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Schiller-Studien

2018
978-3-7720-5651-2
A. Francke Verlag 
Matthias Luserke-Jaqui

Diese Studien zu Friedrich Schiller, die hier erstmals zusammengefasst vorgelegt werden, gehen der Buchstäblichkeit seiner Texte in der Deutung auf den Grund, sie dokumentieren die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Werk, dem in der europäischen Literaturgeschichte nur wenig Vergleichbares an die Seite zu stellen ist. Schillers Dramen werden bis heute gelesen und sind größtenteils immer noch fester Bestandteil der Bühnenspielpläne. Viele seiner Gedichte sind aus der deutschen Lyrikgeschichte nicht mehr wegzudenken und über seine ästhetischen Anschauungen wird nach wie vor debattiert. Schillers dramatisches Interesse gilt der großen Linie des Geschichts- und Menschheitsprozesses, dem anthropologischen Fundament des Weltgeschehens, seine Schreibhaltung lässt sich auf die knappe Formel bringen: Literatur macht erfahrbar, was der Mensch ist. In ausführlichen Interpretationen behandeln die Studien unter anderem die Dramen [[kursiv/A]] Kabale und Liebe, Don Karlos, Die Braut von Messina [[kursiv/E]], Gedichte (u. a. [[kursiv/A]] Das Lied von der Glocke[[kursiv/E]]), aber auch die [[kursiv/A]] Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung[[kursiv/E]]; sie diskutieren die literaturgeschichtlichen Ursprüngen des Klassikers Schiller, die ästhetische Kant-Rezeption bei Schiller, die Suche nach einem objektiven Begriff des Schönen und dessen Nachhall bei Schopenhauer sowie die Schiller-Rezeption bei Georg Herwegh und Gustav Schwab.

Schiller-Studien Matthias Luserke-Jaqui Schiller-Studien Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8651-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 1. 9 2. 27 2.1 32 2.2 58 2.3 70 3. 75 4. 91 5. 105 6. 123 7. 141 8. 161 9. 183 10. 191 11. 193 12. 217 13. 235 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthologie auf das Jahr 1782 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semele (1782) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kindsmörderin (1782) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die schlimmen Monarchen (1782) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kabale und Liebe (1784) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Don Karlos (1787/ 1805) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Lied von der Glocke (1800) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Braut von Messina (1803) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Huldigung der Künste (1805) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schillers letzter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller . . . . . . . . Schiller, Kant und das Problem der Katharsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 14. 249 15. 271 285 Georg Herweghs Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Vorwort Die in diesem Band gesammelten Aufsätze und Studien zu Friedrich Schiller dokumentieren die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Werk, dem in der europäischen Literaturgeschichte nur wenig Vergleichbares an die Seite zu stellen ist. Alle Dramen, die Schiller veröffentlicht hat, werden bis heute ge‐ lesen und sind größtenteils immer noch fester Bestandteil der Bühnenspielpläne. Viele seiner Gedichte sind aus der deutschen Lyrikgeschichte nicht mehr weg‐ zudenken, und über seine ästhetischen Anschauungen wird nach wie vor de‐ battiert. Schillers Interesse in seinen klassischen Dramen gilt der großen Linie des Geschichts- und Menschheitsprozesses, dem anthropologischen Fundament des Weltgeschehens. Das bewusste Kunstprinzip einer Stilisierung von Sprache, Reim und Metrik dient dazu, die Illusion von Wirklichkeit zu zerstören. Die Künstlichkeit der Kunst muss erkennbar bleiben. Schillers Schreibhaltung lässt sich auf die knappe Formel bringen: Literatur macht erfahrbar, was der Mensch ist. Schon als junger Mann mit noch nicht ganz 26 Jahren schreibt Schiller über sich, „daß vielleicht in 100 und mehr Jahren - wenn auch mein Staub schon lange verweht ist, man mein Andenken seegnet, und mir noch im Grabe Tränen und Bewunderung zollt [...]“ (NA 23, S. 147). Ganz so pathetisch fällt heutzutage eine Würdigung seines Werks nicht mehr aus. Aber auch dies gehört zur Wirkungs‐ geschichte seiner Schriften, die Überhöhung und völlige Loslösung von kriti‐ scher Urteilsfähigkeit. Demgegenüber wollen die in diesem Band zusammen‐ gefassten Studien von einer Bewunderung zeugen, die der Buchstäblichkeit des Werks in der distanzierten Deutung auf den Grund gehen will. Bei aller Konti‐ nuität, die die Aufsätze in Themenreihung und leitenden Erkenntnisinteressen darstellen mögen, sind sie doch auch Zeichen eines wissenschaftsgeschichtli‐ chen Wandels, der sich in den letzten drei Jahrzehnten in der Literaturwissen‐ schaft vollzogen hat. Dass es bei der Auswahl der Beiträge auch zu Überschnei‐ dungen kommt, ist unvermeidlich, sie wurden nicht um jeden Preis begradigt, um die Lesbarkeit der einzelnen Kapitel als in sich geschlossene Einheiten nicht einzuengen. Dr. Grit Dommes (Berlin) danke ich sehr für die Mitarbeit bei der Textredaktion, meinem Team gilt der Dank für Unterstützung bei den Korrekturen: Nadine Dietz, Thomas Fuhrmann, Laura Löbig, Isabelle Wagner, Lisa Wille, M.A. und Nadja Willy. Kusel / Darmstadt, 6. Januar 2018 8 Vorwort 1 Roter Kalender 1999 - Göte gegen den grauen Alltag. Hamburg 1999, S. [1]. - Vgl. dazu ausführlicher: Matthias Luserke: Über das Goethe-Jahr 1999. Versuch eines Rückblicks, in: Goethe nach 1999. Positionen und Perspektiven. Hgg. v. Matthias Luserke. Göttingen 2001, S. 133-143 u. 174f. 2 Bemerkung vom 21. Dezember 1863; Edmont und Jules de Goncourt: Tagebücher. Auf‐ zeichnungen aus den Jahren 1851-1870. Nach der ersten Gesamtausgabe der Académie Goncourt ausgewählt, übertragen u. hgg. v. Justus Franz Wittkop. Frankfurt a.M. 1983, S. 280. Taine soll dies in einer Diskussionsrunde gesagt haben. 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick „Welche Aufklärung müßte sich allmählig in Deutschland verbreiten, wenn allgemein statt der vergiftenden Romane und anderer Modebücher die Schriften eines […] Schil‐ ler’s […] gelesen würden? O! “ (Psychologisches Magazin, 1796, 2. St., S. 87). Im Goethe-Jahr 1999 erschien eine Karikatur, auf der zwei Herren zu sehen sind, die sich in Goethes Wohnhaus am Frauenplan in Weimar gegenüberstehen. Der eine fragt den anderen: „Auf ein Wort: Was fällt Ihnen zu Goethe ein? “ Sagt der andere: „Schiller“. 1 In frappanter Umkehr dieser Anekdote und der historischen Fakten hatte am 12. September 1788 Caroline Herder an ihren Mann ge‐ schrieben, „Schiller war auch da; Goethe betrug sich gut gegen ihn“ (NA 25, S. 543). Wer sich mit Schiller beschäftigt, wird demnach auf Goethe stoßen und um‐ gekehrt, wer sich Goethes Leben und Werk widmen möchte, wird Schiller be‐ gegnen. Die jeweilige Eigenständigkeit von Schillers und von Goethes Werk ist gleichwohl unzweifelhaft. „Das Einzelne verallgemeinern, darauf beruht der ganze Schiller“ 2 - so einfach, wie es diese Formel des französischen Philosophen Hippolyte Taine von 1863 suggerieren will, ist es aber nicht. Zu der von Schiller lange erwarteten Begegnung mit Goethe kommt es end‐ lich am 7. September 1788 in Rudolstadt. Die Wege beider Dichter hatten sich zwar flüchtig schon nahezu ein Jahrzehnt zuvor gekreuzt. Allerdings war Schiller da noch Karlsschüler, und Goethe begleitete den Herzog Karl August auf einer Reise, die ihn auch über Stuttgart führte und in deren Zusammenhang er am 12. und 14. Dezember 1779 die Karlsschule besuchte. Schiller kannte zu diesem Zeitpunkt Goethes Werther, den er gleich nach Erscheinen 1774 gelesen hatte. Zeitweise dachte er sogar über einen eigenen, zweiten Werther-Roman nach. Ebenso war ihm der Götz von Berlichingen (1773) bekannt, dessen mar‐ kantestes Zitat sich noch Jahre später in einem Brief an Körner vom 9. März 1789 wiederfindet, wenn er schreibt: „die Academie in Jena möchte mich dann im Asch [! ] lecken“ (NA 25, S. 220). Später las er den Clavigo (1774) und die Stella (1775). Über eine neuerliche längere Begegnung mit Goethe berichtet Schiller in einem Brief vom 12. September 1788 an seinen Freund Körner: „Sein erster Anblick stimmte die hohe Meinung ziemlich tief herunter, die man mir von dieser anziehenden und schönen Figur beigebracht hatte. Er ist von mittlerer Größe, trägt sich steif und geht auch so, sein Gesicht ist verschloßen, aber sein Auge sehr ausdrucksvoll, lebhaft und man hängt mit Vergnügen an seinem Blick. Bei vielem Ernst hat seine Miene doch viel wohlwollendes und gutes. Er ist brünett, und schien mir älter auszusehen als er meiner Berechnung nach wirklich seyn kann. Seine Stimme ist überaus angenehm, seine Erzählung fließend, geistvoll und belebt, man hört ihn mit überaus viel Vergnügen; und wenn er bei gutem Humor ist, welches dißmal so ziemlich der Fall war, spricht er gern und mit Interesse. Unsere Bekanntschaft war bald gemacht, und ohne den mindesten Zwang; freilich war die Gesellschaft zu groß und alles auf seinen Umgang zu eifersüchtig, als daß ich viel allein mit ihm hätte seyn oder etwas anders als allgemeine Dinge mit ihm sprechen können. [...]. Im ganzen genommen ist meine in der That große Idee von ihm nach dieser persön‐ lichen Bekanntschaft nicht vermindert worden, aber ich zweifle, ob wir einander je sehr nahe rücken werden. Vieles was mir jezt noch interessant ist, was ich noch zu wünschen und zu hoffen habe, hat seine Epoche bei ihm durchlebt, er ist mir, (an Jahren weniger als an Lebenserfahrungen und Selbstentwicklung) so weit voraus, daß wir unterwegs nie mehr zusammen kommen werden, und sein ganzes Wesen ist schon von anfang her anders angelegt als das meinige, seine Welt ist nicht die meinige, unsere Vorstellungsarten scheinen wesentlich verschieden. Indeßen schließt sichs aus einer solchen Zusammenkunft nicht sicher und gründlich. Die Zeit wird das weitere lehren.“ (NA 25, S. 106f.) Goethe besucht Schiller am 31. Oktober 1790 zum ersten Mal in Jena. „Komme ich je wieder in die tragische Laufbahn“ (NA 26, S. 58), weiß Schiller am 26. November 1790 Körner zu berichten, so wolle er sicher sein, dass sich der tra‐ gische Stoff auch für eine dramatische Bearbeitung eigne. Fast schon resigniert fügt er an: „Das Arbeiten im dramatischen Fache dürfte überhaupt noch auf eine ziemlich lange Zeit hinausgerückt werden. [...] Ich sehe nicht ein, warum ich nicht, wenn ich ernstlich will, der erste Geschichtschreiber in Deutschland werden kann“ (NA 26, S. 58). Die Gründe für diese Einschätzung liegen freilich weniger bei Schillers historiografischem Ehrgeiz als vielmehr in seiner ökono‐ 10 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick mischen Situation. Er erhofft sich von den Einnahmen aus dem Verkauf der historischen Schriften eine deutliche Verbesserung seiner finanziellen Lage. Im Dezember 1790 zerschlagen sich die Hoffnungen, in Mainz eine philosophische Professur mit einem regelmäßigen Gehalt übernehmen zu können. Am 13. Juni 1794 schreibt Schiller seinen ersten Brief an Goethe. Der Ton ist freundlich, devot-geschäftsmäßig gehalten und unterzeichnet mit den Worten „Euer Hochwohlgebohren [/ ] gehorsamster Diener und aufrichtigster [/ ] Ver‐ ehrer“ (NA 27, S. 14). Dem zeitgenössischen Comment entsprechend, ist übri‐ gens eine solche selbst charakterisierende Schlussformel natürlich nichts Au‐ ßergewöhnliches. Sie wird an Unterwürfigkeit bei Weitem von jener Formulierung übertroffen, die Lessing in einem Brief an den braunschweigi‐ schen Herzog Ferdinand zu gebrauchen beliebte: „Ich ersterbe mit tiefster De‐ votion, Ewr. [= Euer] Durchlaucht untertäniger Knecht“ (28. Juli 1778). Nach einer persönlichen Begegnung und der Einschätzung Goethes, dass nun „eine Epoche“ (NA 35, S. 42) in ihrem Leben beginne, entwickelt sich ein intensiver und umfassender Briefwechsel vom August 1794 an. Möglicherweise ist es Zu‐ fall, dass Schiller just diese Formulierung in seinem Verbrecher aus Infamie (1786) verwendet hat, wo es über den Wilddieb und Sonnenwirt heißt, als er zum dritten Mal gefangen genommen wird: „Hier fängt eine neue Epoche in seinem Leben an“ (FA 7, S. 568). 1787 hatte er noch distanziert von den „Weimarischen Riesen“ (NA 24, S. 114) gesprochen, respektvoll zwar, aber durchaus auch mit selbstbewusstem Unterton. Denn er führt dieses Bonmot etwas ironisch fort, die nähere Bekanntschaft mit den Riesen Herder, Wieland und der Herzoginmutter Anna Amalia, möglicherweise auch Goethe, habe die eigene Meinung von sich selbst verbessert. Später gehörte auch er dazu. Die Weimarer Klassik und ihre Literatur war für ihn schlechthin „die gute Sache“ (NA 29, S. 71), der er sich verpflichtet wusste. Dem jungen Schiller fehlt es nicht an Selbstbewusstsein. Bereits als noch nicht ganz Sechsundzwanzigjähriger sagt er von sich, „daß vielleicht in 100 und mehr Jahren - wenn auch mein Staub schon lange verweht ist, man mein Andenken seegnet, und mir noch im Grabe Tränen und Bewunderung zollt - dann meine theuerste freue ich mich meines Dichterberufes [...]“ (NA 23, S. 147). Tränen werden wir heute nicht mehr vergießen, Bewunderung indes insgeheim oder offen immer noch zollen. Dem Werk dieses Autors ist in der europäischen Li‐ teraturgeschichte nur wenig Vergleichbares an die Seite zu stellen. Nicht, was die Menge der Schriften betrifft, da können andere durchaus als schreibfleißiger gelten, sondern was die Zahl jener Texte angeht, die für 200 Jahre Kultur- und Literaturgeschichte so prägend geworden sind. „Für die Ewigkeit“ (NA 26, S. 117) wolle er schreiben. 11 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick 3 Thomas Bernhard: Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette. Frankfurt a.M. 1990, S. 30. Die Aktualität und Zeitlosigkeit von Schillers Dichtung ist auch nach zwei Jahr‐ hunderten ungebrochen. Sein Werk ist ein Medium anthropologischer Selbst‐ reflexion und bedeutet Nachdenken über die Geschichtlichkeit des Menschen. Seine Schriften zeigen, welche Bedeutung der Mensch für die Literatur und welchen Nutzen die Literatur für den Menschen hat. In Schillers Worten: Es ist „der Mensch, von welchem die Rede ist“ (FA 7, S. 563). Schiller ist nicht nur in seiner Selbsteinschätzung „ein Dichter vom ersten Rang“ (NA 23, S. 63), der Wirkungskreis seiner Dichtung ist „das Total der menschlichen Natur“ (NA 20, S. 219), seine Poesie zielt „auf den Menschen“ (NA 20, S. 219) schlechthin. Trotz allem Verständnis, wie es Thomas Bernhard formuliert hat, „einen gutsitzenden Schiller“ 3 gibt es allerdings nicht. „Wenn mich je das Unglück oder Glück träfe“, schreibt Schiller im Jahr 1789, „sehr berühmt zu werden (und das ist in sofern möglich, als man es jezt wohl werden kann und wird, ohne es zu verdienen) wenn mir dieses je passirt […] Lesen Sie alsdann meine Schriften, und lassen den Menschen übrigens laufen.“ (NA 25, S. 209) Das innere Geheimnis von Schillers Biografie ist sicherlich das Spiel mit wechselnden Inszenierungen. Seine Schreibidentität bleibt dabei unverändert. Äußerlich zeigt sich dies in den verschiedenen Anläufen zur Berufswahl, von dem begonnenen Jurastudium über den Wunsch nach einem Theologiestudium bis hin zum Wechsel ins medizinische Fach. Bei Schiller liest sich das in der sehr frühen Schrift Bericht an Herzog Karl Eugen über die Mitschüler und sich selbst (1774) so: „Es ist Ihnen schon bekannt, gnädigster Herzog, mit wie viel Mun‐ terkeit ich die Wissenschaft der Rechte angenommen habe, es ist Ihnen bekannt, wie glücklich ich mich schätzen würde, wann ich durch dieselbe meinem Fürsten, meinem Vaterland dereinsten dienen könnte, aber weit glücklicher würde ich mich halten, wann ich solches als Gottesgelehrter ausführen könnte […]“ (NA 22, S. 15). Nach der Verlegung der Karlsschule von der Solitude nach Stuttgart wurde auch eine medizinische Fakultät eingerichtet, und Schiller wechselte unverzüglich das Studienfach. Doch schließlich hatte er als Theater‐ dichter Erfolg, zwischenzeitlich war er bekennender historischer Schriftsteller und philosophischer Essayist, um endgültig als Tragödienschreiber und immer wieder Lyriker zu enden. Man darf dabei allerdings nicht übersehen, dass der größte Anteil seines Werks, wie es eindrucksvoll heutzutage in den inzwischen 58 erschienenen der mit allen Unterbänden auf 60 Bände angelegten National‐ ausgabe vorliegt, aus einer umfangreichen Korrespondenz besteht. Aus diesen 12 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick Briefwechseln, die mehr als 2.200 überlieferte Einzelbriefe umfassen, ließe sich manches Buch über philosophische, ästhetische, theaterspezifische oder dra‐ mentheoretische Fragen destillieren. Das belegt eindrucksvoll, welch eigen‐ ständige Bedeutung Schillers Briefen zukommt. Schiller lebte vom intensiven Gedankenaustausch, und vielen Briefen ist jenes Bekenntnis anzumerken, womit er einen Brief an Körner vom 3. Juli 1785 eröffnet: „Ich habe Lust […] recht viel zu schreiben, denn mein Herz ist voll“ (NA 24, S. 7). Schillers Leben war ein Leben im Dialog, Kommunikation war dessen Grundlage. Die Räuber (1781) In Schillers erstem Theaterstück wird gleich zu Beginn die Bedeutung von Schrift und Kommunikation von Karl Moor herausgestellt. Er liest in einem Buch Plutarchs, legt es beiseite und spricht die geflügelten Worte, „mir ekelt vor diesem Tintenklecksenden Sekulum“ (I/ 2). Aber dieses tintenklecksende Jahr‐ hundert ist immerhin das Jahrhundert der Aufklärung, das sich zur Aufgabe gesetzt hatte, den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu führen (so wird es Kant am Ende des Jahrhunderts beschreiben), ihm Schreiben und Lesen zu lehren (zunächst durch eine Alphabetisierungskampagne bürger‐ licher Schichten, dann durch die sogenannte Volksaufklärung) und ihn von re‐ ligiösen Vorurteilen zu befreien. Die Aufklärung des Verstandes mit der Besse‐ rung des Herzens zu verbinden, das ist das Motto der Aufklärung. Dieser Gedanke einer zunehmenden Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, der Perfektibilität, gründet sich auf die Vorstellung einer besseren Gesellschaft, die es zu schaffen gilt. Wenn Karl also sein Jahrhundert als tintenklecksend be‐ zeichnet oder gar als „das schlappe Kastraten-Jahrhundert“ (I/ 2) verhöhnt, dann ergreift darin auch eine harsche Kritik an der Aufklärung das Wort. Karl Moor wird somit zu einem Vertreter radikaler Aufklärungskritik. Dem aufgeklärten Zeitalter ist aus der Sicht des Textes nicht nur die Potenz für historisch große Menschen, sondern auch die Kraft für große Literatur abhandengekommen. Diese Kulturkritik Moors dient ihm dazu, sein eigenes kriminelles Handeln als Tathandeln eines großen Menschen zu definieren. Unmittelbar nach der grundsätzlichen Kulturkritik erfolgt Moors Herr‐ schaftskritik. Politische und gesellschaftliche Ordnung lehnt er ab, Gesetzlosig‐ keit ist für ihn unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen Voraus‐ setzung, um eine Verbesserung von Mensch und Gesellschaft einzuleiten. An diesem Punkt ist Moor durchaus Vertreter eines Gedankens der Aufklärung, wenngleich in sehr radikalisierter Form. „Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. [...] Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden“ 13 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick (I/ 2). Karl Moor verfolgt in dieser Aussage ein klares politisches Ziel, nämlich das Modell einer republikanischen Gesellschaft, die sich auf individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit gründet. In dieser Form hat das bis dahin (1781) noch keiner in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts gesagt. Diese politische Dimension des Stücks wird mit einer grundsätzlichen anthro‐ pologischen Reflexion oder Denkfigur verknüpft, es geht um nichts Geringeres als um die Bestimmung des Menschen. Die Frage, die Karl Moor dabei quält, lautet: „Wofür der heiße Hunger nach Glückseligkeit? Wofür das Ideal einer unerreichten Vollkommenheit? “ (IV/ 5) Schiller figuriert damit seine schon in den Karlsschulreden zu erkennende, besonders aber in der ersten Fassung seiner medizinischen Dissertation Philosophie der Physiologie vom Herbst 1779 darge‐ legte Fragestellung nach der Bestimmung des Menschen. Schiller hatte dort den zeitgenössischen moralphilosophischen Diskussionsstand vornehmlich von Ferguson und Garve bilanziert und geschrieben, „der Mensch ist da, um glüklich zu seyn: oder - Er ist da, um vollkommen zu seyn. Nur dann ist er vollkommen, wann er glüklich ist. Nur dann ist er glüklich, wann er vollkommen ist“ (NA 20, S. 11), mit einem Wort: „Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen“ (NA 20, S. 10), heißt es im § 1 Bestimmung des Menschen. Karl Moors Reaktion auf diese Erkenntnis ist ebenso Ausdruck einer Hybris wie dies auch die verkehrte Allmachtsphantasie seines Bruders ist. Karl spielt mit dem Gedanken an Selbstmord und stellt fest, dass er noch nicht glücklich gewesen und er sich selbst zugleich Himmel und Hölle ist (vgl. IV/ 5). Er entdeckt seinen Vater in einem unterirdischen Verlies, er befreit ihn und versucht vor diesem Hintergrund der teilfamiliären Wiederherstellung, seine bisherigen Ver‐ brechen und Laster zu rechtfertigen: „Das verworrene Knäul unsers Schicksals ist aufgelöst! Heute, heute hat eine unsichtbare Macht unser Handwerk geadelt“ (IV/ 5). Das sagt er zu jenen, die nur kurze Zeit zuvor noch plündernd und mor‐ dend eine Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten, seine eigene Räuberbande. Karl Moor bleibt damit also bis zuletzt ein höchst ambivalenter Charakter, der die Unrechtmäßigkeit seines Tuns zwar prinzipiell erkennt, gleichwohl aber in‐ dividuell-familiär zu legitimieren sucht. Die Räuber zeigen anschaulicher als jedes moralphilosophische Lehrgebäude oder jede medizinische Seelenkunde, dass die Literatur als Medium der anthro‐ pologischen Selbstreflexion taugt, da sie alle weitgespannten Aspekte und Am‐ bivalenzen der menschlichen Seele figurieren und gegeneinander ausspielen kann. Der Autor der Räuber enthält sich dabei jeglicher moralisierenden Kom‐ mentierung und bricht dadurch mit der Konvention aufgeklärter Literatur, stets eine moraldidaktisierende Sentenz einem Stück als Botschaft einschreiben zu müssen. So gesehen stehen die Räuber in einer literaturgeschichtlichen Linie mit 14 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick den avantgardistischen Dramen des Sturm und Drang, und auch beim jungen Schiller schlägt das Musterbeispiel von Goethes Götz von Berlichingen (1773) in diesem Punkt durch. Semele (entstanden 1779/ 1780, gedruckt 1782) Das Thema der Spannung zwischen öffentlicher Verantwortung und individu‐ eller Neigung, zwischen allgemeiner Wohlfahrt und individuellem Glück ist also bereits in Schillers erster dramatischer Arbeit als eine grundsätzliche anthro‐ pologische Konfliktlinie markiert worden. In Schillers zweitem Drama, der Semele, wird nun das Wort als Medium menschlicher Hybris inszeniert. Die Semele ist insofern ein Lehrstück über die Gewalt des Worts und über die Macht dessen, der das Wort führt, also gleichsam eine literarische Drohgebärde des jungen Schiller gegen seinen Landesvater Karl Eugen. Schmeichelnde Reden habe Juno sich ersonnen (vgl. FA 2, S. 791), rät‐ selhaft und geheimnisvoll hingegen empfindet diese Worte Semele (vgl. FA 2, S. 792). Und wer wie Semele politische Klugheit nicht gelernt hat, unterliegt der Verführungskraft dieser Reden. Dies sind jene Reden, welche die Karlsschüler allesamt zyklisch verfassen und vor Herzog und Mätresse vortragen mussten. Man könnte sogar so weit gehen und die Semele als eine Art Kontrafaktur von Schillers Karlsschulreden lesen. In der ersten Karlsschulrede ist vom bestellten und bestochenen Sänger die Rede. Der Schüler kritisiert Verschwendungssucht, Untugendhaftigkeit, Machtprätentionen, den Willen zur Unsterblichkeit und Gottgleichheit, genährt aus absolutistischem Geist. Das ist das Semele-Thema, die Macht des Worts liegt doppelbödig im Wort der Machtkritik. Schiller hat dieses Thema - noch mehr als in den Räubern - in der Semele gestaltet. Leider wird dieses Dramolett kaum noch gelesen, es ist bislang überhaupt in Deutsch‐ land erst ein einziges Mal aufgeführt worden, und das ist auch schon über 110 Jahre her. Fiesko (1783) Schiller benennt auch in diesem Drama - wie schon zuvor in den Räubern und in der Semele - die Hybris des Menschen als ein zentrales Thema. Die Allmachts‐ phantasie der Hauptfiguren besteht darin zu meinen, etwas Außergewöhnliches, ein großer Mensch von Bedeutung zu sein. Das Handeln jener Personen, die dieses Phantasma ins Werk setzen wollen, orientiert sich dabei an den Leitbe‐ griffen von Gerechtigkeit (Karl Moor), Macht/ Gottgleichheit (Semele) und Herr‐ schaft (Fiesko). Auch Fiesko instrumentalisiert sein Verhalten und sein Privatleben, indem er es dem Wunsch, eine historisch bedeutende Person zu werden und gesellschaft‐ 15 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick 4 Alfred Kerr: Fiesco, in: Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wir‐ kungsgeschichte Schillers in Deutschland. Teil 2: 1860-1966. Hgg., eingeleitet u. kom‐ mentiert v. Norbert Oellers. München 1976, S. 240f. liche Macht auszuüben, unterordnet. Der Mohr erhält von Fiesko den Auftrag, unter den Genuesern zu spionieren. Bevor er sich aus der Deckung wagt, will Fiesko wissen, wie die Bürger über die Herrschaft des Doria und über ihn denken. Zum Machtwillen gesellt sich auf diese Weise bei Fiesko eine kalkulie‐ rend populistische Grundhaltung. Der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr (1867-1948) artikulierte 1908 sein Unbehagen an diesem historischen Stück mit folgenden Worten: „Schiller, - meine Schätzung Ihres Lebenswerks ist viel kleiner als meine Liebe zu Ihnen ... Ich weiß, was Ihnen fehlt: aber ich lasse nichts auf Sie kommen ... Hier geht es aber wirklich nicht. So kindlich die Charakteristik; alle so ganz unzergliedert; Fiesco vollends, der Überlegene, kramt vor dem Mohren seinen Plan aus; jagt ihn weg vor der Entscheidung; wo der Kerl alles verraten kann; darauf beruht der starke Punkt ... Schiller, es geht nicht. Man kann nicht einen tückisch klugen Helden zeichnen, der so ein Blödian ist. Und die Gattin, die er aus Versehn ersticht ... Schiller, es geht nicht.“ 4 Trotz aller offensichtlichen dramaturgischen Schwächen, die das Stück hat, ge‐ lingt es Schiller doch, einige wesentliche Erkenntnisse den Lesern zur Diskus‐ sion zu stellen. In der Sphäre der Macht gibt es keine Privatsphäre, solange Macht als private Angelegenheit inszeniert, aber öffentlich ausgeübt wird. Moral und Politik können ebenso instrumentalisiert werden wie Freundschaft, Tu‐ gendhaftigkeit oder Liebe. Dabei hängt die Moralität einer Handlungsweise oder deren Unmoral nicht von dieser ab, sondern davon, welche Absicht der Han‐ delnde damit verknüpft. Ist das Ende einer Tyrannenherrschaft besiegelt, heißt das noch lange nicht, dass sich damit demokratische Verhältnisse von alleine einstellen. Kabale und Liebe (1784) Kabale und Liebe ist ein Text der allmählichen Dissoziation ständischen Den‐ kens. Dieser Prozess tritt umso deutlicher zu Tage, je mehr die Rollenkonflikte zwischen Vater und Sohn auf der einen, aristokratischen und Vater und Tochter auf der anderen, bürgerlichen Seite ausgespielt werden. Die Generation der Söhne und Töchter hat das grundsätzliche Vermögen entwickelt, sich über be‐ stehende gesellschaftliche Schranken hinwegzusetzen. Auf der inhaltlichen Ebene ist das Scheitern das Eingeständnis des Autors, dass in der realhistori‐ schen Gegenwart der 1780er Jahre dieses Verhalten noch keineswegs sozial ver‐ träglich ist. Die Liebe bleibt an soziale Indizes gebunden. Auf der formalen, po‐ 16 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick etologischen Ebene bedeutet das Scheitern eines ständeneutralen Liebesmodells das endgültige Scheitern der Gattung des Bürgerlichen Trauerspiels. Bürgerlich ist nun keine ausschließlich soziologische Klassifikation mehr, sondern bedeutet jetzt ein bestimmtes Verhalten, das anthropologische Zuordnungen reflektiert. Darin liegt u.a. die literaturgeschichtliche Bedeutung von Kabale und Liebe, der Autor benennt diesen Prozess des Verfalls sozialer Gegensätze, er erkennt ihre Wiederkehr in Umgangsformen, in Sprachgewohnheiten und in Verhaltens‐ weisen und figuriert sie im Personal seines Dramas. Liebe und Leidenschaft sind dabei die beschleunigenden Faktoren. Kabale und Liebe ist, wie die anderen Jugenddramen Schillers auch, ein Text der Rebellion gegen buchstäbliche und gegen symbolische Ordnungen, es sind Texte der Autoritätskritik und der Machtkritik und sie dokumentieren Debatten um Entwürfe anderer Liebes- und Lebensmodelle, es sind Medien anthropolo‐ gischer Selbstreflexion. Don Karlos (1787/ 1805) Der Leser von Schillers Dramen, sofern er in der chronologischen Ordnung fortschreitet, gelangt gleichsam vom Wohnzimmer eines bürgerlichen Stadt‐ musikanten aus Kabale und Liebe mit dem Don Karlos in den Festsaal des euro‐ päischen Hochadels. Das ist die äußerliche, soziologische Karriere, die Schillers Dramenpläne durchlaufen. Der Autor setzt gleichwohl die anthropologische Absicht seines bisherigen Schreibens im Don Karlos fort, dessen erste unvoll‐ ständige Fassung von 1787, dessen letzte, heute noch gelesene Buchfassung von 1805 stammt. Ihm sei daran gelegen, so schreibt Schiller in der Vorrede, „den Menschen zu rechtfertigen“ (FA 3, S. 19), es geht ihm nicht um die historische Detailtreue, nicht um den Repräsentanten von Macht. Es komme allein darauf an, durch „Situation“ (das meint Handlung) und „Charakter“ (FA 3, S. 19) des Königs Phi‐ lipp II. die spezifisch tragische Wirkung beim Leser zu evozieren. Insofern dürfe diese Figur nicht als ein „Ungeheuer“ (FA 3, S. 19) dargestellt werden. Im König und in seinem Sohn Don Karlos träfen zwei unterschiedliche Menschentypen aufeinander, deren Psychologie keineswegs holzschnittartig zu ergründen sei, sondern die einer sorgfältig differenzierten Darstellung bedürften. Das Anth‐ ropologische von Schillers Schreibabsicht entwickelt sich somit zu einem Anth‐ rotypologischen. Völlig zurecht bemerkt Schiller und er weist auch darauf hin, dies sei seine Intention gewesen, dass der Plot bereits im ersten Akt für den Leser zu erkennen sei. An dramatischer Spannung im herkömmlichen Sinne hat Don Karlos wenig zu bieten. Der Kern, um den herum sich das Geschehen entwickelt, ist bereits ab der zweiten Szene des ersten Aktes dem Zuschauer bzw. Leser 17 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick hinlänglich bekannt. Das hat Schiller selbst so gesehen und in seiner Thalia-Vorrede bezeichnet er dies auch als seine Absicht. Marquis Posa erweist sich als der eigentliche Analytiker der Macht. Er ist es auch, der Karlos politisiert insofern, als er ihn sensibilisiert für die brisante po‐ litische Situation in Flandern. Posa bleibt auf die Idee einer politischen Befreiung Flanderns fixiert, eine Idee, die trotz aller Rückschläge nicht aufgegeben werden dürfe und der alles andere untergeordnet werden müsse (vgl. V. 2458ff.). Er fi‐ guriert damit ein Verhalten, das die Frage nach den Grenzen des Realisierungs‐ willens politischer Ideen aufwirft. Ob dies auch für ethische und ästhetische Ideen zu gelten hat und sich insofern Grundüberzeugungen des Autors Schiller darin spiegeln, ist vom Text her nicht eindeutig zu klären. Da Posa weder äs‐ thetisch argumentiert noch beispielhaft sittlich handelt, sondern ausschließlich politisch agiert, liegt die Vermutung nahe, er diene lediglich der Illustration eines politischen Dispositivs. Allerdings erlauben seine Positionsbestimmung in der Freundschaft zu Don Karlos sowie die entschiedene Haltung gegenüber dem König und sein Bekenntnis zu grundlegenden Ideen der Aufklärung eine diffe‐ renziertere Einschätzung. Das Entscheidende ist, dass sich für den Autor sein eigenes Stück nicht mehr als Liebestragödie im europäischen Hochadel und nicht mehr als Lehrstück auf‐ geklärter Tugend- und Freundschaftsphilosophie darstellt, sondern das Ideal allgemeiner Humanität auf der Grundlage staatlicher Wohlfahrt und individu‐ eller Freiheit den Zuschauern und Lesern vor Augen stellt. Auch hier argumen‐ tiert Schiller wieder grundsätzlich anthropologisch. Der Mensch folge eher seinem Herzen als „universelle[n] Vernunftideen, die er sich künstlich er‐ schaffen hat - denn nichts führt zum Guten was nicht natürlich ist.“ (FA 3, S. 466) Und Freiheit wird als ein Naturrecht im Drama selbst extrapoliert (vgl. V. 3218f.). Nur von der natürlichen Freiheit des Menschen führt ein Weg zur poli‐ tischen Freiheit und allgemeinen Glückseligkeit der Menschen. Und auf diesem Weg opfert Marquis Posa die Freundschaft zu Don Karlos einer universellen Vernunftidee. Ohne die Anbindung dieser Ideen an die sinnlich wahrnehmbare Erfahrungswelt der Menschen aber müssen die Ideale von Freiheit und Huma‐ nität scheitern. Karlos und Posa sind insofern moderne Anti-Helden, darin liegt die Modernität dieses Stücks, es ignoriert die Idealisierungstypologie seiner Zeit und setzt den Menschen als ganzen und natürlichen Menschen wieder ins Recht. Mit dem Don Karlos befinden wir uns an der Gelenkstelle zwischen dem Ju‐ gendwerk und den klassischen Dramen Schillers. 18 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick Wallenstein-Trilogie (1800) Die Teile Wallensteins Lager, Die Piccolomini und Wallensteins Tod bilden die Wallenstein-Trilogie. Anlässlich der Wiedereröffnung des frisch renovierten Weimarer Theaters am 12. Oktober 1798 schrieb Schiller einen Prolog. In diesem Text kommt eine symbolische Bedeutung für das Bewusstsein einer historischen Zäsur, gar einer Epochenschwelle zum Ausdruck. Der Prolog ist ein Markie‐ rungszeichen klassischen Schreibens, klassischen Stilwillens und klassischer Denkhaltung. Schiller unternimmt eine klare Funktionsbestimmung seiner klas‐ sischen Kunst und das bedeutet seiner klassischen Dichtung und Bühnenkunst. Er stellt fest, die Seele des Menschen ist affektiv zu beeinflussen; dies kann die Kunst, darin ist ihr „Zauber“ (Wallensteins Lager, Prolog, V. 36) zu erkennen. Die neue Zeit, die nun beginnt, ermutige den Dichter, auch neue Wege zu be‐ schreiten. Diese neuen Wege bedeuten, das Programm der klassischen Idealität ins Werk zu setzen, denn nur die dramatische Darstellung eines großen Gegen‐ stands wie etwa einer großen historischen Person ist überhaupt in der Lage, die unabdingbare anthropologische Tiefenwirkung zu entfalten. Die Aufgabe der Dichtung besteht für Schiller nun darin, das Außergewöhnliche und Exempla‐ rische dieses Charakters den Zuschauern oder Lesern „menschlich“ (Wallen‐ steins Lager, Prolog, V. 105) näherzubringen. Damit wird der Anspruch einer objektiven Darstellung oder gar historischen Detailtreue programmatisch durch die Kunst selbst unterlaufen. Im Prolog zu Wallensteins Lager heißt es: „Denn jedes Äußerste führt sie, die alles / Begrenzt und bindet, zur Natur zurück“ (V. 106f.). Dieses Bewusstsein von einer neu einsetzenden Epoche drückt Schiller im Prolog mit diesen Worten aus: „Die neue Ära, die der Kunst Thaliens Auf dieser Bühne heut beginnt, macht auch Den Dichter kühn, die alte Bahn verlassend, Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis, Auf einen höhern Schauplatz zu versetzen, Nicht unwert des erhabenen Moments Der Zeit, in dem wir strebend uns bewegen. Denn nur der große Gegenstand vermag Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen, Im engen Kreis verengert sich der Sinn, Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.“ (Wallensteins Lager, Prolog, V. 50-69) 19 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick Als Gegengewicht zur militärisch-politischen Welt, um die es in der Wallen‐ stein-Trilogie auch geht, ist die Liebesgeschichte zwischen Thekla und Max Pic‐ colomini angelegt. Am Ende wird sich aber zeigen, dass in der Sphäre der Macht das scheinbar Private stets öffentlich und politisch ist. Doch auf dem Weg zu diesem Ergebnis steht die Umkehrung der herrschenden Geschlechterordnung, die der Autor Schiller am Beispiel von Theklas Handeln gegen den Vater insze‐ niert. Thekla versucht Liebe als einen exterritorialen Raum außerhalb von Po‐ litik und Geschichte zu definieren. Sie ist der Ansicht, nur die Liebe zwischen ihr und Max Piccolomini bringe Wahrheit hervor, Politik und Gesellschaft, also die Sphäre des Vaterworts, hingegen sei durchdrungen von Unwahrheit. Am Ende begreift sich Wallenstein als ein „Mann des Schicksals“ (Wallensteins Tod, V. 1989), was in der Lesart der Tragödie nichts anderes heißen kann, als dass er Vollstrecker des Schicksals ist. Dies wird ins grundsätzlich Anthropolo‐ gische gewendet. Der Mensch sei von Natur aus nicht in der Lage sich zu mä‐ ßigen und zu bändigen, die Apparaturen der Disziplinierung versagten, sobald der Mensch nicht mehr den gesellschaftlichen Regulativen (den Gesetzen) oder den kulturellen Regeln (den Gewohnheiten) folge (vgl. Wallensteins Tod, V. 2484ff.). Aus dieser Einsicht wird zugleich die Legitimation für einen unbe‐ dingten Gehorsam abgeleitet. Denn nur der Mächtige sei frei, und nur der Freie könne einem „schönen menschlichen Gefühl“ (Wallensteins Tod, V. 2509) folgen, also nach ethischen und religiösen Leitideen sein Handeln ausrichten. Und mächtig und das heißt frei sind allein Wallenstein und der Kaiser. Darin kann man durchaus auch ein Moment der Selbstkritik des Autors Schiller erkennen, enthüllt er damit doch zugleich die Wirkungslosigkeit seiner moralphilosophi‐ schen Argumentation der ästhetischen Schriften, denn diese versuchten die Ap‐ paraturen der Selbstdisziplinierung als allgemein erlernbare anthropologische Konstanten des Handelns auszuweisen. Maria Stuart (1801) In der Maria Stuart knüpft Schiller an diese Machtthematik an, nun aber unter geschlechterdistinkter Perspektive. Im Stück sagt die englische Königin Elisa‐ beth bereits bei ihrem ersten Auftritt: „Die Könige sind nur Sklaven ihres Standes, / Dem eignen Herzen dürfen sie nicht folgen“ (V. 1155f.). Damit stellt sich die Frage, worauf der Text unverzüglich eine Antwort gibt, ob diese Er‐ kenntnis auch für Königinnen gilt. Wie eine Bürgerliche erfährt Elisabeth den Zwang, den normativen Druck dessen, was sich in der bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft Schillers als „Ordnung der Natur“ (V. 1173) in der Ordnung der Gesellschaft und schließlich in der Ordnung der Familie widerspiegelt. Statt eine Liebesheirat eingehen zu dürfen, fordern Staat und die bürgerliche Familie die 20 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick Konvenienzehe. Elisabeth kann nicht den Mann ihrer Liebe heiraten, sondern sie muss sich aus Gründen der Staatsräson und des politischen Kalküls, das im bevorstehenden Machtzuwachs der englischen Krone liegt, mit dem Ungeliebten vermählen. Da also Könige und Königinnen nicht aus Liebe heiraten können, hat Elisabeth sich entschieden unverheiratet zu bleiben und ihre Jungfräulich‐ keit als „höchstes Gut“ (V. 1167) zu feiern. Sie reproduziert damit einen Virgi‐ nitätsmythos, der als väterliches, symbolisches Kapital kennzeichnend ist für die Darstellung bürgerlicher Bewusstseinsformen in bürgerlichen Trauer‐ spielen. Die Aristokratin Elisabeth phantasiert ein freiwilliges Opfer für eine ‚Volksgemeinschaft‘, die als symbolischer Bräutigam den Rang eines religiösen Substituts für die Novizin der Macht gewinnt, die ein Keuschheitsgelübde der ‚reinen‘ Herrschaft abgelegt zu haben scheint. Da eine Liebesheirat nach bür‐ gerlichem Muster für Elisabeth nicht möglich ist und Herrschaft Sexualität er‐ setzt, gilt für eine Königin, „[…] die unverdrossen, unermüdet, Die schwerste aller Pflichten übt, die sollte Von dem Naturzweck ausgenommen sein, Der Eine Hälfte des Geschlechts der Menschen Der andern unterwürfig macht -“ (V. 1180ff.). Diese Überlegungen reifen, als sie sich nicht länger der politischen Zweckehe mit dem französischen Thronfolger verschließen kann. Elisabeth beendet ihre Betrachtungen mit der Erkenntnis: „Hat die Königin doch nichts / Voraus vor dem gemeinen Bürgerweibe! “ (V. 1207f.) Wollte man Schillers Tragödie nur als Spiel von Schuld und Verwerfung ver‐ stehen, hieße dies, das Drama um eine wesentliche Deutungsdimension zu ver‐ kürzen. Denn die beiden Königinnen, die englische Königin Elisabeth und die schottische Königin Maria, begegnen sich jeweils als zwei Repräsentantinnen von staatlicher Macht und es treffen zugleich auch zwei Frauen aufeinander. Damit hat Schiller seinem Drama ein geschlechterdifferentes Widerspiel von Öffentlichkeit und Privatheit, von geschichtlich-öffentlichem und privatem Pro‐ zess eingeschrieben. Die religiöse, moralische und ästhetische Bedeutung des Textes muss man also durch eine sozialgeschichtliche und geschlechterdiffe‐ rente Lesart ergänzen. Öffentliche Interessen kollidieren mit den privaten Inte‐ ressen der Königinnen, private Leidenschaften von Elisabeth und Maria werden zum Politikum dadurch, dass sie von den Königinnen zur Machtausübung funk‐ tionalisiert werden. 21 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick Die Jungfrau von Orleans (1801) Mit der Jungfrau von Orleans beschreitet Schiller einen anderen Weg. Johanna unterliegt einem göttlichen Auftrag, der als solcher vom Text her undeutlich und nur durch Johanna vermittelt bleibt, er ist zumindest nicht als objektive Tatsache autorisiert. Insofern ist es hilfreich, zwischen Sendungsauftrag und Sendungsbewusstsein Johannas zu unterscheiden. Demnach werden in Schillers Stück Bewusstseinsformen vorgestellt, die nicht nach Richtigkeit und Wahrheit befragt werden können, sondern nach Echtheit und Ernsthaftigkeit. Entschei‐ dend ist nicht, ob Johanna tatsächlich einen göttlichen Auftrag zu erfüllen hat, sondern ausschlaggebend ist, dass sie handelt und spricht im Bewusstsein der Tatsächlichkeit, Echtheit und Ernsthaftigkeit dieses Auftrags. Bei Deutungen, welche einzig den göttlichen Auftrag Johannas herausstellen und das Problem der Vollkommenheit des Menschen auf Erden im Text thematisiert sehen, wird leicht ausgeblendet, dass es Schiller um die Darstellung eines Menschen geht, der mit allen Schwächen behaftet ist. Johanna versucht eine anthropologische Negation und scheitert daran. Sie negiert nämlich ihre Geschlechtsidentität und ihre Menschlichkeit. Sie begreift sich selbst so lange als geschlechtslos, bis das Begehren sie zur Verletzung ihres Gelübdes zwingt, wonach sie einen Mann nicht einmal eines Blickes würdigen will. Das verdeutlicht, dass ein Verstoß gegen die Geschlechterordnung auch als ein Verstoß gegen die politisch-gesellschaftliche Ordnung gewertet wird. Das tragische Geschehen entwickelt sich aus dem Versuch heraus, das Begehren auszulöschen und die Geschlechterordnung, die von Johannas Mitfiguren als natürliche Ordnung erfahren wird, umzuschreiben und schließlich die anthro‐ pologische Selbstbestimmung ebenso zu leugnen wie die Geschlechterdifferenz. Durch den Verzicht auf Mitleid als der zentralen anthropologischen Kategorie im Selbstverständnis der Aufklärung verzichtet Johanna auch auf ihr Mensch‐ sein und leugnet ihr Frausein (vgl. V. 2568f.). Die Figur der Johanna veranschau‐ licht also, welche tragischen Konflikte entstehen können, wenn des Menschen Wille ebenso aufgehoben wird wie seine Identität als Geschlechtswesen (vgl. V. 2567). Die Braut von Messina (1803) Schiller greift in der Vorrede zum Stück auf sein ästhetisches Idealisierungs‐ programm zurück. Der Dichter müsse, wie jeder Künstler, einem Ideal nach‐ streben. Zugleich solle er die ästhetische Affizierbarkeit und das Vergnügen der Zuschauer am Theater veredeln. Diese Verschränkung von produktions- und rezeptionsästhetischen Anforderungen kulminiert in einer anthropologischen Begründung, geleitet vom Begriff der wahren Kunst. Deren Funktion bestehe 22 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick darin, „den Menschen […] wirklich und in der Tat frei zu machen“ (FA 5, S. 283). Dies geschehe dadurch, dass Kunst im Menschen das Vermögen wecke und för‐ dere, die Dominanz des Sinnlichen zu brechen und alles Gegenständliche durch Ideen zu überformen. Schiller wiederholt nochmals sein idealistisches Konzept einer Sublimierungsstrategie. Diese Befreiung von der Vorherrschaft des Sinn‐ lichen gestaltet sich als intellektuelle Freiheit des Menschen. Dass dies weniger Empirie beschreibt als vielmehr Programm darstellt, liegt auf der Hand. Diese Zielvorgabe löst der tragische Dichter nun dadurch ein, dass er ein mimetisches Prinzip streng vermeidet, welches sich an Darstellungen des Wirklichen hält. Fürs Drama und für die Theaterinszenierung gilt der Grundsatz: „alles ist nur ein Symbol des Wirklichen“ (FA 5, S. 285). Dieser Symbolcharakter umreißt den Raum des Idealen, der beispielsweise durch die metrische Sprache des Stücks durchschritten wird. Die entscheidende Figuration des Idealen und Träger des Symbolischen aber ist für Schiller der Chor. Er eignet sich am besten dazu, der Gefahr des Mimetischen und Naturalistischen in einer Tragödie zu begegnen, sein Verfremdungspotenzial und seine Symbolkraft können aus Schillers Sicht nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Chor soll „eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen, und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu be‐ wahren“ (FA 5, S. 285). An diesem Punkt ist die oft erhobene Klage, Schillers Weimarer Klassik sei weltabgewandt und apolitisch, sicherlich zutreffend, die Immunisierungsabsicht ist offensichtlich. Allein das Stück Braut von Messina selbst zeigt, dass die Radikalität und damit die Einseitigkeit von Schillers For‐ mulierung aus der Vorrede missverständlich ist, sofern man Schillers anthro‐ pologische Fundierung der Literatur anerkennt. In der Braut von Messina geht es denn auch weniger um begründete Hand‐ lungen, als vielmehr um die Darstellung komplexer seelischer Sachverhalte, die in Hinsicht auf eine kausale Begründung zwar marginal, im Blick auf ihre anth‐ ropologische Bedeutung aber zentral sind. Die Brüder agieren eine Zeichenlehre des Inhumanen aus, auch wenn diese zunächst im Zeichen einer Versöhnung steht. In Wahrheit, und das heißt in der Wahrheit des Textes, aber haben die beiden Brüder gar keine Alternative, sie können sich nicht ernstlich versöhnen, da sie nicht versöhnt werden wollen. Der autonome Wille ist eine Zeit lang abgesenkt in das unbewusste Handeln, und der geringste Anlass reißt die Wunde des Bruderkonflikts, die sich aus Neid und Kränkung speist, wieder auf. Und die Mutter Isabella erliegt von Beginn an einem Trugschluss, sie hält nur die Natur für „redlich“ (V. 361) und dabei ist es doch gerade Natur - an anderer Stelle nennt Schiller dies auch Naturtrieb, Notwendigkeit oder Sinnlichkeit -, welche die Brüder so und nicht anders, nämlich einander feindlich gesinnt, handeln lässt. 23 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick Zudem wird Isabella später erkennen müssen, dass sich in der Natur nichts mit Sinn vollzieht (vgl. V. 2392). Don Cesar wird am Ende ebenfalls diese Redlichkeit beschwören, die sein Handeln und das des Bruders bestimmt hätte, aber unter der Maßgabe der Mutter, nur Natur könne redlich sein, bedeutet dies, die Brüder haben nur naturgemäß, nämlich triebbestimmt gehandelt (vgl. V. 2440). Die Ur‐ sachen dieses Bruderkonflikts erkennt die Mutter in deren frühester Kindheit. Die Brüder hingegen fraternisieren für kurze Zeit und erklären herrschaftsdis‐ tinkt die Diener für die eigentlichen Urheber ihres Zwistes. Don Manuel meint: „Es ist der Fluch der Hohen, daß die Niedern / Sich ihres offnen Ohrs bemäch‐ tigen“, worauf Don Cesar antwortet: „So ists, die Diener tragen alle Schuld! “ (V. 487ff.) Sie seien als Verführte und Betrogene die blinden Werkzeuge fremder Leidenschaft gewesen (vgl. V. 495f.). Nicht unbedeutend ist es also, dass Schiller eine Fürstenfamilie wählt und nicht etwa eine bürgerliche Familie auf den Plan ruft. Selbstsucht, Hass, Unbeherrschtheit und Verletzlichkeit sind Eigen‐ schaften, die den fürstlichen Personen des Stücks allesamt eignen. Die sozial Privilegierten unterliegen genau denselben anthropologischen Zwängen und Handlungsmustern wie die Bürgerlichen. Wilhelm Tell (1804) Die umgekehrte Machtperspektive erprobt Schiller in seinem vorletzten Stück Wilhelm Tell. Das Drama bedeutet trotz aller stofflichen Popularität und der Rücksichtnahme auf den Geschmack des Theaterpublikums keinen Bruch mit den vorhergehenden klassischen Dramen. Schiller selbst sieht sein neues Stück als konsequente Weiterentwicklung der konzeptuellen und poetologischen Überlegungen zur Braut von Messina. In einem Brief an Körner hält er am 15. November 1802 fest: „Sollte es mir gelingen einen historischen Stoff, wie etwa den Tell, in diesem Geist aufzufassen, wie mein jetziges Stück [Die Braut von Messina] geschrieben ist und auch viel leichter geschrieben werden konnte, so würde ich alles geleistet zu haben glauben, was billigerweise jezt gefodert werden kann.“ (NA 31, S. 172f.) Obwohl der Wilhelm Tell auch tragische Mo‐ mente enthält, lässt er sich doch nicht als Tragödie klassifizieren, da der mög‐ liche tragische Held Wilhelm Tell eben nicht tragisch scheitert, sondern am Ende erfolgreich seine Mission beendet. Außerdem umgeht Schiller die klassischen Merkmale der Ständeklausel und der Fallhöhe ebenso wie das poetologische Kriterium der Katharsis. Wilhelm Tell knüpft so gesehen an Schillers Jugend‐ dramen an und vereint mehr Merkmale eines Bürgerlichen Trauerspiels als einer hohen Tragödie, obgleich allein das halbe Hundert der Dramatis Personae auch dieses Kriterium letztlich aushebelt. 24 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick Erst der dritte Akt zeigt Wilhelm Tell als handelnde Hauptfigur. Charakteristi‐ scher Weise wird er in einer häuslichen Szene vorgestellt, die markant das Ende des zweiten Akts kontrastiert. Hedwig, deren Angst Tell ignoriert, ist diejenige Figur, welche das Politisch-Öffentliche mit dem Privaten verbindet. Sie erwähnt den Rütli-Schwur mit dem Vorwurf an ihren Mann, dass er daran beteiligt sei. Tell antwortet mit einem programmatischen Bekenntnis, das eine Schaltstelle des Dramas ist: „Ich war nicht mit dabei - doch werd ich mich / Dem Lande nicht entziehen, wenn es ruft“ (V. 1520f.). Wilhelm Tell ist nicht grundsätzlich apolitisch, sondern es bedarf lediglich eines privat motivierten und initiierten Anstoßes, um ihn zum öffentlichen Handeln zu bewegen. Damit wird die Frage, ob es sich im Stück um einen politisch motivierten Tyrannenmord handelt, der sittlich legitimiert werden kann, oder ob die Motive ausschließlich eigennützigen, weil familiären Gründen entspringen, zweit‐ rangig. Schiller wollte keine staatsrechtliche Abhandlung über die Rechtmäßig‐ keit des Tyrannenmords verfassen, sondern das verallgemeinerbar Tragische in der Figur des Wilhelm Tell wie im Stück selbst hervorheben, das in dem grund‐ sätzlichen Konflikt zwischen privaten Interessen und öffentlicher Verpflichtung gesehen werden kann. Tell ist zwar nicht mehr jener ausschließliche Selbsthel‐ fertypus eines Götz von Berlichingen, der das Recht eigenmächtig in die Hand nimmt. Doch fraglich bleibt, ob sein Handeln tatsächlich von einer demokrati‐ schen Legitimation getragen wird und damit der Mord an Geßler als legiti‐ mierter Tyrannenmord verstanden werden kann. Der ethische Rigorismus Tells - gipfelnd in seiner Empfehlung, Parricida solle zum Papst pilgern und Abbitte leisten - macht die ganze Problematik Tells deutlich, die darin besteht, dass er selbst bis zum Schluss einen öffentlich-politischen Index seiner privat moti‐ vierten Tat ablehnt, er aber gerade dafür von seinen Mitmenschen in Anspruch genommen wird: Er hat sein Haus und damit zugleich das Land verteidigt. Das Private ist in ihm und durch ihn öffentlich geworden. Wilhelm Tell ist in diesem Sinne medial gemacht, durch das Medium der öffentlichen Meinung ist er zu dem geworden, der er tatsächlich nicht ist. Der Wilhelm Tell ist Schillers Versuch, das Modell Weimarer Klassik publi‐ kumsfähig zu machen, es aus der Privatheit des (halb-)höfischen Theaters in die Öffentlichkeit eines Volksstücks herauszuführen. Das Wagnis und der Versuch sind gelungen, wie die Rezeptionsgeschichte des Dramas bis heute zeigt. Die Huldigung der Künste (1805) In Schillers letztem Stück, dem Dramolett Die Huldigung der Künste, wendet der Autor den Blick nochmals auf das grundsätzlich anthropologische Zusammen‐ spiel von Kunst und Kultur. Ein Jüngling fasst in Worte, was Erstaunen erregt 25 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick und was als imaginative Leistung Voraussetzung der ästhetischen Bildung ist. Die sieben Musen-Göttinnen bringen Bilder hervor, und zwar „Bilder, wie wir nie sie sahen“ (FA 5, S. 512). Demnach ist es die Kunst, die eine andere Wahr‐ nehmung generiert, sie macht sehen, was ohne sie nicht zu sehen wäre. Das Stück führt aus, dass sich die Künste dort niederlassen, wo aufrichtige Menschen wohnen. Der Prozess der Kultivierung wird somit mit einem anthropologischen Index versehen. Doch Aufrichtigkeit, das bedeutet Tugendhaftigkeit, ist in der schillerschen Perspektive wiederum abhängig von der Reflexionskraft der Ver‐ nunftideen. Regulative Vernunftideen und moralische Disziplinierung müssen daher Vorleistungen sein für einen kulturellen und künstlerischen Prozess. Kultur wird in der Huldigung der Künste zum Synonym für Kunst, und umge‐ kehrt, die Huldigung der Künste ist eine Huldigung der Kultur geworden. Schiller schreibt 1783: „ich möchte gern in dieser holperichten Welt einige Sprünge machen, von denen man erzählen soll“ (Brief vom 8. Januar 1783; NA 23, S. 60). Neben allem Sprunghaften, das durchaus die Aufmerksamkeit wis‐ senschaftlichen und schulischen Lesens verdient, bildet Schillers Werk aber auch eine erstaunliche Kontinuität aus, die als das zeitlos Aktuelle begriffen werden kann. Versucht man bei allen gerechtfertigten Einwänden gegenüber einem sol‐ chen Verfahren dieses gewaltige Œuvre mit einer Formel zu bilanzieren, so mag es diese sein: Wer sich mit Schillers Werk beschäftigt, erfährt durch Literatur, was der Mensch ist. Und dazu ist es erforderlich, wie Schiller selbst in der Thalia-Vorrede zum Don Karlos im März 1785 formuliert hat, dass „das Werk lebt“ (FA 3, S. 18). 26 1. Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick 1 Vgl. den Faksimilenachdruck Friedrich Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782. Mit einem Nachwort hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Saarbrücken 2009. 2. Anthologie auf das Jahr 1782 Die Anthologie auf das Jahr 1782 entstand ab November 1781 innerhalb kurzer Zeit und erschien im Februar 1782. Sie ist eine direkte Reaktion auf den im September 1781 von dem Stuttgarter Dichter Gotthold Friedrich Stäudlin (1758-1796) herausgegebenen Schwäbischen Musenalmanach Auf das Jahr 1782. Der erst zweiundzwanzigjährige Schiller war über dessen Musenalmanach sehr verärgert, er hielt die darin enthaltenen Gedichte für mittelmäßig und wollte es mit einem eigenen Almanach besser machen. Schiller sammelte Gedichte seines Stuttgarter Freundeskreises, unter anderem von seinem Karlsschullehrer Jakob Friedrich Abel, von Ludwig Friedrich Grub, Friedrich Haug, Friedrich Wilhelm von Hoven, Johann Wilhelm Petersen und Ferdinand Friedrich Pfeiffer. Ob auch Christian Friedrich Daniel Schubart und sein Sohn Ludwig, der seit 1777 Karls‐ schüler - wie Schiller selbst - war, an der Anthologie auf das Jahr 1782 mitar‐ beiteten, ist nicht gesichert. Als Herausgeber war Schiller die treibende Kraft dieses Unternehmens und steuerte auch die meisten Gedichte bei. Im Einzelnen sind dies: Die Journalisten und Minos [S. 1 der Originalpaginierung] 1 , Fantasie / an Laura (S. 7), Bacchus im Triller (S. 12), An die Sonne (S. 16), Laura am Klavier (S. 19), Die Herrlichkeit der Schöpfung. Eine Fantasie (S. 22), Elegie auf den Tod eines Jünglings (S. 26), Roußeau (S. 33), Die seeligen Augenblike / an Laura (S. 38), Spinoza (S. 41), Die Kindsmörderin (S. 42), In einer Bataille / von einem Offizier (S. 49), An die Parzen (S. 54), Der Triumf der Liebe, eine Hymne (S. 58), Klopstok und Wieland (als ihre Silhouette neben einander hiengen.) (S. 68), Gespräch (S. 69), Vergleichung (S. 70), Die Rache der Musen, eine Anekdote vom Helikon (S. 72), Das Glück und die Weisheit (S. 76), An einen Moralisten. Fragment (S. 78), Grabschrift eines gewissen - Physiognomen (S. 81), Eine Leichenfantasie (S. 82), Aktäon (S. 100), Zuversicht der Unsterblichkeit (S. 100), Vorwurf, / an Laura (S. 101), Ein Vater an seinen Sohn (S. 110), Die Messiade (S. 111), Kastraten und Männer (S. 115), An den Frühling (S. 123), Hymne an den Unendlichen (S. 126), Die Gröse der Welt (S. 128), Meine Blumen (S. 132), Das Geheimniß der Reminiszenz. / An Laura (S. 137), Gruppe aus dem Tartarus (S. 147), Die Freundschaft (S. 148), Der Wirtemberger (S. 162), Melancholie / an Laura (S. 166), Die Pest / eine Fantasie (S. 173), Das Mut‐ termal (S. 174), Monument / Moors des Räubers (S. 177), Morgenfantasie (S. 184), An Minna (S. 190), Elisium. / Eine Kantate (S. 196), Quirl (S. 198), Semele, / eine lyrische Operette von zwo Szenen (S. 199), Die schlimmen Monarchen (S. 244), Graf Eberhard der Greiner / von Wirtemberg (S. 251), Baurenständchen (S. 260), Die Winternacht (S. 268). Die Hauptthemen der einzelnen Beiträge sind Liebe, Politik, Religion, Tod, Natur und Kritik an absolutistischer Herrschaft, meist in Form von Oden und Epi‐ grammen, oft in schwärmerischem, häufig in satirischem oder parodistischem Ton verfasst. 48 der insgesamt 83 Gedichte stammen aus Schillers Feder, davon ist die Mehrzahl im Jahr 1781 entstanden. Bis auf wenige Ausnahmen ist sich die Schiller-Forschung heute einig, welche Gedichte - neben dem Kurzdrama Semele - ihm sicher zugeschrieben werden können (vgl. NA 2/ 1, S. 446ff.). Der Schiller-Leser von heute kann die Anthologie auf das Jahr 1782 als eine Art Palimpsest lesen, das Schillers Karlsschulreden und seinen Jugenddramen Die Räuber (1781), Fiesko (1783), Kabale und Liebe (1784) bis hin zum Don Karlos (1787) zugrunde liegt. Der junge Autor erarbeitet sich darin entscheidende anth‐ ropologische und politische Themen seines Werkes, wobei die meisten Texte um Liebe und Macht kreisen. Dabei steht im Mittelpunkt als Leitidee seines Werks die Überzeugung, dass die Literatur ein Medium anthropologischer Selbstrefle‐ xion darstellt und insofern Literatur bedeutet, über den geschichtlichen Men‐ schen nachzudenken. Das spiegelt gleichermaßen die Bedeutung des Menschen für die Literatur und den Nutzen der Literatur für den Menschen wider. Bei‐ spielhaft hierfür stehen folgende drei Textgruppen: Die Laura-Gedichte sind Liebesgedichte, die als selbstständiger kleiner Zyklus gelesen werden können und deren gemeinsamer Bezugspunkt die Poetisierung von Liebe und Leiden‐ schaft ist. Insgesamt sind es neun Gedichte der Anthologie, die auf Laura direkt oder indirekt verweisen: Fantasie / an Laura, Laura am Klavier, Die seeligen Au‐ genblike / an Laura, An die Parzen, Der Triumf der Liebe, Vorwurf / an Laura, Meine Blumen, Das Geheimniß der Reminiszenz / An Laura, Melancholie / an Laura. Die seeligen Augenblike / an Laura ist die leicht geänderte zweite Fassung des Gedichts Die Entzückung / an Laura, das mit Kürzungen 1782 in Stäudlins Schwäbischem Musenalmanach abgedruckt wurde. Schiller selbst war auch später noch von diesem Gedicht begeistert, er bezeichnete 1793 Die Entzückung als eines seiner „fehlerfreyesten“ (NA 26, S. 243) Gedichte aus der Anthologie. Ob als Adressatin tatsächlich Luise Dorothea Vischer (1751-1816), die Witwe eines Stuttgarter Hauptmanns, bei der Schiller zwischen Februar 1781 und Sep‐ tember 1782 zur Untermiete wohnte, betrachtet werden kann, ist nicht zwei‐ felsfrei gesichert. Immerhin rechnete Schiller Luise Vischer noch am 8. Januar 1783 - trotz seiner Verärgerung über eine unbedachtsame Indiskretion ihrerseits - zu seinen „liebsten Personen“ (NA 23, S. 61) und schickte ihr im Herbst sogar 28 2. Anthologie auf das Jahr 1782 2 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 101. 3 Siehe das Kapitel Die Kindsmörderin in diesem Buch. 4 Siehe das Kapitel Die schlimmen Monarchen in diesem Buch. 5 Siehe das Kapitel Semele in diesem Buch. eine Silhouette. Allerdings gibt es von Schiller selbst kein Zeugnis darüber, ob mit der poetischen Laura auch Luise Vischer gemeint sei. Deshalb liegt es nahe, die Laura der Anthologie-Gedichte als ein Phantasma zu verstehen - Schiller nennt dies im Gedicht Vorwurf / an Laura „Glanzfantome“ 2 -, das ein bestimmtes Frauenbild repräsentiert, hoch literarisch konnotiert durch die literaturge‐ schichtliche Anleihe bei Petrarca und seinen Laura-Sonetten, und hoch litera‐ risiert durch Schiller selbst. Die Texte stellen sich in die Traditionslinie emp‐ findsamer Liebeslyrik, die ihre Wurzeln in der anakreontischen Dichtung hat und sich in der thematischen und sprachlichen Darstellung der Bedeutung der Musik, des Bildes der Seelenvereinigung durch einen innigen Kuss, der Dar‐ stellung leidenschaftlicher Gefühle und einer hymnisierenden Metaphorik be‐ dienen. Drapiert mit einem ‚Memento mori! ‘ verbirgt sich in dem Gedicht Me‐ lancholie / an Laura der Aufruf zum sofortigen Vollzug, das ‚Carpe diem! ‘ ist nicht zu überhören. Sprachgewalt, Bilderreichtum und Versgefühl kenn‐ zeichnen diese Texte. Im Triumf der Liebe geht es Schiller um die erfahrungs‐ sprengende Dimension der Liebe, die den Liebenden die Erde zum „Himmel‐ reich“ macht, einen Begriff, den Schiller mit Bedacht aus dem Wortschatz christlich-protestantischen Glaubens wählt. Die Laura-Gedichte sind Liebesge‐ dichte und wie jedes Liebesgedicht besingen sie die Geliebte, ihr Wesen, ihre Art und eben auch ihren Körper und die sehnsuchtsvollen Phantasien. Allein der Begriff der Wollust macht dies deutlich, der in mehrfacher Gestalt in den Texten auftritt. Von dem eindeutigen Zeugungsmoment des Kindes als der „Stunde un‐ srer Wollust“ ist in der Kindsmörderin die Rede und von „Wollustfunken“ wird in den Seeligen Augenbliken gesprochen. Das Gedicht Die Kindsmörderin ist mutmaßlich Ende des Jahres 1781 entstanden und antwortet direkt auf das Ge‐ dicht Seltha, die Kindermörderin (1781) von Stäudlin. 3 Die schlimmen Monarchen sind mutmaßlich um 1780 entstanden. Schiller beschäftigt sich in dieser Le‐ bensphase - er war bis Ende 1780 noch Karlsschüler - intensiv mit dem Thema der Herrschaftskritik. 4 Das Dramolett Semele ist während der Examensvorbe‐ reitungen im Winter 1779/ 1780 entstanden, fällt also unmittelbar mit der Ent‐ stehungszeit der Räuber zusammen. 5 Das Stück erlaubt eine Doppellektüre, die zahlreiche Möglichkeiten zu einer kritischen Intention eröffnet. Der knapp zwanzigjährige Karlsschüler schreibt das Dramolett unter den Bedingungen des Hofes. Der mythologische Stoff, den er aus dem dritten Buch von Ovids Meta‐ morphosen bezieht, erfährt eine entscheidende Änderung gegenüber der Vorlage 29 2. Anthologie auf das Jahr 1782 6 Vgl. Goethe-Jahrbuch 5 (1884), S. 184. in der reichen psychologischen Ausgestaltung der Figur Semele. Schiller belegt sie mit Attributen des erzwungenen sozialen Aufstiegs. Während Semele Gott werden möchte, aber Mensch bleibt, wird der Gott Zeus Mensch, während er Gott bleibt. Die Themen Vergöttlichung des Menschen und die Hybris des Men‐ schen, mehr sein zu wollen, als er ist, lenken den Blick der zeitgenössischen Leser auf den höfischen Absolutismus im Württemberg des 18. Jahrhunderts. Damit erweist sich die Semele als eine Art Kontrafaktur zu Schillers Karlsschul‐ reden, die er dem Herzog und seiner Mätresse an deren Geburtstag vortragen musste. Nach außen hin trägt Schillers Anthologie auf das Jahr 1782 einen publizistischen Wettstreit mit dem schwäbischen Dichterkollegen Stäudlin und seinem Schwä‐ bischen Musenalmanach Auf das Jahr 1782 aus. Denn der Mittelmäßigkeit der von Stäudlin gedruckten Gedichte wollte Schiller mit seiner eigenen Auswahl ein besseres poetisches Muster der schwäbischen Dichtkunst gegenüberstellen. Schiller rezensierte Stäudlins Musenalmanach ebenso wie dessen Auszüge aus einer Übersetzung der Äneis (1781) und seine Vermischten poetischen Stücke (1782). Er sprach Stäudlin rundweg ein eigenes poetisches Gefühl ab, seine Me‐ taphern entsprängen einer mittleren Phantasie, seine Gedanken glichen Äuße‐ rungen im Bierrausch. Schiller versuchte sich mit seiner Rezension als junger Autor im neu entstandenen literarischen Feld Schwabens zu behaupten. Der Eindruck Stäudlins, den er dem Schweizer Johann Jakob Bodmer mitteilte, Schiller gehe es darum, keinen Dichter neben sich zu dulden, war sicherlich zutreffend. 6 Ein anderer Dichterkollege, nämlich der von Schiller ebenfalls arg gescholtene Gottfried August Bürger, sprach anlässlich einer vernichtenden Re‐ zension seiner Gedichte durch den Weimarer Klassiker nicht zu Unrecht von dessen „Herren- und Meistergebärde“ (NA 22, S. 417). Schon kurz nach Erscheinen der Anthologie auf das Jahr 1782 veröffentlicht Schiller Ostern 1782 eine Selbstrezension seiner Sammlung in dem ebenfalls von ihm herausgegebenen Wirtembergischen Repertorium der Literatur (allerdings ist seine Verfasserschaft nicht zweifelsfrei geklärt). Darin heißt es unter anderem: „In der Vorrede wird verhoffentlich über die andern Musensammlungen (doch hie und da nicht mit Unrecht) geschimpft und auf den schwäbischen Almanach, als den Amts‐ bruder, spöttisch geschielt. Der Herausgeber mag dem Herrn Städele nicht hold sein und zupft ihn, wo er kann; mag er Recht haben oder nicht, uns mißfällt diese beider‐ seits läppische Zänkerei. Das Buch wird dem Tod zugeschrieben, und der Autor verrät sich, daß er ein Arzt ist. 30 2. Anthologie auf das Jahr 1782 Die Gedichte selbst sind nicht alle von den gewöhnlichen; acht an Laura gerichtet, in einem eigenen Tone, mit brennender Phantasie und tiefem Gefühl geschrieben, un‐ terscheiden sich vorteilhaft von den übrigen. Aber überspannt sind sie alle und ver‐ raten eine allzu unbändige Imagination; hie und da bemerke ich auch eine schlüpfrige sinnliche Stelle in platonischen Schwulst verschleiert. […] Die schlimmen Monarchen u.s.f. enthalten starke, kühne und wahrpoetische Züge. Zärtlichweich und gefühlvoll sind Die Kindsmörderin, Der Triumf der Liebe […]. In einigen andern […] fällt ein schlüpfriger Witz und petronische Unart auf. Einige darunter sind launisch und sati‐ risch […]. Doch sehr oft ist der Witz auch gezwungen und ungeheuer. Im ganzen sind fast alle Gedichte zu lang, und der Kern des Gedankens wird von langweiligen Ver‐ zierungen überladen und erstickt. Die meisten der Sinngedichte scheinen mehr da zu sein, die Lücken zwischen größern auszufüllen, und sagen nichts. […] Auch merke ich, daß sich ein Verfasser hinter mehrere Anfangsbuchstaben verschanzt hat. […] Viele Stellen sind von edelm Freiheitsgeiste belebt, und feile Lobreden findet man hier nicht. Eine strengere Feile wäre indes durchaus nötig gewesen, und überhaupt unter den Gedichten selbst eine strengere Wahl - aber das Buch mußte eben dick werden und seine achtzehn Bögen haben, was kümmert es den Anthologisten, ob er unter die Narzissen und Nelken auch hie und da Stinkrosen und Gänseblumen bindet? - Dessen ungeachtet hat diese Sammlung manche ihrer Schwestern in Schatten gestellt, und zu wünschen wäre es immer, daß Teutschland mit keiner schlechtern heimgesucht würde. Möchten sich doch unsere junge Dichter überzeugen, daß Überspannung nicht Stärke, daß Verletzung der Regeln des Geschmacks und des Wohlstands nicht Kühn‐ heit und Originalität, daß Phantasie nicht Empfindung, und eine hochtrabende Ruhm‐ redigkeit der Talisman nicht sei, von welchem die Pfeile der Kritik splitternd zurück‐ prellen; […]! Unsere modischen Skribenten wissen gar zu gut, was sie dem gegenwärtigen Geschmack auftischen müssen, um Entree zu bekommen. - Diese An‐ thologie scheint sich jedoch, wenn sie die Absicht, jedermänniglich zu gefallen, hätte, schlimm betrogen zu finden: denn der darin herrschende Ton ist durchaus zu eigen, zu tief und zu männlich, als daß er unsern zuckersüßen Schwätzern und Schwätze‐ rinnen behagen könnte.“ (NA 22, S. 133-135) Später wollte Schiller nichts mehr von den Jugendgedichten der Anthologie auf das Jahr 1782 wissen, deren poetischen Wert er nun für zweifelhaft, gar fehler‐ haft hielt. So urteilt er in der Vorerinnerung zum zweiten Band der gesammelten Gedichte von 1803 über seine Anthologie-Gedichte, sie seien „die wilden Pro‐ dukte eines jugendlichen Dilettantism, die unsichern Versuche einer anfan‐ genden Kunst und eines mit sich selbst noch nicht einigen Geschmacks“ (NA 22, S. 112). 31 2. Anthologie auf das Jahr 1782 7 Vgl. Thomas Mann: Versuch über Schiller (1959), in: Reden und Aufsätze 1. Oldenburg 1966, S. 929. 8 Vgl. Peter-André Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit. München 2000, Bd. 1, S. 236-238, hier S. 236. - Anders der Kommentar zur Entstehungsgeschichte der Semele in: NA 5N, S. 499ff. Die Bearbeiter Pilling und Vonhoff versuchen anhand von Textindizien nach‐ zuweisen, dass das Stück erst nach dem Ende der Karlsschulzeit entstanden sein könne (vgl. S. 501), alles deute auf eine „Entstehung der ‚Semele‘ spät im Jahr 1780“ hin (S. 510). Belege hierfür gibt es freilich nicht. 9 Andreas Streichers Schiller-Biographie. [1836]. Hgg. v. Herbert Kraft. Mannheim 1974, S. 26. 2.1 Semele (1782) Zum Semele-Stoff in der deutschen Literatur liegen - anders als bei anderen mythologischen Stoffen - keine Untersuchungen vor. Insofern ist es schwer abzuschätzen, welche Verbreitung und literarische Rezeption mit den entspre‐ chend produktiven Anverwandlungen das Semele-Mythologem bislang er‐ fahren hat. Ich will mich daher auf Schillers Semele beschränken, jenes frühe Dramolett, dem Thomas Manns erste literarische Liebe galt, 7 gleichwohl ist aber darauf hinzuweisen, dass sich unter anderem auch Jakob Michael Reinhold Lenz und Hugo von Hofmannsthal mit dem Semele-Stoff beschäftigt haben. Schillers Semele ist während der Examensvorbereitungen im Winter 1779/ 1780 entstanden, fällt also unmittelbar mit der mutmaßlichen Entste‐ hungszeit der Räuber zusammen. 8 Schillers Jugendfreund Andreas Streicher be‐ richtet in seinem Schiller-Buch über diese Phase der Schulzeit: „Auch dichtete er, ausser vielen andern Sachen, in diesem Zeitpuncte eine Oper Semele, die so großartig gedacht war, daß, wenn sie hätte aufgeführt werden sollen, alle Me‐ chanische Kunst des Theaters damaliger Zeit, und man darf sagen, auch der jetzigen, nicht ausgereicht haben würde, um sie gehörig darzustellen.“ 9 Veröf‐ fentlicht wurde der Text, von dem keine Handschrift erhalten ist, erstmals in der legendären Anthologie auf das Jahr 1782. Schillers Verfasserschaft gilt in der Forschung als unstrittig, wie man auch aus seinem Brief vom 30. April 1789 an Charlotte von Lengefeld schließen kann. 1800 wurde die Semele in dem Frank‐ furter Raubdruck der Sämmtlichen Gedichte des Buchhändlers Behrens nachge‐ druckt. Daraufhin entschloss sich Schiller, den Text für einen neuen Druck zu bearbeiten. Dies geschah in den Jahren 1800 bis 1803. Dieses Korrekturexemplar aus Schillers Bibliothek, von dem insgesamt 13 Seiten fehlen, steht heute in der Bibliothek der Klassik Stiftung Weimar. Als Textgrundlage für die Korrektur diente Schiller also der Raubdruck. 1807 erfolgte ein Abdruck dieser bearbeiteten Semele im fünften, von Körner herausgegebenen Band der Ausgabe Theater von 32 2. Anthologie auf das Jahr 1782 10 Otto P. Peterson: Schiller in Russland 1785-1805. New York 1934, S. 179. 11 Vgl. dazu die entsprechenden Semele-Lemmata im Großen und im Kleinen Pauly. Zur Ausspracheregelung: Semele wird auf der zweiten Silbe betont. Schiller. In der ebenfalls von Körner besorgten Ausgabe der Sämtlichen Werke (1. Band, 1812) folgte er dieser zweiten Druckfassung. Später wollte Schiller an dieses Jugendwerk nicht mehr erinnert werden. Als Charlotte von Lengefeld am 29. April 1789 ein Exemplar der Anthologie zurück‐ gibt, bemerkt sie dazu: „Semele hat mich auch recht gefreut, es ist gar nicht artig, wie die garstige Juno sie so hintergeht“ (NA 33/ 1, S. 342). Schiller antwortet postwendend am 30. April 1789: „Für die Anthologie danke ich Ihnen recht sehr. Ich lasse einige Gedichte daraus abschreiben. Daß Sie der Semele erwähnten, hat mich ordentlich erschröckt. Mögen mirs Apoll und seine Neun Musen ver‐ geben, daß ich mich so gröblich an ihnen versündigt habe! “ (NA 25, S. 251f.) Weshalb dieses Erschrecken? Warum die Titulierung als Jugendsünde? Betrach‐ tete Schiller nun die Semele als Jugendarbeit ohne künstlerischen Wert oder erinnerte er sich daran, dass die Semele ursprünglich als Parodie, vielleicht sogar als hofkritischer Text angelegt, vielleicht auch aufgeführt worden war? Oder bewegt sich seine Reaktion im Bereich der bloßen Untertreibung der Korres‐ pondentin gegenüber? Das sind Fragen, die sich vollständig nicht mehr beant‐ worten lassen, die aber Anlass zum Nachdenken geben. Wie Schillers Umarbei‐ tung nahelegt, hat er mutmaßlich nicht an eine Aufführung der Semele gedacht, was auch durch den Bericht Streichers bestätigt wird. Dies entspräche im Üb‐ rigen dem ursprünglichen Publikationsort innerhalb der Anthologie. Dennoch wurde, wie Otto Peterson nachweisen konnte, die Semele aufgeführt, „und zwar von den Gruppen leibeigener Schauspieler, die sich der Adel in Rußland auf seinen Gütern hielt und die von einem Gut zum andern zogen. Wie ‚Die Räuber‘ und ‚Kabale und Liebe‘ gehörte ‚Semele‘ zu ihrem Repertoire“. 10 1835 wurde die Semele ins Englische und 1837 ins Italienische übersetzt. Erst am 10. November 1900 erfolgte eine Art Uraufführung in Deutschland durch das Königliche Schauspielhaus in Berlin. Ich werde - den Schiller-Ausgaben des Deutschen Klassiker Verlags und der Nationalausgabe folgend - nach der Erstfassung den Text lesen und zitieren. Mehr oder weniger beiläufige Bemerkungen zu Semele finden sich in einigen antiken Quellen: 11 in Homers Ilias (14, 325), in Hesiods Theogonie (V. 940ff.), in den Bakchen (V. 1ff. u. 88f.) des Euripides - von dem sich Friedrich Hölderlin für sein Fragment Wie wenn am Feiertage (vermutlich 1800 entstanden) inspirieren ließ, das die Zeilen enthält: „So fiel, wie Dichter sagen, da sie sichtbar / Den Gott zu sehen begehrte, sein Blitz auf Semeles Haus / Und die göttlichgetroffne 33 2.1 Semele (1782) 12 Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hgg. v. Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Braungart. Nachwort Bernhard Böschenstein. Stuttgart 2000, S. 205. - Vgl. dazu auch die Arbeit von Yahya A. Elsaghe: Untersuchungen zur Funktion des Mythos in Hölder‐ lins Feiertagshymne. Tübingen 1998. Elsaghe kann nachweisen, dass sich Hölderlin auf Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs Aufsatz Ueber die Begeistrung (1782) bezieht, in dem der Semele-Mythos umgedeutet wird (vgl. ebd., bes. S. 121 u. S. 128). Nebenbei sei er‐ wähnt, dass Händel 1744 ein Oratorium Semele komponierte. 13 Pindar: Oden. Griechisch/ Deutsch. Übersetzt u. hgg. v. Eugen Dönt. Stuttgart 1986, S. 15. 14 P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt u. hgg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 1998, S. 143 (= V. 268). 15 P. Ovidius Naso: Metamorphosen, S. 143 (= V. 270). 16 P. Ovidius Naso: Metamorphosen, S. 143 (= V. 279f.). 17 P. Ovidius Naso: Metamorphosen, S. 143 (= V. 284). 18 P. Ovidius Naso: Metamorphosen, S. 145 (= V. 296, „vox properata“). 19 Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch. Über‐ setzt und mit einem Nachwort hgg. v. Eckart Schäfer. Stuttgart 1972, S. 29 („nescit vox missa reverti“, V. 390). gebar, / Die Frucht des Gewitters, den heiligen Bacchus“ 12 - und in Pindars Olympischen Oden (II, 27). Dort heißt es freilich nur: „Es lebt unter den Olym‐ piern die langhaarige Semele, / die unter dem Krachen des Blitzes starb, Pallas liebt sie für immer / und Vater Zeus, es liebt sie vor allem ihr efeutragender Sohn“. 13 Schillers mythopoetische Vorlage findet sich in Ovids Metamorphosen. Die Geschichte von Jupiter und Semele, auf die sich Schiller mythologisch be‐ zieht, beschreibt Ovid dort im dritten Buch (V. 253-315). Im Wesentlichen sind zwei Momente hervorzuheben: 1.) Bei Ovid ist Semele von Jupiter schwanger. Die Eifersucht der Gattin Juno richtet sich demzufolge nicht nur gegen den Sei‐ tensprung, sondern auch dagegen, dass dieser sichtbare Folgen hat. Sie trage, sagt Juno, „ihren vollen Leib und damit ihr Vergehen zur Schau“, 14 „so viel bildet sie sich auf ihre Schönheit ein! “ 15 Juno verwandelt sich in die alte Amme Beroe und erscheint in dieser Gestalt Semele. Sie beginnt ein Gespräch, und „nach langer Unterhaltung fällt Iuppiters Name“. 16 Beroe alias Juno sät Misstrauen, viele Männer erschienen Frauen unter Götternamen, Semele solle daher einen augenscheinlichen Beweis von Jupiter einfordern, dass er wirklich ein Gott sei, nämlich „eine Umarmung in all seiner Größe und Kraft“. 17 2.) Noch bevor Jupiter Semele die Lippen verschließen kann, hat sie diese Forderung geäußert, „das übereilte Wort“ 18 ist gesprochen. Dies ist übrigens eine Stelle, die sehr an einen Vers der Ars poetica des Horaz erinnert, wo es heißt: „das Wort, das du von dir gabst, kennt keine Rückkehr“. 19 Nun ist Jupiter gezwungen, sein Versprechen einzulösen, nämlich Semele jeden Wunsch zu erfüllen. Um die furchtbare Er‐ scheinung seiner Größe und Kraft zu mildern, wählt er einen leichten Blitz mit weniger Grausamkeit, weniger Feuer und weniger Wut. Doch selbst diese sanf‐ 34 2. Anthologie auf das Jahr 1782 20 Hederichs Gründliches mythologisches Lexicon (1770) bietet außer dem Hinweis, dass Semele von außergewöhnlicher Schönheit gewesen sei, keinen weiteren Anhaltspunkt, wonach Schiller sich bei seiner Ausarbeitung möglicherweise auf den im 18. Jahrhun‐ dert außerordentlich beliebten Hederich hätte stützen können. - Unter der Überschrift ‚Die Eifersucht der Juno‘ schreibt Karl Philipp Moritz in seinem populärsten Buch, der Götterlehre von 1791: „Da Semele, die Tochter des Kadmus in Theben, vom Jupiter den Bacchus gebären sollte, so wußte Juno, unter der Gestalt ihrer Amme, sie mit schwarzem Trug zu überreden, sie solle den Jupiter schwören lassen, er wolle ihr ebenso erscheinen, als wenn er der Juno Bett bestiege. Jupiter erschien ihr in Gestalt des Donnergottes, und Semele ward ein Raub der Flammen; den jungen Bacchus rettete Jupiter und verbarg ihn in seiner Hüfte“ (Karl Philipp Moritz: Werke. Hgg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M., 1981, Bd. 2, S. 655). 21 Christa Vaerst-Pfarr: Semele - Die Huldigung der Künste, in: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hgg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1979, S. 294-315, bes. S. 294-304, hier S. 304. 22 Vgl. auch NA 5N. Diese Ausgabe bietet den Text beider Fassungen in synoptischer Ge‐ stalt. tere Version ist für Semele immer noch todbringend. „Der sterbliche Leib [...] verbrannte an den hochzeitlichen Gaben“ (V. 308f.). Semeles Kind allerdings wird gerettet. Bei Ovid steht die Eifersucht der Frauen im Mittelpunkt, Juno ist eifersüchtig auf Semele, und Semele lässt sich zu einer Art virtueller Eifersucht auf virtuelle Nichtgötter überreden. Semele wird bei Ovid das Opfer einer Frau‐ enintrige. 20 Bei Schiller besteht die entscheidende Änderung gegenüber Ovid gerade in der reichen psychologischen Ausgestaltung der Figur Semele. Schiller belegt sie mit Attributen des erzwungenen sozialen Aufstiegs. Das wirft natürlich sofort die Frage auf, inwiefern Schillers Text auch als eine Allegorie oder gar als Parodie rezipiert werden kann. Betrachten wir zunächst die Forschungssituation. Christa Vaerst-Pfarr ver‐ merkte 1979 in ihrer Semele-Deutung noch, „Einzeluntersuchungen zu Semele konnten nicht ermittelt werden“. 21 Wenn die Forschung überhaupt Semele als eigenständigen Text wahrgenommen hat, dann allenfalls beiläufig in Schiller-Monografien oder den großen Editionen der Vollständigkeit halber. Daran hat sich bis heute so gut wie nichts geändert. 1988 konnte Gerhard Kluge, der Herausgeber des entsprechenden DKV-Schiller-Bandes, konstatieren, dass zur Semele außer dem genannten Aufsatz von Vaerst-Pfarr keine Deutung vor‐ liege (vgl. FA 2, S. 1512). 22 Seine Deutungshinweise erschöpfen sich demzufolge in einem kurzen Referat von Vaerst-Pfarr. Das hat sich inzwischen geändert, aber von einer Semele-Forschung kann man nicht sprechen. So sind lediglich zwei Arbeiten musikwissenschaftlicher Provenienz hinzugekommen. Ludwig Finscher widerspricht in einem Beitrag aus dem Jahr 1990 vehement der Auf‐ 35 2.1 Semele (1782) 23 Vgl. Ludwig Finscher: Was ist eine lyrische Operette? Anmerkungen zu Schillers Se‐ mele, in: Schiller und die höfische Welt. Hgg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 148-155. - Ethery Inasaridse: Schiller und die itali‐ enische Oper. Das Schillerdrama als Libretto des Belcanto. Frankfurt a.M. 1989, S. 39-47, versucht, den Text der Semele nach Arien und Rezitativen zu strukturieren und ihm so eine operettenhafte Struktur einzuschreiben. Allerdings bleibt dies höchst spekulativ, im Wesentlichen stützt sich Inasaridse auf folgende Arbeit: Hermann Fähnrich: Schillers Musikalität und Musikanschauung. Gerstenberg 1977, S. 16-23. 24 Finscher: Was ist eine lyrische Operette? , S. 152. 25 Finscher: Was ist eine lyrische Operette? , S. 155. - Zur musikgeschichtlichen Tradition des Semele-Stoffs vgl. Finscher: Was ist eine lyrische Operette? , S. 152, Anm. 9. 26 Vgl. Matthias Sträßner: Der pantomimische Spiegel. Zu Schillers Semele, in: M. S.: Tanz‐ meister und Dichter. Literatur-Geschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Lessing, Wieland, Goethe, Schiller. Berlin 1994, S. 198-213. 27 Alt: Schiller, Bd. 1, S. 238. fassung, die Semele sei das Beispiel eines deutschen Singspiels. 23 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konkurrierten die Begriffe ‚Operette‘ und ‚Singspiel‘ mit einem weiteren Dutzend anderer Begriffe. Am gebräuchlichsten sei ‚komi‐ sche Oper‘. Schillers Bezeichnung ‚lyrische Operette‘ sei sonst nirgendwo belegt. Mythologische Stoffe seien beim deutschen Singspiel sehr selten. Da Schillers Kenntnis des deutschen Singspiels vorausgesetzt werden dürfe (immerhin gas‐ tierte zwischen Mai und September 1778 die Truppe von Emanuel Schikaneder in Stuttgart), müssten die Textsignale, die sich deutlich vom deutschen Singspiel distanzierten, ernst genommen werden. Finscher kommt zu dem Schluss, dass Schillers Bezeichnung ‚Operette‘ „die Gattungstradition der höfischen ‚sere‐ nata‘“ 24 meine. Semele ist für Finscher eine Oper, die ausschließlich aus Worten komponiert wurde, eine „Wort-Oper“. 25 1994 hat sich Matthias Sträßner aus‐ führlicher und ebenfalls aus musikwissenschaftlicher Perspektive mit Semele beschäftigt. 26 Peter-André Alt äußerte sich im ersten Band seiner Schiller-Mo‐ nografie hierzu, mit der Semele habe Schiller sein erstes literarisches Meister‐ stück vorgelegt. 27 Das mag vielleicht etwas übertrieben sein, aber immerhin schuf Schiller ein eindrucksvolles Gesellenstück. Die Semele ist für die Schiller-Forschung immer noch Tabula rasa. Man betritt wissenschaftliches Neuland, wenn man sich etwas genauer mit diesem Text beschäftigen will. In‐ sofern verstehen sich diese Überlegungen als Beiträge zu einer Kartografie der Semele, wohl wissend, dass in Schillers Maria Stuart Elisabeth zu Davison und mutatis mutandis Schiller zu uns Philologen sagt: „Nichtswürdiger! Du wagst es, meine Worte / zu deuten? Deinen eigenen blutgen Sinn / Hinein zu legen? “ (V. 3982ff.) 36 2. Anthologie auf das Jahr 1782 28 Vaerst-Pfarr: Semele - Die Huldigung der Künste, S. 294. 29 Vgl. C. M. Wieland: Sämmtliche Werke. Reprintausgabe Hamburg 1984, Bd. 26, S. 229-267. Christa Vaerst-Pfarr meint, in der Semele gehe es um „Formen und Wirkung der Repräsentanz des Absoluten in der Welt und um den Dualismus zwischen Ma‐ terie und Geist, Menschlichem und Göttlichem“ und dessen „Versöhnung“. 28 Eine solche Betrachtungsweise negiert allerdings konsequent die Errungenschaften einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft und ergeht sich in fröhlicher Textimmanenz. Der Verzicht auf die Fragen nach den Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen eines Textes lässt insgesamt die In‐ terpretation von Vaerst-Pfarr in eine Schieflage geraten. Denn in Schillers Se‐ mele nach der Emanation des Absoluten in der Welt zu fragen, ist nicht nur unzeitgemäß, sondern methodisch auch problematisch, es beraubt nämlich den Text seiner rezeptiven Ambivalenz. Diese Ambivalenz besteht darin, dass Schiller knapp zwanzigjährig als Karlsschüler unter den Bedingungen des Hofes ein mythologisches Dramolett verfasst, das zahlreiche Möglichkeiten für eine kritische Intention enthält. Denn im Jahre 1779/ 1780 die Themen Apotheose versus Anthropomorphisierung, die Hybris des Menschen, den Griff zur Göt‐ termacht und „Göttersucht“ zu verhandeln, kann nicht ohne Blick auf den hö‐ fischen Absolutismus geschehen. Außerdem kann die Konstellation des Herr‐ schers zwischen zwei Frauen, die klare Bevorzugung der unstandesgemäßen (weil ungöttlichen) Geliebten vor der eigentlichen Ehefrau im Württemberg dieser Jahre nicht ohne Blick auf den Herzog und seine Mätresse Franziska von Hohenheim gelesen werden. Kabale und Liebe und dessen Lady Milford scheinen in der Semele bereits thematisch exponiert zu werden. Betrachten wir den Text genauer. Im Untertitel nennt Schiller die Semele „eine lyrische Operette von zwo Szenen“ (FA 2, S. 787). In der zweiten Fassung heißt es nur noch Semele in zwei Szenen (vgl. S. 809). Die Gattungsbezeichnung lyri‐ sche Operette - für Schiller ausgesprochen ungewöhnlich - weist zumindest auf die Praxis des Singspiels hin, obwohl ein näherer Zusammenhang von Fin‐ scher bestritten wird. Das bürgerliche Singspiel stellte die musikalische und textliche Opposition zur höfischen Oper dar. Die Schiller-Kommentare ver‐ weisen auf die Tradition des deutschen Singspiels, das mit dem ‚Texter‘ Christian Felix Weiße normative Verbindlichkeit erreicht hatte. Wielands Alceste (1773) setzte ebenfalls Maßstäbe und in seinem Versuch über das deutsche Singspiel und einige dahin einschlagende Gegenstände (1775) plädierte Wieland vorbehaltlos für mythologische Sujets. Die Sprache der Götter sei die Sprache der Musik. 29 Musik- und theaterhistorisch gesehen konnte Schiller auf eine reiche Tradition 37 2.1 Semele (1782) 30 Vgl. dazu das außerordentlich materialreiche Werk: Herzog Karl Eugen von Württem‐ berg und seine Zeit. Hgg. v. Württembergischen Geschichts- und Altertums-Verein. Erster Band. Esslingen 1907, darin das 7. Heft, bes. Rudolf Krauß: Das Theater, S. 485ff., und Hermann Abert: Die dramatische Musik, S. 557ff. 31 Vgl. auch die Bemerkung im Kommentar der Nationalausgabe, das Stück sei eine „Per‐ siflage auf die Huldigungsspiele“, es parodiere als „‚Leseoperette‘“ musikdramatische Formen (NA 5N, S. 500). Die Semele sei „eine literarische Kontrafaktur der Huldigungs‐ spiele“ (S. 504). Demgegenüber geht es mir um die Doppelbödigkeit des Stücks, um die Möglichkeit der doppelten Rezeption, die sich weder nur in der Kritik noch nur in der Affirmation erschöpft. 32 Sträßner: Der pantomimische Spiegel, S. 208. 33 Sträßner: Der pantomimische Spiegel, S. 203. am württembergischen Hof zurückgreifen. 30 Insgesamt hat die Arbeit von Sträßner gezeigt, dass die Semele als Musikstück aufs engste mit dem zeitge‐ nössischen höfischen Funktionszusammenhang verflochten ist. Der Text selbst liefert nur fünf Hinweise darauf, dass es sich um ein Singspiel handelt. Zunächst der Untertitel mit der Gattungsbezeichnung, dann in der ersten Szene Junos Arie mit Endreimen und mit in der ersten Strophe vierhe‐ bigen Trochäen (vgl. FA 2, S. 798), die in der zweiten Strophe, zweite Zeile für einen Vers in einen vierhebigen Daktylus übergehen, der metrisch den Inhalt hervorhebt: „Götter gestrudelt der Zauberin zu -“ (FA 2, S. 790). Ferner die ‚Zwischenaktmusik‘ am Ende der ersten Szene, mit „Simfonie“ (FA 2, S. 801) überschrieben. Und in der zweiten Szene unterstreicht Musik die Zaubereien von Zeus, „die Musik begleitet die Erscheinung“ (FA 2, S. 805) und ähnlich lau‐ tend kurz darauf: „Musik begleitet hier und in Zukunft den Zauber“ (FA 2, S. 806). Kein Zweifel also, der Text enthält die Anlage zu einem Libretto - es sei denn, die Singspielattribute dienten Schiller der Camouflage. Was als reines Wortkunstwerk hätte in seiner parodistischen Absicht erkannt werden können, bekommt im vermeintlichen oder tatsächlichen Medium des Singspiels die hö‐ here poetische und höfische Lizenz zur Doppellektüre, als Affirmation und Kritik gleichermaßen. 31 Der Schauplatz von Schillers Semele ist deren Palast in Theben, höfisches Am‐ biente kennzeichnet also Spielort und gespielten Ort (falls Semele jemals aufge‐ führt wurde). Und in diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Sträßner wichtig, der vor allem die pantomimische Tradition am württembergischen Hof für die Semele geltend macht, er bezeichnet sie sogar als eine „Pantomimische Kantate“. 32 Schiller beherzige Wielands moderne Singspielanweisungen - etwa in der gestrafften Handlungsführung -, andererseits versuche das Stück aus der pantomimischen Tradition heraus die Elemente des Barocktheaters (wie bei‐ spielsweise Ausstattung und „extreme Affektdramaturgie“) 33 „mit modernen 38 2. Anthologie auf das Jahr 1782 34 Sträßner: Der pantomimische Spiegel, S. 204. 35 Sträßner: Der pantomimische Spiegel, S. 210. - Anders Alt: Schiller, Bd. 1, S. 237: „die pantomimischen Einlagen [...] besitzen keinen üppigen Zuschnitt“. 36 Wollte man Streichers Mitteilungen und Andeutungen hierzu ernstnehmen, so müsste man, Fähnrichs Argumentation folgend, eine Art von ‚Ursemele‘ annehmen, welche diesen Kriterien der barocken Dramaturgie wesentlich mehr entspräche (vgl. Fähnrich: Schillers Musikalität und Musikanschauung, S. 22). Freilich bleibt dies Spekulation. 37 Vgl. Sträßner: Der pantomimische Spiegel, S. 204. 38 Vgl. Sträßner: Der pantomimische Spiegel, S. 207. 39 Vgl. Sträßner: Der pantomimische Spiegel, S. 208. Ausdruckselementen zu vereinen“. 34 Sträßner sieht in den Regieanweisungen eine „extreme Affektchoreographie und -pantomime“ 35 am Werk. Betrachten wir diese Regieanweisungen genauer, so kommen wir im Hinblick auf die beiden Frauenfiguren und Zeus (Merkur spielt nur eine Nebenrolle) zu folgendem, durch die Regieanweisungen definierten Affektprofil der Figuren: Juno: Heftig entschlossen, mit Würde (FA 2, S. 790); stürzt herein (FA 2, S. 791); spricht rasch (FA 2, S. 792), mit Staunen auffahrend (FA 2, S. 793); schreiend, erschrocken, mit verzweifeltem Geschrei (FA 2, S. 795); schnell, vergessen heftig, faßt sich (FA 2, S. 797); ergrimmt, verlegen (FA 2, S. 798); in der äußersten Ver‐ wirrung und Wut auf und ab rasend (FA 2, S. 799); nachdenklich (FA 2, S. 800); siegjauchzend (FA 2, S. 801). Semele: umarmend (FA 2, S. 791); heftig und vergessen (FA 2, S. 793); stutzend, ängstlich, ohnmächtig (FA 2, S. 795); zitternd (FA 2, S. 796); auffahrend (FA 2, S. 797); leichtfertig lächelnd (FA 2, S. 799); hüpfend, um den Hals fallend, außer sich, begeistert (FA 2, S. 800); wehmütig (FA 2, S. 804); heftig weinend (FA 2, S. 805); umarmend (FA 2, S. 806); froh aufspringend (FA 2, S. 807). Zeus: Zärtlich, majestätisch, sanft (FA 2, S. 804); heftig (FA 2, S. 805); erschro‐ cken schreiend, mit kaltem Entsetzen, grimmig (FA 2, S. 807). Ob also im Stück wirklich eine barocke Affektdramaturgie nachgewiesen werden kann - abge‐ sehen davon, dass allein schon die kammerspielartige personelle Unterausstat‐ tung des Stücks gegen eine barocke ‚Anleihe‘ spräche -, 36 ist mehr als zweifel‐ haft, gehen literaturhistorisch gesehen der Semele doch immerhin die Dramen des Sturm und Drang unmittelbar voraus. Sträßner wertet Schillers Stück als Beispiel für die Metamorphosen bren‐ nender Liebe. 37 Erzählte Pantomime, die szenische Gebärdensprache und die Ballettbühne gingen bei Schiller eine eigenwillige Mischung ein. 38 Diese Form des Sing-Balletts mit eingefügten Arien hatte am württembergischen Hof Tra‐ dition. 39 Sträßner eröffnet eine neue Perspektive mit seinem Hinweis, dass die Verbindung von Wortarien und pantomimischen Arien im Stück die Semele zu einer pantomimischen Kantate mache, die sowohl Bezüge zu den Balletten No‐ 39 2.1 Semele (1782) 40 Paul Stälin: Franziska, in: Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Zeit, S. 79-102, hier S. 86. Stälin konnte unveröffentlichte Akten auswerten. verres als auch zur in Württemberg traditionsreichen, hinter Noverre zurück‐ reichenden Ballettkantate aufwiese. Freilich sei dieser historische Aspekt ein Desiderat umfassenderer Forschung. Hat Schiller diese Operette für eine Aufführung bei Hofe gedichtet oder gezielt für eine Publikation, die ja dann im Rahmen der Anthologie 1782 erfolgte? Die Gattungsbezeichnung lyrische Operette verweist auf die Möglichkeit einer un‐ ernsten Lesart, die Operette speist sich nach zeitgenössischem Verständnis aus der Verbindung von Musik und Komödie. Wäre es nicht vorstellbar, dieses Ko‐ mödienhafte als Schillers Trojanisches Pferd für Parodie und Hofkritik zu be‐ greifen? Im Eingangsmonolog charakterisiert Juno die Rivalin Semele als „Wür‐ merfraß“ und „lackiertes Gesichtchen“ (FA 2, S. 790). Ihr eigenes Herz nennt sie königlich, ihre Ehre sei durch die Nebenbuhlerin verletzt, ihre Autorität als Göttin untergraben. Juno attestiert Semele „Göttersucht“ (FA 2, S. 790). Vom Beginn des Dramoletts an ist also dies das Thema: die Hybris des Menschen, mehr sein zu wollen, als er ist. Dies kann man mythologisch deuten, als nette Göttergeschichte, oder metaphysisch (wie etwa Vaerst-Pfarr) oder ausschließ‐ lich musikhistorisch (wie Finscher und Sträßner) oder literaturhistorisch als Schillers Antwort auf das ‚Götterselbstgefühl‘, die Genieästhetik und den Tita‐ nismus des Sturm und Drang. Oder aber realhistorisch, vergleichsweise allego‐ risch als Anspielung auf die Prätentionen der Franziska von Hohenheim, der Geliebten des württembergischen Herzogs, und auf dessen Mätressenwirtschaft. Rechtmäßig war der katholische Herzog Karl Eugen (1728-1793) mit Herzogin Elisabeth Sophie Friederike von Württemberg (1732-1780) seit 1748 verheiratet. 