, der keinem Zentrum angehört, ist der Grenzraum politisch zugleich ein- und ausgeschlossen. Diese Paradoxie des eingeschlossenen Ausgeschlossenen, die sich sozialstrukturell schlicht durch Binnendifferenzierung erklärt, wird in dem Textausschnitt in ihrer anthropologischen Tragweite thematisiert. Für den Fremden aus dem Inneren des Reiches bedeutet die Peripherie gerade keinen beliebigen Aufenthaltsraum, sondern einen Raum, der seine Identität problematisiert und sogar seine Existenz bedrohen kann, weil der Unvertraute weder dem Sumpf noch dem Fieber, weder den Schulden noch dem Spiel gewachsen ist. 42 41 Roth, Joseph: „Leute und Gegend“, in: Ders.: Werke 2. Das journalistische Werk. 1924- 1928. Hg. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 281-285, hier S. 284. 42 Auch dieser Raum kennzeichnet sich durch „eine Art von Handel“, die gleichwohl nichts mit dem Handel des Alteritätstypus zu tun hat. Anders als in der „zivilisierten Welt“ leben die ostgalizischen Händler „viel eher von Zufällen als von Aussichten, viel mehr von der unberechenbaren Vorsehung als von geschäftlichen Überlegungen, und jeder Händler war jederzeit bereit, die Ware zu ergreifen, die ihm das Schicksal jeweilig auslieferte, und auch eine Ware zu erfinden, wenn ihm Gott keine beschert hatte.“ (Roth: Radetzkymarsch, S. 256f.) Es sind nicht die Händler, sondern die Waren, die hier die Grenze überschreiten. Deswegen sind diese Händler in ihrem Ort keine Fremden; fremd sind sie nur für den Besucher aus dem ‚zivilisierten‘ Zentrum des Reiches. Das lebensfeindliche Habitat der sumpfgeborenen Galizier ist das Gegenteil des lebensschaffenden Habitats der schaumgeborenen Aphrodite. Zugleich ist der Sumpf aber auch „Urgrund des Lebens“ (Brittnacher: Von Heimkehrern, S. 178) und verweist damit auf die berühmten Kulturbegründer, die ebenfalls im Sumpf ausgesetzt Sumpfgeborene sind - vom ägyptischen Horus-Mythos über Moses bis Romulus und Remus. 4 Ausblick Die Typologie des politisch Fremden und seiner Räume ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Sie müsste vor allem um den Fremdheitstypus der Hochkulturen ergänzt werden, durch die Figur also, die Simmel als ‚Wan- Christian Kirchmeier 82 derer‘ bezeichnet. Es wäre derjenige Fremde, der sich durch eine Grenzüberschreitung der semantischen Oppositionsräume Heimat/ Fremde konstituiert und für den man in Anlehnung an Jurij Lotmans Narratologie den Begriff eines ‚heroischen Fremdheitstypus‘ einführen könnte. Das Epos und der höfische Roman sind Textgattungen, in denen ein solcher Typus ständig in Erscheinung tritt - und die vielleicht sogar eine Art Poetik des heroisch fremden Raumes hervorgebracht haben. Doch bereits die drei hier kurz skizzierten Textbeispiele verweisen nicht nur auf eine Typologie des politisch Fremden, sie wecken auch den Verdacht, dass den verschiedenen topologischen Fremdheitskonzepten eine je spezifische poetische Form entspricht. Es ist wohl kein Zufall, dass der liminale Fremdheitstypus im letzten Beispiel durch einen nullfokalisierten Erzähler vermittelt wird, der anders als die intern fokalisierten Erzählerstimmen der beiden ‚Berichte‘ die Fremdheitserfahrung in einem narrativen Modus schildert, in dem die Erzählinstanz besonders deutlich hervortritt. Mir scheint der Text hier zumindest zu insinuieren, dass der liminale Fremdheitstypus das Medium der Narration voraussetzt, während die Fremdheitserfahrung der Alterität eher einen dramatischen Modus zu favorisieren scheint, der die Multiperspektivität verschiedener Subjekte einander deutlicher gegenüberstellen kann. Die Alienität verlangt wiederum nach einem Medium, in dem das Fremde plötzlich erscheinen kann. Mittels einer literarischen Sinnproduktion lässt sich dieser Effekt nur schwer erzielen, und deshalb ist es durchaus plausibel, dass der alienitäre Fremdheitstypus im ersten Beispiel nur qua Negation der Erzählperspektive erschlossen werden kann. Sollte die Vermutung zutreffen, dass den topologischen Fremdheitskonzepten spezifische poetische Vermittlungstechniken entsprechen, dann würde eine Erforschung des liminalen Fremdheitstypus eine Narratologie erfordern, die erklären kann, wie das Wissen von der Grenze erzeugt wird. Darin könnte eine der Kernaufgaben für postimperiale Theorieangebote in den Literaturwissenschaften liegen. Dieser Gedanke führt abschließend zu dem übergeordneten Thema dieses Bandes zurück: Christine Magerski hat in einem Beitrag zum „Zentrum-Peripherie-Problem in Theorie und Literatur“ auf die Nähe Joseph Roths zur Imperiumsforschung und insbesondere zu Herfried Münkler hingewiesen. „Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie“, 43 schreibt Roth in der Kapuzinergruft. Herfried Münkler hat Thesen zu einer Imperiumstheorie aufgestellt, die sich wie ein Kommentar zu diesem Satz lesen. 43 Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft. Roman. 1938, in: Ders.: Werke 6. Romane und Erzählungen. 1936-1940. Hg. Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992, S. 225-346, hier S. 235. Von Vielfliegern, Sumpfgeborenen und Siriusbewohnern 83 Münkler wendet sich gegen Imperialismustheorien, die Imperien lediglich durch das Handeln einer zentralistischen Elite erklären wollen und beispielsweise das Habsburgerreich alleine aus der Wiener Politik zu erschließen versuchen. Für Münkler „entwickeln Imperiumstheorien eine Vorstellung von der Nützlichkeit gesellschaftlich randständiger Gruppen für die Beherrschung eines ausgedehnten Reiches, in dem die Zentrale nicht alle Vorgänge und Beschlüsse kontrollieren kann und sich auf die Verantwortlichen an der Peripherie verlassen muss“. 44 Eine postimperialistische Literaturwissenschaft müsste es sich zur Aufgabe machen, diese ‚gesellschaftlich randständigen Gruppen‘ der Peripherie zu untersuchen, die ich unter dem Begriff des liminalen Fremdheitstypus zu charakterisieren versucht habe. Sie müsste klären, wie die narrative Vermittlung dieser Fremdheitserfahrungen im Medium der Literatur erfolgt, und sie könnte so vielleicht zeigen, welche politische Funktion der Literatur im Kontext des Imperialismus zukommt. 44 Münkler: Imperien, S. 43. Christian Kirchmeier 84 Andrea Seidler (Wien) Gratwanderung zwischen Loyalität und Resistenz Die ungarische Leibgarde Maria Theresias als ambivalentes Symbol eines asymmetrischen Machtkonglomerats Der ungarische Dichter, Philosoph, Leibgardist Georg Bessenyei von Bessenye wurde 1746 in Tiszaberczelen, in der Szabolcser Gespanschaft geboren. Bessenyei stammte aus altem Adel, seine Familie war allerdings im Laufe der Geschichte verarmt: Den Vermögensverhältnissen entsprechend kann man sie zum mittleren Adel des Landes zählen. Traditionell besuchte er die reformierte Schule in Sárospatak, seine schulische Karriere war allerdings nicht glanzvoll; nach seiner Rückkehr aus Sárospatak wurde er durch private Lehrer vor allem im Lateinischen unterrichtet. Wovon er jedoch etwas verstand, waren die militärischen Techniken des Reitens, Fechtens und Schießens. Mit diesem familiären Hintergrund und geringem akademischem Wissen ausgestattet, zog es ihn 1765 neunzehnjährig nach Wien. Er wollte Mitglied der 1760 gegründeten königlich-ungarischen Leibgarde (auch ungarische adelige Leibgarde oder praetoriana nobilis turma genannt) Maria Theresias werden. Diese Leibgarde bestand zum großen Teil aus Jünglingen und älteren Adeligen mit ähnlicher Vita. Sie sollte laut ersten Plänen nicht mehr als 100-120 Mann umfassen und war dem Hofkriegsrat unterstellt. Die Aufgabe der Leibgarde war es als Eskorte für Maria Theresia zu dienen und diplomatische Kurierdienste zu erledigen, sie diente also rein repräsentativen Zwecken. 2 Ihr Wohnsitz war das Palais Trautson in Wien und die einzelnen Gardis- Meine Gedancken sind in diesem Werk zerstreut, ohne System, ohne Ordnung, wie du siehst, sie bleiben bei jedem Gegenstand unvollendet. Meine Ansicht ist nicht zu unterrichten, ich will dem Leser nur durch halbentdeckte Gegenstände Ursache geben zu denken. 1 * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Bessenyei, György: Der Mann ohne Vorurtheil in der neuen Regierung. 4. Stück. Wien: Hartl 1791, S. 16f. 2 Die Leibgarde hatte im Laufe der Jahrhunderte großen Personalschwund zu verzeichnen und wurde 1918 aufgelöst. Sie hatte um jene Zeit noch 40 Mitglieder und das Palais Trautson war ihre Zentrale. ten wurden traditionell von der Komitatsverwaltung 3 vorgeschlagen. „Dass die Vorsitzenden der Komitatsversammlung das recht hatten, die Leibgarde aus eigenem Ermessen zusammen zu stellen - das bedeutete große Verpflichtung“, schreibt der Historiker István Nemeskürty. 4 Jedenfalls war die Symbolik dieses Vorschlagsrechtes durch ungarische lokale Behörden auch politisch nicht zu unterschätzen. Wien und die ersten Eindrücke wie auch die unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten, die die Stadt dem jungen Bessenyei, der aus dem östlichsten Winkel des Königreichs Ungarn gekommen war, bot, blieben nicht ohne Wirkung auf den ambitionierten Leibgardisten. Bessenyei lernte mit hohem Tempo Sprachen: Er verbesserte sein Französisch, holte das längst vergessene Latein nach und lernte Deutsch und Englisch - wie übrigens alle anderen Gardisten auch, denn sie sollten nicht nur eskortieren und Botendienste leisten, sondern sich im Rahmen ihrer Berufung auch weiterbilden. „Das Pensum war groß, der Lehrplan straff.“ 5 Bessenyei interessierte sich vor allem für die Geschichte der europäischen Philosophie und las sich Werk für Werk in Versäumtes ein. Maria Theresia hatte es also geschafft, durch diese Einrichtung die ungarische, vor allem junge Intelligenz um sich zu versammeln, sie nach den Vorstellungen des Hofes zu schulen und sich allein schon durch das großzügige und prestigeträchtige Angebot des Dienstes an ihrer Seite ihre Treue und Loyalität zu sichern. „Ein [...] Gardist war überzeugt königstreu und im damaligen Sinne der Aufklärung hochgebildet, mit vielseitigen Kenntnissen ausgestattet.“ (Nemeskürty) Neben seinem Amt als Leibgardist zogen György Bessenyei wie gesagt das Studium der Literatur und der Philosophie an. Er übersetzte theologische Schriften aus dem Deutschen und Französischen ins Ungarische und ver- 3 Komitat ist eine deutsche Bezeichnung für die regionalen Verwaltungseinheiten Ungarns. Die ungarische Bezeichnung dafür lautet megye. 4 Nemeskürty, István: „Die Königlich-Ungarische Adelige Leibgarde. Die kulturelle Bedeutung der ungarischen Leibgarde zur Zeit Maria Theresias“, in: Begegnungen. Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest 6 (1998), S. 33-37. Hier zit. nach der Online-Version unter http: / / www.europainstitut.hu/ index.php/ 17-begegnungen/ 153-begegnungen06nemeskurty (Zugriff 7.3.2017). 5 Nemeskürty schreibt a.a.O.: „Nach dem Unterricht folgte der eigentliche Dienst, und während des Dienstes richtete die Königin hin und wieder das Wort an sie, oder die Hofdamen begannen ein Gespräch mit ihnen. Man ging zu Konzerten, in die Oper oder besuchte Theatervorstellungen. Das Hofarchiv und -bibliothek durften sie frei besuchen, und Bücher, auch wertvolle ungarische Codices und Urdrucke konnte man ausleihen. Die Gardisten wurden auch auf Reisen geschickt. Bessenyei zum Beispiel wurde der Herzogin Maria Amalia, der 22-jährigen Tochter der Königin als Leibgardist-Reisebegleiter zugeordnet. Die Reise ging nach Parma, wo Maria Amalia die Gattin von Herzog Ferdinand von Parma wurde.“ Andrea Seidler 86 suchte sich selbst im Schreiben. Auch in dieser Hinsicht erwies er sich als sehr ehrgeizig: Er entschied sich als Schriftsteller zunächst für das dramatische Fach: Attila és Buda. Trauerspiel in 5 Aufzügen (1772), Hunyadi László. Tragödie in 3 Aufzügen (1772) sowie A Filozófus. Komödie in 5 Aufzügen (1777) gehörten zu seinen ersten Bühnenwerken 6 . Als Dichter schrieb er sich mit dem Gedicht Eszterházi vigasságok (1772) in dem Kanon der ungarischen Literatur ein. Er beschrieb darin wortgewaltig die glanzvolle Hofführung des Fürsten Nikolaus von Eszterházy auf seinem Schloss in Fertőd, Ungarn und den mehrtägigen Besuch des französischen Botschafters Rohan ebendort. 7 Philosophische Gedichte, Aufsätze, Unterweisungen und auch kleine Periodika des Schriftstellers erschienen zunächst in ungarischer Sprache. Des Deutschen nach 17 Jahren Wien mächtig, veröffentlichte er 1777 Die Geschäfte der Einsamkeit, ein philosophisches Traktat und das Theaterstück Der Amerikaner sowie das Periodikum Der Mann ohne Vorurtheil in der neuen Regierung - vermutlich eine Anlehnung an Joseph von Sonnenfels’ Zeitschrift Der Mann ohne Vorurtheil aus den Jahren 1765 bis 1767 sowie 1769 und 1775. 8 Allein im Jahre 1772 gab Bessenyei vier Werke unter Mithilfe der Hofdamen der Königin Maria Theresia, die sie auf das Talent des Leibgardisten aufmerksam gemacht hatten, heraus. Die ungarische Literatur traf also in Wien auf unterstützende Kräfte in der Person der Regentin. Theresia Grass, Hofdame Maria Theresias schrieb 1772 an den Bibliothekar der Königin: „Unser bester Georg Bessenyei hat seine Tragödie Ihrer Majestät untertänigst zu Füßen gelegt, worüber Ihre Majestät ein sehr gnädiges Wohlgefallen zeiget“ - Maria Theresia selbst sprach allerdings nicht Ungarisch, weshalb sie die Meinung des Bibliothekars hinsichtlich der Qualität der Stücke einholen wollte. Grass weiter: „[...] und wenn solche Tragödie von Euerwohl apporbieret, so wird ihre Majestät sehr content darüber sein und wird solches meinem 6 Das bedeutendste seiner Lustspiele war A filozófus (Der Philosoph), veröffentlicht in Pest und in Prosa verfasst. Die Titelfigur heißt Parmenio, der sich vom strahlenden Salonleben abwendet, dessen Unbedeutsamkeit erkennt und sich in die Einsamkeit zurückzieht, philosophiert. Er liest Kopernikus, Descartes, Locke, Robinet, sucht nach dem Sinn des Lebens, vertieft sich in die Lehren der Geschichte und bleibt in seiner Unwissenheit Skeptiker. 7 Siehe darüber jüngst Katalin Czibula: „Der Tod einer Tänzerin als Antwort auf eine literaturhistorische Frage. Zum Hintergrund von György Bessenyeis Dichtung Eszterházi vigasságok“, in: Dies.: Theater und Öffentlichkeit: Beiträge zur ungarischen Theaterkultur des 18. und 19. Jahrhunderts, Budapest: Protea Kulturverein 2016, S. 112-133. 8 S. dazu Seidler, Andrea; Seidler, Wolfram: Das Zeitschriftenwesen im Donauraum zwischen 1740 und 1809. Kommentierte Bibliographie der deutsch- und ungarischsprachigen Zeitschriften in Wien, Preßburg und Pest-Buda. Wien: Böhlau 1988. Gratwanderung zwischen Loyalität und Resistenz 87 besten gescheiten Bessenyei zu seinem Lob und ferneren Glücke bei Ihrer Majestät sein“. 9 Bessenyei schrieb insgesamt über 40 Werke, die heute zum Großteil in Vergessenheit geraten sind oder in erster Linie der ungarischen literaturwissenschaftlichen Forschung als aufklärerische Zeitdokumente dienen. Seine Dramen werden längst nicht mehr aufgeführt, seine Traktate von der Fachwelt kaum wahrgenommen und sein Periodikum zählte schon zu Lebzeiten zum Minderheitenprogramm einer sehr kleinen Gruppe engagierter Leser. Bessenyeis Integration in Wien aber könnte man aus heutiger Sicht durchaus als gelungen bezeichnen: politisch aktiv und doch loyal, schriftstellerisch tätig, ein begabter Netzwerker, in mehreren Sprachen schriftfest, Übersetzer, Dichter, Philosoph - ein wahrer Vertreter der Aufklärung, wie ihn sich Wien und die Ungarn nur wünschen konnten. Bessenyei war zu einer Zeit in Wien eingetroffen, in der die Gunst Maria Theresias den Ungarn gegenüber ungebrochen war. Das ungarische Volk liebte seine Königin, es hatte sich durch die Pragmatische Sanktion, die die Thronbesteigung Maria Theresias erst ermöglicht hatte als treu dem Habsburgischen Haus gegenüber erwiesen. Diese Loyalität, die durch politisches Handeln laufend unter Beweis gestellt wurde, sollte durch die Anwesenheit der ungarischen Leibgarde einmal mehr manifestiert werden. Auch andere Symbole sind Zeugen des von habsburgischer Seite als durchaus harmonisch verstandenen monarchischen Zusammenlebens mit den Ungarn: Die Statthalterei in Preßburg erhielt durch die Renovierung des verfallenen Schlosses neuen Glanz, Erzherzogin Christina zog mit ihrem Mann Albert von Sachsen Teschen 1764 dort ein und die Königin selbst besuchte ihre Tochter und die Stadt regelmäßig. 1764 wurde auch die erste - deutschsprachige - „Preßburger Zeitung“ 10 gegründet, die in den ersten Jahren sehr an das „Wienerische Diarium“ 11 erinnert, allerdings um Nachrichten aus Ungarn und der Hauptstadt Preßburg erweitert wurde. 9 Nemeskürty: „Die Königlich-Ungarische Adelige Leibgarde. 10 Preßburger Zeitung. Preßburg: Landerer u.a. 1764-1929. Siehe dazu mehr in Seidler/ Seidler: Das Zeitschriftenwesen im Donauraum zwischen 1740 und 1809. 11 Wienerisches Diarium oder Nachrichten von Staats-, vermischen und gelehrten Neuigkeiten. Wien, 1703-[Ab 1780 Wiener Zeitung]. S. dazu Seidler/ Seidler: Das Zeitschriftenwesen im Donauraum zwischen 1740 und 1809. 1 Abschied von der Leibgarde Bessenyei blieb nur bis 1773 Mitglied der Leibgarde. Seine angeschlagene Gesundheit und sein Übergewicht machten einen aktiven Verbleib beim Militär unmöglich. Seine Mittel aus öffentlicher Hand waren dadurch versiegt, und Andrea Seidler 88 noch dazu wurde ihm seine Tätigkeit als Agent der ungarischen reformierten Kirche in Wien entzogen, wodurch er sein Salär von 2000 Gulden verlor. Bessenyei, den seine Religion an der Ausübung von Ämtern in Wien hinderte, konvertierte 1779, ein Jahr vor dem Tod Maria Theresias auf ihr Geheiß zum katholischen Glauben und konnte danach zum Vize-Kustos der k.k. Hofbibliothek ernannt werden - mit einer Entlohnung von 2000 Gulden jährlich. Joseph II., ab dem Tod Maria Theresias 1780 Alleinregent und offensichtlich kein Freund des Dichters, entzog ihm diese finanzielle Unterstützung wieder. So übte Bessenyei sein Amt zwei weitere Jahre unentgeltlich aus, um 1782 auf seine Landgüter in Ostungarn zurückzukehren. Er verstarb 1811 im hohen Alter in Berettyó Kovács in der Biharer Gespanschaft. 2 Loyalität und Resistenz Im Folgenden wird auf Bessenyeis programmatische Schriften näher eingegangen, auf die Gratwanderung zwischen gelebter Loyalität Maria Theresia gegenüber, der er nicht nur privat viel verdankte, sowie auf sein getrübtes Verhältnis zu Joseph II. und dessen Reformpolitik, das sich nicht zuletzt in einer Reihe von antihabsburgischen oder zumindest die Politik der Habsburger kritisch behandelnden Schriften manifestierte. Die ersten Flugschriften und Traktate des Dichters und Philosophen bestanden aus Reflexionen zu Glaubensfragen, sie zeugen von einer ambivalenten Stellung zu Gott, zur Staatsführung und behandeln moralisch-sittliche Überlegungen im Sinne der Aufklärung. Das erste Mal machte Bessenyei als behutsam gesellschaftskritischer Beobachter Ende der 1770er Jahre auf sich aufmerksam. Er publizierte eine Flugschrift mit dem Titel Magyarság (1778) 12 - Ungarntum (aber eigentlich geht es schon im Titel um das Bekenntnis des Ungarn zur ungarischen Sprache) - und 1779 einen Band, betitelt A Holmi. 13 Holmi würde ins heutige Deutsch übersetzt etwa Dinge, Allerlei bedeuten. Das Werk erschien durch Unterstützung eines siebenbürgischen Mäzens, des Grafen Péter Barcsay, ebenfalls Mitglied der Ungarischen Leibgarde, damals 19 Jahre alt und aus sehr begütertem Haus. Es besteht aus 46 Kapiteln, die sich mit allgemeinen Themen wie der Religion, der Geschichte Ungarns, der Berufung des Menschen aber auch mit Schule und Bildung, Sprache, Übersetzung, sowie Literatur beschäftigen. Bessenyeis Kritik richtete sich zunächst gegen die Ungarn selbst. Er warf ihnen Ignoranz und Fortschrittsverweigerung vor, den Unwillen, die eigene 12 Bessenyei, György: Magyarság. Wien 1778. Online unter http: / / magyar-irodalom.elte. hu/ gepesk/ corpus/ xviii/ besgy041.htm (Zugriff 7.3.2017) 13 Bessenyei, György: A Holmi. Wien 1778. Online unter http: / / magyar-irodalom.elte.hu/ gepesk/ corpus/ xviii/ besgy041.htm (Zugriff 7.3. 2017) Gratwanderung zwischen Loyalität und Resistenz 89 Sprache, das Ungarische zu entwickeln und zu verwenden. Es sei zwar ein Leichtes, auf das altbewährte Latein auszuweichen, aber in jedem Fall eine Sackgasse. Jede andere Nation, so Bessenyei, lerne, spreche Recht, treibe Handel, pflege gesellschaftliche Konversation und bewirtschafte sein Land in der eigenen Sprache: „tanul, perel, kereskedik, társalkodik, gazdálkodik“, 14 mit Ausnahme der Ungarn. Sie hätten im Lauf der Geschichte zugesehen, wie ihnen die Verwendung des Ungarischen sukzessive untersagt worden war. „Seit dem Hl. Stephan,“ so Bessenyei, „schreibt die Nation auf Latein, und wo steht sie mit ihren Wissenschaften? “ 15 Für Bessenyei gilt die Sprache als Kohäsionsfaktor einer Nationalkultur. Sein Kollektiv, die Nation muss sich über die gemeinsame Sprache definieren, so wie sie sich über eine gemeinsame Geschichte definieren muss. Er verlangt von seinen Landsleuten sprachliche Uniformität, ein „Wir-Gefühl“ gepaart mit mehr Nationalstolz: „Merke dir diese große Wahrheit, dass sich auf dem Globus Erde keine einzige Nation die Weisheit, die Tiefe, sowie die Wissenschaften in einer anderen als der eigenen Muttersprache angeeignet hat. Jede Nation wurde in ihrer eigenen Sprache weise, niemals in einer fremden.“ 16 Und an anderer Stelle: Jede Nation wird durch ihre eigene Sprache bekannt; - wie würdest du eine Nation bezeichnen, die keine Muttersprache hat? Überhaupt nicht. Was für ein trauriges, verworfenes und grausames Schicksal wäre für eine ganze Nation sich ohne Muttersprache zwischen mehreren Völkern mit eigener Muttersprache zu verstecken […], wo sie fortwährend gefragt würde: Was bist denn du? Woher kommst du? Wer bist du? Und wenn sie von einer anderen Nation die Sprache annähme, hätte sie dieser gegenüber immer das Gefühl, ihr Lehrling oder Diener zu sein. 17 14 Bessenyei: Magyarság. 15 Ebd. 16 „Jegyezd meg e nagy igazságot, hogy soha a földnek gyolyóbisán egy nemzet sem tehette addig magáévá a bölcsességet, mélységet, valameddig a tudományokat a maga anyanyelvébe nem húzta. Minden nemzet a maga nyelvén lett tudós, de idegenen sohasem.“ (Ebd.) 17 „Minden nemzet a maga nyelvéről ismertétik meg leginkább; - hogy neveznéd az olyan nemzetet, melynek anyanyelve nem volna? Sehogy, micsoda szomorú, elvetett és gyalazatos sors lenne az egész nemzetnek anyanyelv nélkül a több anyanyelves népek közt bujdokolni […], hol szüntelen azt kérdeznék tőle: hát te mi vagy, honnan jöttél, ki vagy? Azonban amely nemzettül elkódulná nyelvét, az iránt mindég úgy tetszene, mintha inasa vagy szolgája volna.“ (Ebd.) 3 Die Sprachenpolitik des Wiener Hofes und ihre Folgen Was sah Bessenyei nun als seine Aufgabe an? Zunächst ging es darum, die Vormachtstellung des Lateinischen zu brechen und argumentativ dafür zu werben, die junge Volkssprache, das Ungarische, in den Rang einer Literatur- Andrea Seidler 90 und Wissenschaftssprache zu heben. Aber dieser Prozess wurde vereitelt, indem sich dem Plan Kontrahenten in den Weg stellten: vor allem ein mächtiger Gegenspieler in der Person Josephs II. Die Weichen seiner Sprachpolitik waren längst gestellt, das Sprachenedikt, dass alle Nationen unter der Habsburger Krone das Deutsche als Verwaltungssprache zu verwenden hatten, längst vorbereitet. 18 Schon unter Maria Theresia hatte eine monarchieweite Zentralisationspolitik und Verbürokratisierung des Reiches begonnen, die eine Stärkung der deutschen Sprache unabdingbar machte, und dies betraf natürlich nicht nur Ungarn, sondern auch Tschechen, Slowaken und alle anderen Völker und Nationen des Habsburger Reiches. 19 Meines Erachtens ist Bessenyeis Ende der 1780er Jahre vehement betriebener Kampf um die ungarische Sprache im unmittelbaren Zusammenhang mit diesen Vorbereitungen, dem Deutschen einen hegemonialen Status zu verleihen, zu verstehen. Er las aus Maria Theresias und später aus Josephs Plänen einen Superioritätsgedanken heraus, der in letzter Konsequenz dazu führen würde, die ungarische Sprache (und das ungarische Volk) von der europäischen Sprachenlandschaft zu eliminieren. Die ideologischen Mittel, die Bessenyei für seinen Zweck einsetzte, lagen vor allem in der Manifestierung eines historischen Kollektivs und einer einzutreibenden Bringschuld der Ungarn. Er baute seine Forderung nach der Stärkung der ungarischen Sprache auf ein Zurückverlagern des Ursprungs des Ungarischen in eine Zeit, in der die Sprache gesellschaftspolitisch noch keine Relevanz gehabt hatte und steigert dadurch vor dem Publikum ihr Prestige. Die gemeinsamen Ressourcen, auf die die Ungarn zurückblicken, bilden die Basis für seine persönliche Sprachpolitik. Natürlich stand Bessenyei mit diesen Überlegungen nicht alleine da: Auch die erste ungarischsprachige Zeitung, der in Preßburg erschienene „Magyar Hírmondó - Ungarischer Kurier“ - des Matyás Rát (vormals Mathias Rath, ein deutschstämmiger Raaber, der seinen Namen magyarisiert hatte) übernahm einen bedeutenden Teil dieser Propaganda. 20 Im Unterschied zu Bessenyei, der im Laufe der Jahre radikalere Maßnahmen zur Stärkung des Ungarischen und gegen die hegemoniale Politik Josephs II. forderte, wollte Matyás Rát in erster Linie - bereits praktisch denkend - die ungarischen Literaten 18 Sprachenedikt Josephs II., 1784. 19 Haslinger, Peter: „Sprachenpolitik, Sprachendynamik und imperiale Herrschaft in der Habsburgermonarchie 1740- 1914“, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57 (2008), S. 81-110. 20 Magyar Hírmondó. Preßburg: Patzkó 1780-1787. Online Ausgabe: http: / / deba.unideb. hu/ deba/ cikk/ mahi.php Zur Gründung des MH siehe u.a.: http: / / mek.oszk.hu/ 06400/ 06492/ html/ (Zugriff 15.3.2017) sowie Seidler/ Seidler: Das Zeitschriftenwesen im Donauraum zwischen 1740 und 1809. Gratwanderung zwischen Loyalität und Resistenz 91 mobilisieren: Wenn es erst mal eine Literatursprache gäbe, sei der Schritt zu einer elaborierten Wissenschaftssprache nicht mehr weit, und diese Sprache habe die Sprache des Volkes zu sein, das aus keinem Bereich des Lebens ausgeschlossen werden dürfe, also auch nicht aus dem Bildungsbereich. 21 Im Vorwort des Kurier Előre való tudakozás fasst Rát zusammen: Es gibt in Europa keine einzige Nation, die über die Veränderungen im eigenen Land, die Probleme der Welt, die Erfindungen weiser Menschen und andere Nachrichten nicht in der eigenen Sprache lesen könnte. Es gibt nur diese eine, die ungarische Nation mit diesem Mangel. Dieser Mangel ist in sich genommen unanständig, und ist mit seinen Folgen zum unaussprechlichen Schaden und zur Schande unserer Heimat geworden. Das ist einer der Gründe, warum nicht nur was die fremde Welt betrifft, sondern unsere eigene Heimat, wir in einem Unwissen leben, wie der Wurm in der Nuß, ohne zu wissen, was um uns geschieht und uns unmittelbar betrifft. 22 Rats engagiertes Zeitungsprojekt war von dem häufigen Wechsel des Herausgebers geprägt und endete 1787. Er selbst arbeitete zwei Jahre mit am Periodikum, 1782 wurde er nach Raab als evangelischer Pfarrer berufen. Bessenyei erlebte inzwischen in Wien seinen persönlichen Niedergang: Der Bibliothekar von Maria Theresias Gnaden wurde von Joseph II. demontiert, seiner Ämter und seines Einkommens enthoben. In den letzten Jahren in Wien hatte er seinen Band Holmi und diverse Flugschriften herausgegeben. Sein Befürworter war wie gesagt ein Adeliger aus Siebenbürgen und nicht mehr der Hof, nicht mehr die Königin persönlich. 1781, ein Jahr vor seinem Rückzug auf seine Güter an der Ostgrenze des Königreichs Ungarn verfasste Bessenyei die Schrift Egy magyar társaság iránt való jámbor 21 „Továbbá a régi és mostani népnek példája azt mutatja, hogy a versszerzés szokott leginkább a nemzet tudosodásának és híresedésének kezdete lenni. Nem is ok nélkül. Mert a verszserzöknek az elevenen való képzelés a nyelvnek bövítésére, ékesítésére és könynyen hajoltatására legjelesebb alkalmatosságot szolgáltat: a verseknek szabott mértéke pedig mentség gyanánt is szokott nékie lenni, ha hol új szólásokat költ vagy régi szókat szokásba veszen. Ugyanis lehetetelen dolog a tudományokat valamely nyelven türhetőképpen magyarázni, valameddig a szóknak és szólásoknak alkalmatos bősége nincsen.“ (Magyar Hírmondó, 1.8.1781) 22 „Nincsen már Európában egy ország nemzet is, aki maga hazájában történő változásokat, a világnak viszontagságai, az elmés embereknek hasznos vagy furcsa találmányjaik, a tudosoknak munkáik s több afféle emlékezetes dolog felől szóló híreket naponként, hetenként vagy hónapként, az ő saját nyelvén nyomtatott írásokban, tanúság és mulatság kedvéért ne olvasná. […] Csak az egy magyar nemzet volt még eddig, sok egyéb fogyatkozásai mellett, ezen igen hasznos szerzemények híjával. […] Mely hijánosság valamint magában igen becstelen, úgy következéseivel is mondhatatlan kárára és szégyenére válik a hazánknak. Ugyanis ez a többi között az oka, hogy nemcsak az egyéb világgal, hanem saját hazánkkal is oly szertelen esméretlenségben úgy élünk, mint a féreg a dióban, azt sem tudván, ami körülöttünk történik, s minket legközelebbről illet.“ (Magyar Hírmondó, 1781, 1. August) Andrea Seidler 92 szándék (Der fromme Wunsch nach einer ungarischen Gesellschaft), 23 in der er die Etablierung einer ungarischen gelehrten Gesellschaft forderte und seine Sprachpolitik um noch eine Stufe radikalisierte: Nun sollten nicht mehr nur die Ungarn das Ungarische entwickeln und beherrschen, auch alle Fremden, die sich auf dem Territorium des Königreichs aufhielten, sollten ebenfalls zu Ungarn werden: Wir machen derzeit aus geborenen Ungarn zuerst Lateiner, dann Deutsche, Slowaken, Franzosen, Italiener, so dass sie am Ende auch das Ungarische vergessen, dabei läge es in der Natur der Dinge, dass sie zuerst in der eigenen Sprache all das lernten, was notwendig ist. [...] Ja wir müssen sogar die unter uns lebenden Deutschen und Slowaken zu Ungarn machen. 24 Er unterschied sich darin von Matyás Rát, der der Philosophie Herders folgend verlangte, dass alle in Ungarn beheimateten Völker ihre eigene, entwickelte Sprache benützten. Das Ungarische Volk, so Rát, könnte aufgrund seiner geographischen Stellung eine Vermittlerrolle zwischen den Gebieten im Westen und Osten Europas einnehmen. Für ihn war der Osten kein düsteres Loch, sondern ein Gebiet mit interessanter Bevölkerung, das zu erforschen und kennenzulernen er als reizvolle, große Aufgabe betrachtete. Rát formulierte sein eigenes Literaturverständnis übrigens nie programatisch aus. Er war ein Aufklärer, der unter Literatur auch den Lauf und die Entwicklung der Wissenschaften verstand. Dennoch weisen einige seiner Artikel im Magyar Hírmondó bereits darauf hin, dass er ein ästhetisches Verständnis für die sich neu entwickelnde ungarische Literatur hatte und der Lyrik einen besonderen Stellenwert im Entwicklungsprozess einer Sprache zuordnete. 25 Für beide führte der Weg zu einer brauchbaren ungarischen Schriftsprache über den Weg der literarischen Übersetzung - wie für die sogenannten ungarischen Spracherneuerer auch häufig der Fall. Interessanterweise hoffte Bessenyei in seinem provokanten Essay Egy magyar társaság iránt való jámbor szándék auf die Unterstützung des Plans durch Joseph II. 23 Der fromme Wunsch nach einer ungarischen Gesellschaft. Wien: Hummel 1790. Online-Version: http: / / epa.oszk.hu/ 02000/ 02025/ 00028/ pdf/ RSU_EPA02025_melleklet_114-119.pdf (Zugriff 15.3.2017) 24 „Most azon vagyunk, hogy a jóféle született magyarokból előszőr deákot, azután németet, tótot, franciát, olaszt csináljunk, úgy hogy utoljára a magyar nyelvet is elfelejtsék, holott a dolgoknak természete hozná magával, hogy előszőr a magok nyelvén tanulnák meg mindazt, ami szükséges [...]. Sőt, a köztünk lakó németeket és tótokat is magyarokká kellene tennünk.“ (Bessenyei: Egy magyar társaság iránt való jámbor szándék) 25 Z.B. Artikel über eine mehrbändige Gedichtsammlung, die Dávid Baróti Szabó 1777 herausgab (Magyar Hírmondó, 8. Januar 1780), in dem Rát ausführt, dass sich nicht nur die deutsche Sprache dazu eignet, den römischen und griechischen Versmaßen zu folgen, sondern auch die ungarische. Gratwanderung zwischen Loyalität und Resistenz 93 Man kann wohl annehmen, dass dieser Vater der Nation und Vorbild eines Herrschers, der hochwohlgeborene Josef II. Kaiser und König, der alles, was edel ist liebt und befördert, dieses kluge Vorhaben der Aristokraten des Landes und der gesamten Nation für gut heißen würde, ja selbst durch seine königliche Macht dieses das Gemeinwohl unterstützende Ziel zu verwirklichen helfen würde.“ 26 Diesen Text gab Miklós Révai erst 1790 im Druck heraus, ohne den Namen Bessenyeis zu erwähnen. Es war dies überhaupt die letzte Schrift des einstigen Leibgardisten, die zu seinen Lebzeiten erschien. Alle späteren Werke konnten die Zensur nicht mehr passieren. Er sorgte aber dafür, dass sie erhalten blieben und hinterlegte sie in handschriftlicher Form vor seinem Tod in der damals bereits bestehenden Nationalbibliothek. Übrigens wurden weder die Pläne des Herrschers, noch die des Leibgardisten wahr: Joseph II. konnte die Ungarn in ihrem Widerstand gegen seine zentralistische Sprachpolitik nicht überzeugen und zog sein Edikt vor seinem Tod zurück. Ebenso konnte sich Bessenyei nicht durchsetzen: Die Sprachgesellschaft kam nicht zustande und das Deutsche, das von den Ungarn als Verwaltungssprache abgelehnt worden war, wurde wieder durch das alte Latein ersetzt. Dennoch arbeiteten die Spracherneuerer weiter an ihren Plänen und bereiteten das Land sprachlich und auch politisch auf mehr Autonomie innerhalb des Habsburger Reiches vor. Die Verwirklichung des Ziels sollte allerdings noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen. 26 „Ugyan fel lehetne-e tenni, hogy ez a nemzetek atyja és fejedelmek példája, felséges második József császár és király, aki mindent, valami a virtushoz közelít, szeret és előbbmozdít, az ország főrendjeinek hazájokhoz s nemzetekhez való ily szíves és okos buzgóságokat helyében nem hagyná, sőt maga királyi hatalmával is ezen közjóra igyekező célt nem segítené? “ (Ebd.) Andrea Seidler 94 Wynfrid Kriegleder (Wien) Das Habsburger Imperium 1804-1825 Versuche seiner literarischen Legitimierung Unser Forschungsprojekt stellt die Frage, ob die zentraleuropäische Geschichte der letzten 200 Jahre unter der Kategorie imperialer und postimperialer Narrative theoretisiert werden könne. 1 Ich versuche eine Antwort aus der Perspektive der zentraleuropäischen Literaturgeschichte. Dabei bin ich als germanistischer Literaturwissenschaftler in einer schwierigen Situation. Denn ob ich will oder nicht, meine institutionelle Verankerung an einem Institut für Germanistik und die Tradition meines Fachs stehen dem imperialen/ postimperialen Ansatz diametral entgegen. Die germanistische Literaturwissenschaft entstand bekanntlich im 19. Jahrhundert als „Nationalphilologie“ und wollte dem noch nichtexistierenden, aber für die nahe Zukunft erhofften deutschen Nationalstaat das nötige ideologische Rüstzeug geben - inklusive der Erfindung einer genuin deutschen kulturellen und literarischen Tradition. Viele Germanisten der Gegenwart, vor allem aus Deutschland, verstehen sich bis heute so; ich könnte dafür Belege liefern. Sie reden von deutscher (im Sinn von deutschsprachiger) Literatur, meinen aber Literatur aus Deutschland, also deutschländische Literatur. Was macht man da als österreichischer Germanist, wenn man sich für die deutschsprachige literarische Produktion in jenen Regionen interessiert, die man als österreichisch oder ehemals habsburgisch, vielleicht auch als mitteleuropäisch oder zentraleuropäisch bezeichnen könnte? Es geht um Regionen, die früher einmal einem wie auch immer definierten Deutschland angehört haben, sofern man das Heilige Römische Reich mit Deutschland gleichsetzt (was freilich höchst problematisch ist); es geht aber auch um Regionen, die nie und nimmer zu „Deutschland“ gehörten. Nochmals: Die Germanistik hat sich als Nationalphilologie konzipiert und hat dann nach 1870 die gesamte Entwicklung der deutschsprachigen Literatur teleologisch als Stationen auf dem Weg zur deutschen Einigung beschrieben - mit all den entsprechenden Kanonisierungen, Epochenkon- * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Einzelne Passagen aus diesem Aufsatz finden sich auch in meinem Beitrag „Johann Ladislaus Pyrkers Rudolphias: Das Werk eines österreichischen, deutschen oder ungarischen Dichters? “ im Sammelband Das wiederholte Überschreiben der Vergangenheit am Beispiel des ungarischen Wien. Hg. Andrea Seidler und Károly Kókai (im Druck). struktionen, expliziten und impliziten Wertungen. Interessant war daher nur, was der Erfindung einer deutschen Nation dienlich war. Deutschsprachige Literatur, die nicht in dieses Narrativ passte, wurde als provinziell oder marginal angesehen. Ich interessiere mich im Folgenden für jene Sattelzeit, in der dieses germanistische Paradigma begonnen hat - die Zeit zwischen 1750 und 1850. In diesem Zusammenhang geht es mir um die literarische Produktion jener Zeit in der Donaumonarchie, und zwar um die deutschsprachige Literatur, die sich nicht unbedingt als ideologischer Wegbereiter des künftigen deutschen Nationalstaats verstand. Und da haben wir ein Problem. Denn der seit dem späten 18. Jahrhundert immer virulenter werdende Nationalismus-Diskurs ging natürlich auch an den habsburgischen Autoren und Autorinnen nicht vorbei. Das neue Konzept, wonach die Sprache, die man verwendete, auch wenn man multilingual war, die nationale Zugehörigkeit präjudizierte, wurde immer dominanter. Wer sich als Ungar definierte, sollte nun gefälligst auf Ungarisch schreiben. Auf eine konkrete Manifestation dieses Denkens, den sogenannten Pyrker-Streit, möchte ich in diesem Kontext hinweisen: 1830 attackierten einige junge ungarische Autoren, vor allem Ferenc Toldy, den ehrwürdigen ungarischen Dichter Ferenc Kazinczy, weil er Teile der biblischen Versdichtung Perlen der Vorzeit des Erzbischofs von Erlau/ Eger Johann Ladislaus Pyrker aus dem Deutschen ins Ungarische übersetzt hatte. Ihr Vorwurf galt der Tatsache, dass Pyrker, der doch Ungar sei, die Dichtung von vornherein auf Ungarisch hätte verfassen sollen. Kazinczy habe mit seiner Übersetzungstätigkeit Pyrker in seinem unpatriotischen Handeln noch bestärkt. Dieser Streit wird in der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung als Konflikt zwischen dem alten Hungarus-Konzept - die ungarische Identität speise sich aus der nationalen Zugehörigkeit, keineswegs aus der verwendeten Sprache - und den neuen, sprachnationalen Identitätszuschreibungen interpretiert, die sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa, besonders stark aber in Ungarn durchgesetzt haben. 2 Die deutsch schreibenden Zeitgenossen in der österreichischen Monarchie sind jedenfalls in einem Double Bind, weil sie sich einerseits sprachnational als Deutsche definieren und an der Vorstellung festhalten, das 1806 untergegangene Heilige Römische Reich müsse durch ein Deutsches Reich welcher Form auch immer wieder belebt werden, weil sie andererseits aber 3 Erdélyi, Ilona T.: „Deutschsprachige Dichtung in Ungarn und ihre Gegner um 1820- 1830. Der ,Pyrker-Streit‘“, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik (1997), S. 13-21; sowie Varga, Pál S.: Deutschsprachige Schriftsteller in Ungarn am Scheideweg. In: Berliner Beiträge zur Hungarologie 15 (2010), S. 11-33. Wynfrid Kriegleder 96 die Habsburger Monarchie als ideelle Nachfolgerin des Heiligen Römischen Reichs sehen. * * * Ob die Habsburger Monarchie als Imperium zu bezeichnen sei, ist eine Debatte unter Historikern und Imperiumstheoretikern. In den letzten fünfzehn Jahren gab es eine intensive Diskussion über die Habsburgermonarchie als Kolonialreich, an der sich etliche Mitglieder unseres Forschungsprojekts führend beteiligt haben. Mir ist dieser Blickwinkel jedoch immer fragwürdig erschienen. Apodiktisch formuliert: Kolonialismus setzt ein expandierendes, national definiertes Zentrum voraus, von dem aus die Elite aufbricht und in ihrem Selbstverständnis ‚the white man’s burden‘ auf sich nimmt, die Zivilisation in die Peripherie zu bringen. Ein solches Zentrum war Wien und waren die cisleithanischen Kronländer definitiv nicht, obwohl natürlich Spuren eines kolonialistischen Selbstverständnisses in Hinblick auf Galizien und auf den ‚Balkan‘ zu finden sind. Stefan Simonek hat in einem aktuellen Aufsatz gezeigt, dass sich die postkolonialen Ansätze aus dem angloamerikanischen Raum (Edward Said, Homi Bhabha) mit wichtigen theoretischen Ansätzen zur Beschreibung Mitteleuropas (Moritz Csáky, Zoran Konstantinović, Peter Zajac) verbinden lassen. 3 Ich bin von seiner ambitionierten Arbeit beeindruckt, bleibe aber skeptisch und halte für mich als Ergebnis der Diskussion fest: Der postkoloniale Blick auf die Habsburgermonarchie war nicht wirklich fruchtbar. Die Debatte über das Habsburgerreich als Imperium scheint mir sinnvoller. Herfried Münkler hat in seinem 2005 erschienen Buch Imperien einige interessante Anmerkungen diesbezüglich gemacht. 4 Zugegeben, Münkler klassifiziert die Habsburger Monarchie expressis verbis nicht als Imperium. Er hält fest, sie sei zwar „von ihrer Dauer her fraglos als eine imperiale Macht anzusprechen, aber kaum von ihrer räumlichen Ausdehnung her“; sie sei 3 Simonek, Stefan: „Mitteluropa als Schnittstelle interner und externer Theorieangebote“, in: Ders.: Von Lenau zu „Laibach“. Beiträge zu einer Kulturgeschichte Mitteleuropas. Frankfurt etc.: Peter Lang 2016, S. 337-360. 4 Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005. Zur möglichen Anwendung der Kategorien Münklers auf das Habsburgerreich vgl. auch Christine Magerski: „Falsche Gewichtung? Das Zentrum-Peripherie-Problem in Theorie und Literatur“, in: Schmidt, Matthias; Finzi, Danieka; Car, Milka; Müller-Funk, Wolfgang; Bobinac, Marijan (Hgg.): Narrative im (post-)imperialen Kontext. Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Mittel- und Südosteuropa. Tübingen: Narr Francke Attempto 2015. (= Kultur - Herrschaft - Differenz 21), S. 117-138. Das Habsburger Imperium 1804-1825 97 vielmehr als „ein mitteleuropäisches Großreich“ zu bezeichnen, das „im so genannten Konzert der europäischen Mächte mit Staaten wie Frankreich auf einer Ebene stand, doch keine Hegemonie innerhalb Gesamteuropas anstrebte“. 5 Im Rahmen von Münklers Imperiendefinition ist diese Einschränkung nachvollziehbar. Andererseits exemplifiziert aber Münkler das mögliche Scheitern von Imperien aufgrund eines Problems, „das sich für Staaten, zumal Nationalstaaten, so nicht stellt“, ausgerechnet am Beispiel der Donaumonarchie: Dass sie „die ansonsten zwischen den Staaten wirksam werdenden Gegensätze und Konflikte in ihrem Innern austragen müssen“. 6 Außerdem sind einige der von Münkler herausgearbeiteten typischen Merkmale eines Imperiums durchaus auf die Donaumonarchie anzuwenden. Ich hebe drei dieser Merkmale hervor: 1. Imperien sind klar zu unterscheiden von „der in Europa ausgebildeten politischen Ordnung des Territorialstaates“ 7 , wobei ich hier Münkler modifiziere und den Territorialstaat zusätzlich durch ein politisches Zentrum und eine ethnisch bestimmte dominierende Gruppe definiere. 2. Die meisten Imperien sind, anders als die imperialistischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, nicht durch „einen Willen zum Imperium“ entstanden, sondern ohne eine „grand strategy“ eher zufällig, „in a fit of absence of mind“, wie Münkler ein „bekanntes Bonmot des englischen Historikers John Robert Seeley“ zitiert. 8 Ich bekräftige Münkler: Nationalstaaten sind das Ergebnis einer Strategie; die Donaumonarchie war das nicht. 3. Imperien zeichnen sich dadurch aus, dass es keine klare Zentrum-Peripherie-Trennung gibt, dass aufgrund peripherer „Machtvakuen“ so etwas wie ein „Imperium auf Einladung“ entsteht, dass neben der imperialen Dynamik, die vom Zentrum ausgeht, „ein von der Peripherie ausgehender Sog zu bemerken sei“. 9 Ich ergänze: Dieser Befund trifft sich mit dem in der Habsburg-Postkolonial-Debatte geprägten Begriff der „Mikrokolonialismen“. 10 5 Münkler: Imperien, S. 23. 6 Ebenda, S. 101. 7 Ebenda, S. 15. 8 Ebenda, S. 20. 9 Ebenda, S. 21. 10 Vgl. das Vorwort zu Feichtinger, Johannes; Prutsch, Ursula; Csáky, Moritz (Hgg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und Kollektives Gedächtnis. Innsbruck, Wien etc.: StudienVerlag 2003. Wynfrid Kriegleder 98 * * * Seit etwa 1700 versuchten die Habsburger, ihre Territorien zu einem einheitlichen Staat zu fusionieren. Die „Pragmatische Sanktion“ von 1713, ein habsburgisches Hausgesetz, das eine künftige Aufteilung des Besitzes verhindern sollte, war ein erster Schritt dazu. Mit der Reformpolitik Maria Theresias und vor allem Josephs II. wurden diese Bestrebungen in der zweiten Jahrhunderthälfte zum primären innenpolitischen Imperativ. Und seit dieser Zeit gab es auch Bestrebungen eines ,nation building‘, um diesen Begriff anachronistisch zu verwenden, also Versuche, die Untertanen zu Staatsbürgern zu modellieren und ihnen eine Identifikation mit der Monarchie einzuimpfen. Mit der Monarchie der Habsburger, wohlgemerkt - nicht mehr mit dem „Heiligen Römischen Reich“. Auf dem Feld der Literatur konnte dies mittels patriotischer Indoktrination erfolgen - die populäre Kriegslyrik zum Siebenjährigen Krieg (z.B. Philip Hafner) ist ein signifikantes Beispiel. Zunehmend aber erfolgte dieses ,nation building‘ über die affektive Bindung an das Herrscherhaus. 11 Ein Habsburgermythos wurde kreiert. Frühe Belege sind patriotische Epen wie Franz Christoph von Scheybs Theresiade von 1746 und Paul Weidmanns Karlssieg von 1774. Im 19. Jahrhundert sind die Habsburger freilich mit einem Problem konfrontiert: Zwar haben sie 1804 das erbliche Kaiserreich Österreich proklamiert und damit die mit der Pragmatischen Sanktion begonnenen Vereinigungsbestrebungen offiziell abgeschlossen. Aber ein mächtiges neues Paradigma ist inzwischen auf den Plan getreten: der Nationalismus, der die nationale Identität aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft definierte. Das Vaterland weicht der Muttersprache. Seit 1804 kämpft der Habsburgerstaat daher zunehmend erfolglos gegen Nationalismen jeglicher Art, auch gegen den Deutschnationalismus. Seit ,Nation‘ ein sprachlich-ethnisches Konzept geworden ist, steht die Donaumonarchie auf verlorenem Posten. Die Rechnung wurde erst 1918 serviert. Aber die ersten Ansätze des sukzessiven Verfalls liegen schon im späten 18. Jahrhundert. „Der Staat sollte die Nation verdecken“, formuliert Waltraud Heindl das ideologische Programm der Habsburger. 12 Die Berufung auf ei- 11 Vgl. Heindl, Waltraud: „Vom schwierigen Umgang mit (Helden-)Ahnen in der Zeit des Nationalismus“, in: Bosshart-Pfluger, Catherine; Jung, Joseph/ Metzger, Franziska (Hgg.): Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktionen von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt. Frauenfeld, Stuttgart, Wien: Huber 2002, 395-418; Dies.: „Helden, Heldinnen und sonstige Idole. Bemerkungen zu Entwürfen heroischer Kultfiguren in Regionen der österreichischen Monarchie“, in: Hárs, Endre; Müller-Funk, Wolfgang; Ruthner, Clemens (Hgg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen u. Basel: A. Francke 2006, S. 145-158. 12 Heindl: Vom schwierigen Umgang, S. 405. Das Habsburger Imperium 1804-1825 99 nen Verfassungsstaat, auf die Identifikation mit einer wohlgeordneten Entität josephinischer Prägung, funktionierte jedoch schon im späten 18. Jahrhundert nicht mehr. Der Absolutismus und Neoabsolutismus des 19. Jahrhunderts waren erst recht nicht hilfreich. Der Habsburgermonarchie blieb nur der Versuch einer nicht-nationalen, sondern imperialen Identitätsstiftung mittels Rückbindung an das Herrscherhaus. Der Habsburgermythos hatte im frühen 19. Jahrhundert den Vorteil, dass er dem schon länger existierenden antihabsburgischen Mythos und dem auch nach 1815 prägnanten Napoleonkult ein Gegennarrativ bieten konnte. Der antihabsburgische Mythos war Teil der protestantischen ,legenda negra‘, die besonders in den spanischen Habsburgern die Personifikation allen Übels sah - eine katholische dunkle Macht, die den menschlichen Fortschritt verhinderte. Dagegen hatten schon die Romantiker das Idealbild eines vor-reformatorischen, noch unentzweiten Europas beschworen - ich verweise auf Novalis’ umstrittenen Aufsatz Die Christenheit oder Europa. Auch Napoleon konnte - nicht nur bei ultramontanen Reaktionären - als Zerstörer einer friedenssichernden Ordnung gelten. In diese nach 1815 verständliche Sehnsucht nach Stabilität stieß der neue Habsburgermythos. * * * Die Zeit nach 1815 ist in Hinblick auf die Donaumonarchie von zwei großen, einander widersprechenden Narrativen geprägt. Einerseits das liberale - gleichzeitig nationale und antikatholische - Narrativ vom repressiven und fortschrittsfeindlichen Staat, vom europäischen China, vom Völkerkerker. Andererseits, schwächer ausgebildet, das Narrativ vom übernationalen, in der Nachfolge des Heiligen Römischen Reichs stehenden Imperium, in dem keine einzelne hegemoniale ethnische Gruppe die anderen unterdrückt. Es ist kein Zufall, dass sich die von den jeweiligen nationalistischen Kräften bedrohten Gruppen - zum Beispiel die Kroaten im Königreich Ungarn oder die Juden in der gesamten Monarchie - zum Teil dieses zweite Narrativ zu eigen machten. Wenn ich im Folgenden einige deutschsprachige Texte der 1810er und 1820er Jahre vorstelle, die in diesem Kontext gelesen werden können, muss eingeräumt werden, dass hier noch viel Forschungsarbeit zu leisten ist. Zwar haben schon im späten 19. und dann im frühen 20. Jahrhundert positivistisch arbeitende Literaturhistoriker wesentliche Quellen aufgearbeitet; zu nennen ist etwa Gustav Gugitz. In jüngerer Zeit hat das vom FWF geförderte Projekt „Paradoxien der Romantik in Wien“ einige interessante Ergebnisse hervorgebracht. Es wäre allerdings spannend, in einem größeren Projekt all die Texte zu untersuchen, die rund um die Gründung des Kaisertums Österreichs, also von den späten 1790er Jahren bis etwa 1830, den „Komplex Österreich“ (um Wynfrid Kriegleder 100 Wolfgang Müller-Funk zu zitieren 13 ) thematisierten. Für die bildende Kunst gibt es mit Werner Teleskos Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts bereits eine umfangreiche Studie, die auch viel literarische Information enthält. 14 In Bezug auf die deutschsprachige Literatur des frühen 19. Jahrhunderts ist Folgendes hervorzuheben: Als Chefideologe des österreichischen Kaiserreichs kann Joseph von Hormayr gelten. 15 Der 1781 in Innsbruck geborene Hormayr arbeitete seit 1801 in der Österreichischen Staatskanzlei in Wien und wurde, gefördert unter anderem vom Außenminister Johann Philipp von Stadion, 1808 Direktor des Geheimen Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Er war führend am Tiroler Aufstand Andreas Hofers gegen das mit Frankreich verbündete Bayern beteiligt. Nach 1810 betrieb er mit dem Erzherzog Johann das Projekt eines erneuten Tiroler Aufstands, was im Gegensatz zur Politik des neuen Außenministers Metternich stand. Hormayr wurde 1813 verhaftet und mehr als ein Jahr lang ohne Anklage zuerst in Munkacs, dann auf dem Spielberg bei Brünn inhaftiert. 1816 erhielt er in Wien die Stelle eines Reichshistoriographen, 1827 bewarb er sich vergeblich erneut um den Posten des Archivdirektors, den allerdings Friedrich Schlegel erhielt. Darauf trat er 1828 in bayrische Dienste, hatte dort einflussreiche Positionen und vertrat von nun an publizistisch eine scharfe metternich- und habsburgkritische Linie. Seine Zeitgenossen führten dies auf seine schlechte Erfahrung im österreichischen Dienst zurück. Jedenfalls wandte er sich von der Idee eines übernationalen Reichs völlig ab. Varnhagen von Ense überliefert in seinem Tagebuch vom 1. Juni 1846 eine Äußerung Hormayrs: „er beteuert, daß er die Völker liebe und es gut mit ihnen meine, mit den Ungarn, den Böhmen, den Deutschen, daß er aber eben deshalb das System hasse, durch das sie zusammengebunden seien“. 16 Ursprünglich aber war er, wie gesagt, ein Propagandist des Habsburgischen Kaiserreichs. Hormayr versucht, und damit ist er natürlich paradigmatisch für die Nationenbildung des gesamten 19. Jahrhunderts, die österreichische Identität auf einer gemeinsamen Erinnerungskultur zu gründen. Er wollte also ein identitätsbildendes Narrativ der österreichischen Geschichte erzählen. Das war nicht einfach. Hormayr konstruierte in erster Linie eine 13 Müller-Funk, Wolfgang: Komplex Österreich: Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur. Wien: Sonderzahl 2009. 14 Telesko, Werner: Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2006. 15 Reich an biographischem und bibliographischem Material ist Adel, Kurt (Hg.): Joseph Freiherr von Hormayr und die vaterländische Romantik in Österreich. Auswahl aus dem Werk. Wien: Bergland Verlag 1969. 16 Zit. nach ebenda, S. 194. Das Habsburger Imperium 1804-1825 101 dynastische Identität. Die österreichischen Herrscher, von den Babenbergern über die Habsburger bis zum Haus Habsburg-Lothringen, wurden in Herrscherporträts als kontinuierliche Inkarnationen des Österreichischen präsentiert. Das Medium dafür war eine 20-bändige Buchreihe, die Hormayr 1807 bis 1812 herausbrachte: Oesterreichischer Plutarch, oder Leben und Bildnisse aller Regenten und der berühmtesten Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Künstler des österreichischen Kaiserstaates. Das Werk regt dazu an, zu untersuchen, wer, von den Herrschern abgesehen, mit welchen Argumenten zum Österreicher gemacht, also austrifiziert wird. Die Nostrifizierung, auf Deutsch „Verunserung“, von historischen Persönlichkeiten ist ja in jedem nationalen Narrativ eine spannende Sache - und in einem imperialen Narrativ erst recht. Ein schönes Beispiel im österreichischen Kontext ist der habsburgische Politiker und Feldherr Prinz Eugen von Savoyen, nach heutigen Begriffen wohl ein Italiener oder Franzose, der im 19. und 20. Jahrhundert gern zum „Deutschen“ stilisiert wurde. Ich erinnere hier an einen besonders signifikanten und schaurigen Roman, Mirko Jelusichs Der Traum vom Reich aus dem Jahr 1941. Hormayr begründete zwei weitere langjährige Publikationsreihen, die einen österreichischen Patriotismus dadurch erwecken wollten, dass sie die Leser mit der vielfältigen Geschichte und Geographie des Reichs bekannt machten: Das Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst (1809- 1828) und das von 1811 bis 1848 bestehende Taschenbuch für die vaterländische Geschichte. Auch diese beiden Reihen harren einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Zu untersuchen wäre, wie das ,Vaterland‘, ein von Kaiser Franz wegen seiner nationalistischen Konnotation abgelehnter Begriff, hier gefasst wird, welche Rolle Ungarn und die einzelnen Kronländer spielen, wie die Beiträger den Spagat zwischen Reichseinheit und Reichsvielfalt, zwischen nationalem Patriotismus (insbesondere dem Deutschnationalismus) und habsburgischer Loyalität meisterten. Lucjan Puchalski hat sich in seiner Studie Imaginärer Name Österreich mit Hormayrs Beitrag zur literarischen Konstruktion Österreichs auseinandergesetzt und darauf aufmerksam gemacht, dass der Oesterreichische Plutarch ein alpenländisches Österreich entwirft. Hormayr greift immer wieder auf die ihm durch Johannes von Müller vermittelte Schweizer Geschichte zurück, stilisiert Rudolf I., den Stammvater der Habsburger, zum tugendhaften Schweizer Grafen und weist den von ihm positiv gezeichneten Figuren typisch „deutsche“ Eigenschaften zu, bis hin zu deutschen Physiognomien (blaue Augen etc.), während er bei kritisch gezeichneten habsburgischen Herrschern wie Karl V., Rudolf II. oder Karl VI. den spanischen Einfluss auf deren Erziehung und Charakter bedauert. Übrigens wird auch Prinz Eugen die „Herzlichkeit und Treue eines Deutschen“ Wynfrid Kriegleder 102 zugeschrieben. 17 Hormayrs 20-bändiges Opus ist laut Puchalski ein Kompromiss zwischen der offiziellen, multi-ethnischen Machtphilosophie und der immer stärker werdenden deutsch-nationalen bürgerlichen Ideologie. Anti-napoleonische und zivilisationskritische Züge sind unübersehbar. Hormayr säkularisiert die alte habsburgische Ideologie des Gottesgnadentums zugunsten einer Naturgläubigkeit, die - im Sinn Montesquieus - die Beschaffenheit der Landschaft mit der Eigenart des Staates zusammendenkt: Sein konservativer, romantischer Österreichbegriff konstruiert einen Felsen in der Brandung der stürmischen Zeitläufe. Nach 1815, in den letzten Bänden seines Österreichischen Plutarch, lässt Hormayr allerdings dieses alpenländische Österreichbild fallen und entwirft stattdessen in seiner Darstellung der Babenbergerzeit ein städtisch-bürgerliches, gegen fremdländische Barbaren gerichtetes, ökonomisch prosperierendes Ideal, das in vielem das Selbstbild der Wiener Ringstraßenzeit vorwegnimmt. Vor allem mit seinem Oestereichischen Plutarch hat Hormayr unzähligen Malern, Dichtern und Dramatikern ein Reservoir österreichischer Stoffe geliefert, aus dem ein ganzes Jahrhundert lang geschöpft wurde. Das begann beim historischen Roman zur Geschichte Österreichs, den noch im frühen 19. Jahrhundert die mit Hormayr befreundete Caroline Pichler ins Leben rief, der aber bis weit ins 20. Jahrhundert florierte, wie ein Blick in die Datenbank des Projekts „Historischer Roman“ an der Universität Innsbruck erweist. 18 Zu Caroline Pichler liegen einige neuere Arbeiten vor. 19 Ihre Rolle bei der Etablierung eines habsburgisch-österreichischen Patriotismus, der katholisch und deutsch geprägt war, scheint mir dennoch nach wie vor nicht ausreichend erforscht. Die vaterländische Lyrik, die sich vor allem in patrio- 17 Oesterreichischer Plutarch, oder Leben und Bildnisse aller Regenten und der berühmtesten Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Künstler des österreichischen Kaiserstaates Plutarch, Bd. 3, 1807, S. 150, zit. nach Puchalski, Lucjan: Imaginärer Name Österreich. Der literarische Österreichbegriff an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2000 (=Schriftenreihe der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Bd. 8), S. 238. 18 https: / / www.uibk.ac.at/ germanistik/ histrom/ datenbank.html (Zugriff 8.12.2017) 19 Vgl. Garrard, Malcolm: „,Der Herrscher geheiligtes Haus‘. Caroline Pichler and Austrian Identity“, in: Ives, Margaret C. (Hg.): Women Writers of the Age of Goethe. Department of Modern Languages, Lancaster University 1996, S. 3-25; Kriegleder, Wynfrid: „Die ‚Eigenen‘ und die ‚Fremden‘ in den historischen Romanen der Caroline Pichler“, in: Aspalter, Christian; Müller-Funk, Wolfgang; Saurer, Edith; Schmidt-Dengler, Wendelin; Tantner, Anton (Hgg.): Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Wien: WUV 2006, S. 401-420; Robertson, Ritchie: „The Complexities of Caroline Pichler. Conflicting Role Models, Patriotic Commitment, and ‚The Swedes in Prague‘ (1827)“, in: Women in German Yearbook 23 (2007), S. 34-48. Das Habsburger Imperium 1804-1825 103 tischen Balladen manifestierte, ist ein weites Feld. Auch das Drama darf natürlich nicht vergessen werden. Die heute weitgehend nicht mehr bekannte, unglaublich reichhaltige Dramatik der Zeit nach 1800 propagierte die habsburgische Geschichte im gesamten Kaiserstaat. Aus der theatergeschichtlichen Forschung haben wir einen kleinen Eindruck davon bekommen, was von den nach wie vor vazierenden Theatergruppen in der Monarchie gespielt wurde. Viele Einzeluntersuchungen haben auch gezeigt, wie das jeweils regionale Selbstverständnis mit manchen der Stücke kollidierte, wie die Stücke modifiziert werden mussten, wie die imperiale Botschaft und die zentrifugalen nationalistischen Kräfte zusammenstießen. Anstelle einer ausführlichen bibliographischen Aufzählung verweise ich nur auf Marijan Bobinacs Untersuchung zu einer spektakulären Aufführung von Theodor Körners Zriny im Jahr 1841 in Agram/ Zagreb. 20 Kanonisiert wurden aus dem großen Bereich der habsburgischen Dramatik nur Franz Grillparzers Stücke, insbesondere seine 1824 erstmals aufgeführte Tragödie König Ottokars Glück und Ende. Dieses Stück ist interessanterweise nach dem Ende der Donaumonarchie zu einem Schlüsseltext der österreichischen Republik geworden, die sich als Nachfolgestaat des habsburgischen Reichs sah und daher den von Grillparzer bearbeiteten Gründungsmythos übernahm. Tatsächlich geht es aber um den Gründungsmythos des österreichischen Imperiums - eben um den Beginn der habsburgischen Herrschaft. Die zentrale Rolle, die Rudolf I. in diesem Mythos nach 1804 einnahm, hat Werner Telesko herausgearbeitet; er spricht von einer „Suche nach den ‚Ursprüngen‘ durch die Beschwörung des habsburgischen ‚Stammvaters‘“. 21 Insbesondere die Legende um den frommen Grafen Rudolf, der lange vor seiner Kaiserwahl einem Priester sein Pferd überlässt, damit dieser einem Sterbenden das Sakrament der Krankensalbung bringen kann, wurde von vielen Malern gestaltet und auch in der Literatur behandelt, kurioserweise erstmals 1804 von Friedrich Schiller in einer Ballade; in der zweiten Jahrhunderthälfte ist die Schul- und Jugendliteratur voll mit entsprechend bebilderten Versionen. Auch in Grillparzers König Ottokar wird die Legende im ersten Aufzug zitiert. Wichtiger aber ist in diesem Drama die kriegerische Auseinandersetzung Rudolfs mit Ottokar von Böhmen, als deren Ergebnis das österreichische 20 Bobinac, Marijan: „Cultural Transfer in the Habsburg Empire. Croatia and German-Language Culture from a Postcolonial Perspective“, in: Göttsche, Dirk; Dunker, Axel (Hgg.): (Post-) Colonialism across Europe. Transcultural History and National Memory. Bielefeld: Aisthesis 2014. (=Postkoloniale Studien in der Germanistik, Bd. 7), S. 305-319. 21 Telesko: Geschichtsraum, S. 255. Wynfrid Kriegleder 104 Imperium gesehen werden kann. Zu Grillparzers bekanntem Theaterstück gab es eine heute weitgehend vergessene Parallelaktion, das „Heldengedicht in zwölf Gesängen“ Rudolph von Habsburg von Johann Ladislaus Pyrker. Pyrker, 1772 in Ungarn geboren, katholischer Priester und seit 1812 Abt des Stiftes Lilienfeld, 1819 vom Kaiser zum Bischof der Zips ernannt, seit 1821 Patriarch von Venedig, wurde 1827 Erzbischof von Erlau/ Eger und übte damit bis zu seinem Tod 1847 eine wichtige politische Funktion im vormärzlichen Ungarn aus. 1819 veröffentlichte er die Tunisias, ein Epos über Kaiser Karl V. und dessen Krieg gegen das osmanische Imperium. Schon seit 1816 dürfte er an seinem Rudolf-Epos gearbeitet haben. Zwischen Pyrker und dem zwanzig Jahre jüngeren Grillparzer gab es eine komplizierte Beziehung, die freundschaftlich begann und in einer völligen Entfremdung endete. 22 Der josephinisch sozialisierte, antiklerikale Grillparzer hegte wohl von Anfang an gewisse Vorbehalte gegen den frommen Bischof. Zu einem nie offen ausgesprochenen Bruch kam es im Zusammenhang mit dem Ottokar und der Pyrkerschen Rudolphias. Denn als Grillparzer im Oktober 1823 sein Drama bei der Zensur einreichte, ließ die Behörde wegen des brisanten Themas, des böhmischen Nationalismus, das Stück einfach liegen und traf keine Entscheidung. Anfang 1824 reichte auch Pyrker sein Epos ein. Den einflussreichen Bischof konnte die Zensurbehörde natürlich nicht so vor den Kopf stoßen wie den jungen Beamten Grillparzer; man konnte aber auch nicht Pyrkers Epos zulassen und Grillparzers Tragödie verbieten, zumal in der Öffentlichkeit der Fall bereits diskutiert wurde. Schließlich wurden beide Texte im Juni 1824 freigegeben, und die Rudolphias konnte Ende des Jahres mit dem offiziellen Erscheinungsdatum 1825 veröffentlicht werden. Pyrker scheint Grillparzer für die Zensurprobleme mitverantwortlich gemacht zu haben; Viktor Suchy konstatiert ab dieser Zeit ein „kühle[s], fast möchte man sagen feindselige[s] Distanzverhältnis“ zwischen den beiden. 23 Dazu kam noch, dass Grillparzer an seiner Freundschaft mit Hormayr festhielt, gegen den Pyrker eine deutliche Feindschaft entwickelte. In der kontroversen Debatte über Grillparzers Stück stellte sich Pyrker offen auf die Seite der Gegner Grillparzers. Pyrkers Heldengedicht erzählt die Ereignisse um die Schlacht von Dürnkrut im August 1278, wo der deutsche Kaiser Rudolf von Habsburg den 22 Vgl. Suchy, Viktor: „Franz Grillparzer und Ladislaus Pyrker“ [1976], in: Ders.: Studien zur österreichischen Literatur. Zum 80. Geburtstag. Hg. Heinz Lunzer. (= Zirkular. Sondernummer 32). Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur 1992, S. 167-196. 23 Ebenda, S. 178. Das Habsburger Imperium 1804-1825 105 böhmischen König Přemysl Otakar besiegte. 24 Wie es sich für ein Epos gehört, greifen auch überirdische Mächte, Geister von Verstorbenen, in das Geschehen ein, nämlich auf der Seite Otakars die böhmische Herzogin Drahomira und der Gote Catuald als Vertreter des bösen Prinzips sowie auf der Seite des Kaisers der Markomannenkönig Marbod und Inguiomar, der Onkel Hermanns des Cheruskers, als Vertreter der guten Sache. Die Schlacht bei Dürnkrut war ein „Ereignis von europäischer Tragweite“, weil sie die Voraussetzung für die Machtübernahme der Habsburger in den ehemals babenbergischen und spanheimischen Ländern (Kärnten und Krain) schuf. 25 Pyrker hat also sein Sujet zielsicher gewählt und mit der Rudolphias auch eine erstaunliche Popularität erlangt. Wie Grillparzer stellt er Otakar als Usurpator dar, den der Habsburger Rudolph aus den österreichischen Ländern vertreibt. Das ist natürlich eine Geschichtsklitterung. Die Herrschaft Otakars wurde in den österreichischen Ländern überaus positiv wahrgenommen, die Stadt Wien stand bis zuletzt auf seiner Seite. 26 Aber die Habsburger als Eindringlinge aus dem Westen zu zeigen hätte wohl der Legitimierung ihrer Herrschaft nicht so gutgetan. Pyrkers Epos zeichnet Rudolph von Habsburg als uneingeschränkt positive, Otakar dagegen als problematische Figur. Der Habsburger wird mit allen bürgerlichen Tugenden versehen: fromm, bescheiden, volksverbunden und ein liebender Ehemann - also ganz das Image, das der österreichische Kaiser Franz I. kultivierte. Rudolf ist außerdem persönlich tapfer, ehrenhaft und im Kampf human. Otakar dagegen ist zwar gleichfalls ein tapferer Held, aber auch ein Sklave seiner Affekte, jähzornig, von Ehrgeiz und Neid bestimmt, immer wieder unritterlich und wenig christlich. Pyrkers politische Botschaft ist die von den offiziellen österreichischen Stellen vertretene Ideologie der Translatio imperii. Die römische Kaiserwürde sei sozusagen auf natürlichem Weg auf das Haus Österreich übergegangen. Daher verweist Pyrker wiederholt auf die vielen unterschiedlichen Völker, die auf der Seite Rudolfs kämpfen. In der Schlussszene wird die Legitimierung der habsburgischen Herrschaft noch dadurch bekräftigt, dass Rudolf den ungarischen König und den böhmischen Thronerben adoptiert. Dann belehnt er seinen Sohn Albrecht mit Österreich: „Als Herzog/ Werd‘ ihm der Thron, und in seinem Geschlecht fortdaure die Herrschaft,/ Endlos, 24 Ich referiere im Folgenden u.a. die Erkenntnisse, die zwei Teilnehmer meines Seminars über Versepik an der Universität Wien im Wintersemester 2015/ 16 erarbeitet haben: Lukas Mitter und Karin Schneider. 25 Dopsch, Heinz: Die Länder und das Reich. Der Ostalpenraum im Hochmittelalter. (= Österreichische Geschichte. 1122-1278. Hg. v. Herwig Wolfram). Wien: Ueberreuter 1999, S. 480 26 Ebenda, S. 482. Wynfrid Kriegleder 106 segenbeglückt zum Wohl unzähliger Völker.“ Unzählige Völker sollen also von der Belehnung profitieren. Rudolph spricht auch eine Prophezeiung aus: […] Inmitten gewaltiger Länder, Hebt Haus Oestreich hier, aus seinem unscheinbaren Umkreis Eiserngegründet, sich auf; gewährt dann jenen die Herrscher; Flicht in den Kranz nie welkender Macht die herrlichsten Kronen, Die bald König’ ihm biethen, und führt vielfältig durch Sitte, Sprach’ und Stamm gesonderte Völker zu dauernder Einung. 27 Das Haus Österreich wird also, aus einem zunächst unscheinbaren Zentrum, den „gewaltigen Ländern“, in deren Mitte es liegt, die Herrschaft anbieten. Die Habsburger werden die mitteleuropäischen Länder auf Dauer einigen, so formuliert Pyrker das imperiale Programm. Interessant ist freilich, dass sich Rudolf als „Kaiser der Deutschen“ bezeichnet 28 und davon spricht „für Deutschlands Glück“ zu kämpfen. 29 Ähnlich wie bei Grillparzer erinnert Pyrkers Otakar an den Usurpator Napoleon. Mit dem Verweis auf die sogenannten „Befreiungskriege“ und dem damit einhergehenden antinapoleonischen Deutschnationalismus hat Pyrker aber dasselbe Problem wie das österreichische Kaisertum seit 1804: die alte, übernationale Idee des römischen Imperiums mit dem neuen Nationalbewusstsein zu verknüpfen. Dass dies auf Dauer nicht gut gehen konnte, ist bekannt. Pyrkers Epos ist ein früher und unfreiwilliger Beleg für die Aporien des habsburgischen Imperiums. Einerseits ein deutscher Kaiser und eine Betonung des deutschen Elements in seinem Reich, andererseits der Versuch, alle Nationen unter einen Hut zu bringen. 1914 zog Österreich bekanntlich in den Ersten Weltkrieg und übernahm dabei weitgehend die ideologische Linie des Wilhelminischen Deutschland, einen Krieg für das Deutschtum, für die deutsche Kultur zu fechten, gegen - je nachdem: die westeuropäische, französische „Zivilisation“ oder gegen die slawische Bedrohung. Ein multinationales Imperium aber konnte sich per definitionem nicht national definieren, konnte sich weder mit einer bestimmten Nation gleichsetzen noch seine Legitimation aus der Abgrenzung von einer anderen Nation beziehen, wie es Deutschland seit 1871 versuchte. Kakanien hatte 1914 als Verbündeter Deutschlands kein klares Kriegsziel. Der Rest ist Schweigen. 27 Pyrker, Johann Ladislav: „Rudolph von Habsburg“, in: Ders.: Johann Ladislav Pyrker’s sämtliche Werke in Einem Bande. Neue, durchaus verbesserte Ausgabe. Mit dem Bildniss des Verfassers. Stuttgart und München: J. B. Cotta’scher Verlag 1839, S. 344. 28 Ebenda, S. 342. 29 Ebenda, S. 356f. Das Habsburger Imperium 1804-1825 107 Endre Hárs (Szeged) Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit Max Herzigs Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser (1898) und dessen ungarisches Pendant A Király Könyve (1899) „Viribus unitis“, der berühmte Wahlspruch Kaiser Franz Josephs I., galt in der Habsburger- und späteren Doppelmonarchie bekanntlich als Kurzformel jenes Programms, in dessen Rahmen der junge Herrscher seine Macht durch bürgerrechtliche Zugeständnisse und durch Anerkennung von national-kulturellen beziehungsweise konfessionellen Differenzen zu stabilisieren versuchte. Der Wahlspruch garantierte, wie es in der Propagandaschrift Rückblick auf die jüngste Entwicklungs-Periode Ungarns (1857) hieß, nicht nur […] die Einheit des Reiches, die gleichmäßige Herbeiziehung aller einzelnen Theile zu einem großen, mächtigen, nach innen und außen abgerundeten Ganzen, sondern zugleich auch die Erhaltung der einzelnen Kräfte in ihrer wesentlichen Eigenthümlichkeit, […] ihre Einigung, nicht ihre Einförmigkeit. 1 Denn „[g]erade in der sprudelnden Lebenskraft der einzelnen Stämme und Teile ruht der beste Teil der unverwüstbaren Naturkraft des ganzen Reiches; sie wird durch die volle Durchführung der Einheit des Reiches nicht gemindert, wohl aber in eine natürliche Stellung zum Ganzen gebracht“. 2 Wie auch immer diese Prinzipien in den Reformen der Folgejahre umgesetzt wurden, die Devise wurde bis zur Spätzeit der Doppelmonarchie zum gefeierten Markenzeichen des „ewigen Kaisers“. 3 Die Festnummer von Österreichs Illustrierter Zeitung zum sechzigjährigen Regierungsjubiläum (1908) nannte „die drei Worte: ‚Mit vereinten Kräften‘ […] das erfolgsreichste politische Schlag- * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 [Meyer, Bernhard]: Rückblick auf die jüngste Entwicklungs-Periode Ungarns. Wien: o.V. 1857, S. 5; http: / / fulltext.lib.unideb.hu/ book.cgi? lf=119.lst&pn=6 (Zugriff 17.1.2017). Nichtdestotrotz galt das Flugblatt in Ungarn als Dokument der Unterdrückung. Es veranlasste István Széchenyi zum Pamphlet Ein Blick auf den anonymen Rückblick von einem Ungarn (1859). Die anschließenden Belästigungen durch die Geheimpolizei tragen Mitschuld an dessen Selbstmord. Vgl. Kulcsár Szabó, Ernő (Hg.): Geschichte der ungarischen Literatur. Eine historisch-poetologische Darstellung. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, S. 205. 3 Ebenda, S. 15; http: / / fulltext.lib.unideb.hu/ book.cgi? lf=119.lst&pn=16 (Zugriff 17.1.2017). 4 Vgl. Petschar, Hans: Der ewige Kaiser. Franz Joseph I. 1830 bis 1916, in: Ders. (Hg.): Der ewige Kaiser. Franz Joseph I. 1830-1916. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Amalthea 2016, S. 33-49, hier S. 41. wort der österreichischen Geschichte“, und beschrieb es in - der eigenen Gegenwart verpflichteten - populärwissenschaftlichen Metaphern: Nie hat […] der Monarch einen Grundstein fester gelegt zum Fundament des neuen Österreich, als indem er dem nervösen Rechtshunger der Revolution mit der Entfesselung neuer sozialer Kräfte entgegentrat. […] [D]er Monarch [baute] seine und des ganzen Staates Zukunft auf die modernste Theorie vom Daseinskampfe auf. Er stützte sich ausschließlich auf die Fähigkeiten und Kräfte des Volkskörpers, lebendige Arbeit zu leisten. Auf seine impulsiven und ruhenden Energien, sich produktiv zu betätigen: Energien, [für] deren Zusammenwirken der Kaiser ein einziges, ideales Gravitationsgesetz darbot, das allgemeine, öffentliche Wohl. 4 Mögen sich die Erläuterungen des Wahlspruchs von den 1850er Jahren 5 bis zu den großen Herrschaftsjubiläen von 1898 und 1908 radikal gewandelt haben, so ist durchgehend klar, dass dessen Konzept und Auslegung nur mittelbar mit einem Bild des Kaisers harmonieren, das ihn als Frieden stiftenden Herrscher zeigen will. Denn der grundlegende Konflikt des Vielvölkerstaates - dessen Nationen und Regionen erst recht nach dem Ausgleich von 1867 nicht als gleichgestellt gelten können - ist dem Wahlspruch bereits eingeschrieben. Als Imperativ geht er aus einer „gährende[n], stürmische[n] Zeit“ 6 hervor und verharmlost den inhärenten Agonismus zuerst gewaltsam, dann konstitutionell gebündelter nationaler und politischer Kräfte auch später nicht. 4 „Viribus unitis! “ (Festartikel), in: Österreichs Illustrierte Zeitung - Kaiser-Festnummer 1908 (2.12.1908), S. 2; http: / / anno.onb.ac.at/ cgi-content/ anno-plus? aid=oif&datum=1908&page=6&size=45 (Zugriff 17.1.2017). 5 Vgl. die biblische Eruierung des Wahlspruchs in: Anonym: Viribus Unitis. Über die hohe Bedeutung des Wahlspruchs Seiner Majestät des Kaisers Franz Joseph I. Prag: Credner & Kleinbub 1850, S. 7. 6 Ebenda., S. VI. 1 Zwei ungleiche Bücher Der Wahlspruch des Kaisers wird in dem von Max Herzig zum fünfzigsten Regulierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs herausgegebenen Prachtband Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser (1898) und in dessen ungarischem Pendant, A Király Könyve [Das Buch vom König] (1899), aufgegriffen und in verblüffendem Sinne zu einem eigenen Bandkonzept gemacht. Herzig will „im Gegensatz zu anderen Huldigungsbüchern keine historische Entwicklung der Monarchie zeigen, sondern ein Buch schaffen, das vom Kaiser selbst erzählt“, sodass anhand der illustrationsreichen Erläuterung der kaiserlichen Aktivitäten „ein Bild von Franz Josephs Charakter und Persönlichkeit, […] ein idealisiertes Bild des Herrschers als gleichsam Besten aller Endre Hárs 110 Menschen“ 7 entsteht. Der Akzent wird von den nationalen und politischen ‚Kräften‘ des Vielvölkerstaates auf die vielerorts und in vielen Funktionen sich äußernden persönlichen ‚Kräfte‘ des Herrschers selbst verlegt. Je mehr der Band zu einem Portrait des Kaisers und dessen Gewohnheiten bzw. Aktivitäten wird, desto stärker wird die im Wahlspruch enthaltene Idee der vereinten Kräfte durch die Idee der familiären Verbundenheit des um das Wohl seiner Kinder sorgenden Vaters überboten. Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser ist insofern als ein Lesebuch für (Landes-)Kinder konzipiert, denen die Möglichkeit gewährt wird, über die Schultern ihres Kaisers beziehungsweise Königs zu schauen. 8 Trotz dieser Intention des Herausgebers und des feierlichen Anlasses lassen sich in Herzigs Jubiläumsband auch Beobachtungen machen, die eher den oben kurz angedeuteten inhärenten Agonismus des Wahlspruchs als die intendierte Idylle bekräftigen. Diese zeigen sich zum einen in der inhaltlichen Differenz der beiden - gleichsam in ‚Parallelaktion‘ erschienenen - nationalsprachlichen Ausgaben, zum anderen in der Textgestalt der Parallelstellen, die - bei der bisherigen Dominanz von Forschungsinteressen am Bildmaterial 9 - eine eigene Untersuchung verdienen. Die Textanalyse kann eine Spannung erkunden, die, wenngleich sie keinen ‚Zwist der Nationen‘ signalisiert, so doch ein weniger harmonisches Porträt zeichnet. Das Gesamtkonzept beider Ausgaben von Viribus Unitis ist, durch das Persönliche einer öffentlichen Person - der ersten des Staates - bestimmt, und ist jeweils nach Aktivitäten 10 beziehungsweise Lebenswelten 11 des Kaisers gegliedert. Das Buch vom Kaiser enthält die Abschnitte „Vorwort“, „Des Kaisers Jugend“, „Hymne“ (von Ferdinand von Saar), „In Wien“, „In Budapest“, „Auf Reisen“, „Der oberste Kriegsherr“, „Auf der Jagd“, „In Ischl“ und „Schlusswort“. 12 Die einzelnen Kapitel werden durch die Bandornamentik weiter unterteilt. 13 Die Beiträger sind im Inhaltsverzeichnis genannt - im Fall von mehreren Autoren werden diese in alphabetischer Ordnung aufge- 7 Smetana, Alexandra: Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser. Ein Prachtband zum Kaiserjubiläum 1898, in: Petschar, Hans (Hg.): Der ewige Kaiser, S. 111-117, hier S. 111. 8 Vgl. Telesko, Werner: Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2006, S. 246. 9 Vgl. Smetana: Viribus Unitis; Telesko: Geschichtsraum Österreich, S. 231-233. 10 Vgl. Telesko: Geschichstraum Österreich, S. 233. 11 Vgl. Smetana: Viribus Unitis, S. 111. 12 Viribus Unitis. Das Buch vom Kaiser. Mit einer Einleitung von Josef Alexander Freih. v. Helfert. Hg. Max Herzig. Budapest, Wien, Leipzig: Verlag von Max Herzig 1898, Inhalt. [S. VII]; im Folgenden mit der Sigle BK zitiert. 13 Links und rechts am Blattrand angebrachte rechteckige graphische Symbole markieren im jeweiligen Kapitel den Wechsel des Themas, das durch mittig angebrachte Pflanzensymbole weiter untergliedert wird. Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit 111 zählt, ohne dass ihnen die einzelnen Unterabschnitte zugeordnet werden. Bei gleichmäßiger Verteilung des Bildmaterials - fast vierhundert Illustrationen, die ca. dreitausend Einzelporträts öffentlicher Personen umfassen 14 - sind die Kapitel „In Wien“ und „Auf Reisen“ die umfangreichsten (80 Seiten), gefolgt von „Der oberste Kriegsherr“ (62 Seiten), „In Budapest“ (48 Seiten), „Auf der Jagd“ (28 Seiten), „In Ischl (20 Seiten) und „Des Kaisers Jugend“ (12 Seiten). Thematisch lässt sich eine Schieflage im Konzept beobachten: Mit Wien, Budapest und den Reisen des Kaisers wird eine politisch-geographische Markierung der Aktivitäten des Kaisers vorgenommen, wobei an wechselnden Schauplätzen gleich geartete Handlungen (Herrscheralltag, diplomatische Anlässe und Feste) beschrieben werden. Die Kapitel „Der oberste Kriegsherr“ und „Auf der Jagd“ heben hingegen besondere Kompetenzen beziehungsweise Charakterzüge Franz Josephs hervor. Das Kapitel „In Ischl“ legt sich zu alledem quer, wird doch mit den Urlaubsaktivitäten des Kaisers ein touristischer Nicht-Ort des Herrscheralltags in Szene gesetzt. 15 Im Vergleich zum Buch vom Kaiser demonstriert A Király Könyve mehrfach, dass es beim kaiserlichen Imperativ der Vereinigung der Kräfte nicht auf Einförmigkeit ankommt. Der Wandel der Ausführung des Bandkonzepts fängt bereits beim Titel an, der nicht nur in „Buch vom König“ umbenannt wird, sondern auch in verfassungsrechtlich korrekter Weise den Titel „Viribus Unitis“ weglässt - handelt es sich in diesem Fall zwar um ein und dieselbe Person, jedoch nicht um denselben Herrscher. Die Konsequenzen daraus zeigen sich mehrfach. Der persönliche Ton des deutschsprachigen Vorwortes und dessen Vater-Kind-Metaphorik wird in der ungarischen Fassung durch ein astronomisches Bild ersetzt, das den Monarchen zwar als leuchtenden Stern (gar als Sonne) zeigt, doch auch in kosmologische Ferne rückt. Begründet im ersten Fall die ‚(landes-)kindliche‘ Zuneigung das Spezifikum des Bandes, so wird diese - anderweitigen Huldigungsbüchern gegenüber artikulierte - ‚intime‘ Differenz für A Király Könyve zurückgenommen, und in ein Versprechen detailreicher - aber von jeder „indiscretio“ freier - „Gemälde [rajzok]“ 16 umgewandelt. Auf das Vorwort folgt an Stelle des Kapitels „Des Kaisers Jugend“ das Kapitel „Koronázás [Krönung]“, ein Bericht über die Geschichte des österreichisch-ungarischen Ausgleichs, mit besonderem Akzent auf dem abschließenden Akt, der am 8. Juni 1867 erfolgten Krönung 14 Smetana spricht von einem „Who’s Who“ der Habsburgermonarchie (Smetana: Viribus Unitis, S. 113). 15 Zum Thema ‚Nicht-Ort‘ vgl. Wöhler, Karlheinz: Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 13ff. 16 Herzig, Miksa (Hg.): A Király Könyve. Lipcse, Budapest, Bécs: Herzig Miksa 1899, S. XII; im Folgenden mit der Sigle KK zitiert. Endre Hárs 112 Franz Josephs zum ungarischen König. Freilich wird dadurch der ursprüngliche Anlass des Jubiläumsbandes zahlensymbolisch etwas verstellt, feiert man doch am fünfzigsten Kaiserjubiläum den König Ungarns und der Länder der ungarischen Krone eigentlich im unrunden einunddreißigsten Jubiläumsjahr. Der kaiserlichen und königlichen Zuständigkeit entsprechend sind auch die beiden Gedichte, Ferdinand von Saars „Hymne“ und Andor Kozmas „Dal a Királyra [Lied auf den König]“ unterschiedlich ausgerichtet. Während die Hymne den Kaiser als Begründer einer glücklichen Friedenszeit unter „Seiner Völker Jubelruf “ (BK, S. 1) und durch „seiner Länder Pracht“ (BK, S. 2) verherrlicht, richtet „Dal a Királyra“ das Wort an den Nachfolger des Heiligen Stephans und gelobt ihn als Garanten der Freiheit der Nation beziehungsweise als deren Repräsentanten in der Welt. Dieser Gewichtung entspricht auch die Reihenfolge der beiden Kapitel zu den Hauptstädten: Das Buch vom Kaiser beginnt mit Wien, A Király Könyve mit Budapest, wodurch freilich nicht nur die beiden Herrscherfunktionen egalisiert werden, sondern auch die Dramaturgie des kaiserlichen Alltags auf den Kopf gestellt wird, denn ‚Hauptwohnsitz‘ des Kaisers ist nach wie vor Wien. Zudem muss das Kapitel zu Budapest argumentativ mit der Tatsache fertig werden, dass Franz Joseph „verhältnismässig kurze Zeit im Lande zu weilen pflegt“ (KK, S. 88), beziehungsweise dass die Budapester Burg bis vor dem kürzlich begonnenen Umbau zur Residenz als „ein Absteigequartier für wenige Tage“ (KK, S. 85) gegolten hat. Die übrigen Kapitel von Viribus Unitis sind in A Király Könyve zwar in derselben Reihenfolge mitgeteilte Übersetzungen aus dem Buch vom Kaiser - sie sind aber keine wortgetreuen Wiedergaben des Originals. Reich an Auslassungen und Hinzufügungen weichen die beiden Fassungen oft auch im Sinn voneinander ab. Wichtig ist dabei, dass an Stellen, an denen im Buch vom Kaiser sinnvollerweise vom Kaiser gesprochen wird, in der ungarischen Fassung vielfach konsequent vom König oder jedenfalls vom Herrscher beziehungsweise von „Seiner Hoheit“ die Rede ist, und zwar ungehindert dessen, dass es sich häufig um Aktivitäten handelt, die Franz Joseph auch oder gerade in seiner Eigenschaft als Kaiser ausführt. Wird zum Beispiel im Kapitel über Wien - dem langgehegten ‚Wunsch der Leserschaft‘ entgegenkommend - ausführlich berichtet, wie der Kaiser „wohnt“, 17 so will in der ungarischen Fassung eigentlich „jeder“ 18 nur wissen, wie König Franz Joseph in Wien residiert. Ähnlich wird in anderen Kapiteln mit der Würdigung Franz Josephs verfahren. „Der Kaiser kennt alle Theile seines Reiches genau“ (BK, S. 134), 17 „Alle Welt frägt: wie wohnt der Kaiser? “ (BK, S. 4) 18 „Mindenki szeretné tudni, milyen a király lakása“ [Jeder will wissen, wie der König wohnt] (KK, S. 52). Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit 113 heißt es im Kapitel „Auf Reisen“ im Buch des Kaisers. „Dieses ungeheure Ländergebiet überschaut der Kaiser wie etwa ein guter und umsichtiger Grossgrundbesitzer seine Ländereien - aber in einem höheren Sinne.“ (ebenda) Im ungarischen Parallelkapitel „Utban [Unterwegs]“ ist es an der entsprechenden Stelle der „uralkodó [Herrscher]“ und sogar der „király [König]“, der „a roppant földön [auf dem ungeheuren Gebiet]“ (KK, S. 134) Umschau hält. Der Blick des Kaisers auf Länder, die mit der Stephanskrone nichts zu tun haben, wird durch den Blick des ungarischen Königs gleichsam ergänzt. Auch ist es an dieser Stelle nicht der Kaiser, sondern der König, der „bei einem Elementarunglück […] der erste ist, welchen man um Hilfe anruft“ (BK, S. 134; KK, S. 134). Wo auch immer der Herrscher Österreich-Ungarns um Hilfe ersucht wird, A Király Könyve erkennt nur dessen landeseigene Titulatur (oder höchstens ein neutrales Äquivalent) an. Durch Einzelheiten dieser Art wird A Király Könyve der konstitutionellen Doppelmonarchie und deren Verfassungen gerecht, verfängt sich allerdings immer wieder in ‚politisch korrekten‘ Abweichungen vom Original, die eigentlich keinen Sinn ergeben, und einen agonistischen Paralleltext produzieren. Die ungarische Fassung weicht von der deutschsprachigen nicht nur in den vollständig ersetzten Kapiteln ab, sondern leistet auch in den Parallelkapiteln gleichsam Widerstand. Der eigentliche Gegenstand des Kaiserjubiläums wird stellenweise zum blinden Fleck - zur Feier einer Person, über die man nicht redet. Der Kaiser wird durch sein monarchisches Doppel, den König von Ungarn ersetzt. 2 Der Kaiser in Wien. Der König in Budapest Differenzen lassen sich aber nicht nur zwischen den beiden Fassungen von Viribus Unitis feststellen. Auch im Verhältnis der Parallelstellen innerhalb einzelner Kapitel ist es relevant, ob es sich um Beschreibungen Cisleithaniens oder Transleithaniens handelt. Ganz besonders trifft dies auf die beiden, die Hauptstädte behandelnden Kapitel zu. 19 Die Aktivitäten des Kaisers in Wien und Budapest werden über die historischen Gegebenheiten hinausgehend unterschiedlich in Szene gesetzt, sodass die Einigkeit im gemeinsamen Zweck auch hier genug „Eigenthümlichkeit“ 20 aufweist. Beide Kapitel ver- 19 Zur Konkurrenz der beiden Hauptstädte und zu deren Forschungsliteratur vgl. Hárs, Endre: Urbane Topographien der k.u.k. Monarchie: Über die Praxis des Städtevergleichs, in: Hárs, Endre; Kókai, Károly; Orosz, Magdolna (Hgg.): Ringstraßen: Kulturwissenschaftliche Annäherungen an die Stadtarchitektur von Wien, Budapest und Szeged. Wien: Praesens Verlag 2016, S. 9-24. 20 Vgl. [Meyer]: Rückblick auf die jüngste Entwicklungs-Periode Ungarns (zit. in Anm. 3). Endre Hárs 114 zeichnen jeweils mehrere Verfasser, deren Autorschaft bezüglich der Unterabschnitte nicht markiert wird und womöglich nur von ihren beruflichen Kompetenzen her erraten werden kann. 21 Besonders schwierig ist die Identifikation im Fall des Budapest-Kapitels, deren Verfasser - abweichend vom Wien-Kapitel - ausschließlich Schriftsteller beziehungsweise Publizisten sind. 22 Die thematischen Differenzen der beiden Kapitel lassen sich jedenfalls nicht allein durch die beruflichen Differenzen der beiden ‚Autorenkollektive‘ erklären. „In Wien“ ist in sieben größere - durch rechteckige graphische Symbole markierte - Unterkapitel aufgeteilt. In ihnen werden der Reihe nach folgende Themen besprochen: 1. In der Hofburg. Alltag und Gewohnheiten des Kaisers; 2. Regierungsgeschäfte, Ratssitzungen, Audienzen; 3. Kirchliche Feste, Hofzeremonien, Bälle und Hoftafeln; 4. Staatsbesuche; 5. Marstall und Hofreitschule; 6. Förderung der Künste, Wohltätigkeit; 7. Der Kaiser in Schönbrunn. „In Budapest“ bietet vier Abschnitte: 1. In der Burg. Alltag und Gewohnheiten des Kaisers, Regierungsgeschäfte, Hoftafeln; 2. Eröffnung der Millenniumsausstellung von 1896 und Millenniumsfeier; 3. Besuch Kaiser Wilhelm II. 1897; 4. Budapests Entwicklung. Abgesehen von der Signifikanz der beiden Städte im Leben Franz Josephs lassen sich die Unterschiede im Umfang (80 Seiten gegenüber 48 Seiten) auch konzeptuell erklären. „In Wien“ bietet eine explizite Bestandsaufnahme der Aktivitäten des Kaisers, die zum einen präsentisch erzählt, 23 zum anderen minutiös ausgeführt werden. Detaillierte Beschreibungen von Räumlichkeiten und offiziellen Handlungen vermitteln mehrfach den Eindruck, als hätte man es mit einem Zeremonienbuch zu tun. Das dominante, ewige Wiederholbarkeit vermittelnde Präsens des Berichts hindert nicht daran, dass parallel zum Bildmaterial auch die Funktionäre im Umkreis des Kaisers beim Namen genannt und konsequent aufgezählt werden. Mitunter, vor allem in Be- 21 Die Verfasser des Kapitels über Wien sind Aladár von Berzeviczy (1833-1908, k.k. Kämmerer), Hans Grasberger (1836-1898, Dichter, Kunstkritiker), Moriz Kronfeld (1865-1942, Botaniker, Journalist), August Schaeffer (1833-1916, Landschaftsmahler, Schriftsteller, im Inhaltsverzeichnis von BK als „Regierungsrath” angeführt) und Marie Weyr (1864-1903, Publizistin). 22 Die Verfasser des Kapitels über Budapest sind die Publizisten Adolf Ágai (1836-1916), Franz Herczeg (1863-1954), Ludwig Hevesi (1843-1910) und Schriftsteller Maurus Jókai (1825-1904), Koloman Mikszáth (1847-1910). 23 Dies geschieht im Einklang mit dem für die Repräsentation Kaiser Franz Josephs charakteristischen „Anspruch auf Zeitlosigkeit“. Telesko, Werner; Schmidl, Stefan: Der verklärte Herrscher. Leben, Tod und Nachleben Kaiser Franz Josephs I. in seinen Repräsentationen. Wien: Praesens 2016, S. 10. Das von Telesko beschriebene Gegenstück, die „Historisierung“ (ebenda, S. 11) der kaiserlichen Biographie wird mehr in anderen Kapiteln von Viribus Unitis, so etwa in „Auf der Jagd“ dominant. Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit 115 schreibungen des dienstleistenden Personals, wird auf Gattungstraditionen des Wiener Lebensbildes zurückgegriffen. 24 Das Kapitel „In Budapest“ weicht prinzipiell vom Präsentischen ab. Hier wird Geschichte erzählt, begleitet von historischen Episoden aus dem Leben des Königs und der Nation. Selbst der dem Wiener Kapitel am nächsten liegende erste Abschnitt über die Burg und den Alltag des Königs wird im Vorhinein durch die Tatsache historisiert, dass sich die Residenz im Jubiläumsjahr im Umbau befindet und in Zukunft einen ganz anderen Anblick beziehungsweise ein gewandeltes Hofleben bieten wird. Die Gegenwärtigkeit der Beschreibung wird insofern bereits als Vergangenheit mit in Szene gesetzt. Dies erklärt auch, weshalb die erste Person, die gleich zu Beginn namentlich genannt und - eigentlich vor dem König - mit einem ganzen Absatz geehrt wird, Ludwig Ritter von Ybl ist, „Sohn dieser Stadt“, Nachfolger des „gute[n] alte[n] Schlosshauptmann[s]“ (KK, S. 83) Miklós Ybl, der die ersten Pläne zum Umbau entworfen hat. 25 Als Parallelstelle zu den Wiener Staatsbesuchen liest sich der dritte Unterabschnitt, der Bericht zum Besuch Kaiser Wilhelms II. im Jahre 1897. Er wird insofern anders gestaltet, als es hier um diesen einen Besuch geht, dem ein besonderer symbolischer Stellenwert zugeschrieben wird. 26 Darüber hinaus wird die Bedeutung des Besuchs deutlich auf Budapest bezogen: Es gereicht zur Ehre der Nation, dass Franz Joseph als ungarischer König den deutschen Kaiser - „seit Jahrhunderten das erste gekrönte Haupt“ (KK, S. 110) - als Gast nach Budapest einlädt. Der Abschnitt hält sich entsprechend auch darin nicht zurück, ergiebig über das Interesse des deutschen Kaisers an den Errungenschaften der Hauptstadt zu berichten. Stellenweise gestaltet sich der Bericht als ein Wettbewerb der beiden Monarchen um das Lob der Ungarn. 27 Erst recht historisch gestalten sich aber die Unterabschnitte zum Millennium und zu Budapest. Ersterer überbietet das fünfzigjährige (und erst recht das einunddreißigjährige) Herrscherjubi- 24 Die Tonführung von Szenen wie ‚In der Hofzuckerbäckerei‘, ‚Im Hofkeller‘ erinnert an Darstellungen der Sammlung Wienerstadt. Lebensbilder aus der Gegenwart, geschildert von Wiener Schriftstellern, gezeichnet von Myrbach, Mangold, Zasche, Engelhart und Hey (Prag, Wien, Leipzig: Tempsky, Freytag 1895); Viribus Unitis schöpft generell aus dieser Gattungstradition. 25 Der Umbau des Burgpalastes erfolgte zwischen 1890 und 1905. Vgl. Budapesti Történeti Múzeum (Hg.): A budavári királyi palota története. Kiállítási vezető [Geschichte des Budaer Königspalastes. Ausstellungsführer]. Budapest: Budapesti Történeti Múzeum Vármúzeum 2015, S. 81. 26 Im Kapitel „In Wien“ ist der Besuch Kaiser Wilhelms II. frequenziell und einer unter anderen herrschaftlichen Besuchen. Vgl. BK, S. 58. 27 Der ‚Wettbewerb‘ zeigt sich z. B. in den Trinksprüchen der beiden Kaiser beim Hofdiener, bei dessen Anlass Wilhelm II. Franz Joseph im Lob der Ungarn gleichsam ‚überbietet‘. Vgl. BK, S. 114-115. Endre Hárs 116 läum mit dem tausendjährigen der Nation und lässt in der Beschreibung des ‚kostümierten‘ „historische[n] Festzug[s]“ (BK, S. 106) die komplette ungarische Vergangenheit - darunter auch für die Habsburger weniger attraktive Erinnerungen - Revue passieren. Bemerkenswert ist auch, dass der Bericht bei in narrativer Hinsicht ‚stiller‘ Beteiligung des Königspaars an den Zeremonien die Festpredigt von Fürstprimas Claudius Vaszáry in voller Länge zitiert. In dieser werden der König, die Königin, das Vaterland und die Nation gleichermaßen apostrophiert, und ersterer mehrfach an seine Verpflichtungen erinnert. 28 Der letzte Unterabschnitt des Budapest-Kapitels zur Hauptstadt selbst ist ebenfalls eine Revue - eine historische Stadtführung in Form eines Narrativs mit der Stadt als ‚Helden‘, bei wiederholten Erwähnungen der Beiträge des Monarchen zu deren Entwicklungsgeschichte. Im gesamten Budapest-Kapitel zeigt sich übrigens im Vergleich zum Wien-Kapitel ein dezidiert erzählerischer Hang zum Präteritum: Beschränkt man das Historische in Wien auf die beinahe inventarische Aufzählung vergangener Ereignisse (Besuche, Feste etc.) als Bekräftigung des sonst Präsentischen und Frequenziellen, so neigt man in Budapest zum Sensationellen und Singulären. Dies schlägt sich zum Beispiel auch in Anekdoten nieder, die pointiert erzählt werden: ein Stileffekt, der im Buch des Kaisers auch sonst so gut wie nie vorkommt. 29 Die genannten Unterschiede in der Thematik kann man zu einem großen Teil durch historische Differenzen erklären, die sich einerseits aus den kaiserlichen beziehungsweise königlichen Zuständigkeiten, andererseits aus der historischen Situation der beiden Residenzstädte ergeben. Die Tatsache, dass es sich in dem einen Fall um die Traditionsgebundenheit eines Herrscherhauses, in dem anderen um die Geschäfte eines jüngst ‚restituierten‘ Königtums und um eine sich über die Geschichte legitimierende Nation handelt, erklärt auch zahlreiche weitere narrative und symbolische Differenzen, die 28 „Mein erhabener König! | Vater meiner Nation! […] | Flehend bitte ich den König der Könige, dass er seinen schützenden Arm ausstrecke über Deine erhabene Person, dass er über Dich ausgiesse die schwellende Fülle seiner Gnade, damit Du bei deren Lichte bis in’s Einzelne klar erkennen mögest die Angelegenheiten Deiner Nation und durchschauen ihre Sorgen, und erfüllen und lösen mit Tapferkeit und Glück Deine königliche Aufgabe, der Du Dich widmest mit tiefem Pflichtgefühl, mit verfassungsmässiger Treue und unermüdlicher Mühewaltung.“ (BK, S. 101-102) 29 Hier bewährt sich das berühmte Fabulierertum der Autoren des Budapest-Kapitels. Vgl. z. B. BK, S. 89, 91, 92, 94. Gleichartiges bietet auch das dezidiert auf historische Besuche des Kaisers ausgerichtete Kapitel „Auf Reisen“ nicht (mit Ausnahme von BK, S. 142). Dafür wartet der ungarische Abschnitt auch hier mit einem unüblichen ‚literarischen‘ Auftakt auf: Das Eingangsbild operiert mit der Perspektive eines unwissenden Erzählers, der zunächst nicht weiß, wer „jener hochgewachsene Herr“ (BK, S. 173) im „Spiegelfenster“ (ebenda) des kaiserlichen Zuges ist. Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit 117 sich im Stil, in der Ausführung und Gewichtung der Themen und nicht zuletzt im Porträt des Kaisers selbst zeigen. Gleich der Auftakt der beiden Teile macht die Differenz deutlich. Das Wien-Kapitel rekurriert auf das Vorwort im Buch des Kaisers, in dem die Perspektive eines Kindes auf den Kaiser eröffnet wird. 30 „In Wien“ beginnt ebenfalls mit Kindern, die vor der Hofburg stehend mit ihrem Blick den Kaiser suchen, dessen Gestalt von Mal zu Mal „hinter den Spiegelfensterscheiben“ (BK, S. 3) aufscheint. Im Kapitel zu Budapest fällt der erste Blick hingegen vom Festungsberg auf die Stadt: Von den Fenstern des Palastes, von den Bastionen seiner Terrasse aus, schweift der Blick in weite Ferne. Ueber das Gewimmel von Dächern hinweg und über das verschwimmende Gefilde des Rákos, dessen Rasen einst, nach des Dichters Worten „stampften mit tausend Hufen die Rosse der Männer aus Osten“. Ein Hauch des Ostens, als käme er aus der Urheimath dieses Volkes, weht von dort noch jetzt über Stadt und Strom daher, den königlichen Burgberg hinan. (BK, S. 83) 31 Geht man davon aus, dass es sich hier um einen Blick des Herrschers auf die Stadt handelt, 32 so erwidern ihn statt der neugierig-liebevollen Blicke von (Landes-)Kindern die imaginierten historischen Blicke der Repräsentanten einer (‚ehemals kämpferischen‘) Nation. Der Beginn der ungarischen Fassung enthält jedenfalls zwei Absätze mehr, die dem soeben zitierten vorausgehen und für sich sprechen (auch den Blick eines anderen auf die Stadt als den des Königs narrativ nahelegen): Der König ist für uns zu Hause [itthon], für die Wiener daheim [otthon]. Es gibt keine Sprache, die die beiden Begriffe so scharf unterscheiden würde, wie die ungarische. Was für Wien Alltag ist, ist für uns immer noch ein Fest. Deshalb sind wir auch immer glücklich, wenn der König zu Hause ist. Die Welt ist nicht mehr so deutsch in der Budaer Burg, im Königspalast, wie einst. Jahr für Jahr senkt sich eine der Waagschalen, die ungarische. Welches Sinken ein Erheben bedeutet. Erhebung der ungarischen Sprache und Erhebung der ungarischen Seele nach oben, in jenes ebenso zierliche wie erhabene Gebäude, das bisher nur eine Art Filiale der Wiener Burg war. (KK, S. 3; Übersetzung E. H.) Auch innerhalb des Palastes erfährt die in Wien durch Porträts der kaiserlichen Familie und deren Kinder (vgl. BK, S. 8) gesicherte Intimität des Blicks eine politische Wendung. Im Schlafzimmer hängt eine Photographie Franz Deáks: „Wenn der Kaiser erwacht, fällt sein erster Blick auf diesen grossen 30 Es handelt sich um die persönliche Erinnerung des Herausgebers Max Herzig daran, wie er als Kind während eines Abends im Burgtheater kaum seine Augen vom Kaiser wenden konnte, während dieser selbst „förmlich wie ein Vater seine Familie, das Publikum musterte“ (BK, S. XI). 31 Das anzitierte Gedicht: Vörösmarty, Mihály: Árpád emeltetése [Die Erhebung Árpáds] (1825). 32 Diese Annahme legt die Illustration „Der Kaiser im Burggarten“ (BK/ KK, S. 5) nahe, macht sie jedoch nicht zwingend. Endre Hárs 118 Mann. Sie beide haben […] den Ausgleich von 1867 geschaffen; darum will der Kaiser dieses Bild zuerst sehen, wenn er erwacht und zuletzt, wenn er einschlummert.“ (BK, S. 86) Damit wird schon zu Beginn des Kapitels diejenige Emotionalität des Textes gekappt, die „In Wien“ und auch die übrigen Kapitel von Viribus Unitis auszeichnet. Wird in diesen immer wieder die väterliche Liebe des Kaisers thematisiert - er handelt „in sinniger, herzentstammender Weise“ (BK, S. 8), seine „Liebenswürdigkeit“ (BK, S. 75) zeigt sich an allen Orten -, 33 so bleibt die Tonführung in der Charakteristik des Königs im Kapitel zu Budapest gemessen. Lobt man in Wien die „Pflichterfüllung und Gewissenshaftigkeit“ (BK, S. 22), die „Sach- und Geschäftskenntnis“ (BK, S. 24), die „militärische […] Pünktlichkeit“ (BK, S. 80), und immer wieder das - auch gegenüber Personen von niedrigerem Rang sich äußernde - „ausserordentliche Erinnerungsvermögen“ (BK, S. 28, vgl. auch S. 8, 22) des Monarchen, so führen die entsprechenden Stellen in Budapest seinen „Hang zur Sparsamkeit, der sich mitunter selbst in Kleinigkeiten kundgiebt“ (KK, S. 91) und seine übermäßige Strenge mit an: Auch mit Orden und anderen Auszeichnungen ist er nicht freigebig. „Sie möchten die ganze Welt decorieren“, sagte er einst seinen Ministern, „und in kurzer Zeit wären meine Orden nichts mehr werth! Aber ich erlaube das nicht.“ Von dem, was ihm unterbreitet wird, erlangt nicht die Hälfte seine Zustimmung. Aber auch darin beweisst [sic! ] er den vorgeschlagenen, wenngleich unbedeutenden Personen - die bedeutenden zeichnet er ja natürlich aus - so viel Zartgefühl, dass er mit keiner Miene sein Widerstreben verräth. Dafür kann natürlich Niemand, dass einzelne Acten von seinem Tische verloren gehen. Der Minister muss schon wissen, dass man solche verschwundene Acten nicht suchen darf. Die ruhen sanft in einer gewissen kirschhölzernen Truhe des Arbeitszimmers, mit so manchem anderen begrabenen Ehrgeiz. „Gemüthlich“ ist der Kaiser auch mit seinen Ministern nicht. […] (BK, S. 91-92) Inwieweit das Verschwindenlassen von Akten von „Zartgefühl“ zeugt, beziehungsweise wie sich diese Art, Fälle zu lösen, mit Ordnungsliebe verträgt, wird nicht weiter kommentiert. Die Stelle demonstriert aber deutlich, dass sich König und Kaiser entweder nicht im selben Verhaltensraster bewegen, oder der auf sie geworfene Blick jeweils - in Wien und in Budapest - ein anderer ist. 34 33 Vgl. noch „liebenswürdig-hoheitsvolle[…] Gestalt“ (BK, S. 34); „die unvergleichliche Liebenswürdigkeit des Kaisers“ (BK, S. 62); „Er [der Audienzbesucher E. H.] sieht nur den Kaiser, hört nur dessen Stimme, in deren ganz merkwürdigem Wohllaut etwas unendlich Gütiges und Liebevolles ist. […] Der Kopf des Kaisers ist von einer Aureole der Menschenfreundlichkeit umgeben […]“ (BK, S. 28); Lediglich, dass der Kaiser keinen „Verstoss gegen die Ordnung“ (BK, S. 81) duldet, wird als ‚Negativum‘ mehrfach vermerkt. 34 „Die versammelten Herren plaudern recht zwanglos, bis dumpfe Stabschläge anzeigen, dass der Kaiser mit seinem Gefolge naht. Grabesstille tritt ein.“ (BK, S. 92; Hervorhebung E. H.); vgl. dagegen entsprechende Eintrittszenen im Wien-Kapitel (BK, S. 23, 32). Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit 119 Gleichermaßen wird die Hingabe des Monarchen an seine Völker und an die Aufgaben des Regierens unterschiedlich kontextualisiert. In Wien wird Franz Joseph als ein sich selbst gegenüber strenger, aufopferungsvoller Herrscher verehrt. Der „fleissigste Monarch der Erde“ (BK, S. 8) ist „[n]icht nur der oberste Regent der Regierung […], er ist auch ihr eifrigster Mitarbeiter“ (BK, S. 22). Allerdings ist das, was in Wien als nicht selbstverständlich gilt und entsprechend gewürdigt wird, in Budapest eine Pflicht, die Franz Joseph durch die Umstände auferlegt wird. Der Herrscher wird in manchen Wendungen selbst beherrscht: Kaiser Franz Joseph, der „Nachkomme von hundert Cäsaren“ ist heute, nicht nur seiner Abstammung nach, sondern auch seiner Persönlichkeit nach, der verehrteste Herrscher der Welt. Keine Stimme erhebt sich dagegen. Diesem hohen moralischen Rang trachtet er in Allem zu entsprechen; dieses Primat beherrscht ihn gleichsam und spornt ihn zur Ausübung hoher fürstlicher Tugenden, die in der Selbstüberwindung gipfeln. Eines der wichtigsten Werke seines Lebens und seiner Regierung ist der Ausgleich von 1867; dieses fixiert oft seine Aufmerksamkeit auf Ungarn. Das ist rein menschlich. Wenn Jemand in einer ererbten Landwirthschaft etwas Ausserordentliches schafft […], so wird er es dann mit besonderer Sorgfalt hegen und pflegen. (BK, S. 88; Hervorhebungen E. H.) Die Umstände scheinen in Budapest strenger zu sein als der gestrenge Kaiser selbst, der sich offensichtlich vorgenommen hat, in ein vormals (zum Beispiel politisch) unbestelltes Land - nach dem Muster agri culti - Kultur zu bringen: ein Vorhaben, für dessen Ausführung er gleichsam wie für eine Schwäche - „Das ist rein menschlich“ - entschuldigt werden muss. All diese Anstrengung erklärt übrigens auch die vormals zitierte Unnachgiebigkeit des Königs in den Angelegenheiten des Landes. Denn hier geht es auch um ein Zügeln und um ein (verfassungsrechtliches) Machtgerangel, dessen Zeichen sich selbst in die Textur eines Huldigungsbandes gleichsam einschreiben. In Anbetracht des ungarischen Kults um Königin Elisabeth mag es kaum überraschen, 35 dass das Kapitel zu Budapest ihr mehr Aufmerksamkeit schenkt als das Kapitel zu Wien. Begegnet man in Letzterem lediglich der wiederholten Wendung, an offiziellen Angelegenheiten nehme die Kaiserin „oder in ihrer Abwesenheit die stellvertretende“ (BK, S. 44, 58) ranghöhere Dame teil, 36 so belässt es Budapest nicht beim realen ‚Alltag‘ des Herrscherpaares. Königin Elisabeth rückt mehrfach in den Blick und wird als diejenige 35 Vgl. Niederhauser, Emil: Merénylet Erzsébet királynő ellen [Das Attentat auf Königin Elisabeth]. Budapest: Helikon 1985, S. 61-71. 36 Kaiserin Elisabeth begegnet man in Viribus Unitis weniger im Kapitel zu Wien als in dem über die Reisen Franz Josephs, namentlich im Abschnitt über den Genfersee (BK, S. 203) und Cap Martin (BK, S. 205ff.) als Destinationen. Endre Hárs 120 Person gefeiert, die - symbolisch auf Kosten des Königs - Ungarn zu repräsentieren vermag. Besonders augenfällig wird dies in der Beschreibung des Arbeitszimmers Franz Josephs in der Burg. Hier hängt nicht nur das Bild der Kaiserin an der Wand, auch auf dem Schreibtisch steht ein Kunstobjekt, „Geschenk der Kaiserin an ihren Herrn und Gemahl“, „eine goldene Hand“: Der Goldschmied hat sie trefflich gebildet und auch sie ist eine „glorreiche heilige Rechte“, denn sie ist nach der Hand der Kaiserin modelliert. Das Handgelenk schmückt ein Armband, in das drei Edelsteine gefasst sind: ein rother Rubin, ein weisser Diamant und ein grüner Smaragd. In dreifarbigem Feuer blitzen die Farben Ungarns von ihnen. […] Uebrigens haben diese drei Edelsteine auch ihre praktische Verwendung; ein Druck des Fingers und jeder Stein setzt eine andere elektrische Klingel in Bewegung, die einen anderen dienstthuenden Officier herbeiruft. (BK, S. 85) Mit der Anspielung auf die „Heilige Rechte“ des ersten ungarischen Königs, Stephans I. - eine Reliquie, die nach wie vor jährlich in einer Prozession gezeigt wird 37 - wird der Kaiserin symbolische Macht über die Nation erteilt. Ist der König ‚lediglich‘ Träger der Stephanskrone, so wird die Königin wortwörtlich zur ‚Verkörperung‘ der historischen Gemeinschaft und mittelbar auch zu einer von deren Heiligen. Einmal mehr greift diese Hand mit dem Memento ihrer Nationalfarben und mit den durch sie zu betätigenden mechanischen Funktionen in die Regierungsgeschäfte ein. Auch sie wirkt daran mit, dass sich die thematisch-rhematischen Verhältnisse im zu Ehren Franz Josephs herausgegebenen Jubiläumsband als cis- und transleithanisch verschiedentlich erweist, und dass das kaiserliche und apostolisch-königliche ‚Geburtstagskind‘ jeweils nur die ihm zuerkannte politisch-symbolische Rolle spielt. Blickt man über die beiden hier behandelten Kapitel hinaus, so kann man auch an anderen Stellen auf Beispiele der besprochenen Differenzen stoßen. 38 Wann auch immer Ungarn auf dem Programm des Bandes steht, machen 37 Farkas, Anna: Nemzeti ereklyénk. Szent István király jobbja. Az ereklye története [Unsere Nationalreliquie. Die Rechte des Heiligen Stephan. Geschichte der Reliquie]. Budapest: Formatív Kiadó 1991, S. 20. 38 Im Kapitel „Auf der Jagd“ differiert nicht nur die Beschreibung der cisleithanischen und der transleithanischen (Gödöllőer) Jagdgebiete. Gleich im ersten Unterabschnitt wird in A Király Könyve die Stelle über Jagden „in der Nähe seiner Residenzstadt Wien” (BK, S. 275) dahingehend modifiziert, dass sie sich auf beide Hauptstädte (KK, S. 274) bezieht, wobei das Bedauern darüber ausgesprochen wird, dass die Gesetzgebung bisher das Jagdinteresse Franz Josephs an den Karpaten verhindert hätte, bzw. dass es lediglich der seelige Kronprinz Rudolf war, den die Jagdlust nach Oberungarn geführt hat. Man wünscht sich, dass „der Vater das aus den Händen seines Sohnes gefallene Gewehr aufhebe“ (KK, S. 275) und sich in Zukunft auch auf diesen Gebieten der Jagdlust widme. Zur Rhetorik der (Un-)Einigkeit 121 39 Bemerkenswert ist, dass bei gleichem Bildmaterial im Buch des Kaisers und im A Király Könyve auch die Schmuckornamentik unterschiedlich ist. Vgl. z.B. jeweils die Initialbilder der Kapitelüberschriften. sich ein gewandelter Erzählstil und eine Umstrukturierung der signifikanten Themen bemerkbar. Zusammenfassend kann man sagen, dass Viribus Unitis in seinen Doppelungen - den internen Differenzen zwischen den einzelnen Kapiteln und den externen Differenzen zwischen den beiden nationalsprachlichen Ausgaben - zu einem aufschlussreichen Medium politischer Differenz wird. Inwieweit die hier gezeigten textuellen Differenzen bewusste Redaktion oder spontanes Ergebnis der Zusammenarbeit politisch-ideologisch differenzierter Autorenkollektive sind, lässt sich schwer nachweisen. Jedenfalls ist bei aller bildlichen und verlegerischen Gleichartigkeit der Bandgestaltung auch auf sie zu achten. 39 Endre Hárs 122 Jelena Šesnić (Zagreb) Images of America from the Austro-Hungarian Periphery The Example of Croatian Travel Narratives of the United States The so-called cultural turn in the humanities, overtaking the discipline in the 1980s and 1990s, took as its rightful object of study the entire range of cultural phenomena in society at any given time, especially insofar as these could be approached as artifacts and texts to be apprehended by interdisciplinary methodologies of inquiry. 2 In literary theory and criticism this orientation often manifested itself as an expansion or inclusion of genres and forms which were previously left out of the literary canon and the purview of literary theory or literary history. 3 Travel writing, travelogue or travel narrative saw a similar fate as it was raised from the pit as a lowly, semi-literary genre to the light of critical interest being an exemplary form of a new cultural orientation as increasingly literary and cultural theorists rushed to illuminate the genre’s immense cultural potential. Instead of its former status of a foundling of literary theory and history, in a couple of decades the genre saw itself elevated as an exemplar of cultural contradictions and complexities of broadly conceived modernity and postmodernity. 4 * This work is a part of the research project “A Cultural History of Capitalism: Britain, America, Croatia”. It is financed by the Croatian Science Foundation [HRZZ-1543 CHCBAC] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences, under the project leadership of Prof. Tatjana Jukić Gregurić, Ph.D. 1 Matoš, Antun Gustav, qtd. in Antić, Ljubomir: Hrvati i Amerika. Zagreb: Hrvatska sveučilišna naklada, Hrvatska matica iseljenika 2002, p. 83. Original text: „Tako je emigracija, naročito amerikanska, malo po malo preobrazila sav naš narodni život, stvarajući naročito u Primorju, sasvim nove i posebne ljude i prilike.“ If not noted otherwise, all translations in the text are mine. 2 Assmann, Aleida: „Einleitung“, in: A. A.: Einfuhrung in die Kulturwissenschaft. 3. Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2011, p. 11-30; Grossberg, Lawrence et. al.: Cultural Studies. London, New York: Routlege 1992. 3 Duda, Dean: Priča i putovanje. Hrvatski romantičarski putopis kao pripovjedni žanr. Zagreb: Matica hrvatska 1998, p. 7. 4 Ibid., p. 9-10. It is thus the case that emigration, to America in particular, has little by little transformed the whole of our folk life, creating especially in the coastal region entirely new and especial people and circumstances. 1 1 The Rise of the Travel Narrative The same fate marked the critical fortunes of the Croatian travelogue, which also saw a revival of critical interest from the late 1980s, allowing me to take advantage of these developments as I use specific examples of the form to illustrate a particularly wrought relationship arising at the connection point of two societies - Croatian and U.S. American in the period of the Great Migration (from the late 19 th century to World War One). Perhaps like no other literary document of the period (leaving aside factual and historical accounts), the travel narratives following the fortunes of the Croats leaving the Croatian lands then incorporated into the Austro-Hungarian Monarchy offer a layered and multifaceted account of the economic, social, and cultural upheavals affecting both the emitting (Croatia) and the receiving country (the U.S.A.). To illustrate the pregnant and mythic status of the Great Migration, let me briefly refer to the way the event is registered, albeit from a retrospective distance, by Miroslav Krleža, by all accounts a representative voice of twentieth-century Croatian literature and beyond. Krleža addresses the issue of emigration if only to denounce, in the words of his young protagonist Kamilo Emerički, Jr., the colonial status of Croatia with respect to Hungary, that being one of the pivotal arguments of the entire plot of his novel Zastave (The Banners). In a fiery exchange of opinion, one of many occurring in the five-volume novel between the father and son Emerički, Kamilo bitterly reflects on „the pauperization“ of the country, where annually more than 30.000 paupers leave the place. 5 Kamilo throws in his father’s face how „Lady Misery“ rules over Croatia, which is „forced to proletarianize itself in steel mills and coal mines on the other side of the ocean“. 6 For Kamilo, thus, the catastrophic depletion of Croatian population is the evidence of Croatia’s colonial status in its arrangements with Hungary. 7 In the context of a discussion of Croatia’s incomplete modernization, begun as a result of the Croatian-Hungarian Settlement of 1868 and, later on, finding an outlet in the processes of mass emigration, Rogić and Čizmić contend that the inability of a country to manage its human, material and immaterial resources is indeed an indication of its peripheral status, akin to colonial or neo-colonial dependency. 8 The (non-existent) emigration policy is 5 Krleža, Miroslav: Zastave. Vol 1. Zagreb: Naklada Ljevak, Matica hrvatska, Hrvatska akademija znanosti i umjetnosti 2000, p. 22. Original text: „iz Hrvatske se seli godišnje više od trideset tisuća deklasiranih i pauperiziranih prosjaka u inozemstvo“. 6 Ibid., p. 23. Original text: „nije čudo da je Gospođa Bijeda zavladala našom nesretnom zemljom, osuđenom da se proletarizira u livnicama i u rudnicima s onu stranu oceana“. 7 Ibid., p. 359. 8 Rogić, Ivan; Čizmić, Ivan: Modernizacija u Hrvatskoj i hrvatska odselidba. Zagreb: Institut društvenih znanosti Ivo Pilar 2011, p. 56. Jelena Šesnić 124 a case in point: in Dalmatia and the littoral (being under Austrian administration) it was absent, while in the Hungarian part (Slavonia and continental Croatia), it was under Hungarian jurisdiction which effectively prevented the autonomous handling of the problem on the part of Croatian authorities. 9 The first official but incomplete statistics begin to appear in the 1890s and then more regularly into the 20 th century until the Great War. 10 Ante Tresić Pavičić, of whom more later, could point to the irony where the peripheral and marginal subjects of the Monarchy were christened Austrian in America at the long end of their journey from a country that apparently could afford to dispose of them during that time. 11 Consequently, he and his Croatian hosts in the States, renowned in their local Croatian American communities or members of different chapters of Croatian Fraternal Union scattered all across the country, will be at a loss to come up with a likely figure of the number of Croats in the States in the early 20 th century: their estimates range up to 400,000, 12 but it is anybody’s guess. As things stand now, the genre of travel has evidently been established in the developmental scheme of Croatian literature, 13 but there still seems to be lacking a more sustained critical attention to the array of texts that announced the first cultural contacts between the semi-modern periphery of Croatia and the rising global center of power, America, in the course of the latter 19 th and the early 20 th century. Even so, a tentative archive of Croatian-American travelogues has emerged, while in my discussion I will confine myself to several instances of textual representation of America (this shorthand will occasionally be used as the then current designation). Relative invisibility of Croatian emigrants, or, rather, emigrants from the historical Croatian lands, and the way Tresić Pavičić’s and other travelogues and related narrative forms in the period try to reverse this tendency, will be the theme of the ensuing remarks. The corpus of texts from this era that lends itself to our view (from the beginning of the great migration starting in the 1880s and going strong until World War One) and relates to the situation of Croatian lands in the Dual 9 Ibid., p. 66-67, 105. 10 Ibid., p. 66. 11 Tresić, Pavičić Ante: Preko Atlantika do Pacifika. Život Hrvata u Sjevernoj Americi. Putopisna, estetska, ekonomska i politička promatranja. Zagreb: Dionička tiskara 1907, p. 95 and Rogić/ Čizmić: Modernizacija u Hrvatskoj, p. 105. 12 Tresić, Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 51, 77. 13 Cf. Duda, Dean: Priča i putovanje; Ježić, Slavko (ed.): Hrvatski putopisci XIX. i XX. stoljeća. Zagreb: Zora 1955; Franić, Ante: Hrvatski putopisi romantizma. Zadar: Narodni list 1983; Brešić, Vinko (ed.): Hrvatski putopisi. Zagreb: DiVič 1996; Horvatić, Dubravko (ed.): Hrvatski putopis: od XVI. stoljeća do danas: antologijski izbor. Zagreb: K. Krešimir 2002; Pederin, Ivan: Hrvatski putopis. Rijeka: Maveda 2007. Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 125 Monarchy is still relatively obscure thus requiring additional research effort for its more detailed scholarly analysis. 14 It would appear that early accounts of the genre’s socio-cultural makeup settled on the boundary of the intersecting literary and social systems and were predominantly conveyed through the discourses of colonialism and imperialism, on one hand, and postcolonialism and attendant concepts on the other. 15 These accounts, however valid and relevant, still cannot fully account for the specific valence of the genre in Croatia’s wavering position between dependency and sovereignty, one of the key political issues of Croatia’s position in the historical continuum of the Habsburg rule. Nor can the Western-inflected expressions of the travel narrative’s habitus fully capture the ambivalence registered in the national accounts of the ongoing tense and fascinating dialogue of the East and West that often took place in the textual confines as a reflection of political and social exigencies of Croatia’s geographic position of closeness to „the Orient“, as it bordered on the Ottoman Empire for the better part of the nineteenth century. Therefore, the general comparative framework of travelogue theory is a theoretical scaffolding that needs to be fleshed out by particularities of the national tradition. Thus one of my tasks in this contribution will be to consider whether the genealogy of the (West)-European travelogue (as, for instance, conveniently outlined in Mary Louise Pratt’s study) complies with the genre’s development in Croatia (based on my examples) or is a theoretical abstraction with only a limited applicability in Croatian turn-of-the-century (19 th to 20 th ) context. I would like to continue addressing cultural, rather than principally political or historical, angle on the nature of Croatia’s status in the Dual Monarchy by once again referring to Krleža’s monumental and imposing take in the novel Zastave on the last decades of Austria-Hungary. Krleža’s political and ideological inclinations notwithstanding, for this occasion I am mainly interested in the way the author of Zastave frames the idea of Croatia’s political status with respect to Hungary, and how he reconstructs in retrospect the political landscape of the crisis-ridden imperial state. 16 The opening of 14 Considering the period of the Dual Monarchy, the list of authors, who focus on North America only, is considerable: besides Tresić Pavičić, there are Skalica, Carić, Iveković, Bukovac, Sirotković, Hinković, Lupis-Vukić, Kosor, and so on. 15 Cf. Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. 2. ed. London: Routlege 2007; Thompson, Carl: Travel Writing. The New Critical Idiom. New York, London: Routledge 2011. 16 Recent study of the images of Austria-Hungary in Croatian literature, however, shows a much more complex and diverse set of opinions that, according to Krnić („Von Kroatenfresser zu gute alte Zeit: Veränderungen in der literarischen Darstellung einer historischen Struktur am Beispiel der Habsburger Zeit in Kroatien“, in: Blažević, Zrinka Jelena Šesnić 126 et al. (ed.): History as a Foreign Country: Historical Imagery in the South-Eastern Europe/ Geschichte als ein fremdes Land: Historische Bilder in Süd-Ost Europa. Bonn: Bouvier 2014, p. 181-193), has much to do with the shifting domestic context. Let me reiterate that I do not intend to imply Krleža’s universal and indisputable status of the late Monarchy’s chronicler, but wish to point to a long-held set of attitudes that were conveniently subsumed by Krleža’s works, and especially his Austro-Hungarian complex. Krnić offers a whole other range of images of the same period. Cf. Petković, Nikola: A Central Europe of Our Own. Postmodernism, Postcolonialism, Postcommunism and the Absence of Authenticity. Rijeka: Adamić 2003 and Johnston, William M.: The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848-1938. Berkeley: University of California Press 2000 for or a more appreciative take on Krleža’s acerbic and contrarian attitude towards Austria-Hungary. In a somewhat different context, that of the cultural memory of the First World War, Hameršak as it were dethrones Krleža’s until recently undisputed take on the war (Hameršak, Filip: „Nacrt za pristup kulturnoj povijesti Prvog svjetskog rata iz hrvatske perspective “, in: Senker, Boris; Glunčić-Bužančić, Vinka (ed.): Dani hvarskoga kazališta. Prvi svjetski rat u kulturnom pamćenju. Zagreb, Split: Hrvatska akademija znanosti i umjetnosti, Književni krug Split 2015, p. 5-73). 17 Krleža: Zastave, Vol. I, p. 7. Original text: „u zajedničkom Ugarsko-hrvatskom parlamentu u Budimpešti“. 18 Petković: A Central Europe of Our Own, p. 179. the first volume of Zastave on the eve of the First World War presents the intricate, if increasingly dysfunctional, political hierarchy structuring the relations between the lands of the Crown of St. Stephen’s, encompassing the triune Kingdom of Croatia, Slavonia, and Dalmatia in its half-autonomous and semi-dependent relation to „the common Hungarian-Croatian parliament in Budapest“. 17 To remind ourselves, the plot of the novel picks up from the moment of a political scandal leading to a growing (and never mended) rift between the father and the son Emerički (both named Kamilo) touching on precisely the subtler nature of the ties between Croatia and Hungary. The widening gap opens between the Emeričkis for a single reason—the father represents and enacts the power of the state as pertains to Croatian ancestral feudal rights and privileges, while his son’s „scandalous“ article published in an oppositional liberal Budapest journal denounces the limitations and curtailment of his father’s, and his government’s, false position as guarantors of the implementation of the Settlement of 1868. Their argument, suffice it to say, stays unresolved on rhetorical level, and is only settled by history upon the Monarchy’s dissolution. The first three volumes of Krleža’s novel, however, hinge precisely on determining the nature of the Habsburg imperial rule in its crown lands (Croatia, in particular) that on one hand lacks the features of the clear-cut model of the Western colonialism but on the other exhibits those that Krleža terms „sub-colonial“. 18 The way the argument is framed leads us to understand that the merits of argumentation cannot rest solely on political or economic factors, but, according to Ruthner, must take into Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 127 account the sphere of culture in a broad sense - image repertoire, every-day myths, autoand hetero-stereotypes. 19 Kamilo Emerički Jr.’s diatribe thus delineates both the possibilities (such as they were) and the limits of Croatia’s sovereignty under the new imperial dispensation brought about by the long overdue restructuring of the Habsburg empire. The provocative article (banned by censorship) - inserted in the novel in its entirety 20 - intends to foreground form the beginning the untenability of Croatia’s position as it was subsumed under the Hungarian state right. The structure of the compromise first enacted between the Habsburgs and Hungarians in 1867, and then replicated on a smaller scale between Hungary and Croatia in 1868, presents, in Kamilo’s impassioned view, no less than „capitulation“ contravening the nation’s vital interests. 21 In the course of his argument Kamilo - himself politically active in Vienna and Budapest as a member of Yugoslav student associations - dissects the doomed 1868 Settlement trying to prove its illegal, thus invalid status. Showing how the two concepts of sovereignty (that of Croatia and Hungary, respectively) and state’s rights (regnum regno non prescribit leges) cannot be accommodated in the document that nevertheless purports to regulate their relationship, Kamilo ominously concludes that its dissolution may not be achieved peacefully but by bloody means, 22 as was indeed the case. However, one wonders if this merits the discursive qualification of „colonialism“, since, according to Detrez 23 in some cases it was more of an issue of affirmation of ancient „feudal rights“, than a colonial or anti-colonial struggle; here pointedly involving Croatia and Hungary. Linguistic quibbles aside, the untenability of Emerički Sr.’s position carries on throughout the novel in a conflict between the older legal frame warranting the autonomous execution of power within the triune Kingdom and repeatedly bumping against the semi-colonial provisions of the 1868 compromise severely curtailing Croatia’s right to self-government, as Krleža would have it. Another motif, however, flashes through these stringent political denunciations aimed principally at the Croatian governing elites, Kamilo’s fa- 19 Ruthner, Clemens: „,k.(u.)k. Postcolonial? ‘ Für eine neue Lesart der österreichischen (und benachbarter) Liteartur/ en.“, in: kakanien revisited, accessible on: www.kakanien-revisited.at/ beitr/ postcol/ CRuthner1/ (last access 15.1.2017), p. 2. 20 Krleža: Zastave, Vol. I, p. 15-23. 21 Krleža: Zastave, Vol. I, p. 15. Original text: „stavivši Hrvatsku pred svršen čin jedne kapitulacije, sklopljene protiv hrvatskih najvitalnijih narodnih interesa“. 22 Ibid., p. 23. 23 Detrez, Raymond: „Colonialism in the Balkans. Historic Realities and Contemporary Perceptions“, in: kakanien revisited, accessible on www.kakanien-revisited.at/ beitr/ postcol/ RDetrez1/ (last access 15.1.2017), p. 2. Jelena Šesnić 128 ther included, that touches upon my argument here - and that is America, in short. Thus, the ending argument of the first volume of Zastave, again brings on the question of mass emigration to America principally as a „political strategy“. 24 As Kamilo explains, while the country is pauperized and drained of its people, at the same time Hungarians and Germans are being settled, Hungarian grammar schools opened, and a Hungarian theater erected in the midst of Rijeka. 25 This deplorable situation is due precisely to the lack of the raison d’ état, now being reduced to colonial submission. 