1774 ging er aber mit der in den Reichsgrafenstand erhobenen protestantischen Franziska von Hohenheim eine morganatische Ehe, eine Ehe linker Hand, ein, die schließlich 1785 auch kirchlich legitimiert wurde. „Am 11. Januar 1785 ließ sich der Herzog im neuen Schlosse zu Stuttgart, nur in Ge‐ genwart der Mömpelgarder Herrschaften, sowie des Staatsministers Grafen von Ux‐ kull und des Hofpredigers Werkmeister, der überhaupt in der Sache sein vertrauter Berater war, als Zeugen durch den Hofprediger Schluß insgeheim, nach dem Zeugnis Herzog Friedrich Eugens vom Juli 1787 ‚zur linken Hand‘, trauen. Franziska bemerkte zu dem Tage in ihr Tagebuch: ‚Der Herzog führte mich dahin, wo ich mein weltliches Glück befestigt sah.‘“ 40 Zu diesem Thema tritt ein zweites, wichtiges hinzu, nämlich das Medium dieser Hybris, das Wort. Denn Juno setzt ihre Rachegedanken, die Abwehr der Hybris, 40 2. Anthologie auf das Jahr 1782 41 Anders Alt: Schiller, Bd. 1, S. 237: Die Semele als herzogliches Auftragswerk könne man ausschließen, „weil in diesem Fall der musikalische Rahmen reicher ausgestaltet worden wäre“. Auch dies bleibt Mutmaßung, solange keine musikwissenschaftlichen Untersu‐ chungen hierüber vorliegen. 42 Zum hier zweifelsohne sehr weit gefassten Begriff der Kontrafaktur vgl. Theodor Ver‐ weyen, Gunther Witting: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bil‐ dender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz 1987. In genau die gegentei‐ lige Richtung gehen Kontrafakturen und Parodien, die sich auf Texte Schillers als Prätexte stützen, vgl. ebd., S. 111ff., sowie die Dokumentation von Joseph Kier‐ meier-Debre, Fritz Franz Vogel (Hg.): Der Volks-Schiller. Gesänge aus der Ludlamshöhle. Pornographische Parodien aus dem Biedermeier. Wien 1995. 43 Johann Heinrich Merck: Briefe. Hgg. v. Herbert Kraft. Frankfurt a.M. 1968, S. 322. mit Worten ins Werk. Die Semele ist insofern auch ein Lehrstück über die Gewalt des Worts und über die Macht dessen, der das Wort führt, also gleichsam eine literarische Drohgebärde des Schülers gegen seinen Landesvater. Schmei‐ chelnde Reden habe Juno sich ersonnen (vgl. FA 2, S. 791), rätselhaft und ge‐ heimnisvoll hingegen empfindet diese Worte Semele (vgl. FA 2, S. 792). Und wer wie Semele politische Klugheit nicht gelernt hat, unterliegt der Verführungs‐ kraft dieser Reden. Dies sind jene Reden, welche die Karlsschüler allesamt zyk‐ lisch verfassten und vor Herzog und Mätresse vortragen mussten. 41 Man könnte sogar so weit gehen und die Semele als eine Art Kontrafaktur von Schillers Karlsschulreden lesen. 42 Dies soll knapp in einem Vergleich der beiden Reden ausgeführt werden. Im ersten Karlsschultext Rede über die Frage: Gehört allzuviel Güte, Leutselig‐ keit und große Freygebigkeit im engsten Verstande zur Tugend? vom 10. Januar 1779 definiert sich Schiller als Lobredner und stellt damit gleich zu Beginn klar, dass er sich einer Textform bedient, die keinen objektiven, wahrheitsgemäßen Bericht erwarten lässt, sondern der Erfüllung einer Pflicht, einer Auftragsarbeit nachkommt (vgl. NA 20, S. 3). Die rhetorische Kompetenz der jungen Karls‐ schüler ist bereits den Zeitgenossen aufgefallen, und das Urteil des Darmstädter Schriftstellers Johann Heinrich Merck (1741-1791) reicht Goethe nicht gerade zur Ehre. Denn Merck schreibt an Herzog Karl August am 20. Oktober 1781: „Ew. Durchlaucht werden in dem Paquete auch eine Abschrifft der Redeübungen finden, die bey Gelegenheit des Geburtstags der Gräfin v. Hohenheim sind ge‐ halten worden. Sie sind ein Meisterstük von Vorstellungs Art, u. Goethe würde noch ein größerer Poet seyn, als er ist, wenn er so etwas componiren könnte.“ 43 Schon im Herbst 1774 hatte der Herzog Schiller beauftragt, Charakteristiken über seine Mitschüler und sich selbst zu verfassen. Darin sollten vor allem die Glaubensfestigkeit, die moralische Gesinnung, die Vorlieben und Abneigungen, ihre Einstellung zur Hygiene und ihr Verhältnis zu den Lehrern beurteilt werden. 41 2.1 Semele (1782) Schiller war dieser Aufgabe mit seinem Bericht an Herzog Karl Eugen über die Mitschüler und sich selbst (1774 entstanden, erstmals 1841 gedruckt) nachge‐ kommen und hatte am Ende vermerkt: „Lassen Sie mich, Durchlauchtigster, vor Ihr Leben Weihrauch bringen“ (NA 22, S. 16). Der Schüler Schiller und der Redner Schiller erledigt einen bestellten Auftrag. Die Adressaten dieser Rede sind in erster Linie der Herzog und seine Geliebte Franziska Gräfin von Hohen‐ heim. Die Liebe zur Glückseligkeit aller Menschen müsse, so die Rede, die Grundlage für tugendhaftes Handeln sein. Schiller definiert Tugend nicht als moralische Haltung, sondern pragmatisch als Tun. Der Verstand müsse jede Neigung daraufhin prüfen, ob sie Glückseligkeit zum Ziel habe. Was also nicht diesem Ziel dient, ist nicht tugendhaft. Schiller bringt es auf die mehrfach wie‐ derholte Formel: „Tugend ist das harmonische Band von Liebe und Weißheit! “ (NA 20, S. 4) Tugend sei Nachahmerin Gottes, Liebe und Weisheit eigne etwas Gottähnliches. Der Umkehrschluss lautet demnach, wer über Liebe und Weisheit verfügt, also tugendhaft handelt, ist gottähnlich. Anders formuliert, Gottähn‐ lichkeit kann nur derjenige oder diejenige erlangen, der oder die tugendhaft handelt. Schiller wolle sich nicht von der „glänzende[n] Außenseite prangender Thaten [...] verblenden“ (NA 20, S. 4) lassen, führt der Text weiter aus. Was demnach Hof und Hofstaat als tugendhaftes Handeln darstellen, muss es bei genauer Prüfung der zugrunde liegenden Motive - Schiller spricht von der in‐ neren Quelle - beileibe nicht sein. Schiller bedient sich einiger Beispiele aus der römischen Antike, um diese Antinomie von äußerem Glanz und innerer, mo‐ ralischer Korrumpierbarkeit und Korruption zu veranschaulichen. Herrsch‐ sucht und Ehrgeiz sind schlechte Ratgeber für tugendhaftes Handeln. Dem Im‐ perator Augustus ruft er zu - und wer wollte ausschließen, dass Schiller nicht auch an den anwesenden württembergischen Duodezfürsten gedacht haben mag: „willst prangen sehen deinen Nahmen im Liede deiner bestochenen Sänger, willst unsterblich werden mit den Unsterblichen! “ (NA 20, S. 5) Hat sich Schiller selbst in seiner Rolle als bestellter Lobredner als ein solcher bestochener Sänger gefühlt? Und ist das nicht schon das Semele-Thema, unsterblich und gottgleich werden zu wollen, genährt aus absolutistischem Geist? „Verlarvtes Laster“ (NA 20, S. 5) ist hier die Quelle der Tugend. Wer weise ist, ist gütig, aber nicht ver‐ schwenderisch, argumentiert Schiller weiter. Auffällig ist, dass er zunächst nicht von Freigebigkeit, sondern von Verschwendung spricht. Eben jenem Herzog wurde aber eine ausgeprägte Verschwendungssucht bescheinigt, die ihn zu al‐ lerhand politischen und ökonomischen Bündnissen zwang. Allzu große Güte und allzu große Leutseligkeit seien nicht tugendhaft, heißt es im Text. Wenn ein „Reicher“ sich großzügig zeigt, so bedeutet dies noch lange nicht, dass er mit 42 2. Anthologie auf das Jahr 1782 44 Tagbuch der Gräfin Franziska von Hohenheim späteren Herzogin von Württemberg. Faksimile-Ausgabe mit einem Vorwort v. Peter Lahnstein. Reutlingen 1981, S. 14. einer tugendhaften Absicht handelt; und über die Leutseligkeit entscheidet nicht der Geburtsadel, sondern - Schiller ist an diesem Punkt seiner Rede ausgespro‐ chen offensiv - der „Seelen-Adel“ (NA 20, S. 6). Güte, Leutseligkeit und Freige‐ bigkeit ohne Seelen-Adel machen die Menschen nicht „bestmöglich glüklich“ (NA 20, S. 7). Schillers entschiedene Schlussfolgerung: „Ich verwerffe sie gantz - Sie ist nicht Tugend! “ (NA 20, S. 7) Dann vollzieht Schiller eine signifikante Wendung. Er stellt die rhetorische Frage, was eine tugendhaftere Tat darstellen könne, als die Jugend zu bilden. Die Antwort bleibt unausgesprochen, der Text hat sie vorweggenommen. Liebe und Weisheit bete er an, sechsmal wiederholt er diese Apotheose von Weisheit, Liebe und Tugend. Der Abschluss der Rede führt die allgemeinen Überlegungen mit den beiden angesprochenen Personen zusammen. Hatte Schiller zu Beginn der Rede klargestellt, dass er als bestellter Festredner agiere, so gewinnt diese Schlusspassage fast schon parodistische Züge. „Nicht mit der schaamrothma‐ chenden Heuchelrede kriechender Schmeicheley“, sondern „mit der offnen Stirne der Warheit“ (NA 20, S. 7) könne er sprechen. Doch Lobrede kennt nach dem Maßstab dieser Karlsschulrede keine Wahrheit. Also ist das, was Schiller zum Schluss sagt, die Unwahrheit. Es ist die Kontrafaktur zur Realhistorie. Franziska wird als Menschenfreundin gefeiert, Herzog Karl Eugen als größter Kenner und Freund der Tugend. Dies heißt im Klartext, er ist nicht der Tugend‐ hafte, sondern er bedient sich der Attribute von Tugendhaftigkeit, die aber äu‐ ßerlich bleiben. Das Gleiche gilt für Franziska von Hohenheim. Angebetet, ver‐ ehrt wird nur die Tugend, nicht aber diejenigen, die sich selbst für tugendhaft halten. Geschminkte Tugend habe Karl nie geblendet, sagt Schiller. Karl und Franziska seien „beedes Nachahmung der Gottheit! “ (NA 20, S. 9) Die Apotheose des Fürsten und seiner Mätresse steht vor der Tür. Die Zuhörer wissen es besser, auch dies ist fast schon ein Affront, gekleidet in eine Lobrede und insofern mit höfischer Etikette verträglich, da sie die Doppellektüre erlaubt, als affirmativer und als kritischer Text. Und genau dieses Schreibverfahrens bedient sich Schiller auch in der Semele. Franziska von Hohenheim beschreibt übrigens in ihrem Tagebuch sehr prä‐ zise den Verlauf jener Geburtstagsfeier. Vor vier Uhr in der Frühe wurde sie geweckt, um sieben Uhr sollte sie aufstehen, „mit zidernden Fiesen u. mit Angst auf den heidigen Tag“. 44 In einem Zimmer war unter einem Tempel ein silbernes Service aufgestellt, „15 Von die Junge leide in der academie haben die Girrlanden, die angemachtwahren, gehalden, wordurch ich gehen muste; [...] ich war gantz 43 2.1 Semele (1782) 45 Tagbuch der Gräfin Franziska von Hohenheim, S. 15. 46 Tagbuch der Gräfin Franziska von Hohenheim, S. 15. 47 Tagbuch der Gräfin Franziska von Hohenheim, S. 16. beteibt von aller der Gnadt Ihro Durchleicht u. konde Ihnen kein word von den rierungen meines Hertzens sagen“. 45 Danach zog sie sich um, die Sprach- und Wortlosigkeit blieb. Die Festgesellschaft bestieg die bereitstehenden Kutschen, „nach deme von der academie u. Ecol angeredet wurde u. mir von Ihnen Ferse übergeben wurden; [...] ich konde Kein word mer sagen. [...] sprechen konte ich niechts. Wie dieses zu End wahr, so fuhr man in die academie, wo zuerst frie gestiegdt wurde und dan mit einer allerliebsten Fete surpreniert wurde“. 46 „[...] dan geng es zu dem Essen von der academie, wo zu vor noch von dem Elev. Schieller eine Rede im Examinacions Sahl gehalden wurde“. 47 In der zweiten Karlsschulrede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet vom 10. Januar 1780 knüpft Schiller direkt an den Inhalt der ersten Rede an, ja, noch mehr, er arbeitet deren Inhalt schlicht um. Darin mag man ein Motiv der Lust‐ losigkeit erkennen, nun schon zum zweiten Mal als bestellter Festredner agieren zu müssen. Vielleicht liegt aber auch ein Moment des Protestes darin, denn der Herzog gab eigenhändig das Thema der Rede vor: Die Tugend in ihren Folgen betrachtet. Nur Tugend mache den Menschen zum „Abglanz der unendlichen Gottheit“ (NA 20, S. 30), eröffnet Schiller die Rede. Die Folge tugendhaften Han‐ delns sei die Übereinstimmung zwischen der Vollkommenheit des Gemeinwe‐ sens und der individuellen Glückseligkeit. Unter dieser Vollkommenheit kann man durchaus auch den aufgeklärten Perfektibilitätsgedanken erkennen, wo‐ nach die zunehmende Vervollkommnung des Menschen als politischer Auftrag verstanden wird. Individuelles Glück und soziales Glück gehören für Schiller untrennbar zusammen. Die Adressaten dieser Rede sind wiederum Herzog Karl Eugen und Franziska von Hohenheim. Das „Band der allgemeinen Liebe“ (NA 20, S. 32) halte den Einzelnen und die Gemeinschaft zusammen. Dann spricht Schiller den Herzog verdeckt, aber deutlich an. Er thematisiert die Redesituation, das Alter des Redners und das Alter des Zuhörers. „So kann das Jugendliche Feuer eines brausenden Geists durch den bedachtsamern Ernst des reifern Manns milder und mäsiger werden. So kann der ersterbende Trieb zur Tugend in diesem durch die wärmere Tugendliebe in jenem in neue Flammen auflodern“ (NA 20, S. 33). Heißt das nicht, dass die Tugendhaftigkeit des Herzogs zu wün‐ schen übrig ließ? In einer Kette von konditionalen Sätzen führt Schiller weiter aus, dass der Fortschritt der Aufklärung nur dann eine Chance habe, wenn ent‐ sprechend geeignete und gebildete Männer auf den Thronen sitzen und Gesetze machen. Dieses einschränkende ‚wenn‘ mag wiederum hervorheben, dass kein Anlass zu der Annahme besteht, dies sei bereits historisch gesehen der Fall. Auch 44 2. Anthologie auf das Jahr 1782 48 Friedrich Strack: Schillers Festreden, in: Schiller und die höfische Welt. Hgg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 111-126, hier S. 114. Auch an anderer Stelle zeichnet Strack ein positives Bild sowohl des württembergischen Herzogs als auch des Verhältnisses Schillers zum Herzog, das von Dankbarkeit ge‐ kennzeichnet gewesen sei, vgl. Friedrich Strack: Ein Herold höfischer Musen. Schiller in der Karlsschule, in: Christoph Jamme u. Otto Pöggeler (Hg.): „O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard“. Politik, Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800. Stuttgart 1988, S. 187-203. 49 Strack: Schillers Festreden, S. 114. hier erweist sich die Textsorte der Festrede als Medium der Doppellektüre, denn der Herzog konnte darin keine Kritik erkennen, hat er doch immerhin diese Festrede zuvor im Wortlaut gekannt und ausgewählt. Die Rhetorik des Konditionals setzt Schiller wenig später fort. Er stellt Fragen, die mehr sind als nur rhetorische Fragen, die Antworten bleiben aber aus. Der Fürst sei „Nachamer der Gottheit auf Erden“ (NA 20, S. 34). Der absolutistische Herzog wird dies gerne gehört haben, für Schiller liegt möglicherweise die Ironie des Worts oder die parodistische Absicht in der Einschränkung auf die Nach‐ ahmung. Mit dem Weisen, der „in bodenlosen Kerkern“ (NA 20, S. 35) schmachte, könnte Schiller auf Schubart angespielt haben, der auf dem Hohenasperg ohne Prozess und Urteil gefangen gehalten wurde. Die inneren Folgen der Tugend wären allein so groß, dass sie selbst diesen Gefangenen glückselig machten. Wenn aber der Gefangene tugendhaft ist, dann kann doch derjenige, der ihn gefangensetzt, nicht auch tugendhaft gehandelt haben. Die Kritik am politischen Handeln des Herzogs ist offenkundig, sie zu erkennen setzt aber die Verweige‐ rung einer affirmativen Lektüre der Rede voraus. Und schließlich deren Ende: Schiller bescheinigt lediglich Franziska diese innere Ruhe tugendhaften Han‐ delns, nicht dem Herzog selbst. Auch dies kann als Zeichen des Protestes, als eine Aufforderung an Franziska verstanden werden, ihren Einfluss auf den Herzog geltend zu machen, auf ihn tugendhaft einzuwirken und so zum noch keineswegs erreichten allgemeinen Glück und zur Wohlfahrt des Gemeinwesens beizutragen. Insofern ist es falsch, diese Festreden so zu charakterisieren, als seien sie „Schulaufgaben, sachliche Erörterungen eines philosophischen Themas (der Tugend), das mit einer Huldigung zu verbinden war“. 48 Auch wenn man den „synkretistischen Charakter“ der Texte betont, die zwischen „huma‐ nistischer Schulrede und höfischer Festrede“ hin und her schwanken und sich dabei zu „Redekunststücken“ 49 mausern, so lässt sich nur schwer vorstellen, wie sich ein historischer Text jenseits historistischer Emphase als ein Redekunst‐ stück erweisen kann, das doch gerade von seinem situativen Charakter lebt. Die durchaus zutreffende Deutung, die Karlsschulreden seien schmeichlerische Ver‐ 45 2.1 Semele (1782) 50 Vgl. Helmuth Kiesel: ‚Bei Hof, bei Höll‘. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979, S. 234ff. 51 Strack: Schillers Festreden, S. 122. - Vgl. auch Martina Eicheldinger: Rhetorische Ele‐ mente in den Reden der Karlsschüler auf Franziska von Hohenheim (1779), in: Schiller und die höfische Welt. Hgg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 94-110. Eicheldinger sieht eine „doppelte Zielsetzung“ in den Fest‐ reden von den Karlsschülern verfolgt: „Sie wollen zum einen Franziska verherrlichen, zum andern aber auch sich selbst und ihre Zuhörer für die Tugend begeistern, als deren vollendete Verkörperung die Gräfin von Hohenheim gefeiert wird“ (ebd., S. 105). Wer so argumentiert, geht allerdings der Affirmativität des Textes auf den Leim und erkennt im aufgeklärten Absolutismus Karl Eugens das „Wunschbild einer patriarchalischen Idylle“ (ebd., S. 108). 52 Andreas Streichers Schiller-Biographie, S. 233. 53 Friedrich Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782. Mit einem Nachwort hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Saarbrücken 2009, S. XIV. brämungen der herzoglichen Mätresse, 50 wurde mit dem Einwand zurückge‐ wiesen, dies entbehre „jeder sachlichen Einschätzung“. 51 Schillers Freund And‐ reas Streicher überliefert den Schluss eines Epigramms von Schiller, das - wenn man es denn als Zeugnis des Dichters gelten lassen will - ein helles Licht auf diese Debatte wirft. Schiller soll es im Winter 1783 geschrieben haben, als der württembergische Herzog mit seiner Mätresse Franziska durch Sachsen reiste: „Was ihr an Reitz gebricht / hat sie an Diamanten“. 52 Schließlich lässt sich der Nachweis, die Semele stelle eine Kontrafaktur zu den Karlsschulreden dar, auch durch das philologische Gebot der Kontextualisierung führen. Dazu ist es aber erforderlich, sich den Werkkontext der Anthologie als den ursprünglichen Publikationsort der Semele genauer anzuschauen. Leider geht in den Schiller-Editionen dieser wichtige Aspekt dadurch verloren, dass die Anordnung der Texte gattungssystematisch erfolgt. Ich stütze mich im Fol‐ genden deshalb auf den Reprint der Anthologie von 2009. Die Semele ist dort auf den Seiten 199 bis 243 abgedruckt, unterzeichnet mit dem Kürzel ‚Y‘. Die Seite 243 ist nur zur Hälfte mit dem Schlusstext der Semele belegt. Die andere Hälfte gibt das fünfzeilige Gedicht Die Büchse der Pandora wieder, eines jener Sinnge‐ dichte, von denen Schiller in seiner Selbstrezension der Anthologie sagt, sie „scheinen mehr da zu sein, die Lücken zwischen größern [sc. Gedichten] aus‐ zufüllen, und sagen nichts“. 53 Unmittelbar danach Seite 244 bis 250 folgt Schillers Gedicht Die schlimmen Monarchen. In der Forschung wird Karl Eugen als Ad‐ ressat nicht in Frage gestellt. Dieses Gedicht zählt zu den kritischsten, politi‐ schen Gedichten Schillers überhaupt. Es enthält außerdem eindeutige Querver‐ bindungen zur Semele und zu den Karlsschulreden. Die Fürsten werden als 46 2. Anthologie auf das Jahr 1782 54 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 244. 55 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 248. 56 Vgl. Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 246, wo die Begriffe „Würmer“, „Moder“, „Todenkasten“ gebraucht werden. 57 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 247. 58 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 245. 59 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 245. 60 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 239. 61 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 230. „Erdengötter“ 54 und „Gottes Riesenpuppen“ 55 bezeichnet. Das Thema der Apo‐ theose, also das Semele-Thema, dem das Todesmotiv mit all seiner barocken Morbidität antithetisch entgegengesetzt ist, 56 klingt auch in diesem Vers an: „Wie des Volkes wilde Vivat euch vergöttern! “ 57 Der Dichter selbst nennt sich einen „Rudersklaven“, 58 der sich über bestelltes Lob empört, wo die Aktualität der Ereignisse nach unnachsichtiger Kritik ruft. Als eine direkte Anspielung auf die Prunksucht Karl Eugens und dessen pompöse Opernaufführungen in Ludwigs‐ burg kann der Vers „Wo in mystisch Dunkel eingemummt / Euer Spleen mit Donnerkeilen tändelt“ 59 gelesen werden. Möglicherweise sind diese Worte aber auch ein Reflex auf das zuvor abgedruckte Dramolett Semele. Semele spricht dort zu Zeus, im Klartext also Franziska von Hohenheim zu Karl Eugen: „Ein thöricht Mädchen deine Semele Die von dem Donnerer geliebet, nichts Von ihm erbitten kann - “. 60 Zuvor zitiert Zeus einen Vergleich aus der Rokokolyrik: „Was Allmacht, Ewigkeit, Unsterblichkeit, ein Gott? Ohne Liebe? Der Schäfer, der an seines Stroms Gemurmel Der Lämmer an der Gattinn Brust vergißt, Beneidete mir meine Keile nicht“, 61 womit die Donnerkeile als mythologische Machtinsignien gemeint sind. Die all‐ umfassende Liebe, schon in den Karlsschulreden expositorisch hervorgekehrt, besetzt hier in Schillers kritischer Wertehierarchie den ersten Platz. Auf Macht könne, ja müsse zugunsten der Liebe verzichtet werden, das ist eine deutliche Anspielung auf die Mätressenwirtschaft des Herzogs. Im Medium des kritischen Gedichts geht Schiller noch einen Schritt weiter; der Spleen mit Donnerkeilen kann die Narrheit pompöser Operninszenierungen meinen, vom mystischen Dunkel wäre dann durchaus auch die Semele betroffen. Ist dies ein Hinweis darauf, dass Schiller das Dramolett ebenfalls als Auftragsarbeit geschrieben 47 2.1 Semele (1782) 62 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 249. 63 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. XIV. 64 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 250. 65 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. XIV. hatte, es dann aber aus welchen Gründen auch immer nicht zu einer Vertonung und Aufführung gekommen war? Dies könnte zumindest Schillers erschreckte Reaktion auf den eingangs zitierten Brief Charlottes von Lengefeld erklären, er wollte nicht mehr an seine Rudersklavenexistenz erinnert werden. Die Verse der vorletzten Strophe schließlich können direkt auf das Verspre‐ chen Herzog Karl Eugens bezogen werden. An seinem fünfzigsten Geburtstag am 11. Februar 1778 hatte er das feierliche Gelübde abgelegt, seinen Lebens‐ wandel von nun an zu ändern. Das Gelübde wurde öffentlich von den Kanzeln verlesen. Schillers Kommentar dazu: „Ihr bezahlt den Bankerott der Jugend / Mit Gelübden, und mit lächerlicher Tugend, / Die - Hanswurst erfand“. 62 Keine Rede ist mehr davon, wie etwa in den Karlsschulreden, dass Herzog und Geliebte vorbildhafte Muster individueller und öffentlicher Tugendhaftigkeit seien. Die Karlsschulreden waren, dies lässt sich nun unter dem Blick dieses Gedichts sagen, gekaufte Reden, die bereits einen Subdiskurs als die Offerte zur Doppel‐ lektüre enthielten. Dieses ästhetische Verfahren der Doppellektüre setzt Schiller im mythologischen Gewand in der Semele fort und legt sich auf eine rezeptive Eindeutigkeit erst im Gedicht Die schlimmen Monarchen fest. Hier finden sich keine „feile[n] Lobreden“, 63 wie er in der Selbstrezension schreibt. Als Drohung sind denn auch die Schlussverse zu verstehen: „Aber zittert für des Liedes Sprache, Kühnlich durch den Purpur bohrt der Pfeil der Rache Fürstenherzen kalt“. 64 Schiller hat sich mit diesem Gedicht gerächt und dies dann literarisch in den Räubern und in Kabale und Liebe fortgesetzt. Die Rache indes war in den Reden und der Semele schon vorbereitet. Schiller praktiziert damit das, was ich als das ‚Schreiben linker Hand‘ bezeichne, und ahmt dadurch seinen Landesvater höchst parodistisch nach, der neben seiner rechtmäßigen Ehe eben auch eine Ehe linker Hand mit Franziska von Hohenheim führte. In den öffentlichen Text der Festrede oder der Operette ist der private Text der Hofkritik, „von edelm Freiheitsgeiste belebt“, 65 eingeschrieben. Diesen kritischen Subdiskurs zu ent‐ decken erfordert eine mikrologische Lektüre. Die Schiller-Forschung hat bislang diese Texte affirmativ gelesen, als Zugeständnis des jungen Dichters an den pathetischen Ton der Zeit, oder ausschließlich instrumentell, als Zeugnis eines beeindruckend souveränen Umgangs mit handwerklichen Mitteln der rhetori‐ 48 2. Anthologie auf das Jahr 1782 66 Vgl. Gerhard Friedl: Die Karlsschüler bei höfischen Festen, in: Schiller und die höfische Welt. Hgg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 47-76. Friedl erkennt zwar den höfischen Anlass der Semele, doch vermag er dieser Erkenntnis keine Weiterführung abzuringen, obwohl er in seinem Aufsatz auf die „kri‐ tisch-satirische Haltung gegenüber dem Leben am Hof und den Höflingen“ (S. 70) eines anderen Textes von Karlsschülern hinweist. 1780 erschien dieser Text in Stuttgart unter dem Titel: Vorzüge der Einsamkeit. Eine festliche Unterredung auf den 10. Jenner 1780 als das Geburts-Fest der Hochgebohrnen Frau Francisca, Reichs-Gräfin von Hohenheim, Auf Höchsten Befehl Sr. Herzoglichen Durchlaucht, dem Druck überlassen. Die Verfasserfrage ist ungeklärt. schen Tradition. Beide Lesarten verstellen den Blick auf die Widerborstigkeit der Substruktur des Textes. 66 Durch geschickte Dialogführung, durch Schmeicheleien und Komplimente ge‐ lingt es Juno in der Semele schließlich, Semele selbst zu dem Bekenntnis zu ver‐ leiten: „Zeus liebt mich! “ (FA 2, S. 793) Oder ist es vielleicht eine trotzige, viel‐ leicht beschwörende Behauptung, wenn man die stumme Rhetorik des Ausrufezeichens berücksichtigt? Es ist jedenfalls Semeles Antwort auf Junos Hinweis, dass Semele großen Einfluss auf Zeus habe. Und es ist jene Aussage, die Juno aus dem affektiven Gleichgewicht bringt. Aufbrausend und erstaunt ruft sie aus: „Ha! Ist es wahr? “ (FA 2, S. 793) Bereits zum vierten Mal bedient sich Juno dieser Interjektion, dies unterstreicht ihr großes Affektpotenzial, ja ihre Aggressionsbereitschaft, die sie in das Gespräch von Anfang an mit ein‐ bringt. Und bis sie aus dem Stück wieder verschwindet, wird sie sich dieses Ausrufs noch sechsmal bedienen. Auf Semeles Bekenntnis von Zeus’ Liebe folgt eine regelrechte Travestie pet‐ rarkistischen Frauenlobs. Semele besingt in metrischen Endreimen, also in strenger Form, Jupiters Aussehen: Haare, Schwanenhals, Blick, Gesicht, Gang und Stimme werden metaphernreich beschrieben (vgl. FA 2, S. 794). Juno schürt Misstrauen, als Gott erscheinen könne jeder Sterbliche. Sie drängt Semele, von Zeus ein Zeichen seiner göttlichen Allgewalt, nämlich Donner, zu verlangen. Ihre Suggestivkraft lenkt sie über die scheinbare Solidarisierung mit Semele als der mutmaßlich Betrogenen. Für einen Moment findet eine fiktive Umkehrung des Rollenspiels statt. Semele erscheint plötzlich als Betrogene, und Juno hilft ihr dabei, Gewissheit zu erlangen. „Itzt müssen wir’s erfahren! [...] wollen wir ihn nicht / Versuchen Semele? “ (FA 2, S. 796; Hervorhebung M.L.-J.) Und ihre Strategie hat Erfolg. Semele klagt: „Ach! Er ists nicht! “ (FA 2, S. 796) Anders als Kleists Alkmene, welche die Entdeckung, sie habe die Nacht nicht mit ihrem Mann, vielmehr mit Zeus verbracht, nur mit einem einsilbig vielsagenden ‚Ach‘ kommentiert, ist Semele am Ende von Junos Überredungskünsten durchaus 49 2.1 Semele (1782) überzeugt und bedarf der Klarheit. Sie beschließt, Zeus müsse sich ihr als Gott zu erkennen geben, und sie beschließt damit zugleich ihren Untergang. Nun tritt neben das Misstrauen ein zweites, wichtiges Motiv. In einem plötzlichen Wechsel eröffnet Juno Semele die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Dies ist der Augenblick der Hybris, der willentlichen, selbstinszenierten Apotheose Se‐ meles. Sie möchte in den Götterhimmel aufrücken, und Juno bestätigt: „Götter, Götter, werden sich vom Himmel neigen, / Götter vor dir niederknien, / Sterb‐ liche in demutsvollem Schweigen / Vor des Riesentöders Braut sich beugen“ (FA 2, S. 799). Auch diese Verse sind wieder gereimt, wodurch die Bedeutung der Textpassage im Gesamt der dramatischen Handlung hervorgehoben wird. In Marmortafeln wird man von Semele berichten und auf Altären wird ihr geopfert werden, malt Juno aus, die Sterbliche wird vergöttert, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Liegt es da nicht nahe, nach den absolutistischen Bezugs‐ punkten dieses Mythologems zu fragen? „Ich Glücksel’ge! vom Olympus neigen / Werden sich die Götter, vor mir niederknien / Sterbliche in demuts‐ vollem Schweigen - -“ (FA 2, S. 800), anakoluthisch endet der Vers, der Junos falsche Prophetie durch Semeles Mund wiederholt. Die Apotheose gerät zum Sinnbild des sozialen Aufstiegs. In der zweiten Szene des Dramoletts tritt Zeus auf. „Semele! Ich bin dein Zeus! “ (FA 2, S. 803), sagt er schon, bevor er überhaupt danach gefragt wird. Das göttliche Männerwort formuliert einen klaren Besitzanspruch. Zeus eröffnet nun nach Hybris und Wort das dritte Thema des Textes: die Liebe, er stellt die Frage: „was ist [...] ein Gott? / Ohne Liebe? “ (FA 2, S. 803) Ebensowenig, wie Semele sagte, dass sie Zeus liebe, bekennt Zeus, dass er Semele liebt. Sein Wort ist ambivalent, es kann heißen, dass ein Gott nur Gott ist, wenn er selbst liebt, es kann aber auch bedeuten, dass ein Gott nur Gott ist, wenn er Liebe erfährt. Und exakt diese Haltung verschafft sich kurz darauf Gehör. Für Zeus ist die Frau die Krönung seiner Schöpfung, der Künstlergott solle angebetet werden, der die Frau erschuf. Die richtige Schlussfolgerung daraus lautet: „Zeus betet an vor Zeus, der dich erschuf! “ (FA 2, S. 803) Während es Semele um ihre Apotheose geht - am Ende bekennt sie, nur Götter könne sie lieben (vgl. FA 2, S. 805 u. S. 806) -, geht es Zeus um Selbstbestätigung durch die Identifikation mit seinem Werk. Diese Selbstbespiegelung aber erfährt er nur in Menschengestalt. Auch hier zeigt sich Schillers dramaturgische Raffinesse. Während Semele Gott werden möchte, aber Mensch bleibt, wird der Gott Zeus Mensch, während er Gott bleibt. Seine Anthropomorphisierung zeitigt das gleiche Ergebnis wie Se‐ meles versuchte Apotheose, sie scheitert. Semele bleibt Mensch, Zeus bleibt Gott. Ein Rollentausch ist ausgeschlossen. Als Gott kann er sich Semele, die dies von ihm einfordert, nur mit den Insignien seiner Macht offenbaren und diese 50 2. Anthologie auf das Jahr 1782 67 Alt: Schiller, Bd. 1, S. 238. 68 Die Nationalausgabe lässt diese Textstelle unkommentiert, vgl. NA 5N, S. 234. sind „Tod und Verderben“ (FA 2, S. 806). Semele hat die Freiheit des Willens, noch auf diese Machtdemonstration zu verzichten und ihrem Herzen zu folgen. Zeus erkennt, worauf sich Semele einlassen wird, er bietet ihr an, selbst ganz Mensch zu werden: „Mensch unter Menschen [...] - Ein Wink von dir! Ich bins! “ (FA 2, S. 806) Doch Semele will nicht, dass Zeus Mensch wird, sie möchte lieber Gott werden. Ob Semele am Ende tatsächlich stirbt, bleibt aus Schillers Per‐ spektive offen. In der Regieanweisung heißt es lediglich „sie geht ab“ (FA 2, S. 808). Ihren Tod mutmaßen kann also nur, wer über die historische Kenntnis des Mythos verfügt. In der Schlusspassage spricht Zeus nach Semeles Weggang die Worte: „Nein! triumphieren soll sie nicht - Erzittern Soll sie - und kraft der tödenden Gewalt, Die Erd und Himmel mir zum Schemel macht, Will an den schroffsten Felsen Thraziens Mit diamantnen Ketten ich die Arge schmieden“ (FA 2, S. 808). Schiller entwirft damit eine Variante zum ovidschen Mythos, Semele wird so zum „weiblichen Prometheus“. 67 Vielleicht wäre es noch exakter, von Semele als einem travestierten Prometheus zu sprechen. Denn Semele bringt den Menschen nicht das Feuer, sie solidarisiert sich nicht mit den Menschen, sondern mit den Göttern, sie will nicht Menschen schaffen, sondern Götter. Befragen wir den Text nach möglichen Hinweisen auf Vorbilder, so ist neben der antiken mythologischen Vorlage besonders ein Wort auffallend. Semele sagt zu Zeus, „mein Herz war dem geweiht, deß Aff ’ du bist“ (FA 2, S. 804). Dieses Wort, genauer dieses Tier fällt völlig aus der sonst stark pathetisierenden Sprache Semeles heraus. Mythologisch ist nicht überliefert, dass von den Men‐ schen als den Affen des Zeus die Rede ist. Der Kommentar in der Deutschen Klassikerausgabe wertet diese Sprachwendung als Metapher für Nachahmung (vgl. FA 2, S. 1526). 68 Es lässt sich aber auch ein literarhistorisches Vorbild finden. Im vierten Gesang von Wielands Idris und Zenide (1767) ist zu lesen: „Auf Rosen scherzten wir, (so singen zwey zusammen) Als aus dem schönsten Traum dein Affe mich geweckt. Der Eifersüchtige! er hatte sich versteckt, Und schielt’ uns neidisch an als wir im Bade schwammen. Hier Semele - hier bin ich, Zeus in Flammen! 51 2.1 Semele (1782) 69 Wieland: Sämmtliche Werke, Bd. 6, S. 210. 70 Zitiert nach FA 2, S. 1510. - Eine andere Lesespur findet sich in dem Gedicht Shakespears Geist von Jakob Michael Reinhold Lenz. Dort spricht Shakespeare: „[...] Gott! - Schafft dein Schicksal Menschen nach? Realisiert Was ich in unvergeßlichen Stunden Durchgezittert, durchempfunden In meiner Seele aufgeführt? O welch Herablassen! deinem Affen Würdigst du Vater! nachzuerschaffen“ ( Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hgg. v. Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 3, S. 206). Und in dem späten Gedicht Was ist Satire? finden sich die Zeilen: „Doch gibts Erbärmlichers wohl was in der Natur Als einen Menschen zu dem Affen Von unsrer Neigungen Gewohnheit, umzuschaffen? [...] Wer einen gleichen Weg bei gleicher Tagszeit macht Ein ähnliches Geschäft zu treiben hat, und Freunde So wie der andre findt, der hat auf keine Feinde Die ihn den Affen nennen, Acht“ (Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 236). 71 Als „unwahrscheinlich“ beurteilen auch die Kommentatoren Claudia Pilling und Gert Vonhoff diese Vermutung, vgl. NA 5N, S. 497f. 72 In der von Gustav Hauff besorgten Ausgabe der Gedichte Schubarts werden sogar als Entstehungszeit die Jahre „1782 oder 1783“ angegeben, vgl. Chr. Fr. D. Schubarts Ge‐ dichte. Historisch-kritische Ausgabe von Gustav Hauff. Leipzig o.J. [1884], S. 35. Wozu die seidne Luft die deinen Busen deckt? Wir sehen doch auf ihm die Liebesgötter gaukeln Und mit den Grazien sich auf und nieder schaukeln“. 69 Auch bei Schubart findet sich in seinem Gedicht Jupiter und Semele eine ähnliche Textstelle. Dort heißt es: „Der Affe gaukelte vor ihr; das Eichhorn putzte sich“. 70 Ob dies nun ein Beleg ist für die Annahme, Schiller habe sich auf dieses Gedicht Schubarts stützen können, ist zweifelhaft. 71 Denn dagegen spricht, dass zum einen die Datierung des Gedichts äußerst unsicher ist, das Entstehungsjahr 1781 oder 1782 ist nicht nachgewiesen, sondern bloße philologische Annahme. Man müsste also spekulativ davon ausgehen, dass es schon 1779 geschrieben worden sei. 72 Zum anderen spricht dagegen, dass Schubarts Text erst 1786 erschienen ist, Schiller ihn also im Manuskript hätte kennenlernen müssen, was zum Zeit‐ punkt der Entstehung der Semele (1779/ 1780), immerhin war Schiller da noch Karlsschüler, mehr als unwahrscheinlich ist. Ein Argument, dessen sich die Be‐ fürworter der Vermutung, Schubart biete die Quelle für Schiller, nicht bedienten, muss hier allerdings mitgeteilt werden. In dem bereits zitierten Werk von Strei‐ cher über Schiller berichtet der Autor, Schiller habe auf der Flucht aus Stuttgart 52 2. Anthologie auf das Jahr 1782 73 Andreas Streichers Schiller-Biographie, S. 56. 74 Vgl. Andreas Streichers Schiller-Biographie, S. 268. 75 Christian Friedrich Daniel Schubart’s Leben in seinen Briefen. Gesammelt, bearbeitet und herausgegeben von David Friedrich Strauß. Berlin 1849. Reprint Königstein/ Ts. 1978, S. 47. 76 Alt: Schiller, Bd. 1, S. 236. 77 Worauf sich also die Schlussfolgerung des Kommentars stützt, es sei wahrscheinlicher, dass Schubarts Gedicht Schillers Quelle sei, als umgekehrt, Schillers Semele Schubarts Quelle, erschließt sich nicht vollständig (vgl. FA 2, S. 1511). Auch Alt ist in diesem Punkt zu widersprechen. Er nennt Schubarts Gedicht einen versifizierten Kommentar zu Ovids Semele-Darstellung (vgl. Alt: Schiller, Bd. 1, S. 236). in Enzweihingen auf einer Poststation ein Heft mit ungedruckten (! ) Gedichten Schubarts hervorgezogen und daraus vorgelesen. Um welche Gedichte es sich dabei handelte, wird nicht überliefert (mit Ausnahme der Fürstengruft, die im Frankfurter Musenalmanach auf das Jahr 1781 erschienen ist). Und ob diese Ge‐ dichte tatsächlich auch ungedruckt waren, lässt sich ebenfalls nicht mehr über‐ prüfen. Fest steht jedoch, dass Schiller Schubarts Gedichte las, allerdings war zu diesem Zeitpunkt (Schiller verließ Stuttgart am 22. September 1782) die Semele bzw. die Anthologie bereits erschienen, nämlich im Februar 1782. „Schiller hatte für die dichterischen Talente des Gefangenen, sehr viele Hochachtung. Auch hatte er ihn einigemale auf dem Asperg besucht“. 73 In einer späteren Fassung Streichers ist nur noch von einem einmaligen Besuch die Rede. 74 Schiller lernte Schubart erst im November 1781 persönlich kennen, als er ihn auf dem Hohen‐ asperg besuchte. Schubarts Sohn Ludwig war jedoch seit 1777 Karlsschüler. Nicht ausgeschlossen ist also, dass Schiller über ihn unveröffentlichte Gedichte des Vaters zu lesen bekam. Schubart schreibt seiner Frau mutmaßlich Sommer‐ anfang 1782: „Schiller ist ein groser Kerl - ich lieb’ ihn heiß - grüß ihn! “ 75 Ist dies eine Reaktion auf die Lektüre der Anthologie oder auf Schillers Besuch auf dem Hohenasperg? Für einen Einfluss von Schubarts Gedicht auf Schillers Se‐ mele sprächen „punktuelle Entlehnungen, insbesondere im Rahmen der zweiten Szene“. 76 Das lässt sich aber mit den gleichen Argumenten auch umgekehrt be‐ haupten, Schubart entlehnt punktuell aus Schillers Semele. Vielleicht sollte man bei diesen Mutmaßungen nach dem editionswissenschaftlichen Grundsatz der lectio difficilior verfahren - nur, welches ist die schwierigere und damit die ältere Lesart? 77 Eine andere Wortauffälligkeit ist in ihrer Deutung freilich noch spekulativer. Semele tritt zu Beginn in die Szene ein mit Anweisungen an ihre Zofen: „Durch‐ balsamet den Saal mit Weihrauchdüften“ (FA 2, S. 791). Diese Formulierung än‐ dert Schiller in der Zweitfassung wie folgt: „Durchwürzt den Saal mit süßen Ambradüften“ (FA 2, S. 812). Der Begriff Ambraduft kann als sprachliches Kenn‐ 53 2.1 Semele (1782) 78 Vgl. dazu den instruktiven Kommentar in: NA 5N, S. 535. 79 Johann Christoph Friedrich Bach, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Die Amerika‐ nerinn, ein lyrisches Gemählde. Mit einem Nachwort hgg. v. Matthias Luserke u. Reiner Marx. Heidelberg 1998, S. 28. 80 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 618. 81 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 618f. zeichen des Prozesses der Verbürgerlichung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden werden, gilt doch Ambra als königliche Essenz. 78 Die gezielte Verwendung des Begriffs bleibt jedenfalls im Rahmen der Schilderung eines Rokokoambientes auffällig. Bei Gerstenberg heißt es etwa im Lied eines Mohren aus seinen Tändeleyen (1759): „Wie Ambraduft will ich dich, Tod! / Mit jedem Odemzug aus ihren Adern trinken“. 79 In der Vertonung von Johann Christoph Friedrich Bach (1776) mag das Musikstück auch in Ludwigs‐ burg oder Stuttgart gespielt worden sein. Oder Schiller kannte das Wort Am‐ braduft auch aus der Lektüre der Tändeleyen. Das sind gewiss Hypothesen, aber sie eröffnen einen intertextuellen Horizont, der weiter erhellt gehört. Auch bei Jakob Michael Reinhold Lenz findet sich eine Semele-Spur, was in der Forschung bislang übersehen wurde. Völlig unabhängig voneinander schreiben die beiden Autoren Schiller und Lenz eine Semele und definieren als Adressaten ihrer Texte jeweils den Hof. Für Lenz ist dies nachgewiesen, für Schiller bleibt es eine Lesethese. Lenz schreibt von Petersburg aus unter dem Datum vom 5. Juli 1780 an seinen Vater. Er legt diesem Brief ein ‚Lyrisches Gedicht‘ bei, das er soeben abgeschlossen habe: „Die Veranlassung des Gedichts war eine Begebenheit in Peterhof die hier allgemeine Sensation gemacht. Der Großfürst spaziert mit dem Kaiser - er führt ihn in seinen Lustgarten, den die Großfürstin anlegen lassen. Der Kaiser sieht Mäurer, fragt, was da gebaut werde. Der Großfürst umarmt ihn, er solle den Grundstein legen. Es sei ein Tempel der Freundschaft, den er errichten wolle. Alle Umstehenden weinten - so wie der Kaiser und der unnachahmliche Großfürst von Rußland. Der Titel ist aus der heidnischen Mythologie, am besten geschickt, die Geheimnisse der Höfe einzukleiden. Semele bedeuten die Zuschauer und Rußland überhaupt. Sie bat sich von Jupitern dem Vater der Götter die Gunst aus, ihn ohne Wolke zu sehen. Sie ward ihr gestattet, und sie ward von dem Feuer verzehrt, das ihn umgab“. 80 Bei einem lyrischen Gedicht sei, so Lenz weiter, „eine gewisse Dunkelheit un‐ vermeidlich [...], denn sobald man Erläuterungen dazu setzt, ist es nicht lyrisch mehr. Unverständlich wird es den Personen, die es angeht nicht sein da es in der Sprache ihres Hofes und in Beziehung auf ihre Taten geschrieben ist“. 81 Die Großfürstin ist Maria Feodorowna, geborene Sophie Dorothea von Württem‐ 54 2. Anthologie auf das Jahr 1782 82 Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hgg. v. Ar‐ thur Henkel u. Albrecht Schöne. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 1731. 83 Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Dramen III 1893-1927. Hgg. v. Bernd Schoeller. Frankfurt a.M. 1986, S. 532-533, hier S. 533. berg, die seit 1776 mit dem russischen Thronfolger verheiratet war. Damit soll nicht insinuiert werden, dass die Semele von Lenz auf irgendeinem Wege vom Rigaer Verleger Hartknoch, an den das Gedicht weiterzuleiten Lenz seinen Vater gebeten hatte, zum Stuttgarter Verleger der Anthologie, Johann Benedict Metzler, gelangt ist. Vielmehr sind zwei andere Aspekte bemerkenswert: 1.) Zur selben Zeit, da Schiller in Württemberg eine Semele schreibt, arbeitet auch Lenz in Russland am gleichen Stoff. Das kann man dahingehend werten, dass dieser Stoff für die Autoren dieser Generation eine bestimmte Attraktivität bot. 2.) Lenz benutzt den Semele-Stoff expressis verbis - allerdings nur, soweit wir dies aus dem zitierten Brief wissen, denn das Gedicht selbst ist nicht erhalten -, um die Ständedistinktion zwischen Hofadel und Bürgerlichen zu betonen. Übertragen wir diese Beobachtung auf Schiller, dann gibt es für Schillers Semele zwei Inter‐ pretationsmöglichkeiten, eben das Angebot einer Doppellektüre: 1.) Auch Schiller hat, ähnlich wie Lenz, einen affirmativen Text geschrieben, der die Ständedistinktion betont und der aristokratischen Herrschaft huldigt. Oder 2.) Schillers Semele ist eine Parodie gerade auf diese Herrschaftsfestschreibung, die allerdings nur im Gewand der Mythologie in unmittelbarer Nähe zum Stutt‐ garter Hof vorgetragen werden konnte. Damit böte der Text eine Art Doppel‐ lektüre, eine affirmative und eine kritische. Zuletzt sei ein barockes Emblem zitiert, das die Lesart von der Semele als einer kritischen Parodie unterstützen könnte und das genau den Zusammenhang zwischen mythologischer Einkleidung und aristokratischen Adressaten deutlich macht. Barptolemaeus Anulus hat es in seinem Buch Picta Poesis (1552) darge‐ stellt. In der subscriptio wird dort Semele als „ambitiosa“ (die Ehrgeizige) be‐ schrieben, die an ihren eigenen hochgesteckten Zielen zugrunde geht. Weiter heißt es: „Das mahnt daran, daß man den Umgang mit Mächtigen, deren Ge‐ sellschaft am Ende doch Verderben bringt, meiden soll. Darum flieh die Ge‐ meinschaft mit Machthabern, und wenn du dich jemandem anschließen willst, verbinde dich mit Gleichen“. 82 In den Semele-Mythos ist also in der kulturellen Überlieferung durchaus auch ein Machtdiskurs eingeschrieben. Eben dieses Moment der Machtkritik mobilisiert Schiller in seinem Semele-Dramolett. In dem Jahr der Uraufführung von Schillers Semele 1900 legte auch Hugo von Hofmannsthal den Plan zu seiner „phantastische[n] Dichterkomödie“ 83 Jupiter und Semele an. War Hofmannsthal vielleicht durch die Berliner Uraufführung von Schillers Semele auf den Stoff aufmerksam geworden, falls er von dieser 55 2.1 Semele (1782) 84 Karl Wolfskehl: Semele, in: K. W.: Ulais. Berlin 1897, S. 66f. 85 Vgl. Friderike u. Mathias Mayer: Verflüchtigung, Vergeistigung, Vernichtung. Zu Hof‐ mannsthals Fragment ‚Jupiter und Semele‘, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 31 (1990), S. 199-210, hier S. 200, Anm. 2. Leider lassen sich keine Indizien dafür finden, dass Hofmannsthal bei der Uraufführung der schillerschen Semele zugegen war. Aufführung überhaupt Kenntnis hatte? Hatte er die Druckfassung von Schillers Semele gelesen? Vielleicht war ihm auch das Semele (1897) betitelte Gedicht von Karl Wolfskehl bekannt: „AM Quell der Schwüle tief verschwiegen Gebeugt gebeugt zum blutigen born Am Saume des Lebens muss ich liegen Verdorrt und lästernd muss ich liegen Schwer wogt um mich das gelbe korn Von meinen küssen irrem tasten Zuckt halm und ähre weh und wild Will ich in deinen blicken rasten Wann wiegst du mich in rausch und rasten? Wann bebt dein kommen durchs gefild? Hülle mich ringendes erfassen Brautfackeln qualmende seid entfacht In deinem purpur will ich erblassen In rosenflocken will ich erblassen Du thau der sterne du blut der nacht Du goldner pfeil aus dumpfer ferne Glanz ist dein nahen sturm ist dein pfad Erlöser du wie leb ich gerne! Gewaltiger wie sterb ich gerne! Herr halte mich! . . O glut . . o bad . .” 84 Die Hofmannsthal-Forschung gibt als Anregung für Hofmannsthals Fragment andere Quellen an. 85 Nachweisbar ist freilich nur, dass Hofmannsthal am 3. No‐ vember 1902 von Venedig aus dem Sprachphilosophen Fritz Mauthner, dessen dreibändiges Werk Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/ 02) Autoren der literarischen Moderne nachhaltig geprägt hat, einen Brief schreibt. Hofmanns‐ thal spricht von der Ambivalenz des Metaphorischen, die entzücke und beängs‐ tige zugleich, und fügt hinzu: 56 2. Anthologie auf das Jahr 1782 86 Der Briefwechsel Hofmannsthal - Fritz Mauthner, eingeleitet u. hgg. v. Martin Stern, in: Hofmannsthal-Blätter 19/ 20 (1978), S. 21-38, hier S. 33. 87 Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Dramen III, S. 532. 88 Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Dramen III, S. 532. 89 Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Dramen III, S. 533. 90 Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Dramen III, S. 533. 91 Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Dramen III, S. 533. 92 Mayer: Verflüchtigung, Vergeistigung, Vernichtung, S. 199. „Es gibt einen sehr frühen lyrisch-dramatischen Versuch von mir, dessen Personen ein Dichter und seine Geliebte sind: er ist aber nur nebenbei, formal, Dichter, ist ei‐ gentlich Grammatiker und Lexicograph in päpstlichen Diensten. Sie fragt ihn, in der Nacht, im Bett, was denn eigentlich sein Beruf sei und da sagt er ihr beispielshalber das Personalpronomen auf und wird über den unendlichen Inhalt von Ich - Du wahn‐ sinnig und erwürgt sie. Der Entwurf ist in meinen Notizen mit dem Schlagwort ‚Se‐ mele‘ bezeichnet; der Vorwitz, den Geliebten in seiner Gottähnlichkeit = donnernd und blitzend, schauen zu wollen bringt das Verderben“. 86 Die mythologische Geschichte von Jupiter und Semele dient Hofmannsthal le‐ diglich als „Folie“. 87 Semele erliegt dem „Zauber der einfachsten Worte“, die Ju‐ piter „hervorstößt“: „Du - Ich“. 88 Semele moniert an Jupiter, er sei in sich „selbst nur zu Gast“, 89 irgendwie abwesend und nie vollständig da. Sie wünscht sich, dass sich Jupiter ihr einmal ganz hingebe und sich fallenlasse. Doch die An‐ dersheit und Vollständigkeit seiner Hingabe ist zugleich die größte Gefahr für die Frau, nämlich die männliche „Wortgewalt“ und am Ende bliebe von Semele nichts als eine „Kotlache“. 90 „Indem ich ausspreche: Ich und Du, so bricht schon das Chaos herein. Laß mich: ich will im Wörterbuche lesen“, 91 sagt Jupiter. Aus dieser Sicht war am Anfang das Wort, und das Wort war die Herrschaft. Daran könnte sich eine moderne Deutung anschließen, welche im Patriarchat Logo‐ kratie erblickt. Die „Schwierigkeiten einer Gattungsbestimmung“ 92 mit Blick auf Hofmannsthals Text werden vor diesem Hintergrund sekundär. Eben weil der Text Fragment geblieben ist, sind insofern Überlegungen, wie die Endgestalt hätte aussehen können, müßig. Gleichwohl setzt Hofmannsthals knappe Skizze erstaunlich deutlich Akzente. Die Macht Jupiters ist seine Wortgewalt, Jupiter ist der Dichtergott, ja der Dichter selbst. Die wahre Herrschaft ist demnach die Wortherrschaft. Was sich bei Schiller angedeutet hat, dass der genieästhetisch gespeiste, literarische Titanismus die Jupiter-Figur kennzeichnet, das vollstreckt Hofmannsthal. Die Macht des Worts liegt doppelbödig, gewissermaßen zur linken Hand, im Wort der Machtkritik. Und - die Wortherrschaft ist Männer‐ herrschaft. 57 2.1 Semele (1782) 2.2 Die Kindsmörderin (1782) In seinem Aufsatz Was kann eine gute Schaubühne wirken? (1785) schreibt Schiller: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet, und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebot. Kühne Ver‐ brecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohl‐ spiegel wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt, und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer werden die Menschheit er‐ greifen“ (FA 8, S. 190f.). Schiller hat diesen Text am 26. Juni 1784 vor der Kurpfälzischen Deutschen Ge‐ sellschaft in Mannheim zuerst als Rede vorgetragen, just an jenem Ort also, von dem aus vier Jahre zuvor die öffentlich gestellte Preisfrage, wie dem Kindsmord am besten vorzubeugen sei, die res publica litteraria erschütterte. Hat Schiller die örtliche und intellektuelle Nähe zur Mannheimer Preisfrage überhaupt er‐ kannt, hat er die Preisfrage selbst gekannt? Erstaunlich ist es, dass Schiller zwi‐ schen 1781 und 1798 mehrfach die kulturelle Leitfigur für fehlgeleitete weibliche Leidenschaft, die Kindsmörderin Medea, aus dem kulturellen Gedächtnis seiner Zeit aufruft. So ist etwa in der Vorrede zu den Räubern (1781) zu lesen: „Die Medea der alten Dramatiker bleibt bei all ihren Greueln noch ein großes stau‐ nenswürdiges Weib“ (FA 2, S. 17). In den Zerstreuten Betrachtungen über ver‐ schiedene ästhetische Gegenstände von 1793 erwähnt er Medea als dramatisches Leitbild. „Die Medea des griechischen Trauerspiels“ - Schiller spricht also aus‐ drücklich von der literarischen Leitfigur des Euripides, doch nahezu unverän‐ dert ließe sich das von allen literarischen Medea-Figuren sagen - erfülle „unser Gemüth mit einer schauerlichen Lust“ (NA 20, S. 227). Weshalb evoziert Medea Staunen oder schauervolle Lust? Schiller versucht anthropologisch zu argu‐ mentieren. Gegenstände und Themen weckten unser Interesse, wenn sie etwas Ungeheuerliches oder Schreckliches böten. Dies identifiziert Schiller als Quelle 58 2. Anthologie auf das Jahr 1782 93 Vgl. Herbert Kraft: Um Schiller betrogen. Pfullingen 1978, S. 36-40. 94 Friedrich Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782. Mit einem Nachwort hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Saarbrücken 2009, S. 42-48. des ästhetischen Vergnügens. Die übersteigerte Leidenschaft Medeas etwa führt die allen Menschen gleich innewohnende Leidenschaftlichkeit über jene zivili‐ satorische Disziplinierungsgrenze hinaus, die zu überschreiten den Lesern oder Zuschauern nicht möglich, da kulturell verboten ist. Der entgrenzte Mensch als literarische Figur erlaubt es, dass wir uns identifikatorisch oder kontraidentifi‐ katorisch über die eigenen Grenzen in der Vorstellung hinwegsetzen. Aus diesem innerpsychischen Vorgang beziehen wir unsere ästhetische Lust an tra‐ gischen Gegenständen. Diese Ambivalenz von Abstoßung und Anziehung der Medea-Frau kennzeichnet den gesellschaftlichen Umgang mit Kindsmörde‐ rinnen ebenso wie den individuellen Umgang mit einzelnen Medea-Frauen der Literatur. Noch am 28. August 1798 schreibt Schiller an Goethe, unter den herr‐ lichsten Stoffen für den tragischen Dichter rage besonders die Medea hervor, „aber in ihrer ganzen Geschichte und als Cyclus müßte man sie brauchen“ (NA 29, S. 268f.). Schiller hatte die Fabelsammlung von C. Julius Hyginus gelesen. Franz Grillparzer wird sich später an diese poetische Aufgabe machen und die Argonauten-Trilogie schreiben. Schiller beschäftigt sich über anderthalb Jahrzehnte hinweg mit der Medea-Frau. Die ausführlichste literarische Darstellung erfährt sie in dem Ge‐ dicht Die Kindsmörderin aus dem Jahr 1782. Man begegnet hier einem seltenen literatur- und kulturgeschichtlichen Dokument, das für den Kindsmorddiskurs im 18. Jahrhundert bedeutend ist. Das Gedicht muss gleichsam aus der philolo‐ gischen Umklammerung herausgelöst werden, da allzu große fachdisziplinäre Mutterliebe den Text als kulturgeschichtliches Dokument zu ersticken droht und dann sein sozialappellativer Charakter verloren geht. Dies soll als legitimes li‐ teraturwissenschaftliches Anliegen keineswegs in Frage gestellt werden, doch scheint mir die Bedeutung und der historische Mehrwert des Gedichts diesseits des Ästhetischen zu liegen. Andernfalls interessieren nur die Spuren von Rhe‐ torik, deren Defizienz festgestellt wird, und Stilistik im Gedicht und gefragt wird ausschließlich nach den ästhetischen Ausdrucksmitteln. 93 Die Kindsmörderin wurde in der Anthologie auf das Jahr 1782 veröffentlicht. 94 Der Publikationsort nach der Gedichtausgabe von 1804/ 05 enthält einen wich‐ tigen diskursiven Verweis. Der Text ist eingebunden in eine Reihe stürmischer Liebesgedichte. Im Gedicht zuvor wird das Objekt der Begierde Laura am Klavier 59 2.2 Die Kindsmörderin (1782) 95 Diese Anordnung lässt sich an der Frankfurter Ausgabe der Gedichte Schillers gut nach‐ verfolgen (vgl. FA 1). Vgl. auch die Faksimileedition (s. Anm. oben). 96 Vgl. Leander Petzoldt: Bänkelsang. Vom historischen Bänkelsang zum literarischen Chanson. Stuttgart 1974, S. 100. Zur Kindsmordthematik im Bänkelsang vgl. ebd., S. 101f. - Vgl. auch Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. München 1977, S. 380f. besungen, danach der Hymnus auf den Triumf der Liebe angestimmt. 95 Dass es sich dabei um die zweite Fassung des Gedichts handelt, die im Übrigen von der Erstfassung nur unwesentlich abweicht, verstärkt die Signifikanz der Platzie‐ rung. Schiller sieht die thematische Bedeutung seines Gedichts weniger oder gar nicht in der ästhetischen Qualität, sondern rückt es eindeutig in einen Begeh‐ renskontext. Natürlich arbeitet er sich darin auch an den Vorbildern Stäudlin, Sprickmann, Meißner, Schink und Bürger ab. Doch während sich Bürger in der Ballade Des Pfarrers Tochter von Taubenhain (1782) noch am ständischen Modell orientiert, spitzt Schiller die Deutungsmöglichkeiten geschlechterdifferent zu. Dabei greift er nicht auf ein zeitgenössisches Hinrichtungslied zurück. 96 Denn sein Gedicht unterscheidet sich sehr vom Mainstream der zeitgenössischen Ge‐ dichte, die teils in Anlehnung an evangelische oder katholische Kirchenlieder, teils in Anlehnung an kursierende Bänkelsanglieder getextet wurden. Als Bei‐ spiel soll das moralische Lied am Ende eines vier Seiten umfassenden Textes dienen, der unter dem Titel Ausführlicher Bericht von dem Lebenswandel, dem Verbrechen und der Hinrichtung der Inquisitin Anne Christine Hencken, welche den 19. August 1800 wegen eines schrecklichen Kindermordes von oben herunter gerä‐ dert, und nachher aufs Rad geflochten werden soll. Nebst einem moralischen Liede im Jahr 1800 in Berlin veröffentlicht wurde: „Moralisches Lied. Mel.[odie] Ich armer Mensch, ich armer Sünder etc. Folgt, Menschen! nicht dem bösen Willen, den ein verderbtes Herz bezeugt. Sucht nicht den Vorsatz zu erfüllen, zu welchem Fleisch und Blut sich neigt. Beherrschet stets in eurer Brust, den Trieb der unerlaubten Lust. Geht nie auf lüderlichen Wegen. Sie sind mit Dornen überstreut; und Strafen eilen euch entgegen, wenn ihr nicht noch zu rechter Zeit, das lüderliche Leben haßt, und böse Thaten unterlaßt. Wer glücklich leben will, der lebe, wie’s Gott und Menschen wohlgefällt. Sein Herz, von Lastern rein, erhebe sich 60 2. Anthologie auf das Jahr 1782 97 Ausführlicher Bericht von dem Lebenswandel, dem Verbrechen und der Hinrichtung der Inquisitin Anne Christine Hencken, […], o.S. [= S. 4]. 98 Ausführlicher Bericht von dem Lebenswandel, dem Verbrechen und der Hinrichtung der Inquisitin Anne Christine Hencken, […], o.S. [= S. 3]. oft zum großen Herrn der Welt, und flehe den um Beistand an, der Kraft zum Guten geben kann. Besonders du, o Jüngling! höre, was Salomo der Weise spricht: ‚Vergiß die dir gegebne Lehre, die göttlichen Gebote nicht. Laß sie dir stets vor Augen seyn und präge sie dem Herzen ein.‘ Dann wird im Leben und im Sterben, dein Herz zufrieden, ruhig seyn. Du wirst die Ehrenkrone erben, und dort dich mit den Sel’gen freun; die hier nach Tugenden gestrebt, und stets nach Gottes Wort gelebt.“ 97 Die Delinquentin Anne Christine Hencken hatte allerdings nicht ihr eigenes, sondern das vierjährige Kind ihrer Herrschaft erschlagen - aus Rache an ihrem untreuen „Liebhaber, von dem sie sich verächtlich behandelt zu sein glaubte“ 98 , und Vater ihres verstorbenen eigenen Kindes - und stellte sich selbst der Justiz. Anders erging es Johann Gottfried Mosenthin. Er hatte am 20. September 1781 einen Einbruch begangen und Geld gestohlen und im Zusammenhang mit dieser Tat ein dreijähriges Kind „mit einem Brodtmesser“ (o.S.) vorsätzlich umge‐ bracht, in der Annahme, es sei Zeuge seiner Tat gewesen. Ihm wird, im Gegen‐ satz zu den anderen Kindsmörderinnen, der Beistand eines Geistlichen während der Hinrichtung verweigert. In der drei Seiten kurzen Moritat Umständliche Nachricht von der abscheulichen Mordthat, welche Joh. Gottfr. Mosenthin ein Ca‐ nonier aus hiesiger Berlinischen Garnison, 22. Jahr alt, lutherischen Glaubens, und aus Königsberg in Preussen gebürtig etc. etc. vorsetzlich begangen. Dieser Misse‐ thäter wird heute als den 2. October 1781. seines schwarzen Verbrechens wegen nach Urtheil und Recht von unten herauf gerädert, und sein Körper, andern zum Exempel aufs Rad geflochten (o.O., o.J.) wird sein Verbrechen geschildert, wird die welt‐ liche Strafe mitgeteilt und folgt eine theologische Beurteilung der Tat „nebst einem Bußliede des Delinquenten“ (so der Wortlaut auf dem Titelblatt). Dieses Bußlied ist auf die Melodie Wo soll ich fliehen hin zu singen, die als Kirchen‐ kantate auf den 19. Sonntag nach Trinitatis nach dem Choral von Johann Heer‐ mann 1724 von Johann Sebastian Bach (BWV 5) komponiert worden war. Zu erinnern ist auch an Johann Gottlieb Rinnelt, der sein eigenes, dreijähriges Kind erhängt hatte und am 5. April 1796 hingerichtet wurde. In der Moritat zu diesem 61 2.2 Die Kindsmörderin (1782) 99 Der Originaltitel dieser Moritat lautet: Gründliche Nachricht v[o]n der schrecklichen Mordthat und Hinrichtung des Kindermörders Johann Gottlieb Rinnelts, aus Frieders‐ dorf bey Zittau, welcher am 5. April 1796. sein einziges Söhnlein, Christian Friedrich 3 Jahr und 4 Monate alt, grausam ermordet und nach Urtheil und Recht in Seidenberg, am 3. März 1797. mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode gebracht, und sein Körper auf das Rad geflochten worden ist. O.O., o.J., o.S. [S. 2]. Der Fall eines männlichen Kindermörders wird auch in dieser Schrift berichtet: Rede an Dresdens gute Einwohner, als eine Betrachtung am Sonntage nach der öffentlichen Bestrafung des Kindermörders Johann Gottfried Gittlers, verfertigt von einem wahren Verehrer Jesu. Dresden 1791. Gittler will ein Verbrechen verüben, das mit dem Tod gesühnt wird, um sein patholo‐ gisches Suizidbedürfnis umzusetzen. Er ergreift deshalb vorsätzlich ein Kleinkind, das ihm in Dresden auf offener Straße begegnet, und tötet es, indem er dessen Haupt gegen einen Stein schmettert. 100 Merkwürdiges Leben und seliges Ende einer jungen Dienstmagd, Anna Paulsen, welche, wegen begangenen Kindermordes, auf Femern den 30 Dec. 1774 enthauptet worden; den Einwonern der Insel Femern zum lehrreichen historischen Denkmal und war‐ nenden Spiegel, vorgestellet von C.F.S. mit hinzugefügter Ermanung des gesamten geistlichen Ministerii auf Femern, und Beilagen. Lübeck, Flensburg o.J. [1774], S. 24. Diese zeitgenössische Dokumentation umfasst 112 Seiten, sie weicht damit vom Format einer Moritat erheblich ab. 101 [Moritat: ] Ausführlicher und umständlicher Lebenslauf der Friderique Louisa Roth, welche den 15ten Julii 1791. wegen eines zwiefachen Kindermordes, mit dem Schwerdte vom Leben zum Tode gerichtet, ihr Körper aber aufs Rad gelegt, und ihr Kopf auf einen Pfahl gesteckt werden soll. Nebst einem moralischen Liede. O.O., o.J., o.S. [S. 4]. öffentlichen Strafakt rätselt der anonyme Verfasser über das Tatmotiv, „zu dessen Veranlassung man die eigentliche und gewisse Ursache oder den Schlüssel nicht finden kann“. 99 Anna Paulsen von der Insel Fehmarn hingegen wird „erschrekliche Herzensangst und Verwirrung“ und „Verzweifelung“ 100 zu‐ gestanden, die sie hinreißen lassen, ihr Kind unmittelbar nach der Geburt mit einem Stein zu erschlagen. Anders war es bei der Kindermörderin Friderique Louisa Roth, für deren Mord an ihrem sechs Wochen alten Neugeborenen „die übertriebene Neigung […] zur Wollust“, ihr „ungezähmter Hang zur Wollust und Müßiggang“ 101 verantwortlich gemacht werden. Nur wenige Zeitgenossen er‐ kannten die komplexe psychische und soziale Situation einer Frau, die ein un‐ eheliches Kind zur Welt bringen musste. An Schillers Gedicht Die Kindsmörderin verdienen acht Aspekte eines Wandels der kulturgeschichtlichen Deutungsmuster hervorgehoben zu werden: 1. Der Autor schreibt aus der Perspektive der Frau und folgt damit einigen Referenztexten. Sein Gedicht ist ein Rollengedicht, das aber gänzlich auf die Strategien der Selbstbezichtigung verzichtet. Bürger hingegen folgt in seiner zeitgleich erschienenen Ballade noch dem literarisch-historiogra‐ fischen Tonfall eines Berichterstatters. 62 2. Anthologie auf das Jahr 1782 102 Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 11: Gedichte I, bearbeitet v. Jan u. Gabriele Knopf. Frankfurt a.M. 1988, S. 46 (im Original kursiv). 103 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 43. 2. Eifersucht und Rache spielen auch in Schillers Gedicht eine Rolle. Doch zeichnet der Autor seine Kindsmörderin nicht einfach als mordende Medea, ihre psychische Struktur ist wesentlich komplexer. Liebe, Eifer‐ sucht und Rachegedanken spielen für die psychische Konturierung der betrogenen Frau eine entscheidende Rolle. Leser und Leserinnen erfahren einen Appell an die Mitmenschlichkeit, selbst der Henker kann sich einer Träne nicht erwehren. Brecht wird diesen Appell später in seinem Gedicht Von der Kindesmörderin Marie Farrar aus der Hauspostille (1927) in den Refrain kleiden: „[...] ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen / Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen“. 102 Die Darlegung des Tatmotivs er‐ fährt bei Schiller insgesamt also eine Komplexitätssteigerung. 3. Weibliche Sexualität wird nicht als bedrohlich oder widernatürlich dar‐ gestellt, die folglich einer konsequenten Disziplinierung unterworfen werden muss. „Wehe! menschlich hat diß Herz empfunden! - Und Empfindung soll mein Richtschwerd seyn! - Weh! vom Arm des falschen Manns umwunden Schlief Louisens Tugend ein.“ 103 Im Gegensatz zu Heinrich Leopold Wagners Evchen aus dessen Drama Die Kindermörderin (1776) verteidigt Schillers Kindsmörderin ihr Handeln (die voreheliche Sexualität) und ihre Tat (den Kindsmord). 4. Nicht der Mann hat die falsche Frau gewählt und das meint begehrt, viel‐ mehr die Frau den falschen Mann. Obgleich die Kindsmörderin ein Rol‐ lengedicht ist, entspricht dies einem grundlegenden Perspektiven‐ wechsel. Schillers Gedicht ist frei vom Vorwurf einer moralischen Schuld oder Mitschuld am Kindsmord. Seine Louise ist eine bürgerliche Medea, die aus Liebe handelt und aus Verzweiflung die Tat begeht. 5. Schillers Kindsmörderin heißt zwar Louise. Die Namenswahl des Mannes aber indiziert einen diskurshistorischen Verweis. Der Verführer und Kindsvater wird Joseph genannt. Damit zitiert das Gedicht ein christ‐ lich-ikonografisches Motiv. Die verführte Frau kann als Maria aufgefasst werden, sie ist also keine unzivilisierte Barbarin Medea, die es aus reli‐ giösen oder strafrechtlichen Gründen zu verfolgen gilt. Die Gewalt des Vaterworts erfasst den Kindskörper. Schillers Gedicht spielt mit König 63 2.2 Die Kindsmörderin (1782) 104 Heinrich Hansjakob: Bauernblut. Erzählungen. [ 1 1896]. Haslach i.K. 1991, S. 17-77, hier S. 60. Herodes’ spätem Sieg als dem Bild der männlichen Macht. Der Tod der Kinder der beiden Mütter Eva bei Wagner und Maria bei Schiller könnte demnach als Versuch verstanden werden, Geschichte auszulöschen, sie neu und anders zu entwerfen, gegen die Realgeschichte mit einer Art Projektionsgeschichte anzuschreiben, die sich im Modus der Sprache als Literatur präsentiert, um zukünftig als historische Wirklichkeit verkör‐ perlicht zu werden. 6. Der Autor bringt auf den Begriff, was in anderen zeitgenössischen Dis‐ kursformationen oft weitschweifig umschrieben wird, nämlich das Stigma des gesellschaftlichen Außenseiters. Wäre das Kind am Leben ge‐ blieben, so die Argumentation des Gedichts, hätte es die soziale Ächtung erfahren. „Weib, wo ist mein Vater? lallte Seiner Unschuld stumme Donnersprach, Weib, wo ist dein Gatte? hallte Jeder Winkel meines Herzens nach - Weh, umsonst wirst Waise du ihn suchen, Der vielleicht schon andre Kinder herzt, Wirst der Stunde unsrer Wollust fluchen, Wenn dich einst der Name Bastard schwärzt“ (FA 1, S. 388). Das Kind wäre als Bastard diffamiert worden. Um ihm dies zu ersparen, tötet die Mutter es. Auch Wagner hatte diese begriffliche Stigmatisierung, die das uneheliche Kind zum Aussätzigen macht, in seiner Kindermörderin der Kindsmutter in den Mund gelegt, kurz bevor sie die Tat begeht. Und am Ende des 19. Jahrhunderts berichtet der Schwarzwälder Heinrich Hansjakob (1837-1916) in seiner Erzählung Der Graf Magga von der so‐ zialen Stigmatisierung unehelich geborener Kinder durch eine entspre‐ chende Namensgebung bei der Taufe. Der verantwortliche Vikar, der die Kinder für das „Vergehen ihrer Mütter strafen wollte“, taufte „jeden au‐ ßerehelich geborenen Knaben ‚Justus‘ und jedes Mädchen ‚Bibiana‘“, so dass jedes Kind mit diesem Namen „das Brandmal der unehelichen Ge‐ burt“ 104 trug. Der Name erscheint auf diese Weise als ein gesellschaftliches Schibboleth, das dem Vorurteil im Sinne einer Vorverurteilung ein kul‐ turgeschichtliches Emblem verschafft. An diesem Punkt berührt sich der Name der Medea-Frau mit den Stigmatisierungen dieser kulturgeschicht‐ 64 2. Anthologie auf das Jahr 1782 105 Biberach [o.J.]. 106 Nachricht von […] Elisabetha Albrechtin, S. 19. 107 Nachricht von […] Elisabetha Albrechtin, S. 37. lich uniformierten Täuflinge. Daneben eröffnet Schillers Wortwahl von Bastard und schwärzen einen zusätzlichen kulturgeschichtlichen Deu‐ tungshorizont. Hatte schon Plinius von einer Medea nigra, einer schwarzen Medea gesprochen, und gilt bis heute das Schwarze und Dunkle als Symbol des Bedrohlichen, so kann man nun von der doppelten Verunglimpfung von Mutter und Kind sprechen. Schillers Louise gibt das Medea-Emblem zwar an ihr Kind weiter und tötet es. Sie unterbricht damit aber die Geschichte der Medea. 7. Schiller erteilt einer religiösen Teleologie zur Darstellung und Abschre‐ ckung des Kindsmords eine klare Absage, wonach der Kindsmord nach‐ träglich noch eine höhere Bedeutung erfährt. Als ein Beispiel für diesen religiösen Kindsmorddiskurs kann dieser Text gelten: Nachricht von Einer erbärmlich verirrten, mit Liebes-voller Begierde gesuchten, und durch eine wahre Bekehrung erfreulich wiedergebrachten armen Sünderin, nahment‐ lich Elisabetha Albrechtin, So in der Kayserl. freyen Reichs-Stadt Ravens‐ purg Anno 1767. d. 4. Junii wegen begangenen grausamen Kindes-Mord in einer von GOTT gewürckten bewundernswürdigen Christlichen Freudigkeit und Standhafftigkeit durch das Schwerdt hingerichtet worden.  105 Die De‐ linquentin Elisabeth Albrecht, geboren 1737, klagt sich selbst an, „ihr Hertz seye ein rechter Tummel-Platz böser Lüsten und Begierden ge‐ wesen, denen sie, […] boßhafftiger Weise Raum und Platz gegeben, ihnen nachgehangen und in die schändlichste Thaten ausbrechen lassen“. 106 Glaubensgestärkt betritt sie den Richtplatz, etliche Kirchenlieder rezitie‐ rend; ihr werden Worte vorgebetet, die sie silbenweise nachspricht; schließlich werden ihr die Haare abgeschnitten, der Hals wird freigelegt und wiederum Verse aus Kirchenliedern aufsagend, empfängt sie den Schwertstreich „so glücklich, daß der Leib unbeweglich auf dem Stuhl sitzen blieb, und von den Scharfrichtern sanfft auf die Erde, und das ab‐ geschlagene Haupt dazu geleget wurde.“ 107 Es folgen noch geistliche Reden, bis endlich der Leichnam in einen Sarg gebettet und auf den Friedhof für arme Sünder gebracht wird, unter reger Beteiligung der Geistlichkeit. In diesem Text steht damit die christliche Bekehrung der Kindsmörderin im Vordergrund. Bei Schiller hingegen gibt es keine ret‐ rospektive Sinndeutung mehr, wie dies etwa auch noch durchaus reprä‐ sentativ die Beweglichen Abschiedsworte vortrugen. In diesem Moritaten‐ text aus dem frühen 18. Jahrhundert sind die kulturellen Deutungsmuster 65 2.2 Die Kindsmörderin (1782) 108 Bewegliche / Abschieds=Worte, / Womit / Johanna Susanna / Riedeln, / (Als / solche wegen verübten Kinder= / Mords nach Urthel und Recht mit / dem Schwerdt / vom Leben zum Tode gebracht wurde,) / Am Tage ihrer Execution war der / 7. Januar. 1726. / Ihre hertzliche Reue / wehmüthigst bezeuget. / / Gedruckt nach dem Dreßdner Exemplar. O.O. [Dresden] o.J. [1726]. 109 Vgl. den Textabdruck in: Matthias Luserke-Jaqui: Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen, Basel 2002, S. 244. des Kindsmords komprimiert lesbar. Dem Medium des Bänkelsangs ent‐ sprechend, wird hier die moralische und religiöse Beurteilung oder besser Verurteilung der Tat inszeniert. Der Text erschien anonym unter dem Titel Bewegliche / Abschieds=Worte, / Womit / Johanna Susanna / Riedeln, / (Als / solche wegen verübten Kinder= / Mords nach Urthel und Recht mit / dem Schwerdt / vom Leben zum Tode gebracht wurde,) / Am Tage ihrer Execution war der / 7. Januar. 1726. / Ihre hertzliche Reue / wehmüthigst bezeuget. 108 Im Sinne eines affektiven Sprachgebrauchs bedeutet beweg‐ lich hier bewegend. Deutliche Merkmale eines Moritatentextes sind die direkte Leseranrede bzw. Anrede der Zuschauer, die Vorlage einer be‐ kannten Melodie (in diesem Fall eines Kirchenlieds), der moralische Auf‐ weis der erzählten Geschichte, die überdeutliche religiöse Sinngebung der geschehenen Vollstreckung des Urteils, das Spektakuläre, Marktschreie‐ rische der textlichen Darbietung und das Sensationelle und Erschütternde der Tat selbst. Die historische Johanna Susanna Riedeln hatte ihrem Kind den Hals durchgeschnitten und den Leichnam im Bettstroh versteckt. Erst der Verwesungsgeruch brachte das Verbrechen ans Licht. Am 7. Januar 1726 wurde sie enthauptet. Über die Beweggründe ihrer Tat erfahren wir nichts. Kernpunkt des Gedichts ist die Aussage, dass das weltliche Gericht die göttliche Gerichtsbarkeit auf Erden vertritt und durch die Bestrafung der Tat die weltlich-sittliche und die religiöse Ordnung wiederhergestellt sind („Hierbey ist die gerechte Rache GOttes wunderbarlich zu sehen“). 109 Zwar trägt der (männliche) Bänkelsänger seine Geschichte aus der Frau‐ enperspektive vor, doch dient dieses Rollenspiel lediglich dazu, die Ver‐ werflichkeit der Tatursachen, also die Malefizierung vorehelicher Sexu‐ alität deutlicher herauszustellen. Das Vergehen selbst wird satanisch besetzt, kein Mensch, nur eine Besessene kann solch eine schreckliche Tat vollbracht haben. Dieses Deutungsmuster der Kindsmörderin als vom Teufel verführte Frau ist für die zeitgenössische Wahrnehmung konstitutiv. Hierin kann man noch ein Rudiment jener kulturellen Deutungsmuster der unliebsamen Frau als Hexe erkennen, das in der Aufklärung zunehmend vom Inku‐ 66 2. Anthologie auf das Jahr 1782 110 Zitiert nach Luserke-Jaqui: Medea, S. 246. 111 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 47. 112 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 13.1: Die Jahre 1820-1826. Hgg. v. Gisela Henckmann. München, Wien 1992, S. 137. busverdacht in den Tatbeweis ausweicht. Unzucht, geile Liebesblicke, Faulheit, Müßiggang, geile Tänze, Musik - das sind jene männlichen Vo‐ kabeln, mit denen sich die Kindsmörderin selbst bezichtigt. Das repressive bürgerliche Sexualitätsverständnis verbindet sich mit dem bürgerlichen Tugendkatalog. Arbeit, Tugend und Frömmigkeit werden als normative Verhaltensgrößen beschworen, welche die zivilisatorische Umwandlung von Fremdin Selbstzwang sowie die Desexualisierung der Körper ge‐ währen. Das Gedicht führt drastisch vor Augen und dies als Bänkelsang durchaus wörtlich, was geschieht, wenn der Prozess der Umwandlung von gesellschaftlichem Fremdzwang in Selbstzwang zu spät beginnt. Die Kindsmörderin Johanna Susanna Riedeln ist einsichtig, doch kommt die „hertzliche Reue“ (s. den Titel) zu spät. Nun ist sie zwar bereit, sich selbst zu disziplinieren, doch im Angesicht des Todes vermag sie nur noch aus der religiösen Sublimation „tausend Lust“ 110 zu beziehen. In Schillers Kindsmörderin ist das Verbrechen geschehen, die Frau ist als Verführte und Verurteilte doppeltes Opfer männlicher Gewalt. Das Gedicht ist in‐ sofern radikaler als Wagners Drama, worin die endgültige Verurteilung außerhalb des Textes und insofern fraglich bleibt. „Freudig eilt’ ich in dem kalten Tode / Auszulöschen meinen Flammenschmerz“, 111 heißt es bei Schiller. Selbst noch der alte Goethe wird im zweiten Gedicht der Trilogie der Leidenschaft, der Elegie, vom „Bild der Lieben, / Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben“, 112 sprechen. Darin mag sich ein grundsätzli‐ cher Wandel manifestieren, der Wechsel vom Schmerz zur Schrift, von der Literarisierung des Körpers zur Entkörperlichung der Literatur. Doch entscheidend ist, dass Schillers Kindsmörderin nur in der Auslöschung ihres Ichs von fremder Hand die Möglichkeit sieht, sich nochmals Selbst‐ achtung zu verschaffen, ihre Selbstständigkeit zu behaupten. Es ist mithin der Versuch, sich selbst Identität zu stiften, und deutet damit eine weitere Möglichkeit des Tatmotivs an. Nicht einmal die Selbstauslöschung, wie sie noch das Bürgerliche Trauerspiel als konstitutives Merkmal geboten hatte, bleibt ihr. Auch an Schillers Kindsmörderin erfüllt sich die grausame Wahrheit jenes Worts der Emilia Galotti Lessings, dass Ver‐ führung die wahre Gewalt sei (vgl. Lessing: Emilia Galotti, 1772, V/ 7). 67 2.2 Die Kindsmörderin (1782) 113 Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 48. 114 Vgl. den Textabdruck in: Luserke-Jaqui: Medea, S. 245. 8. Mit dem Aufruf „Trauet nicht den Rosen eurer Jugend, / Trauet, Schwes‐ tern, Männerschwüren nie! “ 113 geht Schiller schließlich weit über die kul‐ turgeschichtlichen Deutungsvorgaben hinaus. Ein Schuldbekenntnis wird nicht mehr vorgetragen, wie es etwa noch zu Beginn des Jahrhun‐ derts 1726 geheißen hatte, „Unzucht war auch mein Verderben“. 114 Viel‐ mehr äußert die Medea-Frau einen emanzipatorischen Imperativ. Auch kann keine Rede von der Verletzung jener Geschlechtsehre sein, die Kant als Ursache für den Kindsmord später diagnostizieren wird. Die Kindsmörderin Louise kehrt am Ende in der Entschiedenheit ihrer Hal‐ tung und ihrer Aussagen zur Medea-Frau zurück. Das kollidiert durchaus mit Kants Stellungnahme zur Abschaffung der Todesstrafe und zur Be‐ strafung des Kindsmords. Der rechtsphilosophische und ethische Diskurs über den Kindsmord am Ende des Jahrhunderts kann als Resümee männ‐ licher Vernunftarbeit betrachtet werden, und Kant positioniert sich als Aufklärer, wenn er in seiner Metaphysik der Sitten von 1797 schreibt: „Es gibt indessen zwei todeswürdige Verbrechen, in Ansehung deren, ob die Ge‐ setzgebung auch die Befugnis habe, sie mit der Todesstrafe zu belegen, noch zweifelhaft bleibt. Zu beiden verleitet das Ehrgefühl. Das eine ist das der Ge‐ schlechtsehre, das andere das der Kriegsehre, und zwar der wahren Ehre, welche jeder dieser zwei Menschenklassen als Pflicht obliegt. Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord (infanticidium maternale); [...]. - Da die Gesetzgebung die Schmach einer unehelichen Geburt nicht wegnehmen, [...] kann: so scheint es, daß Menschen in diesen Fällen sich im Naturzustande befinden und Tötung (homicidium), die alsdann nicht einmal Mord (homicidium dolosum) heißen müßte, in beiden zwar allerdings strafbar sei, von der obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne bestraft werden. Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutz desselben, geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so daß dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann, und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird, kann keine Verordnung heben. - [...] Was ist nun in beiden (zur Kriminalgerechtigkeit gehö‐ rigen) Fällen Rechtens? - Hier kommt die Strafgerechtigkeit gar sehr ins Ge‐ dränge: entweder den Ehrbegriff (der hier kein Wahn ist) durchs Gesetz für nichtig zu erklären, und so mit dem Tode zu strafen, oder von dem Verbrechen die an‐ gemessene Todesstrafe wegzunehmen, und so entweder grausam oder nach‐ 68 2. Anthologie auf das Jahr 1782 115 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Hgg. v. Wilhelm Weischedel [Werkausgabe Bd. 7]. Frankfurt a.M. 1991, S. 458f. 116 Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 457. sichtig zu sein. Die Auflösung dieses Knotens ist: daß der kategorische Imperativ der Strafgerechtigkeit (die gesetzwidrige Tötung eines anderen müsse mit dem Tode bestraft werden) bleibt, die Gesetzgebung selber aber (mithin auch die bür‐ gerliche Verfassung), so lange noch als barbarisch und unausgebildet, daran Schuld ist, daß die Triebfedern der Ehre im Volk (subjektiv) nicht mit den Maß‐ regeln zusammen treffen wollen, die (objektiv) ihrer Absicht gemäß sind, so daß die öffentliche, vom Staat ausgehende, Gerechtigkeit in Ansehung der aus dem Volk eine Ungerechtigkeit wird.“ 115 Kant kritisiert die Vorschläge von Cesare Beccaria zur Strafrechtsreform, wie sie zeitgenössisch diskutiert wurde, der für die generelle Abschaffung der Todesstrafe in einer zivilisierten, aufgeklärten Gesellschaft plädiert. Kant führt aus, Beccaria handle „aus teilnehmender Empfindelei einer affektierten Humanität (compassibilitas)“ und seine Argumentation sei „Sophisterei und Rechtsverdrehung“. 116 Kant ist entschieden für die Bei‐ behaltung der Todesstrafe, der Kindsmord ist für ihn ein strafrechtliches moral- und rechtsphilosophisches Problem. Zugleich aber versteckt sich hinter seiner Argumentation ein mentalitätsgeschichtliches Zeugnis, das den rechtsphilosophischen Diskurs mit dem psychohistorischen zusam‐ menführt. Sein Begriff der Geschlechtsehre zeigt, dass Kindsmord für ihn eine Angelegenheit der wahren Ehre ist und die sozialen und geschlech‐ terdifferenten Ursachen des Kindsmords unerheblich sind. Schillers Kindsmörderin entfaltet einen Protest, der Voraussetzung ist für die spätere Revision des Bildes der Medea-Frau im 20. Jahrhundert. Insofern voll‐ zieht das Gedicht einen entscheidenden Wandel von den antiken Medea-Adap‐ tionen und ihren neuzeitlichen Anverwandlungen, von den Urgichten und Ein‐ blattdrucken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zur Rollenlyrik der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts. In der Lyrik kommt erstmals die Frau selbst zu Wort, die nicht nur um Vergebung für ihre Tat im Jenseits bittet, son‐ dern direkt um Verständnis des Lesepublikums wirbt. An diesem Punkt be‐ rühren sich die Medea-Texte der Literaturgeschichte mit den Kindsmordtexten. Der Publikationsort des Almanachs von Schillers und Stäudlins Kindsmordge‐ dichten ist außerdem ein sozialgeschichtliches Indiz für die Verbürgerlichung Medeas. Das Lesepublikum dieser Almanache, Anthologien und literarischen Zeitschriften wie etwa das Deutsche Museum war nicht ein bäuerliches, unter‐ schichtiges. Denn diese Literatur wurde dort gelesen, wo ohnehin gelesen 69 2.2 Die Kindsmörderin (1782) 117 Vgl. den vollständigen Abdruck dieser Rede in Matthias Luserke-Jaqui: Franz Theodor Csokor: Medea postbellica (1947). Text und Kommentar. Mit einem Anhang - Paul Leppin: Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht (1928), in: Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 29 (2005/ 2006), S. 207-283. 118 Georg Kurscheidt: Die schlimmen Monarchen. Der zornige Dichter, in: Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Hgg. v. Norbert Oellers. Stuttgart 1996, S. 27-47, hier S. 32. - Vgl. auch Fritz Jonas: Erläuterungen der Jugendgedichte Schillers. Berlin 1900, S. 129-132. wurde, nämlich von einem bürgerlichen Lesepublikum. Schillers Anthologie richtete sich wie die anderen Musenalmanache der Zeit an ein vorwiegend städtisches, bürgerliches Publikum. Dabei ist die Rolle der geselligen Lesege‐ sellschaften und literarischen Klubs als Medien der Information, Distribution und Transformation der Literatur nicht zu unterschätzen. Die bürgerlichen Le‐ serinnen und Leser werden dadurch sukzessive an Dichtung herangeführt. Spä‐ testens mit diesen Kindsmordtexten in Lyrik, Prosa und Drama musste sich das Bürgertum dem Thema Kindsmord öffentlich stellen. Das Ende der fachwissen‐ schaftlichen Kindsmorddiskurse war eingeläutet. Wie aktuell Schillers Thema auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist, zeigen nicht nur Gerhart Haupt‐ manns Drama Rose Bernd (1903) oder Brechts Gedicht Marie Farrar (1927), son‐ dern auch die Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht (1928) 117 von Paul Leppin (1878-1945), der zu jenen Autoren der Prager Literatur gehörte, über die Franz Kafka als die Vertreter einer ‚Kleinen Literatur‘ schrieb. Leppins Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht erschien erstmals gedruckt 1928 in Prag im Verlag ‚Die Bücherstube‘. Sie ist ein bedeutendes Zeugnis expressionistischer Prosa, eine Art Traumnovelle, an deren Ende die männliche Hauptfigur Klaudius aus ihrem Schuldtraum erwacht. 2.3 Die schlimmen Monarchen (1782) Da von diesem Gedicht kein Manuskript erhalten ist, lässt sich nicht exakt an‐ geben, wann es entstanden ist. Schiller hat Die schlimmen Monarchen erstmals im Februar 1782 in der Anthologie auf das Jahr 1782 auf den Seiten 244 bis 250 veröffentlicht und mit dem Kürzel „Y“ unterzeichnet. „Sehr wahrscheinlich“ ist, dass sich Schiller durch das Gedicht Die Gruft der Fürsten von Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) „anregen ließ“, 118 das 1779 entstanden ist und erst‐ mals 1780 in Heinrich Wagners (1747-1814) Frankfurter Musenalmanach auf das Jahr 1781 publiziert wurde. Später wurde es unter dem Titel Die Fürstengruft nachgedruckt. Möglicherweise hat Schiller aber Schubarts Gedicht auch schon in der Handschrift gekannt. Ob man allerdings mit Fug und Recht von einer 70 2. Anthologie auf das Jahr 1782 119 Kurscheidt: Die schlimmen Monarchen, S. 32. 120 Kurscheidt: Die schlimmen Monarchen, S. 31. 121 Zu den einzelnen Nachweisen vgl. NA 2/ 2 A, S. 117-121. 122 Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Aus der Deutschen Chronik. Hgg. v. Ul‐ rich Karthaus. Stuttgart 1978, S. 43. „Abhängigkeit des Schillerschen Gedichts von dem Schubarts“ (NA 2/ 2 A, S. 117) sprechen kann, bleibt dahingestellt. „Wenig glaubhaft“ 119 hingegen scheint es, dass sich umgekehrt Schubart durch Schillers Gedicht anregen ließ. Deshalb werden als Entstehungszeit die Jahre zwischen frühestens 1779 und spätestens 1781 angenommen. Ein thematischer Zusammenhang mit Schubarts Gedicht jedenfalls „liegt auf der Hand“. 120 Und möglicherweise hat Schiller bereits als Karlsschüler an dem Text gearbeitet. Thematisch gesehen stehen Die schlimmen Monarchen im Kontext der Anthologie von Schillers nur fünf Zeilen umfassenden lyrischen Fragmenten Die Gruft der Könige und Triumphgesang der Hölle (vgl. FA 1, S. 725 u. 1403). Ihre Entstehungszeit fällt vermutlich in die Jahre 1778/ 1779. Auch in diesen Fragmenten soll der Gestus der Machtkritik aufgerufen worden sein. Die Jahre 1779/ 1780 sind wiederum jene Zeit, in der Schillers frühe Dramen Die Räuber und Semele entstehen. Beide sind Stücke, die im Sprachgestus des Sturm und Drang geschrieben sind und ein zentrales Thema des Sturm und Drang, nämlich die Autoritätskritik, thematisieren. Die Fürstenkritik ist ein zeitgenössisch beliebtes literarisches Motiv, unter anderem wird es von Klop‐ stock in Rothschilds Gräber (1766) und von Schubart in seinem Gedicht Auf die Leiche eines Regenten (1767) mit seinem appellativen Aufruf an die Fürsten: „Drum so übt noch in der Zeit / Tugend und Gerechtigkeit“ aufgegriffen (vgl. FA 1, S. 1403). Ebenso sind schon im frühen 18. Jahrhundert etliche herrschafts‐ kritische Gedichte zu nennen, wie etwa Die Kaiser-Krone und Die Sonne (jeweils 1721) von Brockes (1680-1747) oder Über die Ehre (1728) von Albrecht von Haller (1708-1777). 121 Schiller kündigt allerdings in seinem Gedicht eine rhetorische oder bildliche Mäßigung, wie sie bis dahin zum literarischen Comment gehört, auf. Im November 1781 begegnet Schiller erstmals Schubart, als er den ohne Ge‐ richtsurteil Gefangenen in seiner Kerkerhaft auf dem Hohenasperg besucht. Schubarts Ambivalenz von scharfsinniger politischer Erkenntnis auf der einen und Zugeständnissen an gesellschaftliche und ästhetische Erwartungen seiner Zeit auf der anderen Seite wird besonders in seinem Gedicht Die Fürstengruft (1781) deutlich. Darin werden die schlechten Fürsten, die tyrannisch geherrscht haben, am Jüngsten Tag dem Gericht Gottes zugeführt, während die besseren Fürsten nach ihrem Tod mit ewiger Herrschaft belohnt werden: „Ihr seid zu herrschen werth“. 122 Während Schubarts Kritik an gesellschaftlichen und poli‐ 71 2.3 Die schlimmen Monarchen (1782) 123 Anthologie auf das Jahr 1782. Mit einem Nachwort hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Saarbrücken 2009, S. 244. 124 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 248. 125 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 244. 126 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 245. 127 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 244. 128 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005, S. 76. 129 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 249. tischen Verhältnissen aber immer nur so weit geht, wie es mit seinem pietisti‐ schen Weltbild vereinbar erscheint, tritt Schillers Gedicht wesentlich respekt‐ loser, geradezu antiabsolutistisch auf; darin ist der Gestus des selbstbewussten, zur Selbstherrlichkeit neigenden Sturm-und-Drang-Genies zu erkennen. Schiller trägt seine Herrschaftskritik radikal im Ton vor. Die kritisierten Mo‐ narchen werden als „Erdengötter“ 123 und „Gottes Riesenpuppen“ 124 tituliert, die mit „pompende[m] Getöse“ 125 ihren „Spleen“ 126 ausleben - unmissverständlicher kann Herrschaftskritik kaum ausfallen. Doch im Unterschied zu Schubarts ver‐ söhnlichem Schluss mit seinem Appell an die guten, also aufgeklärten Vertreter des Absolutismus, wendet der junge Schiller die Richtung seines Angriffs in der Schlussstrophe und droht mit der Verheißung: „Aber zittert für des Liedes Sprache, / Kühnlich durch den Purpur bohrt der Pfeil der Rache / Fürstenherzen kalt.“ (NA 1, S. 127) Das Gedicht vollzieht damit einen Perspektivenwechsel. Während zu Beginn des Gedichts der Gesang „zittert“ 127 - der Poet also einge‐ schüchtert, ängstlich ist -, sollen sich am Ende Fürsten und Könige direkt an‐ gesprochen fühlen, sie sollen nun zittern vor der Macht der Poesie, die sich rächt für Unterdrückung und Willkür. Schiller spricht der Poesie damit eine politische Wirkung zu, die in erster Linie von dem ausgeprägten Selbstbewusstsein des jungen Autors zeugt und weniger einen gesellschaftlich-kulturellen Umgang beschreibt. Das Gedicht ist durchaus konkret an den Duodezfürsten Herzog Karl Eugen von Württemberg (1728-1793) adressiert; das erschließt sich vor allem aus den versteckten Anspielungen auf Stuttgarter und Ludwigsburger Verhältnisse sowie durch den versteckten Hinweis auf das Tugendgelübde, das der Herzog an seinem 50. Geburtstag am 11. Februar 1778 öffentlich abgelegt hatte. 128 Schiller kommentiert dies sarkastisch: „Ihr bezahlt den Bankerott der Jugend / Mit Gelübden, und mit lächerlicher Tugend, / Die - Hanswurst erfand“. 129 Da‐ rüber hinaus sind aber alle „schlimmen Monarchen“ angesprochen, der Plural im Titel garantiert diese Adressierungsoption. Und obwohl der Text eine ap‐ pellative Struktur reklamiert, wonach die Könige erwachen sollen, ist abzu‐ 72 2. Anthologie auf das Jahr 1782 130 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 245. 131 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 247. 132 Anthologie auf das Jahr 1782, S. 48. 133 Kurscheidt: Die schlimmen Monarchen, S. 46. sehen, dass die „Fürsten“, „Könige“ 130 und „welken Majestäten“ 131 - eben die schlimmen Monarchen - am Ende durch die Poesie zur Strecke gebracht werden. Man kann dies als Ausdruck eines beeindruckenden Selbstbewusstseins, das der junge Schiller gegen die schlimmen Monarchen mit Verve in Anspruch nimmt, begreifen. In seinem Aufsatz Was kann eine gute Schaubühne wirken? (1785) wird Schiller später schreiben: „Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet, und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Waage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebot. Kühne Ver‐ brecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen, und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben.“ (FA 8, S. 190) In der Anthologie auf das Jahr 1782 findet sich auch das Schubarts Sohn Ludwig (1765-1811) zugeschriebene, dem Duktus schillerscher Jugendlyrik durchaus vergleichbare vierzeilige Gedicht Aufschrift einer Fürstengruft, in dem die Herr‐ schaftskritik variiert wird: „Zurük! Hier ruhn die Erdenriesen, / Fern von dem Volk in ihrer Gruft - / Um mit dem Volk nicht auferstehn zu müssen, / Wenn einstens die Trompete ruft.“ 132 In späteren Jahren distanzierte sich Schiller von seinem Jugendgedicht. „Persönliche Betroffenheit diktierte die Verse, nicht die Notwendigkeit künstlerischer Gestaltung“. 133 Allerdings gilt es zu berücksich‐ tigen, dass das Generalthema des jungen Schiller die anthropologische Selbst‐ vergewisserung ist und dazu gehört für ihn, sich konsequent und mit allen zur Verfügung stehenden rhetorischen Mitteln gegen Herrscherwillkür, Machtmiss‐ brauch und Autoritätsanmaßung zur Wehr zu setzen. Die Freiheit des Menschen ist in dieser stark vom Sturm und Drang geprägten Lebensphase noch weit ent‐ fernt von ihrer metaphysischen Überhöhung in Schillers nachkantischer Ära. Noch liest sich das Gedicht Die Künstler (1789) wie eine Fortsetzung von Den schlimmen Monarchen. Die Wahrheit solle sich, wenn sie nicht gehört oder sogar unterdrückt werde, in das Reich der Dichtung flüchten: 73 2.3 Die schlimmen Monarchen (1782) „In ihres Glanzes höchster Fülle, Furchtbarer in des Reizes Hülle, Enstehe sie in dem Gesange Und räche sich mit Siegesklange An des Verfolgers feigem Ohr.“ (FA 1, S. 220) 74 2. Anthologie auf das Jahr 1782 1 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. Tübingen 2002. Günter Saße: „Der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich, wie in der Liebe“. Schillers Liebeskonzeption in den Philosophischen Briefen und in Kabale und Liebe, in: Jürgen Lehmann (Hg.): Konflikt - Grenze - Dialog. Fest‐ schrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1997, S. 173-184. Günter Saße: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut.“ Zum Verhältnis von Liebe und Macht in Schillers Kabale und Liebe, in: G. S.: Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert. Darmstadt 1996, S. 263-289. Pasquale Mem‐ molo: Schillers Dramen. Die Entfaltung der Kraft und die Kontingenz der Subjektivität, in: P. M.: Strategen der Subjektivität. Intriganten in Dramen der Neuzeit. Würzburg 1995, S. 263-314. Karen Beyer: „Schön wie ein Gott und männlich wie ein Held“. Zur Rolle des weiblichen Geschlechtscharakters für die Konstituierung des männlichen Aufklärungshelden in den frühen Dramen Schillers. Stuttgart 1993. 3. Kabale und Liebe (1784) Der vorliegende kulturgeschichtliche Ansatz vereint sozialgeschichtliche, ide‐ engeschichtliche und genderspezifische Fragestellungen. Am Beispiel von Schil‐ lers Kabale und Liebe werden dabei die Möglichkeiten und Grenzen weiblicher bürgerlicher Subjektkonstitution (als Vorbedingung für Individualität), einge‐ sperrt zwischen Autonomie und Autokratie, an den Figuren Louise Miller und Lady Milford thematisiert. 1 Als Schiller im März 1784 sein „bürgerliches Trauerspiel“ - wie er es im Un‐ tertitel nennt - Kabale und Liebe veröffentlicht, hat er bereits mehrere Gedichte (in der Anthologie auf das Jahr 1782), Rezensionen, die Dissertation und die Dramen Semele, Die Räuber und den Fiesko publiziert. Als Autor ist er dabei, einen Individualstil zu entwickeln, der sich freilich an den Leittexten des Sturm und Drang orientiert. Wenn man von den Gedichten des Laura-Zyklus aus der Anthologie und von dem Gedicht Die Kindsmörderin (ebenfalls in der Anthologie erschienen) absieht, dann versucht Schiller in Kabale und Liebe mit der Figur der Louise Miller erstmals eine Art historischer Momentaufnahme weiblicher Subjektkonstitution unter den Bedingungen höfischer Repression und bürger‐ licher Emanzipation. Als ein höfischer Gegenentwurf kann Lady Milford gelten. Der Mustertext eines deutschen Bürgerlichen Trauerspiels, der in der literari‐ schen Rezeption des 18. Jahrhunderts als Vorbild fungierte, ist Lessings Drama 2 Die von Cornelia Mönch angeführten Argumente gegen eine tatsächliche Bedeutungs‐ gewichtung der Bürgerlichen Trauerspiele des 18. Jahrhunderts sind rein quantitativ und ändern nichts an der rezeptionsgeschichtlich gelenkten Bedeutungswahl, die sich nicht nach modernen Quantifizierungsparametern richtet; vgl. Cornelia Mönch: Ab‐ schrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993, bes. S. 345: Die Höhenkammtexte von Lessing, Schiller und Goethe seien „herausragende Einzelleistungen, die keine Repräsentativität für die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels beanspruchen können“. 3 Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 4. durchgesehene Aufl. Stuttgart 1984, S. 18f. 4 Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, S. 83. Miss Sara Sampson (1755). 2 Mit seiner Emilia Galotti (1772) schuf er ein zweites Bürgerliches Trauerspiel, das ebenfalls eine normbildende Wirkung entfaltete und bis heute in den Spielplänen der Bühnen gegenwärtig ist. Allerdings steht die Emilia Galotti bereits am Ende der historischen Entwicklung des Bürgerli‐ chen Trauerspiels. Schon in der Literatur des Sturm und Drang der 1770er Jahre wird das Genre deutlichen Veränderungen unterworfen. So etwa bei Wagner in seiner Kindermörderin (1776) oder bei Lenz in den Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776). Danach entwickeln sich lediglich noch Schwundformen dieses Trauerspieltyps, der in Friedrich Hebbels Maria Magdalena (1844) einen letzten Höhepunkt erfährt. „Das entscheidend Neue der Gattung“, so Guthke, „ist ihr Lebensgefühl, das Menschenbild der moralisch-empfindsamen Privat‐ heit“. 3 Bürgerlich ist demnach weniger ein soziologischer als vielmehr ein psy‐ chohistorischer Begriff. Väterliche Autorität, die Leerstelle der Mutter (sie fehlt in vielen Bürgerlichen Trauerspielen), das harmonisierende Schlusstableau, die empfindsame Haltung der Figuren, die Auflösung der Formstrenge, dialektale Einschübe, die Abgrenzung gegenüber adligen Verhaltensstandards und Be‐ wusstseinsformen und die Abgrenzung gegenüber dem Pöbel (mit Ausnahme von Lenz, der den Pöbel ausdrücklich als Adressaten seiner Stücke mit einbe‐ zieht), die Bedeutung von Privatheit und Familie, die Geschlechterproblematik, der Sexualitätsdiskurs, die historische Entwicklung von der beanspruchten Au‐ tonomie des Ichs im Sinne des sozialhistorischen Prozesses bürgerlicher Eman‐ zipation im 18. Jahrhundert hin zur behaupteten Autokratie des Ichs in der Li‐ teratur des Sturm und Drang - all das sind deutliche Merkmale eines Bürgerlichen Trauerspiels, die sich in ähnlicher Häufung auch in Schillers Ka‐ bale und Liebe finden. Insofern ist Guthke zuzustimmen, wenn er darauf ver‐ weist, dass Schillers Stück ein „Sammelbecken von typischen Motiven der Gat‐ tung“ 4 darstelle. Zugleich ist bei Schiller historisch und gattungstypologisch gesehen der Prozess der Verflachung definierter Standards des Bürgerlichen Trauerspiels eingeleitet. 76 3. Kabale und Liebe (1784) 5 Hans Peter Herrmann hat darauf hingewiesen, dass der Berufsstand des Stadtmusikers eher dem ständischen Bürgertum als dem Kleinbürgertum entspreche; vgl. Hans Peter Herrmann: Musikmeister Miller, die Emanzipation der Töchter und der dritte Ort der Liebenden. Schillers bürgerliches Trauerspiel im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 223-247, hier S. 225. Dem ist, was die sozi‐ algeschichtliche Beobachtung betrifft, prinzipiell zuzustimmen, allerdings geht es in der vorliegenden Textdeutung vornehmlich um Bewusstseinsformen und Verhaltensstan‐ dards, die auch unabhängig von der soziologisch definierten Standeszugehörigkeit adaptiert werden können, wie das Beispiel Ferdinands im Stück oder auch das Streit‐ gespräch bei der Begegnung der beiden Königinnen in der Maria Stuart, die sich so gar nicht hochadelig verhalten, zeigt. Bereits das Verzeichnis der Dramatis Personae enthält einen entscheidenden Hinweis für die Rezeption des Stücks. Zum einen ist das Figurenarsenal gegen‐ über dem Fiesko sichtbar entschlackt. Spielten dort ohne die Nebenpersonen noch 22 Figuren eine sprechende Rolle, so sind es hier gerade einmal neun Per‐ sonen. Der Schauplatz ist nicht mehr ins Ausland verlagert und das Stück spielt auch nicht mehr in der Vergangenheit. Vielmehr zielt Schiller unmissverständ‐ lich auf die feudalabsolutistischen Verhältnisse an einem deutschen Westenta‐ schenfürstentum, einem der sogenannten Duodezfürstentümer, von denen es im 18. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation über 300 gab. Die Zeitgenossen konnten unschwer erkennen, dass der von Schiller all‐ gemein genannte „Hof eines deutschen Fürsten“ (FA 2, S. 564; Personenver‐ zeichnis) den württembergischen herzoglichen Hofstaat meinte. Die dramatische Achse des Stücks wird durch zwei Zentren gelegt. Auf der einen Seite ist dies die kleinbürgerliche Familie 5 des Musikers Miller, seiner Frau und der sechzehnjährigen Tochter Louise, des einzigen Kindes, und auf der an‐ deren Seite steht die höfische Kultur mit ihren medial wirkungsvoll inszenierten Parametern von Macht, Repräsentativität und Ökonomie. Verkörpert wird diese Kultur durch die Rumpffamilie (zu der im weitesten Sinne auch der Sekretär Wurm zu rechnen ist) des Präsidenten Baron von Walter und seines Sohnes Ferdinand, der nach einer militärischen Laufbahn, bei der er es bis zum Major gebracht hat, nun ein politisches Amt im Sinne des Vaters übernehmen soll. Hier zeigt sich bereits ein Hof im Hof. Innerhalb des herzoglichen Herrschaftsraums versucht der Präsident durch Machtspiele und Intrigen, bei denen ihm Hofmar‐ schall von Kalb willfähriger Helfer ist, seinen Sohn als eigenen Nachfolger zu installieren und seinen Einfluss und seine Macht auf diese Weise zu sichern. Anfänglich gehört zur höfischen Kultur auch Emilie Milford alias Johanna Nor‐ folk, eine englische Emigrantin und jetzige Mätresse des Herzogs, die später aber ihrem höfischen Lebensstil entsagt und die dramatische Entwicklung des Stücks entscheidend beeinflussen wird. 77 3. Kabale und Liebe (1784) 6 Vgl. Beate Hobein: Vom Tabaktrinken und Rauchschlürfen. Die Geschichte des Tabaks unter besonderer Berücksichtigung der Rauchtabak- und Zigarrenherstellung in West‐ falen im 19. Jahrhundert. Hagen 1987, bes. S. 16. Die bürgerliche Familie Miller wird in den ersten Szenen mit den Attributen von Bürgerlichkeit ausgestattet, zu denen neben Kaffee und Tabak auch das Nacht‐ gewand (vgl. FA 2, S. 565), die Perücke (vgl. FA 2, S. 601), der Sessel (vgl. FA 2, S. 565 u. 603), die „Stube“ (FA 2, S. 607), das spanische Rohr und der Hut (vgl. FA 2, S. 609), die Violine (vgl. FA 2, S. 623), die Schreib- und Lesefähigkeit (vgl. FA 2, S. 629 u.ö.) und das Violoncello (vgl. FA 2, S. 565) zu zählen sind. Diese Attribuierungen werden durch die höfischen Attribute von Negligé und Flügel anstelle des bürgerlichen Nachtgewands und Klaviers komplementiert (vgl. die Regieanweisung, die Lady Milford betrifft, FA 2, S. 587). Auf der Ebene des Lie‐ besdiskurses erfährt das Attribuierungsverfahren eine Ergänzung durch die christologischen Attribute Ferdinands, womit ihn Louise ausstattet. Frau Miller trinkt Kaffee und schnupft Tabak (vgl. NA 5N, S. 410). Das Tabakschnupfen war ebenso wie das Pfeiferauchen ein Mittel zur sozialen Abgrenzung. Es diente jenen, die sich selbst als Vornehme verstanden, dazu, sich von den Unterschich‐ tigen abzuheben. Zunächst war es eine höfische Verhaltensweise, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend auch von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Männern und Frauen imitiert wurde. Insofern sind Tabak und Kaffee zwei Genussmittel, die sukzessive dem gesellschaftlichen Selbstver‐ ständnis des Bürgertums einverleibt werden und dadurch einen politischen Index bekommen. In einer französischen Anleitung von ca. 1730 zum richtigen Schnupfen wurden 14 Regeln formuliert, die vom Dosenöffnen über das Schnupfen mit beiden Nasenlöchern und ohne Grimassen, das Niesen, Husten und Spucken bis zum sachgerechten Verschließen der Dose reichen. 6 In dieser Eingangsszene macht sich der Vater, der sich im zeitgenössischen Verständnis als „Herr im Haus“ (I/ 1) begreift, Sorgen über den Umgang seiner Tochter mit dem jungen Baron Ferdinand von Walter. Dem Vater steht drastisch vor Augen, dass allein aufgrund der Standesunterschiede zwischen ihm und dem Baron eine nähere Verbindung, gar eine spätere Heirat der beiden ausge‐ schlossen ist. Deshalb richtet sich seine Sorge darauf, die Tochter könne das einzige Kapital verlieren, das sie darstellt und das sie für ihren Vater bedeutet, ihre Jungfräulichkeit. Vorehelicher Geschlechtsverkehr mit Kindesfolge und so‐ zialer Abstieg - in den Worten des Vaters: „dem Mädel eins hinsetzen […] und das Mädel […] hat’s Handwerk verschmeckt, treibts fort“ (I/ 1) - sind die größten Gefahren, die dem kleinfamilialen bürgerlichen Konsolidierungsprozess am Ende des 18. Jahrhunderts drohen. In seinem Gedicht Die Kindsmörderin hat der junge Schiller auch zu diesem Thema Stellung genommen. Friedrich Maximilian 78 3. Kabale und Liebe (1784) 7 Friedrich Maximilian Klinger: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1: Otto. Das leidende Weib. Scenen aus Pyrrhus Leben und Tod. Hgg. v. Edward P. Harris. Tü‐ bingen 1987, S. XVII. Klinger taxiert in einem Beitrag für die Frankfurter gelehrten Anzeigen vom 11. August 1775 den Wert weiblicher sexueller Unschuld als „das Heiligthum des Orts eines andern“, 7 womit er die Tabuisierung dieses symbolischen Kapitals zum Ausdruck bringt. Gerade in der vorbildlichen und mustergültigen Tugend‐ haftigkeit bürgerlichen Verhaltens drückt sich jenes bürgerliche Bewusstsein aus, das zur Abgrenzung gegenüber dem korrumpierten und amoralischen Adel unverzichtbar ist, um sich selbst als eigene und eigenständige gesellschaftliche Schicht mit zunehmendem Machtanspruch zu konstituieren. Während Vater Miller die weibliche Sexualität als eigentliches Interessenobjekt des Adligen er‐ kennt, wähnt die Mutter allein die „schöne Seele“ (I/ 1) der Tochter als Interes‐ sensgrund Ferdinands und phantasiert von einem Klassenaufstieg, dessen de‐ struktives Potenzial Schiller gleichsam paradigmatisch schon in seiner Semele (1782) entwickelt und das finale Ende beschrieben hat. Louises Mutter bringt mit der schönen Seele einen Begriff ins Spiel, den Schiller in dem Essay Über Anmut und Würde (1793) wesentlich später systematisch entfalten wird. Dort heißt es: „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren“ (FA 8, S. 371). Erst diese Harmonie ermöglicht jene Schönheit, die Schiller in den Kallias-Briefen (1793) als Freiheit in der Erschei‐ nung definiert hatte (vgl. FA 8, S. 285). Eine schöne Seele drückt sich in und mit Anmut aus. Dieses Recht hat Schiller den Frauen vorbehalten und seine ge‐ schlechterdifferenten Äußerungen lassen sich ohne Weiteres mit Blick auf Louise und Lady Milford verstehen: „Der zärtere weibliche Bau empfängt jeden Eindruck schneller und läßt ihn schneller wieder verschwinden. Feste Konstitutionen kommen nur durch einen Sturm in Be‐ wegung, und wenn starke Muskeln angezogen werden, so können sie die Leichtigkeit nicht zeigen, die zur Grazie erfodert wird. Was in einem weiblichen Gesicht noch schöne Empfindsamkeit ist, würde in einem männlichen schon Leiden ausdrücken. Die zarte Fiber des Weibes neigt sich wie dünnes Schilfrohr unter dem leisesten Hauch des Affekts. In leichten und lieblichen Wellen gleitet die Seele über das sprechende Angesicht, das sich bald wieder zu einem ruhigen Spiegel ebnet. Auch der Beitrag, den die Seele zu der Grazie geben muß, kann bei dem Weibe leichter als bei dem Manne erfüllt werden. Selten wird sich der weibliche Charakter zu der höchsten Idee sittlicher Reinheit erheben, und es selten weiter als zu affektionierten Handlungen bringen. Er wird der Sinnlichkeit oft mit heroischer Stärke, aber nur durch die Sinnlichkeit widerstehen. Weil nun die Sittlichkeit des Weibes gewöhnlich auf 79 3. Kabale und Liebe (1784) Seiten der Neigung ist, so wird es sich in der Erscheinung eben so ausnehmen, als wenn die Neigung auf Seiten der Sittlichkeit wäre. Anmut wird also der Ausdruck der weiblichen Tugend sein, der sehr oft der männlichen fehlen dürfte.“ (FA 8, S. 372) Eine schöne Seele manifestiert sich als Grazie. Schiller verwendet die Begriffe Grazie und Anmut synonym, denn anders ist nicht zu erklären, dass er wenige Zeilen später in einem Kapitel, das mit ‚Würde‘ überschrieben ist, Anmut als Ausdruck einer schönen Seele definiert (vgl. NA 20, S. 289). Da Anmut zugleich aber auch Ausdruck weiblicher Tugend ist, muss demzufolge eine schöne Seele genus-typologisch verstanden werden. Und in der Tat, Schiller bindet das Modell der schönen Seele an den zarten weiblichen Körperbau (vgl. NA 20, S. 288f.). Diese geschlechterstereotype Passage entbehrt nicht einer unfreiwilligen Komik, wenn man sie unmittelbar mit einer Bemerkung konfrontiert, die Schiller in seinem Essay dort notiert hat, wo er den allmählichen Übergang von der Form zur Masse illustriert. Zarte Linien der Haut, so ist zu lesen, senkten sich zu Gruben und würfen „wurstförmige Falten“ auf, das reizende, vielfältige Spiel schöner Linien verlöre sich „in einem gleichförmig schwellenden Polster von Fette“ (NA 20, S. 275). Das ist das Schreckbild einer gealterten schönen Seele. Diesem Bild entgegen modelliert Schiller als „Ideal menschlicher Schönheit“ (NA 20, S. 301) den Sieg der Vernunftfreiheit über die Naturnotwendigkeit, auch wenn deren Untergang erhaben gestaltet wird. Dies ist ein offensichtlicher Wi‐ derspruch zum Modell der Harmonie konstituierenden schönen Seele. Louise wird später die väterliche Wahrnehmung so weit verinnerlicht haben, dass sie im Gespräch mit Lady Milford ihr Wissen bekennt und sagt, in der Welt des Adels gehe sie ihrer „bürgerlichen Unschuld“ (IV/ 7) verlustig. Beide Eltern artikulieren zwar durch die zeitgenössischen Gegebenheiten gerechtfertigte Ängste und Hoffnungen, jedoch zielen diese an der tatsächlichen Situation zwi‐ schen Louise und Ferdinand vorbei. Denn die Musikertochter und der Baron sind längst ein Liebespaar. Der Autor lässt im vierten Akt allerdings erklären, dass die Liebesleidenschaft stets asexuell gewesen sei. Dort ereifert sich Ferdi‐ nand bei der Vorstellung, der Hofmarschall habe Geschlechtsverkehr mit Louise gehabt. In seinen Worten: „Wenn sie nicht rein mehr ist? Bube! Wenn du genos‐ sest, wo ich anbetete […] Schwelgtest, wo ich einen Gott mich fühlte? […] Wie weit kamst du mit dem Mädchen? “ (IV/ 3) Damit wird eines deutlich: Louises Subjektkonstitution ist an ihre Sexualität gebunden. Der Vater hat ein triebtheoretisch fundiertes anthropologisches Ver‐ ständnis, die Tochter hingegen ein soziales. Ihrer Mutter erklärt sie - und sig‐ nifikant an der Szene ist, dass der Vater dabei abwesend bleibt -, dass im Jenseits alle sozialen Unterschiede nivelliert und dann „Menschen nur Menschen sind“ (FA 2, S. 574). Das Jüngste Gericht, führt sie in III/ 6 an, werde Majestäten und 80 3. Kabale und Liebe (1784) 8 Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater, in: J. M. R. L.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hgg. v. Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 2, S. 641-671, hier S. 671. 9 Paul Thiry d’Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. [1770]. Übersetzt v. Fritz-Georg Voigt. Frankfurt a.M. 1978, S. 287. 10 D’Holbach: System der Natur, S. 287. 11 D’Holbach: System der Natur, S. 286. 12 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 682 (Hervorhebung M.L.-J.). Bettler gleichermaßen in demselben Siebe rütteln (vgl. FA 2, S. 627). Die Auflö‐ sung der Standesunterschiede ist für Louise also die Voraussetzung für die herr‐ schaftsfreie Subjektkonstitution. So wird sie auch später hellsichtig analysieren, dass Ferdinands Herz an seinem Stande hängt und er nicht bereit ist, auf Privi‐ legien zu verzichten (vgl. FA 2, S. 622). Dem Vater sind seine Ängste freilich nicht genommen, er erweitert Schillers grundsätzliches anthropologisches Ver‐ ständnis, wie es uns in den Räubern und im Fiesko begegnet ist, nun zu einem fundamentalen Ausspruch, der ob seiner Einfachheit zunächst wie ein planer Allgemeinplatz erscheint. Den Männern gehe es im Umgang mit Frauen weniger um einen vernünftigen Diskurs als vielmehr um Sex. „Mensch ist Mensch“ (FA 2, S. 566) sagt Miller und bringt damit die gesellschaftliche und die anthropolo‐ gische Seite des Stücks zusammen. Unabhängig von der ständischen Herkunft ist der Mensch ein Triebwesen, dessen Triebe im Umgang zwar verfeinert, nie‐ mals aber vollständig diszipliniert und rationalisiert werden können. Lenz hat dies in seinen Anmerkungen übers Theater (1774) drastisch so ausgedrückt: Kö‐ nige und Pöbel seien „Menschen, auch unterm Reifrock“. 8 Schon 1770 hatte Paul Thiry d’Holbach (1723-1789) den gesellschaftlichen Nutzen menschlicher Lei‐ denschaften dadurch zu retten versucht, dass er für die Umwandlung schädli‐ cher Leidenschaften in solche der allgemeinen Wohlfahrt nützlichen plädierte. „Wir sollten die Leidenschaften, die der Gesellschaft schaden, durch solche ver‐ drängen, die ihr Nutzen bringen“, 9 forderte er in seinem System der Natur (1770), man solle bestrebt sein „in den Herzen der Menschen nützliche Leidenschaften anzupflanzen und zu pflegen“. 10 D’Holbach bringt sein Plädoyer auf die griffige Formel: „Den Menschen die Leidenschaften untersagen, heißt ihnen verbieten, Mensch zu sein“. 11 Schillers Miller zitiert also eine gängige Auffassung der Auf‐ klärung über die Notwendigkeit menschlicher Leidenschaften. Zugleich aber drückt sich darin auch eine religiös und moralisch geprägte Abscheu vor der dunklen Seite des Menschen aus. Lenz sah das Verdienst von Goethes Werther (1774) gerade darin, „daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß.“ 12 Zugleich unterstreicht die Formulierung ‚Mensch ist Mensch‘ aber auch die Erwartung, Literatur könne und solle als ein Medium anthropologischer 81 3. Kabale und Liebe (1784) Selbstreflexion dienen. In der Prädikation ‚Mensch ist Mensch‘ schießen Schil‐ lers Diktum aus der Erinnerung an das Publikum vom natürlichen Menschen, dem das Interesse des Dichters gelte, und die Formel aus der Vorrede zu den Räubern vom ganzen Menschen zusammen. Wie ein Echo wird Millers Er‐ kenntnis in Kabale und Liebe nachhallen, wenn selbst die Tochter wiederholt, dass „Menschen nur Menschen sind“ (I/ 3) und selbst der Präsident von Walter sich auf diese Einsicht beruft, indem er Ferdinand provoziert, um ihm die Mät‐ resse des Königs zum Tausch für Louise anzubieten: „Welcher Mensch von Ver‐ nunft würde nicht nach der Distinktion geizen, mit seinem Landesherrn an einem dritten Orte zu wechseln? “ (I/ 7) Bezeichnenderweise ist dieser dritte Ort für den Aristokraten die weibliche Sexualität, in Louises und Ferdinands Ver‐ ständnis hingegen wird den dritten Ort der Freitod darstellen. „Ich weiß einen dritten Ort […]. Der dritte Ort ist das Grab“ (V/ 1), wird Louise am Ende Ferdinand in einem Brief schreiben, den sie allerdings wieder zerreißt. Aus der Sicht der väterlichen Vernunft weicht die Tochter von einem bür‐ gerlichen tugendhaften Weg ab. Verantwortlich hierfür macht der Vater die bel‐ letristische Literatur, die Louise Phantasmen von Liebe und sozialem Aufstieg vorgaukle und damit den noch vorhandenen christlichen Glauben neutralisiere. Lesen ist für ihn eine gottlose Betätigung (vgl. I/ 3). Der Vater reagiert damit affektiv auf eine Bedrohung, die er sich nur religiös begründen kann. Wie er in V/ 1 bekennt, verstehe er nur wenig von der Liebe - wie soll er dann die Liebe seiner Tochter außerhalb ständischer, bürgerlicher und christlicher Normen be‐ urteilen können? Man kann davon ausgehen, dass Millers Literaturverdikt hier in erster Linie die zeitgenössische empfindsame Literatur treffen soll, die als wichtiges Medium bürgerlicher Selbstverständigung gilt. Gerade deshalb ist es so bedeutsam, wenn Louise mit einem Buch, dem bedeutendsten Requisit bür‐ gerlichen Selbstverständnisses in der Aufklärung, auftritt (vgl. I/ 3). Louise und Ferdinand, das ist Liebe auf den ersten Blick, und alle Beteiligten täuschen sich in ihrer Einschätzung. Der Vater Louises darin, dass diese Liebe aus Vernunftgründen beendet werden könne, der Vater Ferdinands darin, dass er sie beenden könne, und Lady Milford darin, dass es sich um eine „süße frühe‐ verfliegende Träumerei“ (IV/ 7) handle. Louise bezeichnet Ferdinand als den „Immermangelnden“ (I/ 3) und evoziert damit eine religiöse Sprache inbrünstiger christlicher Mystik. Auch ihre Prädikation „Er ists […] Er ists“ (I/ 3) wiederholt christliche Glaubenssprache. Insofern ist der Hinweis der Forschung auf einen theologischen Kontext, der allerdings weit über eine bloße Klopstock-Referenz hinausgeht, wichtig, zugleich ist es aber auch problematisch, hier von einer „Metaphysik der Liebesauffassung des jungen Schiller“ (FA 2, S. 1439) zu spre‐ 82 3. Kabale und Liebe (1784) 13 Vgl. Ingeborg Bergen: Biblische Thematik und Sprache im Werk des jungen Schiller. Einflüsse des Pietismus. Mainz 1967. Bergen arbeitet sehr exakt den theologiegeschicht‐ lichen Hintergrund von Schillers Elternhaus, seiner Schulzeit und der theologischen Diskussion im Württemberg des 18. Jahrhunderts heraus. Sie kann nachweisen, dass Schiller eine Vielzahl von biblischen Themen, Topoi und Wörtern in sein frühes Werk übernimmt. Bei Übernahmen aus dem pietistischen Wortschatz modelliere er hingegen sofort ein säkulares Bedeutungsfeld. chen. 13 Schillers Argumentation, wenn man denn die diskursive Anordnung der Figuren als eine Selbstaussage des Autors begreifen will, liegt eher auf der Linie einer allgemeinen anthropologischen Theorie der Triebe. Dafür sprechen nicht nur seine zahlreichen Anleihen bei entsprechenden Autoren, sondern auch seine medizinisch-philosophische Vorbildung. Selbst wenn in diesem Zusammenhang auf die Philosophie der Physiologie (entstanden 1779) verwiesen wird, bestätigt sich darin lediglich Schillers allgemeine Rezeption christlicher Glaubensgrund‐ sätze, die deutlich von einem schwäbisch-pietistischen Milieu geprägt sind, und seine Kenntnis zeitgenössischer moralphilosophischer Schriften. Liebe sei, schreibt er dort, die „Verwechslung meiner Selbst mit dem Weesen des Neben‐ menschen“ (NA 20, S. 11), mit dem Ziel, die Vollkommenheit dieses Nebenmen‐ schen zu befördern. Der Besitzanspruch, den Ferdinand in seiner Liebeserklärung formuliert, re‐ flektiert den Anspruch des Vaters, das Leben seiner Tochter beobachten und bewachen zu können. Louise ist diejenige, welche eine Un-Ordnung in die Liebe bringt, da sie deren Triebnatur erkennt. Ob sie diese Kenntnis aus der Literatur bezogen hat, wie der Vater mutmaßt, bleibt im Stück dahingestellt. Jedenfalls artikuliert sie „wilde Wünsche“ (I/ 4), die sie zugleich als Bedrohung erfährt. Aus dem Phantasma ‚Ferdinand in Louisens Herz‘ wird nun der Term „Feuerbrand“ (I/ 4), der wütet und den liebenden Mann, wie es in der Regieanweisung heißt, sprachlos macht. Diese Sprachlosigkeit charakterisiert den Liebhaber, da sie sich in II/ 3 wiederholt, als Lady Milford ihn mit einer eigenen und eigenwilligen Entscheidung konfrontiert, und sie spiegelt je die Fassungslosigkeit angesichts der distinkten Aussagen der Frauen Louise und Lady Milford. Die aristokratische männliche Sprachbeherrschung versagt angesichts der sprachgewandt artiku‐ lierten Autonomie des weiblichen Ichs. Louises wilde Wünsche werden von Lady Milfords „wildere[n] Wünsche[n]“ (II/ 1) überboten. In einem regelrechten Wettbewerb der Leidenschaften versuchen sich die beiden Frauen ständedistinkt zu positionieren. Dabei tritt eine erstaunliche Umkehrung der Verhaltensstan‐ dards bürgerlicher und aristokratischer Ordnung zu Tage. Während Lady Mil‐ ford sexuell exzessiv gelebt hat und nun ihre Sehnsucht nach einer verlässlichen Partnerbeziehung und nach ihrer großen Liebe artikuliert und dies für sie 83 3. Kabale und Liebe (1784) wildere Wünsche sind als je ihre Lebensweise zuvor, ahnt die unerfahrene Louise, dass ihre Liebe zu Ferdinand nicht körperlos bleiben wird, sondern auf eine sexuelle, leidenschaftliche Beziehung zielt, ihre Wünsche also wild, leiden‐ schaftlich, ungeordnet, nicht mehr disziplinierbar werden. Am Ende aber wird Ferdinand den Superlativ wilder Wünsche vollenden. Als er an der Aufrichtig‐ keit von Louises Liebe zweifelt, ruft er sich selbst in Erinnerung, dass seine „wildesten Wünsche schwiegen“ (IV/ 2), obwohl er Louise gerade geküsst hatte. Begehrensfrei und körperlos war ihre Liebe. Allerdings dient ihm diese Erinne‐ rung nicht dazu, die geliebte Frau zu entlasten und sein verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sondern er prädiziert damit eine Kosten-Nutzen-Reflexion, die seinen Verzicht und damit seinen Verlust in den Mittelpunkt rückt, und er eröffnet dadurch eine Rechnung bürgerlicher Ökonomie. Ferdinand changiert auch hier zwischen höfischen und bürgerlichen Bewusstseinsformen und gleicht sich in seinem Verhalten Louises Vater an. Als sich Louise zum Selbst‐ mord entscheiden will, hält Miller seiner Tochter entgegen, sie bedeute ihm alles, er habe „alles zu verlieren. […] Die Zeit meldet sich allgemach bei mir, wo uns Vätern die Kapitale zu statten kommen, die wir im Herzen unsrer Kinder an‐ legten“ (V/ 1). Seine väterliche Liebe nennt er „Barschaft“ (V/ 3), die er nun ver‐ loren habe, und Ferdinand bezeichnet Louise als Millers „letzten Notpfennig“ (V/ 3), er vergleicht den Vater mit einem Kaufmann, der törichterweise sein ge‐ samtes Vermögen auf ein einziges Schiff lädt (vgl. V/ 5). Tatsächlich sind also jene ohnmächtig, die aus der Ordnung von Macht und Ständedistinktion heraustreten. Bürgerlicher Tugendkatalog und christliche Norm gelangen zur Deckung und schmieden die Allianz aus Ohnmacht und Verzicht. Kabale und Liebe führt an diesem Punkt vor Augen, dass es keinen Ort außerhalb einer Topografie der Macht gibt, wo sich ein weibliches Subjekt kon‐ stituieren kann. Die politische Repression erzwingt von Louise, dass sie diese Repression verinnerlicht, den Fremdzwang in Selbstzwang wendet und ihre Ge‐ fühle zu Ferdinand unterdrückt, gar leugnet. Die Machtstrukturen haben sich nun erfolgreich in die Liebesgrammatik eingeschrieben und beherrschen das äußere wie das innere Leben der Bürgerlichen gleichermaßen. Konsequent wie ihr literarisches Vorbild Emilia Galotti weigert sich Louise zu sündigen. Sterben könne sie, aber keine Sünde begehen und sich der Schande aussetzen. Mit diesen Worten versucht sie sich gegen Wurm zur Wehr zu setzen (vgl. III/ 6). Doch am Ende obsiegt die höfische Kabale. Louise schreibt einen Brief falschen Inhalts, worin sie sich selbst als Geliebte von Kalbs denunziert. Sie hat ihre weibliche und bürgerliche Autonomie endgültig verloren, dies verdeutlicht die Regiean‐ weisung am Ende des dritten Aktes, worin sie als willenloses Handlungsobjekt 84 3. Kabale und Liebe (1784) 14 [ Jean-François Marmontel: ] Des Herrn Marmontels Dichtkunst. aus [! ] dem Französi‐ schen übersetzt und mit einigen Zusätzen vermehrt. 2 Tle. Bremen 1766, 2. Tl., S. 88. 15 [Marmontel: ] Des Herrn Marmontels Dichtkunst, S. 88f. beschrieben wird: „Wurm zieht sie fort“ (III/ 6). Nach dem erfahrenen Unrecht wird auch Louise fliehen wollen, doch ist es da schon zu spät (vgl. V/ 1). Kabale und Liebe ist auch ein Text der allmählichen Dissoziation ständischen Denkens. Dieser Prozess tritt umso deutlicher zu Tage, je mehr die Rollenkon‐ flikte zwischen Vater und Sohn auf der einen und Vater und Tochter auf der anderen Seite ausgespielt werden. Die jüngere Generation der Söhne und Töchter hat bereits das grundsätzliche Vermögen entwickelt, sich über gesell‐ schaftliche Schranken hinwegzusetzen. Ihr Scheitern allerdings ist das Einge‐ ständnis des Verfassers, dass in der realhistorischen Gegenwart der 1780er Jahre dieses Verhalten noch keineswegs sozial verträglich ist. Die Liebe ist immer noch an soziale Indizes gebunden. Dies betrifft das Scheitern auf der inhaltlichen Ebene. Auf der formalen, poetologischen Ebene bedeutet dieses Scheitern eines ständeneutralen Liebesmodells aber auch das endgültige Scheitern des Genres Bürgerliches Trauerspiel. Dessen originäre Konflikte und Themen spiegeln sich nicht mehr in der Lebenswirklichkeit seiner Autoren. ‚Bürgerlich‘ ist längst keine ausschließlich soziologische Klassifikation mehr, sondern meint ein be‐ stimmtes Verhalten, das anthropologische Zuordnungen reflektiert. Auch darin liegt die literaturgeschichtliche Bedeutung von Kabale und Liebe, dass der Autor diesen Prozess des Verfalls sozialer Dichotomien benannt und ihre Wiederkehr in Umgangsformen, Sprachgewohnheiten und Verhaltensweisen erkannt und figuriert hat. Keine andere Ebene emotionalen Agierens wirkt hier katalytischer, verstärkender, beschleunigender als die von Liebe und Leidenschaft. Kabale und Liebe thematisiert eben genau diese Verschränkung von Politik und Moral, von Öffentlichkeit und Privatheit und von Ständedistinktion und familialer Selbst‐ bestimmung, von Ichautonomie und Liebesfreiheit. Bereits Jean-François Mar‐ montel (1723-1799) hatte in seiner Dichtkunst, die seit 1766 in deutscher Über‐ setzung vorlag, diese Verbindung für das Trauerspiel reklamiert. „Für uns“, schreibt er, „ist der politische Nutzen des Trauerspiels von dem Moralischen nicht verschieden. [...] So bald uns also das Trauerspiel Lehren der Moral gibt, unterrichtet es uns auch zugleich in der Politik“. 14 Als die Hauptlehre der Tra‐ gödie nennt er „die Gefahr der Leidenschaften. Der Zorn, die Rache, der Ehrgeitz, der schwarze Neid, und fürnemlich die Liebe, erstrecken ihre schädliche Herr‐ schaft über alle Staaten, über alle Classen der Gesellschaft. Diese sind die wahr‐ haften Feinde der Ordnung [...]“. 15 Somit erweisen sich Schillers Jugenddramen als Medien einer anthropologischen Selbstreflexion, es sind Texte der Rebellion gegen buchstäbliche und symbolische Ordnungen und es sind Texte der Auto‐ 85 3. Kabale und Liebe (1784) 16 Vgl. dazu ausführlich Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Stuttgart, Weimar 1995, S. 195-206. 17 Vgl. Bernhard Sowinski: Aristoteles als Liebhaber in den deutschen Dichtungen des Spätmittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987), S. 315-329, und Fritz Wagner: Aristoteles-Erwähnungen im Mittelalter, in: Jürgen Wiesner (Hg.): Aristoteles - Werk und Wirkung. Paul Moraux gewidmet. Bd. 2: Kommentierung, Überlieferung, Nach‐ leben. Berlin, New York 1987, S. 498-514. ritätskritik und der Debatten um Entwürfe auch anderer Liebes- und Lebens‐ modelle. In IV/ 4 macht Ferdinand die Subjektkonstitution Louises rückgängig. Sie, die kurz zuvor die Abgrenzung gegenüber dem männlichen Aggressor mit den Worten „Ich möchte nicht Du sein“ (FA 2, S. 626) markiert hat und die in der Fremdwahrnehmung Ferdinands, also in der Wahrnehmung der Männer, zwi‐ schen „Schlange“ (FA 2, S. 670), „Teufel“ (FA 2, S. 670), „Mißgeburt“ (FA 2, S. 671) und „Heilige[r]“ (FA 2, S. 675) changiert. Ferdinand löscht ihre Individualität aus: „Verloren! […] Ich bin es. Du bist es auch. […] Wenn ich verloren bin, bist du es auch! […] Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr Teufel! “ (FA 2, S. 637) Interessant ist dabei die Frage, wann Louise das erste Mal ‚Ich‘ sagt, denn zur Subjektkonstitution gehört auch die Subjektprädikation, das ‚Ich bin‘. Und das vollzieht Louise im Gestus religiöser Selbstanklage und Selbstbezich‐ tigung: „O ich bin eine schwere Sünderin“ (FA 2, S. 572). Mit diesen Worten tritt sie buchstäblich ins Drama ein und auf der symbolischen Ebene erfährt sie damit die Initiation in das Drama der Subjektkonstitution und Individualitätsfindung. Lady Milford hingegen vertritt ein patriarchal anverwandeltes Programm von weiblicher Individualität. „Es ist verdrüßlich, ein Roß zu reiten, das nicht auch in den Zügel beißt“ (FA 2, S. 588), sagt sie. Milford evoziert damit ein kultur- und kunstgeschichtliches Bild, das treffender kaum die sozial und das bedeutet die patriarchal codierte Mann-Frau-Beziehung des 18. Jahrhunderts beschreibt. Die Redewendung ‚Etwas am Zügel führen‘ heißt, ein Affektmodell zu entwickeln, das die Disziplinierung der Leidenschaften erlaubt. Schiller bedient sich eines kulturgeschichtlichen Bildes, das nachgerade zum Emblem der Disziplinierung von Leidenschaften geworden ist, es ist die Rede von der Aristoteles-Phyllis-Le‐ gende. 16 Danach kriecht der große Philosoph Aristoteles auf allen Vieren, und auf ihm reitet die von ihm begehrte Frau Phyllis. Diese Erzählung aus dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert stammt aus dem Orient und gelangt im Mittelalter nach Europa. Im 12. und 13. Jahrhundert taucht sie in französischen und deutschen Predigtmärchen und Dichtungen auf, im 15. und 16. Jahrhundert ist sie in Fastnachtsspielen gegenwärtig. 17 Noch populärer ist das Motiv des von einer Frau gerittenen Philosophen allerdings in der bildenden Kunst geworden. 86 3. Kabale und Liebe (1784) 18 Vgl. Wolfgang Stammler: Der Philosoph als Liebhaber, in: W. S.: Wort und Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Bildkunst im Mittelalter. Berlin 1962, S. 12-44. 19 [Christian Thomasius: ] Schertz- und Ernsthaffter / Vernünfftiger und Einfältiger Ge‐ dancken / über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen[.] Vierter Monat oder APRILIS, In einem Gespräch vorgestellet. Halle 1688, in: Ch. Th.: Freimütige, lus‐ tige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über al‐ lerhand, fürnehmlich aber neue Bücher. Band I, Januar - Juni 1688. Reprint Frankfurt a.M. 1972, S. 447-588, hier S. 458. 20 [Thomasius: ] Schertz- und Ernsthaffter / Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, S. 572. 21 [Thomasius: ] Schertz- und Ernsthaffter / Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, S. 540. 22 [Thomasius: ] Schertz- und Ernsthaffter / Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, S. 549. Eine Vielzahl von Holzschnitten, Zeichnungen und Kupferstichen lässt sich im 15. und 16. Jahrhundert nachweisen, darunter der bekannte Holzschnitt von Hans Baldung Grien aus dem Jahr 1513, worauf Aristoteles und Phyllis sogar nackt zu sehen sind, die sonst meist spärlich bekleidet dargestellt wurden. 18 1688 schreibt der Philosoph Christian Thomasius einen Aristoteles-Roman, den er unter den vielversprechenden Titeln Von des Aristotelis seinen Courtesien  19 und Die Liebes-Geschichte des Aristotelis  20 ankündigt. Thomasius variiert die Aristo‐ teles-Phyllis-Legende und vermeidet jegliche moralische Belehrung. In Ab‐ wandlung der Legende reitet nicht die Frau als Inbegriff der Gefahr sexueller Verführung auf dem Philosophen, sondern dieser ist es selbst, der die Herrschaft der begehrten Frau und die Erniedrigung durch sie regelrecht erfleht. Und Aris‐ toteles verzehrt sich nicht nach Phyllis, sondern nach Olympias von Epirus, der Mutter Alexander des Großen: „Grosse Königin / schrie hier Aristoteles, sich zu der Olympias Füssen werffende / eure Majestät lassen mir zu / daß ich für diese überschwengliche Gnade derselben den Absatz küsse / weil ich mich all zu unwürdig erkenne / diese mir bezeigete Gewo‐ genheit zu verdienen / auch Lebenslang euer Majestät unterthänigster Sclave und Ehrendiener sterben werde.“ 21 Die Verführungsszene flicht Thomasius in ein öffentliches Philosophieexamen Prinz Alexanders ein. Die versammelten Philosophen des Königreichs sitzen an einer langen Tafel und führen „herrliche Discurse“. 22 Die höfischen Verhaltens‐ standards in der Öffentlichkeit über dem Tisch erzwingen von Olympias, die neben Aristoteles sitzt, eine Haltung, die der intim codierten Situation unter dem Tisch nicht entspricht, „zumahlen Aristoteles beym Trunck anfieng untern 87 3. Kabale und Liebe (1784) 23 [Thomasius: ] Schertz- und Ernsthaffter / Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, S. 549. 24 [Thomasius: ] Schertz- und Ernsthaffter / Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, S. 569. 25 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 650. 26 Friedrich von Logau: Sinngedichte. Hgg. v. Ernst-Peter Wieckenberg. Stuttgart 1984, S. 173. 27 Von Logau: Sinngedichte, S. 190. Tische mit den Knien zu löffeln; und erwartete sie mit Verlangen [...]“. 23 Die Verführung gerät Aristoteles zum Desaster. Olympias kann sich „unmüglich des Lachens enthalten / weil sie den geringsten Appetit nicht bey sich befunde / des Aristotel. Mund zu küssen / indem sie wohl wuste / daß er das Maul gar selten auszuspühlen pflegte / und sein Athem nicht viel anders roche / als wenn er Arsenicum gefressen hätte“. 24 Die Destruktion von philosophischer und poeto‐ logischer Autorität des Aristoteles ging im 18. Jahrhundert so weit, dass Jakob Michael Reinhold Lenz in seinen Anmerkungen übers Theater (1774) von der aristotelischen Poetik als einer „poetischen Reitkunst“ 25 sprechen konnte. Damit war die poetologische Programmatik mit der Sexualitätsdramatik in der Aris‐ toteles-Phyllis-Legende verwoben. Als Disziplinierungsmetapher taucht sie in einem Epigramm des Barockdichters Friedrich von Logau (1605-1655) 1654 auf. In zwei Zweizeilern thematisiert er den Zusammenhang von Begehren und Dis‐ ziplinierung des Begehrens in der bekannten Reitkunstmetaphorik. Das erste Epigramm trägt den Titel Weiberhaare, das zweite heißt Begierden: „Wie / daß das Frauenvolck so lange Haare führen? Sie sind der Zaum / womit der Mann sie kan regiren.“ 26 „Begierden sind ein hartes Pferd das seinen Reuter reitet Wann nicht Vernunfft sein Maul versteht vnd recht den Zügel leitet.“ 27 Bei Schiller sagt Lady Milford: „Ich nahm dem Tyrannen den Zügel ab, der wol‐ lüstig in meiner Umarmung erschlappte“ (FA 2, S. 598) und beschreibt damit ein Programm der Triebabfuhr zugunsten der Reduktion repressiver Energien. Sie definiert die Geschlechterdifferenz folgendermaßen: „Wir Frauen können nur zwischen Herrschen und Dienen wählen - […]“ und als größte Wonne definiert sie „Sklavinnen eines Manns zu sein, den wir lieben“ (FA 2, S. 589). Der Text‐ verlauf macht deutlich, dass auch dieses Liebesmodell defizitär bleibt und schei‐ tert. Denn Milford entsagt und flieht, während die bürgerliche Louise umge‐ bracht wird. Selbst im Tod bildet sich die Geschlechterordnung in der sozialen Differenz ab. 88 3. Kabale und Liebe (1784) Es ist die Liebe, welche die Unordnung schafft, die Individualität gleichermaßen voraussetzt, um sich zu finden, und auflöst, um sich zu verlieren. In dieser Spannung ereignet sich die soziale Differenz von höfischer und bürgerlicher Gesellschaft, von höfischen und bürgerlichen Verhaltensstandards und Be‐ wusstseinsformen als eine Katastrophe, welche die Liebe vernichtet, um die so‐ ziale Un-Ordnung zu bewahren. Schillers Louise unterstreicht, dass die weib‐ liche Subjektkonstitution in den Zeiten gesellschaftlicher Ungleichheit nur zum Preis des Scheiterns möglich, also unmöglich ist. 89 3. Kabale und Liebe (1784) 1 Textausgabe: Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre und andere Erzäh‐ lungen. Nachwort v. Bernhard Zeller. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart 2003. 2 In diesem Zusammenhang sei summarisch auf die Einführungen zu Leben und Werk Friedrich Schillers hingewiesen von Peter-André Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit. 2 Bde. München 2000. - Claudia Pilling, Diana Schilling u. Mirjam Springer: Friedrich Schiller. Reinbek b. Hamburg 2002. - Michael Hofmann: Schiller. Epoche - Werk - Wirkung. München 2003. - Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005. 3 Gerhard Köpf: Friedrich Schiller Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Geschichtlichkeit, Erzählstrategie und „republikanische Freiheit“ des Lesers. München 1978, S. 15ff.; mit Vorschlägen zu einem Unterrichtsmodell, ebd., S. 76ff. 4 Vgl. Hans Hermann Rautenberg, Almut Hoppe u. Wilhelm Dehn: Friedrich Schiller. Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Einführung in rezeptionsästhetische Betrachtungs‐ weisen. Text- und Arbeitsbuch. Frankfurt a.M. 1978 u.ö. 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) Friedrich Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre zählt nicht ge‐ rade zu den als Meisterwerke des Klassikers kanonisierten Texten. 1 Indes zeichnet sich seit mehr als drei Jahrzehnten eine vorurteilsfreie Rezeption in Forschung und Lehre ab, die nicht um jeden Preis versucht, in einen schiller‐ schen Text etwas hinein zu geheimnissen, was dieser nur ungenügend preiszu‐ geben vermag. Zwar spricht auch Schiller selbst in einem Brief an Goethe vom 23. Juni 1797 von der „Foderung an eine Symbolische Bedeutsamkeit“ (NA 29, S. 87), die Texten grundsätzlich eigne. Doch gilt es zunächst, das Interesse der Leser für diesen Text zu sichern, bevor er mit Gewichten und Maßen des Lek‐ türekanons gewogen und vermessen werden kann. 2 Deshalb geht es in diesem Kapitel vor allem um die Bedeutung dieser Erzählung für den Deutschunterricht. Über die ältere Forschungsliteratur zum Verbrecher aus verlorener Ehre bis zum Ende der 1970er Jahre informiert ausführlich Gerhard Köpf (1978). 3 Das Arbeitsbuch von Rautenberg, Hoppe und Dehn (ebenfalls 1978 erschienen) ver‐ folgt einen rezeptionsorientierten Ansatz. 4 Es geht um eine Fortschreibung der Problemlage dieser Erzählung in das Leben der Schüler hinein, mithin um eine produktive Rezeption. Die Autoren plädieren für eine Unterrichtsaufbereitung in vier Phasen. In der ersten Phase soll im Mittelpunkt die genaue Lektüre des Textes stehen, begleitet von einer Thematisierung der leserorientierten Rezepti‐ onsbedingungen und einer allgemeinen Einführung in zentrale Denkfiguren der Rezeptionsästhetik. Die zweite Phase versucht eine Verständigung herzustellen über das aktualisierte Textverstehen der Erzählung. In der dritten Phase soll 5 Vgl. Rainer Kawa: Friedrich Schiller - Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Frankfurt a.M. 2. Aufl. 1999. Kawa stellt sich selbst in diese Reihe (vgl. ebd., S. 59). Allerdings ist der Begriff Adaptionsgeschichte, den der Autor gebraucht, irreführend, da für den von ihm beschriebenen Sachverhalt der wissenschaftlich definierte Begriff der Wirkungsge‐ schichte zur Verfügung steht (vgl. ebd., S. 65). 6 Vgl. Hendrik u. Rainer Madsen: Unterrichtsmodell Friedrich Schiller Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Hgg. v. Johannes Diekhans. Paderborn 2002. versucht werden, den Verstehenshorizont des historischen Lesers, also die ge‐ schichtlichen Bedingungen von Kommunikation im Zeitraum der Entstehung von Schillers Erzählung zu rekonstruieren. In der abschließenden vierten Phase werden die zeitgenössischen und die aktuellen, schülerorientierten Rezeptions‐ bedingungen einander gegenübergestellt, diskutiert und bewertet. Zweifels‐ ohne ist dieses Unterrichtsmodell stark an der in den siebziger Jahren aktuellen (und modischen) Methodendiskussion innerhalb der Germanistik orientiert, die mit der ‚Konstanzer Schule‘ ( Jauß, Iser, Warning), der Leserforschung (Engelsing u.a.) und der sozialgeschichtlichen Literaturinterpretation bedeutende wissen‐ schaftliche Beiträge erwirtschaftet hat. Die Gefahr bei diesem methodischen Zuschnitt, das hat die Diskussion um die Vorzüge und Nachteile der Rezeptions‐ ästhetik in der Wissenschaft gezeigt, liegt aber darin, dass nunmehr über die Rezeptionsbedingungen eines Textes debattiert wird, aber nicht mehr die Text‐ inhalte im Mittelpunkt der Lektürearbeit stehen. Außerdem müssten heute, wollte man diesem Unterrichtsvorschlag folgen, die Referenztexte aus der For‐ schungsliteratur, die in diesem Arbeitsbuch abgedruckt sind, erheblich aktuali‐ siert werden. Die Interpretationshilfe für den Deutschunterricht von Kawa (1990, 2. Aufl. 1999) schließt diese Reihe älterer sozialgeschichtlicher und re‐ zeptionstheoretischer Arbeiten ab und kann auch heute noch als wichtiges Hilfsmittel zur inhaltlichen Aufbereitung von Schillers Erzählung herangezogen werden. 5 Literaturdidaktische Arbeiten jüngeren Datums liegen nur mit dem Unterrichtsmodell von Hendrik und Rainer Madsen vor (2002). 6 Da der Verbre‐ cher aus verlorener Ehre sowohl in Sekundarstufe I als auch II gelesen werden kann, entwickeln die Autoren in neun Bausteinen sehr detailliert ein didakti‐ sches Konzept, das sich an der Doppeljahrgangsstufe 9/ 10 orientiert und sich folgendermaßen gliedert: Baustein 1 diskutiert die diversen Möglichkeiten, einen Einstieg in die Erzähltextanalyse zu finden; Baustein 2 erschließt Schillers Menschenbild am Beispiel der Einleitung zur Erzählung; Baustein 3 verfolgt die Verbrecherkarriere der Hauptfigur Christian Wolf und führt in die aufsatzge‐ stützte Figurencharakterisierung ein, wobei Rollenspiele eine ergänzende Funk‐ tion übernehmen; Baustein 4 diskutiert die Resozialisierungsversuche Wolfs bis hin zu seiner freiwilligen Auslieferung an die Behörden, die Aufsatzform Be‐ 92 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 7 Vgl. Christa Bürger: Schiller als Erzähler? Von der Kunst des Erzählens zum Erzählen als Kunst, in: Friedrich Schiller - Angebot und Diskurs: Zugänge, Dichtung, Zeitge‐ nossenschaft. Hgg. v. Helmut Brandt. Berlin, Weimar 1987, S. 33-48. 8 Thomas Nutz: Vergeltung oder Versöhnung? Strafvollzug und Ehre in Schillers Verbre‐ cher aus Infamie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 146-164, hier S. 150. 9 Vgl. Nutz: Vergeltung oder Versöhnung? , S. 153. 10 Vgl. Nutz: Vergeltung oder Versöhnung? , S. 163. griffserläuterung soll am Beispiel des Ehrbegriffs erlernt werden; Baustein 5 lässt die Schüler Gliederungsversuche erarbeiten, Schillers Erzähltechnik durch einen wissenschaftlichen Sekundärtext reflektieren und seine narrative Dar‐ stellungstechnik durch die Lektüre von Abels Lebensgeschichte Friedrich Schwans verstehen; im Baustein 6 werden sozialpsychologische und gesell‐ schaftliche Fragen diskutiert, dies reicht von der vermeintlichen Physiognomie eines Verbrechers bis hin zur gesellschaftlichen Funktion von Strafen und Haft; Baustein 7 kontextualisiert die Erzählung mit Entstehungs- und Publikations‐ daten und mit rezeptionsgeschichtlichen Fakten; Baustein 8 erweitert die Text‐ basis desselben Autors um weitere themenrelevante Texte wie beispielsweise das Gedicht Die Kindsmörderin (von den Autoren fälschlicherweise als Beispiel‐ text für die Balladenform herangezogen) oder das Drama Die Räuber; dieser As‐ pekt der Intertextualität wird im letzten Baustein 9 um entsprechende Textbei‐ spiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert ergänzt. Somit bietet der Band eine umfassende Aufbereitung von Schillers Erzählung für den Deutschunterricht, auch wenn die Frage zu stellen ist, ob der fachwissenschaftliche Unterricht mit der Komplexität dieser einzelnen Bausteine nicht erheblich überfrachtet wird. Mit dem vorliegenden Beitrag bleibt also die Hoffnung verknüpft, dass die Er‐ zählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre - und damit der Autor Friedrich Schiller - für den Deutschunterricht dauerhaft zurückgewonnen werden kann. Ein wichtiger Impuls zur Neubewertung dieser Erzählung ging sicherlich 1987 von Christa Bürgers streitbarem Versuch aus, die Produktionsseite des Verbrechers aus verlorener Ehre, also die Autorseite und die konstitutiven gesell‐ schaftlich-historischen Rahmenbedingungen wieder mehr in den Blick zu rü‐ cken. 7 Thomas Nutz verfolgt die „justizkritischen Töne“ 8 der Erzählung. Nutz kann herausarbeiten, dass sich Schillers Kritik gegen einen Grundsatz der Rechtsprechung des Ancien Régime richtet, nämlich gegen das Vergeltungs‐ prinzip. 9 Schiller wolle mit seiner Erzählung zeigen, wie kriminelles Verhalten entstehe und wie die psychische Disposition des Täters zur Tat beschaffen sei. 10 Dabei rückten für den jungen Autor die gesellschaftlichen Bedingungen und Gegebenheiten in den Mittelpunkt des Interesses. Neben dieser allgemein zeit‐ kritischen und an einer Justizreform interessierten Intention des Textes hat 93 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 11 Roswitha Jacobsen: Die Entscheidung zur Sittlichkeit. Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786), in: Winfried Freund (Hg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 15-25, hier S. 25. In dem diesem Beitrag zugrunde liegenden älteren Aufsatz von Jacobsen ist noch nicht von Novelle, sondern gattungstypologisch neutral von Text die Rede, vgl. Roswitha Jacobsen: Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Weimarer Beiträge 34 (1988), S. 746-759. 12 Victor Lau: „Hier muß die ganze Gegend aufgeboten werden, als wenn ein Wolf sich hätte blicken lassen.“ Zur Interaktion von Jurisprudenz und Literatur in der Spätauf‐ klärung am Beispiel von Friedrich Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Scientia Poetica 4 (2000), S. 83-114, hier S. 97. 13 Lau: „Hier muß die ganze Gegend aufgeboten werden“, S. 114. 14 Klaus Oettinger: Schillers Erzählung Der Verbrecher aus Infamie. Ein Beitrag zur Rechts‐ aufklärung der Zeit, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 266-276, hier S. 275f. Roswitha Jacobsen vor allem auch die moralphilosophische Seite der Erzählung hervorgehoben. Diese manifeste Moralphilosophie des Textes, die nur unschwer die Spuren der Moralphilosophie von Schillers philosophischem Karlsschul‐ lehrer Jakob Friedrich Abel (1751-1829) leugnen könne, erkläre „die Unterord‐ nung des Individuums unter ein allgemeines Sittengesetz als generelles Erfor‐ dernis menschlicher Existenz“. 11 An die Verbindung zwischen Rechtsprechung und Erzählliteratur in der Aufklärung knüpft auch der Aufsatz von Victor Lau an und sieht in der Vorrede zum Verbrecher aus verlorener Ehre „medizinische, psychologische, philosophische und naturhistorische, aber auch und nicht zu‐ letzt juristische Elemente, die im Tauchbad literarischer Reagenzien ganz neue katalytische Wirkungen entfalten“. 12 Besonders seine Engführung der schiller‐ schen Figur des Christian Wolf mit dem Leibniz-Schüler und großen Aufklä‐ rungsphilosophen Christian Wolff und dessen umfassender Strafrechtssyste‐ matik vermag das Deutungspotenzial zu unterstreichen, das eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit Schillers Erzählung freizulegen in der Lage sein kann, selbst wenn man nicht unbedingt mit Lau in Christian Wolf den „vergessene[n] Zwillingsbruder“ 13 Christian Wolffs erkennen will. Die entscheidende Anregung zu einer genauen Untersuchung des strafrechts‐ historischen Diskurses in Schillers Erzählung ging zweifelsohne von dem viel zitierten Aufsatz Klaus Oettingers 1972 aus. Schiller verfolge in seiner Erzählung eine regelrechte „Strategie der Aufklärung“, die in Folgendem bestehe: „Indem der Leser gleichsam als Anwalt des Verbrechers in eine fiktive Revisionsver‐ handlung gedrängt wird, muß er, um Argumente der Verteidigung zu gewinnen, sein Rechtsempfinden rationalisieren und sich der Mühe einer generellen Re‐ flexion über Recht und Gerechtigkeit unterziehen“. 14 Dies galt zweifelsohne für die zeitgenössische Leserschaft, und so berechtigt diese Deutung ist, so histo‐ risch, um nicht zu sagen historistisch orientiert bleibt sie und beantwortet die 94 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 15 Vgl. Gerhard Neumann: Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre - Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Unser Com‐ mercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hgg. v. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 433-460. 16 Vgl. Fritz Martini: Der Erzähler Friedrich Schiller, in: Schiller: Reden im Gedenkjahr. Im Auftrag der deutschen Schillergesellschaft hgg. v. Bernhard Zeller. Stuttgart 1961, S. 124-158. 17 Vgl. Benno von Wiese: Friedrich Schiller. 3., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1963. 18 Vgl. Gerhard Kaiser: Der Held in den Novellen Eine großmütige Handlung, aus der neu‐ esten Geschichte und Der Verbrecher aus verlorener Ehe [! ], in: G. K.: Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien. Göttingen 1978, S. 45-58 [Erstveröffentlichung 1971]. 19 Vgl. Neumann: Die Anfänge deutscher Novellistik, S. 440. 20 Vgl. Neumann: Die Anfänge deutscher Novellistik, S. 443f. - Allerdings bleibt Neumann die entscheidende Antwort auf die Frage, worin die novellistische Neubegründung bei Schiller besteht, schuldig, denn die allgemeinen Hinweise auf die Entdeckung des Sub‐ jekts und dessen Spannung zwischen Rebellion und Autonomie treffen mindestens ebenso exakt auch auf das Subjekt Werther und damit auf einen Text zu, der schon 1774 veröffentlicht worden war. Vgl. dazu Matthias Luserke: Der junge Goethe. Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe. Göttingen 1999, S. 112ff. auch für den Literaturunterricht entscheidende Frage nicht, worin die Moder‐ nität dieses Textes, seine Aktualität und Lesenotwendigkeit für uns heute noch besteht. Gerhard Neumann versuchte in seinem Beitrag von 1984 den Verbrecher aus verlorener Ehre als Gründungstext deutscher Novellistik auszuweisen. 15 Schon Gerhard Kaiser hatte, freilich konventionell und an den Arbeiten von Fritz Mar‐ tini (dessen Rede, gehalten 1955, veröffentlicht 1961) 16 und Benno von Wiese (1959) 17 orientiert, das Novellistische der Erzählung in ihrer ‚unerhörten Bege‐ benheit‘ zu erkennen geglaubt. 18 Doch konnten diese Deutungen im Zuge des Wandels wissenschaftlicher Paradigmata in den 1970er und 1980er Jahren nicht mehr überzeugen. Sicherlich ist die These Neumanns in seiner poststruktura‐ listisch geführten Argumentation, dass Schillers Erzählung „zum ersten Mal in der deutschen Literatur das Problem des Subjekts als Problem der ‚Verwaltung‘ menschlichen […] Lebens“ 19 zeige, sehr pointiert. Neumann vertritt die These, Schillers bürgerliches Subjekt Christian Wolf sei durch Gesetzesnorm und Trieb‐ struktur doppelt codiert. 20 Damit brachte er den Hinweis auf die Bedeutung des Sexualitätsdiskurses der bürgerlichen Gesellschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Erinnerung. Unter anderem in seinem Gedicht Die Kindsmör‐ derin (1782) hatte Schiller auch hierauf sehr präzise reagiert, ganz zu schweigen von den zahlreichen Hinweisen, die sich in den Räubern (1781) und in Kabale und Liebe (1784) finden lassen. Die darauf folgende Forschungsliteratur verfolgt diese Interpretationslinien weiter, summarisch sei hier auf die Aufsätze von Achim Aurnhammer (1990) 95 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 21 Vgl. Achim Aurnhammer: Engagiertes Erzählen: Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: A. A., Klaus Manger u. Friedrich Strack (Hgg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990, S. 254-270. - Claudia Liebrand: „Ich bin der Sonnenwirt.“ Subjektkonstitution in Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse. Hgg. v. Roland Borgards u. Johannes Friedrich Lehmann. Würzburg 2002, S. 117-129. 22 Aurnhammer: Engagiertes Erzählen, S. 270. - Aurnhammer gibt auch einen annähernd vollständigen Überblick über die Forschungsliteratur zum Verbrecher aus verlorener Ehre, die er in die vier Gruppen von rezeptionsästhetischen, gattungsgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen sowie geistes- und rechtsgeschichtlichen Arbeiten einordnet (vgl. ebd., S. 255f.). 23 Liebrand: „Ich bin der Sonnenwirt.“, S. 120. 24 Liebrand: „Ich bin der Sonnenwirt.“, S. 123. 25 Vgl. Liebrand: „Ich bin der Sonnenwirt.“, S. 119. 26 Liebrand: „Ich bin der Sonnenwirt.“, S. 119. 27 Vgl. Der Sonnenwirth. Historisches Urbild des politischen Seelengemäldes: Der Verbre‐ cher aus verlorener Ehre, von Schiller. Aus den Akten v. Heinrich Ehregott Linck. Vai‐ hingen 1850. und Claudia Liebrand (2002) verwiesen. 21 Aurnhammer relativiert die zuletzt stark betonte Seite der Justizkritik in der Erzählung durch den Hinweis auf die Bedeutung der theologischen Referenzen im Text und kommt zu dem Schluss, dass Schillers Erzählung weniger ein Dokument der Justizkritik darstelle, als vielmehr „theologische Sozialkritik einer vater- und gnadenlosen Gesell‐ schaft“. 22 Aurnhammers Aufsatz erarbeitet dadurch die grundsätzliche Möglich‐ keit, den Verbrecher aus verlorener Ehre auch im Religions- oder Ethikunterricht als wichtiges Textdokument einer literarischen Debatte um Gnade und Gerech‐ tigkeit heranzuziehen. Claudia Liebrand macht demgegenüber wieder die ältere Lesart der Forschung, die Erzählung funktioniere als eine Art „Seelenge‐ schichte“, 23 stark, erweitert diese Deutungsperspektive aber dekonstruktivis‐ tisch. Sie begreift die Erzählung als erzählte Tragödie, die zum Gegenstand die „tragische Selbstkonstitution des Christian Wolf “ 24 habe. Zu den Strategien dieser Subjektkonstitution gehörten vornehmlich die Exklusion des Weiblichen und andere Techniken der Ausschließung wie Vereinzelung, Diffamierung oder Stigmatisierung. 25 Liebrand reklamiert den schillerschen Text damit als eine Art Gründungsurkunde der „postmodernen Theoretiker […], die mit der De-Kon‐ struktion des Subjekts befaßt sind“. 26 Schiller hat die tatsächliche Geschichte des Sonnenwirts Johann Friedrich Schwan (1729-1760) möglicherweise von seinem Philosophielehrer auf der Karlsschule Jakob Friedrich Abel erfahren, dessen Vater als Richter über Schwan das Urteil gesprochen hatte. Schwan war am 30. Juli 1760 in Vaihingen an der Enz hingerichtet worden. 27 Ende November 1783 gab Schiller dem Verleger Gö‐ 96 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 28 Vgl. Jacob Friedrich Abel: Lebens-Geschichte Fridrich Schwans, in: J. F. A.: Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben. Stuttgart 1787, 2. Tl., S. 1-86. - Vgl. auch die Neuedition Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Jacob Friedrich Abel: Lebens-Geschichte Fridrich Schwans mit Materia‐ lien. Ausgewählt und eingeleitet v. Bernd Mahl. Stuttgart 1983. Einen zuverlässigen Neudruck, versehen mit einer vorzüglichen Kommentierung, bietet der Band Jacob Friedrich Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karls‐ schule (1773-1782). Mit Einleitung, Kommentar und Bibliographie hgg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 331-371 u. S. 619-626 (dort auch weiterführende Literatur zum historischen Fall). - Eine nochmalige literarische Aufwertung, die freilich ohne Schillers Erzählung nicht zu denken wäre, erfuhr der Sonnenwirt durch Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Ein Roman. [1854]. Mit einer Einleitung v. Hermann Fischer. 2 Tle. Leipzig 1924. 29 Abel: Eine Quellenedition, S. 621. schen das Manuskript der Erzählung, die im Februar-Heft der Thalia 1786 er‐ schienen ist. 1787 veröffentlichte Abel seinerseits seine Geschichte des Sonnen‐ wirts. 28 Heute geht man davon aus, dass der Lehrer Abel nach der Veröffentlichung seines Schülers Schiller seine Version dieser Kriminalge‐ schichte niedergeschrieben hat. Ob Schiller aber durch Abel oder nicht auch durch andere Quellen auf den erzählerischen Stoff des Sonnenwirts gestoßen ist, bleibt unklar. Einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit Schillers von Abels Bericht widerspricht allerdings Wolfgang Riedel. In seiner Dokumenta‐ tion von Abels Schriften schreibt er: „Zu Abels ‚Quellen‘ ist m.E. auch Schillers im Jahr zuvor erschienene Erzählung Verbrecher aus Infamie, Eine wahre Ge‐ schichte zu zählen […]“. 29 Das Interesse Schillers für das Genre der ‚Kriminaler‐ zählung‘ jedenfalls hielt noch mehrere Jahre an. 1792, 1793 und 1795 gab er Bände einer Sammlung Merkwürdiger Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit nach dem französischen Text des François Gayot de Pitaval von 1734 heraus. Schiller ist nicht als Erzähler im engeren Sinn bekannt geworden. Zwar werden heute in der Schiller-Forschung zu seinen Prosatexten nicht nur die fiktionalen Erzählungen gerechnet, sondern auch das gesamte historiografische Werk. Doch als Erzählungen im engeren, narrativ-fiktionalen Sinn, die auch keine Übersetzungen darstellen, kann man nur vier Texte bezeichnen, die er selbst geschrieben hat: Eine großmütige Handlung, Verbrecher aus Infamie, Der Geisterseher und Spiel des Schicksals. Diese Erzählungen sind alle in den 1780er Jahren entstanden. Die erste mit dem Titel Eine großmütige Handlung, aus der neusten Geschichte veröffentlichte Schiller im Wirtembergischen Repertorium 1782. Auch in dieser Erzählung erhebt - wie in den Jugenddramen - Schiller den Anspruch, den ganzen Menschen zu zeigen und nicht ein idealisiertes Ge‐ schöpf oder eine nicht disziplinierbare Triebnatur, die er „Engel und Teufel“ (FA 97 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 30 Vgl. J.A. McCarthy: Die republikanische Freiheit des Lesers. Zum Lesepublikum von Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Wirkendes Wort 29 (1979), S. 28-43. 7, S. 519) nennt. Eine Psychologie der Figuren, welche die Psychologie des Men‐ schen widerspiegelt und Literatur als Seelenkunde begreift, erreicht und ent‐ faltet Schiller aber erst in seiner zweiten Erzählung Verbrecher aus Infamie. Eine wahre Geschichte, die 1786 in der Thalia erschien. In seiner Ankündigung der Rheinischen Thalia, die er bereits im Oktober und November 1784 verschickte, hatte Schiller programmatisch geschrieben, dass seine Zeitschrift allen Themen gegenüber offen sei, dies gelte auch für die „Gemälde merkwürdiger Menschen und Handlungen. […] Neugefundene Räder in dem unbegreiflichen Uhrwerk der Seele - einzelne Phänomene, die sich in irgend eine merkwürdige Verbesserung oder Verschlimmerung auflösen, sind mir, ich gestehe es, wichtiger als die toten Schätze im Kabinett eines Antikensammlers […]“ (NA 22, S. 95). Der Wieder‐ abdruck des Verbrechers aus Infamie 1792 erfolgte unter dem schließlich geläu‐ figen Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Im Untertitel wird die Erzählung „eine wahre Geschichte“ genannt. Der Autor markiert damit einen Wahrheitsanspruch, der ihm von vornherein die Diskus‐ sion um den fiktionalen Charakter seiner Erzählung erspart. Da sie wahr ist, kann sie nicht erfunden sein, auch wenn die beanspruchte Wahrheit eine Er‐ findung ist. Schiller bewegt sich mit diesem Anspruch seiner Erzählhaltung auf der Ebene der zeitgenössischen Erzählungen der Spätaufklärung wielandscher Provenienz, die eben dies beanspruchen: Wahres über den Menschen mitzu‐ teilen und sich jeglicher moralischen Bewertung zu enthalten. Die Formulie‐ rung: „Der Mensch, von welchem die Rede ist“ (FA 7, S. 563), bezieht Schiller zwar zunächst auf die Hauptfigur Christian Wolf, doch sie kann auch grund‐ sätzlich verstanden und mit Schillers anthropologischem Diskurs verbunden werden: Es geht bei der Darstellung des individuellen Subjekts stets um die Be‐ schreibung allgemeiner anthropologischer Konstituenzien. Deutlich sind im Verbrecher aus verlorener Ehre die schriftstellerischen Fort‐ schritte des Autors zu erkennen. Der Plot wird komprimiert vorgetragen, die Psychologie der Figuren steht im Mittelpunkt, der Ich-Erzähler schafft kom‐ mentierende Distanz zur erzählten Geschichte und erfüllt somit die selbstge‐ stellte Aufgabe, die „Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser“ (FA 7, S. 563) so zu schließen, dass der Leser vom Erzählten affiziert bleibt, und dennoch „die republikanische Freiheit des lesenden Publikums“ (FA 7, S. 564) zu wahren, die in der Urteilsfreiheit der Leser besteht. 30 Nicht eine rhetorisch agie‐ rende Überrumpelung der Leser wird gefordert, sondern die Darlegung der so‐ zialen und der individuellen Faktoren, die zu einer bestimmten Handlung der 98 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) Figur führen. Das bedeutet für Schiller auch, die Untaten Wolfs nur begründet im Detail zu schildern, denn „das bloß abscheuliche hat nichts unterrichtendes für den Leser“ (FA 7, S. 580). Die menschliche Seele sei unveränderlich, ihre Bedingungen seien es hingegen nicht, schreibt Schiller. Im Falle des Sonnen‐ wirts, jenes Verbrechers aus Infamie, bedeutet dies die „Leichenöffnung seines Lasters“ (FA 7, S. 565). Die Pathologie der Handlung ersetzt eine herkömmliche Hermeneutik der Person. Schillers publizistische Anfänge waren dagegen konventionell; so liest man in der Vorbemerkung zum Wirtembergischen Repertorium der Literatur, das er zusammen mit Abel, Atzel und Petersen im März 1782 gegründet hatte und das nur ein Jahr lang bis Frühjahr 1783 erschien, das erklärte Ziel der Zeitschrift sei die „Ausbildung des Geschmacks, angenehme Unterhaltung und Veredlung der moralischen Gesinnungen“ (FA 8, S. 876). Dem Verbrecher aus verlorener Ehre stellt Schiller hingegen wesentlich erweiterte, programmatisch-anthropologi‐ sche Vorstellungen voran. Der Sonnenwirt Christian Wolf ist Gastwirtssohn, er wächst ohne Vater auf und muss in der Familie die Vaterrolle übernehmen. Be‐ reits während seiner Schulzeit (und immerhin besucht Christian Wolf eine Schule) hält man ihn für einen „losen Buben“ (FA 7, S. 565), der gleichermaßen frech wie erfindungsreich ist. Seine körperliche Erscheinung wird vom zeitge‐ nössischen Geschmack, den der Erzähler ausdrücklich schildert, als abstoßend charakterisiert, bei Frauen kann Wolf nicht reüssieren. Dann fällt im Text jene Formulierung, die der Erzähler gleichsam als Begründung für Wolfs weitere psychische Entwicklung und die Genese seiner kriminellen Energie anführt: „Die Verachtung seiner Person hatte früh seinen Stolz verwundet, und zündete endlich einen schleichenden Unmut in seinem Herzen an, welcher nie mehr erloschen ist“ (FA 7, S. 566). Sexualität verwechselt er mit Liebe, und um eine verarmte Frau an sich zu binden, bringt er ihr die Beute seiner Wilddiebereien als symbolische Opfer dar. Er wird gefangen genommen und arretiert. Nach seiner Entlassung treibt ihn eine gefährliche Allianz aus Kränkung und hand‐ festem Hunger wieder zum Wilddiebstahl, er wird erneut gefangen gesetzt. Nach der zweiten Entlassung aus der Haft wird er in seinem Heimatort sozial geächtet, die Stigmatisierung, die ursprünglich seinem Charakter und seinem Körper galt, betrifft nun seine soziale Rolle. Er findet keine Arbeit und wird zum dritten Mal Wilddieb. Nun erhält er in einem harten Gerichtsurteil eine drei‐ jährige Festungshaft, und nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, „fängt eine neue Epoche in seinem Leben an“ (FA 7, S. 568). Schiller fügt ein wörtliches, freilich fiktives Bekenntnis Christian Wolfs ein, er sieht sich als „Märtyrer des natürlichen Rechts und als ein Schlachtopfer der Gesetze“ (FA 7, S. 569). Die Unfähigkeit zu lieben, der Verlust des letzten familialen Rückhalts durch den 99 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) Tod der Mutter, die gesellschaftliche Zurückweisung, der Verlust bürgerlicher Verhaltensstandards wie Anstand und Scham - all das führt Wolf als Gründe des sozialen Abstiegs an. Er bekennt: „Meine Infamie war das niedergelegte Kapital, von dessen Zinsen ich noch lange Zeit schwelgen konnte“ (FA 7, S. 571). In der Haft entwickelte er sich zum Verbrecher, der böse handelt, weil er böse handeln will. Darin liegt eine entscheidende Differenz zum Brüderpaar Karl und Franz Moor der Räuber, in deren Nähe man die Geschichte vom Sonnenwirt stets rückt. Als Wolf schließlich aus der Haft entlassen wird, tötet er heimtückisch den Jagdaufseher und ehemaligen Rivalen in der Gunst um ein Mädchen, der ihn dreimal gestellt und verhaftet hatte. Auf der Flucht stößt er auf eine Räu‐ berbande. In einer Zusammenkunft dieser Bande wird eine Rede vorgetragen, deren Absolutismuskritik durchaus auch dem Kontext von Schillers Gedicht Die schlimmen Monarchen entstammen könnte, das in der Anthologie auf das Jahr 1782 erschienen war. Unter anderem wird nun von den Räubern die Frage ge‐ stellt, „ist es dahin gekommen, Bruder, daß der Mensch nicht mehr gelten soll als ein Hase? Soll ein Untertan des Fürsten für eine wilde Sau des Fürsten zum Geisel dienen? “ (FA 7, S. 577) Wolf wird „erklärter Eigentümer einer Hure“ (FA 7, S. 580) und zum Anführer der Räuberbande gewählt. Er lässt das Gerücht ausstreuen, er paktiere mit dem Teufel und könne hexen. Der Autor Schiller hat an dieser Textstelle eine sehr subtile Kritik an den Beharrungskräften von Vor‐ urteilen und Aberglauben formuliert, deren Kritik als genuiner Gegenstand der Aufklärung gilt. Später wird diese Kritik im achten Brief des Essays Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) in die be‐ rühmte Frage münden, woran es, trotz aller Aufklärung, liege, dass wir noch immer Barbaren seien (vgl. NA 20, S. 331). Schließlich empfindet Wolf doch Reue über seine Taten. Allerdings bleibt der Erzähler eine psychologische Erklärung dieses Wandels schuldig, und diese Passage der Erzählung gehört sicherlich zu den schwächsten Stellen des Textes (vgl. FA 7, S. 581). Der Erzähler erklärt und begründet nun nicht mehr psychologisch, sondern beschreibt lediglich den Wandel. Ein Rest an natürlichem Verstand ist Wolf geblieben, und insofern ist die Anrufung der „unerbittliche[n] Nemesis“ (FA 7, S. 585), welche die Uhr ihres Schuldners anhalte, eher dem Gestus rhetorischer Tradition verpflichtet, denn als Erklärungsmuster für Wolfs Wandlung heranzuziehen. Der Verbrecher aus Infamie bittet den Landesfürsten brieflich um Begnadigung. Auf einer Reise schließlich stellt er sich den Behörden. Dem vernehmenden Richter bekennt er: „Ich bin der Sonnenwirt“ (FA 7, S. 587). Ob dieser auf die geforderte Barmher‐ zigkeit eingeht, bleibt vom Text her offen, so wie das Ende der Geschichte ins‐ gesamt offenbleibt und zur Fortschreibung im Rahmen eines produktiven Lite‐ 100 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 31 Vgl. die Neuausgabe unter dem Titel August Gottlieb Meißner: Ausgewählte Kriminalge‐ schichten. Mit einem Nachwort hgg. v. Alexander Košenina. St. Ingbert 2003, S. 91. 32 Vgl. Peter Nusser: Der Kriminalroman. 2., überarbeitete u. erweiterte Aufl. Stuttgart 1992, S. 82. - Vgl. dazu ergänzend die Literaturhinweise bei Liebrand: „Ich bin der Sonnenwirt.“, S. 117-129. 33 Nusser: Der Kriminalroman, S. 1. Hier auch weiterführende Literatur. 34 Weiter betrachtet gehörten dann auch alle Texte aus dem Umkreis des Medea-Themas, der Kindsmorddiskussion des 18. Jahrhunderts und der versteckten schulischen ‚Verbrechen‘ in dieses terminologische Feld. Dass diese Überlegungen in der sozialgeschichtlichen Lite‐ raturwissenschaft der 1980er Jahre gründlich sowohl theoretisch als auch empirisch aufge‐ arbeitet wurden, dokumentiert unter anderem der Band: Jörg Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Ge‐ genstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850-1880. Tübingen 1983 (darin vor allem die Demonstration dieses Ansatzes von Joachim Linder, Jörg Schönert: Ein Beispiel: Der Mordprozeß gegen Christiane Ruthardt [1844/ 1845]. Prozeßakten, publizisti‐ sche und literarische Darstellungen zum Giftmord, S. 239-359). raturunterrichts förmlich einlädt, ohne dass damit diese narrative Offenheit als Markierung erzählerischer Modernität des Textes verdeckt werden muss. In der Forschung ist es keineswegs ausgemacht, ob man den Verbrecher aus verlo‐ rener Ehre als eine Erzählung oder als eine Novelle titulieren kann. Während sich diese gattungstypologische Diskussion besonders in den 1980er und 1990er Jahren entsponnen hatte, ohne freilich ein plausibles Ergebnis zu zeitigen, wird diese De‐ batte der Gattungszugehörigkeit eher mit Blick auf das Genre der Kriminalerzäh‐ lung geführt. Ob der Verbrecher aus verlorener Ehre als eine solche Kriminalerzäh‐ lung verstanden werden kann, hat die Gemüter der Leser und Forscher immer wieder bewegt, ließe sich doch bei einem positiven Befund der Autor Schiller auch als Gründungsfigur für die Geschichte des deutschen Kriminalromans in Anspruch nehmen. Peter Nusser schlägt zur terminologischen Klärung eine Differenzierung von Kriminalliteratur und Verbrechensliteratur vor und rechnet sodann Schillers Erzählung neben August Gottlieb Meißners Skizzen (1778ff.) - dieser Autor gilt heute in der Forschung als der eigentliche Diskursbegründer der Kriminalge‐ schichte 31 -, Droste-Hülshoffs Judenbuche (1842) und Fontanes Unterm Birnbaum (1885) zu den Höhepunkten dieser langen europäischen Tradition. 32 Als Verbre‐ chensliteratur definiert Nusser jene Literatur, die „versucht die Motivationen des Verbrechers, seine äußeren und inneren Konflikte, seine Strafe zu erklären“. 33 Dem‐ nach wären zu diesem Erzähltypus auch der König Ödipus von Sophokles sowie Dostojewskis Schuld und Sühne zu rechnen, aber auch trivialere und erfolgreichere Texte als Schillers Erzählung wie etwa der Rinaldo Rinaldini (1797) von Goethes Schwager Vulpius gehörten dazu. So gesehen müsste man auch unvoreinge‐ nommen fragen, ob demnach nicht selbst die Räuber, der Fiesko, die Wallen‐ stein-Trilogie etc. verbrechensliterarische Elemente enthielten. 34 Auch die Krimi‐ 101 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 35 Nusser: Der Kriminalroman, S. 1. 36 Vgl. die maßgebliche lexikalische Aufarbeitung des Stichworts Kriminalliteratur durch Thomas Wörtche: Kriminalroman, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hgg. v. Harald Fricke u.a. Berlin 2000, Bd. 2, S. 342-345. 37 Kursiv ist im Original gesperrt gedruckt. 38 Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit, Bd. 1, S. 477. nalliteratur untersucht das Verbrechen und die Strafe, die dem Verbrecher zuteil wird. „Was sie jedoch inhaltlich von der Verbrechensliteratur abhebt, sind die in ihr dargestellten Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Über‐ führung und Bestrafung des Täters notwendig sind“. 35 Dass diese Begriffsklärung eher idealtypisch zu verstehen als empirisch zu begründen ist, liegt auf der Hand. Die derzeitige Diskussion in der Forschung im Allgemeinen und um die gattungs‐ typologische Zuweisung von Schillers Erzählung im Besonderen neigt zu einer ter‐ minologischen Aufweichung und scheut - zu Recht - eine definitorische Markie‐ rung. 36 In seinem Essay Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (1795) schreibt Schiller und diese Textstelle wird oft nur auf die Räuber bezogen, trifft aber gleichermaßen auch auf den Verbrecher aus verlorener Ehre zu: „Wie viele giebt es nicht, die selbst vor einem Verbrechen nicht erschrecken, wenn ein löblicher Zweck dadurch zu erreichen steht, die ein Ideal politischer Glück‐ seligkeit durch alle Greuel der Anarchie verfolgen, Gesetze in den Staub treten, um für bessere Platz zu machen, und kein Bedenken tragen, die gegenwärtige Gene‐ ration dem Elende Preis zu geben, um das Glück der nächstfolgenden dadurch zu bevestigen.“ (NA 21, S. 26) 37 Zwischen der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre und diesem ethischen Anspruch liegt aber eine auch für Schillers Leben und Denken entscheidende historische Zäsur, die Französische Revolution. So vereint Der Verbrecher aus verlorener Ehre neben dem „psychologischen Facet‐ tenreichtum“ 38 mehrere für den Unterricht relevante literarische bzw. literatur‐ geschichtliche, historische und ethische Thematisierungsmöglichkeiten. Neben einer grundsätzlichen Eignung zur Einführung in die Analyse von Erzähltexten (unter besonderer Berücksichtigung ihrer als modern zu verstehenden Markie‐ rung der Offenheit) und in die Geschichte der deutschsprachigen Kriminaler‐ zählung kann vor allem der ethische Diskurs des Textes im Religions- und im Deutschunterricht erarbeitet werden, die darin aufgeworfenen Themen wie Gnade, Barmherzigkeit, Gewissen und Gerechtigkeit eignen sich beispielhaft zur Übertragung in die Lebenssituation der Schüler. Die historische Relevanz des Textes vermag darüber hinaus einen Bogen zum Geschichtsunterricht zu schlagen, wenn es um die Beurteilung der gesellschaftlichen Bedingungen des Ancien Régime vor 1789 durch zeitgenössische Autoren geht. Das didaktische 102 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) Potenzial von Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre ist noch lange nicht aus‐ geschöpft. In der deutschen Literaturgeschichte wird später eine ‚verlorene Ehre‘ noch einmal eine wichtige Rolle spielen. Heinrich Bölls Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) teilt mit Schillers Erzählung mehr als nur die ähnlich lautende Anspielung im Titel. Doch das ist ein anderes Thema. 103 4. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792) 1 Dass Schiller mit seinem Don Karlos nach den sogenannten Jugenddramen einen neuen Weg beschreitet, ist opinio communis der Schiller-Forschung. Für Koopmann ist der Don Karlos Schillers erstes klassisches Drama, vgl. Helmut Koopmann: Don Carlos, in: Interpretationen. Schillers Dramen. Hgg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1992, S. 159-201, hier S. 159. 2 Heiner Müller: Zu Wallenstein, in: H. M.: Material. Texte und Kommentare. Hgg. v. Frank Hörnigk. Göttingen 1989, S. 102-104, hier S. 103. 5. Don Karlos (1787/ 1805) Liest man mit Schülern Schillers Don Karlos oder erarbeitet man mit Studie‐ renden den Text oder wird unter Fachkollegen darüber debattiert, so stößt man sehr schnell auf einen Begriff, der als Leitorientierung der Textlektüre und der Deutungsarbeit gilt: Freiheit. Der Don Karlos gilt als Stück der Freiheit, genauer, als ein Stück über das Scheitern konkreter Freiheitsvorstellungen. Schiller fi‐ guriert diesen Begriff im Text höchst differenziert, an dem Thronprätendenten Don Karlos selbst, am König, an der Königin, an der Grandezza, an den Kir‐ chenvertretern, vor allem aber an der Figur des Marquis Posa. Ich möchte in der Konzentration auf diese Figur dem die Forschung immer wieder beschäfti‐ genden Zusammenhang von Humanitätsideal und Freiheitspostulat einen Mo‐ dernitäts- und Aktualitätsanspruch abgewinnen mit dem Ziel eines kleinen Plä‐ doyers für den Don Karlos im Jahrzehnt der bislang größten kulturindustriellen Vermarktung seines Autors. 1 Möglicherweise lässt sich damit auch ein Eindruck korrigieren, den Heiner Müller 1985 anlässlich einer Berliner Wallenstein-In‐ szenierung - wobei man diese Bemerkung getrost auch auf den Don Karlos beziehen kann - gewonnen und in seiner Notiz Zu Wallenstein so beschrieben hatte: „Die Verwandlung von Sprengsätzen in TEEKANNENSPRÜCHE ist die Leistung der deutschen Misere in der Philologie.“ 2 In einem ersten Schritt soll das Figurenprofil Posas am Leitbegriff der Freiheit im Stück selbst rekonstruiert werden. Dabei stößt man zweitens auf den zentralen Be‐ griff der Gedankenfreiheit, dessen aktueller Währungswert knapp charakterisiert werden soll, um dann drittens der Frage nachgehen zu können, inwiefern Schillers Essay Briefe über Don Karlos zur Klärung der Interpretationsprobleme herange‐ zogen werden kann. Diese Diskussion wird uns abschließend viertens zu einem vernachlässigten Argument führen, das bislang bei der Beurteilung von Posas Frei‐ heitsverständnis nicht berücksichtigt wurde, über das nachzudenken sich aber 3 Zur ausführlichen Darstellung der außerordentlich verwickelten Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Don Karlos vgl. die ausführlichen Kommentare in NA 7/ 2 (Text der unterschiedlichen Fassungen in NA 6 u. 7/ 1) und FA 3, S. 996ff. Vgl. die de‐ taillierte Studie: Schillers Don Karlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entste‐ hungsgeschichtlicher Kommentar v. Paul Böckmann. Stuttgart 1974, S. 379ff. 4 Vgl. den Nachdruck: Des Abbé de Saint-Réal: Histoire de Dom Carlos. Nach der Ausgabe von 1691. Hgg. v. Albert Leitzmann. Halle a.d.S. 1914. lohnen könnte. Voraussetzung hierfür ist jedoch die knappe Darstellung der kom‐ plexen Entstehungsbedingungen des Werks. Schillers Don Karlos liegt in so vielen unterschiedlichen Fassungen vor wie kein anderes Drama des Autors. Sie wurden zwischen 1785 und 1840 veröffent‐ licht (bis 1840 sind über 30 Drucke, Bühnenmanuskripte oder Regiebücher be‐ kannt). So sind allein fünf divergierende Buchfassungen und zehn teils autori‐ sierte, teils nicht autorisierte Bühnenfassungen bekannt. Die Erstausgabe in Buchform des Don Karlos von 1787 erregte Interesse und wurde auch höchst unterschiedlich beurteilt - dies gilt auch für die diversen Bühnenbearbeitungen -, jedoch erhielt das Drama seinen rezeptionsgeschichtlichen Status erst in der überarbeiteten Fassung von 1805. Diese Ausgabe liegt den meisten in Schule und Hochschule verwendeten Textdarbietungen zugrunde und wird auch in diesem Beitrag zitiert. 3 Anders als beispielsweise im Falle von Goethes Werther ist bei Schillers Don Karlos die letzte, vom Dichter autorisierte Fassung diejenige, die sich als die wirkungsmächtige herausgestellt hat. Und Schiller schreibt fast durchgängig Karlos. Erst die Orthografie des 19. Jahrhunderts hat daraus Carlos gemacht. Inzwischen sind Forschung, Hochschule und Schule wieder zu Karlos zurückgekehrt. Das portugiesische Dom taucht bei Schiller neben dem spani‐ schen Don auf, erst mit dem Druck der Ausgabe von 1801 ringt sich Schiller nach einem Hinweis von Wieland zu der einheitlichen Schreibweise Don durch. Als Schiller gerade mit der Ausarbeitung des Fiesko beschäftigt war, erhielt er vom Mannheimer Intendanten Freiherrn von Dalberg einen Brief, worin ihn dieser um die dramatische Bearbeitung der Geschichte des historischen Don Karlos bat. Höflich, aber zurückhaltend antwortete Schiller, dass die Geschichte des Don Karlos eine Dramatisierung verdiene, „vielleicht“ (NA 23, S. 38) werde er sich nächstens daran machen. Dalberg hatte ihm die Histoire de Dom Carlos (1691) von Abbé de Saint-Réal geschickt, von dessen Buch 1784 eine deutsche Übersetzung erschienen war. 4 Wenige Monate später, am 7. Dezember 1782 kam Schiller in Bauerbach an - er befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Flucht - und bat bereits zwei Tage später seinen Freund und späteren Schwager, den Meininger Bibliothekar Wilhelm Reinwald um einige Bücher, darunter auch Saint-Réals Histoire. Offenbar wollte Schiller Dalbergs Empfehlung nochmals 106 5. Don Karlos (1787/ 1805) 5 Vgl. Gerhard Storz: Der Bauerbacher Plan zum Don Carlos, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 112-129. prüfen. Im neuen Jahr, am 27. März 1783 teilte er Reinwald mit, dass die Ent‐ scheidung für ein neues Drama gefallen sei: „Über ein neues Stük bin ich mit mir einig. [...] und arbeite nunmehr entschloßen und fest auf einen Dom Karlos zu. Ich finde, daß diese Geschichte mehr Einheit und Intereße zum Grunde hat als ich bisher geglaubt, und mir Gelegenheit zu starken Zeichnungen und erschütternden oder rührenden Situazionen gibt. Der Karakter eines feurigen, grosen und empfindenden Jünglings, der zugleich der Erbe einiger Kronen ist, - einer Königin die durch den Zwang ihrer Empfindung bei allen Vortheilen ihres Schiksals verunglükt, - eines eifersüchtigen Vaters und Gemals - eines grausamen heuchleri‐ schen Inquisitors, und barbarischen Herzogs von Alba und so fort solten mir, dächte ich, nicht wol mislingen. Dazu kommt, daß man einen Mangel an solchen teutschen Stüken hat, die grose Staatspersonen behandeln - und das Mannheimische Theater dieses Sujet von mir bearbeitet wünscht.“ (NA 23, S. 74f.) Schiller war überzeugt, dass der Don Karlos sein „bestes Stük“ (NA 23, S. 78) werden kann. 1785 nennt er es sogar „das Lieblingskinde meines Geists“ (NA 23, S. 178). Allerdings täuscht er sich darüber, in welchem Zeitraum er das Drama abschließen könne. Denn das Mannheimer Theater wünschte nun Schillers Trauerspiel Louise Millerin - so der ursprüngliche Titel von Kabale und Liebe - zur Lektüre und das Manuskript zum Don Karlos blieb daraufhin mehr als 12 Monate liegen. In dieser Zeit entstand der sogenannte Bauerbacher Plan (vgl. FA 3, S. 11-13), er wurde im März/ April 1783 entworfen und gibt Einblick in eine frühe Ar‐ beitsphase am Don Karlos. Lange Zeit wurde dieser Plan als Aufriss des späteren Stücks betrachtet, obwohl er einige Lücken und Leerstellen enthält. Gerhard Storz sieht in diesem Text eine propagandistische (mit Blick auf den Sommer 1783) und eine diplomatische (mit Blick auf den Sommer 1784) Funktion, da er dazu gedient habe, das Interesse des Mannheimer Intendanten für das Stück zu wecken und so den Kontrakt mit dem Theater, der im Sommer 1784 auslief, zu verlängern. 5 Doch habe der Plan wenig mit der tatsächlichen konzeptuellen Ausarbeitung des Stücks in dieser frühen Phase zu tun. Gerhard Kluge sieht im Bauerbacher Plan in erster Linie eine pragmatische Funktion (vgl. FA 3, S. 1017), der Plan lasse noch keine geistige Tendenz erkennen, dokumentiere lediglich die poetische Organisation des historischen Stoffs, sei pragmatisch angelegt, neutral und letztlich nichtssagend. Man darf vermuten, dass der Bauerbacher Plan für Schiller auch so etwas wie ein Verhandlungspapier ohne größere poe‐ 107 5. Don Karlos (1787/ 1805) tisch-konzeptuelle Bedeutung darstellt und insofern Kluges Urteil über die prag‐ matische Funktion des Textes zuzustimmen ist. „Bauerbach ist gewis keine Bar‐ barei“ (11. Juni 1783; NA 23, S. 94), wusste Schiller Reinwald zu berichten. Der Ort bot ihm zunächst die Möglichkeit, seine literarischen Pläne weiterzuver‐ folgen. An den gleichen Adressaten schrieb er am 14. April 1783: „Nun eine kleine Anwendung auf meinen Karlos. Ich mus Ihnen gestehen, daß ich ihn gewisermassen statt meines Mädchens habe. Ich trage ihn auf meinem Busen - ich schwärme mit ihm durch die Gegend um - um Bauerbach herum. Wenn er einst! fertig ist, so werden Sie mich und Leisewiz an Don Karlos und Julius abmessen - Nicht nach der Gröse des Pinsels - sondern nach dem Feuer der Farben - nicht nach der Stärke auf dem Instrument - sondern nach dem Ton, in welchem wir spielen. Karlos hat, wenn ich mich des Maases bedienen darf, von Shakespears Hamlet die Seele - Blut und Nerven von Leisewiz Julius, und den Puls von mir. - Außerdem will ich es mir in diesem Schauspiel zur Pflicht machen, in Darstellung der Inquisition, die prostituirte Menschheit zu rächen, und ihre Schandfleken fürchterlich an den Pranger zu stellen. Ich will - und solte mein Karlos dadurch auch für das Theater verloren gehen - einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie biß jezt nur gestreift hat, auf die Seele stoßen. Ich will - Gott bewahre, daß sie mich nicht auslachen. - -“ (NA 23, S. 81) An Dalberg heißt es in einem Brief vom Juni 1784, der Don Karlos sei ein „Fa‐ miliengemählde in einem fürstlichen Hauße“ (NA 23, S. 144). Diese Formulie‐ rung übernimmt Schiller nahezu wörtlich in eine Fußnote des Thalia-Abdrucks im April 1786. Don Karlos sei „ein Familiengemälde aus einem königlichen Hause“ (FA 3, S. 137) ist dort zu lesen. In der Forschung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass diese Etikettierung des Dramas als Familiengemälde in erster Linie eine Leimrute für den Intendanten darstellen sollte. Schiller wollte als Autor verständlicherweise unter allen Umständen sein Stück von der Mann‐ heimer Bühne angenommen wissen. Ursprünglich mag er tatsächlich konzep‐ tuell an ein Familienrührstück diderotscher Art gedacht haben. Denn dieses Genre war in Mannheim außerordentlich beliebt, die entsprechenden Stücke von Gemmingen (Die Familie oder Der deutsche Hausvater, 1780), Großmann (Nicht mehr als sechs Schüsseln, 1780) und Iffland (Verbrechen aus Ehrsucht, 1784) waren dort erfolgreich aufgeführt worden. Kotzebue verhalf der Gattung ent‐ scheidend zu ihrer Trivialisierung und Popularisierung. Nivelle de La Chaussée hatte in Frankreich mit dem Drama Mélanide (1741) und Gellert in Deutschland mit Die zärtlichen Schwestern (1747) entscheidenden Anteil an der Etablierung dieser Gattung. Den Referenztext für die 1780er Jahre bildet jedoch Diderots Drama Le Père de Famille (1758). In De la poésie dramatique (1757) lieferte er die theoretische Begründung des neuen Genres. Moralische Erbauung und die Wie‐ 108 5. Don Karlos (1787/ 1805) 6 Der Einfluss Diderots auf die Konzeption und Gestaltung des Don Karlos wird in der Forschung allerdings unterschiedlich beurteilt. Während Böckmann vor allem in dem Rückgriff auf den Tableau-Begriff Diderots ein entscheidendes Merkmal des Textes er‐ kennt, relativiert Heftrich diese Bedeutung, vgl. Böckmann: Schillers Don Karlos, S. 379-388 und Eckhard Heftrich: Schillers Don Karlos - ein Weg zur Klassik? , in: Roger Bauer, Michael de Graat u. Jürgen Wertheimer (Hgg.): Der theatralische Neoklassi‐ zismus um 1800. Ein europäisches Phänomen? Bern 1986, S. 26-39. Demnach ziele Schiller mit seinem Drama nicht auf ein Familiengemälde, sondern habe eine andere, neue Gattung im Sinn, „die moderne klassische Tragödie“ (ebd., S. 39). Folgerichtig wird dieser Schritt als „ein Weg zu Schillers Klassik“ beschrieben (ebd.). - Zum diderotschen Tableau-Begriff vgl. den Aufsatz von Willy R. Berger: Das Tableau. Rührende Schluß-Szenen im Drama, in: Arcadia 24 (1989), S. 131-147. derherstellung einer in Unordnung gebrachten Familienordnung auf der Grund‐ lage bürgerlicher Verhaltensstandards und Werte wie Tugendhaftigkeit, Ge‐ horsam, Fleiß und Sparsamkeit stehen im Mittelpunkt eines rührenden Lustspiels bzw. Familienrührstücks. Von den Schauspielern wurde eine natür‐ liche Ausdruckskunst verlangt und vom Dichter die Natürlichkeit in Sprache und Gestaltung der Themen erwartet. 6 Zunächst strotzt Schiller vor Selbstbewusstsein, als er im August 1784 Dalberg noch zu überzeugen versucht: „Durch mich allein wird und muß unser Theater einen Zuwachs an vielen vortrefflichen neuen Stükken bekommen“ (NA 23, S. 155). Doch Gerhard Kluge weist zu Recht darauf hin, dass im Herbst 1784 für Schiller keine Notwendigkeit mehr bestanden habe, den Don Karlos in der Kon‐ zeption weiterhin als ein Familienrührstück zu entwickeln (vgl. FA 3, S. 1022). Zu diesem Zeitpunkt war er als Mannheimer Theaterdichter bereits entlassen. Allerdings bedeutet das natürlich nicht, dass sich dieses Stück jenseits der Er‐ folgsorientierung seines Verfassers nicht doch als ein solches Familiengemälde darstellt. Während seines kurzen Aufenthaltes am Darmstädter Hof las Schiller aus dem ersten Akt des Dramas am zweiten Weihnachtsfeiertag 1784 vor. Im März‐ heft 1785 der Rheinischen Thalia erschien schließlich der erste Akt des Don Karlos. Bis zum Januar 1787 hat Schiller immer wieder Szenen aus dem Stück in der Thalia, wie sie ab dem zweiten Heft nur noch hieß und die er herausgab, veröffentlicht. Im Februar 1785 bekannte er gegenüber Körner, er würde nun ein „ganz andrer Mensch“ und fange an „Dichter zu werden“ (NA 23, S. 177). Diese Wandlung steht in explizitem Zusammenhang mit der Weiterarbeit am Don Karlos. Mutmaßlich im Sommer 1784 vollzog sich auch der Wechsel von der Prosafassung des Stücks zu dessen Jambenfassung. Strittig ist jedoch, inwiefern der in Prosa gehaltene Text des Don Karlos die Quelle der in Versen geschrie‐ 109 5. Don Karlos (1787/ 1805) 7 Vgl. Rolf Albrecht: Schillers dramatischer Jambus. Vers und Prosa in den ersten Fas‐ sungen des Don Karlos. [Diss. masch.] Tübingen 1967. benen Fassung ist, denn Schillers Behandlung des Verses in der Versfassung könnte auch von einer eigenständigen Bearbeitungsstufe zeugen. 7 Don Karlos ist nach der Semele das erste Versdrama Schillers. Wiederum kann es das Motiv größerer Erfolgsaussichten gewesen sein, das Schiller zu einer sol‐ chen sprachlichen Veränderung veranlasste. Denn Dalberg bevorzugte, übri‐ gens wie Wieland und Gotter auch, Dramen in Versen. Man sollte allerdings auch hier keine monokausale Erklärung bevorzugen, denn ästhetische Gesichts‐ punkte des Dichters spielen dabei sicherlich eine ebenso wichtige Rolle. Im Ok‐ tober 1786 war etwa die Hälfte des Manuskriptes fertig. Zu diesem Zeitpunkt bereitete Schiller schon die Buchausgabe des Dramas vor, er arbeitete also an mindestens einer der Bühnenfassungen und zeitgleich an der Buchfassung. Er ließ bis Januar 1787 in der Thalia nur die ersten drei Akte des Dramas drucken, da er begründete Sorge trug, dass Buchhändler aus den einzelnen Fragmenten eine lizenzfreie Buchausgabe oder Intendanten ohne Honorierung des Autors eine Bühnenfassung fürs „Theaterschaffot“ (FA 3, S. 20) zusammenstellen ließen. Im April 1787 begab er sich nach Tharandt, um letzte Hand an diese Texte zu legen. Er ordnete, wie er selbst schreibt, Bruchstücke und transponierte den Text von der Prosafassung in Blankverse, musste aber erkennen: „Der Carlos ist be‐ reits schon überladen“ (NA 24, S. 93). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Schiller mitten in dieser beschwerlichen Arbeitsphase die Gefährlichen Liebschaften (1782, dt. 1783) von Choderlos de Laclos liest und sich wünscht, „von diesem und ähnlichen Büchern die nachläßig-schöne und geistvolle Schreibart annehmen zu können, die in unsrer Sprache fast nicht erreicht wird“ (NA 24, S. 93). Ende Mai 1787 hat Schiller das vollständige, fertige Manuskript zum Druck gegeben. Im Sommer 1787 wird die Erstausgabe der Buchfassung ausgeliefert, im Jahr darauf wird davon bereits die zweite Auflage nachgedruckt. Zwischen 1788 und 1799 fehlt eine offizielle Ausgabe des Don Karlos. Schon 1797 war sich Schiller sicher, es sei eine jugendliche Arbeit, welcher die Reife mangle (vgl. NA 29, S. 152). Zu Schillers Lebzeiten erschien die letzte Ausgabe des Don Karlos 1802, ein im ersten Akt leicht veränderter Nachdruck der Ausgabe von 1801, die bereits um 830 Verse gegenüber der Erstausgabe von Schiller gekürzt worden war. Innerhalb der gesammelten Stücke mit dem Titel Theater erschien der Don Karlos 1805 wiederum um weitere 82 Verse gekürzt und mit leichten Veränderungen. Schiller vermerkte noch handschriftlich den Untertitel „ein 110 5. Don Karlos (1787/ 1805) 8 Diese gattungstypologische Ergänzung kann durchaus von Lessings Nathan der Weise (1779) übernommen worden sein. Daraus aber - und aus anderen, sprachlichen Annä‐ herungen an Lessing - eine grundsätzliche Beeinflussung Schillers durch Lessings Werk ableiten zu wollen, erscheint problematisch, weil im Detail nur schwer zu belegen, ganz abgesehen vom letztlichen Erkenntniswert einer solchen Bilanzbuchhaltung. Vgl. hin‐ gegen Siegmund Levy: Schillers Don Carlos in seiner Abhängigkeit von Lessings Na‐ than, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 21 (1877), S. 277-302. 