26 Emigration, as this exchange shows, is indeed a form of biopolitics, which served in the late Austro-Hungary to bolster certain political, geo-political, and economic goals. 27 That America haunts Krleža’s vision, and may offer an illusory deus- -ex-machina to his trapped characters, is evident also in the fifth and final volume of Zastave. The fateful, long awaited and deferred meeting between Kamilo and Ana Borongay Erdmann, his Muse and Medusa, happens in Zagreb (under a new political royal dispensation after the demise of Austria-Hungary), as Ana and her husband make arrangements to emigrate to America leaving behind the boiling European political scene, i.e. Hungarian revolution and counter-revolution - just a ripple of the defunct Empire. In an American vein for reinvention, Professor Erdely, Ana’s husband and Kamilo’s erstwhile intellectual mentor, is offered to establish and head an institute for the history of the Danube peoples in Boston. 28 America thus shines as a beacon of political rationality that exports its reason to Europe still reeling from the war. When later in their meandering conversation Ana taunts Kamilo to flee the constraining conditions of his existence, Kamilo sets down a rationale of his political engagement: „this is my homeland, and I think you have not forgotten, I was bound and still am to our destitution, that is so, I’m not an emigrant, and no matter what happens, I will never leave; somebody has got to stay here“. 29 24 Krleža: Zastave I, Vol. I, p. 360. Original text: „politička strategija“. 25 Ibid. 26 Ibid., p. 359. Original text: „jer mi uopće nemamo kulisa, jer nemamo državne politike, jer smo kolonija, da, da, kolonija, dragi i mili gospodine oče“. 27 This ominous view is outlined also by Banović’s suggestively intoned article on the Austro-Hungarian emigration policy (Banović, Branimir: „Emigracijska politika Austro-Ugarske i iseljavanje iz Hrvatske u razdoblju 1868-1914“, in: „Migracijske teme“ 3, 3-4 (1987), p. 313-323), especially towards the Slavs, where it proceeds that the Austrian part of the Monarchy only began to imsplement anti-emigration measures a few years before the First World War broke out, since by then the massive emigration had seriously depleted the reservoir of available soldiers or conscripts. 28 Krleža: Zastave, Vol. V, p. 16. 29 Ibid., p. 194: „to je moja domovina, i mislim da nisi zaboravila, bio sam i ostao vezan o našu bijedu, to je tako, nisam emigrant, i desilo se ma što, nikada ne ću iseliti, netko mora i ovdje ostati! “. Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 129 A lament similar to Kamilo’s about the pauperization of the country pervades Ante Tresić Pavičić’s multifarious considerations of the mass emigration to the United States at the turn of the century, allowing us to consider precisely how this issue triangulates relationship among Austria-Hungary, Croatia and an emerging American empire, and to place it in the protean textual format of the travelogue. Writing from Allegheny, one of the fastest growing Croatian colonies in the industrial Pennsylvania, he asserts that he „will study the [Croatian] people“ and their ways - „how they live, what reputation they enjoy, what feeling for the homeland they harbor, and what they think about their new home, 30 thus pointing to the main interest of his travel narrative. If Tresić Pavičić (writing on site) and Krleža (post-festum) - otherwise so different as writers - can still agree on the fateful presence of America in late Austro-Hungarian considerations, it proceeds that turn-of-the-century Croatian literature looked for ways to accommodate the reality of mass migration affecting the country, obliged to place the issue in the context of a political debate on coloniality and sovereignty. It is instructive that in a somewhat different context, that of social sciences, Rogić and Čizmić place this debate in the ambit of the theories of modernity and allow it to resonate in the phrases of a deferred and deterred modernization or Croatia as a double periphery, 31 to use the world-systems theory terms. Using the intersecting methodologies of cultural studies, postcolonial reading of travel narratives, imagology, and a conveniently broad model of world-systems theory, the presentation will address the internal contradictions in the two travelogues that not only qualify our view of the (Western) travel narrative, but also urge us to re-examine the established nexus of power and representation. The texts in question are Vlaho Bukovac’s account of his several travels in America (other locations are of lesser interest to us here) entitled Moj život and Ante Tresić Pavičić’s authoritative and topical Preko Atlantika do Pacifika. In other words, what transpired in these Croatian early twentieth-centuries travelogues of America is a careful and anxious interrogation and negotiation of one’s own semi-peripheral and marginal position, but also one riven with manifold cultural transfers and translations. Our Dalmatian narrators triangulate their fringe location with two magnetic centers of influence - one being the multicultural and hybrid empire as their departure point, the other, literally, a teeming nation of freedom (America, 30 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 69. Original text: „ja ću […] proučavati narod, čime se bavi, kako žive, kakav ugled uživa, kako osjeća prema domovini, što misli o novoj postojbini“. 31 Rogić/ Čizmić: Modernizacija u Hrvatskoj, p. 47, 45. Jelena Šesnić 130 for all its shortcomings, meant for Austro-Hungarian male emigrants the exemption from compulsory military service and brooked other civil liberties foreclosed to them in Austria-Hungary). Thus, for example, in his final address to Croatian and other Slavic immigrants in Chicago, Tresić Pavičić touches on the argument of freedom as an important incentive to emigration: „Here [America] we are free; nobody persecutes us; nobody jails us; we don’t have to render an account of our lives to any one, not to priest, nor to gendarme“. 32 2 Vlaho Bukovac’s Subaltern America 33 Given the relative dearth of „transoceanic“ travel narratives in Croatian literature, as pointed out by Pederin 34 - one reason being the fact that Croatia was never a colonial force, it is all the more worth considering the examples of the genre that thematize long-range maritime travel taking the narrators into the most likely destinations of migration, the Americas. It is not coincidental that both our authors featured in this analysis - Ante Tresić Pavičić and Vlaho Bukovac - come from Dalmatia, since, as Pederin points out, the region has been for centuries at the crossroads of trade and military routes, and a meeting ground of cultures of the East and the West. 35 It is also the case that politically both writers are subjects of the southernmost and one of the most backward provinces in the Austrian part of the Dual Monarchy; and that they translate the position of marginality in different ways into their authorial performance. 36 Other differences in terms of style, genre and themes will be pointed out in the remainder of this section. 32 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 242. Original text: „Ovgje smo slobodni; niko nas ne progoni, niko nas ne zatvara, niko ne vodi računa o našem životu, ni pop, ni žandar“. 33 I cull the meaning of „subaltern“ not from its original context of postcolonial theory but in its adaptation in recent debates on colonialism, (post)coloniality and the Habsburg Monarchy. Cf. Ruthner, Clemens: „K.u.k. ,Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher“, in: kakanien revisited, accessible on http: / / www.kakanien-revisited.at/ beitr/ postcol/ CRuthner3/ (access 17.1.2017), p. 5, 6. 34 Pederin: Hrvatski putopis, p. 161. 35 Ibid., p. 41. 36 Arnold Suppan („Je li Austro-Ugarska bila osuđena na propast? “, in: „Rad Hrvatske akademije znanosti i umjetnosti. Razred za društvene znanosti“ No. 525=51 (2016), p. 65-81) expounds on the spatial set-up of Austria-Hungary distinguishing three zones: 1. The Czech lands and Austria; 2. Hungary (including Croatia and Slavonia); 3. Galicia, Bukovina , Dalmatia, and, later, Bosnia and Herzegovina (70 - 71). Given this spatial grid, it is not surprising that a corresponding economic model can be derived from it placing Dalmatia close to the bottom (72). Cf. Iveljić, Iskra: „Kroatische Eliten in Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 131 Wien (1790-1918). Eine prosopographische Skizze“, in: I. I. (ed.): The Entangled Histories of Vienna, Zagreb and Budapest (18th - 20th Century). Zagreb: FF Press 2015, p. 457-498, here p. 496-497. 37 Rogić/ Čizmić: Modernizacija u Hrvatskoj, p. 80. 38 Bukovac, Vlaho: Moj život. Ed. Darko Sagrak. Zagreb: Darko Sagrak 2003, p. 37. Original text: „Tako se tužna srca uputih prema novom životu, koji mi je toliko muke zadao, ali me i mnogom čemu naučio“. 39 Rogić/ Čizmić: Modernizacija u Hrvatskoj, p. 18, 21. 40 Bukovac: Moj život, p. 35. As already established, Tresić Pavičić’s text is a prime example of the Croatian travelogue’s international interest, but other works from the period also deserve our attention, one such being Vlaho Bukovac’s lively, if sketchily written memoir-cum-travelogue Moj život (My Life [1919, 1925]), which in the first part narrates the protagonist’s experiences in America, where he travels twice (first time to the United States, second time to Latin America and the United States). In both cases, America exerts its strenuous pedagogy on a Croatian lad (Bukovac was eleven when he first crossed the ocean! ) literally and metaphorically coming from the empire’s edge, the southernmost tip of the Austrian (Dalmatian) coast in the pastoral surroundings of Cavtat, near Dubrovnik. Besides being a paradigmatic account of a subaltern’s brush with America, Bukovac’s record is also a fascinating story of the youth’s struggle against poverty and adversity to reach his artistic calling. (Bukovac would go on to become one of the leading visual artists of the European fin-de-siècle.) America in his narrative provides a foil for his growth and inner turmoil but more to the point, his attraction to America conforms with what Rogić and Čizmić have marked as an inchoate „resistance to the strategy of premodernity“ or stalled modernization in his mother country. 37 At the outset of his American episode, however, Vlaho writes in anticipation that his „new life“ „put me through a great strain, but also taught me a lot“, 38 placing the young Bukovac at a different end from Tresić Pavičić’s savvy authorial persona. That America was tough school for him, hard and inhospitable, is underscored by his narrative bearing record of poverty, manual labor, underclass status, exploitation (even by his extended family), and solidarity with strangers. Still, the rigor of his American existence must have contained some saving graces for Bukovac, coming perhaps in the way of an imaginary of freedom and self-autonomy 39 that accrued to America for real and in the mythicized accounts of returnees, the immigrants’ letters and immigration agents’ puffed up stories. Thus is Vlaho’s first contact with America legendary, since he hears stories of the country from other emigrants, often family members. 40 Bukovac, just like any other adventurous lad with a Jelena Šesnić 132 travelling itch, would have been predisposed to construe America as a utopian possibility of autonomy and freedom. 41 As already said, Bukovac comes from the fringes of Dalmatia, which figures as a contact zone of cultures (Croatian, Italian, Ottoman, Montenegrin). His route takes him from Cavtat to Dubrovnik, Trieste, Vienna, Berlin, to Hamburg and the United States. Unlike Tresić Pavičić’s comfortable first class accommodation, Vlaho and his companion travel as steerage passengers and, even though the passage lasts sixteen days, he pointedly has nothing to say on that score (contrary to Tresić Pavičić’s lengthy mediations during his travel, perhaps as a result of his leisurely observations). However, in the intervening period between the two crossings (Bukovac’s in 1866 and Tresić Pavičić’s in 1904), it was indeed the case that the transatlantic travel was revolutionized by the introduction of powerful new technologies of conveyance. Even though Tresić Pavičić’s crossing took only five days (in comparison to Bukovac’s travel by a clipper), these were sufficient for him to meditate on the power of machines and human ingenuity now confronting the Ocean and subduing it; 42 the transatlantic ship becomes for the author a steel Colossus. 43 While Tresić Pavičić is a benevolent, if uninvolved observer of the human plight before him, Vlaho is both a subject and object of narration, which fills in the details missing from Tresić Pavičić’s ethnographic descriptions—he is the one kept locked up in a juvenile correction center for months, then a store assistant in his late uncle’s store and a servant in his household, he is the one nagged by humiliation and loneliness before he manages to return home after four years. The dynamics of travel suggests how Dalmatia was plugged into the maritime routes that now included transoceanic travel but also that the travel patterns often meant recurrent or return migration. Since Vlaho earned no pay for his hard labor, he ironically refers to America as a country „where gold is carved“. 44 After his American adventure, Vlaho embarks on a maritime career sailing as a cadet for two years on a ship anchoring in ports from England to Istanbul thus confirming his proletarian status. The appeal of the call for self-invention beguiles Bukovac so much so that he crosses the ocean once again. His return to America next time happens via Hamburg, Colon, Panama to Callao (Peru), where he lands his first paying job thanks to his competence in English. When the factory closes down in the 1870s, Vlaho proceeds to „the famed California“ 45 accompanied by his mater- 41 Rogić/ Čizmić: Modernizacija u Hrvatskoj, p. 86. 42 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 6. 43 Ibid., p. 10. 44 Bukovac: Moj život, p. 47. Original text: „Mogao sam se vratiti zadovoljan iz zemlje, iz koje se dubi zlato“. 45 Ibid., p. 69. Original text: „u toliko spominjanu i toliko hvaljenu u to doba Kaliforniju“. Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 133 nal uncle. This time, however, the pedagogy delivered by America turns to be transformative, indeed. In one of his many turns of fortune, Bukovac finds himself literally thrown into a new job and trade, portrait-painting, which is nothing more than a business and a skill that saves him from destitution. The constitutive opposition of America and Europe is rendered final and absolute by his understanding of painting as art, the knowledge that could never be realized in America - upon which he returns to Europe, acquires his artistic education and launches a career of a cosmopolitan Croatian artist. His artistic development, therefore, runs counter the usual course, as Bukovac suggests, since he discovered his calling in America, rather than in Europe, where even American artists went in search of international recognition. 46 Soon enough, Vlaho decides to leave America for good: „America for me was a hard and rough school that brought me a lot of pain so that I was no longer drawn to it“. 47 On the way back, he and the uncle survive a horrendous train accident, and then a storm and a fire at sea to finally reach the idyllic and pastoral landscape of their native Župa Dubrovačka. Bukovac’s story is a rare, if fascinating instance of the first-hand account of emigrant’s life in America enframed by a travel narrative, showing how mobility is a key structural element of his Bildung narrative that will only deepen with his subsequent movements to Paris, Montenegro, Vienna, Belgrade, England, Prague, and across Croatia. Not only was travelling instrumental to his maturation but was a channel that led him to the discovery of painting as art and a vocation allowing us to surmise that without his travels, Bukovac would not have become the artist that we know. The American scene was thus a site of the traumatic emergence of his artistic self but without the constitutive conditions for its sustenance. While the pastoral conditions of his antiquated and pre-modern village existence are a welcome backdrop against the severity of American condition into which he has been thrown (for instance, in a penal institution for boys where he is confided in a twist worthy of a Victorian novel), Bukovac’s flight from the family’s bosom is a necessary severance of ties and a needed expansion of his life chances provided by America in this period of his life. In the ambit of our discussion, Bukovac’s poignant first-person account testifies to a non-dominant position of the narrative subject in narratives of migration (including, but not restricted to, travelogues), and sets his text against Tresić Pavičić’s display of cultural and scientific authority. The reader is made to experience things with Bukovac and grow, alongside him, in her 46 Ibid., p. 77. 47 Ibid. Original text: „Amerika je za mene bila jedna tvrda i oštra škola, pri kojoj sama [sic] mnogo muka vidio, i ništa me više tamo nije privlačilo“. Jelena Šesnić 134 appreciation of the world at large, while Tresić Pavičić’s text fixes the reader as a recipient of the author’s worldly wisdom that brooks no disagreement. The different tone of the two texts is certainly due to a generic variation since Bukovac is likely to put premium on the development of the self, and press all the preceding events in the service of his exemplary life. (This is not to suggest that his narrative displays undue levels of egotism, certainly no more so than minimally required by a memoir; on the contrary, it is precisely the first, travelling part of his narrative that casts him both as a veritable picaro and a proletarian from the imperial fringe.) Also, Bukovac’s text is a reminiscence, while Tresić Pavičić is concerned with presenting the scenes evolving before him, where he can flaunt his intellectual and emotional grasp of the matter. 48 Vučetić, Šime: „Ante Tresić Pavičić“, in: Pet stoljeća hrvatske književnosti. Vol. 61: Ante Tresić Pavičić. Zagreb: Matica hrvatska, Zora 1963, p. 7-25, here p. 11. 49 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 43. 50 Ibid. 3 Ante Tresić Pavičić’s Discursive De-colonizing of Croatia Šime Vučetić’s superlative appreciation of Tresić Pavičić’s accomplishment in his travelogue is nowadays shared widely by Croatian literary historians, since, among others, there Tresić Pavičić comes forth as „an urban writer“ 48 grappling with the American technological, industrial and urban reality. Indeed, this concurs with Tresić Pavičić’s ambition stated in the beginning of his travel (and amply fulfilled in the text), that he intends not just to describe the outside but to delve into the people’s interior and capture the psychology of this „new and young world“. 49 This ambition is duly reflected in his veritably epic itinerary: starting from the French port Le Havre he reaches New York in a few days; from there he proceeds to Pennsylvania (Pittsburgh and Allegheny); next to Chicago; smaller colonies in Calumet (Michigan), Ely (Minnesota) and Crested Butte (Colorado); from there to California across the Rockies and the Great Desert; from California via Denver to Saint Louis (Missouri); back to Chicago and Allegheny; a detour to the Niagara Falls; New York and back home. Tresić Pavičić’s text came out in Zagreb in 1907, as a result of his several-months’ worth of travel in the States in the early 1905 with the intention of visiting more significant Croatian settlements or communities and giving „conferences“ there on the subjects of interest, both domestic and emigrant. This results in a curious mix of professed ignorance of America tempered with the narrator’s expertise and authority that he dispenses in his observations. 50 As Vučetić contends further, this was the time when Tresić Pavičić Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 135 turned increasingly towards politics and away from purely literary interests, meaning that the U.S. travelogue fits into the writer’s new orientation. His travels take place between December 31, 1904 and April 13, 1905. The main protagonists of his travelogue, besides the narrator himself, are Croatian emigrants in the United States scattered across the country and largely politically unorganized. 51 As for Tresić Pavičić’s political inclinations at the time, Vučetić reminds us that in 1906 Tresić Pavičić was elected as a deputy to the Imperial Council in Vienna for the district Brač-Hvar-Vis moving simultaneously and with an ever greater consistency from the Party of Rights to the positions espoused by the Croatian-Serbian coalition. 52 Even though Tresić Pavičić’s observations are situated in the present of narration, still there is a strong tendency by the author to assume „an essayistic mode in his travelogue“ suggesting that „the travel is […] only an occasion for him to engage in intellectual and emotional considerations“. 53 This is confirmed also by Vučetić, who contends that in his travelogues in particular Tresić Pavičić combines poetic, philosophical, sociological and political interests couched in his romantic notion of the nation. 54 Concerning Tresić Pavičić’s rabid attitude towards Austria-Hungary (followed more closely in Ivo Petrinović’s monograph Politički život i nazori Ante Tresića Pavičića [Political Life and Ideas of Ante Tresić Pavičić]), Pederin notes his intransigent attitude with some dismissal, pointing out that Tresić Pavičić fails to mention some good points of the Austrian governance in Dalmatia, or the fact that not a few officers and officials in charge were local Croats. Elsewhere in his text, Pederin allows for a more nuanced view of the Austro-Hungarian dominion in Croatia by suggesting how the 1868 constitutional arrangement between Croatia and Hungary mandated Croatia’s „limited sovereignty“ and insisting that the Agreement halted the Hungarian expansionist pretensions to access the sea via Dalmatia and instead limited them to the port of Rijeka. 55 The very use of travelogue should enrich and complicate the context of our foregoing debates on (semi)colonial paradigm and world-systems model that help us to situate Bukovac’s and Tresić-Pavičić’s discourse. The travel narra- 51 At the time, as Ferluga-Petronio points out, he had no way of knowing that he would come back to the States in the capacity of the ambassador of the Kingdom of Serbs, Croats, and Slovenes fifteen years later (Ferluga-Petronio, Fedora: „Putopisi Ante Tresića Pavičića“, in: Tomasović, Mirko (ed.): Književno djelo Ante Tresića Pavičića. Split: Književni krug 1995, p. 105-115, here p. 112). 52 Tresić Pavičić’s fate during the First World War reads as a political thriller and can be further explored in Ivo Petrinović’s study (Politički život i nazori Ante Tresića Pavičića. Split: Književni krug 1997). 53 Pederin: Hrvatski putopis, p. 94. 54 Vučetić: Ante Tresić Pavičić, p. 10. 55 Pederin: Hrvatski putopis, p. 65. Jelena Šesnić 136 tive, from its early use as a textual companion to colonization, settlement and imperial conquest, was always heavily invested in the colonizer’s agenda. 56 As a symbolic and rhetorical extension of territorial gains and imperialist goals, it took a genre a while to shake off its dishonorable political affiliations before it could open itself up to a new orientation, coming to the fore in the culture of romantic national awakening sweeping across Europe at the turn of the 19 th century and onwards. 57 Not only has genre been recalibrated in order to claim discursive competence and mastery over new cultural systems (rather than their territorial overtaking), but the author’s position has been significantly revised as a consequence. We could argue that the two narratives, alongside generic difference, display also different kinds of appreciation of their imperial and colonial contexts of emergence. Striving to cleanse itself of any political insinuation, Bukovac’s text may be said to occupy a neutral ground between the explicit acknowledgment of imperial discourse on one hand, and, interlocked with it, the discourse of „multiethnicity, multilingualism, and multiculturalism as the key components of power“ 58 in the Monarchy. This notion of soft power contained in and transmitted by the Monarchy’s institutions and engrained in its dual set-up is further refined in some other recent reflections on the matter. For the Croatian side, the Hungarians were the villains, as the reconstitution of the Monarchy in 1867 presupposed the two „states with radically different structures“, wherein the Magyar part „conceived of itself as a Magyar national state“, as Stourzh clarifies, while other groups were „national and linguistic minorities“. 59 Given such a dispensation, it is perhaps easier to understand Krleža’s and Tresić Pavičićić’s animus towards Hungarians. Such, however, was not the case presumably in Cisleithania, encompassing Dalmatia (and other Croatian regions), which approached albeit in a messy way, what Sluga calls „the principle of nationality“ and „multinational sovereignty“. 60 Such a tessellated power principle would seem to correlate with more recent cultural reconsiderations of Austria-Hungary’s imperial reach. Michaela Wolf contends that recent „analyses put the relationship between power and culture at the heart of their research on Habsburg history“, 56 Thompson: Travel Writing, p. 130-167. 57 Franić: Hrvatski putopisi romantizma, p. 20. 58 Suppan: Je li Austro-Ugarska bila osuđena na propast? , p. 65. 59 Stourzh, Gerald: From Vienna to Chicago and Back: Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America. Chicago and London: The University of Chicago Press 2007, p. 148. 60 Sluga, Glenda: „Bodies, Souls and Sovereignty: The Austro-Hungarian Empire and the Legitimacy of Nations”, in: „Ethnicities“ Vol. 1, No. 2 (August 2001), p. 207-232, here p. 208. Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 137 pointing out that „the Habsburgs exerted a pseudocolonial hegemony politically subduing and economically oppressing the ,Other‘ in the course of their imperialist advance“. 61 Still, it is difficult to imagine that this qualified judgment and culturalist reading would have captured the gist of the experience of political and economic subordination, as observed by Tresić Pavičić, Krleža, and, more subtly, Bukovac. 62 However, what exactly is Tresić Pavičić’s investment in the matter of Austrian and Hungarian administration of the Croatian lands? Arguably, it is riven with some ambiguity and ambivalence, as my ensuing remarks will show. Tresić Pavičić, having acquired his education in Vienna, an imperial and multicultural center of learning, was transformed into a cosmopolitan imperial intellectual as testified by his language competence (although only scantily in English) and his breadth of cultural references. Even though his elitist cultural demeanor, subtended by rather frequent classical, mythological and scholarly references, bears testimony to his study of philosophy, history and geography crowned by a doctoral degree in philosophy from the University of Vienna, 63 Tresić Pavičić disavows his embedding in the imperial intellectual elite. He would rather identify with the Croatian folk, even though his elitist and classist attitudes occasionally mar his observations. The first and most obvious marker of his ambivalent position comes on the steamer that takes him on the transatlantic voyage - he travels in first class, not in steerage as an average emigrant at the time. When he embarks on the American soil, he is not subjected to the tedious and potentially excruciating medical examination at the Ellis Island immigrant receiving station. He is thus free to imbibe impressions of New York that bear marks of his refined and learned aesthetic taste shared by the cultured imperial elites of Europe eager to snub the cultural pretentions and ostentation of American upstarts. 64 61 Wolf, Michaela: The Habsburg Monarchy’s Many-Languaged Soul. Translating and Interpreting, 1848-1918. 2012. Trans. Kate Sturge. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 2015, p. 5-6. 62 I would like to acknowledge Nikola Petković’s valuable contribution in the on-going discussion on East/ Central Europe that he has consistently read in the light of (anachronistic) postmodernity and (post)colonialism. His approach wavers from taking into account Central Europe’s geopolitics but also acknowledging that it „run[s] counter to its cultural history“ (Petković, Nikola: A Central Europe of Our Own, p. 10-11). Also, even though he doesn’t refrain from discussing the Croatian status as „colonial“ per se (referring to his readings of Krleža), he also stresses the culturalist inflections of the colonial (close to Ruthner’s useful heuristic model [Ruthner, Clemens: K.u.K. ,Kolonialismus‘; cf. Bobinac, Marijan: „The Habsburg Legacy from a Postcolonial and Postimperial Perspective“, in: „Umjetnost riječi“ LIX 3-4 (2015), p. 239-260, here p. 245-246]). 63 Iveljić: Kroatische Eliten in Wien, p. 472. 64 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 27-28. Jelena Šesnić 138 In the previous remarks it was my aim to outline a colonial context of reception for Tresić Pavičić’s complex authorial position, while in this section it is my intention to pursue a more nuanced reading of the way the acquisition of cultural competences worked in the Monarchy and for creation of its elites. This cultural model has to do with the periphery and center dynamics that was operative in the emergence of pan-national cultural imperial elites that had for centuries sustained the empire, Tresić Pavičić’s case being no exception. As an intellectual he was unmistakably a product of the K. und K. education machine. Also, as an active politician he was part of an imperial administration and order that reached out to all corners of the empire: it left nothing outside its purview and managed to leave the impression that each culture was important, even a „fringe cultural setting“. 65 Petković accounts for the cultural dynamic permeating the Central Europe throughout its history by applying the notions of the „benevolent hegemonism“ at the center on one hand and, on the other, the „lands on the margins of Habsburg hegemony“. 66 Additionally, he points to the Habsburg’s centripetal colonizing scheme that proceeded form the peripheries close-by to the center (Vienna, Budapest, even Prague), where ideally every citizen could realize his rights in the ambit of the imperial bureaucracy. 67 Tresić Pavičić is not a conquistador or an imperial agent arrived to take possession of the place in the name of the empire, but is himself ambivalently poised between his culturally privileged and politically vetted status and his peripheral colonial status (literally from the fringes of empire, Dalmatia). The gesture of imperial gazing, having been slightly diffused in modern-day travel narrative, is retained when Tresić Pavičić observes (cultural and social) American conditions on the backdrop of his extensive European experience. In this line of thinking Tresić Pavičić replicates the imperial discursive position of a qualified observer who manages and directs the reader’s understanding of the scene. His attitude to American architecture, art, the layout of American cities, their theater, opera, ballet, their journalism, social habits and other emanations of the national spirit evinces condescension and occasionally contempt when set against his superior imperial and cosmopolitan taste and habits: „Real art is hard to find. It would not be consistent with the commercial spirit of this huge foundry“. 68 65 Špikić, Marko: „Konzerviranje i posljednji dani“, in: M. Š. (ed.): Max Dvořák: Katekizam zaštite spomenika. Zagreb: Naklada Jesenski i Turk 2016, p. 9-42, here p. 42. 66 Petković: A Central Europe of Our Own, p. 160. 67 Ibid., p. 158-159. 68 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 102. Original text: „Prave umjetnosti ne trebamo tražiti. Ne bi odgovarala trgovačkom duhu te ogromne kovačnice“. As I have shown elsewhere, Tresić Pavičić resorts to the strategies of „othering“ in order precisely Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 139 Yet America is too complex a country to elicit only one kind of response. There are several factors that reduce our traveler to a bewildered observer in a context that defies his understanding and previous experience: the technological sublime and American landscapes, their vastness and size. He is awed by, and presents lengthy but almost poetical, descriptions of his visit to a Pittsburgh steel mill, as if admiring the sublime beauty of nature: „awesome impression“, „a symphony composed by Lucifer himself “, „A site that in its wild, Hades-like frightfulness is as magic and romantic as the steepest gorges and mouths of the elevated Bosnian mountains, […] the Neretva or the Vrbas river; […] the Gubavica waterfall, on the Cetina, near Zadvarje“. 69 The traveler is in awe of the country’s aggressive and reckless appropriation of modernity that supersedes anything going on in Europe: in world-systems parlance, he knows he has reached the center of the world when he looks at U.S. metropolises of New York and Chicago or when he enthuses about the sheer size of industrial and food production in the States. 70 In such a constellation, during the great migration in the greater part of the 19 th century, the whole of Europe was the peripheral source of human labor for the expanding American labor market. During that time, as Rogić and Čizmić point out, Croatian lands evince the status of a double periphery, the case being that Austria and Hungary were themselves peripheral to the centers of new industrial and political order in the European north. 71 Especially when visiting Pennsylvania, possibly the most heavily industrialized area in the States at the time, seemingly the huge steel factory which drew masses of workers to its mines and mills, Tresić Pavičić is struck by the conditions of workers, Croatian and others, and he readily extends the parallel between the colonial exploitation at home and capitalist oppression in the States accusing the Austrian government of condoning „a trade more foul than the slave trade of yore“. 72 Structurally, the administrative elites in Austria and Hungary are akin to the capitalist managerial elites of the steel and industrial trusts running the United States. The sheer size, systemic or- to reduce and manage the level of his own anxiety due to his position; Cf. Šesnić, Jelena: „Croatian American Literature as a Transculturated Discourse“, in: Mazurkiewicz, Anna (ed.): East Central Europe in Exile. Vol. 2: Transatlantic Identities. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2013, p. 13-30, here p. 19. 69 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 91. Original text: „u … simfoniji, uglazbljenoj od samog Lucifera“; „Prizor je … u svojoj divljoj, hadskoj grozoti čaroban, romantičan, kao najobornije gudure i ždriela u visokim planinama Bosne, … Neretve ili Vrbasa; … vodopad Gubavica, na Cetini, kod Zadvarja“. 70 Ibid., p. 103. 71 Rogić/ Čizmić, Ivan: Modernizacija u Hrvatskoj, p. 45. 72 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 95. Original text: „vode gadniju trgovinu, od trgovine roblja u prošlim viekovima“. Jelena Šesnić 140 ganization and the technological infrastructural set-up that he witnesses in his numerous visits to factories, mines, places of business and banks, testify to the inevitable rise of America as a new global center that, as Tresić Pavičić remarks, is on the way to surpass Europe. The plight of the Croatian and other Slavic immigrants is better apprehended, although no less unpalatable, against the backdrop of this veritable world-systemic perspective that Tresić Pavičić employs in his economic considerations. Simultaneously, such deployment of the term „colonial“, wavering between the Croatian condition in America and the one back home, places it more definitively in line with recent culturalist and discursive articulations of the term turning it into a „heuristic metaphor“ 73 . Further application of Tresić Pavičić’s politicized deployment of the colonial paradigm happens in the ambit of his final, culminating address delivered to predominantly Croatian, but also pan-Slavic audience in Chicago („especially numerous were the Czechs“). 74 However, the scope of Tresić Pavičić’s discourse extends in manifold directions, as it must perform several tasks. One of them, according to Pederin, 75 shared by the genre as a whole attends to the process of nation-building that had to some extent been consumed by the end of the 19 th century (as Tresić Pavičić’s experiences on his travels show, not with complete success, though). Other applications refer to the internationalization of the Croatian question, to the extent that Tresić Pavičić’s text has placed the Croats „in relation to other European nations“, regulated „our relations to them, and generated a relationship to the South Slavs“. 76 This implies that Tresić Pavičić could simultaneously deploy an anti-colonial and a nationalist paradigm in order to create a vision of the nation as a political community that hinges on the „popular theory of state and contains all the benefits and liabilities of Croatian patriotism“, 77 but also that he does it on the backdrop of the elusive boundaries of national belonging as charted out by the uncontainable Croatian diaspora in the United States. Even when he exhorts his audience to honor the intangible threads that bind them to their homeland, he also develops a model of pragmatic assimilation that would turn them into American political subjects. 78 American conditions have thus allowed Tresić Pavičić to announce a new de-colonizing model of the Croatian nation that has yet to become a reality. Additionally, insofar 73 Ruthner: „k.u.k. ,Kolonialismus‘“. 74 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 234. Original text: „a osobito brojno Česi“. 75 Pederin: Hrvatski putopis, p. 101. 76 Ibid., p. 101-102. 77 Ibid., p. 102. 79 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 231, 234. Images of America from the Austro-Hungarian Periphery 141 as he evokes a diasporic attachment to the image of the homeland, this would imply yet another, transnational, node of emergence. 79 Thus the neo-colonial conditions from which he starts out spawn an anachronistic process of nation-formation that marshals at various points the processes otherwise kept apart, or scrambles the chronology entailed in the course of imagining and construction the nation. 80 If, according to Petković, the 1868 agreement between Croatia and Hungary made Croatia’s position „sub-colonial“ 81 thus marking a national trauma, then Tresić Pavičić will trace its haunting legacy in the erased identities of the Croatian emigrants, in their lack of national consciousness, solidarity or cultural capital that could have better equipped them in their transition from „stalled“ modernity 82 and „tyranny“ 83 strangling the Croatian lands of Austria-Hungary to the irrepressible modernity of America. Croatian travel narratives of America, including those of Vlaho Bukovac and Ante Tresić Pavičić, have offered one of the most complete renderings so far of the impact of the age of migration in the context of the European periphery to which Croatia had at the time belonged. 79 Cf. Jacobson, Matthew Frye. Special Sorrows: The Diasporic Imagination of Irish, Polish, and Jewish Immigrants in the United States. Cambridge, London: Harvard UP 1995. 80 Cf. Gross, Mirjana; Szabo, Agneza: Prema hrvatskome građanskom društvu. Zagreb: Globus 1992. 81 Petković: A Central Europe of Our Own, p. 228. 82 Rogić/ Čizmić: Modernizacija u Hrvatskoj, p. 47. 83 Tresić Pavičić: Preko Atlantika do Pacifika, p. 237, 238. Jelena Šesnić 142 Drago Roksandić (Zagreb) The First World War A History of Hatred in South-East Europe? 1 Chauvaud, Frédéric; Gaussot, Ludovic (ed.): La Haine. Histoire et actualité. Rennes: Presses universitaires de Rennes 2008. 2 Galtung, Johann: „Gewalt“ u. Krieg und Frieden“, in: Wulf, Christoph (ed.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1997, p. 913-926. 1 When contemplating the topic of my paper, I set out to explore hatred in the First World War, particularly during the Great War in Southeast Europe, in the Balkans. I chose this topic with a sense of anxiety, fearful of the traps on the path of questioning the often mythologised national tragedies and traumas, and rather fearful of trivialising those marginalised, or more often forgotten, mostly unknown tragedies and traumas of the countless millions of „common people“ from 1914 to 1918. A sense of anxiety is born also from the fact that it is hatred which consumed the „common people“ in an active or passive fashion, as its actors or victims. What is „hatred“? Frédéric Chauvaud and Ludovic Gaussot published a collection of articles in 2008 titled La haine. Histoire et actualité, offering a historical approach to hatred as a phenomenon which has aged alongside humanity: La haine n’est ni tout à fait un sentiment ni tout à fait une émotion, mais plutôt une passion funeste. Pour se nourrir et prospérer, elle a besoin de temps. Balzac écrivait que les meilleures haines, ce sont les haines entre soi, dans la famille. Toutefois, comme l’écrivait Tocqueville, elle peut aussi surgir sur la scène publique. Elle peut être plurielle, systématisée, et donner naissance à des „doctrines“. 1 Christoph Wulf, in his notable work Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie (1997), wrote a chapter entitled „Zufall und Geschick“ („Happiness and chance“), in which he discusses happiness and love, longing, fear and evil, but not hatred. Hatred is implicitly, as well as explicitly, covered in two articles by Johann Galtung in „Gewalt“ („Violence“) and „Krieg und Frieden“ („War and peace“). 2 Obviously, hatred and violence can be put into various interrelations. Galtung’s typological differing of, on the one side, ,direkte Gewalt‘ and ,indirekte‘, or ,strukturelle Gewalt‘, with its many responses and variations, and on the other side, ,ökologische Gewalt‘ and ,kulturelle Gewalt‘, as well as ,sichtbare und unsichtbare Auswirkungen von Gewalt‘, can be very useful. By typologising the ways of waging wars (Art und Weisen der Krieg führung), Galtung distinguishes - following evolving social formations (primitiv, traditionell, modern, postmodern) - key values that make wars worth waging (Reproduktion, Land, Kapital, Information). Wars may be waged between social communities, but also within them, not least between as well as within. Within the confines of this paper it is impossible - following Galtung, for example - to enter and explicate the phenomenology of hatred in the First World War in Southeast Europe. One can merely touch upon some of its facets which one finds relevant as a historian. 2 The Catholics of Bosnia and Herzegovina most readily accepted the Austro-Hungarian occupation of the land in the summer of 1878. The Orthodox inhabitants were of divided opinions, while the Muslims forcefully opposed the occupation. Notwithstanding the recommendations of the Sublime Porte, the strength of the resistance from the Muslim community in an array of places around Bosnia and Herzegovina, had great and not clearly fathomable dimensions. The centre of the resistance was in Sarajevo. The Muslims of Sarajevo were ready and willing to include Orthodox, Catholic and Jewish inhabitants in the defence of the city, as well as stop mass violence towards non-Muslims during the tensest hours. Finally, the people of Sarajevo headed by Salih-ef. Hadži-Loja, a theretofore brigand and renegade, euphorically supported the resistance and led to its irrationalisation at the moment when collapse was at hand - one might feel that all hope was finally reposed in hatred. From the morning of August 18, when the city was already surrounded and the Austro-Hungarian regiments were fast approaching, the expected conflagration with the „Germans“ had an influence on the popular masses in Sarajevo: A tough and merciless struggle was fought at the Hiseta. The Austrians were fired upon from the houses, from Ali-Pasha’s Mosque and its minaret. Women were firing upon the enemy from the minaret and the mosque’s courtyard. Men and women perished, but did not surrender. A bloodbath ensued. The Austrians were burning down houses and killing everyone. The soldiers climbed and threw women from the minaret. Others met them at the bottom and finished them off. The mosque was filled with blood. A cloud of smoke rose to the heavens. The Koševo stream cut through the fire, but the Hiseta was burned down. The smoke of fires rose in other parts of Sarajevo. 3 3 Skarić, Vladislav: Izabrana djela. Knjiga I. Sarajevo i njegova okolina od najstarijih vremena do austrougarske okupacije. Sarajevo: Veselin Masleša 1985, p. 309. Drago Roksandić 144 The occupation of Bosnia and Herzegovina was started on July 29 th , Sarajevo was taken on August 17 th , Bihać on October 19 th and Kladuša on October 20 th 1878. In a traditional society on the cusp of Ottoman modernization, the relationship towards the occupation was culturally and confessionally conditioned. However, the forcefulness of the resistance among the Muslims was often inversely proportional in comparison to social status. The lower classes were much more strident in their defence of Ottoman Bosnia in Sarajevo than the higher classes, with much more impassioned exclusiveness and hatred towards the occupying forces than was shown by the higher classes. Thirty-six years later, in 1914, many Muslims, Bosniaks, went headfirst into the Great War against Serbia as Austro-Hungarian subjects, often with loyalty and in a state of rapturous excitement. They did this as did many mobilised Bosnian Croats, as well as the denigrated Serbs of the time. The patterns of exclusivity remained similar, if not the „same“, as was the logic of clientage. The identifying attributes had shifted, the notions of „we“ and „they“. In that moment, the „framing of hatred“ had been legalised. The effects were crushing: „Referring to their right of self-defence in wartime, the Austro-Hungarian regiments [in Serbia - D. R.] would perform the most grievous crimes and atrocities, wholly out of step with the rules of engagement, to the astonishment of foreign observers.“ 4 „The instruction for behaviour towards the population of Serbia“, ordered: „War has led us into an enemy land, populated by a citizenry filled with fanatical hatred towards us. [...] This population deserves no humanity of compassion. Furthermore, compassion is to be seen as a fatal flaw, as in wartime even pleasantries endanger the safety of one’s own troops.“ 5 I shall leave aside the Croats of Bosnia and Herzegovina who were mobilised into fighting against Serbia in 1914 and turn to the Muslims of Bosnia. The Austro-Hungarian authorities had managed to put different classes of Bosnian Muslims into a relationship of clientage, indirectly supporting their national integration. The national aspirations of the Orthodox relative majority in Bosnia and Herzegovina, the aspirations of the Kingdom of Serbia after 1903 and 1908 in particular, during the annexation crisis, the defeating results of the Balkan Wars of 1912 and 1913 for the Ottoman Empire and Muslims in South-East Europe in general, led many Bosnian Muslims, members of various classes theretofore loyal to Austria-Hungary, to achieve a historically novel mode of enmity towards the Serbs. The assassination in Sa- 4 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck 2010, p. 72. 5 Ibid. The First World War 145 rajevo markes the de facto beginning of an internal war against the Serbs in Bosnia and Herzegovina. The Ottoman-German concord of the summer of 1914 further legitimised this enmity. All the ancient opinions of history and the insecurities of the future were impassioned when the invasion of Serbia began that year. As the Austro-Hungarian army had lost over 274 000 soldiers and officers during the first year of the war - among them undoubtedly many Bosnian Muslims - the framing of reciprocal hatred had expanded exponentially. 6 The hatreds of 1878 and 1914 in Bosnia and Herzegovina are hatreds of discontinuity. They resemble others present in the Balkans. In a more general way, these two examples indicate inter-ethnic/ confessional/ national exclusiveness and hatred in South-East Europe in the modern era. 3 The key problem in our endeavour is the fact that „hatred“ - when it concerns historians - is more of an object of study for psychohistory than historical anthropology. Many historians even today recoil at the prospect of any „psychologizing“ in historical science. When it comes to the First World War, not even the inspirational book published some ten odd years ago by Antoine Prost and Jay Winter Penser la Grande Guerre. Un essai d’ historiographie (2004), 7 does venture a look into the (socio)psychological aspects of the war. They took up another approach, using the very productive concept of ,les cultures de guerre‘. This still does not solve the problem of hatred as a notion for inquiry. In the article by François Dosse „Histoire des mentalités“, published in the exceptional handbook Historiographies, I-II: Concepts et débats (2010), the concept of „representations“ - again concurrently with the ,cultural turn‘ - presupposes the concept of „mentalities“. 8 The same author wrote the article „Histoire et psychanalyse“ (Vol. I, pp. 341-356). Expounding, on the one hand, an opinion that both disciplines are faced with similar problems, he proposes a different opinion, earlier formulated as a problem: „Une des questions centrales qui traverse les rapports de la discipline historique avec la psychanalyse est de savoir, pour l’historien, s’il faut se limiter à des cas individuels dans ses extrapolations sur l’inconscient ou s’il peut élaborer des généralisations collectives“. 9 I am of the opinion that hatred in the modern 6 Ibid., p. 72. 7 Prost, Antoine; Winter, Jay: Penser la Grande Guerre. Un essai h’historiographie. Paris: Éditions du Seuil 2004. 8 Dosse, François: „Histoire des mentalités“, in: Delacroix, Christian et al. (ed.): Historiographies. I-II: Concepts et débats. Vol. I. Paris: Éditions Gallimard 2010, p. 220-231. 9 Ibid., p. 343. Drago Roksandić 146 era can be researched only if one does not overlook neither the individual nor the collective aspects. According to Dosse, the best options for an interdisciplinary communication are at the boundaries of „histoire/ mémoire“ - which is in concurrence with the ,cultural turn‘, but with the added point that today there is a prevailing interest for the „culture of remembrance“, apart from the interest for critically questioning the (socio-)psychological aspects of the past experience of individual and/ or collective actors. This kind of intellectual vacuum enabled the world success of Robert D. Kaplan’s book Balkan Ghosts, which has - notwithstanding all criticism - been palpable since 1993. 10 Still, Kaplan’s ahistorical reasoning for Balkan hatred and violence is unacceptable. 11 Returning to hatred as a psychohistorical concept, I find that Lucien Febvre’s article „Comment reconstituer la vie affective d’autrefois? La sensibilité et l’histoire“ - published in 1941 in Annales d’ histoire sociale and also in his Combats pour l’ histoire in 1952, has lost none of its provocative vigor. 12 For Febvre, the precondition for a future historical science is an interdisciplinary opening towards psychology. However, it remains to be seen what this means specifically when it comes to hatred. In this sense, we have set upon ourselves the challenge of researching hatred in South-East Europe from 1914 to 1918. These days, the issue must be consistently looked into, as research by historians has been psychologically, or psychosocially conditioned. Jean-Marc Charron is one of the voices explaning this historiographical practice: L’historiographie se donne, certes, comme principe premier de laisser parler ses sources sans leur poser, a priori, une théorie préfabriquée. Nous savons pourtant que l’historien n’est jamais neutre; il porte avec lui son monde, ses sensibilités, ses grilles d’analyse, dont il peut suspendre temporairement l’usage pour se mettre à l’écoute de ses documents. Cette épochè n’est, par contre, jamais totale et, dans les faits, la recherche historique se présente plutôt comme un mouvement de va-et-vient entre l’objet de l’analyse et l’univers théorique et pratique du producteur de sens […]. Ce 10 „[…] the place where terrorism and genocide first became tools of policy. Chosen as one of the Best Books of the Year by The New York Times, and greeted with critical acclaim as ,the most insightful and timely work on the Balkans to date‘ (The Boston Globe), Kaplan’s prescient, enthralling, and often chilling political travelogue is already a modern classic.“ (http: / / www.amazon.com/ Balkan-Ghosts-Journey-Through-History/ dp/ 0312424930 / 04/ 05/ 2014/ , last access 2.12.2017) 11 Katarina Luketić has recently published her book Balkan: od geografije do fantazije (Zagreb, Mostar: Algoritam 2013), which contains a very measured and disciplined criticism of Balkan Ghosts. 12 Febvre, Lucien: „Comment reconstituer la vie affective d’autrefois? La sensibilité et l’histoire“, in: Annales d’histoire sociale, 1941, repris in: Combats pour l’histoire. Paris: A. Colin 1992, p. 221-238. The First World War 147 13 Charron, Jean-Marc, „Psychohistoire et religion: perspective, défis et enjeux“. Available online: http: / / www.unites.uqam.ca/ religiologiques/ no2/ charron.pdf (last access 3.5.2014). 14 I have mentioned one of them, but their numbers are great. What is more, the „indigenous“ historiographies from the Balkans would never produce so much hatred without international support. procédé n’est pas étranger à la psychanalyse qui se définit essentiellement comme un mode d’écoute et de lecture. 13 In other words, it is legitimate for us to pose the question whether some historical works might be motivated by hatred. This question cannot be overlooked as national historiographies of South-East Europe, with all their hallmarks and trademarks, have been agents for recycling exclusivity, intolerance and many other emotions, as well as hatred, precisely when it comes to the heritage of the First World War. The same can be said of historians around the world that had found a passionate purpose for their own „truth“ of the Balkans. 14 The renewed quarrels on the assassination in Sarajevo on June 28 th 1914, on the ,Kriegsschuldfrage‘, are often a déjà vu, further evidence that the ,Vergangenheitsbewältigung‘ is in essence still an open process in all South-East European countries. They are further evidence that the history of Southeast Europe or the Balkans is a prototype which shows how European historiography and culture deal with themselves. 4 Returning to the examples of Sarajevo from the beginning of this paper, we must approach yet another open issue. The First World War was a third war (after the First and Second Balkan Wars) in a row for many peoples in South- East Europe, be they subjects of the Habsburg Monarchy or the Ottoman Empire - in many ways dissimilar, but also alike. However, if we register all the wars in any part of South-East Europe from the Eastern crisis of 1875- 1878 to 1914-1918, the phenomena of violence, war and hatred between all the involved parties, were a significant marker for a kind of transgenerational experience in that part of the world. One notices the phenomena of latent simultaneous hatreds, of various connotations and divergent pathways. When and how each of them would be activated, are questions reserved for concrete historical analysis. South-East Europe recycles and revitalises hatred coupled with war violence, but with effects that are unknown to Western Europeans on their own soil. (Here I do not touch upon the experience of the colonial wars.) Thus the people of Southeast Europe, the people of the „Balkans“, are „othered“. This brings about the obvious ,missions civilisatrices‘ of the European powers Drago Roksandić 148 in the Balkan in partibus infidelium, or a flurry of clientelistic „responses“ from the South-East towards many European powers, depending on the geopolitical conjunctures. In other words, South-East Europe enters the era of modernising transformation with many civilizational setbacks, as well as a preponderance of national, often illusionary projects, with the functions of realising imperial wishes far beyond the bounds of Southeast Europe. Furthermore, these projects were concurrent to the neighbouring national projects. „The Balkans“ of the era reflected all its conflicts within itself, as well as imperial conflicts from without. To conclude - the ,endogenous Balkans‘ does not exist without the ,exogenous Balkans‘. Furthermore, the ,Balkan slaughter‘ of 1912-1918 cannot be understood should it be reduced to its ,primordialism‘, as much as the societies were rural, the economies agrarian, and the cultures traditional, marked by their ethnoconfessionality. They are a part of the same global stage. These are par excellence modern ,Balkan slaughters‘, performed with the use of every weapon available - primitive and modern - and which legitimise all hatreds, those present from times long ago, up to those most recent, newly created. The First World War was a culmination of this process in South- East Europe, inasmuch as it was a ,total war‘. The extent of mobilisation of the human and material resources for war on all sides presented them with a need for a ,total‘ mental confrontation of the warring sides in ways without historical precedent. The economically backward Southeast corner of Europe paid the relatively highest price. 15 The accumulation of human suffering was followed with the accumulation of interrelated hatreds. 5 Central European utopias were en vogue during the 1980s and 1990s. Not many scholars of the time set out to research Balkan utopias. I shall look into two Croatian examples from 1912 and 1918, those of Antun Gustav Matoš and Milivoj Dežman Ivanov. They both saw a common, Balkan-wide exit 15 This had fatal consequences for one of the newly created countries, the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes. The Kingdom of Serbia had war losses of such staggering magnitude that disqualified it from having any hegemonic role in the South Slav state. As noted by Marie-Janine Calic, Serbia had lost 1.2 million people in the First World War. 53 per cent of men between the ages of 18 and 55 lost their lives, and 264.000 were invalids. Almost all of the cattle were destroyed or taken from their owners. Many Croatian, Serbian, Slovene and Bosnian losses in the Habsburg Monarchy were also without precedent and have not been properly researched, but their magnitude was different than in the case of Serbia. Besides that, with the exception of the Italian front and the Adriatic maritime operations, there was no fighting on their territories. The First World War 149 from the current state as the only solution for South-East Europe, in their different situations and in different ways, holding true to the motto „The Balkans to the Balkan peoples“. In 1912 Matoš took refuge in the idea of the Balkan élan vital, while Dežman in 1918 looked towards the birth of a new world order after the Great War. Antun Gustav Matoš (13 June 1873-17 March 1914) is a key author in Croatian literature during the fin de siècle. Today it is commonly seen that none of his contemporaries thought of Croatia in such a critical fashion and that no one had dreamt of Croatia as he did. Bearing this in mind, one can easily understand the feelings with which he met the victories of the Balkan allies in 1912 in the war against the Ottoman Empire: The Christian Balkans may fall only due to discord and spite - so history teaches us. Keeping this experience in mind, our brothers, brothers by blood and grievous ardour, enter the war with a common motto: The Balkans to the Balkan peoples, carrying on their bayonets this new era, and era of liberty and the liberated, a self-managed federalism against the dreaded historical and aristocratic particularism. 16 It is probably easier to understand his anger caused by the European criticism of the Balkan allies: „It is a fact that Italy had started this war with a flagrant disregard for international law and an act of piracy, during which Enverbeg carried himself with greater courage than the slavish Italians.” 17 One can understand Matoš’s political analysis which holds his Croatian imaginary together: The current war in the Balkans is a continuation of the unjustified war of Tripolitania, a negation of the highest Balkan confederacy and a disruption of attempts at Ottoman reform. In fact this is a struggle meant to pacify the Bulgarians and the Serbs, heretofore enemies, a reconciliation of the courts of Belgrade and Cetinje, as well as an attempt that Balkan Slavdom carries on with the mission of its past, to defend the cross from the infidels, to defend Europe from Asia, the Asian from the Altai breed, culture from barbarity, […]. 18 Therefore, after every occasion of Croatian history from the 15 th to the 20 th centuries, of which many were significantly marked by the experience of the boundary between civilisations and religions, Matoš is infatuated with the idea of a „Balkan confederacy“ and a new, racially attributed, clash of civilizations! He finds himself irritated by European notions of justice and right, the notions of the same Europe which this „Balkan confederacy“ should defend in the future: 16 Matoš, Antun Gustav: „Rat i mir“, in: Pečalba. Zagreb: Društvo hrvatskih književnika 1913, p. 165-173. 17 Ibid. 18 Ibid. Drago Roksandić 150 Italy pinches Tripoly, shedding not one drop of blood, and Europe, filanthropic, humanistic Europe, applauds. Ever since 1389 a river of Serbian blood has boiled and curved through Kosovo, and Bulgarian blood flows in Macedonia, while Europe is aghast - why in the name of God have peoples who have bled for centuries taken up arms yet again! 19 His crescendo serves a counterpoint with Balkan bellicosity compared to ,Croatian silence‘: „I love the absence of war, but I love this Bulgarian and Serbian war more than our Croatian peace. Pity the dead, but also pity us who live and keep silent while watching.“ 20 The Bulgarian-Serbian-Romanian war sobered up his view, but he died before Princip’s shots in Sarajevo so we cannot speak of what he would have said had he lived to experience them. Milivoj Dežman Ivanov (30 April 1873-24 June 1949) - one of the leading lights of Croatian intellectual culture and journalism during the fin de siècle - published a practically forgotten brochure, The Yugoslav Question (Južnoslavensko pitanje), in Zagreb in March 1918. The booklet was formed from his comments published in the Zagreb daily newspaper „Obzor“ in January and February of the same year. Liberated from the illusions of Matoš, and staying true to the same motto of „The Balkans to the Balkan peoples“, Dežman as a liberal, remained convinced that notwithstanding the outcome of the war, Yugoslav unification was unavoidable. Following a lucid and complex journalistic analysis he apodictically concludes: Our unification must come about, [...] in the singularly possible postwar way: with the victory of the popular principle and democracy - these principles are necessary prerequisites for the union of the Habsburg kingdoms, as well as for a Yugoslav state, based on a covenant between the new monarchy and the new Serbia. 