9 Verszitate aus dem Stück werden direkt im Haupttext belegt. dramatisches Gedicht“. 8 Doch als der Band erschien, war der Dichter bereits gestorben. Bis heute ist es vor allem dieser Druck der Ausgabe letzter Hand, der den meisten Don Karlos-Ausgaben zugrunde liegt. Um sich eine Vorstellung von der immensen Mühe der diversen Umarbeitungen machen zu können: Die Ge‐ samtzahl der Verse der verschiedenen Jambenfassungen schwankt wegen der Kürzungen und Umarbeitungen zwischen 3943 und 6283 Versen. Fasst man die unterschiedlichen Entstehungsphasen schematisch zusammen, so ergibt sich folgendes Bild (vgl. NA 7/ 2, S. 71-108): 1. 1783 - Bauerbach: der erste Entwurf. 2. 1784 - Mannheim: neben anderem Weiterarbeit am Drama. 3. 1785/ 1786 - Leipzig und Dresden: Teilveröffentlichung in der Thalia. 4. 1787 - Dresden (Tharandt): Abschluss des Manuskripts und Anfertigung von Theaterbearbeitungen. Marquis Posa führt sich in I/ 2 als Repräsentant eines höchsten Tugendideals ein, nämlich als ein „Abgeordneter der ganzen Menschheit“ (V. 157). 9 Er kommt di‐ rekt aus Flandern und will im Auftrag der Aufständischen dort Karlos als An‐ führer der Rebellion gewinnen. Doch statt auf Begeisterung zu stoßen, bekennt Karlos, er habe seinem Freiheitsideal abgeschworen (vgl. V. 172). Karlos ist zu‐ nächst mit der leidenschaftlichen Liebe zu seiner Stiefmutter, die ja seine ehe‐ malige Braut ist, beschäftigt. Zweierlei wird damit für den Leser deutlich: Zum einen ist der Freiheitsbegriff von Beginn an zutiefst politisch konnotiert und zum anderen ist Posa in der Verfolgung seines Ziels auf sich allein gestellt. Aber diese Menschheit, als deren Mandatsträger sich Posa versteht, „verkauft sich selbst und kriecht um ihren Götzen“ (V. 956), wird Posa in I/ 9 Karlos entgegen‐ halten, als es um die mögliche Thronfolge und um die Versuchungen der Macht geht. Posa formuliert damit inkludent einen Führungsanspruch, der über sein symbolisches Mandat hinausgeht und den allein Karlos auszufüllen vermag. Schon in I/ 7 ist Karlos indes entschlossen, Flandern zu retten, der Königin gelang die Überzeugung. Er besiegelt den Freundschaftsbund mit Posa und der erste Akt endet damit, dass sich Karlos Posas Ansichten zu eigen gemacht hat. 111 5. Don Karlos (1787/ 1805) Als sich Karlos und Posa wieder begegnen, sind zwei Tage vergangen. Sie treffen sich konspirativ in einem Kartäuserkloster (vgl. II/ 15). Karlos hat das militärische Führungsprivileg nicht erhalten, er hat sich in einer Verwechs‐ lungsszene mit Prinzessin Eboli wie ein Geck aufgeführt und hofft weiterhin, allen Mahnungen Posas zum Trotz, auf die Erwiderung seiner Liebe zu Kö‐ nigin Elisabeth. Posa muss erkennen, dass er gegen diese Leidenschaft der Liebe machtlos ist. Er fasst einen Entschluss, der von nun an das Stück in eine unmissverständlich politische Tragödie münden lässt. Am Ende des zweiten Aktes erklärt er nämlich: „Ein wilder, kühner, glücklicher Gedanke / Steigt auf in meiner Phantasie“ (V. 2452f.). Was hier dem Leser etwas mirakulös klingen mag, klärt sich von einer späteren Textstelle her auf, als Posa nämlich der Königin seine politischen Absichten entdeckt: Sie solle darauf einwirken, dass Karlos heimlich zu den Flandern überlaufe; Elisabeth nennt dies eine kühne, große und schöne Idee (vgl. V. 3481ff.). In III/ 9 erfolgt Posas Monolog, der König hat ihn zu seinem persönlichen Berater berufen. Seine Absicht ist, dem König die Wahrheit zu vermitteln. Wo‐ rüber und in welchem Grad, das bleibt offen. Wahrheit aber bedeutet, gegen Unwahrheit, gegen Vorurteile anzugehen, und Vorurteilskritik ist wiederum ein genuines Strategem der Aufklärung. Posa setzt damit seine Haltung einer kon‐ sequenten Aufklärung zielstrebig oder wie er selbst formuliert „zweckvoll“ (V. 2972) fort. Vor diesem Hintergrund wird seine zunächst vorgetragene Ableh‐ nung, dem König als Berater zu dienen, interpretierbar als ein Versuch, seine Einflussmöglichkeiten weiter zu steigern. Er wiederholt gleich zweimal (vgl. V. 3022 u. V. 3065), er könne nicht „Fürstendiener“ (V. 3022) sein. Tugend habe für ihn einen eignen Wert (vgl. V. 3030), er liebe die Menschheit und das wider‐ spreche dem Selbstverständnis einer Monarchie (vgl. V. 3037ff.); er empfinde eine „reine Liebe“ (V. 3048) gegenüber den Menschen, und er fragt, könne man seinen Mitmenschen glücklich wissen, „eh’ er denken darf ? “ (V. 3061) Auch dies ist wieder eine wichtige Indizstelle für die politische Vorstellung einer Verbin‐ dung von individueller Freiheit und allgemeiner Glückseligkeit im Stück. In diesen Kategorien politischer Wohlredenheit versucht Posa zunächst des Königs Angebot abzuwehren. Erst der geäußerte Verdacht Philipps, Posa könnte ein Protestant sein, lässt diesen „nach einigem Bedenken“ (Regieanweisung, vor V. 3067) bekennen, dass er selbst zwar über sich „gedacht“ (V. 3073), dabei aber den utopischen Charakter seiner Reflexionen erkannt habe. Er resümiert: „Das Jahr‐ hundert / Ist meinem Ideal nicht reif “ (V. 3078f.). In III/ 10 ereignet sich der offensichtliche Höhepunkt des Dramas, denn im Gespräch mit dem König entwickelt Posa seine Überlegungen und Forderungen. Er beruft sich auf das Wahrheitspostulat seiner Tugendphilosophie, die ihm die 112 5. Don Karlos (1787/ 1805) Nähe zu absolutistischen Monarchen untersagt und ihm verbietet, die Unwahr‐ heit zu sagen. Posa macht keinen Hehl daraus, dass er eine republikanische Staatsverfassung anstrebt, auch wenn er beteuert, dass diese Wünsche aus Lo‐ yalität zum König nicht publik gemacht und nicht verwirklicht würden. Scharf kritisiert Posa das absolutistische Herrschaftsgebaren und die Gottgleichheit des Königs und argumentiert dabei keineswegs religiös, sondern tugendphiloso‐ phisch. Posa wird in dieser Szene zunehmend zum Repräsentanten aufgeklärter Philosophie. Er verknüpft die grundsätzlichen Ausführungen zu seiner Haltung mit realpolitischen Eindrücken. Eben ist er aus Flandern und Brabant zurück‐ gekehrt und hat dort die Opfer des niedergeschlagenen Aufstands sehen können. Ihm gelingt es, rhetorisch geschickt inszeniert, seiner Rede ein hohes Affekt‐ potenzial einzuschreiben, das beim König zu wirken beginnt. Dieser kann näm‐ lich dem Blick Posas nicht mehr standhalten und sieht „betroffen und verwirrt zur Erde“ (Regieanweisung nach V. 3142). Schon diese nichtsprachliche Kom‐ munikation unterstreicht, welche Macht im Verlauf dieses Gesprächs Posa über den König gewonnen hat. Nicht der Untertan blickt demutsvoll zu Boden, son‐ dern der Monarch selbst wird zu dieser Devotionsgeste gezwungen. Die zuneh‐ mende Bewegung des Königs gestattet Posa einen vergleichsweise dreisten Schritt. Er spricht ‚mit Feuer‘, nähert sich dem König ‚kühn‘ und richtet ‚feste und feurige Blicke‘ auf ihn - so lautet das Protokoll der nachfolgenden Regie‐ anweisungen. Der Höhepunkt der Szene und des Stücks insgesamt wird auf diese Weise vorbereitet. Inhaltlich wird die affektive Körpersprache Posas mit zwei geradezu verwegenen Forderungen an einen absolutistisch regierenden Monarchen begründet: „[…] Geben Sie Die unnatürliche Vergött’rung auf, Die uns vernichtet. Werden Sie uns Muster Des Ewigen und Wahren. […] […] Geben Sie Gedankenfreiheit. -“ (V. 3206-3216) Der Begriff der Gedankenfreiheit ist von Beginn der Entstehung des Don Karlos an im Text enthalten und keine Ergänzung einer späteren Bearbeitung. Bislang kaum beachtet blieb, dass der Text selbst ein Beispiel von der Tragweite dieses Begriffs gibt. In II/ 10 ruft der Beichtvater des Königs Pater Domingo im Zwie‐ gespräch mit Herzog Alba, das die Machtintrige maßgeblich vorantreibt, ent‐ setzt aus: „Der Infant […] denkt! […] er verehrt den Menschen“ (V. 2015-2024). Gedankenfreiheit bedeutet für die Domingos zuallererst das Postulat ‚Selbst denken! ‘ Selbst zu denken heißt aus der Sicht der Aufklärungsgegner politisch 113 5. Don Karlos (1787/ 1805) 10 Dushan Bresky: Schiller’s Dept to Montesquieu and Adam Ferguson, in: Comparative Literature 13 (1961), S. 239-253, hier S. 247. - In einer der Don Karlos-Parodien von Max Reinhardt (1901) heißt es übrigens ganz lapidar vom König: „Ja, das sag’ ich auch […]. Der Ritter wird künftig ungemeldet vorgelassen“ (1901; Neudruck 1992, S. 36). 11 Vgl. Karl Pörnbacher: Friedrich Schiller Don Karlos. Erläuterungen und Dokumente. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2002, S. 51. 12 Vgl. Böckmann: Schillers Don Karlos, S. 508-528 (Vorabdrucke dieses Kapitels erschienen bereits 1972 u. 1973). Böckmann macht darin auch auf die europäische und das meint englische und französische Vernetzung der politischen Semantik des Begriffs auf‐ merksam. 13 Vgl. Obscurus [= Leopold Friedrich Günther von Goeckingk]: Von der Freyheit zu denken, in: Hannoverisches Magazin 80. St. (1776), Sp. 1265-1280 vom 4. Oktober 1776; 81. St. (1776), Sp. 1281-1296 vom 7. Oktober 1776; 82. St. (1776), Sp. 1297-1312 vom 11. Oktober 1776 und 83. St. (1776), Sp. 1313-1320 vom 14. Oktober 1776. - „Göckingk, not Schiller, seems to have coined the word ‚Gedankenfreiheit‘ as an exact translation, one suspects, of the English ‚freedom of thought‘” (Henry F. Fullenwider: Schiller and the German Tradition of Freedom of Thought, in: Lessing Yearbook 8 [1976], S. 117-124, hier S. 122). 14 Otto W. Johnston: Schillers politische Welt, in: Schiller-Handbuch. Hgg. v. Helmut Koopmann in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach. Stutt‐ gart 1998, S. 44-69, hier S. 45. 15 Vgl. Hartmut Reinhardt: Don Karlos, in: Schiller-Handbuch. Hgg. v. Koopmann, S. 379-394, hier S. 388. zu denken. Die Bedeutung einer politischen Dimension von Aufklärung, die Posa von Beginn an beansprucht, ist spätestens an diesem Punkt der Dramen‐ entwicklung auch bei ihren schärfsten Verächtern angekommen. Dieser Begriff der Gedankenfreiheit - als der wohl wichtigste Begriff des Don Karlos, auch „the famous ideological ‚punch line‘ of the tragedy“ 10 genannt - hat bei den Schiller-Kommentatoren unterschiedliche Auslegung gefunden. Er wurde und wird vereinzelt noch als eine neue Wortschöpfung Schiller selbst zugeschrieben. 11 Paul Böckmann kodifizierte diese Ansicht in seiner Don Karlos-Monografie von 1974. 12 Doch 1976 konnte Henry F. Fullenwider nach‐ weisen, dass dies falsch ist. Denn bereits 1776 war im Hannoverischen Magazin ein Aufsatz unter dem Titel Von der Freyheit zu denken erschienen, worin sich das Wort Gedankenfreyheit findet. Der Verfasser ist Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (1748-1828). 13 Nach Meinung von Otto W. Johnston geht Posas Wort auf eine „aufwieglerische französische Parole zurück, die Voltaire unter der Rubrik ‚Liberté de penser‘ in seinem Dictionnaire philosophique (1765) in Dialogform thematisiert hatte“. 14 Hartmut Reinhardt 15 wies auf Vorprägungen im Englischen und im Französischen hin und konnte sich dabei auf Böckmann und Kluge stützen. „Schiller dürfte den Begriff und seine Bedeutung von Rous‐ seau übernommen haben“ (NA 7/ 2, S. 435). Dies bezöge sich dann auf den Contrat 114 5. Don Karlos (1787/ 1805) 16 Für die Ansicht Alts, Schiller habe Rousseaus Schrift durch die deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1763 kennengelernt, gibt es keinen Beleg, vgl. Peter-André Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit, München 2002, Bd. 1, S. 448. 17 Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt u. hgg. v. Hans Brockard. Stuttgart 1991, S. 5. - Zur Bedeutung Rousseaus für die politische Idee des Dramas vgl. Paul Böckmann: Schillers Don Karlos. Die politische Idee unter dem Vorzeichen des Inzest‐ motivs, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium. Tübingen 1982, S. 33-47, hier S. 38ff. 18 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 11. 19 Vgl. Helmut Koopmann: Forschungsgeschichte, in: Schiller-Handbuch. Hgg. v. H. K., S. 809-932, hier S. 862. Anders Koopmann 1989: „Natürlich sind die politischen Dimensi‐ onen des Dramas nicht zu übersehen“ (Helmut Koopmann: Freiheitssonne und Revo‐ lutionsgewitter. Reflexe der Französischen Revolution im literarischen Deutschland zwischen 1789 und 1840. Tübingen 1989, S. 18). - Vgl. Klaus Bohnen: Politik im Drama. Anmerkungen zu Schillers Don Carlos, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 15-31, hier S. 30, Anm. 33, und Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996. 20 Bohnen: Politik im Drama, hier S. 29. 21 Bohnen: Politik im Drama, S. 31. 22 Karen Beyer: Staatsraison und Moralität. Die Prinzipien höfischen Lebens im Don Carlos, in: Schiller und die höfische Welt. Hgg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 359-377, hier S. 360. social (1762). 16 „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“. 17 Mit diesen Worten eröffnet Rousseau das erste Kapitel, um dann wenig später im Kapitel Von der Sklaverei auszuführen: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten“. 18 Belege sind dies für die von Schiller intendierte Begriffs‐ verwendung des Worts Gedankenfreiheit allerdings nicht. Ebenso wenig wie die Hinweise auf Mercier, Watson und Herder, dessen Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) von Böckmann und Kluge in die Diskussion eingebracht wurde (vgl. NA 7/ 2, S. 434 u. FA 3, S. 1197). Den Begriff der Gedankenfreiheit lediglich auf den Aspekt der Redefreiheit einzuschränken, greift auch zu kurz. Und problematisch ist es, ihm eine politi‐ sche Semantik gänzlich abzusprechen, wonach er zwar ein aufklärerischer, aber kein politischer Begriff sei. 19 Demgegenüber hat Klaus Bohnen für den Don Karlos die „Politisierung des Moralischen“ 20 geltend gemacht. Dem staatlichen Despotismus des Königs stellt Bohnen „das erhabene Ideal einer vom Staats‐ zwang befreiten Gesellschaft“ 21 entgegen, das sich im Drama entfalte. Insofern ist Karen Beyers Bemerkung, im Don Karlos gehe es „maßgeblich um die Kon‐ frontation verschiedener moralischer Systeme“, 22 sicherlich zutreffend, wenn‐ gleich auch nicht erschöpfend. Hans-Jürgen Schings erklärt die verwickelte Entstehungsgeschichte des Dramas mit Schillers wechselvollen Kontakten zu 115 5. Don Karlos (1787/ 1805) 23 Schings: Die Brüder des Marquis Posa, S. 101. 24 Schings: Die Brüder des Marquis Posa, S. 120, Anm. 65. - Allerdings muss die Argu‐ mentation von Schings ergänzt werden durch den Aufsatz von Wilhelm Kühlmann: Don Carlos in der deutschen Literatur des Spätbarock. Zu geistlichen und galanten Texttraditionen im Vorfeld zu Schillers Drama, in: Jahrbuch der Deutschen Schillerge‐ sellschaft 26 (1982), S. 81-103. Zwar verweist Kühlmann auch auf die Bedeutung der Illuminaten, hebt jedoch besonders die dominierende Tradition des jesuitischen Or‐ densdramas (mit zwei Don Karlos-Stücken des 18. Jahrhunderts) hervor. Diese gehörte „zu einer soziokulturellen Formation, die zur Zeit des jungen Schiller eben erst er‐ schüttert war“ (ebd., S. 86). Durch den Bezug zur Realhistorie knüpfe Schiller thematisch an diese Tradition an (vgl. ebd., S. 83). - Vgl. auch Karl S. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa: Despot der Idee oder Idealist von Welt? , in: K. S. G.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen, Basel 1994, S. 133-164, und Peter-André Alt: Machtspiele. Die Psychologie des politischen Dramas in Schillers Don Karlos, in: Christine Maillard (Hg.): Friedrich Schiller. Don Carlos. Théâtre, psychologie et poli‐ tique. Strasbourg 1998, S. 117-141. den zeitgenössischen Illuminaten. Deren politische Ansichten über den Status der Aufklärung seien letztlich für die Konzeption des Stücks verantwortlich, und der Bruch nach dem dritten Akt mit der Verlagerung von Don Karlos hin zum Marquis Posa wird so erklärt: „Die Begegnungen mit den Illuminaten in Mann‐ heim, Speyer und Heidelberg liefern die plausibelste Erklärung für den neuen Ansatz“. 23 Gedankenfreiheit bedeute demnach zuallererst illuminatisch einge‐ färbt Pressefreiheit. 24 Am Ende des dritten Aktes verknüpft Posa das Freiheitspostulat wieder mit der konkreten politischen Situation in Flandern (vgl. V. 3287ff.). Vom Text her gesehen kann kein Zweifel daran bestehen, dass die politische Semantik der Freiheitsthematik eine Lenkungsnorm des Textes darstellt. Das zeigt auch der summarische Blick auf das Textende: Nach der Audienzszene begibt sich der Marquis zur Königin und trägt ihr nochmals seine politischen Absichten vor, er gewinnt die Königin für seine Sache (vgl. V. 3510ff.). Posa kämpft bis zuletzt für „Das kühne Traumbild eines neuen Staates“ (V. 4280). In V/ 1 muss er dann ein‐ sehen, dass er gescheitert ist: „Mein Gebäude stürzt / Zusammen - ich vergaß dein Herz“ (V. 4526f.). Noch in der Sterbeszene in V/ 3 wiederholt er seinen Ap‐ pell, Flandern nicht zu vergessen (vgl. V. 4718). In den Briefen über Don Karlos bietet Schiller selbst den Hinweis, dass Gedankenfreiheit nur politisch ver‐ standen werden kann, da Posa mit der Nennung des Begriffs direkt die politische Situation in Flandern anspricht und die bezeichnet er als „alles […] zu einer Revolution zubereitet“ (FA 3, S. 437), so heißt es im dritten Brief. Die Kritik, der sich Schiller nach Erscheinen des Don Karlos ausgesetzt sah, ver‐ anlasste ihn, seine Briefe über Don Karlos zu verfassen und sich gegen einige Vorwürfe zur Wehr zu setzen. Diese insgesamt zwölf fiktiven Briefe, die eher als 116 5. Don Karlos (1787/ 1805) 25 Karl Konrad Polheim: Von der Einheit des Don Karlos, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1985), S. 65. 26 Vgl. Polheim: Von der Einheit des Don Karlos, S. 99f. - Vor diesem Hintergrund wird dann die Frage nach der Einheit des Stücks zu einer rein akademischen Frage. Essay bezeichnet werden können, erschienen zwischen Juli und Dezember 1788 in Wielands Zeitschrift Der Teutsche Merkur. Posa sei „Weltbürger“ (FA 3, S. 441), von einer allumfassenden Philanthropie beseelt. Zwei Themen prägen das Drama. Einmal sei dies, so Schiller im dritten Brief, die leidenschaftliche Freund‐ schaft zwischen Karlos und Posa, das andere Mal die leidenschaftliche Liebe zwischen Karlos und der Königin. Doch beide Gravitationszentren fielen schließlich in einem Dritten zusammen, welches die „Einheit des Stückes“ (FA 3, S. 454) herstelle, und das sei das Freiheitspostulat. Für Schiller ist das „ein enthusiastischer Entwurf, den glücklichsten Zustand hervorzubringen, der der menschlichen Gesellschaft erreichbar ist“ (FA 3, S. 456). Die „Hauptidee des Stü‐ ckes“ (neunter Brief; FA 3, S. 460) ist also die von vielen vergeblich gesuchte und ebenso oft gescholtene Einheit des Stücks. Mit den Briefen verlassen wir die Figurenebene und wenden uns einem selbst‐ explikativen Text des Autors zu. Schiller argumentiert anthropologisch (beson‐ ders deutlich zu erkennen im elften Brief). Der Mensch folge eher seinem Herzen als „universelle[n] Vernunftideen, die er sich künstlich erschaffen hat - denn nichts führt zum Guten was nicht natürlich ist.“ (FA 3, S. 466) Ohne die Anbin‐ dung dieser Ideen an die sinnlich wahrnehmbare Erfahrungswelt der Menschen müssen die Ideale von Freiheit und Humanität scheitern. Der Autor setzt sich über die Idealisierungstypologie seiner Zeit hinweg und den Menschen als ganzen und natürlichen Menschen ins Recht. Er spielt anthropologische Grund‐ einsichten gegen poetologische Programme aus, und darin ist auch das eigent‐ liche Problem der Debatte um die fehlende Einheit des Stücks zu erkennen. Schiller argumentiert anthropologisch, seine Kritiker und Interpreten hingegen poetologisch, also form- und strukturanalytisch. Schillers Briefe über Don Karlos aber als einen kanonischen Text, als „unabdingbare Voraussetzung für die Gül‐ tigkeit jeder Interpretation“ 25 zu adeln, führt zu weit. Nicht der Umschlag von der universellen Idee von Freiheit und Humanität in deren Ideologisierung aber lässt Marquis Posa scheitern, sondern der Verzicht auf den ganzen Menschen, auf das Vernunft- und Gefühlswesen Mensch. 26 Posas Freiheitspostulat ist zwar politisch, aber nicht anthropologisch begründet. Wenn von Kritik an der Figur des Marquis Posa die Rede ist, dann zählt der Autor selbst zu den ersten und schärfsten Kritikern. Das hat die Forschung seit 117 5. Don Karlos (1787/ 1805) 27 Vgl. Wilfried Malsch: Robespierre ad Portas? Zur Deutungsgeschichte der Briefe über Don Karlos von Schiller, in: Gertrud Bauer Pickar, Sabine Cramer (Hgg.): The Age of Goethe Today. Critical Reexamination and Literary Reflection. München 1990, S. 69-103. 28 Schings: Die Brüder des Marquis Posa, S. 4. 29 Vgl. auch die Präzisierungen durch Wolfgang Riedel: Aufklärung und Macht. Schiller, Abel und die Illuminaten, in: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Hgg. v. Walter Müller-Seidel u. Wolfgang Riedel. Würzburg 2002, S. 107-125. 30 W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar. München 1999, S. 302, Anm. 23. 31 Vgl. Riedel: Aufklärung und Macht, S. 107-125. 32 Dieter Borchmeyer: „Marquis Posa ist große Mode“. Schillers Tragödie Don Carlos und die Dialektik der Gesinnungsethik, in: Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Hgg. v. Müller-Seidel u. Riedel, S. 127-144, hier S. 127. je irritiert: 27 „Man hat es unterlassen […], nach Erklärungsmöglichkeiten in Schillers Umfeld zu suchen, das zeitgenössische Ambiente zu durchmustern“. 28 Es ist der illuminatische Hintergrund der Briefe über Don Karlos, den zu entde‐ cken sich die Schiller-Forschung bislang schwertat. Schings hat dieser mit Verve vorgetragenen Geißelung allerdings so zahlreiche stichhaltige Argumente an die Seite gestellt, dass man von einem Wendepunkt in der Forschung sprechen kann. 29 Gleichwohl ist auch die Kritik an der Illuminatenthese ernst zu nehmen: „Noch in letzter Zeit sieht der Germanist Hans-Jürgen Schings den Diskurs über Menschenrechte als eine radikale Forderung des Geheimbunds der Illuminaten, statt ihn als Gemeingut der Zeit zu erkennen […]; eine Korrektur dieser unhis‐ torischen Auffassung würde freilich seine These entkräften, die Gedanken des Marquis Posa in Schillers Don Carlos seien aus dem Einfluss der Illuminaten zu erklären, die Schings dann mit denen der Revolutionäre assoziiert.“ 30 Schillers Kritik an der Figur des Marquis Posa in den Briefen über Don Karlos ist eine Auseinandersetzung mit illuminatischen Positionen, vor allem eine Kritik an Adam Weishaupt, die Schiller teilweise, wie nachgewiesen wurde, aus der Karlsschulzeit kannte. 31 Allerdings wird die These vom illuminatischen Hin‐ tergrund des Stücks nur transparent und letztlich plausibel, wenn man die Posa-Kritik Schillers aus den Briefen über Don Karlos in die Posa-Darstellung des Dramas hineinliest. Inzwischen ist eine Tendenz zu erkennen, die Differenz von Stück und Essay (Briefe über Don Karlos) zu rehabilitieren. Nur so ist es zu verstehen, wenn Marquis Posa als „der vielleicht umstrittenste politische Held der deutschen Bühnengeschichte“ 32 bezeichnet wird. Dieser Diskussion kann ein bisher eher vernachlässigtes Argument zugeführt werden, das sich aus der Textlektüre ergibt und das sich am besten als These so formulieren lässt: Freiheit als Naturrecht ist ein Widerspruch in sich selbst (wenn wir in der Entwicklungslogik von Schillers späteren ästhetischen 118 5. Don Karlos (1787/ 1805) 33 Zur äußerst komplexen Geschichte des Naturrechtsbegriffs vgl. die beiden Überblicks‐ darstellungen [Artikel] Naturrecht, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1984, Bd. 6, Sp. 560-623, sowie [Artikel] Naturrecht, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart 1978, Bd. 4, S. 245-313. Schriften denken). 33 Marquis Posa - und damit das Stück insgesamt - muss scheitern, da er diesen Widerspruch nicht aufzulösen vermag. Die Briefe über Don Karlos bekräftigen, was das Stück selbst keineswegs verschweigt: Das mo‐ ralische Ideal liegt nicht im menschlichen Herzen, sondern ist eine regulative Vernunftidee, an die der Mensch erst herangeführt und worin er eingeübt werden muss. Posa sagt über die Natur: „Auf Freiheit ist sie gegründet“ (V. 3218f.). Aber gerade darin liegt ja der Widerspruch, darin liegt der Grund für das notwendige Misslingen des Tugendidealismus. Wenn Freiheit als ein Na‐ turrecht des Menschen verstanden wird (vgl. V. 3218), dann kollidiert dies mit Schillers Vorstellung, dass Natur gekennzeichnet ist durch Trieb und Notwen‐ digkeit, später spricht er auch von Naturzweckmäßigkeit. „Nichts führt zum Guten was nicht natürlich ist“ (FA 3, S. 466), schreibt Schiller in den Briefen über Don Karlos, und Freiheit ist gerade nicht natürlich, sondern ihr Gegenteil Notwendigkeit ist es. Das heißt mit anderen Worten aus der Sicht Schillers, nichts führt zum Guten, was nicht zuvor von der Seite der Naturnot‐ wendigkeit her in das Reich der Freiheit überführt worden ist. Und dieser Weg ist der Weg humaner Bildung und sein Medium ist die Kunst. Um dies verstehen zu können, ist es nötig, nochmals auf die Szene III/ 10, die sogenannte Audienzszene zurückzukommen. Bevor Posa sein Postulat der Ge‐ dankenfreiheit formuliert, droht er Philipp mit einer Utopie: Eine Art republi‐ kanischer oder konstitutioneller Monarchie werde eine gesellschaftliche Befrie‐ dung und Versöhnung schaffen, die Freiheit und Glück für den Einzelnen wie für das Gemeinwesen verbürge. Danach fallen die Worte, „die Notwendigkeit wird menschlich sein“ (V. 3155). Das ist eine Formulierung, die sich von der Erstausgabe bis zur Ausgabe letzter Hand unverändert erhalten hat. Was aber heißt das? Die Kommentatoren ließen diesen Vers bislang unkommentiert, in der Forschung ist er inexistent. Und dabei enthält er einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Schlüssel für Posas tugendphilosophisches Ideal eines natur‐ rechtlichen Freiheitsverständnisses. Nun kann man einwenden und der Einwand ist mehr als berechtigt, dies sei vor Schillers Kant-Wende formuliert, die mit der Kant-Lektüre im Februar 1791 119 5. Don Karlos (1787/ 1805) 34 Den ersten deutlichen Niederschlag im „sehr weite[n] Feld“ (NA 26, S. 175) der Ästhetik findet man am 21. Dezember 1792 in einem Brief Schillers an Körner: „Ueber die Natur des Schönen ist mir viel Licht aufgegangen [...]. Den objectiven Begriff des Schönen, [...] an welchem Kant verzweifelt, glaube ich gefunden zu haben“ (NA 26, S. 170). Doch schon im ersten Kallias-Brief vom 25. Januar 1793 weicht diese Euphorie einer Ernüch‐ terung. 35 Wilhelm von Humboldt gegenüber stellte Schiller fest, er sei entschlossen sich von der „philosophischen Schriftstellerey“ (NA 28, S. 124) zurückzuziehen. Die Arbeit am Wal‐ lenstein hatte begonnen. beginnt 34 und erst am 7. Dezember 1795 von Schiller als überwunden betrachtet wird. 35 Aber auch in den Don Karlos-Bearbeitungen nach der Kant-Wende blieb dieser Aspekt unverändert. Es ist in der Forschung wiederholt auf die Bedeutung der aufgeklärten Anthropologie für das Werk Schillers hingewiesen und damit einer einsinnigen Textimmanenz bei der Deutungsarbeit entgegengesteuert worden. Gerade die anthropologische Begründung von Posas Scheitern in den Briefen über Don Karlos unterstreicht den Zusammenhang, in dem Schiller sein Stück sehen will, dieser Kontext aufgeklärter Philosophie reicht von den philo‐ sophierenden Ärzten aus der Karlsschulzeit bis zu anthropologischen Leitvor‐ stellungen der Aufklärung, die Schiller nicht zuletzt in seiner Dissertation exemplarisch diskutiert hatte. Nach der Kant-Wende bekommt dies eine vorü‐ bergehende terminologisch-transzendentalphilosophische Basis, doch im Kern bleibt Schillers Auffassung unverändert und sedimentiert sich noch in seiner 1803 entstandenen, letzten theoretischen Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie der Braut von Messina, wonach die ästhetische Freiheit des Zuschauers in der Balance zwischen Natur und Vernunft zu suchen ist. Die Vorstellung, Natur sei auf Freiheit gegründet, ist demnach ein funda‐ mentaler Widerspruch in Posas Denken. Hierin liegt ein bislang vernachläs‐ sigtes eindeutiges Moment der Kritik an der Figur des Marquis Posa, und zwar bereits im Stück selbst. Freiheit ist kein Naturrecht, das uns von Geburt an eignet, sondern muss mühsam errungen werden. Schiller bestätigt damit etwas, das erst in den Ästhetischen Briefen seine programmatische Entfaltung findet, dass nämlich nur Bildung als ästhetische Erziehung den Weg zum „Ideal einer Menschenrepublik“ (FA 3, S. 429) ebnet. Don Karlos trägt damit einen entschie‐ denen Teil Aufklärungskritik vor. In einer Notiz aus Schillers Nachlass, deren eindeutige Datierung nicht möglich ist (vgl. NA 21, S. 389), findet sich ein Hin‐ weis auf die Bestätigung dieser Lesart. Allerdings spricht Schillers Überlegung, das Naturrecht aus der Natur des Menschen ableiten zu wollen, sehr für eine zeitliche Nähe zur Entstehungsgeschichte des Don Karlos, sofern es sich bei dieser Notiz nicht einfach um Exzerptspuren anderer Lektüren handelt. Schiller schreibt: 120 5. Don Karlos (1787/ 1805) „Methode Naturrecht, Politik, Moral, Aesthetik, wie gut sie sich auch im System ausnehmen gestatten so wenig Anwendung auf Welt, Leben und Kunstschöpfung. Kommt es nicht daher, weil der Philosoph immer von Gesetzen und rationalen Principien, die Natur aber immer von blinden Gewalten und von der That ausgeht? Der Philosoph kommt freilich am besten zu seinem Zweck wenn er den Menschen gleich als vernünftig voraussezt; aber der Mensch ist nicht vernünftig, er wird es erst spät und wenn die Welt schon eingerichtet ist. Der Mensch ist mächtig, gewaltsam, er ist listig und kann geistreich seyn lang eh er vernünftig wird. Aus dieser seiner Natur und nicht aus seiner vernünftigen müßte das Naturrecht und die Politik dedu‐ ciert werden, wenn durch sie das Leben erklärt werden, und wenn sie einen wirksamen Einfluß aufs Leben haben sollten.“ (NA 21, S. 90) Posas Tugendidealismus kann also nicht gelingen, da seine Voraussetzungen bereits verkehrt sind. Schiller weist zu dieser Deutung in den Briefen über Don Karlos den Weg, dessen Ausgangs- und Endpunkt aber im Stück selbst liegt. Somit werden die Briefe über Don Karlos als selbstexplikatives Hermeneutikum überflüssig. Posa ignoriert die anthropologische Einsicht vom ganzen Men‐ schen, der Leib- und Vernunftwesen gleichermaßen vereint. Allein die politische Ausrichtung auf eine Vernunftidee (in diesem Fall die Freiheit) genügt nicht, deren Gelingen zu gewährleisten. Posa baut im Drama seinen Idealismus auf diese falsche Annahme, Freiheit sei ein Naturrecht. Schiller bündelt in Posas Scheitern seine Aufklärungskritik. Die Schiller-Forschung hat in der Explikation des Begriffs der Gedankenfreiheit zwar wichtiges sozial- und ideengeschichtli‐ ches Terrain erschlossen, jedoch diesen gleichsam systemimmanenten Wider‐ spruch Posas nicht in den Blick bekommen. Schillers Drama führt vor Augen, es gibt keine Freiheit ohne den Menschen. Oder, wie Schiller es in den Philoso‐ phischen Briefen (1786) formuliert hat: „Wenn jeder Mensch alle Menschen liebte, so besäße jeder Einzelne die Welt“ (FA 8, S. 224). 121 5. Don Karlos (1787/ 1805) 1 Niederländische Literaturgeschichte. Hgg. v. Ralf Grüttemeier u. Maria-Theresia Leuker u.a. Stuttgart 2006, S. 152. - In der Literaturkritik blieb der schillersche Idealismus länger er‐ halten, wie das Beispiel Potgieter zeigt (vgl. ebd., S. 169). 2 Der Kürze halber hinfort als Schillers Niederlande-Buch tituliert. 3 Vgl. Niederländische Literaturgeschichte, S. 165. 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1788) In einer Niederländischen Literaturgeschichte wird Friedrich Schiller dreimal ge‐ nannt. Im Kapitel über die Geschichte der niederländischen Lyrik findet sein Essay Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/ 1796) Erwähnung. Hier kommt ein mentalitätsgeschichtlich relevantes deutsch-niederländisches Argument in An‐ schlag, die niederländische realistische Lyrik wird (aus deren Eigenperspektive) von der deutschen idealistischen Reflexionslyrik abgehoben. Aus der Sicht deutscher Autoren wird indes der platte Realismus der niederländischen „Häuslichkeits‐ lyrik“ 1 gerügt. Die Vorurteile gegenüber der niederländischen Literatur konnten sich historisch unter anderem auf Kant, Herder und August Wilhelm Schlegel stützen, weisen also bereits in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Schillers Buch Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1788) 2 wird hier - völlig zu Recht - nicht angeführt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden, so erklärt diese Niederländische Li‐ teraturgeschichte weiter, die ersten Schiller-Dramen ins Niederländische über‐ setzt, voran die Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans. Eine erwähnens‐ werte Rezeption blieb aber aus. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts folgten weitere Übersetzungen und Inszenierungen von Dramen Schillers. 3 Sein Nie‐ derlande-Buch wurde entgegen den Ratschlägen einiger Freunde übrigens nicht übersetzt. So riet etwa Körner: „Dein Werk muß in Holland bekannt werden“ (NA 33/ 1, S. 167). Die erste niederländische Übersetzung lag erst zum Schiller-Jahr 2005 vor. Die Literaturwissenschaft hat sich lange Zeit sehr schwergetan mit dem Thema Schiller als Historiker, mit Schillers Niederlande-Buch, das sich so recht gar nicht mit einem eng verstandenen Literaturbegriff in Übereinstimmung bringen ließ. Erst als sich der Literaturbegriff in unserem Fach zu erweitern begann, schwanden die Berührungsängste, und mit der Marbacher Tagung vom Jahr 1993 zum Thema Schiller als Historiker, deren Dokumentationsband nach 1995 der Forschung neue 4 Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 2. 5 Hans Tümmler: „Signore Schiller“. Der zunftfremde Geschichtsprofessor und die Jenaer Phi‐ losophische Fakultät 1798, in: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 444-458, hier S. 445. Impulse gab und deren Innovationspotenzial bis heute anhält, hat sich die Situation etwas geändert. Die Geschichtswissenschaft nahm sich Schillers historischen Arbeiten erst in dem Moment an, als die Dominanz der historistischen Schule in der Forschung nach‐ ließ. Den detailliertesten Forschungsbericht aus Sicht des historischen Fachs hierzu bietet Thomas Prüfer mit seiner Dissertation Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft (Köln 2002). Er fasst das Thema Schiller als Historiker profund so zusammen: Um 1790 ist Schiller für die Zeitgenossen in erster Linie ein Geschichtsschreiber und kein Dichter. Die Ge‐ schichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung und die Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs erhielten zeitgenössisch positive Rezensionen und verkauften sich gut. Prüfer spricht für den Zeitraum zwischen 1787 und 1792 von einer klar abzugrenz‐ enden „historischen Phase Schillers“ 4 und benennt damit nolens volens das Problem der Bewertung von Schillers historiografischem Engagement. Betrachten wir kurz die Fakten: Im Oktober 1788 erscheint Schillers erste historische Schrift, eben die Ge‐ schichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung. Im De‐ zember 1788 schlägt Goethe Schiller für eine außerordentliche, unbesoldete Professur an der Universität Jena vor. Die offizielle Berufung an die Philosophische Fakultät der Universität erfolgt im März 1789, allerdings „ohne Angabe eines bestimmten Lehr‐ fachs“. 5 Man darf davon ausgehen, dass es sowohl Schiller als auch Herzog Karl Au‐ gust bewusst war, dass der Berufene im Fach Geschichte lesen sollte. Schiller durfte sich nur nicht als Professor der Geschichte titulieren, was kollegialen Empfindlich‐ keiten geschuldet war. Im Mai 1789 zieht Schiller nach Jena um. Am 26. und 27. Mai 1789 hält er seine Antrittsvorlesung, die unter dem Titel Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Ruhm erlangte. Nur wenige ahnten, welche umwälzenden politischen Änderungen in Europa wenige Wochen später erfolgen sollten. Schiller befasst sich in dieser Vorlesung mit der Frage, wie die Beschäftigung mit Geschichte wissenschaftlich begründet und gelehrt werden kann und was die Aufgabe der Geschichtsforschung ist, er holt also gewissermaßen das nach, was er in seiner Vorrede zum Niederlande-Buch nur umreißt. Infolge des großen Andrangs der Studierenden und eines Umzugs durch die Stadt in ein größeres Gebäude wird verse‐ hentlich Feueralarm ausgelöst. Abends wird Schiller zu Ehren öffentlich musiziert und es wird ihm sogar ein dreifaches Vivat ausgebracht. Die fachliche Bewertung dieser historischen Phase Schillers durch die Ge‐ schichtswissenschaft fällt sehr kontrovers aus. Während Johann Gustav Droysen 124 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 6 Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 3. 7 Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 4. 8 Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 5. 9 Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 5. 10 Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 7f. 1857 seinen berühmten Jenenser Vorgänger Schiller zum potenziell größten deut‐ schen Historiker ausruft, ist das Urteil durch die historistische Geschichtswissen‐ schaft des 19. Jahrhunderts, namentlich durch Barthold Georg Niebuhr und Leo‐ pold von Ranke, vernichtend, sie lehnen Schillers Geschichtswerke als dilettantische Arbeiten rundweg ab. 6 Im gesamten 19. Jahrhundert erscheinen zu Schillers historischen Schriften neben Einzelstudien lediglich zwei fachwissenschaftliche Monografien, von Johannes Janssen Schiller als Historiker (1863) und von Julius Moll Schiller als Historiker mit besonderer Berücksichtigung seiner Geschichte des Abfalls der Niederlande (ca. 1875). 7 Das Interesse an seinen historiografischen Arbeiten war schlichtweg weniger als gering. Umso mehr erstaunt es, dass 1862 eine Schrift erschien, worin Schiller als Geschichtsschreiber disziplinäre Anerkennung fand. Diese Arbeit von Karl Toma‐ schek löste „eine Kontroverse unter den positivistisch orientierten deutschen Ge‐ schichtswissenschaftlern aus“, 8 denn sie kam zu dem Ergebnis, dass die historio‐ grafischen Schriften aufgrund ihrer intensiven Quellenarbeit durchaus wissenschaftlichen Standards genügten. Schiller selbst sprach von „Eselsfleiß“ (FA 6, S. 739), den er an den Tag gelegt habe. Janssen hingegen bestätigte in seiner Arbeit den Dilettantismusverdacht, wo‐ nach der Dichter gerade nicht als seriöser Historiker gelten dürfe. Die Rehabilitie‐ rung erfolgte erst am Ende des 19. Jahrhunderts, 9 sicherlich auch ein Effekt der zu‐ nehmenden Kanonisierung der schillerschen klassischen Dramen. Ein ferner Niederschlag dieser Kontroverse findet sich, wenngleich erheblich abgemildert, noch beim Historiker Golo Mann in seinem Bonmot, der Dichter Schiller habe die Geschichte in seiner Wallenstein-Trilogie besser erfasst als der Geschichtsschreiber Schiller in seiner Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs. 10 Die Entdeckung, dass sich Schillers sperrige historiografische Arbeiten in die Perspektive einer narrativistischen Geschichtstheorie stellen lassen, bedeutete für die weitere wissenschaftliche Diskussion zunächst einen Ideenzugewinn, auch wenn es im Grunde bis heute stets um die gleich bleibende Gretchenfrage geht, wie man es mit dem Historiker Schiller hält. Prüfer fasst diese Frage und ihre unter‐ schiedliche Bewertung so zusammen: „Vom Standpunkt einer Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft aus ge‐ sehen, erscheint der Historiker Schiller zunächst als Randgestalt und Außenseiter im Tra‐ 125 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 11 Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 9. 12 Vgl. Hinrich C. Seeba: Historiographischer Idealismus? Fragen zu Schillers Geschichtsbild, in: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Sympo‐ sium. Hgg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, S. 229-249. 13 Vgl. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Ge‐ schichtsschreibung 1760-1860. Berlin 1996, bes. S. 228-263. 14 Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 229. 15 Otto Dann: Schiller, der Historiker und die Quellen, in: Schiller als Historiker. Hgg. v. Otto Dann, Norbert Oellers u. Ernst Osterkamp. Stuttgart, Weimar 1995, S. 109-126, hier S. 125. 16 Johannes Süssmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Ge‐ schichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780-1824). Stuttgart 2000, S. 75. Frei‐ lich betont Süssmann, dass Schiller nicht der Einzige gewesen sei, der zu den Begründern einer literarischen Geschichtsschreibung in Deutschland zähle, sondern eben der bekann‐ teste (vgl. ebd., S. 111). Hier stellt sich die Frage, würden wir uns mit dem Niederlande-Buch heute noch befassen, wenn Schiller nicht zum Klassiker geadelt worden wäre? Anders ge‐ fragt, holt die Historiografie seit einiger Zeit das nach, was die Germanistik nahezu ein Jahrhundert lang betrieb, nämlich den Namen Schiller als generelles, unhinterfragbares Güteemblem zu vermarkten? Vgl. auch Volker C. Dörr: Wie dichtet Klio? Zum Zusammen‐ hang von Mythologie, Historiographie und Narrativität, in: Zeitschrift für deutsche Philo‐ logie 123 (2004), Sonderheft, S. 25-41. ditionsbewußtsein des Faches. In der historiographiegeschichtlichen (Nicht-) Rezeption Schillers spiegeln sich eine Reihe von Fundamentalkontroversen der modernen Ge‐ schichtswissenschaft, deren Anfänge bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Dabei geht es u.a. um das Verhältnis von Dilettantismus und Professionalität, von politischer und Kulturbzw. Sozialgeschichte, von Wissenschaft und Kunst sowie von Geschichtsphilo‐ sophie und Geschichtsschreibung. All diese Debatten bündeln sich historiographiege‐ schichtlich gesehen in dem Streit über die Anfänge moderner Geschichtswissenschaft. Und genau hier treffen sie auf die Frage nach dem Historiker Schiller.“ 11 Hinrich C. Seeba lieferte mit seiner Abhandlung über Schillers Konzeption eines historiografischen Idealismus, worin sich eine Philosophie der Geschichte mit einer Poetik der Geschichtsschreibung verschränke, eine wichtige Anregung. 12 Daniel Fulda untersuchte eingehend den historiografiegeschichtlichen Stellenwert des Historiografikers Schiller. 13 Dieser sei „der bedeutendste Transformator zwischen Aufklärungshistorie und Historismus“ 14 , ein Aspekt, der in dem Band Schiller als Historiker vernachlässigt wird, obgleich auch Otto Dann pauschal darauf hinweist, dem Historiker Schiller werde heutzutage eine „Position im Übergang von der Auf‐ klärungshistorie zum Historismus des 19. Jahrhunderts“ 15 zugewiesen. Schiller habe sich in keiner anderen seiner historischen Schriften so um die „Durchdringung von dramatischer Erzählung und wissenschaftlicher Akribie bemüht“, 16 wie eben in seinem Niederlande-Buch, schreibt Johannes Süssmann. 126 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 17 Vgl. Schiller als Historiker, S. 1f. Er müsse gestehen, meint Schiller gegenüber seinem Verleger Crusius, dass er sich mit dieser Schrift „in dem Neuen Fach der Geschichte, zu dem ich mich angefangen habe zu bestimmen, beim Publikum etwas gut ankündigen möchte.“ (NA 24, S. 175) Während Christoph Martin Wieland die Geschichtsschreibung Schillers als neues Profilierungsmedium für den Autor erkannt und ihm fach‐ liche Fähigkeiten zugesprochen hat, mahnte Körner Schiller daran, sich seiner dichterischen Ursprünge zu erinnern (vgl. NA 33/ 1, S. 165f. u. S. 244f.). Schiller wollte eine ökonomisch solide Basis für sich und seine Familie, die er sich zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließlich von der literarischen Produktion ver‐ sprach. Auch war er der Ansicht, dass ihm das historiografische Schreiben leichter von der Hand gehe als die Dichtung. Insgesamt ging das Kalkül auf, Goethe konnte sich als Mitglied des Geheimen Consiliums in Weimar auf das Niederlande-Buch berufen, als er Schillers Ernennung zum außerordentlichen Professor in Jena mit vorbereiten half (vgl. FA 6, S. 750f.). Die Herausgeber des Bandes Schiller als Historiker schreiben in ihrer Einlei‐ tung, dass sich die Literaturwissenschaft bislang nicht um die historischen Schriften Schillers gekümmert habe. Dies ist, so pauschal gesehen, natürlich nicht richtig, deshalb arbeiten sie dann mit einem Trick, den man wohl nur uns Philologen zutrauen mag, sie unterscheiden zwischen dem Geschichtsschreiber Schiller, dem Geschichtsdramatiker Schiller und dem Geschichtsphilosophen Schiller. 17 Damit rücken wieder jene Texte in den Fokus, die bekanntermaßen in der literaturwissenschaftlichen Forschung als geschichtslastige Schiller-Texte bekannt sind: Die Wallenstein-Trilogie und der Don Karlos ebenso wie die be‐ kannte Jenaer Antrittsvorlesung, die zumeist als Interpretament herangezogen wird. Natürlich ist es legitim, nach Schillers Geschichtsbild, seinem Geschichtsver‐ ständnis oder seinem freien Umgang mit historischen Fakten im Don Karlos, in der Jungfrau von Orleans oder in der Maria Stuart zu fragen und die geschichts‐ theoretischen Positionen der Antrittsvorlesung zu analysieren. Doch jenseits eines Überschwangs an Schiller-Begeisterung bleiben dabei die eigentlichen historischen Werke auf der Strecke und die Leser ratlos zurück, beispielsweise angesichts der Tatsache, dass Schiller eine über 300 Seiten umfassende Arbeit über die Geschichte der Niederlande im 16. Jahrhundert geschrieben hat. In seinem Werk Encyclopädische Ansichten der historischen Gelehrsamkeit (1789) schreibt Christian Jacob Kraus über die Erfordernisse eines „guten Historikers“, er benötige „Besonnenheit und Unpartheilichkeit, damit er nicht aus lebhafter Einbildungskraft oder aus Raisonnirsucht, um alles erklären zu können, fehle. 127 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 18 Zitiert nach Horst Walter Blanke, Dirk Fleischer (Hgg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. 2 Bde. [Bd. 1: Die theoretische Begründung der Geschichte als Fachwissenschaft. Bd. 2: Elemente der Aufklärungshistorie.] Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, hier Bd. 2, S. 395. 19 Blanke, Fleischer (Hgg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, hier Bd. 1, S. 24. 20 Vgl. Blanke, Fleischer (Hgg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, hier Bd. 1, S. 31f. 21 Vgl. Blanke, Fleischer (Hgg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, hier Bd. 1, S. 35. Daher die historischen Centauren, die halb Geschichte, halb Roman liefern, wie die Franzosen, (Fessler) und die sogenannten neuen Pragmatiker, z.B. Schiller, Woltmann etc.“ 18 Der Göttinger Historikerkollege Spittler bemängelt in seiner Rezension des Niederlande-Buchs, dass Schiller „oft mehr deutet, als erzählt“ (FA 6, S. 752), gleichwohl könne aus Schiller ein großer Erzähler werden. Exakt auf dieses Problem der Differenzlinie von Fiktion und historischer Genauigkeit geht Friedrich Schiller gleich zu Beginn seines Buches Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1788) ein. Schiller steht mit seinem Niederlande-Buch in der Traditionslinie der Auf‐ klärungshistorie, das wird ihm heute, nach vielfachen historisch-exakten Un‐ tersuchungen von Seiten der Geschichtswissenschaft bescheinigt. Unter Auf‐ klärungshistorie verstehen die beiden Herausgeber des einschlägigen Quellenwerks „die der Aufklärung eigentümliche Form geschichtlichen Den‐ kens“. 19 Zu den Repräsentanten der deutschen Aufklärungshistorie zählen sie Johann Jakob Maskov, Heinrich Graf von Bünau, Johann Christoph Gatterer, August Ludwig Schlözer, Ludwig Timotheus Spittler, Arnold Hermann Ludwig Heeren, Christoph Meiners, Friedrich Nicolai, Justus Möser, Johannes von Müller, Carl Renatus Hausen, Johann Matthias Schroeckh, Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Isaak Iselin und eben auch Friedrich Schiller. 20 Die thematische Vielfalt der Aufklärungshistorie beeindruckt auch heute noch, vor allem, wenn man sie direkt mit der historistischen Fachgeschichte des 19. Jahrhunderts vergleicht: Universalgeschichte, Geschichtsphilosophie, Menschheitsgeschichte, Kulturen fremder Länder und Völker, europäische Staa‐ tengeschichte, deutsche Geschichte, Landesgeschichte, Verfassungsgeschichte, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Quellensammlungen, historische Hilfswissenschaften, Bibliografien, Quellenkritik, Fachreflexionen, das sind ihre thematischen Schwerpunkte. 21 Kurz gesagt: „Die deutsche Aufklärungshistorie zeichnet sich […] durch eine weitgespannte komparative sozial- und kulturwis‐ senschaftliche Perspektive aus. Als Ausdruck und Teil einer anti-aristokrati‐ 128 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 22 Vgl. Blanke, Fleischer (Hgg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, hier Bd. 1, S. 35f. 23 Zitiert nach Gunter E. Grimm: Zur imagologischen Fragestellung am Beispiel des Nie‐ derlande-Bildes in älteren deutschen Lexika, in: Wilhelm Amann, Gunter E. Grimm, Uwe Werlein (Hgg.): Annäherungen. Wahrnehmung der Nachbarschaft in der deutsch-niederländischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Münster 2004, S. 9-24, hier S. 16. 24 Über die Details der Entstehungsgeschichte informiert ausführlich der Kommentar in FA 6, S. 731ff. schen Emanzipationsbewegung bedeutete sie die Überwindung der devoten Hofhistoriographie […]“. 22 Neben diesen Aspekten der Aufklärungshistorie ist aber auch eine andere Traditionslinie in Rechnung zu stellen, die bislang kaum in den Blick gerückt ist. Es ist die lexikografische Enzyklopädistik der Aufklärung, die nachhaltig das Bild der Niederlande für ein deutschsprachiges Publikum geprägt hat, auch wenn positivistisch-buchhalterische Nachweise nicht immer möglich sind. In erster Linie ist hier Jacob C. Iselins Neu-vermehrtes Historisch- und Geographi‐ sches Allgemeines Lexikon von 1726 zu nennen, worin sich die rezeptionsge‐ schichtlich bedeutsame Charakterisierung der Niederländer findet: „Wie sich denn die einwohner hauptsächlich auf die kauffmannschafft legen, worinnen sie es auch recht hoch gebracht. Doch setzen sie auch die studien nicht bey seite. Sie sind darneben aufrichtige, arbeitsame und gedultige, aber dabey auch ei‐ gennützige Leute.“ 23 Zedlers Universal-Lexicon (1740) folgt dieser Charakterisie‐ rung, die auch ihren Niederschlag findet in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste (1833) von Ersch-Gruber und sich weiter im 19. Jahr‐ hundert fortsetzt. Eine eigene Untersuchung wäre es wert der Frage nachzu‐ gehen, inwieweit diese kulturgeschichtlichen Skizzierungen auch einen litera‐ turhistoriografischen Niederschlag im Detail gefunden haben. Im Niederlande-Buch zeigt sich davon ein schwacher kulturell-emblematischer Re‐ flex, wenn Schiller urteilt: „Die Schatzkammer der Republik waren Arbeitsam‐ keit und Handel.“ (FA 6, S. 48) Solche oder ähnliche Äußerungen sind sehr selten, sodass das Niederlande-Buch kaum zu einer traditionellen imagologischen Studie taugt. Und auch die folgende Bemerkung ist in Schillers Buch singulär: „Die Neigung zum Gewinn macht den Niederländer mehr zum Frieden geneigt, aber nicht weniger empfindlich gegen Beleidigung. Kein Volk ist von Erobe‐ rungssucht freier, aber keines verteidigt sein Eigentum besser“ (FA 6, S. 75). Der Niederländer sei „listig“, „aber nicht tückisch“ (FA 6, S. 75). Schillers Niederlande-Buch erschien erstmals 1788, 1801 folgte eine Neuauflage mit einigen Änderungen. 24 Ursprünglich sollte es Teil einer Geschichte der merk‐ 129 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 25 Zur ersten Information über die realgeschichtlichen Zusammenhänge vgl. Michael North: Geschichte der Niederlande. München 1997, bes. S. 28-36; zu Schillers Buch vgl. Otto Dann: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regie‐ rung (1788), in: Schiller-Handbuch. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit v. Grit Dommes. Stuttgart, Weimar 2005, S. 321-323. 26 Vgl. dazu Ernst Schulin: Schillers Interesse an Aufstandsgeschichte, in: Schiller als His‐ toriker, S. 137-148. 27 Eine direkte Leseranrede kommt im Text selten vor, vgl. etwa FA 6, S. 110 u. S. 114. würdigsten Rebellionen und Verschwörungen sein, wurde dann aber von Schiller als eigenständige Veröffentlichung fortgeführt. Am 24. Oktober 1787 liest Schiller in der Wohnung Charlotte von Kalbs in Weimar aus dem Manuskript vor, unter anderem ist auch Wieland anwesend. Dessen ermunternde, geradezu euphorische Reaktion - wenn man der Darstellung Schillers glauben will - be‐ stärkt ihn darin, sich zukünftig als Geschichtsschreiber zu betätigen. Wieland war, schreibt Schiller seinem Freund Huber, „von dem Ding hingerissen und behauptet, daß ich dazu gebohren sei, Geschichte zu schreiben“ (NA 24, S. 170). Die Vorrede zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung   25 enthält die Erklärung, wie Schillers Aufmerksamkeit auf diesen historischen Gegenstand gelenkt wurde. Während seiner Arbeit am Don Karlos in den Jahren zwischen 1782 und 1787 studierte er Robert Watsons Ge‐ schichte der Regierung Philipps des Zweyten (deutsche Übersetzung 1778). Mit der französischen Übersetzung von 1777 dieses Werks arbeitete er auch im Zu‐ sammenhang der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spa‐ nischen Regierung (1788). Schiller spricht von der „Begeisterung“ (FA 6, S. 37), die er bei der Lektüre der Geschichte der niederländischen Revolution bei Watson erfahren habe. Aus dieser subjektiven Begeisterungsfähigkeit entsteht die Absicht, dieser Wirkung Dauer zu verschaffen, sie zu verstärken und andere Menschen daran teilhaben zu lassen. Diese Erklärung klingt durchaus glaubhaft, hat doch schon der junge Autor Schiller in den Räubern (1781) und im Fiesko (1783) Aufstandsgeschichten dramatisiert. 26 Schiller betont die Bedeutung seines Quellenstudiums - ein Hinweis, der in der Historiografie der Geschichtsschrei‐ bung heute als eine wesentliche Weiterentwicklung der Aufklärungshistorie gesehen wird. Aus dem ursprünglich geplanten allgemeinen Umriss sei schließ‐ lich eine ausgeführte Geschichte geworden, deren Hauptteil noch ausstehe. Der Autor rekurriert in der Vorrede auf eine Art Wirkungsästhetik, die mit einer leserpsychologischen Identifikation aufgeladen wird. Der Leser solle sich mit den handelnden Personen ‚familiarisieren‘, ein Begriff, der von Schiller selbst angeführt wird (vgl. FA 6, S. 38). 27 Die Aufgabe des Autors ist es also, diese symbolische Familiengemeinschaft zwischen Leser und Hauptfigur zu stiften. Dieses Wirkungsprogramm weicht damit erheblich von dem ab, was gemeinhin 130 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 28 Vgl. Schulin: Schillers Interesse an Aufstandsgeschichte, S. 142. 29 Vgl. North: Geschichte der Niederlande, S. 29. 30 North: Geschichte der Niederlande, S. 29. als Aufgabe des Geschichtsschreibers bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ver‐ standen wird. Während der Dichter das darzustellen habe, was sein könnte, müsse der Geschichtsschreiber das schreiben, was ist - so die einschlägige Be‐ stimmung schon bei Aristoteles in dessen Poetik. Schiller versucht eine diskur‐ sive Gratwanderung zwischen nüchterner Geschichtsschreibung und roman‐ hafter Ausschmückung (vgl. FA 6, S. 40). Die Diskrepanz zwischen dem, was die Vorrede intentional und programma‐ tisch formuliert und dem, was in der eigentlichen Ausführung folgt, könnte kaum größer sein, wie Ernst Schulin bemerkt hat. Doch während diese Be‐ obachtung als Aufweis eines unvoreingenommenen Historikers umgedeutet wird, 28 soll dies hier als ein offensichtliches konzeptuelles Manko von Schillers Buch festgehalten werden. Wie man zu der Einschätzung gelangt, dass Schiller eine Volksgeschichte schreibe, bleibt dunkel, denn natürlich orientiert sich der Autor an den Aktanten und Protagonisten der politischen Macht, die eben nicht Volkshelden vom Typus eines Wilhelm Tell darstellen. Selbst die Textpassagen über die Massenaufläufe bei öffentlichen Predigten und die kollektiven Un‐ ruhen, die der Geusenbund verursacht, sind keine Volksgeschichte. Schiller prä‐ diziert hier die öffentliche Meinung und die Masse als Pöbel, der die bürgerliche Ordnung - ein Begriff, den er in diesem Zusammenhang des Öfteren gebraucht - bedroht: „eine rohe zahlreiche Menge, zusammengejagt aus dem untersten Pöbel, viehisch durch viehische Behandlung […] hinausgestoßen, aus der bür‐ gerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur, und in einem schrecklichen Au‐ genblick an die Rechte dieses Standes erinnert! “ (FA 6, S. 267) Mit diesen Worten leitet Schiller seine Darstellung von dem „Exzeß der Bilderstürmerei“ (FA 6, S. 288) ein. Historiker bieten bis heute drei Erklärungsmöglichkeiten für den Aufstand der Niederlande gegen die spanische Regierung: 29 Entweder wurde der politi‐ sche Kampf für die Freiheit ins Zentrum gerückt, hier bestanden unmittelbare Anknüpfungsmöglichkeiten an Schillers Darstellung, oder sie hoben vor allem die Bedeutung des religiösen Konflikts hervor oder sie interpretierten den Auf‐ stand als einen sozialen Aufstand, wonach „das aufsteigende Bürgertum ein Feudalregime beseitigte“. 30 Demgegenüber betont die jüngere Geschichtsschrei‐ bung, dass beinahe alle gesellschaftlichen Gruppierungen in irgendeiner Form am Aufstand beteiligt waren, dass es sich bei den Niederlanden um das im früh‐ neuzeitlichen Europa wirtschaftlich am weitesten entwickelte Gebiet handelte, wodurch ein hoher Lebensstandard gesichert war und der Aufstieg einer „städ‐ 131 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 31 North: Geschichte der Niederlande, S. 33. 32 North: Geschichte der Niederlande, S. 35. tischen Mittelklasse“ 31 ermöglicht wurde. Der Aufstand wird daher als ein Kon‐ flikt gedeutet „zwischen den Amtsträgern des Fürstenstaates und den Amtsträ‐ gern aus eigener Machtvollkommenheit“ 32 , der freilich durch den religiösen Dissens erheblich verschärft und verbreitet wurde. Im Einleitungsteil seines Niederlande-Buchs ergreift Schiller offen Sympathie für die Aufständischen. Bereits die Revolutions- und Repressionssemantik bestätigt dies. Die Begriffe Freiheit, bedrängte Menschheit, edelste Rechte, gute Sache und „schöne[s] Denkmal bürgerlicher Stärke“ (FA 6, S. 41) werden den Begriffen Tyrannei, Fürs‐ tengewalt und Despoten gegenübergestellt. Es geht Schiller also um das Leit‐ thema Despotismus vs. Freiheit. Man dürfe aber keine Darstellung kolossali‐ scher Menschen erwarten, warnt Schiller, und greift damit - sicherlich nicht unbeabsichtigt - ein Wort auf, das unzweideutig zur Empörungsgeschichte eines Karl Moor aus den Räubern gehört. Schiller hatte dort in der Vorrede zu seinem Drama darauf hingewiesen, dass der ganze Mensch auch die dunklen Seiten umfasst und dass sich eben bei kolossalischer Größe auch diese lasterhafte Seite vergrößert. Der Autor Schiller bot also mit seinen Räubern ein Stück der Reflexion über diesen anthropologischen Sachverhalt. Im Stück selbst führt Schiller Karl Moors Herrschaftskritik aus. Die politische und gesellschaftliche Ordnung lehnt dieser ab, Gesetzlosigkeit ist für ihn unter den gegebenen ge‐ sellschaftlichen Verhältnissen Voraussetzung, um eine Verbesserung von Mensch und Gesellschaft einzuleiten. „Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. [...] Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden“ (vgl. I/ 2). Karl Moor verfolgt mit dieser Aussage ein klares politisches Ziel, nämlich das Modell einer republikanischen Gesellschaft, die sich auf individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit gründet. In dieser radikalen Form hat das bis dahin (1781) noch keiner in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts gesagt. Wenn Schiller nun also in der Einleitung zum Niederlande-Buch die Darstellung ko‐ lossalischer Menschen verneint, dann geht er mit dieser Bemerkung zugleich auf Distanz zu seinen bis zu diesem Zeitpunkt dokumentierten politischen An‐ sichten. Die Bedeutung des Aufstands sieht Schiller gerade darin, dass er eine „An‐ gelegenheit aller Menschen“ (FA 6, S. 52) ist. Der Protestantismus wird mit einer Republik verglichen, Parlamentarismus und Republikanismus werden dem auf‐ geklärten Absolutismus als Herrschaftsform gegenübergestellt. „Nichts ist na‐ türlicher als der Übergang bürgerlicher Freiheit in Gewissensfreiheit.“ (FA 6, S. 132 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 33 Siehe das Kapitel Don Karlos in diesem Buch. 79) Mit diesen Worten markiert Schiller den Beginn eines Freiheitsdiskurses, der unmittelbar an den Don Karlos anschließt und rückblickend diesem Schauspiel einen Deutungsschlüssel zur Verfügung stellt. Der Höhepunkt dieses Stücks liegt zweifelsohne in jenen zwei geradezu verwegenen Forderungen Marquis Posas an einen absolutistisch regierenden Monarchen, die er in den Versen 3206 bis 3216 (Fassung von 1805) ausspricht: „[…] Geben Sie Die unnatürliche Vergött’rung auf, Die uns vernichtet. Werden Sie uns Muster Des Ewigen und Wahren. […] […] Geben Sie Gedankenfreiheit. -“ Diese Gedankenfreiheit ist der wohl wichtigste Begriff im Don Karlos. Er ist keine Wortneubildung Schillers und hat höchst unterschiedliche Auslegungen gefunden. In der politischen Publizistik ist er seit 1776 präsent. 33 Im Hannove‐ rischen Magazin erschien in diesem Jahr der Aufsatz Von der Freyheit zu denken, in dem das Wort ‚Gedankenfreyheit‘ erstmals belegt ist. Leopold Fried‐ rich Günther von Goeckingk (1748-1828) hat diesen Artikel verfasst. Der Begriff der Gedankenfreiheit lässt sich demnach nicht auf das Verständnis von Rede‐ freiheit oder Pressefreiheit reduzieren. Schiller selbst bietet in seinen Briefen über Don Karlos den Hinweis, dass der Begriff nur politisch zu verstehen ist, da Posa mit seiner Nennung direkt die politische Situation in Flandern anspricht und die bezeichnet er als „alles […] zu einer Revolution zubereitet“ (FA 3, S. 437). Vor diesem Hintergrund bekommt nun das Wort Gewissensfreiheit im Nie‐ derlande-Buch eine neue Deutungsfunktion. Es wird im Text noch an zwei wei‐ teren Stellen gebraucht, einmal ist von einem „letzten Versuch für die Gewis‐ sensfreiheit“ (FA 6, S. 123) die Rede, das andere Mal wird der politische Dissens zwischen Katholiken und Protestanten damit erklärt. Während es jenen um die Aufhebung der Inquisition und die Milderung der Religionsedikte gegangen sei, zielten diese „auf eine uneingeschränkte Gewissensfreiheit“ (FA 6, S. 223). Damit intendiert der Begriff eine umfassende politische Semantik, die sowohl die Glaubensals auch die Rede-, Presse-, Versammlungs- und natürlich auch die Gedankenfreiheit umfasst und somit elementare Menschenrechte geltend macht. Von diesen Menschenrechten ist im Text übrigens auch des Öfteren ex‐ pressis verbis die Rede. 133 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 34 Zitiert nach Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit. Die wesentlichen Rezensi‐ onen aus der periodischen Literatur bis zu Schillers Tod, begleitet von Schillers und seiner Freunde Äußerungen zu deren Gehalt. In Einzeldarstellungen mit einem Vorwort und Anhang: Bibliographie der Schiller-Kritik bis zu Schillers Tod. [Hgg.] v. Oscar Fambach. Berlin 1957, S. 434. - Vgl. ausführlich Barbara Lange: Die Sprache von Schillers Wallenstein. Berlin 1973, S. 191ff. Die Einleitung zeigt schon deutlich den gehäuften Gebrauch von Sentenzen, was später auch Schillers klassische Dramen kennzeichnen sollte. Schiller hat im Konzept seines klassischen Schreibens die bewusste Destruktion der ästheti‐ schen Illusion gefordert, beispielsweise in der Maria Stuart und der Jungfrau von Orleans durch die freie Handhabung historischer Fakten oder durch die Einfüh‐ rung des Chors und durch die Überzeichnung des sprachlichen Pathos in der Braut von Messina oder durch die signifikant häufigen Sentenzen im Wilhelm Tell oder in der Wallenstein-Trilogie. Das erklärte Programm ist die Aufdeckung der Fiktionalität des Dargebotenen, nur so kann die emotionale und intellektu‐ elle Freiheit des Einzelnen bewahrt bleiben und als Voraussetzung für gesell‐ schaftliche Freiheit ausgebildet werden. Die Illusion, also das Künstliche der Kunst, muss erkennbar bleiben, das Dargebotene darf durch die Kunst nicht als Wirklichkeit vorgetäuscht werden. Allein die Sentenzenhaftigkeit, ja Senten‐ zenlastigkeit der Sprechtexte polarisierte die Rezeption und wurde schon von zeitgenössischen Rezensenten gerügt, mehr noch aber bewundert. So konnte etwa Böttiger in seiner Besprechung der Weimarer Piccolomini-Uraufführung vom 30. Januar 1799 nicht genug rühmen und er prägte damit maßgeblich die bildungsbürgerliche Rezeption des Sentenzen-Klassikers Schiller: „Einige Hun‐ dert Verse daraus müssen bald Denksprüche im Munde der Gebildeten unserer Nation werden“. 34 Viele dieser schillerschen Sentenzen sind im Laufe der Wir‐ kungsgeschichte der Texte in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen. Im Niederlande-Buch tauchen die ersten Sentenzen bereits in der Einleitung auf. Um ein Beispiel zu nennen: „der Mißbrauch angeborner Gewalt drückt we‐ niger schmerzhaft als der Mißbrauch empfangener“ (FA 6, S. 52), oder: „Der Mensch verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbei‐ tragen; ihm gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall“ (FA 6, S. 54). Die Sentenzen sind hier eher Aphorismen, da ihnen der Zwang zu Kürze und Prägnanz mangelt, den ein Versdrama notwendigerweise generiert, wie z.B.: „kleiner Ehrgeiz aber beugt sich unter das harte Joch des Zwanges weit lieber, als unter die sanfte Herrschaft eines überlegenen Geists“ (FA 6, S. 172), oder „[…] weil das Unglück fester bindet, als die leichtsinnige Freude“ (FA 6, S. 218). Die Sentenzen setzen sich bis zum Ende des Buches fort: „Das gutmütige und leicht bewegliche Geschöpf der Mensch ist nur allzusehr 134 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande geneigt, einen Fehler weniger für eine Tugend mehr anzuschreiben, und unter dem Druck eines gegenwärtigen Übels das Überstandene zu loben.“ (FA 6, S. 371) Die Sentenzen und Aphorismen sind also willentliches konzeptuelles Diskurs‐ mittel der Darstellung, deren Funktion in der allgemeinen menschlich-politi‐ schen Erklärung individueller historischer Ereignisse liegt. Körner erkannte dies als einer der wenigen gleich bei der Lektüre, auch wenn er dies nur kühl kom‐ mentierte: „Die eingestreuten und nicht gehäuften Bemerkungen sind größten‐ theils von wahrem Gehalt.“ (NA 33/ 1, S. 245) Der Stil des Niederlande-Buchs ist pathetisch: „Der Schmerz des Bürgers verweilte lange Zeit zwischen Tränen und stillen Seufzern, bis ihn die Künste und das Beispiel der Edeln hervorlockten.“ (FA 6, S. 149) Oder: „Das letzte kleine Gedränge feiler Augenknechte zerfloß um seine Person“ (FA 6, S. 165). Körner hat auch dies, behutsam wie stets, kritisiert: „Bloß in Ansehung des Stils ließe sich noch über einige Stellen sprechen. […] hier und da habe ich zu viel Schmuck gefunden.“ (NA 33/ 1, S. 172) Nach Vorrede und Einleitung kommt Schiller auf die Frühere Geschichte der Niederlande bis zum sechzehnten Jahrhundert zu sprechen. Dabei wird vor allem die ökonomische Basis der Republik betont, und die Kaufmannschaft als wich‐ tiges Glied und Mittel der politischen Willensbildung hervorgehoben (vgl. FA 6, S. 63). Schiller vereint auf der Grundlage seiner zahlreichen Quellenwerke in seiner Darstellung Aspekte der Wirtschaftsgeschichte, der Stadtgeschichte, der Statistik, der Kulturgeschichte und der Kunstgeschichte. Konkrete und präzise Geschichtsdaten werden selten genannt, in einer Marginalie erscheinen gele‐ gentlich Jahreszahlen. Der Autor schreibt eine Geschichte der Niederlande, ohne selbst des „Holländischen“ (FA 6, S. 39) mächtig zu sein. Diese Sprachbarriere umgeht er unter Rückgriff auf andere europäische Quellenwerke. Wie die Anfänge einer Mediengeschichte der Moderne liest sich, was er über die politische Funktion des neuen Druckmediums schreibt. „Im Jahr 1482 wurde die Buchdruckerkunst in Harlem erfunden, und das Schicksal wollte, daß diese nützliche Kunst ein Jahrhundert nachher, ihr Vaterland mit der Freiheit belohnen sollte.“ (FA 6, S. 73) Diese Textstelle spielt auf eine Anmerkung im zweiten Buch an, wo Schiller die „große Rolle“ von Buchdruckerkunst und „Publizität über‐ haupt bei dem niederländischen Aufruhr“ hervorhebt, „durch dieses Organ sprach ein einziger unruhiger Kopf zu Millionen“ (FA 6, S. 210). Danach folgen Kapitel über die Niederlande unter Karl V., Philipp II., Wilhelm von Oranien, über Graf Egmont, über die Generalstatthalterin der spanischen Niederlande Margaretha von Parma, über Kardinal Granvella und über Kardinal Mazarin. Damit wird deutlich, dass sich das Niederlande-Buch sehr rasch von seinen Vorsätzen löst und der Darstellungstechnik konventioneller Politikgeschichte folgt. Natürlich kann man diese ausführlichen, ja ausladenden Kapitel als Bei‐ 135 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 35 Vgl. Osterkamp: Friedrich Schiller als Historiker, S. 47. 36 Osterkamp: Friedrich Schiller als Historiker, S. 61. spiele für Schillers Porträtkunst interpretieren, gleichwohl sollte dabei aber nicht übersehen werden, dass sie sich herkömmlicher Verfahren in der Darstel‐ lung von Herrschaftsgeschichte bedienen. Ob sie wirklich ‚Meisterstücke his‐ torischer Seelenkunde‘ sind, 35 darf daher bezweifelt werden. Für diese Charak‐ terporträts gilt aber: „Sie verlieren im Verlauf der Erzählung ihr - gattungsmäßig, politisch-national, ethisch - Repräsentatives; zurück bleiben Individuen in der Widersprüchlichkeit ihres geschichtlichen Handelns, die nicht mehr auf Tugendmuster festgelegt werden können.“ 36 Doch erstrecken sich diese Porträts lediglich auf die politische Elite, die volksgeschichtlich und kulturge‐ schichtlich interessanten sogenannten kleinen Leute geraten dadurch aus dem Blick. Dies wird besonders an einem Beispiel deutlich: Der erste Konvertit, der eine öffentliche Predigt hält und so der Versammlung eine politische Willens‐ bildung vindiziert, wird von Schiller sogar mit Namen genannt. Es ist Hermann Stricker, geboren in Oberyssel, ehemals war er ein Mönch. Die weitere Porträt‐ kunst Schillers erschöpft sich in gerade einmal sechs Zeilen. Ansonsten erfahren wir nichts über diesen mutmaßlichen Agitator, auch nicht aus den Kommen‐ taren der großen Schiller-Ausgaben. Schiller schreibt: „ein verwegener Enthu‐ siast von fähigem Geiste, imposanter Figur und fertiger Zunge, ist der Erste, der das Volk zu einer Predigt unter freien Himmel herausführt. Die Neuheit des Unternehmens versammelt einen Anhang von 7000 Menschen um ihn her.“ (FA 6, S. 250) Stattdessen werden Waffengänge (drastisch etwa Herzog Albas Hee‐ reszug von Spanien in die Niederlande), Religionsgeschichte und die Entwick‐ lung des Geusenbunds geschildert. Die kulturgeschichtlichen oder gar volksge‐ schichtlichen Passagen, welche die Forschung immer wieder geltend macht, verlieren sich zunehmend. Schilderungen der Inquisition, der Verfassungsfrage, des Staatsrats schieben sich in den Vordergrund. Andererseits ergreift der Autor klar Partei, so etwa in einer Bemerkung zu Philipp II., wenn er von dessen „Ungerechtigkeit“ spricht und anfügt: „(mit diesem gelinden Namen wollen wir Philipps Verhalten gegen die Niederlande belegen)“ (FA 6, S. 206). Wie Schiller über den spanischen König dachte, geht besonders prägnant aus einer versteckten Bemerkung in seiner Erzählung Der Geisterseher (1787/ 1789) hervor: „Der Despot ist das unnützlichste Geschöpf in seinen Staaten, weil er durch Furcht und Sorge die tätigsten Kräfte bindet, und die schöpferische Freude erstickt. Sein ganzes Dasein ist eine fürchterliche Ne‐ gative; und wenn er gar an das edelste, heiligste Leben greift und die Freiheit des Denkens zerstöret - hunderttausend tätige Menschen ersetzen in einem 136 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande Jahrhunderte nicht, was ein Hildebrand, ein Philipp von Spanien in wenig Jahren verwüsteten.“ (FA 6, S. 679) Philipp II. (1527-1598) war der Sohn von Kaiser Karl V. und Isabella von Portugal, in zweiter Ehe war er mit Königin Maria von Schottland verheiratet. In dritter Ehe vermählte er sich 1559 mit der wesentlich jüngeren, ursprünglich dem spanischen Thronfolger versprochenen Isabel von Valois (1545-1568), Tochter des französischen Königs Heinrichs II. und Katha‐ rinas di Medici, eine Zweckheirat, welche die politische Koalition zwischen Spanien und Frankreich festigen sollte. Der spanische Thronfolger Don Karlos (1545-1568) stammte aus der ersten Ehe seines Vaters mit Maria von Portugal. Noch deutlicher wird dies, wenn man den Don Karlos gewissermaßen als Beispiel dieses Schreibverfahrens der Sympathie oder Parteinahme heranzieht. Schiller greift auch in diesem Stück auf Ereignisse der Realhistorie zurück und unverhohlen schwingt die Sympathie des Autors für die Niederländer mit, sie seien „ein unterdrücktes Heldenvolk“ (Don Karlos, V. 358), lässt er Marquis Posa sagen. Dieser versteht sich gleich in seinem ersten Auftritt als „Abgeordneter der ganzen Menschheit“ (Don Karlos, V. 157) und konfrontiert Don Karlos mit der politischen Realität. Die Niederlande erwarten von ihm Unterstützung bei ihrem Bemühen, sich von der spanischen Krone loszusagen. Karlos antwortet auf den Appell zur politischen Pflicht mit dem Hinweis auf seine privaten, fa‐ miliären Schwierigkeiten. Der Begriff Freiheit, der bis dahin seine politische Vernunft geleitet habe, sei nunmehr ein Traum (vgl. Don Karlos, V. 178ff.). Don Karlos ist weniger Repräsentant von politischer Herrschaft und gesellschaftli‐ cher Macht, als vielmehr Träger bürgerlicher emotionaler Bewusstseinsformen, die Beleg dafür sind, dass Schiller die klassische, soziologisch definierte Stän‐ deklausel endgültig aufgebrochen hat. Diese Dissoziation der Stände zugunsten einer Betonung der emotionalen und psychischen Qualitäten der Figuren hatte sich bereits in seinem frühen Drama Kabale und Liebe (1784) angekündigt. Karlos scheint zu begreifen, dass die Königin als mögliche Geliebte für ihn verloren ist, dass es Staatsräson und Familienkonstellation nicht mehr zulassen werden, dass sich Elisabeth und Karlos als Paar finden. Die Königin bestärkt Karlos in diesem Entschluss, sie verlangt, er möge sich „ermannen“ (Don Karlos, V. 764). Dieser geschlechterstereotype Appell ist an die Aufforderung gekoppelt, dem politisch unterdrückten Flandern zu helfen und dies als seine Aufgabe zu begreifen. Die Königin zeichnet Karlos also die Umleitung seines Begehrens auf das Feld politischer Macht vor. Die Allianz aus ‚Freundschaft der Mutter‘ und ‚Tränen der Niederlanden‘ beschwört jene Gelenkstelle des Stücks, an welcher die private Liebesthematik den Status öffentlichen Bewusstseins gewinnt (vgl. Don Karlos, V. 808f.). Am Ende bleibt Schillers etwas bitteres Resümee in einem Brief an Körner vom 7. Januar 1788: 137 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande „Für meinen Carlos - das Werk dreijähriger Anstrengung bin ich mit Unlust belohnt worden. Meine Niederländische Geschichte, das Werk von 5 höchstens von 6 Monaten, wird mich vielleicht zum angesehenen Manne machen. Du selbst, mein Lieber, sei aufrichtig und sage, ob Du es einem Manne, der Dir das was Du lernen must, durch Schönheit und Gefälligkeit reitzend machte, nicht mehr Dank wissen würdest, als einem anderen, der dir etwas noch so schönes auftischt, das Du entbehren kannst. Ich selbst, der ich jezt genöthigt bin seichte, trockne und geistlose Bücher zu lesen, was gäbe ich drum, wenn mir einer die Niederländische Geschichte nur so in die Hände lieferte, wie ich sie dem Publikum vielleicht liefern werde.“ (NA 25, S. 2f.) Zur Parteinahme gehört auch, dass Schiller die Strafaktionen der spanischen Statthalterschaft im Namen des Katholizismus rechtfertigt, er macht die Bilder‐ stürmerei verantwortlich für die politische Repression Margarethas von Parma (vgl. FA 6, S. 371) und er stellt den Geusenbund äußerst kritisch dar. Erst im Schlussteil seines Niederlande-Buchs resümiert er ihn als „lobenswürdige[n] Bund“ (FA 6, S. 339) und spricht von dessen „gründlichem Nutzen“: „Durch diesen Bund wurden die Individuen einander näher gebracht und aus einer zag‐ haften Selbstsucht herausgerissen: durch ihn wurde ein wohltätiger Gemein‐ geist unter dem niederländischen Volk wieder gangbar, der unter dem bisherigen Drucke der Monarchie beinahe gänzlich erloschen war, und zwischen den ge‐ trennten Gliedern der Nation eine Vereinigung eingeleitet, deren Schwürigkeit allein Despoten so keck macht.“ (FA 6, S. 340) Ob dieses schwankende Urteil nun eine darstellungsästhetische Schwäche ist oder Schillers Hang zum patheti‐ schen, inszenierenden und dramatisierenden Ton geschuldet ist, mag unent‐ schieden bleiben. Als Resultat jedenfalls widerspricht es den bis dahin aufge‐ laufenen Bewertungen des Geusenbundes in seinem Text und stellt dadurch die Funktion historiografischen Schreibens grundsätzlich in Frage. Das Problem gibt gewissermaßen jenes Wort an die Leser zurück, das der Autor in seiner Vorrede als Differenzkriterium zur wahrheitsorientierten Geschichtsschreibung selbst in den Diskurs eingeführt hat: „Roman“. Befremdlich ist zuletzt Schillers konservatives Frauenbild, wie es im Porträt Margarethas von Parma zum Ausdruck kommt und das mehr als sein Nieder‐ lande-Bild heute noch zu provozieren vermag. Wenige Zeilen vor dem Ende des Buchs schreibt er: „Was sie zu wenig war in ihrem ganzen übrigen Leben, war sie zuviel auf dem Throne - eine Frau.“ (FA 6, S. 372) Und ähnlich schon zuvor, der drohende Macht- und Reputationsverlust „war mehr, als eine Frauenseele zu verschmerzen im Stande ist“ (FA 6, S. 368). Hier vermisst man schmerzlich die analytische Schärfe und das psychologische Beurteilungsvermögen des Au‐ tors von Kabale und Liebe, von Maria Stuart, von der Jungfrau von Orleans. Aber zum Thema Schiller als Historiker gehört auch dies, die Widersprüche auszu‐ 138 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 37 Schulin: Schillers Interesse an Aufstandsgeschichte, S. 144. halten, die durch unterschiedliche Diskursanforderungen an den Autor bei der Lektüre generiert und keineswegs repräsentativ justiert werden. Schiller wollte mit seinem Niederlande-Buch ein „Werk für die Nachwelt“ und keine „Arbeit für Damen und die Modewelt“ (NA 26, S. 101) schreiben, wie er in einem Brief vom 8. Oktober 1791 an Crusius klarstellt. Während der Nieder‐ schrift des Buchs erschien übrigens auch Goethes Schauspiel Egmont, das Schiller sogleich im September 1788 rezensierte. Sein eigener Egmont-Aufsatz folgte in der Thalia 1789. Unter dem Kunsttitel Schriften zur niederländischen Geschichte fasst die Schiller-Nationalausgabe die Geschichte des Abfalls der ver‐ einigten Niederlande von der Spanischen Regierung, Des Grafen Lamoral von Eg‐ mont Leben und Tod sowie die Merkwürdige Belagerung von Antwerpen in den Jahren 1584 und 1585 zusammen (vgl. NA 17). Die Frankfurter Ausgabe bedient sich der Gattungsbezeichnung Historische Schriften und Erzählungen, wobei die entsprechenden Bände nicht die Prosaschriften Schillers, sondern die historio‐ grafischen Schriften enthalten. Der Erfolg von Schillers Niederlande-Buch beim zeitgenössischen Lesepublikum war immens und trug nachdrücklich dazu bei, seinen Ruf als Geschichts‐ schreiber zu begründen. Die einzige kritische Stimme hierzu ist wieder von Körner zu vernehmen, der Schiller warnt: „Das Interesse für die Niederländer wird geschwächt, weil Du Dir nicht erlaubst, das Thörigte und Niedrige in ihrem Betragen zu entschuldigen“ (NA 33/ 1, S. 244f.). Ob daher Ernst Schulin beizu‐ pflichten ist, der dem Buch gar einen „besonderen Platz in der Entwicklung der deutschsprachigen Historiographie“ zuspricht, da es eine spezifische Mischung aus Volks- und Staatsgeschichte sei, und es als „erstes großes Werk der erzäh‐ lenden politischen Geschichtsschreibung in Deutschland“ 37 apostrophiert, soll dahingestellt bleiben. Das Problem, das den Zeitgenossen intuitiv einsichtig war, den Schiller-Lesern des 19. und 20. Jahrhunderts als schlichtweg inexistent galt und das heutzutage wieder unter der Euphorie der Aufwertung letzter Erkennt‐ nisreste (etwa am Beispiel der beschriebenen Porträtkunst) verloren zu gehen droht, fasst Dieter Fulda so zusammen: „Historiographisch problematisch sind diese Metaphorisierungen und Personifikati‐ onen von Begriffen, die kein realgeschichtliches Äquivalent haben, weil sie die tat‐ sächlich handelnden Subjekte verdrängen. Wenn die kriegführenden oder anderweitig denkende und handelnde Menschen in rhetorisch hervorgehobenen Partien nicht ge‐ nannt werden, bleibt ihre Verantwortlichkeit an entscheidender Stelle im Verbor‐ genen: Hier zieht die rhetorische Personifikation auf der Ebene der Geschichtserzäh‐ 139 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 38 Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 243. 39 Vgl. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 261. lung eine Depersonalisation auf der Ebene der erzählten Geschichte nach sich. Das ästhetische Element von Schillers kunstvoller Wissenschaft hat sich dann verselb‐ ständigt, welche Tendenz auch noch hinsichtlich des ‚emplotments‘ und der Figuren‐ portraits zu beobachten sein wird.“ 38 Fuldas Forschungsergebnisse stellen die Innovationen Schillers im Licht einer modernen Historiografietheorie hervor. Er habe wesentlich zu einer Herausbil‐ dung der modernen Geschichtsschreibung beigetragen, da er 1.) den konstruk‐ tiven Charakter der Historiografie erkenne, da er 2.) ein literarisches Element gerade in der wissenschaftlich-akademischen Historiografie praktiziere, da er 3.) Einzelgeschichten in einen größeren geschichtsphilosophischen Zusammen‐ hang auf der Grundlage anthropologischer und politischer Begriffe stelle und da er 4.) die erzählten Geschichten streckenweise ‚verfable‘. 39 Man darf in diesem Zusammenhang aber auch an das selten zitierte, da sehr einsichtig und selbst‐ kritisch formulierte Bekenntnis Schillers erinnern, das er in einem Brief vom 10. Dezember 1788 an Caroline von Beulwitz festgehalten hat: „Ich werde immer eine schlechte Quelle für einen künftigen Geschichtsforscher seyn, […]. Die Ge‐ schichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegen‐ stände müssen sich gefallen laßen, was sie unter meinen Händen werden.“ (NA 25, S. 154) 140 6. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande 1 Vgl. dazu Reinhold Grimm: Festgemauert und noch nicht entbehrlich. Enzensberger als Erbe Schillers, in: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Auf‐ klärung. Ein Symposium. Hgg. v. Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, S. 310-328. 2 Zitiert nach Michael Fischer: Festgemauert. Rezeptionsgeschichtliche Beiträge zu Schil‐ lers Lied von der Glocke mit Anhang: Vertonungen von Schillers Glocke. Freiburg i.Br. 2008. Online-Publikation unter www.freidok.uni-freiburg.de/ volltexte/ 5521 (13. April 2018), S. 7. 7. Das Lied von der Glocke (1800) In der westpfälzischen Kleinstadt Kusel gibt es eine Gedenktafel, die an Friedrich Schiller erinnert. Sie findet sich an der Außenseite eines Hauses in der unteren Ziegelgasse und lautet: „In dieser Bürgerresidenz weilten am 5. Sept. 1788 weder J. Wolfgang v. Goethe noch Friedrich v. Schiller“. Und eine solche Gedenktafel ist bereits ein kulturelles Medium, das die öffentliche Aufmerksamkeit in der Rezeption eines Dichternamens steuert. Möglicherweise hätte auch der Kuseler Tenor Fritz Wunderlich die eine oder andere Liedvertonung von Schillers Glocke aufgeführt, obwohl das Gedicht 1966 in scheinbar kollektive Ungnade gefallen war, persona non grata nennen das die Diplomaten, eine unerwünschte Person, es war plötzlich zu einem Fremdkörper im Deutschunterricht an Schulen und Hochschulen geworden. Der Grund: Ideologieverdacht. Das Gedicht wurde als Legitimation bürgerlicher Ideologie des 19. Jahrhunderts gelesen. Hans Magnus Enzensberger verbannte es sogar aus seiner Schiller-Ausgabe und lebte so seine Strafphantasien gegenüber bürgerlichkeitsverdächtigen Texten aus. Die Bür‐ gerschreckinszenierung gelang ihm auch, denn Marcel Reich-Ranicki erwiderte scharfzüngig diese Provokation. Das ist alles lange her und man wundert sich heute nur noch, mit welcher Verve diese Behauptungskämpfe im kulturellen Betrieb ausgefochten wurden. 1 Es bleibt erstens die Erkenntnis, dass auch da‐ mals, wie so oft in der Kulturgeschichte, der Autor eines Textes für das verant‐ wortlich gemacht wird, was die Rezipienten aus ihm, eben diesem Text, gemacht haben. Und es bleibt zweitens die Frage: Wer von uns kennt das Gedicht? Wer kann es noch vollständig auswendig? Oder wer beherrscht das eine oder andere Zitatfragment daraus? Ich will diese Fragen als rhetorische Fragen unbeant‐ wortet lassen, obwohl es im 19. Jahrhundert ein Allgemeinplatz war, dass man „bey jedem gebildeten Deutschen voraussetzen“ könne, dass er „das Gedicht seinem Gedächtnis eingeprägt“ habe, 2 wie 1810 zu lesen war. Vielleicht reicht Schillers Faszination der Kunst des Glockengießens bis in seine Lateinschulzeit zurück, da hatte er einen Klassenkameraden, dessen Vater eine Glockengießerwerkstatt in Ludwigsburg besaß, übrigens in derselben Straße, in der auch die Familie Schiller wohnte (vgl. NA 2/ 2 B, S. 168f.). Den unmittelbaren Anstoß zu seinem Glocken-Gedicht mag Schiller anlässlich eines seiner Besuche der Glockengießerei in Rudolstadt 1788 erhalten haben. Aber erst am 7. Juli 1797 spricht er in einem Brief an Goethe explizit davon, „[…] bin ich jetzt an mein Glockengießerlied gegangen […]. Dieses Gedicht liegt mir sehr am Herzen, es wird mir aber mehrere Wochen kosten […]“ (NA 2/ 2 B, S. 162). Seine technischen Detailkenntnisse bezog Schiller aus der Oekonomisch-technologischen Encyklo‐ pädie von Krünitz. Die endgültige Niederschrift des Gedichts erfolgte erst im September 1799, es erschien schließlich im Musen-Almanach für das Jahr 1800. Ich will hier keine Musterinterpretation bieten, die es ohnehin nicht geben kann, da es bei Textdeutung stets nur um Plausibilitätsargumente geht. Vielmehr möchte ich einige Punkte ansprechen, die in den bisherigen Deutungen des Ge‐ dichts nie oder nur am Rande eine Rolle gespielt haben. Das Motto „Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango“ bedeutet „Die Le‐ benden rufe ich. Die Toten beklage ich. Die Blitze breche ich“ und gibt die In‐ schrift einer Glocke des Münsters in Schaffhausen wieder. Insgesamt umfasst das Gedicht 424 Verse, verteilt auf 36 Strophen alternierenden trochäischen und jambischen Versmaßes. Erst mit Vers 102 tritt ein signifikanter Wechsel im Versmaß ein hin zu minimalisierten Daktylen - das ist ein sichtbares und ge‐ gebenenfalls auch akustisches Zeichen, dass sich inhaltlich etwas ändert. Diese Änderung ist offensichtlich, Schiller ist beim Zentrum seines Gedichts ange‐ langt, beim wichtigsten Thema: „Die Leidenschaft flieht! / Die Liebe muß bleiben“ (NA 2/ 1, S. 230). Der Daktylus als Bewegungsversmaß hebt hier die Veränderungsdynamik hervor, die als Lebensgestaltung beschrieben wird. Und genau hier liegt ein entscheidender Problempunkt. Das Lied von der Glocke ist eine Beschreibung und kein Programmgedicht, es beschreibt Handwerkskunst, es beschreibt bäuerliches und bürgerliches Leben, es bilanziert die Habenseite. Wenn man sich auf diese Voraussetzung nicht einlässt, wird man in der Tat bei der Lektüre möglicherweise vor Lachen vom Stuhl fallen, wie es einer Zeitge‐ nossin Schillers ergangen ist. Die viel gescholtenen Verse mit den tradierten Geschlechterbildern kennen die Meisten von uns: „Der Mann muß hinaus / In’s feindliche Leben, Muß wirken und streben / Und pflanzen und schaffen / Erlisten, erraffen“ (V. 106ff.), „Und drinnen waltet / Die züchtige Hausfrau, / Die Mutter der Kinder, / Und herrschet weise / Im häuslichen Kreise“ (V. 116ff.). Das sind aber Beschreibungen von Bürgerlichkeit um 1800, es ist kein Erziehungsprogramm, weder ein familiales 142 7. Das Lied von der Glocke (1800) 3 Sophokles: Antigone. Übersetzt u. eingeleitet v. Karl Reinhardt. Mit griechischem Text. 5. Aufl. Göttingen 1971. noch ein kulturell indiziertes. Das ist den Kritikern von Schillers Glocken-Ge‐ dicht entgangen - und dabei hätte ein Blick in Schillers klassisches Drama Maria Stuart (1801) genügt, um das poetologische Verfahren zu begreifen; dort be‐ gegnen sich in einer Szene die beiden höchsten Repräsentantinnen des europä‐ ischen Hochadels im 16. Jahrhundert, die englische Königin Elisabeth und die schottische Königin Maria, ausgestattet aber mit allen habituellen Merkmalen von Bürgerlichkeit. Im Gedicht Das Lied von der Glocke insgesamt nur ein Handwerkerlied zu ver‐ muten, wie das vielfach geschieht, greift zu kurz, selbst wenn man den kunst‐ vollen Meistersangton eines Hans Sachs zugesteht. Man muss sich dem stellen, Schiller bedient sich einer Bildallegorese, am Beispiel der Handwerkskunst des Glockengusses stellt er die individuell menschliche und die gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte vor, er wendet sein Gedicht ins grundsätzlich Anthro‐ pologische. Bei Schiller hat Literatur ja stets die Funktion der anthropologischen Selbstreflexion und Selbstbestimmung. Die bürgerlichen Prosperitätsträume von Wohlstand und Sorglosigkeit, die im Text auch entwickelt werden, trafen im wilhelminischen Deutschen Reich nach 1871 bei der Leserschaft auf eine mentale Disposition, die einen hohen Wiedererkennungswert gewährleistete. Sicherlich ist auch dies ein Grund für die rasante Popularität des Gedichts im 19. Jahrhundert. Das Lied von der Glocke ist ein Appell, die Zeit stehen zu lassen, Geduld zu haben, so warten zu können, wie der Meister beim Glockenguss die einzelnen Etappen des Gießens abwarten muss. Und dieses Warten dient der generellen Besinnung auf die eigene Bestimmung und auf den Ort des Einzelnen in der Gesellschaft. Bezeichnend ist, Schiller bleibt lange im bäuerlich-kleinhandwerk‐ lichen Topos stehen, erst am Ende erscheint Urbanität als drohender Moloch, der auch politische Veränderungen negativer Provenienz mit sich bringt - hier die Schrecken des Terreur der Französischen Revolution: „Jedoch der schreck‐ lichste der Schrecken / Das ist der Mensch in seinem Wahn“ (V. 375f.). Schiller greift damit auf eine der zentralen Aussagen der sophokleischen Antigone zu‐ rück, wo es in der Übersetzung nach Karl Reinhardt heißt: „Viel des Unheimli‐ chen ist, doch nichts / ist unheimlicher als der Mensch“ (V. 332f.). 3 Die Textstelle thematisiert die Unbegreifbarkeit des Menschen durch sich selbst. Das griechi‐ sche Wort deinós gestattet jedoch außer unheimlich auch die Wiedergabe mit furchtbar und gewaltig, so wird der Mensch als das sich selbst überhebende Wesen, als eben furchtbar, gewaltig, unheimlich, von sich und durch sich nicht 143 7. Das Lied von der Glocke (1800) 4 Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. (= Das Seminar Buch VII). Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt v. Norbert Hass. Weinheim, Berlin 1996, S. 329. 5 Vgl. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994. zu begreifen, charakterisiert. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan übersetzt diese Verse sogar mit den Worten: „Es gibt eine Menge schrecklicher Dinge auf der Welt, es gibt aber nichts Schrecklicheres als den Menschen“. 