21 Dežman’s illusions followed quite a different path from those of Matoš. It is quite fascinating that this protégé of Bishop Strossmayer did not falter under the strain brought about by the ocean of hatred and evil that had contaminated the Yugoslav project between 1912 and 1918. Even hatreds - all of them, as well as those in the Balkans - have their boundaries, as fragile or temporally limited as they might be. 19 Ibid. 20 Ibid. 21 Ivanov, [Milivoj Dežman]: Južnoslavensko pitanje. Zagreb: Dionička tiskara 1913, p. 89. 6 They were not alone in their Balkan illusions. Marion Isabel Newbigin (1869- 1934), a Scottish geographer and biologist, wrote in 1915 for „The Scottish Geographical Magazine“: The First World War 151 In a very early issue of this Magazine (vol. II., 1886), Mr. A[rthur] Silva White, then Secretary of the Society and joint-Editor of its Magazine, published an article, illustrated by maps, on ,The Balkan States.‘ In the course of this paper the author says, ,Of Turkey in Europe, therefore, very little is left,‘ and again, ,The Turks are everywhere giving way, and their dominion is retreating before the rapid march of civilisation.‘ If these statements were true some twenty-eight years ago, much more are they true at present. 22 In 1915, in the cul-de-sac of the World War, Great Britain was home to more varied opinions of the Balkans, Balkan traditions and civilising missions than today. We do not choose our favourite when it comes to Newbigin or Kaplan. As historians we merely must contribute to the humanisation of a sad chapter in European history, all the while accepting that its final words have not yet been written. 22 Marion I. Newbegin: “The Balkan Peninsula: Its Peoples and its Problems (With Coloured Orographic Map and Sketch-Maps)”, pp. 281-303, in: The Scottish Geographical Magazine, Vol. XXXI., January 1915, No. 1. December 1915, Nr. 12, p. 281. Drago Roksandić 152 Milka Car (Zagreb) Theater im Krieg Koexistenz zwischen Nationalem und Imperialem? * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Batušić, Nikola: Uvod u teatrologiju. Zagreb: Grafički zavod Hrvatske 1991, S. 98. 2 Ebd., S. 99. 3 Ebd., S. 102. 4 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1. Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen: Narr 1994, S. 180. In diesem Kontext ist folgende Stelle beachtenswert: „Theater erscheint auf diese Weise als eine mit den ‚primären‘ Zeichen einer Kultur immer schon gegebene Möglichkeit einer sozusagen ‚ursprünglichen‘ bedeutungserzeugenden Praxis, die von Anbeginn auf die es umgebende Kultur in ihrer Gesamtheit bezogen ist. Denn indem Theater die materiellen Hervorbringungen der Kultur als seine eigenen Zeichen, als ästhetische Zeichen verwendet, macht es den Zeichencharakter dieser materiellen Hervorbringungen bewußt und weist dergestalt die umgebende Kultur ihrerseits als bedeutungserzeugende Praxis in allen ihren heterogenen Systemen aus.“ (Ebd., S. 197) Nikola Batušić betont in seiner Einleitung in die Theatrologie, 1 die Geschichte der Theaterkunst sei nicht von der Kulturgeschichte als Ganzer zu trennen. Um eine bestimmte Epoche theaterwissenschaftlich zu erfassen, sei es notwendig, das Theaterwesen nicht nur aus politischer, soziologischer, philosophischer und kulturgeschichtlicher Perspektive zu beschreiben, sondern auch die transnationalen Entwicklungslinien zu rekonstruieren. Dafür ist es nach Batušić unumgänglich, die „grundlegenden Theaterstoffe so umfassend wie nur möglich“ 2 zu sammeln und zu rekonstruieren, um sie analysieren zu können. Das „Repertoirebild“ 3 sei die beste Quelle für solche Analysen. Somit sind Theaterinszenierungen unter anderem Artefakte, die unmittelbar auf Mechanismen und Machtstrategien verweisen, durch die kulturelle Identitäten konstruiert und reifiziert werden. Erika Fischer-Lichte betrachtet das Theater als ästhetisches semiotisches System, 4 das durch seine Teilnahme an nicht-ästhetischen Codes „prinzipiell in Opposition“ zu anderen ästhetischen Systemen steht. Das Theater wird als Kulturphänomen aufgefasst, das als solches den sozialen und politischen Erschütterungen unmittelbar ausgesetzt ist. Die exogenen Bedingungen, insbesondere die ideologischen und politischen Spannungen der Kriegszeit, werden hier in Hinblick auf ihre Auswirkungen auf das Repertoirebild des Kroatischen Königlichen Landestheaters in Zagreb (Kraljevsko zemaljsko hrvatsko kazalište) im Ersten Weltkrieg dargestellt. Die Arbeitshypothese lautet: Das Theater fungiert in Kriegszeiten als primäres kulturelles Medium im Sinne der Mobilisierung, Stärkung und Betonung einer bestimmten ideologischen Position. Es wird davon ausgegangen, dass kriegsbedingte Identitätskonflikte auch im Theater ausgetragen werden. Damit wird die wichtige Frage nach imperialen und nationalen Narrativen erhoben, das heißt nach Narrativen, die zu dieser Zeit im Theater imaginiert, potenziert oder abgelehnt werden. Theater wird dabei als eine „Form von Öffentlichkeit“ verstanden, „als Forum, in dem gesellschaftliches Engagement und Partizipation an den Kriegsanstrengungen zum Ausdruck kommen“. 5 Das Organisationsmodell des kroatischen Landestheaters entsprach den k.k. Modellen eines staatlich subventionierten Provinztheaters, musste jedoch in den Krisenzeiten die materielle Basis zusätzlich sichern. Aufgrund der unumgänglichen kommerziellen Ausrichtung, aber auch bedingt durch die Tatsache, dass es das einzige Theaterhaus in der Stadt war, umfasste sein Repertoire alle Stufen bürgerlicher Unterhaltung. Somit kann man von einem eklektischen Repertoire sprechen, in dem Klassiker ebenso wie anspruchsvolle moderne Stücke, aber auch Publikumserfolge inszeniert wurden. In diesem Sinne wird das Repertoirebild der Kriegsjahre 1914-1918 anhand der Leitfrage analysiert, wie sich die wachsenden politischen und sozialen Spannungen im Theaterleben niederschlagen. Werden in Kriegszeiten die Mechanismen erkennbar, die die Institution Theater mit imperialen oder nationalbildenden Diskursen verknüpfen? Wie stark sind die imperialen Loyalitäten und wann kommt es zu einem verstärkten Konkurrenzverhältnis zu den nationalintegrativen Diskursen? Zu rekonstruieren ist der historische Erfahrungshorizont, in dem die Mechanismen der nationalen Mobilisierung und einer potentiell bevorstehenden südslawischen Integration mit dem Diskurs über die dynastische Loyalität der Österreichisch-Ungarischen Monarchie konkurrieren. Der Kriegsausbruch bringt die Zerrissenheit der Gesellschaft zum Vorschein, die von anfänglicher Kriegsbegeisterung rasch in Richtung nationaler und integrativer Programme wechselt. Auszugehen ist von der These Bernd Hüppaufs vom Ersten Weltkrieg als einem epochalen Bruch, dem „Einbruch von nie Dagewesenem“ infolge der Tatsache, dass die „alte Grenze zwischen Krieg und Nicht-Krieg, Schlachtfeld und zivilem Leben“ 6 aufgehoben wurde. Diese These, wie auch den stär- 5 Baumeister, Martin: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918. Essen: Klartext 2005, S. 19. 6 Hüppauf, Bernd: „Einleitung“, in: Ders. (Hg.): Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein/ Ts.: Athenäum 1984, S. VII-XI, hier S. VII. Milka Car 154 keren Druck des österreichisch-ungarischen Regimes, belegen die Angaben Slavko Batušićs 7 in der bisher überzeugendsten knappen Übersicht über die Kriegszeit im Zagreber Theater, wonach die Militärkräfte im Jahre 1914 einige Ensemblemitglieder serbischer Nationalität gefangen setzten (Borivoj Rašković, Aleksander Binički, Joso Cvijanović und Avram Andželo) und in Ketten in ein Lager in der Nähe des Neusiedler Sees in Ungarn brachten. Die Kollateralschäden machen sich in weiteren institutionellen Erosionsformen bemerkbar, so musste im Jahre 1915 die Theaterleitung die Entlassung des gesamten Theaterkollektivs verfügen. Dies wird von der Leitung als „Entlassung der Theatermitglieder und Neuregelung der Engagements- und Gagenverhältnisse“ 8 bezeichnet. In jedem Fall kann von einer Extremsituation im Theater gesprochen werden, in der die asynchrone Entwicklung des Theaters in Zagreb und die Dominanz der politischen und ideologischen Faktoren klar zum Ausdruck kommen. Der Kriegsausbruch im Jahre 1914 schlägt sich sofort im Theaterleben nieder, zwar nicht unmittelbar im Spielplan, ist er direkt am Wandel der Pressestimmen abzulesen. Hinsichtlich der ununterbrochenen Produktion im Zagreber Theater kann man von Versuchen sprechen, die „scheinbare Rückkehr zur Normalität“ 9 aufrechtzuerhalten. Diese Normalität ist jedoch nur auf den ersten Blick haltbar und an dem nicht wesentlich geänderten Theaterrepertoire ablesbar. Jedoch schreibt Slavko Batušić von „materiellen und personellen Schwierigkeiten“ und einer „allgemeinen Atmosphäre der Unsicherheit“, 10 was Hüppaufs Auffassung des Ersten Weltkrieges als eines „epochalen Einschnitt[s] in der Geschichte Europas“ 11 bestätigt. Der Theaterhistoriker Nikola Batušić stellt für die Kriegszeit ein nur „vegetierendes szenisches Leben“ 12 fest, vor allem das „künstlerische Programm“ 13 wurde stark gekürzt. Slavko Batušić thematisiert auch den damals aktuellen Vorschlag, das einzige Zagreber Theaterhaus in ein Militärkrankenhaus umzuwandeln, da Zagreb nahe der serbischen und italienischen Kriegsfront gelegen war, was 7 Batušić, Slavko: „Vlastitim snagama (1860-1941). Za Prvog svjetskog rata 1914-1918“, in: Cindrić, Pavao (Hg.): Enciklopedija HNK u Zagrebu. 1984-1969. Zagreb: Naprijed 1969, S. 79-128. 8 N.N.: „Die Entlassung der Theatermitglieder und die Neuregelung der Engagements- und Gagenverhältnisse“, in: Agramer Tagblatt 263 (5.5.1915), S. 7. 9 Krivanec, Eva: Kriegsbühnen. Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien. Bielefeld: transcript 2012. 10 Batušić: Vlastitim snagama, S. 79. 11 Hüppauf: Einleitung, S. VII. 12 Batušić, Nikola: Povijest hrvatskoga kazališta. Zagreb: Školska knjiga 1978, S. 328. 13 Batušić: Einleitung, S. 126. Theater im Krieg 155 jedoch nicht in die Tat umgesetzt wurde. Der bisherige Theaterintendant Vladimir Treščec-Branjski wird am 24.11.1914 zum Obergespan der Gespanschaft von Bjelovar und Križevci berufen. Deshalb wird das Theater in der Kriegszeit von einem Künstlerkonsortium (Josip Bach, Srećko Albini und Ivo Raić) geleitet. Die Vakanz der Posten des Dramaturgen und Szenographen sind ein klares Zeichen der Krise und können als Beweis für die These von der bisher noch nie dagewesenen „totalisierenden Dynamik“ des Ersten Weltkrieges genommen werden, einer Dynamik, die sich auf der „Ebene der Kriegsziele, der Methoden, der Mobilisierung und der Kontrolle der Bevölkerung“ 14 auswirkte. Zudem wurden zahlreiche Mitglieder des Schauspielensembles einberufen, was sich stark auf die Gestaltung des Spielplans 15 auswirkte. Über 50 Mitglieder des Ensembles 16 wurden mobilisiert, unter anderen auch der spätere Theaterregisseur Branko Gavella. Auch fielen zwei Ensemblemitglieder (Rudolf Dürr und Stjepan Fekeža) bereits im ersten Kriegsjahr. Die vor dem Krieg rege Gastspieltätigkeit musste eingestellt werden. Während des Krieges lässt sich ein leichtes Ansteigen deutschsprachiger Stücke im Repertoire registrieren. Diese Tatsache ist in mancher Hinsicht der politischen Kriegspropaganda zu verdanken, was auch die Anwesenheit des regierenden Banus Skerlecz bei einer Liebelei-Reprise im Jahre 1916 belegt. Damit wird die These von Boris Senker in seinem enzyklopädischen Eintrag gestützt, nach der sich das Theater in Kriegszeiten „direkt den tagespolitischen Pflichten“ 17 unterzuordnen hat und die politischen und militärischen Instanzen aktiv an der Repertoireplanung mitzuwirken haben. Dies kann als Folge jenes Beschlusses gedeutet werden, der für Zagreb ebenso wie für den übrigen Raum der Monarchie galt, nämlich Autoren aus Feindesländern 18 zu boykottieren (hier aus dem Artikel von M. Šehirov aus „Večernja pošta“ in Sofija, übertragen in „Hrvatska“). Jedoch wurde die verordnete „Säuberung der Spielpläne“ nicht konsequent durchgeführt, zum Beispiel wurden Klassiker-Aufführungen aus Ländern der gegnerischen Kriegsparteien nach wie vor inszeniert. Um die grundlegenden Tendenzen nachzeichnen zu können, die in der Kriegszeit dominieren, muss auch der transnationale Kontext beachtet wer- 14 Baumeister: Kriegstheater, S. 11. 15 Alle Angaben zum Repertoire fußen auf dem Nachschlagewerk: Hećimović, Branko (Hg.) Repertoar hrvatskih kazališta 1840-1860-1980. Bd. I, Zagreb: Globus 1990. 16 „Program kazalištne sezone 1915-6“, in: Obzor 327 (15.8.1915), S. 2. 17 Senker, Boris: „Drama“, in: Hrvatsko narodno kazalište u Zagrebu, 1840-1860-1992. Zagreb: HNK 1992, S. 61-104, hier S. 82. 18 „[…] jer je u odlučujućih faktora u cieloj monarkiji još na početku rata došlo do zaključka, da se imadu bojkotirati pisci neprijateljskih država.“ N. N.: „Evropski rat i hrvatsko kazalište“, in: Hrvatska 963 (19.1.1915), S. 27. Milka Car 156 den. Inwiefern entspricht die theatergeschichtliche Konstellation dem gesamtmonarchischen Kontext? Sind Parallelentwicklungen in anderen europäischen Metropolen der Zeit feststellbar? Zwei neuere Studien, in denen komparative Ansätze zur Darstellung von Kriegsbühnen verfolgt werden, bieten eine Basis für solche Vergleiche. In der Studie Kriegsbühnen der österreichischen Theaterwissenschaftlerin Eva Krivanec 19 werden vier europäische Theatermetropolen miteinander verglichen. Ihre methodologischen Prämissen sind an Martin Baumeisters 20 Studie Kriegstheater angelehnt, in der Massenkultur und Theaterleben in Berlin während des Ersten Weltkriegs analysiert werden. Sowohl Baumeister als auch Krivanec zeigen bestimmte Aufgaben des Kriegstheaters auf. Die Ergebnisse beider Studien vor Augen, lassen sich auch im Zagreber Landestheater folgende typische Funktionen des Theaters in der Kriegszeit auflisten: 1. Kriegsmobilisierung und zentripetale Tendenzen; 2. Dominanz des Unterhaltungstheaters; 3. nationale Repräsentation auf der Bühne; 4. „Scheinbare Normalität“ - moderne Stücke im Spielplan; 5. Landestheater und südslawische Homogenisierung. 19 Krivanec: Kriegsbühnen. 20 Baumeister: Kriegstheater. 21 „[…] kako vladar očinskom skrbi prati naš kulturni razvitak za stalan i uspješan napredak zemlje i naroda u svim granama kulturnog života.” N. N: „Njegovo Veličanstvo hrvatskom kazalištu“, in: Narodne novine 34 (12.2.1914), S. 1. 22 „[…] na braniku svoje dinastije, s kojom ga spajaju duboko usadjeni osjećaji loyalne vrijednosti i podaničke odanosti, u tom činu milosti ponovno ugledati dokaz, da onaj 1 Kriegsmobilisierung und zentripetale Tendenzen auf der Bühne Im Februar 1914 wurde das Theater, die „kulturelle Heilsstätte“, mit einer königlichen Subvention von 40 000 Kronen vor einer weiteren finanziellen Krise gerettet. Die regierungsnahen „Narodne novine“ sehen diesen Akt als einen Beweis der Gnade und der „väterlichen Fürsorge für den kulturellen Aufschwung des kroatischen Volkes“. 21 Im Artikel unter dem Titel „Ihre Majestät dem kroatischen Theater“ wird das Patronat des Kaisers gefeiert, wie auch die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfsbereitschaft in schwierigen Zeiten. Die Loyalitätsdiskurse werden aktiviert: Gerade in der Krise sei es notwendig, nach wie vor treu „am Bollwerk ihrer Dynastie zu bleiben, mit der sie die tief verankerten Gefühle der loyalen Treue und der untertänigen Ergebenheit verbinden“, was nochmals die postulierte „Harmonie und [den] Einklang“ des kroatischen Volkes mit der Dynastie bestätigt und zum „noch engeren Zusammenhalten unseres Volkes mit dem Kaiser und dem erlauchtesten regierenden Haus“ 22 beitragen sollte. In dieser Apotheose des mon- Theater im Krieg 157 harmonični sklad, koji veže narod s prejasnom dinastijom i s uzvišenom osobom plemenitog našeg siedog vladara, nije tek prazna rieč, već da taj sklad ključa kao živ izvor, donoseći i narodu i njegovim kulturnim interesima i težnjama potpuno razumievanje i potporu. [...] u još tiesnijem prijanjanju našeg naroda prejasnom vladalačkom domu u dobrim ali i u težkim časovima.“ (Ebd.) 23 Leonhard, Jörn; Hirschhausen, Ulrike von: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vadenhoeck&Ruprecht 2009, S. 32. 24 D.: „Kazalište i rat“, in: Narodne novine 218 (11.9.1914), S. 1-2. 25 “onaj čestiti hrvatski časnik koji je s ratišta poslao našoj kazališnoj upravi novce za svoje stalno mjesto u kazalištu, [...] rješio je jedno kulturno-socijalno pitanje.“ (Ebd.) 26 Batušić: Vlastitim snagama, S. 127. archischen Kults wird die Notwendigkeit der Loyalität derart betont, dass allein das schon Zweifel an seiner Selbstverständlichkeit weckt. Als Kohäsionsfaktor fungiert die repräsentative und als väterlich imaginierte Instanz des Kaisers. Die monarchische Repräsentation hat ab dem späten 19. Jahrhundert die Aufgabe, die Auswirkungen des Neoabsolutismus zu kompensieren und zu versuchen, „persönliche Bindungen zwischen Volk und Souverän zu suggerieren“. 23 Die Subvention wird als Gelegenheit ergriffen, die Symbiose von programmatischer proslawischer Orientierung und treuer Loyalität zur Monarchie zu markieren. In der zweiten Jahreshälfte, nach dem 28. Juni 1914, bestimmen Kriegsberichte und erste unmittelbare Reaktionen auf den Krieg nicht nur die Nachrichten, sondern auch die Theaterrezensionen. Die propagandistische Maschinerie wird sofort in Gang gesetzt. Man stellt die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, Theatervorstellungen zu halten, während sich „unsere Monarchie im gigantischen Kampf für ihre vitalen Interessen“ 24 befinde. Die Existenzberechtigung des Theaters sei im kulturell-sozialen Bereich zu suchen, das Theater habe die Aufgabe einer ,erzieherischen‘ Institution zu erfüllen, die das Volk moralisch unterstützt. Die Anekdote von einem Offizier, der direkt von der Frontlinie das Geld für seinen Abonnentenplatz nachgeschickt habe, 25 wurde gern als ein exemplarischer Beweis für die moralische Rolle des Theaters in Krisenzeiten angeführt. Slavko Batušić thematisiert den Druck der Verhältnisse und hebt die Entscheidung der Theaterleitung hervor, einen systemkonformen Kurs einzuschlagen und der „erlauchteten Dynastie“ 26 Loyalität und Treue zu erweisen. Das Genre des Militärlustpiels und Gelegenheitsstücke kommen diesem Druck entgegen, indem die Kriegsverhältnisse dem Publikumsgeschmack angepasst werden. Monarchische Ideale, Notwendigkeit der Gemeinschaftsbildung und martialischer Charakter werden in Gelegenheitsoperetten des kroatischen Komponisten, Schauspielers und Regisseurs Gjuro Prejac (1876- 1936) ab Oktober 1914 unterhaltsam inszeniert. Eine erste Operette trägt Milka Car 158 den programmatischen Titel Für König und Heimat (Za kralja za dom, 1914). Hierin wird die Herrschertreue mit typischen regionalen Motiven und Melodien aus dem kroatischen Zagorje kombiniert. Im nächsten Jahr schreibt Prejac im gleichen Geiste die Operette Fräulein Korporal (Gdjica kapral, 1915), ein Gelegenheitsstück, das Kriegsfolklore und schwarz-weiße Feindbilder unterhaltsam inszeniert. Eine andere Möglichkeit der Kriegsdramatik nutzt der kroatische Dramatiker Milan Begović in seinem Lustspiel Ein leichter Dienst (Laka služba, 1915), das er unter dem Pseudonym Xeres de la Maraja inszeniert. Darin wird die defätistische Einstellung gegen den Krieg verhöhnt. Dieses Drama wurde verboten, weil das Publikum vehement gegen die satirische Darstellung von Kriegsdienstverweigerern 27 protestierte. Die Dramatisierung der Piratennovelle des kroatischen Realisten August Šenoa aus dem Jahre 1915 Čuvaj se senjske ruke (dt. Der Judas von Zengg) 28 von Gjuro Prejac erfüllte zwei Funktionen: einerseits die nationale Selbstvergewisserung im Kampf gegen das Fremde, anderseits die Stärkung der Kampfmoral. Der historische Stoff wurde dem aktuellen Moment angepasst - der Kampf der frühneuzeitlichen Uskoken gegen die venezianische und türkische Herrschaft an der Nordadria wurde mit der Parole „Tod für Italien! “ 29 neu inszeniert. Im Repertoireverzeichnis sind die zahlreichen Benefizvorstellungen für das Rote Kreuz, für die Verwundeten, für die Familien gefallener Soldaten 30 , für Kriegsinvalide und andere zwar nicht mehr angeführt, sie haben allerdings regelmäßig stattgefunden. So sind in der Presse immer wieder Ankündigungen solcher Gelegenheitsaufführungen und -stücke und Veranstaltungen mit wohltätigem und karitativem Charakter zu finden, die auch in Zagreb, wie es in der ganzen Monarchie der Fall war, auf „Ansätze einer klassenübergreifenden Gemeinschaftsbildung“ 31 hinweisen. Das karitative Engagement des Theaters „zu Zwecken der Wohltätigkeit und Philanthropie stellte ein lange eingeübtes Muster der gesellschaftlichen Rechtfertigung des Theaters zumal in Krisenzeiten dar“. 32 Die kulturelle Bedeutung wird in der Kriegszeit nach wie vor als die „einer Institution mit eminentem Bildungsauftrag“ 33 definiert, 27 Senker: Drama, S. 82. 28 Šenoa, August: Der Judas von Zengg. Leipzig: Schulze & Co. 1902. 29 N.N.: „Dramatizacija Prejčeva Čuvaj se senjske ruke“, in: Jutarnji list 1311 (3.9.1915), S. 2. 30 N.N.: „Listopad u hrvatskom kazalištu: senzacije. Proslov u spomen palim junacima“, in: Ilustrovani list 45 (25.11.1914), S. 2. 31 Baumeister: Kriegstheater, S. 43. 32 Ebd., S. 43. 33 N. N.: „Kazalištni tjedan. Zasluga naše kazališne uprave“, in: Novosti 62 (29.9.1914), S. 4. Theater im Krieg 159 während die humanitäre Rolle des Theaters sich nicht nur in Aufführungen zu karitativen Zwecken erschöpft, sondern auch vom Ziel getragen wird, die materielle Lage der Theaterleute zu bessern. Im Jahre 1917 wird das Theater eine Zeitlang infolge Kohlen- und Heizkörpermangels geschlossen. Der Theaterbesuch lässt zu Kriegsbeginn nach, um später jedoch unerwartet hoch anzusteigen, was zum Teil auf die Flüchtlingsströme in die Hauptstadt des Dreieinigen Königreichs zurückzuführen ist. Die Theaterleitung reagierte mit Gelegenheitsoperetten, Kriegsbildern und Unterhaltungsdramatik auf den Kriegszustand. Diese Kriegsproduktionen decken sich mit Tendenzen in der ganzen Monarchie, allerdings scheiterte die Kriegsmobilmachung bereits am heterogenen Zielpublikum. Im Theater kommt die Kriegsmüdigkeit bereits ein Jahr nach Kriegsausbruch zum Ausdruck, wie die Aufführung der klassischen Antikriegskomödie von Aristophanes Lysistráte (Ženska urota, 1915) zeigt. In einem ausführlichen Beitrag in „Jutarnji list“ 34 erklärt Boro Pavlović sogar die Sinnlosigkeit des staatlich geführten Krieges. Nach einer angekündigten, aber aus technischen Gründen abgesagten kinematographischen Vorstellung von Kriegsbildern im Theater ist in der oppositionellen Zeitung „Male novine“ 35 im Jahre 1915 zu lesen, man habe genug von Kriegsbildern, sie müssten nicht noch im Theater gezeigt werden. Von offiziell gemachten Annäherungsversuchen an die ungarische Reichshälfte der Monarchie zeugt ein umfassender Artikel über das Zagreber Nationaltheater, den der kroatische Schriftsteller Milutin Cihlar 1916 in deutscher Sprache in „Pester Lloyd“ veröffentlichte. Es gehe darum, „Kennen und Verstehen in litteris et in artibus [zu ermöglichen] - hoffen wir, daß der gute Anfang eine fruchtbare Fortsetzung findet“. 36 In der kroatischen Presse wird darauf sofort negativ reagiert. So schreibt Zvonimir Vukelić in der exklusiv kroatisch orientierten Zeitung „Hrvatska“ 37 dezidiert, was für die Ungarn gut sei, sei für die Kroaten nur im negativen Kontext zu verstehen, womit die nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich (1867) entstandenen Ressentiments angesprochen werden. Jedenfalls ist eine Zunahme der ungarischen Stücke im Repertoire augenfällig, gespielt werden unter anderen Imre Földes, Ferenc Molnár, Gabór Drégely, Sándor Bródy und Dezső Szomory. Dies verdankt sich jedoch nicht nur den Propagandazwecken, sondern auch der regen Übersetzungstätigkeit der Schauspielerin und Autorin Nina Vavra. Insgesamt entfallen zwei Drittel 38 des Repertoires auf Dramen aus Ländern der Mittelachse. 34 Pavlović, Vuk: „Aristofan i rat“, in: Jutarnji list 1317 (9. 3. 1915), S. 3. 35 N.N.: „Ratne slike u hrvatskom kazalištu“, in: Male novine 353 (27. 12. 1915), S. 2. 36 Cihlar, Milutin: „Fünf Jahre kroatisches Theater“, in: Pester Lloyd 8 (8.1.1916), S. 11. 37 Vukelič, Z.: „Kriza u hrvatskom kazalištu“, in: Hrvatska 263 (28. 10. 1916), S. 2. 38 Nikčević, Sanja: „Dramski repertoar HNK u Zagrebu za vrijeme Prvoga svjetskog Milka Car 160 rata ili nastavak dotadašnje poetike, politike i organizacije“, in: Senker Boris, Vinka Glunčić-Bužančić (Hgg.): Dani Hvarskoga kazališta. Prvi svjetski rat u kulturnom pamćenju. Zagreb, Split: Književni krug Split 2015, S. 356-382, hier S. 362. 39 Krivanec, Eva: „Staging War Theatre 1914-1918“, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, abrufbar unter: http: / / encyclopedia.1914-1918-online.net/ article/ staging_war_theatre_1914-1918, (Zugriff 2.1.2017). 40 Vukelič, Z.: Kriza, S. 2. Im Original auf Deutsch. 2 Dominanz des Unterhaltungstheaters Auch in der Kriegszeit feiert das bürgerliche Unterhaltungstheater seine Triumphe mit traditionellen Formen aus dem 19. Jahrhundert. Ebenso wie im Gesamtraum der Monarchie sind im Repertoire des Zagreber Landestheaters Operetten und Unterhaltungsstücke vertreten, die mit der Dramenproduktion konkurrieren. Dies deckt sich mit dem Befund von Eva Krivanec 39 in ihrer Monographie, wo es allerdings in Anbetracht der dem obersten Theaterhaus Kroatiens zugedachten Sendungsmission als ein Zeichen der Krise des Landestheaters gedeutet wird. Das Landestheater verkümmere zu einem „Operettentheater“, 40 schreibt im Jahre 1916 der Theaterkritiker Zvonko Vukelić. Inszeniert werden bekannte und gut besuchte Schwänke von Franz Arnold und Ernst Bach (Die spanische Fliege, 1914) oder Possen wie jene von Alexander Engel und Julius Horst (Der Schrei nach dem Kind, 1914, Der Himmel auf Erden, 1915) beziehungsweise von Raimund Leon (Fräulein Witwe, 1916). Als in dieser Zeit in Zagreb erste Lichtspielhäuser eröffneten, wird als Reaktion auf den Publikumsabgang prompt eine Parodie inszeniert: das Stück Filmzauber der bekannten Zugstück-Autoren Rudolf Bernauer und Rudolph Schanzer. Die Austauschbeziehungen der Unterhaltungsbranche im gesamten monarchischen Raum werden nicht unterbrochen, im Gegenteil: Das Unterhaltungstheater übernimmt für das Publikum die Funktion eines Ventils. Die Anlehnungen an das Wiener Repertoire sind traditionell und finden in der Kriegszeit ihre Fortsetzung. An die seit dem späten 19. Jahrhundert dominierende internationale Praxis des Unterhaltungstheaters wird nahtlos angeknüpft. So liefert der kroatische Schauspieler und Übersetzer Arnošt Grund zu dieser Zeit zahlreiche „Localisierungen“ von Unterhaltungsstücken, wie zum Beispiel Hydra (1915) von Karl Ettlinger, einen Schwank „ohne Ehebrüche und komische Situationen“, wie es im Untertitel heißt. Operetten und die sogenannten „Kassastücke“ erfreuen sich großer Popularität, was in der damaligen Presse in den Kontext der Einwanderung südslawischer Flüchtlinge aus betroffenen Kriegsgebieten gerückt wird. Die Publikumsstruktur verändere sich und verlange nach eskapistischen Stoffen. Zugleich kann dadurch die kommerzielle Lage des Theaters gesichert Theater im Krieg 161 werden. So läuft im Jahre 1916 der Theaterbetrieb auf Hochtouren, denn die sogenannten „konnationalen“ 41 Flüchtlinge, also flüchtende Menschen aus den slawischen Nachbarländern, bringen einen ungeahnten Theaterenthusiasmus mit. Diese Theaterbegeisterung ist also kriegsbezogen, das heißt entspringt einer starken kompensatorischen Funktion und ist nur auf ein bestimmtes Segment reduziert. Diese kompensatorische Funktion des Theaters ermöglicht die zeitweilige Flucht aus dem Alltag, der von Mobilisierung, Lebensmittelmangel, Angst vor Epidemien und Krankheiten, Auslieferung, Geldmangel, Requirierung und Korruption geprägt ist. 41 Rv.: „Theaterbericht (Paralipomena zum Saisonschluss)“, in: Agramer Tagblatt 179 (1.7.1916), S. 2-3. 42 Baumeister: Kriegstheater, S. 13. 43 Ebd. 44 N.N.: „Literatur-Stagnation“, in: Agramer Tagblatt 34 (5. 3. 1914), S. 2. 45 Lemberg, Hans: „Unvollendete Versuche nationaler Identitätsbildungen im 20. Jahrhundert im östlichen Europa: die ,Tschechoslowaken‘, die ,Jugoslawen‘, das ,Sowjetvolk‘“, in: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Stu- 3 Kollektive Repräsentationen auf der Bühne Die Leitidee in Baumeisters Monographie des „enactment of the nation“ 42 als kollektiver Repräsentation von ,Volk‘ und ,Nation‘ auf der Bühne ist auch im Zagreber Theater stark präsent. Vor allem ist sie als Kampf um „die Balance rivalisierender Identitätsentwürfe“ 43 zu verstehen, denn eine projektive nationale Einheit war in Zagreb nicht vorhanden. Die Bekenntnisse slawischer Zugehörigkeit und südslawische nationalintegrative Bestrebungen lassen im Theater unmittelbar vor dem Krieg nach, woran die veränderte Atmosphäre in den kroatischen Landen erkennbar wird. Sie ist eine Folge der neuen Einstellung der kroatischen Öffentlichkeit zur südslawischen Vereinigung nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo. Die Sympathien aller südslawischen Völker waren während der Balkankriege auf Seiten der Serben, jedoch wird in den ersten Kriegsjahren die Loyalität gegenüber dem Kaiser nicht in Frage gestellt. Wie stark aber Theater und Nation zu dieser Zeit im kollektiven Bewusstsein miteinander verbunden sind, geht aus folgender Zeitungsnotiz aus dem deutschsprachigen „Agramer Tagblatt“ hervor: „Unser geistiges Leben nimmt, langsam zwar aber stetig, eine steigende, aufwärts strebende Tendenz [...]. Konzerte, Theater, stehen auf einem Niveau, das einer im Grunde noch recht kleinen Nation, wie es die unsrige ist, alle Ehre macht.“ 44 Darin werden die nationalen Narrative erkennbar, die die Rolle der Kultur für die nationale, erst zu festigende Identität hervorheben und die zugleich Merkmale eines unvollendeten Nationsbegriffes 45 der klei- Milka Car 162 dien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 591-607. 46 Gross, Mirjana: „O integraciji hrvatske nacije“, in: Dies. (Hg.): Društveni razvoj u Hrvatskoj od 16. do početka 20. stoljeća. Zagreb: SNL 1981, S. 175-190, hier S. 185. 47 N.N: „Königl. Kroatisches Landestheater in Agram (Zagreb)“, in: Die Zeit 4360 (15. 11. 1914), S. 25. 48 Zd. V. [Vernić, Zdenko]: „Ein kritischer Rückblick. Der erste Monat der Theatersaison“, in: Agramer Tagblatt 2284 (10.10.1913), S. 1-3. 49 Zu verwickelten Antagonismen und Einheitlichkeitsdiskursen vgl. Kann, Robert A.: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt nen Nation aufweisen. Ausgehend von der beachtlichen sozial-wirtschaftlichen und bürgerlich-kulturellen Rückständigkeit in den kroatischen Landen, stellt die Historikerin Mirjana Gross fest, dass der Prozess der kroatischen nationalen Integration vor dem Zusammenbruch der Habsburgischen Monarchie nicht abgeschlossen war, 46 was unter anderem ein Grund für die starke Ideologisierung der Theaterkunst war. In der ersten Hälfte des Jahres 1914 dominieren ähnliche kulturmissionarische Auseinandersetzungen über die Funktion des Theaters den Pressespiegel. Nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien im Juli des gleichen Jahres wird die Position des Theaters in Zeiten des Krieges zum zentralen Thema in den Kritiken. Vielsagend ist ein damals in der Wiener „Zeit“ erschienener Bericht über das Zagreber Landestheater, in dem seine repräsentative Funktion im monarchistischen Kontext besonders hervorgehoben wird. In seinem kurzen historischen Überblick erwähnt der Berichterstatter - vermutlich die langjährige ‚graue Eminenz‘ des Theaters, der Sekretär und Schauspieldirektor Josip Bach - die Wurzeln des Zagreber Theaters im illyrischen Programm der politischen und kulturellen Vereinigung aller Südslawen mit seiner hervorragenden kulturellen Funktion. Der Artikel schließt mit folgender Feststellung: „Wir können kühn behaupten, dass unser heutiges Repertoire mit jenem Europas einherschreitet.“ 47 Die hohe Einschätzung der eigenen Position mit dem primären Bildungsauftrag des im südslawischen Raum gut verankerten Zagreber Landestheaters findet seine Rechtfertigung in der geschichtlichen Rolle im Kampf um die kulturelle Emanzipation und Homogenisierung der Nation. Da in diesen Jahren das Theater von Ljubljana nicht tätig sei, falle dem Zagreber Theater die „Rolle eines Kulturzentrums“ auf dem Balkan zu. Es habe damit zehn Millionen Südslawen zu repräsentieren, sodass es sich nicht leisten könne, „nur die Aufgabe eines Durchschnitts-Provinztheaters“ zu erfüllen, sondern sich als ein „vollwertiges Kulturinstitut“ 48 behaupten müsse. Dies sei allerdings nur mit einer größeren Beachtung des kroatischen, beziehungsweise slawischen Repertoires zu erreichen. Damit wird die geschichtlich verankerte Rolle des Theaters in Hinblick auf dessen zukünftige Mission im Projekt der einheitlichen südslawischen Nationenbildung 49 formuliert. Theater im Krieg 163 Die ausgeprägte kulturelle Mission wird 1915 anlässlich des 20. Theaterjubiläums im neuen, repräsentativen Theatergebäude noch einmal feierlich hervorgehoben. In der exklusiv kroatisch orientierten Zeitung „Hrvatska“ 50 hebt der einflussreiche Theaterkritiker Ljubomir Maraković den moralischen, kulturellen und bildungsbürgerlichen Auftrag des Nationaltheaters hervor: „Denn inmitten des Kriegsgemetzels, im Blutbad und im allgemeinen Leiden, schwenkt stolz die kroatische Thalia ihre Fahne, mildert, ermutigt und veredelt die Seelen.“ 51 Damit werden nicht nur die Aufgaben des Theaters definiert, sondern auch die martialischen, opferbereiten Diskurse in einem nationalen Narrativ aktiviert. Das Theater wird „nicht nur als Tempel unserer Bildung, sondern auch unseres nationalen und politischen Bewusstseins“ 52 gefeiert. Die ideologische und identitätsstiftende Funktion des Theaters wird unterstrichen. In der regimetreuen „Narodne novine“ wird aus gleichem Anlass das „lebendige patriotische Feuer“ beschrieben, das als „neue Hoffnung des kroatischen Volkes“ 53 im Theater als einem Zentrum der Nationalkultur in Krisenzeiten zu bewahren ist. Man beruft sich auf die illyrische Tradition, also die Zeit der nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert, womit das 19. Jahrhundert der historische Bezugspunkt für die Gründung moderner Nation bleibt. Das Theater wird zunehmend von einem spezifischen Sendungsbewusstsein dominiert, dessen Wurzeln bis tief ins 19. Jahrhundert reichen, direkt in die Epoche der ersten „cultural national renaissance in the Habsburg lands“. 54 Die Sendung des kroatischen Nationaltheaters, die aus dem Schwung der illyrischen Bewegung hervorgeht, wird für die Bestätigung der nationalen Repräsentationsbedürfnisse mit nationalen und integrativen Elementen aufgeladen, was ein langfristiger Prozess ist, der die ganze erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet. der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. 2. Bde. Graz, Köln: Böhlau 1964. 50 „Jer u sred bojne buke, usred potoka krvi i grozna jauka, hrvatska Talija ponosno vije svoj stijeg, blaži bodri i plemeni duše.“ Lj. M [Maraković, Ljubomir]: „Proslava dvadesetogodišnjice nove kazalištne zgrade“, in: Hrvatska. Glavno glasilo stranke prava za sve hrvatske zemlje 1187 (15.10.1915), S. 1. 51 Ebd. 52 „Hrvatsko nas je kazalište probudilo, osvjestilo kulturno i nacijonalno, otreslo zauvijek tudjinštine iza težkog doba absolutizma i pokazalo nama i cielom svietu i onima, koji su nas barbarima zvali, da je i hrvatski duh i hrvatski jezik dorastao za velika umjetnička djela. Hrvatsko narodno kazalište je dakle ne samo hram prosvjete naše, nego i sviesti naše naše nacijonalne i političke.“ Ebd. 53 „Živa vatra rodoljublja i nastojanja za uskrsnućem narodne kulture [...] oganj, koji je sažgao sve tudjinsko da se iz toga ognja pojavi novo sunce, nova nada hrvatskog naroda.“ N.N.: „Sinoćnji jubilej našega kazališta“, in: Narodne novine 211 (15. 10. 1915), S. 2. 54 Newman, John Paul: „Nationalism“, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, abrufbar unter: http: / / encyclopedia.1914-1918-online.net/ article/ nationalism. (Zugriff 21.6.2016). Milka Car 164 4 „Scheinbare Normalität“ - moderne Stücke im Spielplan Auch in den Kriegsjahren versucht die Theaterleitung, dem Publikum aktuelle dramatische Produktion zu präsentieren. Dieses Unterfangen gelingt jedoch nur teilweise - es entsteht eine Lücke, vor allem in Anschluss an modernistische Tendenzen. Von den deutschsprachigen zeitgenössischen Autoren werden Dramen bereits renommierter und viel gespielter Autoren wie Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Gerhart Hauptmann, Max Halbe oder Hugo von Hofmannsthal inszeniert. Als Reaktion auf diese Inszenierungen sind oft stereotype Zuschreibungen oder auch unbedarfte nationale Propaganda zu registrieren. Im Jahr 1914 wird aus der modernen Dramatik Bahrs Komödie Der Querulant inszeniert, findet aber weder bei der Kritik noch beim Publikum viel Verständnis. Es wird als „übungshaftes, misslungenes Stück“ 55 betrachtet, als eine „typische Komödie eines Feuilletonisten“, 56 die „ohne Handlung und geistlos“ 57 ist. Die „ausgedehnten Dialoge“ und die „für Caféhäuser typischen Überlegungen vom Gerichtswesen“ konnten beim Publikum nur Langeweile erwecken, da wir „Südländer“ - so „Novine“ - „mehr Aktion brauchen“. Hervorzuheben ist die Premiere des Einakters Der Thor und der Tod von Hugo von Hofmannsthal, der 1915 als Regie-Debüt von Alfons Verli im kroatischen Theater inszeniert wird. Verlis szenische Gestaltung und die treffende Atmosphäre kündigen die großen Regie-Erfolge der folgenden Jahre an. Dieses Stück ist der einzige frühe Einakter Hofmannsthals, der 1898 unter der Leitung Ganghofers in München uraufgeführt worden war. Zehn Jahre später hatte Max Reinhardt dieses Stück für die Berliner Kammerspiele inszeniert. Gerade diese Aufführung mag der Anstoß für die Inszenierung Verlis gewesen sein. Wenn man bedenkt, wie rar die Hofmannsthal-Aufführungen waren, ist diese Vorstellung in Zagreb mitten im Krieg als ein Theatererfolg zu bezeichnen, beziehungsweise als ein Beweis für das erfolgreiche Lavieren zwischen der ästhetischen, kommerziellen und politischen Funktion des Theaters. In den Kriegsjahren wurde im Zagreber Landestheater oft der führende deutsche naturalistische Dramatiker Gerhart Hauptmann gespielt. Im Jahre 1915 kam seine 1892 entstandene Künstlerkomödie College Crampton zur Aufführung. Obwohl der Autor die Sympathie der Kritik genoss und die Inszenierung gut gespielt war, blieb das Theaterhaus halb leer. Sein im Jahre 55 ll. [Gavella, Branko]: „Nationaltheater“, in: Agramer Tagblatt 274 (21.11.1914), S. 6. 56 „Bahrov ‚Pravdaš‘ tipična je komedija feljtonista, bez radnje i bez govora, rastegnutih prilično neduhovitih dijaloga.“ ld. [Livadić, Branko]: „Pravdaš“, in: Obzor 321 (21.11.1914), S. 3. 57 „[…] ali za nas južnjake treba živahnosti i neprestane akcije“: „Pravdaš“, in: Novine 65 (21.11.1914), S. 3-4. Theater im Krieg 165 1916 aufgeführter Nocturnus Elga war jedoch ein durchschlagender Erfolg: Es wurde „ohne Zweifel ein Zugstück allerersten Ranges“. 58 Im Herbst desselben Jahres wurde dann Hauptmanns spätnaturalistische Tragikomödie Die Ratten inszeniert. Signifikant ist die Rezeption dieses von „tiefem Mitleid“ 59 geprägten Stückes, das dem Verfasser den Ehrentitel eines „deutschen Tschechows“ einträgt. In der Rezension der Übersetzerin Nina Vavra wird auch eine imaginäre „slawische Komponente“ bei Hauptmann erwähnt, die seine deutsche „Korrektheit und Trockenheit“ mildere. Eine ähnliche Strategie wird eingesetzt, als aus dem „festlichen Anlaß“ des 25-jährigen Jubiläums im Jahre 1916 der Einakter-Zyklus Anatol von Arthur Schnitzler erstmals vollständig inszeniert wird. Dem Zyklus wird eine „halbslawische literarische Sentimentalität“ mit den für slawische Völker angeblich typischen „zarten und feinfühligen Sichtweisen“ 60 attestiert. Den Beweis dafür, dass das Zagreber Theater in den Kriegsjahren weiterhin produktiv war, liefert eine äußerst aktuelle Aufführung aus dem Kriegsjahr 1917. Die Komödie Der Snob von Carl Sternheim wurde als ein „hypermoderner Monolog“ 61 inszeniert. Die Aufführung bot den Rezensenten die Gelegenheit, die jüngsten deutschen Schriftsteller um den Kreis „Der jüngste Tag“ - René Schikele, Franz Werfel, Franz Kafka und Kasimir Edschmidt - dem Lesepublikum vorzustellen. Der Regisseur und Schauspieler Ivo Raić inszenierte das Stück nach dem Vorbild von Albert Bassermann (Münchener Kammerspiele). Auch diese Aufführung bezeugt die These, dass zu dieser Zeit die neuesten literarischen Trends vom Zagreber Landestheater ohne größere Verzögerung übernommen werden, was nach dem Zusammenbruch der Monarchie nicht mehr der Fall sein wird. Ausdrücklich betont werden muss jedoch, dass während des Krieges ausschließlich bereits bekannte Autoren auf dem Spielplan standen und nur wenige neue Dramen zur Aufführung kamen. Nach dem Krieg ging der unmittelbare Anschluss an das Wiener Theaterleben nahezu vollständig verloren. Der quantitative Rückschritt ist in diesem Fall auch mit einem qualitativen verbunden. Mit der Abgrenzung vom monarchischen Kontext wird unbemerkt auch die eigene periphere Lage fixiert. 58 B-ć: „Gerhard Hauptmann: Elga“, in: Agramer Tagblatt 89 (31.3.1916), S. 6. 59 „I sami njemački kritičari često spominju neku ‚slavensku natruhu‘ u Hauptmannovim djelima [...] ističu kao prednost, koja ublažava njemačku korektnost i suhoparnost.“ Vavra, N.: „Parcovi“, in: Narodne novine 245 (25.10.1916), S. 1-2. 60 “Stari Bajovari, Markomani, Kvadi i Vindobonci zacijelo bijehu Slaveni, jer im potomci zadržaše iste one nježne i tankoćutne poglede na život kao i mi Liburnijci, Panonjani i Dalmate.” J.B-ć [Benešić, Julije]: „A. Schnitzler: Anatol“, in: Narodne novine 24 (31.1.1916), S. 4. 61 Nv.: „Nationaltheater“, in Agramer Tagblatt 123 (6.5.1917), S. 5-6. Milka Car 166 Zu einem Loyalitätsbruch gegenüber der Monarchie kommt es mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges anfangs nicht. Die klare südslawische Orientierung wird erst ab dem Jahr 1917 virulent, als auch im Theater demonstrative Verkündungen südslawischer Solidarität nicht mehr durch Zensurmaßnahmen verhindert werden können. Die Kriegsrhetorik wird rasch durch das südslawische nationale Pathos ersetzt. Damit ist die Rolle des Theaters, das traditionell „nicht nur als Tempel unserer Bildung, sondern auch unseres nationalen und politischen Bewusstseins“ 62 gilt, jetzt unter neuem Vorzeichen zu verstehen. Im augenfälligen Schwinden deutschsprachiger Stücke werden Tendenzen sichtbar, die sich einerseits als Emanzipation vom deutschsprachigen Vorbild deuten lassen und andererseits klar das Bestreben zeigen, die neue slawische Identität einer „imaginären Ethnogemeinschaft der Südslawen“ 63 zu propagieren. Dies beginnt bereits in den Kriegsjahren: Erste Auflösungserscheinungen kommen im Verbot des Stückes Wald (Šuma, 1915) von Petar Petrović Pecija aus Angst vor proslawischen Demonstrationen im Jahre 1917 zutage. Die stärkeren proslawischen Tendenzen sind auch in der steigenden Zahl der Inszenierungen russischer Dramatiker zu erkennen. Aufgeführt werden die Komödien Der Landjunker von Denis Ivanovič Fonvizin (Nedorasli, 14.11.1917) und Eifersucht von Michail Petrovič Arzybašev (Ljubomor, 22.2.1918), wie auch die russischen Klassiker, etwa Lew Nikolajewitsch Tolstois Macht der Finsternis (Moć tmine ili gdje grije dahne, tu život sahne, 1917) oder Anton Pawlowitsch Tschechows Kirschgarten (Višnjik, 1916) und Der Bär (Medvjed, 1916). 62 „Hrvatsko nas je kazalište probudilo, osvjestilo kulturno i nacijonalno, otreslo zauvijek tudjinštine iza težkog doba absolutizma i pokazalo nama i cielom svietu i onima, koji su nas barbarima zvali, da je i hrvatski duh i hrvatski jezik dorastao za velika umjetnička djela. Hrvatsko narodno kazalište je dakle ne samo hram prosvjete naše, nego i sviesti naše naše nacijonalne i političke.“ Lj. M: „Proslava dvadesetogodišnjice nove kazalištne zgrade”, in: Hrvatska. Glavno glasilo stranke prava za sve hrvatske zemlje 1187 (15.10.1915), S. 1. 63 Matković, Stjepan: „Prijelomna 1918. u hrvatskoj politici“, in: Cipek, Tihomir; Milosavljević, Olivera (Hgg.): Kultura sjećanja. 1918. Povijesni lomovi i svladavanje prošlosti. Zagreb: Disput 2007, S. 77-91, hier S. 80. 5 Landestheater und südslawische Homogenisierung Somit gewinnt ab 1917 eine Richtung an Dominanz, die den andauernden Primat der exogenen Sphäre ein weiteres Mal bestätigt, sich aber zugleich stark an den homogenisierenden südslawischen und nationalen Narrativen orientiert. Realisiert wird diese neue Richtung mit der Forderung, an slawische Theatermodelle anzuknüpfen. Die slawische Dramatik solle dem Publikumsprofil und den neuen national-integrativen Leitgedanken entsprechen. Theater im Krieg 167 Das Theater wird zunehmend für die Ideen der südslawischen Solidarität aufbereitet. Ein gutes Beispiel für die Koexistenz der nationalen und der im Kriegskrisenjahr 1917 nur noch mühsam zusammengehaltenen imperialen Diskurse bietet ein Bericht über die Inszenierung von Bildern aus dem Leben Franz Josephs I. im kroatischen Landestheater in der Zeitung „Obzor“. Diese Gelegenheitsaufführung zu Ehren des gerade verstorbenen Monarchen wird mit der Erinnerung an seinen Besuch in Zagreb im Jahre 1895 anlässlich der Eröffnung des neuen Theatergebäudes begründet und als nationales Fest inszeniert, denn die nochmalige Bekundung der tradierten Loyalität kann nur in Form eines nationalen Festes realisiert werden. Im Theater sind damals zum letzten Mal „Wellen der Begeisterung“ gepaart mit Ausrufen wie „Es lebe der kroatische König! “ 64 zu hören. Schon im Jahre 1915 wird in Theaterrezensionen die kriegführende Nation Russland als „brüderlich“ bezeichnet. Im gleichen Jahr werden in der Proklamation der „Adria-Legion“ 65 die „Deutschen, Ungarn und Türken“ als die Urfeinde jener Familie bezeichnet, in der „Slowene, Kroate, Serbe Söhne einer Mutter sind“. Im Manifest des Jugoslawischen Komitees vom Mai 1915 wird der Erste Weltkrieg als „auferlegter Bruderkrieg“ 66 bezeichnet. Der Dramatiker Srđan Tucić bearbeitet das Thema vom „brüdermörderischen Krieg“ in seinem Drama Osloboditelji (Die Befreier), das 1918 mehrmals zur Aufführung kommt. Damit werden projugoslawische Diskurse über die supranationale Selbstvergewisserung ausgelöst. Auch pazifistische Stimmen werden immer lauter. Im Jahre 1917 wird das Drama der französischen Revolution Die Wölfe (Vuci, 1916) des französischen Autors und Pazifisten Romain Rolland aufgeführt. Auch die Inszenierung des Dramas Offenbarung (Objavljenje, 1917) von Milan Ogrizović ist ein solches pazifistische Stück, das von der Zensur nicht verboten wird. Als politisches Steuerungsmittel wird die Zensur allerdings im März 1918 eingesetzt, als die Jubiläumsfeier anlässlich des 100. Geburtstags des Dichters Petar Preradović mit einer Inszenierung des Geschichtsdramas Kraljević Marko (Königssohn Marko, 1918) verboten wird. Zu dieser Feier waren Delegaten aus mehreren südslawischen Ländern angereist. Nach dem Verbot der Veranstaltung fanden die geplanten antiösterreichischen Demonstrationen jedoch an der Grabstätte des Dichters auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj 67 statt. 64 N.N.: „Život kralja Franje Josipa“, in: Obzor 102 (30.1.1917), S. 2. 65 „Upravni odbor ‚Jadranske legije‘ Jugoslovenima. London-Rim 1915“, in: Šišić, Ferdo (Hg.): Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.-1919. Zagreb: Matica hrvatska 1920, S. 15-17. 66 Trumbić, Ante: „Manifest Jugoslavenskoga odbora Britanskom narodu i parlamentu“, in: Šišić: Dokumenti, S. 36-37. 67 Batušić: Vlastitim snagama, S. 128. Milka Car 168 Nach der Proklamation von Korfu, einem von der serbischen Regierung und der Exilorganisation Jugoslawisches Komitee am 20. Juli 1917 auf der Insel unterzeichneten Manifest über eine angestrebte südslawische Vereinigung, kommt es auch im kroatischen Nationaltheater in Zagreb zu ersten Reflexen einer „nationalen südslawischen Kulturpolitik“. 68 Die identitätsstiftende Rolle des Theaters wird als „die große Mission der Volksbildung bei einem werdenden Kulturvolk“ beschrieben, wobei „seine Tätigkeit einen integrierenden, höchst wichtigen Bestandteil der Kulturarbeit am Volke“ 69 bilde. Stärker denn je wird eine slawische Ausrichtung der Bühne gefordert. Das einflussreichste Beispiel für die neue Orientierung des Theaters liefert der kroatische Dramatiker der Moderne Ivo Vojnović 70 mit seiner Wiederbelebung des Kosovo-Mythos in seinen von südslawischem Geist und martialischem Charakter durchdrungenen Dramen, die - wie im „Agramer Tagblatt“ getitelt wird - der „unheroischen Zeit zum Trotz“ 71 inszeniert wurden. Der „jugonationalistische Utopismus“ des Kosovo-Zyklus von Ivo Vojnović wird als publikumswirksamer Versuch einer „historizistischen Begründung moderner politischer Ideen und Ideologeme“ 72 gespielt. Anlässlich seines 60. Geburtstags wird die Tragödie Smrt majke Jugovića (Der Tod der Jugović-Mutter) nur zwei Tage nach Kriegsende am 27. Oktober 1918 im Zagreber Landestheater aufgeführt. Die von Vojnović pathetisch inszenierte „Größe des Slaventums“ 73 wird im deutschsprachigen „Agramer Tagblatt“ als südslawisch intonierte dramatische Dichtung emphatisch gefeiert: Wohl sind wir ins Theater gekommen, um mit dem Kunsterlebnis der Tragödie eine nationale Feier zu verbinden, um zu betonen, wie wir uns hier in der Metropole Kroatiens mit unseren serbischen Brüdern eins fühlen, wie die Geschichte ihres Golgatha unsere Geschichte, ihr ethischer damaliger und jetziger Triumph zugleich unser Triumph ist. 74 Eine neue Loyalität ist gefordert, und so handelt die Theaterintendanz systemkonform in Erwartung der neuen südslawischen staatlichen Verfassung. 68 Vernić, Zd.: „Theaterpolitik“, in: Agramer Tagblatt 28 (16.3.1920), S. 4. 69 Ebd. 70 Repräsentativ für ihre Entstehungszeit folgende Studie: Prohaska, Dragutin.: O pjesniku slobode: studija o književnom radu Ive Vojnovića povodom njegove šezdesetogodišnjice. Osijek: Naklada R. Bačića 1918. 71 „Der unheroischen Zeit zum Trotz“, in: Agramer Tagblatt 32 (9.11.1917), S. 2. 72 Kravar, Zoran: „Nostalgija i utopija u Iva Vojnovića“. In: Batušić, Nikola et al. (Hg.): Dani hvarskog kazališta. Književnost i kazalište hrvatske moderne - Bilanca stoljeća. Zagreb, Split: Književi krug 2001, S. 139-160, hier S. 144. 73 M.T.: „Smrt Majke Jugovića. Die Vorstellung des Nationaltheaters zu Ehren des Krsno Ime des Königs“, in: Agramer Tagblat 274 (14.12.1918), S. 3. 74 Zd.V.: „Die gestrigen Manifestationen im Landestheater“, in: Agramer Tagblat 285 (28.10.1918), S. 3. Theater im Krieg 169 Im „Agramer Tagblatt“ wird die Notwendigkeit der „Entwicklung der südslawischen Literatur“ hervorgehoben, denn das Repertoire soll in Einklang mit dem integrativen Programm „eine entscheidende Vertiefung in nationaler und künstlerischer Hinsicht“ 75 erfahren. Damit erlebe Zagreb erneut „die begeisterte große nationale Zeit der Tage des Illyrismus“, 76 die identitätsbildende Kontinuität werde sichergestellt. In dieser Periode wird das Repertoirebild von südslawischen Dramatikern dominiert, vor allem von dem bereits erwähnten, damals schon renommierten und produktiven Dramatiker Ivo Vojnović. Zu Wort meldet sich auch der junge expressionistische kroatische Dramatiker Miroslav Krleža, der das 20. Jahrhundert mit seinem Werk prägen wird. Gespielt werden auch slowenische Dramatiker wie Ivan Cankar und vor allem der populäre serbische Komödienautor Branislav Nušić. Nušić feiert am 17.12.1918 in Zagreb die Uraufführung seines Dramas Hadži-Loja aus Anlass des Besuches des Regenten Alexander Karađorđević. Mit 77 Wiederholungen seines Erfolgsstückes Gospodja ministarka wird er zum meistgespielten Autor in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Nach der am 1. Dezember 1918 erfolgten Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen wird deklarativ die Befreiung „von der Atmosphäre des Habsburger-Südslawenhasses“, der „alles Südslawische mit blindem Hasse verfolgte“, 77 proklamiert, wobei emotionalisierende Propagandadiskurse zum Tragen kommen. Damit sollte das „Stigma der Habsburger“ 78 beziehungsweise die Tatsache negiert werden, dass die Kroaten für die Österreichisch-Ungarische Armee gekämpft hatten und als Verlierer von einer „Kultur der Niederlage“ 79 gezeichnet sind. Vor dem Theater finden im Jahre 1918 projugoslawische Demonstrationen statt. Der Historiker Bogdan Krizman berichtet, dass unter Jubelrufen der Solidarität auch „illyrische Kampflieder“ 80 gesungen wurden. Daraufhin veröffentlicht der neu ernannte Theaterintendant Guido Hreljanović in „Novosti“ eine Deklaration, die die Loyalität gegenüber dem neuen Herrscher betont. Erinnert wird an die gemeinsamen „illyrischen Urväter“ 81 , die „zusammen und brüderlich“ das Na- 75 N.N.: „Smrt majke Jugovića. Zur gestrigen Aufführung“, in: Agramer Tagblat 244 (28.10.1918), S. 3. 76 Ebd. 77 Zd. V. [Vernić, Zdenko]: „Zum Theaterjubiläum“, in: Agramer Tagblat 255 (15.10.1920), S. 5. 78 Newman, John Paul: „Croats and Croatia in the Wake of The Great War“, in: Transactions of the Royal Historical Society 24 (2014), S. 165-181, hier S. 13. 79 Schievelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage: der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Frankfurt/ M.: Fischer 2003. 80 Krizman, Bogdan: Raspad Austro-Ugarske i stvaranje jugoslavenske države. Zagreb: Školska knjiga 1977, S. 68. Milka Car 170 tionaltheater in Zagreb gegründet haben. Daraufhin bedankt sich der Regent Aleksandar in der gleichen Zeitung für diese „patriotische Gratulation“ 82 und betont die Idee der Gemeinsamkeit und Eintracht des „dreinamigen Volkes“. Am 27. April 1919 bekommt das Zagreber Theater den Namen „Nationaltheater des Königreichs SHS in Zagreb“ und wird zum „ersten im Königreiche“ 83 erklärt. Die Verflechtung theaterästhetischer Normen mit der spannungsgeprägten südslawischen Vision und den unterschiedlichen politischen und nationalen Programmen, die erst ausformuliert werden müssen, bleibt charakteristisch für diese Periode, in der das Theater zum Spielball politischer und ideologischer Faktoren wird. In einer von Mobilisierungsideologie 84 bestimmten Kultur haben sich sämtliche Teilbereiche diesem unverrückbaren Sinn unterzuordnen. Das Landestheater wird von einem ästhetischen Faktor zu einer von Diskursen getragenen Institution mit der Funktion der Auslotung instabiler nationaler Identitäten. Das Kultursystem Theater „reflektiert die Wirklichkeit seiner Kultur“ 85 - für die Periode 1914-1918 reflektiert das Theater vor allem die Kulturgeschichte des Krieges. 81 „Hrvatsko narodno kazalište u Zagrebu stvoreno je u doba naših ilirskih djedova zajedničkim i bratskim radom Srba i Hrvata. [...] U radu Hrvatskog narodnog kazališta oživotvoreno je bilo od prvih početaka pa sve do današnjeg dana bratskim sudjelovanjem Srba, Hrvata i Slovenaca na kulturnom polju ideja ujedinjenja.“ Hreljanović, G.: „Hrvatsko kazalište Regentu. Njegovom kraljevskom Visočanstvu Regentu Aleksandru”, in: Novosti 327 (6.12.1918), S. 2. 82 „Regent Aleksandar hrvatskom kazalištu“, in: Novosti 333 (12.12.1918), S. 2. 83 N. N.: „Unser Theater am Schluß der Saison“, in: Agramer Tagblatt 163 (19.6.1919), S. 5. 84 Kann, Robert A.: Geschichte des Habsburgerreiches 1526-1918. Wien-Graz: Böhlau 1977, S. 267. 85 „Das Theater bildet die Kultur ab, insofern seine Zeichen die Zeichen, die von den verschiedenen kulturellen Systemen hergestellt werden, bedeuten [...] Theater kann in diesem Sinne als ein Akt sowohl der Selbstdarstellung als auch der Selbstreflexion einer Kultur begriffen werden.“ (Fischer-Lichte: Semiotik, S. 19) Theater im Krieg 171 Jelena Spreicer (Zagreb) Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit Ambivalenzen des Imperialen am Vorabend des Zusammenbruchs im Roman Die Republikaner (1914-1916) von Marija Jurić Zagorka * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Zur angeblichen Unklarheit hinsichtlich Zagorkas Geburtsjahr s. Kolanović, Maša: Od pripovjedne imaginacije do roda i nacije. Marija Jurić Zagorka u kontekstu žanra romanse. In: „Osmišljavanja“. Zbornik u čast 80. rođendana akademika Miroslava Šicela. Zagreb: FF press 2006, S. 327-358, hier S. 327. Vom 3. Januar 1914 bis 1916 erscheint in wöchentlichen Fortsetzungen in der Zagreber Zeitschrift „Ilustrovani list“ („Das illustrierte Blatt“) der Roman Republikanci (Die Republikaner) von Marija Jurić Zagorka (1873? -1957), 1 der ersten kroatischen Journalistin und Autorin zahlreicher Liebes- und Unterhaltungsromane in Fortsetzungen, von denen sich insbesondere der Romanzyklus Die Hexe von Grič (Grička vještica, 1912-1914) beim kroatischen Lesepublikum bis heute einer großen Popularität erfreut. Die Protagonistin im Roman Die Republikaner ist Ksenija Magdalenić, fiktive Stieftochter des authentischen Staatsministers Pergen am Hof des Kaisers Franz II./ Franz I. in Wien. Um der unersättlichen sexuellen Begierde des Kaisers auszuweichen, bietet ihm Ksenija an, als Spionin nach Zagreb zu reisen, um dort als gebürtige Kroatin aus erster Hand Gerüchte über eine bevorstehende republikanische Revolution nach französischem Modell zu erforschen. Im Gegensatz zur fiktiven Figur von Ksenija war der männliche Protagonist, Delivuk, eine historisch authentische Person. Während er bei Zagorka durch seine Furchtlosigkeit und moralische Unverdorbenheit zur treibenden Kraft der republikanischen Bewegung in Kroatien stilisiert wird, handelt es sich in der historischen Realität um eine Figur, deren Teilnahme an der Verschwörung nie durch historische Dokumente belegt werden konnte. Im Einklang mit dem Erwartungshorizont des Publikums von trivialen Liebesromanen in Fortsetzungen kann die Liebe zweier Protagonisten erst nach 900 Seiten, auf denen es von Abenteuern, Intrigen, Rache, Verrat, Spionage und Gegenspionage wimmelt, in der gesellschaftlich akzeptablen Form der Ehe konsumiert werden, wobei die Protagonistin, genauso wie andere Heldinnen im Romanopus von Zagorka, einen Entwicklungs- und Emanzipationsprozess abschließen muss: Unter dem Einfluss ihrer Gefühle zu Delivuk wendet sich Ksenija von ihrer aristokratischen Herkunft und Unterstützung für die monarchistische Staatsordnung ab und wird fast über Nacht zur überzeugten Demokratin, derer Heldentaten gegen das habsburgische Regime diejenigen von Delivuk sogar übersteigen. Dass sich Zagorka, überzeugte Befürworterin kroatischer nationaler Interessen und erbitterte Gegnerin der österreichischen und ungarischen (Kultur-)Politik in Kroatien, 2 am Vorabend des Ersten Weltkriegs für den historisch authentischen Stoff der jakobinischen Verschwörung in Ungarn und Kroatien (1793-1794) entscheidet, mag auf den ersten Blick wenig überraschend wirken. Die jakobinische Verschwörung unter der Leitung vom Franziskaner und Physikprofessor Ignaz Martinovics (1755-1795) war ein Versuch, in den Jahren nach der Französischen Revolution in den Ländern der Stephanskrone eine Veränderung der politischen Ordnung zu verwirklichen, wobei dem Ideengehalt der Französischen Revolution entsprechend ein konstitutioneller Staat angestrebt wurde. Martinovics, Anhänger der in der Regierungszeit von Franz II. zurückgezogenen josephinistischen Reformen, organisierte im Mai 1793 die ungarischen Oppositionellen in zwei geheime Gesellschaften („Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit“ und „Gesellschaft der Reformatoren“) und verfasste zwei so genannte „Kathechismen“, in denen seine revolutionären Ideen beschrieben werden. Die Verschwörung wurde 1794 durch den Einsatz der Geheimpolizei entdeckt, wonach gegen Martinovics und weitere Angeklagte ein Prozess geführt wurde. Obwohl das Ziel der Revolution kein gewaltsamer Umsturz der bestehenden Ordnung, sondern ein durch die Zustimmung der Mehrheit im ungarischen Parlament friedlich erzielter Übergang ins konstitutionelle System war, wurden Martinovics und sechs weitere Jakobiner aus Ungarn und Kroatien 1795 an der Blutwiese in Ofen durch Enthauptung hingerichtet. 3 Die Wahl dieses historischen Stoffes fällt mit einem entscheidenden Moment zusammen, in dem in der Doppelmonarchie die Lösung der so genann- 2 1902 nahm Zagorka aktiv an den Demonstrationen gegen den kroatischen Ban Khuen-Héderváry teil. Nachdem das ungarische Parlament den Antrag auf die Verbesserung der finanziellen Lage in Kroatien ablehnte, wurden in Zagreb und in anderen kroatischen Städten öffentliche Tribünen zu diesem Thema organisiert. Diese wurden vom Ban verboten, wonach in mehreren Städten gegen ihn demonstriert wurde. Da gegen Khuen-Héderváry schon 1895 bei der Eröffnung des Kroatischen Nationaltheaters in Zagreb protestiert und in der Anwesenheit Franz Josephs die ungarische Fahne verbrannt wurde, waren die Demonstrationen von 1902 ein klares Zeichen dafür, dass Khuen-Héderváry in Kroatien jede politische Legitimität verloren hatte. Dementsprechend wurde er vom Kaiser seines Amtes enthoben und zum ungarischen Ministerpräsidenten ernannt. 3 Ausführlicher zur jakobinischen Verschwörung s. Bogdanov, Vaso: Jakobinska urota Ignjata Martinovića. Zagreb: Novinarsko izdavačko poduzeće 1960; Reinalter, Helmut (Hg.): Handbuch zur Geschichte der demokratischen Bewegungen in Zentraleuropa. Jelena Spreicer 174 ten ‚slawischen Frage‘ diskutiert wurde und der Thronfolger Franz Ferdinand einer trialistischen Lösung durchaus geneigt war. Mit anderen Worten wird zu Beginn des Romans trotz der anvisierten Verbesserung der Lage slawischer Völker in der Doppelmonarchie das föderalistische Staatsmodell als schon überholt dargestellt. Zagorka, bekannt für das pädagogische und revolutionäre Anliegen ihrer journalistischen und schriftstellerischen Werke, 4 stellt somit ihren Roman eindeutig in den Dienst der kroatischen nationalen Konsolidierung, derer Höhepunkt (zumindest in ihrem narrativen Universum) erst durch die Gründung des kroatischen Nationalstaates erreicht werden kann. Zu diesem Zweck wird die ungarisch-kroatische Verschwörung als Beweis für die Kontinuität der republikanischen Idee in Kroatien herangezogen, obwohl bei Martinovics, wie später zu zeigen sein wird, keinesfalls vom (kroatischen) Nationalismus gesprochen werden kann. Eines der auffälligsten Merkmale des Romans ist die auffällige Voreingenommenheit in der Darstellung der Verschwörung. An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass historiografische Studien zum Leben und Werk von Ignaz Martinovics sowie zur jakobinischen Verschwörung im Allgemeinen bislang widersprüchliche Resultate erbrachten. Auf der einen Seite ergibt sich, so Vaso Bogdanov, aus den Werken ungarischer Historiografen des 19. Jahrhunderts, gegen die Zagorka ihre Darstellung historischer Ereignisse richtet, ein ausgesprochen negatives Bild von Martinovics, der zum Beispiel beim Historiker Fraknói als charakterloser Denunziant bezeichnet wird. 5 Ein ähnliches Urteil verkündet auch der österreichische Historiker Denis Silagi, Verfasser der Studie Jakobiner in der Habsburger-Monarchie (1962), der Martinovics als eine ambivalente Persönlichkeit darstellt, dessen Hin-und-her-Schwanken zwischen der Loyalität dem Wiener Hof gegenüber einerseits und revolutionären Ideen andererseits mit persönlichen karrieristischen Zielen und Ambitionen ein- Von der Spätaufklärung bis zur Revolution 1848/ 49. Frankfurt/ M.: Peter Lang 2012; Reinalter, Helmut (Hg.): Jakobiner in Mitteleuropa. Innsbruck: Inn-Verlag 1977; Silagi, Denis: Jakobiner in der Habsburger-Monarchie. Wien, München: Verlag Herold 1962. 4 Den pädagogischen Aspekt Zagorkas Romanschaffens schildert z.B. Slobodan Prosperov Novak in seiner Geschichte der kroatischen Literatur (Prosperov Novak, Slobodan: Povijest hrvatske književnosti. Zagreb: Golden Marketing 2003, S. 301). Darüber hinaus schreibt Krešimir Nemec im Nachwort der neuesten Ausgabe des Romans Republikanci, dass bei Zagorka „sowohl journalistische als auch literarische Feder bewusst im Dienste ihres politischen Aktivismus gesetzt werden, weswegen sie als erste moderne Kroatin genannt und dem Komplex feminina politica, dem eine grundlegende wissenschaftliche Untersuchung noch bevorsteht, zugeordnet werden kann“ (Nemec, Krešimir: „Eros i politika“, in: Marija Jurić Zagorka: Republikanci. Zagreb: Školska knjiga 2006, S. 925, meine Übersetzung). 5 Vgl. Bogdanov: Jakobinska urota Ignjata Martinovića, S. 6f. Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit 175 herging. 6 Auf der anderen Seite nimmt eine der seltenen kroatischen historiografischen Studien über die jakobinische Verschwörung, diejenige von Vaso Bogdanov (1960), eine andere Perspektive auf Martinovics ein: Bogdanov stellt die These auf, Fraknóis Argumente seien „im starken Kontrast zum tatsächlichen Stand historiografischer Fakten […] offensichtlich das Resultat persönlicher Animosität, die Fraknói als Kleriker gegenüber Martinovics empfand“. 7 Wie des Weiteren zu zeigen sein wird, ergeben sich die widersprüchlichen Darstellungen der Verschwörung aus der Ambivalenz der führenden Figur, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Machtkonzepte unterstützte. Obwohl es sich beim Roman zweifelsohne um eine fiktionalisierte Darstellung der Verschwörung handelt, legitimiert Zagorka ihre Version durch den Einsatz von authentischen historischen Dokumenten. Durch den Vergleich von Zagorkas Darstellung der Verschwörung mit historischen Quellen an Stellen, wo daraus zitiert wird, kommt jedoch deutlich zum Vorschein, dass das selektive Vorgehen mit Dokumenten dem politischen Engagement des Romans unterliegt und, darüber hinaus, in einer engen Verbindung mit dem Ausbleiben der ansonsten für Zagorka üblichen antimagyarischen Einstellung steht. Außerdem übersteigt der angestrebte destabilisierende Effekt des Romans bei Weitem seine ursprüngliche Absicht, denn Themen der nationalen Konsolidierung und des erwünschten Übergangs aus der monarchistischen in die republikanische Staatsordnung erweisen sich als Faktoren, die sowohl den von Zagorka intendierten patriotisch-pädagogischen Effekt als auch ihre Romanpoetik in zweifacher Hinsicht unterlaufen. Erstens, im Unterschied zu früheren und späteren Romanen von Zagorka kommt es in diesem Fall zur Verkehrung der beim damaligen genauso wie beim heutigen Publikum beliebten Struktur und Thematik des trivialen Liebesromans. Zweitens, die in die Zukunft projizierte Lösung des narrativen Konfliktes am Ende des Romans eliminiert die eingangs mit Nachdruck betonte, unmittelbare Notwendigkeit einer republikanischen Revolution. Dementsprechend stellen sich die Revolution und der Nationalstaat als höchst volatile Konzepte heraus, die aufgrund ihrer ahistorischen Rekontextualisierung nicht nur die Struktur der damaligen Doppelmonarchie, sondern die Struktur des Romans selbst in Frage stellen. 6 S. Silagi: Jakobiner in der Habsburger-Monarchie. 7 Bogdanov: Jakobinska zavjera Ignjata Martinovića, S. 7, meine Übersetzung. Im Original: „ja sam izvršio kritičku analizu Fraknóijevih argumenata i ustanovio, da su njegove tvrdnje o nekarakternosti, špijunstvu i denuncijanstvu Ignjata Martinovića krive, da se nalaze u suprotnosti sa stvarnim stanjem historijskih činjenica, i da su očito plod lične netrpeljivosti i mržnje klerikalca Fraknóija protiv Martinovića“. Jelena Spreicer 176 Wie Helmut Reinalter im Handbuch zur Geschichte der demokratischen Bewegungen in Europa zeigt, lassen sich demokratische Vorstellungen schon bei frühen Kritikern der absolutistischen Herrschaftsform feststellen. 8 Als im 18. Jahrhundert der durch die philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Politik eingeleitete Prozess der Politisierung der Gesellschaft mehrere politische Optionen hervorbrachte, war eines der Ziele früher Demokraten die Abschaffung des Absolutismus. 9 Im 14-bändigen Standardwerk zur österreichischen Geschichte, herausgegeben von Herwig Wolfram, 10 schildert Karl Vocelka die Entwicklung demokratischer Ideen zur Regierungszeit Leopold II. Schon vor der Französischen Revolution standen, so Vocelka, einige Intellektuelle in Österreich und Ungarn unter dem Einfluss des aufklärerischen Denkens von Montesquieu und Rousseau, so dass beispielsweise schon 1785, zehn Jahre vor der Hinrichtung jakobinischer Verschwörer, Graf Joseph Esterházy eine neue ungarische Verfassung schrieb, in der Ungarns Umgestaltung in eine Republik anvisiert wird. 11 Die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Problem der Staatsordnung vollzog sich vorwiegend in Medien der Aufklärung: in Büchern, Zeitschriften und geheimen Gesellschaften, wobei als ein erster Schritt nicht die Forderung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes, sondern die Umsetzung absolutistischer in konstitutionelle Monarchien unterstützt wurde. Neue Tendenzen in der europäischen politischen Landschaft bekamen einen bedeutenden Entwicklungsschub durch die Französische Revolution, die in der Habsburger Monarchie bei den Gegnern der absolutistischen Herrschaftsordnung die Hoffnung auf die Realisierbarkeit der neuen Staatsform erweckte; ein Ziel, dem durch Napoleons Aufstieg zur Macht ein provisorisches Ende gesetzt wurde. 12 In den deutschsprachigen Ländern war jedoch, so zumindest Reinalter, keine Revolution nach dem französischen Modell realisierbar, weil dazu die materiellen Bedingungen fehlten, beziehungsweise weil sich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation von derjenigen in Frankreich grundsätzlich unterschied. Darauf ist auch das auffälligste Merkmal der jakobinischen Bewegung in Ungarn und Kroatien - der Glaube an die Realisierbarkeit eines friedlichen und schließlich auch legalen Übergangs aus der absolutistischen in die konstitutionelle Staatsordnung - zurückzu- 8 Reinalter: Handbuch, S. 11. 9 Vgl Reinalter: Handbuch, S. 12. 10 Wolfram, Herwig (Hg.): Österreichische Geschichte. Wien: Carl Ueberreuter Verlag 2003. 11 Vocelka, Karl: „Band 10. Österreichische Geschichte 1699-1815. Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im Habsburgischen Vielvölkerstaat“, in: Österreichische Geschichte (Hg. Herwig Wolfram, S. 275. 12 Vgl. Reinalter: Handbuch, S. 14. Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit 177 führen. 13 Noch bedeutungsträchtiger als die Veränderung der Staatsform war ihre logische Vorbedingung: die Abschaffung aristokratischer Privilegien. Die führende Kraft der Jakobiner in Ungarn und Kroatien - Ignaz Martinovics - teilte diese Überzeugung. Martinovics, geboren in einer serbischen Familie, die 1690 nach Pest umsiedelte, wo der Vater als österreichischer Offizier zum Katholizismus konvertierte, war ein Musterbeispiel für die komplexe, multikulturelle Mischung von Identitäten im Habsburgerreich. 14 Martinovics’ theologische Ausbildung und, laut seinen eigenen Angaben, unter Zwang abgelegte Gelübde führten zur lebenslangen Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche und zur Kritik an den aristokratischen Privilegien, weswegen er zum uneingeschränkten Anhänger josephinistischer Reformen wurde. Da seine akademische Laufbahn wegen seiner ausgesprochenen antiklerikalen Einstellungen zum Stillstand gebracht wurde, trat Martinovics in den Dienst von Leopold II. ein, um als Mitglied der Geheimpolizei die reaktionäre anti-josephinistische Bewegung in Ungarn zu bekämpfen. Zu der Zeit verfolgte Leopold II. die Absicht, eine verfassungsmäßige Monarchie einzuleiten und arbeitete an einem neuen Verfassungsentwurf, aus dem ersichtlich wird, dass Wien in Fragen der Staatsordnung zu kleinen, aber tragfähigen Kompromissen bereit war: Die neue Konstitution für Ungarn wird aus den Grundsätzen des Staatsrechtes hergeleitet, sie wird nicht demokratisch, wie die französische, aber auch nicht so unvollkommen, wie die englische Konstitution. […] Nur der König wird das Recht haben, neue Fragen auf zu werfen, oder auch andre zwei Stände mit Einwilligung des Königs; aus Beantwortung solcher Fragen können neue Gesetze entstehen; der König muß zwischen zwei über eine Frage streitenden Stände den Ausschlag geben, wodurch er schon die Sanktion des Gesetzes giebt. Die Konstitution wird so beschaffen sein, daß nie eine Empörung oder Verzögerung der Geschäfte im Lande wird entstehen können und auch niemals die Rechte des Königs werden vermindert sein können. 15 In der zukünftigen Verfassung war demnach für den Monarchen die vorsitzende Position in einem Parlament, das aus zwei Häusern besteht, vorgesehen: Die erste Kammer würde aus Vertretern der Aristokratie und die zweite aus Vertretern des Bürgertums bestehen, was als Erweiterung der josephinistischen Reformen und Anpassungsbereitschaft der Krone an die neuen gesellschaftlichen Umstände verstanden werden kann. Der vorzeitige Tod des Kaisers verhinderte jedoch die Umsetzung des Vorhabens und Martinovics gelang es nicht, den Thronfolger, Franz II., von der Notwendigkeit der Fortsetzung dieses Plans zu überzeugen. Um die Kriegsbereitschaft ungari- 13 Ebd., S. 151. 14 Alle biografischen Informationen über Ignaz Martinovics sowie andere Verschwörer sind den vorher angeführten Studien von Vaso Bogdanov und Denis Silagi entnommen. 15 Zit. nach Silagi: Jakobiner in der Habsburger-Monarchie, S. 125. Jelena Spreicer 178 scher feudaler Herren zu sichern, wurden die josephinistischen Reformen zurückgezogen; ein Umstand, den Martinovics dazu bewog, Schriften und Flugblätter gegen Franz II. zu verfassen und in Ungarn weitere Vorbereitungen für die Revolution durchzuführen. Beide geheimen Gesellschaften 16 hatten ein gemeinsames Ziel: die Zahl der Mitglieder auf 200.000 zu erhöhen und danach mit vereinten Kräften im Parlament die Abschaffung der Hofkanzlei und Einberufung des neuen Parlaments, das den Staat für eine demokratische Republik erklären sollte, zu verlangen. In Kroatien wurden diese Aktivitäten von Ivan Lacković und Josip Kralj übernommen, wobei die Begeisterung für die jakobinische Idee angeblich auch die kirchlichen Reihen ansteckte. Während der Vermittlung gegen die Jakobiner wurde sogar der Zagreber Bischof Maksimilijan Vrhovac verdächtigt, aber aus Mangel an Beweisen wurde gegen ihn nie prozessiert. Im Zusammenhang mit diesem kurzen Überblick über den Verlauf der Verschwörung sind im Hinblick auf Zagorkas Darstellung der Ereignisse zwei Tatsachen im Auge zu behalten: Erstens, in keinem von den drei vorher erwähnten historiografischen Werken über Martinovics wird von nationaler Zugehörigkeit als Motivation für das politische Handeln gesprochen. Am weitesten geht Silagi, der Folgendes behauptet: „Es fehlte ihm [Martinovics] jede Spur des nationalen Empfindens. Bezeichnenderweise besitzen wir von seiner Hand lateinische, deutsche, französische, italienische aber keine magjarischen Texte, obschon er anzugeben pflegte, das Magjarische zu beherrschen.“ 17 Interessanterweise ist es für Silagi naheliegend, dass Martinovics aufgrund seiner politischen Interessen und trotz seiner serbischen Herkunft die Zugehörigkeit zu dem ungarischen nationalen Gefühl pflegen sollte, was allerdings mit den überlieferten Dokumenten nicht übereinstimmt. Zagorkas Darstellung von Martinovics, aber insbesondere von anderen Verschwörern kroatischer Herkunft, bildet einen starken Kontrast zu Silagis Feststellung: Im Roman Republikanci ist die Motivation für das illegale politische Handeln eine eindeutig nationale und national motivierte. Das kroatische Selbstbestimmungsrecht kann in diesem Sinne nur durch die republikanische Staatsform garantiert werden, wobei ausnahmslos alle Verschwörer sich dazu bekennen, ausschließlich im Interesse des kroatischen Volkes zu handeln. Zweitens, Martinovics’ reformatorisches Anliegen galt in erster Linie der Veränderung des ungarischen Parlaments und der ungarischen Staatsord- 16 Der Unterschied zwischen der Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit und der Gesellschaft der Reformatoren ist bis heute nicht genau bekannt. Vermutet wird jedoch, dass Mitglieder einer der beiden Gesellschaften nur dem Adel entstammten. Vgl. Bogdanov: Jakobinska zavjera Ignjata Martinovića, S. 23. 17 Silagi: Jakobiner in der Habsburger-Monarchie, S. 118. Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit 179 nung, weswegen seine Tätigkeit nicht als innovatives politisches Moment, sondern als Weiterführung derjenigen Reformen, die Leopold II. aus zeitlichen Gründen nicht mehr durchführen konnte, angesehen werden sollte. Die angestrebte Staatsform war dementsprechend keine Republik, sondern eine konstitutionelle Monarchie, die nach amerikanischem Vorbild aus föderativen Einheiten mit eigenständiger Gesetzgebung bestehen, aber dennoch der ungarischen Krone unterliegen würde. Selbst wenn Martinovics und die Jakobiner in ihren Absichten erfolgreich gewesen wären, würde dies für Kroatien noch lange nicht die von Zagorka öffentlich herbeigeschworene Unabhängigkeit bedeuten. Diese Tatsache wird im Roman bis auf eine Ausnahme konsequent verschwiegen: Die einzige Gelegenheit, Details der zukünftigen Staatsordnung mit Martinovics zu besprechen, bietet sich dem Bischof Vrhovac an. Bevor Martinovics die Frage stellt, ob er in der Durchführung seiner Absichten mit kroatischen Oppositionellen rechnen könne, zeichnet er in groben Umrissen den zukünftigen Status Kroatiens im neuen Staat: „Wie Sie meinem Plan entnehmen können, ist Kroatien ein freies Volk und ein unabhängiger Teil des Staates. Kroatien wird wiederum einen Ban mit absoluter Macht und ein Parlament mit dem Recht, das Land zu verwalten, haben.“ 18 Bis zum Ende des Romans verändert sich jedoch das Bild des zu realisierenden Staates: Der Protagonist Delivuk erklärt seinen Söhnen, dass gemäß dem ursprünglichen Plan der Verschwörung „die Mitglieder der demokratischen Gesellschaft sich treffen und die ungarisch-kroatische Republik ausrufen sollten“. 19 Trotz der Tatsache, dass im Roman die volle Übereinstimmung ungarischer mit den kroatischen Zielen impliziert wird, entzieht sich der politische Aktivismus der Autorin ihrer narrativen Kontrolle, so dass der Verschwörung ein anachronisches Verständnis der Nation und des Nationalstaates imputiert wird, das in dieser Form im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts nicht existierte. In der ersten Szene des Romans spielt sich am Hof Franz II. eine dramatische Szene ab. Kaiserin Maria Theresia von Neapel-Sizilien arrangiert ein geheimes Treffen mit ihrem Cousin und Liebhaber Alfons, mit dem sie nach dem tragischen Schicksal ihrer Tante, Marie-Antoinette, die wachsende Angst vor einer jakobinischen Revolution in Österreich bespricht. Die private Audienz wird jedoch durch den Eingriff der Obersthofmeisterin Dora 18 Jurić Zagorka, Marija: Republikanci. Zagreb: Školska knjiga 2006, S. 330, Hervorhebung und Übersetzung J.S. (Im Original: „Kako vidite ovdje prema mom planu, Hrvatska je slobodan narod i samostalan dio države. Ona će opet imati svoga bana s potpunom vlašću i sabor koji ima pravo da upravlja zemljom.“) Im weiteren Text mit dem Sigle R und Seitenangabe zitiert. 19 R, S. 920, Hervorhebung und Übersetzung J.S. Im Original: „[…] a članovi demokratskog društva sastali bi se i proglasili ugarsko-hrvatsku republiku“. Jelena Spreicer 180 Höllenbach unterbrochen, die dem Kaiser sofort von der verbotenen Liebe seiner Gattin berichtet, aber die Kaiserin wird gerettet von Ksenija Magdalenić, welche die Verantwortung für die Affäre mit Alfons übernimmt und die Aufmerksamkeit des Kaisers von der Erfüllung seiner libidinösen Wünsche auf die politische Situation im Habsburgerreich lenkt. Dabei übernimmt sie die Aufgabe, als des Kaisers Spionin in Kroatien die Identität eines der prominentesten kroatischen Jakobiner, in Wien nur unter dem Pseudonymen „der Löwe“ bekannt, zu entdecken und ihn samt anderer Verschwörer dem Gericht in Wien auszuliefern. Im weiteren Verlauf des Romans verliebt sich Ksenija jedoch in den „Löwen“ und wird selbst zu einer unermüdlichen Kämpferin gegen das habsburgische monarchistische System. Schon die erste Romanszene bringt die typischen Merkmale des Romanschaffens von Marija Jurić Zagorka zum Vorschein: Vor der Folie authentischer historischer Ereignisse spielt eine Handlung, in der, so der kroatische Literaturwissenschaftler Krešimir Nemec, „dynamische Motive und fertige Formeln aus Liebes-, Abenteuer- und [...] Ritterromanen“ 20 reichlich vorhanden sind. Kennzeichnend für den Fortsetzungsroman im Allgemeinen (und insbesondere für den vorliegenden Roman), ist eine fast unüberschaubare Figurenkonstellation, in der sich historisch authentische Persönlichkeiten mit rein fiktionalen Figuren in mehreren, miteinander parallellaufenden Handlungssträngen vermischen, wobei alle Figuren außer den Protagonisten eindimensional und schwarz-weiß dargestellt werden. In diesem Kontext besetzen die Mitglieder der Dynastie Habsburg und Personen aus ihrem unmittelbaren Umfeld die Rolle dämonischer und dämonisierter Figuren, derer Charakterzüge die Spannbreite von sexueller Pervertiertheit bis zum pathologischen Hunger nach Macht abdecken. Die Personifizierung des Mangels an Intelligenz, pathologischer Angst vor dem Verlust der Machtposition und politischer Unreife ist der Kaiser selbst, der auf die in der Pariser Zeitung „Moniteur“ veröffentlichte Beleidigung, er habe keine kognitiven Fähigkeiten, antwortet, dass ein Kaiser diese gar nicht nötig habe. 21 Im starken Kontrast zu den reaktionären, egozentrischen Kräften am Wiener Hof stehen Martinovics und seine Verbündeten in Kroatien - Vrhovac, Lacković, Kralj und Bedeković, die dem gesellschaftlichen und politischen Fortschritt vor ihren privaten Wünschen und Angelegenheiten Vorrang geben und ständig nur im Interesse des kroatischen Volkes handeln. Während Bedeković dem Ideal der Demokratie sein Liebesglück opfert (indem er seiner eifersüchtigen Verlobten die Erklärung für seine Abwesenheit während der geheimen Tref- 20 Nemec, Krešimir: Povijest hrvatskog romana od 1900. do 1945. Zagreb: Znanje 1998, S. 76, meine Übersetzung. 21 R, S. 9. Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit 181 fen von Jakobinern verweigert), geht Josip Kralj sowohl in der Romanfiktion als auch in der historischen Realität einen Schritt weiter und begeht kurz vor der Verhaftung Selbstmord, um seine Verbündeten vor der Verfolgung zu beschützen. Obwohl sie sich aus chronologischen Gründen an der Handlung nicht beteiligen können, werden im Verlauf des Geschehens jedoch öfters zwei Figuren evoziert, deren Darstellung die binäre Figurenkonstellation des Romans unterminiert - Maria Theresia und Joseph II. Diese zwei historischen Figuren werden ausnahmslos positiv konnotiert, und zwar als einzige Herrscher aus der Dynastie Habsburg, die durch die intendierte Abschaffung von aristokratischen Privilegien im Interesse aller Völker und aller Bürger der Monarchie handelten. Anders gesagt werden in der narrativen Welt von Zagorka die Habsburger erst dann zu dämonischen Figuren, wenn sie, wie Franz II., die Hierarchie gesellschaftlicher und politischer Strukturen aufrechterhalten möchten. Eine logische Weiterführung dieses Argumentes ist die Feststellung, dass dementsprechend nicht die Existenz der Monarchie an sich, sondern die ungünstige Position Kroatiens innerhalb dieses Staatsgebildes als problematisch angesehen wurde, was wiederum suggeriert, dass sich die kroatische Lage durch eine monarchistische Intervention eventuell, wie zu Regierungszeiten von Maria Theresia und Joseph II., verbessern ließe. Für diese und weitere Ambivalenzen und Amplituden im Schaffen von Zagorka wurde von der kroatischen Literaturwissenschaft noch keine einleuchtende Erklärung geliefert. Wie Tatjana Jukić 2012 gezeigt hat, ist auch heute, mehr als 50 Jahre nach Zagorkas Tod, der „Ausgangspunkt der Beschäftigung mit ihrem Schaffen eine Entschuldigung dafür, dass so etwas überhaupt getan wird, oder eine Erklärung, womit ihre Literatur das Engagement der Literaturwissenschaft überhaupt verdient“. 22 Erst nach 2000, als sich, so Suzana Coha, 23 die kroatische Literaturwissenschaft durch die Revalorisierung der Populärliteratur, Dekonstruktion des Ästhetik-Begriffs und das gesteigerte Interesse für ›écriture féminine‹ für Zagorkas Werk sensibilisierte, wurden erste Untersuchungen zum Roman Die Republikaner veröffentlicht. Im Vergleich zu anderen Romanen erregten Die Republikaner auffallend viel kritischer Aufmerksamkeit, was auf zwei Gründe zurückzuführen ist. Erstens handelt es sich um einen zu Zagorkas Lebzeiten höchst provokativen historischen Stoff und zweitens unterscheiden sich Die Republikaner beträchtlich von anderen historischen Romanen derselben Autorin. 22 Jukić, Tatjana: „Republikanci i revolucija: politika Zagorkine književnosti“, in: Perivoj od slave. Zbornik Dunje Fališevac. Hgg. Tomislav Bogdan et. al. Zagreb: FF Press 2012, S. 355-364, hier S. 355, meine Übersetzung. 23 Vgl. Coha, Suzana: „Nosi se Zagorka“, in: Vijenac 432 (23.9.2010). <http: / / www.matica.hr/ vijenac/ 432/ Nosi%20se%20Zagorka/ > (Zugriff 20.7.2016). Jelena Spreicer 182 Die Notwendigkeit der noch bevorstehenden literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihrem Werk spiegelt sich am besten in der Tatsache wider, dass noch keine einheitliche Bibliografie ihrer journalistischen und literarischen Texte vorliegt. Dementsprechend ist auch der fehlende Konsens der kroatischen Literaturwissenschaft über die auf den ersten Blick unkomplizierte Genrezuordnung von Zagorkas Romanen nicht überraschend. Während im Lexikon kroatischer Autoren 24 im Kontext ihres Schaffens von historisch-trivialen Romanen gesprochen wird, bezeichnet Slobodan Prosperov Novak ihre Werke als Liebesund/ oder Abenteuerromane mit „völlig eindimensionalen Figuren, bei denen weder eine psychologische noch sonst eine tiefe Motivation zu finden ist“. 25 Einen der gelungenen Versuche, Zagorkas Werke ohne Rekurs auf Werturteile zu analysieren, unternimmt Maša Kolanović, die anhand des Romans Die Tochter von Lotršćak (Kći Lotršćaka, 1921-1922) die Produktivität der Analyse Zagorkas Romane im Kontext der Romanze demonstriert. 26 Ausgehend vom historischen Überblick über die Entwicklung des Genres von seinen Anfängen in Frankreich im 12. Jahrhundert, als er narrative Texte in der Volkssprache bezeichnete, bis zur Gegenwart, in der er als Synonym für die „Massenproduktion von Kriminal-, Liebes- und SF-Romanen und Zeitschriften für ein emotional armes Publikum“ 27 verwendet wird, legt Kolanović das narrative Schema eines solchen Romans fest: Die Romanheldin wird einem Entwicklungsprozess unterzogen, während dessen sich nach einer hohen Zahl von Peripetien und überraschenden Handlungswendungen ihr ursprünglicher Antagonismus gegenüber dem aristokratischen Protagonisten in wahre Liebe umwandelt. Die Liebesgeschichte spielt dabei oft vor der Folie authentischer historischer Ereignisse oder vor der ethnografischen Kulisse der Stadt Zagreb in ihrer Vergangenheit. Während sich die Produktivität dieses Modells für die Analyse des Romans Die Tochter von Lotršćak, die Kolanović durchführt, nicht leugnen lässt, entzieht sich der Roman Republikanci auch diesem Kategorisierungsversuch. Auf den ersten Blick entspricht der Anfang des Romans in vielerlei Hinsicht der schon erprobten und produktiven Formel: Der primäre Handlungsstrang ist eine unmögliche Liebesgeschichte, die vor der Folie spektakulärer historischer Ereignisse spielt. Im Laufe der Handlung kommt es jedoch zu einer Umkehrung zweier Handlungsstränge, denn quantitativ gesehen wird 24 Leksikon hrvatskih pisaca. Hgg. Dunja Fališevac, Krešimir Nemec, Darko Novaković. Zagreb: Školska knjiga 2000, S. 317. 25 Prosperov Novak, Slobodan: Povijest hrvatske književnosti. Zagreb: Golden Marketing 2003, S. 300f. 26 Kolanović: Od pripovijedne imaginacije do roda i nacije, S. 334-354. 27 Ebd., S. 333. Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit 183 die Liebesbeziehung von Ksenija und Delivuk ausführlich nur im ersten der drei Großkapitel und am Ende des Romans thematisiert. Der Rest der Handlung, die mit der Entdeckung der Verschwörung und Hinrichtungen nicht endet, sondern auch die Regierungszeit Napoleons in den zwischen Österreich und Frankreich geteilten kroatischen Ländern miteinbezieht, verbringen die Protagonisten getrennt. Obwohl mit der Vollstreckung des Todesurteils die Hoffnung auf die schnelle Umsetzung der Reformen erlischt, wird die Narration unaufhaltsam weitergetrieben. Der von Ksenija aus der Haft gerettete Delivuk schließt sich den napoleonischen Truppen an und setzt den Kampf gegen Kaiser Franz II. auf der Seite seines größten Feindes fort, der, genauso wie die dämonisierten Vertreter der Dynastie Habsburg, imperiale und imperialistische Züge aufweist. Die Schlussfolgerung drängt sich auf: In diesem Roman wird ausnahmsweise die Liebesgeschichte zur Kulisse, beziehungsweise zur notwendigen erzähltechnischen Rechtfertigung für die ausführliche Narration über historische Ereignisse. Obwohl Ksenija sich selbst und Delivuk ihre Gefühle sehr früh im Roman gesteht, muss sie einen fast zehnjährigen Weg der Emanzipation von geerbten Denkmustern gehen. Erst wenn sie am Ende dem Ideal der Demokratie alles - Reichtum, einen bequemen Lebensstil, den hohen Status am Wiener Hof, alle Mitglieder ihrer Familie, die Liebe ihres Lebens und schließlich fast auch ihr eigenes Leben - opfert, erweist sie sich als würdig des Liebesglücks. In der Zwischenzeit wird die Handlung von einer dritten Protagonistin dominiert: von der demokratischen Revolution selbst, die zwar ständig nur vorbereitet und antizipiert, aber in der Realität unendlich in die Zukunft verschoben wird. Die ansonsten für den trivialen Liebesroman gängigen Motive männlicher und weiblicher Antagonisten, die sich in das Liebesglück des jungen Paars einmischen, erscheinen demnach nicht im Kontext der Liebeshandlung, sondern ihres historischen Hintergrunds: Die Realisierung der Revolution wird durch ein unglaubliches Ausmaß von Intrigen und narrativen Wendungen verhindert, so dass der geplante Umsturz gesellschaftlicher Ordnung den gegebenen Rahmen des Romans sprengt und am Ende noch weiter in die Zukunft projiziert wird. Wo bleibt also die im Titel des Romans angekündigte Revolution? Erst nach Napoleons Niederlage in Russland geht die Hoffnung auf die Wiedervereinigung kroatischer Länder unter der französischen Krone endgültig verloren. 1813, unmittelbar vor der Zurückeroberung Illyrischer Provinzen durch österreichische Truppen, fliehen Ksenija und Delivuk nach Frankreich, wo Ksenija zwei Söhne zur Welt bringt. Das Versprechen der republikanischen Revolution gerät zwar nicht in Vergessenheit, aber seine Erfüllung wird vermutlich von der nächsten Generation getragen werden, weil die Kinder am Ende des Romans von ihren Eltern in die Heimat geschickt werden, um dort das unvollendete Projekt des kroatischen Jelena Spreicer 184 Nationalstaats zu verwirklichen. Besonders aufschlussreich in diesem Sinne ist die Analyse von Tatjana Jukić, die hervorhebt, dass die Namen der Söhne von Ksenija und Delivuk (Marko und Jurica) „eine gewisse Synekdoche für Marija Jurić Zagorka […] darstellen. Auf diese Weise stellt Zagorka ihre eigene Person als Resultat jakobinischer Verschwörung und Bindeglied zwischen der Französischen Revolution und der Kroatischen Nationalen Wiedergeburt vor“. 28 Dem Argument von Tatjana Jukić folgend ist die Zukunft von Marko und Jurica die Gegenwart von Marija Jurić Zagorka, die im entscheidenden Moment der gesellschaftlichen Krise das Potenzial für die Realisierung eines unabhängigen Staates erkennt. Ihre Manipulation historischer Quellen und groteske Dämonisierung der Habsburger Dynastie geht dabei Hand in Hand mit dem in ihren autobiografischen Texten proklamierten politischen Programm: der politischen und intellektuellen Emanzipation des (weiblichen) Lesepublikums. Abschließend kann Zagorkas Darstellung des kroatischen nationalen Bewusstseins am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts als ahistorisch bezeichnet werden, weil zu der Zeit vergleichbare Identitätsmuster eher mit dem Begriff eines lokal bedingten Patriotismus als Nationalismus in Verbindung gebracht wurden. Wie Karl Vocelka schildert, waren Napoleons Eroberungskriege in Europa kein Grund für die Vertiefung und Verbreitung der republikanisch-demokratischen Idee. Ganz im Gegenteil: Zur Zeit napoleonischer Kriege wurde die Konsolidierung des Volkes im Kampf gegen die konkurrierende imperialistische Ambition Napoleons durch den regionalen Patriotismus verwirklicht. 29 Das Wort „Patriot“ bedeutet zum Zeitpunkt der Verschwörung also „Loyalität zum Herrscher“, beziehungsweise das direkte Gegenteil dessen, was Zagorka in ihrem Roman schildert. Ferner war für die intellektuellen Eliten in der Habsburger Monarchie die Abgrenzung vom Patriotismus und Kosmopolitismus von zentraler Bedeutung. Während Kosmopolitismus von politischen Machtzentren vertreten wurde, tauchen (lokal-)patriotische Gefühle vor allem im dörflichen Milieu auf: Der um 1800 verwendete Nationsbegriff enthielt kaum Bezugsnahmen auf sprachliche oder ethnische Zugehörigkeiten, es war ein politischer Nationsbegriff, man versuchte das Staatsvolk, die Staatsnation zu mobilisieren. Auch die einzelnen Länder verwendeten den Begriff „Nation“, man sprach von der tirolischen, steierischen, böhmischen und ungarischen Nation. 30 Entscheidend in dieser Hinsicht ist die Tatsache, dass die imperiale Staatsform vor 1789 durchaus fähig war, politische Krisen in Form von Revolutio- 28 Jukić: Republikanci i revolucija, S. 395f. (Hervorhebung und Übersetzung J.S.). 29 Vgl. Vocelka: Geschichte Österreichs, S. 277. 30 Ebd, S. 278. Die Suche nach Zukunft in der Vergangenheit 185 nen zu überleben. Aus den Ereignissen der Französischen Revolution gehen allerdings im politischen und kulturellen Imaginarium anderer europäischen Länder Visionen des republikanischen Nationalstaats hervor, die trotz ihrer damaligen Unrealisierbarkeit einen andauernd starken Einfluss auf die folgenden politischen Entwicklungen hatten. Da die Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht eines Landes wesentlich älter als die Idee der nationalen Konsolidierung ist, wird die Idee des Nationalen zum Mittel im Kampf gegen die aufgezwungene politische und teilweise auch kulturelle Homogenität im ungarischen Teil der Monarchie nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich. Die für den Roman in vielerlei Hinsicht fatale Unrealisierbarkeit des Nationalstaates steht in Verbindung mit der Ambivalenz gegenüber beiden Herrschaftsmodellen. Die Sympathie, welche die Erzählinstanz für die Herrscher des aufgeklärten Absolutismus zeigt, als auch die hemmungslose und im Hinblick auf ihre republikanischen und demokratischen Einstellungen überraschende Bereitschaft der Protagonisten, sich dem Kampf Napoleons gegen die Habsburger Monarchie anzuschließen, deuten darauf hin, dass die gegen den Begriff des Imperialen empfundene Animosität keine absolute, sondern eine relationale ist. Wodurch sich die napoleonische, ebenso imperiale Herrschaft von derjenigen Franz II. grundsätzlich unterscheidet, ist, so die Figuren im Roman, sein Verständnis für den Anspruch auf Autonomie, den das kroatische Volk erhebt. Dass es zu dieser Autonomie im napoleonischen System ebenso wenig wie im habsburgischen kommen konnte, liegt auf der Hand. Die gesellschaftliche und politische Krise, in die Österreich-Ungarn nach dem Attentat in Sarajevo geriet, war auch eine konzeptuelle. Was Zagorkas Roman trotz seiner expliziten Befürwortung eines unabhängigen, demokratischen Nationalstaates impliziert, ist die radikale, pathologische Unentschlossenheit zwischen Autonomie im neudefinierten imperialen Kontext und dem noch unverwirklichten Potenzial der demokratischen Staatsordnung. Die historische Posterität ermöglicht uns die Erkenntnis darüber, dass das von Zagorka intendierte Scheitern an der befriedigenden Lösung des primären narrativen Konfliktes - desjenigen zwischen dem Kaiser Franz II. und den aufgeklärten intellektuellen Eliten in Ungarn und Kroatien - auf ihre tagespolitische Überzeugung von der Möglichkeit eines in der unmittelbaren Zukunft realisierbaren republikanischen Projektes, in dem sie sich und ihrer Literatur eine pädagogisch-didaktische Rolle zuordnete, zurückzuführen ist. Nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie wird Kroatien jedoch zum Teil eines anderen Königreichs, das keinerlei demokratische Züge aufgewiesen hat. Auf eine moderne demokratische Republik wird Kroatien noch mehrere Jahrzehnte warten müssen. Jelena Spreicer 186 Marijan Bobinac (Zagreb) Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ Zu Miroslav Krležas Text Eine betrunkene Novembernacht 1918 (Requiem für Habsburg) * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Vgl. Lasić, Stanko: Krležologija ili Povijest kritičke misli o Miroslavu Krleži. Bd. 3: Miroslav Krleža i Nezavisna Drržava Hrvatska (10.4.1941-8.5.1945). Zagreb, Ljubljana: Globus, Delo 1989, S. 28, 31. Die Angaben zu Krležas Biographie beruhen v. a. auf: Lasić, Stanko: Krleža. Kronologija života i rada. Zagreb: Grafički zavod Hrvatske 1982; vgl. auch: Vel. V. (= Velimir Visković): „Životopis“, in: Krležijana. Bd. II. Hg. v. Velimir Visković. Zagreb: Leksikografski zavod Miroslav Krleža 1999, S. 552-589. Mir war es gleichgültig, ob mich „Dido oder Đido“ 1 umbringen werde, soll Miroslav Krleža einmal die ihm oft gestellte Frage, weshalb er während des Zweiten Weltkriegs in Zagreb blieb und nicht zu den Partisanen in den Wald ging, beantwortet haben. Krležas sarkastisches Wortspiel, wonach ihm Todesgefahr sowohl vom faschistischen Ustascha-Regime, personifiziert in Gestalt von Eugen ‚Dido‘ Kvaternik, dem Chef des Ustascha-Sicherheitsdienstes, als auch vom dogmatischen Flügel der kommunistischen Partisanen, verkörpert im führenden KPJ-Ideologen Milovan Đilas ‚Đido‘ gedroht habe, verweist auf das Dilemma, mit dem sich der kroatische Schriftsteller zwischen 1941 und 1945 konfrontiert sah. Die Führung der jugoslawischen Kommunistischen Partei, mit der sich Krleža in den 1930er Jahren in ästhetischen und politischen Fragen gründlich zerstritten hatte, erklärte den undogmatischen Marxisten schließlich zum ‚revisionistischen‘ und ‚trotzkistischen‘ Abweichler und verzichtete auf jegliche Kontakte mit ihm. Die für Krleža schwer erträgliche Isolation auf der linken politischen Szene, in die er um 1940 getrieben wird, hört auch nach der Ausrufung des faschistischen kroatischen Staates im April 1941 nicht auf: So wird er während einer kurzen Verhaftung durch die Sicherheitskräfte des neuen Regimes von kommunistischen Mithäftlingen verächtlich bespuckt. Zudem ist er sich dessen bewusst, dass er sich als prononcierter linker Intellektueller, der in der Zwischenkriegszeit von der nationalistischen und klerikalen Rechten oft angefeindet wurde, nun in äußerster existenzieller Bedrängnis befindet: 1941 wurde er mehrmals verhaftet und wieder auf den freien Fuß gesetzt, seine Bücher wurden verbrannt; die Ustascha-Führung, offenbar eine internationale Blamage befürchtend, verzichtete schließlich auf weitere Repressalien gegen den angesehenen Autor. Aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen und völlig vereinsamt, konzentriert sich Krleža in den Kriegsjahren vor allem auf die literarische Arbeit. In den beiden Zwischenkriegsjahrzehnten hat er ästhetisch relevante Werke im Bereich der Lyrik, Erzählprosa, Drama und Essayistik vorgelegt, nun fokussiert er sich auf eine Textsorte, mit der er sich seit den Jahren des Ersten Weltkriegs nur sporadisch beschäftigt hat - auf Tagebuchaufzeichnungen. Krležas diaristisches Schreiben lässt sich allerdings - wie Viktor Žmegač bemerkt - auf kein „im Voraus bestimmtes Modell“ zurückführen, da der Autor „immer wieder verschiedene Typen von Tagebuchaufzeichnungen miteinander zu verknüpfen pflegte, manchmal auch in einer interessanten, merkwürdigen Konfrontation heterogener Diskurse“. 2 Dabei bezieht sich Žmegač namentlich auf Krležas zuerst 1956 veröffentlichtes Buch Davni dani. Zapisi 1914-1921 (Ferne Tage. Aufzeichnungen 1914-1921). 3 In dieses gattungsmäßig hybrid und thematisch vielfältig strukturierte Werk, das „Elemente chronikalischer Aufzeichnungen“ mit „der Dimension der Vergangenheit“ verbindet, sind auch einige autobiographische Texte integriert. Zu diesen Texten, die zwar mit dem tagebuchartigen Korpus eng zusammenhängen, zugleich aber als selbstständige Einheiten fungieren und als solche auch in Druckform erschienen sind, gehört auch die autobiographische Aufzeichnung Pijana novembarska noć 1918 (Eine betrunkene Novembernacht 1918), die Krleža 1942 geschrieben und mit einem hinzugefügten Epilog zuerst 1952 4 veröffentlicht hat. (Ins Deutsche wurde der Text von Božena Begović übersetzt und unter dem Titel Requiem für Habsburg in einer gleichnamigen Auswahl aus Krleža Erzählwerk 1968 veröffentlicht. 5 Da in der deutschen Übersetzung der Epilog fehlt, wird im Folgenden - soweit es um diesen Textteil geht - nach der neuesten kroatischen Ausgabe zitiert.) 6 2 V. Žm (= Viktor Žmegač): „Dnevnik“, in: Krležijana. Bd. II. Hg. v. Velimir Visković. Zagreb: Leksikografski zavod Miroslav Krleža 1993, S. 152-158, hier S. 155. 3 In Buchform zum ersten Mal im Rahmen der sog. Zagreber Ausgabe der Gesammelten Werke veröffentlicht: Krleža, Miroslav: Sabrana djela. Bd. 11-12. Zagreb: Zora 1956. Eine erweiterte Ausgabe der Fernen Tage ist im Rahmen der sog. Sarajevoer Ausgabe der Gesammelten Werke als Teil der fünfbändigen Tagebuch-Edition erschienen: Krleža, Miroslav: Sabrana djela. Dnevnik. Bd. 1-5, Sarajevo: Oslobođenje 1977. 4 Krleža, Miroslav: „Pijana novembarska noć 1918“, in: Republika 10-11 (1952). Der Text wurde u. a. auch in folgenden Ausgaben veröffentlicht: Krleža, Miroslav: Davni dani (= Sabrana djela, Bd. 11-12). Zagreb: Zora 1956, S. 489-518; Krleža, Miroslav: Pijana novembarska noć 1918 i drugi zapisi. Sarajevo: Oslobođenje 1973; Krleža, Miroslav: Djetinjstvo u Agramu, Davni dani. Zagreb: Jutarnji list - Novi Liber 2013 (= Biblioteka 120 godina. 10 naslova Miroslava Krleže, Bd. 10), S. 127-165. 5 Krleža, Miroslav: „Requiem für Habsburg“, in: Ders.: Requiem für Habsburg. Erzählungen. München: R. Piper 1968, S. 197-228 (im Weiteren kurz zitiert mit Sigle RH und Seitenangabe in Klammern). 6 Krleža, Miroslav: Djetinjstvo u Agramu, Davni dani. Zagreb: Jutarnji list - Novi Liber 2013 (= Biblioteka 120 godina. 10 naslova Miroslava Krleže, Bd. 10), S. 127-165 (im Marijan Bobinac 188 Weiteren kurz zitiert mit Sigle DA und Seitenangabe in Klammern, ins Deutsche übersetzt von mir, MB). 7 Biographische Angaben zu Slavko und Eugen Dido Kvaternik nach: Hrvatski biografski leksikon. Bd. 8. Zagreb: Leksikografski zavod Miroslav Krleža 2013, S. 486 u. 488-489. Dass der Autor inmitten des Zweiten Weltkriegs einen skandalösen Vorfall aus dem November 1918, aus dem Interregnum vom Zerfall der Habsburger Monarchie Ende Oktober bis zur Gründung des SHS-Königreichs Anfang Dezember, zu rekonstruieren sucht, hängt sehr wohl auch mit der Schreibgegenwart des Jahres 1942, in der „die Dummheit eines ganzen Jahrhunderts im Zeichen der faschistischen Axt wiedererstanden ist“ (DA, S. 155), zusammen. Zu den Protagonisten des evozierten Eklats zählte neben Krleža selbst und einigen weiteren Zeitgenossen auch Slavko Kvaternik, ein hoher k.u.k.-Offizier, der 1918 seine Dienste prompt dem neuen südslawischen Staat anbot, jedoch schon 1921 in den Ruhestand trat und sich daraufhin in den kroatischen rechtsradikalen Kreisen politisch engagierte. Im April 1941, nach dem Angriff Hitler-Deutschlands auf das Königreich Jugoslawien, sieht ihn Krleža wie ein „Gespenst wiedererscheinen“ (DA, S. 155): In Absprache mit dem deutschen Besatzungskommando rief nämlich Kvaternik als Vertreter der „Ustascha-Bewegung in der Heimat“ am 10. April den Unabhängigen Staat Kroatien (NDH) über Radio Zagreb aus; die exekutive Gewalt übergab er an den Ustascha-Führer Ante Pavelić, als dieser wenige Tage später mit vielen anderen Exponenten der Bewegung, unter anderen auch mit Kvaterniks Sohn Eugen Dido, aus dem italienischen Exil in Zagreb eingetroffen war. Kvaternik wurde zum obersten Befehlshaber der NDH-Streitkräfte, sein Sohn wiederum, der unter anderem auch für den Betrieb der Konzentrationslager im Ustascha-Staat verantwortlich war, wurde zum Geheimdienstchef ernannt: 7 „Diese braunen und schwarzen Ameisen kriechen nun in der ungeheuren undurchsichtigen Nacht, in der das Gespenst des […] Heerführers erschienen ist, der mit seinem Sohn Dido dieses unser kroatische Land mit [dem KZ] Jasenovac befreite.“ (DA, S. 155) Gerade den „deklassierten Elementen der österreichischen militärischen Oligarchie“ wie Slavko Kvaternik, bemerkt Krleža im Epilog zur Betrunkenen Novembernacht, sollte bei der Erforschung des „zentraleuropäischen Faschismus“ (DA, S. 164) eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden: „Diese Berufsingenieure des Blutvergießens melden sich nach den verlorenen Kriegen als Hauptstörung der zentraleuropäischen und donauländischen Nachkriegshistorie […].“ (DA, S. 164) Wie richtig Krleža hier die Entstehung neuer, darunter auch rechtsradikaler politischer Kräfte im nachhabsburgischen Kroatien und Mitteleuropa diagnostiziert, wie genau er auch deren zerstörerische Gewaltpotenziale für zukünftige politische Entwicklungen erkennt, wird im Weiteren am Text Eine betrunkene Novembernacht 1918 gezeigt. Neben der autobiographi- Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 189 schen Aufzeichnung, die dramaturgisch bearbeitet mehrmals im Theater, Rundfunk und Fernsehen aufgeführt worden ist und daher in den ex-jugoslawischen Ländern einen hohen Bekanntheitsgrad genießt, sollen in diesem Zusammenhang auch andere, davor entstandene Novembernacht-Texte des Autors analysiert werden. Abschließend wird auch auf einige neuere historiographische Beiträge hingewiesen, deren Ergebnisse sich in vielerlei Hinsicht mit Krležas Einsichten decken. Das Ich der Betrunkenen Novembernacht, das zur Entstehung des Aufsehen erregenden Skandals wesentlich beigetragen hat, kann zweifellos als Krleža selbst identifiziert werden, hat sich der Autor doch nur eine Woche nach dem Ereignis in einem Zeitungsbericht dazu selbst bekannt: 8 Den Artikel, den er unter dem Titel Crno-žuti skandal (Ein schwarz-gelber Skandal) in dem Zagreber sozialdemokratischen Wochenblatt „Sloboda“ am 21. November 1918 veröffentlicht hat, versieht er nämlich mit dem Untertitel „Kommentar zu meinem Exzess an der serbischen Teeparty im Sokol“, der unmissverständlich auf ihn selbst als Verursacher des Eklats verweist. Aus Krležas eigenem wie auch aus einigen weiteren Zeitungsartikeln über den Vorfall lassen sich folgende Tatsachen festhalten: Ein projugoslawischer Frauenverein hat zu Ehren der serbischen Offiziere, die sich auf ihrer Durchreise nach Rijeka in Zagreb aufhielten, am 13. November 1918 eine festliche Begrüßungsveranstaltung im Sokol-Saal veranstaltet. Als Gastgeber fungierte Mate Drinković, Verteidigungs-Beauftragter des provisorischen Staates des Nationalrats der Slowenen, Kroaten und Serben, der in der allgemein patriotisch-pathetischen Stimmung unter anderen auch seinen Stellvertreter Oberstleutnant Slavko Kvaternik aufforderte, eine Ansprache zur Begrüßung der serbischen Militärs zu halten. Dagegen protestierte jedoch der an der Veranstaltung ebenso anwesende Krleža mit dem lauten Ausruf „Nieder mit dem Unwürdigen! “. Krleža, der damals bereits über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügte, behauptete in seinem Zwischenruf, Kvaternik sei keine geeignete Person, Grußworte an die Offiziere aus Serbien zu richten, da er als „Generalstabschef des Belgrader Gouvernements 1916“ im besetzten Serbien Menschen aufhängen ließ. Daraufhin ist es zu einem heftigen Wortwechsel gekommen, bei dem einige Festgäste Krležas Einwürfe begrüßt, andere wiederum dagegen protestiert und Kvaternik als Anhänger 8 Krleža, Miroslav: „Crno-žuti skandal. Komentar mome ispadu na srpskoj čajanci u Sokolu“, in: Sloboda 1 (21.11.1918), S. 3-4. Zum skandalösen Vorfall hat sich Krleža auch im Essaybuch Moj obračun s njima (1932) bekannt. - Über den Skandal haben ausführlich auch zeitgenössische Zagreber Zeitungen „Obzor“, „Riječ“ und „Jutarnji list“ berichtet. Zusammenfassend dazu vgl.: V. Bog. (= Vlaho Bogišić): „Crno-žuti skandal“, in: Krležijana. Bd. I. Hg. v. Velimir Visković. Zagreb: Leksikografski zavod Miroslav Krleža 1993, S. 103-104. Marijan Bobinac 190 der „Sache der nationalen Vereinigung“ dargestellt haben. In den Zeitungsartikeln wird auch auf Drinkovićs erbitterten Ausruf hingewiesen, er könnte jeden hinrichten lassen, der „unsere Idee verraten würde“, eine Aussage, die auch Krleža in seiner Aufzeichnung als einen zusätzlichen Grund für seinen Wutausbruch an diesem Abend erwähnt. Unklar ist es allerdings, ob man Krleža tatsächlich - wie er mit Nachdruck behauptet - mit Säbeln und Revolvern hinausgeworfen habe (vgl. RH, S. 226). Wie auch immer sein Abgang ausgesehen haben mag, so steht es jedenfalls fest, dass man den jungen Schriftsteller zunächst reden ließ und ihn erst dann unterbrach und aus dem Saal verwies, als er mit lobenden Worten über die Oktoberrevolution und Lenin zu sprechen begann. 9 In der fast ein Vierteljahrhundert später entstandenen Aufzeichnung Eine betrunkene Novembernacht 1918 erscheint der Teeparty-Skandal in vielerlei Hinsicht fiktionalisiert: Die Begrüßungsveranstaltung zu Ehren der serbischen Offiziere wird von Krleža nämlich als ein ungezügeltes, ausschweifendes Trink- und Fressgelage inszeniert, dessen Teilnehmer - sich im Rausch jeder Vernunft und Moral lossagend - ihren Willen zur Begründung einer neuen staatlichen Gemeinschaft feierlich bekunden, ohne über die Konsequenzen einer solchen Entscheidung davor kritisch reflektiert zu haben, ein Umstand, der das gerade entstehende Staatsgebilde schon in dessen Geburtsstunde als fragwürdig erscheinen lässt. Diesem von Krleža oft variierten - hier allerdings zum ersten Mal verwendeten 10 - Motiv kann man in verschiedenen Werken des Autors im Bild einer ‚finsteren Spelunke‘ begegnen: In der Regel handelt es sich dabei um einen Ort, an dem sich die ansonsten miteinander verfeindeten Angehörigen gesellschaftlicher Eliten nicht nur gegen unbequeme, moralisch und intellektuell überlegene Einzelne, die die Korruptheit und Verlogenheit der Führungsschichten bloßlegen, vereinigen, sondern diese Einzelgänger auch zu zerstören suchen. Im Bild eines lüstern-habgierigen, unbelehrbaren Haufens, der einem standhaften Intellektuellen entgegengesetzt wird, verbindet sich die Neigung des jungen Krleža zur Provozierung öffentlicher Skandale 11 mit der vielfach wiederkehrenden Konstellation 9 Hinzuzufügen wäre allerdings, dass - wie Vlaho Bogišić bemerkt - Drinković und anderen Festgästen in der historischen Realität keineswegs ein Anonymus gegenüberstand: Als sozialdemokratischer Aktivist hat Krleža nämlich in den vorausgegangenen Monaten des Jahres 1918 mit Drinković und seiner „Verschwörergruppe“ Verhandlungen über eine mögliche Zusammenarbeit beider Gruppierungen geführt (vgl. Bogišić: Crno-žuti skandal, S. 103). 10 Vgl. I. Fš. (= Ivo Frangeš): „Moj obračun s njima“, in: Krležijana, Bd. I. Hg. v. Velimir Visković. Zagreb: Leksikografski zavod Miroslav Krleža 1999, S. 51-52, hier S. 52. 11 Neben dem Teeparty-Skandal sei u.a. auf Krležas öffentlichen Protest gegen Diskussionen über - seiner Meinung nach - belanglose Themen auf der Versammlung des Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 191 Kroatischen Schriftstellerverbandes 1918 sowie dessen Störung einer Vorstellung des Kroatischen Nationaltheaters wegen des - in seinen Augen - jämmerlichen Repertoires 1919. seiner frühen Werke, die das Verhältnis zwischen dem genialen Individuum (oder Träumer) und der Menge in ekstatischen szenischen Bildern nach expressionistischer Art zur Darstellung bringt. Diese grundsätzliche Relation taucht z.B auch im Roman Na rubu pameti (deutscher Titel: Ohne mich. Eine einsame Revolution, eigentlich Am Rande der Vernunft, 1938) auf, wo sich der Ich-Erzähler, ein Zagreber Rechtsanwalt, mit seiner verlogenen und korrupten Umwelt gründlich zerstreitet und an diesem Konflikt schließlich zugrunde geht. Als spezifisch für Krležas Darstellung solcher Konstellationen wird oft die Durchdringung der Ereignisse in der Erzählgegenwart mit Rückblenden zu früheren Abschnitten der Geschichte und den damit zusammenhängenden Erinnerungssequenzen und Reflexionen angegeben. Im Widerstreit des aufbegehrenden Ich mit der Welt seiner Gegner, einer Welt, der er früher auch selbst angehörte und mit der er daher gut vertraut ist, ist weniger dessen Scheitern von Bedeutung als der kritische Blick, den man in verschiedene gesellschaftliche Segmente im Spannungsverhältnis von Gegenwart und Vergangenheit gewinnt. Einem solchen Wechselspiel zwischen der Erzählgegenwart und der Evozierung vergangener Ereignisse begegnet man auch im Text Eine betrunkene Novembernacht 1918, in dem das erzählende Ich - mit Verspätung auf der Teeparty erschienen - zunächst konsterniert das Toben der berauschten Menge betrachtet: Der Anblick einer nationalen Verbrüderung im Alkoholdunst weckt bei ihm sogleich eine böse Vorahnung hinsichtlich der Zukunft des entstehenden gemeinsamen südslawischen Staates. Seine krisenhafte Wahrnehmung der tiefen historischen Zäsur, deren Bedeutung den Zeitgenossen offenbar völlig entgeht, veranlasst ihn zu Assoziationen an die bisherige, von ihm als tragisch empfundene Geschichte der südslawischen Völker: In einem für Krleža spezifischen, assoziativ-eruptiven, stellenweise auch redundant-summierenden und grotesken Sprachstil werden dabei einige ihrer markanten Stationen evoziert: Das war eine betrunkene Nacht, und wie betrunken; so verrückt betrunken, daß sich alle Ruhmeskränze und Fahnen, alle Schlachten am Kajmaktschalan [mazedonisch-griechisches Grenzgebirge, Ort eines großen serbischen Sieges im Ersten Weltkrieg], alle Ikonen und Heiligenaltäre gemeinsam mit der blauen Adria und der kroatischen Nationalhymne ‚Unser schönes Vaterland‘ in wunderlichem Durcheinander zur Tollheit dieser dummen, zügellosen Zecherei vermengten; so betrunken, wie es eben jene längstvergangenen Tage waren, als unsere österreichisch-ungarische Wirklichkeit trunken die Stufen des Thrones der Dynastie Karadjordjewitsch hinabrollte. Wie eine leere Bierflasche hinabrollt… (RH, S. 198) Marijan Bobinac 192 In der berauschten Menge fallen dem erzählenden Ich zuerst die Angehörigen der bisher prohabsburgischen, jetzt plötzlich projugoslawisch gewordenen einheimischen politischen Elite ins Auge, die - ansonsten „grauen Juristen- und Beamtenfiguren“ - nun plötzlich „bonapartistisch laut und aufdringlich“ werden und sich „in der triumphalen Rolle historischer Sieger“ (RH, S. 199-200) wähnen. Obwohl sie den ganzen Krieg weit von den Fronten verbracht haben, schrecken diese „armseligen Aasgeier“, die dem Haus Österreich zeitlebens treu gedient haben, nicht davor zurück, „schon pathetisch eine neue Dynastie“ (RH, S. 199) zu begrüßen. Mit dieser „politischen Crême der Crême“ sieht das erzählende Ich im Rausch auch „die Blüte der Agramer südslawischen royalistischen Intelligenz“ (RH, S. 199) vereinigt. Obwohl man darunter zurecht an Wendehälse aus den Reihen der kroatischen Kulturelite denken könnte, die noch kurz davor den Habsburgern loyal waren und nun schlagartig dem serbischen Königshaus ewige Treue schwören, liegen die Wurzeln des sich plötzlich verbreitenden integralen Jugoslawismus - wie das erzählende Ich zum Ausdruck bringt - doch viel tiefer. Nicht von ungefähr besinnt er sich auf einen der bedeutendsten kroatischen modernistischen Dichter Ivo Vojnović, der schon ein Jahrzehnt davor an Bühnenwerken aus dem Stoffkreis des serbischen Kosovo-Zyklus zu schreiben begann, deren symbolistische Poetik allerdings viel mehr mit einem pseudoreligiösen Kult als mit einem engagierten kulturpolitischen Anliegen zu tun hatte. In Vojnovićs Werken, in denen der späte Teepartybesucher gerade an diesem Abend gelesen hat, sieht er nichts mehr als „Phrasen über die nationale Einigkeit und die nationale Befreiung“ und noch nie kam ihm „dieser Dichter so sehr aus Papier und Snobismus zusammengesetzt wie in dieser Nacht“ (RH, S. 205) vor. Aus der Kosovo-Mythologie - wie Zoran Kravar 12 zeigt - haben einige kroatische Künstler wie Vojnović und der seinerzeit auch weltweit berühmte Bildhauer Ivan Meštrović ein komplexes mythopoetisches Gebilde mit starken utopischen Akzenten entwickelt: Das ungerächte Kosovo bedrücke alle Südslawen und sei zugleich auf eine mystische Art und Weise mit ihrer politischen Unfreiheit gleichbedeutend; die Rückeroberung Kosovos, als eine Revision der verlorenen Schlacht 1389, werde das Volk befreien - und zwar nicht nur symbolisch, sondern auch in der historischen Realität - und dadurch den Weg zur Errichtung eines südslawischen Staates eröffnen. Im Gegensatz zu den kroatischen Anhängern des Kosovo-Kultes, die im neuen Staat viel mehr ein eschatologisches Ereignis als ein politisches Projekt 12 Vgl. Kravar, Zoran: Svjetonazorski separei. Antimodernističke tendencije u hrvatskoj književnosti ranoga 20. stoljeća. Zagreb: Golden marketing-Tehnička knjiga 2005, insb. S. 25-40. Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 193 sahen, verabschiedete sich Krleža sehr früh vom jugoslawischen Nationalismus: Als Kadett an der ungarischen Militärakademie in Budapest wollte er sich nämlich der siegreichen serbischen Armee bereits 1913, am Vorabend des Zweiten Balkankriegs, anschließen, ein Unternehmen, das sich für ihn fast fatal erwies: Vom serbischen Geheimdienst als österreichischer Spion verdächtigt, entging er knapp der Todesstrafe und wurde ins Heimatland ausgewiesen. Der daraufhin folgende Ernüchterungsprozess, in dem er sich von einer der größten Illusionen seiner Generation, vom Glauben an Serbien als südslawisches Piemont trennte, befähigte den jungen Krleža zu einem viel differenzierteren Blick auf den Ersten Weltkrieg, den Zerfall der Habsburger Monarchie und die daraufhin folgende Begründung des SHS-Staates, als dies bei vielen anderen zeitgenössischen Intellektuellen der Fall war. Daher glaubt das erzählende Ich keineswegs daran, dass die serbischen Offiziere, zu deren Ehren das rauschende Fest veranstaltet wurde, nach Kroatien gekommen sind, „um Rijeka zu verteidigen“, im Gegenteil, sie sind nur deswegen gekommen - wie sich in kurzer Zeit auch in der historischen Realität zeigen wird -, „um jeden zu verhaften, der nicht ‚Es lebe König Peter [Karađorđević]‘ brüllt“ (RH, S. 215): Bald werden nämlich die neuen Machthaber der Abtretung vieler ostadriatischer Gebiete, darunter auch Rijeka, an Italien zustimmen, das SHS-Königreich selbst, von Anfang an demokratisch insuffizient, wird aber schon ein Jahrzehnt nach der Staatsgründung in eine offene Diktatur abdriften. Krležas frühe Erfahrung mit der Arroganz des serbischen Kleinimperialismus schlägt sich zweifellos auch in den Überlegungen des erzählenden Ich nieder, das die pathetischen Ansprachen der berauschten Teepartygäste - gehalten „über der kaiserlichen, buchstäblich noch warmen Leiche“ - in ihrer ganzen Leere bloßzustellen sucht: In Übereinstimmung mit der zeitgenössischen serbischen Propaganda wird die Karađorđević-Dynastie als „eine ‚junge, bäuerische, fortschrittliche Dynastie, die Stuart Mill übersetzt‘, eine Dynastie, die ‚sozialistisch‘, ‚national‘, ja sogar eine ‚republikanische‘“ ist“ (RH, S. 200), dargestellt. Im Gegensatz zur exaltierten Pose der Festredner ist es dem nüchternen Beobachter vollkommen klar, dass das serbische Herrschergeschlecht wenig von der parlamentarischen Demokratie und der nationalen Gleichheit hält und offensichtlich ein autokratisches Regime in einem unitaristisch geordneten Staatsgefüge im Sinne hat. Der alleinige Zweck dieses „königliche[n], besoffene[n] Grunzen[s]“ besteht daher darin, „auch jenes bißchen Verstand“ zu verspielen, „das bis jetzt noch nicht aus den halbleeren, betrunkenen Schädeln verdampft ist“ (RH, S. 200). Besonders bedenklich scheint dem erzählenden Ich das Verhalten der drei Vertreterinnen „unser[es] ‚holdselige[n] Schöne[n] Geschlecht[s]“ (RH, S. 201) zu sein, auf deren Initiative die Begrüßungsfeier für serbische Offi- Marijan Bobinac 194 ziere veranstaltet wurde. Bei „unsere[n] süßen Mädchen und Zuckerbäcker-Dämchen“ (RH, S. 201), wie er die drei Initiatorinnen nennt, handelt es sich eigentlich um drei führende Vorkämpferinnen für Frauenrechte 13 im zeitgenössischen Kroatien, welche vom einsamen Betrachter - genauso wie die anwesende männliche Elite - ausschließlich im Kontext des ausgelassenen Festes gesehen und bewertet werden. So bemerkt er, wie sie im patriotischen Affekt „ihre miedertragenden kaiserlichen Kavaliere“ aus den Augen verlieren und „jetzt die Serben“ umschmeicheln, wobei sie - genauso wie die männlichen Redner - „unsere neue nationale Dynastie“ unreflektiert als „republikanisch“ und den künftigen Regenten Aleksandar Karađorđević als „revolutionär, idealistisch, panslawisch und jugoslawische[n] Demokrat“ (RH, S. 201) bezeichnen. Der Anblick des „trunkenen Deliriums“ (RH, S. 202) bewegt den Festbesucher zum beunruhigenden Befund, dass solch unbesonnenes Verhalten in historisch entscheidenden Momenten verheerende Folgen haben könnte: Denn „niemand wird je wissen noch erkennen, wie das eigentlich so aussah in einem historischen Augenblick, da die Stadt Agram im Monat November des Jahres Achtzehn den Untergang Österreichs feierte“ (RH, S. 203). Die Umkehr der Perspektive von Außen ins Innere, die oft in Krležas tagebuchartigen und autobiographischen Aufzeichnungen eintritt, wird allerdings selten von einer Fokussierung auf das eigene Innenleben begleitet. 14 Bald zeigt sich nämlich, dass dieser Ausbruch der Subjektivität lediglich als Anlass zu weiteren Assoziationen an die historischen Zusammenhänge zu betrachten ist. „Einsamkeit und Melancholie“, die das Ich der Betrunkenen Novembernacht als Grund für sein Erscheinen auf diesem Ball angibt, wird zwar auf „das unbestimmte Gefühl, daß um mich herum zuviele tote Dinge lägen“ (RH, S. 203), zurückgeführt, doch keineswegs in Beziehung zu seinem eigenen seelischen Leben gebracht. Stattdessen liefert er eine Reihe von Assoziationen an die leidvolle Geschichte der Südslawen, die sich nach einer „vierhundertjährige[n] Nacht“ (RH, S. 204), in der sie von Habsburgern, Osmanen und Venezianern unterdrückt wurden, jetzt wieder auf dem Wege befinden, eine neue historische Chance zu verpassen. Als eine Alternative zum fahrlässigen, ja charakterlosen Handeln der Führungseliten erscheint ihm ein entschiedenes Aufbegehren des Volkes, welches er immer wieder in seine Gedankengänge als grelle poetische Bilder einschließt. So sieht er - in Einklang mit Krležas expressionistischer Imagination -, dass „[a]n verschiedenen Stellen der Stadt Agram […] die Dächer flammen“ und dass „die Feuerhähne krähen und von den brennenden Türmen […] hört man das Klagen der Glocken“; dies sei ein 13 Zofka Kveder-Demetrović, Zlata Kovačević-Lopašić und Olga Krnic-Peleš. 14 Vgl. Žmegač: Dnevnik, S. 155. Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 195 Zeichen dafür, dass „wieder einmal […] seit dem Jahr 1848 Bewegung in das Volk gekommen“ ist, „es hat sich erhoben, um Schluß zu machen mit dem Knien vor Zylinderhüten und Kadavern und endlich Menschenwürde zu gewinnen“ (RH, S. 200-201). Das erzählende Ich, dessen „Denken“ sich beim Anblick des Saufgelages „in Vorstellungen aufgelöst“ (RH, S. 210) hat, besinnt sich auch auf zwei markante politische Faktoren, welche die Lage im postimperialen Kroatien beeinflussen könnten. Zunächst wird eine kurze Assoziation an Lenin geweckt, der sich „in Sankt Petersburg […] für die Internationale schlägt“ (RH, S. 210); hier kündigt sich schon eine eher diffuse Zuneigung des Ich für die Oktoberrevolution an, die sich gerade in diesen Tagen zum ersten Mal jährt. Und während die Reminiszenz an das revolutionäre Geschehen in Russland nur vage angedeutet wird, klingt die Warnung vor dem italienischen Übergriff auf südslawische Territorien dramatisch: „[…] auf der Riva degli Schiavoni brüllt die Masse, dort bellt d’Annunzio der Menge etwas vor […] - der Morlacchia droht wieder einmal der Untergang“ (RH, S. 210). Dass sich mit „Habsburgs Untergang“ ein langer „Kreis von vierhundert blutigen Jahren habsburgisch-kroatischer Geschichte“ schließt, ist sich der einsame Festbesucher im Klaren: Genauso wie sich 1526, nach dem Zerfall des ungarischen Königreichs, die damaligen kroatischen Stände auf die Suche nach einem neuen Herrn begeben hatten - ein päpstlicher Legat soll damals nach Rom geschrieben haben: „Per trovarsi un’altro signore“ - so haben auch die „heutigen Stände und Orden“, deren bisheriger König noch immer nicht zu Grabe getragen wurde, schon „der königlichen Croatia einen neuen Freier“ (RH, S. 211) gefunden. Die berauschte Teeparty ist, spitzt das Ich seine Überlegungen zu, nichts anderes als „die kroatische Hochzeit mit den Karadjordjewitsch“ (RH, S. 211). Für die ganze kroatische Elite, die sich wie „in einer vollbespieenen Arche Noah“ (RH, S. 211) wiegt, gibt es keinen Zweifel daran, „daß dies“ - wie die lauteste der besoffenen Stimmen mehrmals wiederholt -„unser einziger Ausweg ist“ (RH, S. 212). Diese Stimme, wie dem Festbesucher gleich klar wird, gehört Mate Drinković, „dem Bevollmächtigen für Militärangelegenheiten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen“, der sich an seinen wichtigsten Mitarbeiter, den Oberstleutnant Slavko Kvaternik in einem „zutunlich[en] und hündisch-servil[en]“ Ton wendet: Wenn Drinković tatsächlich dieser „kaiserlichen und königlichen Fleicherdogge“ (RH, S. 212), die vier Jahre lang Menschen abschlachten ließ, die Ehre erweise, so könne das nichts anderes - so das erzählende Ich - als ein Zeichen seiner Senilität sein. Kvaternik wiederum verbrüdere sich mit den serbischen Offizieren und sei - wie es dem Ich scheint - „bereit, heute Abend jeden zu erschießen, der nicht für König Peter Karadjordjewitsch war, wie er noch gestern jeden hängte, der für König Marijan Bobinac 196 Peter Karadjordjewitsch war“, denn - und nun wird die Identität des erzählenden Ich unverkennbar mit dem Autor Krleža gleichgesetzt - „er ist kein Mensch, sondern eine Karikatur aus meiner Antikriegsprosa“ (RH, S. 213). In den letzten beiden Kriegsjahren hat Krleža nämlich an einem Novellenzyklus geschrieben, der 1922 unter dem Titel Hrvatski bog Mars (Der kroatische Gott Mars) veröffentlicht wird und das sinnlose Sterben unzähliger kroatischer Landwehrleute zum Thema hat; den einfachen Soldaten, die in den Novellen als Opfer der anachronistischen Führung der k.u.k.