4 Diese grundsätzliche anthropologische Aussage in Schillers Gedicht bringt sich gegenüber einer Kulturfigur in Stellung, auf die der Text beziehungsreich anspielt. In der griechischen Mythologie ist Prometheus jene Götterfigur, die den Menschen das Feuer bringt, daraus entwickeln sie Kulturtechniken, die von den unterschiedlichen Gewerken reichen bis hin zu Schreiben, Lesen und Rechnen. Prometheus ist also ein Kultivierungssymbol, das zugleich die tiefe Zerrissenheit kulturellen Fortschritts durch Menschenhand mythopoetisch do‐ kumentiert, denn nur durch einen Frevel vermag Kultur in Gang zu kommen. Die Nähe zum jüdisch-christlichen Bild des Sündenfalls ist sicherlich kein Zufall. Schiller warnt in seinem Gedicht vor den Heilsversprechungen der „Ewig‐ blinden“ (V. 377), dem stellt er das Modell einer ‚Heiligen Ordnung‘ (vgl. V. 299) gegenüber, die sich als natürliche Ordnung, als gesellschaftliches und als fami‐ liales Regelsystem legitimiert und durch Freiheit und Freude kultiviert. Schillers Lied von der Glocke kann insofern als ein moderner Anti-Prometheus gelesen werden. Seine Glocke ruft nicht mehr zum Gottesdienst, sondern sie soll erin‐ nern an die heilige Ordnung von Freude und Friede, ohne die weder individuelle Glückseligkeit noch konfliktfreies gesellschaftliches Zusammenleben möglich sind (vgl. V. 423f.). Das Lied von der Glocke ist ein Produkt der Literatur der Weimarer Klassik und Weimarer Klassik wurde als ein Rezeptionsphänomen 5 bezeichnet, das ist natürlich richtig, trifft aber nur eine Seite des Sachverhalts. Denn werkästhe‐ tisch gesehen muss der Text - in unserem Fall Schillers Gedicht von der Glocke - auch etwas enthalten, was auf eine entsprechende Aufnahmebereitschaft bei den Lesern trifft - oder eben nicht trifft. Betrachten wir die kontextuelle Vorgeschichte. Das Gedicht Die Götter Grie‐ chenlandes (1788) ist ein wichtiges lyrisches Zeugnis für Schillers klassische Wende. Er wolle in den nächsten zwei Jahren keine modernen Schriftsteller mehr lesen, sondern sich ganz in die Literatur und Kultur der griechischen An‐ tike versenken, erklärt er Körner im August 1788. Er verspreche sich davon die Reinigung seines Geschmacks, um durch die Lektüre der griechischen Klassiker für seine eigene Poesie „vielleicht Classicität“ (NA 25, S. 97) zu gewinnen. In der Bürger-Kritik wird Schiller wenige Jahre später, nämlich 1791, für die Poesie die „höchste Krone der Klassizität“ (NA 22, S. 259) fordern, in den Göttern Grie‐ 144 7. Das Lied von der Glocke (1800) chenlandes schickt er sich bereits an, sich selbst zu krönen. Die Paten dieser klassischen Wende sind Wieland, der sich zu dieser Zeit mit der Übersetzung der Werke Lukians beschäftigte, und Moritz, dessen Büchlein Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) Schiller im Dezember 1788 las, sowie Herders dritter Teil seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1787). Am 9. März 1789 verteidigt Schiller Die Künstler nochmals, ebenfalls gegen‐ über Körner: „Es ist ein Gedicht und keine Philosophie in Versen“ (NA 25, S. 220), schreibt er. Damit war ein Problem markiert, das bis heute die Lektüre des Ge‐ dichts nachhaltig erschwert: Es ist ein Programmgedicht, das Schillers Kunst‐ theorie formelhaft vorträgt und damit ein deutliches Beispiel für die schillersche, oft so benannte Gedankenlyrik darstellt, und zugleich die Freiheit der Kunst gegenüber der Philosophie reklamiert. Die Maßgabe an die Künstler, über den Zeitläuften zu stehen, rundet dieses poetologische Idealisierungsprogramm ab, das die Normativität seiner Aussagen aus einer kulturgeschichtlichen Beschrei‐ bung bezieht. Die theoretischen Vorarbeiten, die Entwürfe in Argumentations‐ figuren und Denkmodellen hat Schiller in seinem essayistischen Werk, vor‐ nehmlich in den philosophisch-theoretischen Texten geleistet. Es gibt wohl in der deutschen Geistesgeschichte kaum einen Autor oder Denker, der in solch radikaler Form die Vergeblichkeit seiner Bemühungen, die Aussichtslosigkeit seines Tuns begriffen und benannt hat, kurz, kaum einen, der zu solch konse‐ quenter Selbstkorrektur fähig war, wie Friedrich Schiller. Nach den sechs Jahren seiner intensiven philosophischen und ästhetischen Arbeiten zwischen 1790 und 1796 kommt er am 17. Dezember 1795 in einem Brief an Goethe zu dem Schluss, es sei „hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe“ (NA 28, S. 132). Später wird Schiller noch deutlicher, dann spricht er davon, dass, „von der Transcendentalen Philosophie zu dem wirklichen Factum“, nämlich dem Kunstwerk, „noch eine Brücke“ fehle, mit „allgemeinen hohlen Formeln“ (NA 31, S. 88) sei wenig gewonnen. Von dem ursprünglich formu‐ lierten Anspruch, einen objektiven Begriff des Schönen zu konstituieren, führt kein Weg zu den subjektiven Schönheitsvorstellungen poetischer Praxis. Dies ist der Hintergrund, vor dem im Allgemeinen Das Lied von der Glocke gelesen, vermeintlich wertneutral gelesen wird. Schon früh wehrt sich Schiller gegen die Funktionalisierungsversuche in der Rezeption seines Gedichts und zieht dabei einen erstaunlichen Vergleich. In einem Brief an seinen Freund Körner unter dem Datum des 21. Januar 1802 hält er fest: „Wenn man die Kunst so wie die Philosophie als etwas das immer wird und nie ist, also nur dynamisch und nicht wie sie es jezt nennen atomistisch betrachtet, so kann man gegen jedes Product gerecht seyn ohne dadurch eingeschränkt zu werden. Es ist aber im Character der Deutschen, daß ihnen alles gleich fest wird, und daß sie die 145 7. Das Lied von der Glocke (1800) 6 Deutsches Wörterbuch I/ 5, Bd. 4, Sp. 145. unendliche Kunst so wie sie es bei der Reformation mit der Theologie gemacht, gleich in ein Symbolum hinein bannen müssen. Deßwegen gereichen ihnen selbst trefliche Werke zum Verderben, weil sie gleich für heilig und ewig erklärt werden, und der strebende Künstler immer darauf zurückgewiesen wird. An dieße Werke nicht religiöß glauben heißt Ketzerei, da doch die Kunst über allen Werken ist. Es giebt freilich in der Kunst ein Maximum, aber nicht in der modernen, die nur in einem ewigen Fort‐ schritt ihr Heil finden kann.“ (NA 31, S. 90) Was Schiller hier als Mechanismus der Rezeptionsgeschichte beschreibt, genau das passierte mit seinem Gedicht. Das Wissen um dessen Autor, die Heiligspre‐ chung unmittelbar nach seinem Tod (das beginnt ja schon mit der medial-öf‐ fentlichen Vereinnahmung für die deutsche Bildungsnation durch die Nachrufe, etwa im Intelligenzblatt der Allgemeinen LitteraturZeitung vom 19. Juni 1805) in Kombination mit populären Formen der medialen Verbreitung (wie Liedern, Nachdichtungen, Parodien, Kompositionen, Bildtafeln, Inszenierungen etc.), all dies trug zu einer Überfokussierung auf dieses Gedicht bei. Hinzu kam etwas entscheidend Inhaltliches. Schiller beschreibt eine kleinbürgerliche Ideologie, gewiss. Diese Beschreibungsebene des Gedichts hält die handwerkliche Seite des Gedichts fest (Glockenguss). Doch hat die Rezeptionsgeschichte daraus ein gesamtgesellschaftliches Manifest von Bürgerlichkeit abgeleitet, obwohl der Text selbst sich ins Grundsätzlich-Anthropologische wendet. Ich behaupte, Glocken sind heute genauso allgegenwärtig, wie es der Autorname Schiller im 19. Jahrhundert war. Fragen wir uns nach dem Ort der Glocken in unserem Leben, dann gibt uns das grimmsche Wörterbuch reichen Aufschluss über Herkunft, Form und die verschiedensten sprachlichen Verwendungsmög‐ lichkeiten des Begriffs Glocke. Da ist die Rede von der Tischglocke, Gemeinde‐ glocke, Feuerglocke, Sturmglocke, Schandglocke, der Wetterglocke und der Ratsglocke. In vielen Familien gibt es bis heute die Weihnachtsglocke, eine kleine Tischglocke, die nur am Heiligen Abend geschellt wird. Und nicht zu vergessen (bei Grimm taucht sie noch nicht auf): die sogenannte Bärenglocke, ein unverzichtbares akustisches Signal bei der Sucharbeit mit Rettungshunden. In Grimms Deutschem Wörterbuch findet sich folgende Bemerkung mit diesem Luther-Zitat: „die reformation ist den glocken und schellen im gottesdienst abhold: [Luther] wie der gottisdienst ist, so sind auch die glocken oder reyt‐ zungen. Dem rechten gottisdienst hatt gott andere und rechte glocken geben, das sind die prediger“. 6 Weg also mit den Altarglocken, Tischglocken und Sak‐ risteiglocken, nicht aber mit den Kirchenglocken! Den Klang der Glocken ver‐ 146 7. Das Lied von der Glocke (1800) 7 Deutsches Wörterbuch I/ 5, Bd. 4, Sp. 148. 8 Vgl. Deutsches Wörterbuch I/ 5, Bd. 4, Sp. 168. 9 Deutsches Wörterbuch I/ 5, Bd. 4, Sp. 152. sucht die deutsche Sprache lautmalerisch in zahlreichen Varianten wiederzu‐ geben. Die Glocken „bämbsen, bammen, bampen, baunen, bimbeln, bimelen, bimmeln, bimpen, bomben, bömbeln, bommen, bompen, bomsen, bumben, den‐ geln, gämben, gleimpen, klämern, klänken, kläppen, klempen, klimmen, klimpen, pingeln, pinken, timpen, tonken, trompen, zimbeln, zinken“. 7 Und so geht es weiter, die Adjektive reichen von glockenweit, glockenrund über glo‐ ckenähnlich bis zu glockenartig. Adjektive, welche den Klang einer Glocke be‐ zeichnen, begegnen erst ab dem 19. Jahrhundert, wie etwa glockendumpf, glo‐ ckenhell oder glockenklar und glockenrein. 8 Es gibt die Glocke als Blütenkelch, also als botanischen Fachterminus, das Schnee- und das Maiglöckchen tragen ihn bis heute stolz im Namen. Wir alle haben schon einmal irgend ‚etwas läuten hören‘; wer aber wollte unter einer Käseglocke wohnen, schlimmer noch, unter einer Dunstglocke? Auch zum Politik- und Regierungssystem vermag die Glocke in der deutschen Literatur etwas beizutragen, und zwar findet sich im Florilegium politicum [Politischer Blumengarten, Sprichwörtersammlung] von 1662, verpackt in die Metapher von den Regierenden als Glocke, die Erkenntnis, die Mächtigen glichen Glocken: „die glocken haben kein hirn, stehen doch zu öberst und regieren weise leut“. 9 Doch zurück ins 20. Jahrhundert. Nicht wenigen wird das ‚rock around the clock‘ nicht ganz unbekannt sein. 1954 landete Bill Haley damit einen großen Erfolg, bis heute wurden über 42 Cover-Versionen eingespielt. Der Song wurde schätzungsweise 10.000-mal gecovert und 200 Millionen Mal verkauft. Diese phonetische clock ist also bekannt geworden. Und mit Kindern das Lied Bruder Jakob zu singen, der immer noch schläft und nicht die Glocken hört, vielleicht sogar als Kanon zu intonieren, das hält ein Restbewusstsein der kulturellen Be‐ deutung der Glocke für unsere Kinder wach, die oft nur noch die Glocke als visuelles Klingelemblem an ihrem Handy identifizieren können. Als literarisches Motiv taucht die Glocke natürlich auch entsprechend häufig auf, es gibt etliche Glockengedichte lange schon vor Schillers Lied von der Glocke, wenngleich auch die wenigsten einen solch kritischen Zusammenhang zwischen dem Glockensymbol und einem Christenmenschen herstellen wie dieses Gedicht von Christian Wilhelm Haken, das den Titel trägt Innschrift auf eine Glocke und in den Neuen Mannigfaltigkeiten erschienen ist: „Dieß ist das drittemal, da ich wieder in neuer Gestalt erscheine; 147 7. Das Lied von der Glocke (1800) 10 Neue Mannigfaltigkeiten, 2. Jg. (1775), S. 288. Bei der Textwiedergabe wurde die mittige Zentrierung des Originaltextes nicht berücksichtigt. 11 Vgl. die vollständige Liste dieser Titulierungen mit den entsprechenden Belegen in: Schiller - Zeitgenosse aller Epochen, Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Teil 1: 1782-1859. Hgg., eingeleitet u. kommentiert v. Norbert Oellers. Frankfurt a.M. 1970, S. 607f. doch bleibe ich stets, was ich war: Ein tönend Erz. Ich wecke zum Gebeth, und bethe selber nicht. Ich diene zum Lobe Gottes, und weis nichts von seinen Wohlthaten. Ich rufe zum Gehör göttlichen Wortes und bleibe selbst zurück. Bin ich denn ein Räthsel? Nein! Ich bin das, was viele unter den Christen sind, ein tönend Erz und eine klingende Schelle.“ 10 Der Minnesänger Oswald von Wolkenstein (um 1376-1445) bedichtete zu Beginn des 15. Jahrhunderts bereits den Glockenklang, und in der Emblematik der Frühen Neuzeit und des Barock hatte die Glocke ihren festen Platz als mahnende Erinnerung zum Gottesdienst. Doch das wirkungsmächtigste Glockengedicht bleibt Schillers Lied von der Glocke. Woran liegt das? Schiller wurde (wie Goethe auch) in einem Prozess zunehmender Idolisierung zu einem medialen Kulturgut, das in der Oberschichtenrezeption ebenso reprä‐ sentiert war wie in seinem kulturindustriellen Abklatsch. Politik, Pädagogik und Theologie entdeckten ihn als Projektionsfigur hegemonialer und ideologischer Übertragungsmöglichkeiten. In die vulgärtheologische Rezeptionslinie passt es, dass er als Apostel des ewigen Geistes benannt wurde, als Prediger und Prophet, als Fürst der Geister, Heros, Herrscher im Reiche des Geistes, als deutscher Shakespeare, Fürsprecher der Nation oder als Lieblingsdichter und National‐ dichter bezeichnet wurde 11 - welch eine Hypothek! Schaut man sich in der wissenschaftlichen Literatur zu Schillers Gedicht Das Lied von der Glocke um, so trifft man auf ein eigenartiges Unverständnis. Die meisten Vertreter der Zunft haben Berührungsängste vor diesem Text, mindes‐ 148 7. Das Lied von der Glocke (1800) 12 Klaus L. Berghahn: Der Deutschen liebstes Lied, in: Interpretationen. Gedichte von Friedrich Schiller. Hgg. v. Norbert Oellers. Stuttgart 1996, S. 268-281, hier S. 276. 13 Berghahn: Der Deutschen liebstes Lied, S. 276. 14 Zitiert nach Berghahn: Der Deutschen liebstes Lied, S. 280. - Berghahn nimmt dieses Benno-von-Wiese-Zitat für sich in Anspruch. 15 Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat. Vom Nachklang und Widerhall des meistparodierten deutschen Gedichts. München, Wien 2005, S. 151. 16 Vgl. Berghahn: Der Deutschen liebstes Lied, S. 270. tens seit Enzensbergers Ausschluss des Gedichts aus seiner Schiller-Ausgabe gibt es eine regelrechte Glockenphobie. Und dabei sind die Zeiten noch gar nicht so lange her, da gehörte der Gesamttext des Gedichts zum obligatorischen Le‐ sepensum des Deutschunterrichts aller Schulen, da wurden etliche zitierfähige geflügelte Worte durch die Aufnahme in Büchmanns Citatenschatz des deutschen Volkes geadelt, auch die sinnentleerte Wiederholung in Alltagskommunikation konnte daran nichts ändern. Ein bedeutender Schiller-Forscher der 1970er und -80er Jahre meinte: „Er‐ staunlich ist nur, daß der sonst so stilbewußte Schiller ein gelungenes Gedicht […] verschlimmbesserte.“ 12 Er spricht von unfreiwilliger Komik, die das Gedicht zeitige, und nimmt „das idealisierte Frauenbild“ 13 ernst - welch grandiose Ver‐ wechslung zwischen Autor und Erzähler! Gehen wir weiter in der Deutungs‐ geschichte des Gedichts zurück, die ja immer auch eine Geschichte der Ho‐ heitsrechte in der Auslegungspraxis bedeutet - und an diesem Punkt berühren sich möglicherweise wieder Theologie und Literaturwissenschaft -, der Zürcher Germanist und Verfechter der Werkimmanenz Emil Staiger meinte 1959, der Tonfall des Gedichts sei ‚unerquicklich‘, sein deutscher Kollege Benno von Wiese pflichtete ihm bei und hält die Glocke ebenfalls für ‚unfreiwillig ko‐ misch‘. 14 Enzensberger, in enger Allianz mit den so heftig kritisierten Vertretern der bürgerlichen Germanistik, sprach gar vom „Versagen des Autors“. 15 Die ein‐ zelnen Strophen seien weder liedhaft noch sangbar. 16 Davon aber ließen sich Komponisten nicht beirren, im Gegenteil, die zahlreichen Vertonungen, die be‐ kannt sind, zeugen davon, dass der Gedichttext zur Komposition verführt - oder war es der Autorname, wäre demnach eines jener rezeptionssteuernden Phä‐ nomene bestätigt, welche die französischen Philosophen Roland Barthes und Michel Foucault als Elemente einer Autorfunktion beschrieben haben? Und was meinte der Autor selbst zur Frage der Sangbarkeit? Im Dezember 1804 wurde erstmals versucht, die Glocke öffentlich zu rezitieren. Die Schauspielerin Frie‐ derike Wilhelmine Hartwig las den Text, die Kritik war vernichtend: „Schillers Glocke kann wenigstens kein weibliches Organ allein begnügen“ (NA 40/ 2, S. 420), ein Wechsel zwischen weiblicher und männlicher Stimmlage sei unver‐ 149 7. Das Lied von der Glocke (1800) 17 Vgl. dazu Georg Günther: Schiller-Vertonungen. Bd. 2: Verzeichnis der musikalischen Werke. Marbach a.N. 2001. zichtbar. Bei einer weiteren Aufführung war Schillers Freund Körner selbst zu‐ gegen, der berichtete brieflich: „Ich habe Dir noch von der Art Nachricht zu geben, wie der Baron Racknitz neulich hier eine Aufführung Deines Gedichts, die Glocke, veranstaltet hat. Zwischen der Declamation war Instrumental Musik - ein Choral (nicht gesungen) und einzelne Stücke aus Opern und andern größern Werken von verschiednen Meistern, auch ei‐ nige von einem hiesigen Cammer Musikus besonders dazu componirt. Nur ein Paar Stellen wurden im Chor gesungen: [Der Schauspieler] Opitz sprach den Meister und die Hartwig das Uebrige. Beyde haben keine Idee, wie eigentlich die Glocke gespro‐ chen werden muß. Die Hartwig kam fast nie aus ihrem weinerlichen Ton. Die Musik war ein buntes Gemengsel das kein Ganzes bildete, war nicht allemal passend, und unterbrach oft zur Unzeit die Rede. Indessen halte ich es nicht für unmöglich die Glocke auf eine solche Art kunstmäßig zu behandeln. Nur muß das Ganze von einem Manne absichtlich dazu componirt werden. Wahrscheinlich wird Böttiger nächstens über diese Aufführung im Freymüthigen oder sonst irgendwo in die Posaune stoßen.“ (NA 40/ 1, S. 291f.) Schiller wiederum schreibt Körner kurz vor seinem Tod am 9. Mai 1805, er sei der Meinung, „daß sich die Glocke recht gut zu einer musikalischen Darstellung qualifizierte, aber dann müßte man auch wißen, was man will und nicht ins Gelag hinein schmieren. Dem Meister Glockengißer muß ein kräftiger bidrer Charakter gegeben werden, der das ganze trägt und zusammenhält. Die Musik darf nie Worte mahlen und sich mit kleinlichen Spielereien abgeben sondern muß nur dem Geist der Poesie im Ganzen folgen. Ich danke Gott, daß ich diese Musik (von der ich hier ein Morceau gehört habe) und diese Darstellung durch Opitz und die Hartwig nicht habe mit anhören müssen.“ (NA 32, S. 199) Das Lied von der Glocke jedenfalls wurde - entgegen der gelehrten Meinung - vielfach vertont. Um nur einige zu nennen, durch Johann G. Adam, Albrecht Brede, Max Bruch, Peter Cornelius, Karl Haslinger, Eduard Rohde und Carl Stöhr. 17 Bis zum Jahr 1929 sind insgesamt 41 Vertonungen bzw. Drucke von Ver‐ tonungen bekannt. Das bedeutet, dass rein rechnerisch zwischen dem Erster‐ scheinen des Gedichts 1799 und 1929 etwa alle drei Jahre eine neue Komposition veröffentlicht wurde. Auch Andreas Romberg (1767-1821) gehört zu den Kom‐ ponisten, sein Textbuch wurde ins Englische, Norwegische und Schwedische, ja 150 7. Das Lied von der Glocke (1800) 18 Vgl. die Arbeit von Michael Fischer: Festgemauert, S. 5f. 19 Vgl. den Brief an Zelter vom 9. Juni 1805. 20 Das Gedicht kann in jeder Goethe-Ausgabe nachgelesen werden, ich beziehe mich auf folgende Textfassung: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 6.1: Weimarer Klassik. 1798-1806. Hgg. v. Victor Lange. München, Wien 1986, S. 90-92. sogar ins Lateinische übertragen, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gab es allein von dieser Komposition insgesamt 13 verschiedene internationale Drucke. Und im 21. Jahrhundert wird eine Rockoper über das Lied von der Glocke in Marbach a.N. uraufgeführt - auch dies ist eine Form der medialen Adaption. Dabei enthält Schillers Gedicht nicht nur für szenische Kompositionen ein Inszenierungspotenzial. Auch theatralische Inszenierungen wurden im 19. Jahr‐ hundert angeboten. Hier ist an erster Stelle Franz Hurka zu nennen. Die früheste Vertonung stammt übrigens auch von Hurka aus dem Jahr 1801, die bis 1805, also dem Jahr von Schillers Tod, immerhin drei Drucke erfuhr. 18 Seine Kompo‐ sition für Singstimme mit Klavierbegleitung wurde in Berlin, Braunschweig und Hamburg gedruckt, sicherlich ein Zeichen für eine entsprechende Nachfrage. Die bekannteste Mischform einer theatralisch-musikalischen Inszenierung ver‐ antwortet Goethe. Goethe schrieb unmittelbar, nachdem Schiller, der ihm im‐ merhin nach seinen eigenen Worten die ‚Hälfte seines Daseins‘ ausgemacht hatte, 19 gestorben war, das Gedicht Epilog zum Lied von der Glocke. Die Verse wurden am 10. August 1805 am Ende einer Gedächtnisfeier zu Ehren Schillers vorgetragen. Sämtliche Weimarer Hofschauspieler waren aufgeboten. Die Ku‐ lisse stellte die Werkstatt eines Glockengießers dar, verschiedene Figuren aus Schillers dramatischem Werk traten auf. Mutmaßlich stammt die dazugehörige Musik aus der Feder Carl Friedrich Zelters (1758-1832). Die Inszenierung wurde bis 1815 noch mehrfach an Schillers Todestag wiederholt. Mit Goethes Epilog beginnt der Prozess der Idolisierung Schillers. Goethe re‐ klamiert im Gedicht die Rolle eines Testamentsvollstreckers, der gleichsam den „heil’gen, letzten Willen“ 20 Schillers erfülle. In seinem Gedicht wird der Schlüs‐ selsatz über Schiller „Denn er war unser“ dreimal an exponierten Textstellen gesprochen, Schiller wird dadurch zum kollektiven Gegenstand erklärt. 1827 folgte eine weitere Bühneninszenierung mit der Musik von Joseph Esch‐ born, selbst im Wiener Burgtheater fand 1854 eine szenische Aufführung statt mit den Bildern Erste Begegnung, Hochzeit, Häusliches Glück, Feuersbrunst, Begräbnis, Erntefest und Kirchgang. Die Musik komponierte Peter Joseph von Lindpaintner. Die Aufführungen wurden bis 1882 insgesamt 63-mal wiederholt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts griffen zwei nachfolgende Inszenierungen auf Lindpaintners Musik nochmals zurück. Alles in allem war das also ein absolut 151 7. Das Lied von der Glocke (1800) 21 Eine ausführliche musikologische Analyse von Rombergs Glocken-Vertonung findet sich bei Kurt Stephenson: Andreas Romberg. Ein Beitrag zur hamburgischen Musikge‐ schichte. Hamburg 1938, bes. S. 172. 22 Daniela Philippi: Andreas Rombergs Vertonung Das Lied von der Glocke. Überlegungen zur Beliebtheit des Werkes im 19. Jahrhundert, in: Festschrift Christoph-Hellmut Mah‐ ling zum 65. Geburtstag. Hgg. v. Axel Beer, Kristina Pfarr, Wolfgang Ruf. 2 Bde. Tutzing 1997, Bd. 2, S. 1077-1093, hier S. 1091. erfolgreiches Unternehmen. Mir ist allerdings nicht bekannt, dass nach der Sä‐ kularfeier 1905 Lindpaintners Komposition jemals wieder erklang. Natürlich haben die Gründe hierfür auch etwas mit dem sich wandelnden Musikge‐ schmack zu tun - zudem kamen Kompositionen anderer Komponisten hinzu -, in erster Linie dürfte es aber mit dem Wandel in der medialen Aufbereitung des Themas zu erklären sein. Die beliebteste Vertonung des 19. Jahrhunderts stammt indes von Andreas Romberg. 21 Der Zeitgenosse Beethovens war als Violinist, Komponist und Diri‐ gent anerkannt, dem Namen Romberg begegnet heutzutage aber allenfalls noch, wer Cello spielt, die anspruchsvolle Romberg-Suite, eine Cello-Sonate in E-Dur, stammt von seinem Cousin Bernhard Romberg. Rombergs Vertonung von Schil‐ lers Glocken-Gedicht op. 25, die heutzutage selten zu hören ist, wurde 1808 komponiert, erschien 1809 als Partiturdruck und wurde sehr oft aufgeführt. In Luzern, London, Bergen und Stockholm gab es früh schon Nachdrucke. Rom‐ bergs Komposition ist für Solostimmen, Chor und Orchester geschrieben. Ein‐ zelne Verse und Strophen der Textvorlage werden dabei auf die Solostimmen und den Chor verteilt. Dies ermöglicht eine Art Figurenrede, wie wir sie etwa von Dramen kennen, und bewirkt genau dies: eine Dramatisierung des Ge‐ dichttextes. Die zeitgenössischen Hörer sprach dies sehr an, dieser rezeptive Erfolg wird in jüngeren musikwissenschaftlichen Studien mit der „Rückge‐ wandtheit“ 22 seiner Komposition erklärt, die sich an den musikalischen Mitteln und Ausdrucksmöglichkeiten der Empfindsamkeit etwa eines Carl Philipp Ema‐ nuel Bach (1714-1788) orientiere sowie den Einfluss der Zweiten Berliner Lie‐ derschule belege. Bei den Kritikern kam Rombergs Musik weniger gut an (und es ist nicht das erste Mal, dass der Geschmack von Publikum und Kritik weit auseinanderliegt). Ein zeitgenössischer Musikkritiker etwa schreibt 1810: „Seine immer gute fliessenden Harmonien, die abwechselnde Begleitung der Instru‐ mente, die leichten, fasslichen Melodien, die durch den Dichter herbeygeführte Mannigfaltigkeit der Gegenstände, werde ihre Wirkung auf die Zuhörer nicht verfehlen“, um wenig später ein klassisches Totschlagargument anzuführen: „Es dringt sich nämlich gleich Anfangs die Frage auf, ob wol dergleichen grössere, vornämlich mit allem Prunk der Sprache, mit - eher zu viel erhöhter Einbil‐ 152 7. Das Lied von der Glocke (1800) 23 Zitiert nach Philippi: Andreas Rombergs Vertonung Das Lied von der Glocke, S. 1079. - Immerhin diente Rombergs Komposition wiederum als Vorlage für eine bis heute un‐ veröffentlichte musikalische Fantasie von Karl Friedrich Theodor Kaiser aus dem Jahr 1810. Das Original liegt in der Lippischen Landesbibliothek Detmold. 24 Zitiert nach Fischer: Festgemauert, S. 7f. 25 Fischer: Festgemauert, S. 8. 26 Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe im Auftrag des Kultusministeriums Baden-Württemberg u. in Zusammenarbeit mit dem Schiller-Na‐ tionalmuseum Marbach a.N. Hgg. v. Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bern‐ hard Zeller. Bd. 12: Briefe 1833-1838. Hgg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1986, S. 202. 27 Vgl. Ute Gerhard: Schiller als „Religion“. Literarische Signaturen des XIX. Jahrhunderts. München 1994. 28 Fischer: Festgemauert, S. 9. dungskraft ausgeschmückte; ob wol didactische, und zugleich erzählende Dich‐ tungen geeignet sind, überhaupt in Musik gesetzt zu werden? “ 23 Rombergs Glocken-Musik jedenfalls hatte solch großen Erfolg, dass sie in Straßburg am Karfreitag 1818 „statt eines Oratoriums aus der Leidensge‐ schichte“ 24 zu hören war. Text und Musik verschmelzen zu einem ästhetisch-me‐ dialen Identifikationsangebot für gebildete Zuhörer und bekommen den Öf‐ fentlichkeitsstatus einer säkularisierten religiösen Handlung. Man kann dem Urteil Michael Fischers nur zustimmen, Schillers Text „wurde kanonischen bib‐ lischen Texten an die Seite gestellt und als Sinnstiftungsangebot akzeptiert“. 25 Eduard Mörike etwa urteilt, Schiller sei der „wahrhafte Christus unter den Po‐ eten“ 26 gewesen. Der Dichter Schiller wird zur Religion Schiller, wie dies genannt wurde. 27 Im Grunde genommen handelt es sich bei diesem Phänomen um eine frühe Form der heutigen Popidolisierung. Wenn wir die Rezeptionsgeschichte des Glocken-Gedichts genauer betrachten, fällt uns auf, dass diese quasireligiöse Umdeutung von Autor und Text anlässlich von Schillers 100. Geburtstag 1859 einen Höhepunkt erfährt, der zugleich normbildend wird für die wilhelmi‐ nisch-bürgerliche Umdeutung von Schiller und seinem Werk. Mit dieser Hiera‐ tisierung Schillers geht die Indienstnahme als nationale Identifikationsfigur einher. Aus dem „Glöckner von Marbach“ 28 1859 wird nun der Oberlehrer der Nation. Fatalerweise beriefen sich jene, die diese Umdeutung betrieben, ausge‐ rechnet auf Goethes Gedicht Epilog zu Schillers Glocke, so dass auch dieser Text bis heute gewissermaßen als Prolegomenon eines nationalen Schillers gelesen wird. Jene Feierlichkeiten wurden von öffentlich vorgetragenen Texten in Gebetform begleitet, der Nationalautor war auf dem Wege zum bürgerlichen Hausgott. Die katholische und die evangelische Kirche reagierten differenziert, man versuchte diese Modeerscheinung des Schiller-Kults aufzufangen und in das kirchliche 153 7. Das Lied von der Glocke (1800) 29 Vgl. dazu Ute Gerhard: Schiller als „Religion“, bes. S. 249ff. 30 Vgl. Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 249. 31 Thomas Bernhard: Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette. Frankfurt a.M. 1990, S. 30. 32 Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 250. 33 Vgl. den vollständigen Abdruck in: Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Teil I: 1782-1859. Hgg., eingeleitet u. kommentiert v. Norbert Oellers. Frankfurt a.M. 1970, S. 456-466. Geschehen zu integrieren. In diesem Zusammenhang kam dem Lied von der Glocke eine zentrale Bedeutung zu, da es inzwischen zum festen Bildungsbe‐ stand des Bürgertums gehörte und seinen wertekonservativen Themen vorbe‐ haltlos zugestimmt werden konnte. Lediglich die Bedeutung und Funktion der Glocken wurde kirchlicherseits skeptisch beurteilt, denn immerhin wurden bei den weltlichen Schiller-Feiern die Kirchenglocken geläutet. In der Forschung wird dies als „zusätzliche ästhetische Signifikation“ und „pragmatische Appli‐ kation der Literatur“ gewertet. 29 In den frühen 1850er Jahren wird in einer knapp 400 Seiten umfassenden Veröffentlichung der Versuch von protestantischer Seite unternommen, das Lied von der Glocke als „Apologie des kirchlichen und staatlichen Absolutismus“ für den Gebrauch in Schulen zu interpretieren. 30 Doch mit den Säkularfeiern 1859 bricht die kirchliche Kontroverse um einen „gutsit‐ zenden Schiller“ 31 (Thomas Bernhard) wieder auf, strenge Katholiken, Pietisten in Heidelberg und München sowie hamburgische Protestanten lehnen Schiller-Feiern kategorisch ab. Der Streit um den ‚unchristlichen Schiller-Kult‘ entzündet sich an dem geplanten Glockenläuten. Für andere Kirchenvertreter ist gerade dieser Streit Anlass, über das Verhältnis der Kirchen zu einem bür‐ gerlichen Massenidol nachzudenken und - keinesfalls ein Novum in der Kul‐ turgeschichte - auch über die Bedeutung literarischer Dichtung zu predigen. Denn ein berühmtes historisches Vorbild fanden diese Zeitgenossen immerhin in dem Straßburger Prediger Geiler von Kaysersberg, der 1498/ 1499 im dortigen Münster über das Buch Das Narrenschiff (1494) seines Basler Freundes und Dichters Sebastian Brant über 100-mal predigte. Der Hofprediger in Gotha Gustav Schweitzer etwa wendet sich energisch gegen die von katholischer und protestantischer Seite vorgetragene Meinung, die Schiller-Feiern seien eine Art „Götzendienst“, 32 er integriert Schiller-Zitate in seine Predigten und stellt sie gleichwertig neben Bibel-Zitate. 33 Besonders wird das Glocken-Gedicht bemüht, genauer die darin vermutete Darstellung christlicher Liebe. Um einen Eindruck von der Intentionalität dieser Art Predigten zu bekommen, zitiere ich im Wort‐ laut die drei Kernaussagen aus der Predigt über 1. Korinther 13, 13 vom 13. November 1859: 1.) „Wir verehren als Christen in der Schillerfeier mit dank‐ barem Herzen das Walten der ewigen Vaterliebe droben für diese Gottesgabe, 154 7. Das Lied von der Glocke (1800) 34 Schiller - Zeitgenosse aller Epochen, S. 458. Im Original kursiv. 35 Schiller - Zeitgenosse aller Epochen, S. 458. 36 Schiller - Zeitgenosse aller Epochen, S. 461. Im Original kursiv. 37 Schiller - Zeitgenosse aller Epochen, S. 464. Im Original kursiv. 38 Vgl. Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 252. für das Geschenk des teuern Dichters“. 34 Ein Dichter wie Schiller sei „ein sicht‐ barer Beweis, daß Gott ein solches Volk noch nicht verlassen hat, daß der barm‐ herzige Vater droben ein solches Volk will weiterführen auf der Sonnenbahn der Vollendung in ihm, daß er es erretten will, wenn es in geistiges Elend versunken ist.“ 35 2.) Schiller werde gefeiert, denn „wir haben in seinen Werken eine gewal‐ tige Predigt der Gottesliebe im Menschenherzen zu vernehmen.“ 36 Und 3.) „als protestantische Christen, beurteilen und beherzigen wir auch die Predigt Schil‐ lers immer nur gemäß der Liebe, die uns Gott offenbart hat im Heilande, und deren Verkündigung wir hören im Neuen Testament.“ 37 In Stuttgart wiederum, dem Ort der Enthüllung eines bedeutenden Schiller-Denkmals, werden Pre‐ digten gegen die übertriebene Schiller-Verehrung gehalten. 1872 veröffentlichte der evangelische Theologe David Friedrich Strauß, be‐ kannt geworden durch seine Leben-Jesu-Darstellung (von 1835/ 1836), ein Buch mit dem Titel Der alte und der neue Glaube. Darin erfährt die Literatur eine immense Bedeutungsaufwertung, sie wird als adäquater Ersatz religiöser Texte begriffen und die biblischen Autoren werden als Dichter charakterisiert. Dieser Streit um die Fiktionalität religiöser Stiftungstexte hält ja bis heute an. Auch bei Strauß wird wieder besonders Schillers Glocke hervorgehoben, die auf unver‐ gleichliche Weise in der Lage sei, kirchliche Rituale zu ersetzen und die Funk‐ tionsbestimmung der inneren Erbauung eines Bibeltextes zu übernehmen. Dieser Prozess, in dem sich die Kirchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun‐ derts befinden und der die Entwicklung weg von absoluter Ablehnung der Schiller-Rezeption hin zu einer quasireligiösen Anverwandlung schillerscher Texte markiert, kann als Prozess der Verbürgerlichung bezeichnet werden. 38 Symbolisch wird dies etwa dadurch vollzogen, dass 1859 in der Hamburger Ni‐ kolaikirche eine neue Glocke zur Erinnerung an Schillers Glocke mit seinem Konterfei versehen und auf den Namen Concordia (so lautet der Glockennamen aus dem Gedicht) getauft wird. Diese Verbürgerlichung ist es - wenn wir nun die literaturgeschichtliche Seite bilanzieren -, die den Schiller-Texten, allen voran dem Glocken-Gedicht, ihr Überleben im kulturellen Gedächtnis der Ge‐ sellschaft sichert. Entscheidend dabei ist, dass damit nicht nur der materiale Wortbestand überliefert wird, sondern vor allem eine Anwendungslehre kul‐ turellen Gebrauchs. Um es in einem saloppen Bild auszudrücken: Maßgeblich ist nun nicht mehr die Arznei, sondern der Beipackzettel. 155 7. Das Lied von der Glocke (1800) 39 Vgl. Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 164. 40 Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 253. 41 Vgl. Bernhard H. Bonkhoff: Pfälzisches Glockenbuch. Kaiserslautern 2008, S. 113-114. Anlässlich der Schiller-Feierlichkeiten im Jahr 1905 kann man eine weitere Etappe dieses Verbürgerlichungsprozesses feststellen. Zwar gibt es noch eine zensierte Schiller-Ausgabe für katholische Christen, die einen bereinigten Schiller (vor allem ohne den Don Karlos) bietet, doch sind die Zeiten des Jahres 1830 vorbei, in denen einem Katholiken die Absolution verweigert wurde, weil er nachweislich Schiller gelesen hatte. 39 Schiller ist mit seinen Texten längst nicht mehr aus dem Kanon deutscher Bildung hinwegzudenken. In Bremen werden zu Beginn des Jahres 1905 wöchentlich 20 Predigten über Schiller-Zitate gehalten, ein Schiller-Wort garniert also nicht mehr das homiletische Menü, sondern es ist das Mahl selbst. Man möchte „Gotteswort aus Dichters Mund, vereint mit dem eines Bibelworts“ 40 hören. Im Rahmen einer Konfirmation be‐ kommen Zitate aus dem Wallenstein sogar die Funktion von Einsegnungsfor‐ meln. Diese Predigten entwickeln sich sehr schnell zum Medium nationalisti‐ scher Hegemonialphantasien. Die weitere Entwicklung ist bekannt. In diesen Zusammenhang gehört die unrühmliche Geschichte einer chauvinistischen, franzosenfeindlichen Glockeninschrift, die sicherlich kein Einzelfall geblieben ist. Die Glocke wurde 1917 abgenommen. Schillers Gedicht musste als Vorlage für dieses kriegspropagandistische Machwerk dienen, der Text wurde regelrecht zerschnitten, Zitate oder Halbzitate aus dem Lied von der Glocke blieben stehen und wurden mit militärischen Metaphern in Reimform collagiert. 41 Kein Wunder also, dass 1905 nun auch die Schiller-Feiern selbst zum Gegen‐ stand spöttischer Verse wurden. So schrieb etwa ein Secundus folgendes mit Zitaten aus der Glocke versetztes Gedicht: „Holt den Rock mir aus dem Schranke, Wohlgebürstet muß er sein, Denn ich geh zur Schillerfeier, Und das Publikum ist fein. […] Frau, du musst dich heut bemühen, Schillerkenntnis darzutun: ‚Prüfe, wer sich ewig bindet‘, ‚Laßt die strenge Arbeit ruhn.‘ Und wenn wir das Glas erheben, Dann zitierst du Schiller auch: ‚Wohl! Nun kann der Guß beginnen! ‘ 156 7. Das Lied von der Glocke (1800) 42 Zitiert nach Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat, S. 53f. 43 Vgl. Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 255. 44 Gerhard: Schiller als „Religion“, S. 255. 45 Zitiert nach Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat, S. 37. 46 Zitiert nach Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat, S. 38. - Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Glocke natürlich auch pornografische Parodien erfahren hat. Eine von ihnen wird Ignaz Castelli zugeschrieben, sie trägt den Titel Die Sauglocke und erschien um 1840. Sie ist oftmals nachgedruckt worden, zuletzt in Die Sauglocke. Die schönsten erotischen Phantasien. Hgg. v. Karsten Schmidt. Berlin 2000. Auf dem Klappen‐ text heißt es: „Und wer nicht glaubt, was ein Biedermann alles zu schreiben in der Lage ist, der lese ‚Die Sauglocke‘. Das Original ist pathetisch, die Parodie eben säuisch.“ Über wei‐ tere pornografische Schiller-Parodien gibt folgender Band Auskunft: Der Volks-Schiller. Gesänge aus der Ludlamshöhle. Pornographische Parodien aus dem Biedermeier. Hgg. v. Joseph Kiermeier-Debre u. Fritz Franz Vogel. Wien 1995. Denn Zitate sind jetzt Brauch. Auch liegt es mir sehr am Herzen, Daß du dich gebildet zeigst Und entweder geistreich redest Oder aber gänzlich schweigst.“ 42 Mit dem Jahr 1859 beginnen auch die Volksschulpolitiker, Schiller in die Lehrpläne zu integrieren und seine Dichtung zu funktionalisieren. 1905 werden von den Be‐ hörden sogar Gedächtnisfeiern in den Volksschulen angeordnet. 43 Die pädagogi‐ sche Empfehlung lautet, die schillerschen Texte als „unerschöpflichen Born der Le‐ bensweisheit und edler Gesinnung“ 44 thematisch zu behandeln. 1912 ist in der Publikation eines Lehrers bereits zu lesen, Schiller gehöre zu den älteren und be‐ währteren Autoren im Lehrplan der Volksschulen. Die pädagogisch begleitete Sub‐ jektkonstitution wird hier also über das Textmedium ausgewählter Schiller-Zitate gesteuert. Auch wurden dutzendweise Materialien für den Gebrauch an höheren Lehranstalten zum Glockenthema zusammengestellt, ein gewisser Oberlehrer Po‐ likeit veröffentlichte 1909 seine Kollegenempfehlung mit dem Titel Wie ich meinen Untersekundanern Freude an Schillers Lied von der Glocke zu erwecken versuchte. Oder zu erinnern ist an eine Broschüre mit dem Titel Das Lied von der Glocke tech‐ nisch erläutert nebst einer Beschreibung des Glockengusses und einer lithogr.[aphi‐ schen] Tafel in Farbendruck als Lehrmittel für Schulen entworfen und erklärt von Paul Uellner, Ingenieur (zweite, verbesserte Auflage Düsseldorf 1898). Wo so viel Schiller-Apologetik und Schiller-Apotheose zu finden ist, da sind Paro‐ dien nicht weit. Caroline Schlegel berichtet im Oktober 1799, sie sei über dem Lied von der Glocke fast vom Stuhl gefallen „vor Lachen“, 45 und noch zwei Monate später wiederholt sie dies: „Die Glocke hat uns an einem schönen Mittag mit Lachen vom Tisch weg fast unter den Tisch gebracht. Die ließe sich herrlich parodiren.“ 46 Schon 157 7. Das Lied von der Glocke (1800) 47 Vgl. Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat, S. 11. 48 Zitiert nach Fischer: Festgemauert, S. 18. 49 Zitiert nach Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat, S. 90. bald beginnt dieser Prozess der philologischen Selbstauflösung des Textes. Selbst wenn man sich der Funktionalisierung des Gedichts zur pädagogischen, religiösen oder politischen Subjektkonstitution durch eine Parodie verweigert, beteiligt man sich doch - eben parodistisch - am kulturellen Warenverkehr. Wohl kaum ein Ge‐ dicht der deutschen Literaturgeschichte hat solch unzählige Parodien provoziert wie das Lied von der Glocke bzw. seine kulturellen Adaptionen. Ein kleiner Teil davon ist in dem Buch Was Schillers Glocke geschlagen hat (2005) von Wulf Sege‐ brecht abgedruckt. Bei diesen Texten, von denen es 1877 schon über 70 gab (vgl. FA 1, S. 881) und bis heute über 100 nachzuweisen sind, 47 bedient man sich der Vers- und Strophensprache und der Bildsemantik des schillerschen Originals, um dann eine Parodie daraus zu generieren, etwa auf Gebrauchsgegenstände, Konsum‐ güter (Kaffee) und Lebensmittel (Sandtorte, Erbswurst), auf politische oder kriegs‐ propagandistische Themen, auf Berufe und Tätigkeiten wie beispielsweise auf den Amtsschimmel - der Schritt zum Wilhelm-Busch-Ton ist nicht weit: „Festgemauert in der Erden Steht das Amtshaus, das uns heilig; Selten will dort etwas werden, Denn der Schimmel hat’s nicht eilig.“ 48 Oder Das Lied von der Erbswurst (1871): „Fest gestopft in ihrer Pelle Winkt die Erbswurst meinem Zahn; Heute wird auf alle Fälle Sie verknackt und abgethan, Weil als ihres Stammes letzte Sie bis jetzt mein Aug’ ergötzte, Hört, bevor ich sie verspeise, Erst ein Lied zu ihrem Preise.“ 49 Die Parodisten bestätigen nebenbei bemerkt mit ihren Elaboraten eine Beobach‐ tung Schillers, die dieser 1797 in einem Brief an Goethe festgehalten hat. Der sentimentale Gegenstand der Lyrik im Gegensatz zum poetischen müsse etwas für das Gefühl des betrachtenden Subjekts bedeuten, also einen Gefühlswert haben, insofern könne er nie an und für sich ‚gemein‘ oder ‚geistreich‘ sein. Das Gemeine und Geistreiche liege hier allein in der Behandlung und nicht in der Wahl des Stoffes. Als Beispiele des Alltagslebens führt Schiller ein Haus an, eine 158 7. Das Lied von der Glocke (1800) 50 Vgl. Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat, S. 63. 51 Zitiert nach Segebrecht: Was Schillers Glocke geschlagen hat, S. 141. Straße, eine Brücke, ein Schiff, ja einen Pflug „oder irgend ein anderes mecha‐ nisches Werkzeug“ (NA 2/ 2 B, S. 164). Bis 1877 war das Lied von der Glocke in nahezu alle europäischen National‐ sprachen übersetzt. Offensichtlich steuerte die Rezeption die Meinung, man er‐ fahre etwas über die Mentalität der Deutschen aus Schillers Gedicht. Übertra‐ gungen in Dialekte und ins Lateinische waren zwangsläufig. Die Parodien des 19. Jahrhunderts zeichnen sich allerdings dadurch aus, dass sie leidlich respekt‐ voll mit ihrer Vorlage umgehen. 50 Die Parodie ist hier - nicht in allen Fällen! - eine Form der Huldigung an die unerreichbare schillersche Vorlage, und zu‐ gleich zeigt sich bereits ein Steuerungsmechanismus der frühen Kulturindustrie: Man möchte teilhaben an dem immensen Erfolg dieses Gedichts, und öffentliche Aufmerksamkeit ist jenen Autoren sicher, die gekonnt, originell, witzig oder bissig Schillers Gedicht parodieren. Die Parodien des 20. Jahrhunderts sind schrankenlos und übertreten oft wil‐ lentlich die Grenze zum Nonsens. 1971 reimt etwa Sita Steen: „Und drinnen waltet die putzsüchtige Hausfrau: Sie füttert im Stalle die hochfrüchtige Haussau, die Mutter der Vierpfünder, mit Futter für vier Münder, und lebet weise und webet leise und lehret die Mädchen und mehret die Lädchen und strickelt und webet und wickelt und strebet, Gewinne zu mehren, der Minne zu wehren, […] und nutzet die Kräfte und ganze Glut und zeigt sich im festlichen Glanze gut - trotz scheußlichem Harm - mit häuslichem Charme! “ 51 Die sicherlich prägnanteste, zumindest bekannteste Parodie des vergangenen Jahrhunderts ist aber diese: „Loch in Erde Bronze rin 159 7. Das Lied von der Glocke (1800) 52 Zitiert nach Fischer: Festgemauert, S. 19. Der Abdruck bei Segebrecht ist fehlerhaft. - Man sollte in diesem Zusammenhang auch Christian Morgensterns Glocken-Gedicht Bim, Bam, Bum aus den Galgenliedern nicht unerwähnt lassen. Glocke fertig bim bim bim“, die allenfalls noch durch ihre angeblich bolschewistische Lesart übertroffen wird: „Loch in Erde Bronze rin Sabotage nix bim bim“. 52 Das Lied von der Glocke bleibt, wie sein Autor auch, ein erinnerungsmediales Kulturgut, das dem Zyklus von ernsthafter bis parodistischer Wertschätzung und von politischer bis religiöser Funktionalisierung unterworfen ist. 160 7. Das Lied von der Glocke (1800) 8. Die Braut von Messina (1803) Die Braut von Messina zählt neben der Wallenstein-Trilogie von 1800, der Maria Stuart (1801), der Jungfrau von Orleans (1801), dem Wilhelm Tell (1804) und dem Dramolett Die Huldigung der Künste (1805) zu Schillers klassischen Dramen. Der Zeitraum dessen, was in der Literaturgeschichte oftmals als Beginn der klassi‐ schen Periode in Schillers Schaffen angegeben wird, greift freilich weiter aus. Denn hierzu sind auch jene Jahre zu rechnen, in denen sich Schiller einer in‐ tensiven Kant-Lektüre und der Beschäftigung mit philosophischen und ästhe‐ tischen Fragen gewidmet hat. Diese Phase zwischen 1787 als dem Erschei‐ nungsjahr des Don Karlos und 1798/ 1799 als dem Jahr der Uraufführung des Wallenstein, in der sich Schiller jeglicher dramatischen Arbeiten enthielt, wird durch die theoretischen Abhandlungen der 1790er Jahre eindrucksvoll doku‐ mentiert. So intensiv und zustimmend sich Schiller mit der Philosophie Kants beschäf‐ tigt hatte, so deutlich geht er am Ende des Jahrhunderts auf Distanz zum Kö‐ nigsberger Philosophen. Schon am 17. Dezember 1795 hatte Schiller Goethe brieflich mitgeteilt, es sei „hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe“ (NA 28, S. 132). Kant erinnere ihn an einen Mönch, stellte er im Dezember 1798 fest (vgl. NA 30, S. 15). Und in einem Brief vom 20. Januar 1802 teilte er Goethe die Erkenntnis mit, es sei ihm wieder deutlich geworden, dass „von der Transcendentalen Philosophie zu dem wirklichen Factum“, nämlich dem Kunstwerk, „noch eine Brücke“ fehle; mit „allgemeinen hohlen Formeln“ sei wenig gewonnen (NA 31, S. 88). Ob Schiller dabei auch an seine eigenen philosophischen Arbeiten der 1790er Jahre dachte, bleibt dahingestellt. Der Ab‐ grund indes zwischen Kunst und Kunstphilosophie wird auch in Schillers klas‐ sischen Dramen nicht überwunden. Dies bedeutet Schillers Eingeständnis, dass seine eigenen bisherigen philosophischen Arbeiten im Fahrwasser der idealis‐ tischen Philosophie zur Vereinzelung von Problemlage und Problemlösung ge‐ führt haben, dass nun die Modifizierung des Konzepts einer ästhetischen Erzie‐ hung der Menschen das Gebot der Stunde sei. Schiller reaktiviert am Ende der Aufklärung und zum Beginn des 19. Jahr‐ hunderts nochmals die aus der aristotelischen Poetik sich herleitende poetolo‐ gische Affektenlehre. Diesem Programm des künstlichen Pathos, das durch das vernünftige Rezipieren überschritten wird und so die Freiheit, die Erhabenheit des Menschen über die Sinnlichkeit vor Augen stellen soll, sind Schillers klas‐ 1 Karl Philipp Moritz: Werke. Hgg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, Bd. 2, S. 545. sische Dramen verschrieben. Die Grundlage dieses Reflektierens ist jenes von Karl Philipp Moritz entworfene ästhetische Denken, das unter dem Begriff der Autonomieästhetik Eingang in die Literaturgeschichte gefunden hat. In seiner Schrift Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785) charakterisiert Moritz den Zustand der ästhetischen Erfahrung. Er schreibt über das Schöne im Kunst‐ werk, man könne es dann rein und unvermischt ästhetisch erfahren, wenn man es „als etwas betrachte, das bloß um sein selbst willen hervorgebracht ist, damit es etwas in sich Vollendetes sei. […] Ein Ding kann also nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst müßte auch alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne eigentlich zu nützen, nennen wir schön.“ 1 Schiller wird einige Jahre später die Formel gebrauchen, ein poetisches Werk müsse „ein in sich selbst organisirtes Ganze“ sein (Brief an Schütz vom 22. Januar 1802; NA 31, S. 94). Ob damit gesagt ist, dass in der ästhetischen Auto‐ nomie - wie sie Moritz darlegt und wie sie in den poetischen Texten von Schiller und Goethe aufgegriffen wurde - bereits die Vorwegnahme einer allgemeinen gesellschaftlichen Autonomie aufscheint, auf die jene gleichsam vorbereiten soll, ist umstritten, allein von Schillers klassischen Dramen her gesehen freilich zu rechtfertigen. Die Weimarer Klassik setzt nicht bei einem historischen und ästhetikge‐ schichtlichen Nullpunkt an. Die Forschung hat diesen Klassik-Mythos gründlich entlarvt und verstärkt die historischen Wurzeln der Klassik und durchaus auch ihre Traditionalität untersucht. Klassik bedeutet insofern Ästhetisierung und Außenkritik der Aufklärung. Die extremste ästhetische Verdichtung aufge‐ klärter Positionen führt zu außerhalb der Aufklärung stehender Kritik, zu ihrer Auflösung und ihrem Abgesang, der sich bereits weit über sie hinausgegangen weiß. Beispielhaft für dieses Bewusstsein einer Epochenschwelle ist Schillers Prolog zu Wallensteins Lager, gedichtet für die Uraufführung am 12. Oktober 1798: „Die neue Ära, die der Kunst Thaliens Auf dieser Bühne heut beginnt, macht auch Den Dichter kühn, die alte Bahn verlassend, Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis Auf einen höhern Schauplatz zu versetzen, Nicht unwert des erhabenen Moments Der Zeit, in dem wir strebend uns bewegen. Denn nur der große Gegenstand vermag Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen, 162 8. Die Braut von Messina (1803) Im engen Kreis verengert sich der Sinn, Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken. Und jetzt an des Jahrhunderts ernstem Ende, Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird, Wo wir den Kampf gewaltiger Naturen Um ein bedeutend Ziel vor Augen sehn, Und um der Menschheit große Gegenstände, Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen, Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne Auch höhern Flug versuchen, ja sie muß, Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen.“ (NA 8, S. 4f.) Ein geschlossenes ästhetisches Programm oder gar ein poetisches System der Weimarer Klassik gibt es nicht. Wohl haben Schiller und Goethe, Wieland, Herder und Wilhelm von Humboldt, Hölderlin, Jean Paul und Körner sich - oft brieflich - zu poetischen und allgemein ästhetischen Fragen geäußert. Schiller selbst hat eine Reihe von philosophischen Abhandlungen vorgelegt, in denen er Probleme einer idealistischen Ästhetik erörtert, doch dies ist kein systemati‐ sches Reflektieren im Gehege der Lehrvernunft, sondern ein freilaufendes, ge‐ radezu wildes Denken, stets Selbstzweifeln und Korrekturen unterworfen. Und dennoch gibt es so etwas wie ein poetisches Bekenntnis von Schillers Klassik. Schöner Schein, ‚aufrichtiger Schein‘ nach Schiller, bedeutet aufrich‐ tiges Erscheinen des Idealen und Wahren im Medium des Schönen. Dies ist zweifellos ein idealistisches Konzept, das uns heute möglicherweise befremdet, das zu verstehen aber Voraussetzung ist, um die ästhetische Intention von Schil‐ lers klassischen Dramen zu erkennen. In seiner Abhandlung Über das Pathetische (1801) führt Schiller folgendes aus: Obwohl wir beim Anblick eines tragischen Geschehens auf der Bühne affektiv berührt, ja bewegt sind, vermögen wir rati‐ onal zu urteilen und zu handeln. Die Aufgabe der tragischen Kunst besteht darin, uns dies im buchstäblichen Sinn vor Augen zu führen. Nur der Widerstand gegen die Macht der Emotionen, wenn wir identifikatorisch oder kontraidentifikato‐ risch auf ein ästhetisches Erleben reagieren, macht uns deutlich, dass wir die emotionale, moralische und intellektuelle Freiheit besitzen, uns gegen die Sug‐ gestivkraft des Affekts zu stellen, uns nicht triebbestimmt, sondern vernunft‐ geleitet zu verhalten. Und dies soll die tragische Kunst leisten. Die Affizierbar‐ keit des Einzelnen ist zwar Voraussetzung dafür, doch muss das gespielte oder gelesene Stück, muss die Tragödie selbst uns die Mittel bereitstellen - Schiller spricht von den Ideen der Vernunft -, im Widerstand gegen die Affekte uns unserer Urteils- und Handlungsfreiheit zu versichern. Demzufolge formuliert 163 8. Die Braut von Messina (1803) Schiller sein erstes Gesetz der tragischen Kunst: Die Tragödie muss Pathos dar‐ stellen, den leidenden Helden oder die Leid erzeugende Situation vorstellen, denn der Affekt des Mitleids ist nur zu mobilisieren, wenn die dargestellten Figuren auch so leiden oder die dargestellten Situationen auch so leidverhaftet sind, dass Mit-Leid möglich wird. Das zweite Gesetz betrifft eben jenen mora‐ lischen, und d.h. emotionalen und rationalen Widerstand gegen das Leiden, der dargestellt werden soll, um sich im Widerstand der Freiheit über das Wider‐ ständige, was den Widerstand hervortreibt, zu versichern. Dieser Widerstand macht im Medium der Kunst, der Schönheit, die Gemütsfreiheit des Einzelnen sichtbar, deshalb trägt Schiller der Kunst auf, den Geist, sprich die Vernunft, zu ergötzen und dieser Freiheit zu gefallen. Erst wenn die dargebotene Kunst der Gemütsfreiheit des Einzelnen gefällt, ist es möglich, aus ihr ästhetischen Gewinn zu ziehen. Die Gemütsfreiheit ist, als Genitivus objectivus verstanden, die Frei‐ heit vom Gemüt, also jene rationale Freiheit, die es uns erlaubt, uns über die Macht der Affekte zu erheben. Hier schließt sich natürlich die Frage an, wozu dieses ästhetische Programm dient? Die Literatur kann, so schließt Schiller seine Abhandlung, keinen direkten Einfluss auf ein aktuelles (gesellschaftliches und individuelles) Geschehen nehmen, schon gar nicht kann sie konkretes Handeln ersetzen. Aber sie vermag, solange dieser Zustand des individuellen und gesell‐ schaftlichen Ungenügens andauert, die Forderung nach jener Freiheit zu er‐ heben, sie kann den Einzelnen „erziehn, zu Thaten kann sie ihn rufen, und zu allem, was er seyn soll, ihn mit Stärke ausrüsten.“ (NA 20/ 1, S. 219) Ähnlich formuliert dies Schiller auch in seiner Abhandlung Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten (1796): „Gesetzt nun, daß die schöne Kultur ganz und gar nichts dazu beytragen könnte, uns besser gesinnt zu machen, so macht sie uns wenigstens geschickt, auch ohne eine wahrhaft sittliche Gesinnung also zu handeln, wie eine sittliche Gesinnung es würde mit sich gebracht haben.“ (NA 21/ 2, S. 35) Daraus bezieht Dichtung ihre ästhetische Kraft - auch dies ist ein Begriff Schillers (vgl. NA 20/ 1, S. 220). Das, was Literatur zu leisten vermag, ist im konstruierten Vorgriff vor Augen zu stellen, dass nämlich richtiges und das bedeutet für Schiller freies Handeln grundsätzlich möglich ist, „d.h. daß keine Empfindung, wie mächtig sie auch sey, die Freyheit des Gemüths zu unterdrü‐ cken vermöge.“ (NA 20/ 1, S. 220) Literatur wird so zum Gegenwort von Resig‐ nation und Verzagtheit, von Gleichgültigkeit und Ungerechtigkeit. Freiheit meint also bei Schiller nicht nur die Ästhetisierung der Freiheit, sondern auch die ästhetische Freiheit. In der Abhandlung Über das Erhabene (1801) stellt Schiller fest, dass jeder Mensch im sinnlichen Anteil seiner Natur immer noch den Rest einer ästheti‐ schen Tendenz aufweist, welche gezielt - eben durch entsprechend präparierte 164 8. Die Braut von Messina (1803) Tragödien - geweckt und durch einen kathartischen Vorgang zum „idealisti‐ schen Schwung des Gemüths“ (NA 21/ 2, S. 40) ausgebildet, kultiviert werden kann, dessen Ergebnis die Gemütsfreiheit ist. Während das Schöne die Har‐ monie zwischen Sinnlichkeit und Vernunft bedeutet, markiert das Erhabene die völlige Unabhängigkeit der Vernunft und des Willens vom Gemüt. Rationale Entscheidungen und rationales Handeln sind hier nicht mehr durch die Domi‐ nanz von Emotionen zu beeinflussen. Die Fähigkeit, Erhabenes und Schönes zu empfinden, ist in allen Menschen zwar gleichermaßen angelegt, doch entwickelt sie sich je unterschiedlich; die Aufgabe der Kunst - so Schiller - bestehe nun in nichts anderem, als diese Entwicklung hin zur Freiheit zu befördern. Dieses äs‐ thetische Erziehungsprogramm lässt sich nahtlos mit Herders Humanitätsge‐ danken, einem weiteren Kennzeichen der Weimarer Klassik, verbinden. So abstrakt dies alles zunächst klingen mag, so konkret kann man die Durch‐ führung verstehen, wenn grundsätzlich zugestanden wird - und hierüber be‐ steht in der Forschung keineswegs Einigung -, dass Schillers klassische Dramen eine Antwort auf seine theoretischen Problembenennungen anbieten. Die Frage lautet also, wie ist ein klassisches Drama zu bewerkstelligen? Die Antwort muss, auch angesichts der Tatsache, dass es keine Mustertragödie der Weimarer Klassik gibt, welche als Schulbeispiel eines klassischen Dramas dienen will, summarisch ausfallen. Die Konzentration auf das Wesentliche wird in der Lesart der Weimarer Klassik durch die Rhythmisierung der Verssprache gewährleistet. Prosodie und Rhythmus als konstitutive Merkmale der Form scheiden das Un‐ wesentliche des Stoffes aus (vgl. Schillers Brief an Goethe vom 24. November 1797). Schon in der Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) hatte Schiller im 22. Brief geschrieben, dass die Form den Stoff vertilgen müsse, „in einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun“, darin läge das „eigentliche Kunstgeheimnis“ (NA 20/ 1, S. 382). Übrig bliebe so ein Kondensat des Geschichtlich-Menschli‐ chen, das in der gezielten ästhetischen Profilierung, dem Akt der Idealisierung, als Fluchtpunkt der freien Vernunfthandlung dient. An Goethe schreibt Schiller am 24. November 1797: „Ich habe noch nie so augenscheinlich mich überzeugt, als bei meinem jetzigen Ge‐ schäft, wie genau in der Poesie Stoff und Form, selbst äusere, zusammen hängen. Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine poetische=rhythmische verwandle, be‐ finde ich mich unter einer ganz andern Gerichtsbarkeit als vorher, […] der Vers fodert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft […]. Man sollte wirklich alles, was sich über das gemeine erheben muß, in Versen wenigstens anfänglich concipieren, denn das Platte kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird.“ (NA 29, S. 159f.) 165 8. Die Braut von Messina (1803) Die einzelne dramatische oder fiktionale Figur begreift Schiller als ein „symbo‐ lische[s] Wesen“ (Brief an Goethe vom 24. August 1798; NA 29, S. 266), welches das Allgemeine der Menschheit darstellen und aussprechen müsse. Klassik be‐ deutet in diesem Sinne symbolhafte sprachliche und rhetorische, allegorische, metrische und dramaturgische Verdichtung der Menschheitsgeschichte. Die Tragödie kann nach Schillers Verständnis nur einzelne außergewöhnliche Mo‐ mente der Menschheit beispielhaft fixieren. Dies ist ihre Aufgabe und dies tut sie mit Hilfe eines Maximums an sprachlichem, rhythmischem und inhaltlichem Pathos. Schillers klassische Dramen bedeuten aber auch eine Attacke auf das Illusi‐ onstheater seiner Zeit. Auf eine öffentliche und ehrliche Art müsse man sich als Dichter von der Wirklichkeit entfernen, schreibt Schiller am 24. August 1798 an Goethe. Öffentlich und ehrlich bedeutet die bewusste Zerstörung der ästheti‐ schen Illusion z.B. durch die freie Handhabung historischer Fakten, durch die Einführung des Chors und das Pathos der Sprache wie in der Braut von Mes‐ sina. Die Illusion, d.h. die Künstlichkeit der Kunst muss für die Zuschauer er‐ kennbar bleiben, Kunst darf das Dargestellte nicht als Wirklichkeit vortäuschen. Dies entspricht der Forderung, der Dichter müsse die Wirklichkeit verlassen. Es ist nicht das kleine realistische Detail, sondern die große historische Linie des Geschichts- und Menschheitsprozesses, die Schiller interessiert. Die stilisierte Sprache, die metrische Diktion, die Reimschemata, die Verssprache mit dem häufigen Wegfall der Hilfsverben, der Gedanke der Stilisierung als Kunstprinzip dienen dazu, die Illusion von Wirklichkeit, den falschen Schein, zu zerstören. Klassisches Drama heißt sich bewusst machen, dass Kunst künstlich ist, um dadurch einen Darstellungs- und Wahrheitswert zu gewinnen, den nur Kunst - und nicht etwa Natur oder Naturnachahmung - birgt. Für die Arbeit an der Braut von Messina hat Schiller keine Quellen im eigentli‐ chen Sinn benutzt. Allerdings ließ er sich durch einschlägige Werke anregen. Von dieser Literatur, die er nachweislich herangezogen hat, sind unter anderem folgende Werke zu nennen: 1. Johann Jacob Steinbrüchel: Das tragische Theater der Griechen, Des So‐ phocles Erster Band, Des Euripides Erster Band. Zürich 1763. 2. Patrick Brydones Reise durch Sicilien und Malta in Briefen an William Beckford […]. Aus dem Englischen übersetzt. 2 Teile. Leipzig 1774. 3. Pierre Brumoy: Théâtre des Grecs, von Ch. Brotier revidierte u. erweiterte Ausgabe in 13 Bänden. Paris 1785-1789. 4. Sofokles. Übersetzt v. Christian Graf zu Stolberg. 2 Bde. Leipzig 1787. 166 8. Die Braut von Messina (1803) 5. Wilhelm von Humboldt: Ueber das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondre. (Schiller hatte das Manuskript dieses erstmals 1896 gedruckten Aufsatzes von Humboldt selbst zur kritischen Lektüre erhalten). 6. Vier Tragödien des Aeschylos. Übersetzt von Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. Hamburg 1802. Der Stoff zur Braut von Messina ist vom Dichter frei erfunden. Er greift weder auf eine literarische Vorlage noch auf eine historische Begebenheit zurück. Das griechische Drama König Ödipus (429/ 425 v. Chr.) von Sophokles bildet den li‐ terarisch-historischen Bezugspunkt für die Braut von Messina, jedoch nicht im Sinne einer einfachen Nachahmung. Selbst die Frage, inwiefern die tragische Situation des Stücks strengen antiken Mustern unterliegt, wird je nach Erkennt‐ nisinteresse unterschiedlich beantwortet. Schillers Rückgriff auf antike drama‐ tische Muster verfolgt die Absicht, die seines Erachtens erheblichen Vorteile der Dramaturgie und Poetologie griechischer Tragödien für ein modernes Drama um 1800 zu nutzen. Sein Interesse gilt diesen strukturellen Vorteilen, daraus leitet sich auch die Bedeutung des Chors für ihn ab. Die analytische Methode des sophokleischen Dramas ist für ihn wichtiger als die Übernahme der Bedeu‐ tung des Schicksals- und Schuldmotivs aus der griechischen Tragödie. Der ur‐ sprüngliche Götterfluch wird bei Schiller gleichsam nach innen gewendet, er‐ fährt eine familiale Verinnerlichung. Die Fürstenfamilie entwickelt die tragische Situation und vollzieht die Katastrophe, weil ihre einzelnen Mitglieder nur nach Vorgabe ihrer Charaktereigenschaften oder nach Maßgabe ihres Begehrens handeln. Dies wird deutlich in der unterschiedlichen Bewertung der tragischen Ereignisse. Während die Mutter Isabella den Glauben an eine mythische Schick‐ salsgewalt wachruft („Wann endlich wird der alte Fluch sich lösen, / Der über diesem Hause lastend ruht? “ V. 1695), erkennt ihr Sohn Don Cesar: „Liebe […] war meine ganze Schuld“ (V. 2545). Nicht unbedeutend ist es also, dass Schiller eine Fürstenfamilie wählt und nicht etwa eine bürgerliche Familie auf den Plan ruft, zeigt sich darin doch, dass die klassische poetologische Fallhöhe nach wie vor eine moderne Veranschaulichungskategorie der Tragödie ist. Selbstsucht, Hass, Unbeherrschtheit und Kränkbarkeit sind Charaktereigenschaften, die den fürstlichen Personen des Stücks allesamt eignen. Die sozial Privilegierten un‐ terliegen genau denselben menschlichen Zwängen und Handlungsmustern wie die Bürgerlichen. Am 9. September 1802 kann Schiller Körner mitteilen: „Wie wohl, ich bin nicht unthätig gewesen, und arbeite jezt mit ziemlichem Ernst an einer Tragödie, deren Sujet Du aus meiner Erzählung kennst. Es sind die feindlichen 167 8. Die Braut von Messina (1803) 2 Schiller im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen, Schiller und seine Werke betreffend, aus den Jahren 1801-1805. Gesammelt u. hgg. v. Julius W. Braun. Berlin 1882, Abt. I, Bd. 3, S. 297. 3 Vgl. Schiller im Urtheile seiner Zeitgenossen, I/ 3, S. 310. Brüder oder, wie ich es taufen werde, die Braut von Meßina. Ueber dem langen Hin und HerSchwanken von einem Stoffe zum andern habe ich zuerst nach diesem ge‐ griffen und zwar aus dreierlei Gründen. 1) war ich damit, in Absicht auf den Plan, der sehr einfach ist, am weitsten 2) bedurfte ich eines gewißen Stachels von Neuheit in der Form und einer solchen Form die ein Schritt näher zur antiken Tragödie wäre, welches hier wirklich der Fall ist, denn das Stück läßt sich wirklich zu einer äschy‐ leischen Tragödie an. 3) mußte ich etwas wählen, was nicht de longue haleine ist, weil ich nach der langen Pause nothwendig bedarf, wieder etwas fertig vor mir zu sehen. Ich muß auf jeden Fall am Ende des Jahres damit zu Stande seyn, weil es Ende Januars zu Geburtstag unsrer Herzogin aufgeführt zu werden bestimmt ist.“ (NA 31, S. 159) Nach der Aufführung vom 2. April 1803 wurde dem Dichter im Weimarer Hof‐ theater von Studenten ein „Vivat! “ gebracht. Die Hofgesellschaft reagierte pi‐ kiert, der Korrespondent der Zeitung für die elegante Welt berichtete am 19. Mai 1803 mit einer gewissen Sympathie über den Vorgang: „Es liegt allerdings etwas Unschickliches darin, an einem solchen Ort den Studenten zu machen, und man würde es unanständig und anmaßend finden müßen, in einem Theater zu Weimar über ein Kunstwerk ein so determinirtes Urtheil abgeben zu wollen, wenn nicht die Ueberwältigung eines Schillerschen Trauerspiels und hohe Achtung für den Dichter den Ausbruch von Enthusiasmus bei jungen Leuten zur Entschuldi‐ gung diente, die jetzt überall viel mehr als sonst mit dem Schönen in nähere Bekannt‐ schaft gerathen.“ 2 Nur wenig später, am 26. August, wurde die Meldung allerdings korrigiert, der Weimarer Hof habe die Missbilligung dieser „Ungezogenheit“ nun der Polizei übertragen. 3 So einhellig enthusiastisch wie das studentische Publikum reagierten Kritiker und Publikum nicht. In der öffentlichen Kritik wurden besonders die Vermen‐ gung von christlicher Religion und griechischer Mythologie getadelt und Schil‐ lers Umgang mit dem Chor wurde als unhistorisch empfunden. So heißt es etwa in einer Rezension der Erstausgabe: „Auch die Vermischung alter und neuer Religionen in der Braut von Messina ist von dem Dichter mit wenigen Worten scharfsinnig vertheidigt worden. Aber die Vertheidigung beruhet wiederum auf der Abstraktion, die hier nun einmal dem kindlichen Urgeiste der alten Tragödie 168 8. Die Braut von Messina (1803) 4 Schiller im Urtheile seiner Zeitgenossen, I/ 3, S. 307. 5 Schiller im Urtheile seiner Zeitgenossen, I/ 3, S. 342. 6 Aus Karl Ludwig von Knebels Briefwechsel mit seiner Schwester Henriette [1774-1813], ein Beitrag zur deutschen Hof- und Litteraturgeschichte. Hgg. v. Heinrich Düntzer, Jena 1858, S. 165. 7 Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel, in zwei Bänden. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1825-1827. Bern 1969, Bd. 2, Nr. 300, S. 338. untergeschoben ist.“ 4 Man war sich weitgehend darin einig, dass das Stück nicht überzeuge, es sei Schiller misslungen. Aber noch im Scheitern habe er ein ein‐ drucksvolles Dokument seines theatralischen Könnens gegeben. In der Zeitung für die elegante Welt vom 3. Januar 1804 heißt es etwa über die Berliner Auf‐ führung: „Schiller ist an einer Klippe gescheitert, an der Unzählige vor ihm ge‐ scheitert sind. Rühmlich unterscheidet er sich aber von seinen Vorgängern da‐ durch, daß er das, was er wollte, sehr richtig erkannt hatte, und es nur, vermöge seines eigenthümlichen Genies, das ihn vom Antiken ab, und zum Romantischen hinzieht, nicht zu leisten vermochte.“ 5 Lediglich bei Goethe, der die Weimarer Aufführung inszenierte, bei Körner und - mit einigen Einschränkungen - auch bei Wilhelm von Humboldt fand das Stück im privaten Kreis Beifall. Dies cha‐ rakterisiert ein besonderes Problem der Rezeption dieses Dramas, das Henriette von Knebel in ihrem Brief über eine Lesung des Stücks vom 19. Februar 1803 an ihren Bruder mit diesen Worten beschrieb: „Man sieht wohl, daß er [Schiller] für sich schreibt, und wenig an das Publikum denkt.“ 6 Schon von dem Zeitpunkt an, wo Schiller in einer kleinen Öffentlichkeit sein Drama vortrug, mischten sich in die Kritiken schnell schärfere Töne, wenngleich diese Meinungen und Ver‐ urteilungen vorerst noch unter dem Schutzmantel der privaten Korrespondenz geäußert wurden. Friedrich Heinrich Jacobi etwa rief in einem Brief vom 10. Oktober 1803 entsetzt aus: „Welch ein ekelhafter Spuk aus zusammengemischter Hölle und Himmel diese ganze Braut! “ 7 Das Erscheinen der Braut von Messina, die zu Lebzeiten Schillers mehrmals auf‐ geführt wurde, war für einige Zeitgenossen Anlass, auch in teils umfangreichen Aufsätzen über das Stück die prinzipielle Möglichkeit einer Wiederbelebung des antiken Chors auf der zeitgenössischen Bühne zu erörtern, unter anderem nahmen dazu August Klingemann (Einige Bemerkungen über den Chor in der Tragödie, 1803) und E.T.A. Hoffmann (Schreiben eines Klostergeistlichen an seinen Freund in der Hauptstadt, 1803) Stellung. Die erste Lesung im kleinen Kreis ausgewählter Zuhörer und Zuhörerinnen schien Schillers Hoffnung zu bestätigen, Erfolg mit seinem neuen Stück haben zu können. An Goethe berichtete er am 5. Februar 1803, eine große Wirkung sei vom Chor ausgegangen, Furcht und Schrecken, die beiden zentralen poetologi‐ 169 8. Die Braut von Messina (1803) 8 Der Freimüthige, Nr. 53 und 54, vom 4. und 5. April 1803; zitiert nach Schiller im Urtheile seiner Zeitgenossen, I/ 3, S. 286-297, hier S. 286f. 9 Aus Karl Ludwig von Knebels Briefwechsel, S. 164; Brief vom 11. Februar 1803. schen Bestimmungen der antiken Tragödie, hätten mächtig gewirkt. Schiller schreibt: „Die gestrige Vorlesung, von der ich mir eine sehr mäßige Erwartung machte, weil ich mir mein Publicum nicht dazu auswählen konnte, ist mir durch eine recht schöne Theilnahme belohnt worden und die heterogenen Bestandtheile meines Publicums fanden sich wirklich in einem gemeinsamen Zustande vereinigt. Die Furcht und der Schrecken erwiesen sich in ihrer ganzen Kraft, auch die sanftere Rührung gab sich durch schöne Aeuserungen kund - der Chor erfreute allgemein durch seine naiven Motive und begeisterte durch seinen lyrischen Schwung, so daß ich, bei gehöriger Anordnung, mir auch auf den Brettern eine bedeutende Wirkung von dem Chore versprechen kann.“ (NA 32, S. 7f.) Über die Uraufführung ist in einem zeitgenössischen Bericht zu lesen: „[…] die Stimmen sind sehr getheilt, und das große Publikum hat durchaus die Absicht des Dichters bei diesem, ganz nach dem Schnitt der alten Tragödie geformten, Stücke nicht erfaßen können. Die Jenaischen Studenten aber (32 Wagen voll) riefen, nachdem der Vorhang gefallen war, im Hause selbst dem Dichter ein Vivat! welches von dem Herrn Doctor Schütz aus Jena, einem Sohne des berühmten Hofraths Schütz, ange‐ stimmt wurde. - Die Chöre sind vielleicht das Sublimste, was wir in unserer Sprache im Lyrischen besitzen. Eine andere Frage ist: ob sie auf unsere Bühne gehören.“ 8 Die Urteile und Meinungen der Zeitgenossen fielen also geteilt aus. In einem anderen Brief schreibt Henriette von Knebel: „Es hat schöne Stellen, ist aber doch, nach meinem Gaumen, etwas trocken. Es war mir wie eine sehr tragische Geschichte mit Bemerkungen über das Schicksal, und ich konnte mich immer nicht drin finden, daß es dramatisch ist. Auch dünkt mich, gelingt Schiller nur allein das Tragische, die leichtern und hellern Farben sind fade. Doch ist das mein eigenes und stilles Urtheil. Vielleicht schmeckt es mir auch besser, wenn ich das Stück einmal für mich lesen kann. Ich fange auch beinah an, mich für das Tadeln zu fürchten, weil man es jetzt in groben und widrigen Tönen so oft hören muß.“ 9 Ein vernichtendes Urteil sprach Clemens Brentano über die Braut von Messina aus. An Achim von Arnim schreibt er im August 1803: „Die Braut von Messina aber ist mir ein erbärmliches Machwerk, langweilig, bisarr und lächerlich durch und durch. Der äußerst steife Chor macht eine Wirkung wie in katholischen 170 8. Die Braut von Messina (1803) 10 Achim von Arnim und Clemens Brentano, bearbeitet v. Reinhold Steig. Stuttgart 1894, S. 97. 11 Aus Karl Ludwig von Knebels Briefwechsel, S. 166. Kirchen die Repetition des halben Vaterunsers von der Gemeinde.“ 10 Zustim‐ mung erfuhr Schiller vor allem von den Freunden Körner und Humboldt. So schreibt Körner an Schiller am 18. Februar 1803: „Nur ein Paar Zeilen heute über den ersten Eindruck Deines neuen Werks. Gestern Abends kam es, und noch hab’ ich es kaum 2mal gelesen. / / Es hat einen hohen Rang däucht mich unter Deinen Produkten. Mir ist kein modernes Werk bekannt, worin man den Geist der Antike in einem solchen Grade fände. Der Stoff geht ganz unter in der Hoheit und Pracht der poetischen Form. Aber ein solches Gedicht wird nur mit unbefangener Seele und im gesundesten kraftvollsten Zustand des Geistes genoßen. Rechne hier nicht auf lärmenden Beyfall der jetztlebenden Menge, aber auf dauernden Ruhm bey ächten Kunstfreunden der künftigen Geschlechter.“ (NA 40/ 1, S. 22) Und Wilhelm von Humboldt äußert sich am 22. Oktober 1803 brieflich an Schiller: „Ueber die Höhe, in der Sie Ihr Stück gehalten haben, geht nichts. Das Hohe Künstlerische daran, die reine Kunstform werden nur wenige fühlen, aber der Schwung der Gedanken, die Erhabenheit der lyrischen Parthieen, dies innige Verweben Ihres Stoffs in alle größten Ideen aller Zeiten kann niemand entgehn, selbst die Einfachheit der Behandlung wenigstens muß vielen fühlbar seyn.“ (NA 40/ 1, S. 138) Das Urteil darüber, wie Schillers Braut von Messina zu bewerten ist, war also schon bei den Zeitgenossen geteilt. Keineswegs einheitlich sind die Rezeptions‐ zeugnisse, von den veröffentlichten Besprechungen der Aufführungen und Buchausgaben bis hin zur privaten Korrespondenz. Und keineswegs einhellig war der zeitgenössisch herrschende Geschmack, denn Schiller bediente mit seinen klassischen Dramen nur ein kleines Publikum. Vielleicht hat Henriette von Knebel das ausgesprochen, was viele dachten. An ihren Bruder Karl Ludwig Knebel schrieb sie am 18. März 1803 über die bevorstehende Aufführung der Braut von Messina: „Morgen sollen wir das schwere Trauerspiel sehen. Ich kann mich unmöglich freuen, da mich die langen Reden und die gewichtigen Worte auf der Bühne ermüden. Wenn ich nur ein rechter Tyrann wäre, und es verbieten könnte, daß jemals ein schillersches Trauerspiel gegeben würde! “ 11 Missver‐ standen wurde die Braut von Messina wie das klassische Dramenwerk Schillers insgesamt schon zu seinen Lebzeiten. Schiller wurde für zitierfähig gehalten, er wurde zum Klassiker geadelt und den Rest besorgten Bildungsbürger und poli‐ tische Konstellationen im 19. Jahrhundert, die dem Dichter, seinem Werk wie 171 8. Die Braut von Messina (1803) 12 Vgl. Rolf-Peter Janz: Antike und Moderne in Schillers Braut von Messina, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hgg. v. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 323. 13 Vgl. Karl S. Guthke: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 1994, S. 263. der Weimarer Klassik insgesamt, die Fähigkeit zur Bildung einer deutschen Na‐ tionalidentität unterschoben. Schillers Braut von Messina ist ein doppeltes Experiment, einmal formal, indem es den Anschluss an Gesetzmäßigkeiten der antiken griechischen Tragödie sucht, und inhaltlich, indem es ein Höchstmaß an Wirkung, an affektiver Zu‐ stimmung des Lese- und Zuschauerpublikums zu erzielen versucht. Die Absicht des Autors und sein nicht geringer Anspruch ist, eine echte moderne Tragödie im Rückgriff auf die Antike zu schaffen. Der endgültige Titel Die Braut von Mes‐ sina taucht erst in einem Brief an Körner vom 9. September 1802 auf („die feind‐ lichen Brüder oder, wie ich es taufen werde, die Braut von Meßina“; NA 31, S. 159). Vermutlich in dieser Zeit hat Schiller auch mit der Niederschrift der Tra‐ gödie begonnen. Am 1. Februar 1803 schließlich war die Arbeit am Stück be‐ endet. Die vorangestellte Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tra‐ gödie entstand in den Monaten Mai und Juni 1803. Schiller war entgegen seiner ursprünglichen Absicht, den Chor kollektiv - wie Schiller es nennt als „ideale Person“ - sprechen zu lassen, an den Grenzen der Schauspiel- und Theaterpraxis seiner Zeit gescheitert und hatte die Chorpartien in individuelle Sprecher auf‐ geteilt. Moderne Deutungen entmythologisieren und entmystifizieren das Schick‐ salsmotiv im Stück als Triebschicksal und Gewaltzusammenhang, 12 womit in erster Linie die triebbedingte Determinierung des menschlichen Handelns he‐ rausgestellt wird. Konsequent wird die Braut von Messina unter diesem Blick nicht als Schicksalsdrama, sondern als Charakterdrama gelesen. Ob diese Ver‐ schmelzung von Sophokles und Shakespeare (von Schicksalsdrama und Cha‐ rakterdrama), wie es gelegentlich formuliert wird, dem Verständnis des Textes weiterhilft, wird allerdings nachhaltig bestritten. 13 Das formal Neue empfindet Schiller als Herausforderung, er sucht die Annä‐ herung an die Muster der antiken Tragödie (vgl. etwa den Brief vom 9. Sep‐ tember 1802 an Körner), er spricht gar von einer „äschyleischen Tragödie“, die er konzipiere. Die Braut von Messina kündigt Schiller schließlich als eine Tra‐ gödie „im Stil der antiken Stücke“ (Brief an Wilhelm und Christophine Reinwald vom 7. Januar 1803; NA 32, S. 4) an. Damit hatte er selbst für die späteren Kom‐ mentatoren und Interpreten eine Spur gelegt, die bis in die Gegenwart hinein konsequent verfolgt wurde. Und es stellt sich die Frage, ob die Braut von Messina 172 8. Die Braut von Messina (1803) 14 Florian Prader: Schiller und Sophokles. Zürich 1954, S. 94. 15 Wolfgang Albrecht: „Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks“: Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder, in: Schiller. Das dramatische Werk in Einzelinter‐ pretationen. Hgg. v. Hans-Dietrich Dahnke u. Bernd Leistner. Leipzig 1982, S. 218-247, hier S. 243. 16 Vgl. Gerhard Kluge: Die Braut von Messina, in: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hgg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1979, S. 242-270, hier S. 247. wirklich nicht mehr ist als ein „grossartiges Zeugnis für den antikisierenden Kunstwillen der deutschen Klassik“? 14 Gewiss, Schiller selbst weist in die Antike zurück, er erhebt selbst den Anspruch, mit Sophokles konkurrieren und ein Stück in antikem Geist schreiben zu wollen. Das ist die eine Seite. Insofern ist es auch legitim, die Frage nach dem Verhältnis von Schillers Drama zum antiken Drama zu stellen. Dies läuft letztlich auf die nicht von allen Interpreten einge‐ standene Frage hinaus: Wie zeitgemäß ist Schillers Braut von Messina heute, wie zeitgemäß war sie 1803? War das Stück jemals als „eine Art poetisches Hilfs- oder Erziehungsmittel zur Lebensmeisterung“ 15 zu verstehen und taugt es dazu heute noch? Diese Fragen sind berechtigt, denn die Braut von Messina ist, das sollte bei aller werkimmanenten Betrachtung nicht übersehen werden, auch ein Stück, das gegen die Literatur um 1800 geschrieben wurde. Klassik bedeutet so verstanden Kritik an der zeitgenössischen Literatur, in erster Linie an der Lite‐ ratur der Spätaufklärung und der Romantiker. Die Braut von Messina ist mehr als ein modernes Lehrstück für Schillers vermeintlich oder tatsächlich antiki‐ sierende Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Schillers Freiheit der formalen Entscheidung, sein Rückgriff auf antike Muster wird zum wesentlichen Be‐ standteil seiner Werkpoetik. 16 Wie sich Schiller die Gestaltung des Chors dachte, geht aus zwei Briefen hervor. An den Schauspieler und Theaterdichter August Wilhelm Iffland schreibt er am 24. Februar 1803: „Hier bringe ich Ihnen endlich wieder etwas Neues und wünsche, daß es Ihnen Ver‐ gnügen machen möge. Es ist nach der Strenge der alten Tragödie gemacht, eine ein‐ fache Handlung, wenig Personen, wenig Ortveränderung, eine einfache Zeit von einem Tag und einer Nacht, vornehmlich aber der Gebrauch des Chors, so wie er in der alten Tragödie vorkommt; auf ihn ist die Hauptwirkung der Tragödie berechnet. Die Darstellung wird nicht schwer seyn, da die Reden des Chors nicht mit Musik begleitet werden, ein etwas feierlicherer und pathetischerer Vortrag der lyrischen Stellen, eine belebte Aktion auch bei denen, welche nicht selbst reden, und eine mög‐ lichst symmetrische Disposition der Figuren möchte das wesentlichste seyn.“ (NA 32, S. 15) 173 8. Die Braut von Messina (1803) Körner hatte an Schiller am 28. Februar 1803 über den Chor geschrieben: „Durch Dein neues Werk ist mir zuerst recht anschaulich geworden, wie viel die dra‐ matische Darstellung durch den Chor gewinnt. Es gehört zur Würde der Handlung, daß der Einzelne von einer Gruppe theilnehmender Menschen umgeben wird. Mah‐ lerey und Musik kennen die Vortheile solcher Gruppen sehr gut, aber die moderne dramatische Poesie stellt ihre HauptPersonen in den wichtigsten Momenten einem unbedeutenden Vertrauten gegenüber. Du hast Dich nicht begnügt Deinem Chor eine untergeordnete Rolle zu geben. Er wird in einigen Momenten selbst handelnd. Auch gewinnt Dein Gemählde an Reichthum durch die Verschiedenheit des Charakters in beyden Chören.“ (NA 40/ 1, S. 26f.) Und im Brief an Körner vom 10. März 1803 antwortete Schiller darauf sehr aus‐ führlich: „Was Du über mein Werk schreibst mußte mich sehr freuen, weil ich gerade das hinein legen wollte, was Du Dir aus dem Werke heraus nahmst. Wegen des Chors bemerke ich noch, daß ich in ihm einen doppelten Charakter darzustellen hatte, einen allgemein menschlichen nehmlich, wenn er sich im Zustand der ruhigen Reflexion befindet, und einen specifischen wenn er in Leidenschaft geräth und zur handelnden Person wird. In der ersten Qualität ist er gleichsam außer dem Stück und bezieht sich also mehr auf den Zuschauer. Er hat, als solcher, eine Ueberlegenheit über die handelnden Personen, aber bloß diejenige, welche der ruhige über den paßionierten hat, er steht am sichern Ufer, wenn das Schiff mit den Wellen kämpft. In der zweiten Qualität, als selbsthan‐ delnde Person, soll er die ganze Blindheit, Beschränktheit, dumpfe Leidenschaftlich‐ keit der Masse darstellen, und so hilft er die Hauptfiguren herausheben. Das Ideenkostüme, das ich mir erlaubte, hat dadurch seine Rechtfertigung, daß die Handlung nach Messina versezt ist, wo sich Christenthum, Griechische Mythologie und Mahomedanismus wirklich begegnet und vermischt haben. Das Christenthum war zwar die Basis und die herrschende Religion, aber das griechische Fabelwesen wirkte noch in der Sprache, in den alten Denkmälern, in dem Anblick der Städte selbst, welche von Griechen gegründet waren, lebendig fort; und der Mährchenglaube so wie das Zauberwesen schloß sich an die Maurische Religion an. Die Vermischung dieser drey Mythologien, die sonst den Charakter aufheben würde, wird also hier selbst zum Charakter. Auch ist sie vorzüglich in den Chor gelegt, welcher einheimisch und ein lebendiges Gefäß der Tradition ist.“ (NA 32, S. 19f.) Die strikte Einhaltung der sogenannten aristotelischen Einheiten, der Verzicht auf eine Akt- und Szenenaufteilung, das knappe Figurenensemble von nur fünf handelnden Figuren, die Begrenzung der Handlungsdauer auf ein Minimum, die symmetrisch angelegten Ortsveränderungen, die kommentierende Begleitung 174 8. Die Braut von Messina (1803) 17 Vgl. dazu Prader: Schiller und Sophokles, S. 56ff. der Handlung durch den Chor, die metrische Strenge - all das sind Elemente, welche Schillers Rückgriff auf antike Muster deutlich hervorheben, die formale „Strenge der alten Tragödie“ (Brief an Iffland vom 24. Februar 1803; NA 32, S. 15) ist erfüllt. 17 Aber sie genügen nicht, den Beweis zu erbringen, Schiller habe ein ‚modernes‘ antikes Drama geschrieben oder zumindest schreiben wollen und dem Stück damit die Zeitbezüge abzusprechen. So gesehen ist Schillers „Tragödie in strenger Form“ (NA 32, S. 11), wie Schiller selbst die Braut von Messina in einem Brief vom 17. Februar 1803 an Wilhelm von Humboldt genannt hatte, ein minimalistisches Klassikdrama. Zugleich entwickelt das Stück einen Diskurs über politische Verantwortung und politisches Handeln, der unter‐ streicht, dass ‚die moderne gemeine Welt‘ das Private öffentlich macht und po‐ litisches Handeln in die Legitimation ‚öffentlichen Leidens‘ zwingt. Die Braut von Messina unterliegt zwar der strengen Einhaltung jener klassischen drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung. Die Hauptwirkung aber geht für Schiller vom Chor aus (vgl. Brief an Iffland, 24. Februar 1803). Der Chor ist charakterisiert durch eine auffällige und auf den ersten Blick nicht zu vermit‐ telnde Ambivalenz (vgl. zur Bedeutung des Chors Schillers Vorrede Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie). Einmal soll er das allgemein Menschliche darstellen und als Organ der „ruhigen Reflexion“ (Brief an Körner vom 10. März 1803; NA 32, S. 19) dienen. Zum anderen soll er einen spezifischen, individuellen Charakter annehmen, wenn er in Leidenschaft gerät und selbst agierende Person, eine Art dramatischer Kollektivsingular, wird. Durch diese Ambivalenz sichert Schiller dem Chor eine dramaturgische Überlegenheit, die wiederum dazu dient, die Hauptfiguren des Stücks deutlicher zu profilieren. Soweit Schil‐ lers Absichten. Doch die Bühnenwirklichkeit seiner Zeit nötigte Schiller, dieses Konzept im Einzelfall zu verlassen. Schon zeitgenössische Kritiker wie z.B. E.T.A. Hoffmann beklagten die bloß pathetische Rezitation ohne Gesang. Am 13. März 1803 schrieb Schiller an Cotta, die Inszenierung in Stuttgart betreffend, über den Chor: „Ich habe ihn nehmlich in specifische Personen aufgelößt und diesen ei‐ gene Nahmen gegeben, damit man sie ordentlich austheilen kann. Die Reden werden bloß mit einer pathetischen Declamation recitiert, nicht gesungen noch mit Musik begleitet.“ (NA 32, S. 23) Schiller löste für die Stuttgarter Inszenierung den Chor als einzelne dramatis persona denn auch auf und ordnete einzelnen Versen individuelle Namen zu. In der modernen Tragödie wird der Chor zu einem „Kunstorgan“ (FA 5, S. 286), das Poesie erst hervorbringt, er hilft dem Dichter, „die moderne gemeine Welt in die alte poetische“ (FA 5, S. 286) zu verwandeln. Diese Modernität cha‐ 175 8. Die Braut von Messina (1803) 18 Vgl. Joachim Müller: Choreographische Strategie. Zur Funktion der Chöre in Schillers Tragödie Die Braut von Messina, in: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Hgg. v. Helmut Brandt. Berlin, Weimar 1987, S. 431-448, hier S. 433. 19 Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem, was der Text als Chormodell anbietet und dem, was zeitgenössisch in der Theaterpraxis möglich war. Anders Peter-André Alt: Die Griechen transformieren. Schillers moderne Konstruktion der Antike, in: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hgg. v. Walter Hinderer. Würzburg 2006, S. 339-363, bes. S. 361. rakterisiert Schiller mit fünf politischen Merkmalen wie dem Verzicht auf mo‐ narchische Regierungsformen, dem Wandel von Öffentlichkeit zu Privatheit - zivilisationstheoretisch betrachtet entspricht dies einer zunehmenden Intimi‐ sierung der Gesellschaft -, einer Alphabetisierung der Gesellschaft, Demokratie als Staatsform und einer Privatheitstendenz von Religiosität anstelle öffentlicher religiöser Praxis. Dem Dichter weist Schiller nun die Aufgabe zu, diesen Prozess im Kunstwerk rückgängig zu machen, um „die Höchste der Formen, die mensch‐ liche“ (FA 5, S. 287) sichtbar zu machen. Damit wird Literatur bei Schiller wie schon zuvor in seinen anderen Stücken zutiefst anthropologisch ausgerichtet. Die tragischen Personen auf der Bühne werden von ihm demzufolge nicht als wirkliche Wesen begriffen, sondern als Repräsentanten der „Tiefe der Mensch‐ heit“, eben als „ideale Personen“ (FA 5, S. 290). Insofern ist der Chor tatsächlich gespalten und parteiisch von Schiller angelegt. 18 Denn auf die Kraft der Refle‐ xion zu vertrauen heißt hier, Partei zu ergreifen, Stellung zu beziehen - bis hin zum buchstäblichen Sinn. Noch am Ende des Stücks in jenem Schlussvers, der den Schuldbegriff nochmals bleibend reaktiviert und beinahe schon zum geflü‐ gelten Wort geworden ist, findet sich die entschiedene Absage an einen antik verstandenen Schicksalsglauben: „Der Übel größtes aber ist die Schuld“ (V. 2839). Kein übermächtiges Schicksal wird mehr beschworen, sondern schuldvolle menschliche Verstrickung beklagt, ein nach wie vor aktuelles, nicht nur politi‐ sches Thema. Die Handlungen und Schicksale der Helden und Könige, schreibt Schiller in der Vorrede zur Braut von Messina, seien je schon öffentlich, der Chor unter‐ streicht also diesen Öffentlichkeitsstatus. 19 Donna Isabella regiert als Witwe und Fürstin den Stadtstaat Messina, ihre Söhne, der Erstgeborene Don Manuel und sein Zwillingsbruder Don Cesar, sind zu Beginn des Stücks bis aufs Blut ver‐ feindet. Insofern beschwört das Stück anfangs ein Matriarchat, das kritiklos den verstorbenen Herrscher glorifiziert. Die Tochter und Schwester Beatrice gilt als verstorben, doch werden die Leser schon frühzeitig ins Bild gesetzt, dass diese Person als nicht entdeckte Schwester der beiden Brüder maßgeblich zur Schür‐ zung des dramatischen Knotens beitragen wird. Neben diesen vier Personen 176 8. Die Braut von Messina (1803) gewinnt noch der Chor zentrale Bedeutung. Dieser Figurenminimalismus, den Schiller möglicherweise auch als ein Gegengewicht zu den überbordenden Fi‐ gurenensembles der Wallenstein-Trilogie konzipiert hatte, drückt sich ebenso in der sparsamen Handlungsführung aus, die ohne Effekthascherei und ohne Ak‐ tionismus auskommt und sich vollständig auf das gesprochene Wort konzent‐ riert. Insofern ist die Braut von Messina ein Wortdrama höchster Prägnanz. Dem muss nicht widersprechen, dass Schiller in der Vorrede zum Stück gerade den ganzheitlichen Aspekt seines Dramas betont, das tragische Kunstwerk werde erst durch die Theatervorstellung mit Musik und Tanz „zu einem Ganzen“ (FA 5, S. 281). Die Fürstin Isabella begründet nun ihren monologischen Schritt in die Öffent‐ lichkeit. Nicht aus freien Stücken rede sie zum Ältestenrat, der im Übrigen stumm bleibt, sondern die Not der Situation zwinge sie. Halsstarrigkeit und Un‐ einsichtigkeit kennzeichnen auch diese Person von Beginn an, denn immerhin hatte ihr der Rat vorgehalten, was kümmere ihn „der Zank / Der Herrscher“ (V. 69f.). Donna Isabella wirft dem Rat ihrerseits vor, nur „das öffentliche Leiden“ (V. 60) des Bruderkonflikts, nicht aber ihr persönliches Leid anzuerkennen. An diesem Tag möchte sie eine stabile Versöhnung der Kontrahenten herbeiführen und reklamiert gegenüber dem Rat die Autorität der Mutter. Ihn erinnert sie an die Pflicht der Untertanen, ehrfurchtsvoll zu sein. Und sie droht unverhohlen dem Rat, ihre Söhne seien, einmal vereint, stark genug, sich Recht zu verschaffen „gegen Euch! “ (V. 100) Diese Expositionsszene ordnet also alle Personen des Stücks nach den Gesetzen der Macht. Damit wird deutlich, dass alles, was nun im Stück gesprochen wird, politisch indiziert ist, das Private wird öffentlich. Donna Isabella schickt einen Diener los, um die Tochter Beatrice aus dem Kloster zu holen. Die Brüder sollen erstmals von der Existenz ihrer Schwester erfahren. Der Chor teilt sich in zwei verschiedene Gruppen von Rittern, die jeweils die Anhänger eines Sohnes bilden. Auch sie erkennen, wie der Ältestenrat, dass sie von den Herrschenden lediglich zu deren Machterhalt funktionalisiert werden, sie begreifen sich selbst als „Sklaven“ (V. 222) und wissen: „Ungleich verteilt sind des Lebens Güter / Unter der Menschen flüchtgem Geschlecht“ (V. 228f.). Doch anstatt daraus dramaturgisches Kapital zu schlagen, bleiben die Chorfiguren bei dem Bekenntnis stehen, dass sie gehorchen müssen. Die vom Chor aufgewor‐ fene Alternative Krieg oder Frieden erweist sich jetzt zwar als eine rhetorisch beschworene Frage, doch schon wenig später ist sie von der Wirklichkeit des Geschehens überholt, ist es doch einer aus dem Chor, der von der Ehre des Kriegs sprechen und ihn als den „Beweger des Menschengeschicks“ (V. 880) bezeichnen wird. Bei diesen Worten mag eine Formulierung aus Kants Kritik der Urteilskraft (1790) im Raum gestanden haben, in der es im § 28 heißt: „Selbst der Krieg, wenn 177 8. Die Braut von Messina (1803) 20 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hgg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, Werkausgabe Bd. 10, S. 187. er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich, und macht zugleich die Denkungsart des Volks, wel‐ ches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behaupten können […]“. 20 Die Ebene des privaten Konflikts um öffentliche Macht - denn beide Brüder erheben glei‐ chermaßen den Anspruch auf die Macht - wird konterkariert durch das Lie‐ besthema. Dieses genuin private Thema wird dadurch öffentlich und somit Merkmal politischen Handelns der Fürstenfamilie, dass Don Manuel als Macht‐ repräsentant liebt, also die Leerstelle öffentlicher Repräsentanz von Macht be‐ setzen will. Beatrice würde als seine Frau zukünftige First Lady von Messina. Nach einer kurzzeitigen Versöhnung wird die Nachricht überbracht, dass jene Frau gefunden worden sei, die Don Cesar bereits flüchtig kennengelernt hatte und zu der er in heftiger Liebe entbrannt ist. Noch weiß er nicht, dass es sich bei dieser Frau um die vermisste Schwester handelt. Zeitgleich entwickelt Don Manuel seine Glücksphantasie. Auch er ist einer Frau begegnet, die er zur Fürstin von Messina erheben will, und die sich später als eben jene Schwester Beatrice herausstellen wird. Im Dialog mit dem Chor entfaltet Don Manuel nun auch für den Zuschauer und Leser die Vorgeschichte. Dieser Handlungsstrang wird damit abgeschlossen, dass der Chor das düstere Ende mit den Worten „[…] und es endet nicht gut“ (V. 970) beschwört. Anstelle einer Säulenhalle mit einer Kapelle im Hintergrund wird die Szene in einen Garten verwandelt. Dies entspricht einem Perspektivenwechsel des Stücks, der Verlagerung von Innen nach Außen. Beatrice, die verborgen ge‐ haltene Schwester der Brüder, steht im Mittelpunkt, die noch nicht in diese schwer belastete Familie aufgenommen und auch im Stück noch nicht zu Wort gekommen ist. Sie wartet auf ihren Geliebten, mit dem sie übers Meer fliehen will und dessen wahre Identität sie noch nicht kennt. Das Spiel mit Identitäten, worin auch Beatrice selbst eine aktive Rolle einnimmt, dient Schiller der wei‐ teren Komplexitätssteigerung des tragischen Geschehens. Hat eben noch der Chor ein düsteres Ende prophezeit, so schwelgt Beatrice nun im deutlichen Kontrast dazu im Liebesglück. Sie erwartet Don Manuel - und trifft auf Don Cesar. Dieser erwirbt sie im Habitus patriarchal-aristokratischer Macht als sym‐ bolisches Kapital, dessen Herkunft und Identität ihn nicht interessieren, da der Gebrauchswert vom Augenblick abhängt. Ohne dass Beatrice auch nur ein Wort sprechen konnte, verkündet Don Cesar seinen Entschluss, sie heiraten zu wollen. Er wird später bekennen, dass er nur seine Mutter wie ein „Götterbild“ 178 8. Die Braut von Messina (1803) (V. 1486) verehre und auf die Reden der Frauen nichts gebe. Beatricens Gefühls‐ lage in dieser Szene lässt sich nur aus den Regieanweisungen rekonstruieren, diese aber verdichten die tragische Dramatik. Während Don Cesar ihre Hand ergreift und nicht etwa nur hält, zittert sie, wendet sich ab, erschrickt und schaudert zurück (vgl. V. 1114-1173). Die Brüder erfahren von ihrer Mutter, dass sie noch eine Schwester haben, die bislang im Verborgenen lebte, da sie eines unheilvollen Orakelspruchs wegen hätte nach der Geburt getötet werden sollen, dies aber die Mutter gegen den Willen des Vaters verhindert hatte. Die Brüder beschließen, ihre Schwester zu finden. Damit ist die Überleitung zum nächsten Abschnitt des Dramas geschaffen. Die beiden Chöre treten einander feindlich und aggressiv gesinnt gegenüber. In einer eindrucksvollen Stichomythie, also einer Wechselrede, vollziehen sie im symbolischen Vorgriff das, was sich nun wieder zwischen den Brüdern ereignen wird, nämlich die jähe Entfremdung und die offene Aggression. Die Suche nach dem privaten Glück und der Griff nach der Herrschaft stehen über dem Schutz des Gemeinwohls. Der Chor ruft zur Gewalt auf und gibt damit die Handlungsoption der Brüder vor. Don Manuel und Beatrice finden sich, und Beatrice muss entdecken, dass der Geliebte ihr Bruder ist. Nun tritt, in einer ungeheuren dramatischen Be‐ schleunigung, auch Don Cesar auf und als er seinen Bruder mit der vermeint‐ lichen eigenen Braut entdeckt, ersticht er den brüderlichen Rivalen kurzerhand (vgl. V. 1903). Dies mag als eine Tat im Affekt erscheinen, denn Don Cesar han‐ delt aus niederstem Beweggrund, nämlich aus Neid. So wie sein Bruder kann auch er nicht anders als dem Naturtrieb gehorchen. Die beiden Chöre nehmen die Tat des Brudermords zum Anlass, ihre Zwietracht zu begraben und sich zu einem großen Chor mit differenten Stimmen zu vereinen, doch wird auch diese geballte Macht nur genutzt, um die bestehende Macht der Fürstenfamilie zu schützen. Die nachdenkliche Stimme aus dem Chor: „Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, / Die der Mensch, der vergängliche, baut? “ (V. 1961f., ähnlich auch V. 1970ff.), bleibt ungehört. Don Cesar ist bis zuletzt insofern uneinsichtig, als er seine Liebe als Schuld und Ursache des tragischen Brudermords deklariert. Erst in den Schlussversen wird er einsehen, dass die eigentliche Ursache für den Bruderkonflikt und die Affektstruktur seines Handelns eben sein Neid war: „Wut und Neid“ (V. 2534), und: „Der Neid vergiftete mein Leben“ (V. 2727) - das sind die Motive seines politischen Handelns, selbst auf den leblosen Körper seines ermordeten Bruders blickt er noch neidvoll, da Beatrice um den verlo‐ renen Geliebten trauert, und sie muss fassungslos die Frage stellen: „Beneidest du des Bruders toten Staub? “ (V. 2812) Don Cesar bringt sich zur Sühnung seines Verbrechens selbst um, und der Chor beendet die Tragödie mit der Bemerkung: „Der Übel größtes aber ist die Schuld“ (V. 2839). Der Selbstmord Don Cesars wird 179 8. Die Braut von Messina (1803) 21 Vgl. zum Folgenden Prader: Schiller und Sophokles, S. 87. 22 Prader: Schiller und Sophokles, S. 90. von Schiller auch ausdrücklich als Gegenpunkt zum klassischen griechischen Drama gesetzt. In dem Essay Über die tragische Kunst (1792) hatte er schon ge‐ schrieben: „[...] so ist eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal immer demütigend und kränkend für freie sich selbst bestimmende Wesen. Dies ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der Griechischen Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen diesen Stücken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wird, und für unsre Vernunftfodernde Vernunft immer ein unaufge‐ löster Knoten zurück bleibt.“ (FA 8, S. 261) Der dem griechischen Drama ur‐ sprünglich eignende Götterfluch, aus dem heraus sich die tragische Entwicklung vollzieht, wird in der Braut von Messina gleichsam nach innen gewendet und erfährt innerhalb des öffentlichen Raums politischen Handelns eine familiale Ausrichtung. Die Fürstenfamilie entwickelt die tragische Situation und vollzieht die Katastrophe, weil ihre einzelnen Mitglieder nur nach Vorgabe ihrer Cha‐ raktereigenschaften oder nach Maßgabe ihres (Macht-) Begehrens handeln. Dies wird besonders deutlich in der unterschiedlichen Bewertung der tragischen Ereignisse. Während die Mutter Isabella den Glauben an eine mythische Schick‐ salsgewalt mit den Worten wachruft: „Wann endlich wird der alte Fluch sich lösen, / Der über diesem Hause lastend ruht? “ (V. 1695), erkennt ihr Sohn Don Cesar seine Liebe zu Beatrice als eigentliche Schuldursache. Der Chor dient Schiller als zentrales Instrument zum Ausgleich der evozierten Affekte der Figuren wie der Zuschauer. Im Unterschied zum antiken Drama motiviert Schiller seinen Chor aber anders. 21 In der Antike vertritt der Chor die Öffentlichkeit; er sorgt sich um die Wohlfahrt des Staatswesens und vor ihm müssen sich im Sinne einer moralischen Instanz die Menschen verantworten. Sein Urteil, sei es Mitleid oder sei es Tadel, ist allgemein und verbindlich, der Chor besitzt kein individuelles Profil. Bei Schiller wird der Chor zum Vertrauten und durch seinen doppelten Charakter zum „Widerspruch in sich selber“, 22 der seiner, im antiken Drama verbürgten Wirkung beraubt wird. Dieser doppelte Charakter ist freilich auch Kennzeichen des gesamten Stücks, es lässt sich nicht auf eine einsinnige Deutung hin festlegen. So erscheint beispielsweise Don Cesar weder bloß als Idealist noch bloß als Realist. Seine Person ist vielmehr gekennzeichnet durch beide Anschauungs- und Verhaltensweisen. Dies schließt die große sittliche Läuterung ebenso mit ein, wie sie deren Widerruf in seinen menschlichen Schwächen nicht ausschließt. Diese Doppelnatur des Menschen ist, das wäre ein Ergebnis des Dramas, auch durch die Kraft der pathetischen Reflexion nicht zu beseitigen. 180 8. Die Braut von Messina (1803) 23 Friedrich Sengle: Die Braut von Messina, in: Schiller. Zur Theorie und Praxis der Dramen. Hgg. v. Klaus L. Berghahn und Reinhold Grimm. Darmstadt 1972, S. 249-273, hier S. 271. 24 Vgl. Sengle: Die Braut von Messina, S. 269. 25 Vgl. Johannes Endres: Nathan, entzaubert. Kontinuität und Diskontinuität der Aufklä‐ rung in Schillers Die Braut von Messina, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2000), S. 164-188. Auch wenn die zitierten zeitgenössischen Urteile über die Aufführung der Braut von Messina von der damaligen Aufführungspraxis mit dem Hang ins Opern‐ hafte und Pompöse beeinflusst sind, so gilt doch der klassische Schiller auch heute noch als sperrig, der Popularität des Wilhelm Tell steht die Unkenntnis der Braut von Messina diametral gegenüber. Deshalb hat die inzwischen selbst klassisch gewordene Warnung vor einem wie auch immer gearteten „Literatur‐ pietismus“ 23 nichts von ihrer Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit verloren. Die Absage an eine ideengeschichtliche oder religionsgeschichtliche Interpretation des Stücks überzeugt noch heute. Die Mutlosigkeit der nachrevolutionären Jahre des ausgehenden 18. Jahrhunderts mündet in das Konzept einer strengen Schick‐ salstragödie eines Friedrich Ludwig Zacharias Werner (Der vierundzwanzigste Februar), Adolph Müllner (Der neunundzwanzigste Februar) oder Franz Grill‐ parzer (Die Ahnfrau). 24 Betrachtet man Die Braut von Messina in diesem litera‐ turgeschichtlichen Licht, dann wird das Stück zu einem Weltschmerzdokument, und ob sich darin die Deutbarkeit und das heißt die Bedeutung des Textes er‐ schöpft, scheint eher zweifelhaft. 25 Diese politische Seite des Stücks, wonach auch politisches Handeln einer triebbedingten Determinierung unterliegt, ist bislang nicht genügend in den Blick genommen worden. Einen unkomplizierten Zugang zu dem durch den nationalen und nationalis‐ tischen Missbrauch des 19. und 20. Jahrhunderts verstellten Klassiker Friedrich Schiller zu finden, die Klassik-Legende zu entmythologisieren und den ideolo‐ giefreien Umgang einzuüben heißt aber, jene Voraussetzungen anzuerkennen, welche Schiller selbst als ästhetische Intentionen seiner Dramen formuliert hat. In Schillers klassischen Dramen Weltflucht und Berührungsscheu vor dem zeit‐ genössischen Publikum zu sehen, ist eine Möglichkeit. Eine andere Lesart aber ist es, darin die konsequente Weigerung anzuerkennen, das eigene poetische Schaffen dem Zeitgeschmack und dem Diktat der Kulturindustrie unterzu‐ ordnen. Die Weimarer Klassik kann so als einer der letzten Versuche gelten, den ethischen Auftrag von Dichtung, die Suche nach einem besseren Menschen, zu bewahren. 181 8. Die Braut von Messina (1803) 1 Vgl. die Faksimileausgabe: Zum 9. Mai 1905. Die Huldigung der Künste, Demetrius: Marfa’s Monolog, Der Epilog zu Schillers Glocke in handschriftlicher Gestalt mit einer Einleitung hgg. v. Bernhard Suphan. Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 20. Weimar 1905. 9. Die Huldigung der Künste (1805) Von Schillers Dramolett Die Huldigung der Künste mit dem Untertitel Ein lyri‐ sches Spiel ist eine eigenhändige Reinschrift des Autors erhalten geblieben, die er am 12. November 1804 durch seinen Schwager Wilhelm von Wolzogen der Erbprinzessin und russischen Zarentochter Maria Paulowna (1786-1859) über‐ reichen ließ. Anlass für dieses Geschenk war deren Vermählung mit dem Wei‐ marer Erbprinzen Karl Friedrich. Von den Weimarer Klassikern Goethe und Schiller wurde für diesen Festakt entsprechende Huldigungspoesie in der Tra‐ dition der Kasuallyrik erwartet. Beide lehnten zunächst das Ansinnen ab, dann aber „wurde Goethen Angst, daß er allein sich auf nichts versehen habe und die ganze Welt erwartete etwas von uns“ (NA 32, S. 170). So wurde Schiller unter Druck gesetzt, etwas Dramatisches zu Papier zu bringen. Unter dem Datum vom 4. November 1804 findet sich in Schillers Kalender der Eintrag „an den Prolog gegangen“ (NA 41/ 1, S. 249), vier Tage später ist dieser Prolog, womit Die Hul‐ digung der Künste gemeint ist, fertig. Am 9. November 1804 heißt es im Ka‐ lender: „Einzug der Erbprinzeßin. Präsentation.“ (NA 41/ 1, S. 249) Am 12. No‐ vember 1804 schickt Schiller seinem Schwager das Manuskript und abends wird das Dramolett in Weimar bereits uraufgeführt. Nur noch ein Mal wird es in der Folge wieder gespielt, am 9. November 1854 zum 50. Jahrestag. Überliefert sind Berichte von der Aufführung des Stücks. So heißt es im Journal des Luxus und der Moden im November 1804: „Heute begrüßte das Theater im festlichem Spiele die hohen Angekommenen. Doppelt genußreich war der Abend, da wir Hrn. Hofrath von Schiller die Weihe des Tages verdankten, der in einem sinnreich-al‐ legorischen Vorspiele Kränze poetischer Immortellen dem Durchlauchtigen Paare reichte“ (FA 5, S. 861). Auch die Zeitung für die elegante Welt und Der Freymüthige oder Ernst und Scherz berichteten von der Aufführung. Im Druck erschien es 1805. 1 Die Absicht Schillers, das Dramolett an erster Stelle im ersten Band seiner gesammelten Stücke abzudrucken, wurde als Indiz dafür gewertet, dass die Huldigung der Künste mehr sein müsse als eine bloße Gelegenheitsdichtung aus Anlass höfischer Erfordernis. Demgegenüber muss man aber berücksichtigen, 2 Vgl. zu diesem Thema grundsätzlich Karl-Heinz Hucke: Jene „Scheu vor allem Mer‐ cantilischen“. Schillers „Arbeits- und Finanzplan“. Tübingen 1984. dass der oft zitierte Brief Schillers an seinen Verleger Cotta vom 13. Dezember 1804 bereits von der Textsorte her gesehen ein Geschäftsbrief ist, der nahezu ausschließlich ökonomische und werbebzw. verkaufsorientierte Argumente anführt. 2 Schiller ist bemüht, seinen Verleger von der wirtschaftlichen Rentabi‐ lität einer fünfbändigen Sammlung seiner Theaterstücke zu überzeugen. Der Dichter schreibt dem Geschäftsmann unter anderem: „Da es jezt allerdings zu spät ist, ein kleines Vorspiel nebst dem übersezten Lustspiel [Schillers Bearbeitung von Picards Der Parasit] in Form eines Neujahrsgeschenks he‐ rauszugeben, so habe ich Ihren Brief an Fromman zurückbehalten und schicke ihn hier zurück. Von jenem Vorspiel können wir einen noch beßern Gebrauch machen, wenn wir die Sammlung meiner Theaterstücke damit beginnen. Und von dieser Sammlung will ich heute mit Ihnen reden. Es wäre mir nicht lieb, wenn der Anfang abermals um ein Jahr hinausgeschoben würde, woran ich bisher selbst schuld war. Wenn es aber im Jahr 1805 zu Stande kommen soll, so müßte man eilen den Ersten Band noch auf die Ostermesse zu bringen. Es fragt sich also, ist es dazu noch Zeit und kann binnen 4 Monaten ein schöner Druck von 38 Bogen geleistet werden? Ich habe nehmlich nach reiflicher Ueberlegung gefunden, daß es beßer ist, die Bände größer zu machen, so daß jeder Band mehrere Stücke auch wenn diese noch so groß sind, faßt.“ (NA 32, S. 176f.) Schiller verfolgte schon seit März 1795 den Plan, seine Theaterstücke in meh‐ reren Bänden gesammelt herauszugeben (vgl. NA 27, S. 161f.), doch wurde dieses Vorhaben immer wieder verschoben. Am 25. März 1802 hatte er von seinem Verleger Cotta einen Honorarvorschuss in Höhe von 2.600 Gulden erhalten, wovon er sein Haus an der Esplanade erwarb. Das Darlehen sollte zu 4% verzinst und mit dem Honorar für die beabsichtigte Sammlung der Theaterstücke ver‐ rechnet werden. Doch das Vorhaben verzögerte sich schließlich so lange, dass Schiller die Veröffentlichung des ersten Bandes Theater von Schiller im Jahre 1805 nicht mehr erlebte. Er weist in diesem Brief auch darauf hin, dass sich die einzelnen Bände in Gestalt und Umfang von den bisherigen Ausgaben seiner Stücke deutlich unterscheiden müssten. Der Kaufanreiz bei den Lesern könne so aufrechterhalten werden. Er schlägt vor, dass jeder Band 40 Druckbogen um‐ fassen soll. Wenn es nun für den Autor um die Frage geht, an welchem Ort der fünfbändigen Ausgabe er sein Dramolett Die Huldigung der Künste platzieren wird, so kommt dafür nur der erste Band, mit dem die Edition eröffnet werden 184 9. Die Huldigung der Künste (1805) soll, in Frage. Dies aus dreierlei Gründen: 1.) Der letzte, fünfte Band (Wilhelm Tell, Demetrius und Zwey kleine Lustspiele nach dem Französischen) schied aus, da er mit dem Demetrius-Projekt eine große Planungsunsicherheit barg, das Stück war noch nicht fertig geschrieben. 2.) Der zweite Band (mit den Dramen Die Räuber, Fiesko, Kabale und Liebe und Der Parasit) und der dritte Band (Wal‐ lenstein, Braut von Messina) kamen deshalb nicht in Frage, da sie bereits in Schillers Berechnung, die er detailliert im Brief durchführt, 40 Bogen Umfang aufwiesen. 3.) So hätte allein der vierte Band zur Verfügung gestanden, er hatte 39 Bogen Umfang (mit den Stücken und Bearbeitungen Maria Stuart, Macbeth, Turandot und Iphigenia in Aulis nach Euripides). Aber Schiller drängte darauf, dass die ersten drei Bände „rasch aufeinander folgen, daß der Käufer in Athem gesezt würde und diese 3 ersten Bände müßten also in 3 aufeinander folgenden Meßen herauskommen. Nachher wenn das Werk auf diese Art in ordentlichen Gang gebracht worden, folgte jedes Jahr ein neuer Band“ (NA 32, S. 178). Zwei Bände sollten also pro Jahr erscheinen, nämlich zur Frühjahrs- und zur Herbst‐ messe. Nach Schillers Wunsch sollte der Druck rasch geschehen, bereits zur nächsten Ostermesse sollte der erste Band auf dem Markt sein. Schiller bittet darum, „alles aufzubieten“ (NA 32, S. 178) und notfalls mit zwei Setzern und zwei Druckpressen gleichzeitig zu arbeiten, um diesen frühen Erscheinungstermin zu ermöglichen. So blieb also letztlich nur der erste Band als Publikationsort von Schillers Dramolett. Dieser Band erfüllte die Kriterien der schnellen Publikation und des Umfangs, mit 37 Bogen von Don Karlos und Die Jungfrau von Orleans war durchaus noch Platz für die nur einen einzigen Bogen umfassende Huldi‐ gung der Künste. Zudem bot der erste Band den geeigneten Ort, das bereits fertig geschriebene Stück einigermaßen profitabel zu vermarkten, vier Carolin pro Bogen hatte sich Schiller vom Verleger ausbedungen. Jener „Sporn der Finanzen“ (NA 30, S. 81), wie er es einmal 1799 in einem Brief an Körner formuliert hatte, war das mindeste, was ihn zur poetischen Arbeit motivieren konnte. Über den Text und seine Adressatin urteilte Schiller selbst in einem anderen Brief an Cotta vom 21. November 1804 folgendermaßen: „Ich verspreche mir eine schöne Epoche für unser Weimar, wenn sie nur erst bei uns einheimisch wird geworden seyn. Es ist uns kaum ein paar Tage vor ihrer Ankunft aufgegeben worden, ihr eine Theater Fête zu geben, und da habe ich denn in aller Eile noch ein kleines Drama gedichtet, welches über alle Erwartungen gut reußierte und executiert wurde.“ (NA 32, S. 167f.) Körner gegenüber wurde er deutlicher, er nannte das Stück ein Machwerk und eine flüchtige Arbeit (vgl. NA 32, S. 170) und noch im April 1805 spricht er in einem Brief an Wilhelm von Humboldt davon, es sei „ein Werk des Moments 185 9. Die Huldigung der Künste (1805) 3 Vgl. Gerhard vom Hofe: Die Verkündigung des „ästhetischen Staats“: Die Huldigung der Künste, in: Schiller und die höfische Welt. Hgg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack. Tübingen 1990, S. 168-183. 4 Vgl. Philipp Simon: Die Huldigung der Künste, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 11 (1908), S. 714-721, hier S. 717. und im Verlauf weniger Tage ausgedacht, ausgeführt und dargestellt worden“ (NA 32, S. 207). Schiller hat für die Ausarbeitung keine Quellen benutzt. Inwiefern aber all‐ gemeine oder detaillierte Einflüsse des spanischen Theaters, namentlich Cal‐ derons, auszumachen sind und eine intertextuelle Referenz auf die 14. Olympi‐ sche Ode von Pindar angenommen werden kann, ist unsicher. Einen überzeugenden Nachweis hat die Forschung bislang nicht erbracht. 3 Die Huldigung der Künste kommt mit einem knappen, kammerspielartigen Figurenensemble aus. Schiller beschwört die arkadische Idylle einer Hirtenfa‐ milie, bestehend aus Vater, Mutter, Jüngling und Mädchen, einen Chor von Landleuten, einen Genius und die sieben Künste; sie figurieren das lyrische Spiel (so lautet der Untertitel). Ein aus dem fernen Russland importierter Orangen‐ baum wird gepflanzt. Ob für diese Szene Ifflands Stück Liebe um Liebe (1785) unmittelbar Pate stand, wie vermutet wurde, bleibt umstritten. 4 Ein „Genius des Schönen“ (FA 5, S. 515) steigt in Begleitung seiner sieben Künste vom Himmel herab. Dieser Chor der Künste besteht aus der Architektur, der Bildhauerei, der Malerei, der Poesie, der Musik, dem Tanz und der Schauspielkunst. Die Künste tanzen um den Baum und lassen die Zuschauer wissen, dass sie von jeher die Menschheit begleiten. „Wir suchen auf Erden ein bleibendes Haus“ (FA 5, V. 45), das Stück thematisiert also den Sitz im Leben der Künste. Sie bekennen ihn nur dort zu finden, wo sich der Mensch auch kulturell entfaltet: „Wir suchen der Menschen aufricht’ge Geschlechter; Wo kindliche Sitten Uns freundlich empfahn, Da bauen wir Hütten Und siedeln uns an.“ (FA 5, V. 62-67) In ungewöhnlicher Direktheit spricht der Genius des Schönen die anwesende, im Publikum sitzende Fürstin an. In einer Regieanweisung wird dies auch aus‐ drücklich vermerkt. Schiller geht sogar noch einen Schritt weiter und lässt den Genius des Schönen im Namen aller Künste erklären, dass sich die Künste frei‐ willig dem aristokratischen Gebrauch überantworten: „Sind wir bereit, o Fürstin, Dir zu dienen“ (V. 229). Doch das Stück endet nicht mit dieser Einschreibung in 186 9. Die Huldigung der Künste (1805) 5 Karl Hoffmeister: Schillers Leben, Geistesentwicklung und Werke. Stuttgart 1842, Tl. 5, S. 120. 6 Christa Vaerst-Pfarr: Semele - Die Huldigung der Künste, in: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hgg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1979, S. 294-315, hier S. 312. eine höfische kulturelle Grammatik, vielmehr steht am Ende in Gestalt der beiden letzten Verse dieses Bekenntnis: „Denn aus der Kräfte schön vereintem Streben / Erhebt sich, wirkend erst das wahre Leben.“ (V. 247f.) Damit ist glei‐ chermaßen Forderung und Aufgabenstellung verbunden, die Verse können als direkter Appell an die Fürstin verstanden werden, das Ihre zum wahren Leben im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach beizutragen. Das Stück gehört nicht gerade zu jenen Texten von Schillers theatralischem Werk, die rege Aufmerksamkeit bei den Lesern erfahren haben. Dies kann an der scheinbaren mangelnden ästhetischen Qualität selbst liegen oder ist dem in der Rezeptionsgeschichte vorherrschenden Interesse an kanonisierten Texten zuzuschreiben, was wahrscheinlicher ist. Schon Körner spricht im Brief vom 2. Dezember 1804 an Schiller zutreffend vom „Geschäft der Bewillkommung“ (NA 40/ 1, S. 260), das Schiller mit der Ausarbeitung des Dramoletts übernommen und also eine Pflicht erledigt habe. Die Schiller-Forschung hat den Gelegenheits‐ charakter dieser kleinen Dichtung zwar nie geleugnet. Doch oftmals wurde diese Feststellung mit einer entschiedenen Absage an die ästhetische Qualität des Textes verbunden. Zugleich wurde der Text aber auch schon früh zu einer Art „ästhetische[m] Testament“ 5 stilisiert, worin Schillers ästhetisches und künst‐ lerisches Programm seinen bleibenden Abschluss gefunden habe. Dies führte in der Folge dazu, im Text angestrengt nach allegorischen, symbolhaften Struk‐ turen zu suchen, die schließlich als komplexes Verweisungssystem auf Schillers eigene ästhetisch-theoretische Arbeiten entschlüsselt werden können. So soll etwa das Stück eine „Epiphanie des Göttlichen im Schönen“ 6 bieten und im Kern Schillers ästhetische Theorie zusammenfassen. Dem steht allerdings deutlich der unmittelbare höfische Anlass und Verwendungszusammenhang entgegen. In der Huldigung der Künste geht es Schiller um die beispielhafte grundsätz‐ liche ästhetische Erziehung des Menschen mit dem Ziel, seine Idee des ästheti‐ schen Staats zu verwirklichen. Am Ende der Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) hatte er dieses Modell entworfen. „Freiheit zu geben durch Freiheit“ (FA 8, S. 674) sei das Grundgesetz „im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat“ (FA 8, S. 673). Auf die konkrete Situation am Weimarer Hof übertragen bedeutet dies, dass der Fürstin Maria Paulowna eine doppelte Rolle zugedacht wird: Einmal wird sie als eine Fürstin der ästhetischen Erziehung im real-historischen Kleinstaat von 187 9. Die Huldigung der Künste (1805) 7 Vgl. Ilse-Marie Barth: Literarisches Weimar. Kultur / Literatur / Sozialstruktur im 16. - 20. Jahrhundert. Stuttgart 1971, S. 120f. 8 Aus Karl Ludwig von Knebels Briefwechsel mit seiner Schwester Henriette. Hgg. v. Heinrich Düntzer. Jena 1858, S. 212. Weimar gesehen, zum anderen auch als Fürstin im ästhetischen Staat ersehnt. Einen Verzicht auf die ständische Ordnung erlauben weder der Anlass des Hul‐ digungsgedichts noch diese doppelte Zuschreibung. Jedoch bleibt es bei dieser Referenz auf die Ästhetischen Briefe problematisch, dass damit ein Text aus dem Jahre 1805 mit den Schreib- und Denkbedingungen Schillers der 1790er Jahre verknüpft und somit eine Kontinuität politischer Reflexion in Anspruch ge‐ nommen wird, die in dieser Form ausgesprochen zweifelhaft ist. Der Huldigungsgestus und der kasuallyrische, höfische Funktionszusam‐ menhang dieses Dramoletts sind offensichtlich. Schiller nutzt die Gelegenheit zur Formulierung eines ästhetischen Programms, insofern schreibt er mit Blick auf sein Todesjahr in der Tat ein ästhetisches Testament. Sein Appell an die soziale und künstlerische Verantwortung Maria Paulownas als zukünftiger Lan‐ desmutter fand Gehör. Auf ihr Betreiben hin und aus Mitteln ihres privaten Vermögens wurde besonders die musikalische Kultur in Weimar gefördert, ferner wurden wieder gesellige Zirkel eingerichtet, populärwissenschaftliche Vortragsabende veranstaltet, Pflegehäuser für Arme und Kranke gegründet und Frauenvereine unterstützt. 7 Die Zeitgenossen urteilten wohlwollend über die Huldigung der Künste. So bemerkte etwa Henriette von Knebel im November 1804: „Schillers Vorspiel in der Komödie war wirklich schön und rührend, die fatalen Chöre ausgenommen, die sich immer schlecht ausnehmen“. 8 Körner schreibt Schiller am 18. Dezember 1804, nachdem er das Manuskript der Huldigung gelesen hatte, es habe ihm „viel Freude gemacht. […]. Ein Product dieser Art gehört eigentlich mehr zur orato‐ rischen Classe und hat nur eine poetische Aussenseite“ (NA 40/ 1, S. 263f.). Goethe setzt Schillers Dramolett sogar ein kleines Denkmal in seinem Gedicht Epilog zu Schillers Glocke vom 10. August 1805. Zur Gedächtnisfeier in Weimar anlässlich von Schillers Todestag am 9. Mai 1810 hat Goethe den Epilog um zwei Strophen erweitert und geringfügig den Text verändert. Danach lauten die erste und die letzte Strophe: „Und so geschah’s! Dem friedenreichen Klange Bewegte sich das Land und segenbar Ein frisches Glück erschien; im Hochgesange Begrüßten wir das junge Fürstenpaar; Im Vollgewühl, in lebensregem Drange 188 9. Die Huldigung der Künste (1805) 9 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 11.1.1, S. 297 u. 299f. Vermischte sich die thät’ge Völkerschaar, Und festlich ward an die geschmückten Stufen Die Huldigung der Künste vorgerufen. […] So bleibt er uns, der so vor manchen Jahren - Schon zehne sind’s! - von uns sich weggekehrt! Wir haben alle segenreich erfahren, Die Welt verdank ihm, was er sie gelehrt; Schon längst verbreitet sich’s in ganze Scharen, Das Eigenste, was ihm allein gehört. Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend, Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend.“ 9 Schiller freilich erlebte dies alles nicht mehr, er war am 9. Mai 1805 verstorben. 189 9. Die Huldigung der Künste (1805) 10. Schillers letzter Text Unterzeichneter erbittet sich von Fürstlicher Kammer an Holz für dises Jahr — Sechs Klafter hartes holz — Drei Wagen Stöcke, und — Zehn Schock Wellen. Weimar 1. May. 1805 Fridrich v Schiller 1 Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994, S. 39. 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller Literaturgeschichtlicher Kontext Die Wege der Dichter Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe kreuzen sich nicht erst im Umfeld jener beiden Orte Jena und Weimar, welche die To‐ pografie dessen, was wir in der Literaturgeschichte als ‚Weimarer Klassik‘ be‐ zeichnen, maßgeblich bestimmen. Bereits nahezu ein Jahrzehnt zuvor waren sich beide schon einmal flüchtig begegnet. Schiller war zu diesem Zeitpunkt noch Karlsschüler in Stuttgart. Goethe begleitete seinen neuen Dienstherrn Herzog Karl August auf einer Reise, die ihn auch über Stuttgart geführt und in deren Zusammenhang er am 12. und 14. Dezember 1779 die Karlsschule besucht hatte. Schiller kannte zu diesem Zeitpunkt schon Goethes Werther, den er gleich nach Erscheinen 1774 gelesen hatte. Zeitweise hatte er sogar über eine eigene Fortsetzung des Werther nachgedacht. Schiller geht über die zeitübliche Wer‐ ther-Begeisterung hinaus, ihm dient der Roman als Beispiel für einen gelun‐ genen Gegenwartsroman. Später, in den Fragmenten zu den ästhetischen Vorle‐ sungen aus dem Wintersemester 1792/ 1793 heißt es brav, aber immer noch mit Bewunderung: „Die Leiden des jungen Werther sind ein schönes Muster der Dar‐ stellung der Leidenschaft. Die Natur, die Leidenschaft selbst ist es, die wir han‐ deln sehen, und doch ist Alles absichtsvolle Darstellung des Dichters, der ganz in seinen Gegenstand eindrang.“ (NA 21, S. 85) Ebenso hatte Schiller bereits den Götz von Berlichingen (1773) gelesen, dessen markantestes Zitat sich noch in einem Brief vom 9. März 1789 an Körner wiederfindet: „die Academie in Jena möchte mich dann im Asch [! ] lecken“ (NA 25, S. 220). Ferner kannte er den Clavigo (1774) und die Stella (1776). Damit sind bereits wesentliche Koordinaten der Literatur des Sturm und Drang eines Autors genannt, der mit Schiller zu‐ sammen das ‚Modell‘ Weimarer Klassik als Schreib- und Denkhaltung entwi‐ ckeln sollte, obwohl die Warnung Dieter Borchmeyers weiterhin ernst zu nehmen ist: „Jede Klassik ist im Grunde eine ‚Legende‘, ein Rezeptionsphä‐ nomen“. 1 Schillers Verhältnis zur Literatur des Sturm und Drang hat die Forschung immer wieder interessiert und in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder zu höchst unterschiedlichen Bewertungen geführt. Je nachdem, ob man 2 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 1.1: Der junge Goethe 1757-1775. Hgg. v. Gerhard Sauder. München, Wien 1985, S. 756 (Kapitel Ein‐ führung). - Katja Mellmann meint, mich einer „dogmatischen Adaption“ dieser sau‐ derschen Formel zeihen zu müssen, bleibt aber die Gründe hierfür schuldig (Katja Mell‐ mann: „Ich fühle mich! Ich bin! “ Zur literarischen Anthropologie des Sturm und Drang, in: Aufklärung 14 [2002], S. 49-74, Anm. 1). Ihren Versuch, die Sturm-und-Drang-Lite‐ ratur als Ergebnis einer historischen Stresssituation zu begreifen, halte ich für außer‐ ordentlich interessant. Zur problematischen deutschnationalen Semantik des Begriffs ‚Bewegung‘ im Zusammenhang mit dem Term ‚Sturm und Drang‘ vgl. Matthias Lu‐ serke: Sturm und Drang. Autoren - Texte - Themen. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2010, S. 39, sowie Handbuch Sturm und Drang. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit v. Vanessa Geuen u. Lisa Wille. Berlin, Boston 2017. sich diesem Thema biografisch, systematisch, thematologisch, typologisch oder psychohistorisch nähert, wird man zu abweichenden Einschätzungen gelangen. Deshalb soll im Folgenden versucht werden, zunächst einmal die generellen Übereinstimmungen innerhalb der Sturm-und-Drang-Literatur als deren Inno‐ vationsset gegenüber der Literatur der Aufklärung zu bestimmen. In einem zweiten Schritt wird das Augenmerk auf das Werk Schillers zu richten sein, um zu erörtern, an welcher Stelle und in welcher Form er auf dieses Innovationsset zurückgreift, es modifiziert oder bestätigt und möglicherweise eigene, d.h. ei‐ genständige Wege geht. Gerhard Sauder hat eine inzwischen längst von der scientific community übernommene Formel in Anlehnung an Werner Krauss entwickelt, die den Sturm und Drang als „Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung“ 2 definiert. Damit war endgültig die Dichotomie zwischen Konti‐ nuität und Diskontinuität des Sturm und Drang zum aufgeklärten Denken des 18. Jahrhunderts überwunden und der Sturm und Drang wurde nun als genuin aufgeklärtes, gleichwohl ‚kritischstes‘ Produkt der Aufklärung verstanden. Damit stellte sich die Frage der Periodisierung neu. Mit dieser Frage nach der zeitlichen Eingrenzung des Sturm und Drang, der als literaturhistorische Mik‐ rostruktur (Periode) innerhalb der Makrostruktur (Epoche) der Aufklärung ver‐ standen werden kann, steht und fällt auch die Frage danach, ob Friedrich Schiller mit seinem Jugendwerk am Sturm und Drang auf originäre Weise teilhat oder lediglich auf eine bereits längst vergangene literarische Periode zurückgreift. Neigt man zu letzterer Ansicht, so muss die Begründung zunächst einmal not‐ wendig biografisch ausfallen. Denn Schillers prägende Lektüreeindrücke der 1770er Jahre während seiner Zeit auf der Karlsschule waren durch die damals avantgardistische Literatur des Sturm und Drang bestimmt. Die Leitdiskurse des Sturm und Drang von Autonomie, Bruderkonflikt, Ständekonflikt, Machtkritik, Kindsmord, Sexualität, bürgerlichem Selbstverständnis, Selbsthelfer und Genie prägen auch Schillers Jugenddramen. Unter Jugenddramen sollen im Weiteren 194 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 3 Vgl. Handbuch Sturm und Drang, S. 4. folgende Dramen verstanden werden: Die Räuber (1781), Semele (1782), Fiesko (1783) und Kabale und Liebe (1784). Zum Begriff Jugendwerk gehören ferner die Anthologie auf das Jahr 1782 und Schillers Schaubühnen-Rede. Also insgesamt Schriften, die Schiller bis 1785 veröffentlicht hat. Das leitende Untersuchungsinteresse der Forschung, wie sich Schillers Weg vom Sturm und Drang zur Klassik gestaltet, wie dieser Weg sich beschreiben lässt, geht also aus von der Frage: Gehört Schiller mit seinem Jugendwerk genuin zum literarischen Feld des Sturm und Drang und schließt diesen historisch ge‐ sehen ab oder sind diese Werke eher als ‚Nachzieher‘ zur Literatur der 1770er Jahre zu verbuchen, also im Stil des Sturm und Drang geschriebene Texte, die noch einmal eine literaturgeschichtliche Periode beschwören, die 1781 bereits sich selbst historisch geworden war? Die Antwort auf diese Frage hängt nach‐ haltig davon ab, wie man die Frage nach der Periodisierung des Sturm und Drang beantwortet. Die Forschung arbeitet inzwischen mit einem engeren und einem erweiterten Modell. Die Daten der engeren Periodisierung beziehen sich auf einen Zeitraum von 1767 an, als dem Erscheinungsjahr des für die Autoren des Sturm und Drang wichtigen Referenztextes Ugolino von Heinrich Wilhelm Gerstenberg (1737-1823), und lässt den Sturm und Drang etwa 1776 enden als demjenigen Jahr, in dem die letzten originären Sturm-und-Drang-Werke wie z.B. Die Soldaten und Der neue Menoza von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), Die Zwillinge (1776) von Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831) und das Drama Julius von Tarent (1776) von Johann Anton Leisewitz (1752-1806) er‐ schienen sind. Das erweiterte Periodisierungsmodell erlaubt es darüber hinaus, auch die Jugenddramen Schillers der Literatur des Sturm und Drang zuzu‐ ordnen, verlängert also das Ende dieser literarischen Periode um knappe zehn Jahre bis zum Erscheinungsjahr von Kabale und Liebe (1784). Ich habe in meiner Monografie zur Literatur des Sturm und Drang ( 4 2010) dafür plädiert, die Ju‐ genddramen Schillers als sogenannte ‚Nachzieher‘ zu begreifen, die der junge Autor im Stil und Geist des Sturm und Drang konzipiert und ausgearbeitet hat, denen aber erheblich Innovationskraft fehlt, da sie lediglich strukturelle und diskursive und zudem erfolgreich erprobte Muster der Sturm-und-Drang-Dra‐ matik der 1770er Jahre adaptiert, reproduziert und für seine Theaterzwecke ge‐ nutzt haben. Auch der Begriff der zweiten (Schreib-) Generation von Sturm-und-Drang-Autoren bietet sich hier an, die im Stil des Sturm und Drang schreiben, die sich aber auf Referenzwerke von Autoren der ersten (Schreib-) Generation beziehen können. 3 Dass übrigens das Jahr 1776 von den wenigen am Sturm und Drang beteiligten Literaten selbst bereits als Finale erlebt wurde, geht 195 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 4 Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hgg. v. Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 1, S. 474. 5 Jacob Friedrich Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782). Mit Einleitung, Kommentar und Bibliographie hgg. v. Wolf‐ gang Riedel. Würzburg 1995, S. 181-218, hier S. 190. 6 Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule, S. 194. 7 Vgl. Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karls‐ schule, S. 209. unter anderem aus dem Dramenfragment Die Kleinen (1775/ 1776) von Lenz hervor, dessen Formulierung wie ein vorweggenommenes Ende des Sturm und Drang klingt, wenn es heißt: „Lebt wohl große Männer, Genies, Ideale, euren hohen Flug mach ich nicht mehr mit, man versengt sich Schwingen und Ein‐ bildungskraft, glaubt sich einen Gott und ist ein Tor. [...] Pfui doch mit den großen Männern, die herrschen wollen, es sind die kleinsten Pygmäen“. 4 In diesem Fragment klingt die entschiedene Absage an die Adlermetaphorik der Genieästhetik an, die für das Selbstverständnis der Autoren bekanntlich eine identitätsstiftende Funktion gehabt hatte. Auch Schillers Philosophielehrer Jakob Friedrich Abel (1751-1829) wird in seiner berühmten Karlsschulrede Über die Entstehung und die Kennzeichen großer Geister (1776), seiner sogenannten Genie-Rede, diesen Topos aufrufen. Abel untersucht die Frage, ob das Genie ge‐ boren werde, also natürliche Anlagen habe, oder dazu erzogen und gebildet werden könne. Abels Antwort fällt pragmatisch aus, Anlage und Bildung müssten gleichermaßen vorhanden sein. Er stellt die rhetorische Frage, gleich‐ wohl im Angesicht des Landesfürsten vorgetragen und daher beinahe schon provokant: „Warum entstehen z.E. [...] in Republiken, in unbestimmten Regie‐ rungsformen, bei Armuth und Elend auf einmal grosse Männer, warum gibts Zeiten, z.E. in despotischen Staaten, in ruhigen Regierungsformen, die an grossen Männern ganz ohnfruchtbar sind? “ 5 Äquivalente zu den literarischen Genies sind für Abel große Männer in Politik und Gesellschaft. An diesem Punkt berührt sich seine Genievorstellung mit der antiken Darstellung großer Männer bei Plutarch. In der zweiten Frage seiner Rede untersucht er die Kennzeichen eines Genies und hebt besonders dessen Affektstruktur hervor. „Ohne Leiden‐ schaft ist nie etwas grosses, nie etwas ruhmvolles geschehen, nie ein grosser Gedanke gedacht, oder eine Handlung der Menschheit würdig vollbracht worden.“ 6 Abel betont beim Genie besonders dessen Schnelligkeit von Gedanken und Empfindungen, seine Gedanken strömten und stürzten regelrecht. Abel vergleicht das Genie mit einer Rede, in der sich Gedanke auf Gedanke und Emp‐ findung auf Empfindung drängten. 7 Er warnt aber auch, Schnelligkeit allein sei kein ausschließliches Kennzeichen, sie müsse verbunden sein mit der Tiefe und 196 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 8 Vgl. Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule, S. 197. 9 Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule, S. 201. 10 Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule, S. 201. 11 Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule, S. 203. 12 Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule, S. 203. 13 Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule, S. 209. Dauer der Eindrücke, mit der Richtigkeit und mit dem, was man heute Objekt‐ permanenz nennt. 8 Nicht in „flatterhaftem herumhüpfen“, sondern „in stetem Anhalten auf einen Gegenstand“ 9 zeige sich Genie. Abel spricht seine jungen Zuhörer direkt an: „Wann ihr mit eurer ganzen Kraft auf einen Gegenstand euch heftet, und ruhet und still stehet eure Seele auf ihm, und ihr erstarrt da auf ihm liegt, und Himmel und Erde euch schwinden, jauchzet Jünglinge, in euch schlummert ein großer Mann.“ 10 Nur im Abweichen von den vorgegebenen Bahnen zeige sich Genie, während der Genielose „nie ohne die Krüke der Regeln und der Geseze“ 11 gehen könne. Abel bemüht damit ein Bild, das den Schülern und Lehrern durch die Lektüre der zeitgenössischen modernen Literatur ver‐ traut war. „Das Genie voll Gefühl seiner Kraft voll edlen Stolzes, wirft die ent‐ ehrende Fesseln hinweg, höhnend den engen Kerker in dem der gemeine Sterb‐ liche schmachtet, reißt sichs voll Helden-Kühnheit loß, und fliegt gleich dem königlichen Adler weit über die kleine niedre Erde hinweg, und wandelt in der Sonne. Ihr schimpft, daß er nicht im Gleise bleibt, daß er aus den Schranken der Weißheit und Tugend getretten, Insekten, er flog zur Sonne.“ 12 Das Genie wandle auf dem schmalen Grat zwischen Weisheit und Torheit, zwischen Geschmack und Geschmacklosigkeit, zwischen Tugend und ‚tiefster Teufelei‘, „das Genie spielt mit kühnen großen Gedanken, wie Hercules mit Löwen“. 13 Das sind ins‐ gesamt Charakterisierungen, die sowohl auf die literarischen Figuren eines Karl Moor oder eines Fiesko zutreffen, als auch auf den jungen Dichter Friedrich Schiller selbst. Man kann nun freilich argumentieren, dass sich aus der Autonomie des Genies des Sturm und Drang die geniale Autonomieästhetik der Weimarer Klassik ent‐ wickelte, die in den Werken der Weimarer Klassik ihren komprimierten Aus‐ druck findet. Doch sind hierzu Hilfskonstruktionen nötig, die den empirischen Befund bei weitem übersteigen, wie beispielsweise die Annahme einer syste‐ matisch geradlinig verlaufenden historischen Entwicklung, die dann den Ab‐ brüchen, den Verwerfungen und den Widersprüchen keine Rechnung trägt. Deshalb argumentiere ich im Folgenden auf der Basis des engeren Periodisie‐ rungsmodells. Im Sinne dieses Modells gehört Schiller mit seinen Jugenddramen chronologisch gesehen nicht mehr zum Sturm und Drang. Eine solche Diskus‐ 197 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 14 Manfred Wacker: Schillers Räuber und der Sturm und Drang. Stilkritische und typolo‐ gische Überprüfung eines Epochenbegriffs. Göppingen 1973, S. 23. 15 Vgl. Michael Mann: Sturm-und-Drang-Drama. Studien und Vorstudien zu Schillers Räubern. Bern, München 1974. Zur älteren Forschungsliteratur vgl. Walter Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, in: W. H. (Hg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Kronberg i.Ts. 1978, S. 230-256, und Andreas Huyssen: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche. München 1980. Diese Standpunkte werden teilweise wiederholt in dem Buch von Ulrich Karthaus: Sturm und Drang. Epoche - Werke - Wirkung. München 2000, das als Frontispiz das Faksimile der zweiten Auflage von Schillers Räubern zeigt. Vgl. ferner Hans Reiss: Li‐ teratur und Politik in Deutschland 1770-1789, in: Sturm und Drang. Geistiger Aufbruch 1770-1790 im Spiegel der Literatur. Hgg. v. Bodo Plachta u. Winfried Woesler. Tübingen 1997, S. 1-21; Klaus Gerth: „Moralische Anstalt“ und „Sittliche Natur“. Zur Typologie des Dramas im Sturm und Drang, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Revolution und Au‐ tonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Tübingen 1990, S. 30-46; Alan C. Leidner: A fleeting sense of Germany. Schiller’s Die Räuber, in: A. C. L.: The impatient muse. Germany and the Sturm und Drang. London 1994, S. 78-91. sion über die Zugehörigkeit dieser Dramen zur Literatur des Sturm und Drang macht literaturwissenschaftlich nur Sinn, wenn sie sine ira et studio geführt wird, also nicht mit einer ästhetischen Beurteilung der Stücke einhergeht, die nach der dramatischen Qualität und ihrem literaturgeschichtlichen Stellenwert fragt. Zudem fehlt dem jungen Autor Schiller ein entscheidendes kommunika‐ tives und soziologisches Merkmal der Sturm-und-Drang-Autoren, ihm mangelt die Anbindung an eine literarische Gruppe Gleichaltriger. Der junge Dramatiker Schiller versuchte zwar durchaus erfolgreich im Stil des Sturm und Drang zu schreiben. Seine Stücke blieben aber isolierte Fremdkörper einer längst vergan‐ genen literaturgeschichtlichen Periode. Für die ältere Forschung wie auch für die DDR-Germanistik gab es im We‐ sentlichen hingegen kaum Zweifel daran, dass Schillers Jugenddramen dem Sturm und Drang zuzurechnen seien, oft wurde darin sogar dessen Vollendung, zumindest dessen Höhepunkt gesehen. In den siebziger Jahren erschienen drei Arbeiten, die höchst unterschiedlich diese Debatte am Beispiel der Räuber wei‐ terführten. Manfred Wacker konnte in seiner Dissertation von 1973 überzeu‐ gend darlegen, dass die Räuber ein Stück des Übergangs zwischen Sturm und Drang und Weimarer Klassik seien, die Räuber fügten sich „weder in die Chro‐ nologie noch in die Topographie des Sturms und Drangs“. 14 1974 erschien die Studie von Michael Mann zum Sturm-und-Drang-Drama, dem die Räuber wie‐ derum als Gipfelpunkt der Epoche Sturm und Drang dienten. 15 In einer detailliert argumentierenden Studie vertrat Peter Michelsen 1979 die These, das sprach‐ liche, szenische und gestische Zeicheninventar der Räuber ginge nicht explizit auf die Sturm-und-Drang-Dramatik zurück, sondern sei der Bühnentradition 198 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 16 Vgl. Peter Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers Räubern. Hei‐ delberg 1979. 17 Werner Volke: Nachhall. Friedrich Schiller, in: Sturm und Drang. [Katalog zur Ausstel‐ lung im Freien Deutschen Hochstift und im Frankfurter Goethe-Museum 1988]. Hgg. v. Christoph Perels. Frankfurt a.M. 1988, S. 293-295, hier S. 295. 18 Michael Hofmann: Schiller. Epoche - Werk - Wirkung. München 2003, S. 27. 19 Hofmann: Schiller, S. 27. Allerdings böte sich an, die terminologische Klärung der Be‐ griffe Epoche und Periode beizubehalten, um Irritationen zu vermeiden. Hofmann selbst spricht im Folgenden auch von Periode (vgl. ebd., S. 27). 20 Hofmann: Schiller, S. 27. der Oper und des Balletts im 18. Jahrhundert verpflichtet. 16 Zwischen diesen Positionen bewegt sich auch heute noch die Diskussion, obgleich schon Werner Volke zu der Einschätzung gelangt war, Schillers Jugendwerke seien ein „Nach‐ hall“ 17 des Sturm und Drang. Michael Hofmann hat sich gründlich mit dieser Frage der literaturhistorischen Zuordnung auseinandergesetzt und ist zu einem differenzierten Ergebnis gelangt, dem man in vielen Punkten zustimmen kann. So betont er beispielsweise die „Integration Schillers in die Spätaufklärung“, 18 die vor allem durch die zeitliche Nähe zu den späten Schriften von Lessing, Klopstock und Wieland gekennzeichnet sei. Schillers Frühwerk eigne geradezu ein paradigmatischer Charakter, um es als „herausragendes Modell einer ei‐ genen Epoche mit Namen Spätaufklärung darzustellen“. 19 Allerdings müsste die These Hofmanns, das Jugendwerk Schillers repräsentiere eine „fundierte Kritik der Rebellion des Sturm und Drang“, 20 mit einer genaueren Argumentation ge‐ würdigt werden, als dies hier geschehen kann. Vergleicht man die Erscheinungsjahre der entscheidenden Texte des Sturm und Drang mit dem Zeitpunkt ihrer Lektüre durch Schiller, so muss man aner‐ kennen, dass der Schüler und junge Autor ein ausgesprochen starkes Interesse an der zeitgenössischen avantgardistischen Literatur des Sturm und Drang hatte. Im Jahr 1781 lernte Schiller unter anderem zwei für sein weiteres Leben wichtige Personen kennen. Andreas Streicher (1761-1833), der ihn auf der Flucht aus Stuttgart nach Mannheim und Frankfurt begleitet, und Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), der zu dieser Zeit ohne Prozess in Haft auf dem Hohenasperg bei Ludwigsburg sitzt und der mit seiner Zeitschrift Deutsche Chronik (1774/ 1777), die immerhin zweimal in der Woche erschien, zu den be‐ deutendsten Publizisten des Sturm und Drang zählt. In dieser Zeit nimmt Schiller auch die Arbeiten an seinem ersten Drama Die Räuber auf und schließt sie bis Ende 1780 ab. 1781 erscheinen Die Räuber im Druck. Im März 1782 gründet er zusammen mit Jakob Friedrich Abel, Johann Jakob Atzel (1754-1816) und Johann Wilhelm Petersen (1758-1815) seine erste Zeitschrift Wirtembergisches Reperto‐ rium der Litteratur. Sie erscheint knapp ein Jahr lang nur in drei Stücken bis 199 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 21 Zur Satire des Sturm und Drang vgl. die Arbeit von Franziska Herboth: Satiren des Sturm und Drang. Innenansichten des literarischen Feldes zwischen 1770 und 1780. Hannover 2002. 22 Andreas Streichers Schiller-Biographie. [1836]. Hgg. v. Herbert Kraft. Mannheim 1974, S. 24. 23 Zum Einfluss von Leisewitz’ Drama Julius von Tarent (1776) auf die Räuber vgl. die Ausführungen von Herbert Stubenrauch in NA 3, S. 395f. 24 Vgl. Luserke: Sturm und Drang, Register. Frühjahr 1783. Die meisten Beiträge haben die Herausgeber selbst geschrieben. Im Wirtembergischen Repertorium 1782 findet sich eine Genie-Satire, die, wenn sie schon nicht aus der Feder des jungen Schiller stammen sollte, ihm als Mit‐ herausgeber der Zeitschrift vom Wortlaut her zumindest bekannt gewesen sein dürfte. 21 Bei aller Zurückhaltung, die den Mitteilungen und Berichten seines Freundes Andreas Streicher gegenüber geboten ist, kann man diesem Vertrau‐ ensmann wohl in der Äußerung folgen, Schiller habe den „Julius von Tarent; Ugolino; Götz von Berlichingen, und einige Jahre vor seinem Austritt [aus der Karlsschule], alle Stüke von Shakspeare“ 22 gelesen. 23 Hinzu kommen die bereits genannten Stücke von Klinger und Gerstenberg sowie die beiden Sturm-und-Drang-Schauspiele Die Reue nach der Tat (1775), auf das Schiller in der Schrift Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782) zu sprechen kommt (vgl. NA 20, S. 80), und Die Kindermörderin (1776) von Heinrich Leopold Wagner (1747-1779). Über dieses paradigmatische Stück des Sturm und Drang äußert sich Schiller in einem Brief an den Mannheimer Intendanten Dalberg am 15. Juli 1782 kritisch: „Wagners Kindsmörderin, hat rührende Situationen, und intere‐ ßante Züge. Doch erhebt sie sich über den Grad der Mittelmäßigkeit nicht. Sie würkt nicht sehr auf meine Empfindung, und hat zu viel Waßer“ (NA 23, S. 38). In einem anderen Brief an seinen Schulfreund Johann Wilhelm Petersen (1758-1815) vom November/ Dezember 1780 findet sich am Ende eine geradezu topische Sturm-und-Drang-Formel, die in ihrer kraftgenialischen Pose noch deutlich die Lektüreeindrücke verrät. Nachdem Schiller die Gründe dafür dar‐ gelegt hat, dass er seine Räuber möglichst schnell gedruckt sehen möchte, schließt der Brief mit den Worten: „Höre Kerl! wenns reussiert. Ich will mir ein par Bouteillen Burgunder drauf schmeken laßen“ (NA 23, S. 16). Dieser kraft‐ genialisch-rhetorische Habitus greift auf ein Reservoir gleichlautender oder ähnlicher literarischer Identifikationsmuster der 1770er Jahre zurück. 24 Sammelt man die Argumente, die gegen die Annahme, Schillers Jugend‐ dramen gehörten genuin zur Literatur des Sturm und Drang, sprechen, so stößt man zunächst auf die dezidierte Kritik Schillers an Klopstock, der immerhin den Autoren des Sturm und Drang als eine Vaterfigur und Leitfigur gilt. Das Vorbild der Lyrik Klopstocks ist zwar bei Schillers erstem gedruckten Gedicht Der Abend 200 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller noch deutlich zu erkennen, die Orientierung an zeitgenössischen, gängigen Odenmustern ist unübersehbar. Mutmaßlich 1776 entstanden, wurde es in dem von Balthasar Haug (1731-1792) herausgegebenen Schwäbischen Magazin von gelehrten Sachen auf das Jahr 1776 gedruckt. Allerdings bleibt die Einstellung Schillers Klopstock gegenüber distanziert, und je mehr er sich vom Sturm und Drang entfernt, desto deutlicher wird die Kritik an dessen poetischem Vorbild Klopstock. Die Klopstock-Kritik dient Schiller als Ventil für die Kritik an der Literatur des Sturm und Drang. Besonders diese Klopstock-Kritik verdeutlicht, wie weit sich der Autor inzwischen von seinen literaturgeschichtlichen Wurzeln im Sturm und Drang entfernt hat. Die schon in der Anthologie auf das Jahr 1782 vernehmbaren kritischen Töne gegenüber dem zeitgenössischen Klop‐ stock-Kult und auch gegenüber dem Verfasser des Messias (1748/ 1773) selbst - man denke etwa an die epigrammatischen Gedichte Klopstock und Wieland sowie Die Meßiade - werden später allerdings wesentlich schärfer. Auch wenn Schiller in dem Essay Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/ 1796) zu‐ nächst schreibt, Klopstock sei ein „Meister auf dem ganzen Felde sentimentali‐ scher Dichtung“ (NA 20, S. 458), kippt seine Argumentation doch an dieser Stelle um. Nun setzt er ‚naiv‘ mit ‚alt‘ und ‚sentimentalisch‘ mit ‚modern‘ gleich. Klop‐ stock eigne sich überhaupt nicht zum „Liebling und zum Begleiter durchs Leben“, heißt es jetzt, er sei ein Autor, „der uns immer nur aus dem Leben he‐ rausführt, immer nur den Geist unter die Waffen ruft, ohne den Sinn mit der ruhigen Gegenwart eines Objekts zu erquicken“ (NA 20, S. 457). Schiller steigert diese Kritik sogar noch zu einer emphatischen Abwehr der einstigen Ikone der Sturm-und-Drang-Literaten: „Ich bekenne daher unverhohlen, daß mir für den Kopf desjenigen etwas bange ist, der wirklich und ohne Affektation diesen Dichter zu seinem Lieblingsbuche machen kann“ (NA 20, S. 457). Von Klopstocks gefährlicher Herrschaft wird noch gesprochen, von exaltierten Stimmungen des Gemüts, die als Voraussetzung der Lektüre Klopstocks konstitutiv seien, kurz: dies erkläre, weshalb Klopstock „auch der Abgott der Jugend“ (NA 20, S. 457) sei. Literaturhistorisch gesehen gehen Schillers lyrischer Operette Semele, die in der Anthologie auf das Jahr 1782 veröffentlicht wurde, die Dramen des Sturm und Drang unmittelbar voraus. Dies kann man als Schillers Antwort auf das ‚Götterselbstgefühl‘ der jungen Autoren, auf deren Genieästhetik und den Ti‐ tanismus des Sturm und Drang insgesamt begreifen. Diese Autoren bean‐ spruchten ein Selbstverständnis als Dichter, das über die zeitgenössischen Vor‐ 201 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 25 Vgl. Gerhard Sauder: Geniekult im Sturm und Drang, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hgg. v. Rolf Grimminger, Bd. 3/ 1: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, hgg. v. Rolf Grimminger. 2., durchgesehene Aufl. München, Wien 1984, S. 327-340. - Zur Genie‐ diskussion im 18. Jahrhundert vgl. u.a. Herman Wolf: Versuch einer Geschichte des Geniebegriffs in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. 1. Band: Von Gottsched bis auf Lessing. Heidelberg 1923. - Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert. Stuttgart 1982. 26 Vgl. [Edward Young: ] Gedanken über die Original-Werke. Aus dem Englischen [v. H.E. von Teubern]. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1760. Nachwort u. Dokumentation zur Wirkungsgeschichte in Deutschland v. Gerhard Sauder. Heidelberg 1977, S. 27. 27 [Young: ] Gedanken über die Original-Werke, S. 29. 28 Auf die Bedeutung weiterer Leitfiguren, die gleichermaßen für Sturm-und-Drang-Au‐ toren wie auch für Schiller prägend gewesen sind, wie beispielsweise Mercier, sei an dieser Stelle hingewiesen. stellungen hinausging. 25 Im Mittelpunkt stand dabei die konsequente Aufwertung der Produktionsästhetik mit ihrem zentralen Begriff des Genies gegenüber einer aufgeklärten Darstellungs- und Wirkungsästhetik. Das Buch des Engländers Edward Young Conjectures on Original Composition (1759), das bereits 1760 ins Deutsche übersetzt wurde, bildete dafür eine wichtige Grund‐ lage. Young grenzt das Genie vom Handwerker ab. Das Genie sei der Meister, Gelehrsamkeit, Bildung und Wissen seien nur Werkzeuge, auf die man gele‐ gentlich auch verzichten könne. 26 Regeln bezeichnet er als „Krücken, eine noth‐ wendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hinderniß für den Gesunden“. 27 Dieses Bild wurde nachgerade zum literarischen Topos in der ästhetischen Debatte des Sturm und Drang. Auch Abel bediente sich dieses Topos und bei Schiller findet er sich in der Vorrede zu den Räubern. Als Legitimation dafür, so viel Zeit für die Darstellung der „geheimsten Operationen“ menschlicher Seelen zu beanspru‐ chen, gibt Schiller zu bedenken: „Hier war Fülle ineinandergedrungener Reali‐ täten vorhanden, die ich unmöglich in die allzuenge Pallisaden des Aristoteles und Batteux einkeilen konnte“ (FA 2, S. 15). Der junge Autor spielt damit auf die Lehre von den drei Einheiten (Ort, Zeit und Handlung) an, die als aristotelische und klassizistische, unveräußerliche poetologische Normen erst in der Dramen‐ literatur des Sturm und Drang in Frage gestellt und ausgehebelt wurden, freilich unter Rückgriff auf das shakespearesche Vorbild. 28 Young erwartet vom Genie Schönheiten, die zuvor noch nie in Regeln beschrieben wurden, und Vortreffli‐ ches, von dem man noch keine Beispiele kennt. In der alten Literatur gelten ihm Pindar und in der neueren Literatur Shakespeare als Beispiele für Genies. Das Genie ist - ebenso wie das Gewissen, das unabhängig von der politischen Ver‐ fassung und den Gesetzen eines Landes im einzelnen Menschen wirkt - ein „Gott 202 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 29 [Young: ] Gedanken über die Original-Werke, S. 31. 30 Vgl. [Young: ] Gedanken über die Original-Werke, S. 35. 31 Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit paralleler deutscher Übersetzung. Hgg., übersetzt u. kommentiert v. Gerd Hemmerich u. Wolfram Benda. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 110. 32 Vgl. [Young: ] Gedanken über die Original-Werke, S. 40. 33 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschen‐ kenntnis und Menschenliebe [1775-1778]. Eine Auswahl. Mit 101 Abb. Hgg. v. Christoph Siegrist. Stuttgart 1984, S. 293. 34 Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 294. in uns“, 29 der sich über die Regeln der Gelehrsamkeit hinwegsetzt. Damit ge‐ winnt der Geniebegriff bei Young gleichsam einen moralphilosophischen und psychologischen Binnenhorizont, der auch für Abels Argumentation konstitutiv ist. Zusätzlich wird der Geniebegriff religiös aufgeladen, indem Young hervor‐ hebt, das Genie stamme vom Himmel. 30 Hier berührt sich Youngs Argumenta‐ tion mit Shaftesburys (1621-1683) Vorstellung vom Dichter als einem ‚second maker‘. Bei ihm heißt es in dem Buch Soliloquy or Advice to an Author (1711), „such a Poet is indeed a second Maker: a just Prometheus, under Jove“. 31 Bei Young erzeugt dieser gottähnliche Dichter originale Kunstwerke nicht durch äffische Nachahmung, ein Begriff, den Young selbst gebraucht, 32 sondern durch Nach‐ eiferung der vorbildhaften Genies. Johann Caspar Lavater (1741-1801) überhöht das Genie schließlich zum quasi-religiösen Phantasma. Im vierten Band seiner Physiognomischen Fragmente von 1778 schreibt er: „Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut, empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet, singt, schafft, ver‐ gleicht, sondert, vereinigt, folgert, ahndet, giebt, nimmt - als wenn’s ihm ein Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktirt oder angegeben hätte, der hat Genie; als wenn er selbst ein Wesen höherer Art wäre - ist Genie.“ 33 Lavater unterscheidet also zwischen Genie-Haben und Genie-Sein. Genie hat derjenige, der nur Sprachrohr Gottes ist - dieser Vorstellung liegt unverkennbar das theo‐ logische Verständnis der Verbalinspiration zugrunde, wonach Gott in die Feder diktiert. Genie ist derjenige, der selbst spricht, Genie ist ein „propior Deus“, 34 ist gottgleich. Youngs Reflexionen über das Genie sind in beinahe allen ästhetischen Schriften des Sturm und Drang gegenwärtig, oftmals eigentümlich vermengt mit anderen Geniemodellen. So hatte schon Johann Georg Hamann (1730-1788) in seinem vierten Hirtenbrief das Schuldrama betreffend (1763) erklärt, ein Genie müsse sich herablassen, Regeln zu erschüttern und müsse der erste sein, der die Kraft 203 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 35 Vgl. Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2: Schriften über Philosophie / Philologie / Kritik 1758-1763. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. v. Josef Nadler. Wien 1950, S. 362. 36 Vgl. Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 363. 37 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hgg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1892 [Re‐ print Hildesheim, New York o.J.], Bd. 8, S. 224. 38 Hofmann: Schiller, S. 114. und die Wirkung der Regeln an sich selbst erfahre. 35 Ohne Selbstverleugnung sei kein Werk des Genies möglich. 36 Lessing hatte sich in der Hamburgischen Dramaturgie (1768/ 1769) zwar gegen die tyrannischen Regeln der Franzosen gewehrt, nicht aber prinzipiell die Einhaltung sinnvoller aristotelischer Regeln in Frage gestellt. 1778 wird sich Johann Gottfried Herder (1744-1803) in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele kritisch über die vielen Abhandlungen äußern, die zum Thema Genie erschienen sind. Bereits in die „Pöbelsprache“ sei der Begriff eingegangen und zur „Modeformel“ 37 ver‐ kommen. Vor diesem hier knapp skizzierten ideen- und begriffsgeschichtlichen Hinter‐ grund ist Schillers Teilhabe am Geniediskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahr‐ hunderts zu sehen. In Abels Genie-Rede taucht nochmals nahezu das gesamte Panorama der Geniesemantik auf und wird von dem jungen Schiller intensiv aufgenommen. Später wird Schiller in dem Essay Über naive und sentimentali‐ sche Dichtung vom Genie fordern, dass es auch naiv zu sein habe: „Naiv muß jedes wahre Genie seyn, oder es ist keines. Seine Naivetät allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im Morali‐ schen nicht verläugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken [! ] der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmackes […].“ (NA 20, S. 424) Diese Überle‐ gungen knüpfen wieder an die Genieästhetik des Sturm und Drang an, wenn Schiller ausführt, die Einfälle des Genies seien „Eingebungen Gottes“, und seine Gesetze gälten „für alle Zeiten“ (NA 20, S. 424). Insofern ist der Kritik Hofmanns zuzustimmen, der darauf hinweist, Schiller habe später seinen Geniebegriff in diesem Essay einer markanten Differenzierung unterzogen, „die sich sowohl von der rationalistischen Regelpoetik der Aufklärung als auch von der Rebellion gegen die Gesetze des guten Geschmacks abwendet, die den Sturm und Drang charakterisierte“. 38 204 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller Schillers literarischer Sturm-und-Drang-Diskurs Nur wenige Gedichte Schillers aus dieser Frühphase lassen sich einem origi‐ nären Diskursfeld des Sturm und Drang zuweisen. Schon im Titel spielt Die Kindsmörderin, die 1782 in der Anthologie auf das Jahr 1782 erschien, auf den zeitgenössischen Kindsmorddiskurs an. Das Gedicht ist vermutlich Ende 1781 entstanden. Schiller wurde mutmaßlich von seinem schwäbischen Dichterkol‐ legen Gotthold Friedrich Stäudlin (1758-1796) und dessen Ballade Seltha, die Kindermörderin (1781) dazu angeregt, obwohl auch Autoren aus dem literari‐ schen Feld des Sturm und Drang wie Wagner, Sprickmann, Meißner, Schink, Klinger, Buchholz, Wucherer, Pestalozzi, Bürger, Lenz und andere sich des Themas Kindsmord annahmen, das nicht zuletzt in Goethes Gretchenfigur (Faust) einen Höhepunkt der literarischen Gestaltung erfahren hat. Schiller hatte zudem in der Anthologie auf das Jahr 1782, vor allem in dem Gedicht Die Rache der Musen, über Stäudlin seinen Spott ausgegossen. Prompt findet er Stäudlins Replik in der Form einer Satire auf den kraftgenialischen Habitus eines Sturm-und-Drang-Autors mit dem Titel Das Kraftgenie (1782), worin der junge Autor unschwer sich selbst erkennen konnte. Darin heißt es unter anderem: „Ich bin und heiße Kraftgenie, Ein Lieblingssohn der Fantasie! Seit Vater Lohenstein erblich, Gieng nie ein Geist hervor wie ich. […] Was kümmert mich die Kritlerzunft? Was alle Zäune der Vernunft? Was deine Heken, Aristot! Der kleinen Geister groser Gott? Ich flieg’ in meinem freien Sinn Hoch über Berg’ und Thäler hin! Wie schnaubt mein Roß! wie brennt mein Kopf Und siedet wie ein heisser Topf. […] Was soll das Alltagsweib Natur? Ich lobe mir Karrikatur! Ich stelle nur Kolossen auf Und drüke Shakesspear’s Stempel drauf. Da leset, habt ihr Kraftgefühl, 205 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 39 Gotthold Friedrich Stäudlin: Das Kraftgenie, in: G. F. St.: Gedichte. Bd. 1. Stuttgart 1788, S. 82-86. 40 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tü‐ bingen, Basel 2002. 41 Siehe dazu die ausführliche Interpretation in diesem Buch, Kap. Die Kindsmörderin. Da leset ’mal mein Trauerspiel! Seht einen Halbgott hier der Welt, Dort einen Teufel aufgestellt! […] Genie ist wilde Fantasei, Nicht Einfalt und Empfindelei - Und desto gröser der Poet, Je minder ihn das Volk versteht. - […]“ 39 Schiller greift mit dem Kindsmord also auf ein zeitgenössisches Thema zurück, das in der öffentlichen Diskussion des 18. Jahrhunderts präsent war. 40 Höhe‐ punkt dieser Debatte war die sogenannte Mannheimer Preisfrage (1780), wie man dem Kindsmord am besten begegnen könne, die öffentlich ausgeschrieben wurde. Schiller macht sich in seinem Gedicht die Perspektive der Frau zu eigen. 41 Als ein Rollengedicht verzichtet Die Kindsmörderin vollständig auf die Strategien der Selbstbezichtigung der Frau. Der Autor zeichnet seine Kinds‐ mörderin nicht einfach als mordende Mutter, ihre psychische Konstitution ist vielschichtiger. Liebe, Eifersucht und Rachegedanken spielen für sie als eine betrogene Frau eine entscheidende Rolle. An die Mitmenschlichkeit wird un‐ mittelbar appelliert. Selbst der Henker kann sich am Ende nicht mehr gegen eine Träne wehren und zeigt damit Mitleid. Weibliche Sexualität wird in diesem Ge‐ dicht nicht als bedrohlich oder widernatürlich dargestellt, vielmehr beansprucht die Täterin für sich: „Wehe! menschlich hat dies Herz empfunden! - / Und Emp‐ findung soll mein Richtschwert sein! - / Weh! vom Arm des falschen Manns umwunden / Schlief Louisens Tugend ein.“ (FA 1, S. 387) Diese Kindermörderin verteidigt ihr Handeln, sowohl die voreheliche Sexualität als auch den Kinds‐ mord selbst. Nicht der Mann hat die falsche Frau gewählt, vielmehr die Frau hat den falschen Mann gewählt. Das ist ein eminenter Perspektivenwechsel. Das Gedicht ist frei vom Vorwurf einer moralischen Schuld oder Mitschuld der Mutter am Kindsmord. Denn die Frau ist Verführte und Verurteilte und damit doppeltes Opfer männlicher Gewalt. Mit dem Aufruf „Trauet nicht den Rosen eurer Jugend, / Trauet, Schwestern, Männerschwüren nie! “ (FA 1, S. 390), geht 206 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 42 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammati‐ sche Lektüren. Tübingen, Basel 2003, S. 35-58. 43 Zu diesem heute nahezu vergessenen elsässischen Lenz-Freund und Autor des Sturm und Drang vgl. meinen Nachdruck: Jakob Michael Reinhold Lenz u.a.: Jupiter und Schinznach / Ramond de Carbonnières: Die letzten Tage des jungen Olban. Mit einem Nachwort hgg. v. Matthias Luserke. Hildesheim, Zürich, New York 2001. der junge Autor an dieser Stelle weit über die kulturgeschichtlichen Deutungs‐ vorgaben hinaus. Die Kindsmörderin bittet nicht nur um Vergebung für ihre Tat im Jenseits, sondern wirbt gezielt um Verständnis im Diesseits. Schiller greift also mit seinem Gedicht ein genuines Thema der Aufklärung auf, er orientiert sich bei der literarischen Gestaltung an den bekannten Mustern des Sturm und Drang und geht zugleich über diese hinaus. „Der lohe Lichtfunke Prometheus ist ausgebrannt“ (I/ 2), heißt es gleich zu Beginn der Räuber, und dies kann gleichsam als Endergebnis sowohl des Sturm und Drang als auch von Schillers persönlicher Auseinandersetzung, seiner An‐ eignung und schließlichen Überwindung des Sturm und Drang verstanden werden, zählt doch die Prometheus-Mythe zu den Leitdiskursen des Sturm und Drang. 42 Und dennoch greift er die Muster der Sturm-und-Drang-Literatur auf und entwickelt sie weiter. Schiller hatte mit seinen Räubern etwas unverschämt Neues und Modernes für das damalige Publikum gewagt. Literaturgeschichtlich gesehen befindet sich der Autor mit seinem Stück freilich am Ende einer litera‐ rischen Entwicklung, insbesondere der Dramenliteratur, die in den Stücken von Gerstenberg, Goethe, Leisewitz, Klinger, Ramond de Carbonnières, 43 Lenz und Wagner ihre bedeutendsten Vertreter findet. Schiller orientiert sich ausdrücklich an einem dieser normbildenden Texte der Literatur des Sturm und Drang, an Goethes Götz von Berlichingen (1773). In seinem Brief an Dalberg vom 12. Ok‐ tober 1781, worin er sich gegen Dalbergs Änderungen am Text zugunsten einer geschmeidigeren Aufführung zur Wehr setzt, hebt er die „Simplicitaet“ (NA 23, S. 25) dieses Götz von Berlichingen als beispielhaft hervor, die nun durch Dalbergs Änderungen verloren gegangen sei. Allein diese Briefstelle belegt zur Genüge, wie sehr sich der junge Autor Friedrich Schiller an das Vorbild eines Sturm-und-Drang-Dramas angeschlossen hat. Im Februar 1782 erwähnt Schiller Goethes Götz noch einmal. Brieflich bekundet er dem Verleger Christian Fried‐ rich Schwan (1733-1815) gegenüber, der die von Schiller für die Mannheimer Bühne veränderte, jedoch nicht gespielte Fassung der Räuber 1782 druckte: „Wegen dem Göz von Berlichingen will ich an Göthe selbsten schreiben“ (NA 23, S. 31). Schwan hatte ihm ein durchschossenes Exemplar der Räuber mit zahl‐ reichen Randbemerkungen geschickt. 207 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 44 Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 161. - Vgl. Luserke: Sturm und Drang, S. 193f. 45 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 306. 46 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Studienausgabe. Parallel‐ druck der Fassungen von 1774 und 1787. Hgg. v. Matthias Luserke. Stuttgart 1999, S. 200. Dass damit auch die Konjektur ‚Ährenfelder‘ anstelle von ‚Ehrenämter‘, welche die meisten Werther-Ausgaben vornahmen, hinfällig wird, sei am Rande vermerkt, vgl. dazu meinen Kommentar ebd., S. 287. Untersucht man - was hier nur beispielhaft geschehen kann - einige Textstellen der Räuber genauer auf ihre Sturm-und-Drang-Signifikanz hin, so ergibt sich folgendes vorläufiges Bild: In Franz Moors Eingangsmonolog findet sich gleichsam ein naturrechtlich umgebogenes Geniederivat. Wenn Franz sagt: „Wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache. Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb, und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beim Überwältiger […]“ (I/ 1), dann verkehrt er damit eine gängige Formel des Sturm und Drang, die dem Sturm-und-Drang-‚Apostel‘ Christoph Kaufmann gerne in den Mund gelegt wurde, tatsächlich aber auf Lavater zurückgeht und in zahlreichen Varianten in der Sturm-und-Drang-Literatur kursierte: „Man kann, was man will; / Man will, was man kann! “ 44 Die Antinomie von Schneckengang und Adlerflug greift eine gebräuchliche Sturm-und-Drang-Metaphorik auf. Der Adler markiert den Ge‐ niehabitus. Spricht Karl Moor von Kolossen und Extremitäten, welche die Frei‐ heit ausbrüte, und setzt dies in den Kontext von bürgerlichem Gesetz und kraft‐ genialischem Freiheitspathos (vgl. I/ 2), rekurriert der Autor Schiller exakt auf diesen Sturm-und-Drang-Topos. Zu Beginn der ersten Szene des zweiten Akts sinniert Franz Moor über den „Schneckengang der Materie“ (II/ 1), womit eine Sentenz von Lenz konterkariert wird, der in einem Brief an Goethe vom Februar 1775 die „steife leise Schneckenmoralphilosophie die ihren großmütterlichen Gang fortkriecht“, 45 bespöttelt hat. Bei dem Versuch des Paters, Karl Moor und seine Räuberbande zur Umkehr zu bewegen, den Anführer gefangen zu nehmen und sich den Behörden zu stellen, lobt er als Prämie für die Rückkehr in den Mutterschoß der heiligen Kirche aus, „jedem unter euch soll der Weg zu einem Ehren-Amt offen stehn“ (II/ 3). Der Räuberhauptmann Moor kontert dies mit der Bemerkung: „Sie bietet euch Freiheit, und ihr seid wirklich schon ihre Gefan‐ gene. - […] Sie verheißt euch Ehren und Ämter, und was kann euer Los anders sein, wenn ihr auch obsiegtet, als Schmach und Fluch und Verfolgung“ (II/ 3). Man kann darin durchaus eine Anspielung auf jenen Passus in Goethes Werther (1774) erkennen, wo Werther selbst nach dem zerstörerischen Sturm an Wilhelm schreibt: „Und der Vergangenheit Sonnenstrahl blikte herein - Wie einem Ge‐ fangenen ein Traum von Heerden, Wiesen und Ehrenämtern“. 46 Das Pseudonym 208 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 47 Friedrich Maximilian Klinger: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. I: Otto. Das leidende Weib. Scenen aus Pyrrhus Leben und Tod. Hgg. v. Edward P. Harris. Tü‐ bingen 1987, S. 7. 48 Vgl. Karl Fries: Schiller und Plutarch, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und Deutsche Litteratur 1 (1898), S. 351-354 u. S. 418-431. Graf von Brand, welches Karl Moor in den Räubern zu Beginn von IV/ 1 ver‐ wendet, als er das väterliche Schloss aufsucht, lässt an Klingers Drama Das lei‐ dende Weib (1775) denken, wo der Geliebte der verheirateten Gesandtin von Brand heißt. Auch der sprichwörtliche ‚Wurm des Gewissens‘, den Schiller in zahlreichen Variationen zitiert (vgl. etwa IV/ 2; Fiesko I/ 9 u.ö.) und der als ur‐ sprünglich pietistisches, säkular anverwandeltes Derivat die Jugenddramen (einschließlich der Semele) wie einen Leitbegriff durchzieht, taucht in Klingers Trauerspiel Otto (1775) auf, und es wäre eine eigene Untersuchung wert, inwie‐ weit Klinger mit seinem Begriffsgebrauch die Wurmmetaphorik Schillers ge‐ prägt hat. Im Otto antwortet Graf Normann in der zweiten Szene des ersten Aktes auf die Frage, wie es ihm gehe: „Wie stehts um einen Wurm, den man hart auf den Kopf getreten hat, daß er sich nicht winden kann unter der Ferse seines Feindes? “ 47 Im Avertissement zu den Räubern ist bei Schiller zu lesen: „[…] wie alle Vergoldungen des Glücks den innern Wurm nicht töten, und Schrecken, Angst, Reue, Verzweiflung hart hinter seinen Fersen sind“ (FA 2, S. 178). Und in Kabale und Liebe fragt Louise die Lady Milford, „und wenn ihr verächtlicher Fersenstoß den beleidigten Wurm aufweckte“ (IV/ 7)? Auch im Don Karlos ge‐ braucht Schiller an zwei Stellen die Wurmmetaphorik zur Kennzeichnung von Hinterlist und Vergänglichkeit (vgl. Don Karlos, V. 996 u. V. 3221), und noch in der Maria Stuart (1801) wird die schottische Königin Maria Stuart in der be‐ rüchtigten Abendmahlszene bekennen, dass angesichts ihres Gattenmordes in ihrer Seele „der Wurm nicht schlafen“ will (V. 3700). Schillers Freund Körner wird sogar später noch in der Maria Stuart die „kräftigste Manier“ erkennen, „selbst das Jugendliche der Räuber in einigen Scenen Mortimers“ (NA 38/ I, S. 287). Auch die Bedeutung der Plutarch-Lektüre teilt Schiller mit Klinger. Die Zwillinge (1775) werden mit einer Referenz auf den römischen Geschichtsautor eröffnet, Grimaldi liest Guelfo aus dessen Parallelbiographien vor. 48 Zu Beginn der zweiten Szene des ersten Aktes der Räuber liest auch Karl Moor im Plutarch, legt das Buch beiseite und spricht die vielzitierten Worte: „Mir ekelt vor diesem Tintenklecksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.“ Schillers scharfe Kontrastierung der idealisierten Antike mit der zeitgenössischen Literatur und Kultur zeigt sich auch später noch in einem Brief an Charlotte von Lengefeld, worin er sich inzwischen die Position Karl Moors zu eigen gemacht hat. Im Plutarch zu lesen erhebe uns „über diese platte Gene‐ 209 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller ration“ (NA 25, S. 140). Das wiederum verweist auf Karl Moors Äußerung, das Zeitalter der Aufklärung sei „das schlappe Kastraten-Jahrhundert“ (I/ 2). Die empfindsame Topik - und hierin ist Schiller ganz Kind seiner Zeit -, die Amalia in ihrem Lied evoziert, schlägt sich auch in der geschlechterspezifischen Zu‐ weisung von Rollen- und Handlungsmustern nieder. Darüber hinaus enthält dieses Lied auch einige typische Wörter einer Sturm-und-Drang-Rede wie bei‐ spielsweise Blick, wütend, Flamme, stürzen, fliegen und rasen (vgl. III/ 1). Der Topos des rasenden Weibs wird ebenfalls bemüht: „Ich bin ein Weib aber ein rasendes Weib“ (III/ 1), sagt Amalia zu Franz Moor. Wie ein funkensprühendes Ross und eine Tigerin fühlt sie sich, als sie Franz in die Flucht geschlagen hat. Und was rasende Weiber bedeuten, darüber könnte sich Franz durch die zeit‐ genössische Dramenliteratur belehren lassen, ist doch der Topos des rasenden Weibs in der Literatur des Sturm und Drang der 1770er Jahre nahezu unent‐ behrlich. Sogar Lady Milford in Kabale und Liebe wird sich selbst als Rasende bezeichnen (vgl. IV/ 7). Eine einmalige Darstellung findet dieser Frauentypus in der Gestalt der Donna Diana in Lenz’ Der neue Menoza (1774), die fordert: „Laß uns Hosen anziehn und die Männer bei ihren Haaren im Blute herumschleppen. […] Ein Weib muß nicht sanftmütig sein, oder sie ist eine Hure […]“ (II/ 3). Die Schlussbemerkung der Räuberbande, womit sie die Trennung von ihrem An‐ führer Karl Moor kommentiert, der sich der Justiz stellen will, lässt sich auch als eine scharfe Kritik des jungen Autors Schiller an der Geniesucht der Sturm-und-Drang-Autoren selbst lesen: „Laßt ihn hinfahren. Es ist die Groß-Mann-Sucht. Er will sein Leben an eitle Bewunderung setzen“ (V/ 2). In den Räubern fehlt schließlich, wie in den meisten Bürgerlichen Trauerspielen dieser Zeit, im Personal der handelnden Figuren die Mutter. Diese Leerstelle ist signifikant und wird erst in Kabale und Liebe - da der Fiesko ja als republikani‐ sches Trauerspiel gilt - zumindest zeitweise besetzt. So sehr also die Räuber in der Tradition der Sturm-und-Drang-Dramen stehen und damit diese nahezu schon standardisierten Themen beschwören, so sehr beharren sie auf der kritischen Intention des Inhalts. Der Anspruch, im Stück eine „Kopie der wirklichen Welt“ (FA 2, S. 15) liefern zu wollen, wovon Schiller in der Vorrede spricht, bedeutet demnach auch die Darstellung der politischen Missverhältnisse dieser Welt, die in Kabale und Liebe einen einmaligen darstel‐ lungsdistinkten Höhepunkt mit hohem Aktualitätswert in der Kritik der Ver‐ hältnisse des württembergischen Hofs erreicht. Das war bereits in dem Gedicht Die schlimmen Monarchen vorgezeichnet, das ebenfalls in der Anthologie auf das Jahr 1782 erschienen ist, worin Schiller eine deutlich und engagiert vorgetragene Macht- und Herrschaftskritik formuliert, die er strukturell zwar mit einer ge‐ nuinen Sturm-und-Drang-Thematik teilt, die in der Literatur des Sturm und 210 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 49 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 333. 50 Zum goetheschen Begriff des Selbsthelfers vgl. Luserke: Sturm und Drang, S. 12. 51 Rolf-Peter Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, in: Interpretationen. Schillers Dramen. Hgg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1992, S. 68-102, hier S. 75. Drang aber selbst nur selten einen solch entschiedenen Ausdruckswert erhielt. Schiller steigert gewissermaßen noch die Vorlagen: Der ungerechte Landvogt oder Klagen eines Patrioten (1762) von Füssli, Heß und Lavater gemeinsam ver‐ fasst, und Der Besuch um Mitternacht und Die Pfandung (beide 1775) von Leise‐ witz, die einzigen Texte des Sturm und Drang mit einer dezidiert aktuellen po‐ litischen Intention. Insgesamt kann also kein Zweifel daran bestehen, dass so gesehen die Räuber auf einer literaturgeschichtlichen Linie mit den avantgardistischen Dramen des Sturm und Drang liegen. Das Musterbeispiel von Goethes Götz von Berlichingen schlägt auch beim jungen Schiller in den Räubern durch. Ein gewichtiges Argument, das eindeutig gegen die Vereinnahmung von Schillers Jugenddramen für den Sturm und Drang spricht, findet sich allerdings in der sogenannten Unterdrückten Vorrede zu den Räubern. Dort spricht sich Schiller dezidiert gegen die Literaturfähigkeit des Pöbels aus (vgl. FA 2, S. 163) und widerspricht damit beispielsweise Jakob Michael Reinhold Lenz, der sich selbst in einem Brief an Herder vom 28. August 1775 als „der stinkende Atem des Volks“ 49 bezeichnet hat. Im Fiesko wird Fieskos Frau Leonore beispielsweise als empfindsam charak‐ terisiert, während er selbst durchaus Züge eines Selbsthelfertyps des Sturm und Drang erkennen lässt und insofern als Variante eines solchen begriffen werden kann. 50 Allerdings ist Rolf-Peter Janz zuzustimmen, der resümierte: „Der beden‐ kenlose Spieler und Hasardeur aus der Familie der Kraftgenies hat mit dem Spiel der ‚schönen Seele‘, die aus Natur sittlich handelt, nichts zu tun. Von der ge‐ waltsamen Selbstbehauptung des Sturm-und-Drang-Helden zum klassizisti‐ schen Ideal der harmonischen Subjektivität führt kein Weg.“ 51 Die Eifersuchts‐ szene des Dramenanfangs wird zu Beginn des zweiten Aktes von der tragenden Akteurin Leonore fortgesetzt. Die Szene, in der Leonore Julia als ihre Neben‐ buhlerin erkennt, hat als Kurzszene regelrechten Sturm-und-Drang-Charakter. Der Schauspieler Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816) schrieb am 22. März 1784 aus Wien an den Intendanten des Mannheimer Theaters Wolfgang Heribert Freiherr von Dalberg (1750-1806), nachdem ihm über die Aufführung des Fiesko berichtet worden war: „Der Kaiser will keine Sturmund-Drangstücke, und das mit Recht! … Schillers neustes Stück kenn ich noch nicht. Es ist schade um des Mannes Talent, daß er eine Laufbahn ergreift, die der Ruin des deutschen Theaters ist. - Die Folge ist deutlich. Wird der 211 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 52 Zitiert nach Paul Böckmann: Schillers Don Karlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar. Stuttgart 1974, S. 400f. 53 Zitiert nach Böckmann: Schillers Don Karlos, S. 400. 54 Vgl. Helmut Scheuer: Friedrich Maximilian Klinger: Sturm und Drang, in: Interpretati‐ onen. Dramen des Sturm und Drang. Stuttgart 1987, S. 57-98, und Luserke: Sturm und Drang, S. 197. 55 Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 5., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1994, S. 83. Geschmack an diesen Sturm-und-Drangstücken allgemein, so kann kein Publikum ein Stück goutieren, das nicht wie ein Raritätenkasten alle fünf Minuten etwas anders zeigt - in welchem nicht alle Leidenschaften immer aufs höchste gespannt sind - […] ich hasse auch diese regellosen Schauspiele, die Kunst und Geschmack zugrunde richten. Ich hasse Schillern, daß er wieder eine Bahn eröffnet, die der Wind schon verweht hatte.“ 52 Schon am 29. September 1783 hatte Schröder mit Blick auf die Räuber gehofft: „Schillers Acquisition ist dem deutschen Theater zuträglich. Bei so vielem Ta‐ lente bedarf es nur Erfahrung, um den Sturm und Drang, der izt noch in seinen Arbeiten zu sehr herrscht, zu mäßigen“. 53 Dem Augenrollen, überhaupt der Bedeutung der Blickmetaphorik als kon‐ stitutivem Bestandteil der nichtsprachlichen Kommunikation der Figuren un‐ tereinander, die als signifikant für die Sturm-und-Drang-Dramen erkannt wurde, 54 begegnet man auch in Kabale und Liebe. Schiller übernimmt damit ein wesentliches, shakespearesierendes Sturm-und-Drang-Indiz, etwa dann, wenn die bürgerliche Louise zum adligen Ferdinand sagt: „Dein Auge rollt fürchter‐ lich“ (II/ 6), und Ferdinands Augenrollen in einer Regieanweisung so beschrieben wird: „die Augen graß in einen Winkel geworfen“ (IV/ 4). Das Genre des Bürgerlichen Trauerspiels wird in den 1770er Jahren durch den Einfluss der Sturm-und-Drang-Dramen deutlichen Veränderungen unter‐ worfen, so etwa bei Wagner in seinem Drama Die Kindermörderin (1776) oder bei Lenz in den Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776). Wenn unter anderem der Sexualitätsdiskurs und die historische Entwicklung von der beanspruchten Autonomie des Ichs im Sinne des sozialhistorischen Prozesses bürgerlicher Emanzipation im 18. Jahrhundert hin zur behaupteten Autokratie des Ichs in der Literatur des Sturm und Drang als Merkmale eines Bürgerlichen Trauerspiels in seiner Sturm-und-Drang-Variante begriffen werden, dann treten diese Merkmale auch in Schillers Kabale und Liebe zutage. Insofern ist Karl S. Guthke zuzustimmen, wenn er darauf verweist, dass Schillers Stück ein „Sam‐ melbecken von typischen Motiven der Gattung“ 55 darstelle. Dieser Eindruck schlägt sich auch in Schillers erster dramentheoretischer Schrift nieder. In ihrer 212 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 56 Hofmann: Schiller, S. 58. Wirkung und in ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung ist diese Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1785) allenfalls noch mit der Rede Anmerkungen übers Theater (1774) von Lenz zu vergleichen, worin er grundsätzliche Reflexionen über eine Dramentheorie des Sturm und Drang fest‐ gehalten hat. Schiller trägt seine Rede zehn Jahre später am 26. Juni 1784 der Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft in Mannheim vor, in die er Anfang Januar 1784 aufgenommen worden war. 1785 publizierte er den Text im ersten Heft seiner Rheinischen Thalia. In dem Essay Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten (1796) - also zu einem Zeitpunkt, als Schiller, um ein Wort Goethes ab‐ zuwandeln, sich selbst bereits klassisch geworden ist - äußert Schiller die An‐ sicht, dass der Geschmack Mäßigung und Anstand, also Apparaturen bürgerli‐ cher Selbstdisziplinierung fordere und der gute Ton ein grundsätzliches ästhetisches Gesetz darstelle. Schiller weiter: „Dieser Zwang, den sich der civi‐ lisirte Mensch bey Aeuserung seiner Gefühle auflegt, verschafft ihm über diese Gefühle selbst einen Grad von Herrschaft, erwirbt ihm wenigstens eine Fertig‐ keit den bloß leidenden Zustand seiner Seele durch einen Akt von Selbstthätig‐ keit zu unterbrechen und den raschen Uebergang der Gefühle in Handlungen durch Reflexion aufzuhalten“ (NA 21, S. 31). Schiller nennt dies „auch im Sturm der Empfindung die Stimme der Vernunft anhören“ (NA 21, S. 31). Hier wird also nochmals der nun bereits zwanzig Jahre zurückliegende Topos des ‚Sturms der Leidenschaften‘ bemüht und die Herrschaft der Vernunft bestätigt. Dass diese logokratische Argumentation eine Abwandlung der älteren de‐ corum-Lehre darstellt - was sich schickt und was im standesdistinkten Umgang miteinander ungebührlich ist - sei am Rande angemerkt. Über Kabale und Liebe wurde geurteilt: „Insgesamt lässt sich die Figur Ferdi‐ nands als deutliche Kritik an bestimmten Ausprägungen des Sturm und Drang ver‐ stehen, mit denen das Liebesideal der Empfindsamkeit aktivistisch umgedeutet und zu einem Werkzeug der Rebellion gegen die herrschende Ordnung gemacht werden soll“. 56 So gesehen hätte sich Schiller mit Kabale und Liebe schon einen entschei‐ denden Schritt von der Dramaturgie des Sturm und Drang entfernt. Man könnte diese Überlegung in der These zuspitzen, dass Schiller eine radikale Binnenkritik am Sturm und Drang aus einer Position des Sturm und Drang heraus vollzieht. Grundlage für diese immanente Dynamisierung und Binnenkritik des Sturm und Drang ist ein dichtes intertextuelles Verweisgeflecht, eine Art literarisch-topischer Kokon, der historisch verspätet Positionen des Sturm und Drang vorführt, kriti‐ siert und transformiert. Damit dokumentiert Schillers Frühwerk, am deutlichsten in Kabale und Liebe, ein Wissen um die Geschichtlichkeit des Sturm und Drang, die 213 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 57 Vgl. Alan C. Leidner: A titan in extenuating circumstances. Sturm und Drang and the „Kraftmensch“, in: PMLA 104 (1989), S. 178-189, bes. S. 185f., sowie Alan C. Leidner: Schiller and the End of the Sturm and Drang, in: Literature of the Sturm and Drang. Ed. by David Hill. Rochester 2003, S. 275-287 (mit einer großzügigen Periodisierung). 58 Zur ausführlichen Begründung vgl. Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literaturwis‐ senschaft, S. 79ff. - Michael Titzmann verfolgt eine ähnliche Aufgabenstellung, aller‐ dings von einem anderen theoretischen Ausgangspunkt aus und am Beispiel von Goe‐ thes Gedichten Grenzen der Menschheit und Das Göttliche, die er mit den Prometheus- und Ganymed-Oden korreliert, vgl. Michael Titzmann: Vom ‚Sturm und Drang‘ zur ‚Klassik‘. Grenzen der Menschheit und Das Göttliche - Lyrik als Schnittpunkt der Dis‐ kurse, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 42-63. den Sturm-und-Drang-Autoren selbst noch mangelte. Dieses Bewusstsein wie‐ derum spricht für das Argument einer literaturhistorischen Zäsur, die Schillers Ju‐ gendwerk nicht mehr dem Sturm und Drang subsumiert. Aus der Perspektive des Essays Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) gewinnt diese Argumentation zusätzlich an Plausibilität. Schiller stellt dort im achten Brief die vielzitierte Frage, „woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind? “ (NA 20, S. 331), obwohl das Zeitalter so aufgeklärt ist. Diese politisch zuge‐ spitzte fundamentale Kritik an der Aufklärung wird in Kabale und Liebe bereits präludiert. Schiller überbietet damit binnenkritisch Positionen des Sturm und Drang. Allerdings wird die Geradlinigkeit dieser Argumentation dadurch gebro‐ chen, dass auch dem Don Karlos deutliche Sturm-und-Drang-Attribute eignen. So wird die Hauptfigur selbst beispielsweise als ein „löwenkühner Jüngling“ (FA 3, S. 780) bezeichnet und diese handelt mit dem klaren Bekenntnis eines Sturmund-Drang-Genies: „das will ich“ (FA 3, S. 787). Diese und andere Beobachtungen mögen dazu geführt haben, dass der Kommentar zur Frankfurter Ausgabe über den Don Karlos resümierte: „Noch einmal wird eine Dramenfigur Schillers von der Genieästhetik des Sturm und Drang umrissen: Größe und (Selbst-)Bewun‐ derung aufgrund der individuellen Einzigartigkeit und des Willens zu auto‐ nomer, schöpferischer Tat“ (FA 3, S. 1158). Genau besehen sind dies aber Merk‐ male, die weniger auf Don Karlos selbst zutreffen als vielmehr auf Marquis Posa - freilich zum Preis des tragischen Scheiterns. Auch wenn der zeitgenössische Rezensent Christian Viktor Kindervater 1788 meinte, Don Karlos führe sich bei seiner Stiefmutter auf „wie eins der ersten Kraftgenies“ (zitiert nach FA 3, S. 1122). 57 Stehen die Jugenddramen Schillers Die Räuber, Semele, Fiesko und Kabale und Liebe im Zeichen des Sturm und Drang, so kann man den Don Karlos als ein wichtiges Bindeglied zwischen der Adaption von literarischen Mustern des Sturm und Drang durch den jungen Autor Schiller und dem Stilwillen der Wei‐ marer Klassik ansehen. Wenn die Jungfrau von Orleans als ein Zeugnis des Epo‐ chenumbruchs von der Klassik zur Romantik gelten kann, 58 dann lässt sich der 214 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 59 Hofmann: Schiller, S. 62. 60 [Anonym: ] Sendschreiben an die Grazien. O.O. 1817, S. 38. 61 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 525. Don Karlos als ein Zeugnis des Epochenumbruchs vom Sturm und Drang zur Weimarer Klassik lesen, weder dem einen ganz zugehörend noch vom anderen vollständig absorbiert. „Schillers Don Carlos ist ein Werk des Übergangs […] vom Sturm und Drang zur Klassik“. 59 Lange nach dem, was wir gewöhnlich als Wei‐ marer Klassik bezeichnen, und lange nach Schillers Tod 1805 notiert dann ein anonym gebliebener Zeitgenosse: „Laßt des idealisierens das uns Saft und Kraft raubt ein Ende werden! “ 60 Das klingt dann fast schon wieder wie jener Aufruf eines Zeitgenossen der Sturm-und-Drang-Autoren, Philipp Christoph Kayser (1755-1823), der sich in einem Brief vom 20./ 23. Februar 1777 an deren wohl bedeutendsten Vertreter Jakob Michael Reinhold Lenz findet: „Ich wünschte Dir und andern daß Ihr endlich einmal aufhörtet zu idealisieren [...]“. 61 Nun wäre eine weitere und differenziertere Analyse der Texte und Kontexte, als dies hier geleistet werden konnte, von Aufklärung, Sturm und Drang, Empfindsamkeit und Spätaufklärung in Schillers Jugendwerk wünschenswert. Schillers Weg zur Klassik jedenfalls ist ohne seine Prägung durch die Literatur des Sturm und Drang nur unvollkommen zu begreifen. 215 11. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller 1 Vgl. [Schack Hermann Ewald: ] Ueber das menschliche Herz - ein Beytrag zur Charak‐ teristik der Menschheit. 3 Bde. Erfurt 1784. 2 Vgl. [Ewald: ] Ueber das menschliche Herz, Bd. 3, S. 1. 3 Vgl. [Ewald: ] Ueber das menschliche Herz, Bd. 3, S. 7. 4 [Ewald: ] Ueber das menschliche Herz, Bd. 2, S. 35. 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis Im dritten Band des Werks Ueber das menschliche Herz (1784) von Schack Her‐ mann Ewald steht im Exemplar der Universitätsbibliothek Münster auf der In‐ nenseite des Buchdeckels von zeitgenössischer Schreiberhand der lateinische Eintrag: „ad Usum Logicorum“. 1 Ein anonymer Leser hat in unvergleichlicher Scharfsichtigkeit das festgehalten, was in der ursprünglichen Absicht der Formel ad usum delphini gerade die Verbindung von Literatur und Leidenschaft tilgen sollte: die Be-Reinigung des Textes von moralisch oder politisch bedenklichen Stellen für den zweckgebundenen Gebrauch. In dieser radikalsten Form der Ka‐ tharsis verliert die Literatur, verliert der Text, jeglichen Bezug zur Leidenschaft. Leidenschaft ist nun ausschließlich Objekt einer definitorischen Erkenntnisar‐ beit. Ewald bringt zunächst seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, welche Uneinigkeit unter den Philosophen über die Frage herrsche, was denn Leiden‐ schaften sind. 2 Als Grund und Basis einer Leidenschaft sieht Ewald die Empfin‐ dung an. 3 Er klassifiziert Empfindungen und Leidenschaften nach vernünftigen und unvernünftigen. Was eine vernünftige Empfindung beispielsweise ist, de‐ finiert er im zweiten Band: „Wenn eine Empfindung meinen Willen antreibt, einen Gegenstand zu begehren, und ich aus deutlicher Vorstellung einsehe, daß der Besitz desselben meinen Zustand verbessern werde ohne den des andern zu verschlimmern, so ist meine Begierde vernünftig.“ 4 Die Definition, die Ewald von den Leidenschaften gibt, macht das Dilemma des aufgeklärten Rationalisierungsversuchs deutlich. Die Absicht, die Erregung von Leidenschaften legitimatorisch an die funktionale Bestimmung von Lite‐ ratur zurückzubinden, ist desavouiert. Die kathartische Funktion von Literatur scheint nicht mehr Gegenstand fiktionaler oder nicht-fiktionaler Diskursivie‐ rung zu sein, der Leidenschaftsdiskurs bekommt wieder zunehmend eine ver‐ nunftorientierte Ausrichtung. Dies tritt besonders in Ewalds Definition der Lei‐ denschaften offen zutage: „Leidenschaften sind ein hoher Grad geistiger Empfindungen, die entweder unmittelbare Würkungen sinnlicher Eindrücke 5 [Ewald: ] Ueber das menschliche Herz, Bd. 3, S. 23. 6 Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [1762] (= Aus‐ gewählte Werke, hgg. v. P.M. Mitchell, Bd. 5.1 u. 5.2). Berlin, New York 1983, Bd. 5.1, S. 253. 7 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Bd. 5.2 (praktischer Teil), S. 335 (im Original gesperrt). 8 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Bd. 5.2, S. 338. sind, oder erst durch Nachdenken und Ueberlegung hervorgebracht werden. In dem Zustande der Leidenschaften sind wir uns einer sehr heftigen Bewegung unsers Geistes bewust, Verwirrung und Aufruhr wütet in unserm Innersten“. 5 Ein kurzer Rückblick zeigt den diskurshistorischen Ort von Ewalds Bestim‐ mung. Im theoretischen Teil zu seinem Buch Erste Gründe der gesammten Welt‐ weisheit (1762) gibt Gottsched eine Definition der Leidenschaft, die sich bereits zum Zeitpunkt der Publikation überlebt hatte. Doch zeigt gerade die Residualität der Definition das Bemühen, den Leidenschaftsdiskurs zu platonisieren und Leidenschaften dem logozentrischen Diskurs zuzuführen. Im § 299 - man denke zum Kontrast an die Systematisierungsverweigerung von Jakob Michael Rein‐ hold Lenz in seinen Anmerkungen übers Theater (1774)! - heißt es: „Die Veränderung des Zustandes in einem endlichen Dinge, hat ihren Grund entweder in ihm selbst, oder außer ihm, in einem andern Dinge. Ist das erste, so heißt sie eine Wirkung; ist aber das andere, so heißt sie eine Leidenschaft. Z.E. Einer Taschenuhr innerliche Theile bewegen sich; die Feder dehnet sich alle Augenblicke weiter aus: aber diese Veränderung hat ihren Grund in ihr selbst; darum ist es eine Wirkung. Der andern Theile Veränderungen hergegen haben ihren Grund in der Feder; und also sind dieselben eine Leidenschaft zu nennen“. 6 In Gottscheds Vergleich wird die gesamte Tragik der aufgeklärten Diskursivie‐ rung von Leidenschaften deutlich. Die mechanistische Vorstellung über deren Entstehung und Wirkung verdeckt die eigentliche Absicht: Was mechanisch arbeitet, was geordnet ist, was einer Mechanik konform funktioniert, lässt sich leichter überschauen, bewachen, disziplinieren. Einen technischen Prozess aber als Leidenschaft zu bezeichnen, offenbart die Hilflosigkeit des Aufklärers ge‐ genüber seinen Leidenschaften. Gottsched weiß, solange es Menschen gibt, werden die Leidenschaften nicht ausgerottet werden können. „Es ist also genug, daß wir dieselben unter den Gehorsam der Vernunft bringen lernen“, 7 schreibt er. In diesem Versuch der Unterordnung der Leidenschaften unter die Vernunft drückt sich „die ganze Kunst in Dämpfung einer Gemüthsbewegung“ 8 aus, wozu auch besondere Regeln erforderlich sind. Wer die Kunst beherrscht, wer den Zusammenhang von Herrschaft und Leidenschaft durchschaut, kann sich der 218 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 9 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Bd. 5.2, S. 343 (im Original ge‐ sperrt). 