-Armee erscheinen, werden oft arrogante, frivol-bestialische Offiziere kroatischer Herkunft entgegengesetzt. Wie schon Oscar Wilde einige Jahrzehnte davor - selbstverständlich unter einem völlig anderen Vorzeichen, stellt nun auch das erzählende Ich fest, dass die Realität die Kunst und nicht die Kunst die Realität nachahmt. Beim Anblick des Oberstleutnants Kvaternik inmitten der entfesselten Feier kommt ihm nämlich seine Beschreibung dieses „Henkersgesindels“, die von frühen Lesern der Kriegsnovellen als übertrieben bezeichnet wurde, überhaupt nicht „so schwarz“ (RH, S. 213) vor. Im Gegenteil: nicht nur, dass sich Kvaternik 1916 in Belgrad unter den Galgen mit hingerichteten Serben photographieren ließ, sondern auch ein Jahr später, 1917, während der blutigen Isonzo-Schlachten mit dem Feldmarschall Boroevich, dem Hauptkommandanten der italienischen Front, oft ins idyllische Lovran an der Kvarner-Bucht zu kommen pflegte, um für ihn dort - was der Autor Krleža aus eigener Erfahrung wusste - Tafelfreuden und Liebhaberinnen zu organisieren. In seinen zahlreichen Streitschriften zögerte Krleža nie davor, seine Gegner in öffentlicher wir auch privater Hinsicht bloßzustellen - so sieht er auch Kvaterniks „Frontdienst als Henker, Bordell-Hausdiener und Offiziersmessenleiter in einem paranoiden Verhältnis zu allen Prinzipien menschlicher Logik“ (RH, S. 214). Wie er - genauso wie das Ich der Betrunkenen Novembernacht - keine Illusionen hinsichtlich der kroatischen Teepartygäste hat, so stellt er auch die serbischen Offiziere in einem kritischen Licht dar: In seinen Augen erscheinen sie als Vertreter jener Soldateska, die mit verschwörerischen Mitteln das Attentat von Sarajevo und die Morde an südslawischen Freiwilligen in Odessa in die Wege leitete und die jetzt auch die ex-habsburgischen Slawen „in der ‚brüderlichen Umarmung‘ solcher Kvaterniks in neue Abgründe“ (RH, 214) zu führen drohe: „Und in wessen Namen? Im Namen welcher politischen Konzeption und welchen Planes? “ (HR, S. 215) Als „inmitten dieses tollen Rasens“ (RH, S. 216) Drinković schließlich das Wort Kvaternik gab, als darauf eine erwartungsvolle Stille eintrat, der Oberstleutnant sein Glas erhob und sich zum Trinkspruch anschickte, sah sich der einsame Festbesucher genötigt - offensichtlich eine „intensive Disharmonie dieses dramatischen historischen Augenblicks aufs Tiefste füh- Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 197 lend“ (HR, S. 216) -, laut „Nieder mit Kvaternik! “ (RH, S. 217) auszurufen. Der Verteidigungs-Beauftragte wartete, bis sich der im Anschluss daran ausgebrochene Lärm im Saal beruhigt hatte, und versuchte die Ansprache seines Stellvertreters erneut anzukündigen, worauf der ungebetene Gast seinen Ausruf noch zweimal wiederholte und jedes Mal mit seinem Protest gegen Kvaternik einen allgemeinen Tumult auslöste. Auf Drinkovićs Aufforderung, dieser „Feigling, der uns hier so böswillig und provokant behelligt“, sollte sich öffentlich vorstellen, gab er - wie auch Krleža in der historischen Realität - tatsächlich seinen Namen an und bezeichnete sich außerdem als „kroatischer Schriftsteller“ (RH, S. 219). Der Beifall, den seine Einwürfe bei einem Teil der Anwesenden ernteten, hat ihn zunächst überrascht; doch schnell wurde ihm klar, dass dieser Zuspruch nicht „auf der Linie der Logik“ entstand, sondern ausschließlich mit der Überzeugung der Applaudierenden zusammenhing, er wäre hier als „ein[…] royalistische[r] Porteparole“ (RH, S. 219) aufgetreten. Als der nun völlig fassungslose Drinković den Störenfried „im Ton eines besoffenen Offiziers“ damit einzuschüchtern suchte, er würde ihn „aufhängen lassen, ohne Rücksicht darauf wer und was [er] sei“ (RH, S. 219), schrie ihm das Ich zurück, dass sich seine Proteste gegen Kvaterniks Kriegsverbrechen richten würden. Dabei hielt er dem Oberstleutnant nicht nur die Belgrader Hinrichtungen vor, sondern bezeichnete ihn auch als „eine schwarz-gelbe Kreatur“, die für all jenes stünde, „was unser Volk zum Aufruhr getrieben hat und heute noch treibt“ (RH, S. 220). Im wilden Gekreische, das darauf ausbrach, mischten sich Bezeugungen der Zuneigung mit jenen des Missfallens; hörbar wurden aber immer mehr jene Stimmen, die sich dafür aussprachen, dem einsamen Festbesucher das Wort zu erteilen, so dass Drinković schließlich nichts anderes übrigblieb, als diesen Forderungen resigniert zu folgen. Bevor das Ich jedoch zu reden anfing, ließ es in seinen Gedanken noch einmal eine ganze Reihe habsburgischer Offiziere vorbeiziehen, die sich bald in den Dienst autoritärer, oft auch faschistischer Regime stellen würden, von Glaise-Horstenau, Horthy und Gömbös, bis zu den Kroaten Štancer, Lipoščak, Sarkotić und vielen anderen. Der „Bildgalerie dieser schwarzgelben Kondottieri […], dieser Landsknechte, Junker und Militaristen, dieser Henker, die schon seit Jahrhunderten, in fremdem Sold stehend, morden und brennen und denen es völlig gleichgültig ist, wen sie hängen und wem sie die Gurgel durchschneiden“ (RH, S. 224), gehört in seinen Augen auch Kvaternik an, der - und damit beginnt der ungebetene Gast seine Rede - „den serbischen Offizieren einen Toast bieten will, den Offizieren desselben Serbiens, dessen Bürger er noch gestern an die Laternenpfähle hängte, um heute abend, zur Feier der Befreiung und der Nationalen Einigung […] eine kaiserliche und königliche Offiziersmesse erstehen zu lassen! “ (RH, S. 225) Marijan Bobinac 198 Mit dem Hinweis auf das opulente Festbuffet versteigt sich der Störenfried zur Aussage, diese Speisen sollte man lieber zu „den hungrigen serbischen Soldaten“ tragen, „die draußen am Bahnhof in ihren Waggons frieren“, denn - und mit den folgenden Worten erreicht der Skandal seinen Höhepunkt - „die siegreiche russische Revolution [hat uns] gelehrt […], daß nicht die Mitglieder des Nationalrats, sondern die Soldaten- und Arbeiterräte jener Faktor sind, den Lenin…“ (RH, S. 225). Der Umstand, dass das Ich - genauso wie der historische Autor Krleža - die Oktoberrevolution und ihren Führer als ein positives Beispiel in den politischen Umwälzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hervorzuheben wagt, bringt gegen ihn auch jenen Teil des Festpublikums auf, der in ihm bis dahin einen Fürsprecher der Karađorđević-Dynastie vermutet und seine Kritik an Kvaternik daher unterstützt hat. Im Tumult, der darauf losgebrochen war, zeigte sich der ganze Saal, „die tausend südslawischen, royalistischen Kleinbürger“ (RH, S. 226), gegen ihn vereinigt: Auf Anweisung Drinkovićs und „im hysterischen Unisono einer höllischen, kompakten demokratischen Mehrheit“ wurde der Störenfried einhellig hinausgeworfen: „mit einigen kräftigen gestiefelten Fußtritten“ wurde er aus „dieser kroatischen Spelunke“ befördert, fand er sich plötzlich „im Nebel auf der Straße“ (RH, S. 226). Mit dem Reigentanz, der nach dem Hinauswurf des ungebetenen Gastes von der nun wieder solidarischen Menge „auf der Leiche [s]einer poetischen Argumente eröffnet wird“ (DA, S. 154), wird ein weiteres, für Krležas Werk charakteristisches Motiv evoziert: ein unaufhörliches Drehen im Kreise, in dem sich eine rohe und blutige Gewalt mit der menschlichen Engstirnigkeit verbindet. Dieser „illyrische“ (DA, S.154), d.h. südslawische Reigen wird nämlich über einige markante historische Stationen geführt, die sich - wie der Autor bei der Niederschrift seines Textes 1942 zweifellos weiß - als fatal für den ersten jugoslawischen Staat gezeigt haben. Zunächst werden drei Ereignisse genannt, die der südslawischen Vereinigung vorausgegangen sind und sie nachhaltig, vor allem negativ geprägt haben: der Prozess von Saloniki, bei dem die höchsten Vertreter der Geheimorganisation „Schwarze Hand“ von einem serbischen Militärgericht zu Tode verurteilt wurden, die Massaker, die von serbischen Truppen an kroatischen Kriegsfreiwilligen in Odessa 1917 begangen wurden sowie der Londoner Geheimvertrag von 1915, der den Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente vorsah und als Gegenleistung große territoriale Gewinne auf der adriatischen Ostküste zusicherte. Zu diesem Reigentanz gehören auch Drinkovićs und Kvaterniks Aktivitäten im provisorischen südslawischen Staat bis zur Vereinigung mit Serbien am 1. Dezember 1918, dazu gehörte aber auch das tragische Ereignis, bei dem nur wenige Tage danach viele Menschen in einer antiserbischen Demonstration am Zagreber Hauptplatz von Polizisten getötet wurden. Dazu zählen Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 199 auch jene politischen Ereignisse, die den Weg des neubegründeten Staates in die autoritäre Herrschaftsform in den 1920er Jahren markiert haben: die gegenkommunistischen Maßnahmen, insbesondere das Regierungsdekret „Obznana“ (1920) und das „Staatsschutzgesetz“ (ZZO, 1921), mit welchen die einzige gesamtjugoslawisch erfolgreiche, allerdings revolutionär wirkende Partei, die KPJ, verboten wurde, und die König-Aleksandar-Diktatur vom Januar 1929, die nicht nur die Suspension der parlamentarischen Ordnung bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre zur Folge hatte, sondern auch zur Stärkung von rechtswie auch linksradikalen Kräften und zur Verschlechterung zwischennationaler Beziehungen in Jugoslawien wesentlich beigetragen hatte. Der gespenstische Reigentanz wird weiter über die bekannten Strafanstalten (Mitrovica, Zenica, Lepoglava), in denen die Regimegegner jeder politischen Couleur für viele Jahre gefangen gehalten und schikaniert wurden, bis zum Zerfall des ersten jugoslawischen Staates 1941 geführt, als die königliche Regierung ins Exil nach London ging, während ihre im Lande gebliebenen militärischen Anhänger unter Draža Mihalović bald mit den italienischen und deutschen Besatzern zu kollaborieren begannen. Im Ustascha-Kroatien wiederum, einem Marionettenstaat von Gnaden des Dritten Reichs und des faschistischen Italien (dafür stehen symbolisch Siegfried Kasche, der deutsche Gesandte, der das Pavelić-Regime nachdrücklich unterstützte, und der italienische Aristokrat Aimone de Spoleto, der von den Ustasche zum kroatischen König proklamiert wurde, diese Funktion jedoch nie angetreten hat), erreicht der Totentanz seinen Tiefpunkt in der Errichtung des Vernichtungslagers Jasenovac. In diesem gespenstischen Reigen, der sich vom Untergang der k.u.k.-Monarchie bis in die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs zieht, lassen sich all jene politischen Kräfte und Tendenzen erkennen, die im nachhabsburgischen Kroatien wie auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas herausragende, mit der Zeit auch dominante Positionen eingenommen haben. Wie zutreffend sich Krležas Inszenierung der postimperialen Verhältnisse und ihrer zerstörerischen Gewaltpotenziale zeigt, geht auch aus zahlreichen neueren historischen Studien hervor, deren Verfasser ihre eigenen Thesen manchmal auch mit Zitaten aus der Betrunkenen Nacht und anderen Werken des Autors - wie etwa der irische Historiker John Paul Newman in seiner Arbeit über die postimperiale Gewalt in den südslawischen Ländern 15 - zu illustrieren suchen. 15 Newman, John Paul: „Post-imperial and Post-war Violence in the South Slav Lands, 1917-1923“, in: Contemporary European History 19.3 (2010), S. 249-265. Vgl. auch: Banac, Ivo: „Jugoslawien 1918-1941“, in: Melčić, Dunja (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2 2007, S. 151-167; Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2010. Marijan Bobinac 200 Wie Geschichtswissenschaft und Literatur - trotz ihrer grundsätzlich unterschiedlichen Diskurse - zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen können, lässt sich auch anhand einer vergleichenden Betrachtung von Newmans Abhandlung und Krležas autobiographischer Aufzeichnung zeigen. In den beiden Texten wird nämlich der Übergang von den „imperialen“ Zeiten in die „postimperialen“ Zustände in Kroatien thematisiert und darin namentlich das Verhalten der politischen Eliten beim Zerfall Österreich-Ungarns und im jugoslawischen Vereinigungsprojekt in den Vordergrund gesetzt. Der Historiker beschäftigt sich dabei vor allem mit den Fragen, wie sich die von der Front zurückkehrenden Offiziere und Soldaten in einem plötzlich entstandenen Machtvakuum verhielten und wie sich - insbesondere hinsichtlich der Gewaltanwendung - das revolutionäre und konterrevolutionäre Geschehen in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern im zeitgenössischen Kroatien ausgewirkt haben. Newman - und damit stimmt er mit anderen Forschern überein - geht davon aus, dass herausragende, politisch radikale Tendenzen der frühen postimperialen Zeit, die seit 1917/ 18 von Behörden als bedrohlich angesehen und in der Folgezeit bekämpft wurden sowie spätestens seit 1923 als besiegt und überwunden galten, in den 1930er Jahren als eine akute Gefahr für die staatliche Ordnung wieder erscheinen und in vielerlei Hinsicht auch die politischen Entwicklungen der Folgezeit und deren gewaltsame Fortsetzung im Zweiten Weltkrieg prägen. Aufschlussreich ist es dabei, dass die Befunde des Historikers grosso modo die Diagnosen des Schriftstellers bestätigen. In mancherlei Hinsicht weichen sie aber voneinander ab, etwa darin, dass Krležas Darstellung der kroatischen postimperialen Zustände nicht nur auf eine politisch und sozial äußerst unruhige, sondern auch auf eine mit viel Blutvergießen verbundene Zeit schließen; Newman weist hingegen - den internationalen Kontext heranziehend - darauf hin, dass diese Zeit in Kroatien bei Weitem nicht so verheerende Folgen wie z.B. in Ungarn hatte. Und trotzdem - wie er zeigt - lief der Übergang von der österreichisch-ungarischen zur südslawischen Monarchie keineswegs friedlich, im Gegenteil, in vielen Regionen des Landes, insbesondere in den nördlichen ländlichen Gegenden, war diese Zeit von einer offenen Gesetzlosigkeit geprägt, die vor allem durch die Aktivitäten der sog. „Grünen Kader“ ausgelöst wurde. Als bevorzugte Angriffsziele dieser bewaffneten, aus desertierten Soldaten bestehenden Gruppen, die auch in einigen anderen ex-habsburgischen Ländern verbreitet waren, galten Adel, Beamten und Großgrundbesitzer, des Öfteren war ihrer Gewalt auch der Rest der Bevölkerung ausgesetzt. Obwohl politisierte Angehörige der „Grünen Kader“ auch für eine sozialistische Revolution nach Lenin’schem Modell eintraten, ging diese Bewegung in Kroatien selten über eine spontan-chaotisch handelnde Organisationsform hinaus. Krležas Darstellung der „Grünen Kader“ Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 201 ist allerdings sehr ambivalent: Während von diesem Phänomen in der Betrunkenen Novembernacht nur am Rande, zur Illustrierung der „dramatischen Tage […], als das ganze Land in einem kopflosen Brand rauchte“ (149) die Rede ist, wird es im ersten Teeparty-Text des Autors, im Zeitungsartikel Der schwarz-gelbe Skandal, als „ein für jede Zivilisationsform gefährliches Element“ 16 bezeichnet, in manchen anderen Werken jener Zeit wiederum in all ihrer Widersprüchlichkeit, als eine „verpasste revolutionäre Situation“ 17 gezeigt, z.B. im Drama Vučjak (Die Wolfsschlucht, 1922). Die relativ niedrige Intensität der politisch und sozial verursachten Gewaltanwendung in Kroatien im Zeitraum 1917/ 18 bis 1923 hing - wie Newman bemerkt - mit drei Faktoren zusammen: der militärischen Überlegenheit der serbischen/ jugoslawischen Armee und der vergleichsweise erfolgreichen Integrierung ehemaliger habsburgischer Offiziere in ihre Reihen, der wirksamen polizeilichen Überwachung und Unterdrückung politisch radikaler Bewegungen durch neue jugoslawische Behörden sowie der großen Popularität einer pazifistischen, antimilitaristischen agrarischen Bewegung nach 1918, der Kroatischen Bauernpartei Stjepan Radićs. Die ersten beiden Aspekte der postimperialen Zeit werden auch in Krležas Text ausführlich erörtert, der dritte hingegen, den Newman als grundlegend für das Ausbleiben einer massiven Gewaltanwendung herausstreicht, bleibt in der Betrunkenen Novembernacht unerwähnt, wohl deswegen, weil sich die Bauernpartei erst nach der Gründung des südslawischen Staats als die führende politische Kraft in Kroatien profiliert hatte. 18 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Kommunistische Partei durch drakonische Gesetze und brutale polizeiliche Maßnahmen am Anfang der 1920er Jahre fast vollständig vernichtet wurde. Aus einer Massenpartei ist in einer kurzen Zeit eine kleine, aber sehr vitale illegale Organisation entstanden, welche mit den Behörden des SHS-Königreichs bis zu dessen Zusammenbruch 1941 einen düsteren und erbitterten Kampf führte. Im Gegensatz zur revolutionären KPJ, deren Einflussbereiche vor allem größere urbane Zentren waren, kam im ländlichen Kroatien vor allem die pazifistische Botschaft der Bauernpartei an, deren Führer Radić das neubegründete Jugoslawien mit dem ungeliebten Österreich-Ungarn zu vergleichen und die 16 Bogišić: Crno-žuti skandal, S. 104. 17 Vgl. Io. B. (= Ivo Banac): „Zeleni kadar“, in: Krležijana. Bd. II. Hg. v. Velimir Visković. Zagreb: Leksikografski zavod Miroslav Krleža 1999, S. 539-541, hier S. 540. 18 Mit dem Phänomen Radić beschäftigt sich Krleža allerdings in zahlreichen anderen Texten, und zwar immer in einem höchst ambivalenten Lichte. Vgl. insb.: Krleža, Miroslav: Deset krvavih godina i drugi politički eseji. In: Ders.: Sabrana djela, Bd. 14- 15, Zora: Zagreb 1957. Marijan Bobinac 202 ‚Besatzung‘ Kroatiens durch die serbische Armee 1918 als die Rückkehr des Militarismus darzustellen pflegte. Die Bauernpartei, die sich rasch zur größten kroatischen politischen Organisation transformierte, unterschied sich wesentlich auch von den rechtsradikalen Kräften, die sich - genauso wie die Kommunisten, obwohl aus entgegengesetzten Motiven - den bewaffneten Widerstand gegen den serbisch dominierten Gesamtstaat auf ihre Fahnen schrieben. Den Kern dieser Gruppierungen stellten ex-habsburgische Offiziere und Vertreter des rechten Flügels der nationalistischen Partei des kroatischen Staatsrechts, die sog. „Frankovci“ dar, die sich in der Organisation Kroatisches Komitee (Hrvatski komitet) bereits 1919 im ungarischen Exil vereinigten und zur Durchsetzung einer antijugoslawischen Revolution bald auch eine paramilitärische Freiwilligentruppe, die Kroatische Legion (Hrvatska legija), begründeten. Für sich konnten sie jedoch die ex-habsburgischen Offiziere, die sich in die jugoslawische Armee integriert haben, nicht gewinnen; genauso wenig gelang es ihnen, die weitverbreitete Unzufriedenheit der Kroaten mit dem neuen staatlichen Rahmen für ihre Ziele auszunutzen. Eine Intensivierung von Aktivitäten der rechtsradikalen Kräfte lässt sich seit den späten 1920er Jahren festhalten, einer Zeit, in der nach der Ermordung Stjepan Radićs im Belgrader Parlament 1928 und nach der Proklamierung der Königsdiktatur im Januar 1929 auch die Ustascha - Kroatische revolutionäre Organisation gegründet wurde, deren Führer Ante Pavelić ins Exil ging und von dort antijugoslawische Terroraktionen im In- und Ausland entfaltete. Die Gewalt, die nun wieder um sich zu greifen beginnt und sich noch intensiver in den 1930er Jahren fortsetzt, kann man - und darin sind sich Krleža und Newman einig - nicht begreifen, wenn man die Umwälzungen und Gewalttätigkeiten aus dem Zeitraum von 1917 bis 1923 außer Acht lässt. Dass in diesem Zusammenhang auch die Entstehung des Ustascha-Staates 1941 betrachtet werden sollte, dass bei diesem Prozess gerade die ehemaligen k.u.k.-Offiziere wie Kvaternik einen entscheidenden Beitrag geleistet haben, wurde schon mehrmals angedeutet. Wenn von politisch radikalen Tendenzen der postimperialen Zeit die Rede ist, so könnte als missverständlich das überschwängliche Lob für Lenin und die Oktoberrevolution in der Betrunkenen Novembernacht angesehen werden, ein Umstand, der die konsternierten Teeparty-Gäste zum Hinauswurf des Ich, aber auch des Autors selbst in der historischen Realität bewogen hatte. Zeit seines Lebens war Krleža mit der kommunistischen Bewegung verbunden und glaubte daran, dass sich die aufklärerischen Ideale nur mittels einer revolutionären Ideologie verwirklichen ließen. Wie Zoran Kravar zu Recht behauptet, hat Krleža die Geschichte als „eine dauerhafte Krise erlebt, die nur durch einen dramatischen und heftigen Umschwung aufgelöst Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 203 werden kann“. 19 Krležas poetische Vision erwünschter weltgeschichtlicher Ereignisse, ein wesentlicher Bestandteil seiner expressionistischen Poetik, wird in der Regel mit genialen Einzelnen vom nietzscheanischen Typus wie Jesus, Columbus oder Michelangelo verbunden, einer Figurengalerie, die der Autor nach dem Ausbruch der russischen Revolution mit Lenin ergänzte. Indem Krleža - so Kravar - Lenin in den „Kult eines epochalen individuellen Handelns“ einbezieht und dessen „revolutionäre Tat als wesentlich für die Errettung der Menschheit“ preist, begründet er zugleich sein Engagement - wie viele andere Intellektuelle des 20. Jahrhunderts - „auf der Idee von der Realisierbarkeit einer endlichen, in sich konfliktlosen, rational begründeten menschlichen Gesellschaft, jenseits der Geschichte und ihrer vermeintlichen Negativität“. 20 Wie ist aber der utopische Gedanke mit Krležas Auffassung der Geschichte als eines unendlichen Wiederholens des Immergleichen in Einklang zu bringen? Die zyklische Geschichtsauffassung gilt nach Krleža für die bisherige Historie, „nach der Zukunft hin“ lässt er jedoch „eine utopische Tür“ 21 offen. Wie Die betrunkene Novembernacht 1918 zeigt, aber auch einige Lenin-Texte des Autors deutlich machen, 22 nehmen seine Zukunftsvorstellungen selten eine präzise Gestalt an und gehen kaum über eine abstrakte Würdigung des historischen Exempels der Oktoberrevolution und Lenins hinaus. Ähnlich verhält es sich z.B. auch in Krležas Bericht über seine Russlandreise im Jahre 1924 (Izlet u Rusiju - Ein Ausflug nach Russland, 1926), in dem er sich zwar sehr affirmativ zur Idee der sozialistischen Revolution äußert, andererseits aber auch viele kritische Bemerkungen zur Frühphase der Sowjetunion an den Tag legt. Noch viel kritischer wird er auf die Forderungen der führenden Parteiideologen reagieren, seine Schreibweise an die von der sowjetischen Kulturpolitik vorgeschriebene Poetik des sozialistischen Realismus anzugleichen. Gerade das Verharren auf seiner modernistischen Kunstkonzeption, zugleich auch auf seinen undogmatischen politischen Positionen wird Krleža in den 1930er Jahren allmählich von der KPJ entfremden und schließlich in 19 Vgl. Zo. Kr. (= Zoran Kravar): „Lenjin“, in: Krležijana. Bd. I. Hg. v. Velimir Visković. Zagreb: Leksikografski zavod Miroslav Krleža 1993, S. 538-541, hier S. 540. 20 Kravar: Lenjin, S. 540. 21 Žmegač, Viktor: „Krležas Geschichtsverständnis im europäischen philosophischen Kontext“, in: Bobinac, Marijan (Hg.): Porträts und Konstellationen 1. Deutschsprachig-kroatische Literaturbeziehungen. Zagreber germanistische Beiträge, Beiheft 6 (2001), S. 3-18, hier. S. 13-14. 22 Zu Lenin vgl. folgende Artikel Krležas: „Nad grobom Vladimira Iljiča Uljanova Lenjina“ (1924), „O Lenjinu“ (1926), „Vladimir Iljič Lenjin: O dijalektici“ (1927). Marijan Bobinac 204 eine Isolation auf der kroatischen Linken bringen. 23 Auf Krležas Skepsis hinsichtlich der kommunistischen Bewegung verweist auch dessen einführend erwähnte spöttische Bemerkung, zwischen 1941 und 1945 sei er genauso viel von Dido wie von Đido gefährdet gewesen. Dass sich auch daran die Überzeugung des Autors ablesen lässt, dass menschliche Verhaltensweisen über historische Epochen hinweg als unveränderlich und die geschichtlichen Prozesse als von einer Eigendynamik bestimmt zu betrachten seien, kann kaum zweifelhaft sein. Die Geschichte bleibt bei ihm daher von der Erfahrung der Kontingenz geprägt, eine Geschichtskonzeption, der man nur mittels wechselseitiger Spiegelung von Gegenwart und Vergangenheit gerecht werden kann. Einem solchen Umgang mit der Historie begegnet man auch in Krležas autobiographischer Inszenierung des Teeparty-Skandals in der postimperialen Stunde null. Aus den Äußerungen und Verhaltensweisen der berauschten Festgäste geht für den Autor schon im November 1918 deutlich hervor, wie verheerend die Folgen der voreilig durchgeführten staatlichen Vereinigung sein würden, ein Sachverhalt, in dem er sich, wie er ein Viertel Jahrhundert später feststellt, nicht geirrt hat und den er in seinem autobiographischen Text wieder aufzugreifen sucht: Nach der Auflösung der kompromittierten k.u.k-Herrschaftsform ist nicht eine Gemeinschaft gleichberechtigter Völker entstanden, in der die Südslawen zu einer nationalen, politischen und sozialen Emanzipation hätten vorstoßen können, im Gegenteil, an die Stelle des imperialen Habsburger Reiches ist ein kleinformatiges, auf Dominanzverhältnissen aufgebautes postimperiales Gebilde getreten, das zwei Jahrzehnte später an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen würde. Indem Krleža auch die Entstehungszeit des Textes, den Zweiten Weltkrieg und die Terrorherrschaft der Ustasche mitthematisiert und in diesem Zusammenhang insbesondere auf den Übertritt vieler ehemals österreichischer Offiziere auf die Seite diverser faschistischer Bewegungen hinweist, wird mit Nachdruck auch sein eigentümliches Geschichtsverständnis zum Vorschein gebracht, wonach das bisherige historische Geschehen ein Tappen im Kreise sei, bei dem sich die menschliche Dummheit mit einer exzessiven Macht- und Gewaltausübung paart. 23 Vgl. Lasić, Stanko: Sukob na književnoj ljevici: 1928-1952. Zagreb: Liber 1970; Visković, Velimir: Sukob na ljevici. Krležina uloga u sukobu na ljevici, Beograd: Narodna knjiga Alfa 2001. Ein Skandal in der ,postimperialen Stunde null‘ 205 Ana-Maria Pălimariu (Iaşi) Psychoanalytiker aus Czernowitz, nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie 1 Barner, Wilfried: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck 1994, S. 237. Dieser Befund ist aus der Vorlesung hervorgegangen, die Andrei Corbea-Hoişie, Ion Lihaciu und Ana-Maria Palimariu im Rahmen des literaturwissenschaftlichen Oberseminars „,...wo Menschen und Bücher lebten‘ (Paul Celan). Deutschsprachige Literatur der Bukowina“ vom 7.-11.04.2015 an der Universität Konstanz hielten. 2 Rechter, David: Becoming Habsburg. The Jews of Austrian Bukowina: 1774-1918. Oxford, Portland, Oregon: The Littman Library of Jewish Civilization 2013, S. 142. 1 Czernowitz/ Bukowina In Wilfried Barners Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart wird die deutschsprachige Literatur der Bukowina als einzige außerhalb des deutschsprachigen Raums genannt, die sich als produktiv erwies. 1 Lange Zeit aber wurde die Tatsache vernachlässigt, dass diese zwei Dichtergenerationen nicht aus dem Nichts hätten heranwachsen können. Der komplexe Kontext ihrer Kultur, die in einer so komplizierten Geographie angesiedelt war, lässt sich, wenn auch nur bruchstückhaft, so doch durch die Untersuchung der soziohistorischen Situation rekonstruieren. Die Tatsache, dass die dort lebenden Ethnien schon im 19. Jahrhundert fast gleichmäßig vertreten waren, was für die Juden zur Folge hatte, dass der Antisemitismus im Vergleich zu anderen Kronländern der Habsburger Monarchie schwächer ausgeprägt war, wird als Argument für den „Bukowiner Exzeptionalismus“ 2 bemüht. Die Frage ist also, warum ist die Bukowina eine Ausnahme? Paul Celan hat die Koordinaten des Mythos des Bukowiner Exzeptionalismus definiert. Die Bukowina wurde seit 1774 vom Habsburger Reich annektiert. Der Mythos ist mit der Gründung des Kronlandes verbunden, die im 18. Jahrhundert ein politischer Zufall war: Aus einer willkürlich gezogenen neuen Grenzlinie - von der Moldau wurden Gebiete abgetrennt - entstand etwas, das im Vergleich zur Situation vor 1774 eine Ausnahme darstellte. Diese Gegend schien in sehr vieler Hinsicht an einem Nullpunkt zu stehen. Schritt für Schritt wuchs hier bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts eine sprachlich und ethnisch plurale Bevölkerung, die ein breites Spektrum von Nationalitäten, Sprachen und Religionen umfasste. Es entstand ein Widerspruch zwischen der urbanen Zivilisation und der ländlich, patriarchalischen Umgebung, die noch für viele Jahrzehnte bestehen würde - was wiederum als Ausnahme betrachtet werden kann. Auch politisch gesehen wurde die Bukowina 1848 wieder zur Besonderheit: Die wichtigsten Persönlichkeiten aus Czernowitz haben eine Petition mit der Forderung nach mehr Unabhängigkeit an den Kaiser geschickt. Kaiser Franz Josef I. hat diese Forderungen akzeptiert, was dazu führte, dass die Bukowina als Großherzogtum autonom wurde. Das Land bekam das Recht, eine eigene Regierung und einen eigenen Landtag zu haben, erhielt also noch einmal eine Sonderstellung. Infolge dieses Siegs durfte sich das Land nicht nur selber regieren, sondern auch sein eigenes Unterrichtswesen allein organisieren. Das bedeutete für die pluriethnische Bevölkerung einen großen Aufschwung. Den Bukowiner Exzeptionalismus - die Eigenschaft, infolge eines geschichtlichen Kunstgriffs als ‚westliche‘ Enklave im östlichen Gebiet aufzublühen - verdankt die Stadt Czernowitz nicht zuletzt ihren jüdischen Bürgern und Intellektuellen. Nicht zufällig spricht man von der Bukowina als Klein-Österreich/ Österreich im Kleinen, was dazu führte, dass ein Mythos entstehen konnte: der Mythos von einem ‚Westen im Osten‘. Dieser Gründungsmythos wird sich „als selbständiger Topos geradezu obsessiv in der Literatur der Czernowitzer bis heute reproduzieren [...]: Czernowitz als bewußt imaginierter ,Westen im Osten‘, als Ort, wo ,der Osten den Westen spielt‘“ 3 und allgemein durchsetzen. Wichtig ist aber hier zu unterstreichen, dass sich vor allem nach 1848 eine Elite zu bilden begann, die sich darin verbunden sah, sich mit der deutschsprachigen Kultur zu identifizieren. Diese Bevölkerung lebte in Czernowitz und hatte eine jüdische Mehrheit. So erreichte in der Bukowina bis 1918 die deutsch-jüdische Symbiose ihre Blütezeit. 4 Mindestens zwei Dichtergenerationen, diejenige Alfred Margul-Sperbers und Rose Ausländers, dann diejenige Paul Celans, Immanuel Weißglas’ und Alfred Gongs, die im sehr strengen ästhetischen Kanon der deutschsprachigen Literatur schon lange anerkannt wurden, haben das Verdienst, dass die Bukowiner Kultur auch im zentraleuropäischen Kulturraum Aufsehen erregte. Ein weiterer Schritt wäre nun, das Wirken der „anderen“ 5 bukowinagebürtigen Intellektuellen, deren Werdegang sie eher als Grenzgänger mit humanistischen Interessen kennzeichnet, abzuhandeln. Dies lässt sich durch die Analyse ihrer bisher sehr wenig erforschten Migration aus Czernowitz 3 Corbea-Hoişie, Andrei: Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittel(Ost)-Europa. Wien: Böhlau 2003, S. 22. 4 Diese Ausführungen sind aus der Vorlesung hervorgegangen, die Andrei Corbea-Hoişie, Ion Lihaciu und Ana-Maria Palimariu im Rahmen des literaturwissenschaftlichen Oberseminars „,...wo Menschen und Bücher lebten‘ (Paul Celan). Deutschsprachige Literatur der Bukowina“ vom 7.-11.04.2015 an der Universität Konstanz hielten. 5 Werner, Klaus: Erfahrungsgeschichte und Zeugenschaft. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur aus Galizien und der Bukowina. München: IKGS Verlag 2003, S. 93. Ana-Maria Pălimariu 208 nach „Zentraleuropa“ (Csáky) untersuchen, die nicht nur für die Erforschung ihres Wirkens innerhalb der Bukowiner Kultur, sondern auch für ihre Ideen, welche die europäische Moderne mitformten, und ihr in mehreren Disziplinen neue Impulse gaben, aufschlussreich sein kann. Diese Auswanderung ist zwar den Emigrationen aus den anderen Kronländern der ehemaligen Habsburger Monarchie im 19. Jahrhundert (Sigmund Freud, Karl Kraus) ähnlich, ist aber ihnen nicht vergleichbar gründlich erforscht worden. 6 Das Projekt ihrer Untersuchung sollte im Sinne einer multidisziplinären Öffnung der germanistischen Literaturwissenschaft, die ohnehin die angemessene zukünftige kulturgeschichtlich orientierte Forschung des zentraleuropäischen Raumes wäre, entworfen werden und dabei fragen, ob diese Intellektuellen in ihren jeweiligen Umfeldern tatsächlich wie „einsame Propheten“ 7 wirkten. Die Tatsache, dass sich österreichische Juden erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der deutschsprachigen Kultur identifizieren konnten 8 , führte nicht notwendigerweise dazu, dass dies auch bruchlos geschah. Auch wenn der Bukowiner Exzeptionalismus darin bestand, dass die dort lebenden Ethnien schon im 19. Jahrhundert fast gleichmäßig vertreten waren, was für die Juden zur Folge hatte, dass der Antisemitismus im Vergleich zu anderen Kronländern der Habsburger Monarchie weniger stark ausgeprägt war, war doch auch der dortige Antisemitismus nicht zu vernachlässigen. 9 Sobald die Habsburger Monarchie Galizien und die Bukowina annektiert hatte, wurden die Juden nicht als Nationalität innerhalb der Monarchie anerkannt, sondern nur „geduldet“ und einer Germanisierungspolitik unterworfen - ihnen wurden neue Familiennamen und der Besuch deutscher Schulen aufgezwungen. Weil in der habsburgischen Bukowina die Sprache das Kriterium für die Erteilung der Stimmen im Landtag war (Jiddisch wurde nicht anerkannt), gaben die meisten Juden Deutsch als ihre Muttersprache an und galten so als Deutsche. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in der Bukowina war deutscher Nationalität und jüdischer Konfession. Aber als 1897 - im selben Jahr, in dem Wilhelm Reich auf die Welt kam -, in Czernowitz der Verein der christlichen Deutschen gegründet wurde, muss man sich nicht wundern, dass trotz der gemeinsamen deutschen Sprache „wohl separierte kulturelle Kommunikationsräume“ existierten und dass es unter den Juden auch viele 6 Corbea-Hoişie: Czernowitzer Geschichten, S. 138. 7 Johnston, William W: The Austrian Mind. An Intellectual and Social History, 1848- 1938. Berkeley: University of California Press 1983, S. 253. 8 Dies erfolgte, nachdem die Reformen und Toleranzpatente Josephs II. umgesetzt worden waren und Moses Mendelssohn seine Aufrufe an die orthodoxen Juden gerichtet hatte. 9 Rechter: Becoming Habsburg, S. 142. Psychoanalytiker aus Czernowitz 209 gab, die bereit waren, einen „Kampf gegen die Assimilation“ 10 zu führen. Jedoch handelte es sich teilweise um ein lediglich imaginiertes Gesellschaftsbild in einem realen Raum, das ihnen durch die Weltanschauungen von Goethe, Schiller, Lessing, Herder, Kant und Humboldt vermittelt wurde. Generationen von österreichischen Juden übernahmen dieses ideale und ästhetisierte Bild einer kosmopolitischen, vorurteilslosen und liberalistischen Welt und verbreiteten es über Jahrzehnte als ein ‚fixes‘ Konstrukt, obwohl die Strukturen dieser freiheitlichen und fortschrittsgläubigen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung des Liberalismus sich allmählich änderten und den ursprünglichen Werten im Laufe der Zeit nicht mehr entsprachen. 11 Infolge des 1848 gefassten Beschlusses der kaiserlichen Regierung, die Bukowina zu einem autonomen Kronland zu erheben, mit dem auch die Abschaffung der Judensteuer einherging, konnten die Juden nicht nur aus benachbarten Regionen (aus Galizien, der Ukraine und Bessarabien) in die Bukowina so zahlreich einwandern, dass sie bis 1900 ein Drittel der Bevölkerung in Czernowitz ausmachten, sondern hier auch eine außerordentliche Beschleunigung der Urbanisierung ihrer Hauptstadt vorantreiben. Nachdem sie in der Bukowina vom Militärdienst befreit worden waren 12 und ab 1867 auch Ackerboden besitzen durften, nachdem sie in einem hohen Anteil, anders als Rumänen und Ruthenen, schon für ihre kleinen Kinder die deutschsprachige Bildung gewählt hatten, konnten sie um die Jahrhundertwende mehr als stolz darauf sein, durch ihre gebildete Mehrheit „die eigentlichen ‚Gründer‘ eines modernen städtischen Lebens“ zu sein. Es steht fest, dass „im Jahre 1900 31,92 % (21.587) der Bevölkerung Juden waren“. 13 Die Struktur der Bukowiner Bevölkerung konnte also insofern leicht von der Wiener Politik geformt werden, als das Kronland sich durch ein ethnisches Gleichgewicht auszeichnete, es also keine absolute ethnische Mehrheit der Rumänen oder Ruthenen gab, sondern jeweils nur ein Drittel, was den Deutschsprachlern erlaubte, zwischen diesen zu vermitteln, und auch die Geburt des Gründungsmythos der österreichischen Bukowina als illusorische Oase des friedlichen Zusammenlebens der Nationalitäten ermöglichte. So kam es dazu, 10 Csáky, Moritz: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen - Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien: Böhlau 2010, S. 312f. 11 Solomon, Francisca: Blicke auf das galizische Judentum. Haskala, Assimilation und Zionismus bei Nathan Samuely, Karl Emil Franzos und Saul Raphael Landau. Berlin u.a.: Lit Verlag 2012, S. 119. 12 Corbea-Hoişie, Andrei, Vom Bildungsbürger zum Intellektuellen. Zum Profil der „Czernowitzer Zivilisation“. In: Gans, Michael u.a. (Hgg.). Wörter stellen mir nach, ich stelle sie vor. Dokumentation des Ludwigsburger Symposium „100 Jahre Rose Ausländer“. Baltmannsweiler: Schneider Verlag 2001, S. 33-38, hier S. 35. 13 Corbea-Hoişie: Czernowitzer Geschichten, S. 35. Ana-Maria Pălimariu 210 dass die Juden auch „als die eigentlichen ,Gründer‘ eines modernen städtischen Lebens hervor[traten]“, einen unvergleichbar hohen und verantwortlichen Beitrag zur Modernisierung der Bukowina und zu einer derartig treuen Orientierung nach westlichen Werten leisteten, dass „[d]ie deutsch-jüdische ‚Kultursymbiose‘ [...] niemals und nirgends vollkommner zu sein [schien]“. 14 Dass dies eine illusorische Oase des friedlichen Miteinanders war, beweist das Schicksal der deutsch-jüdischen Symbiose, die durch eine erzwungene, künstliche Zusammenführung der jüdischen mit der deutschsprachigen Kultur entstand, dann bis 1918 eine Blüte erfuhr und nach der Machtübernahme Hitlers zusammen mit dem Mythos der Bukowina als einem ‚Jerusalem am Pruth‘ zugrunde ging. Die meisten jüdischen Bürger konnten, wie oben bereits aufgezeigt, das idealisierte und ästhetisierte Bild einer kosmopolitischen, vorurteilslosen und liberalistischen Welt den realen Entwicklungen in der Bukowina nicht angleichen und so entstand das Phänomen einer jüdischen Treue gegenüber der in der Ferne angesiedelten deutschsprachigen Kultur, an der jene selbst ihr Interesse verlor. Hinzu kommt, dass es innerhalb der jüdischen Gemeinden über die externen Einflüsse hinaus auch interne Brüche gab. Demnach ist die Orientierung der jüdischen Gemeinden am deutschsprachigen kulturellen Angebot (neben den anderen Angeboten: rumänisch, ruthenisch, jiddisch oder hebräisch) eine nicht einfach zu treffende Wahl gewesen, weil sie notwendigerweise mit einer inneren Zerrissenheit jüdischer Familien und Gemeinden einherging. 14 Ebenda, S. 31-37. Und nicht nur dem anwachsenden jüdischen Bevölkerungsteil, sondern auch der sonst „pluriethnischen intellektuellen Elite“ (Spinei, Cristina: „Damals in der Bukowina: Geschichtliche Erfahrungsräume - kleine und große beseelte Welten“, in: Transylvanian Review XX.4 (2011), S. 213-223, hier S. 219) ist eine Sonderheit zu verdanken; zum einen die Treue zu den Werten der Monarchie und die Bemühung, trotz der Entfernung, einen regen Kontakt zu Wien zu pflegen; zum anderen, „die eigene bukowinische Individualität und Eigentümlichkeit“ (ebenda, S. 219f.) zu bewahren. Wenn „[e]in auf Konsensbereitschaft, Toleranz und gesellschaftliche Modernisierung aufbauendes Gemeinwesen, das sich auch über eine regionale Identität zu definieren versucht“ (Scharr, Kurt: „Mythos Czernowitz - Eine Suche nach Ursprüngen“, in: Transylvanian Review XX.4 (2011), S. 225-244, hier S. 234), „eine geradezu inselhafte Stellung als Brücke zwischen Ost und West“ (ebenda, S. 232) und ein besonderer Stellenwert der Juden zusammenspielen konnten, dann kann leicht vorstellbar werden, warum von einer Besonderheit und zugleich Einzigartigkeit Bukowinas gesprochen werden kann. Scharr schreibt in Bezug auf diesen Mythos Folgendes: „Mythos Czernowitz, Mythos Bukowina eine Doña Dulcinea von Toboso, für die es lohnt, gegen Windmühlen zu kämpfen.“ (ebenda, S. 234) Psychoanalytiker aus Czernowitz 211 2 Psychoanalytiker aus Czernowitz Wenn von Intellektuellen die Rede ist, dann bietet sich dafür das Konzept Christophe Charles an. Er geht von einer Geschichte der Intellektuellen aus, die die Einzelnen in den Mittelpunkt stellt. Seine Geschichtsbetrachtung der Intellektuellen stellt einzelne und gruppierte Intellektuelle in den Mittelpunkt. Die machttragenden Eliten jeder Gesellschaft bestimmen den Stellenwert der Intellektuellen und damit auch den Grad ihrer Unabhängigkeit; darum kann die relative Position der Intellektuellen nur innerhalb des intellektuellen „Feldes“ korrekt nachvollzogen werden. 16 Neu bei der Herangehensweise Christoph Charles ist die Tatsache, dass über die soziale Dimension hinaus auch die Frage nach ihrer finanziellen (Un-)Abhängigkeit berücksichtigt wird. Nach Charle eigne sich für die Beschreibung eines Intellektuellen das Konzept der „sozialen Identität“; diese gibt für den bereits bestehenden Subjektbegriff ein Analyseinstrument ab, das sich den neuen immer schwieriger zu erfassenden und dynamischen sozialen Gesellschaftskategorien besser anzupassen vermag, und zugleich die Vielfalt der Subjekte, die selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Klasse agieren, berücksichtigen. Ein wichtiger Faktor, der nach Charle die Identität des Intellektuellen beeinflusste, war der Umstand, dass sie mit der aufkommenden Macht der Presse und der damit auch einhergehenden Funktionsweise des Marktes konfrontiert wurden. 17 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schien der Liberalismus, den gerade die 1848er Revolution sich gewünscht hätte, anti-intellektuell zu werden, so dass die Intellektuellen die Macht der Presse zu denunzieren anfingen. 18 Diese Sichtweise war jedoch nicht überall gleich und hatte sehr widersprüchliche Konsequenzen für den Stellenwert der Intellektuellen. 19 Die Wiener Avantgarde-Intellektuellen wünschten sich für ihr Denken große Freiräume und waren gerade deswegen nicht alle bereit, sich einer massenhaften Öffentlichkeit zu öffnen. Als ikonisch für diese Haltung kann Karl Kraus betrachtet 15 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1999, S. 292. 16 Dieses intellektuelle Feld ist von Land zu Land sehr unterschiedlich, von Mittelnach Westeuropa, sowie von einem intellektuellen Zentrum zu einem anderen, beispielsweise, von Wien zu Paris. Vgl. Charle, Christophe: Les Intellectuelles en Europe au XIXe siècle. Paris: Seuil 1996, S. 31 u. 258. 17 Charle: Les Intellectuelles en Europe au XIXe siècle, S. 182f. 18 Ebenda, S. 190-192. 19 Ebenda, S. 194f. Als Zola beispielsweise diejenigen Autoren würdigte, die das Potential der Presse im Hinblick auf das breitere Publikum ausnutzten, hat das in Wien eine große Debatte ausgelöst. Die Reaktionen der Wiener Intellektuellen signalisierten, dass man damit nicht einverstanden war. Ana-Maria Pălimariu 212 werden. 20 Charle argumentiert, dass aus intellektueller Sicht die Jahrhundertwende für die Stadt Wien eine glänzende Zeit war: Zum einen hatte die intellektuelle Schicht nach dem Scheitern des josephinischen Liberalismus die Flucht in eine ideale Welt gewählt (Carl Schorske); 21 zum anderen hatte das intellektuelle Judentum ein einziges Feld übrig, in dem es sich verwirklichen konnte, weil viele andere Bereiche, nicht zuletzt auch antisemitisch animiert, ihnen versperrt blieben (Steven Beller) - dies lag weiterhin an der Gruppe Jung Wien, in der ein höchster Intellektualismus der damaligen Zeit verkörpert war, an der Überzeugung, dass l’art pour l’art existiert, und an der Interferenz zwischen Wissenschaft und Literatur, aus der in dieser Zeit die Psychoanalyse entstand (Michael Pollak). 22 Die Frage, die sich daher stellt, ist, warum so viele Intellektuelle das Land doch verlassen wollten. Warum blieb ihnen nichts Anderes übrig, als die Provinz zu verlassen? Auch wenn die zivilisatorische Mission in der Bukowina im hohen Maße durch das Judentum erfolgte, so waren die Juden dort vor allem Großbürger und höchstens Bildungsbürger. In Czernowitz, wo erst die rein bürgerlichen Schichten aber noch nicht die Intellektuellen aufgekommen waren, war der berufliche Erfolg einer rein intellektuellen Karriere im Sinne Christophe Charles in der Zeit vor 1918, also vor dem Zerfall der Habsburger Monarchie 23 kaum denkbar, weshalb auch der innige Wunsch junger 20 Karl Kraus ist eindeutig einer aufklärerischen Denktradition zuzuordnen, da er immer vom Wunsch beseelt war, dem Publikum die Augen zu öffnen, auf dass es erkenne, wenn es um „Täuschung, Maske, Kitsch“ (Ganahl, Simon: Ich gegen Babylon. Karl Kraus und die Presse im Fin de Siécle. Wien: Picus 2006, S. 58) gehe. Stattdessen wollte er, dass die Presse-Menschen die Ereignisse von Ideologien zu trennen vermögen, dass sie also Mut haben, sich ihres Verstandes zu bedienen. Indem er die Massen ansprechenden Feuilletonschreibenden abwies, und stattdessen ästhetische Paradiese herbeiwünschte, musste er damit irgendwann alleine bleiben (Johnston: The Austrian Mind, S. 206). Zum Bekanntheitsgrad von Karl Kraus und zu seiner Bedeutung im Prozess der „vom Einfluß der Macht losgelösten Autonomiebestrebung auf dem Kulturfeld“ in der Bukowina vgl. auch: Corbea-Hoişie: Czernowitzer Geschichten, S. 143. 21 Für die Beschreibung der Wiener-Avantgarde-Intellektuellen benutzt Schorske das Bild des Gartens, wie Charle: Les Intellectuelles en Europe au XIXe siècle, S. 279-281, schreibt. 22 Ebenda. 23 Erst die expressionistische Zeitschrift „Der Nerv“ (1919) markiert die Bemühung einer öffentlichen Durchsetzung der nach westlichen Werten orientierten akademischen Laufbahn, die nicht mehr mit finanzieller Sicherheit zusammenhängen muss: Junge Menschen entscheiden sich für einen nichtkommerziellen Beruf und gegen die typische Existenz ihrer bürgerlichen Eltern, wie auch Kafka, der sich „zwischen dem kollektiven Schicksal und der familiären, der individuellen Neurose“ (Stölzl, Christoph: Kafkas böses Böhmen, München: Edition Text +Kritik 1975, S. 134) schlägt. Bezeichnend für das kulturelle Klima in Czernowitz ist auch, dass das öffentliche Wirken von Psychoanalytiker aus Czernowitz 213 Frauen fast unmöglich ist, weshalb sie vor 1918 migrieren mussten: Susanna Rubinstein, Eugenie Schwarzwald, Ninon Hesse, Rose Ausländer. 24 Beispielhaft zeigt dies der Briefwechsel des jungen Czernowitzer Dichters Abraham Altmann mit dem älteren österreichischen Dichter Ferdinand von Saar auf: von Saar, Ferdinand. Kritische Texte und Deutungen, herausgegeben von Karl Konrad Polheim, erster Ergänzungsband. Bonn: Bouvier 1984, S. 329f. Für diesen Hinweis danke ich Andrei Corbea-Hoişie. 25 Corbea-Hoişie: Czernowitzer Geschichten, S. 132, 134. 26 Corbea-Hoişie: Czernowitzer Geschichten, S. 141. 27 Ebenda, S. 138. 28 Corbea-Hoişie: Vom Bildungsbürger zum Intellektuellen, S. 37f. Künstler und Intellektueller, zu den westlichen Ansprechpartnern direkten Anschluss zu suchen, hohe Brisanz hatte. 24 Die Frage „warum eine solche Neigung zur literarischen Innovation erst nach dem Anschluss an Rumänien (also nach 1919) möglich wurde und nicht schon zuvor, als noch eine direkte Verbindung mit Wien und mit den anderen Stätten der Moderne im mitteleuropäischen Raum bestanden hatte“, wurde schon beantwortet: Nicht nur die „alte [...] Variante von Liberalismus“, 25 die spätjosephinischer, wienerischer Prägung war, sondern eine viel komplexere soziohistorische Situation machte die Erfahrung der Begegnung mit dem Phänomen der Stadt Wien um die Jahrhundertwende vieler aus der sogenannten Peripherie stammenden Intellektuellen der Habsburger Monarchie zum Schlüsselerlebnis. Auf einer vertikalen Achse wuchs zwar die provinzielle Metropole Czernowitz in wirtschaftlicher Hinsicht, weil sie sich kapitalistisch entwickelte, während sie auf einer horizontalen Achse wiederum ethnisch wuchs, da sich dort viele Völker und Kulturen entwickeln durften. Was aber an der Peripherie nicht so schnell wachsen konnte, war die intellektuelle Schicht, da sie noch von ,machttragenden Eliten‘ abhing; anders in Wien, wo „eine Verselbständigung des Literatur- und Kunstfeldes vom Machtfeld“ 26 stattfand, so dass die Unabhängigkeit der Wiener Intellektuellen auf ihre peripheren Partner sehr anziehend wirkte. Es gab daher für Czernowitzer Intellektuelle, die größtenteils Juden waren, in der Zeit um die Jahrhundertwende zwei Optionen: entweder mit dem eher traditionsgebundenen lokalen Bildungsbürgertum, das mit den Großgrundbesitzern und mit dem Wirtschaftsbürgertum koalierte, gemeinsame Sache zu machen, oder aber aus der sogenannten Provinzenge zu fliehen und nach Wien, Berlin oder anderswohin auszuwandern, wo sie ihren Begabungen freien Lauf geben konnten. 27 Der Unterschied zwischen dem Intellektuellen und dem auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Bildungsbürger bestand darin, dass der erstere seinen Begriff der deutschsprachigen Kultur als Orientierung an einer kosmopolitisch-universalistischen Sprache, während der letztere ihn als Anbindung zu einer regionalen Heimat verstand. 28 Ana-Maria Pălimariu 214 Kurzum: Eine Einzigartigkeit des Kronlands Bukowina bestand darin, dass die Juden bis 1918 sich eines guten Stellenwertes freuten; der Nachteil aber bestand darin, dass die Intellektuellen den bürgerlichen Geldgebern dienen mussten. So lässt sich auch die große intellektuelle Migration aus Czernowitz nach Wien erklären. 3 Wilhelm Stekel Ein Beispiel hierfür ist Wilhelm Stekel, der 1868 in der Bukowina geboren wurde, in Czernowitz zur Schule ging und, da dies an der 1875 eröffneten Franz-Josephs-Universität Czernowitz nicht möglich war, 1887 zum Medizinstudium nach Wien, der Geburtsstadt der Psychoanalyse, kam. 29 Nachdem er einige Jahre als Militär- und dann als Allgemeinarzt tätig gewesen war, wechselte er die Fachrichtung und wurde Psychoanalytiker. Nach der Begegnung mit Sigmund Freud und nach den darauffolgenden zehn Jahren der Zusammenarbeit trennte er sich aber von ihm und von der Psychoanalytischen Vereinigung. Er baute eine im Schatten Freuds stehende Karriere auf, floh im Jahre 1938 nach London, wo 1940 sein Freitod folgte. 30 Als Freud 1895 den Artikel Ueber Coitus im Kindesalter las, wollte er den jungen aus der Bukowina stammenden Autor Wilhelm Stekel zitieren. 31 Als Stekel seinerseits 1901 Freuds Traumdeutung las, soll er nicht nur „entzückt“ gewesen sein, sondern auch der erste, der sein journalistisches Können im Dienste der öffentlichen Anerkennung dieser außerordentlichen Leistung stellte, 32 die sonst verworfen wurde, wobei es nicht nur bei dieser Rezension blieb: Allein schon in der Bukowina, aber auch in den Wiener Blättern veröffentlichte Stekel eine Flut von Feuilleton-Artikeln für Freuds Bekannt- 29 Stekel, Wilhelm: The Autobiography of Wilhelm Stekel. The Life Story of a Pioneer Psychoanalyst, hg. von Emil A. Gutheil. Mit einer Einleitung von Hilda Stekel. Berlin 1950, S. 53. 30 Innerhalb der bisher wenig erforschten Migration einer Generation aus der Bukowina nach Wien, die unter anderen Intellektuelle wie Susanna Rubinstein, Eugenie Schwarzwald, Walter Rode, Martin Flinker, Maximilien Rubel, Erwin Chargaff, Victor Wittner, Max Reiner, Oskar Laske, Wilhelm Reich zählte, die nach Wien, Berlin, oder Leipzig gewandert sind, ist auch der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel ein wichtiger Vertreter. Vgl. Corbea-Hoişie: Czernowitzer Geschichten, S. 138. 31 Auch wenn Freud diese Arbeit sehr schätzte, so zögerte er nicht, beim Zitieren ihr Erscheinen um einige Monate später, als nach seinem eigenen Vortrag erschienen, zu datieren; siehe Jones, Ernest: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band III. Die letzte Phase: 1919-1939. Übersetzt von Gertrud Meili-Dworetzki; unter Mitarbeit von Katherine Jones. Bd. II. Bern: Hans Huber 1962, S. 20. 32 Stekel: The Autobiography, S. 105. Erst seit 1913 versuchte er, sich von Freud zu distanzieren, was aber zur Popularisierung Freuds nicht minder beitrug. Psychoanalytiker aus Czernowitz 215 machung. 33 Dabei muss hervorgehoben werden, dass es eine bahnbrechende Idee war, im Czernowitz der Jahrhundertwende, wo zwar das bürgerliche, aber noch nicht das intellektuelle Leben blühte, über Freuds Psychoanalyse zu schreiben. Auf der einen Seite versuchte Stekel durch seine Artikel Freud zu loben, 34 auf der anderen Seite aber, seit 1913, zeigte er Ergebnisse eigener Forschungen, die explizit direkt gegen diejenige Freuds gerichtet waren. 35 Als Freud Jahre später, 1924, seine von Franz Wittels verfasste Biographie las, deren Autor zur Bemerkung gelangte, dass der ehemalige Mitbegründer und enge Mitarbeiter im Wiener Kreis der Psychoanalytiker, nämlich der später ausgeschiedene Stekel, ein Denkmal verdienen würde, schrieb Freud im eigenen Buchexemplar hinein: „Zu viel über Stekel.“ 36 Auch nachdem beide Psychoanalytiker ins Londoner Exil gekommen waren, hat Freud seinen früheren Mitarbeiter erneut abgewiesen. Warum eine Beziehung, die so viel versprach, doch auseinanderbrach, und dass Stekel uns nicht die ganze Wahrheit über ihre Bekanntschaft hinterlassen hat, 37 ist inzwischen bereits viel erforscht worden. Weniger aber wurde bisher die Frage danach gestellt, ob nicht etwa auch die unterschiedliche Abstammung der zwei Intellektuellen dafür von Belang gewesen sein könnte, und ob dies nicht etwa auch zu einem noch komplexeren Bild ihrer Zusammenarbeit führen könnte. Auch wenn Stekel schon zu Beginn seiner Autobiographie behauptet, dass er in Bezug auf seine Erinnerungsfähigkeit insofern „eine Ausnahme“ sei, als er sich an seine ersten Kindheits-Erfahrungen klar erinnern würde (die zur Aufklärung der Menschheit übers Kindesalter dienen könnten), so gesteht er im selben Kapitel ein, dass er in Bezug auf seine erste sexuelle Erfahrung eine „Erinnerungslücke“ 38 habe. Ebendort erzählt Stekel darüber, dass er um 1900 aufgrund von Potenzstörungen zu Freud gegangen sei. In der bisherigen Forschung gibt es Beweise dafür, dass Stekel in Bezug auf den Zeitpunkt und die Umstände seiner Bekanntschaft mit Freud einiges verschleiert habe, und dass 33 Siehe beispielsweise Bukowiner Post, Nr. 2647/ 5.02.1911, S. 1-3; Nr. 2665/ 19.03.1911, S. 1-4; Nr. 2666/ 21.03.1911, S. 1-2; Nr. 2792/ 14.01.1912, S. 1-4. Bei Wittels 1924, S. 114, kann man lesen: „Die Druckmaschinen Europas seufzten unter der Last der Artikel, die Stekel über Freud schrieb.“ Stekel bestätigt dies in seiner Autobiographie (S. 106) und fügt hinzu: „The editors of ,Tagblatt‘, the newspaper in which I published my ,feuilletons‘, once requested that I write at least one article without mentioning Freud.“ 34 Siehe beispielsweise Bukowiner Post, Nr. 2647/ 5.02.1911, S. 1-3; Nr. 2665/ 19.03.1911, S. 1-4; Nr. 2666/ 21.03.1911, S. 1-2; Nr. 2792/ 14.01.1912, S. 1-4. 35 Siehe Bukowiner Post, Nr. 3074/ 13.11.1913, S. 1-2; Nr. 3075/ 16.11.1913, S. 1-4. 36 Sein Exemplar ist laut Gay, Peter: Freud: A Life for Our Time. New York: W. W. Norton 1998, S. 183, im Londoner Freud-Museum als Faksimile zu sehen. 37 Clark-Lowes, Francis: Freud’s Apostle: Wilhelm Stekel and the Early History of Psychoanalysis. Bedfordshire: New Generation Publishing 2011, S. 393-413. 38 Stekel: The Autobiography, S. 28-32. Ana-Maria Pălimariu 216 Stekel Freud schon um 1896 aufgesucht haben könnte und nicht um 1900, wie von Stekel angegeben. 39 Angenommen wird, dass es sich dabei nicht nur um wissenschaftliche Ambitionen handelte, wer etwas als erster gedacht, oder wer wen zitiert habe, sondern dass es auch um die persönlichen Details ging, die Stekel vor Freud in der psychoanalytischen Therapie preisgegeben hat. Diese Umstände lassen also darauf schließen, dass Stekel etwas nicht Aufgearbeitetes aus seiner Kindheit mit seiner psychoanalytischen Therapie bei Freud verband. Um die Jahrhundertwende, als es zur Zusammenarbeit zwischen Freud und Stekel kam, war er ein aus der Bukowina stammender Absolvent der Medizin auf der Suche nach Unabhängigkeit, aber längst noch nicht etabliert. In der Tat, „bedurfte es einer gewissen Unausgeglichenheit, um sich überhaupt für Freuds Arbeit zu interessieren“. 40 Im oben erwähnten allerersten Artikel Stekels Ueber Coitus im Kindesalter (1895) wird „ein mir [Wilhelm Stekel, A. P.] bekannter Landarzt in den Karpathen“ erwähnt, „der häufig Gelegenheit hat, Huzulenkinder zu beobachten, welche sich selbst überlassen, auf der Weide in frühen Jahren den Coitus ausführen“. 41 In Stekels Buch Onanie und Homosexualität soll stattdessen „ein Student“ 42 über wortwörtlich genau dasselbe berichtet haben. Auch wenn es sich um ein und dieselbe Person handeln könnte, so erzeugt die Bezeichnung „Student“ eine viel geringere Distanz zwischen dem Arzt Wilhelm Stekel und den auf dem Lande „Coitus ausführen[den]“ Kindern. 43 Der im Coitus-Aufsatz präsentierte Patient „Landarzt“ hat wiederum auffallend viel mit dem autobiographischen Stekel gemeinsam: ein früh begonnenes Geschlechtsleben, eine Großmutter in einem kleinen Dorf auf dem Lande, eine dortige „Gespielin“ gleichen Alters, mit der er „das bei uns zu Lande so häufige Spiel - Vater und Mutter“ in einer halbdunklen Hütte spielte, gesunde Eltern in der Stadt, und den Arzt-Beruf; aber das allerwichtigste scheint zu 39 Clark-Lowes: Freud’s Apostle, S. 393-410. Die Diskussionen zwischen den zwei Psychoanalytikern sollen schon während der Behandlung sehr problematisch gewesen sein, da Freud der allwissende Analytiker und Stekel der Patient geblieben sein soll; dieses Verhalten Freuds könnte auch von der Überzeugung genährt worden sein, dass der Analytiker dem Patienten gegenüber rätselhaft bleiben soll, wie Gay (Freud, S. 37) behauptet. Für diese Annahme würde auch die Tatsache sprechen, dass C. G. Jung sich von Freud gerade aufgrund der Geheimhaltung seines Privatlebens entfernt haben soll, wie Gay (ebenda, S. 235) argumentiert. 40 Roazen, Paul: Freud und sein Kreis. Übers. aus dem Amerikanischen von G. H. Müller. Gießen: Psychosozial Verlag 2006, S. 217. 41 Stekel, Wilhelm: Ueber Coitus im Kindesalter. Eine hygienische Studie. Wiener medizinische Blätter, Jg. XVIII, Nr. 16, 18.04.1895, S. 247-249, S. 247f. 42 Stekel, Wilhelm: Onanie und Homosexualität, 2. Auflage (1. Aufl. 1917). Berlin: Urban & Schwarzenberg 1921, S 6. 43 Stekel: Ueber Coitus im Kindesalter, S. 248. Psychoanalytiker aus Czernowitz 217 sein, dass er beim Abschied eine schöne „Hirtenflöte“ 44 bekommt. In der Autobiographie bekommt der Erzähler ebenfalls eine „wooden flute“. 45 Sobald Stekel die junge Freundin vom Lande nicht mehr sehen darf, und nachdem er aus den Büchern erfahren hatte, dass die Masturbation sehr schädlich für die Gesundheit sei, verliert er (Stekel) seine Potenz - so ließe sich die dreimalige Erwähnung dieser Metapher in Stekels Werk auslegen (1895, 1923, 1950). Vor dem Hintergrund dieses Details aus Stekels Leben kann man auch seinen allerersten Fall analysieren, den ihm Freud zuspielte. Stekels Behandlung eines Rabbiners brachte unter anderem zum Vorschein, dass der Rabbiner in seiner Kindheit von einem Diener missbraucht worden war. In seiner Darstellung aus dem Jahre 1908 erwähnt Stekel den Diener, 46 in seiner Autobiographie ist dieser „the sexton in his father’s house“; 47 diese neue Bezeichnung legt die Schuld am Missbrauch auf die Schultern des Vaters, der sich lange Zeit im Ausland aufhielt; auch wenn in Stekels früher Darstellung dieses Falles kein Ärger, keine Wut sich vom Rabbiner gegen den Vater zu richten scheint, so wird in Stekels Autobiographie deutlich, dass der Vater schuld daran war. 48 Wahrscheinlich damit die Hysterie des Rabbiners nicht mit dem Ostjudentum identifiziert wird, hat Stekel den kulturellen Hintergrund des Rabbis ausgelassen und auch das Wort Hysterie nicht verwendet - woraus eine gewisse Sensibilität seitens Stekel selbst bezüglich seines Ostjudentums während seiner Zusammenarbeit mit Freud vermutet werden könnte. 49 Erst in seiner Autobiographie sagte er aber öffentlich viel mehr zum Judentum als bisher und zeigte unmissverständlich seine Enttäuschung über 44 Ebenda. 45 Stekel: The Autobiography, S. 33. Dieses Geschenk, worüber Stekel in seiner Autobiographie schreibt, wurde in der Forschung aufgrund seines ähnlichen Erwähnens im Buch Impotenz des Mannes (Stekel, Wilhelm, Die Impotenz des Mannes. Die psychischen Störungen der männlichen Sexualfunktion. 2. Auflage. 1. Aufl. 1920. Berlin: Urban & Schwarzenberg 1923, S. 117) als Symbol der „Potenz“ ausgelegt; mehr noch der Patient NM, der täglich masturbiert und unter Impotenz leidet, wurde überzeugenderweise als Stekel selbst kenntlich (Bos, Jaap/ Leendert Groenendijk: The Self-Marginalisation of Wilhelm Stekel. Freudian Circles Inside and Out. New York: Springer 2007, S. 96). 46 Stekel, Wilhelm: Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung. Berlin: Urban & Schwarzenberg 1908, S. 164. 47 Stekel: The Autobiography, S. 114. 48 Balakirsky Katz, Maya: „An Occupational Neurosis. A Psychoanalytic Case History of a Rabbi“, in: AJS Review 34.1 (April 2010), S. 1-31, hier S. 18. 49 Balakirsky Katz, Maya: „A Rabbi, a Priest, and a Psychoanalyst. Religion in the Early Psychoanalytic Case History“, in: Contemporary Jewry 31.1 (April 2011), S. 3-24, hier S. 17. Ana-Maria Pălimariu 218 die schlechte Behandlung der Juden in seiner frühen Karriere. 50 Man kann sich fragen, ob er dies Freud zuliebe schrieb, oder weil er sich davor fürchtete, eine Offenlegung auch jüdischer Probleme zu wagen. So beschränkte er sich zuerst auf die christlichen Diagnosen. So wie Michel Foucault schon bemerkt hat, dass die Psychoanalyse ihre Autorität über die Sexualität auf Kosten der kirchlichen Institutionen behauptet habe, schien auch Stekel die Erkenntnisfähigkeit in Bezug auf menschliche Sexualität vom Klerikalen in die Psychoanalyse umsetzen zu wollen. 51 Freud hat sich auch von der Logik der Schuld, die von der katholischen Kirche praktiziert wurde, distanziert und hat stattdessen „für eine Ethik plädiert, die sich als ein therapeutischer Versuch begreift“. 52 Mehr noch, er geht 1930 so weit, bezüglich der Beziehung zwischen Trieb und Religion den Juden im Gegensatz zu den Christen „anerkennenswerte Verdienste“ 53 zuzuweisen. Auch Stekel wird später, eben erst in seiner Autobiographie 1950 auf diese Beziehung eingehen und den Mut fassen, das Christentum für Missbrauch zu kritisieren und der Psychoanalyse und Sigmund Freud das Verdienst, der (Nach-)Welt unsterbliche Ideale hinterlassen zu haben zuweisen. 54 50 Stekel: The Autobiography, S. 70f). 51 Balakirsky Katz: An Occupational Neurosis, S. 10. 52 Müller-Funk, Wolfgang: „Das Unbehagen in der Kultur: Close Reading und Rezeptionsgeschichte“, in: Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Göttingen: V&R unipress 2016, S. 7-45, hier S. 30. 53 Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Göttingen V&R unipress 2016, S. 51- 110, hier S. 88. 54 Stekel: The Autobiography, S. 285-287. 55 Siehe z.B. die zuletzt erschienene wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung: Strick, James E.: Wilhelm Reich, Biologist. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2015. 4 Wilhelm Reich Wilhelm Reich, der 1897 im österreichisch-ungarischen Galizien geboren und in einem Dorf in der Bukowina aufgewachsen ist, in Czernowitz zur Schule ging und zum Medizinstudium sowie zum Ausüben seines Berufs nach Wien ging, dann weiter nach Deutschland, Dänemark, Skandinavien und in die USA emigrierte, wo er schließlich zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt und seine Bücher aufgrund eines Urteils unter Aufsicht der amerikanischen Food and Drug Administration verbrannt wurden, was zu einer langjährigen gespaltenen Rezeption führte, wird nun allmählich neu entdeckt und sein Werk wird wieder aufgewertet. 55 Psychoanalytiker aus Czernowitz 219 Wenn die meisten bisherigen Biografen Wilhelm Reichs mit wenigen Ausnahmen 56 sowohl sein Leben als auch seine wissenschaftliche Laufbahn nur fragmentarisch interpretierten 57 , indem sie zum Beispiel seinen Nachlass entweder außer Acht ließen oder nicht kontextbezogen lasen, und dabei der Eindruck entstand, dass die Orientierung seiner jüdischen Familie am deutschsprachigen kulturellen Angebot das Ergebnis eines einheitlichen assimilatorischen Prozesses darstellte, der von keinen äußeren oder inneren Faktoren gestört wurde, kann man behaupten, dass in Reichs Fall gerade eine kontextbezogene Analyse seiner Autobiographie zu viel komplexeren Schlussfolgerungen führen und zugleich dem heutigen Stand der Forschung über diese Kulturlandschaft entsprechen kann. Dem Bruch zwischen Ideal und Wirklichkeit bei den Bukowiner Juden scheint, wie aus Wilhelm Reichs Autobiographie hervorgeht, auch sein Vater zum Opfer gefallen zu sein, da er einerseits der assimilatorischen Tradition zuzurechnen ist, andererseits (wie Reichs ganze Familie) als innerlich zerrissen präsentiert wird. Über den Vater berichtet Reich: Er „mußte [...] mit Anstrengung aller Kräfte arbeiten, um nicht zurückzubleiben und sich ein angenehmes Heim zu schaffen“. 58 Zudem schreibt Reich: Meine Muttersprache war von Anfang an Deutsch, ebenso meine Schulung. Meine Eltern legten großes Gewicht darauf, daß ich das Jiddisch der umgebenden Bevölkerung nicht sprach. Es galt als „unfein“. Die Äußerung eines jiddischen Ausdrucks brachte schwere Strafe mit sich ein. Die Abgrenzung meiner Eltern gegenüber den orthodoxen Juden hatte einen sehr materiellen Grund. 