10 Benedictus de Spinoza: Die Ethik [1677]. Lateinisch und Deutsch. Revidierte Überset‐ zung v. Jakob Stern. Nachwort v. Bernhard Lakebrink. Stuttgart 1980, S. 253. - Adorno/ Horkheimer haben in der Dialektik der Aufklärung diese Stelle aus der Ethik zur allge‐ meinen Charakterisierung der Aufklärung herangezogen: „Aufklärung […] betrachtet die Leidenschaften ‚ac si quaestio de lineis, planis aut de corporibus esset‘“ (Spinoza: Die Ethik, S. 105). Allerdings ist dieses Diktum in dieser Verallgemeinerung nicht richtig, da es nur für die residualen und dominanten Diskursformen der Aufklärung zutrifft, nicht aber für den progredienten aufklärungskritischen Diskurs. 11 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 1.2: Der junge Goethe 1757-1775. Hgg. v. Gerhard Sauder. München, Wien 1987, S. 402. Leidenschaften zur Manipulation anderer bedienen, „gewisse Leute zu lenken, daß sie etwas thun oder lassen müssen“. 9 Zugleich drückt sich in der mechanis‐ tischen Vorstellung des Funktionierens der Leidenschaften eine als spinozistisch zu bezeichnende Denktradition aus. Spinoza schreibt in seiner Ethik (1677), deren lateinischer Titel Ethica Ordine Geometrico demonstrata lautet, im dritten Teil über die Affekte: „Ich werde […] die menschlichen Handlungen und Triebe geradeso betrachten, als handelte es sich um Linien, Flächen oder Körper“. 10 Der spätere Wunsch Goethes „Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit“, 11 wie er ihn in einer Rezension für die Frankfurter gelehrten Anzeigen 1772 formuliert hatte, ging also nicht in Erfüllung. Der rati‐ onale Diskurs philosophischer Wissenschaft hat die Disziplinierung der Lei‐ denschaften übernommen, er selbst übernimmt eine katalytisch-kathartische Funktion. Leidenschaften werden so lange diskursiv ‚ausgedämpft‘, wie dies Meier 1744 genannt hatte, bis die geringste mögliche affektive Besetzung aus‐ gelöscht ist. Der Damm aufgeklärter Diskurse ist wieder errichtet, die Gefahr gebannt. Demgegenüber ist das Resümee, welches von Holbach zieht, im Gesamt des Leidenschaftsdiskurses im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Einzelfall. Wehmut scheint mitzuschwingen, wenn er schreibt: „Man hat gesehn, daß Leidenschaften und Begierden dem Menschen wesentlich und zu seiner Erhaltung und Glückseligkeit nothwendig sind. Weil man die Wahrheit ver‐ kannte; so gaben uns viele Moralisten bloß unfruchtbare Regeln und unausführbare Vorschriften. In der Meynung, daß die Leidenschaften den Menschen immer nach‐ theilig wären, und sich unaufhörlich ihrer Glückseligkeit widersetzten, wollten sie solche gänzlich ausrotten. Sie geben den Menschen ganz kalt den Rath, nichts zu be‐ gehren. Sie sehen nicht, daß die Leidenschaften aus Bedürfnissen entspringen, - daß ohne Begierden der Mensch nicht angereizet würde sich zu erhalten, und daß er in 219 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 12 [Von Holbach: ] Geschichte der menschlichen Ausartung und Verschlimmerung durch das gesellschaftliche Leben, Tl. 1, S. 201f. Schwachheit und Traurigkeit, die sowohl ihm selbst, als der Gesellschaft, in welche ihn das Schicksal gesetzt hat, schädlich wäre, fallen würde“. 12 Die Strategien zur Diskursivierung der Leidenschaften sind indes fortge‐ schritten. An Schillers fiktionalem und ästhetischem Werk lässt sich ablesen, wie er selbst als Autor in diese Umbruchphase gerät und sie operativ mitbe‐ stimmt. Anfangs präsentiert sich Schiller als junger Autor noch in der rebelli‐ schen Geste des Autoritätenschrecks. Man denke etwa an die Vorrede zur ersten Auflage der Räuber (1781), wo er von den „allzu enge[n] Palisaden des Aristo‐ teles“ (SW 1, 485) spricht. Das Gedicht Freigeisterei der Leidenschaft, das im zweiten Heft der Thalia 1786 erschien, thematisiert schon im Titel die Schwie‐ rigkeiten einer Selbstdisziplinierung der Leidenschaften. Den „Flammentrieb“ des Herzens - man ist versucht, an Goethes ‚Flammenschriften‘ zu denken (s.u.) - zu „dämpfen“ (SW 1, 127), wird als Überforderung benannt. Der Schwur, sich „selbst zu bändigen“ (SW 1, 127), ist nicht zu halten. Das lyrische Ich ist gleichsam jenes zivilisatorische Ich, das zum Leidenschaftsverzicht gezwungen ist und sich mit dem Vorsatz zur Selbstdisziplinierung überfordert. Während das männliche Ich das Begehren nicht zügeln kann, bewundert die begehrte Frau sein „heldenmütiges Entsagen“ (SW 1, 128). Das Gedicht ist eine eindeutige Ab‐ sage an jenes Modell der Disziplinierung der wilden Leidenschaften, wie es Goethe in den Wahlverwandtschaften entwerfen wird. Die Kette der Fragen an die geliebte Frau in der vorletzten Strophe zeigt, dass es für Schiller zu diesem Zeitpunkt noch keine Versöhnung zwischen dem Anspruch einer Emanzipation der Leidenschaften und deren erforderter Disziplinierung gibt: „Besticht man dich mit blutendem Entsagen? Durch eine Hölle nur Kannst du zu deinem Himmel eine Brücke schlagen? Nur auf der Folter merkt dich die Natur? “ (SW 1, 129) Bezeichnenderweise hat Schiller der Publikation seines Gedichts die folgende Anmerkung beigefügt: Er könne „von jedem Leser erwarten […], er werde so billig sein, eine Aufwallung der Leidenschaft nicht für ein philosophisches System […] eines Dichters anzusehen“ (SW 1, 872, Anm. zu S. 127). Die Frage ist aber, weshalb ein Leser oder eine Leserin der Thalia überhaupt ein philoso‐ phisches System erwarten sollte? Schiller wehrt den imaginären Einwand ab, dass er einem emanzipativen Diskurs über Leidenschaften das Wort redet, im wörtlichen Sinn. Denn, wie es Louise Miller in Kabale und Liebe (1784) ihrem 220 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 13 Vgl. Bernward Grünewald: Das Theater - eine moralische Anstalt? , in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 29/ 2 (1984), S. 162-181, bes. S. 175. 14 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794-1805. Text. Hgg. v. Manfred Beetz. München, Wien 1990, S. 343. Vater gegenüber formuliert: „Die Buchstaben liegen wie kalte Leichname da und leben nur Augen der Liebe“ (SW 1, 836). Diese Schöpfungskraft der Leiden‐ schaften wird in Schillers weiterer Diskursivierungsarbeit sukzessive getilgt. Dies macht sich bereits im Don Karlos (1787) bemerkbar, wo in der Schlussszene Don Karlos selbst die Erfahrung mitteilt: „Es ist Vorbei. Ein reiner Feuer hat mein Wesen Geläutert. Meine Leidenschaft wohnt in den Gräbern Der Toten. Keine sterbliche Begierde Teilt diesen Busen mehr.“ (SW 2, 217) Die toten Buchstaben und die im Grab hausenden Leidenschaften werden, ver‐ schränkt man diese beiden Textstellen miteinander, eins. Der Diskursivierung der Leidenschaften im fiktionalen Diskurs droht das Ende und damit das Ein‐ geständnis der Wirkungslosigkeit der Fiktion. Nur eine andere Leidenschaft (in der Lesart von Kabale und Liebe) könnte der endgültigen Auslöschung der Lei‐ denschaften entgegenwirken, die das zivilisatorische Subjekt (in der Lesart der Freigeisterei) aufgrund des Disziplinierungsdrucks nun an sich vollzogen hat (in der Lesart des Don Karlos) oder glaubt, vollzogen zu haben. Im Don Karlos ist jene „Freiheit von Leidenschaften“ (SW 5, 640) antizipierend erreicht, die Schiller nach dem Beginn des Kant-Studiums 1791 in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) einfordert. In seinem Aufsatz Über die tragische Kunst von 1792 erwähnt Schiller nirgends expressis verbis die Katharsis. 13 Und auch die Anverwandlungen sind nicht so greifbar, wie man nach einer Briefstelle vom 5. Mai 1797 an Goethe vermuten könnte: „Ich bin mit dem Aristoteles sehr zufrieden“. 14 Man könnte aber durchaus in der folgenden Formulierung den Rekurs auf ein frei anverwandeltes Katharsisverständnis bei Schiller sehen: „Der Affekt, in welchen uns fremde Leiden versetzen, ist für uns ein Zustand des Zwanges, aus welchem wir eilen uns zu befreien, […]. Das Gemüt muß also an diese Vors[t]el‐ lungen gewaltsam gefesselt und der Freiheit beraubt werden, sich der Täu‐ schung zu frühzeitig zu entreißen“ (SW 5, 386f.). Problematisch ist es, den scheinbar ungenügenden schillerschen Katharsisbegriff historisierend zu Ende 221 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 15 Grünewald: Das Theater, S. 177. 16 Grünewald: Das Theater, S. 181. 17 Vgl. auch Albert Meier: Die Schaubühne als eine moralische Arznei betrachtet. Schillers erfahrungsseelenkundliche Umdeutung der Katharsis-Theorie Lessings, in: Lenz-Jahr‐ buch 2 (1992), S. 151-162, bes. S. 154f. zu denken. Das führt dazu, Katharsis als „Erhebung“ 15 zu verstehen. Ob eine heutigentags inszenierte Tragödie tatsächlich die Gefühlstugend der „ästheti‐ schen Tapferkeit“ 16 vermitteln kann, womit das ungenügende alltägliche Gefühl erhoben, eben kathartisiert werde, ist zweifelhaft. Abgesehen von der Schwie‐ rigkeit, wie dieser Prozess konkret zu denken ist, und auch abgesehen davon, dass mit dieser Lesart wenig mehr als ein Rückgriff auf das Katharsisverständnis eines Andreas Gryphius gewonnen wäre, belehrt der bloße Theaterbesuch, dass die Zeiten (und der Wunsch) einer moralischen Stärkung durch das Theater obsolet geworden sind. 17 Man sollte den Leidenschaftsdiskurs bei Schiller ins‐ gesamt zur Analyse mit heranziehen und den verschiedentlichen Filiationen des schillerschen Katharsisbegriffs nachgehen. In seinem Aufsatz Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1785) findet sich die fast schon bis zur Unkenntlichkeit abgegriffene Übernahme der aristotelischen Katharsis in der Formulierung über die positive Funktion des Theaters: „[…] unsre Empfin‐ dung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsre schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen“ (SW 5, 831). Erst allmählich ge‐ steht Schiller der Literatur insgesamt - und nicht nur vorzugsweise der Tragödie - eine zivilisatorische Funktion zu. Zeugnis dieser Erweiterung des Katharsis‐ diskurses ist seine Rezension Über Bürgers Gedichte, worin Schiller offen mit dem aristotelischen Katharsisbegriff operiert. Dort heißt es über die Dichtkunst: „Die Sitten, den Charakter, die ganze Weisheit ihrer Zeit müßte sie, geläutert und veredelt, in ihrem Spiegel sammeln“ (SW 5, 971). Als die wichtigste Aufgabe des Dichters wird gefordert, „seine Individualität so sehr als möglich zu ver‐ edeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern“ (SW 5, 972). Hier deutet sich bereits Schillers Bruch mit dem Verständnis einer aufgeklärten Ka‐ tharsis an. Schiller zielt nun auf das Programm einer fiktionalen Idealisierung, der Leidenschaftsdiskurs erfährt einen hochgradigen Sublimationsschub. Der Dichter als der „aufgeklärte, verfeinerte Wortführer der Volksgefühle“ (SW 5, 974), als Herr der Affekte, müsse das „Leidenschaftsbedürfnis“ des Publikums oder der Leser nicht bedienen, sondern „für die Reinigung der Leidenschaft nutzen“ (SW 5, 974). Die durchaus konzedierte „Übermacht der Leidenschaft“ kann nur durch das in der Dichtung dargestellte „Idealschöne“ (SW 5, 982) aufgehoben werden. 222 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis Und doch bleibt Schiller der Forderung einer zivilisatorischen Funktion von Li‐ teratur und Kunst verpflichtet, wie die Ästhetischen Briefe zeigen. Vom Künstler wird hier sogar verlangt, dass er nicht nur die soziale Affektkontrolle zum Nutzen des zivilisatorischen Fortschritts lenkt, sondern dabei zugleich sich be‐ müht, auch sein Jahrhundert „furchtbar wie Agamemnons Sohn […] zu reinigen“ (SW 5, 593). Bei Schiller erfährt die Literatur - um sie als pars pro toto für die Künste herauszugreifen - gerade dadurch, dass sie Schritt für Schritt aus dem Leidenschaftsdiskurs herausgenommen wird, eine komprimierte zivilisatori‐ sche Funktion. Kunst und Literatur werden zu Wegbereitern einer wahrhaft aufgeklärten menschlichen Gesellschaft, die frei von Leidenschaften ist. Ka‐ tharsis bedeutet nun, dass der Mensch sich von der Macht der Natur (den Lei‐ denschaften) im „ästhetischen Zustand“ (SW 5, 646) befreit, die er im moralischen Zustand endgültig zu beherrschen vermag. In der 1795/ 1796 in den Horen veröffentlichten Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung schreibt Schiller über den Unterschied zwischen Tra‐ giker und Komiker: „Jener zeigt also durch beständige Erregung, dieser durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst“ (SW 5, 725). Die Tragödie trage wesentlich zur Wiederherstellung und Stabilisierung der Gemütsfreiheit bei, während die Komödie sie erst hervorbringe. Die weitere Zivilisierung des aufgeklärten Menschen kann vor diesem Hintergrund nur als Changieren zwi‐ schen Erregung und Abwehr von Leidenschaften verstanden werden, mit dem Ziel ihrer endgültigen Auslöschung bzw. der definitiven Herrschaft über sie. Schiller mutmaßt eine „ästhetische Tendenz“ in der Natur des Menschen, die „durch Läuterung seiner Gefühle zu diesem idealistischen Schwung des Gemüts kultiviert werden kann“ (SW 5, 794), wie es in seinem Aufsatz Über das Erhabene (1801) heißt. Die Katharsis fungiert jetzt als Katalysator einer idealistischen Kultivierung. Schiller hat sich intensiv und affirmativ mit der Philosophie Kants beschäftigt, geht aber am Ende des Jahrhunderts deutlich auf Distanz zum Königsberger Philosophen. In einem Brief an Wilhelm von Humboldt vom 30. November 1795 ist zu lesen: „Eine Scene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse! Ich verzweifle nicht ganz daran, wenn mein Gemüth nur erst ganz frey und von allem Unrath der Wirklichkeit recht rein gewaschen ist“ (NA 28, S. 120). Der gesellschaftskritische Impetus, von dem noch die Kallias-Briefe zeugen, ist ver‐ braucht. Im Frühjahr 1797 stellt der Dichter seine theoretische Produktion ein und wendet sich ausschließlich wieder lyrischen und dramatischen Arbeiten zu. Diesen „sauren Weg“ (NA 28, S. 79) der philosophischen Reflexion einzu‐ schlagen, sei notwendig gewesen, teilt er Goethe am 16. Oktober 1795 mit. Nun sei er allerdings froh, wieder zur poetischen Arbeit zurückkehren zu können. 223 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis Wie eine etwas bittere Bilanz klingt es, wenn er schreibt, „die Philosophie er‐ scheint immer lächerlich, wenn sie […] der Welt Gesetze geben will“ (NA 28, S. 79). Schon im Essay Über Anmut und Würde hatte er an Kants Moralphilosophie moniert, dass sie den Weg zu einer „finstern und mönchischen Ascetik“ (NA 20, S. 284) bahnen könne. Im Dezember 1798 erinnert ihn Kant an einen Mönch (vgl. NA 30, S. 15). Ähnlich heißt es auch im Sommer 1799 in einem Brief an Goethe, Kants Entwicklung sei „gar zu mönchisch“ (NA 30, S. 77), er habe nie damit versöhnt werden können. Schon am 17. Dezember 1795 hatte Schiller Goethe brieflich mitgeteilt, es sei „hohe Zeit, daß ich für eine Weile die philosophische Bude schließe“ (NA 28, S. 132). Und anlässlich einer Rezension zur Jungfrau von Orleans schreibt Schiller an Goethe im Brief vom 20. Januar 1802, es sei ihm wieder deutlich geworden, dass „von der Transcendentalen Philosophie zu dem wirklichen Factum“, nämlich dem Kunstwerk, „noch eine Brücke“ fehle, mit „allgemeinen hohlen Formeln“ (NA 31, S. 88) sei wenig gewonnen. Schiller mag dabei auch an seine eigenen philosophischen Arbeiten der 1790er Jahre gedacht haben, gelegentlich lässt er jedenfalls - jenseits eines brieflichen Understate‐ ments - eine solche Einsicht erkennen. „Meine lange Entwöhnung von allen theoretischen Kunstansichten und allem Raiso‐ nement hat mich ordentlich dagegen stumpf gemacht, auch hat mir das leere meta‐ physische Geschwätz der Kunstphilosophen alles Theoretisieren verleidet. In der That verträgt sich diese Geistesoperation nicht mit der Ausübung, denn da muss man die Gesetze aus dem Gegenstande schöpfen und findet sich mit keiner allgemeinen Formel gefördert“ (NA 32, S. 173f.). In seinem Todesjahr resümiert er am 2. April 1805 ernüchternd: „Die speculative Philosophie, wenn sie mich je gehabt hat, hat mich durch ihre hohle Formeln verscheucht, ich habe auf diesem kahlen Gefild keine lebendige Quelle und keine Nahrung für mich gefunden“ (NA 32, S. 208). Am Ende dieser Essays also steht die Einsicht, das philosophische Geschäft tauge nicht für die Praxis des litera‐ rischen Schreibens. Der 7. Dezember 1795 markiert daher einen Wendepunkt in Schillers essayistischem Schreiben, mithin in seiner Beschäftigung mit Fragen der Kunst- und Moralphilosophie. Wilhelm von Humboldt gegenüber stellt er fest, er sei entschlossen, sich von der „philosophischen Schriftstellerey“ (NA 28, S. 124) zurückzuziehen. Die Arbeit an der Wallenstein-Trilogie hatte bereits be‐ gonnen. Welche Auswirkungen das Konzept eines idealistischen Triebverzichts hat, lässt sich am Beispiel von Friedrich von Ehrenbergs Liebesratgeber verdeutli‐ chen. Die Leidenschaft der Liebe soll demnach so weit veredelt werden, dass sie jeglicher Sinnlichkeit entkleidet ist: „[…] sich von der Herrschaft der Sinnlich‐ 224 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 18 Euphranor. Ueber die Liebe. Ein Buch für die Freunde eines schönen, gebildeten und glücklichen Lebens. Hgg. v. Friedrich von Ehrenberg. 2 Tle. 1. Tl., 2., veränderte u. vermehrte Aufl. Mit einem Kupfer. Elberfeld, Leipzig 1809; 2. Tl. ebd. 1806; hier Tl. 2, S. 192. 19 Euphranor. Ueber die Liebe, Tl. 2, S. 196. 20 Vgl. Friedrich Jakob Floerken: Leidenschaft, in: Johann Georg Krünitz: Ökono‐ misch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-Stadt-Haus- und Land-Wirthschaft, wie auch der Erdbeschreibung, Kunst- und Naturgeschichte, in alphabetischer Ordnung. Fortgesetzt v. Friedrich Jakob Floerken. 2. Aufl. Berlin 1806, Bd. 75, S. 1-510. Ich zitiere im Folgenden nach dieser zweiten, text- und seitenidenti‐ schen Auflage. 21 Floerken: Leidenschaft, Bd. 75, S. 1. keit zu einem großen und reinen Sinne zu erheben: das ist die Aufgabe der Ver‐ edlung an den Menschen“. 18 Und wenig später heißt es: „Der Mensch soll in seiner Befriedigung nicht den thierischen Kitzel, nicht die Gluth der Leiden‐ schaft, sondern das Wohlgefallen der Harmonie, die Wonne des Einseyns ge‐ nießen. Er soll sich immer mehr reinigen von dem Bedürfnisse gemeiner Lust“. 19 Hier wird die Katharsis als letzte zivilisatorische Instanz des Triebver‐ zichts propagiert. Die Literatur hat die Katharsis als Funktion des Zivilisations‐ prozesses endgültig verloren. In einem Lexikonartikel zum Stichwort Leidenschaft, von dem man nicht sagen kann, dass es in einen literarischen oder in einen poetologischen Diskurs in irgendeiner Form programmatisch eingeschrieben wurde, kommt besonders deutlich das Dilemma zum Ausdruck, Leidenschaften als Grundlage von menschlichem Handeln und als soziale Basis erkannt zu wissen und sie dennoch der begrifflichen Arbeit zuführen zu müssen. 1798 erscheint in Berlin der 75. Band einer Ökonomisch-technologischen Encyklopädie mit dem 510 Seiten um‐ fassenden Lemma Leidenschaft, verfasst von Friedrich Jakob Floerken. 20 Schon der Einleitungssatz greift bereits jenes begriffliche Dilemma der Aufklärung am Ende des Jahrhunderts auf: „Leidenschaft, ist ein Wort, welches mancherley Be‐ griffe mit sich führt, und bey uns auch Affect oder Passion heißt.“ 21 An einigen Argumenten von Floerkens Artikel lässt sich die Wandlung des Leidenschafts‐ diskurses im ausgehenden 18. Jahrhundert verfolgen. Floerken legt definitorisch den Leidenschaftsbegriff folgendermaßen fest: „In der weitesten Bedeutung aber verstehen wir unter Leidenschaft, 1) eine Verände‐ rung, welche von außen in einem Dinge hervorgebracht wird, und wobey sich dasselbe leidentlich verhält, im Gegensatze der Handlung; eine Bedeutung, in welcher dieses Wort jetzt zuweilen bey den neuern Weltweisen vorkommt. In diesem Verstande ist die Veränderung, welche in einem Schwamme vorgeht, wenn man ihn zusammen‐ drückt, eine Leidenschaft. 2) In engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, eine jede 225 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 22 Floerken: Leidenschaft, Bd. 75, S. 2. 23 Floerken: Leidenschaft, Bd. 75, S. 14. 24 Floerken: Leidenschaft, Bd. 75, S. 14. Begierde, und in noch weiterem Verstande, eine jede Gemüthsbewegung, wenn sie zu einer Fertigkeit geworden ist, weil sich die Seele dabey leidentlicher verhält als sie sollte. In diesem Verstande sind Liebe, Haß, Verlangen, Abscheu, Traurigkeit, Furcht, Verzweiflung, u.s.w. sobald sie zur Fertigkeit werden, Leidenschaften. In solchem Ue‐ bermaße wird sogar die Liebe zum Leben, Leidenschaft. Im gemeinen Leben aber hält man jeden einzelnen Ausbruch menschlicher Triebe für eine Leidenschaft“. 22 Floerken differenziert zwischen den Begriffen Begehren und Sehnen auf der einen und dem Begriff der Leidenschaft auf der anderen Seite. Begehren und Sehnen nennt er die „Mütter einiger Leidenschaften, aber nicht Leidenschaften selbst“. 23 Er gebraucht die eindrückliche Metapher des schwellenden Wassers als Zivilisationsmodell der Triebdisziplinierung: „Fast möchte ich den Vergleich wagen, und sagen, die Begierden im Menschen wären das, was das Wasser auf der Erde sey - schwillt dieses an, so drückt und tobt es an allen Ufern, wie es gedämpfte und zurückgehaltene Leidenschaften thun - bricht es aber aus, und erhält es einen Fluß, dann ist es eben das, was beym Menschen die fortströ‐ menden Leidenschaften sind.“ 24 Kant wird auf diese Damm- und Dammbruch‐ metapher zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder zurückkommen. Dazwischen liegen aber für die historische Untersuchung der Diskursivierung von Leiden‐ schaften einschneidende Differenzierungsschübe, die den Verlustprozess der zi‐ vilisatorischen Funktion von Literatur nachhaltig beschleunigen. Kant trägt entscheidend mit dazu bei, dass der Begriff der Leidenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts negativ besetzt wird. In seiner Anthropologie wird er die Leiden‐ schaften endgültig aus dem Gesamt der aufgeklärten Pathoskultur, jenem kul‐ turellen Dispositiv über die Leidenschaften in der Aufklärung, eliminieren. Ähnlich abwertend lesen sich auch die Ausführungen in Heinrich Zschokkes kompilatorischem Werk Ideen zur psychologischen Ästhetik (1793): „Leidenschaften sind Begierden, deren Quell zu oft gereizte und zu oft gesättigte Triebe sind; sie schränken die freie Wirksamkeit der Seele ein, sind durchaus herrschend, und zuweilen mit dem Affekt verbunden, zuweilen nicht. […] Affekten beziehn sich unmittelbar auf Empfindung, Leidenschaften auf Begierde. Affekten können zur Un‐ terstützung moralischer Freiheitsäußerungen dienen, Leidenschaften sind immer un‐ moralisch. […] Affekten darf der edle Künstler mittheilen, aber Leidenschaften nie; er 226 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 25 Heinrich Zschokke: Ideen zur psychologischen Aesthetik. Berlin, Frankfurt a.d.O. 1793, S. 258f. 26 Immanuel Kant: Werkausgabe, Bd. 8: Die Metaphysik der Sitten. Hgg. v. Wilhelm Wei‐ schedel. Frankfurt a.M. 1977, S. 539. 27 Kant: Werkausgabe, Bd. 8, S. 540. 28 Kant: Werkausgabe, Bd. 8, S. 540. 29 Vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, S. 557. 30 Kant: Werkausgabe Bd. 12, S. 580. kann den Menschen von der Botmäßigkeit jener oft erretten, aber von der Herrschaft dieser selten“. 25 Die terminologische und definitorische Differenzierung zwischen Affekten und Leidenschaften schuf im philosophischen Diskurs zwar die Möglichkeit einer genaueren begrifflichen Argumentation. Dies ging aber zu Lasten des ange‐ stammten poetologischen Kapitals. Leidenschaften, Erregung und Katharsis von Leidenschaften, werden für die Literatur aus Sicht des theoretischen Diskurses mehr und mehr suspekt. Da die Literatur ihre kathartische, zivilisatorische Funktion einbüßt, ist die Lehr-Stelle der Leidenschaftserregung als Disziplinie‐ rungsmedium einer Leer-Stelle gewichen. In der Metaphysik der Sitten (1797) hatte der Philosoph Kant eine klare Definition des nunmehr an den philosophischen Diskurs delegierten zivilisatorischen Er‐ fordernisses gegeben. Über sich selbst Herr zu sein, bedeute, „seine Affekten zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen“. 26 Die Disziplinierung ist jetzt in Herrschaft übergegangen, das Bild von der poetischen Reitkunst, wie es noch Lenz gebrauchte, ist nun eine allgemeine zivilisatorische Chiffre geworden und versinnbildlicht nicht mehr die entschiedene Zurückweisung der aristotelischen Poetik. Während die Affekte zum Bereich des Gefühls von Lust und Unlust ge‐ hören, resultiert Leidenschaft aus sinnlicher Begierde, die sich zur „bleibenden Neigung“ 27 entwickelt. Der tugendhafte Mensch müsse, um tugendhaft zu sein, seiner Vernunft die „Zügel der Regierung“ 28 über Affekte und Leidenschaften übergeben. Die Vernunft ist als Herrschaftsinstanz über die Leidenschaften re‐ stituiert. Die erste Auflage von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erscheint 1798. Die Verwandtschaft von Affekten und Leidenschaften, so kriti‐ siert Kant, führe immer wieder zu einer Vermengung oder Verwechslung beider. 29 Die Herrschaft der Vernunft über Affekte oder Leidenschaften zu ver‐ lieren, sei gleichbedeutend mit einer „Krankheit des Gemüts“. 30 Mit dieser Be‐ stimmung nimmt Kant übrigens einen bereits in dem Aufsatz Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) geäußerten Gedanken wieder auf. Eine „Diät des 227 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 31 Kant: Werkausgabe, Bd. 2: Vorkritische Schriften bis 1768, S. 901. 32 Kant: Werkausgabe, Bd. 2, S. 889. 33 Vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 581f. Wenig später fügt Kant noch die folgenden Merkmale hinzu: ‚Krankheit‘, ‚Bezauberung‘, ‚Sucht‘, ‚ausnahmslos böse‘ und ‚mora‐ lisch verwerflich‘ (vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 599ff.). 34 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 600. 35 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 599. 36 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 601. 37 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 601. 38 Vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 602. Gemüts“ und „katharktische [! ] Mittel“ 31 seien gegen die Krankheiten des Kopfes - worunter Kant in erster Linie intellektuelle Schwächen versteht - wenig hilf‐ reich, denn er weiß: „Ist etwa eine Leidenschaft besonders mächtig, so hilft die Verstandesfähigkeit dagegen nur wenig“. 32 Diese Schrift zielt allerdings noch in einem ironischen Ton auf die mangelnde Erkenntniskraft einiger Philosophen‐ kollegen, wohingegen die Anthropologie den Anspruch der systematischen Ar‐ chitektonik vorträgt. Die Abwertung von Leidenschaften drückt sich bei Kant in dem gehäuften Gebrauch pejorativer Begriffe aus, mit denen er Leidenschaften und ihre Wir‐ kung auf den Menschen charakterisiert. Das sind ‚Schwindsucht‘, ‚Abzehrung‘, ‚Krankheit aus verschlucktem Gift‘, ‚Verkrüppelung‘, ‚hinterlistig‘, ‚versteckt‘, ‚Wahnsinn‘. 33 Im Abschnitt Von den Leidenschaften findet sich schließlich die oft zitierte Pathologisierung der Leidenschaften. Im § 78 heißt es dort: „Leiden‐ schaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar“. 34 Dieser Pathologisierung stellt Kant die Logofizierung der Leiden‐ schaften voran: „Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, sie, in Ansehung einer gewissen Wahl, mit der Summe aller Neigungen zu verglei‐ chen, ist die Leidenschaft (passio animi)“. 35 Reine Vernunftwesen und Tiere sind frei von Leidenschaften, doch derjenige Mensch, der die Herrschaft über sich selbst verliert, also von Leidenschaften beherrscht wird, findet seine „Lust und Befriedigung am Sklavensinn“. 36 Kant malt das Bild dieser Herrschaft drastisch aus. Die Leidenschaften sind Ketten, womit er den Bildbereich der Knechtschaft fortsetzt, unter denen der Unglückliche seufzt und die „gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen verwachsen sind“. 37 Demzufolge wehrt Kant auch alle Ver‐ suche, Leidenschaften zu verteidigen und als notwendigen Faktor der Mensch‐ heitsgeschichte zu verbuchen, kategorisch ab. Er unterscheidet zwei Gruppen von Leidenschaften, nämlich diejenigen Leidenschaften, die natürlich, also an‐ geboren sind, und diejenigen, die aus der kulturellen Entwicklung der Mensch‐ heit resultieren. 38 Alle Leidenschaften beider Gruppen sind antizivilisatorisch und müssen daher vermieden oder gar vernichtet werden. Kant trifft eine wich‐ 228 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 39 Kant: Werkausgabe, Bd. 12. Ähnlich auch S. 605: „Leidenschaften gehen eigentlich nur auf Menschen und können auch nur durch sie befriedigt werden“. 40 [Alexander Gottlieb Baumgarten: ] Philosophische Brieffe von Aletheophilus. Frankfurt, Leipzig 1741, S. 86 (Hervorhebung M.L.-J.). 41 Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürger‐ lichen Staates [1651]. Hgg. u. eingeleitet v. Iring Fetscher. Übersetzt v. Walter Euchner. Frankfurt a.M. 1984, S. 97. Hobbes stellt auch ausdrücklich heraus, dass es Leiden‐ schaften gibt, die den Menschen friedfertig machen (vgl. Hobbes: Leviathan, S. 98). 42 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 582. 43 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 571. 44 Vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 573. tige Festlegung im Diskurs über die Leidenschaften am Ende des Jahrhunderts, allen Leidenschaften ist gemeinsam, dass sie „immer nur von Menschen auf Menschen, nicht auf Sachen, gerichtete Begierden“ sind. 39 Der unverzichtbare kommunikative Aspekt wird von Kant aus dem Leidenschaftsdiskurs getilgt. Jetzt geht es nicht mehr um die Frage der Disziplinierung von Leidenschaften durch Diskursivierung, sondern die Eliminierung von Leidenschaften wird bei Kant zum Indikator zivilisatorischen Fortschritts. Die frühaufklärerische Er‐ kenntnis, wonach manche Leidenschaften nicht auszurotten sind, die in Baum‐ gartens differenzierter Tilgungsforderung Ausdruck gefunden hatte: „Daß die Leidenschaften, die wieder [! ] Vernunft und Natur zuviel thun, auszurotten, wird niemand leugnen“, 40 ist bei Kant einem radikalen Auslöschungsgebot gewichen. Thomas Hobbes’ noch vorsichtiges Urteil: „Die Begierden und anderen mensch‐ lichen Leidenschaften sind an sich keine Sünde. Die aus den Leidenschaften entspringenden Handlungen sind es ebenfalls so lange nicht, bis die Menschen ein Gesetz kennen, das sie verbietet“, 41 findet in Kant seinen Vollstrecker. Dem Verbot folgt die Tilgung und Kants im philosophischen Diskurs formuliertes Gesetz schreibt diese Tilgung fest. In diesem Konzept ist es undenkbar ge‐ worden, dass Literatur Leidenschaften erregt und sie kathartisiert. Rigoros ein‐ deutig schreibt er stattdessen: „Leidenschaft [...] wünscht sich kein Mensch. Denn wer will sich in Ketten legen lassen, wenn er frei sein kann? “ 42 Kant kommt zwar in der Anthropologie kurz auf die Dichtkunst als die „diskursive Vorstel‐ lungsart […] durch Schrift“ 43 zu sprechen, doch zieht er aus der Einsicht, dass sie auf die Stimmung des Gemüts zielt, keine weiteren Schlüsse. 44 Kant beschreibt am Ende der Aufklärung nochmals die durch den Zivilisati‐ onsprozess erforderte Affektkontrolle und trägt damit die Tilgung der Leiden‐ schaften in das pädagogische Programm einer zivilisatorischen Erziehung ein. In der Schrift Über Pädagogik aus dem Jahr 1803 nennt er vier wesentliche Ele‐ mente der familialen und gesellschaftlichen Erziehung, nämlich Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung. Disziplinierung bedeutet, „su‐ 229 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 45 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 693-761, hier S. 706. 46 Vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 697. 47 Vgl. [ Joseph Richter: ] Umsturz der christlichen Moral oder der Kloster-Fasching. Mit Kupfern. 2 Hefte. O.O. 1787. 48 [Richter: ] Umsturz der christlichen Moral, 2. Heft, S. 93. 49 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 728. 50 Vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 442. chen zu verhüten, daß die Tierheit nicht der Menschheit, in dem einzelnen so‐ wohl, als gesellschaftlichen Menschen, zum Schaden gereiche. Disziplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit“. 45 Disziplin ist jene zivilisatorische Gelenkstelle, wo sich die Tierheit in die Menschheit wandelt. 46 Die Disziplin unterwirft die Menschen den Gesetzen der Gesellschaft, auch das Gesetz der Tilgung von Lei‐ denschaften ist Teil dieses Disziplinierungsprogramms. Der Disziplinbegriff ist schon in der antiklerikalen, vorrevolutionären Lite‐ ratur der Aufklärung im Sinne einer Diffamierung der gescheiterten Selbstdis‐ ziplinierung des aufgeklärten Subjekts gebräuchlich, das belegt das Buch von Joseph Richter Umsturz der christlichen Moral oder der Kloster-Fasching (1787). 47 Unter der Überschrift Die Disciplin schreibt Richter: „In jedem Mönchskloster sind gewisse Täge zur Disciplin bestimmt; allein, wie wenig diese Kasteyungsart geschickt sey, die bösen Begierden aus diesen heiligen Leibern zu verjagen, läßt sich schon daraus abnehmen, daß man unter den Mönchen alle nur mögliche Laster findet. Es ist aber auch sicher nicht der Mönche Absicht, den Teufel auszutreiben, sondern die Disciplin ist für sie eine eben so mechanische Uebung als das Chorsingen und Brevierbeten, und ihr Rücken ist gegen die Geisselhiebe eben so gefühllos und abge‐ härtet, als gegen die Reibung der rauhen Kutte“. 48 Kant spricht ausdrücklich davon, dass die Kultivierung auch eine „Kultur der Seele“ 49 umfasst und insofern nicht nur auf die Vermittlung zivilisatorischer Standards und Fertigkeiten (wie Lesen und Schreiben) abzielt. Die Zivilisierung vermittelt die Kompatibilität von individuellen Ansprüchen und gesellschaftli‐ chen Erfordernissen; sie zielt auf die ausgeprägte Selbstkontrolle zum Nutzen des Gemeinwohls, was letztlich, wie Kant selbst kritisch in der Anthropologie bemerkte, dazu führt, dass die Menschen, je zivilisierter sie werden, desto bes‐ sere Schauspieler sind. 50 Die Zivilisierung ist abhängig von dem jeweils herr‐ schenden Zeitgeschmack. Die Moralisierung dient der mentalitätsspezifischen Schulung. Durch sie werden der Tugendkanon der bürgerlichen Gesellschaft, Kriterien für moralisch verantwortliches Handeln, Leistungsgebote und ver‐ bindliche gesellschaftliche Normen kultureller Praxis vermittelt. Durch die Be‐ 230 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 51 Vgl. Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 699. 52 Kant: Werkausgabe, Bd. 12, S. 707. 53 Vgl. [von Holbach: ] Geschichte der menschlichen Ausartung, Tl. 1, S. 208. 54 Johann Christoph König: Philosophie der schönen Künste. Nürnberg 1784, S. 86. König spricht sogar vom „Zauberstabe“ (ebd.) der Leidenschaft. 55 Thomas Arnold: Beobachtungen über die Natur, Arten, Ursachen und Verhütung des Wahnsinns oder der Tollheit. [Tl. 1 o.T.]. Leipzig 1784; Zweyter und letzter Theil, wel‐ cher Beobachtungen über die Ursachen und die Verhütung des Wahnsinnes enthält. Aus dem Englischen von Johann Christian Gottlich Ackermann. Leipzig 1788, 2. Tl., S. 228f. folgung dieser vier Erziehungspostulate wird es erst möglich sein, dass der Mensch Mensch wird, 51 und das bedeutet, dass der Mensch aufgeklärt wird: „Der Mensch kann entweder bloß dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen, oder würklich aufgeklärt werden“. 52 Kant schreibt dies über die Aufklärung zu einem Zeitpunkt, wo sie sich bereits selbst historisch geworden ist. Die aufgeklärte Leidenschaft ist das Ergebnis einer an aufgeklärt-vernünf‐ tigen Kriterien ausgerichteten zivilisatorischen Übung. Die einfache Bestim‐ mung, die noch von Holbach geleitet hatte, dass Leidenschaften Begierden seien, die den Menschen bewegen 53 , ist am Ende der Aufklärung einem komplexen definitorischen Wissen gewichen. Logofiziert der philosophisch-ästhetische Diskurs die Leidenschaften und stellt lediglich fest: „wir urtheilen anders mit - und anders ohne Leidenschaft“, 54 so psychiatrisiert sie der psychologische Dis‐ kurs. In einem psychiatrischen Werk der Spätaufklärung, das 1788 in deutscher Übersetzung erscheint, heißt es über den Zusammenhang von Leidenschaften und Wahnsinn: „Unstreitig wurden uns die Leidenschaften zu weisen und wohlthätigen Endzwecken eingepflanzet; aber die Thorheit der Menschen hat diese Endzwecke zu den unge‐ schicktesten und schädlichsten gemacht. Sie sind Diener, nicht Gebieter, Mittelswege unter Leitung der Vernunft, nicht das Ziel der menschlichen Glückseligkeit. Um ihrer eigentlichen Bestimmung zu entsprechen, nämlich das Wohlseyn der Menschen zu befördern, sollten sie verschieden, sanft und dem Willen untergeordnet seyn; man sollte ihnen blos in dem Grad nachhängen, als es das Verhältniß eines richtigen und geltenden Vorsatzes fodert“. 55 Der Konnex zwischen medizinisch-psychiatrischem und philosophisch-morali‐ schem Diskurs, wie ihn noch Johann Friedrich Zückerts Medicinisch-moralische Abhandlung von den Leidenschaften garantiert hatte, löst sich im letzten Drittel 231 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 56 Johann Friedrich Zückert: Medicinisch-moralische Abhandlung von den Leiden‐ schaften. 4. Aufl. Berlin 1784 [ 1 1768]. Zu Zückert vgl. Wolfram Mauser: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung, in: Lessing Yearbook 20 (1988), S. 87-120, hier S. 99f. - Vgl. dazu auch die medizinhistorische Dis‐ sertation von Jürgen Peter Heck: Die Leidenschaften als ärztliches Problem im Aufklä‐ rungszeitalter. München 1962. Ergänzend zu Hecks Arbeit vgl. auch Kurt Sprengel: Handbuch der Pathologie. 3 Tle. Leipzig 1795-1797, bes. Tl. 1: Allgemeine Pathologie, §§ 849ff. (‚Von dem Einfluß der Leidenschaften auf den Körper‘), S. 625ff. 57 F.C.G. Scheidemantel: Die Leidenschaften als Heilmittel betrachtet. Hildburghaußen 1787, S. VIII. 58 Michael Lenhossek: Darstellung der menschlichen Leidenschaften in physischer und moralischer Hinsicht. Für Aerzte, Erzieher und jeden gebildeten Leser. Pesth 1808, S. 31. - Vgl. auch M. L.: Untersuchungen über Leidenschaften und Gemüthsaffekten, als Ursachen und Heilmittel der Krankheiten. Pesth 1804; M. L.: Darstellung des mensch‐ lichen Gemüths in seinen Beziehungen zum geistigen und leiblichen Leben. Für Ärzte und Nichtärzte höherer Bildung. 2 Bde. Wien 1824 u. 1825. 59 Lenhossek: Darstellung der menschlichen Leidenschaften, S. 37 (im Original gesperrt). 60 Lenhossek: Darstellung der menschlichen Leidenschaften, S. 38. 61 Vgl. Fried[rich] Wilh[elm] Basil[ius] von Ramdohr: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. 4 Bde. Leipzig 1798, Bd. 1, S. 242. Im fünften Buch, Kapitel zwei heißt die Kapitelüberschrift: „Semiotik, Zeichenlehre der Leidenschaft der Liebe“. des 18. Jahrhunderts auf. 56 Der Versuch Scheidemantels, sich aus dem „Fache der practischen Arzneykunde“ 57 zu Wort zu melden und die Leidenschaften als Heil‐ mittel zu betrachten, bleibt singulär und für den literarischen und poetologi‐ schen Diskurs folgenlos. Das Bemühen, den Leidenschaftsdiskurs auszusondern und das Thema Leidenschaften als ausschließlich psychologisches und medi‐ zinisches Problem aufzufassen, setzt sich im 19. Jahrhundert verstärkt fort. Der Arzt Michael Lenhossek definiert die Leidenschaft als einen „mit heftigen Ge‐ fühlen verbundene[n] Hang, wobey es der Vernunft unmöglich wird, den Willen nach moralischen Gründen zu bestimmen“. 58 Lenhossek kritisiert zwar falsches, sogenanntes zivilisiertes Verhalten, das nicht jene Leidenschaften zum Aus‐ druck bringt, welche es hervorbringen; die „Sprache der Leidenschaften“ 59 be‐ ruht nach seinem Verständnis auf falschem Sprechen. In der „gesitteten Welt aber, wo man sein Inneres zu verhehlen lernt, weiß man die Geberden der Lei‐ denschaften nicht nur zu verbergen: man hat es in der Kunst sogar so weit ge‐ bracht - entgegengesetzte Zeichen zu heucheln“. 60 Diese falsche Semiotik der Leidenschaften, wie Ramdohr es genannt hatte, 61 schützt aber nicht vor der grundsätzlichen Pathologisierung der Leidenschaften im medizinischen Dis‐ kurs. Ein Mensch mit Leidenschaften ist auch für Lenhossek ein kranker Mensch. „Die übermäßige Herrschaft der Leidenschaften und Affekten, welche bey unzähligen Subjekten so sehr überhand genommen hat, ist gewöhnlich die 232 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 62 Lenhossek: Darstellung der menschlichen Leidenschaften, S. 61. 63 Lenhossek: Darstellung der menschlichen Leidenschaften, S. 101. 64 Lenhossek: Darstellung des menschlichen Gemüths, S. 69 (§ 24 des ersten Teils). 65 Friedrich Bouterwek: Kleine Schriften philosophischen, ästhetischen, und litterarischen Inhalts [1818]. Im Anhang Ideen zur Metaphysik des Schönen. Eine Zugabe zur Aes‐ thetik [1807] und Parallelen [1791]. Reprint Hildesheim, New York 1975, S. 19. 66 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, 7. Aufl., S. 591. 67 Carl von Dalberg: Grundsaetze der Aesthetik deren Anwendung und künftige Entwi‐ ckelung. Erfurt 1791, S. 33. 68 Psychologisches Magazin. Erstes und zweytes Stück. Altenburg 1796; hier 2. St., S. 87. Folge physischer Schwäche und zu grosser Empfindlichkeit der Nerven“. 62 Die Wiederherstellung der Herrschaft der Vernunft ist das Ziel der ärztlichen The‐ rapie: „Der Seelenarzt hat für das Wohl seines Kranken genug geleistet, wenn er die Leidenschaften zu mässigen, gehörig zu leiten, und der Vernunft unter‐ zuordnen im Stande war“. 63 Lenhossek stellt die Leidenschaften in eine Reihe mit psychischen Erkran‐ kungen. Sie unterscheiden sich „von den wirklichen Krankheiten der Seele nur durch ihre kürzere Dauer“. 64 Die aufgeklärte Pathoskultur ist hier schon so weit diffundiert, dass nur noch ein chronometrisches Kriterium die Art der psychi‐ schen Krankheit definiert. Der Aufklärungsoptimismus beginnt einer zunehmenden Zivilisations‐ skepsis zu weichen, Bouterweks resignierende Frage ist hierfür durchaus re‐ präsentativ: „Wie klein ist der Theil des Volks, der […] über gemeine Barbarey hinaus ist? “ 65 Auch Schiller hatte schon in seinen Ästhetischen Briefen ähnlich resigniert gefragt: „woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind? “ 66 Doch hat sich der „Götze der Leidenschaft“ 67 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht eindämmen lassen. Die Einsicht wächst, dass sich die Literatur der Leitung der Vernunft entzieht. In Goethes Wahlverwandtschaften wird sich das Scheitern der Diskursivierung von Leidenschaften vollenden, die Literatur hat ihre zivilisa‐ torisch-disziplinäre Funktion verloren. Der Publikationsort der nachfolgend zi‐ tierten Klage, worin der Verlust der Aufklärung als Folge falscher Lektüre be‐ nannt wird, ist bezeichnend. Der fiktionale Leidenschaftsdiskurs steht dem Projekt der Moderne, der Vollendung der Aufklärung, entgegen. Im Psychologi‐ schen Magazin von 1796 ist zu lesen: „Welche Aufklärung müßte sich allmählig in Deutschland verbreiten, wenn allgemein statt der vergiftenden Romane und anderer Modebücher die Schriften eines Wieland’s, Göthe’s, Herder’s, Schiller’s, Garve’s, Müller’s (in Itzehoe), Knigge’s, Lessing’s, Salz‐ mann’s, Henning’s, Archenholz’s, Stille’s, Vierthaler’s, Klinger’s, Campe’s, Stuve’s u.s.w. gelesen würden? O! “ 68 233 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 69 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hgg. v. Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877-1913. 2. Nachdruckauflage. Hildesheim, New York o.J., Bd. 23, S. 388. 70 Vgl. Herder: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. 389. - Zu weiteren Katharsisreferenzen in der Adrastea vgl. Herder: Sämtliche Werke, Bd. 23, S. 349, 351, 355, 357f. u. 385f. 71 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Mol‐ denhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969ff. Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik 1, S. 82. Keiner hat präziser diesen Funktionsverlust der Literatur auf den Begriff ge‐ bracht als Johann Gottfried Herder in seiner Adrastea von 1802. Zweck eines Dramas sei es, die Leidenschaften im Menschen so zu kathartisieren, dass sie ein „Werkzeug der Vernunft“ 69 werden. Der Weise aber und Tugendhafte, so Herder weiter, also der wahrhaft Aufgeklärte, bedürfe des Theaters nicht. 70 Li‐ teratur hat ihre elementare soziale Funktion der Katharsis verloren. Belehrung, Besserung, Reinigung der Leidenschaften und andere Zwecke gehen, so wird es bei Hegel heißen, das Kunstwerk nichts an und definieren nicht seinen Be‐ griff. 71 Der Prozess der Dekathartisierung der Literatur und Kunst hat begonnen. 234 12. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis 1 Carl Gebhardt (Hg.): Der Briefwechsel Arthur Schopenhauers. München 1929, Bd. 1, S. 11. 2 Gebhardt (Hg.): Der Briefwechsel Arthur Schopenhauers, Bd. 1, S. 11. 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer „Philosophie geht ihren Gang nicht jenseits der wirklichen Geschichte“. (Max Horkheimer: Die Aktualität Schopenhauers) Am 4. August 1803 schreibt Johanna Schopenhauer an ihren fünfzehnjährigen Sohn Arthur: „Überhaupt wünschte ich, daß du die Dichter alle sammt und son‐ ders auf einige Zeit über Seite legtest und eine ernsthaftere Lektüre wähltest“. 1 Ich möchte im Folgenden nun nicht aufzuzeigen versuchen, ob und inwieweit der Sohn dem Ratschlag seiner Mutter gefolgt ist. Ich möchte auch nicht ge‐ wichten, welche Dichter und Werke auf Arthur Schopenhauer den größten Ein‐ fluss gehabt haben könnten. Ich werde vielmehr - als Literaturwissenschaftler - einem Eindruck nachgehen, der sich bei mir nach der Lektüre schopenhauer‐ scher Schriften festgesetzt, verdichtet und als These figuriert hat. Diese These lautet: Hinter der funktionalen Anwendung schillerscher Zitate durch Scho‐ penhauer - die man in einem provisorischen, hier nicht weiter ausgeführten Zugriff als Abwehr imaginativer Einwände deuten könnte - steht die Erfahrung einer philosophiegeschichtlichen Kontinuität, die vom Wandel eines ästheti‐ schen Paradigmas gekennzeichnet ist, es ist der Wechsel vom Ideal zur Idee. Noch geht es beim jungen Schopenhauer um das Spannungsverhältnis von Ideal und Wirklichkeit. In dem bereits zitierten Brief der Mutter heißt es hierzu: „Ich gestehe, die Beschäftigung mit den Meisterwerken des Genius ist äußerst reizend, aber wer sich zu anhaltend damit abgibt, verliert am Ende allen Ge‐ schmack an ernstern Dingen, und glaube mir, Schiller selbst wäre nie, was er ist, wenn er in seiner Jugend nur Dichter gelesen hätte“. 2 Man kann wohl davon ausgehen, dass den jungen Schopenhauer diese Ausführungen seiner Mutter nicht überzeugt haben, und vielleicht hat sie es auch geahnt, denn sie schließt ihren Brief mit den beschwörenden Worten: „Du weißt, ich habe Gefühl fürs Schöne, ich freue mich, daß du es von mir vielleicht geerbt hast; aber dies Gefühl 3 Gebhardt (Hg.): Der Briefwechsel Arthur Schopenhauers, Bd. 1, S. 12. 4 Vgl. Robert Musil: Gesammelte Werke in 9 Bänden. Hgg. v. A. Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, Bd. 7, S. 970: „Die Dichtung hat nicht die Aufgabe das zu schildern, was ist, sondern das, was sein soll; oder das, was sein könnte, als eine Teillösung dessen, was sein soll“. 5 Arthur Schopenhauer. Der Handschriftliche Nachlaß, Bd. 5: Randschriften zu Büchern. Hgg. v. A. Hübscher. Frankfurt a.M. 1968, S. 432. 6 Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe. Werke in 10 Bänden. Zürich 1977, Bd. 3, S. 143. kann uns nun einmal in dieser Welt, wie sie ist, nicht zum Leitfaden dienen, das Nützliche muß vorausgehen und alles in der Welt wollte ich dich lieber werden sehen als einen sogenannten Bel-esprit“. 3 Um es überspitzt zu formulieren: Auf der einen Seite stehen Pragmatisten, in Schopenhauers Jugend vertreten durch die Mutter - die Welt, wie sie ist -, auf der anderen Seite stehen Idealisten, vertreten durch Schiller - die Welt, wie sie sein sollte, oder, um ein Wort Robert Musils zu variieren: Die Welt, wie sie sein könnte als Teillösung dessen, wie sie sein sollte. 4 Diese Antinomie zwischen Sein und Sollen bzw. Können entfaltet sich in Schopenhauers wie in Schillers Werk gleichermaßen mit allen Spannungen und Unwägbarkeiten. Nur die jeweiligen konzeptuellen Lösungen, die angeboten werden, unterscheiden sich erheblich. Zunächst aber - und es könnte sich hierbei durchaus um das corpus delicti han‐ deln - greift Schopenhauer weiter nach Schillers Gedichtbänden, von denen Teil 1 und 2 in den Jahren 1800 und 1803 in Leipzig erschienen waren, und macht sich noch ohne philosophische Prätentionen eine respektlose Randnotiz zu der folgenden Strophe aus dem Gedicht An die Freude: „Seid umschlungen Milli‐ onen! / Diesen Kuß der ganzen Welt! / Brüder, - über’m Sternenzelt / Muß ein lieber Vater wohnen“. Schopenhauer ergänzt: „Daß er nur nicht h’runterfällt! / Er ist alt und muß sich schonen. -“ 5 Wie denkt nun der älter gewordene Schopenhauer über Dichter und Dichtung? Diese Fragestellung soll den Rahmen meiner Überlegungen pointiert mit zwei Äußerungen Schopenhauers abstecken. Zum einen schreibt er im Kapitel „Zur Wissenschaftslehre“ in Die Welt als Wille und Vorstellung: „Wollte ein Philosoph damit anfangen, die Methode, nach der er philosophiren will, sich auszudenken; so gliche er einem Dichter, der zuerst sich eine Aesthetik schriebe, um sodann nach dieser zu dichten: Beide aber glichen einem Menschen, der zuerst sich ein Lied sänge und hinterher danach tanzte“. 6 Die zweite Textstelle findet sich in den Parerga und Paralipomena in jener Vorrede, die Schopenhauer seinen ei‐ genen Versen voranstellt. Man könne nicht Dichter und Philosoph zugleich sein, schreibt er hier, denn in Gedichten wage „der Mensch sein subjektives Inneres freier zu zeigen [...], als in der Prosa, und sich überhaupt auf eine mehr rein menschliche, mehr persönliche, jedenfalls ganz andersartige Weise mittheilt, als 236 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 7 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 10, S. 710. 8 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hgg. v. G. Fricke u. H.G. Göpfert. 7. Aufl., München 1984, Bd. 5, S. 1015 (fortan zitiert als: SW, mit Band- und Seitenzahl). 9 Ein Gesichtspunkt, der m.E. bislang in der Fülle anderer Teilaspekte untergegangen ist. Otto Kiefers Aufsatz (Schopenhauer und Schiller, in: Schopenhauer-Jahrbuch 37 [1956], S. 1-8) ist der mir einzig bekannte, der dieser Frage dezidiert nachgeht. 10 Rudolf Presber: Arthur Schopenhauer als Aesthetiker verglichen mit Kant und Schiller. Dissertation. Heidelberg 1892, S. 23. in Philosophemen, und eben dadurch einigermaaßen näher an den Leser her‐ antritt“. 7 Was das erste Zitat betrifft, so ist der Vergleich interessant, den Scho‐ penhauer zieht, denn jener Philosoph gliche einem Dichter, der sich selbst eine Ästhetik vorgäbe und dann danach dichtete. Das aber, so belehrt uns auch Schiller in einem Nachlassblatt, ist schlicht unmöglich. „Naturrecht, Politik, Moral, Ästhetik“ - so heißt es da - „wie gut sie sich auch im System ausnehmen, gestatten so wenig Anwendung auf Welt, Leben und Kunstschöpfung“. 8 Und schließlich das zweite Zitat, das besagt, dass Dichtung auf eine ganz andersartige Weise, nämlich rein menschlicher und persönlicher als die Philosophie das sub‐ jektiv Innere des Menschen zeigt. Wie nun aber, wenn ein Dichter philosophiert? Konkret: Wie steht es um den Ästhetiker Friedrich Schiller bei Schopenhauer? Die Tatsache, dass Schopen‐ hauer nur den Dichter, 9 nicht aber den Ästhetiker Schiller zitiert, hat Rudolf Presber in seiner Dissertation von 1892 schon zu folgender Einschätzung ver‐ leitet: „Von Schiller in seine Lehre hinübergenommen hat Schopenhauer nichts; er hat von dem Dichter Schiller sehr gross gedacht; den Philosophen Schiller kannte er nicht. Ersteres ist leicht zu beweisen aus zahlreichen Stellen der An‐ erkennung und aus Citaten, letzteres ebenso leicht daraus, dass Schopenhauer nirgends den Philosophen Schiller citiert“. 10 Ich denke, man kann - und die fol‐ genden Ausführungen sollen dies verdeutlichen - schon begründet danach fragen, ob ein geschichtlicher Zusammenhang zwischen Schillers Ästhetik und Schopenhauers Philosophie besteht, ohne dabei den Gefahren einer vulgari‐ sierten Einflussforschung zu erliegen. Paradox und mit der nötigen Zuspitzung formuliert: Ich suche nach jenen Zitaten, die nicht zitiert werden. Also nicht die Funktion und Bedeutung der Schiller-Zitate in Schopenhauers Text werde ich untersuchen (obgleich dies sicherlich eine lohnende Aufgabe wäre), auch soll nicht dem Metaphysiker Schopenhauer die schillersche Ästhetik unterge‐ schoben werden. Vielmehr beabsichtige ich, in einem ersten Zugriff, den Wandel von einer Position wie derjenigen der schillerschen Ästhetik zu einer Position wie derjenigen der schopenhauerschen Metaphysik des Schönen zu skizzieren. Aus dieser Skizze soll sich abschließend die Frage nach dem cui bono? , nach der 237 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 11 Arthur Schopenhauer: Metaphysik des Schönen. Philosophische Vorlesungen, Tl. 3. Aus dem handschriftlichen Nachlaß. Hgg. u. eingeleitet v. Volker Spierling. München 1985, S. 120. 12 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 118. 13 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 118. 14 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 118 (vgl. auch Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 269). Aristoteles nennt dies mímesis práxeon kaì bíou (Poetik 1450 a 16/ 17). 15 Vgl. Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 10, S. 457. 16 Vgl. Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 92. 17 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 92f. 18 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 93. 19 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 10, S. 466. 20 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 10, S. 462. literaturästhetischen Brauchbarkeit solcher Konzepte herausschälen oder doch zumindest angedeutet werden. Die Poesie sei, sagt Schopenhauer in seiner Vorlesung zur Metaphysik des Schönen, „eine Stütze und Hülfe der Philosophie, eine Fundquelle von Beispielen, ein Erregungsmittel der Meditation, und ein Probierstein moralischer oder psy‐ chologischer Lehrsätze“. 11 Literatur als Probierstein von Lehrsätzen? Diese Frage wird uns bei unserem bevorstehenden Gang durch Metaphysik und Ästhetik begleiten. Schopenhauer sagt: Jedes vorhandene Ding, jeder Gegenstand als Re‐ präsentant einer Idee ist schön, also auch der Mensch. 12 Die Offenbarung seines Wesens ist das höchste Ziel der Kunst. 13 Das „bedeutendste Objekt“ der Dichtung aber ist „menschliches Handeln“. 14 Die Idee der Menschheit zur Darstellung und Gestaltung zu bringen, ist Ziel und Zweck der Kunst, Darstellung und Gestal‐ tung von menschlichem Handeln ist Ziel und Zweck der Dichtkunst. Bedingung der Erkenntnis der Idee ist die Veränderung des (willenbehafteten) Erkenntnis‐ subjekts zum reinen, d.h. willensreinen 15 Subjekt des willenlosen Erkennens. 16 Dies ist der Zustand der „reine[n] Kontemplation, Aufgehn in der Anschauung, Verlieren im Objekt. Vergessen aller Individualität“. 17 In diesen Zustand - der phänomenologisch viel mit jenem ‚anderen Zustand‘ aus Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften gemein hat - versetzt uns die Schönheit, das ist „die bedeutsame seine Idee ausdrückende Gestalt des Objekts“. 18 Schönheit gewinnt somit als erkenntniskonstitutives Korrelat ontologische Qualität. Bezogen auf den Objektbereich der Dichtung (nämlich menschliches Handeln) besagt dies, dass diesem Handeln Schönheit substanziell eigen ist. Im § 211 der Parerga und Paralipomena definiert Schopenhauer wie folgt: „‚Schön‘ ist [...] schaulich [...], was sich gut zeigt, sich gut ausnimmt, also das deutlich hervortretende An‐ schauliche, mithin der deutliche Ausdruck bedeutsamer (Platonischer) Ideen“. 19 Erkenntnis bedeutsamer Ideen ist „Urerkenntniß“, 20 die jeglicher dichterischen 238 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 21 In einer umfassenderen Studie müsste hier die Bedeutung des Genies mitberücksichtigt werden. Die Genialität des Genies drückt sich nach Schopenhauer im „Ergreifen der Idee aus der Wirklichkeit“ aus: „Es schöpft aus der unendlichen Fundgrube der wirkli‐ chen Welt die Ideen, die es im Kunstwerk darstellt“ (Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 88). Vgl. hierzu Otto Pöggeler: Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu Heidegger. Freiburg, München 1984; darin Teil B: Schopenhauer und das Wesen der Kunst, S. 112-169. 22 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 38. Hans-Dieter Bahrs Interpretation des schopenhauerschen Schönheitsbegriffs greift zu kurz. Es ist nicht „die Schönheit königlicher Roben“ und „herrschaftlicher Feste“, die Schopenhauer meint, wenn er von der Repräsentation der Ideen von Gegenständen als Schönheit spricht (H.-D. B.: Das gefesselte Engagement. Zur Ideologie der kontemplativen Ästhetik. Bonn 1970, S. 174). 23 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 87 (vgl. auch Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 222ff.). 24 Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Tl. 3, S. 65. 25 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 314. 26 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 314. wie philosophischen Arbeit zugrunde liegt. 21 Demzufolge ist „das Schöne [...] eine Erkenntniß in uns, eine ganz besondere Erkenntnißart“. 22 Der Urerkenntnis folgt, produktionsästhetisch betrachtet, die Aussonderung der Idee aus der Wirklichkeit, die „Auslassung aller störenden Zufälligkeiten“, 23 es beginnt die Arbeit der bewussten Idealisierung. Verdeutlichen wir uns diesen Schritt wie‐ derum am Objekt der Dichtung: Zeigt sich menschliches Handeln als deutlicher Ausdruck bedeutsamer Ideen, ist es also schön, dann wird es seiner Wirklich‐ keitsverbindungen entkleidet, bewusst idealisiert, um die Idee als Idee deutlicher und damit wirkungsmächtiger hervortreten zu lassen. Schopenhauer bringt es selbst auf die Formel: „Ihr [der Kunst] einziger Ursprung ist Erkenntniß der Idee: ihr einziger Zweck, Mittheilung dieser Erkenntniß“. 24 Diesem Akt der Idealisierung scheint nun aber ein anderes dichtungsästhe‐ tisches Theorem Schopenhauers diametral entgegenzustehen. Man denke an die Ausführungen im § 51 von Die Welt als Wille und Vorstellung, an die Bestimmung des Dichters als homo communis, als „der allgemeine Mensch: Alles, was irgend eines Menschen Herz bewegt hat, und was die menschliche Natur, in irgend einer Lage, aus sich hervortreibt, was irgendwo in einer Menschenbrust wohnt und brütet - ist sein Thema und sein Stoff; wie daneben auch die ganze übrige Natur“. 25 Bemerkenswert ist die Schlussfolgerung: „Demnach darf Niemand dem Dichter vorschreiben, daß er edel und erhaben, moralisch, fromm, christlich, oder Dies oder Das seyn soll, noch weniger ihm vorwerfen, daß er Dies und nicht Jenes sei. Er ist der Spiegel der Menschheit, und bringt ihr was sie fühlt und treibt zum Bewußtseyn“. 26 Analog formuliert Schopenhauer dies rezepti‐ onsästhetisch: „wir verlangen [...] den treuen Spiegel des Lebens, der Mensch‐ 239 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 27 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 317. 28 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 316. 29 Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in 3 Bänden. Hgg. v. Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 2, S. 648. 30 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 650. 31 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 653. 32 Die Distinktion von Metaphysik und Ästhetik hat, bezogen auf Schopenhauer und Schiller, in erster Linie heuristischen Wert, denn natürlich spricht auch Schiller, wenn‐ gleich marginal, im Brief vom 7. Januar 1795 an Goethe von „meiner Metaphysik des Schönen“ (Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Hgg. v. Karl Robert Mandelkow. Briefe an Goethe, Bd. 1: Briefe der Jahre 1764-1808. München 1988, S. 181). heit, der Welt“. 27 Zwei Begriffe stehen Schopenhauer zur Verfügung, diesen Hi‐ atus zwischen normfreier Wirklichkeitsbeschreibung (als Spiegelung derselben) und der regelgeleiteten Metaphysik des Schönen zu markieren, zwei Begriffe, die aber gerade aufgrund ihrer wirkungsgeschichtlichen Determiniertheit die Normativität in den ästhetischen Diskurs einführen und festschreiben: Cha‐ rakter und Situation. Die „Darstellung bedeutender Charaktere“ und die „Erfin‐ dung bedeutsamer Situationen“ sind die zwei „Mittel“, die Dechiffrierung der „Idee der Menschheit“ 28 auf der Ebene der Dichtung zu bewerkstelligen. Beide Begriffe haben eine sich aus der aristotelischen Poetik herleitende, zweitau‐ sendjährige wirkungsmächtige Geschichte, sie sind reflexionstheoretische Topoi von Poetik und Ästhetik. Es ist für unseren Zusammenhang nicht unin‐ teressant, sich zu erinnern, dass sich gerade ein halbes Jahrhundert vor Scho‐ penhauer Jakob Michael Reinhold Lenz in seinen Anmerkungen übers Theater von 1774 entschieden gegen die regelgeleitete Handlungs- und Situationspoetik ausgesprochen und ihr mit aller Macht die individual-genialästhetische Cha‐ rakterpoetik entgegengestellt hat. „Den Gegenstand zurückzuspiegeln, das ist der Knoten, die nota diacritica des poetischen Genies“, 29 schreibt Lenz. Die Dis‐ junktionen heißen hier Mensch versus Schicksal des Menschen und Charakter versus Situation bzw. Handlung 30 oder - auf den Punkt gebracht - Realismus versus Idealismus: „Es gehört zehnmal mehr dazu, eine Figur mit eben der Ge‐ nauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln, das endlich doch nur in dem Hirn des Künstlers, der es hervorgebracht, ein solches ist.“ 31 Damit stellt sich Lenz als einer der Urväter des Realismus gegen die Poetik und Ästhetik der Aufklärung, wie sie noch wenige Jahre zuvor unter anderem von Lessing in dessen Ham‐ burgischer Dramaturgie im Rückgriff auf Aristoteles verteidigt worden sind. Schopenhauers Versuch einer Metaphysik des Schönen ist dem Programm einer regelgeleiteten Idealisierung verpflichtet. 32 „Die durchgängige Bedeutsamkeit 240 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 33 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 317. 34 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 309. 35 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 308. 36 Schopenhauer: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 292. 37 Ich halte, was diesen Punkt betrifft, Heinz Paetzolds Interpretation von „Schopenhauers Bestimmung ästhetischer Rationalität“ (so die Kapitelüberschrift) für problematisch: „Die Dinge werden in ‚neuartiger‘ Perspektive erfahren. Damit trifft Schopenhauer etwas für ästhetische Rationalität Konstitutives. Die Kunst durchbricht den gesell‐ schaftlich etablierten Zusammenhang von Begriff und Sache, von Begriff und An‐ schauung. Sie revolutioniert die verdinglichten Wahrnehmungs- und Erfahrungs‐ muster“ (H. P.: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983, S. 424). Paetzold schlägt vor, bei Schopenhauers „Konzept ästhetischer Rationalität“ die „Per‐ spektive“ der Metaphysik des Willens auszublenden, damit „seine Konzeption auch für eine geschichtsphilosophisch orientierte kritische Ästhetik aktuell [wird]“ (ebd.). Denn genau diese Perspektive stellt ja das Fundament dar, worauf sich Schopenhauers Me‐ taphysik des Schönen in toto gründet. der Situation soll den Roman, das Epos, das Drama vom wirklichen Leben un‐ terscheiden, eben so sehr, als die Zusammenstellung und Wahl bedeutsamer Charaktere“. 33 Dem Theorem eines Akts der Idealisierung bei Schopenhauer liegen zweifelsfrei systematische Zwänge zugrunde. Der Dichter, um die Idee der Menschheit erkennen zu können, muss sich aller lebensweltlichen Relati‐ onen entledigen, muss die Wirklichkeit verlassen um der adäquaten Objektivität des Willens auf der höchsten Stufe willen. 34 Diese metaphysische Vor-Kon‐ struktion findet ihr ästhetisches Äquivalent in der idealisierenden, d.h. idealty‐ pisierenden Konstruktion bedeutsamer Situationen und Charaktere. Aber: „Hauptgegenstand der Poesie“ 35 soll der Mensch bleiben. „Weder irgend ein In‐ dividuum, noch irgend eine Handlung kann ohne Bedeutung seyn: in allen und durch alle entfaltet sich mehr und mehr die Idee der Menschheit“. 36 Die Ideali‐ sierung von Lebenswirklichkeit (als dem Nicht-Textbereich) steht bei Schopen‐ hauer also im Dienste einer Metaphysik; die Rede vom einzelnen Menschen ist nur vordergründig, gemeint ist die Idee der Menschheit, poesis ancilla meta‐ physicae ließe sich formulieren. Dieser Art von Metaphysik fehlt ein emanzi‐ patorisches Interesse, das sich als kritische Rationalität äußern könnte. Der bei Schopenhauer andeutungsweise als Ansatz vorhandene Versuch einer Rück‐ bindung der Metaphysik des Schönen an den Menschen und seine Lebenswelt sichert gerade nicht den anthropologisch-gesellschaftskritischen Impetus von Kunst. Der Prozess der Idealisierung ließe sich daher als Vektor von der Wirk‐ lichkeit weg auf eine Metaphysik hin darstellen. 37 Bei Schiller beginnt sich schon die Ästhetik aus der erdrückenden Umarmung der Metaphysik zu lösen. Seine Ästhetik entwirft im Begriff der Idealität gerade 241 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 38 So etwa Dieter Henrich, der schreibt, dass Schiller an dem theoretischen Teil seines Werkes „selbst schließlich verzweifelte“; Schiller habe „als Philosoph resigniert, der Spekulation den Rücken gekehrt“ (D. H.: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 [1957], S. 527-547, hier S. 547). Das „Scheitern der Schillerschen Gedankenbestimmungen“ (ebd.) ist für Henrich evident. 39 Ohne Gefahr zu laufen, in ein simplifizierendes monokausales Erklärungsschema ab‐ zugleiten, lässt sich doch sagen, dass Schiller - so betrachtet - tatsächlich an der Naht‐ stelle von Kritizismus und spekulativem Idealismus steht. „Damit aber steht Schiller genau auf dem Punkte, an welchem die transzendentale Methode Kants in die dialekti‐ sche Methode seiner Nachfolger überzugehen beginnt“ (Ernst Cassirer: Idee und Ge‐ stalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist. Nachdruck. Darmstadt 1981, S. 98). 40 Vgl. Christoph Jamme, Helmut Schneider (Hgg.): Mythologie der Vernunft. Hegels ‚äl‐ testes Systemprogramm des deutschen Idealismus‘. Frankfurt a.M. 1984. Hier findet sich auch eine kritische Edition des Textes. Zur Datierungsfrage vgl. ebd., S. 42 (Abfas‐ sungszeitraum: Weihnachten 1796 bis 9. Februar 1797). Die Bedeutung von Schillers ästhetischen Schriften für die Genese der Ästhetik Hegels hat Annemarie Geth‐ mann-Siefert herausgearbeitet im Kapitel „Hegels Schillerrezeption. Zur Bestimmung der Kunst in den Frühschriften“ (A. G.-S.: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984). Hier findet sich auch weiterführende Literatur. Für die vor allem für die Literaturwissenschaft wichtige Frage der richtigen Taxierung der schillerschen Ästhetik im Hinblick auf jene ‚Nahtstelle‘ (vgl. Anm. oben) sei wenigstens folgende Feststellung zitiert: „Die Auseinandersetzung mit Schiller, die er [Hegel] zu Beginn seiner Vorlesungen zur Ästhetik führt, markiert [...] den Endpunkt einer Beschäftigung mit Schiller, nicht den Ausgangspunkt“ (Annemarie Geth‐ mann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte, S. 17). den Rückbezug vom Ideal der Ästhetik weg auf die Wirklichkeit des Menschen hin. Schillers Ästhetik vor der Krise ist selbstreflexiv, sie will ausgehen von und im Rückgang zum Ausgang ein kritisches Potenzial erwerben und sich ihr emanzipatorisches Interesse bewahren. Ob Schiller schließlich an seinem kühnen Projekt einer ästhetischen Erziehung des Menschen tatsächlich ge‐ scheitert ist, gar „verzweifelte“, 38 möchte ich nicht bewerten. Mich interessiert vielmehr die Frage, was von dem schillerschen Anfangselan (vornehmlich der frühen 1790er Jahre) am Ende des Jahrzehnts noch übrig geblieben ist und Wir‐ kungsmächtigkeit erlangt hat. Die Jahre 1796/ 1797 leiten einen ungeheuren In‐ novationsschub in der Philosophie der Kunst ein, der - ohne eine falsche Kon‐ tinuität zu beschwören - unter Absehung von Schillers Ästhetik in seiner weiteren Entfaltung nicht verstanden werden kann. 39 Im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus  40 eröffnet sich neben dem Typus der schopenhauerschen Metaphysik des Schönen ein zweiter Weg, der im Rückgriff auf Schillers anfängliches ästhetisches Interesse die Überwindung der ästheti‐ schen Krise perspektiviert. Doch tritt zunächst in Schillers Arbeiten im Februar 1791 durch den Beginn der Kant-Lektüre eine entscheidende Wende ein. Den ersten deutlichen Nieder‐ 242 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer schlag im „sehr weite[n] Feld“ (SW 5, S. 394) der Ästhetik findet man am 21. Dezember 1792 in einem Brief Schillers an Körner: „Ueber die Natur des Schönen ist mir viel Licht aufgegangen [...]. Den objectiven Begriff des Schönen, [...] an welchem Kant verzweifelt, glaube ich gefunden zu haben“ (NA 26, S. 170; Her‐ vorhebung M.L.-J.). Doch schon im ersten Kallias-Brief weicht diese Euphorie der Ernüchterung, „es ist ohne das Zeugnis der Erfahrung nicht auszukommen“, die Ernüchterung gleicht einem Schuldbekenntnis: „Die Schwierigkeit, einen Begriff der Schönheit objektiv aufzustellen und ihn aus der Natur der Vernunft völlig a priori zu legitimieren [...] ist fast unübersehbar. Ich habe wirklich eine Deduktion meines Begriffs vom Schönen versucht, aber es ist ohne das Zeugnis der Erfahrung nicht auszukommen“ (SW 5, S. 394). Schillers Resümee: „Schön‐ heit [...] wohnt nur im Feld der Erscheinungen“ (SW 5, S. 402). Hier bleibt kein Raum für das Leben einer platonischen Idee. Schönheit ist eine Eigenschaft der Dinge, der Erkenntnisgegenstände, ein ‚Ding ohne Eigenschaften‘ ist schlicht ein Unding. Schönheit ist „nichts anders als Freiheit in der Erscheinung“ (SW 5, S. 400). Schiller konstruiert nun ein ingeniöses „Analogon der reinen Willens‐ bestimmung“: Ein Wille ist frei, wenn er sich nur aus sich selbst, nach Ver‐ nunftprinzipien bestimmt; analog hierzu heißt eine Erscheinung in der Sinnen‐ welt dann frei, wenn sie „bloß durch sich selbst bestimmt erscheint“, dann ist sie „Darstellung der Freiheit“ (SW 5, S. 401). Freiheit in der Erscheinung heißt aber nicht nur Erscheinen bzw. Scheinen der Freiheit, sondern auch Freiheit des Erscheinens, „Freiheit der Darstellung“ (SW 5, S. 426). Schönheit als Freiheit in der Erscheinung hat bei Schiller also immer den doppelten Aspekt von Darstel‐ lung der Freiheit und Freiheit der Darstellung. Indem Schiller den Schönheits‐ begriff der Kallias-Briefe per definitionem so mit dem Begriff der Freiheit kop‐ pelt, wird auch Freiheit (in der Erscheinung, als Fiktion) zur „Eigenschaft der Dinge“ (SW 5, S. 408), und zwar zur unveräußerlichen Eigenschaft. Ein ‚Mensch ohne Eigenschaften‘ wäre folglich nicht jener bekannte, utopische, alles Akzi‐ dentelle abstreifende Individualtypus, sondern der Mensch ohne Freiheit der Erscheinung, der nur vom Akzidentellen gesteuert ist, der determinierte, der unveränderbare Mensch, eine contradictio in adiecto für Schiller. Freiheit heißt, „von innen heraus bestimmt sein“, die „Eigenschaft des Nicht‐ vonaußenbestimmtseins“ (SW 5, S. 409; vgl. auch S. 427) zu haben. Dies ist Natur, ein Begriff, der Schiller „lieber [ist] als Freiheit, weil er zugleich das Feld des Sinnlichen bezeichnet“ (SW 5, S. 411). So gelangt Schiller zu der weiteren Defi‐ nition: „Schönheit ist Natur [‚was durch sich selbst ist‘] in der Kunstmäßigkeit [‚was durch eine Regel ist‘]“ (SW 5, S. 411). Schönheit duldet nicht, dass ein Ding dem andern „das Joch trägt“, die Welt der ästhetischen Gegenstände ist „eine ganz andere [...] als die vollkommenste platonische Republik“ (SW 5, S. 421). 243 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 41 „Wirklichkeit heißt hier das Reale, welches an einem Kunstwerke immer nur die Materie ist und dem Formalen oder der Idee, die der Künstler in dieser Materie ausführt, muß entgegengesetzt werden“ (SW 5, S. 428f.). 42 Der Schlusssatz der Kallias-Briefe lautet: „Die Schönheit der poetischen Darstellung ist ‚freie Selbsthandlung der Natur in den Fesseln der Sprache‘“ (SW 5, S. 433). Diese Welt ist ein „Symbol“ dafür, wie „die moralische [Welt] sein soll“, sie ruft dem Menschen zu: „Sei frei wie ich“ (SW 5, S. 425). Dieser Schönheitsbegriff schärft - darin liegt zweifelsohne die Bedeutung von Schillers Ästhetik - kriti‐ sches Bewusstsein, denn dieser so verstandene Begriff von Schönheit führt dazu, dass uns „jede Beleidigung der Naturfreiheit in Verfassungen, Gewohnheiten und Gesetzen“ stört (SW 5, S. 425). Das Scheinen ästhetischer Freiheit wird zur Antizipation der Erscheinung menschlicher Freiheit. Wo ist nun der Ort des Dichters in diesem Gefüge der Bestimmung? „Der Dichter ist“ - schreibt Schiller am 7. Januar 1795 an Goethe - „der einzige wahre Mensch, und der beßte Philosoph ist nur eine Carricatur gegen ihn“ (NA 27, S. 116). Das Medium dieses einzigen wahren Menschen, des schopenhauerschen allgemeinen Menschen, sind „Worte; also abstrakte Zeichen für Arten und Gat‐ tungen, niemals für Individuen“ (SW 5, S. 431), wie Schiller weiter in den Kal‐ lias-Briefen schreibt. Es komme dem Dichter nicht darauf an, was das Wort „an sich selbst ist“, sondern „welche Vorstellung es erweckt“ (SW 5, S. 431). Um das Individuelle darstellen zu können, muss der Dichter zum Mittel der „künst‐ liche[n] Zusammensetzung des Allgemeinen“ (SW 5, S. 432) greifen. Die Dicht‐ kunst will Anschauungen, die Sprache gibt aber nur Begriffe. Schillers Lösung, die er am Ende seines Aufsatzes formuliert, lautet: Die „Natur der Sprache“, d.h. die Begrifflichkeit als „Tendenz zum Allgemeinen“, „muß in der ihr gegebenen Form völlig untergehen, der Körper muß sich in der Idee, das Zeichen in dem Bezeichneten, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren“ (SW 5, S. 433). 41 „Schönheit der poetischen Darstellung“ oder allgemeiner: literarische Schönheit ist Freiheit „in den Fesseln der Sprache“ (SW 5, S. 433), 42 die Freiheit wird als „heiliges Palladium“ (SW 5, S. 480), die Kunst als eine „Tochter der Freiheit“ (SW 5, S. 572) bezeichnet. Literatur ist Freiheit der Sprache und Sprache der Freiheit. Die Rezeption von Schönheit erfordert keinen willensfreien Akt, keine Kon‐ templation, kein Lüften des Schleiers der Maya, wie bei Schopenhauer, sondern ist Ergebnis des ästhetischen Zustands, der nicht durch Versenkung, vielmehr durch die ästhetische Erziehung des Menschen zugänglich gemacht werden kann. In seinen gleichnamigen Briefen von 1795 entwickelt Schiller hierzu ein Konzept. Die ästhetische Krise Schillers, die diese Schrift dokumentiert, kündigt sich in einem Brief vom 25. Oktober 1794 bereits an. Schiller schreibt: „Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff, sondern vielmehr ein Imperativ. [...] Es ist 244 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 43 Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Hgg., ausgewählt u. kommentiert v. Klaus L. Berghahn. München 1973, S. 228. 44 Briefwechsel. Hgg. v. Berghahn, S. 228 (Brief vom 25. Oktober 1794 an Körner). etwas völlig Subjektives, ob wir das Schöne als schön empfinden, aber objektiv sollte es so sein.“ 43 War es in den Kallias-Briefen noch die Erfahrung, die den Begriff der Schönheit bestimmte, so heißt es nun entgegengesetzt, dass ein „em‐ pirische[r] Begriff von Schönheit“ 44 nicht vorhanden sei. Und zwei Monate später, datiert auf den 10. Dezember 1794, teilt Schiller in der Ankündigung der Horen mit, dass von „dem stillen Bau beßrer Begriffe, reinerer Grundsätze und edlerer Sitten [...] zuletzt alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zu‐ standes abhängt“ (SW 5, S. 871). Die ursprüngliche Freiheitsästhetik hat jenes heilige Palladium verlassen, sie degeneriert ausschließlich zur ästhetischen Frei‐ heit, die Freiheit der Darstellung findet nicht mehr ihr Korrelat in der Darstel‐ lung der Freiheit. Das Schöne, so heißt es weiter in der Ankündigung, müsse „schon in seiner Geburt sich unter Regeln fügen“, nur durch „Gesetzmäßigkeit“ könne es würdig werden, „einen Platz im Olymp, Unsterblichkeit und einen moralischen Wert zu erhalten“ (SW 5, S. 872). Die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen versuchen noch die Spannung des sich anbahnenden Paradigmenwechsels bei Schiller auszuhalten. Doch sie stehen bereits in dem immer länger werdenden Schatten des klassi‐ schen, des griechischen Ideals. „Jeder individuelle Mensch“ - heißt es im vierten Brief - „trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Mensch in sich“ (SW 5, S. 577). In seinem Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung von 1795/ 1796 bestimmt Schiller Individualität als den „Charakter“ des Alten, der Griechen, Idealität als die „Stärke“ des Modernen (SW 5, S. 1171). Doch sichert er in der Charakterisierung der Aufgabe von Dichtkunst wieder deren Binomität, die darin besteht, „das Ideale zu individualisieren und das Individuelle zu idealisieren“ (SW 5, S. 1172). Zuvor muss Schiller aber eine ästhetische Krise durchlaufen, aus der seine Ästhetik verändert, unter Verlust des Freiheitsbegriffs (seiner Ästhetik der Freiheit) hervorgeht; der gesellschaftskritische Impetus der Kallias-Briefe ist verpufft. Diese Krise bildet den Fluchtpunkt meiner Ausfüh‐ rungen, da hier der Schritt von der Ästhetik zur Metaphysik des Schönen nur konsequent wäre. Schiller hat diesen Schritt nicht getan, wir wissen, dass er im Frühjahr 1797 seine theoretische Produktion einstellte und sich ausschließlich wieder lyrischen und dramatischen Arbeiten zuwandte. Am besten lässt sich diese Krise in aller Kürze anhand dreier Briefstellen charakterisieren. Am 26. Oktober 1795 schreibt Schiller an Humboldt: „Inwie‐ fern kann ich bei dieser Entfernung von dem Geiste der griechischen Poesie noch Dichter sein, und zwar besserer Dichter, als der Grad jener Entfernung zu 245 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 45 Inwieweit sich dieser Neuansatz letztlich dann doch wieder im Dickicht der System‐ entfaltung verfängt, lasse ich unausgeführt. erlauben scheint? [...] Sollten [...] neuere Dichter nicht besser tun, das Ideal als die Wirklichkeit zu bearbeiten? “ (SW 5, S. 1164f.) Am 4. November desselben Jahres an Herder: „Es läßt sich [...] beweisen, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben und Wirken [...] der Poesie entgegengesetzt ist. [...] Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und [...] auf die strengste Separation sein Bestreben richtet [...] daß er seine eigne Welt formieret und durch die griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur be‐ schmutzen würde“ (SW 5, S. 1165). Und schließlich am 30. November 1795 wie‐ derum an Humboldt: „Eine Szene im Olymp darzustellen, welcher höchste aller Genüsse! Ich verzweifle nicht ganz daran, wenn mein Gemüt nur erst ganz frei und von allem Unrat der Wirklichkeit recht reingewaschen ist“ (SW 5, S. 1180f.). Ist der Schritt von hier zum ‚klaren Weltauge‘, wie es bei Schopenhauer heißt, nicht zwingend? Ich möchte es als Hypothese formulieren: Schiller überwindet zwar seine ästhetische Krise, doch tritt mit ihr das ästhetische Denken in eine neue Phase der philosophischen Begründung. Schopenhauer ist maßgeblicher Garant dieser Kontinuität. Damit aber übernimmt diese Art des Begründens die Erbschaft des ‚falschen Bewusstseins‘ und reduziert das emanzipatorische In‐ teresse der Kunst auf eine kontemplative Interesselosigkeit. Die andere Konti‐ nuität - dies sei abschließend wenigstens genannt, um nicht den Schein von Monokausalität und geschichtlicher Linearität zu erzeugen - ist wesentlich mit Hegels Ältestem Systemprogramm verknüpft. Das emanzipatorische Interesse von Schillers Ästhetik bleibt hier gesichert; dies ermöglicht einen Neuansatz, welcher der Gefahr der schillerschen Krise prinzipiell zu entgehen vermag. 45 Es genügt, vier programmatische Punkte dieses Textes kurz zu nennen, um die Verknüpfung augenfällig zu machen: (1) „Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. [...] Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus! - Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“. (2) „Die Idee, die alle vereinigt, [ist] die Idee der Schönheit, das Wort in höherem pla‐ tonischen Sinne genommen. Ich bin [...] überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft [...] ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit ver‐ 246 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Theorie-Werkausgabe. Frankfurt a.M. 1983, Bd. 1, S. 234-236. „Unter dem Programm einer ‚Mythologie der Vernunft‘ wird die an Schiller orientierte philosophische Ästhetik des deutschen Idealismus diese Apo‐ rien [Verlust der ‚geforderten und erforderlichen Definierbarkeit der gesellschaftskri‐ tischen Funktion der Kunst‘] zu lösen versuchen“ (Annemarie Gethmann-Siefert: Idylle und Utopie. Zur gesellschaftskritischen Funktion der Kunst in Schillers Ästhetik, in: Schiller-Jahrbuch 24 [1980], S. 32-67, hier S. 67). 47 Gert Ueding: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tra‐ dition. Tübingen 1971, S. 50. schwistert sind. [...] Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstaben‐ philosophen“. (3) „Die Poesie [...] wird [...] wieder, was sie am Anfang war - Lehrerin der Mensch‐ heit; [...] die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste über‐ leben“. (4) „So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig [...]. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit.“ 46 Brauchen wir also schlussendlich für zwei unterschiedliche Weisen, die Welt zu sehen, zwei unterschiedliche Ästhetiken, eine schopenhauersche und eine schil‐ lersche? Nein, denn Schillers Ästhetik kann als Möglichkeit begriffen werden, den Integrations- und Entschärfungsversuchungen der Wirklichkeit zu wider‐ stehen, sie ist in diesem Sinne „progressiv beerbbar“. 47 Schopenhauers Meta‐ physik des Schönen hingegen will diesen Versuchungen grundsätzlich ent‐ gehen, indem sie die Kunst der Wirklichkeit entzieht. Sie ist für eine heutige Literaturästhetik ein schweres Erbe, das keinen so recht glücklich macht. Denn nicht von einer ontologischen Idee, sondern nur von einem anthropologischen Ideal her oder neuzeitlicher formuliert: nur vom Möglichkeitsdenken her kann sich ein kritisches Bewusstsein von Wirklichkeit entfalten. Schopenhauers Me‐ taphysik des Schönen saturiert diese Wirklichkeit, indem sie die Freiheit des Willens suspendiert und qua Idealisierung der Wirklichkeit sich in der interes‐ selosen Kontemplation verliert. Kunst soll aber nicht gegen Wirklichkeit im‐ munisiert werden, sondern Wirklichkeit muss von der emanzipatorischen Kraft der Kunst angesteckt sein. Wenn Kunst der Zweck der Erkenntnis platonischer Ideen zugewiesen wird, wie bei Schopenhauer, dann bleibt sie in dem Bereich des residual-affirmativen Scheins gebannt: Schönheit wird als Wahrheit nur metaphysisch zugänglich. Wenn Kunst der Zweck der Darstellung von Schön‐ heit als Definiens der Freiheit des Individuums - qua Freiheit des Willens - zugewiesen wird, wie bei Schiller, dann tritt sie in ein Widerstandsverhältnis zur Faktizität des Wirklichen: Schönheit wird als in der Erscheinung erfahrbare 247 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 48 Hans Ebeling: Freiheit. Gleichheit. Sterblichkeit. Schopenhauer und die Theorie der Moderne, in: Jörg Salaquarda (Hg.): Schopenhauer. Darmstadt 1985, S. 313. 49 Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hgg. v. Au‐ gust Sauer. Wien 1930. 2. Abteilung, Bd. 12, S. 65. Freiheit zugänglich. Literatur wäre demnach kein Probierstein von Lehrsätzen, sondern Probierstein von Erfahrungssätzen. Hans Ebeling schloss seinen bekannten Aufsatz über Schopenhauer mit den Worten: „Schopenhauer [...] braucht keine Anhänger, sondern Kritiker ohne Nachsicht“. 48 Einer der frühen nachsichtslosen Kritiker war Franz Grillparzer. Er notierte im Jahre 1864 in sein Tagebuch: „Schopenhauers philosophische Entdeckungen haben mich nie überzeugt; er ist eben ästhetisch“. 49 Ich möchte dies so variieren: Schopenhauers ästhetische Entdeckungen haben mich nicht überzeugt; sie sind eben metaphysisch. 248 13. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer 1 Georg Herwegh: Zum Andenken an Georg Büchner, in: Ders.: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Bd. 1. Gedichte 1835-1848. Hgg. v. Ingrid Pepperle. Bearbeitet v. Volker Giel. Bielefeld 2006, S. 86. 2 Zitiert nach Ariane Martin: Georg Büchner. Stuttgart 2007, S. 101. 3 Martin: Georg Büchner, S. 129. 4 Vgl. Martin: Georg Büchner, S. 129. 5 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammati‐ sche Lektüren. Tübingen, Basel 2003, S. 191ff. 14. Georg Herweghs Schiller „Die Glocke, die im Sturm so rein geklungen, Ist, da sie Frieden läuten wollt’, zersprungen.“ (Georg Herwegh) 1 Wer kennt sie nicht, die berühmte Stelle aus Georg Büchners noch berühm‐ terem Idealismus-Brief vom 28. Juli 1835: „Ich halte viel auf Goethe und Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller“. 2 Die Literatur des Sturm und Drang gehörte bekanntermaßen zur „bevorzugten Literatur des Gymnasiasten [Büchner]“. 3 Allen voran zitierte der im selben Jahr wie Otto Ludwig und Friedrich Hebbel geborene Büchner in einem Schulaufsatz den bekannten Satz vom tintenklecksenden Säkulum aus Schillers Räubern. 4 Natürlich gehörte Schiller zu den kanonisierten Autoren, die im Rahmen der schulischen Bil‐ dung gelesen werden mussten. Doch hat sich Büchner später davon deutlich distanziert, nicht nur durch eine versiegende Zitierbereitschaft, sondern vor allem durch eine inhaltliche, diskursgeschichtliche Frontstellung gegen den Klassiker Schiller, die man durchaus als Büchners Paradigmenwechsel be‐ zeichnen kann - sofern man diese Volte in seiner Lenz-Erzählung buchstäb‐ lich begreift. Zu einer anderen Lesart gelangt man, wenn man die entspre‐ chenden Textpassagen symbolisch versteht. In der Büchner-Forschung gibt es einen nach wie vor starken positivistischen Erkenntnisdrang, der letztlich auf eine wie auch immer geartete textphilologi‐ sche, biografistische oder werkimmanente Wahrheit des Textes zielt. 5 Das führt dazu, in Büchners Lenz-Erzählung Literatur mit historischem Aussagewert zu sehen oder die Unterschiede zwischen dokumentarischer Vorlage und ästheti‐ scher Gestaltung noch differenzierter herauszuarbeiten. Jener Pfarrer Oberlin aus dem Steintal, um dessen Bericht über Lenzens Aufenthalt sich die jüngste Büchner-Forschung zentriert, schreibt am Ende 6 Hubert Gersch u.a.: Der Text, der (produktive) Unverstand des Abschreibers und die Literaturgeschichte. Johann Friedrich Oberlins Bericht Herr L...... und die Textüber‐ lieferung bis zu Georg Büchners Lenz-Entwurf. Tübingen 1998, S. 23. Dies ist das umfangreichste Werk zur Quellenforschung und zu editionsphilologischen Fragen von Büchners Lenz-Erzählung. Ausführungen zu Büchners Lenz müssen sich zu‐ künftig, was das Quellenmaterial, was die editionsphilologischen Zusammenhänge und die philologischen Konjekturen betrifft, an diese Arbeit halten und wo nötig Abweichungen hiervon deutlich markieren. Beklagenswert bleibt allerdings, dass diese Arbeit keine Faksimileabbildung des Textes enthält, um so die Lesbarkeit der Handschrift und die Konjekturen der Editoren beurteilen zu können. - Vgl. auch Burghard Dedner: Büchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese, in: Georg Büchner-Jahrbuch 8 (1990-94), S. 3-68, und die Arbeit von Michael Will: „Autopsie“ und „reproduktive Phantasie“. Quellenstudien zu Georg Büchners Erzählung Lenz. 2 Bde. Würzburg 2000. 7 Heinrich Heine: Säkularausgabe. Bd. 21: Briefe 1831-1841, bearbeitet v. Fritz H. Eisner. Berlin, Paris 1970, S. 345f. 8 Hans Adler (Hg.): Literarische Geheimberichte. Protokolle der Metternich-Agenten. Bd. 2: 1844-1848. Mit einem Beitrag v. Dieter Langewiesche. Köln 1981, S. 132. 9 Gersch u.a.: Der Text, der (produktive) Unverstand des Abschreibers und die Literatur‐ geschichte, S. 21. 10 Gersch u.a.: Der Text, der (produktive) Unverstand des Abschreibers und die Literatur‐ geschichte, S. 21. seiner Ausführungen: „u. doch oft in einem Blick, in einem Ton der nicht beschrieben werden kan, etwas stekt, das mehr deudirt, als vorhergegan‐ genen erzehlbare Handlungen“. 6 Oberlin benennt damit das Dilemma des Phi‐ lologen. Wir haben es nur mit Texten zu tun, wir versuchen aus Texten Blicke und Stimmungen zu rekonstruieren und haben wir das ordentlich geübt, sind Menschen für uns nur noch Texte, vieldeutig, vieldeutbar. Heinrich Heine schreibt 1840 an Karl August Varnhagen von Ense über Blicke und Stim‐ mungen: „diese Augensprache wird bald verloren sein, und unsere hinterlas‐ senen Schriftmähler [...] werden für die Spätergeborenen doch nur unenträth‐ selbare Hieroglifen seyn“. 7 Als hätte es Gutzkow gehört, so liest sich die Wiedergabe in einem Geheimbericht, wonach er über Herwegh gesagt haben soll: „Über Herwegh spricht er fast in Hieroglyphen. Herwegh soll ganz im Kommunismus versunken sein […]“. 8 Oberlin berichtet weiter, „HE. L... [...] nahm auch theil am discurs“, 9 doch in welcher Form, das erfahren wir weder von Oberlin noch von Büchner. Büchners Text als historischen Text zu lesen, der Auskunft gibt über eine historische Person namens Jakob Michael Reinhold Lenz, scheidet aus. Nur einmal bemerkt Oberlin über den historischen Lenz, „fürchterlich u höllisch war es was er aus‐ stund“. 10 Liest man Büchners Erzählung als Psychografie, dann findet man in Oberlins Bemerkung eine quellenkundliche Rechtfertigung. Ansonsten „Hie‐ 250 14. Georg Herweghs Schiller 11 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. München 1988, S. 137-158, hier S. 154. - Zur Kritik an dieser Ausgabe von Seiten der Büchner-Forschung vgl. Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Hgg. v. Hu‐ bert Gersch. Stuttgart 1986, bes. S. 60f. - Vgl. auch Gabriele Michel: „Lenz - ‚ist er nicht gedruckt? ‘ Über die vernachlässigte Bedeutung der Schriften von J.M.R. Lenz für Georg Büchners Novellentext“, in: Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 2 (1992), S. 118-125, und Herbert Wender: Was geschah Anfang Februar 1778 im Steintal? Kolpor‐ tage, Legende, Dichtung und Wahnsinn, in: Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 6 (1996), S. 100-126. 12 Vgl. den Brief an Goethe, worin Lenz von „dem kleinen Dreckhaufen Ich“ spricht, in J. M. R. Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 3. Hgg. v. Sigrid Damm. Frankfurt a.M. 2005, S. 306. 13 Büchner: Werke und Briefe, S. 154. 14 Büchner: Lenz. Studienausgabe, S. 27. roglyphen, Hieroglyphen [...] Hieroglyphen“. 11 Die vermeintlichen For‐ schungspfade sind inzwischen breit ausgetretene Handelsstraßen riesiger Zei‐ chenherden geworden, und jeder „Dreckhaufen“ 12 - so nennt sich Lenz übrigens selbst - wird gedeutet. Bislang haben sich die Büchnerwie die Lenz-Forschung der Lenz-Erzählung auf drei Ebenen genähert, sie haben einen biografistischen Zugang gewählt, wonach sich die Forschung vornehmlich für Fragen der his‐ torischen Echtheit bestimmter Textdetails interessierte, Textbeobachtungen mit Büchners wie mit Lenzens Leben verglich und Abweichungen wie Überein‐ stimmungen penibel genau dokumentierte. Ferner wurde ein ausschließlich editionsphilologischer Zugang gewählt. Und schließlich gibt es eine Minderheit, die den werkimmanenten Zugang gesucht und gefunden hat, zu der auch jene gerechnet werden können, die den Text als Dokument einer Psychografie lesen. Weshalb aber - und diese Frage sei als grundsätzliche Frage den Her‐ wegh-Schiller-Beobachtungen vorangestellt -, weshalb bedarf es denn einer quellenkritischen, editionsphilologischen oder einer positivistischen histori‐ sierenden Absicherung von Textbeobachtungen? In dem von Gutzkow be‐ sorgten Erstdruck der Lenz-Erzählung vom Januar 1839 heißt es an einer Stelle „Siehe die Briefe“. 13 Diese Bemerkung wird in der Forschung als eine Arbeits‐ notiz des Dichters interpretiert. Büchner wollte noch Originalbriefe von Lenz zu Rate ziehen oder einarbeiten, die er von den Stöbers erhalten hatte. In den ‚bereinigtenʻ Textausgaben der Erzählung steht stattdessen die editionsphilolo‐ gische Formel „‚x-x‘“ 14 , um die Auslassung kenntlich zu machen. Damit setzte sich die Forschung selbst autoreferenziell und selbstlegitimierend erst auf eine biografistisch-positivistische Spur. In Büchners Text - so die Überlegung - musste es eine Verbindung geben zwischen Textfiktionalität und historischer Wirklichkeit der beschriebenen Person Lenz. Dies ist unbestritten legitim, aber nicht zwingend. „Das Zeichen ‚x-x‘ macht auf Stellen aufmerksam, an denen 251 14. Georg Herweghs Schiller 15 Büchner: Lenz. Studienausgabe, S. 62. 16 Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Lenz. Hgg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart 1987, S. 55. 17 Büchner: Werke und Briefe, S. 154. 18 Büchner: Werke und Briefe, S. 140. Lücken im überlieferten Text festzustellen sind“. 15 Der Kommentar von Gerhard Schaub stellt fest: „Die lediglich eine Arbeitslücke markierende Notiz Büchners ist kein integraler Bestandteil des Erzähltextes und muß daher bei der Herstel‐ lung eines kritischen Textes nicht berücksichtigt werden“. 16 Wie verhält es sich dann aber mit der Tatsache, dass die Erzählung Fragment geblieben und aus dem Nachlass veröffentlicht worden ist? Was bedeutet „‚x-x‘“? Kurz bevor diese Zeichen im Text erscheinen, sagt Lenz „Hieroglyphen, Hieroglyphen [...] Hieroglyphen“. 