59 Bei einem Besuch zur Zeit des Sühnetages, an dem der orthodoxe Jude fastet, erhielt ich, damals etwa sechs Jahre alt, den Auftrag, ihn [den Großvater, A. P.] aus dem Bethaus zum Essen zu holen. Man vergaß mir einzuschärfen, daß ich es nur leise sagen dürfe. Ich rief ihn laut vor allen zum Essen. Es gab einen Skandal, und ich wurde vom Vater verprügelt. 60 56 Ollendorff Reich, Ilse: Wilhelm Reich. A Personal Biography. New York: St. Martin’s Press 1969; Sahraf, Myron: Fury on Earth. A Biography of Wilhelm Reich. New York: éditions les atomes de l’âme 2011, zuerst erschienen: St Martin’s Press New York 1985. 57 Holtzheimer, Jochen: „Wilhelm Reich“, in: Rattner, Josef (Hg.): Pioniere der Tiefenpsychologie. Wien: Europaverlag 1979, S. 193-220; Kornbichler, Thomas: Flucht nach Amerika. Emigration der Psychotherapeuten: Richard Huelsenbeck, Wilhelm Reich, Erich Fromm. Freiburg: Urania 2006; Fallend, Karl: „Wilhelm Reich. Radikalisierungen zwischen Psychoanalyse und Politik“, in: Diercks, Christine; Schlüter, Sabine (Hgg.): Die großen Kontroversen. Sigmund-Freud-Vorlesungen 2007. Wien 2009, S. 204-216; Bronner, Andrea: „Wilhelm Reich. Welch ein Leben! “, in: Diercks/ Schlüter, Sabine (Hgg.): Die großen Kontroversen, S. 146-158. 58 Reich, Wilhelm: Leidenschaft der Jugend. Eine Autobiographie 1897-1922. Hg. von Mary Boyd Higgins und Chester M. Raphael. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 14. 59 Ebenda, S. 13. 60 Ebenda, S. 14. Ana-Maria Pălimariu 220 Es war mir als Kind streng verboten, mit den Bauern- und Angestelltenkindern zu spielen. Ich war bis zu meinem zwölften Lebensjahr, den Bruder ausgenommen, ohne Spielkameraden. Oft stand ich am Zaun unseres Hofes und sehnte mich hinaus zu anderen Kindern. Eines Tages spielte ich am Zaun, ein Bauernjunge meines Alters sah mir, einige Meter entfernt, zu. Plötzlich ergriff er einen Stein, ich vermute, zum Scherz, und warf ihn gegen mich. Er traf meine Stirn und ich blutete ein wenig. Der Junge hatte es sicher nicht böse gemeint. Meine Mutter wusch mir die Stirn und erzählte die Sache dem Vater. Der geriet in tolle Wut. Er ließ den Vater und das Kind kommen. Nach einem kurzen Hinweis auf den Vorfall prügelte er den Bauern ganz schauerlich durch. Der Bauer ließ es ruhig geschehen, ohne sich zu wehren. Als er mit seinem Kind fortging, prügelte er es die ganze Wegstrecke lang bis zu seinem Hause. Der Junge schrie fürchterlich. Ich war sehr erregt, doch ich sagte nichts und verkroch mich. Ich war etwa acht Jahre alt. Ich haßte und fürchtete meinen Vater zugleich. 61 Dass die Juden die Aufgabe, die Bukowina zu entwickeln und zu modernisieren, „vollverantwortlich“ 62 übernahmen, wird auch in der Autobiographie Wilhelm Reichs thematisiert, mehr noch, sie hängt sehr stark mit den Gründen zusammen, die zur Tragödie der Familie Reich führten. Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des ersten Bandes der Autobiographie, 63 von dem wir wissen, dass Reich ihn mehrmals revidiert und ergänzt hat, berechtigt uns, Vermutungen darüber anzustellen, warum die in den 1920er Jahren entstandene Autobiographie erst 1994 in deutscher − also in der Originalsprache − erschien. Da Wilhelm Reich 1915 die Bukowina verlassen musste, hielt sein Erzähler fest: „Ich habe die Heimat und das Eigentum nie wieder gesehen. Von den Resten einer wohlhabenden Vergangenheit blieb nichts übrig.“ 64 Denn anders als zum Beispiel die viel ältere Susanna Rubinstein, die ebenfalls eine Karriere in der Migration aufbaute, war es Wilhelm Reich nicht gegeben, die Provinz lediglich deshalb zu verlassen, weil er „dem aufstiegsorientierten Kaufmannsmilieu“ entstammte und sein Wissen „eine Verwendung finden sollte“ 65 - vielmehr musste er weggehen, weil er als vollkommen mittelloser Waise zurückblieb. Wenn Reich also im Jahr 1944 das Buch zum letzten Mal 61 Ebenda, S. 21. 62 Corbea-Hoişie: Czernowitzer Geschichten, S. 36. 63 Leidenschaft der Jugend ist der erste von vier autobiographischen Bänden Wilhelm Reichs. Bd. 2: Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934-1939. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997; Bd. 3: American Odyssey. Letters and Journals 1940- 1947. New York: Farrar, Straus and Giroux 1999; Bd. 4: Where’s the Truth? Letters and Journals 1948-1957. New York: Farrar, Straus and Giroux 2012. 64 Reich: Leidenschaft der Jugend, S. 79. 65 Corbea-Hoişie, Andrei: „Der europäische Bildungsweg der Czernowitzerin Susanna Rubinstein“, in: Winkler, Markus (Hg.): Partizipation und Exklusion. Zur Habsburger Prägung von Sprache und Bildung in der Bukowina. 1848-1918-1940. Regensburg: Friedrich Pustet 2015, S. 189-206, hier S. 199. Psychoanalytiker aus Czernowitz 221 revidierte 66 - gewiss in Kenntnis darüber, was zwischenzeitlich in der Bukowina geschehen war, nämlich die Judendeportation von 1941 -, als es weder die deutschsprachige noch die von Juden dicht bevölkerte Bukowina mehr gab, und solche Sätze stehen ließ wie die oben angeführten, 67 ist es berechtigt, die von Aleida Assmann nahegelegte Umwertung des Erzählens seiner Geschichte, die vom Ort der Katastrophe ausgeht, zu wagen. Aleida Assmann zeigt, wie die Prozesse der korrekten Umwertung der mitteleuropäischen Geschichte stattfinden können. Ihr zufolge kann man einen Ort wie Auschwitz - oder, es lässt sich hinzufügen, wie Czernowitz - als „Ort des Umschlags von Peripherie in ein Zentrum, von dem her die Weltgeschichte neu geschrieben und die politischen Werte und die Ansprüche neu geordnet werden müssen“, 68 behandeln. Der Umstand, dass im ganzen Buch weder der Antisemitismus, den es sowohl in der Bukowina als auch in Wien gab, noch der literarische Wert eines Werkes, das von einem Psychoanalytiker verfasst wurde, erwähnt werden, kann auf den ersten Blick verwundern. Aber es ist an der Zeit, wie Klaus Werner zu Recht einfordert, in Auflistungen kanonischer Werke, wie zum Beispiel in Kilchers Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, auch „Grenzgänger“ 69 wie Wilhelm Reich aufzunehmen. Die große Herausforderung Reichs und der Psychoanalytiker seiner Zeit war, diese neue Disziplin mit der Soziologie und dadurch implizit auch mit der Politik zu verbinden: Außerdem beschäftigte ich mich intensivst mit Psychoanalyse, nicht nur aus objektivem Interesse für diese ganze neue Wissenschaft, sondern auch aus dem unbestimmten Gefühl heraus, durch sie in manche dunkle Regionen meines Ichs zu gelangen. 70 Ferner schreibt er darüber, wie „das Wiener intellektuelle Bürgertum, die Psychoanalyse und meine krankhafte Fixierung auf meine früheren Erlebnisse“ 71 zusammenkamen und seine ganze Existenz bestimmten. Diese „früheren Erlebnisse“ waren der Verlust der Eltern, des Elternhauses, der Hei- 66 Siehe z.B. ebenda, Anmerkung auf S. 48. 67 „Ich habe die Heimat und das Eigentum nie wieder gesehen. Von den Resten einer wohlhabenden Vergangenheit blieb nichts übrig.“ Vgl. Reich: Leidenschaft der Jugend, S. 79. 68 Assmann, Aleida: „Vom Zentrum zur Peripherie und zurück. Reisen ins Herz der Finsternis“, in: Vogt, Mathias u.a. (Hgg.): Peripherie in der Mitte Europas. Frankfurt/ M.: Peter Lang 2009, S. 61-78, hier S. 77. 69 Werner, Klaus: „Die ,anderen‘ Czernowitzer Abkömmlinge deutsch-jüdischer Ideengeschichte und Literatur: Walther Rode, Wilhelm Reich, Maximilien Rubel und Erwin Chargaff “, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 11.1 (2001), S. 161-214, hier S. 161. 70 Reich: Leidenschaft der Jugend, S. 160. 71 Ebenda. S. 96. Ana-Maria Pălimariu 222 mat und schließlich des Geburtsortes, selbst wenn jener in Alt-Österreich eine sogenannte Peripherie gewesen war. Denn diese zwei Sachverhalte - das Drama der Familie Reich und schließlich der Niedergang der Bukowina - sind hier nicht getrennt zu betrachten. Wilhelm Reich wurde zuerst im deutschsprachigen, dann im ganzen westeuropäischen Raum - vor allem nach der Zusammenarbeit mit Freud und nach der sexuellen Revolution, deren Vordenker er war - sehr stark rezipiert. Ausgehend von seiner zentralen These, „dass sexuelle Befriedigungsfähigkeit und Sadismus sich gegenseitig ausschlössen“, 72 haben seine Ideen längst auch die Politik beschäftigt. Viele haben Reich entweder für ein Genie oder für einen Guru gehalten. Doch nicht alle Biografien und Lebensdarstellungen werden ihm gerecht, zuletzt die Filmbiographie Der Fall Wilhelm Reich unter der Regie von Antontin Svoboda. Denn die Bukowina hatte für ihn eine große Bedeutung, nicht nur weil sie der Raum seiner Kindheit war, sondern auch weil der Psychoanalytiker die geographisch-kulturspezifischen Koordinaten immer wieder betont. Selbst wenn der erste Band der Autobiographie zunächst durch paratextuelle Merkmale den für Wilhelm Reichs Leben ersten und ausschlaggebenden Ort auszublenden scheint (sowohl der Titel als auch die drei Kapitel enthalten keine räumlichen Hinweise darauf, sondern nur auf Wien) und sich eher auf zeitliche Meilensteine konzentriert (Kindheit und Pubertät: 1897-1914, Der große Krieg: 1914-1918), werden schon in der vierten Zeile des Buches nicht nur die physisch-geographischen, sondern vielmehr die kulturspezifischen Koordinaten seines Geburtsortes erläutert. Durch den Hinweis: „im ukrainischen Teil der nördlichen Bukowina, dem äußerst vorgeschobenen Posten deutschen Kulturgebiets“, 73 wird neben Informationen geographischer Natur auch eine Kulturgeschichte aufgerufen, die von solch entscheidender Bedeutung wie die Geburt selbst gewesen sein dürfte. Auch das Foto von Wilhelm Reich, das zur Gestaltung des Titelblatts verwendet wurde, signalisiert eine Idylle, in der mit weißen Hemden bekleidete Jugendliche, die sehr leicht erkennbar keine Bauern sind (einer trägt Anzug und Krawatte, ein anderer eine Brille), sich nicht nur an der Kultur, sondern auch an der Natur zu freuen wissen. Wilhelm Reichs Autobiographie, die in Verbindung mit seinem politisch-beruflichen Wirken gelesen werden sollte, könnte nicht nur als „Lösung des historischen Problems“ des Faschismus interpretiert werden, die „er (vergeblich) in geschichtsfernen, imaginä- 72 Herzog, Dagmar: „Die ,sexuelle Revolution‘ in Westeuropa und ihre Ambivalenzen“, in: Bänziger, Peter-Paul u.a. (Hgg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren. Bielefeld: transcript 2015, S. 347-368, hier S. 353f. 73 Reich: Leidenschaft der Jugend, S. 13. Psychoanalytiker aus Czernowitz 223 ren Regionen bloßer Natur“ suchte. 74 Vielmehr zählte zu diesen „imaginären Regionen“ auch die Bukowina. Wenn man den Befund Paul Ricoeurs aufgreift, dem zufolge Karl Marx, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche die drei großen „masters of suspicion“ 75 des 19. Jahrhunderts gewesen sein sollen, dann lag Wilhelm Reich gar nicht falsch, als er überlegte, dass er Freud mit Marx zusammenbringen könne, da er die beiden als komplementär ansah. 76 Doch leider war es ihm nach seiner Flucht vor den Nazis auch in den Vereinigten Staaten nicht vergönnt, Gedankenfreiheit für seine Forschungsinteressen zu genießen, denn er geriet in die McCarthy-Ära und wurde Opfer der sogenannten amerikanischen Version der Hexenverfolgung. 77 Seinem innerlich zerrissenen Vater aus Reichs Autobiographie will das Kind nur versteckte Rehabilitationsversuche entgegenbringen: „ich wollte koitieren“. 78 Diesen Willen zur Rehabilitation wird Wilhelm Reich später die „orgastische“ Potenz nennen. Von der Wiederherstellung der Potenz erwartet Reich alles; die Gabe, sich unbeeinflusst von der Misere der Gegenwart, der kollektiven wie der individuellen Situation, im Liebesspiel der Kopulationsautomatik anzuvertrauen, die in eine Bewusstseinsverdunkelung mündet, ist eine Fähigkeit zur Regression, die uns (wie der Schlaf) das Leben erst erträglich macht. 79 Auch wenn Wilhelm Reich wegen seines Heterozentrismus und seiner Fixierung auf die Rollenbilder von Mann und Frau kritisiert werden kann, was viele seiner heutigen Anhänger noch versäumen, 80 bleibt es sein Verdienst, den Raum Bukowina mit einem für damals außerordentlich mutigen, nonkonformen und fortschrittlichen Denken verbunden zu haben. 74 Dahmer, Helmut: „Rückblick auf Wilhelm Reich“, in: Johler, Birgit (Hg.): Wilhelm Reich Revisited. Wien. Turia 2007, S. 124-131, hier S. 131. 75 Ricoeur, Paul: Despre interpretare. Eseu asupra lui Freud [Die Interpretation. Ein Versuch über Freud]. Aus dem Französischen von Magdalena Popescu und Valentin Protopopescu. Bukarest: Editura Trei 1998. 76 Protopopescu, Valentin: Wilhelm Reich - între legendă și realitate [Wilhelm Reich - zwischen Legende und Wirklichkeit]. In: Reich, Wilhelm: Funcția orgasmului. Psihopatologia și sociologia vieții sexuale. Hg. von Marius Chivu. Ins Rumänische übersetzt von Aurelian Cojocea und Reiner Wilhelm. Bukarest: Editura Trei 1995, S. 7-20, hier S. 9. 77 Ebenda, S. 11. 78 Reich: Leidenschaft der Jugend, S. 16. Vgl. auch ebenda, S. 35. 79 Dahmer: Rückblick auf Wilhelm Reich, S. 129. 80 Pfaller, Robert: Gegen die Diffamierung der Beute. Zur Aktualität der Theorie Wilhelm Reichs. In: Johler (Hg.): Wilhelm Reich Revisited, S. 132-142. Interessant ist in diesem Beitrag die Anerkennung von Reichs Weitsicht, den menschlichen Genuss - nicht nur sexueller Natur - in der Öffentlichkeit schon sehr bedroht gesehen zu haben. Schade ist nur, dass die Frage offen bleibt, um wessen Genuss es dabei ging/ geht. Ana-Maria Pălimariu 224 An dieser Stelle soll nicht nur der Frage, warum Intellektuelle aus Czernowitz die Psychoanalyse auf eine ernsthafte Basis gestellt haben, sondern auch der diesbezüglichen narrativen Relevanz einer Autobiographie mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Selbst wenn es bisher schon Untersuchungen darüber gibt, dass Wilhelm Reich missbraucht worden ist 81 - was sich auch in die Narrative der Autobiographie 82 hineininterpretieren lässt 83 -, so kann man in all seinen Erwähnungen von Gewalttätigkeit auch die Antwort auf die Frage finden, warum der spätere Psychoanalytiker und Psychiater sich so intensiv mit der infantilen Sexualität in all ihren Formen beschäftigt hat. Wenn nämlich der Erzähler der Autobiographie etwas mitteilt, könnte dies im „Sprechakt der Narration“ auch so interpretiert werden: „die Erzählstimme [...] liefert sich wie im alltäglichen Kommunikationsprozess einem Gegenüber aus“. 84 Denn: „Wir erzählen nicht nur etwas, sondern wir erzählen immer jemandem etwas.“ 85 Wilhelm Reich möchte vielleicht - vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die historische Bukowina endgültig ausgelöscht worden war - auch uns davon berichten, was in der Bukowina gut gewesen ist und welchen Preis er dafür zahlen musste. Die Szene, in der Reichs Vater einen Kutscher vor Hunderten von Leuten so schwer ohrfeigte, dass er zu Boden fiel, soll das Bild des Vaters als eines innerlich zerrissenen, assimilierten jüdischen Bürgers stärken. Denn es ist ein Bürger, der sich von der gewählten deutschsprachigen Kultur nun so verraten sieht und einen so starken Antisemitismus erleben muss, dass er nur noch hassen kann. Den Hass, den Reich bei seinem Vater erlebt haben will, kann er kontrapunktisch zur „verblödeten“ Selbstzufriedenheit einsetzen, um zu zeigen, welchen Preis er als Intellektueller zu entrichten hatte: Einer der bei uns angestellten Arbeiter hatte einen Sohn von ungefähr zwanzig Jahren, der, vollständig verblödet, den ganzen Tag in der Sonne vor dem Hause lag. Nur mit dem Hemd bekleidet, spielte er fortwährend mit seinen Genitalien und murmelte dabei unverständliche Worte vor sich hin. Ich betrachtete sein Spielen mit den Geni- 81 Totton, Nick: Wilhelm Reich’s Theory of Sexuality. In: Heuer, Gottfried (Hg.): Sexual Revolutions: Psychoanalysis, History and the Father. London, New York: Routledge 2010, S. 141-154, hier S. 144. 82 Vgl. z. B. Reich: Leidenschaft der Jugend, S. 16f. 83 Auch im Falle des Czernowitzer Psychoanalytikers Wilhelm Stekel wurde bewiesen, dass die Annahme des körperlichen Missbrauchs - bei vollkommener Aussparung dieser Tatsache in seinem Werk - sehr glaubhaft erscheint, da das Opfer ein typisch posttraumatisches Verhalten zeigt; siehe: Clark-Lowes: Freud’s Apostle. 84 Müller-Funk, Wolfgang: Erinnerung als narrative Konstruktion des Vergangenen. Theoretische Überlegungen zu einer großen europäischen Erzählung, der Shoah, in: Nagy, Hajnalka; Wintersteiner, Werner (Hg.): Erinnern - Erzählen - Europa. Das Gedächtnis der Literatur. Innsbruck: StudienVerlag 2015, S. 37-53, hier: S. 42. 85 Ebenda, S. 41. Hervorhebung im Original. Psychoanalytiker aus Czernowitz 225 talien sehr gerne und hatte dabei Lustempfindungen. Ob hier der Grund für meine später stark entwickelte und Jahre anhaltende Lust zur Onanie zu suchen ist, vermag ich nicht zu sagen. Die Wahrscheinlichkeit liegt jedoch nahe wegen der Intensität meiner Empfindungen beim Anblick des Idioten und seines Spiels mit den Genitalien. 86 Wenn das Kind zu den kompromisslosen Assimilierungsbestrebungen seines Vaters einen Ausgleich, eine Rehabilitierung sucht, kann diese also nur ein geistig Behinderter liefern. Ferner wird deutlich, dass der Erzähler den Hass - „Ich haßte und fürchtete meinen Vater zugleich“ 87 - zu überwinden versucht, indem er ein anderes Angebot bewundert: „Kein Haß gegen alles Nichtjüdische, verständnisinniges Entgegenkommen den anderen gegenüber, kein Streit, ob jüdisch oder hebräisch“ 88 - und dieses als Kennzeichen des Bukowiner Intellektuellen begründen möchte. Darüber hinaus zeigt Reichs Autobiographie, dass solche Texte mehr als die „Erinnerung an Ereignisse“ zu bieten haben, nämlich „die interpretierenden narrativen Rekonstruktionen von Erfahrungen und Befindlichkeiten, die imstande sind, den offiziellen Erinnerungsdiskurs herauszufordern, zu hinterfragen und zu durchbrechen“. 89 Mit seiner Autobiographie leistet Reich einen Beitrag zur Einsicht, dass die „Oase“ des friedlichen Zusammenlebens der Nationalitäten in der Bukowina in doppelter Hinsicht eine illusorische war. Die assimilierten Juden hatten die deutsche Kultur keineswegs einheitlich akzeptiert, ihre Gemeinden wurden sowohl von äußeren Faktoren wie dem Wiener Zentralismus, dem Antisemitismus und dem Nationalismus als auch von inneren Brüchen wie die Trennung von der Tradition und von den Gemeindemitgliedern affiziert. Eine wissenschaftsgeschichtlich orientierte Untersuchung jüngeren Datums, die zum ersten Mal Wilhelm Reichs naturwissenschaftliche Arbeit ernst genommen hat - jenseits der Anschuldigung, Reich wäre ein Pseudowissenschaftler oder ein Scharlatan gewesen -, stellt auch seine Autobiographie in einen erweiterten Kontext und eröffnet neue Perspektiven. 90 Die Monographie geht von Fragen aus wie: Warum fiel Reichs Arbeit der Bücherverbrennung in den USA zum Opfer? Wie kam es dazu, dass er vom Psychoanalytiker zum Biologen wurde? Was hat das Gedankengut eines politischen Kritikers und Sexualwissenschaftlers mit Mikrobiologie und Physik zu tun? Warum wurde Reich so lange nicht nur von den Psychoanalytikern ignoriert? Haben diese vielleicht seine Laborarbeit nicht verstanden? War- 86 Reich: Leidenschaft der Jugend, S. 25. Vgl. auch ebenda, S. 35. 87 Ebenda, S. 21. 88 Ebenda, S. 100f. 89 Müller-Funk: Erinnerung, S. 53. 90 Strick, James E: Wilhelm Reich, Biologist. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2015. Ana-Maria Pălimariu 226 um wurde er als Pionier angesehen? Etwa weil er jenseits psychoanalytischer Spekulationen den Patienten wirklich helfen wollte? Warum hat Reich auf der Messbarkeit der Libido als physikalische Energie bestanden? Warum hat er zwischen Chemie und Bioelektrizität die letztere als Erklärung für die Libido-Energie bevorzugt? Wenn er beweisen konnte, dass beim Messen der elektrischen Spannung der Körperoberfläche Schwankungen zu verzeichnen waren, warum wurden seine Forschungsergebnisse nicht verstanden? Ist der Grund für dieses Nichtverstehen etwa die Tatsache, dass er als Grenzgänger über mehrere Disziplinen hinweg einen „Paradigmenwechsel“ in die Wege leitete? Woher rührte sein Mut, in so vielen Disziplinen zu forschen? Wenn er sich als Arzt, Psychoanalytiker, Mikrobiologe, Physiker etc. betätigte, war seine Migration Ergebnis seiner Arroganz beziehungsweise seiner Respektlosigkeit gegenüber der Kollegen? 91 Vielleicht wäre eine mögliche These, die auf Wilhelm Reich zutreffen könnte, die folgende: Die Interkulturalität und -ethnizität der Bukowina seiner Kindheit sowie der Exzeptionalismus dieser Kulturlandschaft samt ihren internen Differenzen und Brüchen kann mit Wilhelm Reichs Bereitschaft wie Fähigkeit zur geographischen, aber auch disziplinären Grenzüberschreitung in Beziehung gesetzt werden; auch wenn er dabei stets an seine Schmerzgrenzen zu stoßen gestand, haben diese Schmerzen den Suchenden weder zum Stillstand noch zum Aufgeben gezwungen. 5 Robert Flinker Schon vor der Jahrhundertwende gründen die deutschnationalen Politiker aus Czernowitz den „Verein der christlichen Deutschen der Bukowina“ und plädieren für eine klare Abgrenzung gegenüber den deutschsprachig-assimilierten Juden. Auch wenn kurz darauf eine Partei des rumänischen Klein- und Bildungsbürgertums gegründet wird, die sich gegen die Vormachtstellung des Adels und der Priester in der rumänischen Nationalbewegung stellt, und mit den nationalen Parteien der Ruthenen und Juden ein politisches Bündnis schließt, das sich vornahm, eine ganze Reihe von politischen und wirtschaftlichen Reformen im Kronland gegen den Willen der alten politischen Führungskaste durchzuführen, bricht der rumänische Parteivorstand das Bündnis mit den Ruthenen und Juden ab und setzt eine neue Mehrheit mit den bisher bekämpften Parteien der Rumänen und Polen im Landtag zusammen. Die Juden werden von da an systematisch ausgeschlossen. 91 Strick, James E.: Interview mit Carla Nappi, 6. Oktober 2015, <http: / / newbooksnetwork .com/ james-e-strick-wilhelm-reich-biologist-harvard-up-2015/ >, Zugriff 9.1.2017. Psychoanalytiker aus Czernowitz 227 In diese Zeit fällt auch die Geburt Robert Flinkers. Genau zu dieser Zeit versuchen die verfeindeten rumänischen Fraktionen einen gemeinsamen politischen Nenner unter der Patenschaft der Christlich-Sozialen des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger zu finden; die Wortführer und die Presse der neu gegründeten rumänischen christlich-sozialen Partei leiten eine heftige antisemitische Kampagne ein. Zum Studium der Medizin kommt Robert Flinker nach Wien, wo er beim Professor Julius Wagner-Jauregg studiert. Er wird als Neurologe und Psychiater an mehreren Orten tätig sein: Deutschland, Basel, Genf, Zürich, Czernowitz, Bukarest. Dort wird er sich 1945 auch das Leben nehmen. Der jüdische Czernowitzer, der in Wien Medizin studiert, in Deutschland, in der Schweiz und wieder in Czernowitz beschäftigt ist, dann sich im Bukarester Exil als Nervenarzt aufhält, und für seine Schublade in deutscher Sprache Prosa schreibt, lässt sich (wenn auch in allen Erzählungen nur Jahresangaben aber keine Ortsangaben bestehen) doch mit den Figuren aus seinen Prosabänden vergleichen. Auch wenn seine Schriften, wie zum Beispiel Der Sturz (entstanden 1941, zuerst in Bukarest 1970 erschienen) sowie sein Prosaband Fegefeuer (entstanden 1940-44, zuerst in Bukarest 1968 erschienen) in einem Stil geschrieben wurden, der an Kafka erinnert, lassen sich die Narrative doch an die historischen Ereignisse ihrer Entstehungsjahre anknüpfen. Genau in der Zeit, als die Bedingungen in Rumänien für die Juden sehr schlimm wurden, war er sehr produktiv und hat viel geschrieben. Man kann zugespitzt sagen, dass er durch das Schreiben durch den Krieg hindurch gekommen ist, auch wenn er sich 1945 das Leben nahm. Wenn man beispielsweise seine Kurzgeschichte Die Stimme vor dem Hintergrund seiner wahrscheinlichen Kafka-Rezeption liest, die nicht Flinker allein, sondern seiner ganzen Czernowitzer-Generation zu eigen war, 92 dann fällt eine Grunddifferenz zu Kafka auf, nämlich die Benennung einer Figur mit dem Fremden. Der Protagonist der Geschichte, Stefan, wird von einem Fremden in der Nacht besucht, mit dem durchaus ein deutscher oder rumänischer Faschist gemeint sein könnte, und dieser Fremde weiß alles über Stefan einschließlich der Stimme die er nachts hört, und die sich als Stefans eigene Stimme herausstellt. Außerdem weiß er über die Absichten, die Stefan hat, und am Ende der Geschichte ist selbst die Existenz dieses Fremden für Stefan keine Gewissheit mehr. Lange blieb Stefan regungslos stehen. Als er dann um sich blickte, war der Fremde verschwunden. Langsam ging er zur Türe öffnete sie und verließ die Wohnung. Von 92 Werner, Klaus: „Zur ,galizisch-bukowinischen‘ Kafka-Rezeption“, in: Ders.: Erfahrungsgeschichte und Zeugenschaft. Regensburg: Friedrich Pustet, S. 252-256, auf Flinker direkt bezogen. Ana-Maria Pălimariu 228 draußen steckte er den Schlüssel ins Schloss und versperrte die Tür. Aber noch während er das tat, wusste er, dass das ein überflüssiges Beginnen sei. Denn er würde nie mehr zurückkehren. 93 Psychoanalytiker aus Czernowitz 229 Warum ist es fruchtbar an die drei oben erwähnten Psychoanalytiker zu erinnern? Ihre Prosa kann nicht zuletzt auch insofern interessant sein, als sie angesichts der kulturellen Beziehung zwischen Czernowitz und Wien auch in der posthabsburgischen Zeit aufzeigen kann, wie groß, trotz der inneren Brüche und Differenzen ihrer Träger die Reproduktionskraft des Wiener Modells des Intellektuellen sein konnte. Auch wenn die Assimilation an das Wiener Modell mit einer Zerrissenheit dieser Familien von ihren jüdisch-orthodoxen Wurzeln einerseits, von ihren geographischen Koordinaten andererseits einherging, war die Bereitschaft der Psychoanalytiker das Wiener Modell in Czernowitz und außerhalb zu reproduzieren und weiter fruchtbar zu machen größer als irgendwo sonst. In seiner Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus hob Stekel den Verdienst der Psychoanalyse als Stimme und Gesicht (auch) des (Ost)Judentums hervor. Reich setzte sein Leben dafür ein, um auf eine komplizierte Art und Weise zu sagen, dass wahre Liebe die Verletzung ausschließt. 94 Dabei war der Ursprung dieser Erkenntnis die multikulturelle, -konfessionelle und -ethnische Bukowina, diese zugleich geteilte und gemeinsame Welt. Flinker gelang es, uns zu sagen, dass für einzelne Menschen im Kontext des Zweiten Weltkriegs das Miteinander und Nebeneinander jenseits der Ethnie, Konfession und Kultur eine offen bleibende und gegenseitige Bereitschaft zum (interethnischen, -konfessionellen oder -kulturellen) Dialog aller Beteiligten zur Voraussetzung habe. Anhand dieser drei Psychoanalytiker, deren Lebensläufe nicht nur vom Zerfall der Habsburger Monarchie sondern auch vom rumänischen und deutschen Faschismus stark beinflusst wurden, kann gezeigt werden, dass die Brücken zu den Menschen, die jeweils schmerzliche Landkarten von der Bukowina in sich tragen, schwer zu bauen sind. Diese Brücken bleiben brüchig, es sei denn einige „sekundäre Zeugen“ 95 - einige für diese Geschichten neu- 6 Ausblick 93 Flinker, Robert: (Auszug aus) Fegefeuer, in: Albers, Bernhard (Hg.): Blaueule Leid. Bukowina 1940-1944. Eine Anthologie. Aachen: Rimbaud 2003, S. 126-128, hier S. 128. 94 Das genaue Zitat lautet: „dass sexuelle Befriedigungsfähigkeit und Sadismus sich gegenseitig ausschlössen“, Herzog, Dagmar: „Die ,sexuelle Revolution‘ in Westeuropa und ihre Ambivalenzen“, S. 353f. 95 Hartmann, Geoffrey; Assmann, Aleida: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust. Konstanz: University Press 2012, S. 36. gierig bleibenden Menschen - setzen sich dialogisch für die Pflege dieser Brücken ein. Die „sekundären Zeugen“ können nicht nur als literarische Figuren, die das Schweigen des Traumas hörbar machen, sondern auch als „Leerstellen“ aufgefasst werden; als neugierige „Interviewer“ 96 , als unsichtbare Gesichter oder als unhörbare Stimmen, die immer wieder (auch) von den Lesern gefüllt oder vorgestellt werden können. Ihre hohe Herausforderung besteht darin, kulturelle Modelle des Miteinanders und Nebeneinanders nuanciert auszulegen, und jeweils einen Schritt näher auf das Miteinander hinzuarbeiten. 96 Ebenda, S. 40. Ana-Maria Pălimariu 230 Svjetlan Lacko Vidulić (Zagreb) Konjunkturen des Imperialen Zur Transfergeschichte von Hermann Bahrs Dalmatinischer Reise nach 1918 * This work is a part of the research project „(Post-)Imperial Narratives in Central European Literatures of the Modern Period“. It is financed by the Croatian Science Foundation [IP-2014-09-2307 POSTIMPERIAL] and carried out at the University of Zagreb, Faculty of Humanities and Social Sciences. 1 Rückentext der Ausgabe im Rahmen der Kritischen Schriften in Einzelausgaben, Weimar 2012. 2 ‚Imperial‘ und ‚imperiales Vermächtnis‘ bezieht sich in der vorliegenden Arbeit einerseits auf die der „imperiale[n] Erfahrung“ allgemein „zugrunde liegende Orga- Eine Neuauflage von Hermann Bahrs Dalmatinischer Reise, erschienen rund hundert Jahre nach der Erstpublikation von 1909, wird beworben als „Auftragswerk ins Herz der Finsternis Österreichisch-Ungarischer Provinz“, durch das Attentat in Sarajevo „zum bemerkenswerten Zeitbild“ geworden, in dem Bahr „am Beispiel der Verwaltung der Provinz Dalmatien“ „die letzten Atemzüge des monarchistischen Vielvölkerstaats“ schildert. 1 Dieser Paratext legt offen, dass der historische Umbruch den ‚Entdeckungseffekt‘ des Reiseberichts schwerpunktmäßig von der Achse des Raumes auf die Achse der Zeit verschiebt. Während sich Bahrs aktuelle ‚Entdeckung‘ auf eine rückständige Provinz an der Grenze zum ‚inneren Orient‘ der Monarchie bezog, dürfte nach deren Zerfall das Staunen der Leser zunehmend dem „Zeitbild“ gelten: der vergangenen monarchistischen Epoche, die Bahrs Dalmatien-Bild maßgeblich konturiert. Dass allerdings nicht nur Provinzen, sondern auch Epochen, dass also historische wie geographische Realia nur im Modus kultureller Konstruktion fassbar sind, gehört zu den Grundannahmen kulturwissenschaftlicher Forschung und wird auch von dem zitierten Paratext implizit unter Beweis gestellt. Die biologische Metaphorik der ‚letzten Atemzüge‘ der Monarchie lässt die Schüsse von Sarajevo als Gnadenstoß für ein Staatswesen von bemessener Lebenszeit erscheinen - womit die Monarchie als personifiziertes Vermächtnis etabliert und ein deterministisches Geschichtsbild zumindest angedeutet ist. Damit sind wir bei den Fragestellungen der vorliegenden Arbeit. Was wird aus Bahrs Reisebericht im Transferprozess bei der Rezeption über die Epochenscheide von 1918 und über die Grenzen der einzelnen postimperialen Erbländer hinweg? Wie wird im Zuge der jeweiligen Akkulturation des Textes mit dem ‚imperialen Vermächtnis‘ als lebensweltlichem Zusammenhang und argumentativem Setting von Bahrs Reisebericht umgegangen? 2 nisationsstruktur“ (Todorova, Maria: Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa, in: Europa und die Grenzen im Kopf. Hgg. Karl Kaser, Dagmar Gramshammer-Hohl, Robert Pichler. Klagenfurt: Wieser 2004, S. 227-252, S. 242), andererseits auf konkrete Merkmale der politischen Ordnung im Südosten der Monarchie (Integrationsgefälle, ‚weiche Grenze‘, Expansionssog, ‚mission civilisatrice‘) im Sinne von H. Münkler. In diachronischer Sicht kann im Fall der Doppelmonarchie wohl von einer „,Imperialisierung‘ der Dominanzstrukturen“ (bes. im Verhältnis zu Bosnien-Herzegowina) gesprochen werden. Vgl. Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005, S. 76. 3 In der Folge zitiert als DR und Seitenzahl. 4 Farkas, Reinhard: Österreich-Bilder Hermann Bahrs zwischen Regionalismus und Globalismus, in: Hermann Bahr - Für eine andere Moderne. Hgg. Jeanne Benay, Alfred Pfabigan. Bern: Lang 2004, S. 69-93. Farkas fasst monistische, pantheistische, mystische und reformpädagogische Dimensionen allerdings mit der m.E. missverständlichen Bezeichnung ‚globalistische Perspektive‘ zusammen. 5 Vgl. hierzu auch Ehgartner-Jovinac, Eugenija: Hermann Bahrs kulturelle Beziehung zu Kroatien, in: Hermann Bahr - Mittler der europäischen Moderne. Hermann Bahr-Symposion Linz 1998. Hg. von Johann Lachinger. Linz 2001 (=Jahrbuch des Adalbert Stifter Instituts, 5/ 1998), S. 177-195, hier S. 179f. u. 185-193. - Der titelgebende Essay der Sammlung Austriaca ist dabei auch entstehungsgeschichtlich parallel zur Dalmatinischen Reise zu sehen. Vgl. das chronologische Textverzeichnis im Rahmen des FWF-Projekts Hermann Bahr (http: / / www.univie.ac.at/ bahr/ textverzeichnis), Stichwort Austriaca. 6 Zu Bahrs Konzeption des ‚Österreichischen‘, hier als Reaktion auf sozialstrukturelle Umwälzungen gedeutet, s. Zand, Helene: Das „Österreichische“. Hermann Bahrs ambivalen- Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf den Übersetzungen der Dalmatinischen Reise 3 und ihren Paratexten. Doch zunächst wird ein Blick auf den Ausgangstext und die Ausgangskontexte geworfen. 1 Imperiale Konstellationen Die Unbeständigkeit von Bahrs ästhetischen, kulturpolitischen und weltanschaulichen Positionen ist notorisch. Im Bezug auf Bahrs ‚Österreich-Bilder‘ wurde außerdem auf die synchrone Verflechtung und Ambivalenz von regionalistischen, staatspatriotischen sowie esoterischen und reformpädagogischen Perspektiven hingewiesen. 4 Dennoch kann für die Zeit zwischen 1907/ 08 (als sich Bahrs Interesse für die südslawische Frage im Zusammenhang mit der Annexionskrise intensivierte) und 1911 (als die letzten Texte von Bahrs Sammlung Austriaca entstanden) eine kohärente, wiewohl nicht widerspruchsfreie politische Position ausgemacht werden. 5 Das Interesse für die Verhältnisse in der Provinz steht offenbar im Zusammenhang mit Bahrs seit Mitte der 1890er Jahre vollzogenen Wende in Richtung einer - unter anderem zivilisationskritisch inspirierten - regionalistischen Perspektive und der Konstruktion einer besonderen österreichischen Kultur. 6 Im Kontext einer weiteren Wende „von einem kulturellen zu einem politischen Öster- Svjetlan Lacko Vidulić 232 te Stellungnahmen zum Modernisierungsprozeß, in: Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und 2000. Hgg. Sabine A. Haring, Katharina Scherke. Wien: Passagen 2000, S. 177-196. Zu der weiteren Entwicklung seiner Positionen um 1918, in Parallele zu anderen Jung-Weiner Autoren, s. Bachleitner, Norbert: Krone, Krieg und kommunistische Krawalle. Vom schwierigen Umgang Jung-Wiener Autoren zur Demokratie, in: Traditionsbrüche. Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr. Hg. Tomislav Zelić. Frankfurt/ M.: Peter Lang 2016, S. 77-85. 7 Farkas: Österreich-Bilder Hermann Bahrs, S. 85. 8 Bahr, Hermann: Austriaca. Berlin: Fischer 1911, S. 35, 46 und öfter. 9 Zu Bahrs Demokratie-Vorstellungen s. u.a.: ebenda, S. 53, 59, 148-150. 10 Ebenda, S. 149. 11 Vgl. ebenda, S. 49f. und DR, S. 38. 12 Bahr: Austriaca, S. 158. 13 Ebenda, S. 45. Die gleiche Argumentation auch DR, S. 76. 14 Ebenda, S. 35. Siehe auch S. 76. reichbegriff“ 7 entwickelt Bahr die Vision eines ‚neuen Österreich‘, dessen Koordinaten in dem Reisebericht en passant, in der Sammlung Austriaca aber ausführlich dargelegt werden. Bahrs Programm kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Das ‚neue Österreich‘ 8 müsste eine demokratisch und föderalistisch modernisierte Monarchie sein - kein neues Österreich ohne die Freisetzung der Kräfte des Bürgertums, das auf realpolitische Umsetzung der demokratischen Gesetzgebung drängt, 9 und kein neues Österreich ohne das „gleiche Recht für alle Nationen, sich ihrem inneren Sinn gemäß zu entwickeln und selbst ihr Schicksal zu bestimmen, wodurch sie [die Nation? ] hofft, jene Abneigung gegen den [gemeinsamen] Staat zu stillen, ja, mit der Zeit vielleicht in Zuneigung umzuwandeln“. 10 Allerdings habe auch in der slawisch dominierten Monarchie, auch in der demokratisch-föderalistischen Ordnung die deutsch-österreichische Kultur aufgrund ihrer objektiven Überlegenheit eine übermächtige Leitkultur zu bleiben. 11 Außerdem gelte das Prinzip der freien Kräfteentfaltung auch für die imperiale Macht, wobei der Widerspruch zwischen Staatsdarwinismus im Äußeren und demokratischen Bestrebungen im Inneren im Horizont der ‚mission civilisatrice‘ gar nicht aufscheint: „Wozu ein Staat oder ein Volk den Willen und die Macht hat, darauf hat er ein Recht, das ihm durch nichts bestritten werden kann als durch einen stärkeren Willen und durch eine höhere Macht.“ 12 Der Expansionsraum der Monarchie liege nun in slawisch dominierten Gebieten: „Österreich wird auf den Balkan gedrängt. Irgendwohin muß es wachsen. Vom Norden, vom Westen abgewiesen, sucht sich seine Kraft seit 1866 einen Weg zum Süden, zum Osten.“ 13 Auf diesem Weg hat sich die Monarchie von einem „deutschen Ost-Reich“ zu einem „slawischen West-Reich“ 14 gewandelt. Zur Wahrung der inneren Stabilität und zum Schutz vor der Konjunkturen des Imperialen 233 russischen Expansion ist dieses Reich auf die Zufriedenheit, das Vertrauen und die Stärke der slawischen Völker angewiesen, namentlich der südslawischen. Bahr ist daher ein Verfechter des Trialismus: eines Ausgleichs mit den vereinigten Südslawen Dalmatiens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas, wodurch zugleich die serbische und die russische Drohung, die ungarische Willkür und die zentralistische Gefahr gebannt wären. 15 Der entscheidende politische und sozialstrukturelle Feind des ‚neuen Österreich‘ und somit ein Hemmschuh der Modernisierung ist in der Sicht des monarchistisch-demokratischen Patrioten Bahr ein „groteske[r] Tyrann[…]“, neben dem „die Dynastie, alle Stände, alle Klassen, alle Nationen, alle Parteien, alles, was in unseren Ländern Macht ausübt, bloße Figuranten“ sind. 16 Gemeint ist die Bürokratie. Dieser in dem Essay Austriaca ausgeführten Position entspricht auch das Hauptanliegen der Dalmatinischen Reise. Es besteht darin, die österreichische Verwaltung Dalmatiens einer horrenden Misswirtschaft und der Diffamierung der slawischen Bevölkerung - als kulturell subaltern, als politisch unzuverlässig - zu bezichtigen und einen programmatischen Beitrag zur Rehabilitierung „des verleumdeten Volkes“ 17 zu liefern. Zur Widerlegung der Vorurteile über die Adria-Provinz und ihre Bewohner führt der Autor klare Gegenpositionen ins Feld. Für Bahr scheint gerade in den Schwächen des Vielvölkerstaates sein Modernisierungspotenzial zu liegen: In der „Kraft“ der Südslawen, die es im trialistischen Projekt zu emanzipieren gilt, liegt die Garantie für Österreichs Zukunft; 18 und diese 15 „Es ist die Kraft der wirtschaftlichen Expansion, die uns auf den Balkan drängt. Wir brauchen einen Markt, Kolonien haben wir nicht, die Erde ist verteilt, nur der Balkan bleibt für uns. Wir können aber nicht auf den Balkan, so lange seine Völker uns nicht vertrauen. Sie haben zwischen uns und den Russen zu wählen.“ Ebenda, S. 128. „Wir müssen auf den Balkan, aber wir können es erst, wenn Bosnien und die Herzegowina, Dalmatien, Kroatien und Slawonien beisammen und für Österreich bereit gemacht sind.“ DR, S. 123. Eine explizite Erwähnung des Trialismus: DR, S. 75. Damit ist Bahr d’accord mit der 1909 weitgehend homogenen Politik der dalmatinischen Landesvertretung, die jedoch ohne das Argument der ‚Bereitschaft für Österreich‘ ausgekommen sein dürfte. Zu Bahrs Positionen im Verhältnis zur politischen Lage in Dalmatien vgl. Ehgartner, Eugenija: Hermann Bahrs Reise in eine österreichische Provinz, in: Most/ Die Brücke. Literarisches Magazin. Zeitschrift der Gesellschaft Kroatischer Schriftsteller 3-4/ 1996, S. 121-128, S. 126; und im Verhältnis zum „Balkanimperialismus des Kreises um Franz Ferdinand“ vgl. Ehgartner: Hermann Bahrs kulturelle Beziehung zu Kroatien, S. 191. 16 Bahr: Austriaca, S. 88. 17 DR, S. 79. 18 „Denn nur mit starken Südslawen können wir auf dem Balkan stark sein. In ihrer Kraft ist unsere Zukunft.“ DR, S. 76. Svjetlan Lacko Vidulić 234 Diagnose ist nur der aktuelle regionale Beleg für das generelle Potenzial der österreichischen Multikulturalität, für deren Affirmation und Modernisierung sich Bahr einsetzt - nicht widerspruchsfrei, aber mit hohem rhetorischem Pathos. 19 Der kritisch-reformerische Elan könnte den Eindruck entstehen lassen, dass die im Text entworfenen alternativen Dalmatien-Bilder auf vorurteilsfreier und ergebnisoffener Beobachtung, auf der Einbeziehung repräsentativer Stimmen aus der Bevölkerung und auf den Ergebnissen unvoreingenommener Lektüre beruhen. Eine kritische Lektüre deckt unschwer das Gegenteil auf: den Aufbau plakativer rhetorischer Kontraste, 20 die Reproduktion üblicher exotistisch-orientalistischer Klischees, 21 den implizit ‚kolonialen‘ Blick auf die explizit aufgewertete ethnische und kulturelle Pluralität, die auffällige Selektion der Wahrnehmungen und Positionen im Dienst der politischen Argumentation. 22 Zur Illustration von Bahrs ambivalenter imagologischer Umwertung in emanzipatorischer Absicht soll auf eine charakteristische Passage des Textes näher eingegangen werden. Bahrs Schiffsreise mit dem Liniendampfer ‚Baron Gautsch‘ von Triest bis Cattaro/ Kotor, die am Anfang seiner zehntägigen Dalmatien-Reise Mitte Februar 1909 stand, 23 führt in der Realität wie auch im Text der Dalmatinischen Reise an der Hauptstadt des österreichi- 19 Siehe DR, v.a. S. 5, 22, 56 und 94f. 20 So z.B.: trüber Entwicklungsstand vs. glänzendes Entwicklungspotenzial, politisches Klischee vs. authentische Impression, Verdeckung des Landes hinter kolonialen Kulissen vs. Entdeckung durch den einfühlsamen ‚Entwicklungshelfer‘. 21 In welchem Maße Bahr auf übliche imagologische Klischees und Topoi der Reiseliteratur zurückgreift, ist etwa der kommentierten Sammlung von Ausschnitten deutschsprachiger Reisebeschreibungen von I. Pederin (Pederin, Ivan (Hg.): Njemački putopisi po Dalmaciji. Split: Logos 1989) und der ‚Metastudie‘ von P. Stachel (Stachel, Peter: Halb-kolonial und halb-orientalisch? Dalmatien als Reiseziel im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Zwischen Exotik und Vertrautem. Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten. Hgg. Peter Stachel, Martina Thomsen. Bielefeld: Transcript 2014, S. 165-199) zu entnehmen. 22 Die Brüche und Widersprüche der Dalmatinischen Reise werden unterschiedlich gedeutet: z.B. gattungspoetologisch und damit als Kennzeichen der Modernität (Erstić, Marijana: Die Ambivalenzen des vertraut Fremden. Dalmatinische Reise von Hermann Bahr, in: Mobilität und Kontakt. Deutsche Sprache, Literatur und Kultur in ihrer Beziehung zum südosteuropäischen Raum. Hgg. Slavija Kabić, Goran Lovrić. Zadar: Sveučilište u Zadru 2009, S. 249-257) oder textgenetisch und damit nicht als „Zeichen der Modernität, sondern bloß eines Informationsmangels ihres Verfassers“ (Ifkovits, Kurt: Hermann Bahrs Dalmatinische Reise aus textgenetischer Sicht, in: Traditionsbrüche. Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr. Hg. Tomislav Zelić. Frankfurt/ M.: Peter Lang 2016, S. 119-137). 23 Den genauen Verlauf der Reise rekonstruiert anhand von Quellen aus dem Nachlass Ifkovits: Hermann Bahrs Dalmatinische Reise, S. 122 u. 136f. Konjunkturen des Imperialen 235 schen Kronlands vorbei: „Zara. Da sieht man zuerst nur eine lange weiße Wand. Nach und nach wird man gewahr, daß diese lange weiße Wand Häuser vorstellen soll.“ 24 Der unwirkliche Charakter der Häuserfront beruhe, so der Beobachter, auf dem „ärarischen Stil“, der „mit Stein den Anschein von Papier erweckt“ und damit die Vorstellung, es ginge nur um eine „Zeichnung“ oder um „Kulissen“, die abends abgeräumt werden. 25 Der ‚ärarischen‘ urbanistisch-architektonischen Gestaltung unterstellt der Beobachter einen ‚potemkinschen‘ Zweck und sieht darin ein Sinnbild der österreichische Verwaltung: Das ist die berühmte Riva von Zara, der Stolz der österreichischen Verwaltung. Sie hat den Zweck, die alte Stadt Zara zu verstecken. Hinter ihr ist die alte Stadt Zara. Vor der alten Stadt ist eine österreichische Wand aufgestellt. Hinter der österreichischen Wand fängt der Orient an, unsere Zeit hört auf. So kann man sagen, daß diese Riva ihren Ruhm verdient, weil sie das Symbol unserer Verwaltung in Dalmatien ist. Diese besteht darin, das alte Land zu lassen, wie es ist, aber vorn eine österreichische Wand zu ziehen, damit man es nicht sieht. Und das genügt den Dalmatinern nicht, sondern sie verlangen, wirklich ein österreichisches Land zu werden. Das ist der Streit der österreichischen Verwaltung mit dem dalmatinischen Volk. 26 Die Dalmatinische Reise legt offen, was es in Bahrs Sicht bedeuten würde, dem unterstellten Wunsch der Dalmatiner nachzukommen, „wirklich ein österreichisches Land zu werden“. Es würde bedeuten, ‚das eigene Andere‘ in allen seinen Dimensionen (vom multikulturellen Erbe Dalmatiens bis zum vielfältigen Entwicklungspotenzial der Provinz und dem politischen Willen der Bevölkerung) wahrzunehmen und es sich als solches ‚anzueignen‘. 27 Der lebensweltliche und argumentative Kontext von Bahrs scharfer Kritik an der österreichischen Verwaltung bleibt ein österreichisch-patriotischer: die monarchistische und imperiale Ordnung. In diesem Zusammenhang mochte widerspruchsfrei erscheinen, was heute als Widerspruch ins Auge sticht: Die Kritik an der Verwaltung der Provinz wird auf anderen Textebenen durch die Reproduktion eines semi-kolonialen Diskurses implizit konterkariert und damit in ‚patriotischen‘ Grenzen gehalten. So folgt auf die zitierte Bemerkung von dem ‚papieren‘ und ‚kulissenhaften‘ Charakter der neuen Riva in Zara/ Zadar - die durchaus einem objektiven Sachverhalt im lokalen und regionalen Maßstab gerecht wird 28 - eine Vertiefung der Perspektive, die allerdings nur papierne ‚Kulissen‘ anderer 24 DR, S. 33. 25 Ebenda, S. 33f. 26 Ebenda, S. 34. 27 „Wir aber eignen es uns nicht an“, so Bahr kritisch (DR, S. 35). 28 Zu Dalmatien als „Kulissenland“ vgl. Stachel: Halb-kolonial und halb-orientalisch? , S. 189. Svjetlan Lacko Vidulić 236 Art auf den Plan ruft: literarische Belege und daraus abgeleitete Projektionen. „Ich habe ein sehr nettes Buch mit“, bekundet der Reisende und blickt vom Deck des Dampfers mit Hilfe des neuesten Dalmatien-Buches der Engländerin Maude M. Holbach hinter die ‚österreichische Wand‘. 29 Ihr Erstaunen angesichts der exotischen „Morlaken“ 30 auf dem Stadtmarkt von Zara zitiert er als objektiven Einblick, gipfelnd in ihrer Impression: „At the first glance they seemed to me more like North American Indians than any European race! “ 31 Auch die folgenden Einblicke in die Kulturgeschichte der Stadt verdankt der Reisende offensichtlich sekundären Quellen. Seine Einfühlung auf Distanz („Ich bleibe noch auf dem Deck, bis wir an Zaravecchia verüber sind.“) 32 gipfelt in der Identifikation mit den Bewohnern von Zaravecchia/ Biograd na Moru, die angesichts ihrer großen Geschichte vor „Scham und Zorn“ 33 ob ihrer Gegenwart ergriffen sein müssten, würde sie vor dieser Erkenntnis nicht der Analphabetismus schützen. Versagt hätten ihre berufenen Beschützer - „die Deutsche[n] von der alten deutschen Art in Österreich. Wo bleiben sie? Deutsche Art war es von je, bedrängten Völkern beizustehen und kein Unrecht zu leiden, wo es sich auch zeige. [...] So verlang es unser Blut.“ 34 Die pragmatisch-politische Mission des Besuchers aus der Reichshaupt- und Residenzstadt erhält hier explizit die Dimension einer ethisch und ethnisch motivierten ‚mission civilisatrice‘. Auch die am Festland erfolgten Begegnungen mit Land und Leuten sind geleitet von euphorischem Entdeckergeist und intensiver Einfühlung, lassen allerdings die Objekte der Beobachtung - die somit wiederum auf Distanz bleiben - als Projektionsflächen für bildungsbürgerliche Reminiszenzen und exotistische Klischees erscheinen. 35 Der implizite ‚koloniale Blick‘, aber 29 Holbach, Maude M.: Dalmatia. The Land Where East Meets West. 3. Aufl. London, New York: John Lane 1910. Erstauflage 1908, dt. Übersetzung 1909. In „Westermanns Monatsheften“ (Jg. 54, Bd. 107, Heft 1, Okt. 1909, S. 474f.) wird diese Übersetzung zusammen mit Bahrs Dalmatien-Buch besprochen. 30 DR, S. 34f. 31 Ebenda, S. 34. Das Ausrufezeichen stammt von Bahr, nicht von der Autorin (vgl. Holbach: The Land Where East Meets West, S. 31). 32 Ebenda, S. 37. 33 Ebenda, S. 38. 34 Ebenda. Wie diese Mission mit dem Anspruch auf allgemeine Emanzipation einhergehen soll, wird auf S. 52 erklärt: „Lassen wir doch in der weiten Welt die deutsche Seele für uns werben! In welcher Sprache sie dann wirkt, was kümmerts uns, wenn nur deutsches Wesen obenan in der Menschheit steht! “ 35 Zum Beispiel: „[M]ir ist [in Trau/ Trogir] ganz, wie wenn ich bei Reinhardt oft in der aufgestellten Stadt Verona spazieren ging, während sie leise gedreht wurde; nur die Beleuchtung ist hier besser, ich ziehe die Sonne Homers doch der des Herrn Knina vor.“ (DR, S. 104) Konjunkturen des Imperialen 237 auch die explizit koloniale Rhetorik, 36 können dabei durchaus als rhetorische Taktik im Dienst eines ausdrücklich demokratisch-emanzipatorischen, ‚antikolonialen‘ Narrativs stehen, wie dies etwa Bahrs Charakterisierung der Bevölkerung offen legt. Ein auffällig häufiges Merkmal sind ‚sanfte‘ Augen und ‚weiche‘ Stimmen, die bereits auf der Ebene einer transkulturellen anthropologischen Semantik Harmlosigkeit nahelegen. 37 Diese Harmlosigkeit benötigt der Verwaltungskritiker Bahr, um die damals grassierende Angst vor der slawischen Bevölkerung 38 im Sinne seines trialistischen Projekts als kontraproduktiv zu entlarven. Eine längere Observation über den „Habitus dieser Kroaten“ macht dies offenkundig. Auf das äußere Ethno-Porträt folgt die innere Charakteristik: „Und innerlich: von einer unbestimmten Sehnsucht voll und tief im Herzen beklommen, mit dem einzigen Wunsch, still gehorchen zu dürfen./ Ich muß schon sagen, mir wären diese ‚Hochverräter‘ noch viel sympathischer, hätten sie nicht so stark den Trieb in sich, treue Diener zu sein.“ Also hat die österreichische Verwaltung, so lautet Bahrs ironische Pointe, vielleicht doch „einen propädeutischen Sinn: [...] diesen Menschen hier die knechtische Lust am Gehorsam auszutreiben. Und so sei sie gepriesen! “ 39 Die Frage, ob die Herrschaft potenzielle Rebellen pazifiziert oder aber aus treuen Dienern erst Rebellen macht, ist freilich ein imperiales Internum. 36 „Das schönste Land mit den treuesten Menschen trägt sich uns an und wir wollen es nicht. Warum, warum? “ (DR, S. 122) Noch expliziter, und noch offensichtlicher im Dienst einer prodalmatinischen Entwicklungshilfe, ist der Aufruf „Um Berliner wird gebeten“ (S. 131), mit dem Argument des regionalen ‚Erziehungs‘-Bedarfs (dies allerdings im offenen Widerspruch zu S. 145) und der ‚kolonisatorischen‘ Potenz der Berliner (S. 134). 37 Es geht etwa um die „guten braunen Augen“ des montenegrinischen Trägers (S. 43, 47), um die „sanften braunen Augen“ der jungen Serben in Ragusa (S. 59), um die „wunderschönen zärtlichen Augen“ eines Landtagabgeordneten (S. 66f.), um die „mandelförmigen samtenen Augen“ und „die leisen dunklen weichen Stimmen“ „überall in Dalmatien“ (S. 110), u.a. wenn die Menschen „kindisch-treuherzig“ ihre Unschuld bekunden (S. 145). 38 Der unmittelbare Zeitkontext ist der sog. Hochverratsprozess in Agram, der Bahr nach seiner Dalmatien-Reise auch nach Agram/ Zagreb fahren lässt und dem er ein Kapitel der Dalmatinischen Reise (S. 124-130) und den Text Hochverrat in Agram in der Sammlung Austriaca (S. 136-145) widmet. 39 Alle Zitate: DR, S. 71. 40 Eine Auswahl der internationalen Besprechungen liegt in einer von Bahr angelegten 2 Postimperiale Adaptionen Die unmittelbare Aufnahme der Dalmatinischen Reise stand erwartungsgemäß im Zeichen ihrer vordergründigen Anliegen als Reisebericht und als politische Streitschrift. 40 In einigen, freilich beschränkten Bereichen wie etwa Svjetlan Lacko Vidulić 238 Ausschnittsammlung vor, einzusehen in seinem Nachlass im Österreichischen Theatermuseum in Wien. Die Gesamtzahl der Besprechungen dürfte viel größer gewesen sein, da allein die tschechische Übersetzung (von 1910) 14 Mal besprochen wurde, s. Ifkovits, Kurt: Hermann Bahr - Jaroslav Kvapil. Briefe, Texte, Dokumente. Unter Mitarbeit von Hana Blahová. Bern: Peter Lang 2007, S. 683, Anm. 1. 41 Siehe Jurić, Zlatko; Franko Ćorić: Kulturno promicanje Dalmacije. Prijedlozi konzervatora Maxa Dvořáka i Josepha W. Kubitscheka 1909. Godine, in: Prostor. Znanstveni časopis za arhitekturu i urbanizam Jg. 17 (2009), Nr. 2 (38), S. 226-243. 42 Siehe z.B. die Besprechung des großösterreichisch-imperialistisch gesinnten Publizisten Leopold Freiherr von Chlumecky (Hermann Bahrs Dalmatien, in: Österreichische Rundschau 18/ 1909, Nr. 6, 15.3.1909, S. 486f.), der Bahrs Vorstellungen einen explizit kolonialistischen Diskurs entgegensetzt. Vgl. dazu Stachel: Halb-kolonial und halb-orientalisch? , S. 169f. 43 Siehe z.B. Morandotti, Amadeo: Hermann Bahr patriotta, in: Corriere della Serra, 23.10.1909. 44 Matoš, Antun Gustav: Iz knjiga i kazališta, in: Ders.: Feljtoni, impresije, članci II. Hg. Vida Flaker. Zagreb: JAZU, SNL 1976, S. 245-247 (erstmals in: Hrvatska sloboda, Nr. 70, 26.3.1910, S. 4f.). Zitat auf S. 145 („Columbus iz Beča“). Diese und alle anderen Übers.: S.L.V. der Denkmalpflege konnte eine handfeste Auswirkung von Bahrs Publikationen im Umfeld der Dalmatien-Reise auf die Dalmatien-Politik nachgewiesen werden. 41 Auf die politischen Stellungnahmen wurde in den Besprechungen des Reiseberichts besonders dann vehement reagiert, wenn der jeweilige Verfasser sich mit der offiziellen österreichischen Politik identifizierte 42 oder aber in Bahrs Positionen eine Bestätigung oder Herausforderung regionaler Befindlichkeiten und nationaler Narrative zu erkennen glaubte, 43 was selbstverständlich vor allem im südslawischen Raum der Fall war. Eine differenzierte und pointierte Kritik, die den kolonialen Diskurs und die Ahnungslosigkeit des „Columbus aus Wien“ entlarvt, zugleich jedoch seine Österreich-Kritik und seine politische Vision positiv bewertet, lieferte ein Wortführer der kroatischen Moderne, Antun Gustav Matoš. 44 Abgesehen davon, dass die primäre Aktualität der Dalmatinische Reise in ihrer ‚touristischen‘ und ihrer politischen Dimension so oder so nicht lange angedauert hätte, stand die langfristige Rezeption des Werkes mit dem Wegfall der realpolitischen, erinnerungskulturellen, sprachlichen u.a. Zusammenänge zunehmend im Zeichen des kulturellen Transfers über historische, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg. Das betrifft vor allem den Übersetzungtransfer, die ‚transkulturelle Translation‘, bei der der Text via Selektion und Vermittlung in einem autonomen translatorischen und literarischen Feld eines der Nachfolgestaaten wirksam wird - und nicht ‚nur‘, wie bis dato im „habsburgische[n] Babilon“, im Sinne der ‚polykulturellen Translation‘ im habsburgischen Raum beziehunsgweise einem seiner Subfelder zirkuliert Konjunkturen des Imperialen 239 (etwa bei der zeitnahen Übersetzung ins Tschechische, 45 oder bei den anderssprachigen Buchbesprechungen des auf Deutsch gelesenen Werks). 46 (1) Der Übersetzungsbedarf stellte sich allerdings weder unmittelbar nach dem Umbruch ein, noch wurde in der Zwischenkriegszeit eine Übersetzung der Dalmatinischen Reise unternommen. Dazu kam es erstmals nach einem neuen Umbruch, in einem neuen semi-imperialen Gefüge. Im Jahr 1942 erschien in Zagreb, in einem staatseigenen, unter Kontrolle des Unterrichtsministeriums stehenden Verlag, 47 eine Blütenlese deutschsprachiger Reiseberichte durch kroatische Länder aus der Zeit zwischen 1830 und 1909. 48 Die Sammlung erschien ohne Angabe von Übersetzerin(nen)/ Übersetzer(n) und mit einer anonymen Einleitung („N. K.“). Diese Publikation, von der Forschung bisher nicht beachtet, ist ein eklatanter Fall translatorischer Instrumentalisierung: Der selektive und entstellende Zugriff auf Zeugnisse deutscher Reisender zeugt von einer eindeutigen kultur- und übersetzungspolitischen Agenda in einer höchst komplizierten politischen Konstellation. Der Unabhängige Staat Kroatien (1941-1945), durch Hitlers Gnaden unabhängig von Serbien und Jugoslawien, doch zugleich ein Vasallenstaat der Achsenmächte, war in territorialer Hinsicht ein Flickwerk aus historischen und hinzugekommenen Gebieten, wobei die administrativ-territorialen Verschiebungen der Vorkriegszeit (Inkorporierung der Herzegowina in die Banschaft Kroatien im Jahr 1939) nun quasi im Sinne eines Großkroatien abgerundet worden waren. Dem standen Gebietsverluste an das faschistische 45 Cesta po Dalmaciji, Prag 1910. Ich danke Alice Horáčková für den Einblick in diese Übersetzung und das aufschlussreiche Nachwort der offensichtlich polykulturell vernetzten Transferakteure (Übersetzer J. Novák und Hg. R. Brož). 46 Zitat: Wolf, Michaela: Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Wien u.a.: Böhlau 2012, S. 62; die zwei Termini: ebd., S. 58 (Hervorh. hinzugefügt). Michaela Wolf entwirft eine Soziologie der Translation im Sinne von P. Bourdieu und wendet sie auf den ‚habsburgischen Übersetzungsraum‘ (S. 194) an. 47 Programm und Personal, aber auch die Abwicklung des ‚Hrvatski izdavalački bibliografski zavod‘ nach dem Machtwechsel 1945, weisen auf einen anspruchsvollen Verlag mit breitem Spektrum hin (Lexikongraphie, Literatur, Wissenschaft), bei dem nicht von umfassender ‚Gleichschaltung‘, sondern allenfalls von ideologischer Kontrolle im Sinne eines ‚kroatozentrischen‘ Rahmenprogramms gesprochen werden kann. Vgl. die entsprechenden Lexikoneinträge in der (online-Ausgabe der) Hrvatska enciklopedija sowie in Wikipedija.hr. 48 U dragom kraju. Kako njemaćki [sic] putopisci u 19. i 20. stoljeću gledaju i opisuju hrvatske krajeve. Odlomci iz putopisa Therese von Artner, Otto Ferdinanda Dubislava von Pircha, Ide von Düringsfeld i Hermann Bahra. Zagreb: H.[rvatski] I.[zdavalački] B.[ibliografski] Z.[avod] 1942. Titel und Untertitel sinngemäß: In den lieben [heimischen] Gefilden. Wie deutsche Reisende im 19. und 20. Jahrhundert kroatische Gegenden betrachten und beschreiben. Ausschnitte aus Reiseberichten von [...]. Svjetlan Lacko Vidulić 240 Italien (vor allem Dalmatien) und Ungarn gegenüber. Die territoriale Einheit war außerdem akut bedroht durch die Einteilung in De-facto-Okkupationszonen und durch die Bürgerkriegszustände in weiten Teilen des Landes. Den instabilen Umständen entsprechend sollte man dem Ustascha-Regime nicht die Fähigkeit zur lückenlosen ideologischen Kontrolle des gesamten Kulturbetriebs unterstellen; andererseits ist zu beachten, dass zu den Effekten totalitärer Systeme die implizite Politisierung der öffentlichen Kommunikation auch jenseits unmittelbarer politischer Eingriffe gehört. So wirkt die Sammlung deutschsprachiger Reiseberichte in der Konstellation von 1942, als würde damit kroatische Heimatkunde unter Vermeidung der administrativ-territorialen und nationalen Unwegsamkeiten in dem problematischen Staatsgebilde betrieben. Titel und Untertitel scheinen einer Vermeidungsstrategie zu folgen, indem nicht Kroatien, sondern sinngemäß ‚heimatliche Gefielde‘ und ‚kroatische Gegenden‘ angesprochen werden. Dies ist ein rhetorischer Rahmen, in dem die ausgewählten Fragmente aus den Reiseberichten Therese von Artners, Otto Ferdinand von Pirchs, Ida von Düringsfelds und Hermann Bahrs insgesamt ein Itinerarium ergeben, das die kroatischen Gebiete, einschließlich des im Vorjahr an Italien abgetretenen Dalmatien, locker umkreist und ihre historische Einheit ins Bewusstsein ruft. Zudem beschreibt das Arrangement der gewählten Ausschnitte - in denen es, ausgehend von der Hauptstadt Zagreb, um Kordun im Südwesten, Zemun/ Semlin und Osijek/ Essek im Osten und schließlich um die dalmatinische Küste bis Dubrovnik/ Ragusa im Südosten geht - eine Halbkreisbewegung, die im Kontext der aktuellen ‚neuen Ordnung‘ auf dem Balkan jene im Buch nicht vertretene kroatische Mitte und damit die ‚natürliche‘ Abrundung durch das Territorium Bosnien-Herzegowinas assoziativ auf den Plan rufen konnte oder musste. Aktuelle regimekonforme Assoziationen schwingen auch mit, wenn Topoi des ‚Antemurale christianitatis‘ exponiert werden. Aus Therese von Artners Briefen über einen Theil von Croatien und Italien an Caroline Pichler (1830) werden Reisen in das Gebiet der Militärgrenze (bei Sisak und bei Glina) ausgewählt, wobei Abschnitte über die kriegerische Mentalität der Grenzer offensichtlich favorisiert werden, da die undifferenzierte Bezeichnung ‚Croaten‘ in Artners Reisebericht nicht die ethnische Heterogenität der dortigen Bevölkerung erkennen lässt. Das Fazit der Briefschreiberin am Ende des präsentierten Ausschnitts: „Alles weiß hier mit dem Schießgewehr umzugehen, und der Croat entbehrt lieber Brod als Pulver.“ 49 Geht es in 49 Zitiert nach Artner, Therese von: Briefe über einen Theil von Croatien und Italien an Caroline Pichler. Halberstadt: Carl Brüggemann 1830, S. 60. Die Übersetzung (U dragom kraju, S. 32): „Ovdje su svi vješti puški, jer će Hrvat radije ostati bez kruha, nego bez baruta.“ Konjunkturen des Imperialen 241 Artners Briefen um das ‚Antemurale‘ zu jenen Gebieten der europäischen Türkei, in denen jetzt, im Jahr 1941, die ‚muslimische Frage‘ durch die politische Assimilation beziehungsweise Kroatisierung der nicht-christlichen Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas quasi umfassend gelöst worden war, so lässt der Herausgeber den Ausschnitt aus dem Reisebericht Caragoli (1832) des preußischen Offiziers Otto von Pirch ausgerechnet mit dem ‚Antemurale‘ zu Serbien beginnen. Die Grenzstadt Semlin (Zemun) an der Donau ist bei Pirch anno 1832 der „Hauptübergang aus dem gebildeten Europa ins türkische Reich“, wo sich „an der Grenze der europäischen Kultur“ der Blick auf Belgrad am jenseitigen Fluss- und Weltenufer öffnet. 50 Im Kontext der staatlichen Rassenpolitik nach dem NS-Modell, die in den Jahren 1941/ 42 in Deportationen über die kroatisch-serbische Grenze und im Völkermord gipfelte, dürfte die implizite Suggestion historischer Kontinuität zwischen der österreichisch-türkischen und der kroatisch-serbischen Grenzstadt unübersehbar gewesen sein. Mit den beiden letzten Reiseberichten setzt die Sammlung einen deutlichen Akzent auf Dalmatien. Dies dürfte nach der 1941 erfolgten Abtretung weiter Küsten- und Inselbereiche an Italien - einem präkeren Zugeständnis mit gravierenden Folgen für das innenpolitische Image des Staates - als Statement für die Aufrechterhaltung historischer Ansprüche gewirkt haben. Das ästhetisch ansprechende, doch weitgehend unpolitische Erinnerungsbuch Aus Dalmatien (1857) Ida von Düringsfelds nimmt mit 90 Druckseiten mehr als die Hälfte des Bandes ein, während Hermann Bahrs politischer Reisebericht mit 12 Seiten den kürzesten Beitrag, allerdings auch den Schlussakzent der Sammlung abgibt. Zugleich wird mit dem letzten Beitrag das Verfahren manipulativer Adaption durch selektive Textwiedergabe auf die Spitze getrieben. Aus Bahrs Dalmatinischer Reise werden nach Belieben Abschnitte (aus den Kapiteln 5-10) gewählt und Stellen ausgelassen, womit das Ergebnis - zumal Unterbrechungen des Originaltextes in der Regel nicht als solche gekennzeichnet werden - eindeutig eine Fälschung darstellt. So wird etwa Bahrs Begeisterung für das Leben im Diokletianpalast, ein „ungeueres Beispiel starker Menschen“, „die nichts achten als ihre eigenes drängendes, schwellendes, brennendes Leben“, 51 in der Übersetzung aus dem Zusammenhang der mul- 50 Zitiert nach Pirch, Otto von: Caragoli. Erster Theil. Ungarn, Militaergrenze, Slavonien, Croatien. Berlin: Haude und Spenersche Buchhandlung 1832, S. 161. Die Übersetzung (U dragom kraju, S. 36): „Ovdje se nalazimo na granici evropske kulture. - Zemun je glavno prelazište iz civilizirane Evrope u tursko carstvo [...].“ 51 Zitiert nach DR, S. 86. Die Übersetzung (U dragom kraju, S. 154): „To je nečuveni primjer snažnih ljudi, koji mare samo za svoj vlastiti život, što ih žarkom snagom i punoćom tjera naprijed.“ Svjetlan Lacko Vidulić 242 tiethnischen und verwaltungskritischen Argumentation gerissen und damit zur Anspielung auf den unbeugsamen Lebenstrieb der Kroaten. Das Loblied auf eine selbstbewusste „neue Jugend“ in Dalmatien, in der „die Väter erlöst“ und die „Zukunft“ da sei, wird ohne den Folgesatz „Österreich kann beginnen“ aus dem trialistischen Argumentationsfluss gerissen und auf die Schiene einer nationalistischen Erlösungsvision umgeleitet. 52 Ein entsprechender Richtungswechsel wird mit dem Austausch der programmatischen Schlussbotschaft erzielt, die im Ausgangstext lautet: „Ich will helfen, Österreichs schönstes Land vor ihren tückischen schleichenden Verderbern zu retten und ihm die Freiheit zu bringen“, während die Textsammlung von 1942 mit den folgenden - in der Übersetzung durch einen Gedankenstrich in ihrem gestisch-prophetischen Charakter verstärkten - Zeilen endet: „Und in mir ist eine wunderbare Sicherheit: Diese Menschen hier sind stark, sie werden stärker sein als alles! “ 53 Im Ausgangstext stehen diese Zeilen übrigens 40 Seiten vor Textschluss und leiten Gedanken über die österreichische Balkan-Politik ein. Kurz: Mit der Tilgung der politischen Kontexte durch gezielte Textselektion werden die „patriotischen Phantasien“ 54 des Originals auf banale kroatozentrische Klischees reduziert, wird der exaltierte Österreicher, Slawenfreund und Trialist zum exaltierten Kroatenfreund. Damit sind jene Aspekte des Ausgangstextes ausgeblendet, die im offenen Widespruch zu der offiziellen Doktrin des ‚unabhängigen‘ kroatischen Staates standen: zum einen der imperiale Rahmen und seine Parallelen zu den aktuellen Abhängigkeitsverhältnissen in Kroatien; zum anderen Bahrs Auffassung von der ethnisch-kulturellen Vielfalt als Österreichs Stärke, wobei er ausgerechnet die Differenz von Kroaten und Serben aus politischen Gründen leugnet. 55 (2) Auch die nächsten Übersetzungen der Dalmatinischen Reise erfolgten im Zusammenhang mit einem historischen Umbruch: der Neuordnung Europas um 1990, die bekanntlich mit der Neubesinnung auf ältere historische Vermächtnisse und damit verbundenen Grenzziehungen und kollektiven Identitätsphantasmen einherging. „Mit der ‚Entdeckung‘ eines die nationalen und vor allem die Grenzen des Kalten Krieges überschreitenden zentraleuropäischen Raums“, so Heidemarie Uhl mit Bezug auf die Entwicklung seit den 1980er Jahren, „verband sich eine neue imaginäre kulturelle Grenzzie- 52 Zitiert nach DR, S. 97f. Die Übersetzung (U dragom kraju, S. 155): „[o]va [„neue“ ausgelassen! ] mladost“; „U njoj su očevi našli svoje ispunjenje, i budućnost leži pred njom.“ 53 DR, S. 162, 122. Die Übersetzung der Stelle auf S. 122 (U dragom kraju, S. 156): „I u meni se porodi osjećaj divne izvjesnosti: - Ovi ljudi ovdje su jaki i bit će jači od svega ostalog! “ 54 DR, S. 79. 55 Vgl. ebenda, S. 69f.: „Der Unterschied zwischen Serben und Kroaten scheint erloschen.“ Konjunkturen des Imperialen 243 hung, nämlich jene zum ‚Osten‘“. 56 In Jugoslawien war die Beschäftigung mit mitteleuropäischen Vermächtnissen, freilich auch vor den 1980er Jahren, unter anderem auch vom Widerstand gegen eine (kultur)politische Forcierung jugoslawischer beziehungsweise südslawischer Perspektiven motiviert und von innerjugoslawischen Grenzziehungen im Sinne von ‚nesting orientalism‘ bzw. ‚nesting balkanism‘ 57 begleitet. In diesem Zusammenhang kann auch die 1989 erschienene kroatische Anthologie deutschsprachiger Dalmatien-Reiseberichte der habsburgischen Epoche (1897-1918) gesehen werden, auf die 1991 eine Monographie zur gesamten Gattungsgeschichte (bis zur Zwischenkriegszeit) des gleichen Autors folgte. 58 Hermann Bahrs Dalmatinische Reise - ausführlich kommentiert in dem entsprechenden Begleittext in der Anthologie beziehungsweise in dem Bahr gewidmeten Abschnitt der Monographie 59 - wird als absoluter Höhepunkt der Gattungsgeschichte präsentiert. Bahrs Beitrag sei nicht nur einer der meistgelesenen Reiseberichte über Dalmatien aller Zeiten (i) und „Höhepunkt der österreichischen Reiseliteratur“ über Dalmatien (ii), von „enormem“ Einfluss, der bis in die dalmatinische Gastronomie in Wien nach 1909 gereicht habe (iii), sondern wirke gar als „eine Art Manifest der österreichischen Moderne“ (iv). Dalmatien sei dank Bahr zu einer Wiener Mode und einem Geschmackskriterium avanciert (v), die Region sei „in das kosmopolitische Erbe des Habsburger Spektrums eingeordnet“ worden (vi), würde von Bahr gar als „Garantie der kulturellen Neuorientierung Österreichs nach der Niederlage von 1866“ aufgefasst (vii). 60 Die euphorische Gewichtung ist, außer mit dem offensichtlichen regionalistischen Sentiment des Verfassers, mit einer Idealisierung von Bahrs politischem Programm verbunden, das einem „kulturellem Reichsbegriff“ verpflichtet sei, der das „imperialistische und hegemonistische Reich“ über- 56 Uhl, Heidemarie: Zwischen „Habsburgischen Mythos“ und (Post-)Kolonialismus, in: Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Hgg. Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky. Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2003, S. 45- 54, S. 45. 57 Bakic-Hayden, Milica: Nesting Orientalism. The Case of Former Yugoslavia, in: Slavic Review 54 (1995), Nr. 4, S. 917-931. <http: / / www.jstor.org/ stable/ 2501399> (Zugriff: 1.2.2017). 58 Pederin: Njemački putopisi po Dalmaciji (dt.: Deutsche Reiseberichte über Dalmatien) und Pederin, Ivan: Jadranska Hrvatska u austrijskim i njemačkim putopisima. Zagreb: Nakladni zavod Matice hrvatske 1991 (dt.: Kroatische Adriaküste in österreichischen und deutschen Reiseberichten). Der folgende Versuch einer Zusammenfassung von Pederins Schlüsselthesen zu Bahrs DR steht insofern unter Vorbehalt, als der einerseits umfassend informierte Text andererseits unter Mangel an Kohärenz leidet. 59 Pederin: Jadranska Hrvatska, S. 258-270. 60 Ebenda, S. 264 (i), 267 (ii), 267 (iii), 261 (iv), 264 (v), 263 (vi), 267 (vii). Svjetlan Lacko Vidulić 244 lebt habe. 61 Bahrs Programm sei für die Emanzipation der Slawen und die Entwicklung südslawischer Beziehungen, namentlich aber für die Kroaten von unschätzbarer Bedeutung gewesen - für ihre politische Befreiung von Österreich, bei gleichzeitiger kultureller Orientierung in Richtung Mitteleuropas beziehungsweise der westlichen Welt: „Denn wir Kroaten sind von allen Slaven der mitteleuropäischen und italienischen Zivilisation vielleicht am nächsten, und überhaupt, die Kroaten übernahmen im Unterschied zu vielen anderen slawischen Völkern gerne die westlichen Formen der Zivilisation.“ 62 In der primären Rezeption dieser Zeilen Anfang der 1990er Jahre ergaben sich zwangsläufig aktualitätsbezogene Assoziationen im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens. Dazu trägt die geographische Zuordnung der übersetzten Abschnitte, das heißt ihre Anordnung in Kapitel zu Zadar, Dubrovnik und Split bei, 63 womit eine Verstärkung der referenziellen Funktion des Zieltextes im Sinne eines Reiseberichts einhergeht. Die Effekte dieses Verfahrens sind im Zusammenhang mit den folgenden Umständen zu sehen: 1. Die Textreferenz ist ein Vergangenheitsbild der eigenen Heimat des kroatischen Zielpublikums; 2. die drei genannten Städte standen ab Herbst 1991 unter Beschuss beziehungsweise Blockade im Kroatienkrieg; 3. die Übersetzung setzt mit dem oben besprochenen Abschnitt über die ‚österreichische Wand‘ in Zadar ein, wobei Bahrs Blickrichtung gen ‚Orient‘ quasi auf der Schusslinie aus dem serbisch dominierten Hinterland auf die Stadt ab September 1991 lag. Dies öffnet in der Rezeption entsprechende Anschlussoptionen für antiserbische und antibalkanische Ressentiments, da die diskursive Grenzziehung zum ‚Osten‘ aufgrund ihrer vermeintlichen Deckung mit militärischen Fronten und damit verbundenen existenziellen Gefährdungen nun quasi empirisch bestätigt erscheint. (3) Auch die kroatische Gesamtübersetzung von Bahrs Reisebericht erschien (nach Auszügen in einem Periodikum 1986) im Kriegsjahr 1991, 64 als der Schrecken aus dem ‚Osten‘ den neu belebten ‚westlichen‘ Erbschaften zusätzliche Aktualität verlieh. Die Publikation steht eindeutig im Zeichen der Nostalgie, abzulesen an der historisierenden Aufmachung, mit Segeldreimaster und exotisch wuchernden Pflanzen auf dem Schutzumschlag, sowie an dem Stil der - übrigens exzellenten - Übersetzung, die durch archaisierende Sprache und den weitgehenden Verzicht auf einen (historische Distanz 61 Ebenda, S. 269. 62 Ebenda, S. 260: „Jer mi Hrvati smo među svim Slavenima narod koji je možda najbliži srednjoevropskoj i talijanskoj uljudbi, uopće, Hrvati su za razliku [sic: ohne „od“] mnogih drugih slavenskih naroda prihvaćali rado zapadne oblike uljudbe.“ 63 Pederin: Njemački putopisi po Dalmaciji, übernommen aus DR, S. 33-38 (Zadar), S. 53-58 u. 74-82 (Dubrovnik) und S. 98-122 (Split). 64 Dalmatinsko putovanje, Zagreb 1991. Konjunkturen des Imperialen 245 markierenden) Anmerkungsapparat die österreichische Vergangenheit als die eigene erscheinen lässt. Ein expliziter Bezug zum Diskurs historischer Nostalgie wird im Nachwort des Literaturhistorikers Slobodan P. Novak hergestellt; das Nachwort beginnt mit dem treffenden Hinweis auf den ‚habsburgischen Mythos‘ als Effekt der gegenwärtigen Rezeption in Kroatien: Im Hinblick auf die mögliche Reaktion unseres Publikums fügt sich Bahrs dalmatinisches Impressionenbuch ganz in das, was Claudio Magris il mito absburgico nennt. Beim Lesen von Bahrs Buch werden wir unseres Ortes im Raum dieses heute überaus aktuellen Mythos gewahr. 65 Eine „neu erlangte[…] Abrundung“ 66 erlebt somit nicht nur Bahrs ‚dalmatinisches Impressionenbuch‘, sondern auch der Mythos selbst, der in Novaks Sätzen zwischen Imagination und Empirie, zwischen Geopoetik und Geographie zu schwanken scheint. Eine zusätzliche ‚Abrundung‘ ergibt sich in einer besonderen Hinsicht nolens volens bei jeder (kompetenten) Übersetzung oder Neuauflage von Bahrs Dalmatien-Buch, besonders aber bei einer Übersetzung ins Kroatische. Die durchgehend fehlerhafte Transkription slawischer Namen im Ausgangstext entlarvt den Möchtegern-Experten Bahr auf den ersten (südslawischen) Blick als einen der Sprache nicht kundigen Amateur, seine Perspektive auch in dieser Hinsicht als kulturhegemonial. Durch die Rückführung der Namen in den südslawischen Sprachkontext - wobei die Fehler durch AkteurInnen im Vermittlungsprozess getilgt werden - rückt Bahr in Richtung eines Experten für regionale Befindlichkeiten, der den europäischen Rang der südslawischen Welt nicht nur behauptet, sondern durch behutsame Expertise auch zu demonstrieren scheint. 67 (4) Auf die kroatische Übersetzung folgte 1996 eine italienische, die für sich beanspruchte, die erste Neuauflage des Buches „in Europa“ zu sein. 68 Erschienen in einem Triestiner Verlag, zu dessen Schwerpunkten biographische 65 Bahr: Austriaca, S. 153: „Bahrov dalmatinski dojmovnik posvema se, s obzirom na moguću reakciju naše publike, uklapa u ono što Claudio Magris naziva il mito absburgico. Čitajući Bahrovu knjigu postajemo svjesni našeg mjesta u prostorima tog danas nadasve aktualnog mita.“ 66 Ebenda, S. 154: „novostečenoj punini“. 67 Dieser Effekt stellt sich in der deutschsprachigen Neuauflage [Bahr, Hermann: Dalmatinische Reise. Hg. von Gottfried Schnödl. Weimar: VDG 2012 (=Kritische Schriften in Einzelausgaben, Bd. 23] nur teilweise ein, da die Fehler nur in einigen Fällen getilgt, d.h. partiell übernommen und im Register gar reproduziert werden. 68 „È la prima volta che, da allora, il libro viene riproposto in Europa.“ Bahr, Hermann: Viaggio in Dalmatio, Trieste 1996, Klappentext. Ironischerweise ist unmittelbar vor diesem Fauxpas die Rede von Bahrs Dalmatien als einer „lontana provincia“. Vgl. auch Nachwort, S. 124: „dai tempi della sua publicatione ritorna ora a circolare unicamente in questa edizione italiana“. Svjetlan Lacko Vidulić 246 und regionalistische Habsburg-Memorabilien zählen, 69 ist diese Publikation eine Kompromissbildung aus nostalgischer Rahmung und wissenschaftlich fundierter Tansferleistung. In seinem einleitenden Essay unter dem Titel Hermann Bahrs großzügige Utopie 70 bezieht sich der Mediteranismus-Experte Predrag Matvejević - ein engagierter Intellektueller und überzeugter Jugoslawe, der ab 1991 im französischen und italienischen Exil lebte - auf unterschiedliche Lesarten und Dimensionen der Dalmatinischen Reise, ohne ihre imperialen Kontexte zu unterschlagen. Er selbst betont allerdings die poetische auf Kosten der politischen Dimension und legitimiert damit implizit seine eigenwillige essayistische Aktualisierung des Textes im Sinne einer Kontinuität und Parallele von ‚habsburgischem‘ und ‚jugoslawischem Mythos‘. Bahrs „großzügige Utopie“ - seine „Idee eines gemeinsamen Hauses“ - setzt Matvejević in Beziehung zu „verwandten Ideen“ im sozialistischen Teil des Nachkriegseuropas. Solche seien „nach der Besetzung Prags im Jahr 1968“ aufgekommen, als das Überleben unter dem totalitären Regime [...] das Leben im Reich der Habsburger viel schöner, jedenfalls viel freudiger erscheinen [ließ]. [...] Aber nach dem Fall der Berliner Mauer war die Idee eines gemeinsamen Hauses in der Mitte Europas ein für allemal durch die Wiederbelebung der Partikularismen zurückgewiesen.../ Die jugoslawische Idee, ihre Rivalin, geboren in Zagreb und inspiriert durch das Beispiel aus Prag, hatte ein viel schwereres Schicksal zu erleiden. Ich beende diese Zeilen durch den Vergleich mit der Tragödie meines Landes, das ein besseres Schicksal verdient hätte. 71 Dem nostalgischen Vorwort aus postjugoslawischer Perspektive steht das Nachwort der Magris-Schülerin Maria Carolina Foi gegenüber - eine umfassende Bahr-Studie, die einseitigen Lektüren seiner Reise den Boden entzieht. Zwar detektiert Foi in Bahrs Text unter anderem „eine der beeindruckends- 69 Zum Verlagsprofil siehe die Buchreiche ‚Asburgo‘ in der Webpräsenz von MGS Press (Zugriff: 1.2.2017) sowie die Bemerkung im Vorwort der Übersetzung: „La scelta dell‘editore di aggiungere una patina nostalgica, illustrandola con fotografie antiche [...].“ (Ebenda, S. 9) Dabei geht es nicht um die Fotografien der Erstausgabe, sondern um Teile einer Sammlung von 1897 (s. inneres Titelblatt). 70 Predrag Matvejević: Una generosa utopia di Hermann Bahr, in: Bahr, Hermann: Viaggio in Dalmazia, S. 7-9. Übers. [wohl aus dem Kroatischen] von Egi Volterrani. 71 Bahr, Hermann: Viaggio in Dalmazia, S. 9, Hervorhebung dort („Abbiamo visto risorgere ancora una volta idee vicine alle sue, dopo l‘occupatione di Praga nel 1968 [...]“; „La sopravvivenza sotto il regime totalitario ha fatto sembrare piu bella una vita comunque molto piu gioiosa sotto l‘Impero degli Absburgo. [...] Ma dopo la caduta del muro di Berlino, l‘idea di una casa comune nel centro dell’Europa fu respinta una volta per tutte dalla rinascita dei particolarismi.../ L’idea jugoslava, sua rivale, nata a Zagabria e ispirata dall’esempio che veniva da Praga, doveva subire una sorte ben piu grave. Termino queste righe confrontandomi con la tragedia del mio Paese, che mi sembra si sarebbe meritato un destino migliore.“). Konjunkturen des Imperialen 247 ten Würdigungen des multiethnischen und multikulturellen Charakters der Donaumonarchie“ und eine „Verherrlichung der pluralistischen Identität“. 72 Diese werden aber mit ihren Kehrseiten und Nachgeschichten in Beziehung gesetzt: zum einen mit Bahrs Beitrag zu den „holistische[n] Projekten und ganzheitliche[n] Lösungen“ 73 der Nationalitätenkonflikte, die im vorliegenden Text ansatzweise ‚völkische‘ Töne annähmen; zum anderen mit Bahrs Entwicklung von der großdeutschen Orientierung in der Jugend zur „obsessiven Feier des [nun rückwertsgewandten] Homo austriacus“ 74 in der Nachkriegszeit, wobei die Dalmatinische Reise einen Wendepunkt darstelle. Fois Nachwort endet allerdings mit der Erwähnung der „Ruinen des Krieges“ und des wehmütigen Rückblicks der „k.u.k. Waisen“: 75 Die Anschlussoption an den ‚habsburgischen Mythos‘ wird offen gehalten. 72 Zit. nach Foi, Maria Carolina: Eine pluralistische Identität? Bahr und seine Dalmatinische Reise, in: Literatur als Text der Kultur. Hgg. Moritz Csáky, Richard Reichensperger. Wien: Passagen 1999, S. 195-203 (= gekürzte deutschsprachige Fassung von Fois Nachworts in Bahr: Viaggio in Dalmazia), S. 197 u. 200. 73 Ebenda, S. 199. 74 Bahr: Viaggio in Dalmazia, S. 130: „ossessiva celebrazione dell’homo austriacus“. 75 Ebenda: „sepolta nelle rovine della guerra“; „orfani imperialregi“. Schlussfolgerungen 1. Konjunkturen des Imperialen. Der Übersetzungstransfer von Bahrs Dalmatinischer Reise nach 1918 steht eindeutig im Zusammenhang mit der wechselnden Attraktivität imperialer Vermächtnisse im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche und den damit verbundenen Paradigmenwechseln in der Erinnerungskultur. Die Teilübersetzung von 1942 (1) blendet konsequent den alten imperialen Rahmen der Habsburgermonarchie aus, um im Kontext der nationalen Scheinemanzipation Kroatiens - im Schatten der neuen imperialen ‚Neuordnung Europas‘ im Zweiten Weltkrieg - eine monoethnische Fälschung von Bahrs pluriethnischen Perspektiven betreiben zu können. Ganz anders sind die kroatischen Übersetzungen und ihre Paratexte zu bewerten, erschienen unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges (2 und 3): Sie stehen im Zeichen einer nostalgischen Besinnung auf die imperialen Vermächtnisse, zumal die aktuelle Bedrohung aus dem jugoslawischen ‚Osten‘ die historischen Verbindungen mit dem vorjugoslawischen ‚Westen‘ in verklärtem Licht erscheinen ließ. Der Zusammenhang von Bedrohung und Verklärung bleibt implizit, stellt sich allerdings als zwingender Rezeptionseffekt bei zeitnaher Lektüre ein. Anders wiederum ist die italienische Übersetzung (4), die zwar ebenfalls eine nostalgische Besinnung im Zeichen des ‚habsburgischen Mythos‘ betreibt, diesen jedoch (im Vorwort von P. Matvejević) als Paradig- Svjetlan Lacko Vidulić 248 ma einer multiehtnischen Utopie nicht gegen, sondern für das gescheiterte jugoslawische Projekt ins Feld führt. 2. Zirkulation und Blockierung. Entsprechend breit gefächert sind die (vermeintlichen) Aspekte des Ausgangstextes, die im Transfer hervorgekehrt, wie auch jene, die marginalisiert oder unterschlagen werden. Bei ein und derselben Vorlage steht einmal die Feier eines unbeugsamen und zukunftsträchtigen Volkes im Mittelpunkt (1), ein anderes Mal die Entdeckung Dalmatiens als Landschaft der westeuropäischen Zivilisation (2), ein drittes Mal ‚unsere‘ Einführung in den Raum des ‚habsburgischen Mythos‘ (3), ein viertes Mal schließlich die multikulturelle Utopie als Vorwegnahme des jugoslawischen Projekts (4). Jede Akzentsetzung geht mit der Marginalisierung gegenläufiger Aspekte der Vorlage einher, wobei als Implikation die Vorstellung mitschwingt, man könnte Bahrs kontingente Positionen von 1909 - die Dalmatien-Begeisterung, den reformerischen Elan, die Aufwertung der kulturellen Pluralität usw. - auch ohne den monarchistischen, imperialen und kulturhegemonialen Rahmen haben, der die genannten Positionen freilich erst konturiert. Sicherlich hängt die breite Palette der Akkulturationen auch mit dem inkohärenten poetologischen und textgenetischen Profil der Vorlage zusammen, die unterschiedlichste Anschlussoptionen zu legitimieren scheint. Insofern könnte die Transfergeschichte der Dalmatinischen Reise aufschlussreich sein für eine Diskussion der Kriterien hermeneutischer und translatorischer Verbindlichkeit in historischer und systematischer Perspektive. 3. Transfer und Retransfer. Das untersuchte Korpus ist nicht zuletzt von dem Umstand geprägt, dass jede Übertragung der Dalmatinischen Reise in die Sprachen Dalmatiens zugleich eine Rückübertragung darstellt. Der oben erwähnte Kontextwechsel von Namen und Toponymen - der in besonderer Form auch die italienische Übersetzung und ihren ausführlichen Anmerkungsapparat betrifft - ist dabei nur der lexikalische Aspekt eines umfassenderen Prozesses. Der von Bahr betriebene Transfer kultureller Spezifika in den Kontext der deutschsprachigen ‚Leitkultur‘ wird auf dem Weg der Übersetzung durch einen Retransfer in den Kontext der dalmatinischen ‚Peripherie‘ beziehungsweise ihrer Nachfolgekulturen erweitert. Auf andere Weise als dies bei der Lektüre des deutschsprachigen Textes durch ein regionales Publikum im Kommunikationsraum Österreich-Ungars der Fall gewesen sein dürfte, wird im Zuge der ‚transkulturellen Translation‘ aus der Rede vom Fremden eine Rede vom Eigenen, aus dem Reisebuch ein Heimatbuch und aus dem Wiener Autor ein fremdkultureller Gast, der in jeder neuen Epoche dem ‚einheimischen‘ Publikum einen neuen Attest seiner europäischen Verortung zu liefern scheint. Im Zuge seines kulturellen (Re-)Transfers hat Bahrs Dalmatien-Buch auf jeden Fall zur Attraktivität imperialer Vermächtnisse beigetragen. Konjunkturen des Imperialen 249 Dalmatinische Reise (Veröffentlichungen in chronologischer Folge) Dalmatinische Reise. Berlin: Fischer 1909. Cesta po Dalmacii. Autoris. překlad od Dr. Josefa Nováka. Praha: R. Brož (=Slovanská knihovna, sv. 3) [August] 1910. U dragom kraju. Kako njemaćki [sic] putopisci u 19. i 20. stoljeću gledaju i opisuju hrvatske krajeve. Odlomci iz putopisa Therese von Artner, Otto Ferdinanda Dubislava von Pircha, Ide von Düringsfeld i Hermann Bahra. Zagreb: H.[rvatski] I.[zdavalački] B.[ibliografski] Z.[avod] 1942. Dalmatinsko putovanje. Übers. Benjamin Tolić, in: Gordogan Nr. 19/ 1985 [Kapitel 4-5] und Nr. 20-21/ 1986 [Kapitel 6-11] [mit Bildern aus: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild - Dalmatien, Wien 1892]. Dalmatinsko putovanje [Auszug, übers. Ivan Pederin], in: Njemački putopisi po Dalmaciji. Priredio i s njemačkog preveo Ivan Pederin. Split: Logos 1989, S. 294-313. Dalmatinsko putovanje. Übers. Benjamin Tolić. Zagreb: Grafički zavod Hrvatske 1991. Viaggio in Dalmazia. Übers. Massimo Soranzio, Vorwort Predrag Matvejević, Nachwort Maria Carolina Foi. Trieste: MGS Press 1996 (2. Aufl.? : Udine: Editoriale FVG 2007). Dalmatinische Reise. Hg. von Gottfried Schnödl. Weimar: VDG 2012 (=Kritische Schriften in Einzelausgaben, Bd. 23). Svjetlan Lacko Vidulić 250 Fatima Festić (Amsterdam) Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s Gender-Theatre of Todesarten 1 I thank the editors of this collection for the possibility to publish the text in English. 2 See the translations of Bachmann’s novels into English: Bachmann, Ingeborg: Malina: a novel. Translated by Philip Boehm. New York, London; Holmes & Meier 1999; Bachmann, Ingeborg: The Book of Franza. Requiem for Fanny Goldmann. Translated by Peter Filkins. Hydra Books. Northwestern University Press 1999, and translations of Bachmann’s short stories and poetry. 3 Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden: Gespräche und Interviews. Ed. by Christine Koschel, Inge von Weidenbaum. München: Piper 1983, p. 106. 1 Introduction Discussing in English a major 20 th century writer of the German speaking world in the context of (post)imperial narratives, 1 I also intend to point to some aspects of literatures in translation, for transnational cultures of memory likewise imply translational cultures of memory. Moreover, I am discussing an Austrian woman writer from a non-Germanic yet double perspective. One is the perspective of the recent American readership where Ingeborg Bachmann is distinguished as an avant-garde of contemporary writing. 2 The other is the perspective of the native of the countries that throughout their history were parts of the Austro-Hungarian Empire, Bosnia and Herzegovina and Croatia. That is, a perspective much sensitive also to the varieties and asymmetries of Ingeborg Bachmann’s own world, as well as to the topics of this collection, which discusses shifts and transpositions in literatures that pertain to assessing differences and pointing to cultural complexities between the Empire’s central and peripheral regions in the last two centuries. Now, I am thinking of Bachmann’s work mostly as a translation, as different not only linguistically but also paradigmatically from her own German House of language, which was Bachmann’s innermost albeit contradictory property. That tells about my own reading and learning itinerary, and my Americanized Eastern-Europeanness, belatedly establishing the link with this particular cultural locality that was indeed also a repressed part of my own cultural and political heritage. However, I believe that such transposition can also elucidate some points that are related to Bachmann’s interest in the history of Austria as an Empire, which in her words from her 1971 interview, „enormously sharpens one’s view of the big situation and of today’s empires“. 3 My approach in reading argues in the direction of the recent text by Michael Eng, „Every name in history is ,I‘: Bachmann’s anti-archive“, 4 where Eng calls for attending to the problem of the formation of the question of history in Bachmann’s work that could lead to understanding of a different organization of Bachmann’s writing. Rather than „confirming mirror-reflections - or representations - of history and its causes (whether they be class, gender, disaster, etc.) from without“, Eng suggests: […] provoking the text to pass into its social-historical ground […] by inverting the problem and investigating the concept of history produced by Bachmann in her work. Such a process opens the questions of over-determination and repression, and asks in what ways the text „acts on“ the question of history (historical praxis) and therefore acts on our understanding of what Foucault calls the archive: the production of those statements within the social imaginary that determine what can be said. 5 My interest in Bachmann’s writing has developed from four points: 1. Bachmann’s specific woman’s script that already announces post-feminism, 2. the extreme of modernism that intertwines with postmodernism, 3. theatricality as Bachmann’s major cognitive medium, and 4. the emphasis on the geographical-area connection that relates to the cultural spaces to which I have also belonged. Indeed, these four points all partake of the topic of post-imperialism, and in my discussion in this chapter specifically with the focus on the imperial and post-imperial references and the concepts of history and identity, individual and collective, in Bachmann’s prose cycle Todesarten. I will ask and try to answer the following questions: 1. What is Bachmann’s memorizing delineation of the impact of the Austro-Hungarian imperial? 2. How does that interact with the Austro-Hungarian post-imperial (-post-WWII) as the overall situatedness of Bachmann’s writing? And 3. How does Bachmann’s work connect to recent new imperial histories 6 as well as post-imperial theories? Where appropriate, I will use some postcolonial concepts. 4 Eng, Michael: „Every name in history is ,I‘: Bachmann’s Anti-Archive“, in: Brinker-Gabler, Gisela; Zisselsberger, Markus (eds.): If We Had the Word: Ingeborg Bachmann, Views and Reviews. Riverside, California: Ariadne Press 2004. 5 Ibid, p. 265. 6 See Münkler, Herfried: Empires: The Logic of World Domination from Ancient Rome to the United States. Cambridge, Malden: Polity Press 2007; Osterhammel, Jürgen: The Transformation of the World: A Global History of the Nineteenth Century (America in the World). Princeton, N.J.: Princeton UP 2015; Kozuchowski, Adam: The Afterlife of Austria-Hungary and the Postimperial Role of the „Austrian Idea“: The Image of the Habsburg Monarchy in Interwar Europe. University of Pittsburgh Press 2013; Brubacker, Rogers: „Aftermaths of Empire and the Unmixing of Peoples: Historical and Fatima Festić 252 Throughout the 1960s, in a peculiar way, Ingeborg Bachmann called to mind the significance of the complex cultural connections from the past of the Austro-Hungarian Empire, at the time where the production of such knowledge was officially politically ignored. It is Bachmann’s historical awareness of the instructiveness of the cultural memory of the variety of the monarchical modalities and power relations that rendered her narrative sequence on the personal and intimate relations in the post-WWII Vienna, or Todesarten, as an artistic recollection of the Empire, formally and thematically. It is even more profoundly so, in respect of the recent critical insights that Bachmann’s narrative stance was almost always ironic or, 7 as I hinted above, postmodernist in its modernity. It is as if Bachmann re-inscribed the death of the Empire’s varieties after its dissolution into the variety of deaths of the post-Empire times in Austria, overtly calling for a revitalization, re-modification, and reutilization of some of the Empire’s legacies and frameworks. Bachmann’s is one of the prophesying discourses of that time - combining the questions of modernity, mediality, body, gender, psyche, trauma, and race, along with the question of responsibility, also contributing both to a postmortem examination of the relations in the Habsburg Empire and the discussion of nationhood. Comparative Perspectives”, in: Ethnic and Racial Studies. Vol. 18, No. 2 (April 1995), p. 189-218; Barkey, Karen; von Hagen, Mark (eds.): After Empire. Multi-Ethnic Societies and Nation-Building. Boulder, Colorado: Westview Press 1977; Howe, Stephen (ed.): The New Imperial Histories Reader. Abingdon, Oxon: Routledge 2009; Spencer, Malcolm: In the Shadow of Empire: Austrian Experiences of Modernity in the Writings of Musil, Roth, and Bachmann. Rochester, New York: Camden House 2008. 7 Lennox, Sara: Cemetery of the Murdered Daughters: Feminism, History, and Ingeborg Bachmann. Amherst: University of Massachusetts 2006, p. 23. 8 The poem Exile: Exil 1961. It is also partly incorporated in the novel Malina, p. 90. I quote the entire poem: Ein Toter bin ich der wandelt I am dead man who wanders gemeldet nirgends mehr Registered nowhere unbekannt im Reich des Prafecten unknown in the realm of the prefect uberzachlig in der goldenen Stadten superfluous in the golden cities 2 Language between threat and belief The expression gender-theatre, that I use to denote Bachmann’s narrative sequence Todesarten, and to point to a theatricalization of gender, quite morbid in Bachmann, will also be used to contextualize it within the later 20 th and 21 st -century cultural theories as well as geographies. With that I point to Bachmann’s avant-garde cognitive mediality and constructivity, cognitive mobility and translatability, - call it as if it were The Exile 8 of her famed Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s... 253 um in grunenden Land and the greening land abgetan langen schon written off long ago und mit nichts bedacht bequeathed nothing Nur mit Wind und mit Zeit und mit Klang Save wind and time and sound der Ich unten Menschen nicht leben kann I, who cannot live among people Ich mit der deutsche sprache I with the German language dieser Wolke um mich this cloud about me die ich halte als Haus that I keep as a house, treibe durch alle Sprachen drive through all languages O wie sie sich verfinster Oh, how this cloud darkens die dunklen die Regenton The somber ones, the rain notes nur die veningen fallen only a few fall In hellere Zonen tragt dan sie den Toten Into brighter places it bears the dead hinauf. man high. 9 Said, Edward W.: Orientalism. New York: Vintage Books 1979, p. 283. 10 Similar to performance, performativity is beyond iterability, as the unique occurrence of an act in the here and now, between singular subjects, thus potentially radicalizing the meanings that can emerge. Theatricality implies cultural and situational specificity of enacted iterative codes and conventions to produce spectators’ self-conscious perception, and is increasingly integrating with social and cultural processes of the political public sphere. 11 Bachmann: Malina, p. 60. 12 For the use of the term „testimony“, see e.g. Felman, Shoshana; Laub Dori: Testimony: Crisis of Witnessing in Literature, Psychoanalyisis, and History. New York, London: Routledge 1992 or Butler, Judith: Excitable Speech: A Politics of the Performative. New York and London: Routledge 1997. poem, - and that all are related to the cultural dynamics within the Austrian imperial heritage. As it is going beyond representation or beyond, as Edward Said defines representation, „its extra-real, phenomenologically reduced status“, 9 what I denote by the expression gender-theatre also involves the terms performativity and theatricality 10 as a theoretical feedback of indeed two complementary cognitive terms that today prevail in Anglo-American and German/ continental cultural theories. Indeed, such gender-theatre can be also understood as a specific performative model of language with which Bachmann reconciles her beloved German language as her both master-and-home (as she says in the Exile), and language as a major existential and psychological threat (transferred and assessed through the rigidity of the dictated socio-symbolic constructions). As Bachmann says in her novel Malina: „I will tell you a terrible secret: language is punishment. It must encompass all things and in it all things must again transpire according to guilt and the degree of guilt.“ 11 In today’s terms, I would say, language itself arises as a testimony 12 of its own formation. Or, as Bachman exemplifies elsewhere, language as an experience of fascism, fas- Fatima Festić 254 cism as an experience of language. 13 With this connection as the beginning point of Bachmann’s work, it is as if Bachmann were forced to reinvent language against the grain of the immediate and empirical that calls language into question. 14 Consequently, that very gender-theatre model can stand for or translate as the vehicle of the dynamics within the imperial and post-imperial structures. The term theatricality as developed along the imperial period, and the term gender performativity as developed along the post-imperial period and also the post-colonial period: Bachmann’s Todesarten activates both of the terms in reviving and replaying the ambivalently composite memories of the cultural histories of the Danube monarchy. Where gender is subverted, or traumatized and the capacity to act through speech or perform an identity is ostracized, theatricality steps in, and is telling of the ways of presentation that transferred from the Empire are transformed after the Empire, and with the indexical quality. Such an approach can deepen the understanding of the Austro-Hungarian post-imperial and also depict the historical bequests resounding in recent discourses on nationalism, ethnicity, identity politics, universalism and multiculturalism. Todesarten reads contrapuntally, it implicates the imperial culture as in a relationship with a complex array of national and international identities in the post-imperial era. Introducing the New Imperial Histories Reader, Stephen Howe talks of „ideas of culture, often of discourse, strong attention to gender relations and/ or to racial imaginings“ 15 , the relationship between knowledge, identity and power, and the need to emphasize the impact of colonial cultures on both metropole and colonies as well as the importance of the legacy of imperialism. Bachman’s Todesarten reveals those combined perspectives and potentially coexisting discourses of the center and the peripheries, with the Empire as a pre-text, context, temporal and spatial albeit subverted, to her monumental „single study of all the possible ways of dying, a compendium“, staged in her time of the 1960s Vienna and Austria, „an illustration of the last twenty years“ 16 there. Therefore, discussing the references to the past Empire and post Empire in Todesarten, I argue that in performative complementing the past-imperial and the post-imperial with each other, Bachmann inscribes her own version of a non-colonial ethico-poiet- 13 Cf. Bachmann, Ingeborg: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. München: Piper 1980. 14 Bachmann interrogates the possibility of writing as an ethical-aesthetic expression and empowerment after fascism, or after Holocaust, as Adorno put it. She labors to invent a new language that however keeps to encounter further violence in the everyday life. 15 Howe, Stephen (ed.): The New Imperial Histories Reader. Abingdon, Oxon: Routledge 2009, p. 2. 16 Bachmann: Gespräche und Interviews, p. 66. Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s... 255 ics. 17 It is the ethics of memory as performative memorizing, as Bachmann recalls the relations from the past processing and intervening in them as a part of the present, while indicating the crucial problems of the present. It is the way her writing-art acts with the recall and acts on the recall 18 of the interaction of cultures, histories and territories, „re-inventing, re-ordering, and re-deploying facts and effects that memory consists of, memory that itself is always also invention“, in Edward Said’s words, „for invention must occur if there is recollection“. 19 If we contemporize Nietzsche’s claim that ethics and aesthetics are the same by equating them also with politics, then we deal with Bachmann’s acts of cultural politics as a politics of knowledge in art, and the processing of values and axiological scales, as Bachmann’s literary battlefield. However, such discourse, as rendering certain incongruence, or the post-WWII Austrian social structures targeting deadly the lives of the women who are psychically still coded by the idealizing remnants of the socio-sexual patterns of the past spaces and times, is ultimately supported only by Bachmann’s personal belief that „a day will come“. 20 A „day“ for which she knows that it is merely utopian („No day will come, poetry will never and they will never“ 21 , but still indispensable for any production of her work, as she admits in an interview and „yet, I believe in it“ 22 . That aspect of the humanist belief in art as change, despite of all regressions in everyday life, runs as non-colonial along with the „reinvented“ and „redirected“ memory of the Empire. That memory in Malina strives to survive also as an amalgamated supplementary narrative project of mapping the „golden“ world of a legend, myth and art, where „there are no borders” 23 along the Danube river, and the timeless stranger from ancient peoples could rescue her from herself. 17 ,Poietics‘ (from Greek poiesis) is a theory of transformative making. Bachmann’s technique, in employing modern yet also postmodern (even pre-modern) elements, reads almost as an auto-poiesis of her artistic desire. However it is simultaneously akin to the ethics of nomadology that instills movement and mobility in the heart of thinking. Also see e.g. Hobuß, Steffi: Aspects of Memory Acts. Transnational Cultural Memory and ethichs, in: Journal of Aesthetics and Culture, Vol 3 (2011): the positions of speakers or agents and the question of responsibility play a fundamental role in this argument. 18 Also see: Bal, Mieke; Crewe Jonathan; Spitzer, Leo (eds.): Acts of Memory: Cultural Recall in the Present. Hanover and London: Dartmouth College. University Press of New England 1999. 19 Said, Edward W.: „Invention, Memory, Place“, in: Critical Inquiry 26 (200), p. 175-192, here p. 182. 20 Bachmann: Malina, p. 76. 21 Ibid., p. 201. 22 Ibid., p. 232. 23 Ibid., p. 36. Fatima Festić 256 Despite of Bachmann’s immense irony, the grounding for that belief which enables Bachmann to write is Bachmann’s ultimate reliance on her readers, as I argue, on the „bond of reading“ that always „constitutes a renewed relation to one’s gender“ 24 . That is what Bachmann could draw from her own reading positionality in the multiply historicised situatedness of her own literary production. It is Bachmann’s historically informed reliance on the interpretative transmission of her work into various subsequent socio-historical and political situations and frameworks as well as geographical and cultural, that could both alchemize and de-alchemize her utopian sub-projects, in their various further situational translations. Equally, such reliance could supplement the all-pervading gloominess of the rendered stories of violation, 25 and the work of the textuality itself, toward „epistemological implications of change over time“ 26 . 24 Felman, Shoshana: What Does A Woman Want? Reading And Sexual Difference. London: The Johns Hopkins University Press 1993, p. 8. 25 Festić, Fatima: „Gender, Nature, Trauma: Reading Ingeborg Bachmann’s Ways of Dying“, in: Festić, Fatima (ed.): Gender and Trauma: Interdisciplinary Dialogues. Cambridge: Scholars Publishing 2012, p. 131. 26 Lennox, Sara: Cemetery of the Murdered Daughters: Feminism, History, and Ingeborg Bachmann. Amherst: University of Massachusetts 2006, p. 7. 27 Edward Said’s term that denotes the perception of space, socially or politically constructed through certain images, texts, or discourses. 3 Musing the History or the Empire of Death? The title of the uncompleted narrative sequence Todesarten is usually translated into English either as Ways of Dying or Death Styles, with the accent either on the socially unperceived everyday acts of implied murders or on the aestheticization of death. The sequence consists of one published novel in Bachmann’s life-time, Malina, two drafts, The Book of Franza and Requiem for Fanny Goldman, and one novel left only in fragments, Eka Rotwitz. Bachmann commenced the writing of Todesarten in 1965, about fifty years after the collapse of the Empire, which in the novels reads as a counterpoint-framework to the aftermath developments. That is, for the First Austrian Republic, the German-Nazi occupation, and the political currents of the post-WWII Austria with the capital Vienna re-occupied by the allies and the Soviets, with the dividing walls both within the town and along the state’s iron curtains. That is what made Bachmann’s immediate geography. Her wider physical geography implied her travelling, living, and working elsewhere in Europe, Northeast America, North and East Africa. The imagined geography 27 - which Bachmann both questioned historically and also built up fictionally Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s... 257 as her own intellectual nomadic 28 disposition - included enormously composite social, cultural and mythic areas, which spanned over several millennia, and were most prismatic as per observing variations in the contexts of the victims of the past and of her present and possible future. In Bachmann’s prose, there is an attempted temporal interaction among various reigning structures throughout the history that further links to her emphasis on studying the intra-imperial interactions of the Danube Monarchy in post-imperial times. Like in the recent refocus of the new imperial histories on the indivisibility of the imperial and national aspects of the cultural past, 29 the word „occupation“ receives multiple and problematized meanings in the lives of Bachmann’s characters, where the binary occupation/ liberation is subverted. It is ranging from the war-orphaned teenage Franza’s fancying the word „occupation“ as „spring“ and as an unknown to her English word “rape” related to British soldiers liberating Carinthia from the Germans. And all the way to the marvel of the female „I“ narrator in Malina, who as an affirmed Austrian professional writer simultaneously occupies two addresses in the Viennese Ungargasse with two men, a jubilant Hungarian and a shadowy-turned-murderous Slav from the Yugoslav border, whom she once imagined as the „Prince Eugene, the Noble Knight, coming from Belgerad“ 30 . Her „Ivanlife“ and her „Malinafield“ 31 , who do not know of each other, yet who both struggle for the control over the mind and the script of the female „I“. Such „occupation“ of the ambivalently played out reminiscences of the Empire ends in the female „I“ leaving first Ivan, 32 then Malina, and entering the crack in the wall, while immediately disappearing from any 28 On nomadic thought that is articulated in France simultaneously to Bachmann’s writing, see Gilles Deleuze, Félix Guattari, and later Rosi Braidotti, and their ideas on affirmative nomadology, literature as deterritorialization, the process of becoming, multiple specification of self and other in sets of relations or assemblages, etc. Central to the nomadic subject is the emphasis on the intimate connection between critique and creation. The aim of nomadic critical theory is to produce tools for analysis of power relations. 29 Cf. Howe, Stephen (ed.): The New Imperial Histories Reader. Abingdon, Oxon: Routledge 2009 and Münkler: Empires. 30 Bachmann: Malina, p. 7. 31 Ibid., p. 188. 32 „The expression ,the house of Austria‘ best implies my ties to Austria. I must have lived in this house at different times as I call to mind the streets of Prague, the port of Trieste, I dream in Czech, in Windish, in Bosnian…“ (Bachmann: Malina, p. 61). „Ivan will never realize that I am double. I am also Malina’s creation. Unconcerned, Ivan sticks to appearance, my incarnation gives him something to grasp… Then right away: you and I. Two beings devoid of all intentions toward one another, who do not want co-existence.“ (Ibid., p. 65) Fatima Festić 258 memory of her two cohabitating “occupants” as the two implied cold-blood witnesses to her end. It is the displaying of „hi-story within the I/ psyche“ (die Geschichte im Ich), as Bachmann says for the 20th century writers, 33 that internalizes also geography within the psyche, and thus makes possible also a reordering of the macroand micro-powers within the inner spaces. Or as Edward Said would say, it is a „dialectics of memory over territory“ as the „process which animates the relationship of the disparate accounts of the same event“ 34 . That is what is displayed in Malina. Critics of Bachmann pointed to the anachronism 35 of her desire for the reunion with the Austro-Hungarian past, 36 to Bachmann’s own blind-spot in her analysis of gender conflict, 37 to a vain narcissistic aetheticization or self-destructive hysterization (Schroeter in his filmic remake of Malina 1991), or to her white woman’s still racial prejudices in depicting the inter-ethnic sexual connections. However, it is from the contrapuntal imperial cultural legacy that Bachmann multiplies, historicizes and contemporizes the contexts of her own life-„Exile“ into a writing/ reading positioning and conceptual, sub-textual, inter-textual, inter-medial, temporal and physical nomadization of her memory and script, or also „creolization“ of her constant Vienna. That is, as a „politically informed account of an alternate subjectivity“ 38 that she manages to affirm albeit through ambiguity. Her narrative is always facing a morbidly violent father figure, as not simply the archetype but the replay of the shifting vectors of differently distributed powers in her artistic remake of it. In Malina Bachmann declared that from the beginning of time „the whole approach of men toward women was diseased“ 39 . However, she herself 33 Bachmann: Frankfurt lectures 4, p. 230. 34 Said, Edward: „Invention, Memory, Place“, in: Critical Inquiry 26 (2000), p. 175-192, here p. 181. 35 To my opinion, rather than anachronic, Bachmann is avant-garde, and against a simplified nation-building. The national question for her is a version of multiplicity, announcing that nation is not a question of biology but of politics, or also culture or education that produce both persons and ethnicities. 36 Achberger, Karen: Understanding Ingeborg Bachmann. Columbia, S.C.: University of South Carolina Press 1995. 37 Albrecht, Monika: „,A man, a woman…‘: Narrative Perspective and Gender Discourse in Ingeborg Bachmann’s Malina“, in: Brinker-Gabler, Gisela; Zisselsberger, Markus (eds.): If we had the word: Ingeborg Bachmann, Views and Reviews. Riverside, California: Ariadne Press 2004. 38 Braidotti, Rosi: Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York: Columbia University Press 1994. 39 Bachmann: Malina, p. 177. Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s... 259 deliberately made all her women protagonists in all four novels performing suicidal roles as complicit in the men’s destruction of them through the morbid post-Nazi effects in the Vienna of the sixties. That poses the question of (the reasons for) the theatricalized suicidality of woman-ness, or gender in Bachmann’s narrative efforts, and of the modes in which Bachmann ironized such acting. Even more so, because Bachmann herself ended the same way (in 1973) in the half-suicide in the half-Exile in Rome, although, and significantly, in not really clear circumstances. Once convinced that Heidegger will not survive her doctoral dissertation, 40 and flirting with death to the extent that she launched its mournful theatrical multiplications, Bachmann did go a step too far with a performance of death. She crossed over to and entered the wall of non-communicated-ness that she was both interrogating and shifting around in her script. She got separated behind the wall as reflecting her own understanding of Austria’s situation that, as Karen Achberger (1995) put it, for Bachmann, stepped out of history, but longed for its past. 40 Bachmann: Gespräche und Interviews, p. 137. Bachmann wrote her doctoral dissertation (1949) on the critical reception of Heidegger, whose ideas she severely criticized as „a seduction […] to German irrationality of thought […] the dangerous half-rationalization, a temptation, seduction, ,Verführung‘“ (Ibid.), an exposure of the „entirety of thought“ to it by an „originary fascism“ that threatens all speech and all relation, including her own. After receiving her doctorate in philosophy, Bachmann turned to writing literature. 4 Between criticism and conformity Nevertheless, every national and state formation always partakes of history in some way. It is that the imperial cultural heritage threaded its way in Bachmann’s writing about death against the grain of the death itself, staging, even melodizing its own transmission in the blockages of the linguistic and in the lack of the full memory framework. It was the lack of the integrated recall of both the immediate WWII past, its preceding affairs and its silent collaboration, and of the past of the imperial times. Perceiving a violent break into the history of memory, history of language, and history of the voice, Bachmann tries to retrieve that wider background that got inaccessible through the morbid effects of the array of the Empire’s post-dissolution events. She is looking for the continuation of history in thematizing the breaches of inarticulatedness of women’s private histories as also (re-)signifying the lesser ethnic constituents of the wider area’s history. It is through the models of gender and theatricality - going beneath and beyond representation (both introducing a self-conscious moment) - that I see how Bachmann activates her text to articulate what otherwise could not Fatima Festić 260 be said. The issue of the authorship is central to Todesarten, supposedly all to be narrated by the man Malina, and since all women are at the end robbed of authorship, 41 there is a need to play out that denial of authorship. Certainly, the simple answer to Freud’s question: what does a woman want? 42 - is: a woman wants to write. Since there was no integrated collective imaginary related to the past, nor an elaborated canon of the female symbolic 43 (order), in such socially doubly ostracized articulation, the narrating position and narrative perspective throughout Todesarten is always male, to Bachmann’s own words. As she said: That I knew: it will be male. That I can only narrate from the male position… It was for me now like the discovery of my own person, not to deny this female „I“, and yet to put the emphasis on the male „I“… It cannot be presented in any other way… One cannot want the perspective, one has it. 44 However, in my own interpretation, I deliberately refer to the „I“ in Malina as the female „I“ of both the authorial and reading perspective, even if the presented „I“‘s mind is assessed through the male order/ dictate, as it were in the discussed reality inside and outside the novel. That order however resulted in the „I“‘s dissociated sideline narrative, paralepsis, the material which could not be reincorporated into the main narrative as not remembered. Its memory resurfaced during traumatic reenactments, as her acting out of the repressed material in her nightmares, which has assumed diverse readings. As a true literary predecessor of both poststructuralists and postfeminists, Bachmann problematizes a positive and stable identity precisely in showing the insufficient (even impossible) resistance to it on the side of women, and then textually making dialogic even the readers’ points of (narrative) identification. 45 Bachmann also interrogates identification itself in the novel, and exposes it as problematizing non-tenable, harmful polarities, toward a more complex understanding of the identity on both individual and national level. I would say also that it is a deconstructed and reconstructed textual concept of the empire along with its fragmented subnarratives that looms in the playful weave of Bachman’s narrative organization, and narrative voices. 41 Denial of authorship could also reflect the issue of reducing the Austro-Hungarian multiplicity to a narrowing „inheritor’s“ narrative. 42 „The great question that has never been answered and which I have not been able to answer, despite my thirty years of research into the feminine soul…“ (Freud, Sigmund: The Origins of Psychoanalysis: letters to Wilhelm Flies, drafts and notes. Translated by Eric Mosbacher a. James Strechey. New York: Basic Books 1954, p. 142) 43 Jacques Lacan’s term; the imaginary, the symbolic, and the real are three registers in his psychoanalytic theory. 44 Bachmann: Gespräche und Interviews, p. 99-100. 45 See: Festić: Gender, Nature, Trauma, p. 127. Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s... 261 In retaining the imaginary of the previous Austro-Hungarian framework in a kind of a mental and bodily aura detached from the current realities, the depicted women are consequently doomed to self-damaging performances in handling the deadly cages of the incongruent relationships. Within the impasse of forgetting/ remembering, they self-sacrificially maintain the tensions, by which Bachmann-the-writer retains her own and post-imperial signature-authorial tension between critical impetus and conformity. Such tension manifests itself as Bachmann’s historical situation, where the personal and wider social political engagement is subverted by the lack of the responsibility for the present, and as such it points to the overall human condition. In Malina on the very first page she states that the time and place of the novel are Today and Vienna, but that they simply do not exist, 46 except for suicides, in the pain of the immediacy. That is what Bachmann reads in the authoritarian ideologies, replaying it in the narratives on the suicidal „acrobats“ Fanny Goldmann and Eka Rotwiz. Bachmann shows Vienna as frequented by the repressed sociocultural elements of the lost Empire that interact with post-currents of redistributing national powers and international connections, where gender is for bargain in the theatre of suicides. However, it is in The Book of Franza that was supposed to follow Malina, with the much-telling paralleling titles of the two versions, the Case of Franza or the Book of Franza, that the common paradigm of the unidirectional colonial moving is subverted most - that is, through the diverseness of writings and readings of the text’s performances, and of further situational translations. Bachmann drafted the manuscript on her trips to Egypt and Sudan in 1965; in 1966 she wrote to her publisher that she would never return to it, because the manuscript seemed to her like „a helpless allusion to something that still needs to be written“ 47 . It is into the wall of the Giza’s Great pyramid that the psychiatrically and physically tortured Austrianess of Franza crashes her head in her life efforts to recover a place for authorizing her tiny story in the memory of the wider history. After the funeral, she makes the novels’ narrator, her brother, leave his discipline of archeology for re-studying history. I will conclude this discussion by emphasizing that Bachmann reconstructs in her present-time not only the memory of the formal structure of the Danube Monarchy, but also the temporal and reciprocal processing of the vectors of power that were diffused in the cultural scripts of the Monarchy’s lands. Equally, she reconstructs the vectors of desire as the condition of the psychic existence and the discontinued phantasmatic that both pertain to 46 Bachmann: Malina, p. 2-3. 47 Bachmann, Ingeborg: „Todesarten“-Projekt. Dirk Göttsche; Monika Albrecht (eds.). 4 vols. München: Piper 1995. Vol. 2, p. 397. Fatima Festić 262 cultural scripts. Bachmann shakes the binary of the imperial/ colonial, or the center/ periphery in interpreting of the function of the Empire, she shows a multivalent if uneven agency at work both in the processes of imperialism and its dissemination from within. Because she replicates that agency also in the model of the everyday relations between men and women, even more striking is the comparison between the order of the past Empire and the patriarchal order of language. The constructions of the Empire stand for the factor of a longer-time stability, the symbolic order of language, threatening or not, is the order outside which it is not possible to function, so changes in performing had better take place within it. However, in criticizing imperialist and patriarchal frameworks, Bachmann’s script is a woman’s script that intersects with other emerging „post“-philosophies and theories, such as postmodernism, poststructuralism, postcolonialism, striving toward the succeeding stages in gender-related societal progress, as postfeminism is to claim, no longer defined by gender binary and gender role and stereotype. To Bachmann, the Empire continues into the German language, however, diversifying its moves in the languages of the area’s lands, and if communication is lost, then the loss is ceaselessly, iteratively acted out in the psychic repertoires of her artistic means. Imperial and Post-Imperial References in Ingeborg Bachmann’s... 263 KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Bisher sind erschienen: Band 1 Wolfgang Müller-Funk / Peter Plener / Clemens Ruthner (Hrsg.) Kakanien revisited Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie 2002, VIII, 362 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3210-3 Band 2 Alexander Honold / Oliver Simons (Hrsg.) Kolonialismus als Kultur Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden 2002, 291 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3211-0 Band 3 Helene Zand Identität und Gedächtnis Die Ausdifferenzierung von repräsentativen Diskursen in den Tagebüchern Hermann Bahrs 2003, 207 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3212-7 Band 4 Helga Mitterbauer Die Netzwerke des Franz Blei Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert 2003, 165 Seiten €[D] 38,- ISBN 978-3-7720-3213-4 Band 5 Klaus R. Scherpe / Thomas Weitin (Hrsg.) Eskalationen Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik 2003, XV, 215 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8006-7 Band 6 Amália Kerekes / Alexandra Millner / Peter Plener / Béla Rásky (Hrsg.) Leitha und Lethe Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns 2004, X, 297 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8063-0 Band 7 Vera Viehöver Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift Die Neue Rundschau 2004, 352 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8072-2 Band 8 Waltraud Heindl / Edit Király / Alexandra Millner (Hrsg.) Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1918 2006, VIII, 273 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8131-6 Band 9 Endre Hárs / Wolfgang Müller-Funk / Ursula Reber / Clemens Ruthner (Hrsg.) Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn 2006, VI, 295 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8133-0 Band 10 Telse Hartmann Kultur und Identität Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths 2006, XI, 213 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8170-5 Band 11 Wladimir Fischer / Waltraud Heindl / Alexandra Millner / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867-1918 Kulturwissenschaftliche Annäherungen 2010, 409 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8239-9 Band 12 Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Gedächtnis - Identität - Differenz Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext 2008, VIII, 293 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8301-3 Band 13 Gerald Lind Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens 2011, 447 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8366-2 Band 14 Daniela Finzi / Ingo Lauggas / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac/ Oto Luthar / Frank Stern (Hrsg.) Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext 2011, 257 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8434-8 Band 15 Emilija Man č i ć Umbruch und Identitätszerfall Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext 2012, 198 Seiten €[D] 45,- ISBN 978-3-7720-8466-9 Band 16 Angelika Baier „Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben“ Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap 2012, 348 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8467-6 Band 17 Daniela Finzi Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive 2013, 326 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8475-1 Band 18 Thomas Grob / Boris Previ š i ć / Andrea Zink (Hrsg.) Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination 2013, 308 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-8484-3 Band 19 Daniel Romuald Bitouh Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus 2016, 354 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8520-8 Band 20 Boris Previ š i ć / Svjetlan Lacko Viduli ć (Hrsg.) Traumata der Transition Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls 2015, 230 Seiten €[D] 52,- ISBN 978-3-7720-8526-0 Band 21 Matthias Schmidt / Daniela Finzi / Milka Car / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac (Hrsg.) Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa 2015, 264 Seiten €[D] 64,99 ISBN 978-3-7720-8547-5 Band 22 Vahidin Preljevi ć / Clemens Ruthner (Hrsg.) „The Long Shots of Sarajevo“ 1914 Ereignis - Narrativ - Gedächtnis 2016, 702 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8578-9 Band 23 Clemens Ruthner Habsburgs ‚Dark Continent‘ Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert 2018, 401 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8603-8 Band 24 Clemens Ruthner / Tamara Scheer Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina, 1878-1918 Annäherungen an eine Kolonie i. Vorb., ca. 500 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8604-5 Band 25 Marijan Bobinac / Johanna Chovanec / Wolfgnag Müller-Funk / Jelena Spreicer (Hrsg.) Postimperiale Narrative im zentraleuropäischen Raum 2018, 264 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8649-6 ISBN 978-3-7720-8649-6 Mit Beiträgen von Clemens Ruthner, Wolfgang Müller-Funk, Johanna Chovanec, Christian Kirchmeier, Andrea Seidler, Wynfrid Kriegleder, Endre Hárs, Jelena Šesnić, Drago Roksandić, Milka Car, Jelena Spreicer, Marijan Bobinac, Ana-Maria Pălimariu, Svjetlan Lacko Vidulić und Fatima Festić Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen aus dem internationalen Forschungsprojekt „Postimperiale Narrative in den zentraleuropäischen Literaturen der Moderne“ hervor. Im Zentrum stehen die sich literarisch, kulturell und politisch manifestierenden Nachwirkungen von Großreichen in Mitteleuropa. Imperien wie die Habsburgische Monarchie werden als übernationale Räume von erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten verstanden, in denen oft divergierende Narrative und Erzählstrategien entstehen, die sich in veränderter Form bis in unsere Gegenwart perpetuieren. In diesem Zusammenhang beleuchtet der Band Berührungspunkte im kollektiven Gedächtnis der Nachfolgestaaten und Konstruktionsprinzipien gemeinsamer kultureller Strukturen in Zentraleuropa.