17 Hieroglyphen aber müssen entziffert, müssen gedeutet werden. Diese kryptische Editionschiffre der Büchner-Forschung symbolisiert auch das Problem des Umgangs der Inter‐ preten mit dem Text. Ist der Sinn des Textes als ein historischer oder als ein allegorischer erst enträtselt, erschöpft sich auch seine bloße Negation schnell in inhaltsloser Selbstreproduktion. Insofern stellt sich die Frage, welche Konse‐ quenz der Verzicht auf Textsinn für die Deutungsarbeit haben könnte. Verzichtet man auf den Sinnbegriff zur Textinterpretation, so kann man eine erstaunliche Feststellung machen: Büchners Lenz-Erzählung zeigt im Scheitern der Lenz-Figur, dass Fiktion nichts anderes als Fiktion und Fiktionalität der Modus von Literatur ist. Einen historischen oder anderen Sinn anzunehmen ist eine Form der Erkenntnis des Gegenstandes (Interpretation), nicht aber des Gegen‐ standes der Erkenntnis (Text). Die Lenz-Erzählung lässt sich somit unter be‐ stimmten methodischen Voraussetzungen als ein Stück fiktionalisierte Litera‐ turtheorie lesen, die sowohl Gegenstand eines Theoriediskurses als auch dessen Medium ist. Büchners Lenz fühlt sich einsam, er ist allein, er hat Angst, er wird wahn‐ sinnig. Diese Informationen gibt der Text unmissverständlich preis. Sein Leben ist ihm „Traum“. 18 Die Lenz-Figur erfährt sich selbst als Fiktion, was auf der Ebene des Textes Wirklichkeit ist. Die literarische, fiktive Figur Lenz kann sich selbst nur als eben diese literarische, fiktive Figur erfahren. Das ist das Dilemma des Textes, dem es niemals anders als nur im Analogieschluss gelingen kann, Wirklichkeit als Fiktion und umgekehrt, Fiktion als Wirklichkeit, auszugeben. Probleme erwachsen daraus nur, wenn man bei der Textdeutung die Figur Lenz mit der historischen Person Lenz verwechselt, absichtsvoll oder unwillentlich. Selbst Shakespeare-Rezitationen ermöglichen es der Figur Lenz nicht mehr, aus diesem Zustand der gelebten Fiktion zu entkommen. Die konsolatorische Funk‐ 252 14. Georg Herweghs Schiller 19 Vgl. Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar 1995. 20 Büchner: Werke und Briefe, S. 143. 21 Büchner: Werke und Briefe, S. 144. 22 Büchner: Werke und Briefe, S. 144. 23 Vgl. Aristoteles: Poetik 1451 a 36ff. tion von Literatur - man denke etwa an die berühmte Eingangspassage zu Goe‐ thes Werther mit der direkten Leseranrede: „[…] schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn“ - gelingt nicht mehr. Literatur hat keinen Einfluss mehr auf Lenzens Leben. Wird diese Erkenntnis auf Büch‐ ners Literatur, eben den Lenz-Text, hochgerechnet, muss man dann auch bei ihm die grundsätzliche Differenz von Literatur und Leben annehmen. Fragen wir nach der Funktion von Lenz’ Rede. Er will das Leiden leiten, um‐ leiten, ableiten. Die Funktion seiner Rede besteht in der Ableitung. Er greift auf das, was die kathartische Funktion von Literatur ausmacht, zurück und mobi‐ lisiert eine zentrale Funktionsbestimmung der Literatur im 18. Jahrhundert. 19 Lenz hält sich an die Natur und liest in der Apokalypse und „viel in der Bibel“. 20 Zivilisatorischer Fortschritt erscheint ihm als eine Schwundform des Natürli‐ chen. Die Aufgabe der Literatur könnte demnach nur darin bestehen, diese Ent‐ fremdung rückgängig zu machen, die Bildung produziert hat. Literatur bekäme eine Kompensationsfunktion. Daran schließt sich die in der Forschung unter dem Namen ‚Kunstgespräch‘ eingebürgerte Unterhaltung zwischen Kaufmann, Lenz und Oberlin an. In geselliger Tischrunde wird das Gespräch vom Erzähler mit den Worten eröffnet, „man sprach von Literatur“. 21 Nicht von Kunst ist die Rede, sie dient lediglich an späterer Stelle des Diskurses als Veranschauli‐ chungsmedium, sondern von Literatur wird gesprochen. An der zentralen Stelle des Textes wird ein poetologischer Diskurs eröffnet. Lenz meint, dass selbst jene Dichter, welche den Anspruch auf Wirklich‐ keitsschilderung erheben, ahnungslos seien. Eine Verklärung der Wirklichkeit kommt für ihn als Schriftsteller nicht in Frage. Dann greift er auf eine Mischung aus aristotelischer Poetik und leibnizscher Theodizee zurück: „Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen“. 22 Aristoteles schreibt in seiner Poetik, der Dichter habe die Aufgabe, die Dinge nicht so darzustellen, wie sie sind, sondern wie sie sein könnten. 23 Und dass die Welt die bestmögliche aller denkbaren Welten sei, gehört zum Erbteil der Leibniz-Wolffschen Schule. Im Brief vom 28. Juli 1835, worin er sich für den Danton rechtfertigt, schreibt der Autor Büchner, der dramatische Dichter sei nichts anderes als ein Geschichtsschreiber, der die Geschichte zum zweiten Male erschaffe und der keine Charakteristiken, sondern Charaktere, lebendige 253 14. Georg Herweghs Schiller 24 Vgl. Büchner: Werke und Briefe, S. 305. 25 Büchner: Werke und Briefe, S. 145. 26 Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, S. 660. 27 Büchner: Werke und Briefe, S. 144. 28 Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, S. 654 u. 661. 29 Büchner: Werke und Briefe, S. 305. 30 Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, S. 653. 31 Büchner: Werke und Briefe, S. 155. Gestalten gebe. 24 Der zweite Teil dieses Briefes wird denn meist auch als Beleg für die Autormeinung im Kunstgespräch angeführt. Büchner wiederholt dort im privaten, epistolaren Diskurs das fast wörtlich, was er im öffentlichen, fiktio‐ nalen Diskurs Lenz in den Mund legt. Büchners Lenz schließt seinen Anteil am Kunstgespräch mit den Worten ab: „Der Dichter [...] ist mir der Liebste, der mir die Natur am Wirklichsten gibt, so daß ich über seinem Gebild fühle“. 25 Was bei Büchner Leben heißt - Büchners Lenz fordert von der Dichtung Leben -, heißt beim historischen Lenz in den Anmerkungen übers Theater Gefühl und Empfin‐ dung. Büchners Lenz gibt drei Beispiele der Literaturgeschichte, wo er dieses Kunstideal verwirklicht findet: im Shakespeare, in Volksliedern und gelegentlich bei Goethe. Argumentiert man historisch, können damit bis zum Januar 1778 nur der Götz und der Werther gemeint sein. „Die Natur Baumeisterin sein zu lassen“, 26 das fordert der historische Lenz. ‚Natur! Natur, nichts so Natur! ‘, for‐ dert Büchners Lenz, dem ich die Worte aus Goethes Shakespeare-Aufsatz in den Mund lege. Von idealistischen Gestalten als „Holzpuppen“ 27 ist bei Büchners Lenz die Rede, der historische Lenz spricht zweimal in den Anmerkungen übers Theater von Marionettenpuppen als dramatischer Schwundform echter Men‐ schen. 28 Und der historische Büchner wiederum nennt in dem bereits erwähnten Brief an die Familie die „Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos“ 29 als das Gegenbild zu den Menschen aus Fleisch und Blut. Lenz schreibt in seinen Anmerkungen: „[...] es gehört zehnmal mehr dazu, eine Figur mit eben der Genauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln, das endlich doch nur in dem Hirn des Künstlers, der es hervorgebracht, ein solches ist“. 30 Es ist nicht zu über‐ sehen, Büchner referiert auf die Anmerkungen übers Theater von Lenz. Aber in der Beharrlichkeit, mit der dieser büchnersche Lenz auf die Bedeutung der Natur abhebt, liegt auch sein Dilemma begründet. „Die Natur, Menschen [...] Alles traumartig, kalt“. 31 Wenn für ihn aber Natur nur ein Traum, also selbsthervor‐ gebracht und fiktiv ist, dann bedeutet die Forderung an die Literatur, sie müsse Wirklichkeit darstellen, nichts anderes, als dass diese dargestellte Wirklichkeit Traum, eben Fiktionalität ist. Anders formuliert, was Büchners Lenz für Wirk‐ lichkeit hält, ist in der Wahrheit des Textes Fiktion. Die Forderung von Lenz an 254 14. Georg Herweghs Schiller 32 Büchner: Werke und Briefe, S. 156. 33 Büchner: Werke und Briefe, S. 157 (Hervorhebung M.L.-J.), vgl. auch S. 158, wo dies wörtlich wiederholt wird. 34 Büchner: Werke und Briefe, S. 158. die Fiktion aber ist, Wirklichkeit darzustellen - ein Teufelskreis, aus dem es kein argumentationslogisches Entrinnen gibt. Und das wiederum wäre kein sonder‐ lich aufregendes Ergebnis, schon gar nicht überraschend, sind doch seit der An‐ tike der Literatur- und der Fiktionalitätsdiskurs aufs Engste miteinander ver‐ schränkt. Auf dieser Ebene der Textlogik kann also nicht die Deutung gesucht werden, vorausgesetzt, man will Büchner nicht die zwar legitime, aber um nichts weniger banale Haltung unterstellen, er habe den Selbstwiderspruch nicht be‐ merkt. Lenz wird als wahnsinnig beschrieben, er erzählt und rezitiert Gedichte, bis er wieder zu sich kommt. Am Ende des Textes funktioniert also jene zuvor außer Kraft gesetzte konsolatorische Funktion von Literatur. Doch Büchners Lenz bleibt wahnsinnig, für ihn besteht die Welt nur „in seiner Einbildung“. 32 Was Lenz über die extrapersonale Wirklichkeit, über Natur und Kunst gesagt hat, gilt in der Wirklichkeit des Textes seiner eigenen Person. Wenn die Welt nur in der Einbildung besteht, wo ist dann der Ort der Ein‐ bildung in der Welt? Die Lenz-Figur veranschaulicht ein Grundproblem von Literatur. Für eine fiktive, also literarische Figur kann es keine andere Welt als diejenige der Fiktion geben. Lenzens Forderung, Literatur solle Wirklichkeit darstellen, ist die Forderung an die Fiktion, etwas anderes als sich selbst, eben Fiktionalität, darzustellen. Das aber ist unmöglich, der Modus der Literatur ist nicht Wirklichkeit, sondern Fiktionalität. Aus dieser grundsätzlichen Differenz speist sich ja gerade die abendländische poetologische Diskussion um den Wahrheitswert von Literatur, um das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglich‐ keit von Dichtung, um die Funktionsbestimmung des Dichters als zweiter Schöpfergott, als Geschichtsschreiber oder als Nachahmer Gottes. Wahnsinn ist dies nur, wenn man den poeto-logischen Status der fiktiven Figur unterläuft. In dem Moment, wo Lenz ruhig wird und der Autor Büchner kommentiert, „er schien ganz vernünftig“, 33 ist auch die Rede davon, dass er „kein Drang“ 34 mehr habe. Nicht Büchner argumentiert ahistorisch und greift, Moderne in die Historie projizierend, zurück, sondern der historische Lenz greift voraus. In seinen An‐ merkungen argumentiert er bereits im historischen Vorgriff gegen die Autono‐ mieästhetik eines Moritz, Goethe und Schiller. Und was unter diesem Blick‐ winkel Büchner als idealistische Periode bezeichnet, findet seine literaturwissenschaftliche Entsprechung im Begriff der Genieperiode. Litera‐ 255 14. Georg Herweghs Schiller 35 Zitiert nach Wolfgang Büttner: Georg Herwegh - Ein Sänger des Proletariats. Der Weg eines bürgerlich-demokratischen Poeten zum Streiter für die Arbeiterbewegung. 2., überarbeitete Aufl. Berlin 1976, S. 2. 36 Vgl. Büttner: Georg Herwegh, S. 96. 37 Ich zitiere den Wortlaut von Herweghs Gedicht nach dieser Ausgabe: Herweghs Werke in einem Band. Ausgewählt u. eingeleitet v. Hans-Georg Werner. 4. Aufl. Berlin, Weimar 1980, S. 186-193. 38 Zitiert nach Herwegh: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 605. - Allerdings muss man wissen, dass sich Herwegh und Vischer spinnefeind waren. Jeder hatte seine Anhänger. Wäh‐ rend Herwegh „rötliche Demokraten“ hinter sich schare, folgten Vischer „ernste or‐ dentliche Professoren“: „Beide Häupter aber halten sich still und straff und stehen nur schweigend an der Spitze ihrer Reisigen, ohne daß der helle Stern des 10. November sie zu versöhnen vermag“ (Gottfried Keller am 30. November 1859 an Ludmilla Assing). turgeschichtlich gewendet bedeutet dies, das Ende des Sturm und Drang wird von Büchner treffsicher, lange bevor ihm darin die fachwissenschaftliche For‐ schung folgen kann, in das Jahr 1778 gelegt. Die Lenz-Erzählung kann damit auch als fiktionalisierte Literatur- und Wissenschaftsgeschichte gelesen werden. Anders Georg Herwegh. Auch er wird während seiner Schulzeit im Evange‐ lisch-Theologischen Seminar Maulbronn und während seiner Studienzeit im Evangelisch-Theologischen Stift zu Tübingen intensive Schiller-Lektüreerfah‐ rungen gemacht haben, er bleibt aber seiner Lektüre treu und subsumiert sogar den Klassiker Schiller unter sein Freiheitsverständnis, das sich literarisch auch aus den Räubern speist. Heinrich Laube meint sogar, seit Schiller sei „kein Autor mit solchem Enthusiasmus gelesen worden“ 35 wie Herwegh. In der öffentlichen Wahrnehmung kommt es also partiell zu einer Identifikation zwischen dem Freiheitsdichter Schiller und dem Freiheitsdichter Herwegh. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Friedrich Schiller im Jahr 1859 beteiligt sich auch Herwegh in Zürich an einer Festveranstaltung am 10. November im Züricher Theater. 36 Das Festprogramm in Zürich erstreckt sich über zwei Tage, von Laube wurde der Karlsschüler aufgeführt, von Schiller selbst wurden die Räuber und der Wilhelm Tell inszeniert. Die Veranstaltung wurde mit Beethovens Neunter eröffnet, anschließend sprach Herwegh seinen Prolog. 37 In der Züricher St. Peterskirche hielt Friedrich Theodor Vischer den Festvortrag. Die Resonanz in der lokalen Presse war positiv. Die Eidgenössische Zeitung schrieb am 12. November: „Um solche geistigen Kräfte wie Vischer und Herwegh wird Zürich ganz Deutschland beneiden“. 38 Noch 1873 erinnert man sich an Herweghs Auftritt und sein Schiller-Gedicht: „Wem der Geist gegeben ist, mit zündendem Blitzstrahle das Gewölk zu durchleuchten, den suchen wir. Niemand 256 14. Georg Herweghs Schiller 39 Zitiert nach Büttner: Georg Herwegh, S. 182. 40 Peter Hasubek: Vom Biedermeier zum Vormärz. Arbeiten zur deutschen Literatur zwi‐ schen 1820 bis 1850. Frankfurt a.M. 1996, S. 293. kann einen solchen ‚Prolog‘ halten, wie Sie s.[einer] Z.[eit] bei Zürich’s Schil‐ lerfeier. Einen solchen haben wir nötig! “ 39 Was das Verständnis und Selbstverständnis von Herweghs Prolog als politi‐ sches Gedicht betrifft, tritt es regelrecht regelkonform auf. Das kämpferische Pathos, eine agitatorische Stillage, der polemische Ton - das wurde für Her‐ weghs Dichtung generell in Anspruch genommen und findet sich auch hier: „Kontrastruktur, Anaphorik, Häufung, Wiederholung, Apostrophe, imperatives Sprechen, einhämmerndes Metrum, schwungvolle Rhythmik, pathetische Me‐ taphern“ 40 ergänzen das Regelrepertoire. Herwegh versteht seine Schiller-Referenz als bewussten Kontrapunkt zur bürgerlichen Schiller-Rezeption. Für ihn ist der Bildungsklassiker zugleich der Freiheitspoet, Schiller ist - nach seiner Zurückweisung durch Büchner - wieder in den Schoß der liberalen und demokratischen Dichtung zurückgekehrt. Herwegh wird sich der historischen und poetischen Bedeutung seines Prologs bewusst gewesen sein. Immerhin spielt die Wahl dieses dramenspezifischen Genres mit dem großen literaturgeschichtlichen Vorbild, dem Prolog zum Wal‐ lenstein. Schiller hatte ihn zur Wiedereröffnung des frisch renovierten Weimarer Theaters 1798 geschrieben und die Gelegenheit gleich genutzt, ein programma‐ tisches Selbstverständnis seiner Weimarer Klassik vorzutragen. An die Verse: „Die neue Ära […] macht auch Den Dichter kühn, die alte Bahn verlassend, Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis, Auf einen höhern Schauplatz zu versetzen, Nicht unwert des erhabenen Moments Der Zeit, in dem wir strebend uns bewegen“ (FA 4, S. 14), lässt sich aus Herweghs Sicht nahtlos anknüpfen. War sich Herwegh des epo‐ chalen Anspielungsreichtums seines Prolog-Gedichts auf Schillers Wallen‐ stein-Prolog bewusst? Immerhin hat der Klassiker dort poetologisch-program‐ matisch Position bezogen, durchaus im (Selbst-)Bewusstsein eines neu anbrechenden Äons, und erläutert, was Klassik für ihn bedeutet. Jedenfalls al‐ ludiert Herweghs Gedicht die bildungsgeschichtlich kanonisierten Stationen des schillerschen Œuvres. Mit den Worten „Vivos voco“ ist dem Prolog eben jenes Motto vorangestellt, das Schiller in seinem Gedicht Das Lied von der Glocke bemüht. Vollständig lautet es: „Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango“ und bedeutet: „Die Lebenden 257 14. Georg Herweghs Schiller 41 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005, S. 212ff. 42 http: / / reader.digitale-sammlungen.de/ de/ fs1/ object/ display/ bsb10066657_00008.html (13. April 2018). rufe ich. Die Toten beklage ich. Die Blitze breche ich“. Es gibt die Inschrift einer Glocke des Münsters in Schaffhausen wieder. Herweghs Gedicht Die Schillerfeier in Zürich besteht aus insgesamt 218 Versen. Er wählt das gleiche Versmaß wie Schiller im Wallenstein-Prolog, einen fünfhebigen Jambus. Schiller wird als Lichtgestalt beschrieben, die Licht bringt „in des Schicksals dunkeln Gang“. Mehr noch, das Licht spiegelt den „Glanz der Wahrheit“. Nicht nur frohe Botschaft bringt der Klassiker, sondern reine Wahr‐ heit. Herwegh spielt auf die Bedeutung der Gedankenpoesie an, Bedeutungs‐ schwere kennzeichnet schillersche Verse. Selbst die reine Schönheit habe Schiller geschaut - allerdings nimmt Herwegh diesen Lobpreis etwas zurück, indem er die Reflexionsbewegung „vor dem Thron der Schönheit“ enden lässt, inthronisiert war der Klassiker demnach nicht. Möglicherweise reagiert Her‐ wegh damit auf Schillers eigene Erkenntnis am Ende seiner philosophischen Arbeiten, dass es unmöglich sei, einen objektiven Begriff von Schönheit trans‐ zendentaliter zu gewinnen. 41 Herwegh ist damit doch wieder ganz nah an der bildungsbürgerlichen Atti‐ tüde, die Schiller als Heilsbringer vereinnahmte und ihn pseudoreligiös feierte, das Gedicht endet mit einem imperativischen „Amen! “ Die Substantive Genius, Herrscher, Führer, die militärischen Metaphern und der überhöhte Sprachge‐ brauch („Heil, Schiller, Heil! “) kehren wieder. Die umschlungenen Millionen aus der Ode An die Freude tauchen ebenso auf wie Anspielungen auf den Tell, die Glocke, den Wallenstein, die Jungfrau von Orleans - all dessen bedient sich Her‐ wegh und das durchaus affirmativ. Denn Herwegh traut Schiller etwas zu, das als die einigende kulturelle Kraft beschrieben werden kann: Das ganze Volk habe den Dichter Schiller ins Herz geschlossen: „Und trennt uns groß und kleine Leidenschaft Und gegenseitig bitteres Verneinen - Dem Genius verbleibt die Kraft, Uns Alle um sich zu vereinen.“ 42 In dieser Vision wird Schiller vom kulturellen zum politischen Emblem, die Funktionalisierung von Dichtung zu Zwecken der politischen Identitätsbildung erfährt hier eine entscheidende Dynamik. Herwegh selbst hat dieser bürgerlichen, politisch-nationalen Vereinnahmung schon 1839 heftig widersprochen. Zunächst in einem Distichon von 1839, das den Titel Schiller’s Monument trägt und folgenden Wortlaut hat: 258 14. Georg Herweghs Schiller 43 Herwegh: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 180. 44 Siehe den Wiederabdruck von Herweghs Text im Anhang zu diesem Beitrag. - Der Neudruck in: Georg Herwegh. Frühe Publizistik 1837-1841. Bearbeitet v. Ingrid Pep‐ perle, Johanna Rosenberg u. Agnes Ziegengeist. Glashütten im Taunus, Berlin 1971, S. 17-20, blieb versteckt. 45 Herwegh: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 64. - Vgl. auch den Kommentar S. 388ff. 46 Vgl. Schiller - Zeitgenosse aller Epochen, Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Teil 1: 1782-1859. Hgg., eingeleitet u. kommentiert v. Norbert Oellers. Frankfurt a.M. 1970, S. 593. 47 Herwegh: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 130. „Schiller steht! Er steht, kein Gott, ein eherner Moloch, Dem ihr die junge Geburt legt auf den glühenden Arm.“ 43 In einer heute wenig bekannten anonymen Schrift mit dem Titel Schiller und seine Statue. Zwei Frühlingsgrüße an Deutschland. Denkschrift auf den achten Mai 1839 (Stuttgart 1839) 44 positioniert sich Herwegh gegen die von Wolfgang Menzel betriebene Form der Schiller-Verehrung. Und auch in den Sonetten seiner Gedichte eines Lebendigen (1841) wendet er sich gegen diese Form der Rezeption. Im XIV. Sonett ist zu lesen: „Die große Zeit zertrümmerte die Flöte, Sie braucht Posaunen und den tiefsten Basso, Und schwarze Nacht statt milder Abendröte. Die Losung ist nun Dante, und nicht Tasso. Was sollen uns noch Schiller oder Göthe? Was soll uns gar der Pascha Semilasso? “ 45 Die historisch-kritische Herwegh-Ausgabe liest in ihrem Kommentar dieses Ge‐ dicht buchstäblich (wie schon Oellers). 46 Wie aber, wenn Herwegh hier - gleichsam in einem Rollengedicht - einen satirischen Ton anschlüge? Denn ein wörtliches Textverständnis kollidiert unweigerlich mit dem flammenden Plä‐ doyer für Schiller im Prolog wie in der Statuen-Schrift. Unterstützung für diese Lesart erfährt man durch das Wiegenlied, adressiert an Deutschland (zu finden im zweiten Band der Gedichte eines Lebendigen, 1843): „Und ob man dir Alles verböte, Doch gräme dich nicht zu sehr, Du hast ja Schiller und Göthe: Schlafe, was willst du mehr? “ 47 259 14. Georg Herweghs Schiller 48 Vgl. Herwegh: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 555 u. 557. 49 [Gustav Diezel u. Georg Herwegh]: Schiller und seine Statue. Zwei Frühlingsgrüße an Deutschland. Denkschrift auf den 8. Mai 1839. Stuttgart 1839, S. 19. 50 [Diezel u. Herwegh]: Schiller und seine Statue, S. 20. 51 Eduard Mörike: Werke in einem Band. Hgg. v. Herbert G. Göpfert. 4., durchgesehene Aufl. München, Wien 1993, S. 118. 52 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Eduard Mörike. Ein Kommentar. Tübingen, Basel 2004, und M. L.-J.: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005, S. 6f. 53 Zitiert nach Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Hgg. v. Oellers, S. 554. 54 Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Hgg. v. Oellers, S. 554. 55 Vgl. Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Hgg. v. Oellers, S. 553, mit den entsprechenden Dokumenten. Im Kommentar ist nun von Parodie und satirischer Beschreibung von Goethes Gedicht Nachtgesang die Rede 48 - zu leicht identifizierbar ist auch der Prätext. Doch zurück zur Statuen-Schrift. Herwegh wehrt sich vehement gegen eine bürgerlich-nationale Vereinnahmung des schwäbischen Klassikers. „Es wird hübsche Worte geben am achten Mai, zierlich gesetzt und süß wie Eingemachtes; nun denn, so sollen auch Späne fallen, es ist ein schöner Tag, um Herrn Menzel eine Schlacht zu liefern“. 49 Und wenig später schreibt er: „Ich glaube, dem Todten, dem hohen Fremdling, wie ihn der größte der schwäbischen Dichter, die noch singen, Herr Eduard Mörike, nennt, kein schöneres Denkmal setzen zu können, als wenn ich in seinem Sinn ein Wort an die Lebenden richte“. 50 Her‐ wegh spielt damit auf Eduard Mörikes Urteil an, Schiller sei „in unsrer Mitte / Ein hoher Fremdling“. 51 Mörike hatte eine Kantate bei Enthüllung der Statue Schillers in Stuttgart geschrieben, worin sich dieser Vers findet. 52 Allerdings ist er - und Herwegh nimmt dies durchaus differenziert wahr - nicht mit dem Eifer eines Menzel in Zusammenhang zu bringen. Menzel war erklärter Goethe-Hasser und an Schiller hob er vor allem eine doppelte Wirkung hervor. Zum einen habe er zur „Reinigung des Kunsttempels“ beigetragen, zum anderen wirke er „auch außerhalb des Kunstgebietes unmittelbar auf das Leben“. 53 Nor‐ bert Oellers rekapituliert, nach Menzel habe Schiller „die Menschheit durch ‚die hohen Ideen von Liebe, Freundschaft, Freiheit, Ehre, Vaterland‘ erziehen und veredeln wollen“. 54 Die ersten Überlegungen zu einem Schiller-Denkmal da‐ tieren bereits auf Schillers Todesjahr 1805, doch erst der Verein für das Denkmal Schillers in Stuttgart veröffentlichte einen Spendenaufruf, in dessen Folge es dann am 8. Mai 1839 zur Enthüllung des Schiller-Denkmals von Thorwaldsen in Stuttgart kam. 55 Hier kollidieren also Formen einer bürgerlich-demokratischen mit Formen einer bürgerlich-biedermeierlichen Schiller-Rezeption. Biedermeier gilt ge‐ meinhin als epochenübergreifender, wenngleich kaum in sich konsistenter Sam‐ 260 14. Georg Herweghs Schiller 56 Vgl. Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom Ackermann zu Günter Grass. Tübingen 1996, S. 133. 57 Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte, S. 138. 58 Vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. 3 Bde. Stuttgart 1971, 1972, 1980. 59 Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 119. melbegriff für die Zeit zwischen 1815 und 1848 und konkurriert immer noch mit den Begriffen Restauration oder Frührealismus. 1815 wurde auf dem Wiener Kongress die alte politische Ordnung wiederhergestellt, Restauration ist ein zeitgenössischer Begriff. 1819, nach dem Attentat auf Kotzebue, folgten Zen‐ surmaßnahmen im Zuge der Karlsbader Beschlüsse, 1830 ereignete sich in Paris die Julirevolution, 1848 in Frankreich, Wien und Berlin die sogenannte März‐ revolution. Die Schriften der Literaten des ‚Jungen Deutschland‘ wie Gutzkow, Laube, Wienbarg, Mundt, Börne oder Heine werden ab 1835 verboten. Peter J. Brenner schlägt in seiner Literaturgeschichte den von Friedrich Sengle for‐ schungsgeschichtlich geadelten Begriff Biedermeierzeit als übergreifende Ka‐ tegorie vor, welche die Spätromantik ebenso umfasse wie die im eigentlichen Sinn konservativ-biedermeierliche Dichtung, das Wiener Volkstheater, das Junge Deutschland, Vormärz und singuläre Autoren wie Büchner und Heine. 56 Mit Mörike kündige sich „der Übergang von der Spätromantik zur ‚Biedermei‐ erzeit‘ an“. 57 Natürlich kennzeichnen die Abkehr von der gesellschaftlich-poli‐ tischen Welt, Themen und Gefühle der Resignation und des Weltschmerzes, das Lebensgefühl der eigenen Epigonenschaft, die Schlagwörter von Harmonie und Ordnung als Leitbegriffe auch biedermeierliche Literatur. Friedrich Sengle hat als der Vater der heutigen Biedermeierforschung mit vielen Vorurteilen aufge‐ räumt und die Beschäftigung mit der Literatur zwischen 1815 und 1848 in seinem dreibändigen Werk Biedermeierzeit auf eine breite Basis gestellt. 58 Die Gesell‐ schaft des Biedermeier ist eine Standesgesellschaft, es gibt ein bürgerliches, ein kleinbürgerliches, ein adliges und höfisches und ein geistliches Biedermeier. 59 In formal-ästhetischer Hinsicht bescheinigt Sengle dem Biedermeier eine Nei‐ gung zu den literarischen Kleinformen, zu Almanachen, zur didaktisch-lyri‐ schen Dichtung, aber auch zur Romanliteratur, für die ihm mit Jeremias Gotthelf der Höhepunkt erreicht ist. Grillparzer, Gotthelf, Stifter, Keller und von Droste-Hülshoff sind ebenso Autoren der Biedermeierzeit wie Mörike. Sengle definiert eine Reihe biedermeierlicher Merkmale: „[D]ie Hinwendung zum Volkstümlichen, die Liebe zur Heimat, die Pietät gegenüber dem angestammten Herrscherhaus, die ehrfürchtige Beschäftigung mit den Tag- und Jahreszeiten, überhaupt mit den Phänomenen der ‚Natur‘ (unbeschadet der Führung Gottes), die Erneuerung der Idylle und des Märchens, der Kult des Heiteren, der 261 14. Georg Herweghs Schiller 60 Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 729f. (im Original kursiv). 61 Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 542. 62 Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 544. 63 Hasubek: Vom Biedermeier zum Vormärz, S. 300f. 64 Adler (Hg.): Literarische Geheimberichte, S. 146. 65 Adler (Hg.): Literarische Geheimberichte, S. 133, vor dem 4. April 1846. kleinen Formen, [...] die Entdämonisierung des Mythischen und selbst des ‚Schicksals‘ (Liebe, Leiden, Tod), der Freundschaftskult, das starke Hervortreten der Gelegen‐ heitslyrik, die bewußte Verschönerung des Lebens mit Hilfe aller Künste, der Sinn für einen organisch überformten Klassizismus (‚Klassizität‘), für ein verbürgertes und versittlichtes Rokoko, der Sinn für Scherz, ja für grotesken ‚Übermut‘, sofern er nicht unmoralisch, blasphemisch oder gesellschaftskritisch ist, - alles dies ist biedermeier‐ lich.“ 60 Allerdings kommt Herwegh selbst in Sengles Darstellung schlecht weg. Er wird als ein „sich überschätzender Spezialist für politische Lyrik“ 61 , als „Angeber“ und „wildgewordene[r] Stiftler“ 62 tituliert. Peter Hasubek hat die Stärken - und zu‐ gleich auch die Schwächen der Lyrik Herweghs treffend beschrieben: „Zu Herweghs literarischem Programm gehört auch die Zusammenführung von Ten‐ denz und Ästhetik in der Literatur […]. Tendenzpoesie, zu der sich Herwegh aus‐ drücklich bekennt, neigt dazu, den Stoff der Dichtung absolut zu setzen und die Form darüber zu vernachlässigen. Gerade gegen diesen möglichen Formverfall der Ten‐ denzpoesie wendet sich der Ästhet Herwegh. Einen solchen Formverfall bemerkten die Zeitgenossen häufig bei den Vertretern des Jungen Deutschland und kritisierten ihn. Für Herwegh erfüllt Tendenzpoesie nur ihren Sinn, wenn sie sich an den Gesetzen der Schönheit orientiert. Tut sie das nicht, so verliert sie ihr wesentliches Bestim‐ mungsmerkmal als Dichtung. Ein Blick auf Herweghs dichterisches Schaffen zeigt denn auch, daß er die Gesetze der ‚poetischen Schönheit‘ beherrscht und überall zu erfüllen strebt. Er rezipiert und verwendet jedoch nur die vorgefundenen traditio‐ nellen Formmuster, ohne schöpferische Möglichkeiten zu besitzen, neue Formen für seine Stoffe zu schaffen. Er verfügt über eine große Fingerfertigkeit beim Gebrauch von metrischen Formen und Strophenmustern, aber diese Fingerfertigkeit trägt häufig Züge des Manirierten.“ 63 Mit Blick auf Ferdinand Freiligraths 1846 erschienenen Gedichtband Ça ira hatte Herweghs Zeitgenosse Dr. West alias Franz Stromeyer geurteilt: „Verglichen mit der anarchischen Glut dieser Gedichte sind jene von Herwegh eine zahme Was‐ sersuppe“. 64 Und Gutzkow schreibt an Hermann Friedrich Georg Ebner: „Her‐ wegh gäbe ein eignes Kapitel, das zu weit führte. Alle verachten ihn“. 65 Vielleicht ist damit auch Herweghs Enttäuschung zu verstehen, die sich im Brief an seine 262 14. Georg Herweghs Schiller 66 Herwegh an Emma 1849. In: Herwegh: Werke und Briefe, Bd. 6, S. 6. 67 Emma Herwegh: Im Interesse der Wahrheit. Zur Geschichte der deutschen demokrati‐ schen Legion aus Paris, von einer Hochverräterin. […] Hgg. v. Horst Brandstätter. Lengwil 1998, S. 13. Frau Emma 1849 ausdrückt: „Sie lieben alle den Schiller mehr - das verfluchte Volk. Und der arme Schiller hat erst Nichts mit ihnen zu schaffen“. 66 Das Pathos jedenfalls, das er andernorts bemüht, ist geblieben, es hat nur die Seiten ge‐ wechselt und den Übergang von Fiktion zur Wirklichkeit vollzogen. Zur Ironie der Weltgeschichte gehört, dass es heute von Bürgerlich-Konservativen in An‐ spruch genommen wird. Man denke an den Schluss von Herweghs Grußadresse (gedruckt 1849) an die deutsche demokratische Legion in Paris mit den flam‐ menden Worten: „Es lebe die Freiheit, die Gleichheit, die Bruderliebe! Es lebe die Demokratie! Es lebe die europäische Republik! “ 67 Anhang [Gustav Diezel u. Georg Herwegh]: Schiller und seine Statue. Zwei Frühlingsgrüße an Deutsch‐ land. Denkschrift auf den achten Mai 1839. Stuttgart 1839. Thüringische Universitäts- und Lan‐ desbibliothek Jena, Signatur 8 C.A.B. IV, 134/ 7. I. Was seid ihr ausgegangen, zu sehen? Jesus Christus An Euch, meine deutschen Mitbürger, die Ihr heute von nah und ferne den freundlichen Ne‐ benhügeln Stuttgarts zugeteilt seid, um Zeuge zu sein von der Ehre, die dem Andenken eines großen Todten widerfährt; und an Euch, die Ihr aus der Ferne freundliche Grüße herüber‐ sendet, und wenigstens im Geiste Theil nehmet an der feierlichen Handlung, durch welche ein Volk seinem Bürger den Tribut der Achtung und der Dankbarkeit abträgt; an Euch alle, die Ihr Euch heute in Einem Gedanken begegnet, richte ich meine Worte, Worte der Liebe, der Verehrung, Worte der Verständigung, der Wahrheit. Da, wo Tausende sich zu Einem großen Zwecke versammelt, wo die Geister eines Volkes sich verbunden haben zu einem würdigen, man kann sagen religiösen Werk; da kann es nicht fehlen, daß in den begeisterten Gemüthern jedes Wort einen fruchtbaren Boden finde, in welchem es keimen und zur That erblühen kann. Muß uns doch das rege Leben und wieder die stille Feier der Natur zu würdigen Gefühlen, zur Empfänglichkeit für das Ernste Ewige und Wahre stimmen! Darum verweigert mir Euer 263 14. Georg Herweghs Schiller freundliches Gehör nicht wenn ich Euch schlicht und einfach berichte, welche Bedeutung ich gern dem Feste gäbe, das wir heute feiern. Bring es auch die Sache mit sich zuweilen sich einer entschiedenen Polemik hinzugeben: lasset Euch dadurch nicht abhalten, die gut gemeinten Worte zu vernehmen; und so wollen wir uns denn sogleich mitten in die Sache zu versetzen suchen. Nichts kann dem Genie unangemessener sein, als kleinlichte, beschränkte Gesichtspunkte; Freiheit ist sein Element, in ihr lebt und webt der Genius. Von dieser Wahrheit gibt Schiller das schlagende Beispiel. Die Freiheit war sein Prinzip, alle seine Arbeiten waren das Ringen eines kräftigen Geistes, alle hemmenden Fesseln abzustreifen und frei in reinen Aether sich zu baden. Freiheit war der leitende Gedanke seines Lebens, darum achtete er auch alle von den seinigen verschiedenen Bestrebungen, sobald er nur ein geistiges und ewiges Element in ihnen entdecke. Hier hat man seinem Genius bitteres Unrecht gethan. Nicht als ob man je geläugnet hätte, daß er ein Ritter der Freiheit ein Freund aller selbstständigen Bestrebungen gewesen; nein! aber seinen Namen, sein wohlverdientes Ansehen hat man mißbraucht, um andere nicht minder anzuerkennende Leistungen herabzusetzen; Privatleidenschaft nahm seinen Namen in Hülfe, um aufs Gehässigste Männer zu verfolgen, die Niemand bereitwilliger anerkannt hat, oder sicherlich anerkannt hätte, als Schiller selbst; statt den Todten ihren Ruhm zu wahren, aber ebenso die kräftigen Bestrebungen der Gegenwart zu achten, anzuerkennen, zu ermuthigen, hat man mit hartnäckiger Leidenschaftlichkeit das Beste der Gegenwart verworfen und die Todten zum Kampfe gegen die Lebendigen geführt. Mit welch widriger Zähheit es sich Hr. W. Menzel seit Jahren angelegen sein läßt, die trefflichsten Erzeugnisse unserer Literatur mit Füßen zu treten und wie sehr von ihm der Name unseres großen Dichters mißbraucht wurde, um einer Opposition, die nur die Folge der engherzigsten Gesichtspunkte oder der Privatlei‐ denschaft war, den Anschein wissenschaftlicher Begründung und der Liebe zur Sache zu geben, ist bekannt genug, und wohl mag es scheinen, als ob jedes Wort in einer Sache, die durch so gewichtige Stimmen so evident zur Erledigung gelangte, ein überflüssiges, als ob Hr. Menzel wirklich literarisch völlig mundtodt gemacht wäre. Allerdings ist dieß bis auf einen gewissen Punkt wahr. Was die eigentlich Wissenschaftlichen vom Fache betrifft, so hat Hr. Menzel auf diese niemals einen Einfluß gehabt; für sie war es zu leicht, Menzels Oberfläch‐ lichkeit zu durchschauen; die Männer von allgemeiner Bildung und namentlich das junge Geschlecht, das früher für Menzel begeistert war, weil er nicht ohne jugendliche Frische schrieb, wurden entweder durch seine eben so gehässige, als unbesonnene Anklage der jungen Literatur abwendig gemacht, oder durch die „großen Bomben von Ludwig Börne und David Strauß,“ wie Heine treffend sagt, von der Haltungslosigkeit seiner Ansichten und Maßstäbe überzeugt. Aber das Publikum, zu dem jene Schriften nicht drangen, und welches sich die leicht verdauliche Kost seines mit Zitaten ausgestopften Literaturblattes um so trefflicher munden läßt, je mehr diese guten Leute sich durch eine eben so unermüdliche, als einfältige 264 14. Georg Herweghs Schiller Opposition gegen die angeblich atheistische Richtung einer Philosophie, welche bei dieser Klasse achtungswerther Männer noch keinen Eingang gefunden hat, weil ihr Verständniß durch gewisse Kenntnisse bedingt ist, die ihnen abgehen; ferner durch Schaustellung eines zwar sehr wohlfeilen, aber bei einer gewissen Klasse von Menschen sehr hochgeachteten Liberalismus und Patriotismus, durch unaufhörliche Phrasen von Sittlichkeit und deutscher Tugendsamkeit bestechen lassen: ich sage, dieses Publikum scheint noch immer ein nicht unbedeutendes, so daß es immer noch noththut, darauf hinzuweisen, wie hinter all diesem hohlen Getöne nur eine unbestreitbare Thatsache sich verbirgt: Hrn. Menzels Unfähigkeit, eine Rolle durchzuführen, die er zu einer Zeit aufnahm, als die Literatur sich in einem so kummervollen Zustande befand, daß selbst Leute, wie Er, eine vorübergehende Renommée, ja eine gewisse Bedeutung erhalten konnten. Aber die Zeiten ändern sich schnell, und Er, der vor sieben Jahren im vollen Selbstgefühle eines Mannes, der sich für eine Macht in der Literatur halten konnte, das Epigramm drucken ließ: „Wie sie sich sperren die Alten, sie müssen doch Alle herunter, Und ein neues Geschlecht setzt auf die Stühle sich hin.“ Er muß jetzt schmerzlich erfahren, wie schnell man alt wird (namentlich, wenn man zu schnell lebt), und wie dann alles Sperren ohne Erfolg bleibt. Doch wir wollen unsern Gegenstand nicht aus dem Auge verlieren. Hr. Menzel war von jeher der feurigste Bewunderer und Verehrer des Schillerschen Genius; aber er war es nicht wie Andere, die Schiller verehrten und einen andern Geist nicht minder, wenn er auch eine ver‐ schiedene Richtung einschlug. Menzel pries Schiller nur, sofern er Göthe schmähte; beide herrlichen Geister wurden auf das Ungereimteste zusammengestellt und verglichen, und Hr. Menzel gab sich unendlich viel Mühe zu beweisen, daß Schiller in Allem über Göthe stehe, daß Schiller ein Genie, Göthe nur ein Talent sey. Er war unfähig, von Schiller zu sprechen, ohne in eine widrige Polemik zu verfallen; und nicht eigenes weiteres Nachdenken, nicht der inzwischen veröffentlichte Briefwechsel zwischen beiden Dichtern, der ein so rührendes Zeugniß ihrer gegenseitigen Achtung gibt, nicht die vielen geistvollen Widerlegungen, die er erfuhr, konnten ihn eines Besseren belehren, im Gegentheil wurde seine Polemik mit jedem Jahre, mit jeder neuen Ausgabe einer seiner Schriften schroffer und abstoßender. Darum muß es bei Gelegenheit unseres Festes Pflicht sein, darauf hinzuweisen: Ehret nicht diesen, um einen Andern herabzusetzen, erhebt Eure Blicke, erweitert Euren Gesichtskreis! Muß denn dieser allein der Bewunderte und ein anderer der Geschmähte sein? Könnt Ihr Euch denn nicht entschließen, Beide zu verehren, auf Beide stolz zu sein? Ist es nicht unendlich schöner und ehrenvoller, sich Beider zu erfreuen ohne gehäßige Zusammenstellung, ohne widrige Ver‐ kleinerung? Voll Verachtung würde der große Todte die Ehre zurückweisen, die ihm sein Volk darbringt, wenn er sähe, wie man sie dazu mißbraucht, andere Geister, Geister, die er hoch‐ schätzte und verehrte, mit denen er durch die zartesten Bande der Freundschaft verknüpft 265 14. Georg Herweghs Schiller war, herabzusetzen und zu verkleinern. Er wäre der Erste, der seinen falschen Freunden die Larve abreißen würde, hinter der sie die Niedrigkeit ihrer Gesinnung verbergen. - Darum möge Keiner gekommen sein, um vor dem Standbilde Schiller einen Triumph seiner Engherzigkeit zu feiern. Welche Schmach für den Unsterblichen, seinen Namen zum Mittel zu benützen, um fremdes Verdienst zu schmähen! Auch davor hüten wir uns, daß wir über dem Todten nicht die Lebenden vergessen. Es ist dieß dieselbe Engherzigkeit, der es nicht möglich ist, neben dem Einen auch noch das Andere zu verehren. Weil Schiller ein hoher Genius war, darum sollen wir Männer, die jetzt in der Lite‐ ratur thätig sind, verachten? Das sei ferne, daß wir über dem Einen, der da todt ist, die Le‐ benden verwerfen. Jede Zeit hat ihre eigenthümliche Aufgabe und die Männer, welche mit der Lösung derselben beauftragt sind, haben ihren eigenthümlichen Werth. Dieß lehrt uns eine vernünftige Geschichtsbetrachtung. Nichts ist thörichter und erfolgloser, als die Opposition gegen Männer, die nun einmal Richtungen repräsentiren, welche in der Zeit begründet sind. Man kann für einen Augenblick einen großen Lärmen machen und die Regierungen dadurch zu Maßregeln zwingen, aber die Zeit geht nichts destoweniger ihren sichern Gang; die er‐ zwungenen Maßregeln werden zurückgenommen, und die ganze Schmach fällt auf den zurück, der leidenschaftlich und unbesonnen genug war, um sich der Zeit gegenüber stellen zu wollen. Jeder ist ein Kind seiner Zeit: in Schiller ist unendlich viel Ewiges und Wahres, aber es erscheint dennoch modificirt durch die Eigenthümlichkeit seiner Zeit, die eine von der unsrigen sehr verschiedene war. Wer wird deßhalb auf Schiller fußen wollen, um unserer Literatur ihren Werth abzusprechen? Er sprach das Bewußtsein seiner Zeit, allerdings auf eine eigenthüm‐ liche, glänzende Weise, aus, so wird auch das Bewußtsein unserer Zeit von unsern Schrift‐ stellern, und von einigen gewiß sehr glücklich ausgesprochen. Diese dürfen wir daher nicht übersehen, wenn es auch keine Heroen sind, und sie verdienen unsere Aufmerksamkeit um so mehr, als sie uns unmittelbar nahe stehen. Mit welchem Rechte, so darf man billig fragen, hat man nun die junge Literatur von Allem, was sich auf das Denkmal Schillers bezieht, zumal aus dem Album so sorglich ausgeschlossen? Hat sie weniger Recht auf das Andenken dieses Mannes, als W. Menzel und die schwäbischen Dichter? Zu was diese Engherzigkeit in einer Sache, die entweder als nationale angesehen werden, oder unterbleiben mußte. Dieß konnte unmöglich dazu beitragen, das Unternehmen populär zu machen; und wenn man dasselbe gleichwohl schätzt, so kann man doch die An‐ sichten des Vereins in dieser Beziehung gewiß nicht theilen, man muß vielmehr eine solche Verblendung aufs Tiefste beklagen. Möge der Geist der Duldsamkeit, Unparteilichkeit und freundlichen Anerkennung doch einmal siegen über widrige Eifersucht, Feindseligkeit und gehässige Verfolgung; möge der Süden und Norden sich die Hände reichen, daß des verhaßten Streites einmal ein Ende werde; mögen namentlich die süddeutschen, zum Theil so reichbe‐ gabten Gelehrten zu der Erkenntniß kommen, daß mit der unzeitigen Aufrechthaltung von 266 14. Georg Herweghs Schiller Grundsätzen und Männern, die von Wissenschaft und Zeitgeist verurtheilt sind, für die Sache der Wahrheit, auf die es ihnen doch zuletzt allein ankommen kann, nichts gewonnen wird; mögen sie so manche erlittene Beleidigungen und Neckereien vergessen und sich überzeugen, daß diese durch ihre allzu-bereitwillige Parteiergreifung für einen Mann, dessen unlautere Beweggründe sie hätten durchschauen sollen, wenn nicht entschuldigt, doch motivirt werden. Ja! zwar gibt es ohne Kampf keinen Sieg; allein wer in diesem Kampfe der Besiegte war, dieß kann jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen: und darum sollten die Parteien, die auf nähere oder entferntere Weise den Kämpfenden sich anschlossen, keinen Anstand nehmen, sich freundlich die Hände zu bieten. Möge das Bild Schillers, das jetzt in unserer Mitte ragt, Frieden in die aufgeregten Gemüther sprechen; möge sein hoher Sinn in Allen lebendig werden, die um sein Standbild sich ver‐ sammeln: dadurch würde er sich in unsern Herzen ein Denkmal stiften, „dauernder denn Erz.“ D** II. „Wie sie sich sperren, die Alten, sie müssen doch alle herunter.“ Wolfgang Menzel Es war eine trübe, traurige Zeit; eine kümmerliche Erstarrung hatte so Staat wie Literatur ergriffen. Auf der einen Seite war Willkühr, auf der andern Prosa; man wird diese beiden stets bei einander finden, sie gehen wie Schwestern Hand in Hand. Mit der Freiheit wird auch die Poesie erobert. Diesem dürftig schattenhaften Leben ward in Frankreich durch das Schwert, in Deutschland durch die Feder, in Frankreich durch Krieger und Redner, in Deutschland durch Dichter ein Ende gemacht; dort experimentirte man mit Köpfen, hier mit Herzen. Werther und die Räuber sind Uebersetzungen der französischen Revolution ins Deutsche, Angstrufe der beleidigten Majestät des menschlichen Gefühls. Der heilige Geist sandte seine Boten aus in Göthe und Schiller. Schiller, ein Bote des Herrn, ja, aber ein Bote wie der Sturmwind, der nicht in einem Blumenkelche sich einfängt, sondern brausend dahinfährt über die ganze weite Welt. Es gibt kein Gefühl, das Schiller nicht gekannt, und beinahe kein Volk, dessen Freiheit er nicht einen Denk- oder wenigstens Grabstein gesetzt hätte. Hat Italien nicht seinen Fiesko, Spanien seinen Carlos, die Schweiz ihren Tell, Frankreich seine Jungfrau von Orleans, Deutschland seinen Wallenstein? Die Welt ist der Mittelpunkt, von dem aus die Schiller’sche Poesie ihre Kreise beschreibt. In dieser Universalität dachte ich mit Schiller, seit ich denken kann, denke ich mir ihn heute, wo ich nicht im Stande bin, des wohlbegründeten Verdachts mich zu er‐ wehren, man möchte die Götterstatue zum Aushängeschild des persönlichen und Nati‐ onal-Egoismus machen, all dieser Pomp, all diese Pracht möchte nur ein todtes, marmornes, letztes Zugeständniß sein an die Gegenwart, an das Genie. Es ist verdächtig, Männer an der Spitze eines Nationalunternehmens zu erblicken, die durch gemachte Begeisterung für den 267 14. Georg Herweghs Schiller 68 [Fußnote im Original: ] Schillers Werke, Bd. 12, S. 417. Ruhm der Vergangenheit auf immer gern sich abfänden mit der Zukunft, die um der Todten willen freventlich die Lebendigen schmähen. Ihre Liebe wie ihr Haß sind gleich unwahr. Ich will ihren Partikularismus auf jede Weise bekämpfen; ergreifen sie Partei, will auch ich Partei ergreifen; nur die Götter sind indifferent. Es wird hübsche Worte geben am achten Mai, zierlich gesetzt und süß wie Eingemachtes; nun denn, so sollen auch Späne fallen, es ist ein schöner Tag, um Herrn Menzel eine Schlacht zu liefern. Jetzt aber seid mir gegrüßt, die Ihr aus der Ferne und Nähe herbeiströmt zu diesem Opferfeste, seid mir gegrüßt, bewußte und unbewußte Bekenner der Religion des neunzehnten Jahrhun‐ derts, des Cultus des Genies, erfunden vom Ketzer Dr. David Friedrich Strauß. Würdige Ge‐ meinde, Gemeinde ohne Priester! Ich glaube, dem Todten, dem hohen Fremdling, wie ihn der größte der schwäbischen Dichter, die noch singen, Herr Eduard Mörike, nennt, kein schöneres Denkmal setzen zu können, als wenn ich in seinem Sinn ein Wort an die Lebenden richte. So höret mich an: Was kamt Ihr hieher? Steht ihr da als Schwaben, als Vertreter von ein Paar Quadratmeilen Landes? Oder seid Ihr erschienen als die Repräsentanten der Menschheit? Ist das Euer einziger Stolz, daß Schiller auf derselben Scholle geboren ward, wie Ihr? Als ob der Baum stolz sein dürfte, weil aus ihm die Wiege für einen Genius gezimmert wurde! Ich ehre, ich liebe Eure Begeisterung, ich weiß es zu schätzen, daß heute bis zum bescheidensten Bürger hinab ein ungewöhnlicher intellektueller Aufschwung zu bemerken ist - verzeiht, wenn ich Eure Be‐ geisterung ein wenig abkühle, wenn ich Euch warne, die Mäkler im Tempel nicht mit den Priestern zu verwechseln! Dankt den Leuten, daß sie mit dem Vermögen Europa’s gut ge‐ wirthschaftet, daß sie endlich Etwas zu Stande gebracht, daß sie sich ein Paar Sohlen abge‐ laufen haben, aber damit habe es dann sein Bewenden! Laßt Euch nicht ködern mit den klin‐ genden Worten Vaterland und vaterländischer Dichter! Worte! Worte! Worte! sagt Hamlet. „Es ist ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben: einem philosophischen Geist ist diese Gränze durchaus unerträglich. Wir Neuern haben ein Interesse in unserer Ge‐ walt, das kein Grieche und kein Römer gekannt hat und dem das vaterländische Interesse bei weitem nicht beikommt. Das Letzte ist überhaupt nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt.“ 68 Unreif wären wir wohl; ob jugendlich? wer möchte das behaupten? Ihr habt sie gehört, die Worte Eures großen Todten, und werdet nicht anstehen, ein Treiben für verwerflich zu erklären, das die Bedeutung dieses Nationalfestes mit der Krämerelle eines engherzigen Patriotismus mißt. Ich kenne diese Leute; auch nicht ein Fünkchen wahrer Be‐ geisterung glüht in ihnen. Alles ist darauf berechnet, die gottselige Schule der Maienblümchen und Gelbveigelein der Genialität gegenüber aufrecht zu erhalten. Schillers Geist muß mit Ver‐ achtung herabsehen auf dieses Geschlecht, auf diesen Wolfgang Menzel, der mit Frevler‐ händen an das ehrwürdige Standbild sich festklammert. 268 14. Georg Herweghs Schiller Oder glaubt Ihr, Schillers Auge ruhe mit Wohlgefallen auf einem Manne, der den liebsten Freund ihm geschändet und geschmäht, der Deutschlands größten Dichter einen „bösen Ge‐ nius,“ einen „faden, eitlen Geck“ gescholten? Der von Göthe’s „ausschweifender Wollüstelei und Buhlerei mit schönen Gespenstern, von frivoler Weichlichkeit und Begünstigung der Schande“ durch denselben gefaselt? Ich begreife wahrlich ein Festcomité nicht, das einen De‐ nunzianten unter sich zählt! Ich vertraue einzig auf des deutschen Volkes Gerechtigkeit, die sich durch das moralische Gesalbader dieser Schaafe in Wolfskleidern nicht irre machen lassen wird, auf den gesunden Sinn meines Volks, das morgen Göthe noch mehr lieben wird, weil es Schillern heute recht innig geliebt. Wacht, Genossen deutscher Zunge, daß kein Frevler in Euer Heiligthum dringe und mit verwegener Hand jene hohen Naturen Euch antaste, die „wie unsterbliche todtlose Götterbilder dastehen, an welchen nichts Zeitliches und Todeswürdiges ist.“ Bringt Schillers Manen [! ] das schönste Opfer! Gewiß, er harrt sehnlichst, bis auch sein Freund unter Künstlershand leiblich aufersteht und wieder sichtbar in die Welt eintritt! Laßt Euch nicht täuschen und verführen durch die Absichtlichkeit einer Clique, die, eben als Clique, längst den Keim des Todes und der Verwesung in sich trägt. Laßt diesen Tag sein einen Tag der Versöhnung, einen Tag der Gerechtigkeit, auf die so mancher große Geist hofft! Gebt sie ihm, ich beschwöre Euch im Namen dieses großen Todten! Gerechtigkeit für den verläumdeten Philosophen! Gerechtigkeit für den geächteten Dichter! Gerechtigkeit für den mißhandelten Theologen! Legt an das Ewige nicht den Maßstab kleiner Verhältnisse, augenblicklicher Be‐ dürfnisse! Schiller throne auf seinem Piedestal als der heilige Protektor der Genialität! Be‐ schützt nicht so beharrlich jede Mittelmäßigkeit, mag auch das Genie in seiner Ungebärdigkeit oft etwas unbequem sein und ein Gedicht von Carl Mayer weniger Skrupel erregen, als ein Roman von George Sand oder Gutzkow. Du alternde Jugend raffe dich auf aus deinem Phlegma; laß die Alten und tritt zu den Jungen! Der spottende Zug um deinen Mund will mir heute mehr besagen, als die blitzende Begeisterung manch schönen Auges. Tritt herüber in die Reihen, wo Schönheit und Genialität verfochten werden! Kämpfe mit diesen Kampf! Der heilige Geist ist zwar keine Taube mehr, sondern ist ein Adler geworden - aber immerhin! H** Geschrieben in der stillen Nacht des schönsten Tages im Wonnemond 1839. 269 14. Georg Herweghs Schiller 1 Barbara Potthast: Schwabs Schiller, in: B. P. (Hg.): Provinzielle Weite. Württembergische Kultur um Ludwig Uhland, Justinus Kerner und Gustav Schwab. Heidelberg 2014, S. 203-220, hier S. 219. 2 Potthast: Schwabs Schiller, S. 219. 3 Bernhard Zeller: Literarisches Leben in Stuttgarter Bürgerhäusern um 1800, in: „O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard“. Politik, Kultur und Gesellschaft im deut‐ schen Südwesten um 1800. Hgg. v. Christoph Jamme u. Otto Pöggeler. Stuttgart 1988, S. 77-97, hier S. 93. 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede Wenn wir krank sind und der diagnostischen Sicherheit bedürfen, holen wir in der Regel eine Zweit- oder Drittmeinung ein. Ich habe mir zum einen die Freiheit genommen, dieses Verfahren auf den Gegenstand meines Themas zu übertragen und kann Barbara Potthasts Diagnose voll und ganz bestätigen. Sie kommt in ihrem Beitrag zu dem Ergebnis, in Gustav Schwabs (1792-1850) Schiller-Buch finden sich „die Konfrontationslinien der vormärzlichen Debatten aufgelöst“. 1 Der schwabsche Schiller präsentiere sich als eine „Allegorie des vormärzlichen Deutschland“. 2 Damit bestätigt Potthast wiederum ein Urteil von Albert Ludwig von 1909. Und zum anderen: Ich bin mir durchaus des scharfen Diktums von Friedrich Schiller bewusst, das seinem Klassikerkollegen und Weimarer Nach‐ barn Johann Gottfried Herder und dessen Umgang mit der Literaturgeschichte galt: „Dieses erbärmliche Hervorklauben der frühern und abgelebten Litteratur, um nur die Gegenwart zu ignorieren oder hämische Vergleichungen anzu‐ stellen! “ (NA 31, S. 20) Gustav Schwabs Schiller-Monografie zu beurteilen soll also nicht dem Geschäft der hämischen Vergleichung folgen. Schwabs Schiller-Buch In der Germanistik gilt immer noch das Urteil Bernhard Zellers, Gustav Schwab gehörte in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zu den „an‐ gesehensten, zugleich de[n] geschäftigsten und daher unentbehrlichsten Per‐ sönlichkeiten Stuttgarts.“ 3 Mit diesem Urteil will sich die Bewertung von Schwabs Schiller-Buch durch den Zeitgenossen Friedrich Hebbel nicht so recht vertragen. Hebbel schreibt in seinem Tagebuch: „Schillers Leben von Gustav Schwab. Ein unerträgliches Buch. Welche Mühe gibt sich dieser Superindent [! ] von Württemberg, den großen Dichter als ein Individuum hin‐ 4 Friedrich Hebbel: Tagebücher 1843-1847. Hgg. u. mit Anmerkungen versehen v. Karl Pörnbacher, Bd. 2. München 1984, S. 327. 5 Friedrich Hebbel: Sämmtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 1. Abteilung: Ver‐ mischte Schriften 3 1843-1851. Kritische Arbeiten 2. Hgg. v. Richard Maria Werner. Berlin 1913, S. 90-197, hier S. 106. [Säkularausgabe Bd. 11]. 6 Zitiert nach Albert Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt. Berlin 1909, S. 267. zustellen, das sich zwar in Worten von der Kirche und ihrer Vorstellungs-Art lossagt, in der Tat aber immer wieder zu derselben zurückkehrt. Um dies zu beweisen, wird nichts verschmäht, jede Äußerung, die flüchtigste momentane, wie die bildlichste, sich der Umgebung akkomodierende, wird herbeigezogen und den Resultaten langjähriger Untersuchungen gegenübergestellt, und der Gedanke an die allen eingeborne und anerzogene christliche und jüdische Mythologie darf gar nicht aufkommen“. 4 Diese Worte notierte Friedrich Hebbel unter dem Eintrag Wien, 20. April 1847. In seiner Rezension des Schiller-Körner-Briefwechsels, die einen umfänglichen Essay darstellt, schreibt Hebbel, es komme in dem Brief Schillers zu Körners Hochzeitstag eine Stelle vor, „bei der Gustav Schwab aufgejauchzt haben wird: ‚An dem Morgen des Tags, der Euch gränzenlos glücklich macht, bete ich freudiger zu der Allmacht! ‘ ‚Seht Ihr - wird der Verfasser der populairsten Schiller-Biographie seinen Recensenten zurufen - seht Ihr, wie richtig ich meinen Helden aufgefaßt hatte, als ich mich niedersetzte, ihn zu zeichnen? Ein Christ war er, trotz seiner Götter Griechenlands, ja trotz seiner philo‐ sophischen Aufsätze. Diese meinte er eben, wenn er seine schönsten Sünden ver‐ fluchte. Er betete, giebt’s einen besseren Beweis? ‘ Ich gönne ihm seine Freude, muß aber protestiren und mich überhaupt bei dieser Gelegenheit gegen die Logik, mit der Schwab in seiner Biographie die religiöse Frage in Bezug auf Schiller abmacht, ent‐ schieden aussprechen; sie hinkt gar zu kläglich auf ihren hölzernen etymologischen Füßen einher und wird durch den flüchtigsten Hinweis auf die Beschaffenheit der unter dem beständigen Einflusse christlicher Institutionen ausgebildeten Sprache entkräftet. Man ist darum noch kein orthodoxer Gläubiger, weil man helf Gott! sagt, wenn der Nachbar nies’t.“ 5 Das sind zwei rare Rezeptionsbelege, welche bislang bekannt geworden sind. Die zeitgenössische Kritik reagierte, soweit sich das nachweisen lässt, zustim‐ mend, sie lobte an Schwabs Schiller-Buch „feinfühlende ästhetische Kritik, edle, gediegene Lebenspragmatik“. 6 Die wenigen Germanisten, die sich in den ver‐ gangenen 175 Jahren mit Gustav Schwabs Schiller-Buch beschäftigt haben, scheinen sich darin einig zu sein: Das Thema sei verfehlt, das Biografische viel zu dominant und überhaupt sei es ein schlicht langweiliges Buch, das sich nur mit der Frage befasse, ob Schiller nun ein richtiger Christ oder ein christlicher 272 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 7 Thomas Bernhard: Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen. Drei Dramolette. Frankfurt a.M. 1990, S. 30. 8 Vgl. Bernhard Zeller: Gustav Schwab im literarischen Leben seiner Zeit, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 20 (1962), S. 268-289. 9 Vgl. Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt. 10 Vgl. Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt. Unrichtiger gewesen sei. Nun sitzen wir aber nicht zu Gericht und haben ein Urteil zu vollstrecken, sondern sollten uns mit ein paar plausibilisierbaren Ar‐ gumenten auseinandersetzen. Einen wie auch immer „gutsitzenden Schiller“, 7 wie es Thomas Bernhard ironisch genannt hatte, das konnte und wollte Gustav Schwab nicht liefern. An dieser Stelle sind vor allem drei Namen zu nennen, sieht man einmal von Bernhard Zellers Vortrag, 8 der ja geradezu zum Klassiker der Schwab-Forschung geworden ist, von 1962 ab: Albert Ludwig 1909, 9 Marek Hałub 1989 und 1993 sowie Barbara Potthast 2012, die sich alle drei explizit mit Schwabs Schiller-Buch befasst haben. Betrachten wir zunächst einmal den philologischen Unterbau. Schwabs Werk trägt den Titel Schiller’s Leben in drei Büchern. Es erscheint im Mai 1840 in Stuttgart; ein zweiter Druck folgt im Dezember desselben Jahres. Ein - folgt man dem Wortlaut des Titelblatts - „Zweiter, durchgesehener Druck. Ausgabe zum 100jährigen Gedächtnistage der Geburt Schiller’s“ erscheint in Stuttgart 1859. Es handelt sich dabei um den eigentlich dritten Druck mit zahlreichen zusätz‐ lichen Fußnoten Schwabs und insgesamt 22 + 644 Seiten (nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert). Aus diesen Angaben kann man distributions- und rezeptionsgeschichtlich schließen, dass die Nachfrage nach dem Buch vorhanden war, das belegt auch das eingangs angeführte Hebbel-Zitat. Verleger und Autor hofften möglicher‐ weise auf ein gutes Geschäft im Jubiläumsjahr 1859. Das Werk ist auch heute noch antiquarisch präsent. Genaue Zahlen über die Auflagenhöhe und den Ver‐ breitungsgrad lassen sich gleichwohl nicht mehr ermitteln. Jedenfalls kann man nicht behaupten, wie das vor allem in abbreviatorischen Schwab-Darstellungen zu lesen ist, das schwabsche Schiller-Buch sei untergegangen, nicht beachtet oder gleich vergessen worden. Forschungsgeschichtlich interessant ist, dass die vergleichsweise ausgewo‐ gene und gemessen an der behaupteten Banalität des Anlasses, nämlich Schwabs Schiller-Buch, längere Beurteilung von Schwabs Ausführungen durch Albert Ludwig (1909) kaum Erwähnung findet. 10 Dabei ist Ludwig der Einzige, der den intentionalen Kontext Schwabs ausführlich rekonstruiert. Er weist darauf hin, dass zu Beginn der 1830er Jahre massiv der Vorwurf von Schillers Unchristlich‐ 273 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 11 Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt, S. 226f. 12 Als ein Nebenprodukt dieser biografischen Recherchearbeit Schwabs darf folgender Band betrachtet werden: Gustav Schwab (Hg.): Urkunden über Schiller und seine Fa‐ milie, mit einem Anhange von fünf neuen Briefen, worunter ein ungedrucktes Auto‐ graphon, zum Besten des Marbacher Denkmals gesammelt u. hgg. v. demselben. Stutt‐ gart 1840. keit und Vergötterung des Heidnischen erhoben wurde, befeuert vor allem durch entsprechende Veröffentlichungen in der Evangelischen Kirchenzeitung, einem Organ des konservativen Protestantismus. Der Schiller-Bewunderung im libe‐ ralen politischen Lager tat dies zunächst keinen Abbruch. Ludwig resümiert: „Seit dieser Zeit [wurde] die Stellung unserer Klassiker zum Christentum ein viel abgehandeltes Problem. Man stritt sich in der Gesellschaft darüber, man erörterte die Frage in der Literatur, sie wurde brennend, wo es sich um die of‐ fizielle Beteiligung der Geistlichkeit an Festen wie der Enthüllung des Stutt‐ garter Schillerdenkmals handelte.“ 11 Gustav Schwab ist in seinem Buch weniger daran interessiert, Schillers Chris‐ tentum nachzuweisen, als vielmehr Argumente zu finden für die bereits ange‐ laufene Funktionalisierung des Dichters als Nationaldichter. Nur so ist es zu verstehen, wenn Schwab in seinem Buch resümiert: „Diese schwierige Bahn mußte Schiller durchlaufen, weil er zum Nationaldichter bestimmt war, zum Dichter eines Volkes, das den Durchgang durch reflexive und ideale Einseitigkeit von dem Poeten, der nach seinem Herzen seyn, den es bewundern und lieben sollte, recht eigentlich verlangte“ (S. 410). Das ist ein Entlastungsargument, Schiller musste so und konnte nicht anders, das Volk hatte des Dichters Ent‐ wicklungsprogramm geschrieben. Und der bewundernden und auratisierenden Darstellung dieser Entwicklung ist Schwab verpflichtet, er arbeitet mit den für ihn möglichen philologischen Mitteln, er wertet alle zugänglichen biografischen Details aus, er liest Briefwechsel, er zieht Erkundigungen bei noch lebenden Zeitgenossen Schillers ein und er referiert die einschlägigen literaturkritischen und monografischen Darstellungen, soweit sie ihm zugänglich sind. 12 Bereits der erste Satz seines Buchs unterstreicht die Schreibabsicht: „Die Veranlassung zu diesem Versuche einer gedrängten und doch möglichst vollständigen Bio‐ graphie des großen Lieblingsdichters der Deutschen hat meine Mitwirkung bei der Enthüllung seines Standbildes gegeben […]“; er habe „aus den Quellen […] unmittelbar geschöpft“ (S. V). Wo er, wegen mangelnder fachlicher Kompetenz oder wegen inhaltlicher Konkurrenz (wie etwa beim Balladen-Thema), sich kein Urteil erlauben zu können meint, urteilt Schwab auch nicht. Ist ihm all das aber kritisch vorzuhalten? Auf der Höhe der Zeit arbeitet er mit den Mitteln seiner 274 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 13 Marek Hałub: Das literarische Werk Gustav Schwabs. Warschau 1993, S. 136. 14 Hałub: Das literarische Werk Gustav Schwabs, S. 137. 15 Hałub: Das literarische Werk Gustav Schwabs, S. 138. 16 Marek Hałub: Schillers Leben in drei Büchern von Gustav Schwab, in: Proben. Konfe‐ renzbeiträge, Warschau 1989, S. 127-135, hier S. 132. 17 Vgl. Hałub: Schillers Leben in drei Büchern von Gustav Schwab, S. 127. 18 Hałub: Schillers Leben in drei Büchern von Gustav Schwab, S. 129. 19 Hałub: Schillers Leben in drei Büchern von Gustav Schwab, S. 131. Zeit - und schreibt übrigens das Buch in weniger als zehn Monaten nieder, wenn man seinen Angaben folgt und dazu noch die Druckzeit berücksichtigt. Diesem Befund steht diametral die Bewertung durch Marek Hałub gegenüber. „Das literarische Werk F. Schillers wurde in dieser Biographie stiefmütterlich behandelt“, 13 urteilt er über Schwabs Buch. Und weiter: „Diese Schiller-Biogra‐ phie konnte keinen Anklang finden und ist zu Recht schnell in Vergessenheit geraten“, 14 Schwabs Biografie „war keine objektive Beschreibung vom Leben und Werk des großen deutschen Dichters, sondern ein Produkt der weltan‐ schaulichen Auseinandersetzungen der damaligen Gegenwart […]“, 15 es fehle an „inhaltlichen und formalen Analysen“, 16 dem Werk mangele es an Objektivität. 17 Wollte man Schwab tatsächlich den Kenntnisstand und Erkenntnishorizont von 1839/ 1840 vorwerfen oder ihm ernsthaft ein genuin biografisches und populäres Interesse vorhalten? An Schwabs Methode bemängelt Marek Hałub, dass er „einerseits Schillers Christentum auf Schritt und Tritt verfolgte, andererseits aber Fakten aus seinem Leben, die als moralische bzw. religiöse Diffamierung des Klassikers empfunden werden könnten, absichtlich übersah“. 18 Man beachte in diesem Zitat den Tem‐ puswechsel, der den Schutz eines Klassikers vor moralischen Werturteilen un‐ terstreicht. Und dies mit Blick auf eine historische Situation, nämlich ein Duo‐ dezfürstentum, in dem die Ehe zur linken Hand Staatsräson war, was möglicherweise zu anderen Wahrnehmungen bei den Zeitgenossen und dem Nachfahren Schwab geführt hatte, das wird in diesem germanistischen Zugriff übersehen. Der katholische Herzog Karl Eugen war seit 1748 rechtmäßig mit Herzogin Elisabeth Sophie Friederike von Württemberg verheiratet. 1774 ging er mit der in den Reichsgrafenstand erhobenen protestantischen Franziska von Hohenheim eine morganatische Ehe ein, also eine Ehe ‚linker Hand‘, die 1785 sogar kirchlich legitimiert wurde. Schwabs Absicht, so fasst es Hałub zusammen, sei es gewesen, „letzten Endes Schiller zum Christen zu stempeln“. 19 Man ist nachgerade erstaunt über die sprachliche Prägekraft, mit welcher dieses Er‐ kenntnisinteresse noch im 20. Jahrhundert gegeißelt wird. Analysieren wir zunächst den Aufbau von Schwabs Schiller-Buch. Der Autor gliedert Schillers Entwicklung in drei Stufen, dem entspricht die Aufteilung des 275 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede Werks in drei Bücher. Die erste Stufe dieses „Pilgerlaufes“ (S. 178), wie es Schwab nennt, umfasst die Jahre 1759 bis 1785. Der Autor bilanziert: „Die Ideen von Humanität und Freiheit waren unserem Schiller mit vielen zeitgenössischen Denkern gemein“ (S. 181). „Ernstlichere Aufmerksamkeit verdienen Worte, die mit erschütternder Wahrheit Zustände schildern, welche im Jahre 1781 jung waren und im Jahre 1840 gewachsen und erstarkt sind, ohne zu veralten“ (S. 183). Für Schwab ist also die unverbrauchte Modernität Schillers das erkennt‐ nisleitende Darstellungsinteresse. Als Belegstellenverweis führt Schwab die Räuber (I/ 2 und II/ 3) an, worin auch über den zunehmenden Religionsverlust in der Gesellschaft debattiert wird. Schwab ruft regelmäßig sein gleichsam teleo‐ logisches Konzept für den Leser auf, wonach ein obwaltendes Schicksal (Plane, Vorsehung) Schillers Leben reguliert habe. Die zweite Stufe dauert von 1785 bis 1794, hier hebt der Autor besonders den Don Karlos hervor, der „durch und durch deutsch“ sei, im Stück habe Schiller „eine vollkommen nationelle Wahrheit und Wirklichkeit“ dargestellt und damit bei allen, „die etwas vom germanischen Blute in den Adern haben“ (S. 403), eine gewaltige Wirkung erzielt. Es sei „der deutsche Gehalt des Stückes“ (S. 404), der Schiller die Liebe der Deutschen und die Bewunderung des Auslandes eingebracht habe. Die dritte Stufe schließlich nennt Schwab die „Periode des vollendeten dichterischen Kunstlebens“ (S. 400f.), sie umfasst den Zeitraum 1794 bis zu Schillers Tod 1805. Ich habe aus Schwabs Schiller-Buch keine Passagen zitiert, die Marek Hałubs Urteil über dessen angebliche Christianisierung bestätigen. Der Grund hierfür ist einfach, es gibt diese Stellen nicht. Und Zweifel mögen erlaubt sein, ob jemals Schwabs Schiller-Biografie mit ernsthafter Absicht und dem entschiedenen Willen zur angemessenen Würdigung gelesen wurde. Eine der wichtigsten Be‐ legstellen, die in diesem Zusammenhang angeführt werden, ist jene Textpas‐ sage, in der Schwab auf die kritische Philosophie Kants und ihren Einfluss auf Schillers religiöse Überzeugungen zu sprechen kommt. Allerdings ignoriert Hałub die dazugehörige Fußnote, die nicht zu seiner Bewertung passt und fol‐ genden Wortlaut hat: „Da der Verf. über diese [Schillers religiöse Auffassungen] sich anderswo verbreiten wird, so sollen sie in gegenwärtiger Schrift auch forthin nur berührt werden, so weit es für eine Biographie unumgänglich noth‐ wendig ist. Ueberdieß giebt die Schrift ‚Schiller im Verhältniß zum Christenthum von Rudolph Binder‘ (2 Bde. Stuttg. Metzler 1839) eine treffliche Uebersicht über den Gegenstand.“ (S. 332) Worum es Schwab in seiner Biografie geht, macht eine Bemerkung im dritten Buch deutlich. Dort schreibt er: „In Schillers populärster Poesie [sind] die Ueberbleibsel der christlichen Ueberzeu‐ gungen niedergelegt, die sich aus dem Glaubensschiffbruche des achtzehnten Jahr‐ 276 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 20 Vgl. Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hgg. v. Wolfgang Frühwald, Bri‐ gitte Schillbach, Hartwig Schultz. Bd. 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literatur‐ geschichte. Hgg. v. Hartwig Schultz. Frankfurt a.M. 1990, S. 738f. 21 Von Eichendorff: Werke in sechs Bänden, S. 82. 22 Vgl. Victor G. Doerksen: A Path for Freedom: The Liberal Project of the Swabian School in Württemberg, 1806-1848. Columbia 1993. 23 Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt, S. 230. hunderts in der Masse der Nation erhalten hatten. Konnte er, der strenge Idealist und Zweifler, sich so wenig dieser Gedanken erwehren, daß er sie, die er in den Momenten der Spekulation von sich stieß, in der Begeisterung des dichterischen Schaffens seinem Volke unaufgefordert immer wieder darbot: wie tief müssen jene Hoffnungen und Trostgründe der Religion in den Bedürfnissen und im Wesen der Menschennatur ge‐ gründet seyn! “ (S. 478) Nicht in Schwabs Schiller, sondern in dem Buch von Rudolf Binder Schiller im Verhältnis zum Christentum (Stuttgart 1839) wird genau dieser Versuch unter‐ nommen, den Hiatus zwischen einer religiösen Grundhaltung und einem Kan‐ zelchristentum protestantischer Provenienz zu überwinden. Und diese die Zeit‐ genossen ungemein emotionalisierende Frage wird weitere Jahrzehnte virulent bleiben. Noch Eichendorffs spätromantische Schrift Zur Geschichte des Dramas (1854) ist ausschließlich an der Frage interessiert, wie es die Dichter mit der Gottheit Christi halten, allerdings aus katholisierender Perspektive. 20 Schon 1847 hatte er von Schillers „Christentum ohne Christus“ 21 gesprochen. Schwabs Buch gerät 1840 in den Sog dieser aufgeheizten Diskussion, sicher‐ lich auch befeuert durch etliche leicht misszuverstehende Formulierungen und beschwert durch eine im Jahr zuvor vom Autor mit veröffentlichten Schrift. Das Schiller-Buch Schwabs hingegen verfolgt in erster Linie die Intention, Schiller als deutschen Nationaldichter zu profilieren. Damit wird deutlich, dass sich in den konfessionellen religiösen Streit über Schillers Christentum zusätzlich eine zweite Konfliktlinie eingeschlichen hat, es geht dabei um den Anspruch, Schiller als politischen Freiheitsdichter für eine liberale Grundhaltung zu reklamieren oder als Ikone bürgerlichen Selbstverständnisses mit dem Ziel nationaler Iden‐ titätsbildung in Anspruch zu nehmen. 22 Albert Ludwig fand schon 1909 zu einem sehr ausgewogenen Urteil. Über Binders und Schwabs Bücher schreibt er: „Selbst wo sie am schwächsten sind, verdient ihre gute Absicht Anerkennung, aber auch das Beste, was sie boten, krankte von vornherein an einem schlimmen Fehler: für unser Gefühl nahmen sie ohne Not eine defensive Stellung ein, rechtfertigten, was keine Rechtferti‐ gung bedurfte.“ 23 Ludwig nennt Schwabs Schiller-Buch abschließend „ein ver‐ 277 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 24 Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt, S. 268. 25 Siehe das Kapitel Das Lied von der Glocke in diesem Buch. ständiges und verständliches Volksbuch“, aber auch ein „ungemein langweiliges Buch“. 24 Das Schiller-Buch von Schwab ist ein ‚Vermittlungsversuch‘, um ein Wort Ludwigs aus dem Inhaltsverzeichnis seines Buchs aufzugreifen, zwischen den politischen Lagern und den entsprechenden Funktionalisierungsbestrebungen in der Schiller-Verehrung. Immerhin trug es maßgeblich dazu bei, dass sich die Einstellung nicht nur der Stuttgarter Geistlichkeit allmählich änderte. Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zur Säkularfeier 1905 in einem regelrechten Verdrängungswettbewerb von schillerschen Versen und Bibelversen als theologischen Referenztexten bei Taufen, Konfirmationen und Predigten. 25 Als kritisches Beispiel dieses Wettbe‐ werbs kann dieser Auszug aus einer Schiller-Predigt gelten: „So wollen denn auch wir, meine Freunde, die wir Christi sein wollen, uns wenigstens in unsren Herzen der Feier der kommenden Tage nicht entziehen! Es mag ja viel Thörichtes und sogar Unlauteres sich dieser Feier hin und wieder äußerlich anhängen, denn unser Volk geht ja noch immer gar vielfach in der Irre, wie Schafe, die keinen Hirten haben, — das soll uns nicht irre machen an dem innersten Kerne des Festes. Wir können freilich keine ‚Apotheose‘ Schiller’s feiern, das heißt, ihn nicht unter die Götter versetzen, denn weil wir Christi sind, haben wir eben keine Götter, sondern Einen Gott und Vater, der sich’s selber vorbehalten hat zu sich zu versetzen wen er will. Wir können freilich dem Genius keine Altäre bauen und vor keinem Menschen‐ bilde Opferrauch emporwirbeln lassen, denn weil wir Christi sind, haben wir eben keine Heiligen, weder kirchliche noch weltliche, sondern nur Einen Heiligen Gottes, und in dessen Namen beugen sich unsre Kniee allein und nicht im Namen armer sündiger Menschen. Aber wir können und wollen dem, durch welchen Gott der Herr uns und unserem Volke so Großes gethan hat, einen frischen Kranz weihen in unsren Herzen, und uns ermuntern wie er getreu zu sein über dem anvertrauten Pfunde. Wir können und wollen uns freuen, daß der edle Geist, der in ihm geglüht hat, vom Himmel flammend und gen Himmel strebend, im Herzen unseres Volkes, unserer Tugend noch nicht erstorben ist, und uns das Wort geben, diesen Geist, soviel an uns ist, zu schirmen und zu stärken gegen den Geist der Genußsucht und Gemeinheit, der frechen Leug‐ nung und Verachtung der unsichtbaren, geistigen und sittlichen Güter, der auch durch unser Volk durch unsre Jugend hindurchgeht und sucht, wen er verschlinge. Wir können und wollen endlich beten, daß Gott der Herr sein Angesicht leuchten lasse über unserem Vaterlande und gnädig herabschaue auf unser deutsches Volk, daß er ihm für und für die rechten Männer gebe, deren wir bedürfen, und es durch seine 278 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 26 Willibald Beyschlag: Alles ist euer; ihr aber seid Christi. Ein evangelisches Zeugnis zur allgemeinen deutschen Schillerfeier; Predigt, am 20. n. Trin., 6. Nov. 1859 in der Schloß‐ kirche zu Karlsruhe gehalten. Karlsruhe 1859, S. 20f. 27 Grundlegend, allerdings diese Detailfrage nicht verfolgend, ist immer noch die Unter‐ suchung von Ute Gerhard: Schiller als ‚Religion‘. Literarische Signaturen des 19. Jahr‐ hunderts. München 1994. 28 Vgl. Schiller - Zeitgenosse aller Epochen, Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Teil 1: 1782-1859. Hgg., eingeleitet u. kommentiert v. Norbert Oellers. Frankfurt a.M. 1970, S. 553, mit den entsprechenden Dokumenten. 29 Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 138 (1839), Sp. 1098. 30 Vgl. Eduard Mörike: Werke in einem Band. Hgg. v. Herbert G. Göpfert, 4. durchgesehene Aufl., München, Wien 1993, S. 118. 31 Wilhelmine Müller: Schillers Andenken eine Kantate. Verfaßt von Wilhelmine Müller, geb. Maisch und in Musik gesetzt durch Herrn Musikdirektor Brandl. Gefeyert von seinen Verehrern in Karlsruhe den 25. März 1806. Karlsruhe 1806, S. 15. 32 Hallische Jahrbücher 143 (1839), Sp. 1139. Dichter und Denker, Lehrer und Meister je mehr und mehr hinführe zu Dem, in wel‐ chem alles Heil und in welchem allein Heil ist, zu unserem Herrn Jesu Christo. Ihm dem Ewigen und allein Gewaltigen, dem Vater der Geister, dem Geber aller guten und vollkommenen Gabe sei Lob, Preis und Ehre in der Gemeinde, die in Christo Jesu ist. Amen.“ 26 Eine präzise weiterführende Forschung hierzu kann ich an dieser Stelle nur als Desiderat vermerken. 27 Schwabs Stuttgarter Schiller-Rede Die ersten Überlegungen zu einem Schiller-Denkmal datieren bereits auf Schil‐ lers Todesjahr 1805, doch erst der Verein für das Denkmal Schillers in Stuttgart veröffentlichte einen Spendenaufruf, in dessen Folge es am 8. Mai 1839 zur Ent‐ hüllung des Schiller-Denkmals von Thorvaldsen in Stuttgart kam. 28 Der Be‐ richterstatter der Hallischen Jahrbücher war bei der Enthüllung der Statue dabei und eröffnet seinen Bericht mit folgenden Worten: „Heisa juchheisa dudel‐ dumdei, da geht’s ja hoch her, - ich bin auch dabei! - So dachte wohl zunächst die Masse an einem Tage, der, wie sich nun der Beschreiber geberden mag, zu den merkwürdigsten, ja zu den Epoche machenden gezählt werden muß.“ 29 Eduard Mörike dichtete 1839 eine Kantate bei Enthüllung der Statue Schillers. 30 Übrigens keineswegs die erste, wie ein Blick auf eine sehr frühe Schiller-Kantate belegt, gedichtet von einer Frau, welche schon 1806 jubelte: „Dies Denkmal soll dem Ausland es verkünden, / Was Teutschland Geistesgröße gilt! -“ 31 Als „ein ächter Apostel des ewigen Geistes“ 32 wurde Schiller vom Augenzeugen der Sta‐ tuenenthüllung und Korrespondenten der Hallischen Jahrbücher bezeichnet, von anderen als ein deutscher Shakespeare, Fürsprecher der Nation, Fürst der 279 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 33 Vgl. die vollständige Liste dieser Titulierungen mit den entsprechenden Belegen in: Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Hgg. v. Oellers, S. 607f. 34 Eduard Mörike: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe im Auftrag des Kultusministeriums Baden-Württemberg u. in Zusammenarbeit mit dem Schiller-Na‐ tionalmuseum Marbach a.N. Hgg. v. Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bern‐ hard Zeller, Bd. 12: Briefe 1833-1838. Hgg. v. Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1986, S. 202. 35 Ullmann u. Schwab: Der Cultus des Genius, S. 106. 36 Ullmann u. Schwab: Der Cultus des Genius, S. 92. Geister, Heros, Herrscher im Reiche des Geistes, als Lieblingsdichter und Nati‐ onaldichter, als Prediger und Prophet benannt. 33 Und Eduard Mörike lässt sich zu dem emphatischen, um nichts weniger provokanten Ausruf in einer briefli‐ chen Mitteilung an Hermann Kurz vom 26. Juni 1838 hinreißen, Schiller sei „dieser wahrhafte Christus unter den Poeten“. 34 Schwer vorzustellen, dass sich Mörike getraut hätte, dies öffentlich zu sagen. 1839 publizieren der Theologe C. Ullmann und Gustav Schwab ihr Buch Der Cultus des Genius, mit besonderer Beziehung auf Schiller und sein Verhältniß zum Christenthum. Theologisch-ästhetische Erörterungen. (Neuer verbesserter Ab‐ druck. Hamburg 1840 [ 1 1839]). Darin sind vor allem folgende Texte von Belang: Gustav Schwab: Schiller und das Christenthum (S. 79-159), unterteilt in ein ‚Ant‐ wortschreiben von Schwab an Ullmann‘ und ‚Schiller im Verhältniß zum Chris‐ tenthum‘, sowie die Beilage Nummer eins ‚G. Schwab’s Rede bei Enthüllung der Schillerstatue‘. Hierin widmet sich Schwab explizit der Frage: „war Schiller (nicht in seinem Leben, sondern in seinem Denken und Dichten) ein Christ? “ 35 Er verbindet eine umfassende Besprechung des Buches von Rudolph Binder (s.o.) mit seiner Darstellung dieses Themas, zuvörderst soll dieser Aufsatz „be‐ weisen, daß ich am wenigsten aus Schiller mit Gewalt einen Christen machen will“. 36 Auf den Seiten 160 bis 166 folgt dann G. Schwab’s Rede bei Enthüllung der Schillerstatue. Das Denkmal von Thorvaldsen war am 8. Mai 1839 feierlich en‐ thüllt worden, es ist das erste Dichterdenkmal in Deutschland. Die örtliche Geistlichkeit erhob erfolglos Protest dagegen, dass aus diesem Anlass die Kir‐ chenglocken läuten sollten. Die geistliche Obrigkeit entschied anders. Das ist hinlänglich bekannt und muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Gustav Schwab setzt sich entschieden zur Wehr gegen den Vorwurf des Göt‐ zendienstes. Dahinter stand die öffentlich geführte Kontroverse um Straußens These, dass die Genie-Verehrung die einzig angemessene religiöse Ausdrucks‐ form für den modernen Menschen sei, da alle anderen christlichen Glaubens‐ inhalte sich überlebt hätten. „Nein; wir feiern keinen Götzendienst, wenn wir der Liebe und Verehrung der Nati‐ onen die Statue dieses Mannes als ein Wallfahrtsbild hinstellen, wenn wir Anwe‐ 280 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 37 Ullmann u. Schwab: Der Cultus des Genius, S. 164-166. 38 Hallische Jahrbücher 138 (1839), Sp. 1104. 39 Vgl. Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt, S. 214. 40 Hallische Jahrbücher 138 (1839), Sp. 1097f. 41 Siehe das Kapitel Georg Herweghs Schiller in diesem Buch. 42 [Gustav Diezel u. Georg Herwegh]: Schiller und seine Statue. Zwei Frühlingsgrüße an Deutschland. Denkschrift auf den 8. Mai 1839. Stuttgart 1839, S. 19. senden selbst den Verkündiger der Anmuth und Würde, den Schöpfer so vieles Schönen und Erhabenen, mit entblöstem Haupt in seinem Bilde begrüßt haben. […] Fürwahr, nichts stimmt uns mehr zur Andacht, zu Anbetung des lebendigen Gottes, als die Erscheinung und Verkörperung des Genius auf Erden.“ 37 Dieser pathosgeladenen Aura des diskursiven Zeremoniells stand eine geradezu nüchtern wirkende Beobachtung eines Korrespondenten gegenüber. Er schreibt in den Hallischen Jahrbüchern: „Aber nicht nur der Wein floß in Strömen zu Ehren des Dichters, auch die Industrie hatte sich seines Namens bemächtigt, da waren Gläser, Kristallgefäße, Busennadeln mit seinem Bilde zu haben, da war ein eignes Schillerbackwerk, Schillerhaarbürsten, Schillerbonbons u. dgl. aus‐ geboten.“ 38 Die Enthüllung der Schiller-Statue war ein Volksfest im buchstäbli‐ chen Sinn, ohne Präsenz von Militär und Polizei, wie der Beobachter festhält. 39 „Fragen wir vorerst, wer dieses Fest gefeiert habe, - so ist die Antwort: das Volk, und um es noch deutlicher zu sagen, der dritte Stand, eben derjenige, welchen das neunzehnte Jahrhundert zu seinem Rechte gebracht hat.“ 40 Gustav Schwab hält die Festrede, Mörike hat eine Kantate gedichtet, und Georg Herwegh pub‐ liziert noch schnell sein gemeinsam mit Gustav Diezel verfasstes Pamphlet Schiller und seine Statue. Zwei Frühlingsgrüße an Deutschland. Denkschrift auf den achten Mai 1839 (Stuttgart 1839). Darin wehrt sich Herwegh vehement gegen eine bürgerlich-nationale Vereinnahmung des schwäbischen Klassikers. 41 Mit Blick auf die Jubiläumsfeiern ätzt er: „Es wird hübsche Worte geben am achten Mai, zierlich gesetzt und süß wie Eingemachtes; nun denn, so sollen auch Späne fallen, es ist ein schöner Tag, um Herrn Menzel eine Schlacht zu liefern“. 42 Und wenig später schreibt er: „Jetzt aber seid mir gegrüßt, die Ihr aus der Ferne und Nähe herbeiströmt zu diesem Opferfeste, seid mir gegrüßt, bewußte und unbewußte Bekenner der Religion des neunzehnten Jahrhunderts, des Cultus des Genies, erfunden vom Ketzer Dr. David Friedrich Strauß. Würdige Gemeinde, Gemeinde ohne Priester! Ich glaube, dem Todten, dem hohen Fremdling, wie ihn der größte der schwäbischen Dichter, die noch singen, Herr Eduard Mörike, nennt, kein schöneres Denkmal setzen zu können, als wenn ich in seinem Sinn ein Wort an die Lebenden richte. So höret mich an: 281 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 43 [Fußnote im Original: ] „Schillers Werke, Bd. 12. S. 417“. Herwegh stellt hier zwei Zitate aus einem Brief Schillers an Körner vom 13. Oktober 1798 in umgekehrter Reihenfolge, aber im Wortlaut richtig, zusammen (vgl. NA 25, S. 304). 44 [Diezel u. Herwegh]: Schiller und seine Statue, S. 20. 45 Mörike: Werke in einem Band, S. 118. 46 Zitiert nach Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Hgg. v. Oellers, S. 554. 47 Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Hgg. v. Oellers, S. 554. Was kamt Ihr hieher? Steht ihr da als Schwaben, als Vertreter von ein Paar Quadrat‐ meilen Landes? Oder seid Ihr erschienen als die Repräsentanten der Menschheit? Ist das Euer einziger Stolz, daß Schiller auf derselben Scholle geboren ward, wie Ihr? Als ob der Baum stolz sein dürfte, weil aus ihm die Wiege für einen Genius gezimmert wurde! Ich ehre, ich liebe Eure Begeisterung, ich weiß es zu schätzen, daß heute bis zum bescheidensten Bürger hinab ein ungewöhnlicher intellektueller Aufschwung zu bemerken ist - verzeiht, wenn ich Eure Begeisterung ein wenig abkühle, wenn ich Euch warne, die Mäkler im Tempel nicht mit den Priestern zu verwechseln! Dankt den Leuten, daß sie mit dem Vermögen Europa’s gut gewirthschaftet, daß sie endlich Etwas zu Stande gebracht, daß sie sich ein Paar Sohlen abgelaufen haben, aber damit habe es dann sein Bewenden! Laßt Euch nicht ködern mit den klingenden Worten Vaterland und vaterländischer Dichter! Worte! Worte! Worte! sagt Hamlet. ‚Es ist ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben: einem philosophischen Geist ist diese Gränze durchaus unerträglich. Wir Neuern haben ein Interesse in un‐ serer Gewalt, das kein Grieche und kein Römer gekannt hat und dem das vaterländi‐ sche Interesse bei weitem nicht beikommt. Das Letzte ist überhaupt nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt.‘ 43 Unreif wären wir wohl; ob jugendlich? wer möchte das behaupten? “ 44 Herwegh spielt damit auf diese Verse Eduard Mörikes an: „Ach, der an Herz und Sitte / Ein Sohn der Heimat war, / Stellt sich in unsrer Mitte / Ein hoher Fremdling dar“. 45 Diese Worte finden sich in Mörikes Schiller-Kantate. Allerdings sind sie - und dies wird durchaus differenziert wahrgenommen - nicht mit dem eifern‐ den Gebaren eines Menzel in Zusammenhang zu bringen. Menzel war erklärter Goethe-Hasser und an Schiller hob er vor allem eine doppelte Wirkung hervor. Zum einen habe er zur „Reinigung des Kunsttempels“ beigetragen, zum anderen wirke er „auch außerhalb des Kunstgebietes unmittelbar auf das Leben“. 46 Nor‐ bert Oellers stellt fest, nach Menzel habe Schiller „die Menschheit durch ‚die hohen Ideen von Liebe, Freundschaft, Freiheit, Ehre, Vaterland‘ erziehen und veredeln wollen“. 47 Die politische Funktionalisierung musste der zum Klassiker geadelte Dichter, der gegen diese Erhebung in den deutschen Parnass mit Sicherheit nur wenig einzuwenden gehabt hätte, ebenso erfahren wie seine strikte und nachgerade 282 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 48 Karl Marx u. Friedrich Engels: Über Literatur. Ausgewählt u. hgg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1979, S. 85; Brief an Ferdinand Lasalle vom 19. April 1859. 49 Angaben nach Ute Gerhard: Schiller im 19. Jahrhundert, in: Schiller-Handbuch. Hgg. v. Helmut Koopmann in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Mar‐ bach. Stuttgart 1998, S. 758-772, hier S. 771. 50 Hermann Mosapp: Friedrich Schiller. Zur 100. Widerkehr seines Todestages, 9. Mai 1905, für Deutschlands Jugend und Volk dargestellt. Stuttgart 1905, S. 9. 51 Mosapp: Friedrich Schiller, S. 7. 52 Zu weiteren Beispielen und einer exakten rezeptionsgeschichtlichen Analyse vgl. Rainer Noltenius: Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte als Sozialge‐ schichte am Beispiel der Schiller- und Freiligrath-Feiern. München 1984, bes. S. 88ff. ungerechte Ablehnung etwa durch Friedrich Schlegel oder durch die jungdeut‐ schen Dichter. Karl Marx (1818-1883) verstand unter, wie er es nannte, dem ‚Schillern‘ „das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeit‐ geistes“. 48 Anlässlich der Säkularfeier im Jahre 1859 fanden sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten zu öffentlichen Veranstaltungen und Festum‐ zügen zusammen, allein in Berlin sollen es bis zu 50.000 Personen gewesen sein. Mindestens 440 deutsche und 50 ausländische Städte veranstalteten Feiern. 49 Die Feiern zum 100. Todestag Schillers bildeten in der Schiller-Verehrung einen Hö‐ hepunkt. Als pars pro toto kann folgendes Zeugnis des Stuttgarter Schulrats Hermann Mosapp gelten: „Der 9. Mai 1905 ist einer der großen Gedenktage unseres deutschen Volkes, das mit dankbarer Bewunderung aufsieht zu Schiller als einem seiner auserwählten großen Geister, als einem Lehrer und Erzieher der Menschheit aller Jahrhunderte.“ 50 In dem vorangestellten Huldigungsgruß hat der Verfasser sogar gereimt: „Soweit nur deutscher Zunge Laute reichen, Flicht heute dir dein Volk den Ehrenkranz, Der Dankbarkeit und der Bewundrung Zeichen Die, wenn je einer, du verdientest ganz. Ja, nun und nimmer kann bei uns erbleichen Des Namens Friedrich Schiller hehrer Glanz Ob Jahre, ob Jahrhunderte entschwinden, Dein Ruhmeslied wird stets die Nachwelt künden.“ 51 Herausgeber dieser Broschüre war der württembergische evangelische Lehrer-Unterstützungsverein, sie wurde in einer Auflage von über 70.000 Stück verbreitet. 52 Die Diskussion über Schillers fehlenden Christenglauben, wie sie ein halbes Jahrhundert zuvor im Kontext von Schwabs Schiller-Buch und seiner Schiller-Rede geführt wurde, war zu diesem Zeitpunkt in der Tat schon längst historisch. 283 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede 53 Zitiert nach Ludwig: Schiller und die deutsche Nachwelt, S. 227f. 54 Vgl. Barbara Potthast: Schwabs Schiller, S. 208. 55 Hallische Jahrbücher 143 (1839), Sp. 1140. In den Hallischen Jahrbüchern ist abschließend zur Schiller-Feier 1839 zu lesen: „So führt denn nun euren Vorsatz aus, ihr Heiligen, nie mehr den Platz zu be‐ treten, auf welchem Schillers Monument steht … Schickt uns Schillers Bild zu‐ rück, ‚weil ihr ihm in euren Häusern keinen Platz zu vergönnen wißt‘ … Ja, euer dumpfes Christentum behaltet nur für euch! Wir werden unter Schillers Stand‐ bild christlicher beten können als an dem Altar der Liebe, wenn ihr die Flammen des Zornes darauf schürt.“ 53 Die Kontroverse um Gustav Schwabs Schiller-Bild der Jahre 1839 und 1840, um sein Schiller-Buch und um seine Schiller-Rede, dokumentiert die Kollision von Formen einer bürgerlich-demokratischen mit Formen einer bürgerlich-bieder‐ meierlichen Schiller-Rezeption. Die hohe Stillage, das religiöse Pathos der schwabschen Schiller-Rede und das Glockengeläut glichen einer „theologischen Provokation“. 54 Auf die Zeitgenossen muss der Schlusshymnus des Berichts aus Stuttgart in den Hallischen Jahrbüchern geradezu wie ein Brandbeschleuniger gewirkt haben: „Und darum darf es wiederholt werden: es war ein religiöses Fest, das wir hier feierten, eine Feier des Genius, die aber eben darum Gottesdienst war, weil wir wohl wußten, daß auch der erhabenste endliche Geist Gott zwar offenbaren, aber nicht Gott sein kann, vielmehr in die Fluth des Absoluten zurückkehren muß, nachdem er sich in seinem Opferdienste verzehrt hat. Aber es war zugleich auch eine Feier der Unsterb‐ lichkeit des endlichen Geistes, der Schönsten, die wir zu begreifen vermögen, […]“. 55 284 15. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede Drucknachweise (Die Originaltitel wurden leicht verändert und dieser Veröffentlichung ange‐ passt. Die Inhalte der einzelnen Beiträge wurden teils sehr stark überarbeitet und erweitert.) Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick. Auszüge aus: Matthias Luserke-Jaqui: Fried‐ rich Schiller. Tübingen, Basel 2005. Anthologie auf das Jahr 1782. Erstdruck unter dem Titel: Nachwort, in: Friedrich Schiller: Anthologie auf das Jahr 1782. Mit einem Nachwort hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Saarbrücken 2009, S. I-XVI. Semele (1782). Erstdruck unter dem Titel: Über Schillers Semele oder Beobachtungen über das Schreiben linker Hand, in: Matthias Luserke-Jaqui: Über Literatur und Literatur‐ wissenschaft. Anagrammatische Lektüren. Tübingen, Basel 2003, S. 155-178. Die Kindsmörderin (1782). Erstdruck unter dem Titel: Die Kindsmörderin (1782), in: Mat‐ thias Luserke-Jaqui: Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen, Basel 2002, S. 172-178. Die schlimmen Monarchen (1782). Erstdruck unter dem Titel: Die schlimmen Monarchen, in: Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005, S. 195-197. Kabale und Liebe (1784). Erstdruck unter dem Titel: Die Unordnung der Liebe - Kultur‐ geschichtliche Aspekte der Subjektkonstitution in Friedrich Schillers Kabale und Liebe (1784), in: Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Lite‐ ratur der Moderne (1770-2006). Hgg. v. Jutta Schlich u. Sandra Mehrfort. Heidelberg 2006, S. 17-34. Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/ 1792). Erstdruck unter dem Titel: Friedrich Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Der Deutschunterricht 55/ 6 (2004), S. 43-49. Don Karlos (1787/ 1805). Erstdruck unter dem Titel: Freiheitsthematik und „Hauptidee des Stückes“. Zur Kritik der Figur des Marquis Posa in Schillers Don Karlos, in: Lenz-Jahr‐ buch. Sturm-und-Drang-Studien 12 (2002/ 2003), S. 205-225. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (1788). Erstdruck unter dem Titel: „Dein Werk muß in Holland bekannt werden.“ Friedrich Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regie‐ rung (1788), in: Jan Konst, Inger Leemans, Bettina Noak (Hgg.): Niederländisch-Deut‐ sche-Kulturbeziehungen 1600-1830. Göttingen 2009, S. 267-286. Das Lied von der Glocke (1800). Erstdruck unter dem Titel: Kulturelle Medien der Funk‐ tionalisierung in der Rezeption von Friedrich Schiller und seinem Gedicht Das Lied von der Glocke, in: Lenz-Jahrbuch. Literatur - Kultur - Medien 1750-1800, 16 (2009), S. 131-158. Die Braut von Messina. (1803). Erstdruck unter dem Titel: Nachwort, in: Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui. 2. Aufl. Stuttgart 2008, S. 141-164, und: Politik zwischen „öf‐ fentlichem Leiden“ und „privatem Neid“: Das Beispiel von Friedrich Schillers Braut von Messina (1803), in: Zum Schillerjahr 2009 - Schillers politische Dimension. Hgg. v. Bernd Rill. München 2009, S. 101-110. Die Huldigung der Künste (1805). Erstdruck unter dem Titel: Die Huldigung der Künste (1805), in: Schiller-Handbuch. Hgg. v. Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit v. Grit Dommes. Stuttgart, Weimar 2005, S. 236-239. Schillers letzter Text (Abbildung und Transkription). Erstveröffentlichung ohne Titel als Faksimile mit Transkription, in: Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel 2005, S. 372-373. Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller. Erstdruck unter dem Titel: Über die literaturgeschichtlichen Ursprünge des ‚Klassikers Schiller‘, in: Deutsche Klassik. Epoche - Autoren - Werke. Hgg. v. Rolf Selbmann. Darmstadt 2005, S. 35-59. Schiller, Kant und das Problem der Katharsis. Erstdruck unter dem Titel: Leidenschaften ad usum logicorum: Ketten, Krebs und Sklavensinn (Schiller und Kant), in: Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklä‐ rung. Stuttgart 1995, S. 319-338. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer. Erstdruck unter dem Titel: Die Suche nach dem objektiven Begriff des Schönen. Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer, in: Zeitschrift für Germa‐ nistik 1 (1994), S. 24-34. Georg Herweghs Schiller. Erstdruck unter dem Titel: „Sie lieben alle den Schiller mehr - das verfluchte Volk“. Büchners Lenz und Georg Herweghs Schiller, in: Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Hgg. v. Ariane Martin u. Isabelle Stauffer. Bielefeld 2012, S. 231-254. Gustav Schwabs Schiller-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede. Erstdruck unter dem Titel: „Heisa juchheisa dudeldumdei“. Über Gustav Schwabs Schiller, in: Barbara 286 Drucknachweise Potthast, Kristin Rheinwald, Dietmar Till (Hgg.): Mörike und sein Freundeskreis. Hei‐ delberg 2015, S. 265-280. 287 Drucknachweise